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Phrenologie.

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Gustav v. Struve.

Mit ſechs lithographirten Tafeln und Text- Abbildungen.

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Leipzig: eh au s.

1845.

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Erſter ſynthetiſcher Theil.

RL A WE TER BR Die Grundlehren der Phrenologie - » » : 2... Einfluß des Zemperamentd - - - - + ..iec - 777 22. u te Einfluß der Gefundheitsverhältnifle. - - » - . . - Die Phyſiognomik der Phrenologie. - » » - 2... Eintheilung der Geiftesvermögen. . » 2 2.2...

J. Sinnlichkeit oder Triebe.

„Seſchletsteie d Ned es ee, 2.0.2 Mer: . Einheitötrieb oder Abfchließungstrieb. . . .... . Anhänglichkeit oder Anſchließungstriebb ... 7). TT ͤ ee 0% DE Verheimlichungs trieb anbiete. Erwerbkri ed OS I. —f Ace ee

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II. Empfindungsvermögen oder Gefühle.

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15. Die Faigteit . ee 8 16. Die Gewiſſenhaftig k 8! 17 Die Hoſſang Br 18. Gefühl für das Wund erbat 19. Das Schönheitsgefühl oder die Idealität . ...

III. Darſtellungsvermögen oder Talente.

20. Talent für mechaniſche Kunſt, Bautalent, Zuſam—

menſetzüngstal enn ME ae 21. Der Witz (Schez zz 22. Nachahmungstal enn. 23. Das Ordnungs talen age 24. Tohſia . einein nne. 25. Der Wortſinn oder das Sprachtalentt . ..

IV. Erkenntnißvermögen oder Fähigkeiten.

26. Der Gegenſtandſinn t d Achaik ; 27. Geſtaltſinn ee eee see 28. Raumſinn oder Größenſinunu n 29: Gewichtſinn eee Sa sam - 30. Farbenſmnmnmnm a RE rat 31. Ortſinn z wur abe > ee 32. Zeitſfn nnn 8 33. Thatſachenſin nnn mne 34. Zahlenſin nn n,

V. Denkvermögen oder Gaben.

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35. Vergleichungs gabe er ee 36. Schluß vermögen de

Zweiter analytifcher Theil.

Einleitung.

Widerlegung der gegen die Phrenologie K Ein: wendungen emen. ER

Seite 143 147 153 156 160

164 167 171 174 176

180

186 190 193 195 198 202 205 207 210

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Inhalt. vu

Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Schädellehre, Phyſiologie und zur alten Seelenlehre . . ... 237 Ueber das Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre, die verſchiedenen Combinationen, Grada— tionen und die Geſetze der geiſtigen Thatigkeit . ...

*

J. Die Zuſtände der Einzelnen. 1. In ſynchroniſtiſcher Ordnung.

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände. Allgemeine Vor— bemerkungen. Freude, Unbehaglichkeit, Schmerz, Kum— mer, Luft und Unluſt. Lebensliebe, Leidenſchaft. Geduld und Ungeduld, Einbildungskraft hlWe 250 Fortſetzung: geſunder Menſchenverſtand, richtiger Takt, guter Geſchmack. Willenskraft, Willensfreiheit. Auf— merkſamkeit. Ideenfolge. Gewohnheit. Sympathie und

S le aa a an RE Auge 257 Schluß: Tugend, Laſter, bos und gut, Genialität, Ver: nunft, Schlaf, Traum, Schamgefühl... .. 265

2. In chronologiſcher Ordnung.

Vorbemerkung Jeu guns 1 C ( EN e ee 276 C ET a 29 Mannesalter TT P 2. ner. ee DOM

II. Ueber die Zuſtände der Familie. 287

III. Ueber die Zuſtände der verſchiedenen Men— FP AA ee u; 291

Dritter praktiſcher Theil.

o 2 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben 303 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Heilkunde 309

VIII

65.

Inhalt.

Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt . .. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Geſchichte dern Meyſchheitt . 79 Beide And ml. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Erziehung Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte

Seite 317

32⁵ 332 348 351 354

Verzeichniß der Abbildungen.

Tafel J. Gall. Titelbild.

Fig. 1 auf S. 11. Ein Nerv in vergrößertem Maßſtab.

Fig. 2 auf S. 15. Nervenſyſtem des menſchlichen Kör— pers.

Fig. 3 auf S. 16. Das Rückenmark und die davon ausgehenden Nerven.

Fig. 4 auf S. 18. Obere Fläche des Gehirns.

Fig. 5 auf S. 20. Schädel und Gehirn von oben nach unten durchſchnitten. N

Fig. 6 auf S. 23. Ein Schädel mit Diploé und dura mater.

Fig. 7 auf S. 24. Die Stirnhöhle.

Fig. 8 auf S. 29. Schädel eines neugebornen Kindes.

Fig. 9 auf S. 29. Schädel eines Erwachſenen.

Tafel II. zu S. 41. Die vier Temperamente. Fig. 10 auf S. 55. Profil des Mörders Hare. Fig. 11 auf S. 55. Melanchthon.

Tafel III. zu S. 66. Der phrenologiſche Kopf.

Fig. 12 auf S. 66. Geſchlechtstrieb groß. Der Mör- der Linn.

Fig. 13 auf S. 66. Geſchlechtstrieb mäßig. Der Pfar— rer M.

x Inhaltsverzeichniß der Abbildungen.

Tafel IV. zu S. 75. Maͤnnlicher und weiblicher Schaͤ— del der caucaſiſchen Raſſe und Schiller's Schaͤdel. Fig. 14 auf S. 79. Kinderliebe groß. Robert Burns. Fig. 15 auf S. 79. Kinderliebe klein. Peruvianer. Fig. 16 auf S. 85. Einheitstrieb groß. Robert Burns. Fig. 17 auf S. 85. Einheitstrieb klein. Nordamerika— niſcher Indianer. Tafel V. zu S. 93. Verſchiedene Organe des Hin— terkopfs. . Fig. 18 auf S. 93. Bekämpfungstrieb groß. General Wurmſer. Fig. 19 auf S. 93. Bekämpfungstrieb klein. Ceyloni— ſcher Knabe. Fig. 20 auf S. 97. Zerſtörungstrieb groß. Der Mör— der und Seeräuber Tardy von vorn. Fig. 21 auf S. 97. Zerſtörungstrieb klein. Knabe von der Inſel Ceylon von vorn. Fig. 22 auf S. 97. Tardy von hinten. Fig. 23 auf S. 97. Ceyloniſcher Knabe von hinten. Fig. 24 auf S. 105. Verheimlichungstrieb groß. Hindu. Fig. 25 auf S. 105. Verheimlichungstrieb klein. Cey— loneſe. Fig. 26 auf S. 108. Verheimlichungstrieb groß. Ein alter Geizhals. Fig. 27 auf S. 117. Selbſtgefühl mittelmäßig. Fran— ois Cordonnier. Fig. 28 auf S. 117. Selbſtgefühl groß. Hr. A. Fig. 29 auf S. 127. Sorglichkeit groß. Knabe von der Inſel Ceylon von hinten. Fig. 30 auf S. 127. Sorglichkeit groß. Derſelbe Knabe von oben. a Fig. 31 auf S. 127. Sorglichkeit klein, von oben geſehen. Fig. 32 auf S. 131. Wohlwollen groß. Robert Burns. Fig. 33 auf S. 131. Wohlwollen klein. Der Mörder Griffiths. |

Inhaltsverzeichniß der Abbildungen. N.

Fig. 34 auf S. 131. Wohlwollen groß. Euſtache, ein Neger von St. Domingo.

Fig. 35 auf S. 132. Wohlwollen klein. Caraibe.

Fig. 36 auf S. 132. Wohlwollen klein. Nordamerika— niſcher Indianer.

Fig. 37 auf S. 135. Wohlwollen und Feſtigkeit groß, Ehrerbietung mangelhaft. Dr. Hette.

Fig. 38 auf S. 135. Ehrerbietung groß. Ein Mädchen.

Fig. 39 auf S. 136. Ehrerbietung groß. Hindu.

Fig. 40 auf S. 136. Ehrerbietung groß. Neger.

Fig. Al auf S. 137. Ehrerbietung ſehr groß. St. Jo- hannes.

Fig. 42 auf S. 143. Feſtigkeit groß. Hr. M.

Fig. 43 auf S. 143. Feſtigkeit klein. Frau H.

Fig. 44 auf S. 148. Gewiſſenhaftigkeit groß. Frau H.

Fig. 45 auf S. 148. Gewiſſenhaftigkeit klein. David Haggart.

Fig. 46 auf S. 148. Feſtigkeit und Gewiſſenhaftigkeit klein. Ein lügenhafter Knabe.

Fig. 47 auf S. 149. Eskimaux-Schädel von hinten.

Fig. 48 auf S. 156. Gefühl für das Wunderbare groß. Ein alter Grieche. i

Fig. 49 auf S. 156. Gefühl für das Wunderbare klein. Ein Knabe von der Inſel Ceylon.

Fig. 50 auf S. 157. Gefühl für das Wunderbare groß. Taſſo.

Fig. 51 auf S. 164. Bautalent groß. Alter Grieche.

Fig. 52 auf S. 164. Bautalent klein. Neuholländer.

Fig. 53 auf S. 171. Nahahmungstalent groß. Clara Fiſcher.

Fig. 54 auf S. 171. Nachahmungstrieb klein. Jakob Jervis.

Fig. 55 auf S. 176. Tonſinn groß. Händel.

Fig. 56 auf S. 176. Tonſinn klein. Anna Ormerod.

Fig. 57 auf S- 186. Gegenſtandſinn und überhaupt alle Organe der Intelligenz groß. Michael Angelo.

VII Inhaltsverzeichniß der Abbildungen.

Fig. 58 auf S. 190. Geſtaltſinn groß. William Dobſon.

Fig. 59 auf S. 208. Gegenſtandſinn mäßig. That— ſachenſinn groß. Vergleichungsgabe ziemlich groß. Wil— liam Pitt.

Fig. 60 auf S. 208. Gegenſtandſinn groß. Thatſachen— ſinn klein. Vergleichungsgabe ſehr groß. Thomas Moore.

Fig. 61 auf S. 208. Gegenſtandſinn groß. Thatſachen— ſinn groß. Vergleichungsgabe ziemlich groß. Sheridan.

Tafel VI. zu S. 349. Bacon. Kant

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Als Knabe hatte Galle) angefangen, ein Wechſelverhältniß zwiſchen den Gaben ſeiner Geſpielen und der Bildung ihres Kopfes wahrzunehmen. In ſeiner Kindheit überzeugte er ſich ſchon von der Wahrheit, daß die Menſchen mit ver— ſchiedenen Geiſtesanlagen geboren werden, und daß die an— gebornen Geiſteskräfte, wenn auch durch Verhältniſſe und Erziehung modificirt, im weſentlichen ſich nicht zu verändern pflegen. Dieſe Gedanken folgten ihm von ſeinem Onkel im Schwarzwalde, bei welchem er in einem Alter von neun Jahren lebte, auf die Schulen zu Baden bei Raſtadt und Bruchſal und auf die Univerſitäten Straßburg und Wien. Hier fiel es ihm beſonders auf, nichts von den Verrichtun—

gen des Gehirns zu vernehmen. Er dachte, dieſe müßten .

jedenfalls bedeutungsvoller ſein, als diejenigen von Lunge, Leber und Magen, und doch hörte er zwar von deren Ver— richtungen, aber nichts von denjenigen des Gehirns. So wurde er mehr und mehr in der Ueberzeugung beſtärkt, daß ſeine Gedanken über eine Wechſelbeziehung zwiſchen Gehirn— und Charakter-Entwickelung Grund haben könnten. Allein dieſe Gedanken ſtanden im Widerſpruch mit den hergebrach— ten philoſophiſchen und phyſiologiſchen Anſichten, im Wider—

I) Geb. den 9. März 1758 zu Tiefenbronn bei Pforzheim im Großh. Baden.

1 *

4 Einleitung.

ſpruch mit Allem, was ihm feine Lehrer über Gehirn- und Schädelbau, über Geiſtesanlagen und Geiſtesfreiheit vor— trugen. Indeß, einmal auf die Bahn der eigenen For— ſchung, der emſigen Naturbeobachtung getreten, ließ er ſich nicht irre machen durch die Zweifel, die in ihm rege wur— den. Jahre lang arbeitete er im Stillen für ſich, raſtlos die Natur befragend. Nur ſie, nicht die Schulweisheit der Gelehrten, ſollte ſeine Zweifel löſen. Im Jahre 1785 hatte er ſeine akademiſchen Studien vollendet. Nach eilfjährigen angeſtrengten und unausgeſetzten Forſchungen fing er zuerſt an, mündlich ſeine Anſichten über Gehirn- und Schädelbau in größeren Kreiſen mitzutheilen. Bis zum Jahre 1802 ſetzte er dieſe Privatvorleſungen zu Wien vor einem zahl— reichen und ausgeſuchten Publicum fort, als fie plötzlich im Anfange dieſes Jahres, in Folge eines kaiſerlichen Cabinets— billets, geſchloſſen wurden. Dieſer Befehl konnte jedoch nicht hindern, daß ſich die neue Lehre bald im nördlichen Deutſchland und unter allen gebildeten Nationen Europas verbreitete und mit Enthuſiasmus aufgenommen wurde ); Gall ſelbſt zauderte lange Jahre, in Druckſchriften mit ſei— ner Lehre vor das Publicum zu treten. Allein eine Menge Schriften erſchienen von feinen Schülern.

Die erſte Nachricht?) von feiner Lehre hatte er aller— dings ſelbſt dem größern Publicum in einem Briefe ge— geben, welcher, an den Freiherrn von Retzer gerichtet, in Wielands neuem teutſchen Merkur im Jahre 1798 No. 12 S. 311 ff. erſchien. Allein damals hatten natürlich ſeine Entdeckungen noch nicht denjenigen Grad von Reife erlangt, welchen ſeine ſpäteren Schriften bekunden. Es waren da—

1) S. Dr. Joſeph Gall's Syſtem des Gehirn- und Schädelbaues von J. T. F. K. Arnold. Erfurt 1805. S. 8 ff.

2) Einige Andeutungen ſeiner Entdeckungen finden ſich übrigens ſchon in ſeinen 1792 bei Gröſſer in Wien erſchienenen „Philoſophiſch— medicinifchen Unterſuchungen über Natur und Kunſt im gefunden und kranken Zuſtande des Menſchen.“ J. Bd. (Ein zweiter iſt nicht er— ſchienen.)

Einleitung. 5 her hauptſächlich die Darſtellungen, welche feine Schüler dem Publicum vorlegten, wodurch diejenigen, welche nicht Gelegenheit hatten, die Vorleſungen des Meiſters zu hören, von feinen Entdeckungen unterrichtet wurden ).

Mit Blitzesſchnelle verbreitete ſich die neue Lehre über Deutſchland und die Nachbarländer. Gall konnte daher hoffen, an andern Orten einen günſtigeren Boden für ſeine Samenkörner zu finden, als in Wien. Schon früher hatte ſich Dr. Spurzheim mit ihm verbunden und ihm in feinen, namentlich anatomiſchen und phyſiologiſchen Forſchungen Beiſtand geleiſtet. Im Jahre 1805 verließen beide zu— ſammen Wien, beſuchten die bedeutendſten Städte Deutſch— lands und der Nachbarländer, und hielten Vorleſungen in denſelben. Man zollte den beiden Gelehrten zwar wohl Achtung und Aufmerkſamkeit, allein man hielt ſie nirgends feſt. Kleine Geiſter, neidiſche Gelehrte, Dichter, welche den Maſſen zu lachen geben wollten, verbündeten ſich mit der Intoleranz und der Bigotterie, und ſo wurden die beiden großen Männer von dem deutſchen Boden verdrängt. In Frankreich ſuchten ſie Schutz. Doch auch da blieb der Neid nicht unbeſchäftigt. Ein Kaiſerwort Napoleons trat dem Deutſchen, dem Ausländer, Gall, entgegen und vereitelte ſeine Beſtrebungen, bei der franzöſiſchen Akademie Aner— kennung zu finden. Auch dieſes brach den Muth der rü— ſtigen Kämpfer für die Wahrheit nicht. Sie fuhren fort, Vorleſungen zu halten, bis dieſe im Jahre 1814, in Folge einer allgemeinen Verordnung, geſchloſſen wurden.

In England, Schottland und Nordamerika eröffnete Spurzheim nunmehr ſeiner Wiſſenſchaft ein neues, groß— artiges Feld der Thätigkeit. Im Jahre 1828 ſtarb Gall’)

1) Eine ziemlich vollſtändige Zuſammenſtellung jener, nunmehr meiſt unpraftifch gewordenen Schriften findet ſich in Choulant's Vor— leſung über die Kranioſkopie. Dresden 1844.

2) Seine Hauptwerke ſind:

Anatomie et Physiologie du Systeme nerveux en general et

6 Einleitung.

auf feinem Landgute Montrouge bei Paris, im Jahre 1832 Spurzheim!) in Nordamerika. Allein mittlerweile waren der neuen Seelenlehre tüchtige Pfleger herangewachſen. Georg Combe!) und fein Bruder Andreas?) wurden die kräftigen Stützen der aufſtrebenden Wiſſenſchaft. Viele andere be—

du cerveau en particulier. Paris 1810-1819. (Die bei— den erſten Bände ſind gemeinſchaftlich mit Spurzheim be— arbeitet.)

Sur les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties. Paris 1822. Ins Deutſche auszugsweiſe über: ſetzt unter dem Titel: Vollſtändige Geiſteskunde. Nürnberg 1827. 1833.

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I) Seine Hauptwerke find:

Physiognomical System. London 1815.

Outlines of Phrenology. London 1815. 1827.

Phrenology or the doctrine of the mental operations. Lon- don 1815.

Philosophical principles of Phrenology. London 1825.

Examination of the objections made in Britain against the Doctrines of Gall. London 1819.

Phrenology in connexion with the study of Physiognomy. London 1826.

Anatomy of the Brain. London 1826.

Appendix fo the Anatomy of the Brain with remarks on

M' Charles Bells Animadversions on Phrenology. Lon- don 1832.

2) Seine Hauptwerke find: A System of Phrenology 4% Edit. 1839. Ins Deutſche überſetzt von Dr. Hirschfeld. Elements of Phrenology 5" Edit. 1841. Outlines of Phrenology 6" Edit. Edinb. 1839.

3) Ich führe von feinen Werken hier an: The principles of Physiology applied to the Preservation of Health and to the improvement of Physical and men— tal Education. Edinb. 10% Edit. 1841. A treatise on the Physiological and moral management of, infancy.

Einleitung. 1

deutende Männer ſchloſſen ſich ihnen an. Es entſtand eine reiche Literatur), ganze Wiſſenſchaften wurden durch die neue Seelenlehre regenerirt). Von der Hauptſtadt Schottlands verbreitete ſich dieſelbe raſchen Schrittes über die drei ver— einigten Königreiche und über Nordamerika. Die bedeu— tendſten Städte Alt- und Neu-Englands gründeten phre— nologiſche Geſellſchaften, und ſo wurde die neue Lehre, welche den Namen Phrenologie mittlerweile angenommen hatte, auch ins praktiſche Leben übergeführt. Bereits ſtehen in Schott— land, England und Nordamerika mehrere Strafanſtalten und Irrenhäuſer unter der Leitung der Phrenologen, gleichwie die bedeutendſten mediciniſchen Zeitſchriften ) Englands ſich zu Gunſten ihrer Wiſſenſchaft ausgeſprochen haben.

I) The Phrenological Journal Vol. I-17. Edinb. 1823-1844.

The Zoist, a Journal of cerebral Physiology and Mesmerism. London 1843. 1844.

The American Phrenological Journ. Philadelphia 1838 —1842.

2) Spurzheim, Sketch of the natural laws of man. Lon- don 1828.

G. Combe. The constitution of man considered in Re- lation to external objects. 7 Edit. Ins Deutſche überf. von Dr. Hirſchfeld. ;

Spurzheim, Elementary principles of education. Edin— burgh 1821. 1828. Ins Franzöſiſche über. 1822.

James Simpson, The Philosophy of Education with its practical application to a system and plan of popular Education as a National object. 2 Edit. Edinb. 1836.

George Combe, Moral Philosophy or the duties of Man. 2" Edit. Edinb. 1841.

Spurzheim, Observations sur la Folie. Paris 1818. Ins Deutſche überſetzt von Dr. Embden.

Andrew Combe, Observations on mental derangement being an application of the principles of Phrenology to the elucidation ofthe causes, symptoms, nature and treat- ment of insanity. Edinb. 1835.

Sampson, Criminal Jurisprudence considered in rela- tion to mental Organization. London 1841.

3) The Medico-Chirurgical Journal. London quarterly.

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Einleitung.

Die Reiſe, welche Georg Combe auf vielfache Einla- dung in den Jahren 1838, 39 und 40 nach Nordamerika machte), belebte dort aufs neue die phrenologiſchen Be— ſtrebungen. Das Unterrichtsweſen vieler Städte, ja ſchon eines ganzen Staates, des Staates Maſſachuſſets, mit einer Bevölkerung von einer Million Menſchen, ſteht unter der Leitung dieſer, in Deutſchland noch immer ſo wenig beach— teten Wiſſenſchaft.

In Frankreich haben ſich Vimont!), Brouſſais ), Beſ— ſieres), Foſſati, Voiſin, Dumoutier und Andere um die Phrenologie große Verdienſte erworben, und in Paris be— ſteht auch eine phrenologiſche Geſellſchaft. In Italien wurde zwar der erſte Verſuch von Uccelli'), der Wiſſen— ſchaft Eingang zu verſchaffen, in ähnlicher Weiſe bekämpft, wie in früherer Zeit das Syſtem Galilei's; allein Ferra— reſe“), Moloſſi '), Rigoni ), Zarlenga ), Dr. Caſtle “) und

The British and Foreign Medical Review. London quarterly. The Lancet. London weekly.

1) Beſchrieben in feinem Werke: „Notes on the United states of North-America. Edinburgh 1841.“

2) Traite de la Phrenol. humaine et comparée. Paris 1833—36. 3) Legons sur la Phrenologie. Paris 1836. Hygiene morale ou application de la Physiologie a la mo- rale et à l’&ducation. Paris 1834.

Rapport de la Phrenologie avec la Philosophie. Paris 1835.

4) Introduction a l’etude philosophique de la Phrenologie, et

nouvelle classification des facultes cerebrales. Paris 1836.

5) In feinem Compendium der vergl. Anatomie u. Phyfiologie,

6) Luigi Ferrarese, Memorie risguardanti la Dottrina Fre— nologica. Napoli 1838. 2 Vol.

, Quistioni di Psicologia Medico - forense. Napoli 1834. 7) Zu Mailand in verſchiedenen phrenologiſchen Abhandlungen. 8) Dr. Rigoni, Prof. der Phyſiologie an d. Univerfität zu Pifa- 9) Dr. Zarlenga zu Neapel.

10) Corso di lezioni sulla Frenologia. Milano 1841.

Einleitung. 9

Andere haben ſich dadurch nicht abſchrecken laſſen, auf dem Wege der Wahrheit kühn voranzuſchreiten. In Dänemark haben Pro— feſſor Dr. Otto) und Dr. Hoppe), in Schweden Dr. Schwarz für ſie gewirkt, und auch in Deutſchland fängt ſie an, allmälig ihr Haupt wieder zu erheben), wozu die im Sommer 1842

I) Tidskrift for Phrenologien udgivet af C. Otto. Kiöbenhavn.

Phrenologien af C. Otto. Kiöbenhavn.

2) Dr. Hoppe zu Kopenhagen in verſchied. phrenolog. Abhandlungen. 3) R. R. Nöel, Grundzüge der Phrenologie oder Anleitung zum Studium dieſer Wiſſenſchaft. Dresden 1842.

Attomyr, Theorie der Verbrechen auf Grundſätze der Phre— nologie baſirt. Leipzig 1842.

Georg Combe, Leitfaden zu phrenolog. Vorleſungen. Mann— heim 1842.

Guſtav v. Struve, die Phrenologie in und außerhalb Deutſch— land. Heidelberg 1843.

Derſelbe in v. Jagemanns und Nöllners Zeitſchr. für deutſches Strafverfahren Jahrg. 1842. Hft. 2. Bd. III. S. 161 ff. „Ueber das Verhältniß der Phrenologie zum Strafrecht.“

Derſelbe in eben dieſer Zeitſchr. Bd. III. H. 4. „Ueber die Zu— rechnungsfähigkeit.“

Derſelbe, „Ueber Todesſtrafen, Behandlung. der Strafgefangenen und Zurechnungsfähigkeit.“ Beil. zu Bd. I. H. J. der Zeitſchr. für Phrenologie.

Derſelbe in Reyſcher's und Wilda's Zeitſchr. für deutſches Recht, Bd. VIII. No. VII. S. 177—200. „Ueber den Einfluß der Phrenologie auf das Recht.“

Derſelbe in der Zeitſchr. für Phrenologie Bd. II. H. 5. No. III. „Ueber den Einfluß der Geſetzgebung auf den moraliſchen und intellectuellen Zuſtand des Volkes.“

Derſelbe in Weil's conſtitutionellen Jahrbüchern Bd. III. „Ueber die politiſchen Strebungen unſerer Zeit.“

Derſelbe in der Pädagogiſchen Revue von Dr. Mager, Dritter Jahrg. Bd. 5. Oktoberheft 1842. Vierter Jahrg. Bd. 7. Novemberheft 1843. Fünfter Jahrg. Bd. 8. Februarheft 1844, „Ueber die Erziehung nach phrenolog. Grundſätzen.“

Geh. R. Profeſſor Dr. Mittermaier in den Sächſiſchen Va— terlandsblättern 1842 No. 131, „Die Phrenologie und ihre Bedeutung in der Strafgeſetzgebung.“

10 Einleitung.

von Hrn. Georg Combe zu Heidelberg gehaltenen phrenolo— giſchen Vorleſungen einen kräftigen Impuls gegeben haben.

Phrenologie (von 30 Seele und 76% s Lehre) iſt die Lehre von der Seele, wie ſie ſich entwickelt aus der Betrachtung ihrer körperlichen Organe und insbeſondere des unmittelbaren Haupt-Organs ihrer Thätigkeit, des Gehirns. Sie unter— ſcheidet ſich von der alten Pſychologie, wie das griechiſche u von gen. Unter Pſyche verſteht man nämlich die Seele ohne Rückſicht auf ihre Verbindung mit dem Körper, unter Phren die Seele in ihrer Verbindung mit demſelben. Bisher entbehrte die Seelenlehre jedes feſten Anhaltpunktes, die Speculation der verſchiedenen Philoſophen fand verſchiedene Seelenkräfte, jeder nahm bei ſeinen Beſtrebungen in der Re— gel nur die eigene Individualität als Prototyp der Seelen aller Menſchen an, und das Element der Erfahrung war aus der Pſychologie ſo gut als ganz ausgeſchloſſen. Die Phrenologie dagegen baut ihre Seelenlehre weſentlich auf die Erfahrung, wie ſie ſich namentlich darſtellt in dem Bau des Gehirns im Verhältniß zu der bekannten Thätigkeit deſſen, dem es angehört. Sie vergleicht den Bau des Ge— hirns der verſchiedenen Nationen, wie der verſchiedenen In— dividuen der Erde mit ihren an den Tag gelegten Eigen— ſchaften, und hat auf dem Grund dieſer Vergleichung, durch

Unterſuchungen der Phrenologie oder Gall'ſchen Schädellehre von Prof. J. S. A. Grohmann. Grimma 1842.

G. Combe, Erfahrungen über die Wirkſamkeit der verſchiedenen Pönitentiar-Syſteme in Nordamerika, in der krit. Zeitſchr. f. Rechtswiſſenſch. u Geſetzgebg. d. Ausl. Bd. XV. H. 2. No. VII.

Guſtav v. Struve, Die Geſchichte der Phrenologie. Heidel— berg 1843.

Zeitſchrift für Phrenologie von G. v. Struve und Dr. Hirſch— feld. Heidelberg 1843. 1844.

Dr. M. Caſtle, Phrenologiſche Analyſe des Charakters des Hrn. Dr. Juſtinus Kerner. Heidelberg 1844.

Derſelbe, Phrenolog. Unterſuchung des Hrn. Dr. D. Fr. Strauß. Heilbronn 1844.

Einleitung. 11

eine Reihe unwiderleglicher und unleugbarer Thatſachen einen Cauſalzuſammenhang zwiſchen dieſem und jenen aufgefunden. Die Sammlung und Bewahrung der betreffenden Thatſachen war die Arbeit von mehr als einem halben Jahrhundert, und außer den oben (S. 6 ff.) genannten Männern haben wohl noch Hunderte zu dieſen Zwecken mitgewirkt. Die Frage, ob der Beweis der thatſächlichen Begründung der neuen Seelenlehre gelungen iſt, kann natürlich hier nicht gelöft werden. Denn nur vermittelſt der Prüfung aller vorhan— denen phrenologiſchen Thatſachen und Reſultate und haupt— ſächlich nur in Folge ſelbſt angeſtellter Beobachtungen kann ſie beantwortet werden, da die Phrenologie weſentlich Erfahrungs— wiſſenſchaft iſt. Hier können nur die gewonnenen Reſultate und die ſie begründenden Thatſachen kurz angedeutet werden.

Die eigentliche Grundlage der Phrenologie bildet das Gehirn und das Nerven-Syſtem überhaupt, und da dieſes Werk nicht blos für Mediciner vom Fache beſtimmt iſt, ſo iſt es erforderlich, hier einige allgemein verſtändliche Mit— theilungen über jene ſo hoch wichtigen Theile des menſch— lichen Körpers zu machen.

Ein Nerv iſt ein feſter weißer Strang, welcher aus Nervenſtoff und zellenförmiger Subſtanz zuſammengeſetzt iſt. Der Nervenſtoff beſteht in beſondern Fäden, welche durch eine zellenförmige Membran verbunden ſind. Sie mögen einem Büſchel Haare oder Fäden verglichen werden, welche in einer aus der feinſten Membran beſtehenden Scheide ein⸗ geſchloſſen ſind.

Fig. 1.

Fig. 1 ſtellt einen ſehr vergrößerten Nerv dar, welcher aus abgeſonderten Faſern beſteht. A der Nerv, von ſeiner

12 Einleitung.

membranartigen Scheide umſchloſſen; B einer der Fäden in präparirtem Zuſtande.

Die Nerven ſind von verſchiedener Dicke. Einige ha— ben den Durchmeſſer eines dünnen Fadens, andere denje— nigen einer Peitſchenſchnur. Sie ſind über den ganzen Körper verbreitet und erſtrecken ſich über jeden Theil, wel— cher Empfindung, Bewegung oder eine mit anderen Thei— len zuſammenwirkende Thätigkeit hat.

Die Subſtanz eines geſunden und im vollen Beſitze ſeiner Thatkraft befindlichen Nervs iſt von einer dunkel— weißen Farbe; ſie iſt weich und breiartig, in der Mitte zwiſchen flüſſig und feſt, zu weich für die Sonde. Im Zu— ſtande der Fäulniß erlangt ſie eine grüne Farbe, im trock— nen Zuſtande wird ſie durchſichtig. Aetzendes Sublimat und ſalzſaure Soda härten ſie; Alkali löſt ſie auf. Jedes Nervenfäſerchen beſchreibt nicht eine gerade Linie, ſondern eine gewundene Zickzacklinie, gleich dem aus einem Strumpfe gezogenen Faden, welcher durch ſeine Geſtalt Elaſticität ge— wonnen hat. Mangel an Uebung hat entweder zur Folge, daß die Nerven-Subſtanz nicht in hinreichendem Maße aus— geſchieden wird, oder ihr Ausſehen verändert, denn der Nerv erhält dadurch einen gewiſſen Grad von Durchſichtigkeit.

Die Nerven ſind mit Arterien und Venen verſehen, ſie bedürfen der Zufuhr von Blut, wie aus der Thatſache erhellt, daß, wenn ein Glied ſeines Blutes beraubt wird die Nerven ihre Kraft und mit dieſer ihre Empfindlichkeit verlieren. Wenn ein Nerv zuſammengedrückt wird, ſo wird zu gleicher Zeit ſeine Gewalt über die Muskeln und ſeine Fähigkeit, Empfindungen zu vermitteln, unterbrochen; und wenn der Druck aufhört, ſo iſt ein ſchmerzliches Zittern die Folge. Das Gehirn, die Nerven des Auges und des Ohrs, die Nerven der Empfindung und Bewegung werden alle durch Veränderungen in der Circulation influencirt: und zwar jedes Organ, nach Verſchiedenheit ſeiner Ver— richtungen, in verſchiedener Weiſe.

Ein Nerv beſteht aus verſchiedenenen Faſern, obgleich

Einleitung. 15

die Scheidungslinien derfelben nicht wahrnehmbar find. Eine Faſer dient zum Zwecke der Empfindung, eine andere zur Mus: kelbewegung; eine dritte gehört zu dem Syſteme der Anre— gung der Bewegung (excito-motory system). Die Ver— richtung jeder einzelnen Faſer kann nur entdeckt werden, wenn man ihr folgt und ihre Verhältniſſe, und insbe— ſondere ihren Urſprung im Gehirn und dem Rückenmark beobachtet. In ihrer Subſtanz zeigt ſich keine Verſchie— denartigkeit. Alle ſcheinen gleichmäßig eine weiche, breiartige Subſtanz zu enthalten, welche in eine zellenförmige Maſſe eingeſchloſſen iſt und von einer Röhre dieſer Membran in ſolcher Weiſe umgeben iſt, daß ſie eine fortlaufende Linie breiartiger Nerven-Subſtanz darbietet, von dem Ende zu— nächſt dem Gehirn bis zu demjenigen, welches in einer Muskel oder in der Haut ausläuft.

Jede Nerven-Faſer hat ihre eigenthümliche Verrichtung, unabhängig von den anderen, welche mit ihr in derſelben Scheide ruhen, ihrer ganzen Länge nach. Einige Nerven vermitteln die Empfindung, andere, eben ſo vollkommen und zart gebaute beſitzen durchaus keine Empfindung. Die Empfindung hängt von dem beſondern Theile des Gehirns ab, mit welchem der Nerv an feiner Wurzel in Verbindung ſteht. Wenn der Augapfel gedrückt wird, ſo fühlen z. B. die äußeren Bedeckungen Schmerz, allein die Retina fühlt keinen Schmerz, ſondern vermittelt nur die Wahrnehmung von feurigen Ringen, welche vor dem Auge ſchweben. Die Nerven, deren Aufgabe iſt, die Muskeln zu beherrſchen, ſte— hen mit keinem Sinnes-Organe in dem Gehirn und mit keinen äußeren Eindrücken in Verbindung, daher werden ſie keine Empfindung und namentlich keinen Schmerz vermit— teln. Nerven dieſer Art mögen die innigſte Verbindung zwiſchen zwei Organen und ihr Zuſammenwirken begründen, ohne daß ſie jedoch irgend einen Schmerz oder überhaupt irgend ein Gefühl hervorrufen, wenn ſie gequetſcht oder verletzt werden. Ihre Verrichtung iſt nur, die Befehle des Willens zur Vollſtreckung zu bringen.

14 Einleitung.

Nahe bei der Vereinigung der Wurzeln der Rückgrats— nerven finden ſich an den hintern Wurzeln kleine röthliche Anſchwellungen, Ganglien genannt (S. D auf Fig. 3 S. 16). Ein Ganglion oder Nervenknoten gleicht an Ge— ſtalt den kreisförmigen Anſchwellungen, welche ſich an dem Stiel eines Strohhalms oder Rohrs zeigen; allein die Gan— glien folgen ſich nicht in regelmäßigen Zwiſchenräumen, au— ßer den mit dem großen ſympathetiſchen Nerv verbundenen, welche bei den Wirbelthieren eine regelmäßige Folge auf beiden Seiten des Rückenmarks bilden. Die Ganglien be— ſtehen aus derſelben Maſſe, wie die graue Subſtanz des Gehirns, und ſind, der Farbe nach, nur etwas röthlicher, als die Nerven.

Alle Nerven der Bewegung kreuzen ihre Aeſte, bevor ſie ſich in die Muskeln ſenken, und bilden ſo eine verſchlun— gene Nervenmaſſe, welche Plexus (Geflechte) genannt wird. Im Verhältniß zu der Zahl der Muskeln, welche mit Ner— ven verſehen werden, und zur Mannigfaltigkeit der Verbin— dungen, in welche ſie treten, iſt ein Plexus mehr oder weniger verſchlungen. Die Nervenfäſerchen, welche nach der Haut gehen, und die einfache Verrichtung haben, Em— pfindung zu vermitteln, nehmen regelmäßig ihre Richtung nach ihrer Beſtimmung ohne einen Plexus zu bilden. Von der Floßfeder eines Fiſches bis zum Arme des Menſchen wird der Plexus immer verwickelter, je mannigfaltiger oder ausgedehnter die am Ende auszuführenden Bewegungen ſind. Durch die Kreuzung der Faſern wird die Zuſammenwirkung der Muskeln vorbereitet.

Verſchiedene Säulen von Nervenſtoff ſind vereinigt, um das Rückenmark zu bilden. Dieſes iſt enthalten in der Rückenmarkſäule oder dem Rückgrate. Zahlreiche Nerven der Empfindung und Bewegung gehen und verzweigen ſich nach verſchiedenen Gegenden des Körpers. Das Gehirn und das Rückenmark geben jedoch den Nerven nicht ihre Entſtehung. Die Nerven bilden ſich zuerſt in den verſchie— denen Theilen, in welchen ſie ſich verzweigen, und dehnen

Einleitung. 15

fi) im Verhältniſſe ihres Wachsthums gegen das Gehirn und das Rückenmark hin aus, bis ſie ſich mit denſelben verbinden.

Erklärung.

Fig. 2. zeigt die Ver— bindung der Nerven und des Rückenmarks mit dem Gehirn. A iſt das Ge— hirn, welches durch die

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8 N e N

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bar wird. B ift das kleine Gehirn. C das Rücken— mark. DD die Nerven, welche von dem Rücken— marke aus nach dem Arme zu gehen. E die Nerven, welche nach den unteren

1 5 g ü Entfernung des hintern e Theils des Schädels ſicht—

71 Extremitäten verlaufen. A| 0000 die Nerven der 670 Bruſt und des Unter— | leibs. Obgleich dieſe Fi- I gur auf äußerſte anato— |

miſche Genauigkeit keinen Anſpruch hat, giebt ſie doch eine gute allgemeine Anſicht von dem Zuſam— menhang der verſchiedenen * Theile des Nervenſyſtems. Jeder Seitentheil des Rückenmarks beſteht aus drei Strängen oder Säulen: einer für die freiwillige Bewegung, einer für die Empfindung und einer für die unfreiwillige Be— wegung; ſo daß das Rückenmark im Ganzen ſechs, aufs in— nigſte verbundene, allein in ihren Verrichtungen verſchiedene

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16 Einleitung.

Stränge umfaßt. Das Kopfſtück dieſer zuſammengeſetzten Säule bildet das verlängerte Rückenmark.

Die vordere Säule jedes Seitentheils des Rückenmarks iſt für die freiwillige Bewegung beſtimmt; die Rückſeite für die Empfindung; und die mittlere für die unfreiwilligen Be— wegungen des die Bewegung erregenden Syſtems. Die zwei erſteren erſtrecken ſich nach dem Gehirn und verlieren ſich darin; denn ihre Verrichtungen ſtehen in Verbindung mit denjenigen Organen des Gehirns, welche die Empfindung und die Willens— kraft vermitteln ). Die letztere dagegen endet in dem ver— längerten Rückenmark, da ihre Verrichtung unabhängig von der Vernunft iſt, und ohne Verbindung mit dem Gehirn fortbeſtehen kann.

1 0 A.

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11 1 1. A

ADB das Rückenmark, von vorn geſehen. Die Ab— theilung in Seitentheile bezeichnet die Linie AB. Der Nervenſtrang C entfpringt in der hinteren Seitenabtheilung und vermittelt die Empfindung. Die Anſchwellung D iſt deſſen Ganglion. Der Nervenſtrang E entſpringt in der vorderen Seitenabtheilung und vermittelt die Bewegung. Er hat kein Ganglion. Beide Stränge vereinigen ſich beim Punkte F und gehen in einer Scheide bis zu ihrem Endpunkte fort.

1) S. unten $ 7.

Einleitung. 17

Die Muskeln haben zwei Nerven, welche jedoch ge— wöhnlich mit einander verbunden ſind. Bisweilen, wie z. B. im Kopfe, trennen ſie ſich oben, und dann finden wir, daß der eine Nerv die Empfindung und der andere die Bewe— gung vermittelt.

Cruveilhier ſagt, das Verhältniß der Empfindungs— und Bewegungs-Nerven des Menſchen ſei folgendes: bei den Nacken— Nerven Empfindung 3, Bewegung 1. Rücken-Nerven fo ziem— lich gleich. Lenden-Nerven Empfindung 2, Bewegung 1.

Vier Nerven kommen aus einem Strang oder einer Säule des Rückenmarks (dem Mittelpunkte des Syſtems der Anre— gung der Bewegung des Dr. Marſhall Hall), woraus weder die Nerven der Empfindung noch diejenigen allgemeiner frei— williger Bewegung hervorgehen. Verſuche beweiſen, daß dieſe Nerven die mit dem Athmen in Verbindung ſtehenden Be— wegungen anregen. Unter der Claſſe der Athmungsbewe— gungen müſſen wir zwei Arten unterſcheiden: erſtens die unwillkührlichen oder inſtinctartigen und zweitens diejenigen Bewegungen, welche einen Willensact begleiten. Im Schlafe werden wir uns des Wechſels zwiſchen Bewegung und Ruhe nicht bewußt, welcher dem inſtinctartigen Athmen eigenthümlich iſt. Dieſe Bewegung der Athmungs-Organe iſt unabhängig vom Gehirne. Auf der anderen Seite beruht das Athemholen aber auch bisweilen auf einem Willensacte, z. B. wenn wir riechen, die Bruſt ausdehnen oder einziehen wollen u. ſ. w. Sir Ch. Bell nimmt an, daß es dieſe zuſammengeſetzte Wirkſamkeit der Athmungs— Organe iſt, welche einen gewiſſen Grad von Verwickelung in das Syſtem der Athmungs-Nerven einführt. Das Zu— ſammentreffen der Nerven verſchiedener Syſteme iſt erfor— derlich zu Bewegungen, welche auf den erſten Anblick ſehr einfach ſind.

In demſelben Maße, als die Thiere auf der Stufen— leiter der Schöpfung ſich erheben, ſind ihnen neue Organe verliehen, und in demſelben Maße, als ihnen ueue Organe und neue Verrichtungen zugetheilt werden, finden ſich auch

5)

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18 Einleitung.

neue Nerven mit entſprechender Kraft der Bewegung und der Empfindung.

Durch viele Verſuche iſt hergeſtellt, daß das Rücken— mark und deſſen Verlängerung bis zu den Vierhügeln und zum fünften Nervenpaar zur Vermittelung der körperlichen Empfindung und der unfreiwilligen Bewegung weſentlich, während die Gehirn-Lappen zu dieſem Zwecke nicht erfor— derlich ſind ).

Das Gehirn iſt ein großes Nervengewebe, welches ver— ſchiedene Falten bildet, wie |

Fig. 4.

zeigt. Hier ſehen wir deſ— ſen obere Fläche, umgeben von dem Schädel, deſſen obere Hälfte jedoch durch einen horizontalen Durch— ſchnitt entfernt worden iſt.

Das Gehirn beſteht aus zwei correfpondirens den Hälften, welche He— miſphären genannt wer— den. Die Linie A B trennt dieſelben. Die Stirn iſt bei B. Die, Fig. 4 deutlich ſichtba— ren, Falten oder Windungen ſind von verſchiedener Tiefe. Bei dem Erwachſenen ſpielt ſie zwiſchen einem halben und einem ganzen Zoll. Die Hemiſphären bilden ſich vor der Geburt von vorn nach hinten und von außen nach innen. Zuerſt beſtehen fie nur aus einer dünnen membran (haut)- artigen Schicht Nervenſubſtanz. Bei der Geburt ſind

I) Dr. Marshall Hall, Lectures on the Nervous-System and its Diseases. London 1836. Solly, on the Brain C. Combe, System of Phrenology 5% Edit. Vol. I. p. 81-96.

Einleitung. 19

fie gewöhnlich drei bis vier Zoll lang und zwei Zoll breit. Das Gehirn bildet ſich vor dem Schädel. In dem Fötus iſt es bedeckt von drei Membranen, der ſ. g. pia mater, arachnoidea und dura mater, und außerhalb der— ſelben von einer knorpligen Membran, welche dazu beſtimmt iſt, in den Schädel überzugehen. In dem ſiebenten oder achten Monat nach der Empfängniß bilden ſich darin Ver— knöcherungspunkte, welche ſich nach und nach über das ganze Gehirn ausdehnen. Im Laufe von acht bis neun Jahren voll— endet ſich der Verknöcherungsprozeß. Da jedoch der Schä— del, wie jeder andere Knochen des menſchlichen Körpers, Gefäße enthält, welche ihm ſeine Nahrung zuführen und die verbrauchten Theile wieder entfernen, ſo unterliegt er denſelben Wechſelfällen des Lebens, wie die übrigen Theile des Körpers. Es iſt namentlich eine merkwürdige Thatſache, daß die Schädel ſehr alter Leute in der Regel kleiner ſind, als diejenigen der Menſchen in kräftigen Jahren). Man muß ſich daher den Schädel nicht als eine unveränderliche, das Gehirn bedeckende Kapſel, ſondern als eine, mit demſelben im innigſten Zuſammenhang ſtehende, ſeinem Druck nachgebende und ſeinem Zuſammenſchrumpfen folgende Decke vorſtellen.

Das Gehirn erhält im Verhältniß zu dem übrigen Körper eine überaus große Zufuhr an Blut. Jede Seite des Gehirns hat ihre beſonderen Arterien, welche ihr Blut zuführen; allein die Canäle, durch welche daſſelbe zum Her— zen zurückkehrt, ſind ihnen gemeinſchaftlich. Das Blut muß mit Sauerſtoff geſättigt ſein, wenn das Gehirn und folge— weiſe die Verrichtungen der Seele nicht leiden ſollen. Un— ter und hinter den beiden Hemiſphären findet ſich noch eine durch eine ſtarke Membran getrennte Gehirnmaſſe, wel— che das kleine Gehirn genannt wird. Vermittelſt markiger Faſern wird jedoch die Verbindung zwiſchen beiden Gehirn— theilen hergeſtellt.

I) Tiedemann, das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Outangs vergl. Zeitſchr. f. Phrenologie. Bd. I. H. 2 S. 173. 0 *

20 Einleitung.

Die Hemiſphären ihrerſeits theilen ſich in drei Theile, welche Lappen genannt werden. Der vordere ruht auf dem Orbitalrande und iſt durch eine tiefe Furche von dem mitt— leren getrennt, während der mittlere Lappen ſich von dem hintern kaum merklich abſondert.

Das Gehirn neugeborner Kinder iſt weich und keine Spur von Faſern iſt darin zu entdecken. Erſt ſpäter bil— det ſich ein Faſergewebe, welches ſich mehr und mehr ent— wickelt, bis das Kind zum Manne wird.

Das Gehirn beſteht aus zwei Subſtanzen: der grauen oder Rinden- und der weißen oder Mark-Subſtanz. In den dunkeln Falten der Fig. 5 ſieht man dieſe beiden Sub— ſtanzen deutlich. Die erſtere hat kein faferiges Anſehen und wird Rinden-Subſtanz genannt, weil ſie das Gehirn wie die Rinde den Baum bedeckt.

Dieſe graue Subſtanz verbreitet ſich über alle oberen und ſeitlichen und einen Theil der unteren Oberflächen des Ge—

Einleitung. 21

hirns. Sie bedeckt die weiße oder Mark-Subſtanz und iſt an einigen Stellen in inniger Verbindung mit ihr. Sie vermiſcht ſich mit der weißen Subſtanz nicht allmählig; im Gegentheil tritt die Unterſcheidungslinie beſtimmt her— vor, wie Fig. 5 zeigt. Die graue Subſtanz ſcheint ver— hältnißmäßig mehr Blut zu enthalten, als die weiße.

Die Markſubſtanz des Gehirns iſt weiß und faferig. Sie bildet die inneren Theile der Gehirnmaſſe. Eine Reihe von Faſern erſtreckt ſich von dem verlängerten Rückenmark aufwärts (ſ. Fig. 5), indem ſie ſich fächerartig gegen die Windungen hin ausdehnt. Eine andere Reihe von Faſern nimmt die Richtung von einer Seite nach der andern des Gehirns.

Die graue Subſtanz ſcheint weſentlich die Organe des Geiſtes zu bilden, während die faſerige Mark-Subſtanz einen Verbindungs-Apparat enthält, durch welchen das Zuſammenwirken der verſchiedenen Organe und ihre Ein— wirkung auf die übrigen Theile des Körpers vermittelt wird.

Die äußere oder graue Subſtanz des Gehirns ſcheint in Falten geſchlagen zu ſein, um durch eine Vergrößerung der Oberfläche ihren Verrichtungen mehr Kraft zu verleihen. Der größere Theil des Gehirns iſt für körperliches Gefühl unempfänglich. Auch dieſer Umſtand deutet darauf, daß ihm höhere, geiſtige Verrichtungen obliegen.

Zwiſchen beiden Theilen des Gehirns beſteht eine ge— wiſſe Uebereinſtimmung, allein keine vollkommene Symme— trie, wie dieſes z. B. auch bei den Blutgefäßen, den Mus— keln und den Nerven der rechten und linken Seite des menſchlichen Körpers der Fall iſt ).

Die beiden Hemiſphären des Gehirns werden durch zahlreiche, Commiſſuren genannte, Faſern in Verbindung gebracht, welche von einer Seite nach der anderen gehen. Die größte derſelben wird corpus callosum, ein durch den

1) Ueber dieſen Gegenftand |. Jeitſchrift für Phrenologie Bd J. H. 4. S. 395 ff.

22 Einleitung.

vordern Gehirnlappen laufender Nervenſtrang wird die vor- dere Commiſſur genannt. Außer dieſen beiden finden ſich noch mehrere andere. Auch die vorderen und hinteren Theile des Gehirns werden durch Faſern in Verbindung gebracht, welche von der Stirn nach hinten laufen. Die obere, der Länge nach gehende Commiſſur liegt in beiden Hemiſphären unmittelbar über dem corpus callosum und berührt die Mittellinie. Eine lange Windung iſt daſelbſt ſichtbar, und wenn man die graue Subſtanz in einem prä— parirten Gehirn hinwegſchabt, wird man der Länge nach laufende Faſern entdecken, welche von dem hintern nach dem vordern Gehirnlappen ziehen. Der Fornix bildet eine weiter unten, der Länge nach laufende Commiſſur, welche die unteren Theile des vordern und hintern Lappens ver— bindet.

Die Organe, mit Einſchluß ihrer vorausgeſetzten Ver: _ bindungs-Apparate, erſtrecken ſich von der Oberfläche des Gehirns bis zum verlängerten Rückenmarke. Jedes Organ gleicht einem Kegel, deſſen Spitze ſich im verlängerten Rückenmarke und deſſen Baſis ſich an der Oberfläche des Gehirnes befindet Im Verhältniß zum Durchmeſſer des Organs auf der inneren Oberfläche des Schädels ſteht die Dicke und die Zahl der darin enthaltenen Faſern. Jedoch ſind keine Scheidelinien zwiſchen den einzelnen Organen zur Zeit noch entdeckt worden, ſo wenig als zwiſchen den ver— ſchiedenen, das Rückenmark bildenden Nerven der Bewegung und der Empfindung.

Jedes Organ, welches die anderen in ſeiner Nähe be— findlichen an Größe übertrifft, giebt dem Theile des Schä— dels, der es bedeckt, eine beſondere Geſtalt, welche auf den phrenologiſchen Köpfen nachgebildet iſt.

Die das ganze Gehirn umſchließende dünne Membran, genannt pia mater, ſenkt ſich in ſeine Furchen und dient dazu, die Blutgefäße nach ſeinen verſchiedenen Theilen zu verbringen. Unmittelbar über der pia mater finden ſich zwei Lagen einer noch dünnern Membran, welche ihrer

Einleitung. 23

Zartheit wegen einem Spinnengewebe gleicht, und daher tunica arachnoidea genannt wird. Sie bedeckt die Ober— fläche des Gehirns gleichförmig, ohne in deſſen Falten ein— zudringen. Eine flüſſige Ausſcheidung, welche ſich in den entgegengeſetzten Oberflächen dieſer Membran bildet, verhin— dert, daß ſie an einander feſtkleben. Die dura mater iſt eine dünne, aber ſtarke, dunkele Membran, welche feſt an der inneren Oberfläche des Schädels anſchließt und die äu— ßere Oberfläche des Gehirns oberhalb der letztgenannten Membran umfaßt. Im geſunden Zuſtande iſt ſie unem— pfindlich. Das in dieſen Membranen eingeſchloſſene Gehirn füllt das Innere des Schädels vollkommen aus, ſo daß ein Gips-Abguß der inneren Seite des Schädels ein Facſimile des von der dura mater umſchloſſenen Gehirns bildet.

Die beifolgende Fig. 6.

ſtellt einen Schädel dar, deſſen beide oberen Seitentheile bis in die Gegend der Augenbraunen abgeſchnitten ſind. Die meiſten Theile des Schädels beſtehen aus zwei Platten, der inneren und der äuße—

ren, in deren Mitte ſich eine ſchwammige Maſſe befindet, welche Diploe genannt wird. In obiger Abbildung (Fig. 6) iſt dieſelbe jedoch dicker als in Wirk— lichkeit dargeſtellt. -

Der Schädel beſteht aus neun Knochen, welche durch verſchiedene Näthe mit einander vereinigt werden. Er iſt die Decke, welche das Gehirn umſchließt und ſeine Geſtalt nach derjenigen des Gehirns bildet). Mit dieſem nimmt er zu, verändert er ſich und nimmt er wieder ab; drückt das Gehirn von innen, ſo reihen ſich die neu zugeführten Theilchen in Gemäßheit dieſes Druckes an. Nur in Krank— heitsfällen, z. B. bei Waſſerköpfen und bei Perſonen hohen

I) Gall, sur les fonctions du cerveau Tom, Ill. p. I ff.

24 Die Grundlehren der Phrenologie.

Alters, entſpricht daher die Geſtalt des Schädels derjenigen des Gehirnes im Allgemeinen nicht. An einzelnen Stellen des Schädels finden übrigens beſondere Schwierigkeiten der Beobachtung ſtatt; ſo z. B. bietet ſolche die Lambda-Nath Fig. 7. in der Gegend des Organs des Einheitstriebs, die Pfeil- und Stirn-Nath in der Gegend der Drgane des Selbſtgefühls, der Feſtigkeit, der Ehrerbietung und des Wohlwollens, und die Stirnhöhle (ſ. Fig. 7) in der Gegend der Or— 8 gane des Gegenſtands -, Geſtalt-, Größen-, Gewichts- und Ortsſinnes ).

9 2. Die Grundlehren der Phrenologie.

Die Frage, welche Kräfte des menſchlichen Geiſtes als Grundkräfte erſcheinen, läßt ſich, inſofern wir eine auf dem Boden der Wirklichkeit beruhende Antwort wünſchen, nur nach vorgängiger Beobachtung der Wirklichkeit beantwor— ten. Inſofern wir uns dagegen mit bloßen Speculationen begnügen wollen, brauchen wir uns allerdings um Beobach— tung und Wirklichkeit nicht zu bekümmern. Nur dürfen wir dann die bloße Speculation nicht für Wirklichkeit aus— geben, ſondern für das, was ſie iſt: Räſonnement ohne andere Baſis, als die Perſönlichkeit deſſen, der es aufftellt, welches auf Anerkennung von Seiten anderer Perſönlich— keiten durchaus keinen Anſpruch machen kann.

Als wirkliche Grundkräfte des Geiſtes können wir aber nur diejenigen anerkennen, welche im wirklichen Leben als ſolche ſich geltend machen. Das Gedächtniß z. B. iſt keine Grundkraft, weil die tägliche Erfahrung uns zeigt, daß ein Menſch ein treffliches Gedächtniß für Muſik hat, welcher ein ſehr ſchlechtes für Zahlen beſitzt, daß ein Menſch

1) S. unten $ 2. No. 4.

Die Grundlehren der Phrenologie. 25

ſein Gedächtniß für Worte verliert, während er ſein Ge— dächtniß für Begriffe und Gefühle behält.

Eine Grundkraft muß durchgängig und für ſich allein einen beſtimmten Grad intenſiver Stärke beſitzen, muß im Laufe des Lebens ein beſtimmtes, ihrer intenſiven Stärke entſprechendes, durch die übrigen Grundkräfte nur der Rich— tung nach modificirtes Streben an den Tag legen. Jede Grundkraft hat daher einen Charakter der Selbſtändigkeit und Abgeſchloſſenheit, welchen die durch das Zuſammenwirken verſchiedener Grundkräfte, oder Theile von Grundkräften auf dem Gebiete der Speculation angenommenen Geiſtes— kräfte, z. B. Gedächtniß, Willenskraft u. ſ. w. nicht beſitzen.

Die Grundſätze, auf welchen die einzelnen phrenologi— ſchen Organe beruhen, ſind die folgenden:

1. Das Gehirn iſt das Central-Organ des Gei- ſtes, es iſt bei jeder Aeußeruung geiſtiger Thätigkeit betheiligt, obgleich wir uns dieſer Betheiligung eben ſo wenig bewußt werden, als der Wirkſamkeit der Nerven bei der Bewegung unſerer Glieder oder bei der Vermittelung irgend einer Empfindung. Dieſer erſte Grundſatz der Phre— nologie iſt nunmehr ſo ziemlich von allen denkenden Phy— ſiologen und Pſychologen anerkannt. Er wird daher einer weiteren Ausführung nicht bedürfen ).

Einige Beiſpiele werden jedoch geeignet ſein, die Wahr— heit dieſes Satzes anſchaulicher zu machen.

Sir Aſtley Cooper erzählt, daß er bei der Unterſuchung des Kopfes eines jungen Mannes, welcher einen Theil ſeines

1) Eine Reihe der überzeugendſten Beweisgründe finden ſich na- mentlich in Gall's Werke: „Sur les fonctions du cerveau.“ Da die— ſes jedoch in Deutſchland ſehr wenig verbreitet iſt, ſo citire ich den aus demſelben zu Nürnberg erſchienenen Auszug, welcher den Titel führt: „Gall's vollſtändige Geiſteskunde.“ S. 42—60. 86— 117. Au: toritäten für dieſe Anſicht ſind: Burchard, Boerhave, van Swieten, Channet, Haller, Mayer, Sömmerring, Cuvier u. A. m.

26 Die Grundlehren der Phrenologie.

Schädels gerade über den Augenbraunen verloren, deutlich das Pulſiren des Gehirns geſehen habe. Es war regel— mäßig und langſam. Zufällig wurde der Patient durch ein abgeſchlagenes Verlangen geiſtig aufgeregt, und ſogleich ſtrömte das Blut mit vermehrter Stärke nach dem Ge— hirne und das Pulſiren wurde frequent und heftig. Wenn man deshalb, fährt Aſtley Cooper fort, unterläßt, den Geiſt ruhig zu halten, ſo werden andere Mittel bei der Behand— lung von Gehirnverletzungen nicht erfolgreich ſein.

In einem ähnlichen Falle, den Blumenbach beobachtete, bemerkte er, daß das Gehirn ſank, ſobald der Kranke in Schlaf ver fiel, und wieder von Blut anſchwoll, ſobald er erwachte. Derartige Erſcheinungen ſind wiederholt von Aerzten beobachtet und beſchrieben worden.

Hr. Richerand behandelte einen Kranken, deſſen Ge— hirn in Folge einer Schädelkrankheit offen gelegt wurde. Eines Tages drückte er beim Abnehmen des Verbandes zu— fällig etwas mehr als gewöhnlich darauf, und im Augen— blick hielt der Kranke, der kurz zuvor auf alle ſeine Fragen richtig geantwortet, mitten in einem Satze inne, und wurde ganz bewußtlos. Da der Druck keinen Schmerz verurſachte, wurde er dreimal wiederholt, und jedesmal mit demſelben Erfolge. Der Kranke gewann regelmäßig ſeine Geiſtesthä— tigkeit wieder, ſobald der Druck aufhörte. Auch Fälle die— ſer Art ſind häufig beobachtet worden.

Wenn wir daher an Geiſtesthätigkeit in dieſem Leben denken, müſſen wir damit immer eine entſprechende Thätig— keit des Gehirns in Verbindung bringen. Wenn der Geiſt belebt iſt, ſo iſt das Gehirn erregt; wenn der Geiſt ermü— det iſt, ſo iſt das Gehirn es auch. Wenn der Geiſt krank iſt, ſo ſteht Krankheit des Gehirns unwandelbar immer da— mit in Verbindung. Wenn die Wirkſamkeit des Geiſtes unterdrückt iſt, ſo iſt auch diejenige des Gehirns unter— brochen. Nur wenn wir uns die innige Verbindung zwi— ſchen Körper und Geiſt vergegenwärtigen, können wir die

Die Grundlehren der Phrenologie. 27

aus dieſer Verbindung hervorgehenden Erſcheinungen des Seelenlebens des Menſchen wie der Thiere richtig wür— digen ).

2. Das Gehirn wirkt aber nicht als ein einziges, untrennbares Organ, ſondern als eine, allerdings zu einem Ganzen verbundene, Mehrheit ſolcher ).

Dieſer Grundſatz der Phrenologie ſtimmt überein mit den allgemeinen Grundſätzen der Phyſiologie. Denn auf Specialität beruht der ganze Körper des Menſchen, wie des Thieres. Der Seh-Nerv dient nur zur Vermittelung des Sehens, der Geruchs-Nerv nur zur Vermittelung des Geruchs, der Bewegungs-Nerv vermittelt nur Bewegung, der Empfindungs-Nerv nur Empfindung. Die Analogie ſpricht alſo ſchon dafür, daß derſelbe Grundſatz der Spe— eialität auch auf das Gehirn ſeine Anwendung finde, daß alſo ganz verſchiedenartige geiſtige Thätigkeiten nicht durch ein und daſſelbe Organ vermittelt werden. Empfindung und Bewegung, welche anerkanntermaßen verſchiedene Ner— ven zu ihren Organen haben, ſind nicht verſchiedenartiger, als

1) Die innige Verbindung zwiſchen Körper und Geiſt, wie die Phrenologie ſie lehrt, ſpricht ſich recht bezeichnend in den Worten Lich— tenberg's (Schrift. I. 33) aus: „Ich habe es ſehr deutlich bemerkt, daß ich oft eine andere Meinung habe, wenn ich liege, und eine andere, wenn ich ſtehe.“ Siehe auch: Introduction a Pétude philosophique de la Phrenologie par le Docteur Bessieres. Paris et Londres 1836. p. 34-61. Es werden hier ſehr gründlich die irrigen Meinungen wir derlegt, als ſei nicht das Gehirn, ſondern einer oder der andere Theil des organifchen Körpers der Centralpunkt der Wirkſamkeit der Seele, der Menſch könne noch ſeine geiſtigen Verrichtungen üben, auch nach— dem durch Wunden, durch Waſſer im Gehirn, oder durch Verknöche— rung daſſelbe gänzlich zerſtört und aufgelöſt worden ſei. S. auch Gall's Vollſtändige Geiſteskunde S. 59. Spurzheim, on Phreno- logy p. 23—53.

2) Spurzheim, on Phrenology S. 64—79. Phrenological Jour- nal of Edinburgh Vol. IV. No. XIII. p. 93.

28 Die Grundlehren der Phrennlogie.

Farbenſinn und Geſtaltſinn. Warum ſollte derſelbe Grund— ſatz der Specialität hier nicht ſo gut als dort ſtattfinden?

a) Das Gehirn wird in jeder Thierclaſſe immer com— plicirter, in demſelben Verhältniß, als die Claſſe in der Rei— henfolge geiſtiger Entwickelung höher ſteht. Beginnend bei den Inſecten und Fiſchen, fortſchreitend zu der Claſſe der Vögel und zu der der Säugethiere bis zu den dem Men— ſchen am nächſten ſtehenden Vierfüßlern und dem Menſchen, vermehrt ſich fortwährend der Hirnkörper durch neu hinzu— tretende Theile. Die Zahl der Organe wächſt durchgängig mit den Fähigkeiten, und die größte Hirnerhebung findet bei allen Thieren genau in den Gegenden ſtatt, wo die Geiſtesvermögen ihren Sitz haben, durch welche ſie ſich am meiſten auszeichnen ).

b) Die geiſtigen Fähigkeiten zeigen ſich, nehmen zu oder ab, je nachdem ihre Organe ſich entwickeln, ſich vergrößern. oder abnehmen. Der Geruchs-Nerv und der Geſchmacks-Nerv vervollkommnen ſich z. B. eher, als der Geſichts-Nerv und der Gehör-Nerv; daher auch das Kind eher gut riechen und ſchmecken, als hören und ſehen kann. Bei neugeborenen Kin— dern ſieht man kaum Spuren von den Fibern in dem Gehirn, und ſie erſcheinen eher in dem hintern und mittlern Gehirn— lappen (woſelbſt ſich die Organe des Begehrungsvermögens und der Gefühle befinden), als in dem vordern (woſelbſt die Organe der Intelligenz find). Der faferige Bau des kleinen Gehirns (des Organs des Geſchlechtstriebes) wird nur nach und nach ſichtbar, und entwickelt ſich erſt nach dem achten und zehnten Jahre. Die vorderen und oberen Theile ent— wickeln ſich erſt einige Monate nach der Geburt mit einer gewiſſen Kraft. Das Gehirn wächſt nach und nach, und hat zwiſchen dem zwanzigſten und vierzigſten Jahre ſeine

1) Foreign quarterley Review No. III. oder Deutſch: Ueber Geſchichte und Weſen der Phrenologie von Chenevix, überſetzt von Cotta. Dresden u. Leipzig 1838. S. 66 ff.

Die Grundlehren der Phrenologie. 29

Vollendung erreicht). Von nun an ſcheinen einige Jahre hindurch keine merklichen Veränderungen vorzugehen; in— deſſen nimmt es im Alter wieder ab, wird magerer und die Windungen find ſich weniger nahe ). Ganz gleichen Schritt mit der ordnungsmäßigen Entwickelung des Ge— hirns hält die ordnunungsmäßige Entwickelung des Gei— ſtes. Das Kind begehrt, bevor es erkennt, und es erkennt, bevor es denkt. Jedoch entwickelt ſich der Geſchlechtstrieb ſpäter, als die anderen Triebe, z. B. der Zerſtörungstrieb, Be— kämpfungstrieb u. ſ. w. und die verſchiedenen Organe und Kräfte des Erkenntnißvermögens entwickeln ſich auch nicht gleichzeitig). Das Kind erkennt einen Gegenſtand im all— gemeinen früher, als es deſſen einzelne Eigenſchaften, z. B. Farbe und Geſtalt erkennt. Entfernung und Gewicht nimmt es erſt ſpäter richtig wahr, oder mit phrenologiſchen Wor—

1) Fig. 8. Fig. 9. Schädel eines neugeborenen Schädel eines Er—

Kindes. wachſenen.

2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 23 ff.

3) Goethe ſagt hierüber im zweiten Buche aus feinem Leben: „Die erſten Organe, die ſie (die Natur) den Kindern mit auf die Welt giebt, ſind dem nächſten unmittelbaren Zuſtande des Geſchöpfs gemäß; es bedient ſich derſelben kunſt- und anſpruchlos auf die geſchickteſte Weiſe zu den nächſten Zwecken. Das Kind an und für ſich betrachtet, mit ſeines Gleichen und in Beziehungen, die ſeinen Kräften angemeſ— ſen ſind, ſcheint ſo anſtändig, ſo vernünftig, daß nichts darüber geht, und zugleich ſo bequem, heiter und gewandt, daß man keine weitere Bildung für daſſelbe wünſchen möchte.“ Mit dieſen ohne Beziehung auf Gehirnbildung gemachten Bemerkungen des großen Naturbeobach— ters und Dichters treffen diejenigen des Anatomen und Arztes in auf— fallender Weiſe zuſammen. S. Bessieres, introduction à l’&tude phi— losophique de la Phrénologie p. 160—169. 198 ss.

30 Die Grundlehren der Phrenologie.

ten: der Gegenſtandsſinn entwickelt ſich früher beim Kinde, als Farben- und Geſtaltſinn, und dieſe früher, als Raum— oder Größenſinn und Gewichtſinn.

c) Geiſtige Anſtrengung ermüdet nicht alle Geiſtes— vermögen zugleich, ſondern nur die, welche vorzugsweiſe in Thätigkeit ſind. Sie ruhen aus, wenn wir den Ge— genſtand unſerer geiſtigen Thätigkeit verändern, z. B. wenn wir, nachdem wir angeſtrengt gerechnet haben, anfangen zu zeichnen, oder, nachdem wir uns mit Sprachen beſchäftigt, anfangen zu muſiciren. In gleicher Weiſe ruhen die Mus— keln aus, wenn wir unſere Stellung verändern, oder eine Laſt, die wir tragen, von einer Schulter zur andern bringen.

d) Ebenſo läßt ſich die zwiſchen dem männlichen und weiblichen Geſchlechte beſtehende geiſtige Verſchiedenheit nur mittelſt der Annahme einer Mehrheit von Organen befrie— digend erklären. Der Verſtand des Weibes zeichnet ſich gleich demjenigen des Kindes durch Schärfe, Raſchheit, Gedächtniß und die Wahrnehmung von Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten aus, während derjenige des Mannes mehr Tiefe im Nachdenken und Gründlichkeit im Urtheil beſitzt. In Uebereinſtimmung hiermit gleicht die weibliche Stirn mehr der kindlichen, während die männliche, höhere, ſich weiter von ihr entfernt). Bei dem Manne iſt das Denk— vermögen, der Geſchlechtstrieb, der Zerſtörungstrieb, bei dem Weibe die Kinderliebe und die Anhänglichkeit in der Regel thätiger, und bei dem Manne ſind jene, bei der Frau dieſe Organe in der Regel größer.

e) Aehnliche Bildung des Gehirns iſt immer verbun— den mit Aehnlichkeit der geiſtigen Anlagen und Neigungen, trotz ſonſtiger Verſchiedenartigkeit der Körpergeſtaltung, und umgekehrt iſt Verſchiedenartigkeit der Gehirnbildung ebenſo feſt immer verbunden mit Verſchiedenartigkeit der Anlagen und Neigungen, trotz aller ſonſtigen Aehnlichkeit der Kör— perbeſchaffenheit. Dieſe Wahrheit wird anſchaulich bei der

I) Phrenological Journal of Edinburgh 1824. No. III. p. 344 ss.

Die Grundlehren der Phrenologie. 31

Betrachtung der Individuen derſelben Familie und derſelben Nation nach dem Grundſatze, daß ſich in der Regel der all— gemeine Typus ſowohl in der Familie als in der Nation von Eltern auf Kinder fortpflanzt, ungeachtet aller damit verbundenen individuellen Verſchiedenheiten. Dieſer Typus ſpricht ſich insbeſondere auch aus durch denjenigen der Ge— hirnbildung ).

Der Unterſchied zwiſchen dem Gehirn des Fiſches und des Menſchen, des Kindes und des Erwachſenen, des Man— nes und der Frau und der verſchiedenen Menſchenracen und Menſchencapacitäten beſteht nicht allein in der Größe, ſon— dern auch in den Verhältniſſen der einzelnen Theile deſſelben. Dieſer Thatumſtand in Verbindung mit dem Entwicklungs— gang des Menſchen, dem Gegenſatze der Geſchlechter und der Verſchiedenheit der Anlagen der verſchiedenen Menſchenracen und Individuen führt aufs beſtimmteſte darauf, daß der oben ausgeſprochene allgemeine phyſiologiſche Grundſatz der Spe— cialität auch auf das Gehirn ſeine Anwendung findet. Nur durch die Annahme deſſelben läßt ſich die Specialität menſch— licher Anlagen, Vorzüge und Mängel erklären.

Wäre das Gehirn in ſeiner untrennbaren Totalität Or— gan des Geiſtes, wie könnte dieſer dann in einer Beziehung, z. B. in Betreff der Muſik, ſehr ausgezeichnet, in einer an— dern dagegen, z. B. in Betreff der Gewiſſenhaftigkeit, ſehr mangelhaft ſein? Wie könnte der Geiſt in einer Bezie— hung, z. B. in Betreff des Rechnens, müde, in anderer, z. B. in Betreff des Zeichnens, friſch ſein? Wäre das Gehirn gleichmäßig in jeder Beziehung Organ des Geiſtes, ſo müßte ſich dieſer auch gleichmäßig in jeder Beziehung ſchwach oder kräftig, müde oder friſch zeigen, was der täg— lichen Erfahrung widerſpricht. Die Erſcheinungen partiellen Wahnſinns, partiellen Idiotismus und partieller Genialität bieten Beiſpiele. Wenn durch zu heftige Anſtrengung eines

1) S. meine Schrift: Die Phrenologie in und außerhalb Deutſch— land $ 8.

32 Die Grundlehren der Phrenologie.

Organs oder eines Geiſtesvermögens Monomanie hervorge— bracht iſt, ſo vollbringt man die Heilung zuweilen dadurch, daß man die Thätigkeit anderer Organe oder Geiſteskräfte anregt, wodurch das entzündete Organ zur Ruhe gebracht wird. Jedes Geiſtesvermögen erkrankt zugleich mit ſeinem Organ und wird mit demſelben wiederhergeſtellt. Aeußer— liche Mittel, an einem Theile des Kopfes angewendet, ha— ben ſchon mehrmals die geſunde Thätigkeit der darunter lie— genden Organe und der mit denſelben verbundenen Geiſtes— kräfte zurückgerufen ). Was die verſchiedenen Stufen der Entwickelung betrifft, worauf die verſchiedenen Menſchen— ſtämme ſtehen, ſo iſt bisher desfalls viel zu viel Gewicht auf Klima, Erziehung, Beiſpiel und andere äußere Ver— hältniſſe gelegt worden. Unter denſelben äußeren Verhält— niſſen, unter demſelben Klima entwickelt ſich z. B. in Nord— amerika der Ureinwohner, der Neger und der Europäer in ganz verſchiedener Weiſe. Der Grund dieſer Verſchiedenheit iſt die durch die Schädelbildung ſchon angedeutete Verſchie— denheit der Gehirnbildung und die damit in Verbindung ſtehende Verſchiedenartigkeit der Grundkräfte des Geiſtes.

Partielle Verletzungen des Gehirns haben entſprechende partielle Beeinträchtigungen der Geiſtesvermögen zur Folge, während ein Druck, welcher das ganze Gehirn berührt, gänz— liche Bewußtloſigkeit herbeiführt. Wir ſehen hier den Ge— genſatz partieller und genereller Verletzungen und ihrer Fol— gen, welche auch nur durch die Annahme einer Mehrheit von Geiſtesorganen erklärlich wird. Ohne dieſe Annahme wäre ein Kampf der verſchiedenen Geiſtesvermögen nicht möglich. Ein und daſſelbe Geiſtesorgan kann nicht zu gleicher Zeit das Verlangen zu zerſtören und das Verlan— gen wohl zu thun, aber es können verſchiedene Organe in gleichzeitiger Thätigkeit verſchiedene Regungen des Gei— ſtes vermitteln, die ſich widerſprechen und Schwankungen hervorrufen.

1) Chenevix S. 68.

Die Grundlehren der Phrenologie. 33

Auch der Schlaf und die Traumwelt ſind nur mit der Annahme einer Mehrheit von Organen des Geiſtes in Ueber— einſtimmung zu bringen, während ſie mit der Annahme eines einzigen durchaus unvereinbar ſind.

Auf das Vorhandenſein einer Einheit aus dieſer Mehr— heit, d. h. einer Grundkraft des Geiſtes, werden wir daher namentlich geführt:

a) wenn wir bemerken, daß in einem Individuum eine beſtimmte Geiſtesthätigkeit einen gewiſſen Grad der Stärke oder der Schwäche beſitzt, welche der Stufe, worauf ſeine übrigen geiſtigen Kräfte ſtehen, nicht entſpricht, z. B. wenn ein im Allgemeinen ſchwach begabter Menſch einen hohen Grad des Tonſinns, des Farbenſinns, des Bautalents, des Wohlwollens u. ſ. w. an den Tag legt, oder

b) wenn eine Kraft eine beſtimmte Veränderung, ſei es Zunahme, Abnahme oder Verwirrung erfährt, während die andern Kräfte ſich gleich bleiben, oder wenigſtens mit jener nicht gleichen Schritt halten. Als Beiſpiele dienen die Fortſchritte, welche junge Leute nicht ſelten in Spra— chen, im Rechnen, in der Muſik machen, während ſie in anderen Beziehungen nicht von der Stelle rücken; ſodann die Rückſchritte, welche alte Leute in dieſen Beziehungen machen, während ſie in anderen ſich gleich bleiben, endlich die Entſtehung partiellen Wahnſinns, der ſich nicht ſelten blos in Betreff einer oder der anderen Grundkraft, z. B. in Betreff der Eitelkeit (Beifallsliebe), des Stolzes (Selbſt— gefühl) u. ſ. w. entwickelt. Alle dieſe Erſcheinungen deuten darauf, daß es eine Grundkraft im Menſchen für die Spra— che, das Rechnen, die Muſik, den Beifall der Mitwelt und das Gefühl des eignen Werths gibt. Die betreffenden Or— gane ſind die Organe des Sprachſinns, des Zahlenſinns, des Tonſinns, der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls.

c) Wenn ein Geſchlecht durchſchnittlich gewiſſe Eigen— ſchaften in höherm, das andere in niedrigerm Grade beſitzt.

d) Endlich wenn einemMenſchenſtamme durchſchnittlich ge— wiſſe Anlagen in höherm, andere in niedrigerm Grade eigen ſind.

3

34 Die Grundlehren der Phrenologie.

Die beiden letzten Fälle (e d) werden noch unterſtützt durch die an der Thierwelt gemachten Beobachtungen, z. B. daß das Männchen der Singvögel ſingt, das Weibchen nicht, daß die niſtenden Vögel, der Biber und manche andere Thiere entſchiedenes Bautalent beſitzen, während höher begabte Thiere, z. B. das Pferd, der Hund und andere, dieſes Talent ent— behren ).

Alle dieſe Wahrnehmungen berechtigen uns zu dem Schluſſe, daß die Kräfte, welche uns auf dem bezeichneten Wege begegnen, urſprüngliche Kräfte, Elemente des geiſti— gen Lebens ſind, die ſich nicht weiter zerlegen laſſen, wäh— rend ſich die auf anderen Wegen gefundenen Geiſteskräfte allerdings weiter zerlegen laſſen, z. B. das Gedächtniß in Wortgedächtniß, Zahlengedächtniß, Ortsgedächtniß u. ſ. w.; das Begehrungsvermögen in Geſchlechtstrieb, Bekämpfungs— trieb, Nahrungstrieb u. ſ. w; das Empfindungsvermögen in Wohlwollen, Gewiſſenhaftigkeit, Ehrerbietung u. ſ. w.; das Denkvermögen in Vergleichungsgabe und Schlußvermögen. Alle dieſe verſchiedenen Anlagen finden ſich nicht ſelten in demſelben Individuum von verſchiedener Stärke, woraus ſich ergiebt, daß ſie einen gewiſſen Grad der Selbſtändigkeit und Abgeſchloſſenheit beſitzen, welcher die Annahme recht— fertigt, ſie ſeien Einheiten in der Mehrheit der urſprüng— lichen Geiſteskräfte.

3) Der Grad der Energie, mit welcher ein Ver— mögen des Geiſtes wirkt, entſpricht unter übrigens gleichen Verhältniſſen der Größe feines Organs ). Dieſer Grundſatz gilt nicht blos im Gebiete der Phyſio— logie, ſondern in demjenigen der Natur überhaupt. Eine Säule von einem Fuß Durchmeſſer iſt im Verhältniſſe ih— res geringern Durchmeſſers ſchwächer, als eine Säule glei— chen Stoffes von zwei Fuß Durchmeſſer. Ein Mann von

1) Galls vollſtändige Geiſteskunde S. 142 ff. 441 ff. 2) Phrenological Journal of Edinburgh 1824. Vol. I. No. II. b. 297—304. Vol. IV. No. XIII. p. 100—103. £

Die Grundlagen der Phrenologie. 35

großen Muskeln iſt, bei ſonſtiger Gleichheit der Umſtände, im Verhältniſſe zu der Größe ſeiner Muskeln, auch ſtärker in ſeinen Muskeln, als der Mann mit kleinen Muskeln. Allerdings mag eine Säule von gutem Eiſen bei geringerm Durchmeſſer ſtärker ſein, als eine andere von ſchlechtem Ei— ſen bei größerm Durchmeſſer, und ebenſo mag ein Mann von großen Muskeln, wenn er gerade krank iſt, oder wenn er ſchwache Knochen hat, oder wenn ſeinen Nerven die er— forderliche Schwungkraft fehlt, ſchwächer ſein, als ein Mann von kleineren Muskeln; allein in allen dieſen Fällen ſind die übrigen Verhältniſſe nicht gleich. Einige Beiſpiele aus der Phyſiologie mögen dieſen Grundſatz anſchaulich machen. Das Pferd und der Ochs beſitzen bei weitem bedeutendere Muskelſtärke und bei weitem weniger Empfindlichkeit in ih— ren Gliedern, als der Menſch, und im Einklang mit un— ſerm Grundſatz ſind die Bewegungsnerven, welche zu ih— ren vier Extremitäten führen, wenigſtens um ein Drittheil zahlreicher, als die Empfindungsnerven, während beim Men— ſchen die Bewegungsnerven der Arme und Beine ein Fünf— theil oder ein Sechstheil an Zahl geringer ſind, als die Empfindungsnerven. Der Rüſſel des Elephanten zeichnet ſich aus durch die Zartheit ſeiner Empfindungskraft, und es iſt Thatſache, daß der Gefühlsnerv, welcher ſich am Taſtende deſſelben ausbreitet, den Geſammtinhalt aller Muskelnerven deſſelben Organs an Umfang übertrifft. Daß nun aber dieſer allgemeine phyſiologiſche Grund— ſatz auch in beſonderer Beziehung zum Gehirne wahr iſt, dieſes erhellt aus folgenden Thatſachen: „das Gehirn eines Kindes iſt im Vergleiche mit demjenigen eines Erwachſenen klein, und ſeine Geiſteskräfte ſind in entſprechendem Maße ſchwach. Ein ſehr kleines Gehirn, welches weniger als vier— zehn Zoll im Umfang bei einem Erwachſenen hält, iſt un— fehlbare Urſache des Blödſinns. Menſchen, die ſich durch beſondere Stärke ihrer Geiſteskraft im allgemeinen auszeich— neten, hatten immer große Köpfe; eben dieſes gilt von gan— zen Nationen. Schon die alten Künſtler fühlten dieſe Wahr—

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36 Die Grundlehren der Phrenologie.

heit, daher ſie z. B. ihre Prieſter und Philoſophen immer mit großen Stirnen abbildeten, während ſie z. B. ihren Fechtern oder auch der Venus ſolche nicht beilegten. Die Einwürfe gegen dieſen Grundſatz beruhen durch— gängig auf Nichtbeachtung der nothwendigen Beſchränkung deſſelben durch die Worte: „unter übrigens gleichen Ver— hältniſſen.“ ö

Es handelt ſich alſo nur darum, zu ermitteln, welches die Größe der einzelnen Organe des Gehirns ſei, um einen Schluß auf die Stärke der damit verbundenen Geiſtesan— lage zu begründen. Zu dieſem Zwecke dient uns

4) der Grundſatz, daß die äußere Oberfläche des Schädels der inneren und dieſe der Oberfläche des Gehirns in der Regel entſpricht, fo daß fie die Geſtalt und demnach die Größe der einzelnen Theile des Gehirns äußerlich erkennbar macht. Die innere Seite des Schädels zeigt allerdings einige leichte Eindrücke von Drüſen, Blut gefäßen u. ſ. w., die nicht an der äußeren Seite erkennbar ſind; dieſe ſind indeß zu unbedeutend, als daß ſie die phre— nologiſchen Beobachtungen ſtören könnten. Die Abweichung vom vollkommenen Parallelismus zwiſchen der äußeren und inneren Oberfläche des menſchlichen Schädels beſchränkt ſich, wo ſie vorkommt, auf eine Linie, ein Zehntheil oder ein Achttheil eines Zolls, je nach dem Alter und Geſund— heitszuſtande des Individuums. Der Unterſchied dagegen in der Entwickelung zwiſchen einem großen und kleinen Or— gane unter den Trieben und einigen Gefühlen beträgt einen Zoll und mehr, und bei den Organen des Erkenntnißver— mögens, die von Natur kleiner ſind, etwa einen Viertels— zoll. Die angeführte Regel hat übrigens einige Ausnah— men, es giebt nämlich Krankheiten, welche den Parallelismus zwiſchen der äußeren und inneren Oberfläche des Schädels ſtören Da dieſe indeß ermittelt werden können, ſo wird ein ſcharfblickender Phrenolog dadurch nicht irre geführt werden. Auch finden ſich in den mittleren und hin— teren Gegenden des Gehirns Theile, deren Größe während

Die Grundlehren der Phrenologie. 37

des Lebens nicht erforſcht werden kann, und deren Verrich— tungen daher noch nicht erkannt ſind. Im hohen Alter und in Folge von Krankheiten nimmt zuweilen der Umfang des Gehirns und zuweilen ſelbſt des Schädels ab, weshalb wir dann nicht auf die Größe des Gehirns und namentlich nicht von dieſer auf die Geiſteskraft des Individuums in jungen und geſunden Tagen ſchließen können. An dem Theile des Stirnbeins, der ſich unmittelbar über der Na— ſenwurzel befindet, wird manchmal eine Abweichung vom Parallelismus durch das Vorhandenſein einer kleinen Höhle hervorgebracht, die man die Stirnhöhle (sinus frontalis) nennt. Bei den Frauen findet man ſie übrigens ſelten, bei den Männern niemals in jugendlichem Alter und in vorge— rücktem Alter nur ab und zu. Unter dem Alter von zwölf bis vierzehn Jahren erſtreckt ſich der Sinus, wenn er über— haupt vorhanden iſt, ſelten bis zur Baſis des Gehirns hin— auf. Wenn er ſich im ſpätern Leben bildet, ſo erſtreckt er ſich doch nur über einen Theil des auf der Stirn zu ſu— chenden Abdrucks der Gehirnorgane, und da auch hier der geübte Blick das Vorhandenſein eines ſolchen an der man— gelnden Bezeichnung der Organe erkennt, ſo kann er nicht zu einer Täuſchung, ſondern nur zur Zurückhaltung eines Urtheils über die betreffenden Organe führen. Die Phre— nologie hat übrigens den vierten der Grundſätze, auf wel— chen ſie gebaut iſt, zunächſt nur in ſpecieller Beziehung zum Menſchengeſchlechte aufgeſtellt. Sie weiß es recht wohl, daß bei Schweinen und Elephanten und manchen andern Thie— ren zum Theil bedeutende Abweichungen zwiſchen der äu— ßeren und inneren Seite des Schädels ſtattfinden, aber eben weil ſie es weiß, wird ſie bei ſolchen Thieren ihre Schlüſſe mit Rückſicht auf dieſe Schädelbeſchaffenheit zie— hen).

1) Galls vollſtändige Geiſteskunde S. 75. 118-135. 139. 299. Phrenological Journal of Edinburgh 1824 No. II. p. 292. Georg Combe's Syſtem der Phrenologie, überf. von Dr. S. Ed. Hirſch—

38 Die Grundlehren der Phrenologie.

Dieſes ſind die leitenden Grundſätze der Phrenologie, in Betreff der Quantität und der Ausdehnung der verſchie— denen Theile des Gehirns. Jedoch iſt es nothwendig, um Mißverſtändniſſe zu vermeiden, damit noch folgende Be— merkung in Verbindung zu bringen.

Die Anordnung der Natur, dem Menſchen, wie über— haupt jedem lebenden Weſen, zu demſelben Zwecke größten— theils doppelte Organe zu verleihen, z. B. zum Zweck des Hörens zwei Ohren, zum Zwecke der Ausübung des Ge— ſtaltſinns zwei entſprechende Organe im Gehirn, hat den Phyſiologen viel zu ſchaffen gemacht. Sie glaubten, mit zwei Augen müßten wir doppelt ſehen. Sie bedachten nicht, daß die Augen ſo wenig als die verſchiedenen Theile des Gehirns ſelbſtthätig, ſondern nur Werkzeuge der Thä— tigkeit des Geiſtes ſind. Ein Werkzeug wird ſich keiner Thätigkeit, keines Zuſtandes, keines Verhältniſſes bewußt. Iſt nur der Geiſt eins, fo wird er, trotz der Mannigfal- tigkeit ſeiner Organe, immer nur einfache Wahrnehmungen haben. Eine höchſt intereſſante Schlußfolge ergiebt ſich aber aus der Mehrheit der Organe des Gehirns ſowohl als der Sinne, nämlich daß ein Unterſchied ſtattfindet zwiſchen dem Organ und dem Geiſte, dem es dient. Wäre das Organ die Kraft ſelbſt, wäre der Theil des Gehirns, welcher uns als Organ des Geſtaltſinns dient, der Geſtaltſinn ſelbſt, dann wäre es allerdings unerklärlich, daß wir mit zwei ſo zu ſagen Geſtaltſinnen nur einfache Geſtalten wahrnehmen; allein gerade die Thatſache, daß wir mit den doppelten Or— ganen nur einfache Wahrnehmungen erlangen, beweiſt, daß die Organe nur Mittel ſind, während der Geiſt der Zweck

feld. Braunſchweig 1833. S. 6. 22. 61. Spurzheim, observations sur la Phrenologie. Paris 1818. p. 97—119. Grundzüge der Phre— nologie oder Anleitung zum Studium dieſer Wiſſenſchaft, dargeſtellt in fünf Vorleſungen von R. R. Noel. Dresden u. Leipzig 1842. S. 3 ff. Spurzheim, on Phrenology. 3" Edit. p. 101 ss.

Die Grundlehren der Phrenologie. 39

iſt, daß die Organe in ihrer Mehrheit dienen und der Geiſt in feiner Einheit herrſcht ).

Es giebt eine Körperwelt und ſie wird gelenkt durch eine phyſiſche Weltordnung, über ihr ſteht eine geiſtige Welt und ſie wird geordnet durch eine geiſtige Weltordnung. Nach den Geſetzen der phyſiſchen Welt entladet ſich der Blitz aus der Wolke, fällt das Haar von unſerm Haupte, allein die geiſtige Weltordnung beſtimmt die geiſtigen Zwecke, welche das phyſiſche Mittel im Großen wie im Kleinen befördern ſoll. Wie der Menſch, wenn er ſeinem Zerſtörungstriebe einen Gegenſtand bietet, zur Zerſtörung, und wenn er ſeiner Ehrerbietung einen ſolchen ſucht, zur Verehrung getrieben wird, ſo wird die elektriſche oder die magnetiſche Kraft, wenn ihnen ein Gegenſtand der Anziehung entgegentritt, dieſen, treffen mit der ihnen inwohnenden Gewalt. Allein wie der Menſch die Macht hat, die Gegenſtände des einen oder des andern Gefühls, des einen oder des andern Sin— nes ſich ſelbſt zu wählen, und wie in dieſer Rückſicht feine geiſtige Freiheit ihn leitet, ſo ſteht die magnetiſche und die elektriſche und jede andere phyſiſche Kraft der Welten unter

1) Viel Unrichtiges iſt über die fünf Sinne des Menſchen ge— ſprochen worden, theils weil man ihnen zugemuthet hat, was ſie nicht leiſten konnten, theils weil man ſie in unlogiſcher Ordnung beſprochen hat. Ein Sinn kann, ſeiner Beſtimmung nach, nur ein einzelnes ſinnliches Verhältniß der Außenwelt zu uns vermitteln, er kann uns nur Dinge der Außenwelt im Spiegel des Auges, Töne der Außenwelt in der empfangenden Trompete des Ohrs u. ſ. w. vorführen. Allein die Ge— ſetze der Optik und der Akuſtik können uns nur vermittelſt unſers Denkvermögens auf den Grund der Beobachtung zugänglich werden. Die Frage: warum wir einen Körper der Außenwelt gerade ſo, wie unſer Auge ihn uns darſtellt, erblicken, einen Ton gerade ſo, wie ihn uns unſer Gehör mittheilt, hören, dieſe Frage kann uns weder das Auge, noch das Gehör, ſondern nur unſer Denkvermögen beantworten, weil die Sinne nicht nach Gründen forſchen, ſondern nur unſer Ver— hältniß zur Außenwelt, wie es ſich nach den ewigen Geſetzen der Na— tur gebildet hat, vermitteln.

40 Die Grundlehren der Phrenologie.

dem Einfluſſe der göttlichen Weltordnung, welche ihnen ihre Gegenſtände nach geiſtigen Zwecken anweiſt.

Die Kräfte des menſchlichen Geiſtes ſowohl als die Kräfte der phyſiſchen Weltordnung haben ihre beſtimmten Geſetze, unter deren Einfluß ſie ſtehen, ſchaffen und wirken. Die elektriſche, die magnetiſche Kraft ſteht in dieſer Rück— ſicht der geiſtigen Kraft des Wohlwollens, des Geſtaltſinns und jeder andern im Menſchen gleich. Allerdings wird die Wirkſamkeit jeder einzelnen geiſtigen und phyſiſchen Kraft verſchieden ſein, je nach der Verſchiedenheit ihres Stärke— grades und der mit ihnen vereint wirkenden ſonſtigen Kräfte. Allein bei Gleichheit des Stärkegrades und bei Gleichheit der begleitenden übrigen Kräfte wird jede Kraft immer gleiche Wirkungen hervorbringen, weil ſie eine beſtimmte Natur hat, und dieſe ſich daher immer in ihrer Eigenthümlichkeit geltend macht.

Die Gewiſſenhaftigkeit, das Wohlwollen, der Geſtalt— ſinn und der Schönheitsſinn, ſie haben alle ebenſowohl ihre eigenthümliche, durch ewige Geſetze geordnete Natur, als die magnetiſche, die elektriſche, die Schwerkraft und die Centrifugalkraft.

Wie die magnetiſche Kraft dem Metalle, dem ſie inne— wohnt, immer eine Richtung nach dem Norden, ſo verleiht der Schönheitsſinn dem Menſchen, dem er innewohnt, eine Richtung nach dem Schönen, und wie in dem Maße, als die magnetiſche Kraft ſtärker iſt, ſie ſtärkere Hinderniſſe in dem Streben nach dem Norden überwindet, ſo der Schön— heitsſinn im Verhältniß ſeines Stärkegrades ſtärkere Hin— derniſſe in dem Streben nach dem Schönen.

Es giebt alſo ewige Geſetze der Schönheit, der Gerech— tigkeit, des Wohlwollens und der Geſtaltung. Der Menſch kann ſie aber nicht ſchaffen, ſondern nur erkennen.

Jede geiſtige Kraft des Menſchen hat ihre eigenthüm— lichen Freuden und Leiden. Alles, was den ewigen Ge— ſetzen derſelben entſpricht, verleiht ihr Freude, was ihr wi— derſpricht, Schmerz. Jede Bildung, welche den ewigen Ge—

Einfluß des Temperaments. 41

ſetzen der Schönheit entſpricht, erfreut den Schönheitsſinn, jede Bildung, welche ihr widerſpricht, verletzt ihn; jede Far— benmiſchung, jede Geſtaltung, jede Tonverbindung, welche den ewigen Geſetzen der Farben, der Geſtaltungen und der Töne entſpricht, thut unſerm Farben-, Geſtalt- und Ton— ſinne wohl, jede, die ihm widerſpricht, weh.

Niemals wirkt aber eine Kraft durchaus allein. Wie im Gebiete der phyſiſchen Kräfte die elektriſche, die galva— niſche, die Centripetal- und die Centrifugalkraft in tau— ſendfältigen Verbindungen wirken, ſo auch im Menſchen die Kraft des Wohlwollens und der Zerſtörung, die Kraft der Gewiſſenhaftigkeit und des Schlußvermögens, und wie in der phyſiſchen Welt alle Gegenſätze der Kräfte ſich auflöſen in der göttlichen Weltordnung, ſo löſen ſich im Menſchen alle Gegenſätze der widerſtrebenden Kräfte auf in der geiſtigen Freiheit.

83. Einfluß des Temperaments ).

In dem vorigen § haben wir die auf die Quantität, die Ausdehnung des Gehirns und ſeiner einzelnen Theile bezüglichen Grundſätze beſprochen. Allein nicht minder be— deutungsvoll als die Quantität iſt die Qualität des Ge— hirns. Dieſe Central-Nervenmaſſe ſteht mit den übrigen Theilen des Körpers in innigem Zuſammenhang und wird daher durch dieſelben nothwendig influencirt. Je nachdem die Blutgefäße, die Aſſimilationswerkzeuge und die Mus— keln eine verſchiedene Thätigkeit entwickeln, muß daher auch das Gehirn eine verſchiedenartige Wirkſamkeit ent— falten. Die Körperbeſchaffenheit überhaupt wird uns da— her auch bedeutungsvollen Aufſchluß über die Beſchaffen— heit des Gehirns insbeſondere ertheilen. Der Haupttypus

I) Spurzheim, Phrenology in connexion with Physiognomy p. 15-17. Spurzheim, on Phrenology p. 24—26.

42 Einfluß des Temperaments.

der körperlichen, und, in entſprechender Weiſe, der geiſtigen Beſchaffenheit überhaupt wird durch das Wort Tempera— ment bezeichnet. Schon die alten Philoſophen ſprechen von der Verſchiedenheit der Temperamente. Allein da ſie über die Verrichtungen des Gehirns in gänzlicher Unwiſſenheit waren, ſo konnten ſie zwiſchen dem Einfluſſe, welchen die— ſes, und demjenigen, welchen das Temperament auf die menſchliche Lebensthätigkeit äußert, die richtige Grenze nicht ziehen.

In dem vorigen § haben wir geſehen, daß in dem Ge— hirn der Centralpunkt aller geiſtigen Thätigkeit, die Ver— einigung ſämmtlicher unmittelbarer Organe des Geiſtes zu finden ſei. Dieſes vorausgeſetzt, kann die Wirkſamkeit des Temperaments ſich nur in der Art und Weiſe zeigen, wie die verſchiedenen Organe des Geiſtes in Thätigkeit treten.

Die Wiſſenſchaft nimmt vier Temperamente an. Die ſelben ſind bedingt durch das Vorherrſchen gewiſſer Sy— ſteme im menſchlichen Körper, welche ſich an äußeren Zei— chen erkennen laſſen.

Iſt da Nervenſyſtem vorherrſchend, ſo bildet ſich das nervöſe Temperament, äußerlich erkennbar durch weiches, dünnes Haar, zarte Haut, kleine Muskeln, Schnelligkeit der Muskelbewegung, blaſſe Geſichtsfarbe, feine Züge und oft zarte Geſundheit. Die Kopfhöhle iſt verhältnißmäßig größer, als die Bruſt- und die Bauchhöhle. Das ganze Nervenſyſtem, das Gehirn mit eingeſchloſſen, iſt vorzugs— weiſe thätig, die Aeußerungen des Geiſtes ſind verhältniß— mäßig lebhaft, die Empfindungen ſind rege und die Bewe— gungen find ſchnell (ſ. die Abbildung Fig. J. Montesquieu). Es iſt das Temperament des Genies und der Verfeinerung.

Herrſchen die Lungen, das Herz und die Blutgefäße vor, ſo entſteht das ſanguiniſche Temperament. Es gibt ſich zu erkennen durch eine verhältnißmäßig große Ausdeh— nung der Bruſthöhle, beſtimmt ausgeſprochene Formen, mä— ßige Fülle des Körpers, ziemliche Feſtigkeit des Fleiſches,

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Einfluß des Temperaments. 43

helles, zum Nußbraunen hinneigendes Haar, blaue Augen und friſche Geſichtsfarbe. Es zeichnet ſich durch eine große Thätigkeit der Blutgefäße, einen vollen und raſchen Puls, Luſt an körperlicher Bewegung und ein belebtes Anſehen aus (ſ. die Abbildung Fig. 2.). Das Gehirn nimmt an dem allgemeinen Zuſtande Theil und iſt thätig. Es iſt das Temperament der Lebensfriſche. Das nervöſe Tempe— rament hat einen mehr intenſiven, das ſanguiniſche einen mehr extenſiven Charakter.

Beim Vorwalten der Drüſen- und Aſſimilationsorgane bildet ſich das lymphatiſche oder das phlegmatiſche Tempe— rament. Es iſt äußerlich erkennbar an einer verhältniß— mäßig großen Ausdehnung der Bauchhöhle, einer gerun— deten Form des Körpers, Weichheit der muskulöſen Theile, einem angefüllten Zuſtande des Zellengewebes, hellem Haar und einer blaſſen, zarten Haut. Es iſt von matten Lebens— äußerungen, mit Schwäche und Langſamkeit in der Circu— lation begleitet. Der Puls iſt ſchwach. Das Gehirn, als ein Theil des Körperſyſtems, iſt ebenfalls langſam in ſeinen Verrichtungen, und die Geiſtesthätigkeit iſt verhältnißmäßig ſchlaff. Es iſt das Temperament der Langſamkeit. Leider iſt es ſehr häufig in unſerm deutſchen Vaterlande zu fin— den (ſ. Fig. 39.

Das vierte Temperament, das biliöſe, iſt in ſeinen Grundurſachen weniger beſtimmt erkannt, als die übrigen. Doch nimmt man an, daß es durch das Vorherrſchen des Muskelſyſtems gebildet werde. Nicht unwahrſcheinlich iſt, daß die vorwaltende Thätigkeit der Leber damit in Verbin— dung ſtehe. Man erkennt dieſes Temperament an ſchwar— zem, hartem Haar, dunkeln Augen, gelbbrauner Haut, mä— ßiger Fülle, aber großer Feſtigkeit des Fleiſches, ſcharfen, ausdrucksvollen Geſichtszügen und ſtark gezeichneten Um— riſſen des Körpers (ſ. die Abbildung Fig. 4, Brutus). Die Verrichtungen des Gehirns nehmen an der Energie des übrigen Körpers Antheil. Dieſe iſt ſtark und aus— dauernd. Es iſt das Temperament der Thatkraft.

44 Einfluß der Uebung.

Dieſe Temperamente kommen übrigens ſelten unver— miſcht vor. Gewöhnlich ſind zwei oder drei, bisweilen alle vier in gleicher Weiſe verbunden. In den Vereinigungen ſind jedoch die Grundtemperamente zu unterſcheiden, und es läßt ſich beſtimmen, in welchem Maße die Beſtandtheile des einen oder des andern ſich finden.

Das Temperament ändert natürlich nichts an den Or— ganen des Gehirns; es deutet uns, wie geſagt, nur an, in welcher Weiſe ſie thätig ſind, und da in der Regel alle Organe des Gehirns daſſelbe Temperament haben, und das größte, bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſie, das ſtärkſte, das kleinſte, das ſchwächſte iſt, ſo erfahren wir, durch Er— mittelung des Temperaments, die Art und Weiſe, wie ſie in Thätigkeit treten: in leicht erregbarer, lebensfriſcher, lang— ſamer, thatkräftiger Weiſe.

Die Frage, ob und wie einem ungünſtigen Tempera— mente entgegengearbeitet und die Bildung eines günſtigern befördert werden kann, würde uns hier zu weit von un— ſerm Zwecke abführen. Ich habe ſie jedoch an einem an— dern Orte befprochen, und verweiſe demzufolge dahin ).

9 4. Einfluß der Uebung.

Jede Kraft beginnt zu wirken, ſobald ihr ein Gegenſtand ihrer Wirkſamkeit geboten wird: die geiſtige Kraft, wie die magnetiſche Kraft. Der Unterſchied zwiſchen der magne— tiſchen Kraft und der geiſtigen Kraft beſteht nur in der Verſchiedenheit der Gegenſtände ihrer Wirkſamkeit und darin, daß der Menſch vermöge der Mehrheit ſeiner Anlagen der einen den Gegenſtand ihrer Wirkſamkeit geben, der anderen

1) Pädagogiſche Revue. Centralorgan für Pädagogik, Didaktik und Culturpolitik, herausgegeben von Dr. Mager. Stuttgart 1842. Dritter Jahrg. Fünfter Band. Oktoberheft No. 10. S. 345-360. Desgleichen unten $ 50.

Einfluß der Uebung. 45

ihn entziehen kann; z. B. Farben bilden den natürlichen Gegenſtand des Farbenſinns, das Unglück denjenigen des Wohlwollens. Vermöge ſeiner geiſtigen Freiheit kann nun der Menſch, deſſen Wohlwollen durch den Anblick des Un— glücks, oder deſſen Farbenſinn durch denjenigen von Farben in Anſpruch genommen iſt, an die Stelle des einen Gegen— ſtands den andern ſetzen, und ſo die eine oder die andere Kraft zur Thätigkeit aufrufen. Wendet er ſeine Blicke von den Farben hinweg und einer Scene des Unglücks zu, ſo wird nothwendig das Wohlwollen in Thätigkeit gerathen; wendet er umgekehrt ſeine Blicke von der Scene des Un— glücks den Farben zu, ſo wird das Wohlwollen aufhören zu wirken, und der Farbenſinn wird ſeine Wirkſamkeit be— ginnen. Uebrigens rufen nicht blos Gegenſtände des äußern Lebens die verſchiedenen Kräfte des Menſchen zur Thätig— keit: nicht blos die wirkliche Farbe den Farbenſinn, nicht blos das wirkliche Elend das Wohlwollen, ſondern auch ſchon die Erinnerung an geſehene Farben und erlebte Sce— nen des Unglücks, oder auch nur die Vorſtellung möglicher Farben, oder möglichen Unglücks. Die Vorſtellung iſt das Product der Einbildungskraft, wie die Erinnerung dasjenige des Gedächtniſſes iſt. Wie wir die im äußern Leben be— findlichen Gegenſtände, welche unſere geiſtigen Kräfte in Anſpruch nehmen, wechſeln können, ſo können wir auch die in unſerm Innern erzeugten durch die Kraft-unſers Willens verändern, und zwar in demſelben Maße, in welchem ſie groß iſt. Eine mächtige Willenskraft wird natürlich in dieſer, wie in jeder andern Beziehung mehr vermögen, als eine ſchwächere. Allein die Geſetze der Natur kann unſere Willenskraft, wie ſich von ſelbſt verſteht, nicht ändern, ſie kann daher nicht verhindern, daß, falls einer geiſtigen Kraft ihr Gegenſtand geboten wird, ſie in Gemäßheit ihrer Natur wirke, daß der Bekämpfungstrieb Kampfluſt äußere, das Wohlwollen das Beſtreben dem Unglücke beizuſtehen u. ſ. w. Hiermit iſt in philoſophiſcher Weiſe nichts anders geſagt, als was in religiöſer Weiſe die Worte: „Du ſollſt Gott

46 Einfluß der Uebung.

deinen Herrn nicht verſuchen“ ausſprechen, d. h. der Menſch ſoll diejenigen ſeiner Kräfte, welche ihn zum Böſen führen können, nicht die Gegenſtände bieten, welche ſie zur That ſpornen, weil fie ſonſt, den Naturgeſetzen gemäß, in Thä— tigkeit treten, und dann nicht ſo leicht wieder zur Ruhe verwieſen werden können.

