in All 11! 111 illl iimwv' IIP j{ Jini •; i) Ji I: hhUn ? li III m WH ;fj||j PI i u f|||||i; §11 II iiiiiii- $ illiil j HI 18 iil Hill PlIi'sllonaVHji 11 lli iil I ilf lii I Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Dritter Band. Handwörterbuch VOL der Naturwissenschaften Herausgegeben von Prof. Dr. E. KorSChelt-Marburg Prof. Dr. G. Linck-Jena (Zoologie) (Mineralogie und Geologie) Prof. Dr. F. OltmannS-Freiburg (Botanik) Prof. Dr. K. Schaum-Leipzig Prof. Dr. H. Th. Simon-Göttingen (Chemie) (Physik) Prof. Dr. M. Verworn-Bonn Dr. E.Teichmann-Frankfurt a. M. (Physiologie) (Hauptredaldion) Dritter Band r Ei und Eibildung — Fluoreszenz Mit 921 Abbildungen JENA Verlag von Gustav Fischer 1913 Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1913 by Gustav Fischer Publisher, Jena. Inhaltsübersicht. Nur die selbständigen Aufsätze sind hier aufgeführt. Eine Keihe von Verweisungen findet sich innerhalb des Textes und ein später herauszugebendes Sachregister wird nähere Auskunft geben. E. (Fortsetzung.) Seite ^Ei und Eibildung. Von Dr. E. Korscheit, Prof., Marburg i. H 1 NEichler, August Wilhelm. Von Dr. W. Ruhland, Prof., Halle a. S 40 Eis. Von Dr. H. Heß, Prof., Nürnberg 40 Eisengruppe 57 a) Eisen. \ 57 b) Kobalt. , Von Dr. F. Sommer. Charlottenburg 68 c) Nickel. I 73 ./Eiszeiten. Von Dr. M. Semper, Prof., Aachen 77 Eiweißkörper. Von Dr. O. Cohnheim, Prof., Heidelberg 93 Elastizität. Von Dr. Th. v. Karmän, Prof., Aachen 165 Elektrizität. Von Dr. H. Starke, Prof., Greifswald 193 Elektrische Arbeit. Von Dr. E. Orlich, Prof., Berlin-Friedenau 201 Elektrisches Feld. Von Dr. H. Starke, Prof., Greifswald 214 Elektrische Hilfsapparate. Von Dr. H. Schering, Charlottenburg 227 Elektrische Influenz. Von Dr. C. Schaefer, Prof., Breslau 234 Elektrische Leistung. Von Dr. E. Orlich, Prof., Berlin-Friedenau 249 Elektrische Maßnormale* Von Dr. E. Grüneisen, Charlottenburg 262 Elektrische Maßsysteme. Von F. Emde, Prof., Stuttgart 265 Elektrische Spannung, i 275 Elektrischer Strom. Von Dr. G. Schulze, Charlottenburg 284 Elektrische Ventile. I 303 Elektrischer Widerstand. Von Dr. H. Busch, Göttingen 321 Elektrizitätsleitung. Von Dr. J. Koenigsberger, Prof., Freiburg i. B 347 Elektrizitätsleitung in Gasen. Von Dr. E. Marx, Prof., Leipzig 364 Elektrizitätsproduktion. Von Dr. F. W. Fröhlich, Prof., Bonn 379 Elektrochemie. Von Dr. M. Le Blanc, Prof., Leipzig 396 Elektrodynamik. Von Dr. H. Scholl, Prof., Leipzig 408 Elektrokapillarität. Von Dr. F. Krüger, Prof., Danzig-Langfuhr 428 Elektrolytische Leitfähigkeit. Von Dr. A. Coehn, Prof., Göttingen 441 Elektromotorische Kräfte. Von Dr. H. Th. Simon, Prof., Göttingen 449 ^-Elektronen. Von Dr. G. Mie, Prof., Greifswald 466 Elektrooptik. Von Dr. W. Voigt, Prof., Göttingen 477 Elektrostatische Messungen. Von Dr. H. Schultze, Prof., Charlottenburg . . . 483 NEndlicher, Stephan Ladislaus. Von Dr. W. Ruhland, Prof., Halle 499 Energetik der Organismen. Von Dr. A. Pütter, Prof., Bonn 499 Energielehre. Von Dr. G. Helm, Prof., Dresden 508 Enteropneusta. Von Dr. J. W. Spengel, Prof., Gießen . 527 28787 VI Inhaltsübersicht Seite -"-Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere und der Pflanzen 542 , 'A. Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere. Von Dr. C. Herbst, Prof., Heidelberg 542 __---- B. Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Pflanzen. Von Dr. H. Winkler, Prof., Tübingen 634 Enzyme der Pflanzen. Von Dr. F. Czapek, Prof., Prag 667 Epiphyten. Von Dr. G. Karsten, Prof., Halle a. S 673 ..--Erdbeben. Von A. Sieberg, Straßburg i. E 687 .. Erde. Chemischer Bestand der Erde. Von Dr. G. Linck, Prof., Jena 710 Erden. Mineralien mit seltenen Erden. Von Dr. A. Ritzel, Privatdözent, Jena 712 Erdinneres. Von Dr. H. Thiene, Jena 716 " Erdmann, Hugo. . . . Kr ^ _ . . „ , ^ , 722 Erdmann, Otto Linne.