Auf der andern Seite kann nur diejenige geiſtige Kraft thätig werden, welcher ein Gegenſtand geboten iſt. Durch Farben kann eben ſo wenig auf den Wortſinn, als durch Worte auf den Farbenſinn unmittelbar gewirkt werden, und da ein unmittelbarer Gegenſtand natürlich immer ſtärker wirkt, als ein mittelbarer, d. h. ein durch das Gedächtniß oder die Einbildungskraft geſchaffener, ſo iſt es nothwendig, jenen zu bieten, wo man entſchieden wirken, d. h. wo man eine geiſtige Kraft in entſchiedene Thätigkeit verſetzen will. Dieſer Grundſatz iſt von höchſter Wichtigkeit im Leben. Er wird leider! nur zu oft verkannt.

Je größer eine Kraft iſt, deſto weiter erſtreckt ſich ihre Sphäre, deſto ferner und geringfügiger kann daher auch der Gegenſtand ſein, der ſie zur Wirkſamkeit ruft und umgekehrt, wie z. B. ein großer Magnet in größerer Ferne Eiſen an— zieht, als ein kleinerer, und umgekehrt.

Der Zweck unſers Lebens beſteht darin, die zu ſchwa— chen Kräfte unſers Geiſtes durch Uebung zu ſtärken, die zu thätigen durch Ruhe zu mildern und unſere geſammten gei— ſtigen Kräfte, unter der Leitung der höheren moraliſchen Gefühle, unter kräftigem Beiſtand der Intelligenz und der Triebe in harmoniſcher Weiſe zu entwickeln.

Zu dieſen Reſultaten gelangen wir, wenn wir die menſchliche Thätigkeit vom geiſtigen Geſichtspunkte betrach— ten. Allein wir können uns auch auf den körperlichen ſtel— len, indem wir die Organe der geiſtigen Thätigkeit ins Auge faſſen, und zwar zunächſt diejenigen des Gehirns, als des Centralorgans derſelben.

Das Gehirn iſt allen Geſetzen der Phyſiologie unter— worfen, gleich den andern Theilen des Körpers. Es gilt

Einfluß der Uebung. 47

alſo in Betreff ſeiner namentlich auch die Regel, daß, wenn irgend ein Körpertheil thätig geübt wird, eine größere Menge Bluts ſich darein ergießt, und er auch einen höhern Grad von Anregung durch die Nerven erhält. In Folge deſſen nehmen diejenigen Theile des Körpers, welche beſonders geübt werden, bis zu einem gewiſſen Grade an Feſtigkeit, Stärke und auch an Größe zu. Aberdings kann kein Grad von Uebung einen Mann, deſſen Muskelſyſtem von Natur ſehr ſchwach iſt, zu einem Herkules machen; allein Uebung kann daſſelbe doch einigermaßen ſtärken, während es ohne alle Uebung in immer größere Schwäche verſinken würde. Die Gränze, welche der Uebung eines Organs durch die Natur geſetzt iſt, wird beſtimmt durch den Grundſatz, daß jede Bewegung wie jede Empfindung einen gewiſſen Verbrauch von Körpertheilchen zur Folge hat, und daß daher, wenn dieſer nachhaltig ſchneller vor ſich geht, als der Erſatz, die Organe zugleich an Umfang und Kraft abnehmen. Mit andern Worten: übermäßige An— ſtrengung ſchwächt, ſtatt zu ſtärken. Die Uebung darf daher das Maß der Kraft eines Organs nicht überſteigen, um ſtärkend zu wirken, und ſo wird allerdings die natür— liche Größe eines Organs und ſeine natürliche Stärke uns auch einen Maßſtab kräftigender Uebung gewähren. Den Mann mit ſtarken Muskeln wird dieſelbe Uebung kräftigen, welcher der Mann mit ſchwachen Muskeln erliegen würde. Daher muß die Uebung eines Organs immer mit ſeiner Stärke im Verhältniß ſtehen.

Alle dieſe Regeln finden auch ihre Anwendung auf das Gehirn. Wenn wir lebendig fühlen oder tief denken, er— gießt ſich mehr Blut in das Gehirn, als wenn unſere Ge— fühle minder lebendig, unſere Gedanken minder tief bewegt ſind. Die Organe derjenigen Geiſtesvermögen, welche wir in einer ihrem natürlichen Stärkegrade entſprechenden Weiſe üben, werden daher an Größe und folglich die betreffenden Geiſtesvermögen an Kraft zunehmen. Aber eine die Ent—

48 Einfluß der Uebung.

wicklungsfähigkeit eines Organs überſteigende Uebung wird es erſchlaffen, und, geſchieht es gewohnheitsmäßig, ſo wird auch die Erſchlaffung gewohnheitsmäßig eintreten, bis ſie am Ende bleibend wird. Wer ohne die Anlagen eines Mozart, eines Goethe durch Uebung ein muſikaliſches oder dichteriſches Genie werden wollte, würde, nach dem Stär— kegrade ſeiner Organe, früher oder ſpäter ſeine natürlichen Anlagen zum Muſiker oder Dichter geradezu durch Ueber— anſtrengung aufreiben. Wenn wir jedoch auf der anderen Seite unſere geiftigeu Vermögen nicht in einem ihrer na— türlichen Stärke entſprechenden Maße üben, ſo werden die betreffenden Organe des Gehirns an Größe und folgenweiſe die geiſtigen Anlagen an Energie abnehmen.

Eine wohlberechnete Uebung bewirkt übrigens nicht blos Zunahme an Größe und demzufolge an Stärke, ſondern auch Zunahme an Bewegungsfähigkeit; und ſo bringt auch die Uebung der Geiſteskräfte nicht blos größere Stärke, ſondern auch größere Gewandtheit, größere Leichtigkeit geiſtiger Be— wegung hervor. Es iſt daher bei Ziehung der Schlüſſe von der Größe eines Organs auf die Stärke der ihm ent— ſprechenden geiſtigen Anlage natürlich von demjenigen Ele— mente nicht die Rede, welches die Uebung verleiht. Der Phrenolog wird daher bei ſeinen praktiſchen Beobachtungen entweder ſich über den Grad ſtattgehabter Uebung verläßi— gen, oder, wo dieſes nicht möglich iſt, ſeine Urtheile in entſprechender Weiſe beſchränken.

Wir müſſen uns immer vergegenwärtigen, daß wir ohne Gehirnthätigkeit nicht denken, fühlen oder handeln können. Daher iſt es ſo wichtig, das Gehirn immer in einem Zu— ſtande vollkommener Geſundheit zu erhalten. Ueber die Art und Weiſe, wie dieſes zu erzielen ſei, habe ich mich an einem andern Orte!) ausgeſprochen.

1) Pädagogiſche Revue von Dr. Mager. Dritter Jahrg. Fünfter Bd. Oktoberheft No. 10. S. 355 ff. S. unten N 59, a

Einfluß der Geſundheitsverhältniſſe. 49

9 Einfluß der Geſundheitsverhaͤltniſſe.

Körper und Geiſt ſtehen in ſo inniger Verbindung, daß der eine ohne den andern nicht leiden, daß der eine ohne den andern ſich nicht einer friſchen Geſundheit erfreuen kann. Allerdings ſtehen nicht alle Theile des Körpers in gleich inniger Beziehung zum Geiſte, als das Gehirn, allein mehr oder minder ſtehen doch alle in Verbindung mit dem Ge— hirne, und durch dieſes mit dem Geiſte. Je inniger ein Körpertheil mit dem Gehirne verbunden iſt, deſto wichtiger iſt ſeine Geſundheit für die Geſundheit des Geiſtes. Nicht ſelten beginnt eine Krankheit mit einem dem Gehirne ver— hältnißmäßig ferne liegenden Theile des Körpers, allein in- ſofern durch dieſe Krankheit das Gehirn mit krankhaftem Blute genährt, oder durch Sympathie in die Krankheit des urſprünglich ergriffenen Körpertheils mit verflochten wird, muß auch das Gehirn und folgeweiſe der Geiſt leidend wer— den. Eine ſ. g. Geiſteskrankheit kann daher ihren Urſprung in irgend einem Theil des Körpers, im Magen, Darmkanal, in der Leber u. ſ. w. nehmen. So lange das Gehirn noch nicht in den Kreis der Krankheit hineingezogen iſt, wird der Geiſt noch nicht als krank ſich kund thun. Sobald aber das Gehirn ſelbſt in einen leidenden Zuſtand geräth, wird zu gleicher Zeit der Geiſt die Symptome einer ent— ſprechenden Krankheit kund thun.

Jede Krankheit ſtört die normale Thätigkeit des er— griffenen Organs, wie jedes andern Theils des Körpers, ſo auch des Gehirns, und übt eine Rückwirkung auf die übri— gen, unmittelbar nicht ergriffenen Theile aus, welche im Ver— hältniſſe zu der Intenſität der Krankheit und zu der Verbin— dung ſteht, worin die nicht unmittelbar ergriffenen Theile ſich befinden. Alle die Grundſätze, welche oben 2) auf— geſtellt wurden, ſind natürlich abgeleitet aus dem geſunden, dem normalen Zuſtande des Körpers überhaupt, und des Gehirns und des Schädels insbeſondere. Einwürfe, welche

4

50 Einfluß der Geſundheitsverhältniſſe.

daher der Phrenologie aus den Krankheitserſcheinungen des Körpers entgegengeſetzt werden, berühren ſie nicht. Zu einer ſpeciellen Pathologie des Gehirns, mit beſonderer Rückſicht auf ſeine einzelnen Organe und die damit verbundenen Gei— ſtesanlagen ſind wir zur Zeit noch nicht gelangt. Allein gewiß würde ein ſolches Werk ſeinen Meiſter lohnen. Es müßte Epoche machen für die Behandlung der Geiſtes— krankheiten. Einzelne Andeutungen üder den Einfluß der Krankheit auf die Organe des Gehirns und die entſpre— chenden Geiſtesanlagen werden im Laufe der Darſtellung der einzelnen Organe), fo wie im praktiſchen Theile ($ 62) gemacht werden. Hier genüge es zu bemerken, daß, wie jede einzelne Krankheit überhaupt, ſo auch jede Krankheit des Gehirns oder ſeiner einzelnen Organe ihre eigenthüm— lichen Symptome hat, welche ein beſonderes Studium er— fordern. Eine Krankheit des Organs der Ehrerbietung hat andere Symptome, als eine Krankheit des Organs des Zerſtörungstriebs, wie die verſchiedenen Monomanien im Extreme recht deutlich zeigen. Namentlich ſcheint aber ein generiſcher Unterſchied zwiſchen den Krankheiten der grauen und der weißen Maſſe des Gehirns ſtattzufinden, zwiſchen den Krankheiten einzelner Organe und der Krankheit der allgemeinen Verbindungsmaſſe. Jene ſcheinen die Mono— manieen, die fixen Ideen und ähnliche partielle Verſtim— mungen des Gemüths zur Folge zu haben, dieſe die Stö— rung des Zuſammenhangs der Geiſtesverrichtungen, was die engliſchen Irrenärzte incoherence nennen ).

$ 6. Die Phyſiognomik der Phrenologie.

Unter Phyſiognomik verſteht man die Lehre, welche uns die tiefer liegenden Urſachen der äußeren Erſcheinungen

1) S. unten $$ 13. 15. 16. 17. 18. 19. 21. 25. 27. 31. 32. 2) S. Zeitſchr. f. Phrenol. Bd. I. H. 2. S. 15 U ff. Bd. I. H. 3. S. 272ff.

Die Phyſiognomik der Phrenologie. 51

enthüllt. Nur in dieſem Sinne hat fie Werth, und ver: dient ſie wiſſenſchaftlich beſprochen zu werden. In der gan— zen Natur beſteht ein Wechſelverhältniß zwiſchen der inne— ren und äußeren Seite der Dinge, zwiſchen ihrer körper— lichen Beſchaffenheit und den Kräften, welche ſich an den— ſelben kund thun. Da jede Kraft, um wirkſam werden zu können, gewiſſer körperlicher Elemente bedarf, da ſie Spu— ren ihrer Wirkſamkeit zurückläßt, ſo iſt von jeher immer von der Außenſeite der Dinge auf ihre innere Seite, von den körperlichen Beſtandtheilen auf die Kräfte geſchloſſen worden, welche ſie vermitteln. Die ganze Natur ſteht un— ter ewigen, unveränderlichen Geſetzen. Es kommt nur dar— auf an, dieſe zu erforſchen, um von denſelben auf die Wir— kungen ſchließen zu können, welche ſie hervorrufen, und umgekehrt dann aus den Wirkungen auf die Geſetze, unter deren Einfluß ſie entſtanden ſind. In der Natur giebt es keine Willkühr, keinen Zufall, keinen Sprung. Die Gebote Gottes nehmen nicht, wie die menſchlichen, Rückſicht auf die einzelnen Fälle, ſie beugen und krümmen ſich nicht nach den Umſtänden, ſondern ſie ergreifen alle Verhältniſſe und ſie beherrſchen fie vollkommen. Das Geſetz der Kriſtalliſation, der Elektricität, des Magnets iſt ewig und unveränderlich, nur die Gegenſtände, welche deſſen Wirkſamkeit hervorrufen, wechſeln. Wie die Bewegung der Himmelskörper, ſo be— ruht auch diejenige des kleinſten Atoms auf ewigen Ge— ſetzen. Alles dieſes gilt in Beziehung auf die belebte wie die unbelebte Natur. Die Bewegung des Armes des Men— ſchen, wie die Bewegung der Himmelskörper beruht auf dem Gegenſatze zwiſchen Schwerkraft und Schwungkraft. Dieſe hat ihre körperlichen Organe ſo gut als jene. Bei dem leben— den Weſen ſind wir ſogar im Stande, dieſelben genau nachzu— weiſen. Die Nerven der Bewegung vermitteln die im lebenden Körper wirkende Schwungkraft, die übrigen Apparate vermit— teln die ihr das Gleichgewicht haltende Schwerkraft. Jeder einzelne Theil des complicirten Mechanismus des menſchli— chen Körpers hat ſeinen individuellen Charakter, bei jedem 4 *

52 Die Phyſiognomik der Phrenologie.

findet ein Schluß zwiſchen ſeiner äußeren und inneren Seite, zwiſchen ſeiner körperlichen Beſchaffenheit, ſeiner Wirkungs— fähigkeit und Entwickelungsgeſchichte ſtatt, und ſo auch bei dem Ganzen, das aus der Vereinigung dieſer Theile be— ſteht. Allein natürlich kann nur eine genaue Kenntniß der inneren Seite und eine anhaltende Beobachtung ihres Ver— hältniſſes zur Außenſeite, nur eine ununterbrochene Verglei— chung zwiſchen Kraftäußerung und ihren körperlichen Vor— ausſetzungen die Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Phyſio— gnomik bilden. Durch die Phrenologie iſt nunmehr über den Urgrund aller Bewegungen und Empfindungen des Menſchen, und mit dieſen hat es die Phyſiognomik im engern Sinne zunächſt zu thun, ein ſo helles Licht ver— breitet, daß jetzt mehr als vage Vermuthungen über den— ſelben beſtehen. Die körperlichen Organe der Seele und das Wechſelverhältniß zwiſchen der äußeren Seite des Körpers und ſeinen tiefer liegenden Theilen ſind uns ſo weit be— kannt, daß die Grundlagen zu dieſer Wiſſenſchaft als ge— geben angenommen werden können. Wir wiſſen, daß die äußere Geſtalt des Schädels abhängt von der inneren Geſtalt des Gehirns, wie die äußere Geſtalt der Bruſt— und der Bauchhöhle von der Beſchaffenheit der Organe, welche ſie umſchließen, und wir wiſſen, daß von den ver— ſchiedenen Organen jener Centralnervenmaſſe der Impuls des geiſtigen Lebens ausgeht. Wir wiſſen, wo jedes derſelben ſeinen Sitz hat, und welches ſeine Verrichtungen ſind.

In ganz gleicher Weiſe, wie gewiſſe Gedanken, Ge— fühle und Begierden die natürliche Folge der Wirkſamkeit gewiſſer Organe ſind, ſo ſind es gewiſſe ſie begleitende Be— wegungen. Die körperliche Ausdehnung jedes Organs des Gehirns beſtimmt diejenige ſeiner Schädelbedeckung, die ſämmtlichen Organe des Gehirns in ihrer Vereinigung bil— den alſo die Phyſiognomie des Schädels. In wie weit die Bildung des Schädels auf die Entwicklung der übrigen Knochen des Geſichts und des Rumpfes zurückwirkt, iſt

Die Phyſiognomik der Phrenologie. 53

zur Zeit wohl nicht genügend hergeſtellt. Daß jedoch ein gewiſſes unwandelbares Verhältniß, wie zwiſchen Gehirn und Schädel, ſo zwiſchen Mark und Knochen beſteht, un— terliegt keinem Zweifel). Ebenſo findet ein Verhältniß ſtatt zwiſchen der in verſchiedenen Organen zertheilten Ner— venmaſſe des Gehirns und den Nerven der übrigen Körper— theile. Je mehr Primitivfaſern ein Organ enthält, deſto mehr kann es nach allen Theilen des Körpers entſenden, und deſto zahlreicher ſind daher die Bande, mit welchen es auf ihn zu wirken vermag. Die mancherlei pantomimiſchen Bewegungen, welche Jedermann, ſelbſt das Kind verſteht, beruhen auf der Anziehung der Nervenſtränge, welche von dem Organe ausgehen, deſſen Thätigkeit dieſelben hervorge— rufen hat. Je weniger Gehirnorgane und je entſchiedener ſie in einem gegebenen Falle thätig ſind, deſto einfacher und deſto deutlicher werden die Bewegungen, und deſto leichter wird daher die ſie hervorrufende geiſtige Urſache zu erkennen ſein.

Jede Bewegung erhält ihren eigenthümlichen Charakter durch die Organe, welche ſie hervorrufen. Der Gang des Menſchen, welcher unter dem Einfluſſe der Furcht ſich be— wegt, iſt verſchieden von dem Gange, welcher von Selbſt— gefühl, Beifallsliebe, Verheimlichungstrieb, Ehrerbietung, oder irgend einem andern Gefühle geleitet wird. Jedes Organ entſendet in jeden Theil des Körpers ſeine Nerven— ſtränge, und je nachdem daher dieſe oder jene Stränge die Bewegung einleiten, muß ſie einen verſchiedenen Charakter in allen Theilen des Körpers haben.

Wie auf der einen Seite jede unter dem Einfluß eines beſtimmten Organs vorgenommene Bewegung, ſo hat auf der anderen Seite auch jedes Organ des Gehirns ſeine beſondere Phyſiognomie, welche nach Verſchiedenheit ſei—

I) Sehr ſchätzenswerthe Andeutungen giebt darüber G. Combe (ſ. Zeitſchr für Phrenologie Bd. II. H. 4. 5. 6.) in feiner Abhand— lung über die Anwendung der Phrenologie auf die ſchönen Künfte.

54 Die Phyſiognomik der Phrenologie.

ner eigenen Entwickelung und derjenigen ſeiner Nachbarn verſchieden iſt. Nicht blos die Gehirn-, bezugsweiſe Schä— delbildung, ſondern auch diejenige des übrigen Körpers iſt indeß von hoher Wichtigkeit zu richtiger Würdigung eines Charakters.

Nach Verſchiedenheit des Temperaments, der Geſund— heits- und Erziehungsverhältniſſe wird die Wirkſamkeit jedes Gehirnorgans eine verſchiedene Phyſiognomie annehmen, ver— ſchiedene Spuren auf der Oberfläche und in den inneren Theilen des Körpers zurücklaſſen. Allein der Grundtypus wird doch immer derſelbe ſein. Bei dem nervöſen Tem— peramente machen die Nerven insbeſondere ſich bemerklich. Die Nerven der Empfindung wirken auf diejenigen der Be— wegung, und es entſtehen jene leichten, kaum merklichen Bewegungen, welche eine tiefere und lebendigere Aufregung andeuten, als die Muskelbewegung, welche ſich in größeren, und ſchärferen Conturen zeigt, und dem biliöſen Tempera— ment beſonders eigen iſt. Das ſanguiniſche Temperament wirkt zunächſt auf die Blutgefäße. Ein raſcherer Umlauf des Blutes, ein Strömen deſſelben nach der Richtung, von welcher der Impuls ausgeht, macht ſich bei dieſem beſon— ders bemerklich. Bei dem lymphatiſchen Temperamente end— lich thun ſich auch alle Gemüthsbewegungen weniger raſch und weniger entſchieden kund, als bei den übrigen. Der Charakter der Langſamkeit und des Widerwillens gegen jede, die Behaglichkeit bedrohende Störung tritt hier bei jeder gei— ſtigen Anregung mehr oder weniger hervor.

Das einzige Mittel, phrenologiſch-phyſiognomiſche Re— ſultate mit Sicherheit zu gewinnen, iſt die Anſtellung wie— derholter Beobachtungen an lebenden Weſen. Um ſich jedoch dazu zu befähigen, iſt es nothwendig, ſich zuvörderſt mit dem phrenologiſchen Kopfe bekannt zu machen '), Schädel, welche in horizontaler Richtung durchſägt ſind, von außen und innen zu beobachten, das Gehirn ſelbſt zu betrachten,

1) S. den phrenologiſchen Kopf hierneben.

PEÄ 20 322

e, ie. A, vl, are

Namen und Eintheilung der phreno logischen Organe

I. Sinnlichkeit oder IL Empfindungs- Il. Darstellungs- N. Erkenntuifs- V. Denk Vermögen oder Triebe. Vermögen oder Vermögen oder Vermögen oder Gaben.

: Gefühle. Talente. Fähigkeiten 8 4 beschlechtstrucb. 0 Schhstgetiihl . 92 wammensthungssin| in ihrem Degensalst I Vin wlschungsgaßt Au ee, # Heere, Sinn l ue eee, \a sach dem Baume (synihebscherVirstand) Hin rue AR eee e., Aunst oder Aue, A e eee. blen, See. ee e,, , Wohlmolln: Hue, 23 bestaltlsınn oder analy Escher 3 Behamplungstrieb. , Ehrerbretung. Y Nactabmangstalnt. Hlroßsensian: Verstand. BD Lersterungstricb. be. Fistgkeit. AU TERUNgGSSEnNn.- WOHLE.

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Die Phyſiognomik der Phrenologie. 55

und es, nicht auf die früher gewöhnliche Weiſe, in horizon— taler Richtung zu dieſem Behufe zu durchſchneiden, ſondern es, mit Rückſicht auf die Falten, in welche die Gehirnmaſſe eingeſchloſſen iſt, zu zerlegen. Nicht minder iſt es erforder— lich, ſich die Charakterzüge der verſchiedenen Temperamente feſt einzuprägen. Die Verknöcherungspunkte des Schädels und die Ohröffnung bieten uns die beſten Orientirungspunkte. Was vorn über dem Organe des Schlußvermögens, hinten über demjenigen der Sorglichkeit ſteht, dieſes mit eingeſchloſſen, bildet die Region der Gefühle; die Breite, die Höhe und die Länge dieſer Wölbung ſind beſonders zu beachten.

Der Mörder Hare. x Fig. 10 ſtellt den Kopf END \ 5 Hare's dar, welcher mit fiir N 1 got nem Genoſſen Burke ſechzehn Mfg ncheh on. Perſonen zu Edinburgh ermordete, um ihre Leichname an die Anatomie zu verkaufen. Einen ſehr deutlich in die Augen ſpringenden Gegenſatz bildet zu ihm Melanchthon's Charak— ter und Kopfbildung. Derjenige Theil des Gehirns, wel— cher vor der Linie A B der Fig. 10 liegt, bildet den vor— dern Gehirnlappen, den Sitz der intellectuellen Fähigkeiten. Der Raum oberhalb der Buchſtaben BC bezeichnet die Ge—

56 Die Phyſiognomik der Phrenologie.

gend der moralifchen Gefühle; der Raum zwiſchen ABC diejenigen der thieriſchen Triebe.

Bei Unterſuchung der Organe des Vorderhauptes iſt nicht blos auf die Ausdehnung jedes einzelnen an und für ſich, ſondern auch auf die Tiefe der Stirn nach der Schlä— fengegend hin, Rückſicht zu nehmen. Stets iſt es noth— wendig, bevor man die Größe eines einzelnen Organs be— ſtimmt, ſich der Geſtalt des Kopfes im Allgemeinen zu verſichern, da an jedem einzelnen Kopfe nur das Verhält— niß der Größe jedes Organs zu den übrigen deſſelben Ko— pfes feſtgeſtellt werden kann.

Die phrenologiſche Büſte zeigt die Lage der Organe und ihre Verhältniſſe nur an einem Kopfe, die verſchiede— nen Erſcheinungen in allen den Varietäten relativer Größe müſſen durch Anſehen einer Menge von Köpfen und beſon— ders durch Vergleichung von Beiſpielen ungewöhnlich gro— ßer und ungewöhnlich kleiner Entwickelung erlernt werden.

Die Köpfe können zwar durch Taſtezirkel in gewiſſen Richtungen gemeſſen werden, und dieſe Meſſungen ſind wichtig, weil ſie uns über die Größenverhältniſſe eines Kopfes im Allgemeinen und in ſeinen Haupttheilen Auf— ſchluß geben. Allein die einzelnen Organe laſſen ſich nicht meſſen, ſondern nur beſchauen und hauptſächlich befüh— len. Die Grade der Größe der einzelnen Organe laſſen ſich am füglichſten durch Zahlen beſtimmen und zwar in folgender Weiſe: 1 ſehr klein, 2 klein, 3 mittelmäßig, 4 ziemlich groß, 5 groß, 6 ſehr groß. Durch Bruchtheile laſſen ſich dann die Verhältniſſe zwiſchen den ganzen Zah— len noch näher beſtimmen, z. B. wo das richtige Verhält— niß zwiſchen 5 und 6 gerade in der Mitte liegt, ſetzt man 5½, wo es 5 näher liegt, 5%, 5½½ u. ſ. w., wo es 6 nä— her ſteht, 5%, 5% u. ſ. w. Da jedes Organ in derſelben Weiſe wie Arm und Bein und Auge ein doppeltes iſt, ſo findet ſich im normalen Zuſtande auch immer ein correſpon— direndes Organ auf beiden Seiten des Kopfes. Bei den— jenigen dagegen, welche auf der Mittellinie liegen, laſſen

Die Phyſiognomik der Phrenologie. 57

ſich die beiden Theile des Organs äußerlich nicht abgeſondert erkennen).

Wer mit Erfolg phrenologiſche Beobachtungen anſtel— len will, beginne zuerſt mit ſeinem eignen Kopfe und den— jenigen ſeiner Freunde und Bekannten; betrachte alle Ab— bildungen entſchiedener Charaktere, z. B. der Antiken, die ihm zugänglich ſind, und vergleiche ſie mit den Lehren der Phrenologie. Er übe ſein Auge dadurch, daß er es nie— mals gedankenlos auf einem Kopfe ruhen laſſe, ſondern im— mer mit forſchendem Blicke, ſo oft ſich die Gelegenheit der Beobachtung bietet: im Theater, in Volksverſammlungen, in Geſellſchaften u. ſ. w. Nur durch unausgeſetzte Uebung kann Auge und Hand befähigt werden, dem phrenologiſchen Forſcher gute Dienſte zu leiſten, und können die zur Anſtel— lung genauer Beobachtungen erforderlichen Organe geſtärkt und an ein bereitwilliges Zuſammenwirken gewöhnt werden.

Bei Betrachtung der an den Seiten des Kopfes lie— genden Organe, namentlich des Bautalents, des Erwerbs— triebs und des Verheimlichungstriebs iſt auf die Stärke der ſie bedeckenden Muskeln Rückſicht zu nehmen. Die Stirnhöhle macht die Beobachtung der in der Mitte der Stirn ruhenden Organe ſchwieriger. Allein der geübte Blick wird die Geſtalt eines Organs nicht verwechſeln mit der un— beſtimmteren Geſtaltung, welche die Stirnhöhle der Stirn verleiht. Die kleinen Organe, welche um das Auge herum liegen, ſind beſonders ſchwierig zu erkennen, und ohne lange fortgeſetzte Uebung wird man ſie ſelten richtig zu würdigen im Stande ſein.

Der Augenrand wird je nach der verſchiedenen Ent— wickelung eines oder mehrerer der daſelbſt belegenen Organe ganz oder theilweiſe eine andere Geſtalt annehmen. Wenn ſie alle ſchwach entwickelt ſind, iſt der ganze Augenrand ſehr hoch, und die Augen ſind heraufgedrängt und dem obern Orbitalbogen nahe; in dieſem Falle ſind die Augenränder

I) Phrenological Journal of Edinburgh 1824 No. II. p. 305.

58 Eintheilung der Geiſtesvermögen.

S

tief und wie hohle Cylinder gebildet. Aber wenn alle dieſe Kopftheile einen hohen Grad von Ausbildung erlangt ha— ben, ſo ſind die Augenwurzeln nach vorn gedrängt, wovon die Folge iſt, daß die Augen groß und in gleicher Linie mit dem Kopfe ſind; in dieſem Falle drückt die herabgedrängte Wölbung die Augenwurzel hinab, welche ihrerſeits den un— tern Augenrand der Backe zudrängt, und unter dem untern Augenlide eine Art von Wulſt bildet. Wenn nur der äu— ßere Theil ſehr entwickelt iſt, ſo wird auch nur der entſpre— chende Theil der Wölbung herabgedrückt, was die Herab— drückung des äußern Theils der Augenwurzel und der äu— ßeren Commiſſur der Augenlider zur Folge hat. Wenn der innere Theil allein ſehr entwickelt iſt, ſo wird der innere Theil der Wölbung allein ſehr herabgedrückt, wodurch der innere Theil der Augenwurzel und die innere Commiſſur der Augenlider nach unten gedrängt wird ). 8

Unregelmäßig gebildete, krankhafte und alte Köpfe bie— ten oft unüberwindliche Schwierigkeiten der Beobachtung dar. Der geübte Phrenolog wird dieſe erkennen, und ſich hüten, in denjenigen Fällen ſeine Schlußfolgerungen aus— zuſprechen, in welchen ſie nur auf unſichere Grundlagen ge— baut werden könnten ).

9 7. Eintheilung der Geiſtesvermoͤgen.

Die Natur macht keine Eintheilungen. Sie ſchafft nach ewigen Geſetzen und bedarf keiner Hülfsmittel der Ueberſicht. Allein der Menſch mit ſeinen beſchränkten Ga— ben kann ein weites Feld ohne Eintheilungen nicht über— ſehen. Um ſich den Ueberblick der menſchlichen Grundkräfte zu erleichtern, muß er daher auch ſie einzutheilen ſuchen. Jede Eintheilung der Geiſteskräfte muß demnach mangelhaft

I) Gall sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 6. 2) Spurzheim, on Phrenology p. 113 119.

Eintheilung der Geiſtesvermögen. 59

ſein, ſie geht nicht aus dem Innern der menſchlichen Natur hervor, ſondern wird gewiſſermaßen von außen, wie ein Rahmen mit Fächern auf ſie gepaßt, damit man ſie ver— mittelſt deſſelben feſthalten könne.

Wenn wir übrigens die menſchliche Natur aufmerkſam beobachten, ſo werden wir gewiſſe Anhaltspunkte finden, auf welche wir eine Eintheilung gründen können. So ſehen wir namentlich, was das Wechſelverhältniß zwiſchen dem Körper und dem Geiſte des Menſchen betrifft, daß ſich die Gehirn— windungen des Vorderhaupts in einer Beziehung von den— jenigen des Hinterhaupts ſehr merklich unterſcheiden. Jene beſtehen aus kleineren, aber verhältnißmäßig zahlreicheren, dieſe aus größeren, aber verhältnißmäßig minder zahlreichen Büſcheln. In dem Vorderhaupte haben diejenigen Organe ih— ren Sitz, welche unter dem gemeinſchaftlichen Namen der In— telligenz, in dem übrigen Theil des Hauptes diejenigen Organe, welche unter dem Namen der Senſitivität zuſammengefaßt wer— den. Dieſem Gegenſatze der Organe entſpricht vollkommen der— jenige der damit verbundenen geiſtigen Kräfte. Die Organe der Intelligenz ſind verhältnißmäßig zahlreicher, aber inten— ſiv weniger kräftig. Die Organe der Senſtitivität find ver: hältnißmäßig minder zahlreich, aber intenſiv kräftiger ).

An dieſen Gegenſatz reiht ſich ein zweiter an. Die Fibern, welche von dem vorderen Gehirnlappen ausgehen, ſtehen größtentheils mit den Nerven freiwilliger Bewegung, die Fibern, welche von den beiden andern Gehirnlappen ausgehen, größtentheils mit den Nerven der Empfindung in unmittelbarer Verbindung?). Ein zweiter charakteri— ſtiſcher Unterſchied zwiſchen der Intelligenz und der Sen— ſitivität beſteht demzufolge darin, daß die erſtere unmittel— bar, die letztere vermittelſt ihrer Einwirkung auf die Intel— ligenz wirkſam ins Leben tritt.

I) Spurzheim, on Phrenology. 3. Edit. p. 75 2) Gall and others on the functions of the cerebellum Introduction p. XXXI. II. Phrenolg. Journal of Edinburgh Vol. III. No. XIII. p. 96.

60 Eintheilung der Geiſtesvermögen.

Die Gefühle geben den Impuls zur Handlung, aber die Intelligenz handelt in Gemäßheit des erhaltenen Impulſes. Jedoch muß man ſich nicht denken, als ſei die Senſitivität unbedingt herrſchend, die Intelligenz unbedingt gehorchend. Keineswegs! Nur iſt bei jener die eine, bei dieſer die an— dere Richtung vorwaltend, wie ſich ſchon daraus erklärt, daß nicht alle, ſondern nur die meiſten Fibern in den be— zeichneten Richtungen hin ſich verbreiten. In ſolcher Weiſe ſehen wir die Verbindung der verſchiedenen Theile des Ge— hirns mit den verſchiedenen Theilen des Nervenſyſtems, und durch dieſes mit dem Körper überhaupt hergeſtellt.

Demnach ſpalten ſich die Grundkräfte des Geiſtes in zwei große Hälften, wovon die eine in ihrer Geſammtheit die Senſitivität, die Gefühlswelt, im weitern Sinne des Wortes, die andere die Intelligenz, gleichfalls im weitern Sinne des Wortes, bildet.

J. Inſofern unſere irdiſchen Bedürfniſſe in Frage kom— men, wird unſere Senſitivität

1) zur Sinnlichkeit, zum Triebe; inſofern dagegen un— ſere höheren Bedürfniſſe ſich geltend machen,

2) zum Empfindungsvermögen, zum Gefühl (im en— gern Sinne des Wortes). Der unmittelbare Gegenſtand des letztern iſt nicht durch die unabweisbare Nothwendigkeit geboten, wohl aber der unmittelbare Gegenſtand des erſtern. Daher iſt auch der Trieb mehr augenblicklich ſtark wirkend, während das Gefühl hauptſächlich nur durch feine Dauer praktiſche Bedeutſamkeit erlangt.

Ohne den Geſchlechtstrieb würden keine neuen Gene— rationen entſtehen, ohne Kinderliebe würden ſie nicht groß gezogen, ohne Anhänglichkeit nicht zuſammengehalten wer— den. Der Bekämpfungstrieb ſchützt ſie gegen wilde Thiere und menſchliche Feinde, der Zerſtörungstrieb macht dem Kampf ein Ende. Wie der Zerſtörungstrieb gegen die Ge— walt, ſo ſchützt der Verheimlichungstrieb gegen die Liſt der Feinde. Der Nahrungstrieb erhält dem Körper ſeine Ge— ſundheit durch regelmäßige Zufuhr der Bauſtoffe feines Dr-

Cintheilung der Geiſtesvermögen. 61

ganismus, der Erwerbstrieb ſorgt für die Mittel zur Be— friedigung aller dieſer Triebe, und der Einheitstrieb con— centrirt ſie in einem Punkte.

Die höheren Gefühle beſtimmen unſer eigenthümliches Verhältniß zu uns ſelbſt (Selbſtgefühl und Feſtigkeit), zu Unſersgleichen (Beifallsliebe, Sorglichkeit, Wohlwollen, Ge— wiſſenhaftigkeit), zu einzelnen Weſen oder einer ganzen Welt über uns (Ehrerbietung, Hoffnung, Sinn für das Wunder— bare, Schönheitsſinn).

II. Die Intelligenz lehrt uns

1) die Dinge der Außenwelt nach ihrer eigenthüm— lichen Beſchaffenheit erfaſſen (Erkenntnißvermögen);

2) in den unſerer Individualität entſprechenden For— men die Bewegungen unſers Innern äußern (Darſtellungs— vermögen); endlich

3) die verſchiedenen Gegenſtände unſerer ſämmtlichen Geiſteskräfte mit einander in Verbindung bringen (Denk— vermögen).

1. Die drei großen Kategorien, unter welche wir die Außenwelt ſtellen können, ſind Raum, Zeit und Zahl. Der Raum umſchließt die Körperwelt (das Seiende), die Zeit die Vereinigung der körperlichen und der geiſtigen Welt (das Werdende), die Zahl verbindet die einzelnen Factoren dieſer beiden Welten.

Die Zeit mit ihren Erſcheinungen ſteht auf einer höheren Stufe der unendlichen Leiter, deren Sproſſen einerſeits im Schooße der Erde ruhen, anderſeits ſich in den Himmel erheben, als der Raum mit dem, was ihn betrifft. Daher nehmen auch die Organe, welche ſich auf die Zeit beziehen, eine höhere Stelle im Gehirn ein, als diejenigen, welche es mit der Körperwelt zu thun haben und deren Qualitäten bezeichnen. Die Zahl, als Typus der Quantität, bietet einen Gegenſatz mit den Typen der Qualität. Dieſe iſt aber bedeutungsvoller als jene, und ihre Organe ſind hö— her belegen und häufiger, als das Organ der Zahl.

62 Eintheilung der Geiftesvermögen.

Sechs Organe find für die Verhältniſſe der Körper— welt beſtimmt, nur zwei für diejenigen ihrer Vereinigung mit der geiſtigen Welt; ein Beweis, daß der Raum und die Körper, die er umſchließt, uns mit allen Einzelnheiten nothwendiger iſt, als die Vereinigung der Körperwelt mit der Geiſterwelt. Daher wird es uns leichter, in den Ver— hältniſſen des Raums oder der Körperwelt, als in den Verhältniſſen der Veränderung oder der Zeit unſer Wiſſen auszudehnen. Die Zeit bildet die Brücke von der körper— lichen zur geiſtigen Welt. Mit ſechs Füßen ſtehen wir im Gebiete des Raums, nur mit zweien im Gebiete der Zeit.

Der Größenſinn lehrt uns die Ausdehnung der Kör— per, der Ortſinn ihr relatives Verhältniß zu anderen Kör— pern, der Geſtaltſinn ihre äußeren Umriſſe, der Farbenſinn ihre Verhältniſſe zum Lichte, der Gewichtſinn ihre Verhält— niſſe zur Schwerkraft würdigen. Der Gegenſtandſinn end— lich theilt das Meer der Erſcheinungen der Außenwelt in einzelne Wellen, und drückt ſo jedem Körper den Stempel der Individualität auf. Wie der Größenſinn die Ausdeh— nung der Körper, ſo umfaßt der Zeitſinn die Ausdehnung der Veränderung; doch während fünf Organe ſich mit den Körpern beſchäftigen, welche den Raum erfüllen, beſchäftigt ſich nur einer, der Thatſachenſinn, mit den Veränderungen, welche die Zeit ausfüllen.

2. Mannigfaltig ſind die Formen, in welchen der Menſch feine innere Welt äußert, darſtellt: Körper (Zu: ſammenſetzungs- oder Bautalent), Contraſte (Witz), Wie— derholungen (Nachahmungstalent), Verhältniſſe der Körper unter einander (Ordnungstalent), Töne (Tonſinn) und Worte (Sprachſinn) bieten uns ſolche Formen.

3. Wie ſich das Erkenntnißvermögen mit Gegenſtän— den der Außenwelt, das Darſtellungsvermögen mit Formen für unſere innere Welt, ſo beſchäftigt ſich das Denkvermö— gen mit Begriffen, welche es entweder mit ſeines Gleichen in Verbindung bringt (Vergleichungsgabe), oder mit den Gründen, worauf ſie beruhen (Schlußvermögen). Die Frage

Eintheilung der Geiſtesvermögen. 63

dagegen, ob dieſen Begriffen äußerlich etwas entſpricht, ob es Centauren, Einhörner giebt, dieſe zu löſen, iſt nicht Sache des Denk-, ſondern des Erkenntnißvermögens. Wie der Mathematiker mit X-Größen die längſten Aufgaben durchrechnen kann, ohne herauszubringen, ob dieſe Größen wirklich exiſtiren, ſo kann der Denker mit dem größten Scharfſinn und mit vollkommener Folgerichtigkeit ein gan— zes philoſophiſches Syſtem aufſtellen; allein ob dieſem in der Welt außerhalb ſeinem Denkvermögen irgend etwas ent— ſpricht, das iſt eine andere Frage, das geht aus allen ſeinen Schlüſſen nicht hervor. Denn die Welt außer uns nehmen wir nicht durch Schlüſſe wahr, ſondern nach Verſchiedenheit der Gegenſtände durch unſere verſchiedenen Seelenkräfte mit Ausſchluß des Denkvermögens. Allerdings kann dieſes uns bei unſeren Wahrnehmungen auch behülflich ſein. Verglei— chungen und Schlüſſe mögen uns auf mancherlei Erſchei— nungen der Außenwelt aufmerkſam machen, allein ſie kön— nen uns dieſelben nicht unmittelbar vor die Seele führen.

Hätten die Philoſophen dieſes bedacht, ſo hätten ſie viele Irrthümer vermieden. Gar viele haben in der That geglaubt, Wahrheiten entdeckt zu haben, welche nichts tha— ten, als mit X-Größen lange Exempel rechnen.

Die fünf Gruppen von Organen, welche den genann— ten fünf Vermögen entſprechen, ſind in folgender Weiſe im menſchlichen Haupte vertheilt: den untern und hintern Theil des Gehirns nehmen die Organe der Sinnlichkeit ein, die Wölbung deſſelben die Organe des Empfindungsvermögens, den untern und vordern Theil die Organe des Erkenntniß— vermögens. Das Darſtellungsvermögen vermittelt die Ver— bindung zwiſchen Empfindungs- und Erkenntnißvermögen, und das Denkvermögen hat ſeinen Sitz in dem obern Theile der Stirn.

Zur Rechtfertigung dieſer Eintheilung erlaube ich mir noch folgende Bemerkungen. Der Gegenſatz zwiſchen In— telligenz und Senſitivität wird allgemein angenommen; des— gleichen die Unterabtheilung zwiſchen Sinnlichkeit und Em—

64 Eintheilung der Geiſtesvermögen.

pfindungsvermögen. Sie werden daher wohl ſchwerlich an— gefochten werden. Dagegen weicht meine Eintheilung der Intelligenz von derjenigen anderer Phrenologen ab. Ge— wöhnlich wird Witz und Nachahmungstalent zu den Ge— fühlen gezählt. Allein das Charakteriſtiſche dieſer Geiſtes— kräfte ſcheint mir keineswegs in der Hervorrufung eines Gefühls zu beſtehen. Auf der anderen Seite werden der Zuſammenſetzungsſinn, Ordnungsſinn, Tonſinn und Sprach— ſinn zu den Erkenntnißvermögen gerechnet. Allein mir ſcheint das Weſen dieſer Kräfte keineswegs in der Vermittlung ir— gend einer Erkenntniß weſentlich zu liegen. Das Gemein— ſame aller dieſer Kräfte ſcheint mir vielmehr darin zu be— ſtehen, die durch andere Kräfte hervorgerufenen Gefühle und Gedanken in gewiſſen Formen darzuſtellen: in Wie— derholung des bereits Wahrgenommenen, in Tönen u. ſ. w. Streifen wir von der Muſik, von einem witzigen Einfall, von einer Rede u. ſ. w. Alles ab, was die Empfindungen und die Gedanken ihnen liehen, fo bleibt für den Tonſinn nichts übrig als die Form: der Ton, für den Witz nichts als die Form: der Contraſt, für den Sprachſinn nichts als die Form: das Wort, worein die Empfindungen und die Gedanken des Sängers, des Witzlings, des Redners ge— kleidet wurden. Dieſes iſt nicht ſo bei den Fähigkeiten des Erkenntnißvermögens, oder den Gefühlen des Empfindungs— vermögens. Der Farbenſinn macht uns für Farbenverhält— niſſe zugänglich, allein nur in Verbindung mit dem Zuſam— menſetzungsſinne wird er ſich äußerlich in Geſtalten kund thun. Die Ehrerbietung drängt uns, den Blick auf höhere Weſen zu richten und ſie zu verehren, allein die Formen der Verehrung werden die begleitenden Talente an die Hand geben. Bei vorwaltendem Tonſinn wird ſie ſich in Tönen, bei vorwaltendem Bautalent in Bauwerken u. ſ. w. kund thun, und wäre kein anderes Talent vorhanden, ſo würde das namentlich in der Kindheit ſo mächtige Nachahmungs— talent die Formen, die wie gewahren, uns bald aneignen.

Eintheilung der Geiſtesvermögen. 65

Schon das gemeine Leben unterſcheidet zwiſchen Ge— fühlen, Fähigkeiten und Talenten. Letztere werden mehr auf die Annehmlichkeiten, erſtere mehr auf die wichtig— ſten Beziehungen und Verhältniſſe des Lebens angewen— det. Wenn man von talentvollen Menſchen ſpricht, ſo verſteht man darunter gerade ſolche, welche muſikaliſch ſind, welche witzig ſind, welche mehrere Sprachen reden u. ſ. w., aber keineswegs Leute, welche lebendig und tief fühlen, oder ſcharf beobachten. Das gemeine Leben hat daher ſchon eine Ahnung des Gegenſatzes zwiſchen Talenten einerſeits und Gefühlen und Fähigkeiten anderſeits. Dieſe Ahnung habe ich bei meiner Eintheilung zur klaren An— ſchauung zu bringen geſucht.

Doch dieſe, ich wiederhole es, wie jede andere Ein— theilung von Werken und Kräften der Natur, wird immer mangelhaft ſein. Die Kräfte der Natur ſind vorhanden, wirken und ſchaffen, ob wir ſie bemerken, würdigen und berückſichtigen oder nicht; die menſchliche Eintheilung da— gegen wirkt und ſchafft nicht, ſie erleichtert nur die Auf— faſſung der Kräfte und Wirkungen der Natur.

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I. Sinnlichkeit oder Triebe.

§ 8. 1. Geſchlechtstrieb ).

Das Organ dieſes Triebs hat ſeinen Sitz im kleinen Ge— hirn zu beiden Seiten zwiſchen dem zitzenförmigen Fortſatze (processus mastoideus) und dem hervorragenden Punkte in der Mitte der Querleiſte auf dem Hinterhauptsbeine (Spina cruciata). Es gränzt nach unten zu an den Na— cken. Nach oben ſtößt daran eine vom Gehirn nicht ausge—

1 Fig. 12. Fig. 13. Geſchlechtstrieb groß. Geſchlechtstrieb mäßig.

Der Mörder Linn. Pfarrer M.

Geſchlechtstrieb. 67

füllte Stelle, welche ihrerſeits von den Organen der Kin— derliebe und des Bekämpfungstriebs begränzt wird. Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit I. bezeichnet). Seine Größe wird im Leben durch die Dicke des Nackens an die— ſen Theilen angezeigt. Bei einigen Individuen ſteigen die Lappen des kleinen Gehirns nach unten herab und verſtär— ken mehr die Baſis des Hinterhauptbeines, als daß ſie ſeine Ausdehnung in der Richtung zwiſchen den Ohren ver— mehrten. In ſolchen Fällen fühlt man die Hervorragung mit der Hand, wenn man dieſelbe feſt gegen den Nacken andrückt.

Zur Entdeckung dieſes Organs gelangte Gall auf fol— gende Weiſe: eine junge Wittwe ward bald nach dem Tode ihres Mannes von Melancholie und heftigen Convulſionen befallen, die mit unangenehmer Spannung und Hitze in dem Nacken begleitet waren, wobei die Nackenwirbelſäulen heftig rückwärts gezogen wurden. Die Kriſis endigte ſtets mit einer Ergießung unter den Entzückungen der Wolluſt. Die Dame geſtand, daß es ihr ſeit ihrer Jugend unmöglich geweſen, dem gebieteriſchen Bedürfniſſe dieſes Triebes zu widerſtehen, und daß, wenn das Verlangen am ſtärkſten geweſen, Spannung und Hitze im Nacken ſie ſehr beläſtigt hätten. Ihr Nacken war in der Gegend des kleinen Ge— hirns hoch gewölbt, und wurde während eines Anfalls der bezeichneten Art immer ſehr heiß.

Schon Apollonius von Rhodus, van der Haar und Tiſſot hatten dieſen Theil des menſchlichen Körpers mit dem Geſchlechtstriebe in Verbindung gebracht.

Fernere Beobachtungen, welche Gall an anderen Per— ſonen von ſtarkem Geſchlechtstriebe machte, beſtärkten ihn in der Anſicht, daß das kleine Gehirn das Organ dieſes

1) So oft in dieſer Schrift die Gall'ſchen Tafeln angeführt wer— den, ſo ſind darunter diejenigen verſtanden, welche ſeiner Anatomie et Physiologie du systeme nerveux beigegeben und von mir und Dr. Hirſchfeld beſonders herausgegeben ſind.

25

6

(09)

Geſchlechtstrieb.

Triebes ſei. Er fand namentlich, daß Zunahme und Ab— nahme des Geſchlechtstriebs mit der Entwicklung und Ab— nahme des kleinen Gehirns in Verhältniß ſtehen. Bei neu— geborenen Kindern iſt das kleine Gehirn der unentwickeltſte Theil des ganzen Gehirns. Das Verhältniß des kleinen zum großen Gehirn iſt zwar bei verſchiedenen Perſonen verſchieden und ſinkt bei Kindern von 1 zu 9 bis 1 zu 21 und einem noch kleineren Bruchtheile; dagegen verhält es ſich bei Erwachſenen wie 1 zu 5 und höchſtens 1 zu 7. Das kleine Gehirn iſt gegen das achtzehnte bis zum ſechs— undzwanzigſten Jahre am meiſten entwickelt. In entſpre— chender Weiſe entwickelt ſich auch der Geſchlechtstrieb. Bei herannahendem Alter vermindert ſich die nervöſe Fülle des— ſelben, und in gleichem Maße vermindert ſich auch der Trieb, von welchem wir handeln. Bei mehreren Kindern, welche ungewöhnlich früh ihren Geſchlechtstrieb befriedigten (mit drei und fünf Jahren), fand ſich das kleine Gehirn ungewöhnlich ſtark entwickelt. Dieſe Beobachtungen Gall's fanden vielfache Beſtätigung durch andere Phyſiologen ').

Einzelne Männer, wie ganze Nationen, welche dieſen Trieb ſtark beſitzen, zeigen eine ſtarke, ſolche, welche ihn ſchwach haben, eine geringe Entwickelung dieſes Organs. Die Eskimeaux, welche, bei ſonſtiger ungewöhnlicher Paſ— ſivität, in der Liebe im höchſten Grade ausſchweifend ſind, haben ein ſehr ſtark entwickeltes kleines Gehirn. Carl XII. von Schweden, Newton, Kant hatten einen ſchlanken Hals, und alſo ein wenig entwickeltes kleines Gehirn. Sie zeich— neten ſich durch ihre Enthaltſamkeit aus; im umgekehrten Falle waren Piron und Mirabeau. Bei Freudenmäd— chen findet ſich gewöhnlich eine ſtarke Entwickelung die— ſes Organs.

I) Spurzheim, on Phrenology p. 128 - 135. Introduction a l’etude philosophique de la Phrénologie p. 126, par Bes-

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Geſchlechtstrieb. 69

Schon Hippokrates bemerkte, daß bei dem Manne der Geſchlechtstrieb ſtärker ſei, als bei dem Weibe ), und in Uebereinſtimmung hiermit findet ſich das kleine Gehirn des Mannes in der Regel ſtärker entwickelt, als dasjenige der Frau (ſ. Taf. IV. Fig. 1 und 2). Nach Tiedemanns ) Beobachtungen zeigt ſich ſchon beim neugebornen Kinde ein Unterſchied zwiſchen dem männlichen und weiblichen Gehirn.

Auch bei den Thieren bewährt ſich dieſe Bemerkung. Auch bei dieſen läßt ſich ein Wechſelverhältniß zwiſchen der Entwicklung des kleinen Gehirns und des Geſchlechtstriebs nachweiſen. Diejenigen Thiere, deren Fortpflanzung nicht durch die Mitwirkung beider Geſchlechter ſtattfindet, beſitzen keinen Gehirntheil, welcher dem kleinen Gehirne gleicht. Bei allen Thieren dagegen, welche ſich paaren, findet ſich ein unmittelbar über dem Rückenmarke belegener Gehirn— theil, welcher die Stelle des kleinen Gehirns vertritt, wo— mit die vollkommneren Thiere begabt ſind. Uebrigens er— fordert es ein eigenes Studium, bei den letzteren die Lage deſſelben richtig aufzufinden. Auffallend iſt es, daß das kleine Gehirn der Vögel im Frühlinge, der Zeit ihres Paa— rens, durchgängig weit voller iſt, als im Herbſte, wo der Geſchlechtstrieb bei ihnen nicht mehr wirkſam iſt.

Da das Organ dieſes Triebs im unterſten Theile des Gehirns belegen iſt, ſo werden der Kopf und die übrigen Theile des Körpers nach dieſer Richtung gezogen, ſo oft es mit Energie thätig iſt. Zu allen Zeiten haben die Künſt— ler dieſes beobachtet. Ich erinnere nur an das Gemälde von Carlo Cigniani, welches Joſeph und Potiphar darſtellt. Letz— tere hält mit glühenden Augen, den Nacken nach hinten, die Naſe nach vorne gerichtet den Gegenſtand ihrer Begierden mit ihren Armen zurück.

1) In venere exercenda longe minorem quam vir voluptatem mulier percipit, vir vero etiam diuturniorem. Hippocrates de genitura.

2) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 2. S. 173.

70 Geſchlechtstrieb.

Nicht minder bezeichnend iſt die Art und Weiſe der Liebkoſungen, welche die Thiere einander erweiſen. Bald iſt es das Männchen, bald das Weibchen, welches den Nacken ſeines geliebten Gegenſtandes reizen will. Ich er— innere nur an den Kater, den Enterich, den Hahn.

Durch eine Reihe von Beobachtungen wurde feſtgeſtellt, daß die Abſchneidung oder die zufällig eingetretene Atrophie einer Hode das Schwinden des Lappens des kleinen Gehirns an der entgegengeſetzten Seite, die Hinwegnahme oder zu— fällig eingetretene Atrophie beider das Schwinden beider Lappen des kleinen Gehirns bewirkt. Daher kommt es, daß die Ochſen, Wallachen und andere verſchnittene Thiere einen weit ſchlankern Hals haben, als Stiere, Hengſte und andere unverſchnittene Männchen. Doch hängt vieles von der Zeit ab, da die Caſtration oder Atrophie erfolgt. Im Kindesalter ſind ihre Folgen weit entſchiedener, als ſpäter. Hodenverletzungen haben eine entſprechende Abnahme des klei— nen Gehirns oder, den Umſtänden nach, kürzer oder länger anhaltende Unfähigkeit zur Folge. Aderläſſe, wenn ſie auf dem Nacken oft wiederholt werden, ſchwächen die Zeugungs— kraft und wirken heftigem Verlangen, fo wie der Entzün- dung der Geſchlechtstheile am kräftigſten entgegen, während reizende Mittel, an dieſer Stelle angewandt, in entſprechen— der Weiſe reizend auf den Geſchlechtstrieb wirken. Wun⸗ den in der Gegend des kleinen Gehirns haben nicht ſelten den Geſchlechtstrieb oder doch die Fähigkeit zu zeugen, auf längere oder kürzere Zeit, und bisweilen ſelbſt auf immer gänzlich erflidt ’).

Auf der anderen Seite ſteht der Anſicht, daß die Ge— ſchlechtstheile der Sitz des Geſchlechtstriebs ſeien, die Er— fahrung entgegen, indem der Entwickelungsgrad jener in keinem Verhältniß zu dem Entwickelungsgrade dieſes ſteht. Menſchen mit großen Geſchlechtstheilen haben häufig ſchwa— chen, Menſchen mit kleinen Geſchlechtstheilen häufig verhält—

I) Phrenol. Journal New Series XX. p. 340.

Geſchlechtstrieb. 71

nißmäßig ſtarken Geſchlechtstrieb, Erectionen können durch äußere Verletzungen, z. B. Wespenſtiche, ohne alle wollüſtige Empfindungen ſtattfinden, und mit der Hinwegnahme der Geſchlechtstheile iſt keineswegs ſofort der Geſchlechtstrieb ſelbſt beſeitigt. Kinder von zwei bis fünf Jahren, de— ren Geſchlechtstheile noch ganz unentwickelt waren, alte, unfähige Leute beider Geſchlechter, Caſtraten und Eunuchen, Weiber ohne Gebärmutter empfanden die Regungen dieſes Triebs und ſuchten ihm zu fröhnen. Ueberhaupt treten jenen Anſichten alle Gründe entgegen, welche in neuerer Zeit denkende Phyſiologen und Anthropologen beſtimmt ha— ben, das Gehirn als Centralorgan der Seele anzunehmen. So wenig der Magen das unmittelbare Organ der Eßluſt, ganz ebenſowenig können die Geſchlechtstheile das unmittel— bare Organ des Geſchlechtstriebs bilden). Daß die Ge—

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 147-183. Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. III. p. 225-415. Spurzheim, ob- servations sur la Phrénologie p. 128-140. Combe's Syſtem der Phrenologie, überfegt von Dr. Hirſchfeld S. 103. Allerdings ſcheinen die Verſuche mancher Phyſiologen, namentlich von Flourens, Magendie, Hartwick darauf zu deuten, daß mit dem kleinen Gehirne die freiwil— lige Bewegung in Verbindung ſtehe. Allein die Organe der letzteren mögen neben demjenigen des Geſchlechtstriebs darin liegen. Das kleine Gehirn iſt, inſofern wir es als ein einzelnes Organ betrachten, im Ver— hältniß zu allen übrigen Organen des Gehirns, ſehr groß; es iſt da— her jene Annahme an und für ſich nicht unwahrſcheinlich. Zu derſel— ben führen ſogar die eigenen Beobachtungen Gall's. Während er näm— lich bei einer Reihe von apoplektiſchen durch Erectionen, Spannung, Anſchwellung und Röthe der Geſchlechtstheile beſonders bezeichneten Zufällen den Sitz der Verletzung immer im kleinen Gehirne gefunden hatte, kam ihm auch ein Fall vor, da in der Baſis der linken He— miſphäre des kleinen Gehirns ſich ein Extravaſat fand. In dieſem Falle hatte ſich durchaus keine beſondere Erſcheinung an den Geſchlechts— theilen bemerklich gemacht, der Patient hatte auch immer einen ge— ordneten Lebenswandel geführt. Dagegen hatte das erſte Krankheits— ſymptom in einer Schwere des rechten Beines beftanden, welche ſich bald zu einer Lähmung der ganzen rechten Seite verſchlimmerte. (Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. I. p. 341-369.) Dieſe Beobachtung

72 Geſchlechtstrieb.

ſchlechtstheile dagegen unter dem leitenden Einfluſſe des klei— nen Gehirns ſtehen, beweiſt unter andern auch noch folgende Beobachtung des Dr. Budge ). Er erzählt, daß ſich bei einem alten, männlichen Kater, deſſen Hoden in der Bauch— höhle lagen, dieſe Theile jedesmal bewegten, wenn er mit dem Meſſer oder Cali causticum das kleine Gehirn reizte, in der Art, daß ein auf der rechten Seite des kleinen Ge— hirns angebrachter Reiz die linke Hode, ein auf der linken Seite angebrachter dagegen die rechte Hode hervortreten machte, und zwar nicht blos einmal, ſondern wiederholt auf die zuverläßigſte Weiſe, ſo daß er auf Commando die eine oder die andere, je nachdem er auf der einen oder der andern zu reizen befahl, hervortreten machen konnte ). Nicht minder bezeichnend iſt die Thatſache, daß bei Er— hängten, deren kleines Gehirn zunächſt durch den Strick ge— reizt wird, ſich Erectionen zeigen. Dieſes und die damit in Verbindung ſtehenden Gefühle ſind den Wollüſtlingen ſo

Gall's deutet, in Verbindung mit den oben angeführten, darauf, daß die Baſis des kleinen Gehirns nicht das Organ des Geſchlechtstriebs darſtelle, ſondern mit der freiwilligen Bewegung in Verbindung ſtehe. Doch fehlt es in dieſer letzteren Ruͤckſicht noch an hinreichenden Be— obachtungen, während die Frage, ob das kleine Gehirn das Organ des Geſchlechtstriebs in ſich ſchließe, uͤber allen Zweifel erhoben iſt.

1) Unterſuchungen über das Nervenſyſtem. Erſtes Heft.

2) Eine Reihe der intereſſanteſten Beobachtungen über dieſes Or— gan findet ſich zuſammengeſtellt in der Schrift On the functions of the cerebellum by Dr Gall, Vimont and Broussais translated from the french by George Combe. Edinburgh 1838, und in Gall's oben angeführten Werke S. 147-183. Ich ſelbſt habe dieſes Organ an verſchiedenen lebenden Perſonen wiederholt auf eine ſehr ſchlagende Weiſe beſtätigt gefunden. Einzelne ſpecielle Fälle hier anzuführen, halte ich jedoch nicht für angemeſſen. Merkwürdig iſt auch die Schil— derung, welche Joſephus Ant. b. XV. C. VII. 7. von einem Schmerze, den Herodes der Große in dem hinteren Theile des Hauptes hatte, und den Urſachen und begleitenden Erſcheinungen deſſelben, giebt. Phren, Journal New Series No. XXI. p. 73. a

Geſchlechtstrieb. 78

wohl bekannt, daß ſie ſich zum Zwecke, ſie hervorzurufen, ſchon haben aufhängen laſſen ).

1) Joh. Müller bemerkt in Betreff der Verrichtungen des klei— nen Gehirns: „In apoplektiſchen Fällen mit Erection hat man Blut— erguß im kleinen Gehirn gefunden (Serres im Journal de physiol. 3. 114). Dungliſon beobachtete bei einer Entzündung des kleinen Ge— hirns, mit ſeröſer Ergießung Priapismus. Heuſinger's Beobachtungen, der bei zwei Vögeln, die plötzlich geſtorben, einen ſtrotzenden Zuſtand der Hoden und Blutergießung im kleinen Gehirne fand, können wohl nicht als Beweiſe für Gall's Anſicht angeführt werden.“ Warum nicht? Allerdings mögen ſie für ſich allein den Beweis nicht herſtellen, daß das kleine Gehirn das Organ des Geſchlechtstriebes ſei, wohl aber ſind ſie geeignet, den von Gall und ſeinen Nachfolgern bereits ge— führten Beweis zu beſtärken. Die Einwürfe, welche derſelbe Phy— ſiolog gegen Gall's Anſicht macht, dürften bei genauerer Betrachtung nicht ſtichhaltig ſein. Er ſagt: „Bei Zerſtörung des Rückenmarks in Thieren bewirkt man auch zuweilen Erection.“ Dieſes wird immer der Fall ſein, wenn diejenigen Nervenfaſern, welche das kleine Gehirn mit den Genitalien verbinden, gereizt werden. Nur auf ſolche Weiſe laffen ſich die von Joh. Müller ſelbſt beigebrachten Beweisgründe für Gall's Anſicht mit dieſen ſcheinbar entgegenſtehenden Beobachtungen vereinigen. Den von der Thierwelt hergenommenen Einwendungen hat Gall (sur les fonctions du cerveau Vol. III. p. 251254) ſchon vorgebeugt. Bei dem ferner von Joh. Müller angeführten Falle der Atrophie des kleinen Gehirns fragt es ſich, wann dieſelbe eingetreten iſt? Nur inſofern feſtſtände, daß ſie zu der Zeit ſchon eingetreten ge— weſen ſei, da der fragliche Mann den Geſchlechtstrieb kräftig ausgeübt habe, ſtünde dieſer Fall Gall's Anſicht entgegen. Ueber die Zeit der eingetretenen Atrophie iſt aber nichts bemerkt. Joh. Muͤller fährt fort: „Am merkwuͤrdigſten ſind aber folgende Thatſachen: In dem einen dieſer Falle, nämlich von einem 21jährigen Individuum, fanden ſich zwei große tuberculöſe Maſſen in der linken Hemiſphäre des kleinen Gehirns, ohne paralytiſche Symptome, ohne Kopfſchmerzen und ohne poſitive krankhafte Erſcheinung in den Genitalien. Da dieſes Indi— viduum keine Neigung zu den Vergnügungen der Liebe gehabt haben ſoll, ſo könnte man dieſen Fall als einen Beweis für die Gall'ſche Hy— votheſe anſehen. Indeſſen zeigt uns der zweite Fall eine Coincidenz des vollkommenen Mangels des kleinen Gehirns mit Neigung zur Ma— ſturpation; dies war ein elfjähriges Mädchen. Im ſiebenten Jahre zeigte das Subject eine große Schwäche in den Extremitäten, Mangel

74 Geſchlechtstrieb.

Zum fortdauernden Beſtehen der Menſchen und Thiere war es nöthig, daß die Natur einen mächtigen Trieb in ſie legte, der fie zur Vermehrung antrieb. Die Entwickelung deſſelben bezeichnet eine wichtige Periode im menſchlichen Leben. Der Uebergang des Kindes zur Jungfrau und zum Jüngling thut ſich nicht nur kund durch eine entſchiedene Veränderung in der körperlichen Beſchaffenheit, ſondern auch

an Intelligenz und eine undeutliche Articulation. Im elften Jahre, zur Zeit, wo das Individuum genauer beobachtet wurde, war die Schwäche in den Extremitäten ſo groß, daß es kaum die Beine be— wegen konnte, die nichts von ihrer Senſibilität verloren hatten. Die Bewegung der Arme war geſtattet; der intellectuelle Zuſtand war ſtumpfſinnig. Die Perſon ſtarb an einer entzündlichen Krankheit. Die Fossae occipitales inferiores waren mit Seroſität gefüllt. Statt des kleinen Gehirns fand ſich nur eine kleine häutige Querbinde über dem verlängerten Marke, die jederſeits in eine haſelnußgroße Anſchwel— lung überging. Der Pons fehlte durchaus, die Oliven waren undeut— lich.“ Dieſer Fall würde intereſſant ſein, wenn ferner angegeben wäre 1) wann das Kind anfing, ſich der Mafturpation zu ergeben? 2) wie damals das kleine Gehirn, wenigſtens dem äußern Anſcheine nach, be— ſchaffen war? Hätte man dieſe beiden Momente beobachtet, ſo würde man wahrſcheinlich gefunden haben, daß die nach eingetretenem Tode conftatirte Beſchaffenheit des kleinen Gehirns die Folge der Maſtur- pation war, und unter dieſer Vorausſetzung würde dieſer Fall eine ſehr bedeutungsvolle Beſtätigung der Gall'ſchen Anſicht ſein. Bei der Un— genauigkeit der angegebenen Thatſachen aber beweiſt dieſer Fall nichts, und begründet er nur die Vermuthung, daß die vorangegangene Ma— ſturpation die Urſache der ſpäter beobachteten krankhaften Beſchaffen— heit des kleinen Gehirns war.

Arnold bemerkt in feinem Lehrbuch der pathologiſchen Phyſiologie Bd. II. Abth. 2. § 1337: „Daß, um mit Burdach zu reden, dieſer Hirntheil (das kleine Gehirn) das pſychiſche Moment für die Geſchlechts— verrichtungen enthält, geht aus einer großen Anzahl von pathologiſchen Beobachtungen aufs beſtimmteſte hervor.“

Eine ganze Reihe der intereſſanteſten und überzeugendſten derar- tigen Thatſachen enthält namentlich auch Dr. Rumpelt's Abhandlung über die Beziehung des kleinen Gehirns zu den Genitalien in Am— mon’s Monatsſchrift für Medicin, Augenheilkunde und Chirurgie Bd. II. S. 385 ff.

Geſchlechtstrieb. 75

durch eine bedeutungsvolle Veränderung in der geiſtigen. Die Spiele, die Wünſche, die Neigungen bekommen alle eine Geſtaltung, welche der im Innern wogenden Gefühls— welt entſprechen. Der Knabe, der ſich früher um das Mäd— chen nicht kümmerte, ſucht ſie auf, folgt ihr nach, denkt an ſie, ſehnt ſich nach ihr. Das Mädchen, welches früher mit dem Knaben in gleicher Weiſe wie mit Mädchen ſpielte, wird ſcheu, zieht ſich von ihm zurück, während in Wahr— heit ſie ſich zu ihm hingezogen, durch ſeine Nähe wohlthä— tig berührt fühlt. Wer denkt hierbei nicht an die Worte in Schiller's Glocke ). Allein dieſe Zeit der ſich erſchlie— ßenden Gefühle phyſiſcher Liebe, welche von der Jugend ſo oft mit der Liebe überhaupt, mit geiſtiger Uebereinſtimmung, mit Gleichheit des Geſchmacks, der Beſtrebung und des Ge— fühls verwechſelt wird, dieſe Zeit kann nicht ewig grünen, ſo wenig als der Frühling immer dauern kann, auch nicht

1) Vom Mädchen reißt ſich ſtolz der Knabe, Er ſtürmt ins Leben wild hinaus, Durchmißt die Welt am Wanderſtabe, Fremd kehrt er heim ins Vaterhaus. Und herrlich in der Jugend Prangen, Wie ein Gebild aus Himmelshöh'n, Mit züchtigen, verſchämten Wangen Sieht er die Jungfrau vor ſich ſteh'n. Da faßt ein namenloſes Sehnen Des Juͤnglings Herz, er irrt allein, Aus ſeinen Augen brechen Thränen, Er flieht der Brüder wilden Reih'n; Erröthend folgt er ihren Spuren, Und iſt von ihrem Gruß beglückt, Das Schönſte ſucht er auf den Fluren, Womit er ſeine Liebe ſchmückt.

O zarte Sehnſucht, ſüßes Hoffen, Der erſten Liebe goldne Zeit,

Das Auge ſieht den Himmel offen, Es ſchwelgt das Herz in Seligkeit. O, daß ſie ewig grünen bliebe Die ſchöne Zeit der jungen Liebe!

76 Geſchlechtstrieb.

bei den edelſten, reinſten, beſten Menſchen. Nur bei ſolchen ſpricht ſich übrigens der Trieb, von dem wir handeln, in der von Schiller bezeichneten Weiſe aus. Nicht ſelten führt er auf Abwege und untergräbt die körperliche und geiſtige Ge— ſundheit des ſchwachen Menſchen, welcher ihm nicht zu wi— derſtehen vermag. Zum Zweck der Fortpflanzung wurde er in den Menſchen gelegt. Jeder Gebrauch deſſelben, der dieſem Zwecke nicht entſpricht, führt daher zum Uebel. Nur in der Ehe findet er beim Menſchen, wie bei vielen Thieren, ſeine naturgemäße Entwickelung. Außerhalb derſelben führt er unwandelbar in Gefahren, wo nicht zu Verbrechen. In den Schlingen dieſes Triebs wurde Weislingen und Franz von der verführeriſchen Adelheid v. Walldorf im Goethe’fchen Götz von Berlichingen gefangen. Er regte Don Ceſar's Zerſtörungstrieb auf, daß er den Bruder Don Manuel an der Seite Beatricens durchbohrte. Er iſt die Feder, welche das ganze Räderwerk der Goethe'ſchen Wahlverwandtſchaften treibt. Beiſpiele der Wirkſamkeit dieſes Triebs ſind in der Geſchichte der Welt wie des Hauſes ſo häufig, daß ſie Je— dermann zu Gebote ſtehen. Ich führte jene aus der pos— tiſchen Welt hergenommenen an, weil die Geſchichte ſelten die Bewegungen, welche dieſer mächtige Hebel der Gefühls— welt hervorruft, fo deutlich ſchildert, als die Poeſie es thut. Die Qualen unbefriedigten Geſchlechtstriebs und Kinderliebe ſind in v. Chamiſſo's Gedichte „die Klage der Nonne“ ſehr treffend geſchildert ).

1) Ich hebe zwei auf erſtern ſich beziehende Verſe aus: „Mich zieht die Sehnſucht ſchmerzlich in die erhellte Welt, Wo Liebe ſich mit Liebe zu froher Luſt geſellt; Die Freundinnen mir waren, ſie lieben, ſind geliebt, Und nur für mich auf Erden es keine Liebe giebt. Ich ſeh' fie, ihre Männer, ihr häuslich ſtilles Glück, Umringt von muntern Kindern, es ruft mich laut zurück In Gottes Welt, ich weine und weine hoffnungslos; Ward doch auch mir verheißen des Weibs gemeinſam Loos.“

Geſchlechtstrieb. 77

Die Periode des Lebens, worin der Geſchlechtstrieb einzuſchlummern beginnt und aufhört, wirkſam zu ſein, iſt nicht minder Epoche machend. Wie das Jünglingsalter mit ſeinem Erwachen, ſo beginnt das Greiſenalter mit ſeinem Einſchlafen.

Der gewaltſame Eingriff in die Natur, deſſen ſich die Menſchen durch Verſtümmelung ihres Gleichen ſchuldig machen, indem ſie Eunuchen und Caſtraten bilden, iſt im— mer von dem nachtheiligſten Einfluß auf das ganze geiſtige Leben des unglücklichen Opfers. Der männliche Charakter kann ſich da nicht frei und vollſtändig entwickeln, wo ihm eines ſeiner weſentlichen Organe geraubt iſt.

Von der Verbindung dieſes Triebs mit anderen Gei— ſtesvermögen hängt es hauptſächlich ab, ob im Leben jenes zarte Gefühl für das andere Geſchlecht und das Verlangen nach dauernder Verbindung in der Ehe, oder aber jene rohe Sinnlichkeit entſteht, die leider nur zu häufig iſt. Nur bei einer Verbindung mit den Gefühlen des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit und der Schönheit wird der Trieb, den wir beſprechen, in zarter, wohlthuender Weiſe wirken, und nur bei einer Verbindung mit der Anhänglich— keit und der Kinderliebe zur ehelichen, treuen Liebe ſich ent— wickeln. Wo er ſchwach iſt, fehlt es im Zuſammenleben mit dem andern Geſchlecht an derjenigen Wärme des Ge— fühls, welche einen großen Theil der geprieſenen Liebens— würdigkeit der Männer und der Frauen bildet, und in der Darſtellung der geſchlechtlichen Formen und Empfindungen an demjenigen Feuer, welches den Werken der Poeſie wie der bildenden Kunſt einen fo hohen Reiz verleiht). An Schiller's (ſ. Taf. IV. zu S. 69 Fig. 3) und Goethe's Schädel findet ſich dieſes Organ ſtark entwickelt.

Wie häufig das regelloſe Walten dieſes Triebs ins Irrenhaus, in das Hoſpital und in das Grab führt, wie oft es den Eintritt in die Ehe verhindert und den Frieden

I) Noel's Grundzüge der Phrenologie S. 52—54.

75 Geſchlechtstrieb.

in derſelben ſtört, iſt leider nur zu bekannt. Zwei ſich ſcheinbar widerſprechende, aber doch neben einander in un— ſern Tagen mächtig waltende Stimmungen des Gemüths ſind die treuen Verbündeten der Verirrungen deſſelben. Ich meine die Zümpferlichkeit und die Frivolität. Die erſtere er— laubt nicht, daß man das Laſter gerade und offen bekämpfe, die letztere verlacht den, der es thut. Die erſtere verhüllt es in Nebel, die zweite umgiebt es mit dem Schein der Freude. Dieſelbe Dame, welche die ſittenloſeſten Romane lieſt, und nichts Anſtößiges darin findet, rümpft die Naſe, wenn Je— mand in ihrer Gegenwart es wagt, ein von ihr ſpielend beſprochenes Laſter mit dem rechten Namen zu bezeichnen, und derſelbe Mann, welcher es ganz natürlich findet, daß der Ehemann ſeiner Ehefrau nicht treu ſei, würde Rache ſchnauben, wenn die ſeinige es ihm nicht wäre. Es iſt hier nicht der Ort, dieſe Krankheiten der Zeit in ihre Elemente zu zerlegen und ſie dem öffentlichen Urtheil anheimzuſtellen. Dieſes wird bei einer andern Gelegenheit geſchehen. Allein hier mußte ich darauf aufmerkſam machen, daß nur beſtimmte Wegweiſer zum Guten führen und vom Böſen zurückzuſchrecken vermögen. Nur wo die höheren Kräfte der Seele täglich ge— übt und geſtärkt werden, können ſie die Herrſchaft über die niederen Triebe gewinnen. Nur wenn der Jugend der Ab— grund ernſt und beſtimmt gezeigt wird, zu welchem der Ge— ſchlechtstrieb in ſeinen Verirrungen führt, nur wenn man ihr klar und deutlich macht, daß die Gefühle, die er her— vorruft, nicht himmliſch, nicht idealiſch, ſondern irdiſch ſind, und daß ſie nur in Verbindung mit den höheren Gefühlen der Moralität dauernde Freuden gewähren, nur dann ha— ben Eltern und Lehrer ihre Pflicht erfüllt. Hundert und tauſendmal glaubt die Jugend von einem hochherzigen Ge— fühle beſeelt zu ſein, und nur die Regungen des Geſchlechts— triebes bewegen ihr Herz. Hundert und tauſendmal glaubt ſie auf dem Weg zum Himmel zu wandeln, wenn ſie auf dem der gemeinen Sinnlichkeit geht. Was die Zümpfer— lichkeit dem Weibe verbirgt, das entkleidet die Frivolität

Kinderliebe. 79

dem Manne von dem Gewande wunderbarer, höherer Ein— richtung. So fällt die Jungfrau aus Mangel an Kennt— niß, der Jüngling aus falſcher Erkenntniß. Sie kennt nicht die ihr drohenden Gefahren; er hat die Scheu vor ihnen nicht, die ihm das Geheimniß der Natur einflößen ſollte.

99. 2. Kinderliebe ).

Ueber dem mittlern Theile des kleinen Gehirns, der protuberantia oceipitalis ?) entſprechend, liegt das Organ der Kinderliebe. Es iſt umgeben von den Organen des Einheitstriebs, der Anhänglichkeit und des Bekämpfungs— triebs. Aeußerlich wird dieſes Organ, wenn es groß iſt, durch eine Hervorragung zur rechten und zur linken Seite unmittelbar über dem Knochenvorſprung des Hinterhaupt— beines leicht erkennbar. Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit II. bezeichnet. Im Verfolge ſeiner Forſchungen hatte Dr. Gall bemerkt, daß der obere Theil des Hinterhauptes im Allgemeinen bei den Weibern mehr als bei den Män— nern hervorſtehe, und er ſchloß daraus, daß der darunter liegende Theil des Gehirns das Organ irgend eines Ge— fühls ſein müſſe, welches das Weib ſtärker beſitze, als der Mann. Später fiel es ihm auf, daß die Affen, deren Liebe

J) Fig. 14. Fig. 15. Kinderliebe groß. Kinderliebe klein.

Robert Burns. Peruvianer. 2) ©. die Abbildgn. I u. 2 in ihrem Gegenſatz auf Taf. IV. zu S. 69.

0 Kinderliebe.

22

zu den Kindern ſprüchwörtlich geworden iſt, denſelben Theil des Schädels gleichfalls ſehr ſtark entwickelt haben, und die— ſes Zuſammentreffen führte ihn zunächſt auf den Gedanken, daß das Organ der Kinderliebe hier zu ſuchen ſei. Die Lage deſſelben in nächſter Nähe des Organs des Geſchlechts— triebs und der Anhänglichkeit beſtätigte ſeine Vermuthung, welche durch eine Reihe ſpäterer Beobachtungen zur Ge— wißheit erhoben wurde.

Daß im Allgemeinen die Frauen mehr Liebe zu den Kindern beſitzen, als die Männer, zeigt ſich ſchon in den Spielen der Kindheit, wie in dem Lebensberufe des Man— nes und der Frau. Die Mutter kann nur durch ihre er— höhte Liebe zu ihren Kindern Muth und Kraft gewinnen zu den ſchmerzlichen Opfern, die ſie ihnen bringen muß. Bei allen Thierarten, und beſonders denjenigen, von wel— chen die Männchen die Sorge für die Jungen ausſchließlich den Weibchen überlaſſen, haben die letzteren dieſes Organ weit größer, als die erſteren.

Die Neger beſitzen dieſes Organ ſtark entwickelt, und Kindermord iſt bei ihnen ein faſt gänzlich unbekanntes Ver— brechen. Auch die Eskimeaux beſitzen es groß, und nach dem Zeugniß der Capitaine Parry und Lyons iſt Liebe zu ihren Kindern einer der hervorſtechendſten Züge ihres ſonſt ſo trä— gen und unliebenswürdigen Charakters. Capitain Roß be— mühte ſich vergeblich, ein Kind von ihnen zu erhalten, um es nach England zu bringen. Kein Vater und keine Mut— ter konnte dazu bewogen werden, ihm eines anzuvertrauen. Auch die Hindu's zeichnen ſich durch eine ſtarke Entwicke— lung dieſes Organs aus, und die Engländer haben die Stärke ihrer Kinderliebe im häuslichen Kreiſe namentlich an Hindu-Kindsmägden und Ammen ſehr wohl bewährt gefunden. a

Unter neunundzwanzig Kindesmörderinnen, welche Dr. Gall und Spurzheim Gelegenheit hatten, zu unterſuchen, war das Organ der Kinderliebe bei fünfundzwanzigen ſchwach entwickelt. Eine ſtärkere Liebe zu ihren Kindern

Kinderliebe. 81

hätte den Wunſch, ſich ihrer zu entledigen, wohl ſchwerlich in ihrer Bruſt aufkommen laſſen.

Dr. Andreas Combe behandelte eine Frau, in einer temporairen Gemüthskrankheit, deren beſtändige Ausrufun— gen im Laufe dreier Tage, während welcher der Anfall dauerte, ſich um ihre Kinder drehten; ſie bildete ſich ein, daß dieſe verarmt und jedem Ungemach ausgeſetzt, daß ſie beraubt und ermordet worden ſeien. Bei ihrer Geneſung klagte ſie über einen Schmerz, den ſie während des Anfal— les im Hinterhaupte empfunden habe, und bezeichnete dabei die Lage des Organes der Kinderliebe. Dr. Gall erwähnt auch verſchiedener Fälle, wo krankhafte Erſcheinungen der Kinderliebe mit ſehr ſtarker Entwickelung dieſes Organs ver— bunden waren ).

Daß die Kinderliebe ein ſelbſtändiger, von dem Ge— ſchlechtstriebe und dem Wohlwollen unabhängiger Trieb ſei, beweiſt die tägliche Erfahrung, welche uns Menſchen und Thiere vorführt, die ohne alles Wohlwollen Kinderliebe, und ungeachtet ſtark entwickelten Geſchlechtstriebs ſehr ſchwache Kinderliebe beſitzen. Als Beiſpiele der erſten Art führe ich aus der Thierwelt die Hyäne, den Tiger u. ſ. w., als Bei— ſpiele der zweiten Art den Hengſt, den Stier u. ſ. w. an. Die Kinderliebe der Menſchen zeichnet ſich übrigens vor derje— nigen der Thiere hauptſächlich dadurch aus, daß ſie mit höheren intellectuellen und moraliſchen Kräften in Verbindung ſteht.

Die Vorſehung hat in die Seele des Menſchen die Kinderliebe gepflanzt, weil er ohne dieſen Trieb nicht im Stande wäre, alle die Opfer willig zu bringen, welche die Erziehung der Kinder nöthig macht. Von der Kinder—

I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 183-193. Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. III. p. 415-473. Spurzheim, ob- servations p. 140. Combe's Syſtem S. 108. Spurzheim, on Phrenology p. 135—141.

6

82 Kinderliebe.

liebe hängt daher in großem Maße die Exiſtenz der heran— wachſenden Generationen ab. Nur unter ihrem erwärmen— den Einfluſſe kann die Kinderwelt gedeihen.

Die Kinderliebe beruht zunächſt auf dem Mitgefühle mit den Zuſtänden der eigenen Kinder und dann aller ih— nen ähnlichen Weſen, anderer Kinder, Thiere oder ſonſt ſchwacher und zarter Geſchöpfe. Sie giebt der Mutter die Kraft, die Leiden zu tragen, die ihr das Kind bereitet, die rege Sorge für ſeine Geſundheit, ſeine Erziehung und ſein Wohlergehen. Sie hält ſie wach an der Wiege des Säuglings, am Bette des kranken Lieblings. Sie öffnet den Eltern das Ohr für die Klagen ihrer Kinder, das Herz für ihre Freuden und ihre Schmerzen. Den Ammen und Kindsmägden giebt ſie das Geſchick, Kinder zu behan— deln, ſie zu erheitern und zu tröſten, zu unterhalten und zu erfreuen. Den Lehrern erwirbt ſie das Zutrauen der Kinder und ihre Zuneigung, weil nur Kinderliebe die Ge— fühle der Kinder begreift, ſie würdigt und zu leiten ver— ſteht, während kalter Verſtand nie Einfluß auf ſie gewin— nen wird, und ſelbſt allgemeines Wohlwollen nicht ſo tief in die Falten des kindlichen Herzens einzudringen vermag.

Wer wenig Kinderliebe beſitzt, wird Mühe haben, die Unarten der Kinder, ihren Lärm, ihre mannigfaltigen An— ſprüche mit Geduld zu ertragen, zu beſeitigen und zu be— ruhigen. Es wird ihm ſchwer fallen, immer ſich zu verge— genwärtigen, daß Kinder keine Erwachſenen und daher auch nicht, wie dieſe zu behandeln ſind. Er wird geneigt ſein, ſie nach allgemeinen, ſtatt nach den gerade durch ihr Alter und ihre Beſonderheit bedingten Regeln zu beurtheilen und zu behandeln.

Uebertriebene Kinderliebe führt dagegen zu unbeſonne— ner Beförderung aller, auch der fehlerhaften Neigungen der Kinder, zu dem Wahne, Alles, was die Gegenſtände dieſer Liebe thun, ſei außerordentlich, gut, klug, edel und trefflich.

Kinderliebe. 83

Tritt noch eine ſtarke Gabe der Hoffnung hinzu, ſo knüpfen ſich die ausſchweifendſten Erwartungen an die Zukunft der Kinder. Iſt dagegen die Sorglichkeit beſonders ſtark ent— wickelt, ſo bildet ſich nicht ſelten eine maßloſe Aengſtlichkeit aus, welche der freien Entwickelung der Kinder oft ſchädlich iſt.

In Verbindung mit großer Sorglichkeit und Zerſtö— rungstrieb kann ſie ſogar zum Morde der eigenen Kinder führen. Die Furcht, die geliebten Kinder möchten unglück— lich werden, und der Wunſch, ihnen Leiden zu erſparen, liegt dann der That zum Grunde ).

Haben Menſchen mit übertriebener Kinderliebe ſelbſt keine Kinder, ſo vergeuden ſie oft dieſes Gefühl an Hunde und Katzen, und widmen ihnen dieſelbe Sorgfalt und Auf— merkſamkeit, als wenn es menſchliche Weſen wären.

In Verbindung mit Wohlwollen und Erwerbtrieb ſpornt die Kinderliebe die Eltern, zum Vortheil ihrer Kinder zu ſpa— ren und zu ſammeln, um auch über die Zeit des irdiſchen Zu— ſammenſeins hinaus ihnen Angenehmes zu bereiten.

Der Schmerz über den Verluſt der geliebten Kinder iſt von den griechiſchen Künſtlern in den Bildſäulen der Niobe trefflich ausgedrückt. Auffallend und bezeichnend iſt es dabei, daß alle dieſe Köpfe in der Richtung des Organs der Kinderliebe rückwärts gebogen gebildet ſind.

Die Sehnſucht, womit dieſer Trieb das weibliche Herz erfüllt, wenn ihm die Freuden, die er bietet, verſagt ſind, ſchil— dert v. Chamiſſo in ſeiner bereits oben angeführten Klage der Nonne in ergreifender Weiſe. Ich hebe aus dem Ge— dichte die ſprechendſten der hierher gehörigen Verſe in der Note’) aus.

1) S. Noel's Grundzüge der Phrenologie S. 59

2) Ich könnt' im erſten Jahre, in ſtolzer Mutterluſt,

Ein Kind, wohl einen Knaben, ſchon drücken an die Bruſt; 6 *

84 Kinderliebe.

Deutlicher als jede andere Wiſſenſchaft, als jedes all— gemeine Raiſonnement zeigt die Phrenologie, daß es natur— widrig iſt, Menſchen zu veranlaſſen, oder auch nur ihnen zu geſtatten, die Befriedigung zweier von Gott ihnen in die Seele gelegten Triebe eidlich für das ganze Leben von ſich zu weiſen. Ein ſolches Gelübde, im Widerſtreit mit den göttlichen Natureinrichtungen, kann nur zum Böſen führen, entweder zum Bruch deſſelben auf dem Wege des Verbrechens, zum Meineid und zur Unzucht, zur Verfüh— rung und unehelichen Zeugung, oder zur Umgehung der Natur auf heimlichen Wegen. Die Natur läßt ſich von Menſchen keine Gewalt anthun. Sie iſt ſtärker, als die Gewaltigſten der Erde. Denn ſie iſt Gottes Werk, wäh— rend alle Gebote, auch der Mächtigſten der Erde, Menſchen— werk ſind und bleiben.

Da würden manche Sorgen und Schmerzen mir zu Theil, Iſt doch das Glück auf Erden um hohen Preis nur feil.

Ich wollt' an ſeiner Wiege ſo treu ihm dienſtbar ſein, Ihn pflegte ja die Liebe, was ſollt' er nicht gedeih'n? Du lächelſt, ſtreckſt die Händchen, du meine ſüße Zier! O Vater! ſieh' den Jungen; fürwahr, er langt nach dir!

Die Mutterliebe, wie ſie im wirklichen Leben ſich äußert, beſchreibt Guſtav Carl in ſeinem Gedichte gleichen Namens. Ein Vers deſſelben mag hier ſtehen:

Mutterliebe raſtet nicht.

Bei der Lampe mattem Licht Schaut ſie ſorglich nach der Wiege, Ob der Liebling ſchlummernd liege. Kaum daß er ſich nur bewegt, Nimmt ſie ihn auf ihren Arm,

Der ihn weich umfaßt und trägt; Ach! da ruht ſich's ſanft und warm!

Einheitstrieb oder Abſchließungstrieb. 85

9 10. 3. Einheitstrieb!) oder Abſchließungstrieb ).

Nach Combe liegt dieſes Organ unmittelbar über dem— jenigen der Kinderliebe und unter dem des Selbſtgefühls; an den Seiten gränzen daran die Organe der Beifallsliebe und des Anſchließungstriebs. Zuweilen findet ſich an die— fer Stelle eine durch die dort befindliche Nath veranlaßte Knochenanſchwellung, welche man mit dem Organe des Ein— heitstriebs verwechſeln könnte, indeß iſt erſtere viel ſchmaler und ſpitzer, als die durch ſtarke Entwickelung dieſes Organs hervorgebrachte Erhöhung. Die Beobachtung ſcheint zu be— weiſen, daß dieſes ein für ſich beſtehendes Organ ſei, da man es zuweilen groß findet, wenn die über und unter ihm liegenden Organe klein ſind und umgekehrt. In Betreff dieſes Organs waltet übrigens noch nicht dieſelbe Einſtim— migkeit unter den Phrenologen ob, welche in Betreff der meiſten andern Organe ſtattfindet. Spurzheim verſetzte an die bezeichnete Stelle des Gehirns die Heimathsliebe. Vimont

1) Fig 16. Fig. 17. Einheitstrieb groß. Einheitstrieb klein.

Robert Burns. S. auch Taf. V. zu S. 88.

2) Letztere Bezeichnung iſt von Hrn. Dr. Guſt. Ad. Königsfeld zu Düren bei Aachen vorgeſchlagen worden. Sie ſcheint mir geeignet zu fein, neues Licht über dieſen Trieb zu verbreiten. Dieſe Bezeich— nung erſcheint auch namentlich in ihrem Gegenſatze zum Anſchließungs— triebe (der Anhänglichkeit) ſehr gut gewählt. Die engliſche ſehr tref— fende Bezeichnung iſt concentrativeness.

Nordamerikan. Indianer.

86 Einheitstrieb oder Abſchließungstrieb.

theilt ſie in zwei Theile und weiſt dem untern Theile den Ein— heitstrieb, dem oberen die Heimathsliebe zu. Für die Annahme des Organs der Heimathsliebe ſcheinen mir jedoch keine hinrei— chende Thatſachen zu ſprechen, daher ich daſſelbe hier nicht weiter erörtere. Viel überzeugender ſcheinen mir dagegen die Gründe für die Annahme des Organs des Einheitstriebs zu ſein. Ueber dieſe werde ich mich daher hier weiter verbreiten.

Das Organ des Einheitstriebes findet ſich groß bei den Raubvögeln, welche eine ungewöhnliche Zuſammenfaſ— ſung aller ihrer geiſtigen und körperlichen Kräfte bei jeder Gelegenheit und insbeſondere beim Aufſuchen und Erfaſſen ihrer Beute bekunden, groß bei Thieren, welche auf ſteilen Felſen weiden und auf hohen, ſchwer zugänglichen Stellen ihre Neſter bauen, und welche daher ohne Zuſammenfaſſung ihrer ganzen Aufmerkſamkeit im Augenblicke, da ſie am Ab— hange ſchwindelnder Abgründe gehen, ſich daſelbſt nicht frei bewegen könnten. Auch an Seiltänzern iſt es wiederholt groß gefunden worden. Es iſt groß an den Köpfen der celtiſchen Nationen, kleiner an denjenigen der deutſchen, und concentrirte Thätigkeit iſt namentlich den Franzoſen viel mehr eigen, als den Deutſchen. Daher ſind in un— ſerm Vaterlande die Berathungen viel weitläufiger, die Beſchlußfaſſungen viel mühſamer, als in Frankreich. Da— her kommt in unſerm Vaterlande ſo manches Schöne nicht zu Stande, wozu alle Elemente vorhanden ſind, außer dem der Zuſammenwirkung. Daher iſt der Angriff der Fran— zoſen in der Schlacht ſo heftig, während der Deutſche ſich durch die Ausdauer auszeichnet, mit welcher er einem Angriff Widerſtand entgegenſetzt, oder einen ſolchen wiederholt. Man hat es groß gefunden an Menſchen, welche in der Unterhaltung. von Natur einer zuſammenhängenden Gedankenreihe folgen, klein bei ſolchen, welche von einem Gegenſtande der Rede zum andern ohne Verbindung überſpringen, groß bei Schriftſtel— lern, welche mit wenigen Worten viel ſagen, klein bei den— jenigen, deren Gedanken ſich ausbreiten, ſo daß man deren Sinn aus dem Schwalle der Worte aufzufinden Mühe bat.

Einheitstrieb oder Abſchließungstrieb. 87

Beſonders merkwürdig iſt es, daß von dem Theile des Gehirns, woſelbſt dieſes Organ an den Schädel gränzt, ſich in beiden Hemiſphären eine Gehirnwindung über das cor- pus callosum hin zu den Organen der Intelligenz in den vorderen Hirnlappen unter den Organen des Empfindungs— vermögens in dem mittlern Lappen und mitten durch dieje— nigen der Sinnlichkeit hindurch zieht. In ſolcher Weiſe ſteht dieſes Organ unmittelbar mit allen übrigen Theilen des Ge— hirns in Verbindung, und führt daher durch ſeine Lage ſchon auf den Gedanken, daß es ſich beſonders dazu eigne, allen übri— gen Organen einen entſchieden gleichzeitigen Impuls zu er— theilen. Hierin beſteht denn auch das Weſen des Einheitstrie— bes. Indem er ſämmtlichen Organen des Gehirns gleichzeitig einen Impuls giebt, ſie gleichzeitig zur Thätigkeit aufruft, ver— einigt er ihre geſammte Kraft in einem Brennpunkt, und bringt dadurch den größtmöglichen Effekt hervor, deſſen das Individuum im Augenblicke fähig iſt. Die Vereinigung der geſammten Geiſteskräfte auf einen Punkt ſetzt die Ab— wendung derſelben von andern Punkten voraus. Wer ſich nicht nach außen abſchließen, kann ſich nicht nach innen ſammeln. Wer ſeine Aufmerkſamkeit nicht auf einen Punkt beſchränken, kann demſelben niemals ſeine ganze Kraft zu— führen. Der Einheitstrieb iſt für den Moment, was die Feſtigkeit für die laufende Zeit iſt. Es giebt Menſchen, welche mit großen Gaben oft im Augenblicke ſie nicht zur Hand haben, und andere, welche ihre verhältnißmäßig klei— nen Gaben, wenn es darauf ankommt, trefflich zu ſammeln und zu nützen, und ſo im Augenblicke viel zu leiſten ver— mögen. Jene haben den Einheitstrieb ſchwach, dieſe ſtark entwickelt. Allein da derſelbe nur die übrigen Geiſteskräfte ſammelt und auf einen Punkt richtet, ſo muß er nach de— ren Beſchaffenheit zu verſchiedenen Reſultaten führen. Wo die höheren Gefühle vorwalten, werden fie, und wo die - Triebe vorherrſchen, nicht minder dieſe in vereinter Kraft ins Leben treten. Doch da nicht blos die vorwaltenden, ſondern alle Kräfte der Seele durch den Einheitstrieb ver—

88 Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb.

ſammelt werden, ſo werden auch die minder ſtarken im Chore aller Kräfte ihre Stimmen ertönen laſſen. Gleich— wie daher eine Harmonie, in welcher dreißig verſchiedene Töne zuſammenwirken, kräftiger hallt, als eine Soloſtimme, ſo müſſen die ſämmtlichen zur Thätigkeit gerufenen Kräfte der Seele wirkſamer ins Leben treten, als die ohne den Aufruf des Einheitstriebs einzeln wirkenden. Auf dieſem Zuſammenwirken beruht hauptſächlich die Geiſtesgegenwart, welche nicht einſeitig dieſer oder jener Regung ſich hingiebt, ſondern welcher die ſämmtlichen Seelenkräfte in Reih' und Glied geordnet zu Gebote ſtehen. Um jede geiſtige Kraft, welche nach einem Ziele ſtrebt, wird der Einheitstrieb die übrigen ſchaaren. Iſt z. B. der Bekämpfungstrieb ange— regt, ſo wird der Einheitstrieb durch die Sammlung der Erkenntnißorgane dem Kämpfenden ein richtiges Bild aller ihn umgebenden Verhältniſſe verleihen, durch Herbeiziehung des Denkvermögens ihn in den Stand ſetzen, ſie richtig zu beurtheilen und Urſachen in ihrer Beziehung zu Wirkungen zu erkennen, er wird durch Anregung der höheren Empfin— dungen begeiſterte Wärme, und durch Erweckung der Triebe erhöhten Ungeſtüm zur Folge haben, und jede einzelne Gei— ſteskraft wird immer im Verhältniß zu ihrer natürlichen Stärke mit den übrigen Hand in Hand gehen. Dadurch wird ebenſowohl tolles Wüthen, als feige Unthätigkeit ver— mieden, inſofern überhaupt die Elemente der Beſonnenheit und der Tapferkeit vorhanden find ).

9 11. 4. Anhänglichkeit?) oder Anſchließungstrieb!).

Die in den Platten II., III., IV. mit III. bezeichneten Windungen bilden dieſes Organ. Es iſt äußerlich begränzt

1) Combe's Syſtem S. 119. 2) S. die beifolgende Taf. V. 3) Letztere von Dr. Guſtav Adolph Königsfeld zu Düren vorge—

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Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb. 89

von den mit Kinderliebe, Einheitstrieb, Beifallsliebe, Sorg— lichkeit und Bekämpfungstrieb bezeichneten Stellen des Schä— dels und liegt an beiden Seiten des Hinterkopfs zwiſchen dem hintern Rand des Vorderhauptbeins oder Seitenbeins, und bildet, bei ſtarker Entwickelung, zwei kenntliche ringförmige Vorſprünge.

Gall wurde einſt gebeten, für ſeine Sammlung den Kopf einer Frau abzuformen, die ihm als ein Muſter treuer Anhänglichkeit und Freundſchaft trotz aller Wechſelverhält— niſſe des Lebens geſchildert wurde. Er that es, und fand bei der Unterſuchung ihres Kopfes zu den Seiten des Organs der Kinderliebe, doch etwas höher, an der Mitte des hin— tern Randes der Seitenwandbeine, gerade über der Lambda— nath zwei große Hervorragungen in Form eines Kreisaus— ſchnitts. Dieſe Hervorragungen, welche er früher noch nicht beobachtet hatte, waren gleichförmig und augenſcheinlich durch einen Theil des Gehirns gebildet Er ſchloß daher, daß ſie Organe andeuteten, und der Charakter der Frau führte ihn, bei näherer Prüfung, zu der Ueberzeugung, daß dieſes Or— gan kein anderes, als dasjenige der Anhänglichkeit ſein könne. Hierin beſtärkte ihn auch die Lage deſſelben über dem Or— gane des Geſchlechtstriebs und neben demjenigen der Kin— derliebe, indem dieſe drei Gefühle, bei ihrer Verwandtſchaft, darauf führen mußten, ihre Organe in unmittelbarer Nähe zu ſuchen ). Viele ſpätere Beobachtungen beſtätigten dieſe Vermuthung, und das Organ wird längſt als erwieſen an— geſehen. Es findet ſich ſtark entwickelt beim Hunde, beim Pferde und dem Ochſen und bei allen Thieren, welche in Geſellſchaft leben, ſchwach entwickelt beim Fuchſe, der Elſter und andern ungeſelligen Thieren. Der celtifche Stamm hat

ſchlagene Bezeichnung ſcheint mir ſehr treffend zu ſein, und daher allgemeine Anerkennung zu verdienen.

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 193. Spurzheim, observ. p. 150152. Combe's Syſtem S. 136. Spurzheim, on Phreno-

logy p. 150—153. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. III. p. 473—50l.

90 Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb.

es größer, als der deutſche, und eine Folge hiervon möchte

ſein, daß jener Stamm ſich in großen Maſſen zuſammenge—

halten, während dieſer ſich in viele kleine Völkerſchaften zerſplittert hat, daß jener in den Reichen, die ihm angehö— ren, kräftige Centralgewalten gegründet hat, während unſer deutſches Vaterland ſowohl zur Zeit des deutſchen Reiches ſeit Jahrhunderten, als auch nun zur Zeit des deutſchen Bundes einer ſolchen entbehrt.

Die Frauen haben dieſes Organ größer, als die Män— ner, und ſie halten feſter zuſammen in der Familie, der Ge— ſellſchaft und der Freundſchaft, als die Männer. Selbſt Verbrecher geben nicht ſelten rührende Beweiſe der Stärke dieſes Triebs, z. B. Mary Macineß, welche zum Schaf— fotte das Tuch nahm, das ihr ihr Geliebter geſchickt hatte, und auf demſelben noch die halbe Orange aß, die ſie von ihm mit der Bitte erhalten hatte, ſie zum Zeichen ihrer ge— genſeitigen Liebe auf dem Schaffotte zu eſſen. An ihrem Kopfe fand ſich dieſes Organ ſehr groß.

Dieſer Trieb iſt es, welcher uns unſeren Umgebungen feſt verbindet, uns die Trennung von ihnen ſchmerzlich macht. Er iſt es, der uns zieht nach der Stätte, wo wir geboren und erzogen wurden, ohne Rückſicht darauf, ob die Natur oder Kunſt ſie reichlich ausgeſtattet, der uns die Erinne— rungszeichen der Vergangenheit, die Tiſche und Bänke, die wir benutzt, die Bücher, die wir oft geleſen, die Bilder, welche wir häufig betrachtet, lieber und werther macht, als modiſche und künſtleriſche Prachtwerke.

Er bildet die Grundurſache des Zuſammenhaltens bei Menſchen und Thieren, und der Freude, welche aus dieſer Vereinigung entſpringt. Er giebt der Umarmung und dem Händedruck Wärme und Innigkeit, der Liebe Treue und Beſtändigkeit, dem Ehebündniß innere, nicht blos äußere Feſtigkeit, der Gewohnheit den Charakter einer zweiten Na— tur, der Liebe zum Leben jene Feſtigkeit, welche ſo oft an leidenden, gebrechlichen, unglücklichen Menſchen unbegreiflich gefunden wird. Durch ihn wird ſchlagender, als durch alle

Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb. 91

Schlußfolgerungen die Grundloſigkeit der Annahme Rouſ— ſeau's bewieſen: der Menſch lebe im Naturzuſtande allein, und nur die Nothwendigkeit führe ihn mit Seinesgleichen zuſammen. Nicht äußere, ſondern innere Nothwendigkeit, das Bedürfniß, welches tief in die menſchliche Seele gelegt iſt, und welches ſich ſelbſt in vielen Thieren kund thut, iſt es demnach, was die menſchlichen Geſellſchaften wie die Heer— den der Thiere zuſammenführt und vereinigt erhält, trotz al— len Stürmen, welche ſie zu trennen drohen.

Auf dieſem Triebe beruht der Drang der Menſchen, auch in andere Geſellſchaften, als diejenige des Staats ein— zutreten, überhaupt Zwecke aller Art gemeinſam zu verfol— gen. Bei der Jugend wirkt dieſer, wie überhaupt alle Triebe, beſonders mächtig. Es iſt daher von der höchſten Wichtigkeit, ihm ein geeignetes Feld der Thätigkeit zu er— öffnen, damit er nicht in verkehrten Richtungen ſich gewalt— ſam Bahn breche.

In Verbindung mit Geſchlechtstrieb, Kinderliebe und Einheitstrieb wird die Anhänglichkeit die Grundlage des ehelichen und des Familienlebens ), in Verbindung mit Ehrerbietung, Sinn für das Wunderbare, Hoffnung und Sorglichkeit die Grundlage kirchlicher Verbindungen wer— den. Die Freundſchaft ſetzt außer der Anhänglichkeit noch irgend ein anderes Moment voraus, welches ihr das Lebens— prinzip bietet. Dieſes können gleichartige geiſtige Beſtre— bungen oder irdiſche Geſchäfte, oder auch nur die Gewohn— heit des Zuſammenlebens ſein. Die Staatsgeſellſchaft ſetzt außer der Anhänglichkeit noch eine Reihe anderer Anlagen

1) Gegen dieſe Anſicht von der Natur dieſes Triebs wendet Gall die Bemerkung ein, daß Hunde, Katzen und andere Hausthiere dem Menſchen gegenüber ebenſoviel als in anderen Beziehungen wenig An— hänglichkeit an den Tag legen. Allein zahme Thiere unterliegen dem Einfluſſe des Menſchen in ſo überwältigender Weiſe, daß ihre Natur dadurch verhindert wird, ſich frei zu entfalten. Daher kann man ſich auf die Erſcheinungen des geiſtigen Lebens der Hausthiere nur mit großen Beſchränkungen berufen.

92 Anhänglichkeit oder Anſchließungstrieb.

voraus: zunächſt den Trieb nach Beſitz und den Wunſch, ihn zu ſchützen, folgeweiſe Bekämpfungs- und Zerſtörungs— trieb. Denn nur durch Kampf kann ein Angriff auf den Beſitzſtand zurückgewieſen, und nur durch Vernichtung des Gegners kann dem Kampfe auf immer ein Ende gemacht werden. In demſelben Maße, in welchem ſich übrigens eine Staatsgeſellſchaft entwickelt, wird ſie mehr und mehr menſchliche Beſtrebungen in ihren Kreis ziehen, bis ſie am Ende ſo ziemlich alle fördert, aneifert, ſchützt, zügelt, in Gemäßheit ihres auf geregelte Entwickelung der geſammten geiſtigen Thätigkeit aller ihrer Mitglieder gerichteten Zwecks. Feſtes Zuſammenhalten bleibt aber immer das weſentliche Er— forderniß des politiſchen Lebens. Es iſt dem Staate, was der Mörtel der Mauer. Halten die Bürger eines Volks nicht unter einander feſt zuſammen, ſo werden ſie weder kräftig nach außen vertreten, noch volksthümlich nach innen regiert werden. b

Viele von Chamiſſo's Gedichten ſchildern das Walten dieſes Triebs, insbeſondere in den einfachen Verhältniſſen des täglichen Lebens auf rührende Weiſe. Ich erinnere nur an die Gedichte: „Der Bettler und ſein Hund“, „Des Ge— ſellen Heimkehr“ u. ſ. w. |

Dieſer Trieb ift es, in Verbindung mit abergläubiſchen Religionsbegriffen, welcher die indiſche Wittwe vermochte, mit der Leiche ihres Gemahls ſich den Flammen hinzugeben, welcher Väter, Mütter und Geſchwiſter oft auf die Zeit ih— res Lebens unglücklich macht, wenn der Gegenſtand deſſel— ben ihnen entriſſen wird. Er verband die Freundespaare Oreſt und Pylades, Damon und Pythias. Er führte die Gattin des gefangenen Lavalette in deſſen Gefängniß, um die Kleider mit ihm zu wechſeln und ihn aus den Händen der Reſtauration zu erretten, die ihm den Tod drohte. Sein zu ſtarkes Walten, in Verbindung mit all zu reger Sorg— lichkeit, ſtörte aber auch das Gleichgewicht ihrer Geiſtes— kräfte, und verſenkte ſie in die Nacht des Irreſeins.

Bekämpfungstrieb. 93

9 12. 5. Bekaͤmpfungstrieb.

Gall nannte das Organ urſprünglich Raufſinn; allein da dieſer Name nur eine Ausartung deſſelben bezeichnet, ſo wurde der Name Bekämpfungstrieb mit Recht vorgezogen.

Der Sitz dieſes Organs iſt am hintern und untern Winkel des Seitenwandbeins, hinter und etwas über der Oeffnung des Ohrs !), und iſt äußerlich umgeben von den mit Kinderliebe, Anhänglichkeit, Sorglichkeit, Verheimli— chungs- und Zerſtörungstrieb bezeichneten Stellen des Schä— dels. Es wird gebildet durch die mit Nummer V. bezeich— neten Windungen des Gehirns (ſ. Taf II. und VII.).

Gall entdeckte dieſes Organ, indem er eine Anzahl Men— ſchen aus den niederen Claſſen der Geſellſchaft: Kutſcher, Bediente u. ſ. w. in ſeinem Hauſe verſammelte, ihr Ver— trauen durch Geld, Wein und gute Worte gewann, ſo erfuhr, welche unter ihnen zu Zank und Streit beſonders geneigt ſeien, und an ihnen gleichmäßig die bezeichnete Stelle des Kopfes ſtark entwickelt fand. Er bemerkte es auch groß an dem Kopfe eines bei den Thierhetzen zu Wien beſchäf— tigten, beſonders muthigen Knaben und an den Köpfen einiger ſeiner Kameraden, welche wegen ihrer Duellſucht von mehreren Univerſitäten waren fortgeſchickt worden ’),

J) Fig. 18. Fig. 19. Großer Bekämpfungstrieb. Kleiner Bekämpfungstrieb.

\

.

iſcher Knabe.

9

General Wurmfer. Geylon S. auch Taf. V. zu S. 88. 2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 202212. Syursheim-

94 Bekämpfungstrieb.

an den Köpfen mehrerer ſehr kampfluſtiger Damen u. ſ. w. Sehr klein fand Gall dieſes Organ bei dem wegen ſeiner Feigheit bekannten Dichter Alxinger. Durch eine Reihe ſpäter gemachter Erfahrungen wurde Gall's Entdeckung be— ſtätigt. Es findet ſich dieſes Organ groß an den Schädeln von einzelnen Kriegern und ganzen Nationen, welche ſich durch perſönlichen Muth auszeichneten, ſo an den Schä— deln des ſchottiſchen Königs Robert Bruce, des Generals Wurmſer, der Caraiben, der alten Griechen u. ſ. w., klein bei denjenigen, welche die Beute fremder Eroberer wegen ihrer mangelnden Streitbarkeit wurden, z. B. den Hindus und den Peruvianern. An den Abbildungen der Köpfe der Gladiatoren findet es ſich groß. Auch die Bildung der thie— riſchen Schädel ſtimmt in dieſer Rückſicht mit derjenigen der menſchlichen Schädel überein. Bullenbeißer, welche kampf— bereit und kampfluſtig ſind, haben breite, Windhunde, wel— che dem Kampfe, wo ſie nur immer können, ausweichen, ſchmale Köpfe. Jene Breite und dieſe Schmalheit iſt die Folge dort einer ſtarken, hier einer ſchwachen Entwickelung des Organs des Bekämpfungstriebs. Scheue Pferde, Hähne u. ſ. w. zeigen dieſes Organ in geringer, muthige Pferde, Hähne u. ſ. w. in entſchiedener Größe. Doch gehört ein beſonderes Studium dazu, die Lage dieſes Organs bei den verſchiedenen Thiergattungen mit Sicherheit aufzufinden. Auch die Beobachtung krankhafter Zuſtände des Bekäm— pfungstriebs hat zur Feſtſtellung deſſelben beigetragen. So fand man nach dem Tode des Hrn. Robert Liſton, welcher viele Jahre hindurch engliſcher Geſandter in verſchiedenen Staaten geweſen war, in dieſem Organe eine Höhlung, welche das Vorhandenſein eines Bluterguſſes darin andeu— tete, während es eine höchſt auffallende Erſcheinung war, daß er, im Widerſpruch mit ſeinem früher an den Tag ge— legten Charakter, in den letzten Jahren ſeines Lebens derb,

observ. p. 153-155. Combe's Syſtem S. 141. Spurzheim, on Phre- nology p. 153-155. Gall, sur les fonetions du rceveau Vol. IV. p. I-61.

Bekämpfungstrieb. 95

zornig und zänkiſch geworden war. Eines ähnlichen Falles erwähnt Gall (sur les fonctions du cerveau Vol. II. p. 202). An Irren, deren ungezügelte Streitſucht fie in das Irrenhaus geführt hatte, wurde dieſer Gehirntheil im— mer groß gefunden.

Wenn das Organ ſehr groß und thätig iſt, ſo theilt es der Stimme einen harten, verletzenden Ton mit. Napo— leon's Stimme nahm z. B. einen ſolchen an, wenn er auf Widerſtand ſtieß.

Neigung zu und Luſt an Kämpfen iſt das mit dieſem Organe verbundene Gefühl, und da, was man gern thut, man immer mit verhältnißmäßiger Kraft thut, ſo iſt die Folge der ſtarken Entwickelung dieſes Organs, die Fähig— keit, mit Muth und Kraft zu kämpfen, oder im entgegen— geſetzten Falle die Unfähigkeit hiezu. Nach der Verſchieden— heit der übrigen geiſtigen Eigenſchaften und der äußeren Verhältniſſe eines Individuums müſſen ſich natürlich auch die Gegenſtände des Kampfes und die Mittel, mit denen er geführt wird, verändern. Der Menſch, welcher mit eimem ſtark entwickelten Bekämpfungstriebe beſonders große Anlagen für Muſik verbindet, wird kriegeriſche Muſik, wer mit demſelben Anlagen für Poeſie vereint, kriegeriſche Ge— dichte lieben und verfaſſen. Im Vereine mit ſtark ent— wickeltem Denkvermögen wird er zur Kritik, mit Zerſtö— rungstrieb zum Kriegshandwerke führen u. f. w. Ohne Bekämpfungstrieb wird der Menſch in dieſem Leben, worin fo viel Böſes und Verkehrtes uns täglich hemmend in den. Weg tritt, nicht viel zu wirken vermögen. Für den Re— formator in Sitte, Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft iſt dieſer Trieb ein weſentliches Erforderniß. Steht derſelbe aber auf der anderen Seite nicht unter dem leitenden Ein— fluſſe der höheren Gefühle und dem berichtigenden der In— telligenz, ſo artet er aus in Händelſucht, Tollkühnheit und Zungendreſcherei.

Götz von Berlichingen, wie ihn Goethe ſchildert, bietet eine ſprechende Verſinnlichung des Bekämpfungstriebs, ſo—

96 Bekämpfungstrieb.

wohl in ſeiner Thätigkeit, als in gezwungener Unthätigkeit. Trotz oder vielmehr gerade in Folge aller der Gefahren, welche ihn im Laufe der erſten vier Acte umgeben, iſt er heiter und froh und nichts ficht ihn an. Wie er aber die Urfehde geſchworen hat, auf ſeinem Schloſſe bleiben ſoll, und ſeine Geſchichte zu ſchreiben aufgefordert wird, ſagt er zu ſeiner Frau:

„Ach! Schreiben iſt geſchäftiger Müßiggang, es kommt mir ſauer an. Indem ich ſchreibe, was ich gethan, ärger' ich mich über den Verluſt der Zeit, in der ich etwas thun könnte.“

Götz kennt keine andere Beſchäftigung, als kämpfen, keine andere giebt ihm Befriedigung. In vielen Gedichten von Theodor Körner und Arndt, z. B. des erſtern „Lützow's wilde Jagd“, „Schwertlied“, des letztern „Schlachtgeſang“, „Kriegslied“, „Reiterlied“ u. anderen ſpricht ſich dieſer Trieb ſehr lebendig aus. Aber leider! hat nicht jeder Deutſche ſei— nen Bekämpfungstrieb wie Körner und Arndt immer dahin gelenkt, wo er heilſam wirken konnte: gegen den äußern Feind, gegen den Feind innerer Freiheit und volksthümli— cher Entwickelung. f

Eine ſchwache Entwickelung dieſes Organs ruft übri— gens nicht nothwendig Feigheit hervor. Allein in Verbin— dung mit einer ſtarken Entwickelung der Sorglichkeit und mangelnder ſonſtiger moraliſcher Kraft wird ſie allerdings Feigheit zur Folge haben, während, bei vollkommen gleich— artiger ſonſtiger Charakterbildung, eine ſtarke Entwickelung des Bekämpfungstriebs nimmermehr Feigheit als bleibenden Charakterzug aufkommen laſſen würde. Die Feigheit ſetzt immer das Ueberwiegen des Elements der Sorglichkeit über dasjenige der moraliſchen Empfindungen und des Bekäm— pfungstriebs voraus. Sie wird aber einen verſchiedenen Charakter annehmen, je nachdem ſie ſich mehr auf das Vorhandenſein einer übergroßen Sorglichkeit als eines über— kleinen Bekämpfungstriebs gründet. Dort wird ſie einen

Zerſtörungstrieb. I *

mehr poſitiven, hier einen mehr negativen Charakter haben, dort mehr an Aengſtlichkeit, hier mehr an Scheuheit gränzen.

Wenn dieſes Organ mit Energie thätig iſt, wird der Kopf etwas nach hinten und unten, das Kinn nach oben und vorn gezogen. Der ganze Körper concentrirt ſich ge— wiſſermaßen, die Muskeln ſpannen ſich an, der Nacken wird ſteif, die Arme kehren ſich mit geballten Fäuſten nach hin— ten, die Zähne preſſen ſich zuſammen, Mund und Auge be— drohen den Gegner.

9 13. 6. Zerſtoͤrungstrieb ).

Unmittelbar über der äußeren Oeffnung des Ohrs be— findet ſich die Stelle des Schädels, welche das Organ des

10 Fig. 20. Fig. 21. Zerſtörungstrieb groß. Zerſtörungstrieb klein.

Der Mörder und Seeräuber Ein Knabe von der Inſel Tardy von vorn. Ceylon von vorn.

Fig. 22. Fig. 23.

t Tardy von hinten. Ceylon. Knabe von hinten. S. auch Taf. V. zu S. 88.

95 Zerſtörungstrieb.

Zerſtörungstriebs bedeckt. Es wird gebildet durch die mit VI. bezeichneten Windungen des Gehirns (ſ. Taf. II. und VII.), erſtreckt ſich ein wenig nach vorn und hinten von der äußern Oeffnung des Ohrs, dem untern Theile der Schup— penplatte des Schläfenbeins entſprechend. Es iſt umgeben von den Organen des Nahrungstriebs, des Verheimlichungs— und Bekämpfungstriebs.

Die Vergleichung der Schädel der fleiſchfreſſenden Thiere mit denjenigen der Thiere, die ſich von Vegetabilien nähren, in Verbindung mit der Beobachtung der Schädelbildung mehrerer Mörder führte den Dr. Gall zuerſt auf die Ent— deckung dieſes Organs, das er im Anfang Mordſinn nannte. Der Mord iſt übrigens augenſcheinlich nur ein Misbrauch dieſes Triebs, und da keine geiſtige Kraft nach dieſem, ſon— dern nach ihrer normalen Thätigkeit genannt werden muß, ſo wurde bald der jetzige Name dieſes Organs von allen Phrenologen angenommen. Dieſes Organ |ift durchgängig groß gefunden worden an den Köpfen kalter, überlegter Mörder, z. B. Bellingham's, des Mörders Percival's, Hare's, der ſechzehn Menſchen in Edinburgh ermordete, um ihre Kör— per an die Anatomie zu verkaufen, der Margaretha Gottfried, der berüchtigten Giftmiſcherin von Bremen. Die Büſten und Bilder von Sylla, Septimius Severus, Karl IX., Ri— hard Löwenherz, Philipp II. von Spanien, Maria I. von England, Katharina von Medici, Ravaillac, Knipperdolling, des Biſchofs Bonnet, welcher in 4 Jahren über 200 Per— ſonen verbrennen ließ, zeigen dieſes Organ ſehr merklich. Es findet ſich groß an den Köpfen der Caraiben und an— derer grauſamer Völkerſtämme, klein an denjenigen der Hin— dus und anderer unkriegeriſcher Völker. An den Köpfen zerſtörungsſüchtiger Geiſteskranken in Irrenhäuſern wurde es immer groß gefunden. Es iſt größer am Kopfe der Männer, als der Frauen, und die Männer beſitzen den entſprechenden Trieb anerkanntermaßen auch ſtärker. Höchſt intereſſant ſind die Beobachtungen, welche Dr. Vimont in Betreff dieſes Organs anſtellte, und in ſeiner Schrift über

Zerſtörungstrieb. 99

vergleichende Phrenologie niederlegte. Sie beſtätigen voll— kommen die von Gall, Combe und anderen Phrenologen desfalls aufgeſtellten Anſichten ).

In dieſem Leben, wo Tod und Zerſtörung uns umge— ben, könnte der Menſch ohne ein Organ, das ihn befähigt, Scenen des Umſturzes und der Vernichtung nicht nur ohne Wanken zu betrachten, ſondern auch erforderlichen Falls thä— tigen Antheil an denſelben zu nehmen, nicht beſtehen. Er— ſchaffung und Vernichtung, Entſtehen und Vergehen wan— deln überall Hand in Hand. Wie viele Bäume müſſen nie— dergehauen, wie tief muß in den Eingeweiden der Erde ge— wühlt werden, um nur den Bau eines Hauſes möglich zu machen! Reißende Thiere, giftige Schlangen und peinigende Inſekten würden die Herren der Erde werden, wenn nur ſie und nicht auch der Menſch den Zerſtörungstrieb beſäßen. Wenn der Bekämpfungstrieb uns in den Kampf führt, ſo entfernt der Zerſtörungstrieb die Urſache des Kampfes auf immer. Wenn jener uns antreibt, Kämpfe zu beginnen, ſo ſpornt uns dieſer, ſie zu beendigen. Beide ſind daher dem Menſchengeſchlechte gleich unentbehrlich. Nur durch den Zerſtörungstrieb können ſo manche Erſcheinungen des irdi— ſchen Lebens erklärt werden: die Freude an der Jagd, an Stiergefechten und Hahnenkämpfen, an den blutigen Schau— ſpielen der Gladiatoren und Boxer, das Herzudrängen der Maſſen zu Hinrichtungen und andern ähnlichen Executio— nen. Menſchen, welche den Anblick derartiger Scenen ſuchen, beweiſen allerdings, daß ſie dieſes Organ im Verhältniß zu den höhern Organen des Empfindungsvermögens viel zu ſtark be— ſitzen. Auf der andern Seite finden wir dagegen Menſchen, welche bei jeder Beleidigung zuſammenſchrecken, deren Zorn ſo ſchwach iſt, daß ſeine Aeußerungen nur Gelächter und Spott

I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 212 227. Syurs heim, observ. p. 155 - 169. Combe's Syſtem S. 149. Spurzheim, on Phrenology p. 155 164. Gall, sur les fonctions du cerveau.

Vol. III. p. 61 100. 70 *

100 Zerſtörungstrieb.

hervorrufen, Menſchen und beſonders Frauen, welchen der Anblick der unſchuldigſten Operationen, wenn ſie nur ent— fernt auf Zerſtörung deuten, im höchſten Grade ſchmerzlich, oft ganz und gar unerträglich iſt; welche z. B. keinen Zahn ausreißen, keine Amputation vornehmen ſehen können, ohne in Krämpfe zu fallen. Menſchen der letztern Art beſitzen den Zerſtörungstrieb ſchwach. Es giebt Menſchen und Thiere, welche Freude am Kampfe haben, allein wenn er gefährlich wird, vor demſelben zurückbeben, auch wenn ſie ſelbſt nicht bedroht ſind; andere, welche dem Kampfe in feiger Flucht ſich entziehen, allein ohne ſolchen, zu morden und zu ſengen bereit ſind. Zerſtörungs- und Bekämpfungstrieb ſind alſo weſentlich verſchieden.

Die nothwendige, unerläßliche Vorbereitung zu allem Schaffen iſt Zerſtörung. Bevor die Pflugſchar die Erde durchwühlt hat, iſt ſie nicht fähig, den Samen in ihren Schooß aufzunehmen. Das Panier der Wahrheit kann nur auf den Trümmern des Vorurtheils aufgepflanzt werden. Wenn unſer Wohlwollen uns treibt, dem Hülfsbedürftigen beizuſtehen, ſo befähigt uns der Zerſtörungstrieb, den Räu— ber, den Unterdrücker zu verſcheuchen und ſelbſt zu vertilgen, bevor er ſein Opfer zu berauben oder in knechtiſche Unter— werfung zu bringen vermochte. Noch ehe er zur That ge— worden, wird der Zerſtörungstrieb demjenigen, der ihn reizt, ankündigen, daß ihm Gefahr drohe, wenn er fortfahre, ihn aufzuregen; und manche, welche den Mahnungen des Ge— wiſſens nicht zugänglich ſind, können nur durch die drohende Sprache der Zerſtörung in Schranken gehalten werden, ſo— wohl im Leben der Geſellſchaft als des Staats.

Herrſcht jedoch der Zerſtörungstrieb vor, ſtatt blos hö— hern Gefühlen zu dienen, ſo entſteht in der Rede ein bar— ſcher, brutaler Ton, in der Handlungsweiſe Härte, Grauſam— keit, Wildheit und Grimm, Fluchworte werden mit wider— licher Stimme ausgeſtoßen, Verwünſchungen gleich bei der Hand ſein, und bei geſteigerter Aufregung werden die Worte zur That. Gemäßigt durch Erziehung und Verſtand, Br

Zerſtoͤrungstrieb. 101

er doch nicht ſelten zu verletzendem Spott, zu ſcharfen Sti— chelreden und giftigen Schmähungen. Byron's und Victor Hugo's Schriften bekunden deutlich die Wirkſamkeit dieſes Triebes.

Die abnorme Stärke deſſelben verräth ſich ſchon bei Kindern dadurch, daß ſie ihr Spielzeug mit großer Luſt zerbrechen, Fliegen Köpfe und Füße abreißen, Hunde und Katzen quälen, zum Schlachten des Geflügels herbeieilen und nicht eher weggehen, als bis die Zuckungen des Todes vorüber ſind. Das Vorwalten dieſes Triebs hat oft Ein— fluß auf die Wahl des Gewerbes. Ein Student, der ſeine Mitſchüler durch die ausgeſuchten Quälereien der Vögel, Inſecten und anderer Thiere peinigte, beſtimmte ſich, um ſeine Neigung zu befriedigen, zur Chirurgie. Ein Apothe— kerjunge hatte, nach Gall, ſo heftige Neigung zum Tödten, daß er Henker wurde. Der Sohn eines reichen Kaufmanns wurde aus gleichen Urſachen Metzger, und ein reicher Hol— länder bezahlte die Fleiſcher, welche große Fleiſchlieferungen für Schiffe zu machen hatten, für die Erlaubniß, die Och— ſen ſelbſt tödten zu dürfen. Der Naturforſcher Condamine drängte ſich bei einer Hinrichtung durch die zuſchauende Menge. Als die Soldaten ihn zurückweiſen wollten, ſagte ihnen der Henker: Laissez passer Monsieur, c'est un amateur.

So verübte im Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Violinſpieler in Holland an der cleviſchen Grenze 34 Mord— thaten ohne Feindſchaft und ohne zu ſtehlen, blos zu ſeinem Vergnügen.

Das von keinem höhern Gefühle geleitete brutale Wal— ten des Zerſtörungstriebs ſpricht ſich in der erſten Scene des fünf— ten Acts des Götz von Berlichingen in dem Zwiegeſpräch zwi— ſchen Metzler und Link recht bezeichnend aus. Namentlich ſind folgende Worte Metzler's charakteriſtiſch: „Siehſt du, wie die Kerls übereinanderpurzelten“ (die ſie niederſtachen) „und quiekten wie die Fröſche! Es lief mir ſo warm übers Herz, wie ein Glas Branntwein.“

102 Zerſtörungstrieb.

Schinderhannes und andere berüchtigte Mörder erzähl: ten mit beſonderm Vergnügen die von ihnen begangenen Grauſamkeiten, und gaben durch Wort und That zu erken— nen, daß nichts ihnen ſo viele Freude mache als deren Be— gehung).

Wenn das Organ im hohen Grade angeregt iſt, ſo drückt ſich der Kopf zwiſchen den Schultern nach unten und bewegt ſich raſch in ſchütternder Weiſe von einer Seite zur andern. Die geballten Fäuſte richten ſich nach oben und vorn, und zittern in horizontaler Richtung. Die Füße ſtampfen auf die Erde. Je nachdem der Kopf, die Fauſt oder der Fuß zunächſt das Mittel iſt, womit das Organ in Thätigkeit tritt, wird der eine oder der andere 3 theil beſonders heftig ſich bewegen.

Bei noch größerer Entwickelung oder krankhafter Auf— regung des Zerſtörungstriebs bleibt es nicht mehr bei Wor— ten und Pantomimen, bei dem bloßen Vergnügen, Andere tödten zu ſehen, ſondern es entſteht der mächtige Drang, ſelbſt Hand anzulegen und zu tödten; und der Unglückliche, der ihn beſitzt, mordet andere oder ſich ſelbſt. Bisweilen geht ein ſolcher Trieb über von Vater auf Sohn. Herr Gauthier in Paris tödtete ſich und hinterließ ſieben Kinder und zwei Millionen Franken. Alle ſieben tödteten ſich ſelbſt im Zeitraum von 30 bis 40 Jahren.

Die Abnormitäten dieſes Triebes ſind oft ſo groß, daß damit behaftete Menſchen dem Trieb zu morden nicht wi— derſtehen können. Die Richter und Geſetzgeber, welche dieſe Thatſachen nicht berückſichtigen, verſündigen ſich ſchwer an der Menfchennatur?).

1) So antwortete die Gottfried auf die Frage, was ſie beſtimmt habe, fo viele Menſchen zu tödten? „Verſuchen Sie es nur einmal und ſie werden es ſchon fühlen.“

2) S. Theorie der Verbrechen auf Grundſätze der Phrenologie baſirt von S. Attomyr. Leipzig 1842. S. 28 38.

Zerſtörungstrieb. 103

Pinel, kein Phrenologe, beſchreibt einen Mann, wel— cher Anfällen von Manie ausgeſetzt war, in folgender Weiſe: „Sie wurden angekündigt,“ ſagt er, „durch eine brennende Hitze, welche der Mann in dem Unterleib, dann in der Bruſt und zuletzt im Geſichte empfand. Die Wangen wur— den roth, die Augen funkelnd, die Venen und Arterien des Kopfes dehnten ſich ſtark aus und zuletzt entwickelte ſich eine unüberwindliche Wuth, welche ihn mit einem unwider— ſtehlichen Drange trieb, ein Werkzeug oder eine Waffe zu ergreifen, um den Erſten, Beſten, der ſich ſeinem Blicke darſtellte, niederzuhauen. Gall theilt noch viele derartige Fälle mit).

Die Neigung zum Morden, zur Brandſtiftung und zum Fleiſchgenuß ſind ſehr nahe verwandt. Gall nannte daher dieſen Trieb auch Trieb zum Fleiſchgenuß. Prochas— fa?) erzählt von einer Frau in Mailand, welche die Kin— der durch Liebkoſungen zu ſich lockte, dann tödtete, einſalzte und ihr Fleiſch alle Tage aß. Ebenſo tödtete ein Mann einen Reiſenden und ein junges Mädchen, um ſie zu eſſen. Eine ſchwangere Frau wurde von der Sucht, ihren Mann zu tödten und zu eſſen, ergriffen; ſie ſalzte ſeine Leiche ein, um ſich mehrere Monate damit nähren zu kön— nen. Nicht blos bei Thieren, ſondern auch bei Menſchen, und nicht blos bei den Wilden der neuen Welt, ſondern auch bei den Europäern zeigt ſich alſo die nahe Verwandt— ſchaft zwiſchen Mordluſt und Fleiſchgenuß, eine Verwandt— ſchaft, welche dieſen Genuß gewiß nicht empfiehlt. Sehr wahr iſt die Bemerkung Gall's:

„Bei den Menſchen äußert ſich der Mordſinn ſtufenweiſe; er beginnt mit der Gleichgültigkeit, Thiere leiden zu ſe—

1) Phrenological Journal. Edinburgh 1823. No. I, p. 36-46, woſelbſt noch eine ganze Reihe ähnlicher höchſt intereſſanter Thatſachen zuſammengeſtellt ſind. Es iſt merkwürdig, wie obige Schilderung zu— ſammentrifft mit den Worten Metzler's: „Es lief mir ſo warm übers Herz, wie ein Glas Branntwein.“

2) Opera minora T. II. p. 98.

104 Zerſtörungstrieb.

hen, und mit dem bloßen Vergnügen, tödten zu ſehen, und ſteigt bis zu der heftigſten Begierde, zu tödten ).

Die Verwandtſchaft zwiſchen dieſem Triebe und der Neigung zur Brandſtiftung erhellt aus folgenden That— ſachen: Blutdürſtige Menſchen, wie Caligula und Nero, haben ſtets ein Vergnügen dabei empfunden, ihr Land mit Feuer zu verwüſten. Sehr häufig kommt Mord in Ver— bindung mit Brandſtiftung vor; ſei es, daß Brand geſtif— tet wird in der Abſicht, zugleich auch zu morden, oder daß darauf die Brandſtiftung erſt folgt, wie z. B. noch die jüng— ften?) Zeitungen den Fall eines ſpaniſchen Exmönchs und Antiquars berichteten, welcher zuerſt ſein Opfer mordete und dann Feuer unter der Bettſtelle anlegte, worauf die Leiche lag. Bei allen Verbrechern, die aus Rache oder aus bloßem Vergnügen, eine Feuersbrunſt zu ſehen, Brand ge— ſtiftet hatten, und welche Gall und Spurzheim in Gefäng— niſſen unterſuchten, fanden ſie dieſes Organ ſehr entwickelt. Auffallend iſt es, wie ſchon das Wort Mordbrenner dieſe Verwandtſchaft anzudeuten ſcheint.

Eine höchſt beachtenswerthe Thatſache iſt, daß nichts mehr dieſen Trieb zur Thätigkeit aufregt, als der Anblick von Scenen feiner Thätigkeit. So erzählt Gall“) von ei— ner Frau, bei welcher von dem Augenblicke an, da ſie eine Feuersbrunſt in ihrem Orte geſehen, der Hang entſtand, Brand zu ſtiften; von einem Idioten, welcher ein Schwein tödten ſah und darauf einen Menſchen umbrachte. Moreau Chriſtoph erwähnt zweier Fälle, wo der Selbſtmord eines Soldaten den Selbſtmord mehrerer anderer Soldaten, der Selbſtmord eines Invaliden den Selbſtmord von zwölf an— dern zur unmittelbaren Folge hatte. Aus einer Anzahl von 169 Perſonen, welche innerhalb einer gewiſſen Periode in

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 221. 218. Gall, sur les fonctions du cerveau. Vol. IV. p. 86.

2) Vom Monat September 1842 zurückgerechnet.

3) S. 225.

Verheimlichungstrieb. 105

England hingerichtet wurden, waren 164 zuvor bei Hin— richtungen gegenwärtig geweſen ).

Ungeachtet dieſer unleugbaren Thatſache beſteht aber die Todesſtrafe, die brutalſte und ſinnloſeſte aller Strafen, noch immer fort, gleichſam als wollte ſie zu neuen Opfern mehr und mehr auffordern.

Eine geſteigerte Thätigkeit dieſes Triebs iſt übrigens ſehr häufig geradezu die Folge einer langen und verborgenen Krankheit des Gehirns. „Sehr oft fanden wir,“ ſagt Gall‘), „das Gehirn von Mördern in einem Zuſtand, wie er bei Verrückten zu ſein pflegt, welche ſeit Jahren erkrankt ſind.“

Wie viele Menſchen wurden auf das Schaffot ſtatt in die Irrenanſtalt geſchickt, blos weil die Richter in gänzlicher Unwiſſenheit über Seelenlehre und Seelenkrankheiten waren!“)

6. 14. |

7. Verheimlichungstrieb ). Ueber dem Organ des Zerſtörungstriebs, doch etwas nach vorn zu liegt dasjenige des Verheimlichungstriebs. Auf den Tafeln VIII und IX ſind die es bildenden Windun—

1) Zeitſchrift für deutſches Strafverfahren von v. Jagemannn und Nöllner Bd. III. H. 2. Nr. VIII. S. 161.

2) S. 226. 3) S. die Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 2. S. 226. 4) Fig. 24. Fig. 25.

Verheimlichungstrieb groß. Verheimlichungstrieb klein.

D

Ceyloneſe.

106 Verheimlichungstrieb.

gen mit IX bezeichnet. Aeußerlich iſt es zu ſuchen am un— tern Rande der Seitenwandbeine, umgeben von den mit Zerſtörungstrieb, Erwerbtrieb, Sorglichkeits- und Bekäm— pfungstrieb bezeichneten Stellen des Schädels. Dr. Gall bemerkte eine ſehr ſtarke Entwickelung dieſes Theils des Schädels an zweien ſeiner Gefährten, von denen der eine, bei ſonſtigen guten Eigenſchaften, doch eine außerordentliche Geneigtheit hatte, ſeine Mitſchüler zu täuſchen, der andere falſch und verrätheriſch war; an einem ſeiner Patienten, welcher, ſo lang er lebte, für einen ehrlichen Mann gegol— ten, dennoch aber ſeine Bekannten und ſelbſt ſeine Mutter um bedeutende Summen betrogen hatte. Viele andere ſo— wohl von Gall als ſeinen Nachfolgern angeſtellten Beob— achtungen beſtätigten die Richtigkeit der Anſichten Gall's.

Das Organ findet ſich groß am Kopfe der, Hindu’s, welche wegen ihrer Verſchlagenheit und Hinterliſt berüchtigt ſind, am Kopfe der nordamerikaniſchen Wilden, welche ihre Gefühle und ihre Abſichten trefflich zu verbergen wiſſen, am Kopfe des Tigers, der Katze und des Fuchſes (nur muß es hier über dem zygomatiſchen Bogen geſucht werden, von wo es ſich bis faſt zur Mitte dieſes Beines ausdehnt), und auch an denjenigen Thieren, welche ſich von Pflanzen näh— ren und ſich durch Verſchlagenheit auszeichnen.

Es iſt groß gefunden worden an den Köpfen berüch— tigter Diebe und Gauner, mancher Wahnſinnigen, welche ein beſonderes Geſchick beſaßen, ihre Wächter zu täuſchen, und mehrerer Perſonen, welche ſich krank ſtellten, ohne es zu ſein, und dieſen ihren Betrug ungeachtet der größten Leiden, welche er ihnen bereitete, dennoch ruhig durchführten.

Die Porträte von Caracalla, Katharina von Medici und Claudine Alexandrine von Tencin, der Mutter d' Alem— bert's, einer berüchtigten Intriguantin “), zeigen es groß.

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 227 232. Spurzheim, observations p. 181 183. Combe's Syſtem S. 172. Spurzheim,

on Phrenology p. 164 f. Gall, sur les fonctions du cerveau. Vol. IV. p. 185 200.

Verheimlichungstrieb. 107

Die Franzoſen, welche bekanntlich überaus mittheilend‘ ſind, beſitzen dieſes Organ weniger ſtark entwickelt als die Deutſchen, Italiener und Engländer, welche zurückhal— tender ſind.

Der Verheimlichungstrieb iſt der Drang, dasjenige, was ſich in unſerm Innern bewegt, nicht äußerlich kund werden zu laſſen. Ohne dieſen Trieb würde gar Manches zu Tage kommen, was weit beſſer im Schachte des Her— zens, vom Schleier des Dunkels bedeckt, liegt, und Men— ſchen, die ihn nicht beſitzen, verrathen in Folge dieſes Man— gels Geheimniſſe, welche, kund geworden, ihnen Nachtheil, Schimpf und Schande bringen. Die verſchiedenen Kräfte der menſchlichen Seele äußern ihre Thätigkeit mehr oder weniger unwillkührlich. Ohne alles Zuthun des Menſchen wird jede ſeiner Kräfte in Thätigkeit treten, ſobald ſich ihr der Gegenſtand ihrer Wirkſamkeit darbietet, z. B. der Er— werbtrieb, ſobald ſich eine Ausſicht zum Erwerbe eröffnet, die Beifallsliebe, ſobald ſich eine Gelegenheit zeigt, Beifall zu ernten u. ſ. w. Würde der Menſch alle dieſe Regungen in ihrer ganzen Lebendigkeit, wie ſie im Innern ſich kund thun, äußerlich an den Tag legen, ſo wäre ein friedliches und vergnügliches Zuſammenleben nicht möglich. Daher deckt der Verheimlichungstrieb einen Schleier über die Be— gebenheiten des innern Lebens. Auch dieſer, wie jeder an— dere Trieb, muß nach der Verſchiedenheit der übrigen See— lenkräfte, womit er verbunden iſt, zu verſchiedenen Reſultaten führen. In Verbindung mit Witz bildet er die wahre Quelle des Humors, er macht es allein einem Schriftſteller mög— lich, den Ausgang ſeiner Werke geſchickt bis zum geeigneten Augenblicke zu verbergen. Dem Schauſpieler giebt er die Fähigkeit, alle diejenigen ſeiner geiſtigen Anlagen, deren Wirkſamkeit mit ſeiner Rolle unverträglich wäre, zum Schwei— gen zu bringen. Dem Staatsmanne iſt er unentbehrlich. Er giebt ihm nicht nur das Geſchick, ſeine eigenen Pläne, Geſinnungen und Abſichten geheim zu halten, ſondern auch die geheimen Wege ſeiner Gegner zu ahnen und mit Hülfe

1

108 Verheimlichungstrieb.

ſeiner ſonſtigen Geiſteskräfte zu entdecken und zu durchſchauen.

Dem Krieger verleiht dieſer Trieb die Fähigkeit, ſeine Ope— rationen dem Feinde verborgen zu halten und Kriegsliſten aller Art in Anwendung zu bringen. Napoleon beſaß den— ſelben in hohem Grade. Er vermochte ſeinem Geſichte je— den Ausdruck zu entziehen, ſo daß, wer darin leſen wollte, nur ein nichtsſagendes Lächeln erkannte.

Wenn das Organ vorherrſchend thätig iſt, giebt es dem Kopfe und dem Oberkörper eine Richtung nach vorn und nach unten; der Mund iſt inſtinctartig geſchloſſen, das Auge nur ſo weit geöffnet, um ſehen zu können, allein nicht weit genug, damit Andere darin leſen können; die Schultern ziehen ſich aufwärts in der Richtung des Organs; der Gang iſt ſchleichend, verſtohlen und leicht. Die Bewegungen des Körpers gehen nicht geradezu vorwärts, ſondern haben im— mer eine Neigung nach der Seite. Das Organ iſt groß in dem

alten Geizhals Fig. 26.

und ſein Geſicht und Körper drücken ganz den Charakter der Heimlichkeit aus.

Verheimlichungstrieb. 109

Es giebt Leute, welche ohne allen weitern Zweck ein entſchiedenes Vergnügen empfinden, andern Menſchen, wie ſie ſich auszudrücken pflegen, etwas weis zu machen, und die ſich für außerordentlich geſcheidt halten, wenn es ihnen gelungen iſt, ſelbſt ihre beſten Freunde zu täuſchen, die ſie dann auslachen und ſich etwas darauf zu gute thun, ohne zu ahnen, Unrecht gethan zu haben, und ohne ſich durch Vorſtellungen irgend einer Art von ihrem Unrechte überzeu— gen zu laſſen, indem ſie darauf beſtehen, es ſei ein guter Scherz. Solche Menſchen haben den Verheimlichungstrieb groß. Andere können die Zwecke, die ſie haben, niemals auf geradem Wege verfolgen. Nur auf Umwegen, durch Krümmungen und Windungen iſt es ihnen möglich, nach einem Ziele zu ſtreben. Sie ſind nicht offen, auch wenn ihr Vortheil es heiſcht, gerade wie Menſchen entgegengeſetz— ten Charakters nicht ſchweigen, auch wo das Sprechen ih— nen großen Nachtheil bringt. Falls der Erwerbtrieb nicht ſehr groß iſt, geben Menſchen, welche in Folge ſchwacher Moralität und ſtarken Verheimlichungstriebs Betrügereien und Diebſtähle begangen haben, die Früchte ihrer Verbre— chen ſogar bisweilen wieder heraus; aber nicht ohne in— nere Freude über ihre, den Gegner überliſtende Feinheit und Schlauheit zu empfinden.

Allein nicht blos über das innere, ſondern auch über das äußere Leben deckt dieſer Trieb den Schleier des Ge— heimniſſes. Wer ihn in ſtarker Entwickelung beſitzt, hat einen entſchiedenen Widerwillen vor aller Oeffentlichkeit. Es iſt ihm zuwider, wenn er, auch in gleichgültigen Dingen, das Auge der Menſchen auf ſich zieht; er wird ſich bemü— hen, ſein ganzes Thun und Treiben in das Dunkel des Geheimniſſes zu verhüllen, und er wird fo mehr und mehr geneigt zu glauben, ſeine Thaten werden nicht entdeckt wer— den, wovon die Folge iſt, daß alle die Hebel, welche die Furcht vor der Entdeckung in Bewegung ſetzt, auf ihn nicht wirken. Es iſt eine auffallende Bemerkung, daß viele der verhärtetſten Verbrecher das Organ des Verheimlichungs—

110 Erwerbtrieb.

triebs in ſehr ſtarker Entwickelung beſitzen. Die feſte Ueber— zeugung, ſie können ihre That geheim halten, gab ihnen eine Zuverſicht in den glücklichen Ausgang derſelben, welche ein ſchwacher Verheimlichungstrieb nicht hätte hervorrufen können.

Der Verheimlichungstrieb iſt der ſchlimmſte Feind der Oeffentlichkeit. Das Princip heimlicher Verhandlung nährt und befördert das Mistrauen des Schlechten, er werde nicht entdeckt werden, und mindert dasjenige des Guten, er werde Anerkennung finden ).

Freiheit der Preſſe, Oeffentlichkeit der politiſchen Ver— handlungen und der Gerichtsverhandlungen eines Landes werden daher dem Böſen, dem Trägen, dem Schwachen, dem Kenntnißloſen immer etwas durchaus Widriges ſein. Denn nur die Nacht des Geheimniſſes deckt und ſchützt ihn und erhält ihn an dem Platze, den er nicht verdient.

§. 15. 8. Erwerbtrieb ?).

Am vordern und untern Winkel des Seitenwandbeins liegt das Organ des Erwerbtriebs. Es gränzt an die Or— gane des Verheimlichungstriebs, des Zerſtörungstriebs, des Kunſt- oder Zuſammenſetzungstalents und der Idealität. Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit VIII bezeichnet.

Dr. Gall entdeckte es zuerſt an den Köpfen verſchiede— nen Perſonen aus den niedern Claſſen der Geſellſchaft, welche

) Phrenological Journal. Edinburgh 1824. No. IV. p. 611 —614,

2) Erwerbtrieb und Verheimlichungstrieb groß. S. 108. Fig. 26. Ein alter Geizhals.

Erwerbtrieb. 111

als kleine Diebe bekannt waren, und ſelbſt kein Hehl daraus machten; dann an verſchiedenen Kindern in einer Taubſtummen-Anſtalt zu Wien, zu welcher er Zutritt hatte, und welche gleichfalls die natürliche Anlage zu ſtehlen nicht verbergen konnten. Später fand er es in Zuchthäuſern ſehr groß an einem Knaben von funfzehn Jahren, welcher als unverbeſſerlicher Dieb zu lebenslänglicher Einſperrung ver— urtheilt worden war; an den Köpfen vieler andern Diebe und Räuber, z. B. Cartouche, Schinderhannes, Picard, Storzenbecker und anderer, und in Irrenhäuſern an den Köpfen von Irren, welche eine krankhafte Neigung zum Stehlen hatten. Durch alle dieſe Beobachtungen wurde er veranlaßt das Organ das Diebsorgan zu nennen, allein da kein Organ nach ſeinem Misbrauch genannt werden ſollte, ſo wurde bald der Name Erwerbtrieb demſelben beigelegt, welchen es nun allgemein führt. Es findet ſich groß an den Köpfen der Kalmucken, welche wegen ihres diebiſchen Charakters bekannt ſind, klein an denjenigen der Caraiben und Neuholländer, welche für Beſitz verhältnißmäßig ſehr gleich— gültig ſind.

Der Trieb zu erwerben iſt übrigens tief in der menſch— lichen Bruſt begründet, und ſelbſt den Thieren iſt er eigen. Der Hund betrachtet den Knochen, an welchem er nagt, als ſein Eigenthum, und läßt ihn ſich nicht ohne Murren oder ſelbſt ohne Gegenwehr entreißen. Die Störche kehren nach einer Friſt von mehr als ſechs Monaten zu ihrem verlaſſe— nen Neſte zurück und laſſen es ſich durch andere nicht rau— ben; der Hamſter und die Dohle ſammeln Vorräthe für den Winter, welche ſie als ihr Eigenthum betrachten u. ſ. w.

Dieſer Trieb beſteht weſentlich in dem Streben nach Beſitz. Die begleitenden Eigenſchaften werden ihm jedoch ſeine Richtung verleihen. In Verbindung mit moraliſchen und intellectuellen Fähigkeiten begründet er den Wohlſtand civiliſirter Nationen. In dieſem Geleite wird er den Kauf— mann, den Profeſſioniſten und den Taglöhner thätig und arbeitſam machen. Während der Menſch ohne dieſen Trieb

112 Erwerbtrieb.

ſich begnügen würde, ſich und ſeiner Familie den bloßen Lebensunterhalt zu verſchaffen, ſpornt der Erwerbtrieb ihn an, auch für die Zukunft zu ſorgen, werthvolle Dinge zu ſummeln, um auch ſeinen Nachkommen etwas hinterlaſſen zu können. Dem Naturforſcher verleiht er Emſigkeit in der Beſtrebung, Sammlungen von naturwiſſenſchaftlichen Gegenſtänden anzulegen, dem Gemäldeliebhaber Thätigkeit in der Sammlung von Gemälden. Nur durch die An— nahme dieſes Organs iſt es möglich, die krankhafte Sucht mancher bemittelten Perſonen zu erklären, welche ohne das geringſte Bedürfniß ſtehlen, die geſtohlenen Dinge zum Theil wieder verſchenken, oder wenigſtens gar nicht gebrau— chen. Eine Menge derartiger Fälle ſind in den phrenolo— giſchen Werken namhaft gemacht. Sie beweiſen, daß der bloße Act der Beſitzergreifung werthvoller Dinge, ohne alle Rückſicht auf Genuß oder Vortheil, ſchon Befriedigung ge— währen kann, und hieraus folgt, daß das Streben zu er— werben für ſich allein ſchon eine natürliche und urſprüng— liche Anlage des Menſchen ſein muß, welche freilich nur dann in ihrer ganzen Nacktheit ſich zeigt, wenn ſie durch die andern und höhern m nicht in den gehörigen Schran— ken gehalten wird.

Bei abnorm ſtarkem Erwerbtrieb entſteht Habſucht und Geiz. Man ſammelt Vorräthe um ihrer ſelbſt willen und nicht eines höhern Zwecks halber. Der Geiz iſt der zur Leiden— ſchaft geſteigerte Erwerbtrieb. Der Diebſtahl iſt die Folge eines durch Gewiſſenhaftigkeit nicht gezügelten abnorm geſteigerten Erwerbstriebs. Victor Amadeus J., König von Sardinien, nahm überall Dinge von geringem Werth. Saurin, Pa— ſtor zu Genf, ein Mann von den beſten Grundſätzen, un— terlag ſtets dem Hang zum Stehlen. Ein Beamter in Wien ſtahl überall Hausgeräthe, trug es in zwei dazu gemiethete Kammern, ohne es zu verkaufen oder zu gebrauchen. Fälle dieſer Art finden ſich in den phrenologiſchen Schriften ſehr zahlreich geſammelt. Krankheiten oder Verwundungen des Gehirns haben gleichfalls nicht ſelten eine abnorme Steige—

Nahrungstrieb. 113

rung des Erwerbsbetriebs zur Folge. Zwei Bürger in Wien z. B., welche früher tadellos gelebt hatten, wurden geiſtes— krank und gingen dann von Früh bis Abends herum, um Alles, was ihnen vorkam, zu ſtehlen, wenn es auch nur Stroh, Lappen oder Holz war. Acrel erwähnt eines Men— ſchen, der in Folge einer bedeutenden Wunde an der Schläfe, in der Gegend dieſes Organs trepanirt wurde, nach ſeiner Entlaſſung aus dem Hoſpitale eine unwiderſtehliche Nei— gung zum Stehlen empfand, und demzufolge zur Strafe des Diebſtahls verurtheilt worden wäre, wenn Acrel ſich nicht feiner angenommen und darauf aufmerkſam gemacht _ hätte, daß ſein diebiſcher Hang die Folge einer durch jene Wunde herbeigeführten Störung des Gehirns ſei ).

Bei abnorm ſchwachem Erwerbtrieb haben die Men— ſchen keine Kraft, mit Anſtrengung nach Erwerb zu ſtre— ben, keinen Sinn, Erworbenes zu bewahren, kein Vergnü— gen daran, ſie ſorgen daher nur von einem Tag auf den andern. Haben ſolche Menſchen Vermögen ererbt, ſo laſſen ſie ſich's aus den Händen ſchlüpfen, und ſind nichts weni— ger als darauf bedacht, es zu vergrößern.

$. 16. Nahrungstrieb.

Schon Gall und Spurzheim dachten daran, daß das Begehren nach Nahrung ein Inſtinct ſei, den man auf kei— nes der erkannten Principien des Geiſtes zurückführen könne, und ſie waren daher geneigt, es für eine urſprüngliche Kraft

1) Theorie der Verbrechen auf Grundſätze der Phrenologie baſirt von Attomyr. Leipzig 1842. S. 18 28. Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 232 240. Spurzheim, observations p. 173—18ʃ, woſelbſt ſich eine Menge hierher gehöriger intereſſanter Thatſachen erzählt finden. Combe's Syſtem S. 184. Spurzheim, on Phre- nology p. 165 - 171. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. IV. p. 201 248. Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 3. S. 275 ff.

8

114 Nahrungstrieb.

zu halten, die ein beſonderes Organ habe. Das Begehren nach Nahrung und die Wahl der Nahrung findet bei den Jungen der Thiere, wie bei den neugeborenen Kindern ſtatt, bevor ſie durch Erfahrung irgend etwas gelernt haben kön— nen. Im Augenblick, da das Hühnchen aus dem Ei ſchlüpft, frißt es das Korn, das zu ſeinen Füßen liegt, berührt aber nichts, das zu ſeiner Nahrung nicht dienen kann. Das neu— geborene Kind ſucht die Bruſt der Mutter und nimmt ſie willig, während es eine Flaſche Wein ſchreiend zurückweiſen würde. Dieſes Begehren nach Nahrung iſt verſchieden von Hunger und Durſt, denn die Menſchen eſſen und trinken nur zu häufig ohne ſolchen, ſelbſt das Kind an der Mutter Bruſt trinkt bisweilen fort, bis es hinweggenommen wird, ſogar wenn es wegen Ueberfüllung ſchon Milch ausgeſpieen hat. Wie die Geſchlechtstheile die Werkzeuge ſind, womit der Geſchlechts— trieb befriedigt wird, ſo ſind Magen, Schlund, Zunge und Gaumen und die daſelbſt verbreiteten Nerven des Geſchmacks die Werkzeuge, womit der Nahrungstrieb befriedigt wird; allein ſie ſind natürlich weſentlich verſchieden von dem Triebe ſelbſt). Ebenſo iſt Hunger und Durſt verſchieden von der eigentlichen Eßluſt und dem Begehren nach Trank. Hun— ger und Durſt ſtehen in demſelben Verhältniß zu Magen— und Gaumen-Nerven, wie Eßluſt und das Begehren nach Trank zum Nahrungstrieb. Man kann Hunger haben ohne Eßluſt, und Durſt ohne Verlangen nach Trank, und um— gekehrt Eßluſt ohne Hunger, und Verlangen nach Trank ohne Durſt, wie alle Freſſer und Säufer beweiſen.

1) Ein ſchlagender Beweis für die ſtufenweiſe, mit den Bedürf— niſſen immer gleichen Schritt haltende Entwickelung des Menſchen iſt es, daß das neugeborene Kind, welches vor allen Dingen der Nah— rung bedarf, die zu dieſem Behufe dienenden Nerven, nämlich das fünfte Nerven-Paar, wovon ſich mehrere bedeutende Aeſte in den Warzen des Gaumens, des Schlundes und der Zunge erſchließen, vor allen andern in beſter Entwickelung beſitzt. Bessieres, introduction à l’etude philosophique de la phrénologie p. 119. flg. 174.

Nahrungstrieb. 115

Folgende Thatſachen führten auf die Annahme, daß das Organ des Nahrungstriebs ſich an der bezeichneten Stelle des Gehirns finde.

Beim Schafe ſieht man die ſehr großen Geruchs— Nerven von zwei Gehirn-Windungen ausgehen, welche an der Baſis des mittlern Gehirn-Lappens neben und unmit— telbar unter der Stelle liegen, die bei fleiſchfreſſenden Thie— ren das Organ des Zerſtörungstriebs einnimmt. Das Schaf wird in der Wahl ſeiner Nahrung durch den Ge— ruchs-Sinn beſtimmt, und daraus wurde die Vermuthung abgeleitet, daß dieſe Theile die Organe des Inſtincts ſein möchten, der es treibt, Nahrung zu ſich zu nehmen. Aehn— liche Windungen zeigen ſich auch im Gehirne des Menſchen.

An ſehr vielen ſtarken Eſſern und Trinkern wurde der unterſte Theil der zygomatiſchen Grube, die Stelle, welche nach unten von den Backenknochen, nach oben und den Seiten hin durch die Organe des Zerſtörungs-, Erwerb— triebs und des Kunſtſinns begränzt wird, ganz beſonders voll beobachtet. Dr. Hoppe von Copenhagen, Hr. Georg Combe aus Edinburgh und Hr. Crook kamen, ohne von ihren gegenſeitigen Beſtrebungen in dieſer Rückſicht etwas zu wiſſen, aus den oben im Weſentlichen angeführten Grün— den zu der Anſicht, daß an der bemerkten Stelle das Or— gan des Nahrungstriebs zu ſuchen ſei. Uebrigens gilt daſ— ſelbe zur Zeit noch nicht für unzweifelhaft, daher es auch noch keine Nummer erhalten hat. Erſt durch weitere Beob— achtungen kann dieſes Organ feſtgeſtellt werden. Intereſſant iſt die Bemerkung, daß wie die Organe des Nahrungs— triebs, Zerſtörungstriebs, Erwerbtriebs und Kunſtſinns kör— perlich ſich nahe liegen, die entſprechenden geiſtigen Regun— gen ſich auch ſehr nahe verwandt ſind. Nichts regt den Zerſtörungstrieb der Hunde und ſelbſt zahmer anderer Haus— thiere ſo ſehr auf, als eine Störung bei ihrem Freſſen und Trinken, nichts macht die fleiſchfreſſenden Thiere wü— thender als angeregte Eßluſt. Bei den weniger zerſtörungs— ſüchtigen Thieren, z. B. Hamſter, Dohle u. ſ. w. und den

8 *

116 Nahrungstrieb.

Menſchen wird durch den Nahrungstrieb der Erwerbtrieb, und bei den noch höher ſtehenden das dritte der angränzen— den Organe: der Kunſtſinn zur Thätigkeit angeregt. Bei einem jungen Manne, welchen Hr. Simpſon beobachtete, kündigte ſich von Zeit zu Zeit ein krankhafter Trieb zu ſtehlen durch außerordentliche Gefräßigkeit an. Sein Organ des Erwerb— triebs war ſehr groß und ſein Organ des Nahrungstriebs groß. Trinkwuth iſt oft dadurch geheilt worden, daß der Patient behandelt wurde, als litte er an einer Gehirn-Ent— zündung. Ein Patient, welcher ungeachtet unaufhörlichen Eſſens nicht geſättigt werden konnte und immer „Hunger, Hunger!“ ſchrie, beklagte ſich über Schmerz an der Stelle, welche das Organ des Nahrungstriebs einnimmt; einem andern in ganz gleicher Lage wurden Blutegel an dieſer Stelle geſetzt, welche ihm Erleichterung brachten !).

Zum Zwecke der Erhaltung der Geſundheit in unge— ſtörter Kraft wurde dieſer Trieb dem Menſchen verliehen, der Menſch aber verkennt dieſes nur zu oft und untergräbt durch Mißbrauch deſſelben das größte Gut des Schöpfers. Doch wer die ewigen Geſetze der Natur verachtet, muß zu ſeinem Schmerz erfahren, daß ſie wirken, ob er ſie kennt und beobachtet, oder verkennt und vernachläſſigt. Jede Abweichung vom Wege der Natur iſt mit Schmerzen ver— bunden. Sie ſind die Weiſer, die uns von böſen Pfaden zurückſchrecken ſollen.

1) Combe's Syſtem S. 167.

II. Emptindungsvermögen oder Gefühle.

9. 17. 10. Selbſtgefuͤhl ).

Dieſes Organ wird durch die auf den Tafeln III, V und VI mit XII bezeichneten Windungen des Gehirns, welche auf der Mittel-Linie unmittelbar hinter und unter dem Scheitel des Kopfes liegen, gebildet. Aeußerlich iſt es et— was oberhalb der hinteren Winkel der Seitenwandbeine, umgeben von den mit Einheitstrieb, Beifallsliebe und Fe— ſtigkeit bezeichneten Stellen des Schädels zu ſuchen. Wenn

1 Fig. 27. Fig. 28. Selbſtgefühl mittelmäßig. Selbſtgefühl groß. nn

+ \ 20

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Francois Cordonnier. S. auch Tafel IX zu S. 93.

118 Selbſtgefühl.

es groß iſt, ſo erhebt ſich der Kopf in jener Richtung vom Ohre aus weit nach oben und hinten. Durch daſſelbe wird gerade die Abdachung des Kopfes nach ſeinem hintern Theile gebildet.

Dr. Gall entdeckte dieſes Organ zuerſt an einem Bett— ler, welcher zu ſtolz geweſen war, zu arbeiten, und dadurch gezwungen wurde zu betteln; ſpäter an einem Arzte zu Wien, welcher bei ärztlichen Conſultationen ſich immer vor— drängte, ſelbſt den Vorrang vor Aerzten haben wollte, welche älter als er waren, und darauf beſtand, ſeine Unter— ſchrift immer zuerſt niederzuſchreiben. An einem Mädchen von achtzehn Jahren zu Heidelberg, welche es nicht ertra— gen konnte, daß man vertraulich mit ihr ſprach, deren Worte und Geſichtszüge Zuverſicht und Anmaßung verkün— deten, fand er dieſes Organ auch ſtark entwickelt. Sie trug ihren Kopf hoch und etwas nach hinten zu. Obgleich von niederm Stande, wählte ſie ihren Umgang nur aus Per— ſonen höhern Standes. Er fand das Organ ferner groß an den Häuptern der Anführer von Räuberbanden, deren Stolz ihnen dieſe Auszeichnung verſchafft hatte); an dem Kopfe eines Fürſten zu Wien, welcher ſich durch ſeinen lächerlichen Stolz, geſuchten Gang und ſtetes Anführen feiner Ahnen auszeichnete?). An den Büſten von Cäſar und Napoleon erſcheint es groß. Es iſt groß an dem Haupte der Engländer, während bei den Franzoſen das Organ der Beifallsliebe ſtärker entwickelt iſt, und ein cha—

I) 6. Combe’s Notes on America Vol. I. S. 335. Vol. II. S. 279. Combe's Syſtem S. 208. Gall, sur les fonctions du cer- veau Vol. IV. p. 248 274.

2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 240 247. Die Be— merkung Gall's, daß alle Thiere, welche ſich in beſonders hochgelege— nen Gegenden aufhalten, z. B. die Gemſe und der Steinbock, dieſes Organ ſtark entwickelt beſitzen, iſt ganz erklärlich, wenn wir erwägen, daß die eigentliche Grundlage des Selbſtgefühls das Gefühl für Unab— hängigkeit iſt, und nur Entfernung von den Mitgeſchöpfen, nament— lich dem ſtärkern Theile derſelben, uns ſolche ſichert,

Selbſtgefühl. 119

rakteriſtiſcher Unterſchied zwiſchen den Engländern und Fran— zoſen beſteht darin, daß die erſteren mehr Selbſtgefühl, die letzteren mehr Beifallsliebe beſitzen. Herr Georg Combe beobachtete in Nordamerika einen Mann, welcher früher als Bauchredner öffentlich aufgetreten war und ſich ſo ſeinen Lebensunterhalt verdient hatte. Er bekam in Folge eines Steinwurfs eine Geſchwulſt, welche ſeine Organe des Selbſt— gefühls und der Beifallsliebe drückte, und in demſelben Maße, in welchem dieſer Druck zunahm, bildete ſich eine ihm frü— her fremde Scheu vor öffentlichem Auftreten aus und ver— minderte ſich das Selbſtvertrauen, das ihm früher eigen geweſen war. Er hörte auf, Bauchredner zu ſein und ward Kellner in einem Gaſthauſe. Gall!) erzählt einen Fall, wo ein heftiger Stoß, welcher den Kopf eines franzöſiſchen Of— ficiers an der Stelle dieſes Organs traf, eine gerade ent— gegengeſetzte Folge hatte. Während der durch den Stoß verurſachten Krankheit glaubte ſich der Patient wogend in den Licht-Regionen des Himmels, und während der Zeit ſeiner Reconvalescenz bekundete er, der zwar immer ſtolz, jedoch bei geſundem Verſtande geweſen war, einen durch— aus krankhaften Hochmuth und wahnſinnigen Stolz. Es iſt augenſcheinlich, daß der Stoß eine krankhafte Aufregung dieſes Organs veranlaßte, während die Geſchwulſt des vo— rigen Falles eine Herabſtimmung der Thätigkeit deſſelben zur Folge hatte. An einem Mädchen, deren Gehirn durch eine Operation am Schädel bloßgelegt worden war, fühlte Hr. G. Combe, durch die es bedeckende Haut, die Regungen dieſes Organs, ſo oft die entſprechenden Gefühle in dem Kinde geweckt wurden.

Die Männer beſitzen dieſes Organ in der Regel grö— ßer als die Frauen, ſowie das entſprechende Gefühl. An Wahnſinnigen, welche ſich einbildeten, irgend etwas ſehr Großes und Hohes Kaiſer, Könige, Gott, Chriſtus, die Jungfrau Maria u. ſ. w. zu ſein, und welche ſich in

I) Vol. IV. p. 288 293.

120 Selbſtgefühl.

dieſem Wahne ſehr ſtolz, herriſch und gebieteriſch benahmen, iſt es wiederholt groß bemerkt worden. In Uebereinſtim— mung mit obiger Bemerkung iſt es auffallend, daß mehr Männer als Frauen durch eine krankhafte Aufregung dieſes Organs ihrer geiſtigen Geſundheit verluſtig gehen.

Die entſprechende geiſtige Kraft beruht auf dem Ge— fühle der Wichtigkeit des eigenen Ichs und folgeweiſe alles | deſſen, was mit dieſem in Verbindung ſteht: feines Eigen: thums, ſeiner Anſprüche, ſeiner Verwandten, Freunde u. ſ. w. | In mäßiger Entwickelung verleiht es daher denjenigen Grad von Selbſtvertrauen und Selbſtzufriedenheit, welcher zu einem erfolgreichen Wirken und glücklichem Leben unent— behrlich ſind. Es hält uns fern von gemeinen Bekannt— ſchaften und frei von der Annahme niedriger Gewohnheiten und dem Gebrauche unedler Ausdrücke, kurz von alle Dem, | was unferer Würde Eintrag thun könnte, und folgeweife | auch von manchem Böſen. Es regt uns auf, und verſetzt | uns in einen hohen Grad von Unwillen, wenn Jemand einen Eingriff in unſere Rechte wagt oder dieſelben nicht anerkennen will, und giebt uns dadurch Kraft, unſer Ei— 0 genthum zu vertheidigen, unſere Anſprüche geltend zu machen, fremden Anmaßungen zu widerſtehen oder uns denſelben zu entziehen. So wird das Selbſtgefühl die Grundlage des Sinnes für Unabhängigkeit.

Ein zu ſtarkes und, namentlich nicht durch die höhe— ren Gefühle, gezügeltes Selbſtgefühl artet in Hochmuth, | Anmaßung, Eigendünkel, Tadelſucht und Selbſtüberſchätzung aus. Der Muſiker wird unter ſeinem Einfluſſe geneigt ſein, | das fremde Muſikſtück, das er ſpielt, mit ſelbſterfundenen | Ausſchmückungen zu überladen; der Redner fich des Wor— tes ich, mein u. ſ. w. oft zu bedienen und ſeine Indivi— dualität mehr in den Vordergrund zu ſtellen, als der Ge— genſtand der Rede verlangt; der Sammler beſonders auf ſolche Dinge Werth zu legen, die außer ihm Niemand be— ſitzt. In Verbindung mit Zerſtörungstrieb und verwunde— ter Beifallsliebe führt das Selbſtgefühl zu Haß und Ver—

Selbſtgefühl. 121

achtung Anderer. In Verbindung mit mangelhafter Ge— wiſſenhaftigkeit macht es empfindlich und unfähig, Tadel ruhig anzunehmen und die eigenen Fehler einzuſehen und anzuer— kennen. In Verbindung mit Verheimlichungstrieb und mangelnder Gewiſſenhaftigkeit führt es oft Denjenigen, der Unrecht gethan hat, dahin, ſich laut über erlittenes Unrecht zu beklagen, um auf ſolche Weiſe wenigſtens Vorwurf und Strafe von ſich abzuwenden. Einer der großen Vortheile der Höflichkeit und guten Erziehung beſteht darin, die Aeu— ßerungen, wenn auch nicht die innern Regungen zu ſtarken Selbſtgefühls zu mäßigen. Wie Trunkenheit immer die vorwaltenden Eigenſchaften beſonders anregt, ſo auch vor— waltendes Selbſtgefühl. Trunkene dieſer Art ſind unaus— ſtehlich. Wenn dieſes Organ beſonders thätig iſt, ſo giebt es dem ganzen Körper eine Richtung nach oben und ein wenig nach hinten. Der Kopf erhält dadurch eine ſteife, abſtoßende Haltung.

Zu ſchwaches Selbſtgefühl führt dagegen zu übertrie— bener Demuth, welche, ſo ſchön ſie Gott gegenüber iſt, doch im Verkehre der Menſchen keine Achtung einflößt, und daher Leuten dieſer Gemüthsart keinen Einfluß auf ihre Mit— menſchen und folgeweiſe keine kräftige Wirkſamkeit gewin— nen läßt. 5

Viel zu ſchwach iſt dieſes Gefühl namentlich bei uns Deutſchen und in National-Angelegenheiten. Daher iſt es uns ſeit Jahrhunderten ſo übel ergangen, daher haben wir eine Provinz nach der andern verloren, und haben ſie nicht einmal zurück behalten, als ſie wieder in unſere Gewalt gekommen waren. Das Volk, das ſich ſeinen Herrſchern ge— genüber nicht fühlt, kann ſich auch den Fremden gegenüber nicht fühlen. Wohl gehorchen Kinder williger dem Worte des Vaters als kräftige Männer, allein im Augenblicke der Noth wird der Vater, der ſeine Kinder in der Unmündig— keit erhielt, vielleicht zu ſpät entdecken, daß Kinder ihn und ſich nicht zu vertheidigen vermögen. Es giebt eine Unmün— digkeit des Geiſtes, wie es eine Unmündigkeit des Alters

122 Beifallsliebe

giebt. Die erſtere iſt ſchlimmer als die letztere, ihr hilft nicht wie dieſer die Zeit ab.

918. 11. Beifallsliebe.

Die auf den Platten II und III mit XI bezeichneten Gehirn-Windungen bilden dieſes Organ. Aeußerlich iſt es zu ſuchen an beiden Seiten des Organs des Selbſtgefühls, etwa einen halben Zoll von der Lambda-Nath, umgeben von den Organen des Einheitstriebs, der Anhänglichkeit, der Sorglichkeit und der Gewiſſenhaftigkeit. Wenn es groß iſt, giebt es dem Kopfe nach oben und hinten zu eine auf— fallende Fülle und Breite).

Dr. Gall wurde zuerſt auf dieſes Organ aufmerkſam beim Beſuche einer Irren-Anſtalt, worin eine Frau, welche ſich einbildete, Königin von Frankreich zu ſein, ein raſt— loſes, albernes Treiben, unerſchöpfliche Schwatzhaftigkeit, die übertriebenſte Zuvorkommenheit, ein begieriges Ankündi— gen hoher Geburt und überſchwenglicher Reichthümer, Ver— ſprechungen von Gunſt und Ehre in abgeſchmackter Miſchung an den Tag legte. Sie hatte dieſes Organ ſehr groß). An demſelben Kinde, an welchem Hr. Georg Combe die Bewegungen des Organs des Selbſtgefühls beobachtete, und in gleicher Weiſe, beobachtete er auch diejenigen des Or— gans der Beifallsliebe. Durch eine Reihe anderer Beob— achtungen wurde das Organ feſtgeſtellt. Männer beſitzen

es in der Regel ſchwächer entwickelt als Frauen, wie denn

auch weniger Männer als Frauen einer krankhaften Affe— ction deſſelben erliegen. Die amerikaniſchen Indianer, welche eine außerordentliche Liebe zum Putze haben, beſitzen es

1) S. Tafel V zu S. 88. Spurzheim, observ. Taf. IV. Fig. 1. 2) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 247 254. Combe's Syſtem S. 219. @all, sur les fonctions du cerveau Vol. IV. p. 296315.

Beifallsliebe. 123

ſehr ſtark entwickelt. Wenn das Organ kräftig wirkt, fo giebt es der Stimme einen ſanften, einſchmeichelnden Ton.

Die Beifallsliebe bedingt den Wunſch, zu gefallen, woraus das Streben nach Lob und Ruhm hervorgeht. Eine gehörige Gabe dieſes Vermögens iſt zu einem liebenswür— digen Charakter durchaus nothwendig, denn es giebt uns den Wunſch, uns Andern angenehm zu machen, es veran— laßt uns daher, aus Furcht Anſtoß zu erregen und uns dadurch Mißbilligung zuzuziehen, unzählige kleine Aeuße— rungen der Selbſtſucht zu unterdrücken und manche Eigen— thümlichkeiten des Temperaments und Charakters im Zaume zu halten; es iſt die Scheibe, auf die der Witz zielt, wenn er durch Ironie unſere Thorheiten verſcheuchen will. Der Gegenſtand ſeines Verlangens iſt Beifall im Allgemeinen, und die Richtung, worin man Befriedigung dafür ſucht, hängt von den begleitenden Vermögen ab. Sind die mo— raliſchen Gefühle und die Kräfte der Intelligenz ſtark, ſo wird die Beifallsliebe zu geiſtigen Beſtrebungen und dem Verlangen nach ehrenvollem Rufe anregen. Wenn dagegen die niederen Triebe vorherrſchen, ſo kann das Individuum ſelbſt dahin kommen, ſich den Beifall Anderer durch ſtarkes Trinken, vieles Duelliren und ſonſtigen Unfug zu erwerben.

Aus einer ſtarken Entwickelung dieſes Organs geht immer die Erwägung hervor: was wohl die Welt von uns ſagen und denken werde. Dadurch wird die Kraft und die Unabhängigkeit des Charakters nicht ſelten untergraben, und der Menſch wird haltungslos, ängſtlich und unglücklich. Die Beifallsliebe erhebt dann die bloßen Ausſprüche der Geſellſchaft, worin man ſich bewegt, und der Mode zum höchſten Geſetzbuch, welchem Moral, Religion und guter Geſchmack weichen müſſen. Unter dem Einfluß ſolcher Ge— ſetze iſt es nicht möglich, auf dem Wege der Tugend fort— zuſchreiten, feſte Grundſätze irgend einer Art zu verfolgen, denn die Ausſprüche der Geſellſchaft ſtehen nicht ſelten in dem ſchreiendſten Widerſpruch mit den ewigen Grundſätzen der Wahrheit, der Liebe und der Reinheit, und ſie wech—

124 Beifallsliebe.

ſeln mit den Umſtänden und Zeitverhältniſſen. Nicht ſelten iſt es der Beifallsliebe in ihrer Ausartung zuzuſchreiben, daß Menſchen von ſonſt guten Anlagen ſich in den Fall begeben, die Sache des Rechts, der Freiheit und des Vater— landes zu verlaſſen. In Verbindung mit Zerſtörungstrieb entwickelt ſich aus der Beifallsliebe der Neid, in Verbin— dung mit dem Geſchlechtstriebe die Eiferſucht. In demſel— ben Maße, als der eitele Menſch nach Auszeichnung trachtet, iſt ihm diejenige ſchmerzlich, welche ihm vorenthalten und einem Andern zu Theil wird.

Schon bei Kindern ſieht man übrigens ſehr deutlich, daß das Maß der Beifallsliebe nicht gleich vertheilt iſt. Das eine Kind kann durch den Sporn deſſelben zur höch— ſten Anſtrengung ſeiner Kräfte angeregt werden, während er auf das andere nur ſehr ſchwach wirkt. Dieſe Verſchie— denheit begleitet den Menſchen von der Wiege bis zum Grabe, nur die äußeren Verhältniſſe, die Mittel der Befriedigung dieſes Gefühls wechſeln, das Gefühl ſelbſt bleibt in der Regel daſſelbe.

Wer aber auf der andern Seite zu wenig Beifallsliebe beſitzt, kümmert ſich zu wenig um die Meinung und den guten Willen Anderer, und entbehrt ſo einen mächtigen Sporn der Thatkraft. Die Menſchen, welche durch die höheren, moraliſchen Empfindungen geleitet werden, ſind ſelten; in Ermangelung dieſer bildet die Beifallsliebe eini— gen Erſatz. Sie treibt den Handwerker, den Künſtler, den Staatsbeamten, den Soldaten auf dem Felde ſeiner Wirk— ſamkeit raſch vorwärts, auf welchem er ohne dieſen Sporn ſich oft ſchläfrig bewegen würde. Menſchen mit wenig Beifallsliebe zeichnen ſich aus durch ein rückſichtsloſes Be— nehmen, welches auszuſprechen ſcheint: halte davon, was du willſt, mir iſt es einerlei!

Die Beifallsliebe macht uns bereit, denjenigen Menſchen zu dienen, die unſerer Hülfe am wenigſten bedürfen, das Wohl— wollen Derjenigen zu erwerben, denen unſer Beiſtand von wah— rem Nutzen iſt. Sie wird nach dem Beifalle der Großen,

Beifallsliebe. 125

Mächtigen, Reichen ſtreben, während das Wohlwollen nur bei den Kleinen, den Schwachen, den Armen Beſchäftigung findet. Die Beifallsliebe bildet die eigentliche Grundlage der nichtsſagenden Alltags-Höflichkeit mit ihrer ganzen Charakterloſigkeit, während das Wohlwollen diejenige der chriſtlichen Liebe bildet.

Das Selbſtgefühl artet zum Stolze, zum Hochmuth und zur Herrſchſucht, die Beifallsliebe zur Eitelkeit, zum Ehrgeiz und zur Ruhmſucht aus. Der Stolze erwartet, daß alle Welt zu ihm komme und ſein Verdienſt anerkenne; der Eitele klopft überall an, um Aufmerkſamkeit zu erre— gen und bettelt gewiſſermaßen um die geringſte Ehrenbe— zeugung. Der Stolze verachtet die Auszeichnungen, welche das Glück des Eiteln ausmachen, und wird durch unzartes Lob verletzt und beleidigt. Der Eitele athmet mit Luſt ſelbſt den gröbſten Weihrauch ein, den man ihm ſtreut !).

Während das Organ des Selbſtgefühls bei vorwalten— der Thätigkeit dem ganzen Körper eine ſteife Haltung giebt, verleiht dasjenige der Beifallsliebe ihm eine ſchwankende, unbeſtimmte, von einer Seite nach der andern alternirende. Dieſer Gegenſatz zeigte ſich auch in den Geſichtszügen. Die- jenigen des Stolzen ſind mehr gerade, diejenigen des Eiteln mehr wellenförmig.

Menſchen und Thiere zahlen der Beifallsliebe ihren Tribut, ſelbſt die Affen putzen ſich gern, das Pferd freut ſich, von ſeinem Herrn Zeichen der Zufriedenheit zu erhal— ten, der Hund verſteht ſchon den Blick des Tadels und iſt empfindlich für denſelben?). Der Wilde begnügt ſich unter ihrem Einfluß mit jedem Bande, mit jeder Zierrath; der civiliſirte Menſch will, daß ſein Band, ſein Schmuck ent— weder durch die Mode oder durch eine andere Autorität geheiligt ſei. Dann trägt er es aber mit großem Behagen.

I) Gall, Vol. IV. p. 297. 2) Gall führt S. 317 f. die intereſſanteſten Beiſpiele hierfür an.

126 Beifallsliebe.

Luxus und Prachtliebe haben in ihr ihre Quelle. Viele würden ſich um Künſte, Wiſſenſchaften und Gewerbe wenig kümmern, wenn ſie nicht wünſchten, für Beförderer von Wiſſenſchaft, Kunſt und Gewerbfleiß zu gelten.

Die Eitelkeit der Frauen iſt im Allgemeinen viel we— niger ſtörend als diejenige der Männer. Titel und Ordens— bänder liegen dem geſunden menſchlichen Gemüthe viel fer— ner als Blonden, Spitzen und Diamanten.

Artet die Beifallsliebe zum Ehrgeiz und zur Ruhm— ſucht aus, dann bewegt ſie ſich in ihrer höchſten Sphäre, richtet am meiſten Unheil an und wird Demjenigen, der ſie hegt, zum immer nagenden Wurme, weil das Selbſt— gefühl der Mitmenſchen in demſelben Maße zum Widerſtand aufgefordert wird, in welchem ein anderer ſich über ſie erhebt, den Ehrgeizigen unausgeſetzt an ſeiner ſchwachen Seite angreift und ihn aufs empfindlichſte verletzt. Themiſtokles hat die— ſes im Laufe ſeines vielbewegten Lebens empfunden. Sein Kopf, wie er uns aufbewahrt iſt, zeigt eine ſehr ſtarke Ent— wickelung des Organs der Beifallsliebe. Es iſt bekannt, daß er oft ſagte, die Trophäen des Miltiades BR ihn nicht fchlafen.

Sorglichkeit oder Behutſamkeit. 127

$ 19. 12. Sorglichkeit oder Behutſamkeit ).

Ungefähr in der Mitte des Scheitel- und Seitenwand— beins, da wo gemeiniglich die Verknöcherung deſſelben ihren Anfang nimmt, findet ſich das Organ der Sorglichkeit. Es iſt umgeben von den Organen der Beifallsliebe, der Anhäng— lichkeit, des Verheimlichungstriebs, des Bekämpfungstriebs und der Gewiſſenhaftigkeit, und wird gebildet durch die mit X auf den Tafeln II, III und IV bezeichneten Windungen.

Dr. Gall bemerkte dieſen Gehirntheil zuerſt ſehr groß an zwei in jeder andern Beziehung ſehr verſchiedenen, je— doch darin übereinſtimmenden Perſonen, daß ſie beide au—

1) Fig. 29. Fig. 30. Sorglichkeit groß. Sorglichkeit groß.

Ein Knabe von der Inſel Ceylon von hinten. von oben.

Fig. 31. Sorglichkeit klein.

S. auf Tafel V zu S. 8

128 Sorglichkeit oder Behutſamkeit.

ßerordentlich vorſichtig, ängſtlich und voll Bedenklichkeiten waren. Auch zwei Banquiers zu Wien, die ihre Geſchäfte mit großer Vorſicht führten und nie eine Unternehmung machten, ohne vor allen Wechſelfällen gedeckt zu fein, be— ſaßen das Organ in ſehr ſtarker Entwickelung. Bei Mili— tärperſonen, welche kein anderes Verdienſt hatten als eines Handſtreichs fähig und gute Parteigänger zu ſein, fand

Gall es ungewöhnlich klein, dagegen groß bei allen Anfüh—

rern, welche ſich den Ruf, große Generale zu ſein, erwor— ben hatten und deren Unternehmungen weit voraus berechnet waren. Spätere Beobachtungen beſtärkten ihn in ſeiner Vermuthung, daß dieſes Organ der Sitz der Sorglichkeit ſei.

Das Organ iſt beinahe durchgehends groß bei Kindern und ſcheint daher ſchon in zartem Alter mehr entwickelt zu ſein als manche andere Organe: eine weiſe Vorſorge der Natur, da nie mehr Vorſicht zur Sicherheit des Men— ſchen erfordert wird, als während der hülfloſen Zeit der Kindheit. Kinder, welche reichlich damit ausgeſtattet ſind, kann man ſicher ihrer eigenen Obhut anvertrauen; wäh— rend ſolche, bei denen es mangelhaft iſt, trotz aller Auf— ſicht, ſich immer in Gefahren ſtürzen werden.

An dem germaniſchen Kopfe, den engliſchen und ſchot— tiſchen mit eingeſchloſſen, iſt das Organ im Verhältniß zu dem franzöſiſchen groß. Es iſt größer am Kopfe der Frau als an dem des Mannes. Groß insbeſondere an den Köpfen der Thiere, welche ſich nur bei der Nacht herauswagen, wie die Eulen und Fledermäuſe, welche zu ihrer Sicher— heit Schildwachen ausſtellen, wie die wilden Gänſe, Gem— ſen, Kraniche, Staare und Weihen, größer am Kopfe des Weibchens als des Männchens, und bei allen Thier-Claſſen, von welchen dieſes nachgewieſen iſt, wie z. B. den Katzen, Eichhörnchen, Bären u. ſ. w. iſt es bekannt, daß in der Regel 10 oder 20 Männchen gefangen oder getödtet wer— den, bevor ein Weibchen den Nachſtellungen der Jäger erliegt.

Bei Menſchen und Thieren findet ſich in Betreff der Sorglichkeit eine große Verſchiedenheit. Einzelne Thiere

Sorglicheit oder Behutſamkeit. 129

zeichnen ſich aus durch ihre Vorſicht, während andere in alle ihnen geſtellte Fallen gehen. Der Fuchs z. B., wel— cher junge Wildſchweine entdeckt hat, ſpringt, ehe er dieſel— ben wegnimmt, mit einer, dem Gewichte dieſer Thiere un— gefähr gleichen Laſt, auf den Aſt eines Baums, um gewiß zu ſein, daß er der Verfolgung des Mutterſchweins entge— hen kann. Verfehlt er im Springen ſeine Beute, ſo übt er ſich im Springen und mißt die Entfernungen, um ein anderes Mal glücklicher zu ſein. Die Taube fliegt, ehe ſie Abends in ihren Schlag zurückkehrt, einige Zeit lang in großen Kreiſen um ihn, um zu ſehen, ob keine Raubthiere zu fürchten ſind, und andern Tauben, die ſich im Felde verſpätet haben, ein Zeichen zum Rückzug zu geben.

Eine mittlere Gabe der Sorglichkeit iſt zu einem vor— ſichtigen, beſonnenen und überlegten Benehmen durchaus nothwendig. Sie macht aufmerkſam auf drohende Gefah— ren, wodurch dieſe allein bei Zeiten bekämpft und beſiegt werden können. Aus einer momentanen ſtarken Aufregung dieſes Gefühls entſteht die Furcht, und wenn ſie die Schran— ken der Selbſtbeherrſchung überſteigt, die Angſt und der Schrecken. In Verbindung mit vorherrſchendem Empfin— dungsvermögen, namentlich bei nervöſem Temperamente ent— wickelt ſich aus der Sorglichkeit, je nach der Verſchieden— heit ihrer Stärke in verſchiedenen Abſtufungen: Furchtſam— keit, Aengſtlichkeit und Schreckhaftigkeit; dagegen in Ver— bindung mit vorherrſchendem Beobachtungs- und Denk— vermögen, namentlich bei vorwaltendem biliöſen Tempera- ment, Vorſicht, Beſonnenheit, Klugheit in Wort und That. Eine krankhafte Aufregung dieſes Triebs führt die peini— gendſten Beſorgniſſe und Beängſtigungen herbei, welche, ſo grundlos ſie immer ſind, eben weil ſie nicht aus dem Verſtande, ſondern aus einem Gefühle und deſſen Organe hervorgehen, durch Verſtandesgründe eben ſo wenig beſeitigt werden können als die Gefühle irgend eines Schmerzes, welche ſich aus der Verletzung eines andern Theils des Kör— pers entwickeln. So ertheilte Gall in Wien zwei Familien—

9

130 Sorglichkeit oder Behutſamkeit.

vätern ärztliche Hülfe, die in großem Wohlſtande waren, ſich deſſen ungeachtet aber Tag und Nacht ängſtigten, weil, wie ſie ſagten, ihre Frauen und Kinder Hungers ſterben müß— ten. Schon vor ihrer Krankheit waren ſie übrigens als mißtrauiſche, alles ſchwarz ſehende Menſchen bekannt. Die Melancholie iſt nichts als eine krankhafte Aufregung dieſes Gefühls, welche oft durch irgend ein trauriges Ereigniß her— beigeführt wird, nach den Umſtänden ſich im Laufe der Zeit

beruhi er i ahnſinn ausartet. In den mei Ir⸗ beruhigt oder in Wahnſinn a tet. In den meiſten Ir

renhäuſern giebt es Melancholiſche, welche überall unſicht— bare Feinde ſehen, in beſtändiger Angſt ſind und ſich ſo— wohl vor Menſchen als Geſpenſtern fürchten). Wenn das Organ vorherrſchend thätig iſt, fo giebt es dem Körper eine Rich— tung nach oben und hinten; der Menſch ſtellt ſich auf die Zehen, in einer dem Acte der Gefahr entgegengeſetzten Richtung. Die Augen weit offen, eilen von einer Seite zur andern, der Kopf und mehr oder weniger der ganze Körper nimmt an dieſer rotirenden Bewegung Antheil. In Verbindung mit ſtarkem Zerſtörungstriebe führt übertriebene Sorglich— keit häufig zum Selbſtmorde. Als Hr. Georg Combe in England und Amerika Vorleſungen hielt, kamen verſchie— dene Perſonen, welche dieſelben gehört, zu ihm und ſag— ten ihm, daß ſie den von ihm beſchriebenen Empfindun— gen krankhafter Aufregung dieſes Organs ausgeſetzt ſeien, und einen großen Troſt darin fänden, zu vernehmen, daß dieſe Gefühle nicht auf eine Geiſteszerrüttung, ſondern nur auf eine Störnng eines Organs des Gehirns hinwieſen. Bei angemeſſener, nach dieſem Geſichtspunkt eingreifender Heilmethode wurden ſie geheilt, während bei anderer Be— handlung zu befürchten geweſen wäre, daß ſich Wahnſinn aus ihren krankhaften Zuſtänden entwickeln möchte. Menſchen dagegen, welche ſehr wenig Sorglichkeit be— ſitzen, entbehren des Inſtincts, der ſie auf Gefahren auf— I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 254 275. Combe's

Syſtem S. 226. Spurzheim, on Phrenology p. 179 - 187. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol, IV p. 316 377. z

Das Wohlwollen. 131

merkſam macht, und werden in der Regel früher oder ſpä— ter in der einen oder andern Weiſe Opfer ihrer mangeln— den Umſicht.

$. 20. 13. Das Wohlwollen ).

Das Organ dieſes Gefühls liegt an der Tafel III, V und VI des Gall'ſchen Atlas mit XIII bezeichneten Stelle. Aeußerlich zeigt es ſich an der oberen Seite des Stirnbeins, unmittelbar vor der Fontanelle und bildet, in der Mitte

1) Fig. 32. Fig. 33. Wohlwollen groß. Wohlwollen klein.

Robert Burns. Der Mötder Griffiths, Wohlwollen groß. Fig. 34. RR

Euſtache, ein Neger von St. Domingo. 9 *

152 Das Wohlwollen.

des Hauptes, einen Theil der Wölbung der Scheitelgegend. Es iſt leicht zu erkennen und giebt, wenn es groß iſt, die— ſer Gegend eine in runder Form ſich erhebende Schwellung. Wenn es klein iſt, ſo iſt der über der Stirn ſich erhebende Theil des mittlern Hauptes niedrig, flach und eingedrückt.

Dr. Gall entdeckte dieſes Organ zuerſt an dem Kopfe eines Bedienten, Namens Joſeph, der ſich im Laufe einer zehnjährigen Dienſtzeit von ſeiner Herrſchaft das Lob ei— ner unverwüſtlichen, ſeltenen Herzensgüte erworben hatte. Deſſen Kopfbildung machte ihn aufmerkſam auf diejeni— gen eines jungen Mannes, den er ſeit ſeiner erſten Kind— heit kannte und der ſich durch dieſelbe Eigenſchaft auszeich— nete. Einen dritten Fall eines durch unendliches Wohlwollen nicht minder ausgezeichneten Gemüths, an welchem ſich wie an den beiden anderen Köpfen, ungeachtet mannigfaltiger ſonſtiger Verſchiedenheit das hier beſprochene Organ ſehr groß fand, beſtätigte die Vermuthungen Gall's über deſſen Lage. Jetzt iſt daſſelbe durch tauſende ſpäter erfolgter Beob— achtungen über allen Zweifel erhoben.

Das Organ iſt klein bei Menſchenſtämmen, welche ſich durch Mangel an Wohlwollen auszeichnen, z. B. den Ca— raiben ') und nordamerikaniſchen Indianern); groß bei Solchen, welche dieſes Gefühl in beſonderer Stärke beſitzen.

1 Fig. 35. MR Fig. 36. Wohlwollen kein. Wohlwollen klein.

Car aibe.

Nordamerikaniſcher Indianer.

Das Wohlwollen. 133

In den Abbildungen des Tiberius, Caligula, Carra— calla, Nero, Danton und Robespierre tritt der Mangel dieſes Organs recht ſchlagend hervor, während im Gegentheil es ſich in demjenigen Trajan's, Marc Aurel's und des franzö— ſiſchen Heinrich des Vierten in beſonderer Größe darſtellt. Es iſt umgeben von den Organen der Ehrerbietung, der Nachahmung und der Vergleichung.

Das dieſem Organ entſprechende Gefühl erzeugt die Neigung, unſere Mitgeſchöpfe zu lieben, bei ihren Tugen— den zu verweilen und über ihre Laſter hinwegzuſehen. An— hänglichkeit kettet uns an Freund und Vaterland, aber Wohlwollen bringt uns das ganze Menſchengeſchlecht nahe. Es verleiht uns Gefühl für die Leiden Anderer und den Wunſch, ſie zu lindern; es macht uns theilnehmend für ihre Freuden und thätig, ihnen ſolche zu bereiten. Es treibt uns zu helfen, wo wir können, und von unſern Mitmen— ſchen Unrecht ohne Haß und Rache zu dulden, wo wir müſſen; es iſt die Quelle der Nachgiebigkeit im häuslichen und geſelligen Leben. Nur wer Wohlwollen beſitzt, wird zarte Rückſicht auf die Lebensgewohnheiten, Eigenthümlich— keiten und Bedürfniſſe ſeiner Freunde und Genoſſen neh— men, wird mild in ſeinem Urtheil ſein und ſeinen Einfluß benutzen, dem Wunſche Anderer Erfüllung zu bereiten. Der üblen Laune, dem Stolze und der Eitelkeit ſetzt das Wohl— wollen Schranken, dem Ernſte giebt es eine Beimiſchung von Heiterkeit, der Strenge eine glattere Form, der Höf— lichkeit ihren eigentlichen Gehalt. Die Schwerfälligkeit er— hält durch das Wohlwollen einen Ausdruck, der ſie vergeſ— ſen macht. In Verbindung mit dem Leichtſinn begründet es die Hoffnung auf Beſſerung. Ueberall erweckt es Ver— trauen, Zuneigung und Gegenliebe, wo es ſelbſt nicht in tiefem Schlummer liegt. Es iſt eine reiche Quelle der Glückſeligkeit, es verleiht allen Eindrücken von außen einen freundlichen, lieblichen Charakter, ſtimmt die Seele zur Dankbarkeit für die Freuden, die uns unſere Mitmen— ſchen bereiten, zur Großmuth und Verſöhnlichkeit gegen

134 Das Wohlwollen.

Feinde, es nimmt auch Fremde in den Kreis der Liebe auf und verhütet kalte Abſperrung nach außen hin. Es iſt die Grundlage der Nächſtenliebe, wie ſie Paulus 1 Cor. 13 ſo ergreifend ſchildert ). Die Liebe vereint, während die Gleich— gültigkeit entfernt und der Haß ſcheidet.

Mangel an Wohlwollen bringt zwar nicht Grauſam— keit oder irgend ein ſelbſtthätig ſchlechtes Gefühl hervor, allein er läßt alle eben beſchriebenen Erſcheinungen nicht zu Tage kommen. Ein durch Verſtand und Gewiſſenhaftigkeit nicht gezügeltes Wohlwollen führt dagegen zur Verſchwen— dung, unbeſonnener Nachgiebigkeit, Selbſtaufopferung und ſo zum Ruine ſeiner ſelbſt, oft ohne dem Nächſten gedient zu haben.

Es iſt eingewendet worden, daß die Natur nicht zu gleicher Zeit ein Vermögen des Wohlwollens und ein ande— res der Zerſtörung in daſſelbe Gemüth gepflanzt haben könne. Allein hat ſie nicht in dieſelbe Welt Regen und Sonnen— ſchein, lachende Fluren und ſchreckende Einöden geſetzt? Das Schwert der Gerechtigkeit, das Werkzeug der Zerſtörung ſoll zu Zwecken des Wohlwollens dienen. Die Kriegsheere führen neben den Kanonen, welche zerſtören, auch Salben, welche heilen, mit ſich. Auf dem Gegenſatze zwiſchen Erſchaffung und Zerſtörung beruht die Welt, durch den Gegenſatz zwi— ſchen Centripetal- und Centrifugal-Kraft werden die Sterne des Himmels in ihren Bahnen gehalten ?).

1) Die Liebe iſt langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibet nicht Muthwillen, fie blähet ſich nicht; fie ſtel— let ſich nicht ungeberdig; ſie ſuchet nicht das Ihre, ſie läßt ſich nicht erbittern; ſie trachtet nicht nach Schaden. Sie verträgt Alles, ſie duldet Alles. Die Liebe hört nimmer auf.

2) Gall's vollftändige Geiſteskunde S. 398. Combe's Syſtem S. 234. Spurzheim, on Phrenology p. 187 190. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 254 327.

Die Ehrerbietung. 135

§. 21. 14. Die Ehrerbietung ).

Den Mittelpunkt der Scheitelgegend des Hauptes nimmt das Organ der Ehrerbietung ein. Es wird gebildet durch die Tafel II, III, V und VI des Gall'ſchen Atlas mit XIV bezeichneten Gehirnwindungen, und liegt unter der großen Fontanelle, umgeben von den Organen des Wohlwollens, der Hoffnung und der Feſtigkeit. Ueber ſeine Entdeckung giebt uns Gall folgenden Bericht. Seines Vaters Familie beſtand aus zehn Kindern, die beim Genuſſe derſelben Er- ziehung doch ſehr verſchiedene Talente und Neigungen hat— ten. Einer ſeiner Brüder zeichnete ſich ſchon von Kindheit an durch einen ſtarken Hang zur Religion aus. Seine Spielſachen waren Kirchengeräthe, das er ſelbſt aus Holz ſchnitzte, Meßgewänder und Chorhemden aus Papier. Er betete und ſagte den ganzen Tag über die Meſſe, und konnte er nicht die Kirchen beſuchen, ſo beſchäftigte er ſich damit, zu Hauſe ein Crucifix von Holz zu ſchnitzen und zu ver— golden. Sein Vater hatte ihn zum Handel beſtimmt, er hatte aber dagegen eine Abneigung, weil, wie er ſagte, die— fer Stand oft nöthig mache, zu lügen. Im dreiundzwan- zigſten Jahre hielt er es nicht länger aus, und da er keine

1) Fig. 37. Fig. 38. Wohlwollen und Feſtigkeit groß, Ehrerbietung groß. Ehrerbietung mangelhaft.

Ein Mädchen.

Dr. Hette.

156 Die Ehrerbietung.

Hoffnung hatte, feine Studien machen zu dürfen, fo ent— floh er aus dem Hauſe und wurde Eremit. Nun erlaubte ihm, auf Dr. Gall's Bitten, ſein Vater zu ſtudiren. Fünf Jahre nachher empfing er die Weihe und bis an ſein Ende lebte er unter Uebungen und Büßungen. Auch in den Schulen bemerkte Gall, daß unabhängig von andern Ga— ben, manche Schüler keine Empfänglichkeit für religiöſen Unterricht haben, während andere ſehr begierig darnach ſind, daß diejenigen, welche ſich dem geiſtlichen Stande widmen, entweder junge, gern ſtudirende, fromme, ehrbare und gewiſ— ſenhafte Leute ſind, die einen innern Beruf zu dieſem Stande haben, oder ſchlechte, träge und talentloſe Menſchen, welche nur die Abſicht hegen, ſich auf Koſten Anderer zu ernäh— ren. Bei den erſten entſtand die Neigung, ohne daß man wußte wie, und die meiſten beſtimmten ſich gegen die Ab— ſicht ihrer Eltern zum geiſtlichen Stande.

Dieſe Thatſachen führten Dr. Gall zu der Ueberzeu— gung, daß es eine angeborene Neigung zur Religion gebe. Später beſuchte er dann die Kirchen aller Sekten und faßte beſonders ſolche Individuen ins Auge, die mit der größten Wärme beteten, oder aber gänzlich in ihre religiöſen Beob— achtungen verſunken waren, und es ergab ſich daraus die Beſtimmung des erwähnten Gehirntheils als Organ der Ehrerbietung. .

Das Organ ift groß bei den Hindus), den Negern?)

1) Fig. 39. 2) Fig. 40. Ehrerbietung groß.

Neger. Hindu.

Die Ehrerbietung. 137

und den nordamerikaniſchen Indianern), während ihre Dr: gane des Schluß-Vermögens klein ſind und alle drei Natio— nen ſind zum Aberglauben hingeneigt. Es iſt im Allgemei— nen ſtärker entwickelt bei Frauen als bei Männern, und es iſt nicht zu verkennen, daß ſie das entſprechende Gefühl im Allgemeinen ſtärker beſitzen als die Männer. Dr. Gall be— merkt, daß auf den Bildern von Heiligen), welche ſich durch Andachtsgefühl auszeichneten, das Organ ſtark her— vortrete, und daß dieſelbe Kopfbildung auch von den alten Künſtlern ihren hohen Prieſtern beigelegt worden ſei. Auch die Bildung der Chriſtusköpfe Raphael's zeigt dieſes Organ in ſtarker Entwickelung. Es findet ſich groß an den Köpfen Conſtantin's, Antonius des Frommen, der Heili— gen Chryſoſtomus, Ambroſius und Anaſtaſius, des Königs

1) S. Fig. 36. S. 132. 2) So erſcheint es namentlich ſehr groß an dem Bilde St. Jo— hannis auf dem Abendmahl von Leonardo da Vinci.

Fig. 41.

||

138 Die Ehrerbietung.

Stephan 1. von Ungarn, Guſtav Adolph's, Lavater's, Milton's und Klopſtock's. Oft iſt dieſe Bildung des Ko— pfes mit ſchwachem Haarwuchſe oder einer ſogenannten Platte verbunden.

Das Gefühl der Ehrerbietung begründet im Menſchen den Drang, den Blick nach etwas Höherm zu richten, es zu verehren und anzubeten. Den Gegenſtand ſeiner Ver— ehrung weiß es jedoch nicht ſelbſt zu prüfen, denn dieſes liegt außerhalb des Bereichs dieſes Gefühls. Wie das Wohlwollen, ſo unterſucht auch die Ehrerbietung nicht, ob ihr Gegenſtand der ihm gewidmeten Gefühle würdig iſt. Denn unterſuchen und prüfen iſt die Aufgabe anderer gei— ſtigen Vermögen. Das Wohlwollen wird zunächſt durch die Leiden der Mitwelt zu thätiger Beihülfe, durch ihre Freuden zu lebendigem Mitgefühl aufgefordert. Es kann ſich aber über ſeinen Gegenſtand täuſchen, verſtellte Leiden für wahre, erkünſtelte Freuden für wirkliche halten, und ſo auch die Ehrerbietung. Der natürliche Gegenſtand dieſes Gefühls iſt das Erhabene, das Große, das Mächtige in allen ſeinen Modificationen. Der Menſch mit vorherrſchen— der Furcht wird das Furchtbare, der Menſch mit vorherr— ſchender Hoffnung das Erhabene verehren, welches ihm eine freudige Zukunft verſpricht. Der Menſch mit vorherrſchen— dem Wohlwollen wird ſeine Gebete an einen allgütigen Vater im Himmel richten, der Menſch mit vorherrſchendem Zerſtörungstrieb an den Gott, der bis ins dritte Glied die Sündigen ſtraft. Der denkende Menſch wird nur dasjenige verehren, was das Denkvermögen für verehrungswürdig er— klärt, der gedankenloſe wird ſelbſt durch einen Klotz, einen Steinblock, ein von Menſchenhand gemachtes Bild nicht auf den Gedanken gebracht, daß der Gegenſtand ſeiner Vereh— rung, zu dem er als einer höhern Macht aufblickt, tief un— ter ihm ſteht, der Kraft ſeines Armes nicht widerſtehen könnte.

Nur wer das Gefühl der Ehrerbietung beſitzt, wird Empfänglichkeit hegen für das Wort, das ihm das Erha— bene verkündigt, oder für die Ereigniſſe, welche es ihm vor

Die Ehrerbietung. 139

die Augen führen; nur er wird geneigt fein, überall eine höhere Macht als die Urheberin der Wechſelverhältniſſe des Lebens zr verehren. Nur er wird ſich beſtreben, dem Wil— len dieſer höhern Macht zu huldigen und danach ſein Leben einzurichten. Die Ehrerbietung bildet daher die eigentliche Grundlage der Religioſität. Was das Wohlwollen den Gleichen gegenüber, iſt die Ehrerbietung den Höheren ge— genüber. Was dort Beiſtand und Mitgefühl, iſt hier Dienſt, Ergebung und Lobpreiſung. Sie erfüllt uns mit Vertrauen und Zuverſicht in die Führungen, die uns unerforſchlich ſind, mit Troſt im Leiden und ehrerbietiger Dankbarkeit für die Gaben, die uns von oben kommen. Sie iſt die Quelle der Demuth, die im Herzen wohnt und die Gott nur ſieht, und der Beſcheidenheit, die gern zurückſteht. Sie verleiht dem Gefühle der Kinder gegen die Eltern, der Schüler ge— gen die Lehrer, der Unterthanen gegen die Obrigkeit den— jenigen Ernſt und diejenige Gemeſſenheit, welche die Ver— ſchiedenheit der Stellung bedingt. Sie bildet die Grund— lage ausdauernder Verehrung gegen die Fürſten, auch nach— dem die Sonne des Glücks aufgehört hat, ihnen zu ſchei— nen; die Jakobiten in England und die Carliſten in Frankreich bieten hiervon ſprechende Beiſpiele. Ohne dieſes Gefühl könnte keine gegliederte Geſellſchaft beſtehen. Wenn das Organ in vorwaltender Thätigkeit iſt, giebt es dem Kopfe und allen andern Theilen des Körpers eine Richtung nach vorn und oben. Das Auge blickt zum Himmel, die Arme erheben ſich, die gefalteten Hände nehmen Theil an der Rich— tung des Kopfes, der Blicke und der Arme. Die Stimme iſt ſanft, der Ausdruck ruhig und anbetungsvoll. Die Ge— bete, welche aus der Wirkſamkeit dieſes Organs hervorge— hen, haben einen ganz andern Charakter als diejenigen, welche der Ausfluß eines kalten Verſtandes, einer erheuchel— ten Frömmigkeit oder der Intoleranz ſind. Letztere werden die natürliche Sprache der Intelligenz, des Verheimlichungs— triebs und des Zerſtörungstriebs ſprechen.

Den eigentlichen Gegenſatz der Ehrerbietung bildet das

|

140 Die Ehrerbietung.

Selbſtgefühl. Jene richtet die Blicke von ſich hinweg nach oben und iſt geneigt, höhern Werth anzuerkennen, dieſe will nichts über ſich wiſſen. Wer viel Ehrerbietung und wenig— Selbſtgefühl beſitzt, wird immer geneigt ſein, Gutes von Demjenigen zu glauben, was Andere thun und ſich unter deren Leitung zu ſtellen, ſelbſt dann, wenn ſie die Sache beſſer verſtehen. Im demokratiſchen Staate iſt das Selbſt— gefühl, im monarchiſchen die Ehrerbietung vorherrſchend. Wem die Ehrerbietung fehlt, der wird nicht geneigt und bereit ſein, ſich den Fügungen Gottes zu ergeben und dem irdiſchen Machthaber Folge zu leiſten. Wer ſie dagegen in hohem Grade beſitzt, ohne ein entſprechendes Denkvermögen, Wohlwollen oder Gewiſſenhaftigkeit, verfällt leicht in Bi— gotterie, Aberglauben, Verehrung alter Sitten und Ge— bräuche und aller noch ſo abgeſchmackter, wenn nur durch die Zeit und äußere Anerkennung geheiligter Einrichtungen. Sie erzeugt in ſolchem Falle das Anſtaunen großer Namen und Autoritäten in der Religion und Philoſophie, und hemmt dadurch die Fortſchritte der Wahrheit.

Eine krankhafte Erregung dieſes Organs führt nicht ſelten Geiſteszerrüttung herbei. Solche Kranke quälen ſich bei vorwaltender Sorglichkeit mit Skrupeln über ihren Glau— ben, Angſt für ihr Seelenheil oder die Furcht, zur Sünde beſtimmt zu ſein, während bei vorwaltender Hoffnung ſie bereits von eingebildeter Seligkeit ſtrahlen und ſich im Pa— radieſe oder im Himmel wähnen ).

Manche Metaphyſiker haben zwar dieſes Gefühl auf den Verſtand zurückführen wollen, allein augenſcheinlich mit Unrecht, denn der Verſtand bietet ebenſowenig für deſſen Ausartungen als für deſſen normale Entwickelung, wie wir ſie eben beſchrieben, irgend einen Erklärungsgrund. Dort ſteht die Ehrerbietung im Widerſpruch mit dem Denkver— mögen, und hier iſt es viel zu kalt für die lebenswarmen

1) Zwei intereſſante auf dieſes Organ bezügliche Fälle theilt die Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 4. S. 467 ff. mit.