(Von Dr" E- von Meyer> Prof- Dresden 723 ---Erdwärme. Von Dr. H. Thiene, Jena 723 ^Erlennieyer, Emil. Von Dr. E. von Meyer, Prof., Dresden 731 Erzlagerstätten. Von Dr. A. Bergeat, Prof., Königsberg i. P 732 ' Escher von der Linth, Arnold. Von Dr. O. Marschall, Eisenach 769 Eschricht,' Daniel Friedrich. . . . i ,T -. „. „ ^ . , , -, , 769 Eschscholtz, Johann Friedrich von. < Von Dr- W- Harms> Pnvatdozent, Marburg ?6g Ester. Von Dr. K. H. Meyer, München 770 Euler, Leonhard. Von E. Drude, Göttingen 786 Exkretionsorgane. Von Dr. J. Meisenheimer, Prof., Jena 787 ^-Explantation. Von Dr. A. Oppel, Prof., Halle a. S 813 Explosionen. Von Dr. G. Just, Prof., Berlin 818 F. NFahrenheit, Gabriel Daniel.K. _ _ . p..,, 828 VFaraday, Michael j \ on E. Drude, Gottingen 828 Farbe. Von Dr. B. Walter, Prof., Hamburg 829 Farben. Von Dr. A. Eibner, Prof., München 851 Farben der Mineralien. Von Dr. R. Brauns, Prof., Bonn 865 Farbstoffe. Von Dr. K. Elbs, Prof., Gießen 871 Farne im weitesten Sinne. Pteridophyta. Von Dr. F. O. Bower, Prof., Glasgow 912 Faserpflanzen. Von Dr. A. Voigt, Prof., Hamburg 991 Faujas de Saint-Fond, Bartheiemi. Von Dr. O. Marschall, Eisenach 998 -Favre, Pierre Antoine. . .) 17 _ _, , n..,,. 999 Fechner, Gustav Theodor, i Von E" Drude' Lotungen 999 "SFehling, Hermann. Von Dr. E. von Meyer, Prof., Dresden 999 NFermat, Pierre. Von E. Drude, Göttingen 999 — Fernphotographie. Telautographie. Phototelegraphie. Fernsehen. Von Dr. P. von Schrott, Wien 1000 Feste Körper. Von Dr. E. Sommerfektf,Prof., Brüssel 1009 Festigkeit. Von Dr. Th. von Karman, Prof., Aachen 1014 ^-Festland. Von Dr. G. W. von Zahn, Prof., Jena 1030 Fette, Oele, Seifen. Von Dr. H. Großmann, Privatdozent, Berlin 1033 Feuchtigkeit. Von Dr. R. Börnstein, Prof., Wilmersdorf 1049 Fische (Pisces). Von Dr. M. Rauther, Privatdozent, Neapel 1055 - Paläontologie. Von Dr. J. F. Pompeckj, Prof., Göttingen 1107 NFittig, Rudolf. Von Dr. E. von Meyer, Prof., Dresden 1147 ^"Fixsternsystem. Von Dr. O. Knopf, Prof., Jena 1148 Fizeau, Armand Hippolyte Louis. Von E. Drude, Göttingen 1173 Flächenmessung. Von Dr. H. von Sanden, Privatdozent, Göttingen 1173 Flagellata. Von Dr. M. Hartmann, Prof., Berlin-Frohnau 1179 Flourens, Marie Jean Pierre. Von Dr. J. Pagel, weil. Prof., Berlin 1226 Fluoreszenz. Von Dr. H. Ley,'Prof., Münster 1226 E. (Fortsetzung.) Ei und Eibildnng. Ei und Geschlechtszellen im allgemeinen. I. Morphologie der Eier: 1. Form, Größe und Zahl der Eier. 2. Struktur der Eier: a) Kern (Keimbläschen). b) Kernkörper (Keimfleck), c) Dotterkern, Sphäre, Mitochondrien usw. d) Ei- körper, Ooplasma, Dotter und Dotterbildung, Chromidien. e) Zur Keimzellendetermination in Beziehung stehende Differenzierungen im Ooplasma. 3. Eihüllen. II. Eizelle und Eireifung. III. Eibildung (Oogenese): 1. Die verschiedenen Formen der Eibildung. 2. Solitäre Eibildung. 3. Alimentäre Eibildung : a) Follikuläre Eibildung. b) Nutrimentäre Eibildung. c) »Dotterstöcke. Ei nen. bei den Protozoen vorhanden, laten und Protozoen finden Bei Flagel- sich sreißel- und Geschlechtszellen im allgemei- Eier nennt man bei den Tieren die weiblichen Fortpflanzungszellen, welche sich beim Befruchtungsakt mit den männlichen Zellen (Spermatozoen, Spermien) vereini- gen, um den neuen Organismus aus sich hervorgehen zu lassen, wozu sie in besonderen Fällen (natürliche oder künstliche Partheno- genesis) auch ohne Hinzutreten einer männ- lichen Zelle befähigt sind. Besondere, der Fortpflanzung gewidmete Zellen, die soge- nannten Propagationszellen, im Gegensatz zu den somatischen oder Somazellen, findet man bei allen Metazoen und entsprechend ihrer verschiedenen Funktion treten sie uns in der bekannten geschlechtlichen Differenzierung entgegen: die Sperma- tozoen, mit der Aufgabe die weiblichen Zellen zum Vollzug der Befruchtung aufzusuchen, flagellatenförmig gestaltet und von sehr geringer Größe, die Eier hingegen, als ruhende Zellen gewöhnlich von runder Form, für den Ablauf der Entwickelungsvorgänge mit Nährmaterial mehr oder weniger stark be- lastet und schon aus diesem Grunde, im Ver- gleich zu den Spermatozoen wie auch zu den Samenzellen, sehr umfangreich. Eine derartige Differenzierung der Ge- schlechtszellen und ihre Unterscheidung von anderen, nicht der geschlechtlichen Fortpflan- zung dienenden Zellenindividuen ist bereits Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. tragende, ihrer Gestalt wegen direkt als Spermatozoiden bezeichnete, Makrogameten und andere abgerundete, mit Nährstoffen beladene, zuweilen ungleich viel größere Makrogameten, welche zum Vollzug der Befruchtung von jenen aufgesucht werden, und die man somit wegen der Ueberein- stimmung mit den Verhältnissen der Meta- zoen ohne weiteres als „Eier" bezeichnet hat; es sei nur an das längst bekannte Verhalten des Volvox, sowie an die erst später daraufhin untersuchten Coccidien und Hämosporidien erinnert (vgl. die Artikel „Algen", „Flagel- laten" und „Sporozoen"). Bei den viel- zelligen Tieren kommen die in der