Die Ehrerbietung. 141

Erſcheinungen ihrer Thätigkeit. Da die Natur ſelbſt das Organ der Ehrerbietung in das Gehirn und deſſen entſpre— chendes Gefühl in die Seele des Menſchen gepflanzt hat, ſo iſt die Beſorgniß, daß die Religion durch Beweisgründe, Spott oder Hohn je vertilgt oder auch nur gefährdet wer— den könnte, ungegründet. Die Formen der Andacht mögen ſich ändern, beſondere religiöſe Satzungen, welche eben jetzt an der Tagesordnung ſind, mögen in Verfall gerathen, ſo lange aber dem Menſchen an Leib und Seele die Bildung bleibt, die er jetzt beſitzt, ſo wird er immer den Drang fühlen, nach etwas Höherm aufzublicken, nach einem Sterne in der Nacht, nach einem Anker in der Noth. Auf die— ſem Drange hauptſächlich beruht die Religion, und gleich— wie jedem Drange, der in der Bruſt des Menſchen wohnt, ein äußerer Gegenſtand entſpricht, dem Nahrungstrieb Speiſe und Trank, dem Farbenſinne die Blumen der Erde und die Sterne des Himmels, ſo entſpricht auch dem Drange der Ehrerbietung ein Gegenſtand und dieſer iſt über allen andern: die Gottheit.

Zu allen Zeiten und überall hat der Menſch ſich zur Gottheit hingezogen gefühlt, und alle Völker haben ein höchſtes Weſen verehrt, das ihre und der Welt Schickſale lenkt. Mit dem Glauben an Gott und dem religiöſen Cul— tus iſt es ebenſo, wie mit allen Gaben und Eigenſchaften, die dem Menſchen durch ſeine Organiſation verliehen ſind. Niemand erfand den Nahrungstrieb, den Farbenſinn und das Sprachtalent, ebenſo wenig erfand irgend Jemand das Verlangen nach Anbetung, das in der menſchlichen Seele wohnt und nur Gegenſtände ſucht, die ihm Genüge leiſten können. Daher ſagen Heiden, Juden und Chriſten überein— ſtimmend, daß Gefühle dieſer Art dem Menſchen angeboren ſind. Moſes, Seneca, Cicero treffen in dieſer Beziehung mit den heutigen Chriſten vollkommen zuſammen.

Je nach der Verſchiedenheit der begleitenden Anlagen wird ſich auch die Ehrerbietung verſchieden äußern. Bei Ludwig XIV., Philipp II., Alba und Andern bewirkte ſie

142 Die Ehrerbietung.

in Verbindung mit dem Zerſtörungstriebe die grauſamſten Verfolgungen anders Glaubender; bei Milton und Klop— ſtock in Verbindung mit der Idealität rief ſie die ſchönſten Gedichte hervor. Bei einem Wollüſtling, welchen Gall kannte, hatte ſie, in Verbindung mit einer ſtarken Ent— wickelung des Geſchlechtstriebs zur Folge, daß er mit Ge— betbüchern ſtatt mit Golde ſeine unerlaubten Freuden be— zahlte. Freilich iſt es leichter, Gebetbücher zu verſchenken, ſie zu leſen, zu faſten und zu büßen, in Kirchen und Bet— häuſer zu gehen, als tugendhaft zu leben. Daher werden immer diejenigen Religionsſtifter und Prediger, welche auf äußere Uebungen das größte Gewicht legen, die Maſſen auf ihrer Seite haben, während diejenigen, welche mit Chriſtus vor allen Dingen auf einen reinen Wandel dringen und das Beiſpiel deſſelben geben, vereinzelt ſtehen werden!). Die Deutſchen beſitzen dieſes Organ verhältnißmäßig ſehr ſtark entwickelt. Dieſem Umſtande iſt es in nicht ge— ringem Maße zuzuſchreiben, daß ſie ſich von ſo manchen Einrichtungen nicht trennen, welche nichts für ſich haben als die Glorie des Alters: daß Carl's V. peinliche Halsgerichts— ordnung und viele ähnliche von allen denkenden und füh— lenden Männern längſt verworfene Satzungen noch immer mehr oder weniger unmittelbare praktiſche Bedeutung haben.

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 426—435. Spurzheim, observ. p. 191 198. Combe's Syſtem ©. 246. Spurzheim, on Phrenology p. 191—196. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 352 - 399.

Die Feſtigkeit. 145 9 22. | 15. Die Feſtigkeit ).

Das Organ dieſes Gefühls liegt am hintern Theile der Scheitelgegend des Kopfes, gerade auf der Mittellinie umgeben von den Organen der Ehrerbietung, der Gewiſſen— haftigkeit und des Selbſtgefühls. Es wird gebildet durch die auf den Tafeln II, III, V und VI mit XIII bezeichne— ten Windungen des Gehirns.

Gall bemerkte, daß Leute von feſtem und beſtändigem Charakter dieſen Gehirntheil bedeutend entwickelt zeigten, und Lavater hatte ebenfalls ſchon früher dieſelbe Formbil— dung bei dieſer Art Anlage beobachtet. Namentlich fand es Gall groß an dem Kopfe eines ſehr verhärteten Straßen— räubers, der ſich, um den Qualen der Gefangenſchaft und der Schläge zu entgehen, lieber ſelbſt erhängte, als ſeine Mitſchuldigen anzugeben; desgleichen groß an einem ent— ſchloſſenen Dieb in Straßburg, der ſich ein ganzes Jahr lang ſtumm geſtellt hatte.

Dieſes Organ iſt ſtark entwickelt am Kopfe der Ca— raiben!), welche ſich bei gänzlichem Mangel an Intelligenz

1 Fig. 42. Fig. 43. e ers Feſtigkeit klein. . Mrs H. 56 eee e et N) ) al } un y 6 N * 0 ö DE N 669 00 g cn La Al NUN ZN FTT - RE Hr. N. N Frau H.

2) S. oben S. 132. Fig. 34.

144 Die Feſtigkeit.

doch durch unerſchütterliche Charakterfeſtigkeit ausgezeichnet haben, ſo daß ſie ſich allein unter allen amerikaniſchen Stämmen von den Portugieſen und Spaniern nicht unter— jochen ließen. Auch der nordamerikaniſche Indianer!) beſitzt dieſes Organ in ſtarker Entwickelung, jedoch in Verbindung mit dem Verheimlichungstriebe, welche Verbindung es er— klärt, daß derſelbe die unerträglichſten Qualen zu ertragen vermag, ohne ein Zeichen des Schmerzes von ſich zu geben.

Eigenſinnige Kinder haben es gleichfalls ſtark entwickelt.

Beim Vorwalten dieſes Organs zeigt ſich eine beſon— dere Härte des Ausdrucks, Geradheit und Steifheit der Hal— tung und ein rauher, ſtarker Ton der Stimme.

Das demſelben entſprechende Gefühl beruht auf dem Drang zu beharren und verleiht daher der Handlungsweiſe Entſchiedenheit, Beſtimmtheit und Nachdruck, während es dem Leidenden die Kraft giebt, das Unvermeidliche mit Stärke zu ertragen. Wenn uns das Wohlwollen zur Hülf— leiſtung auffordert, ſo wird die Feſtigkeit dieſer Aufforde— rung nachhaltige Kraft verleihen. Sie wird uns abhalten, einen zu dieſem Zwecke gefaßten Plan leicht mit einem an— dern zu vertauſchen, vielmehr uns drängen, auf dem ein— mal betretenen Wege weiter fortzuſchreiten. Wenn aber unſer Plan ſcheitert und wir vielleicht noch verſpottet, wenn unſere Abſichten in Zweifel gezogen und ſchlimm gedeutet werden, ſo wird die Feſtigkeit uns in unſerm Innern auf— recht erhalten. Sie wird uns nicht erlauben, ſelbſt zweifel— haft zu werden, ob wir recht gethan; ſie wird unſern Muth nicht ſinken laſſen, wird dem Spotte einen Schild entge— genſetzen, an dem er abprallt, den Zweifeln eine Entſchie— denheit, welche ſie verſcheucht. Sie wird uns Kraft ver— leihen, bei der erſten Gelegenheit von neuem wirkſam auf— zutreten, um vielleicht das zweite, dritte Mal zu erringen, . was das erſte Mal nicht erlangt werden konnte.

1) S. oben S. 132. Fig. 36. B

Die Feſtigkeit. 145

Der Menſch, welcher ſtarkes Wohlwollen beſitzt ohne Feſtigkeit, wird zwar auch nicht gleich durch das erſte Fehl— ſchlagen eines Plans von der Bahn des Wohlwollens ab— geſchreckt werden. Allein er wird in den Mitteln zu ſeinen Zwecken ſchwanken; er wird heute auf dieſe, morgen auf jene Weiſe ſie zu erreichen ſtreben. Er wird nach einem fehlgeſchlagenen Verſuch einige Zeit oder doch eine erneute Aufforderung an ſein Wohlwollen abwarten, bevor er ſich wiederum zur Thätigkeit ermannt. Das Scheitern des Plans wird ihm nicht blos weh thun, ſondern er wird ſich dem Schmerz darüber auch leicht hingeben und darüber die Zeit zu einem neuen Verſuche verſtreichen laſſen, weil ihm die Faſſung dazu fehlt. Der feſte Menſch wird zwar auch den Schmerz über eine fehlgeſchlagene Hoffnung empfinden, aber er wird ihm nur ein Sporn zu erneuter Anſtrengung, während er dem nicht feſten einen Zaum anlegt, welcher ſelbſt die andern Gefühle zügelt, die ihn zu neuer That— kraft auffordern möchten.

Die Feſtigkeit kann zwar keine nach außen hin wir— kenden Gefühle ſchaffen, allein ſie wird die vorhandenen in ihren Aeußerungen kräftigen. Sie erzeugt in Verbindung mit dem Bekämpfungstriebe ausdauernde Kampfluſt, in Verbindung mit dem Erwerbtriebe raſtloſe Erwerbthätigkeit, in Verbindung mit Gewiſſenhaftigkeit unbeugſame Recht— lichkeit. Sie wird da, wo mehrere gleich mächtige Gefühle in der Bruſt eines Menſchen wohnen, demjenigen ſich bei— geſellen, welches in Wirkſamkeit tritt, und ihm Nachdruck verleihen. Sie wird dadurch ein unaufhörliches Schwanken verhüten, welches ohne Feſtigkeit bei verſchiedenartigen, in derſelben Menſchenbruſt wogenden Gefühlen ſtattfindet.

Uebrigens muß man ſich hüten, Charakterfeſtigkeit mit Ausdauer in Befriedigung der vorherrſchenden Geiſtes-An— lagen zu verwechſeln. Jede vorherrſchende Geiſtes-Anlage wird ſich mit einer ihrer Kraft entſprechenden Energie gel— tend machen. Allein die Feſtigkeit unterſcheidet ſich dadurch von jeder andern Geiſtes-Anlage, daß ſie nicht blos einer,

2 10

146 Die Feſtigkeit.

ſondern allen vorhandenen und in Thätigkeit tretenden Geiſtes-Anlagen Nachdruck verleiht. Der Menſch- mit ſtar— kem Bekämpfungstriebe, aber ohne Feſtigkeit wird wohl eine der Stärke jenes Triebs entſprechende Kampfluſt be— thätigen, aber andere minder ſtarke Triebe werden ſich in verhältnißmäßiger Schwäche äußern, und auch jener ſtarke Trieb wird ohne Feſtigkeit der Ausdauer, der Entſchieden— heit und der Beſtimmtheit entbehren; er wird in der Wahl ſeiner Waffen, in der Entwerfung ſeiner Pläne unſtät und ſchwankend ſein, heute wird er dieſen, morgen jenen Kampf beginnen, ohne den einen oder den andern mit ausdauern— der Kraft durchzufechten.

Der Menſch ohne Feſtigkeit giebt leicht den Eingebun— gen ſeiner vorherrſchenden Gefühle augenblicklich nach. Wird ſein Wohlwollen angeſprochen, ſo ſehen wir nur Güte und Liebe, wird ſein Bekämpfungs- und Zerſtörungstrieb ange— regt, ſo erſcheint leidenſchaftlicher Zorn und zügelloſe Hef— tigkeit; allein in demſelben Maße, als dieſe Erſcheinungen leicht erweckt werden, fehlt es ihnen an nachhaltiger Kraft. Daher iſt er ein Spielball der Verhältniſſe. Er huldigt jedem herrſchenden Idole. Beſtändig blos in der Unbeſtändig— keit, vertauſcht er mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit eine Farbe mit der andern. Er iſt der Mann aller Par— teien und wird natürlich von Allen verachtet.

Auf der andern Seite läßt ein hoher Grad von Fe— ſtigkeit die Schalen der geiſtigen Wage nicht ſo ſchnell ſin— ken und ſteigen, als die Umſtände bisweilen erfordern. Bei einem Mann von ſolchem Charakter wird es daher allzu ſchwer, irgend einen Umſchwung herbeizuführen, und es ent— ſteht Eigenſinn, Unbeugſamkeit, Halsſtarrigkeit. Die Bei— ſpiele gelten nichts für ihn; er iſt eben ſo ſchwer zu ver— führen als zu beſſern, Drohungen und Gefahren erſchüttern ihn nicht.

Die Organe der Feſtigkeit, des Selbſtgefühls und des Einheitstriebs bilden eine Gruppe, welche keinen unmittel— baren Bezug auf äußere Gegenſtände hat. Sie fügen nur

Die Gewiſſenhaftigkeit. 147

den übrigen Vermögen der Seele eine beſondere Eigenſchaft hinzu: das Selbſtgefühl, die vorwaltende Berückſichtigung des Ich's, der Einheitstrieb die entſchiedene Richtung nach einem beſtimmten Punkte, die Feſtigkeit das Verbleiben auf demſelben. Die Feſtigkeit verhält ſich zum Einheitstrieb wie das Gefühl zum Triebe, wie das Dauernde zum Mo— mente, wie die Beharrung zur Sammlung.

Schon bei Kindern zeigt ſich eine verſchiedenartige Ent— wickelung dieſes Gefühls. Einige ſind von dem Wunſche, von dem Gedanken, von der Laune, die ſie einmal beherr— ſchen, nicht abzubringen; andere ſpringen von einem Wun— ſche, einem Gedanken, einer Laune unaufhaltſam auf den andern über. Cato von Utica zeigte dieſelbe Feſtigkeit ſchon als Kind, als ihm Pompejus drohte, ihn vom Fenſter her— abfallen zu laſſen, welche ſpäter ihn zum Tode durch ſeine eigene Hand führte, während auf der andern Seite Cicero ſein ganzes Leben hindurch ſchwankte, und weil er es doch nicht Allen recht machen konnte, am Ende als Opfer ſeiner Schwankungen fiel !).

Der feſte Mann mag wohl bisweilen, trotz Keiner Aus: dauer, das Ziel feines Strebens verfehlen. Allein ſeine Bcharrlichkeit wird, vorausgeſetzt, daß ſie auf ein gutes Ziel gerichtet war, immer Achtung gebieten. Der Wankel— müthige mag das ſeinige erreichen, allein es wird ihm we— der Ehre noch dauernden Vortheil bringen.

DE: 6. Die Gewiſſenhaftigkeit. An den hinteren und ſeitlichen Theilen der Scheitel—

gegend des Gehirns, umſchloſſen von den Organen der Sorglichkeit, der Beifallsliebe, der Feſtigkeit und der Hoff—

I) Gall's, vollſtändige Geiſteskunde S. 437. Combe's Syſtem S. 254. /

10

148 Die Gewiſſenhaftigkeit.

nung findet ſich das Organ der Gewiſſenhaftigkeit). Auf Gall's Tafeln iſt die Verrichtung dieſes Theils des Gehirns als unbeſtimmt bezeichnet. Dr. Spurzheim entdeckte die— ſelbe, und es iſt bemerkenswerth, daß er ſich ſehr durch Gewiſſenhaftigkeit auszeichnete. Bei Beobachtung dieſes Organs muß man ſehr aufmerkſam ſein. Wenn das Organ der Feſtigkeit groß und dasjenige der Gewiſſenhaftigkeit klein iſt, fo fällt der Kopf von dem Punkte aus, wo das Or— gan der Feſtigkeit liegt, nach unten in einem ſtarken Win— kel ab. Sind dagegen die Organe der Feſtigkeit und der

1) Fig. 44. Fig. 45. Gewiſſenhaftigkeit groß. Gewiſſenhaftigkeit klein. 15 Mrs H.

David Haggart.

Fig. 46. Wee e Bu r klein.

N 12

anne

Ein lügenhafter Knabe.

Die Gewiſſenhaftigkeit. 149

Gewiſſenhaftigkeit beide groß, ſo erhebt ſich der Kopf von dem Punkte des Organs der Sorglichkeit zu demjenigen des Organs der Feſtigkeit in einer vollen, runden Anſchwel— lung. Wenn jene Organe beide klein ſind, ſo ſteigt der Kopf ſehr wenig über das Organ der Sorglichkeit in die Höhe, und geht flach von dem auf der einen Seite des Kopfes belegenen Theile dieſes Organs zu dem andern hin— über. b

Dieſes Organ findet ſich im Allgemeinen ſtärker ent— wickelt bei den Europäern als bei den Aſiaten und Afri— kanern. Bei den Wilden findet es ſich gewöhnlich ſehr mangelhaft). Es nimmt augenſcheinlich mit ſteigender Civi— liſation zu, und gewiß bildet die Gerechtigkeit, welche der Ausfluß der Gewiſſenhaftigkeit iſt, den hauptſächlichſten Gewinn der höhern Bildung der Völker. Engliſche und ſchottiſche Schädel, welche in großer Menge in alten Be— gräbnißplätzen und auf Schlachtfeldern gefunden wurden und drei- bis vierhundert Jahre alt ſind, zeigen dieſes Or— gan viel mangelhafter entwickelt als im Schädel der Eng— länder und Schotten heutigen Tages ).

Die Gewiſſenhaftigkeit iſt das Gefühl für Recht und Unrecht. Sie bildet die Grundlage der Wahrheitsliebe und der Gerechtigkeit. Sie erzeugt das Gefühl der Pflicht.

1) So z. B. bei dem Eskimeaux. Fig. 47.

N D . Ge

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2) Spurzheim, observations p. 199 206. Combe's Syſtem S. 257. Spurzheim, on Phrenology p. 197 204.

EEE

150 Die Gewiſſenhaftigkeit.

Das Denkvermögen erforſcht die Urſachen und Folgen der Handlungen, die Gewiſſenhaftigkeit beſtimmt ihre Beziehung zu Recht und Unrecht und ertheilt ihnen daher Billigung oder Mißbilligung in unſerm Gemüthe. Sie zeichnet jedem andern Vermögen unſerer Seele die Sphäre vor, innerhalb welcher es ſich frei bewegen darf, deren Ueberſchreitung aber es zum Unerlaubten, Pflichtwidrigen, zum Unrechte führt. Daher geſtattet ſie dem Bekämpfungstrieb Abwehr, verbie— tet ihm aber tückiſchen Angriff. Den zu regen Erwerbtrieb erinnert ſie an die Rechte Anderer, den zu ſchlaffen an die Pflicht der Selbſterhaltung. Dem Wohlwollen, das über— wallend zu Verſchwendung reizt, ſetzt ſie eine Schranke, indem ſie ihm zuruft: ſei gerecht, bevor du großmüthig biſt; das ſchlummernde Wohlwollen erweckt ſie durch den Ruf: es iſt deine Pflicht, dem Unglücklichen beizuſtehen, ob du den Zug dazu im Herzen fühlſt oder nicht. Die Gewiſſen— haftigkeit zeigt ſich im Worte wie in der That, gegen Freund und Feind, gegen Andere und gegen das eigene Ich. Dem Worte verleiht ſie Wahrheit, dem Urtheil Un— parteilichkeit, der That Mäßigung. In die Wagſchale des Freundes legt ſie nicht nur, was für ihn, ſondern auch, was gegen ihn ſpricht; in diejenige des Feindes nicht das Schwert, ſondern das Recht. Sie dringt darauf, daß mit gleichem Maßſtabe dem eigenen Ich wie allen Andern ge— meſſen werde. Sie fügt zum Bewußtſein einer Schuld den Drang, ſie abzutragen; ſie erinnert an das gegebene Ver— ſprechen, die getroffene Verabredung und mahnt, ihnen nachzukommen. Weil ſie Andern gewährt, was ihnen zu— kommt, gebietet ſie die Achtung der Mitmenſchen. Sie ent— kleidet Menſchen, Handlungen und Worte von verdeckendem Putze und bringt ſie in ihrer Nacktheit vor den Richter— ſtuhl, der im menſchlichen Herzen aufgeſchlagen iſt. Aller— dings richtet ſie nicht ſelbſt, dieſes iſt Sache des Denkver— mögens, allein ſie iſt die Wächterin, die Wache hält, daß der Richter feine Schuldigkeit thue. Sie dringt auf Ge- rechtigkeit ohne Anſehen der Perſon, ohne Rückſicht auf

Die Gewiſſenhaftigkeit. 151

Verhältniſſe und ohne andern Zweck, als weil ſie das Rechte liebt, das Unrecht haßt. Sie bildet die Grundlage edler Einfachheit. Sie erzeugt das Verlangen, die Wahrheit zu entdecken, den Takt, die entdeckte zu würdigen, und jenen Glauben an ihre unwiderſtehliche Ueberlegenheit, welcher au gleich Seelenfrieden und Seelengröße giebt:

Weſentlich verſchieden iſt dieſes Gefühl vom Wohlwol⸗ len und von der Ehrerbietung. Es giebt Menſchen, die fromm und wohlwollend und doch nicht gewiſſenhaft ſind, welche Kirchen beſuchen und Almoſen geben und doch ihre Gläubiger nicht bezahlen, ihr Wort nicht halten und das Unrecht, das ſie gethan, nicht ſchmerzlich empfinden. Der gewiſſenhafte Menſch wird dagegen entweder nicht thun, was unrecht iſt, oder hat er in einem unbewachten Augen: blick es doch gethan, ſo wird es ihn ſchmerzen, und dieſen Schmerz nennen wir Reue, Gewiſſensbiß. Weil die Ge— wiſſenhaftigkeit in gleichem Maße vor und nach einer Hand— lung thätig iſt, werden Menſchen, die oft und ſchwer ſich vergehen, ſie ſelten ſtark entwickelt beſitzen. Die Erfahrung zeigt, daß große Verbrecher wohl die Strafe des weltlichen Arms, bisweilen auch die des ewigen Richters fürchten, ohne darum zum Gefühle begangenen Unrechts gelangt zu ſein. Gewiſſenhaftigkeit verhält ſich zur Ehrlichkeit, wie die Beifallsliebe zur Ehre. Jene zur Gerechtigkeit, wie dieſe zur herrſchenden Anſicht.

Iſt dieſes Gefühl ſchwach, ſo iſt die Folge, daß der Menſch, ohne geiſtigen Schmerz zu empfinden, ſeinen vor— waltenden Neigungen fröhnt. Er fühlt nicht, daß er Un— recht thut, wenn er einem Freunde in einer ungerechten Sache beiſteht, oder einem Feinde doppelt und dreifach das Unrecht vergilt, das er von ihm erlitten. Wer mit man— gelnder Gewiſſenhaftigkeit ſtarke Beifallsliebe vereinigt, wird durch keinen innern Wächter an die Niedrigkeit der Schmei— chelei erinnert; wer mit jenem Mangel ſtarkes Selbſtgefühl verbindet, wird ſeinen Uebermuth walten laſſen, ohne zu ahnen, daß er ſich ſelbſt überhebe. Kein Gefühl iſt Den—

152 Die Gewiſſenhaftigkeit.

jenigen, welche wenig Gewiſſenhaftigkeit befigen, unerklär— licher als eben dasjenige, welches die Gewiſſenhaftigkeit hervorruft. Je nachdem bei ihnen dieſe oder jene Eigen— ſchaften vorherrſchend ſind, führen ſie alle Handlungen auf Eigennutz, Ruhmſucht, Berechnung und ähnliche Beweg— gründe zurück, aber ſie können es nicht faſſen, daß ein Menſch aus reiner Liebe zur Wahrheit und zum Rechte Schimpf und Schmach, ja ſelbſt den Tod erdulden könne. Keinen Charakter beurtheilte Napoleon ſo irrig als denje— nigen, der aus bloßen Beweggründen der Rechtſchaffenheit handelte. Es iſt häufig behauptet worden, jeder Menſch habe ſeinen Preis, jeder könne zum Böſen verführt werden, wenn man nur wüßte, was ihm am theuerſten ſei. Wer wenig Gewiſſenhaftigkeit und viel Erwerbtrieb beſitzt, kann allerdings durch irdiſche Güter, wer wenig Gewiſſenhaftig— keit und viel Beifallsliebe hegt, durch Ehrenſtellen und Or— densverleihungen gewonnen werden, er hat feinen Preis. Wer aber mehr Gewiſſenhaftigkeit beſitzt, kann nicht beſto— chen werden, er hat keinen Preis.

Uebertriebene Gewiſſenhaftigkeit führt zur Kleinlichkeit, Selbſtpeinigung, zu nicht endender Scrupuloſität.

Erkrankt das Organ dieſes Gefühls, dann ſteigen die ſchrecklichſten Empfindungen, oft nur eingebildeter Schuld, vor die Seele der Kranken. Der eine glaubt, einen Mord begangen zu haben, der andere, es drücke ihn eine Schuld, die er nicht tilgen könne.

Die Phrenologie entſcheidet den Streit über das Vor— handenſein eines Gewiſſens in dem Innern des Menſchen auf das befriedigendſte und beruhigendſte.

Großartige Beweiſe der Wirkſamkeit dieſes Gefühls gaben Regulus, als er zu den Karthagern, und Ludwig der Baier, als er in die Gefangenſchaft ſeines Gegenkaiſers Friedrich's von Oeſterreich zurückkehrte. Anders waren die Gefühle, welche Franz J. von Frankreich leiteten, nachdem ihn Carl V. aus der Haft entlaſſen hatte. a

Die Hoffnung. 153

Die Menſchen laſſen ſich gern etwas verſprechen und glauben, viel zu haben, wenn ihnen nur das Wort gege— ben iſt. Wenn ſie zu unterſcheiden wüßten zwiſchen dem Worte, wozu die Gewiſſenhaftigkeit das Gefühl und der Wortſinn die Form gegeben, und dem Worte, wozu die Beifallsliebe, die Sorglichkeit oder irgend eine niedere Em— pfindung die Anregung gegeben, fo würden ſie nicht ſo oft getäuſcht werden, nicht ſo oft vergeblich die Erfüllung des ertheilten Verſprechens begehren. An den Früchten ſollt ihr ſie erkennen. Das Wort, das gehalten wird, ohne äußern Zwang, nur dieſes war die Frucht der Gewiſſenhaftigkeit. Das Wort dagegen, das nur in Folge äußern Zwanges gehalten wird, iſt die Frucht eines andern Baums: niede— rer Furcht, elender Gewinnſucht oder anderer ähnlicher Motive.

b. 24. 17. Die Hoffnung.

Das Organ dieſes ſo mächtigen Hebels menſchlicher Thätigkeit liegt zu beiden Seiten des Organs der Ehrerbie— tung, zum Theil unter dem Stirn- und zum Theil unter dem Seitenwandbeine. Das Organ der Gewiſſenhaftigkeit ſtößt daran einestheils, die Organe des Nachahmungs— talents und des Sinnes für das Wunderbare ſtoßen daran anderntheils. a

Dr. Gall betrachtete die Hoffnung als eine Folge der Wirkſamkeit jedes einzelnen Vermögens. Spurzheim be— merkte jedoch mit Recht, daß der durch jedes einzelne Ver— mögen erregte Wunſch keineswegs gleichen Schritt halte mit der Hoffnung. Der Menſch mit ſtarkem Erwerbtriebe _ mag den Wunſch, Eigenthum zu erwerben, der Menſch mit ſtarker Beifallsliebe den Wunſch, den Beifall ſeiner Mit— menſchen zu gewinnen, recht ſtark beſitzen, ohne darum in

154 Die Hoffnung.

einem entfprechenden Grade auch zu hoffen. Wir fehen im täglichen Leben Menſchen, welche immer geneigt ſind zu hoffen, andere, welche immer geneigt ſind zu beſorgen. Wie ſehr verſchieden in andern Beziehungen ihre Neigungen ſein mögen, dieſe Richtung ihrer Seele wird ſich gleich bleiben. Es giebt Menſchen, welche geradezu, je ſtärker ein Wunſch in ihrem Innern iſt, deſto ſtärker in Sorge ſind; andere, welche bei gleicher Stärke des Wunſches nur Hoffnung he— gen. Jene beſitzen das Organ der Sorglichkeit, dieſe das Organ der Hoffnung ſtärker. Hoffnung und Beſorgniß ſetzen ſich gegenſeitig voraus. Wer ein beſonderes Organ der Beſorgniß annimmt, muß nothwendig auch eins für die Hoffnung annehmen, gerade ſo, wie neben einem Or— gane für die Zeit, eines für den Raum beſtehen muß. Zahl— reiche Beobachtungen haben übrigens jetzt die Lage dieſes Organs feſtgeſtellt. An Spielern wurde es, in Verbindung mit dem Erwerbtriebe, ſtark entwickelt beobachtet ).

Das dem Organ entſprechende Gefühl erzeugt die Nei— gung, Gutes zu erwarten, Vertrauen zu ſchenken und an die Erfüllung alles Desjenigen, was man wünſcht, zu glau— ben. Ueberzeugung gewährt es übrigens fur ſich allein nicht, ſondern nur in Verbindung mit dem Denkvermögen. Die Hoffnung erfüllt uns mit Frohſinn und Heiterkeit, malt die Zukunft reich und lachend, haucht Freude und Friſche über jede Ausſicht, während die Sorglichkeit, ihre tiefer unten wohnende Schweſter, Wolken und Nebel um das Auge der Seele verbreitet. Im Verhältniß zu einer über— irdiſchen Welt eröffnet die Hoffnung den Blick in eine un— endliche, ſtrahlende Zukunft und macht uns ſo den Tod ſehr leicht. Sie iſt die Mutter des Glaubens an Unſterblichkeit, wie die Ehrerbietung die Quelle des Glaubens an die Gott— heit iſt. Die heitern Bilder, welche die Hoffnung uns vor

I) Spurzheim, observations p. 206 207. Combe's Syſtem S. 771.

Die Hoffnung. 155

die Augen zaubert, tragen viel dazu bei, unſern Muth auf: recht zu erhalten in Tagen der Trübſal. Iſt ſie nicht ge— zügelt durch das Denkvermögen, fo führt ſie zu ſchlecht berechneten Unternehmungen, grundloſen Erwartungen be— vorſtehender Glückswechſel und Leichtgläubigkeit. Iſt ſie dagegen zu ſchwach, ſo wird ſie, namentlich wenn die Sorg— lichkeit ſtark iſt, nicht leicht auch wohl berechnete Unter— nehmungen zur Ausführung bringen, und Vertrauen in Zukunft und Menſchen nicht aufkommen laſſen.

Ebenſo wahr als ſchön iſt Schiller's Gedicht: „Die Hoffnung.“ Es ſpricht in wenigen Worten den feſten Glau— ben aus, daß ſie von Gott dem Menſchen ins Herz gelegt, zum Begleiter durchs Leben bis zum Grabe gegeben iſt.

„Es iſt kein leerer, ſchmeichelnder Wahn, Erzeugt im Gehirne des Thoren, Im Herzen Fündet es laut ſich an: Zu was Beſſerm ſind wir geboren; Und was die innere Stimme ſpricht, Das täuſcht die hoffende Seele nicht.“

156 Gefühl für das Wunderbare. 9 25. 18. Gefühl für das Wunderbare ).

Gall bemerkte bei dem erſten Schwärmer, welchen er zu beobachten Gelegenheit hatte, eine bedeutende Entwicke— lung desjenigen Gehirntheils, der zwiſchen den Organen der Idealität, der Hoffnung, des Schlußvermögens, des Witzes und der Nachahmung in der Mitte liegt. Jung, genannt Stilling, beſaß dieſes Organ gleichfalls ſtark ent— wickelt. Einſt erſuchte ein Herr aus den erſten Cirkeln von Paris Dr. Gall, ſeinen Kopf zu unterſuchen. Gleich die erſte Bemerkung war: „Sie ſehen zuweilen Viſionen und glauben an Erſcheinungen.“ Jener ſprang erſtaunt von ſeinem Stuhle auf und ſagte: allerdings habe er manchmal Viſionen, habe aber aus Furcht als abergläubiſch verſchrien zu werden, bis auf den heutigen Tag niemals eine Silbe davon verlauten laſſen. Zu Gernsbach im Großherzogthum Baden kannte Gall einen Prieſter, welcher unter Aufſicht geſtellt worden war, weil er ſich von einem Hausgeiſte be— gleitet wähnte; in Mannheim einen Mann, welcher ſich immer von mehreren Geiſtern umgeben glaubte. Alle dieſe Leute hatten den bezeichneten Gehirntheil ſtark entwickelt. Eine Reihe weiterer Beobachtungen, welche Gall, Spurz—

heim und Georg Combe machten, haben die Verrichtung

10 Fig. 48. Fig. 49. Gefuͤhl für das Wunder: Gefühl für das Wun—

bare groß. derbare klein.

Ein Knabe von

Alter Grieche. der Inſel Ceylon.

Gefühl für das Wunderbare. 157

dieſes Organs nach und nach feſtgeſtellt. Taſſo's Bild, deſſen Wunderglaube und Verkehr mit Geiſtern bekannt iſt, zeigt uns die Organe des Wunderbaren und der Idea— lität in ſtarker Entwickelung). Bei verſchiedenen Nationen findet ſich dieſes Organ in verſchiedener Größe. Sehr klein zeigt es ſich bei den Eingebornen von Neu-Süd-Wales, und Reiſende bezeugen, daß die außerordentlichſten, unge— wöhnlichſten Erſcheinungen ſpurlos an ihnen vorüberziehen. Bei den Peruvianern dagegen iſt es ſehr groß, und ſie zei— gen großen Hang zu dem Glauben an alles Uebernatürliche. Sie betrachteten Pizarro und ſeine Begleiter als Abkömm— linge der Sonne; und dieſes, ihre Energie lähmende Er— ſtaunen erleichterte den Spaniern ihre Unterjochung’).

1

I WA 2

55 4

Taſſo. 2) Spurzheim, observations p. 207. Combe's Syſtem S. 275

158 Gefühl für das Wunderbare.

Das dieſem Organ entſprechende Gefühl beruht auf dem Verlangen nach Allem, was außerordentlich, überna— türlich, ungewöhnlich iſt. Es macht daher geneigt, derar— tiges zu glauben, wenn es Andere erzählen, oder in den eigenen Wahrnehmungen etwas Ungewöhnliches und Ueber— natürliches zu finden. In ſeiner Verbindung mit Ehrer— bietung und Hoffnung iſt der Sinn für das Wunderbare ein Hauptbeſtandtheil der Religioſität. Er bildet den Ge— genſatz des Schlußvermögens. Während dieſes immer ge— ſchäftig iſt, einer Erſcheinung auf den Grund zu kommen, ihre geheimen Urſachen zu entdecken, weilt das Gefühl für das Wunderbare mit Vorliebe auf der außerordentlichen Erſcheinung ſelbſt, ohne ſich mit deren Urſachen zu beſchäf— tigen, oder auch nur ertragen zu können, daß ſich Andere damit beſchäftigen. Leute, die mit einem ſtarken Gefühl für das Wunderbare begabt ſind, halten es oft für eine Entweihung den Schleier zu heben, welcher ihnen die Ur— ſache einer Erſcheinung verdeckt, und tadeln daher ein Be— ſtreben, welches geeignet iſt, ihnen die Freude zu rauben, etwas als wunderbar anſtaunen zu können. Findet ſich das Schlußvermögen und das Gefühl für das Wunderbare in einem Menſchen gleich ſtark entwickelt, ſo wird er leicht in Zwieſpalt mit ſich ſelbſt gerathen, indem er auf der einen Seite ſtrebt, durch Forſchung eine Erſcheinung aus dem Bereiche des Wunderbaren in dasjenige des Erklärlichen zu ziehen, auf der andern dagegen doch ſich ſcheut, in jenes Reich der Wunder mit ſcharfem Auge zu blicken. Wer das Gefühl für das Wunderbare ſchwach beſitzt, wird bei den außerordentlichſten Erſcheinungen des Lebens nicht erſtaunen. Ihm wird Alles natürlich und erklärlich dünken, auch wenn er nicht im Stande iſt, eine genügende Erklärung zu er— theilen. In Verbindung mit ſchwachem Denkvermögen wird das Gefühl für das Wunderbare eine reiche Quelle des Aberglaubens in allen ſeinen Geſtalten. Tritt noch eine ſtarke Ehrerbietung hinzu, ſo wird der Menſch gewöhnlich das Opfer ſchlauer Betrüger oder einfältiger Fanatiker,

Gefühl für das Wunderbare. 159

welche ihm ſolche einzuflößen wiſſen. Uebermäßig große Entwickelung oder krankhafte Erregung dieſes Organs er— zeugt Viſionen mannigfaltiger Art.

Wie dem Schläfer Alles, was er im Traume ſieht und hört, äußere Wirklichkeit zu haben ſcheint, während es ſich doch in ſeinem Innern ereignet, ſo geht auch während der Dauer der Viſion Alles im Innern des Viſionairs vor ſich, während es ihm auch äußere Wirklichkeit zu haben ſcheint. Die Viſion unterſcheidet ſich vom Traume aber dadurch, daß der Viſionair die Viſion in der Regel auch, nachdem ſie verſchwunden iſt, von der Wirklichkeit nicht un— terſcheidet, während der Träumende, ſobald er erwacht iſt, den Traum als ein Gebilde ſeiner Phantaſie erkennt. Je ſtärker nämlich das Gefühl für -das Wunderbare in einem Menſchen iſt, deſto ſtärker iſt auch ſein Verlangen nach wunderbaren Erſcheinungen, und dieſes macht es ihm, wenn ſeine Verſtandeskräfte verhältnißmäßig ſchwach ſind, unmöglich, zu erkennen, was die Urſache der Erſcheinungen iſt, welche er als Gegenſtände der Außenwelt gewahr wird, und daher hält er ſie wirklich für Dasjenige, was ſie ihm ſcheinen, für Ereigniſſe der Außenwelt.

Bei manchen Perſonen ſind die Viſionen periodiſch und finden gewöhnlich zur Zeit einer Aufregung oder Reizbar— keit, in Verbindung mit Hämorrhoiden oder der monatlichen Reinigung, ſtatt. Bei andern iſt dieſer Zuſtand weit dauern— der, in demſelben Verhältniß, als die krankhafte Aufregung es mehr iſt. Irgend eine Nervenreizung, eine zu lange feſtgeſetzte und auf denſelben Gegenſtand gerichtete Geiſtes— anſtrengung, Faſten, langes Wachen, Vollblütigkeit ſind hinreichend, um ſie hervorzurufen. So wenig man einen Verrückten, ſo lange ſeine Manie dauert, überzeugen kann, daß, ı was er innerlich wahrnimmt, nicht wirklich iſt, ebenſo wenig iſt es möglich, einem Viſionair dieſe Ueberzeugung beizubringen, und aus denſelben Gründen iſt dieſes da wie dort unmöglich: das Gefühl für die Erfahrung der innern

160 Das Schönheitsgefühl oder die Idealität.

Welt iſt ſtärker als das Verlangen nach einer genügenden Urſache derſelben ').

$. 26. 19. Das Schoͤnheitsgefuͤhl oder die Idealitaͤt.

Dieſes Organ gränzt nach oben an das Organ des Wunderbaren, nach vorn an das Organ des Witzes, längs dem untern Rande der halbzirkelförmigen Linie der Schlä— fengegend. Auf den Gall'ſchen Tafeln iſt es mit XXV bezeichnet. Gall bemerkte dieſes Organ zuerſt in bedeuten— der Entwickelung an einem ſeiner Freunde, der, wiewohl ſonſt ein gewöhnlicher Menſch, dadurch eine Art Ruf er— langt hatte, daß er, wo man es am wenigſten erwartete,

Verſe aus dem Stegreif dichtete. Er erinnerte ſich dann,

an der Büſte Ovid's dieſelbe Geſtaltung wahrgenommen zu haben. An mehreren andern Dichtern, namentlich der Angelika Kaufmann, an Klopſtock, Geßner, Schiller und Goethe beobachtete er dieſelbe Kopfbildung; an Blumauer bemerkte er ſie in Verbindung mit einer ſtarken Entwicke— lung des Organs des Witzes. An etwa dreißig Büſten von Dichtern, welche er bei Nicolai in Berlin beiſammen ſah, machte er dieſelbe Beobachtung; desgleichen an dem Haupte des franzöſiſchen Dichters Delille und des Dichters Frangois genannt Cordonnier. Die Büſten Homer's, Pindar's, Eu— ripides', Sophokles', Virgil's, Arioſto's, Taſſo's?), Mil— ton's, Voltaire's, Shakeſpeare's u. ſ. w. zeigen dieſelbe Geſtaltung des Kopfes. Allein es findet ſich nicht blos bei Dichtern, ſondern bei allen Künſtlern höherer Weihe, die nach dem idealiſch Schönen ſtreben, und es auf irgend

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 418 426. Phrenolo- gical Journal of Edinburgh 1824. No. IV. S. 541 555. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 337 352. N

2) S. oben S. 157. Fig. 50. 2

Das Schönheitsgefühl oder die Idealität. 161

eine Weiſe durch das Wort, den Meißel, durch Farben oder in Bauwerken auszuſprechen gedrängt werden. Klein fin— det es ſich dagegen bei allen rohen, für die Schönheit un— empfänglichen Völkerſchaften und Individuen, namentlich auch bei brutalen Verbrechern.

Das Streben nach idealiſcher Schönheit macht das Weſen dieſes Gefühls aus. Vereinigt ſich damit Geſtalt— und Farbenſinn, ſo wird es ſich in Gemälden, Tonſinn in Klängen idealiſcher Schönheit ausſprechen. Indem das Ge— fühl der Idealität den Menſchen, den es beſeelt, in eine höhere, ſchönere Welt entrückt, ſo erhebt es ihn über die kleine irdiſche Alltagswelt. In demſelben Maße, als ſein Verlangen auf Erden unbefriedigt bleibt, wird er ſich ſeh— nen, darzuſtellen, was ſeine Phantaſie ihm vor die Seele zaubert, und ſo entſtehen die unſterblichen Werke der Kunſt, welche Alles, was die wirkliche Erde bietet, an Schönheit überſtrahlen: die Gemälde eines Raphael, die Bauwerke eines Palladio, die göttliche Komödie Dante's, Shake— ſpeare's Kaufmann von Venedig, Goethe's Fauſt und Schil— ler's Braut von Meſſina.

Wer dieſes Gefühl nicht beſitzt, kaun die Schönheit eines Werkes nicht empfinden. Er mag über Kunſt ſpre— chen, er mag zergliedern und kritiſiren. Allein alles das hat nichts gemein mit dem Gefühle der Schönheit. Er wird die Schönheit niemals als Zweck gelten laſſen, immer nach einem andern ſuchen in Wort und That, und daher geſchmacklos ſein in Allem, was er ſagt und anordnet. Denn was im gewöhnlichen Leben guter Geſchmack genannt wird, beruht, nächſt einer harmoniſchen Geiſtesbeſchaffenheit, hauptſächlich auf dem Schönheitsgefühle. Die Idealität ift die Folie aller übrigen Geiſtesvermögen. Sie verleiht dem Wohlwollen, welches giebt, die Anmuth, welche die Gabe werthvoll macht, der Ehrerbietung, welche Hul— digungen darbringt, gefälligen Anſtand; ſie verhütet, daß Vergleichungen ins Niedrige fallen, daß der Witz gemein, die Schlußfolgerungen ſchwerfällig werden. Mit

11

162 Das Schönheitsgefühl oder die Idealität.

einem Worte: ſie iſt der Gürtel der Venus, welchen ſelbſt Minerva borgen mußte, wenn ſie bezaubern wollte; und dennoch giebt es Secten, welche gegen jede Aeußerung des Schönheitsgefühls eifern als hätte Gott dieſem Gefühle nicht ſo gut wie jedem andern ſeine erlaubte Sphäre ver— gönnt und nicht in den Schönheiten der Natur ſo reichlich für ſeine Befriedigung geſorgt. Es giebt Maler, deren Bilder getroffen ſind, aber auf eine ſo unſchöne Weiſe, daß man lieber nicht getroffen ſein möchte; es giebt Perſonen, die aufrichtig ſind, aber in ſolchem Maße, daß ſie uns er— röthen machen; es giebt Menſchen, welche den Putz lieben, aber doch niemals geſchmackvoll gekleidet ſind, ſie beſitzen nicht das Schönheitsgefühl ).

Wie alle übrigen, ſo kann auch dieſes Vermögen aus— arten, wenn es ſich über die andern erhebt und mit Ver— nachläſſigung ernſter Lebenspflichten nur ſeine Befriedigung ſucht. Bei Menſchen, welche ihr Haus aufs Geſchmack— vollſte einrichten und ihr Vermögen dadurch zu Grunde richten, dichten, wo ſie geben, ſchwärmen, wo ſie handeln ſollten u. ſ. w. bei allen dieſen iſt das Schönheitsgefühl ausgeartet.

Das Wirken des Schönheitsgefühls in ſeinem Kampf mit der proſaiſchen Alltagswelt macht Schiller's Gedicht: „Pegaſus im Joche“ recht anſchaulich. Was die Welt wird ohne ſeine magiſche Laterne ſpricht deſſelben Meiſters Poeſie des Lebens aus:

„Der Schönheit Jugendbild veraltet,

Auf Deinen Lippen ſelbſt erkaltet

Der Liebe Kuß, und in der Freude Schwung Ergreift Dich die Verſteinerung.“

Wie es dagegen dem Manne mit dem regen Schön— heitsgefühl auf dieſer Erde nur zu gewöhnlich ergeht, ver— kündet er in ſeiner „Theilung der Erde.“ Doch daſſelbe

) Spurzheim, observ. p. 09 —211. Combe's Syſtem S. 285.

Das Schönheitsgefühl oder die Idealität. 163

Gefühl, welches den Menſchen ſo oft von den Quellen ir— diſcher Genüſſe fern hält, eröffnet ihm eine himmliſche: „Was thun? ſpricht Zeus, die Welt iſt weggegeben, Der Herbſt, die Jagd, der Markt iſt nicht mehr mein Willſt Du in meinem Himmel mit mir leben: So oft Du kommſt, er ſoll Dir offen ſein.“

n

III. Darstellungsvermögen oder Talente.

$ 27. 20. Talent für mechaniſche Kunſt, Bautalent, Zuſammenſetzungstalent ).

Das engliſche Wort constructiveness, welches dieſes Or— gan bezeichnet, iſt ſehr ausdrucksvoll, namentlich in ſeinem Gegenſatz zu destructiveness. Der Begriff, von dem es ſich hier handelt, wird zwar durch die Worte: Talent für mechaniſche Kunſt gut bezeichnet, allein es ſind dieſes vier Worte ſtatt eines. Zuſammenſetzungstalent iſt gleich— falls bezeichnend, allein es iſt nicht üblich. Bautalent iſt zwar üblich, allein es bezeichnet den Begriff nicht genau,

Di Fig. 52. Bautalent groß. Bautalent klein.

Ein alter Grieche. Ein Neuholländer.

Talent f. mech. Kunſt, Bautalent, Zuſammenſetzungstalent. 165

indem das Organ, von dem wir ſprechen, es nicht blos mit Zuſammenſetzung von Holz und Stein, ſondern auch mit Zuſammenſetzung von Tuch, Seide, Metall aller Art, Strichen und Farben u. ſ. w. zu thun hat, was man nicht bauen nennen würde. Bis alſo der Sprachgebrauch das Wort Zuſammenſetzungstalent wird gebilligt haben, iſt es nothwendig, die verſchiedenen oben angegebenen Bezeichnun— gen neben einander zu gebrauchen, um wenigſtens den Be— griff ſo deutlich als möglich auszudrücken.

Die Windung des Gehirns, welche dieſes Organ bil— det, iſt ſpiralförmig aufgerollt und auf Tafel IV und V bezeichnet. Es liegt an dem hintern ſeitlichen Theile der obern Augenhöhlenplatte, an dem hintern Ende des vordern Lappens, umgeben von den Organen des Nahrungstriebs, des Verheimlichungs-, des Erwerbtriebs, der Idealität und des Tonſinns, bildet dadurch eine rundliche Wölbung und giebt dem Schädel, von vorn betrachtet, ein paralleles An— ſehen.

Es findet ſich groß an allen bedeutenden Künſtlern, die es mit Mechanik zu thun haben, z. B. an dem Kopfe des Erbauers des Themſe-Tunnels, des berühmten Archi— tekten Brunel, des Verfertigers der trefflichen Teleſkopen W. Herſchel, der Bildhauer Dannecker und Canova, des Kupferſtechers Müller, Raphael's, Michel Angelo's und Anderer. Eine Reihe von Gall und Spurzheim angeſtell— ter Beobachtungen haben dieſes Organ feſtgeſtellt. Der Biber, das Kaninchen, namentlich im Vergleich zum Feld— haſen, die Neſter bauenden Vögel, im Verhältniß zu den— jenigen, welche keine bauen, haben es groß, klein die Thiere, welche, auch bei ſonſtiger großer Intelligenz, nicht bauen, z. B. der Elephant, das Pferd und der Hund. Klein iſt es bei rohen Völkern, welche noch nicht einmal ſo weit ge— kommen ſind, ſich Hütten zu bauen, Werkzeuge zu bilden und Kleidungsſtücke zu bereiten, z. B. den Neuholländern. Beſonders überweiſend war der Ausſpruch, welchen Gall über den Maler Unterberger that, von welchem er ſagte, er

166 Talent f. mech. Kunſt, Bautalent, Zuſammenſetzungstalent.

habe ein beſonders ſtarkes Organ für mechaniſche Kunſt. Jedermann glaubte, Gall habe ſich geirrt. Aber Unterber— ger ſelbſt ſagte, Gall habe Recht, ſeine Neigung ſei immer der mechaniſchen Kunſt zugewandt geweſen, während er nur male, um ſich zu ernähren. Er führte dann Gall und die andern Herren, welche bei dem Ausſpruch zugegen geweſen waren, in ſeine Wohnung und zeigte ihnen die verſchiede— nen Maſchinen, welche er theils ſelbſt erfunden, theils ver— beſſert hatte. Mehrere ähnliche Fälle ſind in den phreno— logiſchen Werken verzeichnet.

Dieſes Talent ſchließt die Anlage zum Zuſammenfügen in ſich, und der Einfluß der übrigen Vermögen beſtimmt das Material ſowohl als die beſondern Modificationen des Zuſammenſetzens. Daß dieſes Vermögen ein ganz beſonde— res, eigenthümliches ſei, läßt ſich nicht in Abrede ſtellen, weil Menſchen und Thiere von ſonſt niedriger geiſtiger Be— ſchaffenheit es zum Theil ſehr ſtark entwickelt beſitzen, z. B. außer den oben genannten Thieren die Termiten, die Bie— nen und andere; unter den Menſchen nicht ſelten die Cre— tins, welche, ohne fähig zu ſein, irgend ein Buch über Mechanik zu leſen oder zu verſtehen, ohne von mechaniſchen Grundſätzen irgend einen Gedanken zu haben, mechaniſche Werke bilden, welche bisweilen erſtaunenswerth ſind. Ihre allgemeine Intelligenz giebt ihnen hierzu die Fähigkeit nicht, denn an dieſer fehlt es ihnen ganz und gar. Sie erhalten viel— mehr ſolche durch dieſelbe beſondere Anlage, welche die Biene oder den Biber zu ihren mechaniſchen Werken befähigt. Da— her iſt bei ſonſt beſchränkten Menſchen auch das Talent zum Zuſammenfügen beſchränkt. Während der allgemein intel— ligente Menſch in verſchiedenen Richtungen, als Architekt und Bildhauer, als Maſchinen-Erfinder und Goldarbeiter u. ſ. w. in der mannigfaltigſten Weiſe dieſe Anlage zu Tage fördert, zeigt ſie ſich bei dem beſchränkten Menſchen wie bei dem Thiere in durchaus einſeitiger Weiſe. Großen Philo— ſophen, Denkern und Staatsmännern fehlt dagegen dieſe Gabe oft gänzlich, wie z. B. dem Sokrates, welcher die

Der Witz. 167

Bildhauerei aufgab, weil er es darin zu nichts bringen konnte. Dieſelbe Verſchiedenheit zwiſchen allgemeiner Be— gabung und dieſer ſpeciellen Anlage findet ſich nicht ſelten ſchon bei Kindern ſehr klar und deutlich, indem dieſelben, welche für Sprachen, Begriffe und höhere geiſtige Ent— wickelung überhaupt gar kein Geſchick zeigen, überaus künſt— liche kleine Arbeiten, zum Theil ohne allen vorgängigen Unterricht, fertigen ).

§. 28. 21. Der Witz (Scherz).

Dieſes Organ liegt an dem obern ſeitlichen Theile der Stirn, umgeben von den Organen der Idealität, des Sinns für das Wunderbare, des Schlußvermögens, des Zeitſinns und des Tonſinns. Die Gehirnwindungen, welche es bil— den, find auf der Tafel IX mit XXIV bezeichnet. Wenn es groß iſt, giebt es dem obern Theile der Stirn ein brei— tes Anſehen.

Es findet ſich groß an den Büſten von Rabelais, Cer— vantes, Boileau, Swift, Sterne, Voltaire, Jean Paul Friedrich Richter. In den Abbildungen von Sterne ruht ſein Zeigefinger gerade auf dieſem, bei ihm ſehr ſtark ent— wickelten Organe.

Ueber die Natur dieſes Geiſtes-Vermögens iſt viel ge— ſtritten worden, insbeſondere auch in dem phrenologiſchen Journale von Edinburgh. Die Streitfrage war daſelbſt hauptſächlich, ob der Witz zu dem Empfindungs- oder Denk— vermögen zu rechnen ſei. Ich habe denſelben unter das Dar— ſtellungsvermögen aufgenommen. Das Charafteriftifche dieſes

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 370-380. Phrenolo- gical Journal of Edinb. 1824 No. II. p. 247 259. Spurzheim, observ. p. 169— 172. Combe's Syſtem S. 197. Spurzheim, on Phrenology p. I71—173. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol.

V. p. 159 190.

168 Der Witz.

Organs ſcheint mir nämlich in der Art und Weiſe zu liegen, wie ein Gegenſtand aufgefaßt und dargeſtellt wird, und nicht in den Gefühlen oder Gedanken, welche das Weſen des Gegenſtandes ergreifen. Es giebt Menſchen, welche eine unwiderſtehliche Neigung haben, Alles lächerlich zu machen, welche unwillkürlich Alles von der lächerlichen Seite an— ſehen, und ungeachtet aller Strafen und Schläge des Schick— ſals immer mit komiſchen Einfällen um ſich werfen, ſo z. B. Heinrich IV. von Frankreich, Piron, Mathurin, Regnier, Diogenes, Juvenal und Horaz. Andern dagegen ſind ſolche Einfälle in tiefſter Seele zuwider, ſo haßte und verachtete Crebillon z. B. Satyren und Epigramme ).

Das Urtheil über eine Sache giebt das Erkenntniß— und das Denkvermögen, die Gefühle in Betreff derſelben giebt das Empfindungsvermögen an die Hand. Der Witz verleiht dem Urtheil, der Vergleichung oder Empfindung nur dadurch mehr Nachdruck, daß er ihnen eine ſolche Form giebt, welche die Lacher auf ſeine Seite zieht. Der Witz im phrenologiſchen Sinne des Wortes bedeutet alſo nur das Talent für das Komiſche, und Gall glaubt es dadurch am beſten bezeichnen zu können, daß er Lucian, Rabelais, Cer— vantes, Swift, Sterne, Voltaire, Piron, Rabener, Wie— land und Andere als die Männer bezeichnet, welche dieſes Talent in beſonders hohem Grade beſaßen. Es hat übri— gens natürlich immer einen verſchiedenartigen Charakter, je nachdem es mehr mit dem Denkvermögen oder mehr mit dem Empfindungsvermögen verbunden, mehr Verheimlichungs— oder mehr Zerſtörungstrieb u. ſ. w. im Geleite hat. Bei Sterne tritt der Witz mehr in Verbindung mit dem Empfindungsvermögen, bei Swift in Verbindung mit Denkvermögen und Zerſtörungstrieb auf. Je tiefer da— her das mit dem Witze verbundene Denk- und Empfin— dungsvermögen iſt, deſto tiefer und ergreifender wird

I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 387. Combe's Sy: ſtem S. 301. Spurzheim, on Phrenology p. 210—212.

Der Wit. 169

er wirken, während der ſtärkſte Witz ohne ſolches Geleite zwar Gelächter, aber keine nachhaltige Wirkung hervorbrin— gen wird. Je nach der Verſchiedenheit der begleitenden Geiſteskräfte wird ſich der Witz Worte, Gedanken, Gegen— ſtände der Kunſt, Ereigniſſe u. ſ. w. mit Vorliebe zu ſei— nem Stoffe wählen. Der Muſiker, der Maler, der Dich— ter und der Redner können in ihren Werken Witz entfalten). Wenn wir witzige Reden analyſiren, werden wir immer finden, daß, falls wir die darin liegenden Empfindungen, Vergleichungen oder Schlüſſe davon trennen, für den Witz nur die Art und Weiſe der Darſtellung zurückbleibt. Wenn z. B. ein Herr zu einem Bedienten, der eine Zunge von der Platte herabfallen ließ, ſagte: „Hat nichts zu bedeuten, es iſt nur ein Lapsus linguae“, fo ſprechen dieſe Worte das Gefühl des Wohlwollens, das dem Diener eine Ver— legenheit erſparen will, in einer komiſchen Form aus. Das Komifche liegt in der Zuſammenſtellung des Falles der Zunge mit den lateiniſchen Worten Lapsus linguae, in dem Contraſte der gewöhnlichen (Redeverſtoß) und der hier zur Entſchuldigung des Diener i Bedeutung jener Worte (Fall der Zunge).

Die Geſchichte von Lord Stair und Ludwig XV. iſt bekannt. Erſterer ſah dem Letztern ſehr ähnlich. Als der Lord an den Hof kam, rief der König, welcher nicht ſelten derbe Reden führte: „Auf mein Wort, merkwürdig ähnlich!“ und dann fragte er, ſich zu Lord Stair wendend: „War ihre Mutter jemals in Frankreich?“ Der Lord antwortete: „Eure Majeſtät verzeihen, meine Mutter nicht, allein mein Vater.“ Lord Stair gab alſo zu verſtehen, nicht er, ſon— dern Ludwig XV. ſei unehelich geboren. Das Schlagende der Antwort lag darin, daß er die Anweſenheit ſeines Va— ters in Frankreich mit derjenigen ſeiner Mutter contraſtirte. Außer dem Denkvermögen, welches jene Andeutung machte, und dem Witze, der die ſcheinbar unſchuldige Form dazu

1) Spurzheim, observ. p. 208. 209.

170 Der Witz.

wählte, war aber noch der Verheimlichungstrieb thätig, welcher alle Empfindlichkeit unterdrückte, und der Zerſtö— rungstrieb, welcher den Angriff nicht blos abſchlug, ſon— dern ſofort eine tödtliche Wunde dem Gegner beibrachte. Das Zuſammenwirken aller dieſer Kräfte gibt den Worten des Lord Stair einen ſo außerordentlichen Nachdruck.

Der Witz liegt immer in der Darſtellungsweiſe, welche Aehnlichkeit und Unähnlichkeit geſchickt zu verbinden ver— ſteht. Die Aehnlichkeit liegt z. B. in der Geſchichte von Lord Stair in der zugegebenen Anweſenheit des einen Elterntheils in Paris, die Unähnlichkeit in der Verſchieden— heit zwiſchen Vater und Mutter. Die Aehnlichkeit der erſteren Geſchichte in der wörtlichen Ueberſetzung von La- psus linguae, die Unähnlichkeit in der gewöhnlichen Be— deutung dieſer Worte. Je überraſchender der durch dieſe Miſchung von Aehnlichkeit und Unaähnlichkeit bewirkte Con— traſt iſt, deſto witziger iſt der Einfall. Der Witz, welcher ſich z. B. durch das ganze Werk Cervantes' hindurchzieht, liegt in dem Contraſte zwiſchen dem, was Don Quixote iſt, und demjenigen, was er zu ſein glaubt, zwiſchen der Perſon des Ritters und ſeines Knappen u. ſ. w.

Nachahmungstalent. 171

$ 29. 22. Nachahmungstalent ).

In der Mitte zwiſchen den Organen des Wohlwollens und des Sinnes für das Wunderbare liegt das Organ des Nachahmungstalents. Es gränzt nach vorn an das Organ des Schluß-Vermögens und nach hinten an die Or— gane der Ehrerbietung und der Hoffnung.

Die Gehirnwindungen, welche es bilden, ſind auf Gall's Tafeln mit XXVI bezeichnet. Daſſelbe findet ſich in zwei verſchiedenen Geſtalten: entweder bildet es, in Verbindung mit dem Organe des Wohlwollens, namentlich wenn dieſes nicht ſehr groß iſt, in der Form eines Kreisausſchnittes eine Erhabenheit, welche etwas höher als das Organ des Wohlwollens liegt, oder aber es bildet zwei längliche, neben dem Organe des Wohl—

Nachahmungstalent groß. Nachahmungstalent klein.

13

Clara Fiſcher.

Jakob Jervis.

172 Nachahmungstalent.

wollens zu beiden Seiten herlaufende Erhabenheiten. Die— ſes kommt daher, daß die beiden Windungen, welche es bilden, ganz nahe an diejenigen gedrängt ſind, welche das Organ des Wohlwollens ausmachen.

Dr. Gall entdeckte es zuerſt an einem Freunde, Na— mens Hannibal, dann an einem Taubſtummen, der ſich durch ſein großes mimiſches Talent auszeichnete, und ſpäter an einer großen Anzahl von Schauſpielern, welche das Talent der Nachahmung in ſehr hohem Grade beſaßen. Papageien und Affen beſitzen gleichfalls dieſes Organ.

Während das Charakteriſtiſche des Witzes darin be— ſteht, Contraſte darzuſtellen, beſteht dasjenige des Nach— ahmungstalents darin, wirklich wahrgenommene Gegen— ſtände darzuſtellen. Aus einer Verbindung beider Talente entſpringen die Carricaturen, welche mehr oder weniger verletzend ſein werden, je nachdem mehr oder weniger Zer— ſtörungstrieb damit verbunden iſt. In Verbindung mit Verheimlichungstrieb bildet es, nach der Verſchiedenheit der begleitenden Organe, die Anlage zu den verſchiedenen Arten von Schauſpielern. Der Verheimlichungstrieb ſetzt dieſe nämlich in den Stand, alle diejenigen ihrer Eigen— ſchaften zu unterdrücken, welche zu ihrer Rolle nicht paſſen, das Nachahmungstalent denjenigen Ausdruck wiederzugeben, welchen ſie bei Menſchen der von ihnen darzuſtellenden Art wahrgenommen haben. Die übrigen Eigenſchaften, welche ſie beſitzen, machen es ihnen endlich möglich, dem darzuſtellenden Charakter das erforderliche Leben zu ver— leihen, z. B. der Bekämpfungstrieb, Rollen mit Wahrheit und Nachdruck zu geben, worin Zank und Streit herrſcht, Wohlwollen ſolche Rollen, worin Mitgefühl und Barm— herzigkeit walten. Garrick beſaß dieſes Talent im höchſten Grade.

Der Maler und der Bildhauer, welche das Nach— ahmungstalent beſitzen, werden dadurch in den Stand ge— ſetzt, getreue Abbildungen der Natur zu fertigen, der Dich— ter, die Menſchen naturgetreu zu ſchildern, namentlich im

Nachahmungstalent. 173

Drama, worin dieſelben redend und handelnd eingeführt werden ).

Es iſt gewöhnlich thätiger bei Kindern, als bei Er— wachſenen, und es iſt bekannt, daß die Kinder Vieles durch Nachahmung lernen. Wer es in ſtarker Entwickelung be— ſitzt, iſt, insbeſondere, wenn er lebhaften Temperaments iſt, geneigt, ſeine Worte mit entſprechenden beſchreibenden Pan— tomimen zu begleiten. Die Sphäre ſeiner Thätigkeit iſt groß. Es bezieht ſich auf Worte und Handlungen, auf die Gebiete der Kunſt und Wiſſenſchaft. Es macht ſich geltend im geſelligen und politiſchen Leben. Durch den Drang der Nachahmung hat die Mode einen ſo überwäl— tigenden Einfluß gewonnen.

Es fehlt uns Deutſchen nicht an dieſem Talente. Machten wir doch beſſern Gebrauch davon!

Bisweilen findet ſich das Nachahmungstalent in einem Zuftande unwiderſtehlicher Thätigkeit. Es find in den phrenologiſchen Werken?) mehrere Fälle mitgetheilt, da Men— ſchen von einem unwiderſtehlichen Drange beſeſſen waren, Alles, was ſie ſahen, nachzumachen. Wenn man ihnen die Hände hielt, um ſie zu verhindern, dieſem Drange Folge zu leiſten, ſo bekamen ſie unerträgliche Beängſtigungen.

Man hat und zwar nicht mit Unrecht, die Frage auf— geworfen: wie es komme, daß die Nachahmung und das Wohlwollen unmittelbar neben einander ihre Organe haben, da ſie doch ſcheinbar ſo ſehr verſchiedene Geiſteskräfte ſind, während alle übrigen an einander gränzenden Organe, wie z. B. Selbſtgefühl und Beifallsliebe, Bekämpfungs- und Zerſtörungstrieb u. ſ. w. ſich viel näher ſtänden? Faſſen

1) Gall 's vollſtändige Geiftesfunde S. 415 ff. Spurzheim, observ. p. 211. 212. Combe's Syſtem 311. Spurzheim on Phrenology p. 213 215. Gall, sur les fonctions du cer veau Vol. II. p. 326

2) Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V p. 334. Zeit⸗ ſchrift für Phrenologie, Bd. I, S. 458.

174 Das Ordnungstalent.

wir übrigens das Wohlwollen und die Nachahmung tiefer auf, ſo werden wir uns überzeugen, daß ſie ſich nahe ver— wandt ſind. Der ihnen beiden zu Grunde liegende Be— griff iſt derjenige der Sympathie. Sie unterſcheiden ſich jedoch dadurch, daß bei dem Wohlwollen die Sympathie einen mehr innerlichen, bei der Nachahmung einen mehr äußerlichen Charakter hat, daß ſie dort als Gefühl, hier als Form ſich geltend macht“), die Nachahmung faßt nur die Außenſeite der Erſcheinung auf, und bekümmert ſich um die tiefer liegenden Elemente nicht. Das Wohlwollen ſieht über die äußere Erſcheinung hinweg und hält ſich an deren Urſachen. Die Nachahmung beſchäftigt ſich, in ihrer Pro— ductivität, gleichfalls nur mit der Außenſeite, die ſie wie— dergibt, das Wohlwollen dringt tiefer ein, es handelt werkthätig, es begnügt ſich nicht mit dem Scheine.

$ 30. 23. Das Ordnungstalent.

Ueber dem Auge zwiſchen den Organen des Zahlen— ſinns und des Farbenſinns und unter demjenigen des Ton— ſinns, liegt dasjenige des Ordnungstalents.

Gall, Spurzheim und Georg Combe wirkten bei ſei— ner Entdeckung zuſammen. Es findet ſich groß an dem Kopfe des berühmten Karl Wilhelm von Humboldt, klein an dem Kopfe des ausgezeichneten irländiſchen Staats— mannes Curran, welcher in Kleidung und ſeinem ganzen Weſen ſehr unordentlich war. Es wurde groß beobachtet an dem Kopfe eines blödſinnigen Mädchens in Edinburgh, welches trotz ſeiner geiſtigen Krankheit doch auffallenden Sinn für Ordnung an den Tag legte, und an dem ſ. g. Sau— vage de l' Aveyron, welcher ungeachtet feiner Wildheit jeden Gegenſtand inſtinctartig an ſeinen gehörigen Platz

I) The Zoist Vol. I Nr. IV. p. 369 sq.

Das Ordnungstalent. 175

ſtellte, ſelbſt wenn man, um ihn auf die Probe zu ſtellen, alles in Unordnung gebracht hatte. Völker, welche ſich, wie z. B. die Esquimaux, durch ihre Unordentlichkeit auszeichnen, haben das Organ ſehr klein.

Wie der Witz und die Nachahmungsgabe für ſich allein nichts ſchaffen, ſo auch der Ordnungsſinn. Die be— reits vorhandenen Gegenſtände ſtellt er nur in harmoniſchen Verhältniſſen dar. Die Gelegenheit feiner Wirkſamkeit bietet ihm das äußere Leben, und die Richtung, in wel— cher er ſich mit Vorliebe entwickeln wird, bezeichnen ihm die begleitenden Geiſteskräfte. Der Ordnungsſinn wird ſich nach der Verſchiedenheit der begleitenden Anlagen in beſonderer Beziehung zu körperlichen Gegenſtänden über— haupt (Gegenſtandsſinn), zu Ereigniſſen (Thatſachenſinn), zu räumlichen Verhältniſſen (Raumſinn) u. ſ. w. an den Tag legen. Die Sinnlichkeit ſcheint ſich aus einer Ver— bindung des Ordnungs-, Farben- und Schönheits-Sinnes zu entwickeln, und wird, je nachdem die eine dieſer Eigen— ſchaften vorherrſchend iſt, einen verſchiedenen Charakter haben. Die Reinlichkeit ohne oder mit ſchwachem Schön— heitsgefühl wird nicht denjenigen Charakter der Zierlich— keit haben, welcher namentlich am weiblichen Geſchlechte eine ſo angenehme Erſcheinung bietet. Mit ſchwachem Farbenſinn wird ſie ſich insbeſondere da nicht zeigen, wo, wie z. B. bei gemiſchten Farben, das Ungehörige ſich nur durch ſcharfe Auffaſſung der Farben entdecken läßt ). Nicht jede Anordnung äußerer Dinge iſt dem Geiſte gleich angenehm, und das Streben nach Ordnung iſt unabhän— gig von dem Wirkungskreiſe jedes andern Vermögens. Es gibt Leute, die wahre Märtyrer ihrer Ordnungsliebe ſind, die nicht mit Appetit eſſen können, wenn die Salz— fäſſer, Flaſchen, Gläſer u. ſ. w. nicht ſymmetriſch aufge— ſtellt ſind, die beim Anblick von Scenen der Verwirrung

I) Spurzheim, observ. p. 293 294. Combe's Syſtem S. 387. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. IV, p. 466 sq.

6: Tonſinn.

und Unordnung, ganz abgeſehen von allen Urſachen der— ſelben, wirklichen Schmerz empfinden. Menſchen dieſer Art haben das Organ des Ordnungsſinnes ſtark entwickelt.

$ 31. 24. Tonſinn !).

Gerade an der Stelle, wo ſich die Stirn zur Schläfe rundet, umgeben von den Organen des Sinnes für me— chaniſche Kunſt, der Idealität, des Witzes, der Zeit, des Farbenſinns, des Ordnungs- und des Zahlenſinns findet ſich das Organ des Tonſinnes oder des muſikaliſchen Ta— lents. Es wird gebildet durch die auf Gall's Tafeln mit XX bezeichneten Gehirnwindungen. Es zeigt ſich in zwei beſondern Formen: entweder erweitert ſich der äußere, unmittelbar über dem auswendigen Winkel des Auges befindliche Winkel der Stirn gegen die Stirn hin, oder es erhebt ſich unmittelbar über dem auswendigen Winkel der Augen ein Vorſprung in Form einer Pyra— mide. Daher haben die Muſiker den untern Theil der Stirn entweder ſehr breit oder viereckig. Dr. Gall ent—

1) Fig. 55. Fig. 56. Tonſinn groß. Tonſinn klein. in

Händel. Anna Ormerod.

Tonſinn. 177

deckte es zuerſt an einem Mädchen von fünf Jahren, welche ſich alles deſſen, was ſie ſingen oder auf dem Klavier ſpielen hörte, erinnerte, und ſelbſt ganze Concertſtücke, wenn ſie ſie nur zweimal gehört hatte, nachzuſpielen im Stande war. Es iſt groß gefunden worden an den Köpfen von Haydn, Gluck, Mozart, Zumſteg, Paer, Bethoven, Reichard, Crescentini, Boyeldieu, Roſſini, der Catalani, den Schwe— ſtern Milanollo und anderer bewährter Muſiker. Es iſt groß an den Köpfen der Deutſchen und Italiener im Ver— hältniß zu denjenigen der Franzoſen, Engländer, Spanier, Neger, Otaheiter und anderer weniger muſikaliſcher Na— tionen. Deutlich iſt daſſelbe zu erkennen an den Köpfen der Singvögel im Gegenſatz zu den Köpfen der nicht ſin— genden Vögel, in dem Maße, daß das geübte Auge ſogar an dieſem Organe den Kopf des Männchens, welches ſingt, von demjenigen des Weibchens, welches nicht ſingt, unter— ſcheiden kann. Beſonders intereſſant iſt in Betreff dieſes Organs ein von Dr. Andreas Combe beobachteter Fall. Eine junge Dame mit ſtark entwickelten Organen der In— telligenz überhaupt und der Muſik insbeſondere klagte über Kopfſchmerzen und bezeichnete als den Sitz ihres Leidens ge— rade die Stelle, wo das Organ der Muſik ſich befindet, dabei erzählte ſie, daß ſie ſehr viel ſchöne Muſik im Traum geehört habe. Dieſe muſikaliſchen Träume wiederholten ſich, wurden ſo deutlich und beſtimmt, daß ſie dachte, ſie könnte ein Stück, das ihr beſonders gefallen hatte, niederſchreiben. Im wachen Zuſtande fühlte ſie darauf nicht nur ein Verlangen, ſondern eine unwiderſtehliche und leidenſchaftliche Sehn— ſucht nach Muſik, welche zu unterdrücken ihr unerträglich ſchmerzlich war. Sie drang darauf aufzuſtehen und ſpie— len und ſingen zu dürfen, und da dieſes nicht räthlich ſchien, bat ſie, man möchte eine Freundin holen laſſen, da— mit dieſe ihr vorſpielen möchte, indem nur dadurch ihr Linderung zu Theil werden könne. Bald darauf wurde ihr Verlangen nach Muſik aber ſo groß, daß ſie eine Gui— tarre ergriff, ſich auf ein Sopha legte und ihrem Drange 12

178 Tonſinn.

nachgab. Sie ſang dann mit einer klaren, ſtarken und umfangreichen Stimme, und mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit, bis ſich ihre Kräfte erſchöpften. Während dieſer Zeit fühlte ſie den Schmerz an den Seiten der Stirn und einen gewiſſen Druck in der ganzen Scheitel— und vorderen Gegend der Stirn. Locale und allgemein herabſtimmende Mittel heilten die junge Dame bald voll— kommen und für immer. Aehnliche Fälle hat auch Gall beobachtet). Oft wurde von Muſikern die angegebene Stelle der Stirn als diejenige bezeichnet, welche das Or— gan der Muſik bedecken müſſe, mit dem Bemerken, daß ſie an dieſer Stelle bei muſikaliſchen Anſtrengungen Schmerz empfänden. Daß der Tonſinn ein urſprüngliches Ver— mögen der Seele iſt, erhellt daraus, daß es Idioten und Wahnſinnige gibt, welche ungeachtet ihres ſonſt krankhaften Zuſtandes nicht nur für Töne empfänglich, ſondern auch fähig ſind, ſelbſt zu muſiciren, daß nicht ſelten Kinder, bisweilen im dritten Jahre ſchon, bei falſchen Tönen Miß— fallen zu erkennen geben, Liebe für Muſik zeigen, und ohne Anweiſung fingen oder Inſtrumente fpielen ?). Lernt doch auch der Singvogel durch ſich ſelbſt ſingen. Selbſt fern von ſeinen Eltern, fern von Geſchwiſtern und Genoſſen bleibt jede Art von Vögeln ihrem eigenthümlichen Geſange treu. Der Mangel an Vorbildern, der fehlende Unterricht macht es der jungen Nachtigall allerdings ſchwerer, ihr natürliches Talent für Muſik zu entwickeln, allein ſie wird doch ſingen, und wie eine Nachtigall ſingen, auch wenn ſie von Lerchen oder anderen Singvögeln umgeben iſt. Was für den Sprachſinn die Worte, ſind für den Tonſinn die Töne, was für den Farbenſinn das Auge, iſt

1) Phrenological Journal of Edinburgh 1826 Nr. XI. Vol. III. Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 346 357. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 96-130.

2) Einen ſehr intereſſanten Fall dieſer Art enthält das dritte Heft des erſten Bandes der Zeitſchrift fuͤr Phrenologie S. 337.

Tonſinn. 179

für den Tonſinn das Ohr. Das Ohr nimmt die Töne auf, aber es hat kein Bewußtſein, kein Gedächtniß, kein Gefühl für die Muſik, ſo wenig als das Auge für die Farben, oder der Magen für die Speiſen. Ein gutes Ge— hör kann in Verbindung ſtehen mit gänzlichem Mangel an muſikaliſchem Talent, und ſchlechtes Gehör mit großem muſikaliſchem Talente. Manche ausgezeichnete Muſiker waren harthörig, während nicht ſelten Menſchen und Thiere mit ſehr gutem allgemeinem Gehör keinen Sinn für Mu— ſik, oder ſelbſt Widerwillen dagegen beſitzen. Wie die übrigen Talente, ſo ſchafft auch das Talent der Muſik ſelbſt keine Gefühle und keine Gedanken, ſondern es ſtellt nur ſolche in Tönen dar. Die Töne, welche ein Muſiker hervorbringt, werden daher verſchieden ſein nach der Ver— ſchiedenheit der den Tonſinn begleitenden geiſtigen Ver— mögen. Bei vorwaltenden Organen der Ehrerbietung, der Hoffnung und des Sinnes für das Wunderbare wird ſich Kirchenmuſik, bei vorherrſchendem Bekämpfungs- und Zerſtörungstrieb kriegeriſche Muſik u. ſ. w. entwickeln. Ohne Zeitſinn wird es jedoch dem Muſiker an Tact, ohne Gewichtſinn an dem bei allen Inſtrumenten erforderlichen zarten Gefühle der Finger gebrechen. Zum Compoſiteur iſt beſonders erforderlich der Zahlenſinn. Bei vorherr— ſchender intellectueller Richtung wird die Muſik ungeachtet aller Trefflichkeit, doch weniger das Gemüth anſprechen, bei mangelnder Intelligenz wird es ihr nicht ſelten an Klar— heit fehlen, natürlich da alle zum Darſtellungs-Vermögen gehörigen Geiſteskräfte nur in verſchiedener Weiſe das— jenige darſtellen, was die übrigen Seelenkräfte darbieten. Der Tonſinn hat übrigens, wie jede andere geiſtige Kraft auch ſeine empfangende Seite, und dieſe iſt es, welche ihn befähigt, die Töne nicht nur vermittelſt der Ohren zu hören, ſondern hauptſächlich ſich ihrer Verhältniſſe bewußt zu werden. Auf dieſe natürliche Anlage zur Muſik grün— den ſich alle Regeln des Generalbaſſes. Merkwürdig iſt hierbei das Zuſammentreffen der ſieben Farben des Regen— 12#

150 Der Wortfinn oder das Sprachtalent.

bogens mit den fieben Tönen der Tonleiter. Nicht blos finden ſich dort ſieben Grundfarben, und hier ſieben Grund— töne, ſondern jede Farbe nimmt dort einen ebenſo großen Raum im Regenbogen, als der Ton auf der Tonleiter ein. Gleichwie die Farben und ihre Verhältniſſe nicht willkürlich von den Menſchen gebildet werden, ſondern auf ewigen Geſetzen der Natur beruhen, welche der Menſch nur zu erfaſſen und nachzuahmen ſich beſtreben kann, ſo hängen auch die Töne und ihre Verhältniſſe nicht von der Beſtimmung des Menſchen ab, auch ſie ſind durch den gro— ßen Ordner der Welten geordnet. Der Tonſinn befähigt nur den Menſchen, die Verhältniſſe der Töne der Natur ab— zulauſchen und ſeine Geſänge der Harmonie der Sphären nachzubilden ). Die wunderbare Verwandtſchaft zwiſchen Tönen und Geſtaltungen haben namentlich Chladni's Klang— figuren anſchaulich gemacht.

9 32. 25. Der Wortſinn, oder das Sprachtalent.

Das Organ des Wortſinns oder Sprachtalents hat ſeinen Sitz an dem hintern Theile der oberen Augenhöhlen— platte, und drückt daher dieſe mehr oder weniger nach unten, und folgeweiſe das in dieſer Höhle liegende Auge nach unten und vorn ).

Dieſes war das erſte Organ, welches Dr. Gall ent— deckte. Als Knabe von neun Jahren hatte er einen Ka— meraden, der mit ihm bei ſeinem Onkel, einem Pfarrer im Schwarzwalde, unterrichtet wurde, und der es ihm im

I) Spurzheim, observ. p. 296—299. Combe's Syſtem ©. 364.

2) Bayle beſaß dieſes Organ in Verbindung mit Gegenftandfinn und Thatſachenſinn ſtark entwickelt. S. den folgenden $. S. 187.

Der Wortſinn oder das Sprachtalent. 181

Auswendiglernen zuvor that, obgleich er ihm ſonſt an Gaben nicht gewachſen war. Später kam er auf die Schule nach Baden bei Raſtatt. Auch da waren die Schüler, denen er es am ſchwerſten zuvor thun konnte, ſolche, die mit großer Leichtigkeit auswendig lernten und unter dieſen zeichneten ſich beſonders zwei aus, welche beide ſehr hervorſtehende Augen hatten, ſo daß ſie Ochſenaugen genannt wurden. Da er nach einigen Jahren auf die Schule nach Bruchſal kam, traf er wiederum mit Gefährten zuſammen, die eine gleich große Gabe auswendig zu lernen beſaßen und gleichfalls Ochſenaugen hatten. Auch auf der Univerſität zu Straßburg machte er dieſelbe Erfahrung. So kam er auf den Gedanken, daß Augen dieſer Art ein Zeichen trefflichen Wortgedächtniſſes ſeien. Eine Reihe ſpäterer Beobachtungen haben diejenigen Gall's beſtätigt. Aus vielen, welche in den phrenologiſchen Schriften ge— ſammelt ſind, hebe ich folgende aus. An verſchiedenen Perſonen, welche im Laufe ihres Lebens ganz oder theil— weiſe den Gebrauch von Worten verloren, ohne jedoch ihre übrigen Geiſtesfähigkeiten einzubüßen, wurde nach ihrem Tode eine Verletzung gerade dieſes Organs wahrgenommen. Sehr häufig iſt der Fall, daß Menſchen, namentlich in Folge von Wunden oder Schlaganfällen, den Gebrauch der Worte verlieren, während ſie die Gegenſtände, welche durch ſie bezeichnet werden ſollen, genau kennen ), ein deutlicher Beweis, daß die Worte ein anderes Organ haben müſſen, als die Gegenſtände und bei ausſchließlicher Verletzung des erſtern die übrigen Seelenkräfte ungeſtört wirken können. Kinder, Taube, Stumme und Taubſtumme denken, empfin— den und begehren, ohne ſprechen zu können. Ein neuer Beweis, daß das Organ des Sprachſinns von den übrigen Organen des Geiſtes abgeſondert beſteht. Auf der andern Seite iſt in der Krankheit der Wortſinn bisweilen auch in hohem Grade aufgeregt, ſo daß der Kranke mit Worten

I) S. Zeitſchrift für Phrenologie Bd. 1. S. 222.

182 Der Wortſinn oder das Sprachtalent.

redet, Sprachen ſpricht, die er in ſeiner Kindheit kannte, aber ſeitdem längſt vergeſſen hatte. Bisweilen führt er dann auch ganze Stellen aus Schriften an, die er früher auswendig gewußt, aber gleichfalls im gewöhnlichen Zu— ſtande längſt wieder vergeſſen hatte ').

Während der Farbenſinn ein blos für ihn beſtimmtes Werkzeug hat, mit deſſen Hülfe er die Farben zu ſeinem Bewußtſein bringt (das Auge), hat der Sprachſinn ein beſtimmtes Werkzeug der Activität, nämlich die Zunge ). Daß jedoch dieſes von dem Organ des Wortſinns weſent— lich verſchieden iſt, ergibt ſich ſchon daraus, daß die Zunge gelähmt ſein kann, ohne daß der Wortſinn es iſt, und umgekehrt, der Wortſinn, ohne daß die Zunge es iſt. Wie das Ohr der Töne ſich nicht bewußt wird, ſich ihrer nicht erinnert, ihre Schönheit nicht empfindet, ſo wird ſich die Zunge ihrer Worte nicht bewußt, erinnert ſich ihrer nicht und hat kein Gefühl für dieſelben. Dieſe Verrichtungen gehören in das Gebiet des Wortſinns. Was für den Tonſinn die Töne, das ſind für den Wortſinn die Worte. Wie übrigens der Tonſinn nicht ſich ſelbſt, ſondern nur den übrigen geiſtigen Kräften Formen der Darſtellung: Töne verleiht, ſo gewährt auch der Wortſinn nicht ſich ſelbſt, ſondern nur den damit verbundenen übrigen geiſtigen Kräften die ihnen entſprechenden Formen der Darſtellung: Worte. Der Wortſinn umfaßt alſo das Talent der Dar— ſtellung durch Worte, welches ſich, wie bei allen übrigen

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 320 340. Call, sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 12—75.

2) Man wende nicht ein, daß man der Worte ebenſo gut zum Schreiben als zum Sprechen bedürfe. Denn wir ſprechen hier nur von den Naturanlagen des Menſchen. Das Schreiben iſt nicht in gleichem Maße dem Menſchen natürlich, wie das Sprechen. Die wil— deſten Völker ſprechen, aber nur civiliſirte ſchreiben, und auch unter dieſen viele Individuen nicht. Auch die Zeichen ſind nur ein Noth— behelf. Niemand wird durch Zeichen ſprechen, welchem Worte zu Ge— bote ſtehen. =

Der Wortſinn oder das Sprachtalent. 183

Kräften von dem Bewußtſein und dem Gedächtniß der Worte zu activem Gebrauche derſelben erhebt. Nicht ſel— ten finden ſich Männer, welche ungeachtet eines großen Reichthums an Gedanken und Gefühlen, ungeachtet der Tiefe und der Kraft ihres Geiſtes doch Mühe haben, die entſprechenden Worte zu finden, welche daher allenfalls am Schreibtiſche, wo ſie ſich auf Worte beſinnen können, ſich gut auszudrücken vermögen, nicht aber in öffentlicher Verſammlung, wo zum Beſinnen keine Zeit iſt. Dieſe Männer haben einen ſchwachen Wortſinn. Andere Men— ſchen gibt es dagegen, denen ein unverſiegbarer Strom von Worten zu Gebote ſteht, ohne daß jedoch Gefühle und Gedanken in gleichem Reichthum flöſſen. Inſofern als Worte weſentliche Beſtandtheile aller Sprachen, und alle Wortkenntniß ein weſentlicher Beſtandtheil der Sprach— kenntniß iſt, inſofern hängt von dem Wortſinn auch die Erlernung von Sprachen ab. Da jedoch die Kenntniß einer Sprache mehr umfaßt als die Kenntniß ihrer Worte und ihrer wechſelſeitigen Verhältniſſe, da die Sprache mehr oder weniger das Product des ganzen Lebens einer Nation iſt, wie es ſich im Laufe der Jahrhunderte gebildet hat, ſo genügt, inſofern es ſich um die Eigenthümlichkeiten der verſchiedenen National-Sprachen handelt, der Wortſinn zu deren Erlernung nicht. Wie übrigens trotz aller nationalen Verſchiedenheiten der Muſik überall eine gewiſſe gemein— ſame Grundlage bleibt, ſo haben auch alle Sprachen trotz aller nationalen Verſchiedenheiten gewiſſe gemeinſame Grund— lagen. Dieſe, welche die Natur ſelbſt geſchaffen hat, er— faßt der Wortſinn und ſtellt ſie dar. Die beſonderen Eigenthümlichkeiten jeder Sprache dagegen zu erfaſſen und darzuſtellen, iſt anderen Vermögen vorbehalten.

Die Beobachtung Gall's, welche ihn auf die Ent— deckung dieſes Organs führte, beweiſt, wie viel Werth zu ſeiner Jugendzeit, und leider! noch heutigen Tages, auf Worte gelegt wurde. Als ob Worte nicht weniger wären, als Gedanken und Gefühle, zu deren Bezeichnung ſie doch

-

184 Der Wortſinn oder das Sprachtalent.

nur dienen ſollen. Allein der Pedant wird immer die Form höher achten als den Geiſt, weil er jene feſthalten, nach Regeln beſtimmen und beherrſchen kann, während der Gedanke und das Gefühl ſich ſeinem Geiſte entzieht. Ver— geſſen wir es nie: Worte ſind nur Zeichen, in denen ſich der Geiſt ausſpricht, ſie wirken alſo unmittelbar nur auf den Wortſinn. Nur inſofern in ihr Gewand wirklich Ge— danken und Gefühle gehüllt ſind, ſprechen dieſe, nicht aber die Hüllen, zum Denk- und Empfindungsvermögen. Dieſe Wahrheit wird ſehr oft verkannt. So ſagt z. B. in Goethe's Götz von Berlichingen Karl ſeinem Vater her:

„Jaxthauſen iſt ein Dorf und Schloß an der Jaxt,

gehört ſeit zweihundert Jahren den Herren von

Berlichingen erb- und eigenthümlich zu.“

Als ihn aber Götz von Berlichingen fragte:

„Kennſt du denn den Herrn von Berlichingen?“ ſo wußte der Knabe nicht zu antworten, er ſagt ſein Sprüchlein von Neuem her, er hatte Worte gelernt, keine Gegenſtände. Bei ſeinem Vater war es anders. Der ſagt von ſich:

„Ich kannte alle Pfade, Weg' und Furten, eh' ich

wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß.“

Der hatte Gegenſtände kennen gelernt, wenn ſchon noch nicht die ſie bezeichnenden Worte.

Das Wort iſt nur das Zeichen für einen Begriff. Man kann Worte herſagen, ohne die mit denſelben ver— bundenen Begriffe zu kennen. Allein wenn man auch dieſe kennt, fo kennt man die Gegenſtände darum ſelbſt noch nicht. Der Knabe konnte jene Worte herſagen, ohne zu wiſſen, was die Worte Dorf, Schloß, Jaxt bedeuten. Aber wenn er auch deren Bedeutung, d. h. die damit be— zeichneten Begriffe kannte, ſo kannte er darum noch nicht die Gegenſtände. Ich kann wiſſen, daß Jaxthauſen ein Dorf und ein Schloß iſt, ohne es geſehen zu haben, ohne die geringſte beſondere Kenntniß davon zu beſitzen. Die Worte lehrt uns der Wortſinn, die Begriffe das Denk—

Der Wortſinn oder das Sprachtalent. 185

vermögen, die Gegenſtände der Gegenſtandſinn, und ihre beſonderen Eigenſchaften die verſchiedenen in dem Erkennt— nißvermögen enthaltenen geiſtigen Kräfte. Wenn wir alſo nur Worte haben, ſo haben wir ſehr wenig.

Unter Sprache verſteht man den Inbegriff von Zei— chen, deren ſich der Menſch bedient, um ſeinen Mitmenſchen die inneren Regungen ſeines Geiſtes mitzutheilen. Die gewöhnlichſten, ausdruckvollſten und umfaſſendſten dieſer Zeichen ſind die Worte, allein es ſind nicht die einzigen. Die Gebärden, die Pantomimen geben auch ſolche an die Hand. Allein nur die Zeichen für Regungen, welche der— jenige, an welchen ſie gerichtet ſind, theilt, wird letzterer verſtehen. Daher verſteht der Hund z. B. ſehr wohl die Zeichen des Zornes und der Gunſt ſeines Herrn, allein keineswegs die Zeichen feiner Gottesverehrung. Während Gebärden und Pantomimen die natürlichen Zeichen der gei— ſtigen Regungen des Menſchen, ſind die Worte die con— ventionellen Zeichen deſſelben ). Allein der Wortſinn oder das Sprachtalent verleiht allen Geiſtesfähigkeiten einen gemeinſamen Ausdruck.

Stummheit kann die Folge der Unfähigkeit der Sprach— werkzeuge, oder des entſprechenden Gehirn-Organs ſein. Bisweilen iſt ſie aber nur die Folge der Krankheit des einen oder des andern, und dann iſt Heilung möglich, wie z. B. bei Kindern, welche Waſſer im Gehirn haben, und in deſſen Folge oft geradezu, dem äußern Anſcheine nach, ein ſtark entwickeltes Organ des Sprachſinns beſitzen.

1) Spurzheim, observations p. 299 310. Combe's Syſtem S. 370. Spurzheim on Phrenology p. 287204.

IV. Erkenntnissvermögen oder Fähigkeiten.

9 33. 26. Der Gegenſtandſinn ').

Dieſes Organ liegt unmittelbar über der Naſenwurzel, um— geben von den Organen des Thatſachenſinns, des Orts-,

1) Fig. 57. Gegenſtandſinn und überhaupt alle Organe der Intelligenz groß.

Michel Angelo. S. auch §. 40. Fig. 59. 60. 61. 8

Der Gegenftandfinn. 187

Größen- und Geſtaltſinns. Die Gehirntheile, die es bil- den, ſind auf Gall's Tafeln mit XXI bezeichnet. Iſt es groß, ſo iſt der Theil zwiſchen den Augenbrauen dort breit und herabſteigend; iſt es klein, ſo ſtehen die Au— genbrauen nahe an einander und mehr horizontal. An die— ſem Theil des Stirnbeins findet ſich übrigens bei Erwach— ſenen häufig die Stirnhöhle (Sinus frontalis), welche einen Schluß von der äußern Seite des Schädels auf das Gehirn erſchwert und daher den Phrenologen zur vorſichtigen Be— ſchränkung feiner Urtheile beſtimmen muß ).

Wenn wir die äußere Welt überblicken, ſo bemerken wir darin zuvörderſt Gegenſtände als ſolche, welche unſere Aufmerkſamkeit feſſeln, z. B. einen Felſen, ein Pferd u. ſ. w., darauf nehmen wir zweitens die Eigenſchaften oder Merk— male der vorhandenen Dinge wahr, ihre Geſtalt, Größe, Gewicht, Farbe, Anzahl. Nach dieſen Wahrnehmungen können wir dann auch noch die Gegenſtände in ihrer Be— wegung, in ihrer Thätigkeit auffaſſen: der Felſen ſtürzt, das Pferd läuft u. ſ. w. Während die Gegenſtände ſelbſt durch Hauptwörter, ihre Eigenſchaften durch Beiwörter, wird ihre Bewegung, ihre active und paſſive Thätigkeit durch Zeitwörter bezeichnet. Wie Größe, Geſtalt, Gewicht und Farben Begleiter des phyſiſchen Daſeins ſind, ſo iſt die Zeit die Begleiterin der Thätigkeit, des Geſchehens. Der Gegenſtandſinn bemerkt die Gegenſtände, welche ſich ihm darbieten, als ſolche, während der Farbenſinn an ihnen nur die Farben, der Geſtaltſinn nur die Geſtalt, der Größen— ſinn nur die Ausdehnung im Raume bemerkt. Der Gegen— ſtandſinn faßt die Dinge der Außenwelt in ihrem ruhigen Daſein, der Thatſachenſinn faßt ſie in ihrer Bewegung, in ihrem Gange durch die Zeit auf. Bayle beſaß Gegenſtand— ſinn und Thatſachenſinn, beide ſehr ſtark entwickelt. Die— ſen beiden Fähigkeiten hatte er ſeine ausgebreiteten Kennt—

1) S. oben $. 2. Nr. 4. S. 42.

188 i Der Gegenſtandſinn.

niſſe und ſeinen glänzenden Geiſt zu verdanken. Von zwei Perſonen, von welchen der eine den Gegenſtandſinn, der andere den Thatſachenſinn ſtark entwickelt hatte, bemerkte z. B. der erſte bei einer militairiſchen Revue ganz genau den Anzug der Soldaten, ihr Ausſehen, ihre Waffen, jede Feder auf dem Hute, jeden Aufſchlag auf dem Rocke, jedes Abzeichen der verſchiedenen Regimenter und der verſchiede— nen Grade. Der letztere dagegen bemerkte von alle dem nichts, allein er bemerkte genau jede Bewegung der Sol— daten, wie die eine auf die andere folgte, jede Schwenkung, jeden Marſch von Anfang des Manoeuvres bis zum Ende. Der Gegenſtandſinn bemerkt die Gegenſtände ohne alle Rück— ſicht auf ihr Wirken oder auf die Zwecke, wozu ſie dienen können. Er macht zur Beobachtung geneigt und iſt ein Haupterforderniß für alle Wiſſenſchaften, welche es mit einer Kenntniß einzelner Gegenſtände zu thun haben, wie z. B. die Naturgeſchichte. Menſchen dieſer Art ſind vor— trefflich zum Herbeiſchaffen von Stoff, womit jedoch nur das Denkvermögen zu bauen verſteht. Leute mit Gegenſtand— ſinn ohne Denkvermögen wiſſen ihre Augen zu gebrauchen, haben oft zwiſchen zwei Thüren gar Mancherlei zu ſehen, nichts iſt vor ihren Augen zu verbergen. Ohne daß ihre Augen Nachdenken, Gefühl, Scharfblick verrathen, ſind ſie wachſam, raſch, thätig, immer gleichmäßig gerichtet auf die Dinge dieſer Welt. Menſchen, bei denen der Gegenſtand— ſinn klein iſt, kommen und gehen oft Jahre lang durch die— ſelben Zimmer, ohne zu wiſſen, was ſich darin befindet, durch dieſelben Straßen, ohne die Eigenthümlichkeiten der verſchiedenen Häuſer zu bemerken; ſie ſehen, aber ſie beob— achten nicht, ſie hören, aber der Ton bereichert nicht ihren Schatz von Erfahrungen. Für den Künſtler iſt das Organ von hoher Wichtigkeit. Es ſetzt ihn in den Stand, den Gedanken und Gefühlen, welche ſeine übrigen geiſtigen Ver— mögen in ihm erwecken, Eigenthümlichkeit zu geben, ſie mit denjenigen Einzelnheiten auszuſchmücken, welche das ab—

Der Gegenftandfinn. 189

ſtracte Ding von dem wirklichen Weſen mit Fleiſch und Blut unterſcheidet ).

Wer den Gegenſtandſinn, namentlich in Verbindung mit Geſtaltſinn, in ſtärkerer Entwickelung beſitzt als das Denkvermögen, wird zu Perſonificationen geneigt ſein. Statt ſich Gott im Geiſte und in der Wahrheit zu denken, wird er ihn ſich in menſchlicher Geſtalt, umgeben von andern menſchlichen oder doch menſchenähnlichen Geſtalten vorſtel— len. So lange man ſich bewußt bleibt, daß dieſes nur in Folge unſerer menſchlichen beſchränkten Auffaſſungsweiſe ge— ſchieht, iſt nichts dagegen einzuwenden. Sobald wir aber dieſes vergeſſen, werden wir auf Abwege geleitet.

An Georg's III. Kopfe war dieſes Organ beſonders groß, und demſelben, in Verbindung mit ſeinem großen Geſtaltſinn, muß es zugeſchrieben werden, daß dieſer König eine auffallende Gabe hatte, Perſonen, welche er nur ein— mal geſehen hatte, nach Jahren wieder zu erkennen.

Gall, welcher auch dieſes Organ zuerſt auffand, nennt es Sachſinn oder Erziehungsfähigkeit. Gegenſtandſinn iſt aber bezeichnender als Sachſinn. Erziehungsfähigkeit iſt allerdings eine Folge ſtark entwickelten Gegenſtandſinns, und es iſt eine merkwürdige Thatſache, daß Kinder, ſowie die Jungen der Thiere dieſes Organ durchgängig verhältnißmäßig ſtärker entwickelt haben als erwachſene oder gar ſehr alte In— dividuen?). Allein Erziehungsfähigkeit iſt weder die einzige Folge des Gegenſtandſinns, noch iſt der Gegenſtandſinn die einzige Urſache der Erziehungsfähigkeit. Die Erziehung hat es nicht blos mit Gegenſtänden, ſie hat es auch mit Ge— fühlen und mit Gedanken mancherlei Art zu thun, welche ſich nicht unmittelbar auf Gegenſtände beziehen. Die Be— zeichnung Gegenſtandſinn beſeitigt alle dieſe Zweideutigkeiten und Mißverſtändniſſe.

I) Spurzheim, observ. p. 278. Combe's Syſtem S. 329.

Call, sur les fonctions du cerveau Vol. IV. p. 379 428. 2) Gall, I. c. p. 404 sq. p. 427.

190 Geſtaltſinn.

$. 34. 27. Geſtaltſinn.

Zu beiden Seiten unmittelbar an dem Hahnenkamme (Cri— sta galli) breitet ſich das Organ des Geſtaltſinns aus. Iſt es klein, ſo ſtoßen die innern Platten der Augenhöhlen dicht an den Kamm, und die äußere Breite über der Naſe von Auge zu Auge iſt dann gering. Iſt es dagegen groß, fo iſt zwiſchen dem Kamme und der innern Augenhöhlenplatte ein beträchtlicher Zwiſchenraum und die Fläche der Naſe erſcheint breit), oder aber es werden die innern Theile der Augen und die entſprechende Commiſſur der Augenlider nach

1) Fig. 58. Geſtaltſinn groß.

Geſtaltſinn. 191

unten gedrückt, indem ſich das Organ mehr von unten nach oben, als von einer Seite nach der andern hin ausbreitet. Bei kleinen Kindern iſt es gewöhnlich ſehr ſtark entwickelt, und ſie beobachten mit vielem Vergnügen an jedem Gegen— ſtande die Geſtalt. Der Zwiſchenraum zwiſchen den Augen in der Gegend der Naſenwurzel iſt bei ihnen meiſtens ver— hältnißmäßig groß. Nur ſelten dehnt ſich bei Erwachſenen die Stirnhöhle bis zu der Stelle aus, worunter dieſes Or— gan liegt. Dr. Spurzheim, welcher das ſchon von Gall’) entdeckte Organ näher beſtimmt hat, drückt ſich darüber aus, wie folgt: „Ich trenne,“ ſagt er, „das Vermögen, welches Geſtaltung wahrnimmt, von dem des Gegenſtand— ſinns, weil wir das Daſein einer Sache auffaſſen können, ohne deren Geſtalt in Betracht zu ziehen. Der Gegenſtand— ſinn kann durch alle äußern Sinne, ſowohl durch Geruch und Gehör, als durch Geſicht und Gefühl angeregt wer— den; dahingegen unterſtützen nur die beiden letzteren Sinne das Vermögen des Geſtaltſinns. Dieſe Kraft iſt es, welche uns treibt, jedem Weſen, jedem Begriffe unſeres Geiſtes eine beſtimmte Figur beizulegen: der Gerechtigkeit die Ge— ſtalt eines Weibes mit verbundenen Augen, dem Schwerte und der Wage, dem Tode die eines Skeletts u. ſ. w.“ Das Organ findet ſich ſtark entwickelt bei van Dyk in Verbin: dung mit ſtarker Entwickelung des Kunſtſinns, bei Callot, Tintorelli und Andern.

Das Weſen dieſes Sinns beſteht alſo darin, die Fä— higkeit zur Auffaſſung der Geſtaltung der Körper zu be— gründen. Wie die Natur nach ewigen Geſetzen die Ver— hältniſſe der Schwere, der Farben, der Töne u. ſ. w. ge— ordnet hat, ſo liegen auch ihren Geſtaltungen ewige Geſetze zu Grunde. Nicht willkürlich und launenhaft bilden ſich die Kriſtalle und ebenſowenig die Blätter und Blüthen der Pflanzen und die Glieder der thieriſchen Körper: der Rüſſel des Elephanten und das Auge des Adlers. Der

I) Sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 1—11.

192 Geſtaltſinn.

Menſch kann Geſtalten jeder Art erſinnen, allein nur die— jenigen werden ſchön ſein, welche den Geſetzen entſprechen, wonach die Geſtaltungen in der Welt Gottes ſich bilden. Der Menſch mag ſeine Farben miſchen, wie er will; allein nur diejenigen Miſchungen, welche den ewigen Geſetzen der Farben entſprechen, werden ſchön ſein. Natürlich, weil der Menſch es der Gottheit nicht zuvor thun kann, weil er immer hinter ihr zurückbleiben muß und ſein ganzes Stre— ben nur ſein kann, ihre Werke zu beobachten, ihre Sprache verſtehen zu lernen, ihren Winken zu folgen. Wer aber an die Stelle der Geſetze, nach welchen alle Geſtalten der Natur ſich bilden, ſeine eigenen Anſichten über ihr Verhält— niß zur Gedanken- und Gefühlswelt des Menſchen ſetzen will, wer auf die innere Welt des Menſchen die Bildun— gen der Natur zurückführen, in ihr den Maßſtab zur Be— urtheilung derſelben ſuchen will, der verkennt durchaus ſeine Stellung zur Natur. Er will Geſetze geben, ſtatt ſie zu empfangen; er bemüht ſich, ſeinem eigenen kleinen, ſchwachen Verſtande die geſetzgebende Gewalt zuzuſchreiben, ſtatt ihn anzuhalten, die Geſetze Gottes zu erforſchen und ihnen zu folgen ).

Geſtalt iſt der, aus der Verſchiedenartigkeit räumlicher Ausdehnung der Körper hervorgehende Umriß deſſelben. Man wende nicht ein, auf Gemälden ſähen wir Geſtalten blos in Folge der darauf angebrachten verſchiedenen Farben. Denn die Farben auf einem Gemälde ſind ſelbſt Körper, z. B. Indigo, Zinnober u. ſ. w., welche daher räumliche Ausdehnung haben und Umriſſe bilden. Inſofern aber dieſe Umriſſe verſchieden ſind von denjenigen, welche ſich uns vermittelſt des Auges darſtellen, z. B. bei den Gemälden des Wettſtreits zwiſchen Parrhaſius und Zeuxis, werden wir durch unſer Auge getäuſcht, und eben deswegen iſt der Ausſpruch nicht maßgebend, welchen wir, geſtützt auf dieſe künſtlich hervorgebrachte Täuſchung, thun.