oben gekenn- zeichneten Weise differenzierten Geschlechts- zellen allen Abteilungen, von den nieder- sten bis zu den höchsten zu, finden sich also von den Schwämmen bis zu den Säugetieren und zwar in ungefähr übereinstimmender Ausbildung, abgesehen von gewissen Ab- änderungen der Zellformen, wie sie offenbar im Zusammenhang mit der Ausführung des Befruchtungsaktes mehr bei den männlichen als bei den weiblichen Geschlechtszellen in einzelnen Abteilungen des Tierreichs ein- treten kann. I. Morphologie der Eier. i. Form, Größe und Zahl der Eier. Fast scheint es in der Natur der Eier zu liegen, daß man sich große Zellen von runder, kugliger bis ovaler Form darunter vorstellt, doch braucht sich dies in Wirklichkeit nicht so zu ver- halten, denn im jugendlichen Zustand können die Eizellen andere Formen aufweisen. Sie können sich im Verband von Epithelien be- finden und sich gegenseitig abplatten, oder eine ganz unregelmäßige Form zeigen, wenn sie verhältnismäßig unabhängig im Gewebe des Körpers hegen, wie es bei den Keimzellen 1 Ei und Eibildung der Schwämme der Fall ist oder bei den ] auch für die Eier verschiedener Cölenteraten Hydroidpolypen, bei welchen die Keimzellen j (Hydroiden, Anthozoen Fig. 1 u. 45 A., Wanderungen innerhalb der Epithelschich- Dieses Verhalten steht zur Ausbilduno; der Darauf ist bei der Bildung wo auch einer genaueren Prüfung zu unterwerfen sein wird; hier ten ausführen der Eier zurück zu kommen, der Begriff Eizelle noch Eier in Beziehung und muß deshalb weiter unten noch besprochen werden, hier sei er-^ nt, daß die Eier der genannten Tiere wie eine Amöbe mit pseudopodenartigen Fort- soll zunächst nur auf ihre morphologische Sätzen versehen sein können (Fig. 1 und 2). Beschaffenheit ganz im allgemeinen einge- Mit der zunehmenden Ausbildung verlieren gangen werden und wenn zunächst von auch übrigens solche Eier die Fähigkeit der Eiern und Eizellen die Rede ist, so wird diese Pseudopodenbildung und amöboiden Beweg- Bezeichnung später noch eine gewisse Modi- lichkeit, runden sich allmählich ab und nehmen fikation erfahren müssen. damit die gewöhnliche Eiform an, welches Ver- halten bereits an eini gen der in Figur 1 ab- gebildeten Eizellen wahrnehmbar ist. Von letzterer weichen die tierischen Eier im ganzen nur selten ab, wenn nicht die das Ei umgebenden, noch zu erwähnenden Hüllen gewisse Gestaltsverän- mit sich derungen bringen. Spindelförmig gestaltet sind z. B. die Eier von Echinorhyn- chus. Kleinere Ab- weichungen von der ge- wöhnlichen, regel- mäßigen Gestalt, die an und für sich kaum in die Augen fallen, können insofern recht bedeu- tungsvoll sein als sie zum Verlauf der Em- bryonalentwickelung in Beziehung stehen und die spätere Ausbildung des Embryos schon am Ei andeuten. Es kann sich dabei um leichte Streckungen, Abplat- tungen und dergleichen handeln, die in Ver- bindung mit gewissen Eigentümlichkeiten der Eistruktur Bedeutung gewinnen. Davon wird weiter unten noch die Rede sein. Ungemein verschie- den ist die Größe der Eier, indem sie sich Aus Gründen phylogenetischer Natur zwischen mikroskopischer Kleinheit und erscheint es von Interesse, daß sich der neu j dem beträchtlichen Umfang eines Vogel- entstehende Organismus unter Umständen eies bewegt. Zur Größe der Tiere selbst von einer Zelle herleiten kann, welche die steht dieses Verhalten nicht in Bezie- Gestalt einer Amöbe hat. Das gilt für die hung, denn wir wissen, daß die Säugetiere, jungen Eizellen der Schwämme, welche in und zwar auch die größeren unter ihnen, recht deren Körperparenchym Ortsveränderungen kleine Eier haben, der Mensch z. B. solche durchmachen und in ganz ähnlicher Weise von 0,2 mm Durchmesser, während kleine Fig. 1. Kleines Stück eines Schnittes durch den Körper eines Kalk- schwammes (Sycandrajrap.hanus) mit dem Kragengeißelepithel (kg) der Radialtuben, dazwischen liegendem Mesodermgewebe mit Kalknadeln (n) und jungen Eizellen (ei) in verschiedenem Ausbildungs- zustand. Nach F. E. Schulze. Ei und Eibilduni Vögel und Reptilien Eier von recht ansehn- lichem Umfang hervorbringen, ebenso die Amphibien, z. B. die Frösche Eier von mehre- ren Millimetern Durchmesser produzieren und das gleiche bei noch weit kleineren Insekten der Fall ist. Der Umfang der Eier wird vielmehr bestimmt durch die Menge der Nährsubstanzen, welche in ihm aufge- speichert werden und die sehr massig sein können, wie es gerade bei den vorher