I) Spurzheim, observ. p. 379. Combe's Syſtem S. 333. \

9

Raumſinn oder Größenſinn ö 193

Wer Geſtaltungen richtig auffaßt und überhaupt die— ſen Sinn in hoher Entwickelung beſitzt, wird folgeweiſe ſich auch der wahrgenommenen Geſtalten genau erinnern und daher auch ſie leicht wieder erkennen. Gall beſaß die— ſes Organ in ſchwacher Entwickelung, und die läſtigſte Folge hiervon war für ihn, die Geſichtsbildung, oder mit andern Worten, die Geſtaltung des Geſichts der Menſchen nicht ſicher aufzufaſſen, obgleich er ein ſehr gutes Auge hatte. Er hatte daher Mühe, die Menſchen, mit denen er zuſam— menkam, wieder zu erkennen, und nannte deshalb dieſes Organ urſprünglich Perſonenſinn; allein da nicht blos Perſonen, ſondern auch Thiere und lebloſe Gegenſtände Ge— ſtaltung haben, ſo wurde ſpäter mit Recht ſowohl Name als Begriff dieſes Organs in der angegebenen Weiſe aus— gedehnt.

$. 35. 28. Raumſinn oder Größenfinn.

Am innern Winkel des Bogens der Augenbraunen, umgeben von den Organen des Geſtaltſinns, Gegenſtands-, Orts-, Gewichts- und Sprachſinns liegt das Organ des Raum- oder Größenſinns. h

An den Köpfen verfchiedener Männer, welche in der Perſpective viel leiſteten, namentlich Landſchaftsmaler, wurde es groß beobachtet.

Der Größenſinn beſchäftigt ſich mit den Verhältniſſen des Raums und befähigt uns, ſie zu überſchauen, d. h. Entfernungen und Ausdehnungen richtig zu würdigen. Er verhält ſich zum Geſtaltſinn wie der Raum zur Geſtalt. Allerdings können wir nur im Raume Geſtalten erkennen, allerdings nimmt jeder beſtimmte Raum, den wir betrach— ten, eine beſtimmte Geſtalt an, allein deſſenungeachtet iſt der Raum keine Geſtalt und die Geſtalt kein Raum. Jeder Körper hat verſchiedene Eigenſchaften, jeder dehnt ſich im

13

194 Raumſinn oder Größenſinn.

Raume aus, hat Gewicht, Farbe und Geſtalt und iſt dar— um doch nicht ſelbſt Gewicht, Farbe und Geſtalt. Wie der Farbenſinn ſich nur mit den Farbenverhältniſſen, ſo beſchäf— tigt ſich der Raumſinn nur mit den räumlichen Verhält— niſſen eines Körpers. In demſelben Maße, in welchem ſich ein Körper von uns entfernt, erſcheint er uns blos in Folge dieſer Entfernung verſchieden. Der Raumſinn verſteht es, dieſe Verſchiedenheit der Erſcheinung mit der Wirklichkeit auszugleichen. Ohne den uns vermittelſt deſſelben ertheil— ten Ausgleichungsapparat würden wir nicht im Stande ſein, ein uns naheſtehendes kleines Haus von einem fernen großen Hauſe zu unterſcheiden, könnte der Maler keine Ver— kürzungen auf ſeinen Gemälden anbringen, der Militär den Platz nicht beurtheilen, welchen dieſe oder jene Schwenkung erfordern möchte, könnte der Kutſcher bei dem eiligen Laufe ſeines Wagens durch krumme und mit Menſchen angefüllte Straßen ſeinen freien Weg nicht finden.

Der Größenſinn iſt wichtig für den Geometer, den Architekten, den Zimmermann, den mechaniſchen Künſtler jeder Art, den Aſtronomen. Er mißt die Ausdehnung der irdiſchen und der Himmelskörper, und iſt daher jedem un— entbehrlich, der ſich mit der Ausdehnung derſelben zu be— faſſen hat.

Die Stirnhöhle verurſacht bei der Beobachtung dieſes Organs einige Schwierigkeiten.

In welcher Weiſe dieſes Organ, wenn es ſchwach iſt, wirkt, ergiebt ſich aus folgendem Falle. Ein Herr Fergu— ſon, der es ſchwach beſaß, berichtete, daß es ihm ſchwer werde, eine Landſchaft in einem Bilde zu erkennen. Sie ſcheine ihm, ſagte er, eine Gruppe von Gegenſtänden auf einer ebenen Fläche, ohne bemerkbaren Vorder- oder Hin— tergrund zu bilden. Er-ſieht die Geſtalten aller Gegen— ſtände deutlich, ſowie ihre Farben, Naturſchönheiten bieten ihm auch großen Genuß. Allein ſobald er ihnen den Rücken kehrt oder das Auge ſchließt, fo verwirrt ſich ſofort ſeine Erinnerung an dieſelben Er vermag es nicht, die wechſel—

Gewichtfinn. 195

feitige Stellung der Gegenſtände ſich zurückzurufen, wäh— rend er ſich deutlich des angenehmen Eindrucks erinnert, den fie auf ihn machten ).

Combe?) erwähnt eines Falles, da ein Mann bis— weilen Zeiten hat, in welchen er alle Dinge, ſelbſt die ihm ganz nahe ſind, ſieht, als wären ſie ferne. Dieſer Zuſtand iſt ohne Zweifel einer krankhaften Affection des Organs des Größenſinnes zuzuſchreiben.

$. 36. 29. Gewichtſinn.

Unmittelbar über dem Auge, zwiſchen den Organen des Raum- und des Farbenſinns und unter demjenigen des Ortſinns findet ſich dasjenige des Gewichtſinns.

Aus der Schwerkraft geht aller Widerſtand hervor, den uns der Körper in ſeiner Ruhe entgegenſetzt, ſei es direct durch ſich ſelbſt oder durch ſeine Verbindung mit an— dern Körpern. Die Schwerkraft bildet daher den Gegen— ſatz zu der bewegenden Kraft. Erſtere hat ihren Sitz in dem Organe des Gewichtſinns, indem dieſer nichts anderes iſt, als der Sinn für die aus der Schwere der Körper (ihrem Gewicht) hervorgehenden Verhältniſſe. Ob die letztere ein beſonderes Organ hat, oder aus dem Zuſammenwirken der übrigen Organe ſich entwickelt, iſt zur Zeit noch nicht genügend ermittelt. Einiges ſcheint indeß dafür zu ſprechen, daß die bewegende oder die Schwungfraft, inſofern ſie un— willkürlich iſt, ihren Sitz in dem verlängerten Rückenmark, inſofern ſie willkürlich iſt, in den verſchiedenen Organen des vordern Gehirn-Lappens hat. Inwiefern das kleine Gehirn hierbei betheiligt ſein möchte, iſt noch nicht ermittelt. Jedenfalls würde durch dieſelbe die leitende und beſtim—

I) Spurzheim, observ. p. 281. Combe's Syſtem S. 337. 2) System of Phrenology. 5. Ed. Vol. II. p. 45. 15 *

196 Gewichtſinn.

mende Einwirkung der verſchiedenen Organe der Intelli— genz und namentlich des Gewichtſinns nicht ausgeſchloſ— ſen. Die bewegende Kraft im Menſchen und ſein Ge— wichtſinn verhalten ſich wie die Centrifugal- und die Centripetalkraft im Weltgebäude. Durch die Wechſelwir— kung der letzteren werden die Sterne am Firmamente in geregeltem Gange erhalten, durch die Wechſelwirkung der erſteren werden die Bewegungen des Menſchen und über— haupt aller lebenden Geſchöpfe geregelt, inſofern ſie nicht unter dem Einfluſſe einer von außen wirkenden bewegenden Kraft ſtehen. Eine ſolche bringt in Verbindung mit der den Körpern inwohnenden Schwerkraft alle Bewegungen derſelben hervor. Die Schwerkraft bildet alſo nicht blos das Element der Ruhe in der Körperwelt, ſondern zu glei— cher Zeit ein Element ihrer Bewegung, weil jede bewegende Kraft durch das ihr entgegenſtehende Gewicht in ihren Wir— kungen modificirt wird.

Ich fand die Organe des Größenſinns und des Ge— wichtſinns an einem Engländer Namens Jones ſtark ent— wickelt, und als ich es ihm ſagte, ſo erwiderte er mir, es ſeien auf ihn Wetten gemacht worden, daß er im Stande ſei, das Gewicht jeder einzelnen Perſon einer Geſellſchaft blos nach dem Augenmaße zu beſtimmen, ohne jemals mehr als fünf Pfunde zu irren. Hier ſehen wir recht auffallend das Zuſammenwirken jener beiden Organe im praktiſchen Leben.

Leute, welche ſich im Scheibenſchießen auszeichnen, ſo— wie auch ſolche, die in der Mechanik den Schwerpunkt und den Widerſtand gut zu beurtheilen wiſſen, haben nach wie— derholten Beobachtungen das bezeichnete Organ groß. Auf dem Gewichtſinne beruht hauptſächlich die Statik oder der— jenige Zweig der Mathematik, welcher die durch ihre Schwere bedingte Bewegung der Körper betrachtet, ſodann das Gleich— gewicht, welches in den mannigfaltigſten Beziehungen des Lebens, z. B. beim Gehen, Reiten, Schlittſchuhfahren, Seiltanzen u. ſ. w. von weſentlicher Bedeutung iſt. Eine richtige Würdigung des Widerſtandes, den ihm bei Opera—

Gewichtſinn. 197

tionen die zu durchſchneidenden Theile entgegenſetzen, iſt insbeſondere auch dem Operateur!) unentbehrlich. Das Ge: lingen ſeiner Operationen wird daher zum großen Theile auf der Entwickelung dieſes Organs beruhen. Aus gleichem Grunde iſt es dem Muſiker, dem Bildhauer, Kupferſtecher, Goldarbeiter und jedem, der ſich mit feinern Handarbeiten beſchäftigt, von höchſter Bedeutung. i

Sehr intereſſant ſind einige Fälle von Krankheits— erſcheinungen dieſes Organs. Ein Fräulein S. wurde z. B. von Kopfweh und Schmerz in der Gegend des Organs des Gewichtſinns befallen, worauf ihre Wahrnehmung des Gleichgewichts ſich trübte, Schwindel eintrat und die Em— pfindung entſtand, als würde ſie wechſelsweiſe aufgehoben und niedergelaſſen und nach vorn geneigt.

Fälle, da es im Traume ſowohl als im wachenden Zuſtande der Menſchen vorkommt, als ſchwebten ſie in der Luft, als flögen ſie, als fielen ſie von hohen Thürmen oder aus Fenſtern tief hinab, als ginge das Zimmer um ſie herum, als ginge der eigene Kopf im Kreiſe herum, als könne man den eigenen Schwerpunkt nicht mehr finden find ſehr häufig. Sie find immer mehr oder weniger von Schwindel begleitet. Geiſtige Getränke befördern derartige Zuſtände bekanntermaßen ungemein. Sie ſcheinen ſich ſämmt— lich auf eine krankhafte Aufregung des Gewichtſinns zurück— führen zu laſſen. Die Seekrankheit iſt mit dieſen Erſchei— nungen nahe verbunden. Wer ſein Gleichgewicht auf dem Schiffe oder beim Beſteigen eines hohen Thurms bewahrt, wird weder Schwindel noch irgend eine andere Folge des letztern empfinden, während eine krankhafte Affection des Organs des Gewichtſinns natürlich auf die andern Theile des Körpers eine Rückwirkung übt und fo Uebelkeiten, Erbrechen u. ſ. w. hervorruft ).

1) Der ausgezeichnete Arzt und Operateur Geh. Rath Chelius zu Heidelberg beſitzt z B. den Gewichtſinn und den Größenſinn ſtark ent— wickelt.

2) Spurzheim, observ. p. 282. Combe's Syſtem S. 379.

198 Farbenſinn.

8. 30. Farbenſinn.

Dieſes Organ befindet ſich über dem Auge in der Mitte zwiſchen den Organen des Gewichts und der Ordnung., unmittelbar unter demjenigen der Zeit. Es wird durch die auf der Tafel VII mit XVIII bezeichneten Gehirntheile ge— bildet.

Bei allen Malern, die ſich durch Farbengebung aus— zeichnen, z. B. Rubens, Titian, Rembrandt, Salvator Roſa, Claude Lorrain, Wilkie, bildet der unmittelbar über den Augen liegende Theil der Stirn einen gewölbten Vorſprung, und der ganze Augenbogen, beſonders aber ſeine äußere Hälfte, iſt nach oben zu gerichtet, ſodaß die aus— wendige Hälfte der Augenbraunen mehr erhöht iſt, als die inwendige Hälfte. In dieſer Richtung liegt eine kleine, nach außen vorſpringende Windung, die / bis 1 Zoll im Durch— meſſer in der Quere hat!).

Wie das Ohr nur der Apparat iſt, in welchem der Schall, ſo iſt das Auge nur der Spiegel, worin die Au— ßenſeite der Körper, alſo ihre Farbenverhältniſſe, aufgenom— men werden. Das Organ dagegen, das uns befähigt, uns des Farbenbildes bewußt zu werden, uns deſſen zu erin— nern, Freude über ſchöne Farben, Farbenmiſchungen und Zuſammenſtellungen zu empfinden, unſchöne Farbenverhält— niſſe dagegen als ſolche zu erkennen, und das den, der es ſtark beſitzt, drängt, ſchöne Farbenverhältniſſe zu ſuchen und hervorzubringen dieſes Organ iſt nicht das Auge, ſondern der unter der bezeichneten Stelle des Schädels ru— hende Gehirntheil. Dieſes behauptete ſchon ein blindgebor— ner Buchhändler zu Augsburg, welcher dieſes Organ ſehr groß beſaß. Er verſicherte, blos mit Hülfe des innern

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 341 346. Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. V. p. 73 - 95.

Farbenſinn. 199

Sinnes Begriffe von den Farben zu haben, und konnte wirklich ihre Harmonie genau beſtimmen. Wenn er ſich mit ſeinen farbigen Glasperlen zu viel beſchäftigte, empfand er Schmerz unmittelbar über den Augen, beſonders über dem rechten Auge.

In den phrenologiſchen Schriften ſind eine Reihe in— tereſſanter Fälle beſchrieben, ſowohl ſolcher, welche ein Wech— ſelverhältniß zwiſchen ſtarker Entwickelung des Organs und großem Farbenſinne, als ſolcher, welche ein Wechſelverhält— niß zwiſchen ſchwacher Entwickelung des Organs und ſchwa— chem Farbenſinne bekunden. Beſonders merkwürdig iſt der Fall eines Herrn Milne, welcher bei auffallend ſchwacher Entwickelung dieſes Organs Jahre lang in einem Tuchladen ſtand und Tuch verkaufte, ohne nur ſelbſt zu wiſſen, daß er nicht vermöge, die Farben richtig zu erkennen. Die Feh— ler und Verſtöße, die er, in Folge ſeines mangelnden Far— benſinns, machte, wurden ſeiner Unachtſamkeit zugeſchrieben. Am Ende überzeugte er ſich jedoch, daß er, wenn auch Schwarz und Weiß, Blau und Gelb, doch nicht Braun, Grün und Roth unterſcheiden könne, daß er im Regenbogen nur Gelb und Blau genau erkenne u. ſ. w. Er hatte an der Stelle dieſes Organs eine augenfällige Vertiefung.

Auch ich habe Gelegenheit gehabt, einen ganz gleichen Fall zu beobachten. O. G. Advocat Eſſer zu Mannheim hat an der Stelle, wo das Organ des Farbenſinns liegt, eine merkliche Vertiefung. Auch er kann nur Schwarz und Weiß, Blau und Gelb unterſcheiden; Dunkelblau und Roth, wenn es etwas dunkel iſt, ſelbſt dann nicht mehr, wenn die beiden Farben neben einander liegen; z. B. beim Bil— lardſpiel vermag er die blaue von der rothen Kugel nicht zu unterſcheiden, wenn beide Farben etwas dunkel ſind. Der Farbenſinn iſt gewöhnlich bei den Frauen mehr ent— wickelt als bei den Männern, wie ſchon ihre Kleidung und ihre Vorliebe für Blumen beweiſt; in Uebereinſtimmung hiermit iſt die Bemerkung, daß die Augenbrauen bei ihnen ziemlich häufig einen Kreis bilden.

200 Farbenſinn.

Unter den verſchiedenen Völkern der Erde zeichnen ſich die Chineſen durch ihren Farbenſinn aus. Man weiß, wie ſehr fie die Farben lieben: alle ihre Gebäude, Säulen u. ſ. w. ſind farbig angeſtrichen, auch übertreffen ſie alle Völker in der Färberei. Ihre Augenbraunen ſind ſehr nach oben ge— zogen. Uebrigens iſt es nicht die Sache dieſes Sinnes, ein richtiges Verhältniß zwiſchen der Farbengebung und den zu färbenden und zu malenden Gegenſtänden herzuſtellen. Das iſt Sache des Geſchmacks und hängt nicht ſelten von Kennt— niſſen mannigfaltiger Art ab.

Was oben bei Gelegenheit des Geſtaltſinns von den ewigen Geſetzen der Natur in Betreff der Geſtalten ausge— führt iſt, gilt auch in Betreff der Farben. Der Menſch kann die Natur nur beobachten und ihre Geſetze befolgen, ihr aber keine ſolchen vorſchreiben. Der Farbenſinn befä— higt ihn zu dieſer Beobachtung in Betreff der Farben.

Farbe iſt dasjenige, was wir vermittelſt des Auges, (des Sehnervs) am Körper wahrnehmen, oder was bei dem Zuſammentreffen zwiſchen dem Auge und einem Kör— per ſich darſtellt. Man wende nicht ein, bei dieſem Zu— ſammentreffen nähmen wir auch Geſtalten wahr. Aller— dings! Allein nur vermittelſt der Verſchiedenheiten der Far— ben. Nimmt man dieſe, wozu insbeſondere die Reſultate von Licht und Schatten gehören, hinweg, ſo gewahren wir mittelſt des Auges nichts, wie bei gänzlicher Finſterniß.

Unmittelbar zeigt uns das Auge Farben und deren Ver— ſchiedenheiten, mittelbar nur Geſtalten. Nicht ſelten ſehen wir lange die verſchiedenen Farben, bevor wir uns der Geſtal— ten, die ſich daraus entwickeln, bewußt werden. Ich erin— nere mich ſehr wohl noch, als Kind eine Schlange, welche die Umriſſe des Geſichts Ludwig's XVI. in ihren Windun— gen darſtellte, oft mit dem Bewußtſein angeſehen zu haben, daß ſie die Umriſſe dieſes Geſichts darſtellte, ohne die Ver— bindung zwiſchen dieſen Windungen und jenen Umriſſen herſtellen zu können. Erſt im Augenblick, da mein Geſtalt—

Farbenſinn. 201

ſinn ſeine Pflicht that, da ſtellte ſich mir in den Windungen der Schlange das Geſicht Ludwig's XVI. dar. Der Farbenſinn hatte mir längſt den Unterſchied zwiſchen Schwarz und Weiß gezeigt, bevor ich die dadurch gezeichnete Geſtalt wahrnahm.

Man wende auch nicht ein: der Blinde könne die Far— ben fühlen. Dieſes iſt nicht genau. Er fühlt Körper und nimmt wahr, daß verſchiedene Körper dem Taſtſinne ver— ſchieden erſcheinen. Wenn man ihn nun gelehrt hat, der Körper, welcher ſich ſo anfühle, ſei ſchwarz, und welcher ſich ſo anfühle, roth, ſo lernt er dieſes auswendig. Allein die Farben nimmt er darum nicht wahr in ihrer Eigenthüm— lichkeit. Denn dieſe beſteht nicht in der Art und Weiſe, wie ſie ſich anfühlen laſſen, ſondern wie ſie ausſehen. Die Far— ben des Regenbogens oder diejenigen, welche ſich im gebro— chen Lichtſtrahle zeigen, wird kein Blinder durch Fühlen unterſcheiden. Der Taſtſinn mag ihm nun, wie bei dem oben erwähnten Buchhändler in Augsburg, allerdings eine Ahnung von den Farbenverhältniſſen geben, wenn ſein Far— benſinn gut entwickelt iſt. Allein eine Ahnung iſt keine Anſchauung, ein trauriger Nothbehelf iſt nicht das eigent— liche Werkzeug, wodurch das Organ des Gehirns mit der Außenwelt in Verbindung tritt. In gleicher Weiſe hilft der Geruch dem Geſchmack und dieſer jenem nach, ohne für den andern förmlich einzutreten. Wie der Gehörsnerv nur Schallempfindungen, ſo vermittelt der Sehnerv nur Licht— empfindungen, und ſo wenig als dieſer jenen, kann der Empfindungsnerv den Sehnerv erſetzen, obgleich allerdings der Gehörsnerv dieſelben Oscillationen dem Bewußtſein zu— führen kann als der Sehnerv. Dort werden dieſelben aber zu Tönen und hier zu Lichterſcheinungen, die durch den Empfindungsnerv vermittelten Eindrücke gehören dem Taſt— ſinne, die durch den Sehnerv vermittelten dem Geſichte an!).

1) S. Müller, Phyſiologie. Bd. J. S. 781. Wie ſehr ſich auch das Gefühl der Finger bei einem Blinden ſteigern mag, es bleibt immer Qualitat der Gefühlsnerven: Gefühl.

202 Ortſinn.

Die Farben, welche der Blinde, die Töne, welche der Taube zu unterſcheiden glaubt, find Körper, Indigo, das ſich fo anfühlt, Zinnober, das ſich anders anfühlt u. ſ. w.; oder Lufterſcheinungen, welche dieſe oder jene Empfindung her— vorrufen.

Allein das Charakteriſtiſche der Farbe iſt eben ſo wenig als das Charakteriſtiſche des Schalls die Wirkung auf das Gefühl, auf den Taſtſinn; ſondern die Wirkung auf das Geſicht, wie hier auf das Gehör).

$ 38. 31. Ortſinn.

Unmittelbar über den Augen, an der äußern Seite der Naſenwurzel in ſchiefer Richtung bis zur Mitte der Stirn ſtellt ſich das Organ des Ortſinns dar. Es iſt umgeben von den Organen des Gegenſtandſinns, Thatſachen-, Zeit-, Farben-, Gewicht- und Raumſinns, und wird gebildet durch die auf Gall's Tafeln mit XVII bezeichneten Gehirn— theile.

Gall entdeckte dieſes Organ zuerſt in ſehr ſtarker Ent— wickelung an dem Kopfe eines ſeiner Mitſchüler, welcher, ſonſt nicht ſehr begabt, ein auffallendes Geſchick hatte, ſich in unbekannten und verſchlungenen Waldgegenden zu orien— tiren und die daſelbſt den Vögeln geſtellten Netze aufzufin— den. Dann bemerkte er es groß an dem Landſchaftsmaler Schönberger, welcher auf ſeinen Reiſen immer nur flüchtige Skizzen von den Gegenden, die ihn intereſſirten, aufnahm, und ſpäter doch jeden Baum, jeden Stein der wirklichen Landſchaft in das Bild einzufügen vermochte. Auch an dem Verfaſſer der Dia-na-ſora, Mayer, und mehreren an— dern Perſonen, die nur Genuß an einem herumirrenden

I) Syursſieim, observ. p. 283-285. Combe's Syſtem S. 343. Spurzheim, on Phrenology p. 276 f.

Ortſinn. 203

Leben hatten und ein großes Ortsgedächtniß beſaßen, fand er das Organ groß. Sir Walter Scott, berühmt durch ſeine Ortsbeſchreibungen, Columbus, Vasco di Gama, Cook, Mungo Park, Alexander von Humboldt, ausgezeichnet durch die auf ihren großen Reiſen an den Tag gelegte Auffaſſung und Würdigung örtlicher Verhältniſſe, Kepler, Galilei, Tycho di Brahe, Newton, die großen praktiſchen Aſtronomen, beſaßen alle das Organ ſtark entwickelt. Auch fand Gall es groß an den Köpfen vieler berühmter Schach— ſpieler und Militärs, welche ſich durch ihre Kunſt ſich zu orientiren auszeichneten. Es iſt im Allgemeinen größer an den Köpfen der Männer als der Frauen.

Nicht blos bei Menſchen, ſondern auch bei Thieren findet ſich der Ortſinn und das Organ deſſelben immer in entſprechender Entwickelung, nur gehört einiges Studium dazu, es bei ihnen ſicher zu finden. Der Ortſinn iſt es, welcher die Zugvögel auf ihren Wanderungen, daſſelbe Schwalben-, Nachtigallen-, Störche-Paar zurück in daſ— ſelbe Neſt, das ſie verließen, leitet. Man brachte einen Hund in einen Wagen von Wien nach Petersburg und nach ſechs Monaten war er wieder zurück. Ein anderer wurde von Wien nach London gebracht; er hing ſich an einen Reiſenden, mit dem er ſich einſchiffte, ſowie er aufs Land kam, entlief er ihm aber und kehrte nach Wien zu— rück. Man hat Katzen 8— 10 Meilen in einem Sack ge— tragen und doch kamen ſie wieder zurück. Nur durch den Ortſinn iſt die Taubenpoſt erklärlich, und die Unruhe, welche die Zugvögel, ſelbſt wenn ſie gefangen ſind, zur Zeit ihrer Wanderungen befällt.

Die Stirnhöhle erſtreckt ſich nur ſelten bis über den untern Theil dieſes Organs hinaus, und während die durch dieſelbe bedingten Hervorragungen von unregelmäßiger Ge— ſtalt und meiſtens wagrecht laufend find, zeigen ſich die durch das Organ des Ortſinns gebildeten gleichförmig und erſtrecken ſich ſchräg aufwärts bis gegen die Mitte der Stirn.

Der Ortſinn verleiht dem Menſchen wie dem Thiere

204 Ortſinn.

die Fähigkeit, ſich in örtlichen Verhältniſſen zurechtzufinden, ſich zu orientiren, und die Neigung, zu reiſen, zu wandern, in verſchiedene örtliche Verhältniſſe einzutreten. Auf ihm beruht die Erdbeſchreibung und die Topographie in allen ihren örtlichen Einzelnheiten. In Verbindung mit Geftalt-, Farben- und Zuſammenſetzungsſinn bildet er den Landſchafts— maler. Claude-Lorrain, Vernet, Hackert beſaßen das Organ groß.

Es verhält ſich dieſes Geiſtespermögen zum Raum- oder Größenſinn wie der Thatſachenſinn zum Zeitſinn. Wäh— rend der Gegenſtandſinn die Gegenſtände an und für ſich erfaßt, der Farbenſinn ihre Farbenverhältniſſe, der Geſtalt— ſinn ihre Geſtalten, der Gewichtſinn ihre Schwere ſetzt uns der Ortſinn in den Stand, ihr wechſelſeitiges Verhält— niß im Raume zu beachten und zu würdigen. Nur der Ortſinn macht es dem Aſtronomen möglich, am geſtirnten Himmel die einzelnen Sterne, die er beobachten will, leicht und mit Sicherheit aufzufinden. Der Größenſinn mag uns die Größe eines Körpers, ſeine Ausdehnung im Raume, die Entfernung eines Körpers vom andern, d. h. die Aus— dehnung des zwiſchen denſelben befindlichen Raumes be— zeichnen. Allein wenn wir auch wiſſen, wie z. B. ein Stern am Himmel oder ein Haus auf Erden ausſieht, wenn wir

ihre Größe, Geſtalt und Farbe genau kennen, wenn wir

auch wiſſen, in welcher Richtung ſie von einem andern uns bekannten Gegenſtande liegen und wie weit fie von ihm entfernt ſind, ſo müſſen wir doch noch immer ſuchen, um unſern Stern oder unſer Haus zu finden, und nur vermit— telſt des Ortſinns wird uns dieſes möglich werden, weil er uns auf dem ganzen Wege als Führer begleitet, während Größen-, Geſtalt- und Farbenſinn nur in untergeordneter Weiſe, als Diener des Ortſinns uns auf unſerm Wege durch die Straßen des Himmels oder der Erde, durch die verſchlun— genen Straßen der Städte oder die bewachſenen Pfade des Waldes, durch die Einöden der Wüſte oder den Spiege der See zur Seite ſind.

Zeitſinn. 205

Eine krankhafte Aufregung dieſes Organs ruft oft eine unwiderſtehliche Reiſeluſt hervor. Der Abt Dobrowsky in Prag, welcher daran litt, erwachte manchmal in der Nacht und konnte ſich nicht enthalten, durch die Felder zu laufen. Einmal hatte er einen ſolchen Anfall bei ſtarker Kälte, ſtand auf, zog ſich in der Dunkelheit an und ging gleich fort. Erſt nachdem er ungefähr zwei Stunden bis an die Kniee im Schnee gemacht hatte, konnte er es über ſich gewinnen, zurückzukehren und ſich wieder ins Bett zu legen. Er be— ſaß das Organ des Ortſinns in ungewöhnlicher Größe. Die Unruhe, welche manche Menſchen beſitzen, und ihre Abnei— gung gegen einen feſten, bleibenden Wohnſitz, die Neigung zu einem Vagabundenleben mit allen ſeinen Beſchwerden, die Träume von Wanderungen durch alle möglichen Land— ſchaften, Städte, Wälder und Gärten ſind nur der Wir— kung dieſes Organs zuzufchreiben !).

$. 39. 32. Zeitſinn.

Umgeben von den Organen des Thatſachenſinns, des Schlußvermögens, des Witzes, des Tonſinns, des Farben— und des Ortſinns befindet ſich das Organ des Zeitſinns an den beiden Seiten der Stirn.

Es iſt bei Denjenigen groß gefunden worden, welche immer, ohne auf die Uhr oder nur nach der Sonne zu ſe— hen, wiſſen, was die Zeit iſt, und welche in der Muſik für Takt, in der Poeſie für Rhythmus beſondern Sinn haben, namentlich auch bei taktfeſten Tänzern.

I) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 298-305. Spurzheim, observ. p. 285—291. Combe's Syſtem S. 349. Spurzheim, on Phrenology p. 277-281. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. IV. p. 428-466.

206 A Zeitfinn.

Menſchen mit vorherrſchend ſtarkem Zeitſinn werden in allen Beziehungen des Lebens das zeitliche Element be— ſonders hervorheben. Die Geſchichte wird ihnen zur Chro— nologie, der Tanz der Horen nur ein Meſſer der Zeit. Sie ſind ſelbſt immer zur rechten Stunde bereit, und empfinden es unangenehm, wenn man ſie auch nur kurz warten läßt. Sie können beim Schlafengehen genau die Zeit beſtimmen, da ſie erwachen. Bei Geiſteskranken ſteht bisweilen die Uhr des Geiſtes ſtill. Mir iſt ein Fall bekannt, da ein ſolcher ſeine in lichteren Momenten geſchriebenen Briefe im— mer von dem Tage datirt, welcher ſeiner Erkrankung vor— herging, obgleich dieſer 40 Jahre hinter ihm liegt. Ein Ir— rer in Wien hatte zu Gall's Zeiten immer nur eine feſte Idee, daß es der 17. October ſei. Auch die Thiere müſſen Zeit— ſinn haben, da ſie den Wechſel der Jahreszeiten und der Stunden vorherſehen und ſich darnach richten).

Der Zeitſinn iſt das Vermögen, die unſichtbaren Pen— delſchwingungen der Zeit wahrzunehmen und ſich ſo ihres Taktſchlags bewußt zu werden, dadurch chronologiſche Ordnung in die Ereigniſſe des Lebens zu bringen. Wie die naturgemäße Thätigkeit jedes Geiſtesvermögens ein an— genehmes Gefühl hervorbringt, ſo auch diejenige des Zeit— ſinns. Wenn unſere Regimenter unter Trommel- und Pau— kenſchlag zum Exerciren oder zur Parade ausziehen, ſehen wir oft Hunderte von Leuten aus allen Ständen und von jedem Alter nebenher in gleichem Takte gehen. Die na— türliche Thätigkeit dieſes Sinnes treibt ſie zur taktmäßigen Bewegung, welche ihnen ſelbſt angenehm ſein muß, da ſie unaufgefordert ſie annehmen. Wie oft ſieht man die Men— ſchen, welche Muſik hören, dazu mit dem Fuß, der Hand oder dem Kopf den Takt ſchlagen, als ob es ihnen dop— pelte Freude mache, ſich ſo des Taktes feſter und ſicherer bewußt zu werden. In der natürlichen Thätigkeit dieſes

1) Gall's vollſtändige Geiſteskunde S. 368-370. Gall, sur les fonctions du cerveau Vol. V. p. 153-159.

Thatſachenſinn. 207

Organs müſſen wir auch die angenehme Empfindung erken— nen, welche der Rhythmus des Verſes und der Takt der Muſik uns gewähren.

Wer dieſes Organ in ſchwacher Entwickelung beſitzt, wird dieſen Freuden nicht, oder nicht ſo lebhaft wie andere, mit ſtärkerm Zeitſinn verſehene Perſonen zugänglich ſein, und nicht vermögen, ſich ſelbſt im Takte zu bewegen, ſei— nen Verſen Rhythmus zu geben und überhaupt das Rau— ſchen des Zeitenſtroms genau zu vernehmen, oder nachzu— bilden !).

Die Zeit mit ihren Erſcheinungen ſteht auf einer hö— heren Stufe der unendlichen Leiter, deren Sproſſen eines— theils auf der Erde ruhen, anderntheils ſich in den Himmel erheben, als der Raum mit alle dem, was ihn betrifft. Daher nehmen auch die Organe, welche ſich auf ſie be— ziehen, eine höhere Stelle im Gehirne ein, als diejenigen, welche ſich auf den Raum beziehen.

Es iſt bemerkenswerth, daß, wenn wir an zeitliche Verhältniſſe denken, und namentlich, wenn wir uns auf ſolche beſinnen, unſere Augen ſich aufwärts in der Richtung des Organs des Zeitſinns bewegen und wir mit dem Fin⸗ ger an demſelben reiben.

F. 40. 33. Thatſachenſinn.

Dieſes Organ iſt ſehr leicht zu finden. Es liegt gerade in der Mitte der Stirn, umgeben von den Organen des Gegenſtandſinns, des Ortſinns, Zeitſinns, Schlußvermö— gens und der Vergleichungsgabe. Wenn es groß iſt, giebt

I) Spurzheim, observ. p. 295.296. Combe's Syſtem S. 363.

208 Thatſachenſinn.

es der Mitte der Stirn eine gewiſſe Fülle und Run— dung ).

Dieſes Organ findet ſich groß bei den Kindern, welche in der Regel gern Geſchichten hören und gern Handlung und Bewegung ſehen, groß bei Sheridan, deſſen Erzäh— lung trefflich war und welcher immer Thatſachen bei der Hand hatte, um ſeinen Reden Nachdruck zu geben; des— gleichen bei dem engliſchen Miniſter Pitt; klein bei dem Dichter Thomas Moore, deſſen Erzählung als ſolche wenig Werth hat, während ſeine Reflexionen, ſeine Schilderungen und ſein Colorit ausgezeichnet ſind. Es iſt klein bei Vol— taire, deſſen geſchichtliche Werke als ſolche durchaus werth— los ſind, während er ſich durch Witz und Schlußvermögen beſonders auszeichnete. Es iſt groß bei Walter Scott, deſſen Erzählung meiſterhaft iſt. Bei uns Deutſchen im Allgemeinen iſt dieſes Organ mangelhaft, während die Or— gane des Denkvermögens groß ſind. Bei den Franzoſen und Engländern iſt umgekehrt das Organ des Thatſachen— ſinns verhältnißmäßig größer, und die Organe des Denk—

1) Fig. 59. Fig. 60. Fig. 61. 22. Gegenftandfinn 22. Gegenſtandsſinn 22. Gegenſtandſinn mittelmäßig. groß. groß. 30. Thatſachenſinn 30. Thatſachenſinn 30. Thatſachenſinn groß. klein. klein. 34. Vergleichungsgabe 34. Vergleichungsgabe 34. Vergleichungsgabe ziemlich groß. ſehr groß. voll.

* 9 IM .

ze

Sheridan.

Pitt.

Thatſachenſinn. 209

vermögens find verhältnißmäßig kleiner, während dieſe um— gekehrt die geſchichtliche Seite des Lebens der philoſophi— ſchen vorziehen. Dieſen Verſchiedenheiten der Organiſation iſt es zuzuſchreiben, daß die Deutſchen mehr die philoſophi— ſche als die geſchichtliche Seite des Lebens, mehr die Spe— culation als das Experimentiren lieben, während bei den Engländern und Franzoſen das Umgekehrte ſtattfindet.

Der Thatſachenſinn hat es zu thun mit Ereigniſſen, Thatſachen, mit demjenigen, was die Zeit ausfüllt. Er nimmt Kenntniß von den Veränderungen des Lebens und ſpricht ſich aus durch das Zeitwort, wie der Gegenſtandſinn durch das Hauptwort. Bei Gelegenheit des Gegenſtand— ſinns iſt ſchon ein Beiſpiel von dem Gegenſatze dieſer beiden Geiſtesvermögen gegeben worden. Der Thatſachenſinn be— dingt Entdeckungen durch Verſuche, der Gegenſtandſinn durch Beobachtung; jener führt den Schriftſteller und den Red— ner zur Erzählung, dieſer zur Beſchreibung. Beide haben übrigens nur die Aufgabe, Begebenheiten und Daſein zu erkennen, nicht ſie zu beurtheilen oder ihren Urſachen nach— zuforſchen. Wer dieſelben im Gegenſatz zum Denkvermögen ſtark entwickelt beſitzt, wird ſich durch Fragen, wer im ent— gegengeſetzten Falle iſt, durch Vergleichungen und Schlüſſe belehren. Jener wird mit Thatſachen und ſpeciellen Anga— ben, dieſer mit Gründen und Schlußfolgerungen zu Felde ziehen. Frau Quickly in ihrer Rede zu Falſtaff im zwei— ten Theile König Heinrich's IV. (Act II, Scene Y bietet ein treffliches Beiſpiel der Beweisführung der erſteren Art. Auf dem Thatſachenſinn beruht die Geſchichte, auf dem Denkvermögen die Philoſophie. Der Thatſachenſinn erfaßt die Begebenheiten des innern wie des äußern Lebens. Er ſtrebt nach deren Erkenntniß und begründet die Geneigtheit, ſie mitzutheilen. In Verbindung mit dem Gegenſtandſinn bildet er den praktiſchen Geiſt, welcher der Hauptſtützpunkt aller Wiſſenſchaft iſt!).

I) Spurzheim, observ. p. 294. 295. Combe's Syſtem S. 358. Spursheim, on Phrenology p. 283 285.

14

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210 Zahlenſinn.

Der Thatſachenſinn flößt nicht nur Intereſſe an den Ereigniſſen der Außenwelt ein, ſondern er ruft auch die Neigung hervor, ſelbſt welche zu erleben, Erfahrungen zu ſammeln und die Erfahrungen des innern Lebens zu erfaſ— ſen und feſtzuhalten. Er iſt es daher, welcher uns das Bild unſerer innerern und äußern Erlebniſſe vor die Seele hält, mit mehr oder minder lebendigen Farben, je nachdem er mehr oder minder lebenskräftig wirkt.

F. 41. 34. Zahlenſinn.

Dieſes Organ wird gebildet durch die auf Gall's Tafeln mit XIX bezeichneten Gehirntheile. Es zeigt ſich am äußern Ende der Augenbraunen und dem Augenwinkel, un— ter dem Organ des Zeitſinns und demjenigen des Ordnungs— ſinns. Wenn es groß iſt, erzeugt es eine gewiſſe Fülle und Breite dieſes Theils der Schläfengegend und giebt dem Augenwinkel eine Richtung nach unten. Wenn es dagegen klein iſt, ſo iſt die Gegend zwiſchen den Augen und den Schläfen ſchwach und ſchmal.

Gall) führt eine Reihe von Fällen an, da Kinder, ungeachtet ſie in jeder andern Beziehung ganz unentwickelt waren, im Rechnen die größten Meiſter übertrafen; da Er— wachſene, ungeachtet ſie in jeder andern Beziehung höchſt mittelmäßig waren, ein ausgezeichnetes Geſchick im Rechnen beſaßen, ja ſelbſt Idioten, Sterbende und Wahnſinnige, welche bei ſonſtiger Schwäche und Verrücktheit doch noch im Stande waren, zu rechnen. Auf der andern Seite ſind viele Fälle beobachtet worden, da Menſchen, bei ſonſtiger Begabtheit, doch niemals zu rechnen verſtanden, ungeachtet

1) Vollſtändige Geiſteskunde S. 358 367. Gall, sur les fonc- tions du cerveau Vol. V. p. 130 153. Spurzheim, observ. p- 291 - 293. Spurzheim, on Phronology p. 281 f.

Zahlenſinn. 211

aller Mühe, die ſie ſich gaben, rechnen zu lernen. Alle dieſe Beobachtungen ſind eben ſo viele Beweiſe für die Annahme eines ſelbſtändigen Zahlenſinns. Auch Thiere beſitzen den Zahlenſinn, z. B. die Elſter, welche bis auf 5, vielleicht bis auf 9 zählen kann.

Dr. Gall beobachtete dieſes Organ zuerſt an einem Schüler von St. Pölten bei Wien, welcher in einem Alter von neun Jahren drei Zahlen von 10 12 Ziffern im Kopfe addirte, ſubtrahirte und mit Zahlen von drei Ziffern mul— tiplicirte und dividirte, bevor andere geübte Rechner es auf dem Papiere konnten; dann an dem Sohne eines Advoca— ten in Wien, welcher in einem Alter von fünf Jahren ſich ſo ausſchließlich mit Zahlen und Rechnen beſchäftigte, daß es nicht möglich war, ſeine Aufmerkſamkeit auf etwas An— deres zu richten. Er verglich deren Schädelbildung mit derjenigen zweier berühmter Rechner: des Raths Man— telli und Vega's, und fand auch bei dieſen das Organ ſehr ſtark entwickelt. In Paris wollten ihn einige Aerzte auf die Probe ſtellen. Sie führten ihm drei Knaben zu, wo— von ſich einer durch eine außerordentliche Leichtigkeit im Rechnen auszeichnete. Auf den erſten Blick erkannte Gall den Rechner. Beſtätigungen der Richtigkeit der Beobach— tungen Gall's lieferten Georg Bidder, ein berühmter Rech— ner zu Edinburgh, welchen Hr. G. Combe unter drei ihm vorgeführten Knaben ſofort an der Bildung ſeines Kopfes erkannte; desgleichen Colburn, ein amerikaniſcher Knabe, welcher große Rechenfähigkeit an den Tag legte.

Hr. Georg Combe ſelbſt bietet dagegen ein Beiſpiel mangelhafter Entwickelung des Organs, er iſt nicht im Stande, mit Sicherheit zu addiren, zu ſubtrahiren, zu mul— tipliciren und zu dividiren, trotz aller angewandten Mühe und Fleißes. Die Neger ſind bekanntlich ſehr ungeſchickte Rechner, manche Stämme derſelben zählen nur bis fünf und fahren dann fort mit fünf eins, fünf zwei u. ſ. w. Das Organ ihres Zahlenſinns iſt im Allgemeinen ſehr klein. Die Chaymas, ein ſüdamerikaniſcher Volksſtamm, ſind gleich—

14 *

212 Zahlenſinn.

falls in Zahlenverhältniſſen ſehr ungeſchickt. Sie können nicht weiter als bis auf 30 oder 50 zählen, und dieſes koſtet ihnen große geiſtige Anſtrengung. Humboldt bemerkt von ihnen, daß ſich ihre Augenwinkel merklich nach oben, den Schläfen zu erheben, eine Bildung, welche eine ſchwache Entwickelung dieſes Organs andeutet. Dagegen beſitzen die Engländer ſowohl das Organ des Zahlenſinns, als die entſprechende Anlage im Allgemeinen ſtark entwickelt. Ge— wöhnlich iſt das Organ bei Frauen weniger groß als bei den Männern. An den Büſten und Porträten von Eukli— des, Archimedes, Galilei, Kepler, Newton, Leibnitz, Huyghens, Sully, Descartes, Euler, Lagrange, Laplace, Her— ſchel, Olbers, Arago iſt dieſes Organ groß zu finden, des— gleichen an dem Kopfe des Jedidiah Buxton, welcher, ob— gleich er keine Erziehung genoſſen, ſich durch ſein Rechentalent auszeichnete, und welcher, als er einſt Garrick auf der Bühne ſah, nur auf die Zahl der Worte merkte, welche dieſer ſprach.

Dr. Gall erwähnt, daß zwei ſeiner Bekannten in der Gegend dieſes Organs Schmerz empfanden, nachdem ſie ſich mehrere Tage hinter einander mit ſchwierigen Rechnungen beſchäftigt hatten.

Ein Wahnſinniger zu Wien beſchäftigte ſich lediglich damit, zu zählen. Er kam aber nicht weiter als bis auf 99. Es war unmöglich, ihn zu beſtimmen, weiter zu zäh— len. Ein Waſſerkopf, deſſen Hr. Gölis erwähnt, hatte alle ſeine geiſtigen Kräfte verloren, außer dem Wohlwollen und dem Zahlenſinn. Als die Krankheit überhand nahm, ver— lor er auch dieſe noch.

Dieſer Sinn hat es zu thun mit Zahlenverhältniſſen und bildet daher einen Gegenſatz zu denjenigen Sinnen, deren Gegenſtand die Beſchaffenheit, die Qualität der Dinge iſt. Zahlenverhältniſſe zu erfaſſen, mit Zahlen umzugehen, oder mit andern Worten, zu rechnen, iſt alſo die Aufgabe dieſes Sinnes. Arithmetik, Algebra und Logarithmen ſind die Kreiſe des Wiſſens, worin er ſich bewegt.

Zahlenſinn. 213

Wie alle übrigen Organe des Erkenntnißvermögens nur dazu dienen, das Vorhandene zu erkennen, nicht etwas nicht Vorhandenes zu ſchaffen, ſo auch der Zahlenſinn. Wenn eins und eins nothwendig zwei machen, ſo iſt dies keine Nothwendigkeit, die der Menſch geſchaffen hat, ſondern eine ſolche, welche er vermöge ſeines Zahlenſinnes erkennt. Die entgegengeſetzten Winkel eines Parallelogramms ſind ſich ewig gleich, es mag nun dieſes Geſetz von den Menſchen aufgefunden ſein oder nicht, ebenſo iſt es mit allen mathe— matiſchen Wahrheiten ).

Menſchen mit vorherrſchend ſtark entwickeltem Zahlen— ſinn wollen immer alles auf mathematiſche Grundſätze zu— rückführen. So kannte Gall einen Arzt mit ſtark entwickel— tem Zahlenſinn, welcher das Studium der Medicin und ſelbſt die Kraft der Arzneimittel, und einen Philologen, welcher eine Weltſprache ſuchte und auf ſolche zurückführen wollte. Ein noch lebender Officier ſuchte die ganze Philo— ſophie auf mathematiſche Sätze zu gründen u. ſ. w.

Wie alle übrigen Geiſtesvermögen, äußert ſich auch dieſes nach Verſchiedenheit der begleitenden Eigenſchaften ver— ſchieden. Nach dieſen Verſchiedenheiten wird Derjenige, der den Zahlenſinn in hohem Grade beſitzt, Geometer, Geo— graph, Optiker, Aſtronom werden.

I) Combe's Syſtem S. 353.

V. Das Denkvermögen oder Gaben.

9 2.

Das Denkvermögen umfaßt nur zwei Organe, während das Erkenntniß-Vermögen deren neun, das Darſtellungs— Vermögen deren ſechs enthält. Das Erkenntniß-Vermögen bietet den Stoff, welchen das Denkvermögen verarbeitet, und das Darſtellungs-Vermögen in Formen kleidet. Doch werden alle dieſe Arten der Thätigkeit natürlich durch Triebe und Empfindungen eigentlich erſt belebt und erwärmt.

Die Thiere beſitzen gemeinſchaftlich mit dem Menſchen alle Triebe, einige Empfindungen, z. B. die Beifallsliebe und die Sorglichkeit, mehrere Talente, z. B. Bauſinn, Nachahmungstalent, Tonſinn und Sprachſinn und die mei— ſten Fähigkeiten des Erkenntniß-Vermögens, insbeſondere Gegenſtandsſinn, Geſtaltſinn, Größenſinn, Ortſinn, Gewicht- ſinn, Farbenſinn, Zeitſinn und Zahlenſinn. Allein das Denkvermögen im eigentlichen Sinne des Wortes können wir nur dem Menſchen zuſchreiben.

Die Organe des Denkvermögens nehmen den höchſten. Platz unter denjenigen der Intelligenz ein. Die Organe des Erkenntniß-Vermögens ſcheinen in drei Abtheilungen zu zerfallen, die höchſte iſt diejenige, welche ſich auf die Zeit bezieht, die zweite hat es mit dem Raume, die dritte

Vergleichungsgabe. 215

mit der Zahl zu thun. Es ſcheint, es habe die Vorſehung uns ſchon durch die Anordnung der Organe auf ihre Rangordnung aufmerkſam machen wollen. Die Organe des Darſtellungsvermögens ziehen ſich zwiſchen den Or— ganen der Empfindung, des Denkvermögens und des Er— kenntnißvermögens hindurch, und auch bei ihnen bewährt ſich die eben angedeutete Idee der Rangordnung.

Die beiden Organe der Intelligenz, welche am niedrig— ſten ſtehen, ſind diejenigen des Wortſinns und des Zahlen— ſinns, und dennoch wird auf deren Ausbildung beſondere, faſt ausſchließliche Rückſicht genommen, als beſtehe die Blüthe des menſchlichen Geiſtes in dieſen den niedrig— ſten Organen der Intelligenz.

Das Denkvermögen umfaßt zwei Organe, dasjenige der Vergleichung und der Schlußfolgerung.

35. Vergleichungsgabe.

In der Mitte des obern Theils der Stirn, umgeben von den Organen des Schlußvermögens, des Thatſachenſinns und des Wohlwollens breitet ſich das Organ der Vergleichungs— gabe aus. Die Gehirnwindungen, welche es bilden, ſind auf den Tafeln von Gall mit XXII bezeichnet. Bei ſtarker Ent— wicklung fängt es an dem obern Theile der Stirn in einer Breite von etwa einem Zoll an, und geht, ſich kegelförmig zu— ſammenziehend bis zum Organ des Thatſachenſinns herab '). Dr. Gall entdeckte es zuerſt an einem Gelehrten, der eine große Lebendigkeit des Geiſtes beſaß, und mit dem er ſich oft über philoſophiſche Gegenſtände unterhielt. Sobald als es dieſem ſchwer wurde, den Beweis ſeiner Sätze ſtreng

1) S. Gall's vollſt. Geiſteskunde S. 381 384. Combe ss Syſtem S. 386. Spursheim on Phrenology p. 294 ff. Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. Vp. 195 sq.

216 Vergleichungsgabe.

durchzuführen, nahm er zu einem Gleichniſſe ſeine Zuflucht, und gewann dadurch ſeine Gegner für ſich, was ihm durch einfache Schlüſſe nie gelingen wollte. Zur ſelben Zeit er— hielt er die Köpfe zweier Exjeſuiten, welche ſich als ein— flußreiche Kanzelredner ausgezeichnet hatten, indem ſie ihre Vorträge durch Gleichniſſe und Parabeln beſonders an— ziehend zu machen wußten. Später unterſuchte er den Kopf des berühmten Paters Berhammer, welcher, unge— achtet ſeines unedeln und ſorgloſen Stils, durch die Menge ſeiner von den Dingen des gewöhnlichen Lebens herge— nommenen Vergleichungen, ſeine Zuhörer zu feſſeln wußte. Das Organ iſt groß bei Goethe, der in ſeinen Schriften reich an Vergleichungen iſt, bei Sheridan“), dem engliſchen Dichter, in deſſen Schriften außer den Metaphern und allegoriſchen Ausdrücken zwei tauſend fünf hundert Gleich— niſſe gezählt wurden. Es iſt ferner ſehr groß am Kopfe des engliſchen Dichters Thomas Moore’), ziemlich groß an demjenigen des engliſchen Staatsmannes W. Pitt’), Heinrich's IV. von Frankreich, des engliſchen Parlaments- redners Hume. Die Hindu's ), deren Sprache von Me— taphern und Gleichniſſen wimmelt, beſitzen es groß, die geiſtesarmen Caraiben‘) klein. Bei den Franzoſen iſt es verhältnißmäßig zum Schlußvermögen groß. Die Kinder, bei welchen dieſes Organ ſtark entwickelt iſt, ziehen die Fabeln allen übrigen Gegenſtänden des Unterrichts vor. La Fontaine beſaß es auch beſonders groß.

Während die übrigen Vermögen des Geiſtes alle eine beſtimmte Sphäre haben, innerhalb welcher ſie ihre Gegen— ſtände auffaſſen und würdigen, erſtreckt ſich das Verglei— chungsvermögen über die ganze Sphäre des menſchlichen

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die Abbildung auf S. 208. die Abbildung auf S. 208. die Abbildung auf S. 208. die Abbildung auf S. 136. die Abbildung auf S. 132

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Vergleichungsgabe. 217

Geiſtes, jedoch in der Weiſe, daß es dieſelben vergleicht, d. h. zuſammenſtellt, und dann an denſelben gewiſſe Punkte wahrnimmt, worin ſie entweder übereinſtimmen oder ſich unterſcheiden.

Während der Farbenſinn Farben vergleicht und ihr gegenſeitiges Verhältniß beſtimmt, der Tonſinn Töne u. ſ. w. bringt die Vergleichungsgabe Farben und Töne in Ver— bindung, vergleicht die Farben des Regenbogens mit den Tönen der Tonleiter u. ſ. w. Da es die Aufgabe jedes einzelnen Vermögens der Intelligenz iſt, die in deſſen Be— reich fallenden Gegenſtände, alſo die in Betreff derſelben ſtattfindenden Aehnlichkeiten und Verſchiedenartigkeiten zu würdigen, ſo iſt denſelben namentlich auch anheimgegeben diejenige Verrichtung zu üben, welche man in Beziehung auf alle Vermögen der Intelligenz unterſcheidenden Scharf— ſinn zu nennen pflegt. Dieſer beſteht nicht darin, Unter— ſchiede nachzuweiſen, wo ſie vollkommen klar am Tage liegen, wie alle diejenigen ſind, welche ſtattfinden zwiſchen Gegenſtänden verſchiedener geiſtiger Vermögen, z. B. Zeit— verhältniſſen und Raumverhältniſſen, ſondern der Scharf— ſinn in der Unterſcheidung kann ſich nur da zeigen, wo zwei Gegenſtände ſich ſehr ähnlich, und zwar um ſo mehr, je ähnlicher ſie ſich ſind. Aus der Natur der Aufgabe der Unterſcheidung ergiebt ſich alſo, daß ſie nur da etwas nen— nenswerthes zu leiſten vermag, wo die zu unterſcheidenden Gegenſtände derſelben Klaſſe angehören. Wo ſie verſchie— denen Klaſſen angehören, iſt der Unterſchied ſo deutlich und ſo beſtimmt, daß kein Menſch von geſunden, wenn auch noch ſo mäßigen Geiſteskräften darüber in Zweifel ſein kann. Der niedrigſte Grad von Vergleichungsgabe reicht daher ſchon hin, zwiſchen fo verſchiedenartigen Gegen— ſtänden einen Unterſchied wahrzunehmen. Der Chemiker dagegen, welcher in einer Subſtanz die Urſtoffe von ein— ander ſcheidet, die früher vereinte Maſſe in ihren einzelnen Theilen darlegt, und ſie einander als verſchiedene Stoffe entgegenſetzt, der Phyſiker, welcher in die Natur der Far—

218 Vergleichungsgabe.

ben eindringt, und nachweiſt, worin die eine Farbe nach Entſtehung, Wirkung und Dauer ſich von der anderen unterſcheidet, der hat gewiß Verdienſt, und dem kann auch wohl unterſcheidender Scharfſinn zugeſchrieben werden. Nur ein hoher Grad der Entwickelung dort des Gegen— ſtandſinnes, hier des Farbenſinnes kann ihn in den Stand ſetzen, die Verſchiedenheiten ſo gleichartiger Gegenſtände wahrzunehmen. Allein wer wird ſich bemühen nachzu— weiſen, daß ein Unterſchied ſei zwiſchen einem Ereigniß, z. B. dem Tode, und einem Körper, z. B. einem Stein? Der unterſcheidende Scharfſinn hat alſo nur innerhalb der Sphäre jedes einzelnen geiſtigen Vermögens eine natur— gemäße Wirkſamkeit. Ganz anders verhält es ſich da— gegen, wenn es ſich davon handelt, Aehnlichkeiten bei Dingen zu finden, welche ſo weit auseinander liegen, wie z. B. ein Stern in der Nacht und eine gute That in der Mitte einer böſen Welt, oder die Mahnung des Gewiſſens und ein ſtechender Dorn, dazu gehört eine höhere Ent— wickelung der Vergleichungsgabe.

Dieſe philoſophiſchen Anſichten treffen auch vollkommen überein mit der Erfahrung. Wir ſehen täglich Menſchen, welche in einer Beziehung großen unterſcheidenden Scharf— ſinn an den Tag legen, in der anderen gar keinen, welche z. B. mit großer Feinheit die Verſchiedenheiten der Ton— ſtücke, des Werthes ihrer Verfaſſer u. d. g. nachzuweiſen vermögen, welche dagegen über Gemälde gar kein Urtheil haben, und keineswegs vermögen den Unterſchied des Ver— dienſtes des einen von demjenigen des andern nachzuweiſen, und umgekehrt. Männer dieſer Art haben ſtark entwickel— ten Tonſinn, mit ſchwacher Entwickelung des Farben- und Geſtaltſinnes, und umgekehrt. Wer dagegen die Gabe der Vergleichung beſitzt, hat ſie in jeder Beziehung. Er ver— mag Gemälde mit Tonſtücken, Gegenſtände mit Ereig— niſſen, Zahlen mit Begriffen, Gefühle mit Gedanken u. ſ. w. zu vergleichen, vorausgeſetzt nur, daß ihm die übrigen geiſtigen Kräfte den zu dieſen Vergleichen erforderlichen

Vergleichungsgabe. 219

Stoff darbieten. Dieſes beweiſt deutlich, daß der Scharf— ſinn in der Unterſcheidung, inſofern er irgend eine nennens— werthe Bedeutung hat, einen weſentlichen Theil der Ver— richtungen jedes einzelnen geiſtigen Vermögens ausmacht, während die Vergleichungsgabe, inſofern ſie von Bedeu— tung, eine abgeſonderte für ſich beſtehende Gabe iſt. Vergleichungen erſtrecken ſich über das ganze Gebiet menſchlicher Thätigkeit, wie ſich die Sprache gleichfalls über dieſes ganze Gebiet erſtreckt. Daher kommt es, daß die Vergleichungsgabe einen großen Einfluß auf die Sprache der Nationen übt. Aus Vergleichungen iſt ein großer Theil der neueſten Sprachen entſtanden, denn eine Menge Wör— ter haben im Buche der Zeit einen metaphoriſchen Sinn angenommen, während ſie urſprünglich nur eine ſubſtantive Bedeutung hatten. Wenn wir z. B. von „Adlersblick, oder Falkenauge, von Schafsgeduld und Taubenunſchuld“ ſprechen, ſo liegt allen dieſen Ausdrücken eine Vergleichung zu Grunde. Dieſe Gabe pflegt bei den Nationen wie bei den einzelnen Menſchen früher ausgebildet zu ſein, als das Schlußvermögen; zu Kindern und zu Nationen, die ſich im Kindesalter befinden, kann man daher nur durch Ver— gleiche und nicht durch Schlüſſe mit Erfolg ſprechen. Da— her kommt es denn wohl auch, weshalb ſich in der Bibel ſo viele Gleichniſſe und Metaphern finden, und weshalb ſo viele ausgezeichnete Männer trotz der Schärfe ihrer Schlußfolgerungen weniger zu wirken vermochten als an— dere, welche ſich in Vergleichungen ergingen. So wurde Aeſop an Kröſus' Hofe mehr gehört als Solon. Durch die berühmte Fabel vom Magen und den übrigen Gliedern des Menſchen wurde ein Aufruhr im römiſchen Heere ge— ſtillt, und Lafontaine, Moliere, Labruyere übten größern Einfluß auf die Hofleute Ludwig's XIV. als Pascal. Sprüchwörter ſind ein ſehr gewöhnlicher Ausfluß dieſer Gabe. Sie macht uns, wie geſagt, geneigt und geſchickt zu Vergleichungen. Allein den Stoff zu denſelben müſſen uns unſere übrigen geiſtigen Vermögen an die Hand geben.

220 Schlußvermögen.

Jeder Menſch und jede Nation wird daher ihre Vergleiche beſonders aus denjenigen Sphären wählen, in welchen ſie ſich zu bewegen gewohnt ſind. Wer großen Ortſinn und Farbenſinn hat, wird aus örtlichen Verhältniſſen und Farbenverhältniſſen, wer ſtarken Bekämpfungstrieb und Gegenſtandſinn hat, aus Schlachten, Waffen u. d. m. den Stoff zu ſeinen Vergleichen wählen u. ſ. w.

$ 43. 36. Schlußvermoͤgen.

Dieſes Organ befindet ſich an den beiden Seiten des oberen Theils der Stirn, umgeben von den Organen der Vergleichungsgabe, der Nachahmung, des Sinnes für das Wunderbare, des Witzes, des Zeitſinns und des That— ſachenſinns. Die Gehirnwindungen, die es bilden, ſind auf dem Atlas von Gall mit XXIII bezeichnet.

Schon lange war allgemein bemerkt worden, daß bei Männern von tiefem philoſophiſchem Geiſte, wie Sokrates, Demokrit, Cicero, Chaucer, Locke, Montaigne, Galilei, Labruyere, Leibnitz, Condillac, Diderot, Mendelsſohn der obere Theil der Stirn beſonders groß ſei. Zu Wien be— merkte Gall, daß einige der eifrigſten und geiſtreichſten Schüler Kant's den zu beiden Seiten des Organs der Vergleichung gelegenen Gehirntheil ſehr ſtark entwickelt hatten. Der Kopf von Kant, Fichte, Schelling zeigte die— ſelbe Bildung. Alle dieſe Männer zeichneten ſich haupt— ſächlich durch ihr Schlußvermögen aus). Menſchen von

1) S. Gall's vollſt. Geiſteskunde S. 384 - 387. Spurzheim observations p. 311—313. Combe's Syſtem S. 393. Spursheim on Phrenology p. 294 297. Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. V, p. 208 8.

Schlußvermögen. 221

ſehr ſchwachem Schlußvermögen haben dagegen immer nie— dere und ſchmale Stirnen !).

Das Weſen dieſes Vermögens beſteht darin, zwei Thatſachen inſofern an einander zu ſchließen, als in der einen die Urſache oder der Grund der andern, oder um— gekehrt, als in der einen die Wirkung oder die Folge der andern erkannt wird. Es giebt Menſchen, welche eine Er— ſcheinung um die andere an ſich vorüberfliegen ſehen, allein das Band, das ſie zuſammenſchließt, nicht erkennen. An— deren dagegen haben die Erſcheinungen der Welt nur in— ſofern höheren Werth, als ſie das Band, das ſie zuſam— menhält, erkennen. Wir haben geſehen, wie Ludwig XIV. in Frankreich die königliche Gewalt aufs äußerſte ſpannte, wie ſein ſchwacher Nachfolger ſich bemühte, ſeinem Bei— ſpiel zu folgen, wie unter der Herrſchaft des erſtern ſchon deſſen unerſättlicher Ehrgeiz über Frankreich ſchwere Lei— den gebracht, wie unter Ludwig XV. Frankreich von Buh— lerinnen beherrſcht nach außen gedemüthigt, nach innen mit Füßen getreten wurde, wie die Verwirrung aller Verhält— niſſe, aller Begriffe immer ſchrecklicher wurde, und ſich endlich unter dem ſchwächſten der drei Ludwige zu einer blutigen Revolution entwickelte. Alles dieſes lehrt die Geſchichte und dennoch haben Tauſende den Cauſalzuſam— menhang zwiſchen den Regierungsfehlern der drei Ludwige und der franzöſiſchen Revolution nicht erkannt, ſie vielmehr bloßen Aufhetzungen zur Laſt gelegt, als ob ſolche möglich wären, jemals einen ſo ungeheuern Erfolg hervorbringen könnten, wenn die Aufhetzer nicht geneigtes Ohr fänden. Das Schlußvermögen ſchließt die Regierungsfehler der drei Ludwige und die franzöſiſche Revolution an einander, ſieht in jenen die Urſachen dieſer. Wer daſſelbe jedoch in ſehr niedrigem Grade beſitzt, bemerkt dieſe, wie ſo manche an— dere Verbindung zwiſchen Urſache und Wirkung nicht. Eine ſtarke Entwickelung dieſes Vermögens befähigt alſo

N) S. z. B. den Kopf des Caraiben S. 132.

222 Schlußvermögen.

beſonders in allen Ereigniſſen der ſinnlichen und überſinn— lichen Welt den verbindenden Faden aufzufinden. Im Ver— eine mit ſtark entwickeltem Erkenntnißvermögen wird das Schlußvermögen ſich der wirklichen Welt zuwenden, und je nachdem der Größenſinn oder der Zeitſinn, der That— ſachenſinn oder der Farbenſinn vorherrſchend iſt, ſich mit räumlichen oder zeitlichen Verhältniſſen, mit Begebenheiten oder Farben beſonders beſchäftigen. Wo jedoch das Er— kenntnißvermögen verhältnißmäßig ſchwach iſt, und das Denkvermögen daher nicht auf die wirkliche Welt geleitet wird, verliert es ſich oft in Abſtractionen, welche mit dieſer irdiſchen Welt in keinem wirklichen Zuſammenhange ſtehen. Nur einem Mangel des Schlußvermögens kann es zuge— ſchrieben werden, daß einige Menſchen das Daſein Gottes leugnen. Sie ſehen alle Tage Erſcheinungen, deren Ent— ſtehung nur einer vollkommen wirkenden Kraft zugeſchrie— ben werden kann. Sie entdecken jedoch nicht den Faden, welcher dieſe Wirkungen mit ihrer Urſache verbindet, und daher leugnen ſie das Daſein eines allwaltenden Gottes.

Der wahre Philoſoph wird gebildet durch eine Ver— einigung der Organe des Denkvermögens mit demjenigen des Gegenſtandſinns und des Thatſachenſinns. Eine ſolche Kopfbildung hatte namentlich Bacon“). Bei Kant?) war das Schlußvermögen vorherrſchend und namentlich ſtärker entwickelt als die Organe des Gegenſtands- und des That— ſachenſinnes, daher ſeine Philoſophie ſich auch weit mehr als diejenige Bacon's von der Wirklichkeit entfernt und im Gebiete der Speculation verweilt.

Der Thatſachenſinn faßt die Erſcheinungen des Lebens auf in ihrem zeitlichen Zuſammenhange, das Schlußver— mögen in ihrem Cauſal-Zuſammenhange. Der Thatſachen— ſinn iſt daher in zeitlicher Beziehung, was das Schluß— vermögen in Beziehung auf Urſache und Wirkung, Grund

I) S. die beifolgende Abbildung. 2) S. die beifolgende Abbildung.

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Schlußvermögen. 223

und Folge iſt. Was für das Erfenntnißvermögen in ſei— ner Richtung auf Zeit die ſynchroniſtiſche Geſchichte, das iſt für das Denkvermögen die Syntheſe (die Vergleichung); was für jenes die chronologiſche Geſchichte, iſt für dieſes die Analyſe. Wie die Analyſe in der Chemie einen Körper in ſeine Grundbeſtandtheile zerlegt, ſo zerlegt ſie in der Forſchung nach der Urſache der Wirkung oder nach dem Grunde der Folge eine Begebenheit in die ihrigen. Ein Körper folgt den Geſetzen des Raumes, eine Thatſache denjenigen der Zeit. Während daher die Beſtandtheile eines Körpers neben einander beſtehen, folgen die Grund— beſtandtheile der Begebenheit auf einander. Die Beſtand— theile der Körperwelt zeigen uns die Sinne des Erkennt— nißvermögens, die ſich auf den Raum beziehen, die Be— ſtandtheile der Begebenheiten können wir nur vermittelſt unſers Schlußvermögens, nur dadurch erkennen, daß wir ausmitteln, eine Thatſache ſei die Mutter der anderen, wenn ſie auch ſelbſt wieder die Tochter einer dritten iſt, und ſofort ins Unendliche. Schließen iſt nichts anderes als dieſes Verwandtſchaftsverhältniß nachweiſen. Inſofern die Schlüſſe ſich beziehen auf die Körperwelt, heißen die Eltern Urſachen, und die Kinder Wirkungen, inſofern ſie ſich beziehen auf die Zeit heißen die Eltern Gründe, die Kinder Folgen.

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Einleitung.

$. 44. Widerlegung der gegen die Phrenologie gerichteten Einwendungen.

Wenn wir uns bei dem jetzigen Standpunkte der Wiſſen— ſchaften fragen, welches ſind die der Phrenologie entgegen— ſtehenden Einwendungen? ſo giebt es nur eine Antwort: die Unkenntniß derſelben iſt die einzige Quelle, aus welcher alle dieſe Einwendungen fließen. Ein gründliches Studium der Phrenologie macht eine Widerlegung derſelben vollkom— men überflüſſig. Da übrigens die Zahl der gründlich ge— bildeten Phrenologen in Deutſchland verhältnißmäßig nicht groß, und eine oberflächliche Kenntniß der Phrenologie na— türlich nicht hinreichend iſt, alle ſcheinbaren Einwendungen gegen dieſelbe abzuweiſen, ſo iſt es doch nothwendig, ſie hier beſonders zu beſprechen. Dabei dürfen wir jedoch nicht auf den Standpunkt zurückkehren, da Gall's Lehre zuerſt öffentlich beſprochen wurde. Alle die Einwendungen, welche ihr damals entgegengehalten wurden, ſind durch die all— mähligen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie voll— ſtändig beſeitigt. Wie bereits oben §. 2 ausgeführt, ſind die vier phrenologiſchen Grundſätze im weſentlichen jetzt von allen fortſchreitenden Phyſiologen anerkannt. Wenn deſſen ungeachtet die Phrenologie nicht allgemeine Anerkennung gefunden hat, ſo iſt dieſes hauptſächlich nur der Macht der

1

228 Einleitung.”

Trägheit zuzuſchreiben, welche noch nicht zum Bewußtſein des gegenſeitigen Verhältniſſes der Phrenologie und der übrigen ihr verwandten Wiſſenſchaften gekommen iſt. Ge— ben ſich einmal die Phyſiologen die Mühe, den Gang, wel— chen ihre Wiſſenſchaft im Laufe des letzten Jahrhunderts genommen hat, mit den Reſultaten zu vergleichen, welche ihnen die Phrenologie bietet, ſo werden ſie ſich überzeugen, daß dieſe im Großen und in Beziehung auf den wichtigſten Theil des menſchlichen Körpers gerade dasjenige geleiſtet hat, was die Phyſiologie im Kleinen und in Beziehung auf die minder wichtigen Theile des menſchlichen Körpers gethan.

Phyſiologiſche und anatomiſche Gründe ſtehen daher jetzt der Phrenologie keine mehr im Wege. Diejenigen Ein— wendungen, welche ihr noch von Phyſiologen und Anato— men entgegengehalten werden, ſind ſpeculativer Natur. Denn bloße Verdrehungen und Verzerrungen phrenologiſcher Wahr— heiten können natürlich als eigentliche Einwendungen gar nicht gelten.

Die Phyſiologen haben aber auch Hegel'ſche, Schel— ling'ſche und andere Philoſophie ſtudirt, vergleichen die Phrenologie mit derſelben, und decretiren, ſie ſei falſch, ſo oft ſie im Widerſpruch mit den Lehrſätzen ihrer philoſophi— ſchen Schule ſteht. Dabei nehmen ſie als ſich von ſelbſt verſtehend an, daß ihre Philoſophie die richtige ſei. Dieſes zu beweiſen, verlieren ſie keine Zeit und Mühe, und ſo muß denn die Phrenologie natürlich falſch ſein, denn ſie weicht allerdings von Kant's, Hegel's, Schelling's und aller an— dern Philoſophen Lehren ab').

Die Phrenologie iſt ein Zweig der Naturwiſſenſchaft und beruht als ſolcher lediglich auf Erfahrung, auf Natur— beobachtung. Alle Einwürfe, welche daher nicht gleichfalls gemacht ſind vom Standpunkte der Erfahrung aus, ſind durchaus unerheblich, denn nimmermehr wird die Specula— tion die Thatſachen der Erfahrung zu gefährden vermögen.

1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. J. Nr. V. H. 2. Nr. XIII.

Einleitung. 229

Wer wohl bezeugte Thatſachen nicht beachtet und vermeint, bloße Speculationen denſelben entgegenſtellen zu können, der handelt gleich dem Träumer, welcher ſeine Träume für wahr hält, und den Thatſachen der Wirklichkeit, welche ihnen wi— derſpricht, vorzieht.

Bis zur heutigen Stunde hat ſich aber kein Gegner der Phrenologie') die Mühe genommen, ihre Thatſachen zu prüfen und demnach den Standpunkt, welchen ſie ſich gebildet hat, irgend zu unterſuchen. Daher kommt es denn auch, daß die Einwendungen der Gegner ſich größtentheils unter einander auflöſen.

Von der einen Seite wirft man der Phrenologie vor, ſie gehe zu ſehr in die Einzelnheiten ein, ſie nehme zu viele Organe an. Auf der andern wird ihr entgegengehalten, ſie habe noch nicht genug Organe entdeckt, aus den von ihr entdeckten ließen ſich keineswegs alle Erſcheinungen des Seelenlebens erklären. Dem erſtern Einwande begegnen wir mit der Bemerkung, daß die Naturwiſſenſchaft nur durch eine genaue Erforſchung der Einzelnheiten der Or— gane, deren ſich die Natur zu ihren Zwecken bedient, ge— fördert werden kann. Dieſes vorausgeſetzt, fällt jener Ein— wurf von ſelbſt, denn die Phrenologen haben ja die vielen Organe, von welchen ſie ſprechen, nicht geſchaffen, ſondern nur entdeckt. Je größer daher die Zahl der von ihnen ent— deckten Organe iſt, deſto größer ſind ihre Verdienſte.

Was den entgegengeſetzten Einwand betrifft, die Phre— nologen hätten noch nicht genug Organe entdeckt, ſo klingt er ungefähr ſo, als wollte man Columbus tadeln, daß er nicht auch die ſpäter von Ferdinand Cortez, Pizarro und andern Seefahrern entdeckten Länder entdeckt habe. Die Phrenologen behaupten gar nicht, das Gebiet ihrer Wiſſen— ſchaft ſei abgeſchloſſen, ſie geſtehen im Gegentheile offen zu,

1) Daß ſich namentlich Lelut dieſe Mühe nicht genommen, habe ich in der Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. 2. Nr. XV. nach— gewieſen.

230 Einleitung.

das Feld zu neuen Entdeckungen, das fie biete, ſei groß. Wenn wir übrigens an die Mannigfaltigkeit der Miſchun— gen der ſieben Farben des Regenbogens, der ſieben Töne der Tonleiter und der vierundzwanzig Buchſtaben des Al— phabets denken, wenn wir die verſchiedenartigen Verbindun— gen der ſechsunddreißig Organe des Gehirns mit ‘Gehirn: beſchaffenheit, Temperament und Körperbeſchaffenheit, mit Lebens verhältniſſen und Erziehung erwägen, fo werden wir in ihnen einen ziemlich genügenden Erklärungsgrund der mannigfaltigen menſchlichen Charaktere finden!).

So wenig ſich unſere Gelehrten auch mit der Phreno— logie beſchäftigt haben, ſo haben ſie ſich doch nicht geſcheut, ihr den Stab zu ſprechen, ihr Einwendungen aller Art ent— gegenzuſetzen. Keine Facultät iſt zurückgeblieben in dem Beſtreben, die neue Entdeckung nicht aufkommen zu laſſen.

Die Theologen haben ſie im Widerſpruch mit der Bi— bel gefunden, haben bewirkt, daß ſie ganz in denſelben Worten verdammt wurde, mit welchen Gallilei's Ketzerei verdammt worden war. In neuerer Zeit hat ſich jedoch in dem orthodoxen England eine chriſtliche phrenologiſche Geſell— ſchaft gebildet, welche regelmäßige Sitzungen hält und eine Zeitſchrift zu Beförderung ihrer Zwecke zu gründen be— abſichtigt.

Die ketzermachenden Theologen haben gänzlich vergeſ— ſen, daß die Phrenologie gleich der Phyſiologie, der Bota— nik, der Aſtronomie und der Mineralogie, nur ein Zweig der großen Naturwiſſenſchaft iſt, und daß die Bibel den Fort— ſchritten der Naturwiſſenſchaft nicht entgegengehalten werden kann. In neuerer Zeit iſt man übrigens zu der Ueberzeu— gung gelangt, daß die Phrenologie, weit entfernt, der Bi— bel zu widerſprechen, mit derſelben aufs ſchönſte harmonirt, ihre Lehren mehr und mehr veranſchaulicht und zu wiſſen— ſchaftlicher Klarheit erhebt, ihre Gebote, ihre Hoffnungen

) v. Struve, Geſchichte der Phrenologie 8. 8.

Einleitung. 251

und Zuſicherungen als durch die menschliche Natur feſt be— gründet nachweiſt.

Die Mediciner der alten Schule haben ſich der Phre— nologie gegenüber in die allerkomiſchſte Stellung geſetzt. Auf der einen Seite erkennen ſie im weſentlichen alle Grund— ſätze der Phrenologie in ihren anatomiſchen und phyſiolo— giſchen Werken, ohne alle Rückſicht auf die Phrenologie zu nehmen, an. Auf der andern Seite machen ſie noch immer Gall's und Spurzheim's phrenologiſche Entdeckungen lächer— lich und ſprechen ſich herabwürdigend gegen dieſelben aus ). Auf der einen Seite benutzen ſie klüglich die allgemeinſten der Entdeckungen Gall's und Spurzheim's, auf der andern Seite weiſen ſie deren nothwendigen Folgenſätze in Betreff der einzelnen Organe mit Hohn zurück. Ihre eigenen For— ſchungen haben die Entdeckungen Gall's und Spurheim's mehr und mehr beſtätigt und dennoch wollen ſie den Werth dieſer Männer nicht gelten laſſen. Die Stellung, welche die mediciniſche Facultät in Deutſchland der Phrenologie gegenüber eingenommen hat, iſt ſo augenſcheinlich unhalt— bar, daß es nur darauf ankommt, ihr dieſelbe klar vor Augen zu führen, um ſie zu zwingen, ſolche zu verlaſſen. Die ganze Richtung, welche die Phyſiologie im Laufe des vergangenen halben Jahrhunders genommen hat, iſt eine ſo entſchiedene praktiſch beobachtende, in die Einzelnheiten des Körperbaues eingehende, ſomit eine ſo entſchieden mit derjenigen Gall's zuſammentreffende, daß es nur den jähr— lich wiederkehrenden, von den mediciniſchen Lehr-Kanzeln ausgehenden Entſtellungen der Grundſätze der Phrenologie zugeſchrieben werden muß, daß unſere jungen Phyſiologen ſich nicht ſchon längſt mit Vorliebe dem Studium der Phre— nologie zugewandt haben.

Die Einwendungen, welche die Philoſophen der Phre— nologie entgegenhalten, kommen aus den Lüften, aus

J) Zeitſchrift für Phrenologie Bd I. H. 1. Nr. V. H. 2. Nr. XIII. H. 3. Nr. XXI. H. 5. Nr. VI. H. 6. Nr. XV. H. 7 die Abhandlung gegen Dr. Ed. Meyer.

232 Einleitung.

den Wolken, in welchen ihre eigenen Syſteme wurzeln.

Die deutſche Nation hat ſich übrigens, was die Seelen—

lehre betrifft, längſt von den Beſtrebungen der Philoſo— phen abgewandt. Sie hat erkannt, daß der wirkliche Menſch, wie er lebt, denkt, fühlt und handelt, nichts mit dem Menſchen gemein hat, wie ihn der Philoſoph in ſeinem Studirzimmer conſtruirt. Unſer deutſcher Philoſoph, der ſich mit dem Menſchengeiſte beſchäftigt, fängt vor allem da— mit an, ihn zu definiren, giebt dann diejenige Begriffs— ſtimmung, welche ihm am beſten zuſagt, zieht daraus Fol— gerungen und giebt dieſe für Seelenlehre aus.

Ein ſolches Verfahren mußte nothwendig von dem wirklichen Leben entfernen, konnte unmöglich mit demſelben zuſammentreffen. Die Philoſophie wurde dadurch in Mis— kredit gebracht. Die philoſophiſchen Einwendungen ſind da— her für die Phrenologie die bedeutungsloſeſten, zu bedeu— tungslos, um eine ernſtliche Beſprechung hier zu verdienen.

Die Juriſten endlich, welche ſich natürlich ſo wenig als ihre Genoſſen der drei andern Facultäten die Mühe ga— ben, die Phrenologie zu ſtudiren, fanden, daß ſie jedenfalls inſofern durchaus irrig ſein müſſe, als ſie ihren hergebrach— ten Anſichten von Zurechnungsfähigkeit, Culpa und Dolus (ſchuldhafter und abſichtlicher Vergehung) widerſpreche. Daran dachten ſie aber natürlich auch wiederum nicht, daß dieſe ſelbſt falſch ſein könnten.

Eine Seelenlehre, welche ſich auf Beobachtungen grün— det, muß natürlich zu ganz andern Reſultaten in allen Zweigen der Wiſſenſchaft und in allen Beziehungen des Lebens führen, als eine Seelenlehre, welche von der Wirk— lichkeit der Natur und ihren Organen keine Notiz nimmt. Es iſt daher ſehr begreiflich, daß die Phrenologie mit ihren Reſultaten gar vielen herrſchenden Vorurtheilen entgegen— tritt, welche dieſes nicht dulden wollen. Je abgeſchmackter, je verderblicher ein Vorurtheil iſt, deſto lauter ſchreit es, wenn es angegriffen wird, deſto ungeſtümer beruft es ſich auf ſeinen langjährigen Beſitzſtand, deſto unwilliger iſt es,

5 Einleitung. 233

der Wahrheit zu weichen. Allein die Wahrheit iſt feſter als die Lüge, und hat in ſich mehr Elemente des Beſtan— des, des Fortſchrittes und der Ausbreitung.

Trotz dem Geſchrei der Gegner werden auch die Wahr— heiten, welche die Phrenologie zu Tage gefördert hat, Wur— zel faſſen, gedeihen und Früchte bringen.

Nachdem wir die der Phrenologie entgegengehaltenen Einwendungen in ihren allgemeinen Umriſſen gewürdigt, wollen wir ſie noch etwas genauer in ihren Einzelnheiten ins Auge faſſen.

Wir beginnen mit den anatomiſchen Einwendungen. Schon Büffon hat der Lehre Gall's die Bemerkung ent— gegengehalten, manche Blödſinnige hätten durchaus normal gebildete Köpfe. Dieſe Bemerkung iſt von Gall ſelbſt ge— macht worden; ſie ſteht ſeiner Lehre durchaus nicht im Wege. Zwei Elemente ſind beim Gehirn weſentlich wie bei allen übrigen Theilen des Körpers: Qualität und Quantität. Wenn die Qualität ſchlecht beſchaffen iſt, ſo iſt dieſes ein vollkommen genügender Grund des Blödſinns. Dieſer Ein— wand beruht daher auf der irrigen Vorausſetzung, die Phre— nologie lege keinen Werth auf die Qualität des Gehirns, während ſie auf dieſelbe ganz eben ſo großes Gewicht legt, als auf die Quantität.

Berard und Montegre, dieſe eifrigen Gegner Gall's, halten ihm entgegen: das Gehirn ſei weſentlich eines, die Annahme verſchiedener Theile deſſelben als abgeſonderter Organe ſei durchaus unzuläſſig. Das Gehirn beſteht aus zwei Hemiſphären, aus dem großen und kleinen Gehirne, aus der grauen und weißen Maſſe, es enthält die geſtreif— ten Körper, die Seh-Hügel, verſchiedene Commiſſuren u. ſ. w., es theilt ſich in eine Menge Windungen, kurz es iſt ein aus den mannigfaltigſten Gebilden aller Art zuſammenge— ſetztes Ganzes. Wäre es eine tropfbar flüſſige Maſſe, dann möchte man ſagen, es bilde ein untrennbares Ganzes, in— dem ein Theil von dem andern ſich nur durch den von dem— ſelben eingenommenen Raume unterſcheide. Allein das Ge—

234 Einleitung.

hirn ift eine ſolche Maſſe keineswegs. Wozu wären dieſe mannigfaltigen Gebilde, wenn ſie alle mit einander ganz gleiche Verrichtungen hätten. Allein hier handelt es ſich nicht von einer Annahme, welche ſich gründet lediglich auf das Anſehen des Gehirns. Kein Organ iſt angenommen worden, ohne daß eine Reihe von Thatſachen dieſe Annahme auf das unzweideutigſte beſtätigt hätte.

Man hat ſich ferner darauf berufen, es ließen ſich zwiſchen den verſchiedenen Organen keine körperlichen Grän— zen nachweiſen, und hieraus folge, daß man auch keinen Grund habe, beſtimmte abgegränzte Verrichtungen deſſelben anzunehmen. Auf der andern Seite hat man dagegen der Phrenologie geradezu den Vorwurf gemacht, ſie nehme zu ſcharfe Gränzen an, dieſe beſtänden nicht weder körperlich in den Organen, noch geiſtig in den Verrichtungen der Seele. In der ganzen Natur ſind die Uebergänge immer allmählig. Die Hand ſchließt ſich an den Arm, dieſer an die Schul— ter u. ſ. w., ohne daß es möglich wäre, beſtimmt die Grän— zen zwiſchen einem Theile und dem andern nachzuweifen. Wenn dieſes nicht möglich iſt bei den größern Gebilden des Körpers, wie ſollte es möglich ſein bei den kleinern des Gehirns. Wir wiſſen, daß in derſelben Scheide der Nerve der freiwilligen Bewegung, der unfreiwilligen Bewegung und der Empfindung eingeſchloſſen iſt; deſſen ungeachtet können zur Stunde unſere Anatomen die Nervenſtränge für die eine und die andere Verrichtung nicht auseinan— derlegen, und beſtimmen, dieſe Stränge vermitteln die Empfindung und jene die Bewegung. Geht daraus hervor, daß dieſe Stränge keine verſchiedenen Verrichtungen haben? Keineswegs! ſondern nur, daß der Anatomie in dieſer Rückſicht noch Manches zu thun übrig bleibt.

Die phyſiologiſchen Einwendungen ſind bei dem jetzigen Stande der Wiſſenſchaft ſämmtlich ſo durchaus haltungslos, daß ich mich nicht entſchließen kann, ſie hier näher zu beſprechen !).

1) Diejenigen, welche ſich desfalls unterrichten wollen, verweiſe

Einleitung. 235

Wenn beide Organe eines Geiſtesvermögens auf beiden Seiten des Kopfes gleichmäßig verletzt ſind, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß auch die ganze Verrichtung, welche ſie vereinigt üben, geſtört werden muß. Wenn dagegen auch nur ein Organ urſprünglich verletzt iſt, ſo iſt es nicht ſel— ten der Fall, bei den Organen des Gehirns wie bei den— jenigen des übrigen Körpers, daß das entſprechende der andern Seite in Mitleidenheit gezogen wird. Ueberhaupt ſcheint aber die linke Hemiſphäre gewöhnlich minder that— kräftig zu ſein als die rechte, wovon die Folge iſt, daß das Organ der linken Seite ſelten im Stande ſein wird, die Verrichtung für ſich allein fortzuſetzen. Es findet übrigens nicht blos zwiſchen den beiden correſpondirenden Organen des Gehirns, ſondern auch überhaupt zwiſchen ſämmtlichen Or— ganen deſſelben eine mehr oder weniger innige Verbindung ſtatt. In demſelben Maße als ſich daher vermittelſt dieſes Zuſammenhangs der Kreis des Leidens der Organe erwei— tert, wird ſich auch eine Störung ihrer Verrichtungen kund thun. Sind nach und nach oder auch auf einmal ſämmt— liche Organe des Gehirns krankhaft afficirt worden, ſo werden auch nach und nach oder auf einmal die entſprechen— den Verrichtungen geſtört werden. Es erklärt ſich daher ſehr natürlich, wie trotz der doppelten Organe die ganze ent— ſprechende Verrichtung und trotz der Mehrheit der Organen— Paare die ganze geiſtige Thätigkeit geſtört werden kann.

Eine Reihe anderer Einwendungen ſind aus den von verſchiedenen Phyſiologen an Thieren vorgenommenen Me— tzeleien abgeleitet worden. Man hat armen Hunden, Haſen, Vögeln und Thieren aller Art auf die grauſamſte Weiſe einen Theil des Gehirns nach dem andern ſchichtenweiſe ausgeſchnitten, und weil man auf dieſem Wege nicht zu denſelben Reſultaten kam, wie Gall, welcher geſunde Men— ſchen und Thiere beobachtet hatte, ſo ſchloß man, Gall's

ich auf Gall, sur les fonctions du cerveau Tom. II. p. 398440. Zeit— ſchrift für Phrenologie Bd. J. H. 4. Nr. XXVI.

236 Einleitung.

Lehre ſei falſch. Allein ſchon Gall hat darauf aufmerkſam gemacht, wie trügeriſch derartige Verſuche ſind. Bevor das Meſſer nur das Gehirn erreicht, werden eine Reihe von Blutgefäßen, Nerven und Gebilden aller Art verletzt. Bei jedem Thiere zeigen ſich nach Verſchiedenheit der Verhält— niſſe verſchiedene Krankheitserſcheinungen. Eine normale Verrichtung kann man auf dieſem Wege daher niemals ken— nen lernen, während die Aufgabe, welche ſich Gall und ſeine Nachfolger ſtellen, doch zunächſt nur auf die Ent— deckung der normalen Verrichtung der verſchiedenen Theile des Gehirns gerichtet war.

Von Seiten der Theologen und Philoſophen hat man ferner der Phrenologie vorgeworfen, ſie zerſtöre die Idee geiſtiger Einheit und der Willensfreiheit, auch führe ſie zum Fatalismus und Materialismus.

Geiſtige Einheit kann beſtehen ungeachtet der Mehrheit der Kräfte des Geiſtes, wie körperliche Einheit beſtehen kann ungeachtet der Mehrheit der Körpertheile. Wäre die— ſes nicht der Fall, ſo gälte dieſer Vorwurf eben ſo gut der alten Schule als der neuen der Seelenlehre. Denn jene nimmt ſo gut als dieſe eine Mehrheit von Geiſteskräften, eine Vielheit von Grundvermögen an.

Fatalismus und Materialismus ſind ſo vage Worte, daß man damit bezeichnen kann, was man will. Allein als Vorwurf kann damit nur eine Denkungsweiſe bezeichnet werden, welche dem Fatum, bezugsweiſe der Materie mehr einräumt, als ihnen gebührt. Die Phrenologie nimmt aber nicht nur ein Schlußvermögen mit der ausdrücklichen Ver— richtung an, nach den verborgenen Urſachen der äußern Er— ſcheinungen zu forſchen, ſondern ſie beſtrebt ſich in allen Beziehungen, ſo weit ſich ihr Reich erſtreckt, die Wech— ſelverbindung zwiſchen Urſache und Wirkung nachzuweiſen. Wie kann man alſo von Fatalismus da ſprechen, wo das eifrigſte Beſtreben herrſcht, das Reich des Fatums, das Reich, wo ſich eine Wechſelverbindung zwiſchen Urſache und Wirkung nicht mehr nachweiſen läßt, möglichſt zu ſchmä—

Einleitung. 237

lern? Was den Vorwurf des Materialismus betrifft, ſo bemerke ich, daß die Phrenologie der Materie nicht mehr einräumt, als die Erfahrung den Beobachter zwingt, ihr einzuräumen. Wenn es Gott gefiel, Leib und Seele nicht nur im Allgemeinen, ſondern auch in ihren beſonderen Theilen in die innigſte Verbindung zu bringen, ſo haben dieſes die Phrenologen nicht zu verantworten. Sie haben nichts geſchaffen, nichts verbunden, ſondern nur entdeckt, was Gott geſchaffen und verbunden hat. Eine Philoſophie übrigens, welche als die eigentlichen Führer des Menſchen ſeine moraliſchen Kräfte und ſein Denkvermögen: die Ge— fühle der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohl— wollens, der Hoffnung u. ſ. w., die Vergleichungsgabe und das Schlußvermögen bezeichnet, welche gerade entſchieden darauf dringt, daß die niederen, thieriſchen Kräfte: der Nahrungstrieb, der Erwerbstrieb u. ſ. w. ſtets in Unter— ordnung unter die höhere geiſtige Natur gehalten werden ſoll, dieſe kann man gewiß nicht in dem Sinne materia— liſtiſch nennen, als verkenne ſie die höhere geiſtige Natur des Menſchen.

Man muß übrigens entweder ſehr unwiſſend, oder ſehr böswillig ſein, wenn man gegen die Phrenologie jetzt noch dieſe längſt widerlegten Einwürfe vorzubringen wagt. Ich beſprach ſie hier, mehr um die Unwiſſenheit und Bös— willigkeit der Gegner zu bezeichnen, als um dieſe längſt beſeitigten Einwürfe ernſtlich zu widerlegen. Sie haben bei dem heutigen Stande der Wiſſenſchaft nur noch eine geſchichtliche Bedeutung.

9 45. Ueber das Verhaͤltniß der Phrenologie zur Schaͤ— dellehre, Phyſiologie und zur alten Seelenlehre.

Von mangelhaft unterrichteten Schülern und übel— wollenden Gegnern Gall's getäuſcht, glaubten und glauben

238 Einleitung.

noch immer Viele, die Phrenologie befaſſe ſich zunächſt mit dem Schädel. Allein wie dieſer nur die äußere Umhüllung des Gehirns, fo iſt die Schädellehre nur die Vorhalle von der Gehirnlehre. Wie ſich übrigens der Schädel aufs innigſte mit dem Gehirne verbindet, ſo ſteht auch die Schädellehre mit der Gehirnlehre in der innigſten Ver— bindung. Die Verrichtungen des Gehirnes beſtehen darin, die Thätigkeit der Seelenkräfte zu vermitteln, und inſofern trifft die Lehre von den Verrichtungen des Gehirns mit der Lehre von der Thätigkeit der Seele überein.

Die Phrenologie iſt daher, wie ſchon das Wort an— deutet“), eine Seelenlehre, allein fie unterſcheidet ſich von der alten Pſychologie namentlich dadurch, daß ſie die Er— ſcheinungen des körperlichen und geiſtigen Lebens mit ein— ander in Verbindung bringt, und aus dieſer Verbindung ihre weſentliche thatſächliche Grundlage ableitet. Inſofern ſteht ſie auf demſelben Standpunkte, welchen ſchon Platon und Ariſtoteles als den einzig richtigen bezeichnet hatten, und von welchem ſie ſelbſt ausgingen. Beide große Phi— loſophen betrachteten die Seelenlehre in unmittelbarer Ver— bindung mit der Körperlehre und als einen Theil der Na— turwiſſenſchaft. Zu ihren Zeiten waren Phyſiologie und Anatomie allerdings noch in der Wiege, ſie konnten daher ihnen nicht ſo förderlich ſein in dem Beſtreben, über die Thätigkeit der Seele Licht zu verbreiten, wie dieſe Wiſſen— ſchaften den Forſchern heutiger Tage es ſind. Allein ſie waren doch auf dem rechten Wege, während unſere Philo— ſophen nach mehr als zwei Jahrtauſenden dieſen noch nicht wieder gefunden haben. Nach Platon und Ariſtoteles machte die Seelenlehre wieder große Rückſchritte. Erſt mit Bacon von Verulam beginnt für ſie eine neue Periode philoſophiſcher Strebung. Dieſer große Geiſt unterſcheidet zwei Seelen: die raiſonirende und die em— pfindende. Die Vermögen der erſteren ſind nach ihm: der

1) ©. oben S. 11.

Einleitung. 239

Verſtand, die Vernunft, die Schlußfolgernng, die Einbil- dungskraft, das Gedächtniß, das Begehrungsvermögen und die Willenskraft. Die Vermögen der empfindenden Seele ſind ihm: die freiwillige Bewegung und die Empfindung. Des Cartes erkennt vier Grundvermögen an: die Wil— lenskraft, den Verſtand, die Einbildungskraft und die Em— pfindung. Hobbes läßt nur zwei Grundvermögen zu: Erkenntniß und Bewegung. Locke nimmt den Verſtand und die Willenskraft an. Bonnet und Condillac neh— men wieder andere und mehrere Grundvermögen an. In Kant's Syſteme ſind der Vermögen- oder Elementar-For— men, oder reinen Verſtandesbegriffe, Ideen a priori fünf— undzwanzig, Tracy führt alles auf das Denken zurück, allein nimmt doch für dieſes vier verſchiedene Modifi— cationen an. Heinroth legt beſondern Werth auf die Selbſtbeobachtung. Scheidler findet ein dreifaches Leben in dem Grundvermögen der Seele: das Erkenntnißleben, das Gefühlsleben und das Thatleben. Hartmann läßt das Denkvermögen die Hauptrolle ſpielen. Hegel's Seelenlehre iſt nicht fertig geworden. Das Weſen des Geiſtes nennt er formell die Freiheit, „die abſolute Nega— tivität des Begriffs als Identität mit ſich.“ Er gibt uns, wie nach ihm ſeine Schüler, Worte ſtatt Thatſachen, De— finitionen ſtatt Erklärungen der Erſcheinungen, Dialektik ſtatt Wahrheit.

In neuerer Zeit hat man mehr und mehr eingeſehen, daß der Körper bei der Seelenlehre nicht vernachläſſigt werden dürfe. Schubert, Burdach, Johannes Müller ſchicken dabei ihren Seelenlehren ausführliche Abhandlungen über den Körper voraus. Allein Körper— und Seelenlehre ſtehen bei ihnen in durchaus keiner Ver— bindung. Man könnte ebenſo gut die Seelenlehre Kant's, Hegel's oder irgend eines andern ſpeculativen Kopfes mit der Körperlehre dieſer Gelehrten nachfolgen laſſen, als die ihrigen. Das Verbindungsglied zwiſchen Körper

240 Einleitung.

und Geiſt, das Gehirn mit feinen Verrichtungen iſt von allen dieſen Gelehrten praktiſch nnberückſichtigt geblieben. Dieſe Ueberſicht der Leiſtungen der Pſychologen alter Schule wird genügen, zu zeigen, daß dieſelben gleich den Phrenologen zwar eine Mehrheit von Seelenvermögen an— nehmen, daß deren Annahmen aber auf keinen Thatſachen beruhen, daher einen eigentlich wiſſenſchaftlichen Grund nicht haben. Die Speculationen des einen Philoſophen ſtießen diejenigen des andern um, und es blieb von allen dieſen pſychologiſchen Syſtemen als Gewinn für die Wiſſen— ſchaft nur wenig zurück. Was die ſpeculativen Pſychologen für Grundvermögen der Seele ausgaben, waren entweder Ueberſichtsmomente, oder Gradationen, oder endlich Reſul— tate. Auch die Phrenologen nehmen gleich den Pſycho— logen alter Schule ein Erkenntnißvermögen, Begehrungs— vermögen, Empfindungsvermögen, Darſtellungsvermögen und Denkvermögen an. Allein alles dieſes ſind keine Grundkräfte, ſondern nur Ueberſichts-Momente. Innerhalb aller dieſer Vermögen bewegen ſich die verſchiedenartigſten Grundkräfte, innerhalb des Empfindungsvermögens z. B. die Empfindungen des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Hoffnung u. ſ. w., innerhalb des Erkenntnißvermögens der Geſtaltſinn, Farbenſinn, Gewichtſinn u. ſ. w. Was fo mannigfaltige Elemente in ſich ſchließt, wie jene Vermö— gen, kann unmöglich ſelbſt ein Grundvermögen ſein. Die Phrenologen nehmen aber ſowohl wie die alten Pſychologen Auffaſſungsgabe, Gedächtniß und productive Kraft an, allein nicht als Grundvermögen, ſondern als Gradationen. Derſelbe Menſch, welcher Muſik zu produciren im Stande iſt, hat auch muſikaliſches Gedächtniß und muſikaliſche Faſſungskraft, aber nicht umgekehrt. Mancher kann die Muſik richtig auffaſſen, ſich an ihren Melodien erfreuen, der darum doch weder muſikaliſches Gedächtniß noch muſi— kaliſche Productivität beſitzt. Umgekehrt hat mancher hohe muſikaliſche Productivität, der durchaus keine ſolche beſitzt für die Malerei, oder die Schauſpielkunſt. Dem könnte

Einleitung. 241

nicht fo fein, wenn Auffaſſungsgabe, Gedächtniß und pro— ductive Kraft Grundvermögen der Seele wären. Die Phrenologen nehmen auch gleich den alten Pfychologen Willenskraft, Vernunft, Verſtand und andere ähnliche Kräfte an. Allein ſie wiſſen, daß dieſes keine einfachen Kräfte, keine Elemente des Seelenlebens, ſondern Reſultate der Zuſammenwirkung verſchiedener Grundvermögen ſind. Aus einem richtigen Verhältniß der verſchiedenen empfin— denden und intellectuellen Kräfte des Menſchen wird ſich die Vernunft, aus einem Vorwalten gewiſſer intellectueller Kräfte der Verſtand, und aus einer Vereinigung der in— tellectuellen Kräfte die Willenskraft als Reſultat ergeben. Allein derſelbe Mann, welcher in einer Beziehung einen hohen Grad von Verſtand oder von Willenskraft ent— wickelt, wird in einer andern oft wenig zeigen. Der Mann, welcher mit vielem Verſtande Gemälde beſpricht, zeigt oft ſehr wenig in Rechtsſachen, und wer eine feſte Willenskraft auf dem Felde der Schlacht entwickelt, zeigt oft eine ſehr ſchwache in dem Boudoir feiner Frau.

Die alte Pſychologie hat gewiſſermaßen nur das Fach— werk für eine Seelenlehre an die Hand gegeben, die Phre— nologie erſt hat begonnen, dieſes auszufüllen. Das Ge— bäude der alten Pſychologie bot daher keinen Schutz gegen Wind und Regen, gegen Winterſturm und Sonnenhitze, ſie ſchützte die Menſchheit nicht gegen die Härte des Kli— mas und der Jahreszeiten. Sie paßte nicht zum Leben. Sie gab nur Allgemeinheiten, wo es darauf ankam, Spe— cialitäten zu geben, fie ließ viele der bedeutungsvollſten Seiten des menſchlichen Lebens unberückſichtigt, ſie konnte daher niemals ein umfaſſendes Bild von dem Zuſtande des Seelenlebens, von der inneren Organiſation deſſelben, von dem Entwickelungsgange der menſchlichen Kräfte, von den Bedürfniſſen der Seele bieten. Es fehlte an allen Ecken und Enden. Je conſequenter man daher irgend ein ſpecu— latives Syſtem der Pſychologie auf das Leben übertragen wollte, deſto mehr verletzte man die Bedürfniſſe des See—

16

242 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. -

lenlebens, deſto härter, deſto unmenſchlicher wurde man. Niemand war daher unpraktiſcher im Leben, als ein Phi— loſoph der alten Schule.

Die Phrenologie dagegen lehrt uns zuerſt die Ele— mente des Seelenlebens kennen ($ L— 43), um uns dann Aufſchluß zu geben über die Art und Weiſe, wie ſie ſich verbinden, ſie zeigt uns, wie die einzelnen Elemente ſich naturgemäß bewegen, um uns deren Thätigkeit in ihren verſchiedenartigen Verbindungen zu entwickeln, ſie lehrt uns die Theile des geiſtigen Ganzen kennen, damit wir dieſes auf jene zurückführen lernen. Nur durch Theilung läßt ſich das große Gebiet des Seelenlebens allmählig be— herrſchen. Allgemeinheiten fördern nicht, weder in der Theorie noch in der Praxis. Vermittelſt der allgemeinen Sätze der alten Pſychologie machen wir in der Menſchen— kenntniß keine Fortſchritte. Was iſt aber eine Seelen— lehre, welche uns in der Menſchenkenntniß nicht fördert? Sie iſt todtgeboren, unfruchtbar und nur geeignet zu ver— wirren.

$ 46.

Ueber das Verhaͤltniß der ſynthetiſchen zur ana—

lytiſchen Seelenlehre, die verſchiedenen Combi—

nationen, Gradationen und die Geſetze der gei— ſtigen Thaͤtigkeit.

Erſt nachdem man auf ſynthetiſchem Wege die ein— zelnen Theile erkannt hat, aus deren Thätigkeit das Seelen— leben hervorgeht, iſt es möglich, dieſes als ein Ganzes ins Auge zu faſſen, auf analytiſchem Wege es in ſeine Elemente zu zerlegen und ſo Klarheit darüber zu ver— breiten.

Der alten Seelenlehre fehlt der ſynthetiſche Theil ganz und gar. Sie giebt uns über die Elemente des Seelenlebens durchaus keinen Aufſchluß. Folge davon iſt,

Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 243

daß ſie uns in ihren analytiſchen Beſtrebungen gleichfalls nicht viel Klarheit zu geben vermag, denn da ſie die Ele— mente des Seelenlebens nicht kennt, vermag ſie auch die gemiſchten Zuſtände deſſelben auf ſolche nicht zurückzuführen.

In dem ſynthetiſchen Theile vermochten wir noch nicht, Rückſicht auf die Modificationen zu nehmen, welche die verſchiedenen Elemente des Seelenlebens nach der Ver— ſchiedenartigkeit ihrer Verbindung hervorrufen. Dieſes ſoll nunmehr hier zunächſt geſchehen.

Drei Gegenſtände ſind bei der Beurtheilung aller Seelenzuſtände von der höchſten Bedeutung.

1) Die geiſtige Stärke des Individuums, welche an— gedeutet wird durch die Größe des Gehirns,

2) die Art und Weiſe ſeiner geiſtigen Thätigkeit, welche abhängt von der Beſchaffenheit ſeines Gehirns, und des Körpers überhaupt,

3) die äußeren Verhältniſſe, in welchen es ſich von Kindheit an befunden.

Ein überhaupt großes Gehirn deutet auf eine über— haupt große geiſtige Kraft, ein überhaupt kleines Gehirn auf eine überhaupt geringe geiſtige Kraft. Allein nicht ſelten findet ſich an einem überhaupt großen Gehirn das eine oder das andere Organ klein, oder an einem über— haupt kleinen Gehirne das eine oder das andere Organ groß. Die Stärke der geiſtigen Verrichtungen wird immer im Verhältniß ſtehen zu der Größe der einzelnen entſpre— chenden Organe.

Alle überhaupt beſonders geiſtig kräftigen Männer, wie z. B. Napoleon, Shakeſpeare, Bacon von Verulam, Schiller, Goethe, Cuvier u. ſ. w. haben auch ein großes und geſundes Gehirn gehabt; alle überhaupt geiſtig ſchwa— chen Männer haben auf der anderen Seite ein verhält— nißmäßig kleines oder krankhaftes Gehirn beſeſſen.