ge- nannten Tieren der Fall ist. Von denjenigen Nährstoffen, welche in der Umgebung des Eies abgelagert werden, wie das Eiweiß des Vogeleies, ist dabei abzusehen, da diese e^lB^A|g mm ' -:dl f 7 «V>afc¥r?cßm. , . r. c j -, Fig. 2. Ei eines Süßwasserpolypen (Hydra) mit einer sogenannten Pseudozeile (B) daneben, gv Keimbläsehen. Nach Kleinenberg. Substanzen in das Gebiet der Eihüllen gehören. Die Größe der Eier kann bei ein und demselben Tier insofern verschieden sein, als von ihm Eier verschiedener Dignität her- vorgebracht werden, welches Verhalten zwar nicht häufig ist, aber immerhin bei einer R?ihe von Tierformen vorkommt. So findet man bei gewissen niederen Krebsen (Daphnoiden) und bei den Rädertieren sogenannte W inte r- und Sommer ei er (Dauer- und Subi- taneier), von denen die letzteren sich rasch auf parthenogenetischem Wege (ohne Befruch- tung) entwickeln und daher wenig Nährsub- stanzen besitzen, während die befruchtungsbe- dürftigen Winter- oder Dauereier eine längere Ruheperiode durchmachen und längere Zeit zu ihrer Entwicklung bedürfen, daher mit mehr Nährsubstanz versehen, auch durch festere Hüllen als jene geschützt sind. Eier verschiedener Größe bringen auch die Weib- chen der Rädertiere hervor, wobei ebenfalls die rasche oder langsame Entwicklungs- fähigkeit dieser Eier und infolgedessen ihre bessere Versorgung mit Nährstoffen oder deren Fehlen, oder die leichtere oder festere Um- hüllung eine Rolle spielt (dotterreiche, dick- schalige, befruchtungsbedürftige Dauer- eier und dünnschalige , parthenogenetische Subitaneier). Allerdings kommen hier noch andere Faktoren hinzu, indem von manchen Rädertieren größere Eier produ- ziert weiden, aus denen Weibchen hervorgehen und kleinere, aus denen sich die bei ihnen weit kleineren Männchen entwickeln, beides kann auf pathenogenetischem Wege ge- schehen (Maupas, Nußbaum, Whit- ney, Shull). Freilich scheint diese Ein- richtung bei den betreffenden Rädertieren doch nicht so streng durchgeführt zu sein, indem sich unter gewissen äußeren Verhältnissen, besonders Ernährungseinflüssen große Eier auch zu Männchen und kleinere zu Weibchen entwickeln (Nußbaum). Sehr ausgesprochen hingegen ist der Unterschied zwischen großen weiblichen und kleineren männlichen Eiern bei einem den Ringelwürmern zugerechneten Wurm, Dinophilus, in dessem Gelege immer eine Anzahl größerer und eine solche kleinerer Eier abgelegt wird (Fig. 2 a) ; aus Fig. 2 a. Ei- kapsel von Dinophi Ins apatris mit größeren weib- lichen und kleineren männlichen Eiern. ersteren entstehen die Weibchen, aus letzte- ren die Männchen bei denjenigen Dino- philus-Arten, welche durch den Besitz von Zwergmännchen ausgezeichnet sind (Korscheit, Nelson, Conklin, v. Malsen u. a.). Bemerkenswert erscheint es, daß (bei Dinophilus Conklini nach. Beau- champ) die kleinen männlichen Eier auch wegfallen können und dann wie bei den Rädertieren Parthenogenese eintritt; mehrere parthenogenetische Generationen können auf- einanderfolgen. Bei den Größenunterschieden der von ein und demselben Weibchen hervorgebrach- ten Eier der genannten Tiere hat es mit Recht ganz besonderes Interesse erregt, daß bei ihnen das Geschlecht der Nach- kommen im Ei bereits vorbestimmt erscheint und das gleiche gilt für die ebenfalls an Größe verschiedenen Eier der Reblaus (Phylloxera vastatrix), aus denen sich die beiderlei Geschlechtstiere entwickeln, wie auch sonst die parthenogenetisehen Reblausweibchen Eier von ziemlich diffe- renter Größe und Schalenstruktur hervor- bringen. Die Größe der Eier steht begreiflicherweise im direkten Zusammenhang mit der Zahl, in welcher sie von dem betreffenden Tier 1* Ei lind Eibildung erzeugt werden ; diese richtet sich aber wieder sehr nach dessen Lebensverhältnissen. Wenn die letzteren, zumal im Hinblick auf den Ablauf der Entwicklung, gewissen Schwierig- keiten unterworfen sind, dann steigt die Zahl der von dem einzelnen Individuum hervorge- brachten Eier und deren Umfang verringert sich gleichzeitig. Da die Zahl der Eier ins ■ Ungeheure wachsen kann, so ist es begreiflich, daß die Eier selbst dann eine sehr geringe Größe besitzen. Am besten wird dies durch das Beispiel einiger Tierformen erläutert, die einen ungemein komplizierten Entwicke- lungsgang aufweisen und bei denen infolge- dessen die meisten Eier und Larven zugrunde gehen, ehe einige wenige davon ihr Ziel, den Zustand des geschlechtsreifen Tieres, erreichen. Dies gilt vor allem für parasitisch lebende Tiere, zumal für solche, welche wie die Saug- und Bandwürmer (Trematoden und Cestoden) mehrere Wirtstiere durch- laufen müssen, bevor sie zur Geschlechts^ reife gelangen. Im Uterus eines Gliedes (Proglottis) der Bandwurmkette sieht man daher eine Unmenge der kleinen Eier liegen und da der Bandwurm aus Hunderten von Proglottiden besteht, außerdem im Lauf seines Lebens noch weit mehr Glieder produ- zieren kann, so ist die Zahl der von ihm erzeugten Eier unter Umständen eine ganz enorme. Leuckart berechnet die Zahl der Eier in einer Proglottis von Taenia solium auf 53 000 und da dieser Bandwurm 800 und mehr Glieder im Jahr hervorbringt, so ist die Zahl der von ihm jährlich produzierten Eier auf mindestens 42 Millionen zu schätzen. Eine ähnliche fast ins Unermeßliche gestei- gerte Eiproduktion kommt den ebenfalls unter recht ungünstigen Verhältnissen ihre Ent- wickelung durchlaufenden Spulwürmern (Nematoden) zu und man hat die Zahl der von einem weiblichen Spulwurm jährlich erzeugten Eier sogar auf 64 Millionen be- rechnet (Eschricht, Leuckart). Eine große, wenn auch längst nicht so bedeutende Zahl von Eiern bringen die den Bandwürmern verwandten und wie sie unter sehr ungünstigen Entwickelungsver- verhältnissen lebenden Saugwürmern (Tre- matoden) hervor und es ist von Interesse, daß die den letzteren recht nahestehenden, aber nicht parasitisch lebenden, Strudel- würmer (Turbellarien) in dieser Hinsicht ganz andere Verhältnisse aufweisen, indem sie ihre Eier von Kapseln (Kokons) umgeben ablegen. In diesen finden die Eier nicht nur Schutz, sondern auch die geeignete Er- nährung, so daß sie viel mehr Aussicht haben, zur Entwickelung zu gelangen und diese durchzumachen, so daß die Erhaltung der Art auch bei einer an Zahl ungleich geringeren Eiproduktion gesichert ist. Aehnliche Verhältnisse finden sich auch bei anderen Tieren und den vorher ange- gebenen enorm hohen Zahlen sind solche gegenüberzustellen, die eine recht geringe Anzahl jährlich produzierter Eier nennen. Auch bei ihnen steht es damit im Zusammen- hang, daß diesen Eiern ein reicheres Nähr- material mitgegeben wird, daß sie unter günstigeren Verhältnissen abgelegt oder an und im Körper der Mutter, in besonderen Bruträumen oder dergleichen aufbewahrt werden und somit eines weitgehenden Schut- zes bei ihrer Entwickelung sich erfreuen. Um nur einige Beispiele zu nennen, gilt dies für die dotterreichen Eier der Haifische, welche in noch zu erwähnenden festen Kapseln (Fig. 27) abgelegt werden oder für die ebenfalls sehr dotterreichen, noch dazu von Eiweiß umgebenen und von festen Hüllen geschützten Vogeleier (Fig. 17), welche die Mutter in einem Nest unterbringt und sorgsam bebrütet. Solche Eier sind besonders gut geschützt und bieten daher alle Garantien für den Ablauf der Ent- wickelung, so daß nur verhältnismäßig wenig Eier hervorgebracht werden, bei den Vögeln im allgemeinen nicht mehr als 30 im Jahre, von manchen Vogelweibchen noch weniger (die Ueberproduktion von mehreren hundert Eiern im Jahre beim Haushuhn ist nur durch das Halten unter verbesserten Bedin- gungen hervorgerufen). Man vergleiche damit das Verhalten anderer Wirbeltiere, etwa der Fische, deren Eier ungeschützt, frei ins Wasser abgelegt werden und von denen die Weibchen Tausende und Hunderttausende hervorbringen. Im Gegensatz dazu stehen dann auch wieder solche Fischarten, die ihre Eier schützen wie der Stichhng, dessen Weibchen nur bis etwa hundert Eier in das vom Männchen bewachte Nest ablegt. . Bekannt ist ferner das Beispiel der höheren Krebse, von denen die im Meer lebenden Hummern und verwandte Formen (Ho- marus, Palinurus, Scyllarus) verhält- nismäßig kleine Eier zu Tausenden hervor- bringen, während unser Flußkrebs bestenfalls nur einige Hundert erzeugt. Seine großen dotterreichen Eier bieten jedoch dem Embryo das Material zur vollständigen Durchführung der Entwickelung bis zur Erlangung der Gestalt des ausgebildeten Tieres, während viele andere Krebse das Ei in einer unfertigen Gestalt, d. h. als Larve verlassen und das Material für die Weiterführung ihrer Ent- wickelung selbst erwerben müssen, dabei jedoch vielen Fährlichkeiten ausgesetzt sind. Hier hegt es also im Interesse der Erhaltung der Art^ eine größere Zahl Eier zu produ- zieren, die dann entsprechend kleiner aus- fallen. Bei manchen niederen Krebsen, wie z. B. Daphnoiden, entwickeln