Um jedoch tiefer in die Einzelnheiten eines Charakters einzudringen, wollen wir fürs erſte die verſchiedenen Re— gionen und deren Abtheilungen beſprechen und dann auf

16 *

244 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre.

die verſchiedenen Combinationen der einzelnen Organe übergehen.

Ein breiter Kopf in der Gegend von Ohr zu Ohr und ein ſtark entwickelter Hinterkopf deutet auf eine ent— ſchieden ſinnliche Natur, eine hohe und breite Wölbung des Hauptes auf gut entwickelte moraliſche Organe, eine hohe, breite und tiefe Stirn auf eine ſtarke Entwickelung der Intelligenz. Innerhalb dieſer Gruppen finden jedoch noch die größten Mannigfaltigkeiten ſtatt, je nach der Verſchiedenartigkeit der Miſchung der einzelnen Organe.

Jedes Organ wird in ſeiner Wirkſamkeit modificirt durch die mit demſelben in Verbindung ſtehenden übrigen Organe. Eines iſt mehr geeignet, dieſes zur Thatkraft an— zuregen, ein anderes mehr jenes. Die Organe des Ver— heimlichungstriebs, der Sorglichkeit und der Beifallsliebe werden einem Menſchen den Charakter der Verſtellungs— fähigkeit im höchſten Grade verleihen. Die Beifallsliche entdeckt ſehr ſchnell, was uns den Beifall unſerer Mit— menſchen ſichern oder entziehen kann, die Sorglichkeit macht uns aufmerkſam auf alle Gefahren, welche uns bedrohen, und der Verheimlichungstrieb deckt den Schleier des Ge— heimniſſes über die inneren Regungen unſerer Seele. Je— des dieſer Organe trägt und ſtützt das andere in ſeinen Beſtrebungen, regt es zur Mitwirkung auf und ſchließt ſich daher den anderen mit beſonderer Leichtigkeit an. Im entgegengeſetzten Verhältniß ſtehen z. B. die Organe des Selbſtgefühls, der Hoffnung und des Bekämpfungstriebs. Dieſe Organe werden in ihrer Zuſammenwirkung zu einem offenen, unumwunden handelnden und ſprechendem Cha— rakter führen. Das Selbſtgefühl iſt zu ſtolz zur Ver— ſtellung, der Bekämpfungstrieb ſcheut den Kampf nicht bei Verſchiedenheit der Anſichten und Beſtrebungen und die Hoffnung ſchmeichelt uns mit einem günſtigen Erfolge un— ter allen Verhältniſſen. Die Organe des Bekämpfungs— triebs, des Zerſtörungstriebs und des Selbſtgefühls, wenn ſie ſämmtlich ſtark entwickelt ſind, werden dem Charakter

Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 245

eine ungewöhnlich kriegeriſche, ſtreitbare Richtung geben, die Organe der Kinderliebe, der Anhänglichkeit, des Wohl— wollens dagegen werden ihm, bei vereinigt ſtarker Ent— wickelung, den Ausdruck der Sanftmuth, der Weichherzig— keit verleihen. Die Organe der Ehrerbietung, der Hoff— nung und des Wunderbaren werden zunächſt die religiöſe Stimmung begründen, die Organe des Wohlwollens, der Gewiſſenhaftigkeit und der Feſtigkeit unſere moraliſche Haltung im Verkehre mit den uns umgebenden Menſchen bedingen. Je nachdem nun das eine oder das andere die— ſer Organe mehr oder weniger ſtark entwickelt iſt, wird der Menſch in Beziehung auf Verhältniſſe des Kampfes, der Weichherzigkeit, der Religion und der Moral einen verſchiedenen Charakter annehmen. Bei vorwaltendem Selbſtgefühl wird ſich ein hoher Grad von Egoismus, bei vorherrſchendem Bekämpfungstrieb eine ungewöhnliche Nei— gung zum Streit, bei beſonders ſtarkem Zerſtörungstrieb wird ſich Geneigtheit zum Zorne, Grimme, zur Rachſucht und zur Grauſamkeit entfalten. Waltet bei der zweiten Gruppe die Kinderliebe vor, ſo wird ſich die Weichherzig— keit beſonders den ſchwachen und hülfloſen Geſchöpfen der Menſchen- und Thierwelt aus dem näheren Kreiſe der Umgebung des Individuums zuwenden und den Charakter der Zärtlichkeit annehmen. Herrſcht die Anhänglichkeit vor, ſo wird ſich das weiche Gefühl mehr Freunden und Ver— wandten zuwenden und ſich beſonders durch Treue und Beſtändigkeit bekunden. Das Wohlwollen, wenn es vor— herrſcht, wird dem Gefühl eine weitere Sphäre und ihm mehr den Charakter der Milde und Barmherzigkeit ver— leihen u. ſ. w.

In allen dieſen Fällen wird aber daſſelbe Organ ſich in ganz anderer Weiſe wirkſam zeigen nach Verſchieden— heit der übrigen mit ihm verbundenen Organe. Ein ſehr ſtark entwickeltes Selbſtgefühl in Verbindung mit ſehr ſchwachem Bekämpfungs- und Zerſtörungstrieb, ſehr ſtar— ker Ehrerbietung und kräftigem Wohlwollen wird ſich kaum

246 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre.

merklich machen; während ein mittelmäßig entwickeltes Selbſtgefühl, in Verbindung mit ſehr ſtarkem Bekäm— pfungs- und Zerſtörungstrieb und ſchwachem Wohlwollen und Ehrerbietung, ſchon ſehr verletzend auftreten mag. Ein Menſch, in welchem Hoffnung und Sorglichkeit gleich ſtark entwickelt ſind, wird, je nachdem z. B. Witz, Ehrer— bietung, Wohlwollen, Gewiſſenhaftigkeit, Sinn für das Wunderbare ſtark oder ſchwach entwickelt ſind, einen durch— aus verſchiedenen Charakter annehmen. Findet ſich der Witz ſtark entwickelt, ſo wird er die Hoffnung durch ſeinen heitern Charakter, ſindet ſich die Ehrerbietung groß, ſo wird dieſe die Hoffnung durch ihren vertrauensvollen Charakter zur Thätigkeit anregen, und ſo doch eine hoff— nungsvolle, heitere, vertrauende Gemüthsſtimmung bilden. Finden ſich dagegen der Witz und die Ehrerbietung ſchwach entwickelt, Wohlwollen, Gewiſſenhaftigkeit und Sinn für das Wunderbare dagegen ſtark, ſo wird der Charakter kein hoffnungsvoller ſein. Das kräftige Wohlwollen wird bei den ſo häufigen Scenen menſchlichen Elends oft ſchmerz— haft angeregt werden, die Gewiſſenhaftigkeit wird das Gemüth durch die Frage: haſt du deine Pflicht auch er— füllt? oft in Bewegung ſetzen, und der Sinn für das Wunderbare wird zu myſtiſchen Gefühlen die Bahn brechen. In dieſem Geleite wird die Hoffnung mehr und mehr in Unthätigkeit verſinken, während die Sorglichkeit mehr und mehr thätig werden wird, namentlich inſofern ein reizbares Temperament und unglückliche äußere Verhält— niſſe noch hinzukommen ſollten.

Die verſchiedenen möglichen Combinationen der Ge— hirn-Organe laſſen ſich ebenſo wenig erſchöpfend angeben, als die verſchiedenen möglichen Combinationen der Töne. Jeder Kopf bietet eine neue Combination von Organen, wie jede Melodie eine neue Combination von Tönen. Die Aufgabe des Tonkünſtlers iſt es, die verſchiedenen Ton— Combinationen, Sache des Phrenologen, die verſchiedenen

Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 247

Gehirn-Combinationen aus ihren Zeichen zu erkennen und Anderen vernehmlich zu machen.

Wie übrigens bei der Muſik nicht allein die Noten, ſondern auch der Takt von hoher Bedeutung iſt, ſo ſind es in der Phrenologie nicht allein die Gehirn-Organe, ſon— dern auch das Temperament. Wie dort der Takt andeutet, in welcher Art und Weiſe die Noten zu ſpielen ſind, ſo deutet hier das Temperament die Art und Weiſe an, wie die Gehirn-Organe wirken. Dieſelben Noten werden, zu verſchiedenen Taktverhältniſſen verbunden, ganz anders wirken, ſo werden dieſelben Gehirn-Organe, mit verſchie— denen Temperamenten verbunden, gleichfalls ſehr verſchie— denartige Charaktere bilden.

Da wir bereits oben“) die Temperamente ausführlich beſprochen haben, ſo können wir uns hier kurz faſſen.

Das phlegmatiſche Temperament, welches der leben— digen Bewegung abhold iſt, wird allen denjenigen Organen feindlich entgegentreten, die einen weiteren, größeren Kreis zu durchlaufen berufen ſind. Diejenigen Organe dagegen, welche einen engern Kreis der Wirkſamkeit haben, werden mit ihm beſonders ſympathiſiren: den thieriſchen Trieben iſt von der Natur die engſte Sphäre. angewieſen. Die Organe des Nahrungstriebs, des Geſchlechtstriebs, der Kinderliebe, der Anhänglichkeit, dann aber auch der Be— kämpfungstrieb, Zerſtörungstrieb, Verheimlichungstrieb, Er— werbstrieb werden daher bei dem phlegmatiſchen Tempera— mente beſondere Thätigkeit entwickeln. Selbſtgefühl, Bei— fallsliebe, Sorglichkeit und von den Organen der Intelli— genz das Erkenntnißvermögeg und die Talente werden dann, am wenigſten das Denkvermögen und die höheren moraliſchen Empfindungen zur Thätigkeit angeregt werden.

Bei dem ſanguiniſchen Temperamente iſt körperliche Thätigkeit ein beſonderes Bedürfniß. Diejenigen Organe, welche dieſe fördern, werden daher unter ſeiner Herrſchaft

1) § 3.

248 Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre.

zu vorwaltender Thätigkeit gelangen. Hierher gehören die Organe des Bekämpfungs- und Zerſtörungstriebes, der Beifallsliebe, der Hoffnung, des Thatſachenſinns und des Gegenſtandſinns. Denn alle dieſe Organe finden ohne kör— perliche Bewegung keine Aufforderung zu regerer Thä— tigkeit.

Das nervöſe Temperament, das Temperament vor— waltender geiſtiger Thätigkeit bildet als ſolches einen Ge— genfaß zu den beiden zuvor beſprochenen Temperamenten. Es wird daher vorzugsweiſe dem Denkvermögen und den höheren, moraliſchen Empfindungen Anregung geben.

Das biliöſe Temperament iſt in ſeiner Weſenheit noch zu wenig ergründet. Ich wage daher nicht, über den Ein— fluß, welchen dieſes auf die Organe des Gehirnes ausübt, eine entſchiedene Anſicht auszuſprechen. Doch ſcheint es insbeſondere mit dem Organe der Feſtigkeit zu ſympa— thiſiren. '

Wie daſſelbe Tonſtück, nach Verſchiedenheit der Ver: hältniſſe, unter denen es aufgeführt wird, ſehr verſchieden lauten wird, ſo wird ſich auch ein Charakter nach Ver— ſchiedenheit der Verhältniſſe, in denen er ſich entfaltet, ſehr verſchiedenartig ausnehmen. Ein reich beſetztes Orcheſter mit Pauken und Trompeten wird uns in einem kleinen Locale betäuben. Ein reich begabter Charakter mit regem Selbſtgefühl und Bekämpfungstrieb wird uns in einer kleinen Sphäre der Thätigkeit einen ähnlichen Eindruck machen. Im Freien oder in einem großen Concertſaale wird uns daſſelbe Orcheſter entzücken, auf einem großen, weiten Felde der Thätigkeit wird uns derſelbe Charakter in Erſtaunen ſetzen. Wie auf die Geſammtheit des Orga— nismus, ſo müſſen die äußern Verhältniſſe auch auf die einzelnen Organe, auf das Temperament, auf die körper— liche und folgenweiſe auch auf die geiſtige Geſundheit einen mächtigen Einfluß üben. Ein weiteres werden wir hier— über unten im praktiſchen Theile, beſonders in dem von der Erziehung handelnden §. (62) ausführen.

Verhältniß der ſynthetiſchen zur analytiſchen Seelenlehre. 249

Die Geſetze der Geiſteskräfte laſſen ſich kurz in fol— gender Weiſe zuſammenfaſſen:

1) Jede geiſtige Kraft beginnt zu wirken, ſobald ihr ihr Gegenſland geboten wird; ſie wird namentlich zur Thätigkeit angeregt durch die Thätigkeit der entſprechenden Kraft anderer Individuen, welche ſie wahrnimmt.

2) Das Maß der Kraftäußerung hängt ab von der intenſiven Stärke der zur Thätigkeit aufgeforderten Kraft und dem Nachdrucke, mit welchem der Gegenſtand, der ihr geboten wird, auf ſie wirkt.

3) Bei dem Zuſammenwirken verſchiedener Kräfte wird ihr Wechſelverhältniß beſtimmt durch den Grundſatz von dem Parallelogram der Kräfte.

4) Nach Verſchiedenheit der geiſtigen Beſchaffenheit verſchiedener Menſchen werden übrigens dieſelben Gegen— ſtände verſchieden auf ſie wirken. Dieſelbe Thatſache, welche den furchtſamen Menſchen zur Flucht, wird den muthigen zum Widerſtande auffordern.

5) Jede normale geiſtige Thätigkeit iſt mit angeneh— men, jede abnorme mit unangenehmen Gefühlen verbunden. Abnorme Unthätigkeit hat Unbehaglichkeit zur Folge.

6) Eine dem Kräfte-Maße eines Menſchen entſpre— chende Uebung wirkt ſtärkend, eine demſelben nicht ent— ſprechende wirkt ſchwächend.

7) Nur inſofern die verſchiedenen Kräfte in harmo— niſcher Verbindung wirken, reiben ſie ſich nicht nutzlos auf. Die harmoniſche Zuſammenwirkung derſelben ſetzt die Herr— ſchaft der moraliſchen Kräfte, den Gehorſam der niederen Gefühle und der thieriſchen Triebe und den berichtigenden Einfluß der intellectuellen Kräfte voraus.

J. Die Zustände der Einzelnen. 1. In ſynchroniſtiſcher Ordnung.

9 47.

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände. Allgemeine

Vorbemerkungen. Freude, Unbehaglichkeit, Schmerz,

Kummer, Luſt und Unluſt. Lebensliebe, Leiden— ſchaft. Geduld und Ungeduld ).

Die Seelenlehre, welche ſich entweder mit dem Organe der Seele gar nicht beſchäftigt, nur ein einziges, ungetheilt wirkendes, oder zwei, drei, vier, wenn auch getheilt wir— kende annimmt, ſieht ſich bei der Erklärung der meiſten Erſcheinungen des Lebens in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelt. Denn eine genauere Beobachtung der Natur zeigt, daß die ganze Organiſation des Menſchen wie des Thieres ſich auf Specialität gründet. Jeder der mannig— faltigen Theile des thieriſchen Körpers hat nur eine be— ſtimmte Verrichtung, wie dieſes weiter oben ($. 2) ſchon ausgeführt worden iſt. Mit dem Auge können wir nur ſehen, mit dem Ohre nur hören, mit dem Empfindungs— nerv kann nur die Empfindung, mit dem Bewegungsnerv

1) S. meine Schrift: Die Phrenologie in und außerhalb Deutſch— land §. 5.

Analyfe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen). 251

nur die Bewegung vermittelt werden. In gleicher Weife, lehrt die Phrenologie, kann jedes der verſchiedenen Organe, aus deren Vereinigung das Gehirn beſteht, nur eine be— ſtimmte Verrichtung haben: das Organ des Bekämpfungs— triebs, die mit dieſem Triebe verbundenen geiſtigen Anre— gungen ins Leben überzuführen, die Organe des Denkver— mögens Gedanken zu entwickeln u. ſ. w. Wie wir mit dem Ohre nicht riechen, ſo können wir vermittelſt des Organs des Wohlwollens nicht Gefühle des Haſſes und des Zorns verwirklichen u. ſ. w.

Nur vermittelſt der Annahme einer Mehrheit von Or— ganen läßt es ſich erklären, wie es kommt, daß Menſchen bisweilen ein vortreffliches Gedächtniß für Muſik und ein durchaus ſchlechtes für abſtracte Begriffe, oder ein vortreff— liches Gedächtniß für die Einzelnheiten der Gegenſtände und ein ſehr ſchlechtes für geſchichtliche Ereigniſſe haben. Es giebt Menſchen, welche ſich mit der größten Genauigkeit und Beſtimmtheit ihrer Gefühle des Wohlwollens bewußt werden, während ſie nicht im Stande ſind, ihre Begriffe von Raum und Zeit zu klarer Anſchauung zu bringen; Menſchen, welche die größte Energie entwickeln im verhäng— nißvollen Kampfe der Feldſchlacht und gar keine einem ſchwachen Weibe gegenüber. Wären Gedächtniß, Selbſt— bewußtſein, Energie Grundvermögen des menſchlichen Geiſtes, ſo müßten ſie ſich in jeder Beziehung offenbaren, und nicht blos in dieſer oder jener: in Betreff der Muſik, aber nicht in Beziehung auf Begriffe, hinſichtlich der Ein— zelnheiten der Gegenſtände, aber nicht in Betreff geſchicht— licher Ereigniſſe u. ſ. w.

Die Phrenologie dagegen, welche annimmt, daß die Seele ein beſtimmtes Organ für den Tonſinn, für das Schlußvermögen, für die Einzelnheiten der Gegenſtände (Gegenſtandsſinn) und für Ereigniſſe (Thatſachenſinn), für das Wohlwollen, für Raum und Zeit, für den Kampf und für Geſchlechtsliebe hat, erklärt dieſe Erſcheinungen ganz natürlich dadurch, daß ſie ſagt: der Menſch mit dem guten

252 Analyfe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen).

Gedächtniß für die Muſik und dem ſchlechten für Begriffe, hat den Tonſinn gut, das Schlußvermögen ſchlecht entwickelt; der Menſch mit dem klaren Selbſtbewußtſein ſeiner Gefühle des Wohlwollens und unklaren Selbſtbewußtſein für die Verhältniſſe von Raum und Zeit, beſitzt das Wohlwollen ſtark, den Sinn für Raum und Zeit ſchwach entwickelt; endlich der Menſch mit der hohen Energie in der Schlacht und der geringen Energie im Kampfe mit ſeiner Frau be— ſitzt den Zerſtörungs- und Bekämpfungstrieb in ſtarker Entwickelung, wird jedoch durch die ſtärkere Entwickelung der Geſchlechtsliebe ſeiner Frau von dieſer im Zaume ge— halten. Selbſtbewußtſein, Gedächtniß, Thatkraft ſind die drei Gradationen, welche jedes Organ in größerer oder ge— ringerer Entwickelung in ſich ſchließt. Wer Muſik compo— nirt, hat auch Gedächtniß für Muſik und wird ſich ſeiner muſikaliſchen Gefühle bewußt, obgleich man Gedächtniß für Muſik haben kann, ohne darum fähig zu ſein, Muſik zu componiren, oder ſich der Muſik, die man hört, klar be— wußt werden, ohne ſich beſtimmt an ſie wieder zu erinnern. Das Selbſtbewußtſein verhält ſich zur Faſſungsgabe, wie der Zuſtand zu der ihn bedingenden Urſache. In demſelben Maße, als die Faſſungsgabe kräftig, wird auch das Selbſt— bewußtſein es ſein. Die Faſſungsgabe bringt die Bewegungen des innern und äußern Lebens zum Selbſtbewußtſein. In gleichem Verhältniß ſtehen Erinnerung und Gedächtniß. Die Einbildungskraft iſt die Thatkraft in ihrer Richtung auf das nicht Wirkliche. Sie ſetzt daher immer eine kräftige Entwickelung der Organe voraus, mit welchen ſie zu wir— ken hat, und Mangel an Aufforderung zum eigentlichen praktiſchen Leben. Sie wird beſonders begünſtigt durch eine ſtarke Entwickelung der Idealität. Denn in demſelben Maße, als dieſe ſtark entwickelt iſt, befriedigen die Erſcheinungen des wirklichen Lebens wenig und führen daher in das Ge— biet des unwirklichen, der Phantaſie.

Wie kommt es, daß von zwei Menſchen, welche beide geſund und lebenskräftig ſind, der eine Freude an Bau—

Analyſe verfchied. Seelenzuftände (allgem. Vorbemerkungen). 253

werken, an Allem, was ſchön und erhaben iſt; der andere, bei vollkommener Gleichgültigkeit gegen Bauwerke, ſeine Freude an den ſchwierigſten aſtronomiſchen Berechnungen hat; daß der eine bei dem leiſeſten Tadel Schmerz empfin— det, während er Verluſte an ſeinem Vermögen gleichgültig hinnimmt, während ein Anderer über Tadel ſich leicht hin— wegſetzt, jeden Verluſt an ſeinem Vermögen dagegen ſehr ſchmerzlich empfindet?

Wer die Empfänglichkeit für Freude und Schmerz für ein allgemeines Organ hält, kann jene Verſchiedenheiten gar nicht erklären. Wer dagegen annimmt, daß der Menſch, der ſeine Freude an den Bauwerken hat, den Bauſinn, der andere, der an Berechnungen ſeine Luſt hat, den Zahlen— ſinn in hohem Grade beſitzt; daß der Menſch, der den Ta— del nicht ertragen kann, das Organ der Beifallsliebe, und jener, welcher Vermögensverluſte nicht verſchmerzen kann, das Organ des Erwerbtriebs ſtark entwickelt hat der führt alle dieſe Erſcheinungen auf ihre natürliche Urſache zurück.

Freude gewährt uns die naturgemäße Thätigkeit jedes Organs, das wir beſitzen, ſeine Unthätigkeit giebt uns Un— behaglichkeit, und Alles, was ſeiner Natur widerſtrebt, giebt uns Schmerz. Die Freude, die Unbehaglichkeit und der Schmerz ſind in Beziehung auf jedes Organ um ſo kleiner oder um ſo größer, je kleiner oder je größer die Kraft deſſelben iſt, welche bei ſonſtiger Gleichheit der Ver— hältniſſe ſich durch ſeine Größe kund thut. Die drei Grund— begriffe: Freude, Unbehaglichkeit, Schmerz laſſen eine Reihe von Modificationen zu, je nachdem ſie ſich auf verſchiedene Organe beziehen, und je nachdem ſie einen höhern oder nie— dern Grad von intenſiver Stärke beſitzen. Das Vergnügen bezieht ſich mehr auf die niedern Empfindungen und ſetzt einen nur mäßigen Grad intenſiver Stärke voraus; der Kummer bezieht ſich mehr auf die höheren Organe des Em: pfindungsvermögens allein oder in Verbindung mit den Organen der Geſchlechtsliebe, der Kinderliebe und der An— hänglichkeit. Die Luſt und Unluſt bezieht ſich ausſchließlich

254 Analyſe verſchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen).

auf die thieriſchen Triebe und ſetzt einen höheren Grad von Aufregung voraus u. ſ. w.

Die Lebensliebe iſt nothwendige Folge einer normalen Thätigkeit ſämmtlicher Organe des Menſchen, Lebensüber— druß die Folge einer durchaus geſtörten Thätigkeit derſel— ben. Jede normale Thätigkeit einer unſerer Kräfte giebt uns Freude, jede Störung deſſelben Schmerz. In demſel— ben Maße, als die Freuden, welche die normalen Verrich— tungen unſerer Kräfte uns gewähren, die etwaigen Stö— rungen, welche ſtattfinden mögen, überwiegen, werden wir uns unſers Lebens freuen, in demſelben Maße, als die Lei— den, welche uns die Störungen derſelben bereiten, über— wiegen, wird die Laſt unſers Lebens ſchwer auf uns ruhen. Lebensliebe und vorwaltende Lebensfreudigkeit, Lebensüber— druß und vorwaltender Schmerz ſind ſtete Gefährten.

Einige Phrenologen glaubten ein Organ der Lebens— liebe annehmen zu müſſen. Allein mit gleichem Rechte hät— ten ſie auch ein Organ des Lebensüberdruſſes annehmen können. Denn dieſe beiden Geiſteszuſtände entſprechen ſich wie Hoffnung und Beſorgniß, Freude und Schmerz. Zu— dem finden ſich durchaus keine Thatſachen angeführt, welche die Annahme eines ſolchen Organs irgend zu begründen vermöchten.

Es iſt allerdings oft unbegreiflich gefunden worden, daß alte, ſchwache, kranke Menſchen trotz ihrem Alter, ih— rer Schwäche, ihrer Krankheit und ungeachtet der bisweilen noch hinzukommenden Armuth doch mit außerordentlicher Feſtigkeit an dem Leben hängen. Allein dieſe Erſcheinung gehört doch immer zu den ſeltenen und läßt ſich wohl er— klären, indem ungeachtet aller Leiden, welche hohes Alter, Krankheit, Schwäche und Armuth bereiten, die bei weitem größere Anzahl der geiſtigen Kräfte noch eine normale Thä— tigkeit entwickeln kann. Hat ein ſolcher Menſch zudem noch ſtark entwickelte Organe der Anhänglichkeit, der Hoff— nung und der Feſtigkeit, ſo erklärt ſich ſeine Lebensliebe

Analyſe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen). 255

ſehr natürlich, ohne daß wir ein beſonderes Organ zu die— ſem Behufe anzunehmen brauchten.

Die Lebensliebe iſt die Folge der mormalen Thätigkeit unſerer verſchiedenen Geiſteskräfte.

Leidenſchaft iſt nichts anderes als der Zuſtand höch— ſter Aufregung irgend eines Geiſtesvermögens, und insbe— ſondere der thieriſchen Triebe und niedern Empfindungen. Es giebt daher eben ſo viele Leidenſchaften, als es verſchie— dene Grundvermögen der Seele giebt mit allen ihren ver— ſchiedenartigen Combinationen. Wo die Organe gleichmäßig an Größe ſind, wird leidenſchaftliche Aufregung ſelten, wo ſie verſchiedenartig an Größe ſind, häufig, und zwar in Betreff derjenigen Geiſtesvermögen und insbeſondere der— jenigen thieriſchen Triebe und niederen Empfindungen ſtatt— finden, deren Organe vorherrſchend groß ſind. Auch hier ſpricht die Natur ſelbſt für die Wahrheit der phrenologiſchen Anſichten. Es giebt keine Menſchen, welche in jeder Be— ziehung für leidenſchaftliche Aufregung empfänglich ſind, weil es unmöglich iſt, daß alle Organe zu gleicher Zeit vor— herrſchen. Derſelbe Menſch, welcher in der Geſchlechtsliebe die höchſte Leidenſchaftlichkeit entwickelt, iſt oft in Betreff der Gefühle des Wohlwollens ſehr kühl, und der Menſch, deſſen Zerſtörungstrieb bis zur Wuth entflammt werden kann, wird bisweilen an den ſchönſten Werken der Kunſt unberührt vorübergehen. Allerdings giebt es Menſchen, welche eine allgemeine, erhöhte Reizbarkeit beſitzen, nämlich alle diejenigen, welche nervöſen Temperaments ſind, allein zu Ausbrüchen der Leidenſchaft werden auch dieſe nur dann ſich hinreißen laſſen, wenn einzelne ihrer Organe vorherr— ſchen, und nur in der Richtung, welche ihnen dieſe vor— zeichnen.

Ueber den Gegenſatz zwiſchen Affect und Leidenſchaft iſt unter den Pſychologen viel geſtritten worden. Mir ſcheint er ſehr einfach zu ſein. Der Affect beſteht in einer Auf— wallung der Gefühle (im weitern Sinne des Wortes). Die Leidenſchaft iſt eine durch die Beſchaffenheit der

256 Analyſe verfchied. Seelenzuſtände (allgem. Vorbemerkungen).

Gefühlswelt bedingte Richtung eines oder mehrerer Ge— fühle (im weitern Sinne des Wortes) nach einem beſtimm— ten Ziele. Daher iſt die eigentliche Quelle der Affecte im Temperamente, die Quelle der Leidenſchaften in der Be— ſchaffenheit der Gefühle und insbeſondere der niedrigen Ge— fühle und der thieriſchen Triebe zu ſuchen. Das nervöſe Temperament iſt dasjenige, welches am leichteſten, das phlegmatiſche dasjenige, welches am ſchwerſten in Affect zu verſetzen iſt. Den Leidenſchaften dagegen ſind diejenigen Menſchen am meiſten unterworfen, bei welchen die Gefühle, im Gegenſatz zu der Intelligenz am ſtärkſten entwickelt ſind. Der phlegmatiſche Menſch mit vorwaltender Gefühlswelt mag ſtarke Leidenſchaften hegen, ohne darum in Affect zu gerathen, während der nervöſe Menſch, trotz vorwaltender Intelligenz, dennoch leicht in Affect gerathen wird.

So ſehen wir Menſchen, welche mit der größten Ge— duld Angriffe auf ihre Ehre ertragen, aber ſchlechte Muſik bringt ſie in einen Zuſtand höchſter Ungeduld und umge— kehrt. Geduld oder Ungeduld ſind keine Grundvermögen des menſchlichen Geiſtes. Geduldig werden hauptſächlich diejenigen Menſchen ſein, welche bei vorwaltender Entwicke— lung der Organe des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit lymphatiſchen Temperamentes ſind, un— geduldig dagegen diejenigen, welche bei mangelhafter Ent— wickelung dieſer Organe das nervöſe Temperament beſitzen. Die Ungeduld wie die Leidenſchaft wird ſich jedoch immer in derjenigen Richtung zeigen, welche die vorherrſchenden, die Geduld in derjenigen, welche die ſchwächeren Organe anweiſen, z. B. ein ungeduldiger Menſch mit vorherrſchen— dem Zeitſinn wird beſonders ungeduldig werden, wenn man ihn über die feſtgeſetzte Zeit warten läßt; der ungeduldige Menſch mit vorherrſchender Beifallsliebe, wenn man ſeine Eitelkeit verletzt; mit vorherrſchendem Selbſtgefühl, wenn man ſeiner Würde zu nahe tritt. Der Geduldige mit ſchwach entwickeltem Zeitſinn wird dagegen gerade am geduldigſten ſein in Betreff der Verhältniſſe der Zeit, der Geduldige

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung)z. 257

mit beſonders ſchwacher Beifallsliebe oder Selbſtgefühl wird Angriffe auf ſeinen guten Namen und ſein Selbſtgefühl beſonders geduldig ertragen.

§. 48.

Fortſetzung: geſunder Menſchenverſtand, richtiger

Takt, guter Geſchmack. Willenskraft, Willens—

freiheit. Aufmerkſamkeit. Ideenfolge. Gewohn— heit. Sympathie und Antipathie. |

Geſunder Menſchenverſtand und richtiger Takt ſind die Folgen einer harmoniſchen Vereinigung der ver— ſchiedenen Kräfte des Geiſtes; ſie unterſcheiden ſich nur da— durch, daß man bei dem geſunden Menſchenverſtande zu— nächſt die Intelligenz bei dem richtigen Takte zunächſt das Empfindungsvermögen im Auge hat. Es ſind die ſchätzbar— ſten Eigenſchaften, welche der menſchliche Geiſt beſitzen kann. Sie ſind eben ſo ſelten als die harmoniſche Entwickelung der Organe deſſelben Hauptes. Wenn irgend ein Organ in dem Gehirne mangelhaft iſt, ſo iſt es auch die entſpre— chende Kraft, und fo oft daher dieſe Kraft zur Thätigkeit aufgefordert wird, muß das Urtheil oder das Gefühl in dieſer Rückſicht mangelhaft ſein. Wenn dagegen ein Organ unverhältnißmäßig groß iſt, ſo wird es ſich bei jedem Akte geiſtiger Thätigkeit unverhältnißmäßig ſtark geltend machen, und dadurch nicht minder das richtige Ebenmaß, worauf das geſunde Urtheil und der richtige Takt beruhen, ſtören. Der gute Geſchmack unterſcheidet ſich von dem richtigen Takt wie die Kunſt von dem Leben. Wie der letztere das Reſultat einer harmoniſchen Entwickelung der Geiſteskräfte mit befon- derer Richtung auf die Verhältniſſe des täglichen Lebens unter vorwaltender Thätigkeit der Organe des Empfindungsver— mögens, ſo iſt der gute Geſchmack das Reſultat derſelben har— moniſchen Geiſtesentwickelung mit beſonderer Richtung auf die

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258 Analyſe verfchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).

Kunſt und deren Anſprüche. Eine gute Entwickelung des Schönheitsgefühls iſt übrigens eine unerläßliche Voraus— ſetzung des guten Geſchmacks.

Wie geſunder Menſchenverſtand, richtiger Takt und guter Geſchmack nur aus dem Zuſammenwirken verſchiede— ner geiſtiger Kräfte ſich entwickeln, fo auch die Willens: kraft. Dieſe erfordert jedoch nicht, wie jene, das Zuſam— menwirken aller Kräfte, ſondern nur das Zuſammenwirken der Kräfte der Intelligenz. Während die Triebe und die Gefühle nur die Anregung zu Entſchlüſſen und Thaten ge— ben, giebt die intellectuelle Kraft des Menſchen die Ent— ſcheidung. Bei dieſer wirken aber in der Regel eine große Menge von Kräften mit, z. B. wenn der aufgeregte Be— kämpfungstrieb eines Menſchen ihn zum Kampfe mit dem— jenigen aufruft, der ihn aufgeſtachelt hat, ſo wird die Ver— gleichungsgabe die eigenen Kräfte mit denen des Gegners meſſen. Das Schlußvermögen wird daraus Schlüſſe auf zu erwartenden Sieg oder auf eine zu erwartende Nieder— lage ableiten, und inſofern nur der Bekämpfungstrieb, nicht etwa das Selbſtgefühl, die Beifallsliebe, Sorglichkeit, Hoff— nung oder andere Gefühle mit in die Wagſchale fallen, ſo wird entweder der Bekämpfungstrieb durch das Denkvermögen zur Ruhe verwieſen oder zum Kampfe geleitet, je nachdem es dem— ſelben mit überlegener Macht entgegentritt, oder ſich ihm bei— geſellt. Um übrigens die eigenen Kräfte mit denjenigen des Gegners vergleichen zu können, muß der Geſtaltſinn die Geſtalt, der Farbenſinn deſſen Geſichtsfarbe, welche Schwäche und Stärke andeuten kann, der Raumſinn die Entfernung von dem Gegner, der Ortſinn die günſtigen oder un— günſtigen Terrainverhältniſſe, der Gewichtſinn die Schwere der gegenſeitigen Waffen, der Gegenſtandſinn deren Be— ſchaffenheit, der Thatſachenſinn die Bewegungen des Geg— ners, der Zahlenſinn die Anzahl der Feinde an die Hand geben. Alle dieſe Elemente werden auf das Reſultat der Vergleichung und daher auf die Weiſungen des Denkver— mögens mächtig einwirken. Die Kräfte der Intelligenz bil—

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung). 259

den alſo alle zuſammen die eigentlichen Elemente der Wil— lenskraft, während die Empfindungen und die Triebe ſie nur anregen, nur mittelbar auf ſie einwirken. Mit dieſer pſychologiſchen Analyſe der Willenskraft trifft die Analyſe der Organe des Geiſtes in wunderbarer Weiſe zu— ſammen.

Die Organe der intellectuellen Kraft haben nämlich ihren Sitz in dem vordern Gehirnlappen und aus der vor— dern Säule des Rückenmarkes entſpringen die Nerven der willkührlichen Bewegung, oder diejenigen Nerven, welche die freiwilligen Muskeln in Bewegung ſetzen, durch welche alſo jede nach außen wirkende Handlung vollzogen wird. Nervöſe Fibern erſtrecken ſich direct von dem vordern Ge— hirnlappen zu dem oberſten Theile der vordern Säule des Rückenmarks. In der That iſt der vordere Lappen das wahre Ende des größten Theils der nervöſen Fibern, welche willkührliche Bewegung hervorbringen. Die Willenskraft iſt alſo diejenige Kraft, welche die freiwillige Bewegung beherrſcht, oder die Intelligenz in ihrer Richtung auf die That. Die intellectuellen Vermögen (Erkenntniß- und Denk— vermögen zuſammengefaßt) nehmen ſowohl die außerhalb des Geiſtes vorhandenen Gegenſtände wahr, als auch die in denſelben entſtehenden Gefühle, Vorſtellungen und Bil— der. Wenn daher in Folge aufgeregten Zerſtörungstriebs Jemand ſich rächen, oder wegen aufgeregten Erwerbtriebs ſtehlen will, ſo entſteht in dem Empfindungsvermögen das Gefühl, daß dieſes unrecht ſei. Die intellectuelle Kraft nimmt die Neigungen der Triebe wahr, bemerkt die Mis— billigung der moraliſchen Gefühle und, indem ſie ſich für die eine oder die andere Seite entſcheidet, giebt ſie den Ausſchlag und die That geſchieht oder unterbleibt, je nach— dem ſie ſich dafür oder dagegen erklärt. Sie regiert die Nerven der freiwilligen Bewegung und hebt daher die Hand entweder zum Morde, zum Diebſtahl auf oder läßt ſie fal— len, indem ſie die böſen innern Regungen unterdrückt. Je größer die intellectuelle Kraft eines Menſchen iſt, deſto rich—

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260 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).

tiger wird ſie derartige Regungen würdigen, und deſto grö— ßeres Gewicht wird ſie in die Wagſchale der höheren Ge— fühle legen. Dieſer Anſicht gemäß werden Männer mit den größeren intellectuellen Gaben, bei Gleichheit der übri— gen Verhältniſſe, den ſtärkern Willen beſitzen. Das heißt: wenn bei zwei Menſchen die moraliſchen Gefühle und die Triebe von gleicher Kraft ſind, bei dem einen von ihnen aber die intellectuelle Kraft größer iſt als bei dem andern, ſo wird auch ſeine Willenskraft in gleichem Verhältniß grö— ßer ſein. Napoleon z. B. hatte eine ſehr große intellectuelle Kraft, wie auch ſeine mächtige Stirn andeutete, und eine entſprechende große Willenskraft. Allein die übrigen Ver— hältniſſe ſind bei andern Menſchen ſelten gleich. Neben einer ſtark entwickelten intellectuellen Kraft finden ſich bei dem einen Menſchen ſtarke, bei dem andern ſchwache mora— liſche Empfindungen. Auch von den Organen der Triebe und der moraliſchen Gefühle erſtrecken ſich übrigens nervöſe Fibern bis zu der vorderſten Säule des Rückenmarkes hin— ab, und ſo ſind auch dieſe Organe im Stande, auf die Muskeln der freiwilligen Bewegung einzuwirken. Die Or— gane der Triebe und der moraliſchen Gefühle beſtehen da— gegen zum größten Theile aus Fibern, die von jenem Theile des Rückenmarkes ausgehen, welches die Gefühle vermittelt, d. h. von der hinteren Rückenmarksſäule.

Nahe verwandt mit der Willenskraft, aber dennoch verſchieden iſt die Willensfreiheit. Der Wille des Men— ſchen iſt frei, wenn er nicht in den Banden der thieriſchen Triebe und der niederen Empfindungen liegt, alſo nur un— ter dem Einfluſſe der höheren moraliſchen Empfindungen und ſeines Denkvermögens ſteht. In demſelben Maße, als der Menſch ſeine höheren moraliſchen Empfindungen und ſein Denkvermögen zur Herrſchaft und die thieriſchen Triebe zum Gehorſam herangebildet hat, in demſelben Maße wird ſein Wille frei, d. h. unabhängig von niedrigen, ihn ſchän— denden Einflüſſen ſein. Allein in demſelben Maße, als um— gekehrt die thieriſchen Triebe mächtig und die höheren mo—

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung). 261

raliſchen Empfindungen und das Denkvermögen unmächtig geworden ſind, in demſelben Maße iſt ſein Wille unfrei, d. h. ſteht er unter dem Einfluſſe niedriger, ihn ſchänden— der und verderblicher Mächte. Die Willenskraft unterſchei— det ſich von der Willensfreiheit weſentlich dadurch, daß das Hauptelement der letzteren in den moraliſchen Empfin— dungen beſteht, welchen das Denkvermögen nur berichtigend an die Seite tritt, während die Willenskraft unabhängig von den moraliſchen Empfindungen iſt und nur durch die intellectuellen Kräfte gebildet wird. Die Willenskraft kann daher auch zu ſchlechten Zwecken, zur Förderung der thieri— ſchen Begierden dienen, die Willensfreiheit wird dagegen durch eine ſolche Thätigkeit der Willenskraft geradezu unter— graben. Die Freiheit ſetzt Erhabenheit über die Hemmniſſe des geiſtigen Lebens voraus, während die Kraft in allen Richtungen wirkt nach Verſchiedenheit ihrer Natur. Wil— lensfreiheit iſt alſo die Erhabenheit des Willens über die Hemmniſſe des geiſtigen Lebens, und beruht auf der Unfä— higkeit, dieſen zu erliegen; die Willenskraft nimmt dieſe erhabene Stellung nicht ein und umfaßt daher die Fähig— keit, die Hemmniſſe des geiſtigen Lebens zu beſiegen oder ihnen zu dienen.

Die Aufmerkſamkeit iſt gleich der Bewegung ent— weder freiwillig oder unfreiwillig. Im erſten Falle iſt ſie das Reſultat der Willenskraft, im letztern kann ſie das Reſultat der Wirkſamkeit der ſämmtlichen Organe ſein. Unwillkührlich, oft gegen unſern Willen ſind wir nicht ſel— ten aufmerkſam auf Dinge, welche wir lieber unbeachtet ließen. Ein reges Schönheitsgefühl wird z. B. beim An— blick und bei der Vorausſicht der Wiederkehr unſchöner Er— ſcheinungen, oft auch durch einen kräftigen Willen nicht ab— gehalten werden können, dieſelben zu beachten. Ein reges Wohlwollen wird oft nicht umhin können, auf die Scenen des Unglücks zu merken, die es umgeben. Es wird ihm oft vergebens die ganze Macht des Willens entgegengeſetzt. Und wie ſich dieſes ſo verhält bei den höheren Empfindun—

262 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).

gen, ſo noch weit mehr und in erhöhtem Maße bei den thieriſchen Trieben. Die freiwillige Aufmerkſamkeit wird durch den Einheitstrieb an intenſiver Kraft, durch die Fe— ſtigkeit an Ausdauer gewinnen.

Die Ideenfolge iſt das Reſultat der Thätigkeit der verſchiedenen Organe. In demſelben Maße, als ſich die Ge— genſtände der Organe innerlich oder äußerlich verändern, in demſelben Maße, als durch dieſelben abwechslungsweiſe verſchie— dene Organe, oder daſſelbe Organ in verſchiedenartiger Weiſe angeregt werden, in demſelben Maße, als die Zahl und die Beſchaffenheit der durch dieſe Gegenſtände angeregten Or— gane ſich verſchieden geſtaltet, muß ſich mit Rückſicht auf Gewohnheit und Temperament eine verſchiedene Ideenfolge geſtalten. So wird jeder Gedanke, jedes Gefühl, das in unſerm Innern entſteht, oder das uns von außen mitge— theilt wird, gleich wieder der Erzeuger anderer Gefühle und Gedanken und ſo weiter ins Unendliche.

Die Gewohnheit iſt in dieſer, ſowie in mancher an— dern Rückſicht von hoher Bedeutung; ſie iſt das Reſultat der Uebung, und da, wie wir oben ($. 4) geſehen haben, dieſe nicht nur die einzelnen Organe ſtärkt, ſondern auch verſchiedene Organe zu vereintem Wirken und alle zu grö— ßerer Leichtigkeit des Wirkens befähigt, ſo iſt die große Macht der Gewohnheit ſehr natürlich erklärt. Wie übri— gens die Uebung das Maß der Kräfte überſteigen kann und dann dieſe ſchwächt, ſtatt ſie zu ſtärken, ſo kann auch die auf eine ſolche Uebung gegründete Gewohnheit denſelben geiſtig tödtenden Einfluß üben.

Die Sympathie iſt das Reſultat der Wirkſamkeit des Naturgeſetzes, demzufolge jedes Organ in ſeiner Thä— tigkeit das entſprechende Organ anderer Perſonen, welche deſſen Thätigkeit wahrnehmen, zu ähnlicher Thätigkeit an— regt. In demſelben Maße, als daher ein Organ kräftig wirkt, als es von einem andern klar und deutlich in ſeiner Wirkſamkeit wahrgenommen wird, endlich als das wahr— nehmende Organ ſelbſt kräftig iſt, in demſelben Maße wird

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung). 263

daher die Sympathie eine kräftige ſein. Wenn dagegen ein Organ an und für fich eine ſchwache Wirkſamkeit entwickelt, nur aus der Ferne und undeutlich in ſeiner Wirkſamkeit wahrgenommen wird, überdies das wahrnehmende Organ ſelbſt ſchwach iſt, ſo wird die Sympathie ſelbſt auch un— kräftig ſein. So aufgefaßt bietet uns die Sympathie eine befriedigende Erklärung für eine Reihe der bedeutungsvoll— ſten Erſcheinungen des Lebens. Sie erklärt uns, wie es kommt, daß eine mündlich geſprochene Rede, wenn ſie mit Ausdruck vorgetragen wird, ſo viel wirkſamer iſt als eine gedruckte Rede, auch wenn dieſe vielleicht viel beſſer gefaßt ſein ſollte. Sie erklärt uns, wie es kommt, daß eine große Verſammlung gleichgeſinnter Menſchen nicht nur auf den Redner, der ſich an ſie wendet, ſondern auch auf die ſtum— men Zuhörer, aus denen ſie beſteht, oft einen ſo begeiſtern— den Eindruck macht. Der Redner empfindet die Wirkſam— keit derſelben Geiftesvermögen in der Verſammlung, welche ihn beſeelen, und wird dadurch ſelbſt mehr angeregt, ein Zuhörer fühlt dem andern, alle fühlen dem Redner daſſelbe an und regen ſo an, wie ſie gegenſeitig von einander an— geregt werden. Die gegenſeitige Mittheilung der Gefühle der Liebe, des Haſſes, der Anbetung und des Hohns, der Hoffnung und der Furcht, welche oft ſo plötzlich und ſo tief ergreifend ſich geltend macht, wird auf dieſe Weiſe ſehr natürlich erklärt. Eine reiche Quelle der Belehrung läßt ſich überdies aus dieſer Erklärung der Sympathie für alle Verhältniſſe des Lebens ableiten: für den geſelligen Verkehr wie für den Geſchäftsbetrieb, für die Beziehungen der Völ— ker wie der Einzelnen, für das Wechſelverhältniß zwiſchen Volk und Regierung, wie für dasjenige zwiſchen Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler u. ſ. w. Selten iſt der Ver— heimlichungstrieb ſtark genug, auf die Dauer einen Schleier über die eigentlich wirkſamen Kräfte, über die eigent— lichen Motive zu decken. Früher oder ſpäter wird die Sym— pathie, auch wenn ſie von dem Denkvermögen nicht kräftig ſollte unterſtützt werden, die eigentlichen Motive durch die

264 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Fortſetzung).

verdeckenden Hüllen durchfühlen. Die Menſchen, deren niedere Organe des Erwerbtriebs, des Zerſtörungstriebs, der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls vorwaltend thätig find, während fie ſich den Anſchein geben, als ſeien Wohl- wollen, Gewiſſenhaftigkeit und Frömmigkeit ihre Beweg— gründe, werden die entſprechenden Organe der Menſchen anregen, welche ſie zu täuſchen bemüht ſind, und ſo den Lohn ihres Frevels um ſo ſicherer erhalten, je länger und je tief eingreifender ſie gewirkt haben. Denn während ſie auf der einen Seite alle Menſchen, welche eine ähnliche gei— ſtige Beſchaffenheit beſitzen, durch Sympathie mehr und mehr geiſtig corrumpiren, werden ſie auf alle diejenigen, welche eine entgegengeſetzte geiſtige Beſchaffenheit haben, nicht einen ſympathiſchen, ſondern einen antipathiſchen Ein— druck hervorrufen. Die Sympathie ſetzt immer eine mehr oder weniger harmoniſche Bildung der ſich berührenden Per: ſonen voraus, die Antipathie eine mehr oder weniger dis— harmoniſche Bildung. Dieſelben Gefühle, welche bei har— moniſcher Bildung der verſchiedenen Perſonen Sympathie begründen, rufen bei disharmoniſcher Antipathie hervor, gerade ſo wie die Uebung, welche dem Kräfte-Maß des Menſchen entſpricht, ihn ſtärkt, während dieſelbe Uebung, falls fie deſſen Kräfte-Maß überſchreitet, ihn erſchlafft. Wenn ein ſehr ſtark wirkendes Organ des Geſchlechtstriebs, des Zerſtörungstriebs, des Selbſtgefühls in Berührung tritt mit einem ſehr ſchwach wirkenden, ſo wird dieſes da— durch übermäßig in Anſpruch genommen und entweder er— ſchlafft oder zum thätigen Widerſtand aufgefordert. Er— ſchlaffung wird eintreten, wenn neben dem unmittelbar an- geſprochenen Organe keine anderen beſtehen, welche Wider— ſtand zu leiſten vermögen, thätiger Widerſtand, wenn ſich ſolche finden. So theilt ſich die Antipathie in die paſſive und in die active. Letztere wird namentlich im vorigen Falle dann ſich entwickeln, wenn ſich neben den niedern Gefüh— len, welche angeregt werden, die höhern moraliſchen und intel— lectuellen Vermögen in kräftiger Entwickelung finden.

Analyſe verſchieder Seelenzuſtände (Schluß). 265 $. 49. Schluß: Tugend, Laſter, boͤs und gut, Geniali— tät, Vernunft, Schlaf, Traum, Schamgefuͤhl.

Tugend iſt die ihrer Beſtimmung entſprechende Aus— übung jedes von dem Schöpfer in uns gelegten Gefühls (im weitern Sinne des Worts, wonach es ſowohl Em— pfindungen als Triebe in ſich ſchießt). Laſter iſt jede ihrer Beſtimmung widerſprechende Ausübung derſelben. Tugend iſt es daher ebenſowohl, dem Erwerbtrieb, innerhalb der von der Gewiſſenhaftigkeit und dem Wohlwollen, der Ehr— erbietung und der Feſtigkeit gezogenen Schranken Folge zu geben, als dem Wohlwollen oder der Ehrerbietung inner— halb der ihnen durch die intellectuelle Kraft gezogenen Schran— ken. Paſſivität iſt niemals Tugend. Keuſchheit iſt daher ebenſowenig eine Tugend, inſofern man darunter mönchiſche Enthaltſamkeit verſteht, als gänzliche Unthätigkeit des Er— werbtriebs, der Kinderliebe und der Anhänglichkeit es iſt. Im Gegentheile iſt es Tugend, innerhalb der durch die Kinderliebe, die Anhänglichkeit, das Wohlwollen und die Ehrerbietung gezogenen Schranken für die Erhaltung des Menſchengeſchlechts mitzuwirken. Ebenſowenig iſt Gehor— ſam eine Tugend. Er kann ein Werkzeug zum Böſen wie zum Guten ſein. Auch er beruht auf Paſſivität, und nur Activität iſt Tugend. Die Unterordnung der eigenen Em— pfindungen und des eigenen Willens unter denjenigen eines Andern iſt vielmehr nur dann gut, wenn der Eine entſchie— den unſelbſtändig, der Andere entſchieden ſelbſtändig iſt. Der Unſelbſtändige muß vermöge dieſer ſeiner Eigenſchaft dem Selbſtändigen gehorchen, wie der Unwiſſende vom Wiſ— ſenden lernen muß, wenn beide zuſammentreffen. Allein Unſelbſtändigkeit iſt für den Menſchen immer, wie die Un— wiſſenheit eine Mangelhaftigkeit, indem ſie Mangel an ei— gener Kraft, wie dieſe Mangel an Kenntniſſen vorausſetzt. Sich ſelbſt willkührlich über die Zeit der Kindheit hinaus in dieſen Zuſtand verſetzen, heißt Verzicht leiſten auf die

266 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß).

Entwickelung der eigenen Kraft, und ſchließt alſo einen Widerſpruch mit dem Zwecke des menſchlichen Lebens in ſich, welcher uns die Entwickelung unſerer Kräfte gebietet. Wir ſollen das uns anvertraute Pfund nicht vergraben, ſondern es gebrauchen.

Was Tugend in moraliſcher Beziehung, iſt Genialität in intellectueller (im weitern Sinne des Wortes, demzufolge es Erkenntniß-, Denk- und Darſtellungsvermögen umfaßt).

Bös und gut haben eine minder allgemeine und eben deshalb eine minder inhaltsſchwere Bedeutung als tugend— haft und laſterhaft. Dieſe beiden letzteren Worte beziehen fi) auf das Empfindungs vermögen im weitern Sinne, alſo mit Einſchluß der Sinnlichkeit, die beiden erſtern dagegen nur auf das Empfindungsvermögen im engern Sinne des Wortes. Wir werden einen Menſchen, der wohlwollend, gewiſſenhaft, feſt, ehrerbietig iſt, gut nennen, auch wenn er z. B. mehr ißt und trinkt, als er ſollte. Allein wir werden Anſtand nehmen, ihn tugendhaft zu nennen. Auf der andern Seite werden wir einen Menſchen, der übel— wollend, unehrerbietig und gewiſſenlos iſt, allein ſeine Triebe ſtets im Zaume hält, der mäßig iſt im Eſſen und Trinken und in ſonſtigen Genüſſen der Erde, der nicht ſtreitſüchtig, erwerbſüchtig und zerſtörungsſüchtig iſt, wohl bös, aber nicht laſterhaft nennen.

Wenn aber ein Menſch ſowohl ſtark in ſeinen höhern Empfindungen: ehrerbietig, wohlwollend und gewiſſenhaft, als mäßig in der Befriedigung aller ſeiner Triebe iſt, ſo werden wir ihn tugendhaft, und wenn er ſowohl ſchwach in jenen Empfindungen als unmäßig in der Befriedigung ſeiner Triebe iſt, ſo werden wir ihn laſterhaft nennen.

Tugend bezieht ſich auf das Empfindungsvermögen im weitern Sinne des Wortes, Genialität auf die In— telligenz im weitern Sinne des Wortes, die Vernunft ſchlingt um alle Beziehungen des Lebens ein Band der Vereinigung. Vernünftig iſt nur, wer ſeine ſämmtlichen Empfindungen wie ſeine Intelligenz in harmoniſcher, nor—

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß). 267

maler Thätigkeit erhält). Die Folge einer ſolchen Thätig— keit muß immer ſein eine Anſchauung des Lebens von ei— nem höhern Standpunkte, von dem höchſten, deſſen der Menſch fähig iſt, Tüchtigkeit in allen Beziehungen des ir— diſchen Lebens, aber Unterordnung derſelben unter die An— ſprüche, welche eine höhere Weltordnung an uns richtet. Auch der Zuſtand des Schlafes und die damit in Verbindung ſtehenden Traumerſcheinungen laſſen ſich in keiner Weiſe genügend erklären aus einem ungetheilten Organe der Seele; wohl aber aus verſchiedenen, mit be— ſonderen Verrichtungen begabten Organen, die ſich zu ei— nem Ganzen vereinigen. Der Uebergang aus dem wachen— den Zuſtand, und umgekehrt aus dem ſchlafenden in den wachenden geſchieht in geſunden und normalen Verhältniſ— ſen allmählig, d. h. eines der verſchiedenen Organe fällt nach dem andern in den Zuſtand der Ruhe, wie eines nach dem andern, wenn es durch Ruhe geſtärkt und erfriſcht iſt, in denjenigen der Thätigkeit wieder eintritt. Je mehr Or— gane ruhen, deſto tiefer und erquickender iſt der Schlaf, je weniger an der Ruhe Theil nehmen, deſto weniger erfriſchend iſt er und deſto belebter ſind die Träume. Denn alle nicht ruhenden Organe ſetzen, ungeachtet der Ruhe der übrigen, ihre natürliche Thätigkeit fort; und da alle Organe, welche bei reger Kraft im äußern Leben nicht wirken können, ſich in Phantaſieen ergehen’), fo entſtehen dann die Träume. Dieſe ſind um ſo bewegter, je mehr, und um ſo lebendiger,

1) „Die Harmonie in einem Concert wird von einem geübten Tonkünſtler viel vollſtändiger empfunden, als von Ungeübten, und wenn ein Miston mit unterläuft, ſo wird er die Perſon, die Note, die Dauer, die Art, wie ſie geſpielt worden und wie ſie hätte ſollen ge— ſpielt werden, umſtändlich angeben können. Die Harmonie in einem Concert iſt ein ſehr ſchwacher Schattenriß von der Harmonie in den Wahrheiten, die nicht das Ohr, ſondern der sensus internus, oder die Seele in ihrem Bewußtſein empfindet.“ Lambert, Neues Organon Bd. I. S. 399.

2) S. oben S. 252.

268 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß).

je kräftiger die nicht ruhenden Organe ſind. So allein läßt es ſich erklären, daß derſelbe Menſch bisweilen ſo verſchie— denartige Träume hat, dennoch aber immer ſolche, welche zu ſeiner Individualität in beſonderer Beziehung ſtehen. Wachen bei einem Menſchen z. B. die Organe des Bekäm— pfungstriebs und des Zerſtörungstriebs, während die Organe des Denk- und Empfindungsvermögens ſchlafen, ſo werden Bilder des Kampfes und der Zerſtörung dem Schlafenden erſcheinen. Wachen die Organe des Wohlwollens, der Hoff— nung, der Gewiſſenhaftigkeit, während alle Organe der Sinnlichkeit ſchlafen, ſo werden Bilder aus der Gemüths— welt des Schlafenden ohne alle ſtörende Beimiſchung der Begierden entſtehen. Wacht das Organ der ſinnlichen Liebe, während die Organe der höheren Empfindungen und des Denkvermögens ruhen, ſo werden Bilder der Wolluſt ſich entwickeln u. ſ. w. Diejenigen Organe werden zuerſt in Schlaf ſinken, welche auf der einen Seite im Laufe des Tages ſo viel in Anſpruch genommen worden ſind, um der Ruhe zu bedürfen, auf der andern Seite doch nicht ſo ſehr, daß ſie durch Ueberſpannung in einen Zuſtand der Aufre— gung gerathen ſind, welcher die Ruhe unmöglich macht. Wo Reiz iſt, da ſtrömt die Blutmaſſe im Körper hin. Diejenigen Organe, welche in einem erhöhten Zuſtande der Anregung ſind, werden alſo beſonders ſtarken Zufluß von Blut haben, und die dadurch veranlaßte ungewöhnlich ſtarke Ebbe und Fluth läßt das betreffende Organ nicht zur Ruhe gelangen. Daher kommt es, daß tiefe Denker, Wollüſt— linge, leidenſchaftliche Jäger auch im Schlafe noch ihren Lieblings-Neigungen folgen. Ungeachtet der Ruhe ihrer übrigen Organe können die Organe des Denkvermögens, des Geſchlechtstriebs und des Zerſtörungstriebs nicht zur Ruhe gelangen.

Ueber das Schamgefühl find unter den Phrenolo- gen verſchiedene Anſichten ausgeſprochen worden. Es fragt ſich nämlich, ob daſſelbe einem Grund-Vermögen zugeſchrie— ben werden ſolle oder nicht, und in letzterm Falle welchem

Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß). 269

oder welchen?) Es wurde übrigens auch nicht die ge— ringſte Spur eines beſondern Organs dieſes Gefühls im Gehirne oder äußerlich am Schädel entdeckt. Mir ſcheint, daß wenn wir das genannte Gefühl an verſchiedenen Per— ſonen beobachten, es nach Verſchiedenheit der Beſchaffenheit ihrer Gefühlswelt ſich verſchieden geſtaltet. Es ſind mir wieder— holt Menſchen vorgekommen, welche in einer Beziehung ein eben ſo reges, als in andern Beziehungen ein ſchwaches Schamgefühl an den Tag legten, welche ſich z. B. im höchſten Grade ſchäm— ten, wenn ſie nicht eben ſo modiſch gekleidet waren, als Perſonen ihres Gleichen, dagegen ohne zu erröthen die ent— ſchiedenſten Unwahrheiten ſagten und ohne ſich eines Unrechts auch nur bewußt zu werden, geſchweige denn ſich deshalb zu ſchämen, die ſchreiendſten Ungerechtigkeiten begingen. Das Schamgefühl ſetzt immer voraus, daß eines un— ſerer geiſtigen Vermögen ſeine Pflicht nicht gethan habe, und daß ein anderes dieſes empfinde. Allein je nachdem das geiſtige Vermögen, welches ſeine Pflicht nicht gethan hat, und das Gefühl, welches dieſes ankündigt, verſchieden iſt, wird das Schamgefühl ſelbſt verſchieden ſein. Ein Menſch von reger Beifallsliebe, ſchwachem Wohlwollen und ſtar— kem Erwerbtriebe wird ſich z. B. ſchämen, wenn er von wohlwollenden Menſchen darauf ertappt wird, daß er einem bedürftigen Armen eine beſcheidene Gabe verſagt, während er ſich durchaus nicht ſchämen wird, wenn Menſchen, welche geiziger ſind, als er ſelbſt, Zeugen ſeiner Handlung werden. Die Beifallsliebe iſt ein Camäleon, ſie wechſelt ihre Far— ben nach Verſchiedenheit ihrer Umgebungen. Unabhängig von dem Einfluſſe der äußern Verhältniſſe oder die innern Regungen der Seele nur verſtärkend, nicht beſtimmend iſt dagegen dasjenige Schamgefühl, welches durch die Gewiſ— ſenhaftigkeit, das Selbſtgefühl, die Ehrerbietung, den Sinn für das Wunderbare, Verheimlichungstrieb, das Wohlwol—

I) Michele Castle, corso di lezioni sulla Frenologia. Milano 1841. p. 272 ss.

270 Analyſe verſchiedener Seelenzuſtände (Schluß).

len, das Schönheitsgefühl unmittelbar hervorgerufen wird. Alle dieſe Gefühle können die unmittelbare Quelle der Scham werden. Ein Menſch von reger Gewiſſenhaftigkeit, der ſich z. B. in einer unbewachten Stunde zu einer Un— wahrheit hinreißen ließ, wird, ohne daß ſie von irgend Je— mand entdeckt wurde, ſobald der Trieb, welcher ihn dazu verleitete, aufhört zu wirken, und feine Gewiſſenhaftigkeit in ihre Rechte wieder eintritt, ſich ſchämen. Eben daſſelbe wird der Fall ſein, wenn ein Menſch von kräftigem Selbſt— gefühl ſich einer ſeine Würde gefährdenden, einer erniedrigenden Handlung, z. B. einer demüthigen Bitte, eines tiefen Com— plimentes u. ſ. w., wozu er in einer mächtigen Regung eines andern Gefühls gebracht wurde, bewußt wird. Das Mädchen, welches Gegenſtände, die ihm heilig oder wun— derbar erſcheinen, welche es mit dem Schleier des Geheim— niſſes zu verdecken pflegt, dem Auge des unehrerbietigen, des profanen oder überhaupt eines nicht vertrauten Freun— des bloßgeſtellt ſieht, wird ſich ſchämen. Allein wie ver— ſchieden ſind dieſe Gefühle von allen den bisher beſchriebe— nen! Und auch unter einander ſind ſie es, je nachdem Ehr— erbietung, Sinn für das Wunderbare oder der Verheim— lichungstrieb beſonders wirkſam ſind. Das Schönheitsgefühl wird die Mutter des Schamgefühls werden, wenn irgend ein Zufall den Anzug außer Ordnung bringt, beſchmutzt, und in demſelben Maße wird letzteres ſtärker ſein, je mehr erſteres gerade rege war. Auch das Wohlwollen kann das Schamgefühl erzeugen, wenn es uns vorhält, wir hätten helfen können und es nicht gethan, wir ſeien unfreundlich geweſen, wo wir dieſelben Worte hätten mit Milde und Schonung ſprechen können u. ſ. w. So iſt das Scham— gefühl immer verſchiedenartig, obgleich ihm immer ein von irgend einem Gefühle gerügter Verſtoß eines andern Ver— mögens zu Grunde liegt.

Der Gewiſſensbiß hat es nur mit der Gewiſſen— haftigkeit, die verletzte Eitelkeit nur mit der Beifalls— liebe, der gekränkte Stolz nur mit dem Selbſtgefühl zu

Vorbemerkung. Zeugung. 271

thun, während das Schamgefühl alle dieſe Vermögen be— rühren kann; aber immer vorausgeſetzt, daß ſie uns den Verſtoß eines andern Vermögens vor die Seele führen. Die Reue kann ſich aus dem Schamgefühle entwickeln, ſie iſt für die Dauer, was das Schamgefühl für den Augen— blick iſt. Das Schamgefühl röthet die Wangen, die Reue führt zur Beſſerung, aber eben deshalb ſetzt ſie eine, we— nigſtens vermeinte, Schuld voraus, während dieſes bei dem Schamgefühle nicht der Fall iſt. Denn die eben beſchrie— benen Verſtöße einzelner Gefühle find nicht nothwendig fo tief eingreifender Natur, nicht nothwendig Verletzungen der höheren moraliſchen Gefühle, welche allein den Begriff der eigentlichen Schuld bilden.

2. In chronologiſcher Ordnung. $. 50. Vorbemerkung. Zeugung.

Die Grundlage jedes philoſophiſchen Syſtems bildet die Kenntniß der Menſchen-Natur, oder, da in dieſer nur die Seele als bewegender Theil erſcheint, die Seelenlehre, weil nur ſie uns über die Mittel, Wahrheit zu finden, Aus— kunft zu ertheilen vermag. Sie muß daher die Einleitung zu jeder Philoſophie bilden; denn in demſelben Maße, als man der menſchlichen Seele verſchiedene Kräfte, Anlagen, Bedürfniſſe und Beſtrebungen zuſchreibt, wird ihr Verhält— niß zu andern menſchlichen Seelen und der über ihnen wal— tenden Gottheit verſchieden aufgefaßt werden.

Der Gegenſtand dieſer Unterſuchung iſt daher die Seele des Menſchen, eines in der Erfahrung gegebenen Weſens. Das Subject, welches ſie anſtellt, iſt gleichfalls ein ſolches. Allein während dieſes ein einzelner, individueller, concreter Menſch, iſt jener es nicht. Er iſt zwar weder das Wort

272 Vorbemerkung. Zeugung.

Menſch (mit dieſem beſchäftigt ſich die Grammatik), noch der Begriff Menſch (mit dieſem hat es die Logik zu thun), ſondern das dem Begriffe äußerlich entſprechende, lebende Weſen, welches in dieſe Erde geboren wird, einen Leib beſitzt, der ihm die Organe der Thätigkeit bietet, und ſtirbt, das heißt, ſeinen ſterblichen Körper auf dieſer Erde zurück— läßt, damit er ſich in ſeine Grundſtoffe wieder auflöſe, nach— dem er zu den Zwecken ſeiner Beſtimmung gedient hat. Nicht ein einzelner ſolcher Menſch, ſondern alle in ihrer Geſammtheit jeden Alters, jeden Geſchlechts, jeder Nation, jeder Farbe. Eine genaue Prüfung ſeiner Natur ſetzt vor— aus, daß alle dieſe Verſchiedenheiten gewürdigt werden.

Da alſo ein in der Erfahrung gegebenes Weſen den Gegenſtand unſerer philoſophiſchen Betrachtung bildet, ſo kann die Erfahrung oder die Beobachtung nicht von der Hand gewieſen werden, wollen wir anders unſern Zweck erreichen, den Menſchen ſo, wie er in der Erfahrung, nicht blos in unſerer Einbildung iſt, kennen lernen. Zwar haben manche Philoſophen behauptet, alle empiriſchen Sätze könnten auf keine allgemeine Anerkennung (objective Wahr— heit, wie ſie ſagen) Anſpruch machen; allein dieſelben Phi— loſophen gaben doch ſelbſt eine Maſſe von Sätzen mit der allergrößten Beſtimmtheit für wahr aus, welche ſich nur auf Erfahrung gründen, und ſtoßen ſo praktiſch ihre eigene Behauptung am entſchiedenſten um. Sie bedenken nicht, daß Alles, was in der Vergangenheit ruht, und nament— lich unſer eigenes Fühlen, Denken und Handeln, inſofern es bereits (ſei es auch nur vor einer Terzie) ſtattgehabt hat, nur als Erfahrungsgegenſtand in unſerm Innern ſich feſtſtellen kann, daß die Erfahrung, d. h. das Reſultat des Zuſammentreffens unſerer geiſtigen Kraft mit einem Gegen— ſtande derſelben geradezu das einzige Mittel iſt, Wahrheit zu erkennen, feſtzuhalten. Bevor wir einen Gedanken, ein Gefühl in unſerm Innern erfahren haben, können wir ſie gar nicht mittheilen.

Bei Betrachtung des Menſchen gewahren wir auf den

Zeugung. 273

erſten Blick einen Gegenſtand, welcher räumliche Ausdeh— nung beſitzt: den Leib und, wenn wir nach der Urſache fragen, welche ihn in dauernder Lebensthätigkeit erhält, einen zweiten: die Seele. Jenen nehmen wir wahr ver— mittelſt unſerer Sinnenwerkzeuge und Erkenntniß-Organe, wie jeden andern Körper auch, dieſe vermittelſt unſeres Denkvermögens, welches uns drängt, die Urſache der Wir— kungen zu erforſchen, die wir täglich und ſtündlich bis zum Tode des Menſchen an ſeinem Körper vorüberziehen ſehen. Der einfache Vergleich des belebten menſchlichen Körpers mit der Menſchenleiche muß uns zu der Ueberzeugung füh— ren, der Unterſchied zwiſchen beiden beſtehe darin, daß mit erſterem Lebensthätigkeit verbunden ſei, mit letzterem nicht. Die dauernde Urſache der mit einem Körper verbundenen Lebensthätigkeit nennen wir ſeine Seele, ſeinen Geiſt. Nicht blos jedes gut beſchaffene Denkvermögen, ſondern auch jedes gut beſchaffene Empfindungsvermögen führt den Menſchen zu demſelben Reſultate.

Es iſt ein allgemeiner phrenologiſcher Grundſatz, daß diejenigen Organe des Gehirns, welche im Augenblicke an— geregt ſind, die Thätigkeit aller unſerer Körper-Organe beſtimmen und leiten. Wie dieſes gilt von der Bewegung der Hand, welche die Speiſe dem Munde zuführt, welche den Gegner tödtet u. ſ. w., ſo gilt dieſes auch insbeſondere von dem Acte der Zeugung. Ganz gerade ſo wie die Bewegung der Hand ihren Charakter erhält, von den Ge— fühlen, welche ſie leiten und von den Gedanken, welche ihr das Ziel weiſen, ſo erhält auch jeder andere Theil des Körpers in allen ſeinen Bewegungen ſeinen Charakter von den Gefühlen und Gedanken, welche ihn leiten und be— ſtimmen. Zwei dem äußern Anſcheine nach ganz gleiche Handlungen, z. B. die Tödtung eines Menſchen oder eines Thiers, haben einen weſentlich verſchiedenen geiſtigen Cha— rakter und weſentlich verſchiedene geiſtige Folgen, je nach— dem dieſe oder jene Abſicht, der Zweck der Selbſtverthei— digung oder der Rache ihr beſtimmendes Element war.

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274 Zeugung.

So müſſen auch die Folgen der Zeugung einen weſentlich verſchiedenen geiſtigen und körperlichen Charakter anneh— men, je nachdem dieſe oder jene körperlichen Organe und geiſtigen Kräfte bei derſelben thätig waren. Die unmittel— bare Thätigkeit des Organs des Geſchlechtstriebs iſt bei dieſem Acte eine nothwendige Vorausſetzung. Allein je nachdem dieſe oder jene Organe als anregende Elemente mitwirkten, je nachdem Eſſen und Trinken (die Wirkſamkeit des Nahrungstriebs), der Wunſch, vermittelſt eines Kindes in den Beſitz des Vermögens der Frau zu gelangen (die Thätigkeit des Erwerbstriebs), das Vollgefühl der Schön— heit der Geliebten, das Gefühl höherer geiſtiger Einheit die mittelbaren Antriebe bildeten, wird die Folge eine ver— ſchiedene ſein, wird das Kind mit verſchiedenen Anlagen gezeugt werden. Die Stimmung des Augenblicks ſteht aber natürlich ihrerſeits wieder in Cauſalzuſammenhang mit der Stimmung des Tages, des Monats, des Jahres und des Jahrzehends. Gewohnheiten, welche in gewiſſen Zeitperioden einem Elternpaare eigen waren, werden daher auch auf den entſcheidenden Moment ihre Wirkſamkeit geltend machen). So bildet ſich eine lange Kette von dem Augenblicke an, da ein Kind gezeugt wurde bis zu dem— jenigen, da es ſelbſt zeugt, von dem Augenblicke, da die Eltern und Voreltern gezeugt wurden bis zu demjenigen, da Kinder und Kindes-Kinder den Keim des Lebens em— pfingen. Auf dieſe Weiſe allein läßt ſich die körperliche und geiſtige Aehnlichkeit erklären, welche in Familien, Na— tionen und Raſſen Jahrhunderte hindurch ſich treu bleibt, und auf der anderen Seite die Unähnlichkeiten, welche als abnorme Fälle da und dort ſich einſtellen, als Zeugen ab— normer momentaner körperlicher und geiſtiger Thätigkeit des Elternpaars oder wenigſtens eines Theils deſſelben. Von dieſen phyſiologiſchen Grundanſichten ausgehend erhält die Wahl der Genoſſin, welche die Mutter einer heran—

1) G. Combe, über das Weſen des Menſchen.

Zeugung. 275

wachſenden Generation werden, und der Augenblick, welcher über die Zukunft ganzer Geſchlechter entſcheiden ſoll, eine Bedeutung und eine Wichtigkeit, welche wohl geeignet iſt, den leichtſinnigen Menſchen zur Beſonnenheit, den weltlich geſinnten zu höherer Sammlung, den leidenſchaftlichen zur Ruhe zu mahnen. Denn ſie werden die Früchte ernten, die ſie geſäet.

Das Kind iſt das Product ſchaffender Kräfte; auf ſeine Zeugung wie auf jede andere Kräfte-Entwickelung iſt das Geſetz von dem Parallelogramme der Kräfte anwend— bar. Die körperlichen und geiſtigen Kräfte des Vaters und der Mutter, wie ſie ſich im entſcheidenden Augenblicke ge— rade geſtalten und verhalten, ſind daher die Factoren dieſer Kräfte⸗Entwickelung.

So lange das Kind noch im Schooße der Mutter ruht, iſt ihm dieſe allerdings unmittelbar körperliche und geiſtige Nahrungsquelle. Allein bei dem innigen Verhältniß, wel— ches zwiſchen Gatten ſtattfindet, muß die körperliche und geiſtige Beſchaffenheit und Stimmung des Mannes einen dauernden, höchſt bedeutungsvollen Einfluß auf die Mutter üben, und zwar um ſo mehr, je mehr der Zuſtand der Frau ſchwach, hülfsbedürftig und aufgeregt iſt. Dieſer Einfluß wird daher durch die Mutter auch auf das Kind zurückwirken, und ſeiner Entwickelung förderlich oder hin— derlich ſein, je nach der Verſchiedenheit ſeines Charakters.

Bevor das Kind das Licht der Welt erblickt, haben daher mannigfaltige Einflüſſe ſchon auf ſeine körperliche und geiſtige Entwickelung eingewirkt. Alle Gemüths— ſtimmungen der Mutter haben dem Kinde in ihrem Schooße geiſtige Nahrung gereicht, wie die Säfte ihres Körpers ihm körperliche reichten. Die körperliche Nahrung iſt von der geiſtigen niemals ganz zu trennen, am wenig— ſten zur Zeit, bevor das Kind von der Mutter körperlich getrennt iſt. Bis zum Augenblicke der Geburt diente der Leib der Mutter dem Kinde als Schutz gegen die Einflüſſe der Außenwelt, und war ihr Gemüth die Wiege des ſeinigen.

18 *

276 Kindesalter.

Später wird das Kind ſelbſtſtändiger und abhängiger zu— gleich: ſelbſtſtändiger durch ſeine getrennte Individualität, abhängiger durch ſeinen Eintritt in eine künſtliche Welt, in deren Mitte die Natur der Wirkſamkeit des Menſchen mehr und mehr ſelbſt überläßt.

Dieſes Fortſchreiten zu höherer Selbſtſtändigkeit und, größerer Abhängigkeit bildet die Periode der körperlichen und geiſtigen Entwickelung des Menſchen. In demſelben Maße, als das Kind ſelbſtſtändiger wird, als ſeine geiſtigen Anlagen einen individuellen Charakter annehmen, ſondert es ſich von der Außenwelt, erhält es eigenthümliche Gedanken, Gefühle, Wünſche und Strebungen, und kann es daher weniger auf die Hülfe Anderer rechnen, in ſofern es ſie nicht ſelbſt für ſich zu gewinnen weiß.

Den Bedürfniſſen des Kindes entſprechen die Pflichten der Eltern. Um deren Erfüllung ihnen leicht, ja zur freu— digſten Wonne zu machen, hat die gütige Gottheit dem Menſchen die Kinderliebe in die Seele gelegt. ö

$ 51. Kindesalter.

Mit mannigfaltig verſchiedenen Eigenſchaften des Körpers und Geiſtes, ſo verſchiedenartig als diejenigen der Erwachſenen, der Eltern und ihre Verhältniſſe ſind, treten alſo die Kinder in dieſe Erdenwelt ein. Allein einen ge— wiſſen Typus haben ſie dennoch, wie das Jünglings-, das Mannes- und das Greiſenalter einen ſolchen hat. Der Charakter des Kindes iſt derjenige der Hülfloſigkeit, der Abhängigkeit von der Außenwelt und unklaren, kaum be— wußten Dranges nach Entwickelung. In demſelben Maße, als die Selbſtſtändigkeit im Kinde ſchwach iſt, hat die gött— liche Vorſehung von außen durch die Eltern, von innen durch das Walten der Kräfte der Natur, für das ſchwache Weſen geſorgt. Je mehr ſich die Selbſtſtändigkeit des Kin—

Kindesalter. 277

des entwickelt, je klarer und umfaſſender ſein Bewußtſein, je mehr es Herr ſeiner körperlichen und geiſtigen Kräfte wird, deſto weiter tritt die Natur zurück. Sie überläßt dem Menſchen die Herrſchaft, ſobald er ſich derſelben zu bemächtigen weiß. Die Thatkraft des Kindes iſt gering, um ſo größer iſt ſeine Entwickelungs-Fähigkeit. Wenn es die Aufgabe des Erwachſenen iſt, zu geben, ſo iſt es die— jenige des Kindes, zu empfangen.

Das Kind bringt auf die Welt die Kräfte mit, deren es bedarf, zunächſt den Nahrungstrieb, den es an der Bruſt der Mutter ſtillt. Wenn dieſe ihm körperliche Nah— rung, bietet jeder Blick der Eltern, jeder Ton ihrer Stimme, jede Bewegung ihrer Hand ihm geiſtige Nahrung. Das Kind kann noch nicht reden, es verſteht den Sinn der Worte nicht, die an ſeinem Ohr vorüberſtreifen. Allein gar bald lernt es die natürliche Sprache ſprechen und ver— ſtehen, welche die Gefühle und die Gedanken ohne Worte ſprechen. Der Liebesblick der Mutter thut ihm wohl und des Kindes Lächeln iſt die Antwort darauf. Ein wilder Ausdruck des Geſichts, eine zornige Bewegung erſchreckt das Kind und heftiges Weinen und Schreien verräth den Zuſtand ſeiner Seele. Worte ſind nicht die einzigen Zei— chen des Verſtändniſſes. Auch die Taubſtummen verſtehen und werden verſtanden. Der Unterſchied zwiſchen der Sprache der Worte und der Sprache der Zeichen iſt nicht ſo groß, als Viele ſich denken. Für den kleinen Kreis, der liebend das Kind umgiebt, ſind deſſen Zeichen verſtändlich wie dem Kinde die Zeichen der Seinigen es ſind.

Die geiſtige und die körperliche Entwickelung gehen Hand in Hand. Der Geruchs-Nerv und der Geſchmacks— Nerv vervollkommnen ſich eher als der Geſichts- Nerv und der Gehör-Nerv, und das Kind iſt eher für die Eindrücke empfänglich, welche der Geruch und der Geſchmack ver— leihen, als für ſolche, welche das Auge und das Ohr ver— mitteln. Bei neugeborenen Kindern ſieht man kaum Spu— ren von den Faſern in dem Gehirn und dieſe erſcheinen

278 Kindesalter.

eher in dem hintern und mittlern Gehirn-Lappen (woſelbſt ſich die Organe des Begehrungsvermögens und der Ge— fühle befinden), als in dem vorderen (mit den Organen der Intelligenz). Der faſerige Bau des kleinen Gehirns (des Organs des Geſchlechtstriebs) wird nur nach und nach ſichtbar, und entwickelt ſich erſt nach dem achten und zehnten Jahre. Die vordern und obern Theile erſcheinen erſt mehrere Monate nach der Geburt mit einiger Kraft. Außer dem Nahrungstrieb, welcher den Mund des Kindes nach der Bruſt der Mutter führt, entwickeln ſich bald die Triebe der Zärtlichkeit und der Anhänglichkeit, der Bekämpfung und der Zerſtörung. Namentlich dieſe beiden letzteren bedürfen ſorgfältiger Pflege. Alles, was der Gefühlswelt des Kindes widerſpricht, regt ſie auf. Das wirkſamſte Gegenmittel gegen dieſe frühregen Triebe bietet die gleichfalls früh ſich entwickelnde Beobachtungs— gabe des Kindes (Gegenſtandſinn und Thatſachenſinn). Jeder neue Gegenſtand, jede neue Art der Bewegung, welche innerhalb des Geſichtskreiſes des Kindes erſcheint, feſſelt dermaßen deſſen Beobachtungsgabe, daß dadurch am leichteſten jede Regung des Unwillens und der Unfreund— lichkeit, welche ſich im Innern des Kindes zu entwickeln droht, verſcheucht werden kann Jede Scene des Streites, jede Geberde des Zorns regt dagegen die ſchlummernden Triebe des Kampfes und der Zerſtörung auf, und je un— mächtiger das Kind iſt, ihnen andere Folge zu geben als durch Schreien und Stampfen, um ſo ſtürmiſcher wogen ſie doch in ſeinem Innern und bedrohen ſie die Ruhe und den Frieden ſeiner erſten Tage. . Die Bilder, welche ſich auf der noch leeren Lebens— tafel des Kindes verzeichnen, ſind unauslöſchlich, die erſten Gefühle, welche in dem Innern des Kindes erweckt werden, ſind oft entſcheidend für ſeine ganze Zukunft. In dieſer Betrachtung liegt eine mächtige Aufforderung für Eltern und Geſchwiſter, den Säugling nur mit ſolchen Gegen— ſtänden zu umgeben, ihn nur zum Zeugen ſolcher Ereig—

Jünglingsalter. 279

niſſe zu machen, welche geeignet ſind, wohlthätig auf ſein inneres Leben zu wirken. So oft wird dieſes verkannt. Das Kind wächſt heran in einer geiſtigen Atmoſphäre, welche allmählig eben ſo nachtheilig auf ſein Gemüth, als verdorbene Luft auf ſeinen Körper wirkt. Man derwun— dert ſich dann, daß das Kind, ſobald es ſprechen lernt, beſondere Vorliebe für Ausdrücke des Zorns und des Streites an den Tag legt, ſie wiederholt und ſich darin gefällt, ſie bei jeder Gelegenheit anzubringen. Derjenige Trieb, dasjenige Gefühl, dasjenige Vermögen überhaupt wird zuerſt Worte finden, welches in den ſprachloſen Zeiten am meiſten Anregung erhielt, und von Natur am ſtärkſten entwickelt iſt. Hat ſich das Gefühl im Innern entfaltet, ſo hat es den Drang zur Folge, ſich in Worte zu kleiden, ſobald der Sprachſinn erwacht. Dieſen Drang fördert der mächtige Hebel der Nachahmung, welcher bei den Kindern beſonders frühe zu hoher Thatkraft ſich geſtaltet.

8 52. Juͤnglingsalter.

Der Jüngling iſt ſich des Drangs nach Entwickelung ſeiner ſelbſt bewußt. Er hat von der Natur einen Theil der Herrſchaft über ſeinen Körper und ſeinen Geiſt erobert. Vieles geſchieht in demſelben allerdings noch immer, ohne daß er ſich deſſen bewußt wird. Der ganze vegetative Lebenspro— zeß: die Verdauung, die Säftebildung, der Blutumlauf, die Ausſcheidung der verbrauchten und überflüſſigen Stoffe, die Reinigung des Bluts durch das Zuſtrömen von friſcher Luft. Alle dieſe für unſer Leben durchaus unentbehrlichen Thätigkeits-Aeußerungen gehen größtentheils ohne Zuthun des Willens des Menſchen und ſogar ohne daß er ſich deren nur bewußt würde, vor ſich. Allein die höheren, gei— ſtigeren Bewegungen und Strebungen des Lebens macht er ſich mehr oder weniger unterthan. Er ißt und trinkt

280 Jünglingsalter.

mit Bewußtſein, er folgt dabei nicht mehr einem dunkeln Gefühle, er weiß, was ihm gut und was ihm ſchädlich iſt, er kennt das Maß, deſſen er zur Erhaltung ſeiner Geſundheit und zur Beförderung des Wachsthums bedarf: alles dieſes freilich mehr oder weniger nach Verſchiedenheit der Anlagen und deren Entwickelung. Allein in dem Augenblick, da ſich der Jüngling feiner ſelbſt deutlicher be- wußt wird, hat ſich ſchon die Macht der Verhältniſſe be— deutungsvoll an ſeinem Körper und Geiſte geltend gemacht. Manches Vermögen wurde früh geweckt, manches andere im Schlafe erhalten, mancher Keim zu körperlicher Krank— heit wurde gelegt, oder durch liebende Sorgfalt entfernt. So bleibt der Menſch immer in der Mitte ſtehen zwiſchen eigener Herrſchaft, der Herrſchaft der Natur und der Macht der Verhältniſſe. Auch der vollkommen begabteſte und vollkommen entwickeltſte Menſch kann ſich der Herrſchaft der Naturgeſetze und dem Einfluſſe der Außenwelt nicht entziehen, und auch dem unvollkommenſten Menſchen wird einige Selbſtbeſtimmung doch immer bleiben.

Das Streben des Menſchen muß ſich aber richten auf Erweiterung des Kreiſes ſeines ſelbſtbewußten Han— delns, Fühlens und Denkens. Denn in demſelben Maße, als er Herr ſeiner inneren Regungen wird, iſt er frei, in demſelben Maße, als er ſie nicht beherrſcht, iſt er unfrei. Das einzige ſichere Mittel zur Selbſtbeherrſchung iſt aber ein klares Selbſtbewußtſein.

Die meiſten Menſchen bleiben in Betracht gar vieler Regungen ihres geiſtigen, wie ihres vegetativen Lebens bis an ihren Tod im ſelbſtbewußtloſen, unfreien Zuſtande.“ Sie haben nur in Betreff derjenigen Vermögen, welche ſie mit den höheren Thieren in Gemeinſchaft beſitzen, Selbſt— bewußtſein. Allein die Vermögen, welche ſie über das Thier generiſch erheben, welche dieſes gar nicht beſitzt: das Wohlwollen, die Ehrerbietung, die Hoffnung, die Gewiſſenhaftigkeit, das Schönheitsgefühl, der Sinn für das Wunderbare und das Denkvermögen; alle dieſe Kräfte

Jünglingsalter. 281

üben nur wenige Menſchen mit Selbſtbewußtſein, mit Freiheit aus. Sehr häufig konnen fie neben den vorherr— ſchenden thieriſchen Trieben: dem Nahrungstriebe, dem Ge— ſchlechtstriebe, dem Bekämpfungstriebe, dem Zerſtörungs— triebe, dem Erwerbstriebe u. ſ. w., kaum hier und da eine mildere, edlere Regung, einen höhern, richtigern Gedanken geltend machen, welche nicht aus klarem Bewußtſein fließen, und eben deshalb keinen Nachdruck beſitzen. Die moralifchen Gefühle und das Denkvermögen ſind auf Erden noch nicht zur Herrſchaft gelangt. Ueberall ſtehen ſie im großen noch im Dienſte der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls, wenn nicht noch niedrigerer Gefühle. Das jugendliche Alter unterſcheidet ſich vom Mannesalter in der Regel beſonders dadurch, daß in erſterem alle Gefühle, die niedern, wie die höheren, in lebhafterer Bewegung ſind, und daß im Laufe der Jahre die Verhältniſſe dieſem oder jenem Ge— fühle einen vorherrſchenden Einfluß verſchafft haben.

Es gehört zu den ſeltenen Ausnahmsfällen, daß im Laufe der Jahre die höheren Gefühle die Herrſchaft über die niederen, das Denkvermögen die Herrſchaft über ſämmt— liche intellectuelle Kräfte erringen, und die Empfindung mit der Intelligenz innig verbunden dem Ziele der Ver— vollkommnung kräftig entgegenſtrebt.

Auf unſern höheren und niederen Schul- und Er— ziehungs-Anſtalten wird der Entwickelung der höheren Empfindungen und des Denkvermögens größtentheils gar keine Aufmerkſamkeit geſchenkt. Nur einige wenige Kräfte der Intelligenz, z. B. Wortſinn, mechaniſcher Kunſtſinn, Zahlenſinn werden auf allen Schulen regelmäßig entwickelt, und dieſe meiſtentheils eben wegen dieſer Ausſchließlichkeit in höchſt mangelhafter Weiſe.

An eine harmoniſche Entwickelung der geſammten Kräfte der Seele, an eine Gewöhnung zum Gehorſam de— rer, welche gehorchen ſollen und zur Herrſchaft derer, welche herrſchen ſollen, iſt nicht zu denken. Meiſtentheils werden ſogar die Beifallsliebe und das Selbſtgefühl recht

282 Mannesalter.

eigentlich zu Herrſchern herangezogen, indem man ſich jeden Augenblick an dieſe Gefühle wendet, in ihnen den mächtig— ſten Hebel des Fleißes, der Aufmerkſamkeit und des guten Betragens hegt, und ſo im Laufe der Jahre Eitelkeit und Hochmuth auf der einen, Neid, Haß und Eiferſucht auf der andern Seite erweckt.

$ 53. Mannesalter.

In ſolcher Weiſe vorbereitet, tritt der Jüngling in das Mannesalter ein, in dem er für die Außenwelt wirken ſoll. Allein er kann nur thätig ſein mit den Kräften, welche er beſitzt, und in derjenigen Weiſe, in welcher er ſie bis dahin geübt hat. In der Schule wurde auf die höheren Gefühle des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit u. ſ. w. keine Rückſicht genommen. Nur der Ehrgeiz, das Streben nach äußerer Auszeichnung wurde geweckt, und das Mittel, dieſelbe zu erſtreben, war nicht eine kräftige, eigenthümlich entwickelte Individualität, ſondern ein me— chaniſches Eingehen in die Vorträge des Lehrers. Durch das Opfer der ſelbſtſtändigen kräftigen Entwickelung konnten in der Regel allein äußere Ehren und Vorzüge erkauft werden. Nur derjenige Schüler und Candidat beſtand gut, welcher es verſtand, dem Lehrer oder Examinator ganz und gar nach Wunſche zu reden. Daher fielen nicht ſelten die tüchtigſten jungen Leute, wenn es ihnen an Le— bensklugheit und Geſchmeidigkeit fehlte, in den Prüfungen durch, während Menſchen ohne Urtheil, ohne moraliſche und intellectuelle Kraft, wenn ſie nur tüchtig auswendig gelernt und Compendien ſtudirt hatten, trefflich beſtanden. So lernten unſere Jünglinge früh dem Scheine ſtatt der Wahrheit dienen, und was ſie gelernt, üben ſie natürlich als Männer. Daher iſt es nicht zu verwundern, daß ſich in unſerm Leben ſo viel Schein geltend macht, und die

Mannesalter. 283

Wahrheit faſt nirgends durchzudringen vermag. Wer als Jüngling großen Werth zu legen gewöhnt wurde auf die Genuffe des Gaumens, wem Eſſen, Trinken und Rauchen eine Lieblingsbeſchäftigung wurde, an welche ſich die übri— gen Genüſſe des Lebens als untergeordnete anreihen, mit andern Worten, wer als Jüngling den Nahrungstrieb zum Herrſcher, ſtatt zum Diener heranzog, wird als Mann die begründete Gewohnheit nicht ablegen. Als Jüngling machte er ſich luſtig über die reich beſetzten Tafeln der Diplo— maten, während er ſelbſt mit der Pfeife im Munde am Bierkruge ſaß, als Mann verändert ſich nur die Art und Weiſe der Befriedigung des Nahrungstriebs, dieſer ſelbſt behält aber ſeine Herrſchaft nach wie vor. Der Jüngling lernte in Zünften, oder zunftähnlichen Verbindungen alle aus dem Mittelalter überkommenen Gebräuche ehren, einem tyranniſchen Gebieter gehorchen, ein Zunft-Abzeichen ehren. Wird er als Mann mittelalterlichen Satzungen wider— ſtreben, veraltete Gebräuche als ſolche erkennen, die Freiheit als das höchſte Gut lieben und ehren, die Flitter äußerer Standesabzeichnungen von dem Menſchenwerthe unterſchei— den? Den Jüngling ſtellte das Standesvorurtheil ſeinem Bruder im Zweikampfe gegenüber. Wird er als Mann dem Standesvorurtheil entgegentreten können? Unmöglich! Er wird in dem Geiſte handeln, dem er als Jüngling huldigte. Der Menſch, welcher unter dem vorwaltenden Einfluß des Nahrungstriebs, der Beifallsliebe, des Be— kämpfungs- und Zerſtörungstriebes heranwuchs, wird als Mann nicht nach den Eingebungen der moraliſchen Gefühle handeln. Er wird die Gewohnheiten der Jugend in das praktiſche Leben übertragen. Jedes Bedürfniß, jede Schwäche, die ihm eigen ſind, werden ihm ſo viele Ringe in der Sklavenkette des Lebens ſein. Nur wer entbehren gelernt hat, nur wer ſich geſtählt hat gegen die Verſu— chungen der Erde, nur wer den Schein von der Wahrheit zu unterſcheiden weiß, mit anderen Worten: nur wer un— ter dem herrſchenden Einfluſſe der höheren moraliſchen

284 Greifenalter.

Empfindungen und des Denkvermögens ſteht, wird im Sinne der Freiheit und des Rechtes handeln. Wem die Genüſſe der Erde dagegen zum Bedürfniß geworden, wer nach Auszeichnung, Ruhm und Ehre ſtrebt, der mag vielleicht, den Umſtänden nach, von Freiheit und Recht ſprechen, er wird aber niemals für Recht und Freiheit handeln. Denn würde Recht und Freiheit walten, ſo könnte er nicht Ruhm und Ehre und Auszeichnung ge— nießen. Der Kampf für Recht und Freiheit würde ihn in ſeiner Behaglichkeit ſtören, würde alle ſeine Genüſſe ge— fährden.

F. 54. Greiſenalter.

Während der Mann noch nach außen wirkt, bereitet ſich in ſeinem Innern ſchon ſeine Auflöſung vor. In den Jahren der Jugend wurde jedes Körpertheilchen ſchnell er— ſetzt, das die raſche Bewegung verbrauchte, und mehr als erſetzt, im Mannesalter hielt ſich Erſatz und Verbrauch die Wage; das Greiſenalter verbraucht mehr an Kraft und Maſſe, als es zu erſetzen vermag. Der Körper ſchrumpft zuſammen, oder ſetzt ſtörendes Fett ſtatt thatkräftiger Muskel- und Nerventheile an; und mit dem Körper nimmt der Geiſt in gleichem Maße ab. Zuerſt ſchwindet die Thatkraft, dann das Gedächtniß, endlich die Faſſungsgabe, während ſich beim Kinde dieſe verſchiedenen Gradationen der Grundkräfte des Geiſtes in umgekehrter Ordnung nach und nach entwickelt hatten. Die von Natur beſonders ſchwachen oder im Laufe des Lebens beſonders geſchwächten Theile des Körpers und Organe des Geiſtes ſchwinden zuerſt dahin, bis eine Kriſis ſich bildet, oder das Oel der Lebenslampe aufgezehrt iſt. Das jugendliche Alter ſtellte einen Kampf der höheren menſchlichen Kräfte, der Faſſungs— kraft, des Gedächtniſſes und der Thatkraft mit den Kräften

Greiſenalter. 285

der Natur dar. Dieſe wurden in demſelben Maße zurück— gedrängt, als jene ſich mehr und mehr ausbreiteten. Im Greiſenalter kämpft die phyſiſche Kraft gegen die orga— niſche, letztere wird mehr und mehr unfähig, die phyſiſchen Kräfte der Anziehung und Abſtoßung, der Schwerkraft und Schwungkraft zu überwinden. Der Tod tritt ein in dem Augenblicke, da die phyſiſchen Kräfte die organiſchen beſiegen. Der Menſch wird, bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſſe am längſten leben, welcher von Kindheit an jede ſeiner Kräfte in ihrer richtigen Unterordnung nach Maßgabe ihres Stärkegrads geübt hat. Wer aber das Verhältniß der Kräfte verkehrte, wer zum Herrſcher erhob den geborenen Diener, wer ſich leiten ließ durch die ſinn— lichen Triebe ſtatt durch das höhere Empfindungs- und Denkvermögen wird den Tribut der Leidenſchaften durch frühen Tod und Siechthum bezahlen; und wer ſeine Kräfte nicht nach dem Maße ihrer Stärke, wer dieſelben über— mäßig, ungleich oder zu wenig übte, wird an Erſchöpfung, an theilweiſer Ueberſpannung oder an Erſchlaffung leiden und ſterben. Wohl wird oft ſpät Abrechnung gehalten. Allein jede Uebertretung eines Naturgeſetzes regiſtrirt ſich von ſelbſt in den verſchiedenen Rubriken der menſchlichen Organiſation ein, und am Tage der Abrechnung wird ſie zählen, ſie habe vor dreißig, vierzig oder auch mehr Jah— ren ſtattgefunden. Die Natur kennt keine Verjährung. Wohl ſind die Geſetze der verſchiedenen Reiche der Natur, wie Georg Combe in ſeinem Meiſterwerke über das Weſen des Menſchen ſo trefflich nachgewieſen hat, von einander unabhängig. Wohl hat die Uebertretung eines phyſiſchen Geſetzes zunächſt nur eine phyſiſche, die Ueber— tretung eines intellectuellen Geſetzes eine intellectuelle Folge u. ſ. w., wie die Verletzung der Lunge zunächſt eine Lun— genkrankheit, die Verletzung des Magens eine Magenkrank— heit zur Folge hat. Allein die verſchiedenen Reiche der Natur ſtehen in einem Verhältniſſe der Unterordnung. Die phyſiſchen Geſetze werden bis zu einem gewiſſen Grade

286 Greifenalter.

überwunden durch die organifchen, die organifchen durch diejenigen der höheren menſchlichen Natur. Die höher— ſtehende dient der niedrigern Kraft zum Nahrungsquell— Der Menſch vermag auch mit ſeinem Körper, mit ſeinen thieriſchen Trieben und intellectuellen Vermögen mehr zu leiſten, wenn ſie einen kräftigen Impuls von den mora— liſchen Kräften erhalten, als wenn dieſer ausbleibt. Im Kampfe der Nationen, wie der Individuen werden daher bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſſe immer diejenigen den Sieg davon tragen, deren Beweggründe die hochher— zigſten, deren Empfindungen die kräftigſten ſind. Daher ſind die geknechteten Nationen immer ſo ſchwach den freien gegenüber. Dieſe ſind der höchſten, jene nur niederer Be— weggründe und Empfindungen fähig. Der Greis, der im Laufe ſeines Lebens alle dieſe Wahrheiten verkannt hat, wird am Rande ſeines Grabes mit trübem Blicke ſtehen. Er wird ſeine Zwecke, welcher Art ſie auch ſeien, durch ſeine eigenen Beſtrebungen untergraben ſehen. In dem— ſelben Maße, als er für die Zwecke des Deſpotismus thätig war, wird er die Keime ſeines Untergangs geſäet haben, in demſelben Maße, als er ſeine eigene irdiſche Größe zu befördern ſtrebte, wird er den allgemeinen Haß und die allgemeine Verachtung auf ſich gezogen haben, und dieſe beiden Gegner werden ihn früher oder ſpäter ſehr klein machen.

II. Ueber die Zustände der Familie.

$. 55.

Die Grundlage des Familienlebens bildet die Wahl des Gatten. Wie niedrig ſind häufig die Beweggründe, welche dieſe beſtimmen! Dieſelben geiſtigen Kräfte, welche bei der Eingehung der Ehe wirkſam waren, werden ſich auch im Laufe derſelben geltend machen. Wo der Erwerbstrieb, die Beifallsliebe, das Selbſtgefühl und die Geſchlechtsliebe die vorherrſchenden Elemente des Bundes ſind, da kann er kein heiliger ſein, wenn auch der Prieſter den Segen dar— über geſprochen hat, und er ein Sacrament genannt wird. Nur wo die höheren moraliſchen und intellectuellen Kräfte die Hauptelemente der Vereinigung bilden, während die thieriſchen Triebe untergeordnete Haltpunkte bieten, hat die Ehe einen innerlich heiligen Charakter.

Dieſelben geiſtigen Kräfte, welche die Eheleute zu— ſammenführten, werden ſich im Laufe des ganzen ehelichen Lebens, bei allen wichtigen Ereigniſſen geltend machen. Sie werden Einfluß üben auf die Bildung des Kindes noch vor ſeiner Geburt, auf deſſen Entwickelung in zarter Kindheit, auf deſſen Erziehung im jugendlichen Alter. Sie werden mehr oder weniger die äußeren Verhältniſſe, den Lebensberuf und die geiſtige Richtung der Kinder beſtimmen. Auf der Wahl der Ehegatten beruht daher mehr oder we—

288 Ueber die Zuſtände der Familie.

niger die Zukunft der Welt. Wer es daher mit ſich ſelbſt, mit ſeinen zukünftigen Kindern, mit ſeinem Vaterlande, mit der Menſchheit gut meint, der hüte ſich wohl vor nie— deren Beweggründen bei dem wichtigſten Acte ſeines Lebens: bei der Wahl des Gatten. Beſonders ſind die— jenigen berufen, dieſes zu erwägen, welche ſo hoch geſtellt ſind, daß ihnen die Blicke der Millionen zugewandt ſind. Das Beiſpiel, welches ſie geben, die Beweggründe, welchen ſie folgen, werden einen mächtigen Einfluß üben auf die Maſſen, werden ſie irre leiten, wenn bös, werden ſie auf die rechte Bahn führen, wenn gut.

Der Zweck der Ehe unterſcheidet ſich von allen übrigen Verbindungen weſentlich dadurch, daß er auf Erzeugung und Erziehung von Kindern gerichtet iſt. Dieſer Zweck ſollte daher immer denjenigen vor Augen ſchweben, welche ſie einzugehen geſonnen ſind. Er ſetzt voraus körperliche und geiſtige Geſundheit und Sympathie beider Theile. Wo eine dieſer Vorausſetzungen fehlt, kann der Zweck der Ehe nur mangelhaft erreicht werden.

Man hat oft die Frage aufgeworfen, ob die Ehe na— turgemäß ſei? Beſteht ſie doch ſelbſt bei ſehr vielen Thieren. Die Taube, der Storch, der Fuchs, der Löwe u. ſ. w. leben in der Ehe, d. h. in einer Verbindung der eben bezeichneten Art, und zwar in der Monogamie, d. h. in derjenigen Ehe, welche nur aus zwei Perſonen verſchie— denen Geſchlechts beſteht, und beiden Theilen ein ausſchließ— liches Recht auf einander für das Leben einräumt. Selbſt bei vielen Thieren iſt die Ehe alſo naturgemäß. Beim Menſchen iſt ſie es nicht minder. Denn ſie iſt das Reſul— tat der Zuſammenwirkung der Organe der Kinderliebe, der Anhänglichkeit, des Einheitstriebs, der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohlwollens, des Schlußvermögens und mehr oder weniger der meiſten übrigen Organe. Wo die Kinderliebe waltet, wird ſie bei denkenden Weſen ſchon für ſich allein zur Ehe führen. Denn nur die Ehe ſichert den nachwach— ſenden Generationen ihre Erziehung und ihre Zukunft.

*

Ueber die Zuſtände der Familie. 289

Wo die Anhänglichkeit ihre normale Thätigkeit entfaltet, wird die Trennung von innig verbundenen Perſonen dieſen Schmerzen bereiten. Nur die Ehe kann Eltern und Kin— dern den Schmerz der Trennung erſparen, und die Freuden innigen Vereins gewähren. Der Einheitstrieb concentrirt die Gefühls- und Gedankenwelt auf einen Gegenſtand, wo er naturgemäß waltet, muß er daher auch die Gefühle des Mannes in einem Weibe, diejenigen des Weibes in einem Manne concentriren. Dieſe an und für ſich ſchon fo mäd): . tigen, und ſelbſt bei vielen Thieren zur Monogamie füh— renden Triebe werden bei dem Menſchen durch die höheren Empfindungen und das Denkvermögen, welche ihm eigen— thümlich ſind, noch verſtärkt.

Die Ehe iſt alſo eben ſowohl naturgemäß, als ſie durch die poſitiven Geſetze geheiligt iſt, und eben deshalb ſollten Staat und Kirche ſie nach Kräften begünſtigen, ſtatt, wie jetzt ſo häufig geſchieht, ihr Hemmniſſe in den Weg zu legen. Jede Erſchwerung der Ehe ſchließt mehr oder minder einen Anreiz zu naturwidriger Befriedigung aller der durch die Ehe befriedigten Triebe in ſich. Da— durch, daß man einem Menſchen die Ehe verbietet, nimmt man aus ſeiner Seele nicht die Triebe heraus, die ihn zur Ehe drängen. Sie wirken fort ungeachtet des Verbots, und führen den Unglücklichen, welcher das Opfer des Ver— bots iſt, auf Abwege weit ſchlimmerer Art, als diejenigen ſind, zu welchen ſelbſt eine unvorſichtig eingegangene Ehe leiten kann. Dennoch fordern noch heutzutage zwei Kirchen ein mehr oder minder ausgedehntes Verſprechen der Ent— ſagung von ihren Prieſtern und halten das von Nicht— Prieſtern abgelegte Gelübde der Entſagung mit Zwangs— gewalt aufrecht! Sie fordern, daß Menſchen die ihnen von Gott verliehenen Kräfte unbenutzt laſſen ſollen. Kann das Gott wohlgefällig ſein? Und unſere Staats-Verord— nungen erſchweren ganzen Ständen, insbeſondere den Civil— und Militär⸗Staatsdienern die Ehe, machen ſie ihnen durch

19

290 Ueber die Zuſtände der Familie.

ihre Einrichtungen oft geradezu unmöglich, und verbieten ſie nicht ſelten ſogar unbedingt.