sich die Eier in einem unter der Schale gelegenen und vom Ei und Eibildung mütterlichen Körper mit Nährflüssigkeit versorgtem Brutraum bis ungefähr zur Erlangung der Gestalt des geschlechtsreifen Tieres, dem daraus eine gewisse Belästigung erwächst. Dadurch würde die Eiproduktion schon an und für sich eingeschränkt, wenn nicht infolge der durch den ausgezeichneten Schutz der Eier gewährleisteten besseren Entwickelungsmöglichkeit ihre Zahl von vornherein geringer zu sein brauchte. Die Entwickelung der Eier im Innern des mütter- lichen Körpers bedingt überhaupt so wie ihre Ausstattung mit einem reichen Nährmaterial oder die ihnen von seiten der Mutter zuge- wandte Pflege die Hervorbringung einer geringen Zahl, wofür zuletzt als ein extremes Beispiel noch dasjenige der Säugetiere, zu- mal der größeren unter ihnen, angeführt sei, Bei ihnen ist zwar die Zahl der im Eierstock erzeugten Eier bei recht geringem Umfange eine ziemlich beträchtliche jedoch gelangen von diesen nur verhältnismäßig wenige zur Reife und noch weniger zur Entwickelung; die Bedingungen, unter denen diese verläuft, sind für die Mutter ganz ungemein schwierige, gewährleisten hierdurch jedoch einen um so größeren Erfolg für die Entwickelung der Nachkommen. 2. Struktur der Eier. Insofern das Ei eine Zelle ist, hat man an ihm den Eikörper, entsprechend dem Protoplasmaleib der Zelle als Ooplasma und den Kern, das sogenannte Keimbläschen, Vesicula germinativa, wie ihn die alten Embryologen (Purkinje 1825) seiner Bläschenform wegen nannten, zu unterscheiden. Dabei ist immer festzuhalten, daß wir von dem nicht gereiften, dem soge- nannten Eierstocksei sprechen, an welchem sich die beiden letzten Teilungen der Eireifung erst zu vollziehen haben. 2a) Der Kern (Keimbläschen, das Purkinjesche Bläschen, Vesicula germinativa der alten Embryo logen). Fassenwir praktischer Weise zuerst das Keim- bläschen ins Auge, so verdankt es diese Be- zeichnung seiner Armut an färbbarer, ge- körnter Kernsubstanz (Chromatin), abgesehen von dem sogleich zu erwähnenden Nucleolus, wodurch es sich sowohl im lebenden wie im gefärbten Zustand als helle Blase von dem umgebenden dunklen Ooplasma abhebt (Fig. 1 und 3). Gegen letzteres pflegt das Keimbläschen durch eine meist scharf hervor- tretende Kernmembran abgegrenzt zu sein, freilich ist das nicht unbedingt nötig, sondern nicht selten befindet sich das Keimbläschen in einem Zustand, in welchem seine vorher scharfe Abgrenzung an einem Teil oder auch wohl am ganzen Umfang schwindet und an- scheinend ein Uebergang des Keimbläschen- inhalts in das umgebende Ooplasma stattfindet. Auch kann die Begrenzung des Keimbläschens wellig oder zackig sein, ebenso wie längere oder kürzere pseudopodenartige Fortsätze an ihm auftreten können (Fig. 4 und 4a), die späterhin wieder eingezogen werden, worauf das Keimbläschen seine frühere regelmäßige Gestalt wieder annimmt. Es scheint, daß das Keimbläschen durch Vergrößerung seiner Ober- fläche oder durch Rückbilden der trennenden Grenze eine innigere Verbindung mit dem Ooplasma herstellt ( Fig. 4 und 4 a) und dadurch der Stoffaustausch zwischen beiden erleich- tert wird. Alles dies hat man auf die rege Anteilnahme des Kernes an der aufnehmenden und Nährsubstanz produzierenden Tätigkeit der Eizelle zurückgeführt, wie man auch den Kern anderer Zellen an den verschiedenen Verrichtungen der Zelle (vielleicht leitend) beteiligt sein läßt. Für diese Annahme spricht ebenfalls die nicht selten am Keimbläschen zu beobach- tende Lageveränderung. Im allgemeinen ist ihm eine ungefähr zentrale Lage im Ei zuzuschreiben, wie aus vielen der hier mit- geteilten Bilder hervorgeht, doch kann es diese gelegentlich aufgeben, um mehr nach der Peripherie und zwar vor allem an solche Stellen zu rücken, an denen eine besonders energische Ernährungstätigkeit der Zelle stattfindet, wobei es auch eine Formverände- rung erleiden kann (Fig. 4 a und Fig. 47). Ist diese erledigt, so nimmt das Keimbläschen seine frühere Lage und Gestalt wieder an. Die Struktur des Keimbläschens kann zu verschiedenen Zeiten der Eibildung eine recht differente sein, denn nicht immer findet man es arm an geformter Substanz ; vielmehr kann diese in Gestalt von Körnern, Strängen und Bändern recht reichlich in ihm vor- handen sein. Zuweilen, wie z. B. bei den jungen Ovarialeiern der Selachier und Amphi- j bien, durchziehen eigenartige Stränge, von denen feinere Fäden ausgehen, das ganze Keimbläschen und erfüllen es ziemlich dicht. Aber diese Zustände wechseln und im allge- meinen tritt die chromatische Substanz im älteren Keimbläschen zurück, wodurch dann eben das helle, bläschenartige Aussehen zustande kommt. Daß die färbbare Substanz später wieder eine Sammlung und Kon- zentration in Gestalt der Chromosomen (Kernschleifen) bei Ausbildung der ersten Reifuni>sspindel erfährt, wird später noch zu erwähnen sein, wie auch auf die Beziehungen des Keimbläschens zum Ooplasma zurückzu- kommen ist. 2b) Kernkörper (Keimfleck). Ein recht auffallendes und doch in seiner Bedeu- tung schwer zu beurteilendes Gebilde im Keimbläschen ist dessen Kernkörper oder Nucleolus, der sogenannte Keimfleck, die Macula germinativa der älteren Embryo- logen (R. Wagner 1835). Gewöhnlich als ein im Leben hell, stark lichtbrechend erscheinendes, bei Färbung sich intensiv 6 Ei und Eibildmu tangierendes Gebilde, in der Einzahl vor- handen (Fig. 1, 3, 5 und viele der folgenden Figuren), kann der Keimfleck im Leben der Eizelle mancherlei Wandlung durch- machen. Vacuolen können in ihm auftreten und indem sie zusammenfließen größere denen Bestandteilen, die sich bei Färbung recht different verhalten, ist bei den Keim- flecken mancher Tiere, z. B. der Lamelli- branchiaten, aufgefunden worden (Fig. 6). Nicht immer ist das Keimbläschen nur im Besitz eines Nucleolus, sondern es finden Fig. 3. Ei eines Seesterns im kon- servierten und gefärbten Zustand mit Keimbläschen und Keimfleck. i i ■ Fig. 4. Keimbläschen mit umgebendem Ooplasma während der Bildung des Dotters von einer Spinne (P h o 1 c u s phalangoides). Vom Keimbläschen geht ein Büschel Pseudopodien nach einer Ansammlung von Fettkörnchen. Nach van Bambeke. Fig. 4 a. Eierstockseier mit unregelmäßig gestalteten (amöboiden) Keimbläschen. A von einem Ringehvurm (Spinther minia- ceus), B von einem Haarstern (Antedon rosaceus), C vom Gelbrand (Dytiscus marginalis), letzteres vom Follikel- epithel umgeben, dem,(«k»=£i an einer Nährsubstanzabschei- fdung dicht anliegt. Fig. 5. Keimbläschen mit Keimfleck und Chromatin- faden sowie umgebenden Oo- plasma von einem Ringel- wurm (0 p h r y o t r o c ha puerilis). Hohlräume im Keimfleck bilden, so daß von ihm schließlich nur eine dünne Schale übrig bleibt, die am Ende noch der Auflösung verfällt, welches Schicksal überhaupt früher oder später den Nucleolus des Eies betrifft. In früheren Stadien der Eibildung kann man beobachten, wie der Keimfleck durch Zu- sammentreten kleinerer Körnchen gebildet wird. Eine Zusammensetzung aus verschie- sich mehrere darin und man hat dann von Haupt- und Nebenkeimflecken gesprochen, indem man ihnen eine verschiedenartige Zusammensetzung und Bedeutung zuschrieb. So wird es ohne weiteres einleuchten, daß dem einen großen, oft sogar ganz besonders umfangreichen Keimfleck eine andere Deu- tung zukommen mag, als jenen zahlreichen, im Kernraum verteilten, kleineren Kugel- Ei und Eibildung eben, die ebenfalls als Nucleolen angesprochen werden. Zum Teil handelt es sich bei den soge- nannten Nucleolen des Eies überhaupt um Chromatin, welches sich in dieser Form gestaltet und in anderen Zuständen des Kernes, zumal bei der Chromosomenbildung wieder in Chromatinstränge und Bänder übergehen kann. In vielen anderen Fällen schiedenartige Gebilde beschrieben worden, die sich im Tierreich ziemlich verbreitet finden j und sowohl bei wirbellosen wie bei Wirbel- i tieren vorkommen. Eines der bekanntesten und charakteristischsten Beispiele dafür lie- fern die Eier der Spinnen. Aus einer dem Keimbläschen des jungen Eierstockes kappen- förmig aufsitzenden Anlagerung körniger Substanz (Fig. 7 A) differenziert sich ein heller, mit einem zentralen Kern versehener Körper heraus, der bald eine konzentrische Schicht erkennen läßt (Fig. 7 B und C). Dies Fig. 6. Eierstockseier von Unio batavus und Limax maximus mit Keimbläschen und Keim- fleck, letzterer aus zweierlei Substanz bestehend. Nach Obst. jedoch ist die Bedeutung und Verwendung der Nucleolen nicht recht ersichtlich; man hat an Keservestoffbehälter, Speicherorgane für die Chromatinbildung im Keimbläschen, aber auch an Abspaltungsprodukte bei der Umbildung der geformten Kernsubstanz, an Sekretstoffe, die im Kern abgelagert wurden (Haecker, Montgomery) und der- gleichen gedacht, doch gehören diese schwer lösbaren Fragen mehr in das Gebiet der Zellenlehre, als daß sie hier weiter verfolgt werden könnten (man vgl. 0. H e r t w i g , ' G u r w i t s c h , M. H e i d e n h a i n). 