Allein die Geſetze der Natur ſind ſtärker, als diejenigen der Menſchen. Jede Naturwidrigkeit hat andere in ihrem Gefolge. Daher die Häuſer der Unzucht, die Maſſen un— ehelicher Kinder, Selbſtmord und Verzweiflung.

Die Familienverbindung bildet die Grundlage aller übrigen Verbindungen der Menſchen. Denn der Geiſt, welchen ſie athmet, wird den Kindern ſchon mit der Muttermilch eingeflößt, er wird ſie begleiten durchs ganze Leben. Weil die Ehe im Orient eine deſpotiſche Verfaſſung hat, werden ſich die geſelligen, ſtaatlichen und kirchlichen Verhältniſſe dort niemals heben können, ſo lange dieſes der Fall iſt. Im civiliſirten Europa ſind dem Manne häufig durch das poſitive Geſetz, der Frau durch die Re— geln des Anſtandes und der Mode viel zu große Rechte eingeräumt. Daraus entſteht ein Misverhältniß, welches bei den höheren Ständen namentlich zur Lüge und Heu— chelei mit allen ihren unglückſeligen Folgen führt.

Der Zweck der Ehe, wie wir ihn oben angegeben, ſollte die Grundlage aller poſitiven Geſetze, Gebräuche, Ge— wohnheiten und Regeln des ehelichen Lebens bilden.

III.

Ueber die Zustände der verschiedenen Menschen-Rassen.

$. 56.

Wenn wir die verſchiedenen Völker der Erde betrachten, ſo finden wir unter denſelben eine große Verſchiedenheit natürlicher Anlagen. Die Europäer haben von jeher ein Streben nach moraliſcher und intellectueller Entwickelung an den Tag gelegt. Künſte und Wiſſenſchaften wurden von ihnen gepflegt. Ich brauche nur Namen zu nennen: Grie— chen und Römer, und vor den letztern die Etrusker. Die Völker Aſiens dagegen haben ſich nie auf eine ſolche Stufe geiſtiger Entwickelung hinangeſchwungen. Ihre politiſchen und kirchlichen Einrichtungen legen Zeugniß hiefür ab. Und in welchem traurigen Zuſtande der Erniedrigung ſind die Neger Afrikas jetzt, wie früher! Die Völker der neuen Welt waren berufen, recht deutlich zu zeigen, daß dieſe nationalen Verſchiedenheiten nicht die Folge verſchiedener äußerer, klimatiſcher Verhältniſſe, ſondern die Folge inne— rer Organiſation ſei, welche jedem äußern, noch ſo mäch— tigen Einfluſſe widerſteht. Rings um die Urſtämme Ame— rikas und Auſtraliens haben ſich europäiſche Stämme feſt— geſetzt, welche europäiſche Bildung entwickeln. Sie haben Städte gebaut, Wälder und Sümpfe urbar gemacht, Schu— len eröffnet und Bücher gedruckt. Allein die Ureingebornen *

292 Ueber die Zuſtände der verſchiedenen Menſchenraſſen.

nehmen keinen Theil an dieſen Fortſchritten der Civiliſation. Treu der ihrer innern Organiſation entſprechenden Lebens— weiſe, unfähig, den Verſuchungen der Civiliſation zu wi— derſtehen, gehen ſie unter in einem Kampfe, dem ſie nicht gewachſen ſind.

Wo die Völker ſich nur einigermaßen unvermiſcht er— halten haben, finden wir dieſelben Charakterzüge, ungeach— tet der Verſchiedenheit der Verhältniſſe, trotz dem Laufe der Zeit. Die Sümpfe Deutſchlands ſind ausgetrocknet, die Druiden-Haine Galliens ſind gefallen, Britannien iſt zur Königin der See geworden, und dennoch paſſen noch auf die Bewohner dieſer Länder die Worte, mit welchen Tacitus vor bald zwei Jahrtauſenden die Deutſchen, die Gallier und die Briten beſchreibt.

In der That muß bei näherer Prüfung der Gedanke geradezu widerſinnig erſcheinen, als ob der Menſch ſeine Beſtimmung in der Hauptſache von außen erhalte, denn dann wäre er in der Hauptſache kein ſelbſtthätiges, ſondern von äußern Verhältniſſen abhängiges Weſen. Daß äußere Verhältniſſe auf die Entwickelung des Menſchen wirken, iſt nicht zu leugnen. Nur ſoll die Folge nicht zur Urſache erhoben werden. Vor der erhöhten Thatkraft und Betrieb— ſamkeit der Europäer ſind die Wildniſſe Amerikas zurück— gewichen. Die Europäer ſind durch ſie nicht wild, ſondern die Wildniſſe ſind durch die Europäer urbar gemacht wor— den. Es pflanzen ſich die Menſchenſtämme mit ihren Ei— genthümlichkeiten fort, wie die Thier-Raſſen, und eine die— ſer bedeutungsvollſten Eigenthümlichkeiten iſt einerſeits die geiſtige Beſchaffenheit und andrerſeits die ihr entſprechende Organiſation des Gehirns. Eine genaue Prüfung und Ver— gleichung der Schädel der verſchiedenen Völker der Erde hat die Wahrheit der Phrenologie in ein glänzendes Licht geſtellt. Denn es trifft der bekannte Charakter eines Volks zuſammen mit dem Charakter, welcher ſich ergiebt aus einer phrenologiſchen Prüfung ſeiner durchſchnittlichen Schädel.

Ueber die Zuſtände der verſchiedenen Menſchenraſſen. 293

In verſchiedenen phrenologiſchen Werfen ') find Cha: rafterbildung und Gehirnbildung von vielen Völkern ver: glichen worden. Hier erlaube ich mir, nur auf zwei Ge— ſichtspunkte aufmerkſam zu machen: die politiſche und kirch— liche Geſtaltung Europas in ihrem Verhältniß zu Kopf— bildung und Charakterbildung feiner Hauptbeſtandtheile. Die beiden Raſſen, welche ſämmtliche Völker Europas von höherer politiſcher Thätigkeit bilden, ſind die ger— maniſche und die celtiſche; die Gehirnbildung derſelben unterſcheidet ſich unter andern Verſchiedenheiten haupt— ſächlich dadurch, daß die germaniſche Gehirnbildung das Organ der Ehrerbietung ſtärker und dasjenige der Anhäng— lichkeit ſchwächer, die Organe des Denkvermögens verhält— nißmäßig größer und diejenigen der Beobachtung kleiner beſitzt als die celtiſche Raſſe. Dieſe Gehirnbildung ſtimmt vollkommen überein mit der Charakterbildung der germani— ſchen und celtiſchen Völker. Die ſtärkere Entwickelung des Organs der Ehrerbietung knüpfte die deutſchen Völkerſchaf— ten beſonders feſt an ihre Fürſten. Die ſtärkere Entwicke— lung des Organs der Anhänglichkeit auf der andern Seite verband die celtiſchen Völkerſchaften feſter an ihres Gleichen. Die Folge davon war, daß die deutſchen Völkerſtämme, welche ſich an ihre Fürſten anklammerten, ihre Schickſale mehr oder weniger abhängig machten von denjenigen ihrer Fürſten, daß ſie bis zum heutigen Tage keine feſte Cen— tralgewalt beſitzen, während die celtiſchen Völkerſchaften ſich von ihren Fürſten wenigſtens inſofern unabhängig mach— ten, als ſie denſelben keine der nationalen Entwickelung widerſtrebende Gewalt einräumten.

Nicht minder bezeichnend iſt das Wechſelverhältniß zwiſchen Kopfbildung und Charakterbildung bei der kirch— lichen Geſtaltung unſerer Zuſtände. Die chriſtliche Welt

1) Die Phrenologie in und außerhalb Deutſchland von Guſtav v. Struve $. 8. A System of Phrenologie by C. Combe. Vol. II. p. 327 ss.

294 ueber die Zuftände der verſchiedenen Menſchenraſſen.

Europas zerfällt in drei Glaubensbekenntniſſe, jedem der— ſelben entſpricht eine Raſſenverſchiedenheit. Die griechiſch— katholiſche Religion wird von dem flavifchen Stamme, die römiſch-katholiſche von dem celtiſchen, romaniſchen oder lateini— ſchen Stamme, und endlich die proteſtantiſche Religion von dem germaniſchen Stamme bekannt ). In demſelben Maße, als ſich dieſe Stämme rein, ungemiſcht und von fremdem Einfluß frei gehalten haben, in demſelben Maße iſt auch das ent— ſprechende Glaubensbekenntniß ausſchließend allgemein. In demſelben Maße dagegen, als die Raſſen ſich vermiſcht und fremde Einwirkungen geltend gemacht haben, iſt auch das Glaubensbekenntniß der chriſtlichen Völker gemiſcht. Irland z. B. wird, der großen Maſſe ſeiner Bevölkerung nach, von Celten bewohnt und iſt katholiſch; die Einwanderer aus England ſind germaniſchen Urſprungs und proteſtantiſch. Dänemark, Norwegen und Schweden ſind von rein germa— niſchen Völkerſchaften bewohnt und in dieſen Ländern iſt der proteſtantiſche Glaube durchaus vorherrſchend. Frank— reich enthält 4 Millionen Proteſtanten und 28 Millionen Katholiken. In ganz ähnlichem Verhältniſſe ſteht die Zahl der eingewanderten Franken und der galliſch-celtiſchen Ur— einwohner.

Die politiſche und die kirchliche Geſtaltung der Völker hat ihre Urſachen, ſie ſind nichts anderes als die geiſtigen Anlagen derſelben, und dieſe ſprechen ſich hinwiederum in der Gehirn- oder Kopfbildung aus.

J) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. J. Nr. V.

Seiler praktiſcher Theil.

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$ 57. Ein leitung.

Die Phrenologie iſt, wie ſich aus den bisherigen Ausfüh— rungen ergiebt, die eigentliche Wiſſenſchaft der Menſchen— kenntniß, und inſofern muß ſie nothwendig von der höch— ſten praktiſchen Bedeutung ſein. Denn alle Wirkſamkeit der Menſchen wird durch Menſchen vermittelt. Wer es verſteht, die Menſchen zu lenken, iſt ihr Herrſcher; Nie— mand wird aber dieſes vermögen, der ſie nicht kennt. In— ſofern beruht alle Macht auf Menſchenkenntniß. Je raſcher und je tiefer ein Menſch in die Falten des Herzens ſeiner Mitmenſchen zu blicken im Stande iſt, je beſtimmter er die Geſetze kennt, nach welchen die Bewegungen des innern Lebens ſich entwickeln, deſto mehr Einfluß wird er ſich über deren geiſtige Welt erwerben.

Die Phrenologie giebt die Mittel an die Hand, die Menſchen auf den erſten Blick wenigſtens in ihren Grund— zügen zu erkennen. Das Temperament, die Geſundheits— verhältniſſe und das Alter laſſen ſich nicht verhüllen, eben— ſowenig die Bildung des Kopfes in ſeinen allgemeinen Um— riſſen. Die Frage, welche der drei Regionen: diejenige der thieriſchen Triebe, der Empfindungen oder der intellectuellen Kräfte vorherrſcht, läßt ſich durch den bloßen Anblick des unbedeckten Kopfes, ungeachtet jedes nicht ganz ungewöhn— lichen Haarſchmucks, ohne Befühlen erkennen. Beſonders ſtark entwickelte Organe, ſowohl des Vorder- als des Hin—

298 Einleitung.

terfopfs werden ſich auch einzeln dem geübtern Phrenolo- gen leicht bemerklich machen. Die Organe des Vorderkopfs ſind allerdings auf der einen Seite, wegen ihres kleinern Umfangs, ſchwerer zu erkennen, als diejenigen des übrigen Theils des Kopfs; allein dafür ſind ſie von Haaren nicht bedeckt und im Geſpräche dem Auge immer zugewendet. In ſolcher Weiſe gleicht ſich die Schwierigkeit der Beob— achtung der verſchiedenen Organe ziemlich aus. In demſel— ben Maße, als ein Organ kleiner, iſt es den Blicken zu— gänglicher.

Die Elemente des ganzen geiſtigen Lebens: Tempera— ment, Alter, Geſundheitsverhältniſſe, Gehirn-Organiſation ſind vor dem geübtern Phrenologen im gewöhnlichen Ver— kehre des Lebens gar nicht zu verbergen, und bieten ihm ſchon reichen Stoff des Nachdenkens und phrenologiſcher Beurtheilung. Ein genaueres Eingehen in die Einzelnhei— ten eines Charakters ſetzt übrigens voraus, daß man jedes einzelne Organ mit möglichſter Beſtimmtheit meſſe, was in der Regel nur durch Befühlen des Kopfs geſchehen kann.

Mit den obengenannten Elementen iſt indeß dem Phre— nologen nur das Material ſeiner Beurtheilung gegeben. Seine Sache iſt es, daſſelbe wohl zu verwenden und zu verarbeiten. In dieſer Rückſicht iſt die Lehre von den Com— binationen“ von der höchſten Wichtigkeit.

Jedes einzelne Organ hat ſeinen eigenen Entwickelungs— gang und läßt die Spuren ſeiner Wirkſamkeit oder ſeiner Geſchichte in leſerlichen Zügen auf dem Körper eingeſchrie— ben zurück. Der geübte Phrenologe iſt daher auch im Stande, einen Blick auf die Vergangenheit der Menſchen zu werfen, welche er unterſucht, nicht blos die geiſtige Beſchaffenheit der Gegenwart zu ergründen; und da die Zukunft nichts anderes als die nach ewigen Geſetzen ſich entwickelnde Folge der Vergangenheit und Gegenwart iſt, ſo wird auch ſie ſich den Blicken des phrenologiſchen Forſchers nicht verhüllen!).

I) ©. oben $. 45. i

2) Dr. Caſtle hat dieſes in feinen werthvollen Kopf-Unterſuchun—

Einleitung. 299

So weit führt uns fihon die äußere Seite unferer Lehre: die Phrenologie als Kranioſkopie, als Kunſt be— trachtet. Allein noch weit bedeutungsvoller wird ſie, wenn wir ſie als Wiſſenſchaft betrachten. Dann tritt der einzelne Menſch in den Hintergrund, und die Menſchheit, die Men— ſchennatur überhaupt erſcheint uns als ihr eigentlicher Ge— genſtand. Als Wiſſenſchaft lehrt uns die Phrenologie die Verrichtungen des Gehirns oder die geiſtigen Vermögen der Menſchheit, die Geſetze, unter deren Einfluß ſie in Thätig— keit treten und folgeweiſe die Elemente der geiſtigen Entwicke— lung der Menſchheit, deren naturgemäßen Entwickelungs— gang und die Mittel kennen, dieſen zu fördern. Von dieſem Standpunkte aus betrachtet iſt die Phrenologie die höchſte aller Wiſſenſchaften, denn ſie beſchäftigt ſich mit dem höch— ſten Gegenſtande menſchlicher unmittelbarer Betrachtung in umfaſſendſter und tiefeingreifendſter Weiſe.

Sie verleiht allen Wiſſenſchaften und Künſten, welche ſich mit dem Menſchen beſchäftigen, ihr eigentliches Lebens— element, da ſie uns die Grundſätze an die Hand giebt, von welchen fie auszugehen haben. Die Erziehungswiſſenſchaft, die Kunſt, die Geſchichte der Menſchheit, die Heilkunde, die Moral, die Rechtswiſſenſchaft und die Gottesgelahrtheit erhalten durch ſie ihre philoſophiſchen Elemente, denn nur die Erforſchung der Menſchennatur verleiht ihnen einen ächt wiſſenſchaftlichen Charakter. Doch nicht blos die Wiſſen— ſchaft, auch das alltägliche Leben wird ſich des Lichtes er— freuen, welches ſie bietet.

Eine Wiſſenſchaft, welche ſich nicht gründet auf Beob— achtung, ſondern der Hauptſache nach das Werk der Spe—

gen aufs ſchlagendſte dargethan. S. Zeitſchr. für Phrenologie Bd. 1. H. 3. S. 405 ff. Phrenologiſche Analyſe des Charakters des Hrn. Dr. Juſtinus Kerner von Dr. Caſtle. Bei dieſen Unterſuchungen finde ich nur eines zu beklagen, daß die einzelnen Organe nicht genau ge— nug ihrer Größe nach bezeichnet ſind. Dieſes kann nur durch Zahlen, nicht durch Worte geſchehen.

*

300 Einleitung.

culation iſt, muß nothwendig zu Widerſprüchen zwiſchen ihren Begriffen und den Erſcheinungen des wirklichen Le— bens führen. Die Kräfte, welche die alte Schule der See— lenlehre für Grundkräfte der Seele ausgiebt, ſind, wie wir geſehen haben!), keine ſolchen. Sie giebt uns über die ei— gentlichen Elemente des Seelenlebens durchaus keinen Auf— ſchluß, ſie iſt nur geeignet, uns in dieſer Rückſicht irre zu führen.

Bei dem Mangel aller wiſſenſchaftlichen Klarheit, welche das Alltagsleben hätte erhellen mögen, hat ſich in dieſes die allerheiloſeſte Verwirrung eingeſchlichen. Die Phreno— logie allein kann dieſer ein Ziel ſetzen. Jetzt macht Jeder— mann mit pſychologiſchen Begriffen rein, was ihm in den Sinn kommt. Mit deren Hülfe weiß jeder Heuchler ſein Laſter zu übertünchen, jeder eitle Menſch ſich zu ſchmücken, jeder Dummkopf geſcheit zu ſprechen. Der Dialektiker be— weiſt mit ihrer Hülfe die größten Irrthümer, der Redner bringt mit denſelben die größten Erfolge hervor; allein daß bei alle dem eine babyloniſche Verwirrung herrſcht, iſt Nie— mandem eingefallen. So wenig als den Begriffen die Er— ſcheinungen des wirklichen Lebens entſprechen, ſo wenig ſtehen Wort und Begriff in feſter Verbindung. Der Eine verknüpft dieſen, der Andere jenen Begriff mit den Worten Empfindung, Urtheilskraft und Vernunft. Alle glauben ſchon viel gethan zu haben, wenn ſie ſich über die Begriffs— beſtimmung eines Worts verſtändigen. Selbſt dieſes ge— ſchieht nur ſelten. Jede Schule hat ihre eigenen Kunſt— wörter. Aber Niemand hat ſich die Mühe gegeben, zu unterſuchen, ob, wenn auch zu dem Worte der Begriff, auch ſeinerſeits der Begriff wiederum zu den Erſcheinungen des Lebens paßt?

Wie viel wird geſprochen über das Wort: Liebe! Der junge Mann, welcher in einem zweideutigen Verhältniſſe mit einer Griſette ſteht, der ältere Mann, welcher ſich eine

1) S. oben $. 45. ®

Einleitung. 301

Maitreſſe hält, ſprechen beide von Liebe. Die Mutter, welche ihr Kind verhätſchelt, ſich aber ſonſt um die Leiden keines andern Menſchen kümmert, rühmt ſich der Liebe zu ihrem Kinde. Iſt jener Wollüſtling, iſt dieſe Mutter in demſelben Maß ein liebendes Weſen, in welchem ſie für ihre Geliebte, für ihr Kind fühlen? Keineswegs! Trotz der Stärke dieſer Gefühle, können ſie hartherzige, liebloſe Menſchen ſein. Die Liebe des Wollüſtlings zu ſeiner Griſette oder ſeiner Maitreſſe iſt nichts anderes als Ge— ſchlechtstrieb, welchen er mit jedem andern Thiere, dem Hengſte und dem Stiere gemein hat. Die Liebe der Mut— ter zu ihrem Kinde iſt daſſelbe Gefühl, welches auch die Tigermutter für ihr Junges hegt. Wohl werden dieſe bei— den niedern Triebe mit demſelben Worte bezeichnet wie die chriſtliche Liebe, welche langmüthig und freundlich iſt, nicht eifert, nicht Muthwillen treibt, ſich nicht blähet, ſich nicht ungeberdig ſtellt, nicht das Ihre ſucht, ſich nicht erbittern läßt und nicht nach Schaden trachtet; die Alles verträgt, Alles glaubt und Alles duldet. Allein ſie ſind von ihr doch weſentlich verſchieden, und die Gleichheit des Worts führt nur zu abſichtlichen und unabſichtlichen Misverſtänd— niſſen, zu Beſchönigungen aller Art, kurz zu verderblicher Unwahrheit.

Der Spießgeſelle des Mörders und Räubers, welcher dieſem auf ſeiner verbrecheriſchen Bahn folgt, der Gefährte des wüſten Lebens eines leichtfertigen Jünglings, welcher durch Dick und Dünn mit dieſem geht, ſprechen Beide von Freundſchaft und Treue, und glauben durch dieſe Worte ihr Feſthalten an ihrem böſen Principe zu rechtfertigen. Ein Feſthalten, eine Anhänglichkeit dieſer Art beſitzt auch der in Heerden lebende Wolf und der Affe, der mit ſeinen Ge— fährten auf Beute auszieht. Auf den heiligen Namen der Freundſchaft hat die Anhänglichkeit nur dann Anſpruch, wenn ſie ſich auf höhere Zwecke bezieht, als ſolche, welche auch das Thier verfolgt.

Der Soldat rühmt ſich ſeines Muthes in der Schlacht,

302 Einleitung.

der Student ſeines Muthes auf der Menſur. Allein auch der Löwe kämpft mit Muth, auch der Adler mit Uner— ſchrockenheit. Sollte der Menſch nicht mehr ſein wollen als ein reißendes Thier? Er wird es nur durch den Gegen— ſtand, der ihn in den Kampf führt. Wenn er für Recht und Freiheit gegen Unrecht und Unterdrückung in ſelbſtbe— wußten Kampf geht, dann erhebt er ſich wohl über das Thier. Ein höheres Gefühl, ein edlerer Gedanke leitet ihn. Allein wenn er ſich zum Schergen der Tyrannei verdingt, ſinkt er unter das Thier herab, welches ſeine wilden Kräfte des Kampfes und der Zerſtörung doch nur nach eigenem Bedürfniß, nicht auf den Wink des Deſpoten walten läßt.

Der Geſchäftsmann thut ſich etwas zu Gute auf ſeine Liſt, ſeine Verſchlagenheit und ſeine Schlauheit. Allein auch der Fuchs iſt liſtig, auch die Schlange iſt falſch. Wird die Gabe der Verheimlichung der innern Bewegungen der Seele durch ihren Zweck nicht geadelt, ſo bekundet ſie nur das Walten eines Triebs, den der Menſch mit den niedern Thieren gemein hat.

Auch die Biene und die Ameiſe ſammeln ſich Vorräthe für die Bedürfniſſe ihres Lebens. Der Menſch erhebt ſich in dieſer Rückſicht dann nur über ſie, wenn die höheren Gefühle der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohlwollens u. ſ. w. ihn bei dem Erwerb und bei dem Verbrauche leiten.

Welcher Misbrauch wird mit dem Worte „Ehre“ ge— trieben! Die Studenten-Ehre verlangt Unterwerfung un— ter den Sauf- und Pauk-Comment, die Zunft-Ehre An— erkennung der Zunft-Misbräuche, die Soldaten-Ehre blin— den Gehorſam. Der Knecht dieſer Ehre wird zum Mörder, zum Unterdrücker des anſtrebenden Genies, zum Schergen des Deſpotismus! Gott behüte und bewahre uns vor ei— ner ſolchen Ehre! Dieſe Ehre iſt nichts anderes als der Ausfluß der Beifallsliebe ohne Rückſicht auf die höheren Organe der Gewiſſenhaftigkeit, der Ehrerbietung und des Wohlwollens. Dieſe Ehre ſteht gleich mit der Ehre, welche man dem Stiere anthut, indem man ihn auf dem Wege

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben. 303

zur Schlachtbank mit Blumenkränzen ſchmückt, oder mit der Ehre, welche man dem Affen erzeigt, indem man ihm ein paar Lappen umhängt, wenn er die Menge beluſtigen ſoll.

Alle dieſe Verkehrtheiten ſind die Folgen einer voll— kommenen Unklarheit über die Bedürfniſſe des Seelenlebens, ſeine Mittel und ſeine Zwecke. Wenn die Elemente des Seelenlebens allgemein bekannt wären, wenn ſich die Men— ſchen daran gewöhnten, ihre eigenen Handlungen und die— jenigen ihrer Umgebungen auf ſolche zurückzuführen, wenn ſie ſich der Rangordnung bewußt würden, in welcher die verſchiedenen Kräfte der Seele ſtehen, könnten ſie unmöglich ſo offenkundig, ſo ſchreiend den Geſetzen der Natur wider— ſtreben, als ſie es thun; könnten ſie ſich unmöglich einer Lebensweiſe rühmen, welche ſie unter das Thier herab— würdigt.

Die Aufgabe der Phrenologie iſt es, an die Stelle dieſer maßloſen Verwirrung Klarheit zu ſetzen.

$ 58. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zum Leben.

Es giebt eine Geſundheitslehre für den Geiſt, wie es eine für den Körper giebt. Die Erſcheinungen des geiſti— gen Lebens ſind eben ſowohl durch geiſtige Geſetze geordnet, als diejenigen des körperlichen Lebens. Eben ſo wichtig als es für den Menſchenkörper iſt, zu erkennen, was die Kör— pergeſundheit befördert und was ihr Gefahr droht, eben ſo wichtig iſt es für den Menſchengeiſt, dieſes für die gei— ſtige Geſundheit zu erkennen. Wenn wir wiſſen, nach wel— chen Geſetzen der Körperwelt die Erſcheinungen derſelben ſich entwickeln, ſo ſind wir im Stande, deren Entwickelungs— gang nicht nur vorherzuſehen, ſondern auch auf ihn einzu— wirken. Die Geſetze des Galvanismus, der Dampfkraft, der Elektricität u. ſ. w. bieten uns bedeutungsvolle Beifpiele.

304 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben.

Nur dadurch, daß wir die dieſe Materien beherrſchenden. Geſetze kennen lernten, vermochten wir es, uns die in deren Bereiche ſich entwickelnden Erſcheinungen zu erklären, und uns die gewaltigen Kräfte, die ſie enthalten, zu nutze zu machen. Ganz gerade ſo verhält es ſich mit den Erſchei— nungen des geiſtigen Lebens. Nur wer die Geſetze kennt, unter deren Herrſchaft ſie ſtehen, wird ſie zu erklären und auf ſie einzuwirken lernen. Allerdings wußten wir bis jetzt von denjenigen Geſetzen, welche dem Menſchen am nächſten liegen, von den Geſetzen, auf welchen ſeine ganze Exiſtenz beruht, am allerwenigſten. Allein mit der Hülfe der Phrenologie können wir hoffen, mehr und mehr Licht über dieſe Grundpfeiler unſres Daſeins zu verbreiten.

Jede phyſiſche Kraft hat einen Gegenſtand, welcher ſie in Thätigkeit ſetzt. Das Eiſen weckt die im Magnet ſchlummernde magnetiſche Kraft. Eine Elektriſir-Maſchine zeigt uns, in welcher Weiſe wir die Kräfte der Elektricität zu entwickeln vermögen. Eine galvaniſche Säule, von Men— ſchenhänden erbaut, macht uns die galvaniſche Kraft dienſt— bar u. ſ. w. In vollkommen gleicher Weiſe hat auch jede Kraft des Menſchengeiſtes ihre eigenthümlichen, ſie zur Wirkſamkeit auffordernden Gegenſtände. Der weibliche Kör— per reizt den Geſchlechtstrieb des Mannes, Speiſen den Nahrungstrieb des Menſchen, Kinder die Kinderliebe der Eltern, die erhöhte Bedeutſamkeit des Augenblicks den Ein— heitstrieb, die Nähe des Freundes und des Gefährten die Anhänglichkeit, Widerſpruch und Angriff den Bekämpfungs— trieb, der Anblick die Erinnerung, und noch mehr die Beſorgniß von Verderben und Untergang den Zerſtörungs— trieb, Heimlichkeiten regen den Verheimlichungstrieb und werthvolle Gegenſtände der Körperwelt den Erwerbtrieb an. Der Stolz ruft das Selbſtgefühl, das Lob die Beifalls— liebe, Gefahren die Sorglichkeit zur Thätigkeit auf. Das Unglück ſpricht zum Wohlwollen, das Erhabene zur Ehr— erbietung, das Dauernde zur Feſtigkeit, Wahrheit und Recht zur Gewiſſenhaftigkeit. Die Zukunft iſt die Wiege der Hoff—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben 305

nung, das Unerklärliche, Großartige treibt uns zur Bewun— derung, das Schöne in allen ſeinen tauſendfältigen Ge— ſtalten regt unſern Schönheitsſinn an. Die Werke mecha— niſcher Kunſtfertigkeit ſpornen unſern mechaniſchen Kunſtſinn, das Komiſche unſern Witz, alles Auffallende unſer Nachah— mungstalent, ſymmetriſche Verhältniſſe unſern Ordnungsſinn, Töne unſern Tonſinn, Worte unſern Sprachſinn zur Reg— ſamkeit. Die Einzelnheiten der körperlichen Erſcheinungen wirken auf unſern Gegenſtandſinn, Geſtalten auf unſern Geſtaltſinn, Größenverhältniſſe auf unſern Größenſinn, ört— liche Verhältniſſe auf unſern Ortſinn, die Schwerkraft mit allem, was ſie entwickelt, auf unſern Gewichtſinn, Farben auf unſern Farbenſinn. Das Rollen des Zeitenſtroms weckt unſern Zeitſinn, die Ereigniſſe, welche wir erleben, unſern Thatſachenſinn, die Zahlen unſern Zahlenſinn. Die Ver⸗ gleichungsgabe wird durch Gegenſtände aller Art, welche einen Gegenſatz mehr oder weniger deutlich ausſprechen, das Schlußvermögen durch Gegenſtände, welche im Verhältniß von Urſache und Wirkung ſtehen, zur Thätigkeit angeregt.

In demſelben Maße, als übrigens dieſe Gegenſtände in untrennbarer Vereinigung uns entgegentreten, werden ſie auch die entſprechenden geiſtigen Kräfte zu vereinigter Thä— tigkeit auffordern, und in demſelben Maße, als die ange— ſprochenen Kräfte ſtark und die anſprechenden Gegenſtände bedeutungsvoll ſind, wird auch die Thätigkeit dieſer Kräfte ſich ſteigern, oder im umgekehrten Falle ſich vermindern. Die Lehre von dem Parallelogramme der Kräfte, d. h. die Lehre, daß verſchiedene zuſammenwirkende Kräfte im Ver— hältniß ihrer Stärke zu dem Reſultate, das ſie hervorru— fen, oder zu der Richtung ihrer Wirkſamkeit beitragen, fin— det bei den geiſtigen wie bei den phyſiſchen Kräften ſeine Anwendung.

Wenn wir uns im Umgang mit uns ſelbſt und im Verkehr mit unſern Nebenmenſchen dieſer Grundſätze immer bewußt ſind, wenn wir dieſelben naturgemäß immer zur Anwendung bringen, wenn wir namentlich Rückſicht neh—

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306 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben.

men auf das wechſelſeitige Verhältniß der verſchiedenen Geiſtes— kräfte unter einander, ſo werden wir als ſelbſtbewußte, freie Menſchen handeln; im entgegengeſetzten Falle ſind wir, um mit Shakeſpeare zu ſprechen, nur Schwämme, welche von Andern ausgedrückt werden.

Wenn wir erkennen, dieſer oder jener Menſch bezweckt, unſere Beifallsliebe, unſere Eitelkeit, unſer Selbſtgefühl, unſern Stolz rege zu machen, ſo werden wir nicht in die uns gelegte Schlinge treten, wohl aber, wenn wir dieſes nicht erkennen. Die Thätigkeit jeder geiſtigen Kraft hat aber eben ſowohl ihre beſtimmten Merkmale, als die Thä— tigkeit irgend einer phyſiſchen Kraft. Kennen wir dieſe Merkzeichen, ſo ſind wir im Stande, ſie zu beherrſchen, ſie zu lenken und zu leiten. Kennen wir ſie nicht, ſo werden wir nur allzu leicht durch die auf uns wirkenden, uns ihrer Natur nach unbekannten Kräfte geleitet und gelenkt. Wem es daher um ſeine geiſtige Freiheit zu thun iſt, der gebe ſich die Mühe, die Merkmale der Thätigkeit der verſchiede— nen geiſtigen Kräfte eben ſo gut kennen zu lernen, als die Natur der Gegenſtände, welche die verſchiedenen Kräfte in Thätigkeit rufen.

Wie häufig wird jetzt ein geiſtiger Blitz in ein geiſti— ges Pulverfaß geſchleudert, weil man J) nicht weiß, daß das Faß Pulver enthält, 2) daß das, was man ſchleudert, ein Blitz iſt, 3) daß der Blitz das Pulver entzündet.

Nachdem wir die Gegenſtände der verſchiedenen geiſti— gen Kräfte bezeichnet haben, wollen wir nunmehr auf die Merkmale ihrer Thätigkeit aufmerkſam machen. Dieſelben ſind im erſten Theile dieſes Werks bei Gelegenheit der Be— ſprechung der verſchiedenen Organe ſo genau beſchrieben wor— den, als es der jetzige Stand der Wiſſenſchaft erlaubt. Nur wer daher alle die dort angegebenen äußerlichen und innerlichen Merkmale der verſchiedenen geiſtigen Kräfte ſich vollkommen angeeignet hat, wird im Stande ſein, aus den Merkmalen auf die Natur der ſie erzeugenden Kräfte zu ſchließen und demgemäß zu handeln.

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben. 307

Der Geſchlechtstrieb thut ſich kund durch Geberden und Handlungen der Sinnlichkeit, die Kinderliebe durch Zärt— lichkeit gegen Kinder und ähnliche ſchwache Geſchöpfe, der Einheitstrieb durch Geiſtesgegenwart, die Anhänglichkeit durch treues Feſthalten an den Genoſſen, der Bekämpfungs— trieb durch Kämpfe, der Zerſtörungstrieb durch Zorn, Grimm und Bitterkeit; der Verheimlichungstrieb durch krumme Wege; der Erwerbtrieb durch Streben nach Beſitz, der Nahrungstrieb durch Luſt an Eſſen, Trinken, Rauchen u. ſ. w. Das Selbſtgefühl thut ſich kund durch Stolz, die Beifalls— liebe durch Eitelkeit, die Sorglichkeit durch Furcht, das Wohlwollen durch Mildthätigkeit, die Ehrerbietung durch Anbetung und Verehrung, die Feſtigkeit durch Ausdauer, die Gewiſſenhaftigkeit durch rechtſchaffenes Betragen, die Hoffnung durch Erwartung einer heitern Zukunft, der Sinn für das Wunderbare durch Bewunderung des Unerklärlichen, das Schönheitsgefühl durch Entzücken an den Erſcheinun— gen der Schönheit.

Nur dadurch, daß man die Bewegungen des Seelen— lebens auf dieſe Elemente zurückführt, wird man in den Stand geſetzt, ſie richtig zu würdigen und auf ſie entſpre— chend einzuwirken.

Eine vielfach beſtätigte Beobachtung iſt es dabei na— mentlich, daß wir eine Reihe von Empfindungen mit dem Gedanken beginnen, der Andere, mit dem wir es gerade zu thun haben, hege dieſelben, z. B. er ſei ſtolz gegen uns, er wolle uns zu nahe treten, er widerſpreche uns, er wolle ſich rächen u. ſ. w. Dieſer Gedanke bildet ſofort einen Gegenſtand, welcher die entſprechenden Gefühle in uns ſelbſt zur Thätigkeit ruft; jedes erwachende Gefühl bietet wie— derum einen neuen Gegenſtand derſelben Geiſteskraft, und ſo ſteigert ſich die Thätigkeit derſelben, bis ſie entweder ermüdet, oder andern geiſtigen Kräften Gegenſtände gebo— ten werden, welche dieſe zu einer Thätigkeit auffordern, in deren Folge die erſtere Kraft zur Ruhe kommt.

So klar dieſes ſcheint und ſo unzweifelhaft wahr es

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308 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Leben.

iſt, ſo wenig hat man alles dieſes im praktiſchen Leben anerkannt. Der Prieſter, welcher einen anders Glaubenden mit Bitterkeit verfolgt, rühmt ſich ſeiner Rechtgläubigkeit; der Tyrann, welcher ſeine Unterthanen zu Boden drückt, ihnen weder zu reden noch zu ſchreiben vergönnt nach ihrer innern Ueberzeugung, ſpricht von dem Schutze, den er der Freiheit gewährt; der Feigling, der nicht die Kraft hat, ſich einem herrſchenden Vorurtheil entgegenzuſtemmen, rühmt ſich ſeines Muthes, wenn er ihm fröhnt u. ſ. w. Die Phre— nologie lehrt ganz deutlich: Verfolgung und Bitterkeit ſind Symptome des Zerſtörungstriebs, die Unterdrückung der Freiheit Anderer iſt ein Ausfluß des Selbſtgefühls, wer einem Vorurtheile aus Rückſicht für die öffentliche Meinung fröhnt, handelt unter dem Einfluſſe der Beifallsliebe. In ſolcher Weiſe laſſen ſich alle Handlungen gar ſchnell und leicht würdigen, laſſen ſich die Heuchler entlarven und die Bethörten belehren.

Von dieſen Grundſätzen ausgehend, können wir nicht nur uns ſelbſt prüfen und im Zaume halten, ſondern auch auf bie Gefühlswelt unſerer Mitmenſchen in entſprechender Weiſe einwirken lernen. Sie werden uns an die Hand ge— ben, wie wir einen Menſchen mit vorherrſchendem Bekäm— pfungstriebe, mit vorherrſchender Beifallsliebe u. ſ. w. zu behandeln haben, um ſeine vorherrſchende Leidenſchaft nicht zum Ausbruch zu reizen, wir wir auf einen Menſchen mit gewiſſen, beſonders ſchwachen Geiſtesanlagen wirken müſſen, um dieſe zu ſtärken u. ſ. w. Ein weiteres werden wir hier— über in §. 62 bei Gelegenheit der Beſprechung der Anwen— dung der Phrenologie auf die Erziehung ausführen.

Die meiſten Seelenzuſtände ſetzen übrigens eine Mehr— heit thätiger geiſtiger Kräfte voraus. Die Schwierigkeit bei allen Prüfungen derſelben beſteht aber darin, dieſelben auf ihre Elemente zurückzuführen, auszumitteln, welche gei— ſtige Kräfte und in welchem Verhältniſſe fie bei denſelben mitwirken. Dieſes ſetzt nun freilich einestheils eine voll— ſtändige Kenntniß der theoretiſchen Phrenologie, andern—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 309

theils vieljährige praktiſche Anwendung derſelben voraus. Eine genaue Kenntniß der kranioſkopiſchen und phyſiogno— miſchen Seite der Phrenologie wird übrigens hier uns ſehr häufig die beſten Dienſte leiſten, indem ſie uns, bevor noch irgend eine geiſtige Kraft in Thätigkeit getreten iſt, auf— merkſam auf deren vorherrſchend ſtarke Entwickelung macht, oder umgekehrt, uns warnt, ihr, bei der Schwäche ihres Organs, keine zu große Kraftentwickelung zuzutrauen oder zuzumuthen.

Auf dieſe Weiſe läßt ſich die Menſchenkenntniß ſyſte— matiſch behandeln, wiſſenſchaftlich auffaſſen und begründen.

$ 59. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zur Heilkunde.

Wenn irgend einem Geſchäftsmann die Kunſt, Men— ſchen ſchnell und richtig zu beurtheilen von der höchſten Wichtigkeit iſt, ſo iſt dieſes der Arzt. Denn nicht ſelten hat er nur wenige Augenblicke Zeit; läßt er dieſe ungenützt verſtreichen, ſo tritt mit dem letzten Seufzer des Patienten alle Möglichkeit der Hülfe zurück. Sehr bedeutungsvoll find in dieſer Rückſicht die Worte des trefflichen Lauvergne!):

„Wie oft haben wir an dem Lager einer ſterbenden Frau die Geſchichte ihres ganzen Lebens geleſen, blos weil wir auf ihrem Schädel eine Stelle fanden, die das erklärende Gepräge darbot! In tauſend Fällen gegen einen ſchließt eine ſolche Erhabenheit das Geheimniß einer unausweich— lichen Beſtimmung ein.“

Der Arzt, welcher die Geheimniſſe ſeines Patienten auf den erſten Blick erkennt, wird ganz Anderes zu leiſten im Stande ſein, als derjenige, welcher durch die Kopfbil—

1) Die letzten Stunden und der Tod in allen Claſſen der Geſell— ſchaft. Aus dem Franzöſiſchen überſetzt. Leipzig 1843. Bd. I. S. 21.

310 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.

dung deſſelben auf durchaus nichts aufmerkſam gemacht wird.

Vor Gall nahmen die Phyſiologen bei ihren Forſchun— gen auf die körperliche Seite des Menſchen allein Rückſicht, die höhere geiſtige Seite blieb außerhalb des Bereiches ihrer Forſchungen. Die Pſpychologen ihrerſeits behandelten die Seele des Menſchen, als ſei ſie von dem Körper durchaus unabhängig. Die Phyſiologen wußten allerdings ſchon lange, daß wir nur vermittelſt des Seh-Nervs ſehen, nur vermit— telſt des Gehör-Nervs hören können; ſie wußten auch, daß dieſe beiden Nerven das Bewußtſein des Sehens und des Hörens nicht vermitteln. Allein dennoch verfolgten ſie die Verrichtungen des Sehens, Hörens u. ſ. f. nicht weiter. Das Bewußtſein der durch die verſchiedenen Nerven des Körpers vermittelten Eindrücke kann ohne die Organe des Gehirns nicht entſtehen. Wer die Eindrücke, welche uns vermittelſt der verſchiedenen Nervenſtränge des Körpers zugehen, nicht bis zum Gehirne verfolgt, bleibt auf halbem Wege ſtehen.

Zu der Zeit, da Gall ſeine Entdeckungen zuerſt be— kannt machte, war der Zuſtand der Phyſiologie überhaupt ſehr weit hinter dem jetzigen zurück. Jetzt ſteht es, in Folge der Forſchungen Sir Charles Bell's, Joh. Müller's und Anderer feſt,daß in einer Scheide die Nerven der freiwilli— gen, der unfreiwilligen Bewegung und der Empfindung neben einander her laufen, und dennoch jeder derſelben vom Anfang bis zum Ende nur die ihm eigenthümliche Verrich— tung hat. Es ſteht nunmehr in Betreff der Nervenmaſſe überhaupt der Grundſatz feſt, daß ſie nicht ein untrennba— res Ganzes bilde, ſondern eine Reihe von Organen umfaſſe, von welchen jedes ſeine beſondere Verrichtung hat, obgleich wir noch nicht im Stande ſind, die räumlichen Gränzen dieſer Or— gane anatomiſch nachzuweiſen. Es ſteht alſo jetzt in Beziehung auf die Nervenmaſſe überhaupt feſt, was Gall insbeſondere in Betreff der Nervenmaſſe des Gehirns nachwies: daß dieſelbe eine Mehrheit von Organen umfaſſe, von welchen ein jedes eine eigenthümliche Verrichtung habe.

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 311

Jetzt iſt man ſchon im Stande, die Nerven der frei— willigen Bewegung vom Rückenmarke aus bis in den vor— dern Gehirnlappen, und diejenigen der Empfindung bis in die beiden andern zu verfolgen. Auf ſolche Weiſe iſt das Verhältniß zwiſchen den Gehirn-Organen, welche die In— telligenz, die Willenskraft vermitteln, mit den Nervenſträn— gen hergeſtellt, von welchen die freiwilligen Bewegungen abhängen, und das Verhältniß zwiſchen den Gehirn-Orga— nen, welche die Empfindungen vermitteln mit den Nerven— ſträngen des Körpers, welchen eine Verrichtung des glei— chen Namens zukommt.

Jetzt hat ſich daher die Phyſiologie überhaupt derjeni— gen Wahrheiten, welche Gall entdeckte, um ein Bedeuten— des angenährt, und es kommt nur darauf an, daß die Phy— ſiologen ſich die Mühe geben, die Phrenologie kennen zu lernen, daß fie ſich bewußt werden, in welchem Verhältniſſe fie zu ihrer Wiſſenſchaft ſteht, um fie zu überzeugen, daß die Phrenologie in phyſiologiſcher Beziehung nichts anderes iſt, als die Lehre von den Verrichtungen des Gehirns, und daß alſo, wer ihr widerſtrebt, überhaupt dieſer Lehre wider— ſtrebt. Gerade ſo wie Harvey die Verrichtungen des Her— zens, ſo entdeckte Gall die Verrichtungen des Gehirns, und gerade ſo wie die Zeitgenoſſen und Collegen des erſtern ihn wegen dieſer ſeiner Entdeckung anfeindeten, ſo wider— fuhr daſſelbe unſerm Landsmann Gall von ſeinen Zeitge— noſſen wegen ſeiner großartigen Forſchungen.

Nicht blos die kranioſkopiſche und phyſiologiſche Seite der Phrenologie, ſondern auch ihre mehr geiſtige, iſt für den Arzt von der höchſten Bedeutung. Sie lehrt ihm die Geſetze kennen, unter welchen die Bewegungen des Geiſtes ſtehen. Nur wer dieſe Geſetze kennt, wird im Stande ſein, die unter deren Einfluſſe ſich entwickelnden Seelenzuſtände richtig zu beurtheilen, hervorzurufen und zu beſeitigen. Ver— möge dieſer Kenntniſſe wird er im Stande ſein, ſich das Vertrauen ſeiner Patienten in einem weit höhern Grade zu erwerben, als der Arzt, welchem ſie fehlen. Er wird ſein

312 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.

Benehmen nach den Seelenzuſtänden einzurichten wiſſen, mit denen er es zu thun hat; und auf ein ſolches, die ver— ſchiedenen Individualitäten berückſichtigendes Benehmen allein kann ſich ein feſtes und inniges Zutrauen gründen. Wer alle dieſe Kenntniſſe nicht beſitzt, wird verletzen, ohne daß er es weiß, wird aufregen, ohne es zu wollen, und ſelbſt unbewußt in einen Kampf mit ſeinem Patienten treten, den er, ſtatt ihn zu bekämpfen, leiten, lenken, beherrſchen ſollte.

Nicht immer ſind die Patienten offenherzig. Gewiſſe Krankheiten muß der Arzt faſt durchgängig errathen. Die Phrenologie wird ihm über deren Sitz häufig die bedeutungs— vollſten Winke geben. Bisweilen beruht eine Krankheit nur auf Verſtellung. Das ſtark entwickelte Organ des Ver— heimlichungstriebs wird hier dem Arzte nicht verborgen wer— den können, wenn auch die Regungen deſſelben noch ſo künſtlich verdeckt werden.

Häufig wird die Frage ſein: ob der Sitz einer Krank— heit im Gehirn oder in einem andern Theile des Körpers zu ſuchen iſt, z. B. im Seh-Nerv oder im Organ des Far— benſinns, im Zungenbewegungs-Nerv oder im Organ des Wortſinns, im Magen oder im Organ des Nahrungstriebs u. ſ. w. Wer von der Phrenologie nichts verſteht, wird ſich in allen derartigen Fällen ſehr leicht täuſchen.

Allein von der tief eingreifendſten Bedeutung iſt die Phrenologie in Betreff der ſogenannten Geiſteskrankheiten, oder der Krankheiten der verſchiedenen Theile des Gehirns. Wer deren Verrichtungen im normalen Zuſtande nicht kennt, wird die Abweichungen von demſelben nicht richtig zu wür— digen wiſſen, gerade ſowie derjenige die Lungenkrankheiten nicht zu behandeln verſteht, welcher die normalen Verrich— tungen der Lungen nicht kennt.

Die Bruſthöhle und die Bauchhöhle enthalten verſchie— dene Organe mit verſchiedenen Verrichtungen, gerade ſo ent— hält auch die Kopfhöhle verſchiedene Organe mit verſchiede— nen Verrichtungen. Die Functionen der Lungen unterſchei— den ſich nicht mehr von denjenigen des Herzens, die Fun—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 313

ctionen des Magens nicht mehr von denjenigen des Darm— kanals, als die Verrichtungen des Organs des Nahrungs— triebs von denjenigen des Organs des Bekämpfungstriebs ua. w.

Die ſogenannten Geiſteskrankheiten können, was ihre Urſachen betrifft, in zwei Arten eingetheilt werden, je nach— dem bei denſelben die körperliche oder die geiſtige Seite mehr hervortritt. Allerdings müſſen dieſe beiden Elemente immer zuſammenwirken; doch läßt ſich nicht leugnen, daß biswei— len die eine, bisweilen die andere Seite mehr hervortritt. Es giebt unmittelbar körperliche und unmittelbar geiſtige Einwirkungen. Zu den erſteren rechnen wir körperliche Ver— letzungen, einen Schlag auf den Kopf, einen Fall auf den— ſelben; zu den letzteren übermäßige geiſtige Anſtrengung, Gemüthsbewegungen u. ſ. w. Allerdings werden erſtere eine entſprechende Rückwirkung üben auf den Geiſt und letz— tere das Gehirn mehr oder weniger berühren. Nichts deſto weniger iſt dort die körperliche, hier die geiſtige Seite mehr augenfällig, mehr primitiv wirkend.

Beinfraß der Schädelknochen, abnorme Bildung der— ſelben, krankhafte Bildung der Hirnhäute, der verſchiedenen Theile des Gehirns ſelbſt, Misverhältniß zwiſchen denſelben alle dieſe Elemente können geiſtige Krankheiten hervorrufen; allein auf der andern Seite nicht minder eine unausgeſetzte, dieſelben Organe aufregende Beſchäftigung, das Brüten über Gefühlen, welche durch dieſelben Organe vermittelt werden u. ſ. w. 7

Die Phrenologie wird darüber Auskunft ertheilen, welche dieſer Urſachen im einzelnen Falle vorliegen möchte.

Was die Symptome der verſchiedenen Geiſteskrankhei— ten betrifft, ſo wird die Phrenologie einestheils durch die körperliche Beſchaffenheit des Patienten, namentlich dadurch, daß ſie einzelne Organe als beſonders ſtark oder auffallend ſchwach entwickelt findet, auf die geiſtige Natur der Krank— heit ſchließen. Sie wird im Stande ſein, die Gefährlich— keit oder Ungefährlichkeit derſelben vorherzuſehen, je nach—

314 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.

dem die Organe des Zerſtörungstriebs, Bekämpfungstriebs und Selbſtgefühls ſtark oder ſchwach, und die moraliſchen Gefühle ſchwach oder ſtark entwickelt ſind.

Auf der andern Seite wird das Benehmen des Pa— tienten dem Phrenologen den körperlichen Sitz der Krank— heit verrathen, und ihm die Möglichkeit verleihen, durch Anwendung localer Mittel in weit kräftigerer Weiſe zu wir— ken, als außerdem ſtatthaft ſein würde.

Der Grundſatz der Mehrheit der Organe des Gehirns iſt von der höchſten Bedeutung für die Behandlung der Geiſteskranken. In der That, ohne denſelben zu kennen, haben geiſtreiche Irrenärzte in mancher Beziehung ihre Pa— tienten ſo behandelt, als wären ſie mit demſelben vertraut. Man hielt es immer für nothwendig, einen Geiſteskranken aus den Verhältniſſen, in denen er während der Entſtehung ſeiner Krankheit gelebt hatte, in andere, durchaus verſchie— dene zu verſetzen, ihn zu zerſtreuen. Dieſe Behandlungs— weiſe läßt ſich phyſiologiſch nur ſo erklären, daß man die— jenigen Gegenſtände, welche die erkrankten Organe in Thä— tigkeit zu erhalten geeignet ſein möchten, entfernen wollte, um dadurch denſelben Zeit zu laſſen, ſich zu beruhigen und ſo wieder zu geſunden. In den Schriften der Phrenolo— gen, namentlich Gall's, ſind eine Reihe von Fällen nam— haft gemacht, welche die Wahrheit dieſer Erklärung von dem Principe der Zerſtreuung recht anſchaulich machen. So erwähnt z. B. Gall eines Kaufmanns, welcher in Folge erlittener Verluſte melancholiſch geworden, d. h. deſſen Or— gan der Sorglichkeit durch die erlittenen Verluſte in eine krankhafte Aufregung verſetzt worden war; gerade in dieſer Zeit entbrannte in Deutſchland der Kampf zwiſchen Prote— ſtantismus und Katholicismus. Der melancholiſche Kauf: mann nahm an demſelben lebhaften Antheil und geſundete. Mit andern Worten, ſeine Organe der Ehrerbietung, des Bekämpfungs- und des Zerſtörungstriebs wurden ſo mäch— tig angeregt, daß ſein Organ der Sorglichkeit keine Auf— forderung zur Thätigkeit mehr erhielt, es konnte ſich beru—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde. 315

higen und durch Ruhe geſunden. Die Phrenologie, welche uns eine viel tiefere Einſicht in das Weſen und die Geſetze aller geiſtigen Bewegungen eröffnet, hat es auch möglich gemacht, eine viel geiſtigere und eben deshalb wirkſamere Behandlungsweiſe der Geiſteskranken einzuführen. Bereits in neun Irrenanſtalten Britanniens und Nordamerikas iſt das ſogenannte non -restraint-Syſtem, oder das Syſtem der Entfernung alles mechanifchen Zwanges eingeführt und zwar mit dem beſten Erfolge. Je genauer der Menſch ſeine Mitmenſchen kennt, je beſtimmter er die Geſetze zu würdi— gen verſteht, unter deren Einfluß ſich die Bewegungen des geiſtigen Lebens entwickeln, um ſo größer wird der Einfluß ſein, den er auf ſie üben kann, und deſto geringer wird ſich das Bedürfniß körperlicher Gewalt geltend machen. Wer aber ſeine Mitmenſchen nicht kennt, die Geſetze, unter denen ihr geiſtiges Leben ſteht, nicht um Rath fragt, der wird immer bei jeder Gelegenheit zur brutalen phyſiſchen Gewalt ſchreiten. Auf dieſe Weiſe mag er die ihm anver— trauten Menſchen zwar bändigen, allein er wird ſie nie be— ſänftigen, beruhigen, heilen und beſſern “). Nicht blos dem Irrenarzte iſt übrigens eine genaue Kenntniß der eigent— lichen Elemente und Syſteme der Geiſteskrankheiten von der höchſten Wichtigkeit, ſondern namentlich. auch den Geſetzge— bern, Richtern und Geſchwornen. Es giebt eine ſogenannte räſonnirende Monomanie, bei welcher die intellectuellen Kräfte, oder mit andern Worten, die Organe des vordern Gehirnlappens des Patienten nicht krank, ſondern im Ge— gentheil ſehr rege ſind; ein mit einer ſolchen Krankheit Be— hafteter läuft in unſern Tagen die größte Gefahr, gleich einem vollkommen Geſunden von der Juſtiz behandelt zu werden, denn dieſe kennt in der Regel nur Krankheiten des Denk- und Erkenntnißvermögens, allein keineswegs Krank— heiten der Triebe und der Empfindungen.

1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. 1. Nr. XIII.

316 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Heilkunde.

In neuerer Zeit hat der ſogenannte Phreno-Magnetis— mus in England, Schottland und Nordamerika beſonders großes Aufſehen erregt, ſo daß wir denſelben hier nicht ganz übergehen können. Die Wirkſamkeit des Magnetismus neh— men wir, ungeachtet des damit getriebenen Misbrauchs und mancher Uebertreibungen, als unumſtößlich feſtſtehend an, namentlich hat die in London neuerdings begründete Zeit— ſchrift „Zoist“ die intereſſanteſten Mittheilungen desfalls gemacht.

Was nun insbeſondere die Verbindung des Magnetis— mus mit der Phrenologie betrifft, ſo beruht dieſelbe auf dem Grundſatze, daß durch magnetiſche Manipulationen einzelne Organe in Thätigkeit gerufen werden können, namentlich wurden auf dieſe Weiſe von Dr. Elliotſon die Organe der Anhänglichkeit, des Selbſtgefühls, des Zerſtörungstriebs und des Wohlwollens, von andern Magnetiſeurs die Or— gane des Geſtaltſinns, Gewichtſinns, Farbenſinns, der Ehr— erbietung, des Tonſinns, der Nachahmung, des Nahrungs— triebs und des Bekämpfungstriebs angeregt ).

Wenn wir zum Schluſſe einen Blick werfen auf die Zeit, bevor Gall feine Entdeckungen veröffentlichte, fo kön— nen wir nicht umhin, uns darüber zu freuen, daß jetzt die Heilkunde ſich doch bedeutend den Geſichtspunkten Gall's angenähert hat. Der Gedanke, die geiſtige Thätigkeit des Menſchen mit dem Gehirne in Verbindung zu bringen, lag ſo nahe, daß bereits im Mittelalter verſchiedene Gelehrte ſich mit demſelben beſchäftigten, da ſie jedoch nur ſuchten, die hergebrachten irrigen ſpeculativen Geiſtesvermögen in den verſchiedenen Theilen des Gehirns unterzubringen und bei dieſen ihren Beſtrebungen von dem ſichern Standpunkte der Naturbeobachtung nicht ausgingen, führten dieſelben zu keinem Erfolge.

Später dachte man mehr an die Einheit des Geiſtes

1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. I. H. 2. Nr. XIV. H. 3. Nr. XXIII. Bd. II. H. 3. Nr. XXII.

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Ueber das Verhältniß der Phrenolgie zur Kunſt. 317

als an die Mannigfaltigkeit feiner Thätigkeits-Aeußerungen und ſchloß den Geiſt in die Zirbeldrüſe oder in eine zwi— ſchen dem Gehirn und ſeinen Häuten ſich befinden ſollende unſichtbare Feuchtigkeit ein. Auch dieſe Annahme beruhte auf keinen thatſächlichen Grundlagen und ging daher unter, ohne Spuren ihres Vorhandenſeins zurückzulaſſen. Die Anſichten Gall's dagegen waren auf Naturbeobachtungen gegründet, haben daher ihren Entdecker überlebt und wer— den nicht untergehen.

8 60. Ueber das Verhaͤltniß der Phrenologie zur Kunſt.

Die Kunſt hat nur dann einen hohen Werth, wenn ſie ſich auf Wahrheit gründet. Leiht ſie der Unwahrheit ihre Waffen, ſo wird ſie zur verführeriſchen Armida, welche in demſelben Maße als ſie ſchön auch gefährlich war. Die Unnatur, die gefährlichſte Unwahrheit, reißt immer mehr in unſerer ſchönen Literatur ein. Die ſtille Größe, die ruhige Kraft wird mehr und mehr verdrängt durch lärmende Kleinmeiſterei und leidenſchaftliche Charakterloſigkeit. Unſere Kritik, welcher eine tiefer eindringende Seelenkenntniß fehlt, welche die Merkmale der verſchiedenartigen Regungen des geiſtigen Lebens nicht unterſcheidet, welche größtentheils der höheren moraliſchen Hebel bei ihrem aphoriſtiſchen Wirken entbehrt, iſt nicht geeignet, jener Richtung unſerer Literatur mächtig entgegenzuwirken.

Wie in dem Gebiete der Staatswiſſenſchaft eine falſche und verknöcherte Seelenlehre jeder kräftigen politiſchen Re— gung hemmend entgegentritt, ſo widerſtrebt ſie im Gebiete der Dichtkunſt jeglicher Erhabenheit und jedwedem freien Aufſchwung. Nicht den Schulphiloſophen und Kritikern verdankten Schiller und Jean Paul Friedrich Richter den Einfluß, den ſie auf die Herzen der Deutſchen gewannen, ſondern dem reinen moraliſchen Keime, welcher durch die

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318 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt.

Schulweisheit nicht berührt, in den Beſſeren der Nation kräftig ſproßt und Blüthen und Früchte verſpricht.

Die bisherige Seelenlehre kannte die Grundkräfte des menſchlichen Geiſtes nicht. Sie verwechſelte die verſchiedenen Gradationen derſelben Kraft, verſchiedene Ueberſichts-Mo— mente und Combinationen von Kräften mit verſchiedenen Grundkräften, und behandelte die Seele in ſo ſchwankender und unbeſtimmter Weiſe, daß ſie uns über ihr eigentliches Walten ſo gut als keine Aufklärung gab. Die Phrenologie erſt machte aufmerkſam auf die Verſchiedenheit der Grund— kräfte der Seele, auf ihre individuellen Merkmale und ihr Wechſelverhältniß. Sie lehrt, daß die Gefühle, welche dem Menſchen eigenthümlich ſind, welche ihn über das Thier erheben: die Gefühle der Ehrerbietung, des Wohlwollens, der Gewiſſenhaftigkeit, der Hoffnung und des Wunder— baren zunächſt ihm ſeinen höheren moraliſchen Werth ver— leihen. Sie zeigt, daß das Denkvermögen: die Verglei— chungsgabe und das Schlußvermögen, d. h. diejenigen in— tellectuellen Kräfte, welche die fern liegenden Reiche des Wiſſens mit einander in Verbindung bringen und auffin— den, wie ſie ſich gegen einander verhalten, das höchſte aller intellectuellen Vermögen iſt. Nur diejenigen Charaktere, in welchen jene Gefühle und dieſe Vermögen vorwaltend thätig ſind, können auf Seelenadel Auſpruch machen. Wo dagegen der Geſchlechtstrieb, der Bekämpfungstrieb, der Zerſtörungstrieb, die Beifallsliebe und das Selbſtgefühl die vorherrſchenden Charakterzüge bilden, iſt eine höhere, reinere Seelen-Thätigkeit unmöglich. Denn alle dieſe Ge— fühle finden ſich auch bei der Thierwelt, alle haben Ge— ſchlechtstrieb, die reißenden Thiere Bekämpfungs- und Zer— ſtörungstrieb, Affen haben Beifallsliebe und der Hahn hat Selbſtgefühl. So klar dieſes iſt, ſo iſt die Zahl der Hel— den und Heldinnen doch unendlich groß, welche nur durch die Kraft der eben genannten Gefühle ſich auszeichnen. Wie ſehr wurden und werden noch immer Byron's Helden und Heldinnen bewundert; und dennoch, betrachten wir ſie

Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt. 319

genauer, finden ſich in ihnen als vorherrſchende Charakter— züge keine andern als die benannten Gefühle. Der Giaour verfällt in düſtere Melancholie, weil die Geliebte, welche er verführte, die Strafe für ihre Untreue erduldet, welche im Oriente auf dem Ehebruche ſteht, nur die Rache, die er dafür in dem Blute des gehaßten Todfeindes nimmt, erheitert etwas ſeine finſtere Gemüthsſtimmung. Der Ge— ſchlechtstrieb hat das Verhältniß zwiſchen dem Giaour und Leila geknüpft, der Verheimlichungstrieb hat es eine Zeit lang vor Gefahren geſchützt, der Bekämpfungs- und Zer— ſtörungstrieb ſpornten zur Rache. Nur beim Mangel aller höheren moraliſchen Gefühle konnte dieſe Verwickelung und Entwickelung ſtattfinden. Allerdings verſtand es Byron meiſterhaft, die unmoraliſchen Seiten ſeiner Gedichte zu verſtecken. Er läßt die Motive nur ahnen, ſpricht ſie nie— mals geradezu aus. Allein an den Früchten erkennt man den Baum. Mord und Todtſchlag ſind die Begleiter ſeiner Helden, welche ſie nur vertauſchen mit düſterer Ver— zweiflung. Auf den Sturm der Leidenſchaft folgt aller— dings die Erſchöpfung, auf Thaten grimmiger Wuth die Erſchlaffung. Anders iſt es bei dem ruhigen, dauernden Walten der höheren moraliſchen Gefühle. Wie ſie auf der einen Seite niemals toben und wüthen, ſo fallen ſie auf der andern nicht in ſchlaffe Apathie. Die Gerechtigkeit müſſen wir übrigens Byron widerfahren laſſen, daß, wenn er auf der einen Seite die Stürme der Leidenſchaft mit den blendenden Farben der Wirklichkeit malt, er doch immer denjenigen Zuſtand darauf folgen läßt, welcher na— turgemäß darauf folgen muß: den Zuſtand der Erſchlaffung. Unwahr iſt er bei dieſen Schilderungen nur negativ, nicht poſitiv, nur in Demjenigen, was er verſchweigt, nicht in den Zuſtänden, die er ſchildert. Seine Sprache iſt glän— zend, ſeine Verſe ſind melodiſch. Er beſaß alle Eigen— ſchaften eines großen Dichters außer den höheren mora— liſchen Gefühlen, welche ihn über die Motive ſeiner Haupt— perſonen aufgeklärt, und außer dem Schlußvermögen, wel—

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ches ihn verſtändigt hatte, daß die nothwendige Folge der Uebertretung der Geſetze der moraliſchen Weltordnung in demſelben Maße, als ſie ſtürmiſch war, Verſtimmung der Gemüthswelt iſt.

Entſchiedener als Byron verſündigt ſich Bulwer an den Geſetzen der Natur. Er verſtößt gegen dieſelben nicht blos in negativer, ſondern auch in durchaus poſitiver Weiſe. Er ſchildert Seelenzuſtände, welche zu den Prä— miſſen derſelben gar nicht paſſen. Eugen Aram hat ge— mordet, iſt aber in ſeinem Innern deshalb ſo ruhig, daß ein zartfühlendes Mädchen ſich in ſeiner Nähe nur ange— nehm berührt fühlt. Es ahnt nicht, daß ihr Geliebter ein kalter überlegter Mörder, ein Genoſſe des Auswurfs der Menſchheit iſt. Bulwer ſchildert Eugen Aram, als ſtehe der von ihm vorbedächtlich verübte Raubmord in durchaus keinem Cauſal-Zuſammenhang mit ſeinen übrigen Seelen— zuſtänden, als laſſe ſich die Erinnerung an die Mordthat von der Tafel des Gedächtniſſes, wie das Blut von der Hand des Mörders abwaſchen. Alle Helden Bulwer's find etwas ganz anderes, als wofür ſie der Dichter ausgeben möchte.

Der Raubmord Eugen Aram's iſt eine Kataſtrophe, welche ſein inneres Leben ebenſo entſchieden charakteriſirt, als ſein äußeres. Die Unwahrheit, deren ſich hierbei Bul— wer ſchuldig macht, beſteht darin, daß er die Verwickelungen des innern Lebens, welche jenes Verbrechen zur Folge ha— ben mußte, im Widerſpruch mit allen Geſetzen der Menſchen— Natur, ſchildert. Ein Menſch, welcher diejenigen Gefühle hegt, die Eugen Aram der Magdalene und den Ihrigen gegenüber äußert, kann ein ſo abſcheuliches Verbrechen nicht begangen haben, oder umgekehrt, ein Menſch, welcher ein ſolches Verbrechen begangen hat, kann ſich nicht ſo be— nehmen, wie Eugen Aram ſich Magdalenen und den Ih— rigen gegenüber zeigt. Ein Menſch, welcher ſo räſonnirt, wie Eugen Aram, kann weder Wohlwollen, noch Ehrer— bietung und Gewiſſenhaftigkeit beſitzen. Denn beſäße er

Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt. 321

dieſe Gefühle, ſo könnte ſich ſein Verſtand niemals ſo weit vom Pfade der Wahrheit verirren. Bulwer dagegen be— müht ſich, ſeinen Helden ſo darzuſtellen, als habe er ge— wiſſermaßen nur einen falſchen Schluß gemacht, als habe er nur gegen die poſitiven Geſetze, nicht aber gegen die ewigen Geſetze der Moral verſtoßen. Hierin liegt aber ſo gut eine Unwahrheit, als in der Erzählung: ein Mann beſitze an beiden Händen keine Finger, allein er mache mit den Stümpfen ganz daſſelbe, was andere Menſchen mit den Fingern. Das iſt nicht wahr, das iſt unmöglich. Ebenſo unmöglich iſt es, daß Eugen Aram bei dem Man— gel aller höheren Empfindungen, welchen ſein Raubmord verräth, ſich außerdem ganz geradeſo benommen haben ſollte, als beſäße er dieſelben in ſehr guter Entwidelung.

Georges Sand giebt ſich den Anſchein, nur die Un— gerechtigkeiten unſerer künſtlichen und verkünſtelten Zuſtände bekämpfen zu wollen. Allein ſie bekämpft in der Wahrheit alle höheren und beſſeren Gefühle der Menſchenbruſt. Sie ſetzt die Leidenſchaft auf den Thron, und will, daß vor ihr ſich alle Welt beuge. Deren Dietate nennt ſie Vernunft— geſetze, alles was ſie hemmt, unerträgliche Schranken. Ihr iſt nichts heilig, als ein gewaltiges Gefühl. Ob aber dieſes Gefühl dem Geſchlechtstriebe, oder der Ehrerbietung, dem Zerſtörungstriebe oder der Gewiſſenhaftigkeit entſpringt, unterſucht ſie nicht. Sie behandelt die Gefühle der nie— deren Sinnenwelt, als wären ſie die höchſten Eingebungen der moraliſchen Weltordnung. Sie macht, gleich unſeren Philoſophen, keinen Unterſchied zwiſchen den ſpecifiſch ver— ſchiedenen Gefühlen, ſondern nur einen Unterſchied in den Gradationen. Ganz natürlich kommt ſie daher zu dem Schluſſe, daß das ſchwächere Gefühl dem ſtärkeren weichen müſſe, unbekümmert darum, daß es einen höhern Rang einnimmt. Was unſere Philoſophen theoretiſch aufſtellen, führt Georges Sand praktiſch ins Leben ein.

Dieſe Betrachtung beweiſt, wie hochwichtig es iſt, die

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322 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt.

verſchiedenen Gefühle zu claſſificiren, und jedem derſelben denjenigen Rang anzuweiſen, der ihm gebührt. .

Die drei Dichter, deren Werke wir beſprechen, ver— rathen allerdings in denſelben einen hohen Grad von In— telligenz, allein das Vermögen, welches die Verbindung zwiſchen Urſache und Wirkung, Grund und Folge aufzu— finden und darzuſtellen weiß, zeigt ſich bei allen mangel— haft. Alle drei haben mehr oder weniger kräftige Gefühle, allein dieſe Gefühle gehören nicht den moraliſchen, ſondern den ſinnlichen an, nicht denjenigen, welche den Menſchen über das Thier erheben, ſondern denjenigen, welche er mit dem Thiere gemein hat.

Wie verſchieden ſind in dieſer Rückſicht die großen Dichter Shakeſpeare, Schiller und Richter! Ihre Helden und Heldinnen beſitzen moraliſche Größe, ſie haben innere Wahrheit, und daher werden ſie nicht veralten. Byron, Bulwer und Georges Sand werden längſt vergeſſen ſein, wenn Shakeſpeare, Schiller und Richter im Munde der bewundernden Nachwelt leben.

Dichter von moraliſcher Größe haben auf die mora— liſche Entwickelung der Völker mächtig belebend eingewirkt. Schiller und Richter waren Dichter der Freiheit. Dichter ohne moraliſche Größe konnten zwar gegen die beſtehenden Geſetze aufregen, konnten ſich der Worte der Freiheit zu ihren Zwecken bedienen. Allein ohne es ſelbſt zu wiſſen, waren ſie Werkzeuge der Unterdrückung. Die äußeren Verhältniſſe der Menſchen ſind immer die Folgen ihrer inneren Zuſtände. Je gewaltiger die Leidenſchaften toben, je ſinnlicher die Menſchen ſind, deſto gewaltiger muß auch die Hand ſein, die ſie in Ordnung hält. Je reiner, je er— habener ſie dagegen ſind, deſto weniger können ſie einen Eingriff in ihre Gefühlswelt ertragen, je weniger iſt ein ſolcher nothwendig, und deſto freier müſſen ſich daher alle Zuſtände um ſie her geſtalten. Die einzige Grundlage der politiſchen und religiöſen äußeren Freiheit iſt politiſche und religiöſe innere Freiheit. Wo in der Bruſt des Menſchen

Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunſt. 323

der Fanatismus und Dogmatismus wohnt, iſt religiöſe Freiheit nach außen nicht möglich, und wo darin keine Gewalt über die eigenen Triebe herrſcht, muß eine äußere Gewalt dieſem Mangel nachhelfen.

Von dieſem Geſichtspunkte betrachtet, ſind Byron, Bulwer, Georges Sand keine Dichter der Freiheit, ſondern der Unfreiheit. Sie haben diejenigen Regungen befördert, deren Unterdrückung allein innere, und folgeweiſe äußere Freiheit emporkommen läßt. Sie haben wohl den Ge— ſchlechtstrieb, Bekämpfungstrieb, Zerſtörungstrieb, die Bei— fallsliebe und das Selbſtgefühl angeregt, nicht aber das Wohlwollen, die Gewiſſenhaftigkeit, die Hoffnung, die Ehrerbietung und die Feſtigkeit. Nur auf dieſe Gefühle aber läßt ſich der Bau der Freiheit gründen.

Der Bauſtoff, womit die Dichtkunſt arbeitet, ſind Worte, derjenige der Malerei ſind Farben, der Bildhauerei Marmor, Metall u. ſ. w. Allein die leitenden Ideen ſind da wie dort dieſelben. Nur tritt bei den bildenden Kün— ſten das Wechſelverhältniß zwiſchen dem Körper und dem Geiſte beſonders hervor. Denn darin beſteht ja zunächſt deren Aufgabe, dieſes zugleich in idealer und dennoch na— turgetreuer Weiſe darzuſtellen. Dem bildenden Künſtler iſt es daher von der allerhöchſten Wichtigkeit, dieſes Wechſelverhältniß auf das allergenaueſte zu kennen. Wir haben weiter oben!) geſehen, daß keine geiſtige Kraft ohne ein entſprechendes Organ wirkſam werden kann, und daß die Stärke ihrer Wirkſamkeit im Verhältniſſe zu der Größe des Organs ſteht. Wie in dieſer Weiſe ein beſtimmtes Wechſelverhältniß zwiſchen Kopfform und geiſtiger Stärke in allen ihren Einzelnheiten, ſo beſteht auch ein ſolches zwiſchen der Art und Weiſe der Thätigkeit ſämmtlicher geiſtiger Kräfte und ihren körperlichen Vorausſetzungen, oder mit andern Worten außer der Gehirn-Organiſation iſt auch das Tempermaent von der höchſten Wichtigkeit.

1) 8 2. 215

324 Ueber das Verhältniß der Phrenologie zur Kunft.

Dieſes hat ebenſo wohl ſeine körperlichen und geiſtigen ſich entſprechenden Symptome als die Stärke der verſchiedenen geiſtigen Kräfte ſolche hat. Endlich beſteht ein durchaus feſt beſtimmtes Verhältniß zwiſchen den Organen des Ge— hirnes und der Beſchaffenheit aller übrigen Theile des Körpers. Wer einen Menſchen von hoher moraliſcher Kraft mit einer ſchwachen Wölbung des Kopfes, oder einen Menſchen von ausgezeichnetem Denkvermögen mit zurück— weichender und niedriger Stirn malt, verſündigt ſich an den Geſetzen der Natur, denn dieſe bildet einen Menſchen von hoher moraliſcher Kraft durchgängig mit einer ſtark entwickelten Wölbung des Kopfes und einen Menſchen von entſchiedenem Denkvermögen mit hoher und gerader, oder doch nur ſehr wenig zurückweichender Stirn. Einem Men— ſchen, deſſen vorherrſchender Charakter derjenige der Furcht— ſamkeit iſt, hat die Natur immer auch das entſprechende Organ des Gehirns: dasjenige der Sorglichkeit groß ver— liehen. Wenn es ihm der Künſtler in ſchwacher Entwick— lung giebt, ſo begeht er einen Verſtoß u. ſ. w.

Wer einen langſamen, trägen, unempfindlichen und unbeweglichen Menſchen mit einer verhältnißmäßig zu Bauch- und Bruſthöhle ſtark entwickelten Gehirnhöhle, mit feinen Zügen, dünnem Haare, ſchwachen Muskeln u. f. w. darſtellt, kann keine günſtige Wirkung hervorrufen, denn Menſchen dieſer Art hat die Natur unwandelbar eine im Verhältniß zu den beiden andern Höhlen kleine Kopfhöhle, dagegen eine ſtarke Bauchhöhle, unfeine Geſichtszüge, fettes Ausſehen u. ſ. w. verliehen. Je genauer der Beurtheiler eines ſolchen Bildwerks die Natur kennt, deſto genauer wird er die Mängel in die Augen faſſen, und natürlich muß das Erkennen aller dieſer Mängel den Effect dieſes Bildwerks durchaus ſtören.

Der mir hier zugemeſſene Raum erlaubt mir nicht tiefer in die Einzelnheiten einzugehen. Einiges hierher ge— hörige iſt ſchon oben bei Gelegenheit der Bemerkungen über Phyſiognomik mitgetheilt worden. Ein Mehreres findet

Phrenologie im Verhältniſſe zur Gefchichte d. Menſchheit. 325

ſich in der meiſterhaften Abhandlung G. Combe's über die Anwendung der Phrenologie auf die ſchönen Künſte !).

$. 61. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniſſe zur Geſchichte der Menſchheit.

Das Menſchengeſchlecht hat ſeine Lebensperioden, ſein Sterben und ſeine Unſterblichkeit gleich dem einzelnen Men— ſchen. Es hat eine Kindheit, eine Jugendzeit, ein Mannes— und ein Greiſen-Alter. Es ſtirbt, aber aus ſeiner Aſche erhebt ſich ein Phönix, wie die Seele des Menſchen, einem zerfallenen Körper ſich entwindend, höheren Bildungsſtufen entgegeneilt.

Alle dieſe Erſcheinungen ſtehen unter ewigen Geſetzen. Es giebt keine Willkür in dem Wirken Gottes; Weisheit, Ordnung, Beharrlichkeit bezeichnet das Walten der Vor— ſehung, und eben deswegen iſt es möglich, die Geſetze zu erkennen, unter deren Einfluß die Menſchenbildung, wie die Erdbildung ſteht. Allerdings hat in neuerer Zeit die Geſchichte der Erdbildung große Fortſchritte gemacht, wäh— rend die Geſchichte der Menſchenbildung noch kaum in wiſſenſchaftlicher Weiſe begonnen wurde. Allein es iſt zu hoffen, daß mit Hülfe der Phrenologie bald ein neues Licht über die bisher noch ſo dunkle Geſchichte der Ent— wickelung des Menſchengeſchlechts werde ausgegoſſen werden.

Die Phrenologie iſt in Betreff der Seele, was die Geologie in Betreff der Erde iſt, und wie der Geologe aus den Schlacken der Eruptionen der Vulkane ſeine Schlüſſe auf die Erdbildung, ſo zieht der Phrenologe aus den Trümmern der geſchichtlichen Revolutionen ſeine Schlüſſe auf die Menſchenbildung.

1) Zeitſchrift für Phrenologie Bd. II. H. J. Nr. IV. H. 2. Nr. XII. H. 3. Nr. XX. H. 4.

326 Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit.

Dem Geſchichtforſcher fehlte bisher durchaus ein ſicherer Maßſtab, an welchem er die Beſtrebungen der Einzelnen, wie der Völker zu meſſen im Stande geweſen wäre. Der— jenige Maßſtab, deſſen er ſich gewöhnlich bediente, war theils der Erfolg, theils die Willenskraft, häufig ohne Rückſicht auf die Empfindungen, unter deren Einfluß ſie thätig wurde. Die Willenskraft unter dem Einfluſſe des Selbſtgefühls, der Beifallsliebe, des Bekämpfungs- und Zerſtörungstriebs war es gewöhnlich, welche einem Manne das Beiwort des Großen erwarb. Alexander, der Mace— donier, Cäſar, der Römer, Karl, der Franke und Friedrich der Preuße werden alle mit dem gemeinſamen Namen „der Große“ bezeichnet. Wie verſchiedenartig ſind nichts deſto— weniger dieſe Charaktere unter ſich, und wie weit ſind ſie ſämmtlich entfernt von demjenigen Ideale menſchlicher Größe, welches uns die Phrenologie vor Augen hält. So lange der Geſchichtforſcher nicht im Stande iſt, den Cha— rakter der Individuen mit Sicherheit und Beſtimmtheit feſtzuſtellen, iſt er weit weniger noch im Stande, denjenigen der Nationen zu entwickeln.

Der Phrenologe wird ſchon durch die Körperbeſchaffen— heit und insbeſondere die Kopfbildung der Einzelnen, wie der Menſchen-Racen auf die Naturanlagen derſelben auf— merkſam gemacht, wird daher die letzteren viel leichter in den Erſcheinungen des Lebens wieder finden und demzu— folge nicht ſelten die geheimen Motive von Handlungen entdecken, von denen uns die Geſchichte nur die äußerlichen, die thatſächlichen, allein nicht die innerlichen, die urſäch— lichen Elemente aufbewahrt hat. Allerdings iſt es erfor— derlich, bevor wir großes Gewicht auf die Kopfbildung und die Körperbeſchaffenheit von Individuen und Nationen legen, wohl zu prüfen, ob die Grundlage unſerer Schluß— folgerungen feſtſtehe, ob in der That die Gemälde, die Bildſäulen, die Beſchreibungen, von denen es ſich handelt, getreu ſind, und ob dieſe ſowohl, als etwa die noch auf— bewahrten Schädel in der That diejenigen Perſonen dar—

Phrenologie im Verhältniſſe zur Gefchichte d. Menſchheit. 327

ſtellten, denen ſie zugeſchrieben werden. Alles dieſes iſt Sache der Kritik, ohne welche natürlich jede Geſchichte zur Legende oder zum Mährchen ausartet.

Die Phrenologie lehrt uns eine Reihe von Geſetzen kennen, mit deren Hülfe wir nicht nur viele Thatſachen richtig, ſcharf und beſtimmt zu beurtheilen, auf ihre Ele— mente zurückzuführen, ſondern auch auf andere Thatſachen mit Sicherheit zu ſchließen vermögen. Sie enthüllt uns die verborgenen Hebel äußerer Erſcheinungen, die noth— wendigen Folgen beſtimmter Vorausſetzungen, die unver— meidlichen Gefährten gewiſſer Beſtrebungen. Sie zeigt uns z. B. in den Befreiungskriegen der Jahre 1813-1815 die edelſten moraliſchen Empfindungen der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit, des Wohlwollens auf Seiten der Deutſchen die niedrigeren Empfindungen des Selbſtge— fühls und der Beifallsliebe auf Seiten der Franzoſen beſiegen. Die übrigen kämpfenden Beſtrebungen waren auf beiden Seiten gleich: da und dort waren der Bekämpfungs-, der Zerſtörungstrieb, die Liebe zum Vaterlande u. ſ. w. mäch— tig aufgeregt, allein jene höheren Empfindungen der Deut— ſchen ſchlugen die niedrigern der Franzoſen. Bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſſe wird immer dieſelbe Folge ein— treten. Die Beifallsliebe vermag nicht zu leiſten, was die Gewiſſenhaftigkeit, und das Selbſtgefühl nicht, was die Ehrerbietung, die Sorglichkeit nicht, was die Hoffnung und die Anhänglichkeit nicht, was die Feſtigkeit leiſtet. Diejenigen Individuen und diejenigen Nationen werden daher, bei ſonſtiger Gleichheit der Verhältniſſe, immer den Sieg davon tragen, welche von den höheren geiſtigen Kräften beſeelt ſind. In ſolcher Weiſe lehrt uns die Phre— nologie nicht nur die Vergangenheit würdigen, ſondern auch die Zukunft voraus beſtimmen. Diejenigen Indivi— duen, Regierungen und Völker, welche ſich in ihrem Wech— ſelverhältniß der niedrigeren Motive bedienen, werden früher oder ſpäter von den höheren geiſtigen Kräften ihrer Gegner überwunden werden.

328 Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menfchheit.

Die Geſchichte der Nationen wie der Individuen ſollte die Darſtellung der Entwickelung ihrer Naturanlagen un— ter den ihnen angewieſenen äußeren Verhältniſſen enthalten. Sie ſollte immer damit beginnen, die Factoren dieſes Wechſelverhältniſſes feſtzuſtellen, und dann die Reſultate zu zeigen, zu welchen ihre Wechſelwirkung führte. Die Geſchichte, von dieſem Standpunkte aus geſchrieben, würde einen ſehr verſchiedenen Charakter von derjenigen haben, welche uns bis jetzt vorliegt. Wie ſelten iſt bei der Schil— derung der Kämpfe der Nationen Rückſicht genommen auf die Elemente ihres geiſtigen Lebens und deren Wechſel— verhältniß. Man wägt ab das Geſchick der Feldherren, die Tapferkeit und die Zahl der Krieger, die Klugheit der Staatsmänner und Diplomaten. Dieſes ſind aller— dings auch Elemente, welche zu erwägen ſind, allein nicht die einzigen. Die Fragen: was hat den Krieger zum Helden gemacht, was hat den Feldherrn begeiſtert, was hat dem Staatsmanne die eiſerne Beharrlichkeit eingeflößt, was hat ihm den tiefen Blick in die Lage der Verhält— niſſe eröffnet? Alle dieſe Fragen werden, wenn auch bis— weilen aufgeworfen, doch ſelten mit Gründlichkeit beant— wortet, weil ſie eine wiſſenſchaftliche Menſchenkenntniß vorausſetzen, welche ſich außerhalb der Phrenologie nicht findet.

Bei der Darſtellung der Geſchichte der Menſchheit vergißt man, wenigſtens der That nach, in der Regel ganz und gar, daß, wie das Kind ſich von dem Erwach— ſenen nicht blos durch die Größe ſeines Gehirns, ſondern auch durch die Geſtalt deſſelben, nicht blos durch die Kraft ſeiner Anlagen, ſondern auch durch deren individuellen Charakter unterſcheidet, ſo auch die entſtehende Nation von der erſtarkten ſich durch gleiche Merkmale unterſcheide. An dem Kopfe des Kindes ſind die Organe des Nahrungs— triebs, der Anhänglichkeit, des Bekämpfungs- und Zer- ſtörungstriebs, die Organe der Beobachtung, der Nach— ahmung, der Sorglichkeit und des Erwerbs in der Regel

Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit. 329

vorherrſchend ſtark entwickelt. Erſt in ſpäteren Jahren entwickeln ſich allmählig die Organe des Denkvermögens und der moraliſchen Empfindungen. Ganz gerade fo ver— hält es ſich auch mit dem Entwickelungsgange der Natio— nen. Der Glanzpunkt ihrer Geſchichte wird bezeichnet durch die Periode der höchſt möglichen Entwickelung der Organe des Denkvermögens und der moraliſchen Empfin— dungen. In demſelben Maße, als ſich die geiſtige Be— ſchaffenheit eines Individuums im Laufe der Jahre ent— wickelt, bedarf es fortſchreitend verſchiedener äußerer An— regung. Der Zügel, welcher bei dem Kinde ein Gängel— band war, muß nach und nach immer weniger ſtraff an— gezogen werden, bis das Kind volljährig und ſein eigener Herrſcher wird. Eben dieſes iſt auch der Entwickelungs— gang der Nationen. In ihrem Kindesalter werden ſie von Alleinherrſchern am Gängelbande geleitet, in ihrem kräf— tigen Mannesalter ſtreben fie nach Unabhängigkeit, im Greiſenalter ſinken ſie unter die Herrſchaft von Frauen und Kindern herab.

Griechenland und Rom führen uns alle dieſe Er— ſcheinungen am deutlichſten vor die Seele. Dieſe beiden großartigen Träger der Geſchichte begannen ihre Lauf— bahnen als Nationen unter der Herrſchaft von Königen. Die volljährig gewordenen Völker bildeten die monarchiſchen Verfaſſungen in republikaniſche um; und dieſe gingen ihrer— ſeits wiederum im Laufe der Jahrhunderte in den Deſpo— tismus von Tyrannen, Weibern und Kindern über.

Die Periode griechiſch-römiſcher Bildung hatte ihr Greiſenalter erreicht, als die friſchen, lebenskräftigen, aber wilden Horden des Nordens und Oſtens über Europa hereinbrachen. Sie gaben dem Weſten den Todesſtoß und die Elemente neuen Lebens. Schon in der erſten Kindheit entwickelten dieſe ſtürmiſchen Nationen eine höhere mora— liſche Richtung, als die frühere Welt beſeſſen hatte. Sie wurden daher zunächſt die Stützen des Chriſtenthums, welches ihnen nicht wieder entriſſen werden konnte, wie es

330 Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit.

den Bewohnern Aſiens, Nordafrikas und des ſüdöſtlichen Europas durch die Anhänger Muhammed's geraubt wurde.

Dem Oſten gaben die wandernden Völker der Deut— ſchen nicht den Todesſtoß und keine Elemente neuen Lebens, daher ſchleppte er ein längeres Daſein der Altersſchwäche, dauernder Erbärmlichkeit und kränkelnder Herabwürdigung fort. Der Deſpotismus, die Herrſchaft aus den Mauern des Kaiſerpalaſtes, die Regierung von Weibern, Ver— ſchnittenen und Sklaven, d. h. die Herrſchaft der Organe des Geſchlechtstriebs, des Zerſtörungstriebs, des Erwerbs— triebs walteten da in ihrer grenzenloſeſten Ausartung. Wo ſolche Elemente einer abgethanen Zeitperiode fortwuchern konnten, war das Erſtarken neuer Keime unmöglich.

Im Weſten ging die Alleinherrſchaft über in Viel— herrſchaft. Das Lehnsweſen ward Grundlage des neuen Staatengebäudes und der Papſt das Haupt der neuen Kirche. Erſt im Jahre 1453 wurde im Oſten den letzten Trümmern des römiſchen Reichs durch Muhammed der Untergang bereitet. Die einzelnen Individuen, welche er— höhte Lebenskraft beſaßen, und dem Schwerte des Siegers entrannen, wandten ſich dem Weſten zu und brachten da— hin altgriechiſche Bildungsmittel, welche längſt vergeſſen worden waren; im Weſten, weil die einzig friſchen, wan— dernden Völker ſie niemals gekannt hatten, im Oſten, weil man ſie nicht mehr verſtand. Der lebenskräftigere, höherer moraliſcher und intellectueller Bildung fähige Weſten eignete ſie ſich an und ſtieg ſo eine Stufe höher in dem Entwickelungsgange der Nationen. Die ſcholaſtiſche, zu— nächſt nur den Bekämpfungstrieb und den Wortſinn be— ſchäftigende Philoſop hie des Mittelalters gab einem ge— diegenen Studium der griechiſchen Philoſophen Raum, welches nicht nur das Denkvermögen, ſondern auch die höheren moraliſchen Empfindungen anſprach. Die gekettete Gedankenwelt begann ſich ihrer Feſſeln bewußt zu werden. Die Menſchheit ahnte den Zuſtand, in dem ſie ſich befand, den Zuſtand politiſcher Anarchie und kirchlicher Knecht—

Phrenologie im Verhältniſſe zur Geſchichte d. Menſchheit. 331

ſchaft, und ſo zerfiel das Lehnsweſen und ward die päpſt— liche Macht in ihren Grundfeſten erſchüttert. Auch in dieſem Kampfe trat wiederum die Raſſen-Verſchiedenheit bedeutungsvoll zum Vorſchein. Die germaniſche Raſſe er— griff die Reformation mit Wärme und Kraft. Alle rein germaniſchen Völkerſchaften ſind proteſtantiſch bis zum heu— tigen Tage. Die ſlaviſche Raſſe blieb dem griechiſchen Ritus, die celtiſche und lateiniſche (romaniſche) der römiſchen Kirche treu. Kriege, welche ſich durch zwei Jahrhunderte hindurch zogen, Bullen, Miſſionen und Beſtrebungen aller Art vermoch— ten die durch die Gehirn-Organiſation bedingten Verſchieden— heiten der Raſſen nicht zu überwinden. Die verſchiedenen Raſſen blieben übrigens nicht ſtille ſtehen, und in demſelben Maße, als ſie ſich geiſtig entwickelten, machten auch ihre religibſen Begriffe, Gefühle und Beſtrebungen Fortſchritte. Der Katholicismus heutigen Tages, ich meine nicht, die Idee deſſelben, ſondern deſſen Wirklichkeit, d. h. der Katho— licismus, wie er ſich im Leben praktiſch darſtellt, iſt eben ſowohl verſchieden von dem Katholicismus des 16. Jahr— hunderts, als der Proteſtantismus des heutigen Tages es von demjenigen des 16. Jahrhunderts iſt.

Mit der fortſchreitenden Entwickelung der Völker müſſen ſich übrigens auch ihre politiſchen Beſtrebungen und Bedürfniſſe entwickeln. So lange die thieriſchen Triebe vorherrſchen, bedarf es einer ſtarken Hand, ſie in Schran— ken zu halten, wo es an innerer Kraft hierzu fehlt, muß ein von außen her wirkender Zwang dieſelbe begründen. In demſelben Maße aber, als ſich das Denkvermögen und die höheren moraliſchen Empfindungen entwickeln, nimmt die innere Kraft zu, welche die Triebe zu zügeln und zu leiten vermag. Es wird die von außen her wirkende Ge— walt mehr und mehr überflüſſig und daher mehr und mehr unwillig ertragen und ſchmerzlich gefühlt, bis daß ſie ſich endlich im ruhigen Gange der Entwickelung oder im Sturme der Revolution in die durch die geiſtigen Ver—

332 Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung.

hältniſſe der Nationen bedingten Schranken zurückge— zogen hat.

9 62. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniſſe zur Erziehung.

Die Worte: mens sana in corpore sano, eine ge— ſunde Seele in einem geſunden Leibe, ſind in dem Munde aller Erzieher. Allein es geht ihnen, wie ſo vielen an— deren: es iſt leichter, ſie auszuſprechen, als in ihrem Sinn zu handeln. Wer keine Kenntniß des menſchlichen Geiſtes, des menſchlichen Körpers und ihrer Wechſelbeziehung hat, kann mit allem guten Willen nicht nach dem Ziele ſtreben, welches jene Worte dem Erzieher der Jugend vorzeichnen. Eines der vielen Verdienſte der Phrenologie beſteht darin, eine genauere, tiefer eindringende Kenntniß des menſchlichen Geiſtes in ſeiner Verbindung mit dem Körper erſchloſſen zu haben, und wie ſo manche andere Wiſſenſchaften, ſo hat ſich auch die Erziehungs-Wiſſenſchaft des Lichtes zu erfreuen, welches die Phrenologie ihnen bietet.

Dieſe weiſt wiſſenſchaftlich nach, was die Beſſeren längſt geahnt haben, daß wir den Weg der Natur verlaſſen haben, und nur die Rückkehr zu derſelben uns glücklich machen kann. Die zwei wichtigſten Erforderniſſe des Le— bens ſind geſunde Nahrung und Luft. Die vorzüglichen Nahrungswerkzeuge ſind der Magen, die Eingeweide, die Leber und die Gallenblaſe. Iſt die Nahrung ſchlecht, oder nicht zureichend, oder übermäßig, oder ſind die Verdauungs— werkzeuge ſchwach oder unfähig, ihre Verrichtungen gehörig auszuüben, ſo iſt die Folge, daß das Blut mit ſchlechtem Nahrungsſtoffe verſehen, und ſeine Fähigkeit, das Gehirn zu nähren und in Thätigkeit zu erhalten, vermindert wird. Dadurch wird das Gehirn langfam und träge, feine Reiz— barkeit nimmt zu, während ſeine Kraft abnimmt. Gleichen Schritt mit der Herabſtimmung des Organs des Geiſtes

Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung. 333

halten die Aeußerungen ſeiner Thätigkeit. Die zweite Nahrungsquelle des Bluts iſt, wie erwähnt, der Sauer— ſtoff der äußeren Atmoſphäre. Das Blut nimmt bei ſei— nem Kreislauf durch den Körper, die verbrauchten Theile aus dem Gehirn und allen anderen Organen in ſich auf, und ſeine Farbe geht von einem hellen Roth in dunkel— oder purpurroth über. In dieſem Zuſtande iſt es unfähig, irgend ein Organ zu erregen, ſo daß, wenn es das Gehirn in demſelben erreichte, augenblickliche Gefühlloſigkeit, und ohne raſche Hülfe der Tod eintreten würde. Dieſe tödt— liche Beſchaffenheit des Blutes wird bei ſeinem Laufe durch die Lungen entfernt. In dieſen kommt es nämlich mit der äußeren Atmoſphäre in Berührung und wirft viel Kohlenſtoff aus, wofür es von der Luft eine neu belebende Eigenſchaft empfängt. So wird es fähig, das Gehirn, die Muskeln und alle andern Theile des Körpers zu er— wecken und zu erregen. In dieſer Weiſe iſt das Gehirn von den übrigen Theilen des Körpers und insbeſondere von Nahrung und Luft abhängig. Allein nur zu häufig bekommt ſchon das neugeborene Kind nicht die ihm von der Natur angewieſene Nahrung. Die Bruſt der verfei— nerten Mutter enthält nicht, was ſie enthalten ſollte. Die verfeinerte Mutter unſerer Tage kann ihrem Kinde nicht ſein, was die Tigermutter ihren Jungen iſt, Quelle des Lebens und der Nahrung. Keine andere kann aber die— jenige erſetzen, welche die Mutter gewähren ſollte. Weder Ammen- noch Kuhmilch können die Muttermilch erſetzen. Sie ſind Nothbehelfe. Wächſt das Kind heran, ſo erhält es ſchon früh thieriſche, eine ungeſunde, auf Grauſamkeit beruhende, körperlich und geiſtig verderbliche Nahrung !),

I) Porphyrii Philosophi Pythagorici de abstinentia ab anima- libus necandis libri quatuor Mandaras' Wanderungen insbeſon— dere S. 72 ff. 86 ff. 128 ff. Der Weg zum Paradies von Zim— mermann. Syelley Queen Mab Preface. Thalysie ou la nou- velle existence par Gleises. Paris 1840. 41. 42. Vol. III.

334 Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung.

bald folgen geiſtige, Alkohol haltende Getränke nach, und an dieſe ſchließt ſich der Gebrauch der Giftpflanze, Tabak genannt, an. Wie kann der Menſch bei ſolcher Nahrung gedeihen! Freilich, wenn ſich ein Thierfleiſcheſſer mit dem andern, ein Biertrinker mit einem Branntweintrinker, ein Ta— bakraucher mit einem Tabakſchnupfer vergleichen, mag der eine geſünder ſein als der andere trotz ſeiner unnatürlichen Lebensweiſe. Allein hat man Recht, ſolche Vergleiche an— zuſtellen, wenn man prüfen will, ob Fleiſch, geiſtige Ge— tränke und Tabak geſund ſind? Offenbar nein! Man muß den Vergleich zwiſchen einem Fleiſcheſſer und einem Menſchen, der ſich von Vegetabilien nährt, zwiſchen einem Biertrinker und einem Waſſertrinker, zwiſchen einem Rau— cher und einem Nichtraucher anſtellen, und da wird man immer finden, daß bei ſonſtiger Gleichheit der We der letztere der geſündere ſein wird.

Wie die Nahrung, ſo wird auch die Luft dem armen Kinde ſchon frühzeitig verkümmert. In enge Windeln eingeſchlagen und eingebunden, von Federbetten umſchloſſen, kann keine erfriſchende Luft den Körper berühren. In dumpfen Schlafzimmern halbe Tage lang ruhend, ohne daß friſche Luft zugelaſſen wird, wie kann da das Blut des Kindes gereinigt von den Lungen durch den Körper ſtrömen? Gewöhnlich iſt das Schlafzimmer, in welchem ſich der Menſch doch am Längſten ohne Luftwechſel auf— hält, eins der kleineren des Hauſes. Nicht ſelten ſteht eine Reihe Prunkzimmer leer, während die armen Kinder in enge Bettſtälle eingepfropft ſind. Des Morgens beim Er— wachen iſt die Luft verpeſtet, ſie enthielt ſchon lange vor— her die erforderliche Beimiſchung von Sauerſtoff nicht mehr. Das Blut konnte daher nicht gereinigt zum Ge— hirn und zu den übrigen Theilen des Körpers ſtrömen, worunter natürlich das ganze Syſtem leiden muß.

Den materiellen Genüſſen ſind die Beſtrebungen der Menſchen viel zu ſehr zugewendet. Materiell ſind dieje— nigen Beſtrebungen, welche der Menſch mit dem Thiere

Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung. 335

gemein hat. Man predigt ſo oft und von oben herab die materiellen Intereſſen vor allen Dingen wahrzunehmen. Das Gegentheil lehrte uns Chriſtus, das Gegentheil lehrt eine geſunde Philoſophie. Strebet vor allen Dingen nach dem Reiche Gottes und ſeiner Gerechtigkeit, ſo wird euch das übrige alles zufallen. Durch die moraliſchen Kräfte erhebt ſich der Menſch über die Thierwelt. Die moraliſchen Kräfte haben eine weitere Sphäre als die materiellen. Dieſe haben es nur mit dem Ich und einem kleinen Kreiſe von befreundeten Weſen zu thun. Die moraliſchen Kräfte umfaſſen Himmel und Erde. Wie ärmlich ſind die Genüſſe der thieriſchen Triebe und der niedrigen Empfindungen im Vergleiche zu denjenigen der Intelligenz und der morali— ſchen Empfindungen. Jenen folgt immer Ueberdruß nach, dieſen die freudige Erinnerung. Wie glücklich wäre der Menſch, wenn er auf die Winke der Natur achten wollte! Das Paradies iſt in uns und außer uns, wenn wir es nicht ſelbſt aus uns vertreiben und um uns her zerſtören. Das Glück ſetzt Glücksfähigkeit voraus. Derjenige beſitzt ſie nicht, der ſeine höheren intellectuellen und moraliſchen Kräfte zur Apathie und zum Stumpfſinne herabgeſtimmt hat. Wenn wir nunmehr auf die einzelnen Elemente des körperlichen Lebens eingehen, ſo müſſen wir zuvörderſt auf die Verſchiedenheit des Temperaments aufmerkſam machen. Sollen die Kinder in körperlicher und geiſtiger Rück— ſicht nicht vernachläſſigt, ſollen ſie nicht in die größten Gefahren geſtürzt werden, ſo muß bei der Erziehung auf die Verſchiedenheit des Temperaments Rückſicht genommen werden. Wenn das Kind ein großes Gehirn, kleine, durch eine enge Bruſt angedeutete Lungen, dünne zarte Muskeln und eine feine Haut hat, ſo wird das Gehirn vorherrſchend thätig ſein, und ſomit auch der Geiſt. Das Kind wird mit Freuden lernen, unaufhörlich an ſeinen Büchern ſitzen, ſeine Fähigkeiten werden in reger Thätigkeit, ſeine Gefühle lebhaft bewegt ſein. Die Eltern, erfreut über die Reg— ſamkeit ſeines Geiſtes und die Zartheit ſeiner Gefühle ſind

336 Die Phrenologie in ihrem Verhältniſſe zur Erziehung.

verſucht, das Kind in ſeiner Bahn anzuſpornen, ohne zu bedenken, daß Erſchöpfung die unvermeidliche Folge ſeiner übergroßen geiſtigen Thätigkeit ſein muß. Die Nerven— thätigkeit, welche ſich in dem Gehirn concentrirt, läßt die Lungen und den Magen unangeregt, und bringt ſie ſo in einen Zuſtand von Schwäche, dem ſie früher oder ſpäter erliegen, inſofern nicht noch zeitig Einhalt geſchieht. Auch die Augen ſolcher Kinder leiden gewöhnlich und keine Curen ſpäterer Zeiten ſind im Stande, wieder gut zu machen, was in Betreff derſelben während der Kinderzeit verfehlt worden iſt. Solche Kinder nervöſen Tempera— ments müſſen daher nicht zu geiſtiger Thätigkeit, ſondern zur Bewegung im Freien, zu gymnaſtiſchen Uebungen, zum Schwimmen und zu jeder Art muskulöſer Thätigkeit an— gehalten werden. Man muß nicht ſuchen, ihre Gefühle, die ſchon von Natur zu rege find, noch aufzuregen, ſon- dern das Streben der Erzieher muß darauf gerichtet ſein, ſie zu beruhigen, damit ſie ſich naturgemäß nach und nach entwickeln können und nicht zu einer Zeit erſtarken, da die Organe des Körpers noch nicht im Stande ſind, die Arbeit zu verrichten, welche die Aeußerung mächtiger Gefühle vorausſetzt.

Wenn dagegen die Lungen in der Körperbeſchaffenheit eines Kindes vorherrſchen, und daher das ſanguiniſche Temperament ſich bildet, ſo wird es ſich gern im Freien bewegen, mit Appetit eſſen und geſund ſchlafen. Das wohlgenährte Blut erzeugt eine große Geneigtheit für Muskelbewegung. Wenn daher ein ſolches Kind nach ge— ſundem Schlafe und gutem Frühſtück, ohne ſich vorher bewegt zu haben, in die Schule geſchickt wird, ſo mag es wohl eine kurze Zeit ſtille ſitzen, aber bald wird das Be— dürfniß muskulöſer Thätigkeit zu ſtark ſich regen. Das Kind kann es, mit dem beſten Willen, nicht unterdrücken. Es wird anfangen ſich auf feiner Bank hin und her zus bewegen, mit den Ellbogen zu ſtoßen, mit den Fäuſten zu ſchlagen, mit den Beinen zu ſtampfen. Der Lehrer ſtraft

Ueber die Phrenolagie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 337

dann gewöhnlich ein ſolches Kind. Allein die Bedürfniſſe der Natur regen ſich trotz der Strafe, können daher durch keine Strafe beſeitigt werden. Wer Wirkungen beſeitigen will, muß deren Urſachen bekämpfen. Solchen Kindern gebe man, bevor ſie in die Schule gehen, Gelegenheit, ihre Muskelkräfte zu üben. Iſt dieſes Bedürfniß befriedigt, ſo werden ſie ruhig ſitzen und mit Freuden geiſtig thätig ſein. In Nord-Amerika, England und Schottland, woſelbſt die Phrenologie beſſer als in Deutſchland gekannt iſt, haben bereits viele Vorſteher von Schulen mit dem größten Er— folge auf dieſe Bemerkungen Rückſicht genommen. Andere Kinder find von dem lymphatiſchen Tempe— ramente. Ihr Blut bewegt ſich langſam, reizt das Gehirn wenig, und ihr Verlangen iſt beſonders: zu eſſen, zu trinken und Ruhe zu genießen. Sie haben weder für körperliche, noch für geiſtige Thätigkeit Vorliebe. Auch dieſe Naturanlagen glauben die meiſten Lehrer durch Stra— fen bekämpfen zu können, als ob dieſelben Mittel, dieſelben Strafen, ganz entgegengeſetzte Wirkungen herbeiführen könnten! als ob die Geſetze der Natur, was die Behand— lung der Kinder betrifft, gar nicht vorhanden wären! Das Geſetz der Natur iſt, daß dieſelbe Urſache dieſelbe Wirkung hervorbringt, aber die meiſten Lehrer denken noch heutzu— tage, daß dieſelbe Strafe (dieſelbe Urſache) zu gleicher Zeit ganz entgegengeſetzte Wirkungen hervorbringen: das ſan— guiniſche Kind beruhigen, und das träge beleben könnte! Die Phrenologie lehrt dagegen, auf Verminderung des lymphatiſchen Temperaments und Erweckung der ſangui— niſchen und nervöſen Beſtandtheile der Körperbeſchaffenheit des Kindes hinzuwirken. Dieſes kann dadurch geſchehen, daß man ſolchen Kindern verhältnißmäßig wenig, aber nahrhafte Speiſen giebt, daß man ſie zuerſt zu geiſtiger Thätigkeit anhält, und erſt ſpäter zu körperlicher Bewegung, daß man ſie anhält, immer mit Eifer zu lernen, und lieber die Zeit des Lernens abkürzt, um den Eifer nicht erkalten zu laſſen. Das biliöſe Temperament endlich führt am wenigſten

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leicht auf Abwege. Es führt weder zu übergroßer Auf— regung, noch zur Unruhe, noch zur Trägheit, und ſchließt die entſchiedenſten Elemente ruhigen Verlaufes in ſich. Uebrigens verſteht es ſich von ſelbſt, daß in demſelben Maße, in welchem ein Kind ein Temperament blos theil— weiſe beſitzt, auch nur theilweiſe die aufgeſtellten Grund— ſätze auf daſſelbe anwendbar ſind. Hier war es natürlich nur möglich, allgemeine Geſichtspunkte zu geben. Dem beſonnenen Erzieher bleibt es anheim gegeben, dieſelben nach den Verſchiedenheiten des Falles zu modificiren.

Schon die Beobachtung der Verſchiedenheit der Tem— peramente führt alſo zu wichtigen praktiſchen Reſultaten, weit bedeutungsvoller ſind aber diejenigen, zu welchen die Betrachtung des unmittelbaren Organes des Geiſtes, die Betrachtung des Gehirns ſelbſt führt.

Das Gehirn iſt allen Geſetzen der Phyſiologie unter— worfen, gleich den anderen Theilen des Körpers. Es gilt alſo in Betreff deſſelben namentlich auch die Regel, daß wenn irgend ein Körpertheil thätig geübt wird, eine grö— ßere Menge Bluts ſich darein ergießt, und es auch einen höheren Grad von Anregung durch die Nerven erhält. In Folge deſſen nehmen ſeine Theile an Feſtigkeit und Stärke und, bis zu einem gewiſſen Grade, auch an Größe zu. Allerdings kann kein Grad von Uebung einen Mann, deſſen Muskelſyſtem von Natur ſehr ſchwach iſt, zu einem Her— kules machen; allein Uebung kann daſſelbe doch einiger— maßen ſtärken, während es ohne alle Uebung in immer großere Schwäche verſinken würde. Die Grenze, welche der Uebung eines Organes durch die Natur geſetzt iſt, wird beſtimmt durch die Thatſache, daß übermäßige An— ſtrengung ſchwächt, ſtatt zu ſtärken. Die Uebung darf da— her das Maß der Kraft eines Organes nicht überſteigen, um ſtärkend zu wirken, und ſo wird allerdings die natür— liche Größe eines Organs und ſeine natürliche Stärke uns auch einen Maßſtab kräftigender Uebung gewähren. Den Mann mit ſtarken Muskeln wird dieſelbe Uebung kräftigen,

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welcher der Mann mit ſchwachen Muskeln erliegen würde. Daher muß die Uebung eines Organs immer mit ſeiner natürlichen Stärke in Verhältniß ſtehen.

Alle dieſe Regeln finden auch ihre Anwendung auf das Gehirn. Wenn wir lebendig fühlen oder tief denken, ergießt ſich mehr Blut in das Gehirn, als wenn unſere Gefühle minder lebendig, unſere Gedanken minder tief be— wegt ſind. Die Organe derjenigen Geiſtes-Vermögen, welche wir in einer ihrem natürlichen Stärkegrade ent— ſprechenden Weiſe üben, werden daher an Größe zunehmen, und folgeweiſe die entſprechenden Geiſtesvermögen an Kraft. Aber eine die Entwickelungsfähigkeit eines Organs über— ſteigende Uebung wird es ermatten und, geſchieht es ge— wohnheitsmäßig, fo wird fie durchaus erſchlaffend wirken. Wer, ohne die Anlagen eines Mozart, eines Goethe zu be— ſitzen, durch Uebung ein muſikaliſches oder dichteriſches Genie werden wollte, würde nach dem Stärfegrade feiner Organe früher oder ſpäter ſeine natürlichen Anlagen zum Muſiker oder Dichter geradezu durch Ueberanſtrengung auf— reiben. Wenn wir jedoch auf der andern Seite unſere geiſtigen Vermögen nicht in einem ihrer natürlichen Stärke entſprechenden Maße üben, ſo werden die entſprechenden Organe des Gehirns an Größe abnehmen, und folgeweiſe die geiſtigen Anlagen an Energie. Dieſes iſt ein ſehr wichtiger Grundſatz für die Behandlung der Kinder.

Eine wohlberechnete Uebung bewirkt übrigens nicht blos Zunahme an Größe und demzufolge Stärke, ſondern auch Zunahme an Bewegungsfähigkeit, und ſo bringt auch die Uebung der Geiſteskräfte nicht blos größere Stärke, ſondern auch größere Gewandtheit, größere Leichtigkeit gei— ſtiger Bewegung hervor. Es iſt daher bei Ziehung der Schlüſſe von der Größe eines Organs auf die Stärke der ihm entſprechenden geiſtigen Anlage natürlich von demje— nigen Elemente nicht die Rede, welches die Uebung ver— leiht. Der Phrenolog wird daher entweder bei ſeinen

Beobachtungen ſich über den Grad ſtattgehabter Uebung 22 *

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verläßigen, oder wo dieſes nicht möglich iſt, ſeine Urtheile in entſprechender Weiſe beſchränken.

Der Erzieher muß ſich immer vergegenwärtigen, daß, wie der Menſch überhaupt, ſo insbeſondere auch das Kind, ohne Gehirnthätigkeit nicht handeln kann. Das erſte Er— forderniß der Erziehung iſt daher, das Gehirn in einem Zuſtande vollkommener Geſundheit und den Kräften ent— ſprechender Thätigkeit zu erhalten. Eine Reihe von Fällen ſind beobachtet worden, da man, nach Entfernung des Schädels und der Hirnhäute, bemerkte, daß, ſobald der Kranke durch Gemüthsbewegung, lebhaftes Geſpräch oder Träume aufgeregt wurde, mehr Blut in das Gehirn ſtrömte, wodurch ein Anſchwellen der Gehirnwindungen veranlaßt wurde. Das Gehirn, wie jeder andere Theil des Körpers, wird durch das Blut ernährt und in Thätigkeit erhalten. Deshalb bietet ſich die Frage dar: was hat man zu thun, damit das Gehirn fortwährend mit der gehörigen Maſſe geſunden Blutes verſehen werde? Das Blut leitet ſeinen Stoff und ſeine Eigenſchaften aus zwei Quellen: aus der Nahrung, die ihm nach der Verdauung vermittelſt hierzu beſtimmter Gefäße zugeleitet mird, und dem Sauerſtoffe der äußern Atmoſphäre. Bereits weiter oben haben wir von dieſen beiden Grundbedingungen aller körperlicher und geiſtiger Geſundheit geſprochen. Allein nicht minder bedeu— tungsvoll iſt die Einwirkung, welche ſeinerſeits das Gehirn auf dieſe ausübt. Wird der Nerv, welcher den Magen mit dem Gehirn verbindet, durchſchnitten, ſo iſt augenblick— lich die Verdauungskraft gehemmt. Aus derſelben Urſache wird die Verdauung ebenfalls gehemmt, wenn der Geiſt gerade zur Zeit, da das Gehirn dem Verdauungswerkzeuge den erforderlichen Impuls geben ſoll, dies ganz in Anſpruch nimmt. Die Rückwirkung mangelhafter Verdauung auf das Gehirn kann nicht ausbleiben. In dem günſtigſten Falle iſt es in demſelben Maße, als ihm zuvor zu viel zu— gemuthet wurde, ſpäter weniger im Stande zu leiſten. Bei wiederholter übermäßiger Anſtrengung bilden ſich jedoch

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dauernde Krankheitszuſtände. Die Natur läßt ſich keine Gewalt anthun. Was von dem Gehirne des Erwachſenen, gilt auch von demjenigen des Kindes; nur iſt dabei zu be— denken, daß dieſes ſchwächer iſt, und, wie die andern Theile des Körpers, z. B. die Arme und Beine, nicht die Arbeit ertragen kann, deren es zur Zeit ſeiner vollen Ausbildung fähig iſt. Man darf ihm daher nicht mehr zumuthen, als es zu leiſten vermag, und namentlich ſoll man ein und daſſelbe Organ nicht zu lange ununterbrochen anſtrengen.

In dieſer Rückſicht wird der Grundſatz der Phrenolo— gie, daß das Gehirn in eine Mehrheit von Organen zerfalle, von hoher Wichtigkeit. Er lehrt uns nicht nur, wie durch Vertheilung der Arbeit über alle Organe des Gehirns ihm möglichſt viel Arbeit, ohne Gefährdung der Geſundheit, zugemuthet werden kann, ſondern giebt uns auch die be— deutungsvollſten Winke über die Art und Weiſe, wie der Erzieher am beſten die bedenklichen Anlagen des Kindes bekämpfen, die guten entwickeln und alle zu harmoniſchem Zuſammenwirken heranbilden könne.

Selbſt der fruchtbarſte Boden wird aufhören, ergiebig zu ſein, wenn längere Zeit dieſelben Früchte darauf gebaut werden. So wird auch bei dem begabteſten Kinde der Un— terricht aufhören Eingang zu finden, wenn er zu lange bei demſelben Gegenſtand verweilt, oder mit andern Worten, wenn er zu lange ſich an dieſelben geiſtigen Kräfte und ihre Organe richtet. Wie daher der Landwirth mit großem Fleiße ſich bemüht, zu erproben, in welcher Reihenfolge die verſchiedenen Früchte auf demſelben Boden am beſten gedei— hen, ſo ſoll auch der Erzieher ſich bemühen, aufzufinden, in welcher Reihenfolge die verſchiedenen Unterrichtsgegen— ſtände dem Kinde mit dem größten Erfolge geboten werden können. Der Unterricht in den Sprachen wendet ſich zu— nächſt an den Sprachſinn, im Zeichnen an den Geſtaltſinn und Zuſammenſetzungsſinn, im Malen außerdem an den Farbenſinn, in der Naturgeſchichte an den Gegenſtandſinn, in der Geſchichte an den Zeit- und Thatſachenſinn, in der

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Erdbeſchreibung an den Größen- und Ortſinn, im Rechnen an den Zahlenſinn, in der Muſik an Ton- und Zeitſinn und bei allen Inſtrumenten an den Gewichtſinn, an den letztern überhaupt bei allen Lehrgegenſtänden, welche eine zarte Abwägung des auszuübenden Drucks vorausſetzen. Inſofern jedoch ein ſolcher Lehrgegenſtand nur durch Worte mitgetheilt wird, nimmt er zunächſt nur den Wort- oder Sprachſinn des Kindes in Anſpruch, und das iſt bei den meiſten der genannten Lehrgegenſtände der gewöhnliche Fall. Daher wird dieſer Sinn bei den Kindern gewöhnlich über— mäßig ſtark angeſtrengt. In demſelben Maße, in welchem man andere geiſtige Kräfte bei dem Unterrichte betheiligt, z. B. den Geſtalt- und Farbenſinn durch Vorzeigung der Bildniſſe der beſprochenen Gegenſtände, den Gegenſtand— ſinn durch Vorzeigung des beſprochenen Gegenſtandes ſelbſt, die Vergleichungsgabe durch Anregung des Schülers, den Lehrgegenſtand mit andern zu vergleichen, das Schlußver— mögen durch Aufforderung deſſelben, nach den Urſachen ei— ner Erſcheinung zu forſchen u. ſ. w.; in demſelben Maße wird der Sprachſinn erleichtert nach dem Grundſatze, daß mehrere Finger eine Laſt leichter heben, als ein einziger. Ein Unterricht, welcher in der angegebenen Weiſe auf mög— lichſt gleichmäßige Vertheilung der Arbeit über alle Richtun— gen des Geiſtes und alle ſeine Organe hinwirkt, wird nicht nur weit größere Reſultate erzielen, ſondern auch die Kin— der in ſtets wachſender Freudigkeit beim Lernen erhalten. Denn jede Thätigkeit einer geiſtigen Kraft iſt ſo lange mit angenehmen Empfindungen verbunden, als ſie ihrem natür— lichen Stärkegrade entſpricht, und erſt mit dem Augenblicke tritt Unbehaglichkeit ein, da man ihr mehr zumuthet, als ſie leiſten kann. Ein großer Fehler unſerer Erziehung be— ſteht darin, daß man gewöhnlich die mächtigen Kräfte, welche das Empfindungsvermögen in ſich ſchließt, und wenigſtens mehrere der zum Darſtellungsvermögen gehörigen nicht auf— fordert, die Laſt des Unterrichts mittragen zu helfen. Sie

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erleichtern alſo nicht nur den übrigen ihre Arbeit nicht, ſon— dern bleiben überdies ſelbſt auch ungeübt.

Die Aufgabe der Erziehung beſteht übrigens nicht blos darin, die geiſtigen Kräfte zu entwickeln, zu ſtärken und wo nöthig, ſie zu ſchwächen, ſondern auch, ſie zu gemein— ſamer Wirkſamkeit heranzubilden. Beginnt ein Kind, ſchrei— ben zu lernen, ſo ſind die Bewegungen ſeiner Finger lang— ſam und eckig, und die Geſtalten der Buchſtaben entbeh— ren Gleichförmigkeit und Anmuth. Dieſe Unvollkommenhei— ten rühren aus zwei Urſachen her. Fürs Erſte giebt es nämlich eine Mannigfaltigkeit von Muskeln in der Hand, und gewiſſe Gruppen derſelben müſſen daran gewöhnt wer— den, im Einklang mit einander zu handeln, bevor die Hand die Fertigkeit erlangt, mit der Feder umzugehen. Dann müſſen aber auch die Organe des Geſtalt-, Größen- und Zuſammenſetzungsſinnes gewöhnt werden, in harmoniſcher Weiſe zuſammen zu wirken. Auf dieſelbe Art müſſen, be— vor Jemand mit Erfolg auf der Violine ſpielen kann, ſeine Organe der Zeit, des Tons, des Gewichts und der Nach— ahmung an eine gleichzeitige, entſprechende Thätigkeit ge— wöhnt werden. Und ſo verhält es ſich mit allen Zweigen der Wiſſenſchaft und der Kunſt, bei der Beredtſamkeit und Ma— lerei, wie beim Leſen und Schreiben. Ueberall ſind zu gleicher Zeit verſchiedene Organe thätig, von deren harmo— niſchem Zuſammenwirken jeder Erfolg abhängig iſt. Ein ſolches iſt aber ohne vorgängige Uebung nicht möglich.

Dieſe Regel gilt nicht blos für die Sphäre der Intel— ligenz, ſondern mit gleicher Stärke von derjenigen der Ge— fühle. Wenn die Erzieher die Kinder nicht bei Zeiten daran gewöhnen, ihre Triebe nur in harmoniſcher Zuſammenwir— kung mit den höheren Empfindungen und dem Denkvermö— gen thätig werden zu laſſen, ſo werden ſie nie mit Erfolg wirken. Unter der Leitung der Ehrerbietung, der Gewiſſen— haftigkeit, des Wohlwollens und der Feſtigkeit wird der Erwerbtrieb und der Bekämpfungstrieb nie auf Irrwege gerathen, wie Ehrerbietung und Wohlwollen und die an—

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deren höheren Empfindungen unter dem Einfluß des Denk— und Erkenntnißvermögens ihre Gefühle nicht an unwürdige Gegenſtände verſchwenden werden. Nur harmoniſche Ent— wickelung aller geiſtigen Kräfte des Kindes führt zu einem ſchönen Ziele.

Wer dieſe Lehren nicht beachtet, wird die Wahrheit bitter empfinden. Natur und Schickſal, oder freundlicher geſprochen, die göttliche Weltordnung läßt nicht mit ſich ſpielen. Jede Verletzung ihrer Geſetze iſt unerbittlich mit Schmerz verknüpft, wie jede naturgemäße Thätigkeit Freude bereitet. Der Hauptzweck einer gediegenen Erziehung ſoll ſein, das Kind bei Zeiten in die von der göttlichen Welt— ordnung vorgezeichnete Bahn zu leiten, damit es nicht zu ſpät durch die ſchweren Schläge des Schickſals: durch Ar— muth, Krankheit und Leiden jeder Art daran erinnert wer— den müſſe, daß es auf unrechter Bahn wandele.

Das ganze Syſtem unſerer Erziehung, wie es bis zum heutigen Tage praktiſch beſteht, zeigt deutlich, daß unſere Erzieher von der Verſchiedenartigkeit der geiſtigen Kräfte mit allen ihren Folgen durchaus keine Ahnung haben. Sie ſetzen gar zu häufig den verſchiedenartigſten geiſtigen Kräf— ten und der verſchiedenartigſten Aeußerung derſelben das nämliche Heilmittel entgegen: phyſiſche Gewalt oder Schelt— worte. Erſtere wirkt aber unmittelbar nur auf den Kör— per, und in welcher Weiſe ſie mittelbar wirkt, hängt durch— aus von der Verſchiedenartigkeit der Gemüthsbeſchaffenheit des Kindes ab. Das furchtſame Kind wird dadurch er— ſchreckt und noch furchtſamer gemacht, als es ſchon iſt; das nervöſe Kind wird in deſſen Folge noch nervöſer, das Kind von regem Selbſtgefühl wird dadurch aufs tiefſte gekränkt, das Kind phlegmatiſchen Temperaments mit wenig Selbſt— gefühl, Beifallsliebe und Sorglichkeit wird ſich wenig dar— aus machen u. ſ. w. Wie unzweckmäßig iſt eine gleich— mäßige Behandlungsweiſe der verſchiedenartigſten Charaktere! Wie verſchiedenartig ſind die Folgen dieſer Gleichmäßigkeit!

Andere Erzieher haben erkannt, daß man auf die In—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß z. Erziehung. 345

dividualität der Kinder Rückſicht nehmen müſſe, und be— dienen ſich der Schwächen eines Kindes als Hebel der Er— ziehung. Dem furchtſamen Kinde machen fie Furcht, das ſtolze Kind kränken ſie, das eitle verletzen ſie in ſeiner Ei— telkeit u. ſ. w. Sie bedenken nicht, daß ſie dadurch gerade das Gegentheil von dem thun, was ſie thun ſollten. Sie ſollen ihren geiſtigen Hebel nicht auf einen geiſtig ſchwachen Boden anlegen, denn ſonſt bricht dieſer unter ihnen zuſam— men. Auf die ſtärkſten Theile des Charakters ſollten ſie ihre Hebel ſtellen. Von dieſen aus läßt ſich eine kräftige Wirkſamkeit erhalten, nicht aber von den ſchwachen Seiten des Charakters aus.

Ein weiterer ſehr häufiger Uebelſtand iſt der Wider— ſpruch, in welchem die Handlungen der Erzieher zu deren Thaten ſtehen. Der Erzieher raucht ſelbſt, aber verbietet ſeinem Schüler zu rauchen, er trinkt Wein und Bier und giebt ſeinem Kinde Waſſer zu trinken, er wird heftig und zornig, allein wenn das Kind ſeinem Beiſpiele folgt, ſo wird es beſtraft; er bedient ſich mancher Schimpfwörter, deren ſich das Kind nicht wieder bedienen ſoll u. ſ. w. Das Beiſpiel wirkt unmittelbar auf die betreffenden Organe, die Worte nur vermittelſt des Wortſinns, alſo in weit ſchwä— cherm Maße. Daher werden die Kinder immer eher dem erſtern als den letztern folgen.

Auch auf dem Felde der Erziehung gilt der alte Grund— ſatz: divide et impera, theile, fo wirft du herrſchen. Thei— len wir die verſchiedenartigen Seelenzuſtände in ihre Ele— mente und lernen wir dieſe behandeln, dann werden wir mit dieſen zugleich nach dem oben!) aufgeſtellten Grundſatze ihre Miſchungen zu behandeln lernen.

Wir beginnen mit dem Nahrungstriebe. Derſelbe iſt dem Menſchen verliehen, damit er ihm die Kräfte zuführe, deren er zur Erhaltung der Geſundheit und zu Beförde— rung des Wachsthums bedarf. Der Menſch ſoll aber nur

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eſſen und trinken, was und ſoviel es dieſer Zweck der Na— tur erheiſcht, nichts anderes und nicht mehr und nicht we— niger. Allein dieſes Geſetz der Natur wird von Kindheit an faſt durchgängig täglich bis zum Ende unſers Lebens übertreten. Der Inſtinct ſagt dem Kinde ganz genau, wie viel ihm zu ſich zu nehmen gut iſt. Allein man thut dem— ſelben Gewalt an. Man ſucht durch die Quantität zu erſetzen, was an der Qualität gebricht. Aus misverſtande— ner Zärtlichkeit drängt man dem Kinde Nahrung auf; man würzt ſeine Speiſen mit Zucker und Zimmet und andern wohlſchmeckenden Zuthaten, um die befriedigte Eßluſt zu wecken. Die Folge davon iſt, daß der Magen des Kindes und ſein Darmkanal weiter ausgedehnt werden, als natür— lich iſt, und daß das Organ des Nahrungstriebs in geſtei— gerte Thätigkeit tritt. Den zweiten Tag iſt im Magen und Darmkanal ſchon etwas mehr Raum und der Nah— rungstrieb iſt ſchon etwas reger, als die Natur beſtimmt hat. Den dritten Tag iſt dieſes Verhältniß ſchon in weis term Zunehmen, und ſo geht es in ſteigender Progreſſion, bis das Kind zu einem entſchiedenen Leckermaul oder Freſ— ſer geworden iſt. Die Eßluſt iſt mit der Trinkluſt nahe verwandt, Uebermaß im Eſſen führt häufig zum Uebermaß im Trinken. Die Eltern wundern ſich dann in ſpätern Jahren, daß ihre Kinder Freſſer und Säufer geworden ſind, und bedenken nicht, daß ſie durch ihre misverſtandene Zärt— lichkeit ſelbſt den Grund zu dieſem Laſter gelegt haben. Nicht minder ſchwer wird bei der Behandlung des Bekämpfungstriebs gefehlt. Dieſer, wie jeder andere Trieb iſt dem Menſchen durchaus unentbehrlich. Ohne ſolchen iſt er ein Opfer ſeiner Umgebung, denn leben heißt kämpfen. Gar zu häufig iſt es aber, daß man durch allzu große Strenge das Kind einſchüchtert, d. h. deſſen Sorglich— keit gewaltſam aufweckt, und den Bekämpfungstrieb da— durch, daß man ihm eine überlegene Macht entgegen— ſtellt, durch übertriebene Anſtrengung ſchwächt. Ein ſolches Kind wird zu gleicher Zeit furchtſam und feig werden. Noch

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häufiger iſt es, daß man dem ſtark entwickelten Bekäm— pfungstrieb einen ungefähr gleich ſtarken entgegenſetzt; die Folge davon iſt, daß er durch Uebung an Kraft mehr und mehr zunimmt, bis er in Streitſucht und Händelmacherei ausartet. Dem Bekämpfungstriebe muß man Wohlwollen, Ehrerbietung, Gewiſſenhaftigkeit und Feſtigkeit entgegen— ſetzen, und wenn das Kind verſtändig iſt, das Denkvermö— gen. Nur auf dieſe Weiſe kann er zu harmoniſcher Unter— ordnung unter dieſe höheren Geiſteskräfte gebildet werden. In ganz ähnlicher Weiſe verhält es ſich mit dem Zerſtö— rungstriebe, nur daß die Klippen, zwiſchen welchen dieſer durchzuſchiffen hat, auf der einen Seite die Unfähigkeit iſt, Scenen der Zerſtörung mit ruhigem Gemüthe anzuſchauen und erforderlichenfalls dabei mitzuwirken, auf der andern Geneigtheit zum Zorne, zur Rache, zur Bitterkeit, zu bru— taler Gewaltthat.

Der Erwerbtrieb wird nicht ſelten dadurch übermäßig früh entwickelt, daß man dem Kinde für dasjenige, was es aus höheren Motiven thun ſollte, etwas zu geben ver— ſpricht und wirklich etwas giebt. Es gewöhnt ſich ſo daran, niemals ſeine Pflicht zu thun, ohne gewiſſermaßen dazu beſtochen zu werden. In gleicher Weiſe bedient man ſich, namentlich in den höhern Kreiſen der Geſellſchaft und in öffentlichen Schulen, der Hebel der Beifallsliebe und des Selbſtgefühls, und erweckt ſo, wie dort Habſucht, ſo hier Eitelkeit und Hochmuth. Dennoch ſind alle dieſe Triebe in mäßiger harmoniſcher Entwickelung von der höchſten Be— deutung. Mit ſchwachem Erwerbtrieb wird der Menſch nicht im Stande ſein, ſich die Bedürfniſſe ſeines Lebens in hinreichendem Maße zu verſchaffen und das Erworbene zu— ſammenzuhalten; mit zu ſchwacher Beifallsliebe wird ein Charakter ſelten liebenswürdig, mit ſchwachem Selbſtgefühl nicht ſelbſtvertrauend und ſelbſtſtändig ſein.

Der Verheimlichungstrieb führt in zu ſtarker Entwicke— lung zur Geneigtheit, krumme Wege einzuſchlagen, in zu ſchwacher dagegen zu einer Durchſichtigkeit des Charakters,

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welche im Getreibe dieſer Welt uns gegen verſchwiegenere und zurückhaltendere Naturen in großen Nachtheil bringt.

Alles dieſes ſind freilich nur Andeutungen, allein der Raum geſtattet uns nicht, hier mehr auf die Einzelnheiten einzugehen. Wer geneigt iſt, ſich mit dieſen Lehren mehr im Einzelnen zu beſchäftigen, den verweiſen wir auf Warne, Phrenology in the family or the utility of Phrenology in early domestic Education. Edinburgh 1843.

$. 63. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zur Moral.

Der Menſch unterſcheidet ſich körperlich und geiſtig vom Thiere weſentlich durch ſeine moraliſchen Anlagen. Gleich— wie dem Thiere alle die Gehirn-Organe fehlen, welche die höhere Wölbung des menſchlichen Kopfes bilden, ſo fehlen ihm auch alle diejenigen geiſtigen Anlagen, welche durch dieſe Organe vermittelt werden, insbeſondere die Empfin— dungen des Wohlwollens, der Ehrerbietung, der Gewiſſen— haftigkeit, der Hoffnung, des Wunderbaren und des Schö— nen, das Thier kennt nur die materiellen, nur die irdi— ſchen Intereſſen, die immateriellen, die überirdiſchen ſind ihm fremd. Dieſer Gegenſatz macht es recht anſchau— lich, welche Beſtrebungen es ſind, die den Menſchen über die Thierwelt erheben, welche fein höheres Sondergut bil— den, und welche daher ihn geiſtig beherrſchen ſollen. Wenn wir uns daher von denjenigen geiſtigen Anlagen, die wir mit den Thieren gemein haben, beherrſchen laſſen, wenn dieſe uns den vorwaltenden Impuls unſerer Thätigkeit ge— ben, ſo ſtellen wir uns mit dem Thier auf gleiche Linie, ſtatt uns über daſſelbe zu erheben.

Die Unklarheit, welche bisher in dem Gebiete der See— lenlehre herrſchte, hat auch in moralifcher Beziehung ihre nachtheiligen Folgen gehabt; der Menſch hat ſich von der Natur entfernt, der Unterricht in der engen Schulſtube ver—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral. 349

mochte die Anregung des bewegten Lebens nicht zu erſetzen; die Organe, welche die Grundlage der Moralität bilden, find das Wohlwollen und die Gewiſſenhaftigkeit in Ueber: einſtimmung mit einer erleuchteten Intelligenz; nicht durch Worte, nicht durch auswendig gelernte Sprüche, ſondern durch den Anblick von Scenen des Unglücks wird das Wohl— wollen, nicht durch Erklärung von Geboten und Geſetzen, ſondern durch Verhältniſſe zweifelhaften Rechtes wird die Gewiſſenhaftigkeit zur Thätigkeit aufgefordert. Auf der andern Seite bilden wiederum nicht Worte, nicht Redens— arten, ſondern Thaten der Barmherzigkeit und der Gerech— tigkeit die Kennzeichen der Wirkſamkeit jener Organe.

So lange übrigens die thieriſchen Triebe und die nie— dern Empfindungen in dem geiſtigen Leben des Menſchen eine ſo große Rolle ſpielen, können die höheren Empfindun— gen des Wohlwollens und der Gewiſſenhaftigkeit in unſerm Innern keine praktiſche Wirkſamkeit erlangen.

In unſern Schulen, in unſern Erziehungsanſtalten aller Art begnügt man ſich immer damit, die Jugend in der Moral zu unterrichten, d. h. ihnen von Moral zu ſpre— chen, die Moralvorſchriften zu erklären und ſie zu einem moraliſchen Lebenswandel aufzufordern. Unſere Jugend lernt daher auch in der Regel nicht mehr als dieſes; ſie verſteht es, erforderlichen Falls auch ihrerſeits von Mo— ral zu ſprechen, die Moralvorſchriften zu erklären und Andere zum moraliſchen Lebenswandel aufzufordern. In ſolcher Weiſe wurde die Moral in das Gebiet der Theorie verwieſen und drang daher ins praktiſche Leben nicht ein. In dieſem treten die Anforderungen der Mode, des Luxus, der Vergnügungsſucht, einer falſchen Ehre uns mächtig ent— gegen; eine blos theoretiſche Moralität vermag es nicht, mit allen dieſen Realitäten ſiegreich zu kämpfen.

Man klagt oft und mit Recht über das Sittenverderb— niß und die Unproductivität unſerer Zeit. Beide, ſcheinbar ſo verſchiedene Momente unſerer Tagsgeſchichte, haben doch dieſelbe Urſache: Mangel an moraliſcher Kraft. Weil dieſe

350 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Moral.

die thieriſchen Triebe nicht zügelt, entſteht Sittenverderbniß, und weil ſie die Intelligenz nicht erwärmt und begeiſtert, fehlen die Elemente höherer Productivität. Die Intelligenz hat in unſern Tagen einen Höhepunkt erreicht, welcher ſie in ihrer ganzen Hohlheit darſtellt. Sie hat ſich zur Die— nerin aller Laſter, aller niedrigen Beſtrebungen gebrauchen laſſen, ſie hat keine ihrer Verſprechungen erfüllt. Als Die— nerin der moraliſchen Empfindungen iſt ſie eben ſo nützlich, wie ſie als Dienerin der thieriſchen Triebe und der niedri— gen Empfindungen verderblich iſt. Nichts iſt ſo gemein, ſo verworfen, was die Intelligenz unſerer Tage nicht bereit geweſen, zu rechtfertigen. Wie die Intelligenz früherer Jahrtauſende die Sklaverei, die Kampfſpiele der Gladiato— ren und andere Unnatürlichkeiten zu rechtfertigen bemüht war, ſo iſt die Intelligenz unſerer Tage geſchäftig, den Wortbruch im Großen, die Knechtung des Geiſtes, die Schwelgerei des Körpers, die übertriebenen Anſprüche der Mode und des Luxus und einer falſchen Ehre zu rechtfer— tigen. In unſern Tagen herrſchen noch immer die thieri— ſchen Triebe und die niedrigen Empfindungen. Sie unter— ſcheiden ſich von frühern Zeiten weſentlich nur dadurch, daß jetzt die Intelligenz größtentheils die Stelle der brutalen Gewalt vertritt, daß dieſe nur im Hintergrunde ſteht, während die Intelligenz das vordere Glied einnimmt. Allerdings iſt dieſe Intelligenz faſt überall durch Gründe einer beſſern In— telligenz beſiegt worden. Allein da jener die brutale Ge— walt zum Hintergrunde dient, dieſer der Hintergrund der moraliſchen Kraft fehlt, half hier der Sieg auf dem Ge— biete der Theorie ſehr wenig.

Es iſt eine herzzerreißende Erſcheinung, in chriſtlichen Staaten unſerer Tage auf der einen Seite ſolche Schwelgerei, ſolchen unſinnigen Luxus, ſolchen Modeſchwindel, ſolchen Götzendienſt und auf der andern Seite ſo viele Armuth und Noth zu gewahren. Wenn die höheren Stände den moraliſchen Empfindungen nur eben fo viel Kräfte, Zeit und Geld wid— meten, als den thieriſchen Trieben und niedrigen Empfin—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion. 351

dungen, wie ganz anders wäre dann die Welt beſchaffen! Die Anſprüche des Luxus und der Mode werden faſt durch— gängig den wirklichen Lebensbedürfniſſen, die Gebote einer falſchen Ehre werden faſt allgemein denjenigen der Moral vorgezogen. So lange der Jugend in allen dieſen Bezie— hungen ein ſo ſchlechtes Beiſpiel durch die That gegeben wird, können alle Sprüche und Regeln, die man ſie aus— wendig lernen läßt, nicht viel helfen.

Die Empfindungen des Wohlwollens und der Gewiſ— ſenhaftigkeit werden in der That nicht geübt, daher bleiben ſie ſchwach; die thieriſchen Triebe und niedern Empfindun— gen werden ſchon frühzeitig unausgeſetzt zur Thätigkeit an— geregt, daher erſtarken ſie.

F. 64. Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zur Religion.

Die Grundlagen wahrer Religioſität bilden die Gefühle der Ehrerbietung, der Hoffnung und des Wunderbaren in Uebereinſtimmung mit einer erleuchteten Intelligenz. Nicht durch auswendig gelernte Sprüche und angelernte Körper— bewegungen werden dieſe Gefühle geweckt und genährt. Der Anblick des Großen in der Natur und der Geſchichte, die unmittelbaren Werke Gottes ſind es zunächſt, welche das Gefühl religiöſer Ehrerbietung erwecken, nähren und ſtärken. Der Blick in die Zukunft, in eine ſchönere, beſſere Welt belebt unſere Hoffnung und die Geheimniſſe der Natur er— regen unſere Bewunderung.

Auch ſind Worte nicht die Kennzeichen wahrer Reli— gioſität, ſo wenig als Körperbewegungen, Gänge und Geſänge dieſes ſind. Vertrauen auf Gott, Liebe zu ihm und das Beſtreben, ſeinen Willen zu thun, d. h. die von ihm gegebenen Geſetze zu beobachten und ſich in ſeine Fü— gung zu ergeben, dieſes ſind die Beweiſe religiöſer Ehrer—

352 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion.

bietung. Allein nur zu häufig widerſtreben die Menſchen den göttlichen Geſetzen; ſie thun gerade das Gegentheil von dem, was die Natur ſie lehrt. Statt zu forſchen nach dem Willen Gottes, ſtatt die Geſetze der Natur, welche er ge— geben, zu achten, folgen ſie ihren eigenen verkehrten Neigun— gen und beklagen ſich dann über ihr Unglück, als wäre es nicht die Folge ihres, den Geſetzen Gottes widerſtrebenden Benehmens. Die Hoffnung auf eine ſchönere Zukunft, die Zuverſicht, daß jenſeits dieſes Lebens ein höheres Daſein für uns beginne, und die darauf gegründete Seelenruhe find die Kennzeichen religiöfer Hoffnung. Nicht das Glau— ben an unverſtändliche Lehren, nicht das Feſthalten an Dogmen, welche von Menſchen zu ihren Zwecken aufgeſtellt wurden, ſondern das Gefühl der Bewunderung deſſen, was in der That unerklärlich iſt, bildet das Kennzeichen des Gefühls für das Wunderbare.

Nur wo die Kennzeichen dieſer drei Grundbeſtandtheile der Religioſität ſich vereinigen, findet ſich die letztere in ihrer ganzen Fülle und Stärke. Wie es übrigens Kennzeichen der wahren Religioſität, ſo giebt es auch Kennzeichen der falſchen. Die Klippen einer ſolchen ſind beſonders eine kalte Intelligenz, ein ſtarrer Puritanismus und ein Vorwalten der thieriſchen Triebe. Die kalte Erwägung kann die Regun— gen eines warmen Gefühls nicht erſetzen. Das Streben nach Gründen hat wohl ſeinen Werth, allein auch die Be— wunderung hat den ihrigen; die Beweisführung können wir nicht entbehren in menſchlichen Dingen, doch auch die An— betung nicht in göttlichen. Die Wahrſcheinlichkeitslehre iſt kalt im Vergleich mit dem Gefühle der Hoffnung und bie— tet nicht denſelben feſten Anker, wie die Zuverſicht auf eine beſſere Zukunft. Die Intelligenz vermag uns daher die Stelle der Religion nicht zu vertreten; ſie giebt uns Be— griffe und Gedanken, ſtatt bewegter Empfindungen.

Die Religion ſchließt Künſte und Wiſſenſchaften nicht aus, ſondern heiligt und erhebt ſie. Der Sinn für Töne, Farben, Bauwerke und Formen iſt uns nicht minder von

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zur Religion. 353

Gott gegeben, als das Gefühl der Ehrerbietung, der Hoff— nung und der Bewunderung. Inſofern daher Töne, Farben; Bauwerke und Formen blos als Hebel unſrer moraliſchen Empfindungen dienen, ſind ſie keineswegs verwerflich, ſon— dern preiswürdig. Unſer Schönheitsgefühl ſoll durch un— ſere religiöſen Uebungen durchaus nicht verletzt werden. Es heißt daher ebenſowohl der Natur widerſtreben, wenn wir alle dieſe Anlagen unſeres Geiſtes nicht berückſichtigen, als wenn wir ſie übermäßig hegen.

So häufig wird aber ſogar das Walten der niedrigen Empfindungen und thieriſchen Triebe ſelbſt für Religioſität ausgegeben. Die Furcht iſt ein Ausfluß der niedern Em— pfindung der Sorglichkeit, die Verdammung anders Glau— bender das Reſultat eines mächtigen Zerſtörungstriebs; die Bekämpfung Derer, welche einer andern Kirche angehören, die Wirkung eines regen Bekämpfungstriebs; die Furcht ſteht niederer als die Hoffnung, die Verdammung wider— ſpricht dem chriſtlichen Grundſatze der Liebe, die Bekäm— pfung Andersdenkender dem Grundſatze der Verſöhnung, wo daher Furcht, Kampfluſt und Verdammung vorwalten, da iſt nicht Religion, ſondern deren ſchlimmſter Gegenſatz, da walten nicht die höheren moraliſchen Empfindungen, ſondern die thieriſchen Triebe und die nothwendige Folge davon muß ſein, innere Zerriſſenheit, Troſtloſigkeit und See— lenunfrieden, ſtatt der Begleiter wahrer Religioſität, des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Indem die Phre— nologie annimmt, daß jeder normal gebildete Menſch die Organe des Wohlwollens, der Gewiſſenhaftigkeit, der Ehr— erbietung, der Hoffnung und des Wunderbaren beſitzt, ſo nimmt ſie auch an, daß derjenige Menſch, welcher dieſe Gefühle nicht kennt oder nicht zu kennen vorgiebt, kein normal gebildeter Menſch iſt, oder ſich und Andere über ſeine normale Bildung ſelbſt täuſcht. Indem die Phreno— logie beweiſt, daß gerade diejenigen Hirnwindungen, welche dem Menſchen eigenthümlich ſind, welche die höchſte Stelle ſeines Hauptes einnehmen, die Gefühle des Glaubens, der

23

354 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.

Liebe, der Hoffnung, der Gerechtigkeit und der Bewun— derung vermitteln, ſo zeigt ſie, wie es der göttlichen Vor— ſehung gefiel, uns ſchon durch die Stellung dieſer Organe darauf aufmerkſam zu machen, welchen Rang ſie in unſerm geiſtigen Leben einnehmen ſollten. Da die Menſchheit in ſolcher Weiſe körperlich und geiſtig mit Empfänglichkeit für Moral und Religion gebildet iſt, ſo können wir mit voller Zuverſicht erwarten, daß es den Spöttern und Unheiligen niemals gelingen werde, die moraliſchen und religiöſen Ge— fühle aus der Seele des Menſchen zu verdrängen, im Ge— gentheil wird jeder Gegenſtoß gegen dieſe Gefühle ſie zu reger Thätigkeit auffordern, während ſie im Alltagsleben der Sinnlichkeit und Eitelkeit nur zu leicht in Unthätigkeit verſinken. Nur auf dem Gebiete der Freiheit werden ſich daher auch die Gefühle der Moralität und Religioſität kräf— tig entwickeln. Wer das Böſe im Keim erdrücken will, erdrückt zu gleicher Zeit nur zu häufig den Sporn zu an— geſtrengter Thätigkeit der höhern Kräfte der Seele. Wer das Unkraut ausjäten will, reißt damit zu gleicher Zeit auch den Weizen aus. Daher hat ſchon Chriſtus dieſes verbo— ten. Er hat ausdrücklich geſagt, man ſolle warten, bis der Weizen reif ſei. Allein Chriſtus hat nur gelehrt für die— jenigen, die einfältigen Herzens ſind, und dieſes bewahren nur wenige mehr im Getreibe des politiſchen und des Hof— lebens.

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zum Rechte.

Es iſt im Verlauf dieſes Werks oft darauf hingewie— ſen worden, daß der Menſch keine Geſetze zu machen, ſondern die Geſetze der Natur oder der Vorſehung nur zu erkennen, ihnen zu huldigen oder zu widerſtreben vermöge.

Gerade ſo wie das Wechſelverhältniß der Töne und der Farben, die Bildung der Geſtalten u. ſ. w. durch ewige

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 355

Geſetze geordnet iſt, ſo ſind es auch die Wechſelverhält— niſſe der Menſchen. Wenn wir dieſe Ordnungen der ewigen Weisheit unberückſichtigt laſſen und wir mit menſchlichen. Satzungen gar ihnen entgegentreten, ſo wirken ſie nichts deſto weniger fort, und es entſpinnt ſich ein Kampf, in welchem der Menſch, als der ſchwächere, unterliegen muß.

Die ewigen Geſetze, welche das Wechſelverhältniß der Menſchen beſtimmen, ſind bedingt durch die körperliche und geiſtige Beſchaffenheit, welche uns von der Vorſehung ver— liehen worden iſt, und daher insbeſondere durch unſere Ge— hirn-Organiſation und die derſelben entſprechende Geiſtes— beſchaffenheit.

Welches die uns verliehenen geiſtigen Vermögen ſind, in welcher Weiſe ſie in Thätigkeit treten und in welchem Wechſelverhältniſſe ſie miteinander ſtehen, haben wir im Laufe dieſes Werks, wenn auch nicht ausführlich beſprochen, doch kurz angedeutet. Als Grund -Anſicht haben wir feſt— geſtellt, daß jedes Organ durch ſeinen natürlichen Gegen— ſtand und insbeſondere durch die Thätigkeit des entſprechen— den Organs eines Andern angeregt werde, alſo das Organ des Zerſtörungstriebs durch Scenen der Zerſtörung und der Grauſamkeit, das Organ des Wohlwollens durch Handlun— gen der Barmherzigkeit.

Ein zweiter Grundſatz beſtimmt, daß im Wechſelver— hältniſſe der geiſtigen Vermögen die höheren moraliſchen Empfindungen und das Denkvermögen die Herrſchaft über unſer ganzes geiſtiges Weſen führen, die thieriſchen Triebe und niedern Empfindungen dagegen gehorchen ſollen.

Fragen wir nun 1) in welchem Verhältniſſe ſtehen unſere Rechtsangelegenheiten zu dieſen beiden Grundſätzen?

2) Wie können ſie zu denſelben in ein richtiges Ver— hältniß gebracht werden?

Die Antwort auf die erſte Frage iſt eine ſehr betrü— bende. Unſere Geſetzgeber haben bisher auf die Anforde— rung der Menſchennatur durchaus gar keine Rückſicht ge— nommen. Es ergiebt ſich dieſes ſchon daraus, daß ſich

23 *

356 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.

tauſenderlei verſchiedenartige Geſetzgebungen in den verſchie— denen Theilen Deutſchlands gegenſeitig widerſprechen. Nicht blos die verſchiedenen Staaten Deutſchlands haben verſchie— dene Geſetzgebungen, ſondern auch die verſchiedenen Pro— vinzen deſſelben Staates, die verſchiedenen Bezirke derſelben Provinz und nicht ſelten die verſchiedenen Städte und Dör— fer deſſelben Bezirks. Was auf der einen Seite des Baches Recht, iſt auf der andern Unrecht; wir finden hier noch immer die Worte Goethe's bewahrheitet: „Es erben ſich Geſetz und Rechte Wie eine ewige Krankheit fort, Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich zu Geſchlechte Und rücken ſacht von Ort zu Ort; Vernunft wird Unſinn, Wohlthat Plage, Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt! Vom Rechte, das mit uns geboren iſt, Von dem iſt leider nie die Frage.“

Was die zweite Frage betrifft, ſo iſt hier zu bemer— ken, daß wir unſere poſitiven Geſetze nur dadurch mit den ewigen Geſetzen der Natur in Uebereinſtimmung bringen können, daß wir die letzteren erforſchen und mit den that— ſächlichen Verhältniſſen unſerer Zeit in Uebereinſtimmung bringen.

Nach einer dreifachen Einheit müſſen wir ſtreben, wenn es in unſern Rechtsangelegenheiten beſſer werden ſoll. Nach der Einheit der Geſetzgebung in den verſchiedenen Theilen Deutſchlands, in den verſchiedenen Zweigen des Rechtsge— biets und den verſchiedenen Staatsgewalten.

So lange in einem Kleintheil Deutſchlands für Recht gilt, was in dem unmittelbar angrenzenden Unrecht iſt, in tauſendfältiger Verſchiedenartigkeit, kann ſich nie eine feſte, rechtliche Anſicht im Volke bilden. So lange in dem einen Rechtsgebiete z. B. im Strafproceſſe für Recht gilt, was im andern z. B. im Civilproceſſe Unrecht iſt, kann ſich nie im Volke eine conſequente Rechtsidee bilden, und ſo lange man endlich bei der Geſetzesanwendung und Geſetzesvoll— ſtreckung wiederum von verſchiedenen Geſichtspunkten aus—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 357

geht, können die verſchiedenen ſich bekämpfenden Staats— gewalten nicht zu der Ueberzeugung führen, ſie gründeten ſich alle auf eine und dieſelbe Rechtsidee.

Wenn wir nun zu den einzelnen Rechtsgebieten über— gehen und mit dem Staatsrechte beginnen, ſo müſſen wir mit Beſchämung bekennen, daß wir weit hinter den Grundſätzen zurückſtehen, welche vor Jahrtauſenden von Platon und Ariſtoteles gelehrt wurden; dieſe Weltweiſen erkannten, daß die einzige feſte Grundlage des Staats die Sittlichkeit ſei; die Phrenologie ſtimmt mit dieſer Grund— anſicht vollkommen überein, indem ſie lehrt, daß der Staat keinen andern Zweck haben könne, als die harmoniſche Ent— wickelung aller ſeiner Mitglieder zu befördern.

Es haben die Staaten ihre Entwickelungs-Perioden wie die einzelnen Menſchen; in der Kindheits-Periode der Staaten wie der Individuen ſind die thieriſchen Triebe und niedrigen Empfindungen vorherrſchend, und ſie bedürfen daher einer mächtigen Gewalt, welche fie zugelt. In dem— ſelben Maße aber, als die Nationen und die Individuen auf dem Pfade ihrer Entwickelung fortſchreiten, in demſel— ben Maße, als das Denkvermögen und die moraliſche Kraft zunimmt, werden ſie mehr und mehr befähigt, ſelbſt zu handeln und daher unwillig, ſich von Andern leiten zu laſ— ſen; die Zügel der Herrſchaft müſſen mehr und mehr ge— lockert werden, oder ſie werden gebrochen. Rom und Grie— chenland hatten während der Periode ihrer politiſchen Kindheit die monarchiſche Verfaſſung; ihre Jugendzeit begann mit der republikaniſchen, ihr kräftiges Mannesalter wird bezeich— net durch die reinſten demokratiſchen Formen. Als ihre moraliſche Kraft abzunehmen begann, entwickelte ſich die Pöbelherrſchaft, und ihr Greiſenalter wurde bezeichnet durch die Herrſchaft von Deſpoten und Weibern.

In demſelben Maße, als die geiſtigen Kräfte der Bür— ger ſich entwickeln, und als daher die Verfaſſungsformen freier werden müſſen, in demſelben Maße erweitert ſich der Kreis der Wirkſamkeit des Staats; während in der Kind—

358 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.

heitsperiode des Individuums und des Staates zuletzt nur für die Befriedigung der nothwendigſten Bedürfniſſe des Lebens Sorge getragen wird, muß in ſpäteren Zeiten mehr und mehr Rückſicht genommen werden auf die höheren gei— ſtigen Bedürfniſſe deſſelben. Je großartiger, je erhabener die Hebel ſind, mit welchen auf die Individuen gewirkt werden kann, deſto großartiger und erhabener werden auch die Zwecke ſein, welche man zu erreichen im Stande iſt. Die Hebel der thieriſchen Triebe und niedrigen Empfindun— gen, die Hebel, welche der Erwerbtrieb, der Zerſtörungs— trieb, die Sorglichkeit und die Beifallsliebe an die Hand geben, können nicht den Schwung der Seele, diejenige Be— geiſterung hervorrufen, welche die höheren moraliſchen Em— pfindungen der Ehrerbietung, der Gewiſſenhaftigkeit, der Hoffnung u. ſ. w. begründen.

Das Charafteriftifche der thieriſchen Triebe und der nie— drigen Empfindungen iſt ihre Beſchränktheit, die höhern moraliſchen Empfindungen reichen über das Gebiet eines kleinen Theils Deutſchlands hinaus, ſie reichen von dieſer in jene Welt hinüber, ſie bilden den Gegenſatz zum Spieß— bürgerthum, welches nur immer an ſich und den kleinen Kreis denkt, in dem es ſich bewegt.

Auch die Thiere haben Erwerbtrieb, Nahrungstrieb und Zerſtörungstrieb, auch die Thiere haben Sorglichkeit und Beifallsliebe; auch die Thiere lieben ihre Jungen, allein nur der Menſch hat Gefühle für das, was ihm ferner liegt, für ein größeres Vaterland, als den heimiſchen Herd, für eine Gemeinſchaft des Geiſtes, des Strebens und des Wirkens. Wer daher den Menſchen auf den engen Kreis ſeiner Familie, ſeines Gewerbes, ſeines Dorfes oder ſeiner Stadt beſchränken will, der will ihm gerade diejenige Sphäre der Thätigkeit rauben, welche ihn über das Thier erhebt.

Im Gebiete des Strafrechts ſtehen ſich die man— nigfaltigſten Syſteme gegenüber, allein keines derſelben be— ruht auf einer Prüfung der Menſchen-Natur. Mehr oder weniger gründen ſie ſich alle auf die peinliche Halsgerichts—

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 359

ordnung Kaiſer Carl's V., welcher ſie ſich bemühten, ihre Anſichten unterzuſchieben. Die Phrenologie ſteht zu der pein— lichen Halsgerichtsordnung Kaiſer Carl's V. in einem ganz andern Verhältniſſe, als alle Strafrechts-Syſteme; ſie fin— det in dieſem Machwerke des 16. Jahrhunderts durchaus keine reine, wahre Grundidee, weder die Idee der Gerech— tigkeit, noch der Beſſerung, noch der Prävention, noch pſy— chologiſchen Zwanges; fie findet in ihr nur den Ausdruck einer finſtern, gewaltthätigen, wenig intelligenten und noch weniger moralifchen Zeit. Sie erklärt, daß auf dem Grunde eines ſolchen Geſetzbuchs durchaus kein den Bedürfniſſen der Menſchennatur entſprechendes Strafrecht gebaut werden könne. Die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiſer Carl's V. und mit ihr alle Strafgeſetzbücher neuerer Zeit beruhen auf dem brutalen Grundſatze: für das Uebel, das Verbrechen wird dem Verbrecher das Uebel, die Strafe zu Theil. Die— ſer Grundſatz iſt ebenſo unmenſchlich, als er unchriſtlich und unzweckmäßig iſt. Unſere Criminaliſten ſind um Jahrtau— ſende zurück, das Chriſtenthum wie die Humanität iſt an ihnen ſpurlos vorübergezogen; das Chriſtenthum lehrt: lie— bet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen, thut wohl Denen, die euch verfolgen. Die Humanität lehrt: es iſt ein Unglück, unter Verhältniſſen und mit Anlagen geboren zu werden, welche zum Verbrechen führen; wir ſollen Den, welcher darunter leidet, bemitleiden, aber nicht ihn verfolgen und haſſen. Die Lebenserfahrung zeigt, daß alle die Strafen, welche jetzt verhängt zu werden pflegen, den Staat nicht ſicher ſtellen, ſondern ihn mehr und mehr gefährden. Es iſt eine unter allen Criminaliſten anerkannte Thatſache: un— ſere Zuchthäuſer ſind die Pflanzſchulen der großen Verbre— cher und unſere Hinrichtungen die Veranlaſſungen zu rohen Pöbelausbrüchen und nicht ſelten zu Mordthaten.

Wir ſind Männer geworden und werden noch unter der Zuchtruthe sleich Kindern gehalten. Wir ſind Chriſten geworden und das Schwert der Rache wird noch über un— ſern Häuptern geſchwungen Wir haben Quarantainen ge—

360 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.

gen die orientaliſche Peſt gebaut, aber unſere Zuchthäuſer ſind zu Anſtalten der moraliſchen Peſt geworden, welche ſich von ihnen aus über Stadt und Land verbreitet. Wir haben Anſtalten für Irre und Kranke aller Art; allein keine, wo die gefährlichſten Irren, die moraliſch-kranken, die Ver— brecher geheilt werden könnten.

Jetzt fängt man zwar an, dieſes zu erkennen; allein man ſieht nicht den Grund des Uebels. Man bemüht ſich jetzt, die Strafanſtalten nach beſſern Syſtemen zu bauen; allein eine Strafe kann nicht nach einem andern Syſteme vollzogen werden, als demjenigen der Strafgeſetzgebung. So lange dieſes auf dem Grundſatze: „Uebel für Uebel“ beruht, auf dem Grundſatze brutaler Gewalt, ſo lange die— ſes nicht der Ausfluß der höheren moraliſchen Empfindun— gen, ſondern nur des Zerſtörungstriebs iſt, können unſere Strafanſtalten ſich weſentlich nicht beſſern.

Die Phrenologie geht von dem Grundſatze aus: das Verbrechen iſt ein Symptom geiſtiger Krankheit. Es be— weiſt, daß die thieriſchen Triebe des Verbrechers im Ver— hältniß zu ſeinen moraliſchen und intellectuellen Kräften zu ſtark ſind, daß letztere erſteren keine genügenden Gegenge— wichte entgegenſetzen. Es müſſen daher die thieriſchen Triebe geſchwächt, die moraliſchen und intellectuellen Kräfte des Verbrechers geſtärkt werden, und bevor ein richtiges Ver— hältniß zwiſchen dieſen verſchiedenen Kräften eingetreten, d. h. bevor der geiſtig Kranke hergeſtellt und dadurch un— gefährlich geworden iſt, kann er ſeine Freiheit nicht wieder erhalten.

Die große Gewalt, welche übrigens in ſolcher Weiſe dem Strafrichter eingeräumt wird, ſetzt großes Vertrauen voraus; dieſes beſitzt ein, einer beſtimmten abgeſchloſſenen Kaſte angehöriger, von der Regierung angeſtellter Beamter nicht. Dieſes kann nur frei aus dem Volke gewählten, freien und unabhängigen Männern geſchenkt werden. Je größer die Gewalt iſt, welche in ſolcher Weiſe dem Straf— richter eingeräumt wird, deſto größer müſſen daher auch die

Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte. 361

Garantieen gegen deren Misbrauch ſein. Heimlichkeit und Schriftlichkeit bieten dieſe Garantieen nicht. Nur bei öffent— lich-mündlichem Verfahren ſind daher jene Reformen mög— lich. Allerdings mag man mit Recht die Kinderſtube vor den Blicken der Welt verſchloſſen halten. Das Handeln, das Schalten und Walten des Mannes tritt zu der Stube, tritt zum Hauſe heraus. Das Thun des Mannes ſoll und muß öffentlich ſein. Ich wiederhole: wir ſind zu Männern geworden und unſere Beherrſcher haben kein Recht, uns länger in der Kinderſtube zu halten.

Unſer Proceß liegt noch in den Windeln. Es iſt an der Zeit, daß er gleich der Nation, der er angehört, zum Manne werde.

Wenn wir unſer Civilrecht ins Auge faſſen und nach den Gründen fragen, auf welchen deſſen wichtigſte Beſtim— mungen beruhen, ſo finden wir keinen andern als den Erb— gang. Weil vor Jahrhunderten dieſe oder jene Beſtimmung durch die Laune eines Rechtsgelehrten oder eines Machthabers eingeführt wurde, weil die Römer vor Jahrtauſenden dieſe Be— ſtimmung hatten, haben wir ſie jetzt unter einem andern Him— melsſtriche, unter durchaus veränderten kirchlichen und politi— ſchen Verhältniſſen. Niemand fragt, wie ſich dieſe oder jene Beſtimmung des Civilrechts paſſe zu unſern Religionsbegrif— fen, zu unſern Lebensgewohnheiten, zu unſerer geiſtigen Entwickelungsgeſchichte. Die wichtigſten, tiefeingreifendſten Beſtimmungen unſers Civilrechts wie unſers Criminalrechts haben wir lediglich deswegen, weil unſere Altvordern keine beſſeren Geſetze zu geben wußten.

Die Geſetzgebung eines Staats ſollte aus einem Stücke ſein. Unſere Geſetzgebungen ſind aus Millionen von Fleck— chen zuſammengeſetzt. Dieſe Fleckchen müſſen wir in vielen tauſend Nummern von vielen hundert Regierungs-, Pro— vinzial- und Bezirks- und ſtädtiſchen Blättern zuſammen— ſuchen. Dieſe verſchiedenen Fetzen paſſen nicht zu einander, wenn wir die Geſetzgebung des kleinſten Kleintheils Deutſch— lands ins Auge faſſen, und noch viel weniger, wenn wir

362 Ueber die Phrenologie in ihrem Verhältniß zum Rechte.

uns zu dem Gedanken einer deutſchen, einer nationalen Ge— ſetzgebung erheben. i

Einheit in der Geſetzgebung iſt nur möglich, wenn ſie ſich gründet auf die Bedürfniſſe der Menſchen-Natur. So lange man auf dieſe keine Rückſicht nimmt, werden ſich unſere Geſetzgebungen in den verſchiedenen Staaten, in den verſchiedenen Rechtsgebieten werden ſich die verſchiedenen Ge— walten deſſelben Staats ſich ſelbſt unbewußt immer befehden, ſich gegenſeitig widerſtreben, und ſo ihren eigenen wie den Intereſſen der Nation feindlich entgegentreten).

1) S. meine S. 9, Note 3 angeführten juriſtiſchen Abhand— lungen.

eat Tee x.

Die Zahlen verweifen auf die Seitenzahl.

Sch. bedeutet

Schriftſteller.

A.

Aberglaube 158.

Abnahme des Gehirns 29. 37.

Abſchließungstrieb oder Einheits— trieb 85 ff.

Abſtraktionen 222.

Abwechslung in den Unterrichts— gegenſtaͤnden 341,

Abweichungen vom vollkommenen Parallelismus der aͤußern und innern Schaͤdelflaͤche 36.

Acrel, Erwerbtrieb 113.

Aehnlichkeit der Gehirnbildung, im= mer verbunden mit Aehnlichkeit der geiſtigen Anlagen und Nei— gungen 30. in Familien, Na⸗ tionen und Raſſen 274.

Aengſtlichkeit aus Beifallsliebe 123.

Aeſop 219.

Aeußerliche Heilmittel kranker Or— gane 32.

Aeußerungsarten der Seelenvermoͤs gen 307.

Affen, ihre Kinderliebe 79. Nach: ahmung 172. Eitelkeit 125.

A Unterſchied von Leidenſchaft

Afrikaner, Gewiſſenhaftigkeit 149.

Alba, Ehrgeiz und Zerſtoͤrungs— trieb 141.

Alexander von Macedonien 326.

Allegorie 216.

Alxinger 94.

St. Ambroſius 137.

Analyſe 223. verſchiedener See— lenzuſtaͤnde 250.

St. Anaſtaſius 137.

Anatomiſche Einwendungen gegen die Phrenologie 233.

Angelika Kaufmann, Idealitaͤt 160.

Angſt 129.

Anhaͤnglichkeit oder Anſchließungs— trieb 88 ff.

Anmaßung 120.

Anmuth 161.

Anregung der Bewegung 13.

Anſchließungstrieb oder Anhaͤnglich— keitstrieb 88 ff., in Verbindung mit andern Geiſtesvermögen 91.

Anſtrengung, geiſtige, ermuͤdet nicht alle geiſtige Vermoͤgen zugleich 30. uͤbermaͤßige, ihr nachtheiliger Einfluß 47.

Antiken 57.

Antipathie 257.

Antonius der Fromme 137.

Apollonius von Rhodus 67.

Arago, Zahlenſinn 212.

Archimedes, Zahlenſinn 212.

Arioſt, Idealität 160.

Ariſtoteles 238, ſ. Staatsrecht 357.

Arnold, Sch. 4, 74.

Arndt 96.

Arterien 12, 102.

Aſiaten, Gewiſſenhaftigkeit 149.

364

Aftley Cooper 25.

Athmungsbewegung 17.

Attomyr, Sch. 9, 113.

Aufmerkſamkeit 257.

Auge, verſchiedene Lage 58. —rand in Bezug au ech Un⸗ kerſuchung 5

Ausdauer 145.

Außenſeite der Dinge, Verhältniß zur innern Seite 51, 52.

Autoritätenglaube 140.

=.

Bacon 222, feine Seelenlehre 238, Groͤße ſeines Gehirns 243.

Bautalent 164.

Bayle 180. Gegenftandfinn 187.

Behandlung der Menſchen nach ih— ren verſchiedenen Charakteren 308.

Behutſamkeit 127.

Beifallsliebe 122.

Beiſpiel, wirkt mächtig bei der Er— ziehung 345.

Bekaͤmpfungstrieb 93 ff. Verbin: dung mit andern Organen 95. in Dale auf Erziehung 346.

Bell,

mr 1319 75 98.

Berard „Gegner der Phrenologie ? 233.

Berhammer, e ſeine Verglei— chungsgabe 216.

Beſcheidenheit 139.

Beſonnenheit 129.

Beſſieres, Sch. 8

Beſtaͤndigkeit 146.

Beſtimmtheit der Handlungsweiſe 144, 146.

Bethoben, Tonſinn 177.

Bewegung und Empfindung 13 19

Bewegung, verſchiedene, bei den verſchiedenen Temperamenten 54.

Bewegungsfaͤhigkeit 48.

Bewußtloſigkeit 0 Druck auf das Gehirn 26.

Bibel, die Phrenologie ift nicht im Widerſpruch mit ihr 230.

Biber, Bautalent 165.

Bidder, Zahlenſinn 212.

Bienen, Bautalent 166.

Bigotterie 140.

27, 29, 68, 114.

Regiſter.

Bildungsgeſchichte der Menſchheit, Data daraus 32

Blumauer, Idealitaͤt 160,

Blumenbach 26.

Blut im Gehirn

Boerhave 25.

Boileau, Witz 167.

W Biſchof, Zerſtoͤrungstrieb

Bonnet, ſeine Seelenlehre 239.

Bos und gut 265.

Boͤswilligkeit der Gegner der Phre— nologie 237.

Boyeldieu, Tonſinn 177.

Brandſtiftung, 28 aug dazu 103.

Brouſſais, Sch. 8

Bruce, Robert, 17 5 Bekaͤm⸗ pfungstrieb 94.

Brunnel, Bautalent 155.

Brutus 43.

Budge, Dr., Sch. 72.

Buffon, Gegner der Phrenologie 233.

Bulwer, Kritik deſſelben 320.

Burchard 25.

Burdach 74, feine Seelenlehre 239.

Burke, Mörder 55.

Burns, Robert, 79, 85, 131.

Byron 101. Kritik deſſelben 318.

C.

Caligula 104, 133.

Callot, Geſtaltſinn 191.

Caninchen, Bautalent 165.

Caraibe, Bekaͤmpfungstrieb 94. Zur: ſtoͤrungstrieb 98. Erwerbtrieb 11}. Feſtigkeit 140. Wohlwol⸗ len 132. Vergleichungsgabe 216. Schlußvermoͤgen 221.

Carakalla, Verheimlichungstrieb 106. Wohlwollen 133.

Carl XII., ſein Geſchlechtstrieb 68.

Carl IX. Zerſtörungstrieb 98.

Carliſten in Frankreich 139.

Carlo Cigniani 69.

Carricatur 172.

Cartouche III.

Caͤſar 326. Selbſtgefuͤhl 118.

Caſtle, Sch. §, 10, 269, 298.

Caſtraten 71.

Catalani, Tonſinn 177.

Regiſter.

Catharina v. Medicis, chungstrieb 106.

Cato v. Utica, Feſtigkeit 147.

Celtiſche Nationen, ihr groͤßerer Einheitstrieb 80, groͤßere An— haͤnglichkeit 89.

Cervantes, Witz 167.

Ceyloneſiſcher Knabe, ſchwacher Be— kaͤmpfungstrieb 93. Zerſtoͤrungs— trieb 97. Sorglichkeit 127. Ge— fuͤhl fuͤr das Wunderbare 156.

Chamiſſo 76, 83, 92.

Channet 25.

Chaucer, Schlußvermoͤgen 220.

Chaymas, Volksſtamm, Zahlen— ſinn 211.

Chelius, Gewichtſinn 197.

Chevenix, Schr. 28, 32.

Chineſen, Farbenſinn 200.

Chladni's Klangfiguren 180.

Choulant, Sch. 5.

Chriſtliche phrenologiſche Geſell— ſchaft in England 230.

ER Raphael's, Ehrerbie— tung 137.

St. Chryſoſtomus 137.

Cicero 111. Feſtigkeit 147. Schluß: vermoͤgen 220.

Civilrecht, unſer deutſches, in nicht preiswuͤrdigem Zuſtand 361. Clara Fiſcher Nachahmung 171. Claude Lorrain, Farbenſinn 198.

Ortſinn 204.

Claudine Alexandrine v. Tencin, Verheimlichungstrieb 106.

Colburn, Sahlenſinn 211.

Columbus, Ortſinn 203.

Combe, G., ſeine Reiſe nach Nord— amerika 8. Schr. 6, 37, 71, 72, 81, 88, 89, 99, 115, 116, 118, 122, 130, 134 142, 147, 149, 154, 157, 162, 167, 168, 173, 180, 185, 189, 192, 195, 197, 202, 205, 207, 209, 213, 215, 220, 274, 285, 293.

211.

Combination der geiſtigen Thaͤtig— keit 242.

Commiſſuren 21, 22.

Complicirtheit, . größere des Gehirns 2

Concentrativeness 85.

Verheimli—

365

Condamine, Naturforſcher, ſein Zer— ſtoͤrungstrieb 101

Condillac, ſeine Seelenlehre 239. Schlußvermoͤgen 220.

Conſtantin, Ehrerbietung 137.

Constructiveness 164.

Cook, Ortſinn 203.

Cordonnier Srangois 117,

Corpus callosum 21. 87.

Cotta, Sch. 28.

Crebillon, Witz 168.

Crescentini, Tonſinn 177.

Crook 115.

Cruveilhier 17.

Culpa, ſchuldhafte Vergehung 232.

Cultus 141.

Curran, Ordnungsſinn 174.

Cuvier 25. Groͤße des Gehirns 242.

D.

Daͤnemark 9.

Dannecker, Bautalent 165.

Danton, Wohlwollen 133.

Darſtellungsvermoͤgen 164. theilung 61.

Daſein Gottes, von Manchen ge— leugnet 222

Delille, Idealitaͤt 160.

Demokrit, ee ee 220.

Demuth, 121, 139

Denkvermögen 214. 1 61, zerfaͤllt in Vergleichungsgabe und Schlußuvermoͤgen 34.

Des Cartes, feine Seelenlehre 239. ſein Zahlenſinn 212.

Deutſche, Verheimlichungstrieb 107. Selbſtgefuͤhl 121. Sorglichkeit 128. Ehrerbietung 142. Ton- ſinn 177. Thatſachenſinn 208.

Dichter der Freiheit 322.

Diderot, Schlußvermoͤgen 220.

Dieb, Verheimlichungstrieb 106. Erwerbtrieb Il. —organ IHM.

Diogenes, Witz 168.

Diploe 23.

eee krankhafter Ortsſinn

Dobſon, William, Geſtaltſinn 190.

Dohle, Erwerbtrieb 111. Nah— rungstrieb 115.

Dolus (abſichtliche Vergehung) 232.

Doppelte Organe, ein einfacher

Ein⸗

366

Geiſt, was durch diefe That: ſache bewieſen wird.

Druck auf das Gehirn 26, 32.

Duellſucht, aus großem Bekaͤm— pfungstrieb 93.

Dumoutier 8.

Dungliſon 73.

Dura mater 23.

Van Dyk, Geſtaltſinn 191.

E.

Ehe 76, 287 ff. Verbot derſelben 289. Erſchwerung derſelben 289.

Ehre 302.

Ehrerbietung, Organ 24. 135.

Ehrlichkeit 152.

Eiferſucht 124.

Eigenduͤnkel 120.

Eigenſinn 144, 146.

Einfachheit, edle, 151.

Einfluß der . auf die Koͤr⸗ perbewegung 33.

Einheit, behauptete, des Gehirns, widerlegt 233. des Geiſtes von den Phrenologen nicht be— ſtritten 236.

Einheit in der Geſetzgebung 362.

Einheitstrieb 24, oder Abſchlie— ßungstrieb 85.

Eintheilung d. Geiſtesvermoͤgen IS ff.

Einwendungen gegen die Phreno— logie, Widerlegung derſelben 227, widerſprechen einander 229.

Elephant, ſein Schaͤdel 37. Bau— talent 165.

Elliotſon 316.

Empfindung und Bewegung 13 ff.

Empfindungsvermögen 117, allge— meines zerfaͤllt in Wohlwollen, Ehrerbietung u. ſ. w. 34. Eins theilung 60. Empfindungsver— moͤgen zu oft bei der Erziehung vernachlaͤſſigt 342.

Energie kein Grundvermoͤgen 251.

England 5.

Englaͤnder, Verheimlichungstrieb 107. Selbſtgefuͤhl 118. Sorg— lichkeit 128. Gewiſſenhaftigkeit 149. Tonſinn 177. Thatſachen— ſinn 208.

W der Handlungsweiſe

Regiſter.

Entſtellungen der Grundſaͤtze der Phrenologie 231.

Entwickelung der Geiſteskraͤfte, uͤber— einſtimmend mit der Entwickelung ihrer Organe 28.

Entwickelungsgang d. Nationen 329.

Erektionen bei Erhaͤngten 72.

Erfahrung, Grundlage der Phre— nologie 228

Ergebung 139.

Erkenntnißvermoͤgen 186, Einthei— lung 61.

Erwerbtrieb 110. mit Ruͤckſicht auf Erziehung 347.

Erziehung 32. Die Phrenologie in ihrem Verhaͤltniß zu derſel— ben 332. verſchieden je nach Verſchiedenheit der Temperamente

Eskimaux, Geſchlechtstrieb 68. Kin— erliebe 80. Gewiſſenhaftigkeit 149. Ordnungsſinn 175.

Eſſer, Advocat, Farbenſinn 199.

Eugen Aram, Kritik 320.

Euklides, Zahlenſinn 212.

Euler, Zahlenſinn 212.

Euripides 160.

Europas politiſche und kirchliche Geſtaltung 293.

Europaͤer, Gewiſſenhaftigkeit 149.

Euſtache, Wohlwollen 131.

F.

Faͤhigkeiten 54, 186.

Farbenſinn 198.

Faſſung 154.

Fatalismus 236.

Feigheit aus kleinem Bekaͤmpfungs— trieb, ſ. d.

Ferrareſe, Sch. 8.

Feſtigkeit 24, 143.

Fichte, Schlußvermoͤgen 220.

Fixe Ideen 50.

Fleiſchgenuß 103.

Flourens 71.

Fornix 22.

Fortſchritte, theilweiſe, des Gei— ſtes 33.

Foſſati 8. Foͤtus ſ. Gehirn 19. Frangois, genannt Cordonnier,

Idealitaͤt 160.

Regiſter.

Franz I. von Frankreich, Gewiſ— ſenhaftigkeit 152.

Franzoſen, Verheimlichungstrieb 107. Selbſtgefuͤhl 118. Sorg— lichkeit 128. Tonſinn 177. That⸗ fachenfinn 208. Vergleichungs— gabe 216.

Freiheit, geiſtige, 39 ff., innere, Grundlage der aͤußern 322. des Willens 236.

Freude 250.

Freudenmaͤdchen, Geſchlechtstriebbs.

Freundſchaft 89, verſchiedener Sinn des Worts 301.

Frivolitaͤt 78.

Friedrich der Große 326.

Friedrich von Oeſterreich 152.

Frohſinn 154.

Fuchs, Verheimlichungstrieb 106. Sorglichkeit 129.

G.

Gaben 214.

Galilei 8. Ortſinn 203. Schluß⸗ vermoͤgen 220.

Gall, Geſtaltſinn 193. Geſchichte ſeiner Entdeckung 3 ff. Geburt 3. Vorleſungen 4. Tod. 5. Sch. 4, 5, 6, 23, 25, 27, 29, 37, 58, 59, 71, 72, 73, SJ, 89, 95, 99, 103, 104, 113, 118, 119, 122, 125, 130, 134, 142, 147, 160, 167, 168, 173, 178, 182, 189, 191, 198,205,209, 215,220,225.

Ganglien 14.

Gans, Sorglichkeit 128.

Garrick, Nachahmung 172.

Gauthier, Zerſtoͤrungstrieb 103.

Gebet 139.

Gedaͤchtniß 24, allgemeines zerfaͤllt in verſchiedene einzelne Gedaͤchtniſſe 34. kein Grundvermoͤgen 251.

Geduld 250.

Gefallſucht 123.

Geflechte (Nerven) 15.

Gefraͤßigkeit 116.

Gefühle 117.

Gegenliebe 133.

Gegenſtandſinn 189.

Gehirn 11, 15. Beſchreibung 18 ff. Centralorgan des Geiſtes 25, ſeine Geſundheit 48, fein Pulſiren ſicht—

367

bar 26. Gehirn eine Mehr— heit von Geiſtesorganen 27, ſeine Abnahme 29. Kleines 19, 66 ff., nicht blos Organ des Ge— ſchlechtstriebs 71.

Gehorſam keine Tugend 265.

Geifterglaube 156.

Geiſtesgegenwart, durch Einheits— trieb bedingt 88.

Geiſteskrankheiten 19. zweierlei Arten, mehr koͤrperlicher oder mehr geiſtiger Natur, ihre Er— kenntniß 313.

Geiſtesthaͤtigkeit ohne Gehirnthaͤ— tigkeit nicht denkbar 26.

Geiſtige Getraͤnke 334.

Geiz 112.

Geizhals, alter, 108.

Gemſe 118. Sorglichkeit 128.

Genialitaͤt 265, partielle 31.

Georg III., Gegenſtandſinn 189.

Georges Sand, Kritik 321.

Gerechtigkeit 149.

Geſchichte der Menſchheit, Verhaͤlt— niß der Phrenologie zu ihr 325.

Geſchlechtstheile nicht der Sitz des Geſchlechtstriebs 70.

Geſchlechtstrieb 66, ſpaͤtere Ent— wickelung 68, ſein Einfluß auf das Gemuͤth 75, ſeine Verbin— dung mit andern Organen 77.

Geſchmack, guter 161, 257.

Geſetze der geiſtigen Thaͤtigkeit 242.

Geßner, Idealitaͤt 160.

Geſtalt des Kopfs im Allgemeinen, ihre Bedeutung 244.

Geſtaltſinn 190.

Geſundheit des Gehirns 48.

Geſundheit des Koͤrpers, die erſte Bedingung der Geſundheit des Geiſtes 332.

Geſundheitsverhaͤltniſſe, ihr Ein—

49.

Gewandtheit 48.

Gewichtſinn 195. Gewiſſenhaftigkeit 147. Gewiſſensbiß 151.

Gewohnheit 257.

Glaube an Erſcheinungen 156. Sau an Unſterblichkeit, an Gott

Gleichniß 216.

368

Gleizes, Sch 333.

Gluck, Tonſinn 177.

Goethe 29, 76, 77. Groͤße des Ge— hirns 243. Idealitaͤt 160. Ver: n 216.

Gott 141.

Gottfried, Giftmiſcherin 98, 102.

Gotz v. Berlichingen, Bekämpfungs⸗ trieb 95.

een der geiſtigen Thaͤtigkeit

Grade der Groͤße der Organe, am beſten durch Zahlen beſtimmt 56.

Grauſamkeit 100.

Graue Subſtanz 20.

Greiſenalter 284.

Grenzen der Organe, ihre Nicht— nachweisbarkeit ſpricht nicht ge— gen die Phrenologie 234.

Griechen, alte, großer Bekaͤmpfungs— trieb 94. Gefühl für das Wun— 1 156. Conſtructionstalent

Griffiths, Mörder 131.

Grohmann, Sch. 10.

Groͤße des Gehirns und einzelner Organe 243

Groͤße eines Geiſtesorgans, ein Maß— ftab feiner Kraft 34. über: haupt ein Maßſtab der Kraft 34.

X Größen, Rechnungen der Phi: loſophen damit 63.

Groͤßenſinn 193.

Grund und Folge 223.

Grundkraͤfte des menſchlichen Gei— ſtes 24.

Grundlehren der Phrenologie 24.

Guſtav Adolph, Ehrerbietung 138.

Gut und boͤs 265.

H. van der Haer 67 Habſucht 112. Hackert, Ortſinn 204. Bagger, David, Gewiſſenhaftig— keit 147. Haller 25. Halsgerich tsordnung 5 Carl's V. 142, 359. Halsſtarrigkeit 146. Hamſter, Erwerbtrieb 111. rungstrieb 115.

peinliche,

Nah⸗

Regiſter.

Handel, Tonſinn 176.

Hare der Moͤrder 55.

Harmoniſches Zuſammenwirken der Geiſteskraͤfte, Hauptzweck der Er— ziehung 343.

Hartmann, ſeine Seelenlehre 239.

Hartwick 71

Haydn, Tonſinn 176.

Hegel, ſeine Seelenlehre 239.

Heidelberg, Combe's Vorleſungen daſelbſt 10.

Heilige, Ehrerbietung 137.

Heilkunde, Verhaͤltniß der Phre— nologie zu ihr

Heilmittel, außerliche, kranker Or- gane 32.

Heimathsliebe 85.

Heinroth, feine Seelenlehre 239. Heinrich IV., Wohlwollen 133. Witz 168. Vergleichungsgabe 216.

Heiterkeit 133, 154.

Hemiſphaͤren 28.

Herodes der Große 72.

Herſchel, Bautalent 165. Zahlen— ſinn 212.

Herrſchſucht 125.

Herzensguͤte 132.

Hette, Dr., 135.

Heuſinger 73.

Hindus, Bekaͤmpfungstrieb 94. Ver⸗ heimlichungstrieb 105. Ehrer⸗ an 136. Vergleichungsgabe

Hippokrates 69.

Hirnwindungen, die vordern klei— ner als die hintern 59.

Hirſchfeld 67, 71.

Hobbes, ſeine Seelenlehre 239.

Hochmuth 120.

Hode 70.

Höflichkeit, Alltags: ,

Hoffnung 153

Homer, Idealitaͤt

Hoppe, Sch. 9, 115.

Horaz, Witz 168.

Hugo, Victor, 101.

Lol, Alexander v., Ortſinn 203.

Humboldt, Karl Wilhelm v., Ord— ren, 174.

Hume, Vergleichungsgabe 216.

Humor 107.

125, 133.

Negifter.

Hund, Erwerbtrieb 111. Bauta— lent 165. Beifallsliebe 125. Hunger, verſchieden von Eßluſt 111.

Huygens, Zahlenſinn 212.

Fr Jagemann und Noͤllner, Zeitſchrift 105.

Jakob Jervis, Nachahmung 171.

Jakobiten in England 139.

Idiotismus, partieller, 31, 35.

Idealitaͤt 160.

Ideenfolge 257.

Jeidiah Buxton, Zahlenſinn 212.

Impuls zur Handlung geht haupt— ſaͤchlich von den Gefuͤhlen aus 60.

Incoherence 50.

Indianer, nordamerikaniſcher 85.

Intelligenz 59,

Intoleranz 139.

St. Johannes 137.

Joſeph und Potiphar 69.

Joſephus, Sch. 72.

Jones, Groͤßenſinn und Gewicht— ſinn 108.

Italien 8.

Italiener, Verheimlichungstrieb 107. Tonſinn 177.

Juͤnglingsalter 279.

. Gegner der Phrenologie

Juſtinus Kerner 299. Juvenal, Witz 168.

K.

Kalmuͤcken, Erwerbtrieb III.

Kant, ſein Geſchlechtstrieb 68. Schlußvermoͤgen 220, 222; ſeine Seelenlehre 239.

Karl der Große 326.

Katharina v. Medicis, Zerſtoͤrungs— trieb 98.

Katze, Verheimlichungstrieb 106.

Kegelgeſtalt der Organe 22.

Kepler, Ortſinn 103. Jahlenſinn 212.

Keuſchheit 265.

Kinderliebe 79. Krankheit des Or— gans SI. Unterſchied von an— dern Seelenthaͤtigkeiten SI, auf Thiere uͤbertragen 83.

369

Kinder, große Sorglichkeit 128.

Kindesalter 276.

Kindesmoͤrderinnen 80.

Kirchliche Geſtaltung Europas 293.

Kleinheit des Gehirns 243, bedeu— tende des Gehirns Urſache des Bloͤdſinns 35.

Kleinlichkeit 152.

Klima 32.

Klopſtock, Ehrerbietung 138, 142. Idealitaͤt 160.

Klugheit 129.

Knipperdolling, Zerſtoͤrungstrieb 98.

Knochen des Schaͤdels 22.

Koͤnigsfeld, Dr. 85, 88.

Koͤrner, Theodor 96.

Koͤrperbeſchaffenheit uͤberhaupt be— ſtimmt die Beſchaffenheit des Ge— hirns 41.

Koͤrperwelt, Organ fuͤr ſie 62.

Kraft eines Geiſtesvermoͤgens ent— ſpricht unter uͤbrigens gleichen Umſtaͤnden der Groͤße ſeines Or— gans 34.

Kraͤfte, phyſiſche und geiſtige, ihre Geſetze und Beziehungen 40 f.

Krankheit 49.

Krankheiten des Gehirns, verſchie— dene 50.

Kranich, Sorglichkeit 128.

Kranioſkopie, ihre Anwendung 299

Kreuzung der Faſern 14.

Kummer 250.

Kunſt, bildende, Grundſatze der Phrenologie fuͤr dieſelbe 323 f. Kunſt, Verhaͤltniß der Phrenologie

zu ihr 317 ff.

L. . 219, Schlußvermoͤgen 220. Lafontaine, Vergleichungsvermoͤgen 216, 219. R Lagrange, Zahlenſinn 212. Lambdanaht 24. Lambert, Sch. 265. Laplace, Zahlenſinn 212. Laſter 265. Lauvergne, Sch. 309. Lavalette 92. Lavater, Ehrerbietung 138. Be— merkung uͤber Feſtigkeit 143. 24

370

Leben, Verhaͤltniß der Phrenologie zu ihm 308. 15 ;

Lebensliebe 250.

Leidenſchaft 250.

Leibnitz, Zahlenſinn 212. Schluß— vermoͤgen 220.

Leichtigkeit geiſtiger Bewegung 48.

Leichtglaͤubigkeit 155.

Lélut 229.

Lendennerven 17.

Lichtenberg 27.

Liebe, in verſchiedenem Sinne ge— brauchtes Wort 300 f.

Linke Hemiſphaͤre, Verhaͤltniß der Organe zu denen der rechten 235.

Linn der Moͤrder 66.

Liſt 302.

Liſton, Robert, BekämpfungstriebY4.

Literatur, phrenologiſche, 7.

Locke, ſeine Seelenlehre 230. Schluß⸗ vermoͤgen 220.

Lucian, Witz 168.

Ludwig der Baier, Gewiſſenhaftig— keit 152.

Ludwig XIV., Ehrerbietung und Zerſtoͤrungstrieb 141.

Ludwig XIV. und XV. von Frank— reich 221.

Luftgenuß mit Ruͤckſicht auf Erzie— hung 334.

Luſt 250.

Luxus 126.

M.

Magen, Werkzeug des Nahrungs— triebs 114.

Magendie 71.

Mandaras Wanderungen 333.

Mangelhaftigkeit der Eintheilung der Geiſtesvermoͤgen 65.

Mannesalter 282.

Mantelli, Zahlenſinn 211.

Marc Aurel, Wohlwollen 133.

Markſubſtanz 20.

Maria J. von England, Zerſtoͤ— rungstrieb 98.

Marſhall Hall 17.

Mary Macineß, Beiſpiel der Anz haͤnglichkeit 90.

Maͤßigung 150.

Materialismus 236.

Materielle Genuͤſſe 334.

Regiſter.

Mathurin, Witz 168.

Mayer, Ortſinn 202.

Mayer 25.

1 HEER Kuͤnſte, Talent dafuͤr

Mechaniſcher Zwang, ſeine Entfer— fernung bei Behandlung der Ir— ren 315.

Mediciner, Gegner der Phrenolo— gie 231.

Mehrheit der Geiſtesorgane 27.

Melancholie 130.

Melanchthon 55.

Mendelsſohn, Schlußvermoͤgen 220.

Menſch, Empfindungsnerven zahl: reicher als Bewegungsnerven 35.

Menſchenverſtand, geſunder, 257.

Metapher 216.

Meyer, Dr., Ed. 231.

Michel Angelo, Bautalent 165. Gegenſtandſinn 186.

Milanollo, Schweſtern, Tonſinn 177.

Milne, Farbenſinn 199.

Milton. Idealitaͤt 160.

Mirabeau, Geſchlechtstrieb ‚68.

Mittermaier, Sch. 9.

Mode 173.

Modificationen des Seelenlebens 243.

Moliere 219.

Monomanie 50, wie bisweilen ge— heilt 32.

Montaigne, Schlußvermoͤgen 229.

Montegre, Gegner der Phrenolo— gie 233.

Montesquieu 42.

Moral, Verhaͤltniß der Phrenolo— gie zu ihr 348.

Mordſinn (Zerſtoͤrungstrieb) 98, 103. Moore, Thomas, Thatſachenſinn 208. Vergleichungsgabe 216.

Moſes 141.

Mozart, Tonſinn 177.

Müller, Joh., 72, 201, feine See: lenlehre 239.

in Kupferftecher, Bautalent

69.

Mungo Park, Ortſinn 203.

Muſik 179

Muſikaliſche Traͤume 177.

Muskeln, wo am Kopf bei phre— nologiſchen Unterſuchungen zu be— ruͤckſichtigen 57.

Regiſter.

Muth, verſchiedener Sinn des Worts 301, ſ. Bekaͤmpfungstrieb.

N.

Nachahmungstalent 171.

Nachgiebigkeit 133.

Nächſtenliebe 134.

Nacken, ſeine Dicke ein Maß des Geſchlechtstriebs 67.

Nackennerven 17.

Nahrungstrieb 113, in Hinſicht auf Erziehung 345.

Napoleon 5, Groͤße ſeines Gehirns 243, ſein Bekaͤmpfungstrieb 95, Verheimlichungstrieb 108, Selbſt— 4% 0 118, Gewiſſenhaftigkeit

52.

Naͤthe des Schaͤdels 23.

Naturbeobachtung, Grundlage der Phrenologie 228.

Neger, Ehrerbietung 136. Ton⸗ ſinn 177. Zahlenſinn 211.

Neid 124.

Nero 104. Wohlwollen 133.

Nerven freiwilliger Bewegung mit dem vordern Gehirnlappen in Ver— bindung 59. der Empfindung mit dem mittlern und hintern Gehirnlappen in Verbindung 59. Nervenſyſtem, Beſchreibung 11. Nervenknoten 14.

Neuhollaͤnder, Erwerbtrieb III. Bautalent 164.

Neuſuͤdwales, Eingeborne, Gefuͤhl für das Wunderbare 197. Baus talent 165.

Newton, Geſchlechtstrieb 69. Ort: ſinn 203. Zahlenſinn 212.

Niedrigkeit 151.

Noel, Sch. 9, 83.

Non-restraint- Syftem bei Be— handlung der Irren 315.

Nordamerika 5, 7.

Nordamerikaniſche Wilden, Ver— heimlichungstrieb 106. Beifalls— liebe 122. Wohlwollen 132. Ehr⸗ erbietung 137.

O.

Ochs, Bewegungsnerven zahlrei— cher als Empfindungsnerven 25. Oeffentlichkeit 109 f.

371

Oeffentliches Strafverfahren noth— wendig 361. e als Orientirungspunkt

Olbers, Zahlenſinn 212. Operateur 197. Orbitalrand 20. Ordnungstalent 174. Organe des Gehirns 22. Orientirungspunkte 55. Ormerod, Anna, Tonſinn 177, Ortſinn 202.

Otaheiter Tonſinn 177.

Otto, Sch. 9

Ovid, Idealitaͤt 160.

P.

Paer, Tonſinn 177.

Pantomime 173. Pantomimiſche Bewegungen 53

Papagei, Nachahmung 172

Parrhaſius und Zeuxis 192.

Paskal 219.

Paſſivitaͤt iſt niemals Tugend 265.

Pathologie des Gehirns 50.

Paulus, Apoſtel, 134.

Patienten, Erkenntniß ihrer Cha— raktere 312.

Pedant 184.

Peinliche Halsgerichtsordnung Kat: ſer Karl's V., verwerflich 359.

Perſonification 189.

Perſpektive 193.

Pfarrer M. 66.

Peruaner 79, Bekaͤmpfungstrieb 94, Gefuͤhl fuͤr das Wunderbare 157.

Pfeilnath 84.

Pferd, Bewegungsnerven zahlrei— cher als Empfindungsnerven 35. Beifasliebe 125. Bautalent 165.

Pflichtgefuͤhl 150.

Philipp II., Ehrerbietung und Zer— ſtoͤrungstrieb 98, 141.

Phrenologie, Einfluß auf andere Wiſſenſchaften 7. Definition 10, ihre Grundlehren 24.

Phrenomagnetismus 316.

Phrenological Journal 27, 30, 34, 57, 59, 72, 103, 110, 160, 178.

Philoſopie, die Kant's, Hegel's, Schelling's, im Widerſpruche mit der Phrenologie 228. Philoſo—

372 Negifter.

pbie, 15 u zur Phre⸗ nologie 2

Abe 50.

Phyſiologie, ihr ine zur Phrenologie 231, 237.

Phyſiologiſche Einwendungen gegen die Phrenologie 238.

Phyſiſche 19 als Mittel zur Erziehung 3

Pia mater 32.

Picard III.

Pindar, Idealitaͤt 160.

Pinel 102.

Piron, Witz 168.

i Geſchlechtstrieb 68.

Pitt, W., Vergleichungsgabe 216

Platon 238, Staatsrecht 317.

Plexus 14.

Politiſche Geſtaltung Europas 293.

Porphyrii de abstinentia ab ani- malibus necandis libr. IV. 333.

Prachtliebe 126.

Preßfreiheit 110.

Processus mastoideus 66.

Prochaska, Sch. 103.

Protuberantia occipitalis 79.

Prozeß, unſer deutſcher, „liegt noch in den Windeln“ 361.

Pulſiren des Gehirns, ſichtbar. 26.

O.

Qualität des Gehirns 41 f. Qua⸗ 2355 und Quantitaͤt des Gehirns

N.

Rabelais, Witz 167.

Rabener, Witz 168.

Raſſen der Menſchen, ihre verſchie— denen Zuſtaͤnde 290 ff.

Raiſonnirende Monomanie 315.

Raphael, Bautalent 165.

Raſtloſigkeit 145.

Raumſinn 193.

Raufſinn (Bekaͤmpfungstrieb) 93.

Ravaillac, Zerſtoͤrungstrieb 98.

Recht, Verhaͤltniß der Phrenologie zu ihm 354.

Rechte Hemiſphaͤre, Verhaͤltniß ih— rer Organe zu denen der linken 235.

Rechte und linke Seite 21.

Regionen des Kopfes 55.

Regnier, Witz 108.

Regulus, Gewiſſenhaftigteit 152.

Regungen, verſchiedene, des Geiſtes zu gleicher Zeit 32.

Reichard, Tonſinn 177.

Reinlichkeit 175.

Reiſeluſt 205.

Rembrandt, Farbenſinn 198.

Religion, Religioſitaͤt 135. Ver:

e der Phrenologie zu ihr 351.

Retina 13.

Retzer, Brief an ihn 4.

Reue 151, 271.

Revolution, franzöſiſche, 221.

Richard n Zerſtörungs⸗ trieb 98.

Richerand 26.

Richter, Jean Paul, Witz 167. Kritik 316. 322.

Rigoni 8.

Rindenſubſtanz 20.

Robespierre, Wohlwollen 133

Roſſini 177.

Roß, Capitain, 80.

Rouſſeau 91

Rubens, Farbenſinn 198.

Rückenmark 14, verlängertes 16, 21.

Ruͤckennerven 17.

Ruͤckſichtsloſigkeit 124.

Ruͤckſchritte des Geiſtes, theilweiſe 33.

Ruͤſſel des Elephanten, ſeine Em— pfindungsnerven 35.

Ruhmſucht 126.

Rumpelt, Sch. TI.

S.

Sachſinn 189.

Salvator Roſa, Farbenſinn 198.

Saurin, Stehlſucht 112.

Sauvage de l'Aveyron 174.

Schaͤdel 18, deffen äußere Ober: fläche entſpricht in der Regel der innern 36. nicht Gegenſtand der Phrenologie 238.

Schaͤdellehre, Verhaͤltniß der Phre— nologie zu ihr 237.

Schaf, Nahrungstrieb 115.

Schamgefuͤhl 265.

Scharfſinn 217.

Schauſpieler 107. Nachahmung 172.

Negifter.

Scheidungslinien der Organe noch keine entdeckt 22.

Scheidler, ſeine Seelenlehre 239

Schelling, ſ. Philoſophie 228.

Scheltworte, als Mittel zur Er— ziehung 344.

Scherz 167.

Schiller 75, 77. Idealitaͤt 160. Sch. 155. 162. Groͤße des Ge— hirns 243.

Schinderhannes 102, IM.

Schlaf 265, 33.

. 220.

Schmerz 250.

Schoͤnberger, Maler, Ortſinn 202.

Schoͤnheitsgefuͤhl 160.

Schottland 5, 7.

. e Gewiſſenhaftigkeit

AU

Schranken der Gefühle 145.

Schrecken 129.

Schriftſteller, unterſchied ihres Ein— heitstriebs 86.

Schubert, ſeine Seelenlehre 239.

Schwaͤrmer 156

nenden; geiſtige, 32.

Schwerz 9

Schwein, ſein Schaͤdel 37.

Schwerkraft und Schwungkraft 51.

Schwierigkeit phrenologiſcher Beo— bachtung 58.

Schwindel 197.

Schwungkraft, ihr Sitz 195.

Scrupuloſitaͤt 152.

Seekrankheit 197.

Seelenfrieden 151.

Seelengroͤße 151.

Seelenlehre, alte, Verhaͤltniß der Phrenologie zu ihr 237.

Selbſtaufopferung 134.

Selbſtbewußtſein kein Grundver— moͤgen 251.

Selbſtgefuͤhl 24, 117.

Selbſtmord 104.

Selbſtpeinigung 152.

Selbſtſtaͤndigkeit und Unſelbſtſtaͤn— digkeit 265.

Selbſtuͤberſchaͤtzung 120.

Selbſtvertrauen, geſtoͤrtes,

Seneka 141.

Senſitivitaͤt 59.

119.

373

en Severus, Zerſtoͤrungs— trieb 9

Serres 73

Shakeſpeare, Idealitaͤt 160. Groͤße des Gehirns 243. Kritik 322.

Shelley, Queen Mab 333.

Sheridan, Thatſachenſinn 212. Ver— gleichungsgabe 216.

Simpſon 116. Singtalent des Maͤnnchens der Sing— voͤgel fehlt dem Weibchen 34.

Singvoͤgel, Tonſinn 177.

Sinne, die, des Menſchen 39; Er— klaͤrung derſelben 39.

Sinnlichkeit 60.

Sinus frontalis, ſ. Stirnhoͤhle.

Sittenverderbniß dieſer Zeit 349.

Sokrates, Bautalent 166. Schluß⸗ vermoͤgen 220.

Solon 219.

Soͤmmerring 25.

Sophokles, Idealitaͤt 160.

Sorglichkeit 127.

Spanier, Tonſinn 177.

Specialitaͤt 27, 31.

Speculation 10, 24 f.

Spieler, Hoffnung 154.

Spina cruciata 66.

Sprachtalent 180.

Spurzheim 5. Sch. 6, 27, 41,58, 59, 68, 71, 81, 80, 99, 11 134, 14²⁴ 149, 167, 168, 169, „189, 192, 195, 207, 209, 210,

154, 173, 197, 115

122, 157, 180, 202 220.

Staatsrecht und die Phrenologie 357.

Staar, Sorglichkeit 128.

Stair, Lord, witzige Anekdote 169.

Statik 196.

Stehlſucht 112.

Steinbock 118.

Stephan I. von Ungarn, Ehrerbie— tung 168

Sterne, Witz 167.

Stirnhöhle 24, 37, 57.

Stirnnaht 24.

Stolz bei einem Bettler 118.

Storch, Erwerbtrieb II].

Stortzenbecker, Erwerbtrieb 111.

Strafanſtalten, ihr betruͤbender Zu— ſtand 359 f.

130,

25

374

Strafrecht und die Phrenologie 358

Struve, Sch. 9, 31, 44, 48, 67, 230, 250, 293, 362.

Sully, Zahlenſinn 212.

Swieten, van, 25.

Swift, Witz 167.

Sylla, Zerſtoͤrungstrieb 98.

Sympathie 174, und Antipathie 257.

Syntheſe 223.

Synthetiſche Seelenlehre, Verhält: niß zur analytiſchen 242 ff.

T.

Tabak mit Ruͤckſicht auf Erziehung

Tadelſucht 120.

Takt, richtiger, 257.

Taktgefuͤhl 206.

Talente, Eintheilung 64.

Talente 164.

Tardy, Moͤrder und Seeraͤuber 97.

Taſſo, Wunderglaube 157. Idea⸗ litaͤt 160.

Taſtezirkel 56.

Taube, Sorglichkeit 129.

Taube und Taubſtumme 181.

Temperament, deſſen Einfluß 41; nervoͤſes, ſanguiniſches, lympha— tiſches, phlegmatiſches, deren Kenn: zeichen 42 ff. ſelten unvermiſcht 44. Einfluß deſſelben mit Koͤr⸗ perbewegung 54. Verhaͤltniß der: ſelben zu den einzelnen Organen des Gehirns 247 f.

Termiten, Bautalent 166.

Thaͤtigkeit der Geiſtesorgane wird hervorgerufen durch das Bieten der ihnen entſprechenden Gegen— ſtaͤnde 45 f.; verſchiedene Geſetze der Thaͤtigkeit 46 f.

Thatſachenſinn 207.

Themiſtokles 126.

Theologen, Gegner der Phrenolo— gie 230.

Thiere, ihre Stufenleiter 17.

Thierquaͤlerei 101.

Tiberius, Wohlwollen 133.

Tiedemann 69. Sch. 19.

Tiefe der Stirn von vorn nach hin— ten 56.

Tiger, Verheimlichungstrieb 106.

Tintorelli, Geſtaltſinn 191.

Regiſter.

Tiſſot 67.

Titian, Farbenſinn 198.

Tonſinn 176.

Tracy, ſeine Seelenlehre 239.

Traͤgheit ſteht der Anerkennung der Phrenologie im Wege 228.

Trajan, Wohlwollen 133.

Traum 265. Traumwelt 33.

Trieb 60.

Tugend 265.

Tunica arachnoidea 23.

Tycho de Brahe, Ortſinn 203.

U.

Uccelli, Sch. 8.

Ueberanſtrengung des Geiſtes mit Ruͤckſicht auf Erziehung 340 f.

Uebereinſtimmung der Entwickelung der Geiſteskraͤfte mit der Ent— wickelung ihrer Organe 28.

Uebung, Einfluß der Uebung der Geiſtesvermoͤgen 44 ff.; wie weit ſie die Kraft eines Vermoͤgens ſteigern kann 47; phrenologiſche 57; des Körpers und des Ge— hirns oder des Geiſtes 338.

Unbehaglichkeit 250.

Unbeſtaͤndigkeit 146.

Unbeugſamkeit 145.

Ungeduld 250.

Unkenntniß der Phrenologie, die ein— zige Quelle der Einwendungen gegen ſie 228.

Unluſt 250.

Unmuͤndigkeit des Geiſtes 121.

Unparteilichkeit 150.

Unproductivitaͤt unſerer Zeit 349.

Unregelmaͤßige Kopfbildung 58.

Unterberger, Maler, Bautalent 165.

Unterricht, phrenologiſch geleitet 8.

Unterſchied, wie groß in der Ent— wickelung der Organe des Gei— ſtes 36.

Unthaͤtigkeit der geiſtigen Vermoͤ— gen, ihre Folgen 48.

Unwiſſenheit der Gegner der Phre— nologie 237.

Urſache und Wirkung 223.

Negifter.

V.

Vasco di Gama, Ortſinn 203.

Vega, Zahlenſinn 209.

Venen 12.

Verachtung 120.

Verbindung, innige des Geiſtes und Gehirns. der Organe 244 ff.

Verbrecher, Idealitaͤt 161.

Verbrechen iſt Symptom geiſtiger Krankheit 360.

Verehrung des Alten 140.

Vergleichungsgabe 215.

Verhaͤltniß der Gehirnmaſſe zur Nervenmenge 53. der Phre— nologie zum Leben 303. der Phrenol. zur Heilkunde 309. der Phrenol. zur Kunſt 316. der Phrenol. zur Geſchichte der Menſchheit 325. der Phre— nol. zur Erziehung 332. der Phrenol. zur Moral 348. der Phrenol. zur Religion 351. der Phrenolog. zum Rechte 354.

Verheimlichungstrieb 105. mit Ruͤckſicht auf Erziehung 347.

Vrletzung des Gehirns, partielle, 32. Verletzung eines oder beider Organe 235.

Vernet, Ortſinn 204.

Vernunft 265.

Verſchiedenartigkeit der Gehirnbil— dung, immer verbunden mit Ver— ſchiedenheit der geiſtigen Anlagen und Neigungen 30. der Ge— ſetze in Deutſchland 356.

Verſchiedenheit, angeborne, der Gei— ſteskraͤfte 3, 34. geiſtige des maͤnnlichen und weiblichen Ge— ſchlechts und ihre Erklaͤrung 30.

Verſchneiden, Einfluß auf den Nak— ken der Thiere 70.

Verſoͤhnlichkeit 133.

Verſuche an lebenden Thieren (Vi— viſektionen) koͤnnen nicht gegen die Phrenologie ſprechen 235.

Vertrauen 154.

Vimont, Sch. 8, 72, 86, 98.

Victor Amadeus J., Erwerbtrieb 112.

Virgil, Idealitaͤt 160.

375

Viſionen 156.

Voiſin 8.

Voltaire, Idealitaͤt 160, Witz 167. Vorſicht 129.

W.

Wahnſinn, partieller 31, 33.

Wahrheitsliebe 149.

Walter Scott, Ortſinn 203. That— fachenfinn 208.

Waſſerkopf 23.

Weihe, Sorglichkeit 128.

Weiße Subſtanz 20.

Wieland, Witz 168.

Wien 4, 5.

Widerlegung der Einwendungen ge— gen die Phrenologie 227.

Wilde, Beifallsliebe 125. Gewiſ— ſenhaftigkeit 149.

Wilkie, Farbenſinn 198.

Willensfreiheit 136, 257.

Willenskraft 25, 257.

Windungen des Gehirns 18.

Wirbelthiere 14.

Witz 167

Wohlwollen 24. 131.

Worthalten 153.

Wortſinn 180.

Wunderbare, Gefuͤhl fuͤr das, 156.

Wurmſer, General, Bekaͤmpfungs— trieb 93.

3.

Zahlen, als Gradbeſtimmungen der Organe 56.

Zahlenſinn 210.

Zarlenga 8.

Zeitſchriften, engliſche, der Phre— nologie guͤnſtig 7.

Zeitſchrift fuͤr Phrenologie 21, 50, 53, 69, 105, 113, 140, 173, 178, 181, 228, 229, 231, 235, 294, 299, 315, 316, 325.

Zeitſinn 205.

Zerſtoͤrungstrieb 97 ff.

Zeugung 271.

Zierlichkeit 175.

Zimmermann, der Weg zum Pa— radies 333.

376 Regiſter.

Zoiſt, engliſche phrenologifche Zeit- Zuſammenſetzungstalent 164. ſchrift 316. Zuſammenwirken der verſchiedenen

Zugvoͤgel, Ortſinn 203. phyſiſchen und geiftigen Kräfte Al. Zuͤmpferlichkeit 78. - Zuſtaͤnde der Einzelnen 250. der Zumſteeg, Tonſinn 177. Familie 287. der verſchiede— Zuneigung 133. nen Menſchenraſſen 291 ff.

Zuſammenhang der Geiſtesverrich- Zweck unſeres Lebens 46. tungen 50.

ee nee 8

/ $. 23 S. 152 3. 5 von unten ſtatt „Ludwig der Baier, als er in die Gefangen— ſchaft feines Gegenkaiſers Friedrich's von Oeſterreich zurückkehrte“, lies: „Friedrich

von Oeſterreich, als er in die Gefangenſchaft ſeines Gegenkaiſers Ludwig des Baiern zurückkehrte.“

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig

. * 7 4 De: 1 1

Accession no.

Author t ruve, G. v. Handbuch der

Phrenologie.

Ich cent Call no 5870 887 1845