2c) Dotterkern, Sphäre, Mitochon- drien usw. Außer dem eigentlichen Kern, dem Keimbläschen, sind im Eikörper häufig noch andere, freilich ebenfalls dem Wechsel ! unterworfene und mit der Ausbildung des \ Eies im Zusammenhang stehende Gebilde vorhanden, von denen vor allen Dingen der sogenannte Dotter kern zu erwähnen ist. Als „Dotterkerne" sind freilich recht ver- kz '(' k- kz C s dk 'S, kz-' dk- x. Fig. 7. Eierstockseier einer Spinne (Tegenaria domestica) in verschiedenen Alterstadien mit Keimbläschen (k), Körnchenzone (kz) darum, und Dotter kern (dk). Nach Van der Stricht. ist hier der ganz besonders scharf um- grenzte, durch eine besondere Struktur aus- gezeichnete und daher ungewöhnlich her- vortretende sogenannte Dotterkern, der in diesem Fall ungemein beständig ist, indem er nicht nur im Ei auftritt, sondern auf die Furchungsstadien übertragen wird und sich während des größten Teils der Entwickelung, sogar noch in der jungen Spinne vorfinden kann, was insofern möglich ist, als er in die nicht differenzierte Dottermasse des Embryos überging. Auffallend erscheint es. daß ein so charak- teristisches Gebilde in den Eiern der Tiere nicht immer vorhanden ist, sondern bei ganz nahe stehenden Formen fehlt. So findet er sich bei Tegenaria, Lycosa, Salticus u. a., fehlt aber nach Balbani bei Meta und Epeira. Wieder bei anderen 8 Ei und Eibildung Spinnen zeigt er einen völlig abweichenden Bau, indem er einen wurstförmigen, aus körniger Masse bestehenden Körper dar- stellt, der in der Nähe des Keimbläschens hegt und zu verschiedenen Zeiten der Ei- bildung eine differente Beschaffenheit be- sitzt (Fig. 8 A bis D). Er zerfällt am Ende in einzelne Stücke körniger Substanz, die Schnecke (Arion empiricorum) heraus- zugreifen, welche von den genannten beiden Forschern behandelt wurde, so haben die Mitochondrien hier mit der Dotterbildung im Ei zu tun, wovon weiter unten noch die Rede sein wird. Entsprechend den in Verbindung mit dieser auftretenden Ansammlungen ge- formter Substanzen und gewiß zum Teil D i; .' Fig. 8. Eierstockseier in verschiedenen Alterstadien von einer Spinne (Pholcus phalangoides) mit dem sogenannten Dotterkern neben dem Keimbläschen. Nach van Bambeke. Fig. 9. Eierstocksei eines Fisches (Scorpaena scrofa) mit Austritt einer „Chromatinwolke" aus dem Keimbläschen. Nach van Bam- beke aus M. Heidenhains Mor- phologie und Biologie der Zelle. sich ihrerseits wieder in kleinere Bestandteile auflösen und am Ende schwinden, indem sie sich im Eidotter verteilen, an dessen Aus- bildung der Dotterkern offenbar beteiligt sein kann. Aehnliehe „Dotterkerne" wie in den Eiern der Spinnen sind auch bei anderen Tieren z. B. bei Tausendfüßern (Geophilus) beschrieben worden. Dotterkerne von sehr verschiedener Form und Struktur fanden sich in den Eiern der niedersten wie der höchsten Tierformen, doch unterhegt es keinem Zweifel, daß man recht verschieden- artige Dinge mit diesem Namen belegte. Zum Teil waren es bloße körnige Anhäufun- gen, die mit der Bildung des Dotters in Be- ziehung stehen, welche man als Dotterkerne bezeichnete, zum Teil Chromidien oder ähn- liche Substanzen, wie sie während der Aus- bildung des Eies vom Kern des Ooplasmas abgegeben werden können und sich als körnige Ansammlungen in der Umgebung des Keimbläschens finden (Fig. 9). Als Dotterkerne oder in Verbindung mit ihnen haben gewiß auch Mitochondrien -An- sammlungen, wie sie als Anhäufungen kör- niger, fädiger oder stäbchenförmiger Gebilde in der Umgebung des Keimbläschens auf- treten, eine große Rolle gespielt, Van der Stricht, Lams und andere Autoren be- schrieben neuerdings Anhäufungen körniger und fädiger Substanzen unabhängig von dem eigentlichen Dotterkern. Um nur zwei und zwar recht verschiedenartige Objekte, nämlich das Säugetierei und das einer damit identisch, abgesehen von der Ver- schiedenheit der betreffenden Objekte (vgl. Fig. 10. Junge Ovarialeier (Oocyten). A vom Sperling, B vom neugeborenen Kind, C aus dem Eierstock einer Frau, dk Dotterkern, ef Ei- follikel, s Sphäre (die Deutung von Dotterkern und Sphäre bleibe dahingestellt, vgl. den Text), v Mitochondrienschicht, vg Keimbläschen. Nach Hertens und Van der Stricht. Fig. 13), finden sich die infolge ihrer be- sonderen Färbung als Mitochondrien zu Ei und Eibildung 9 bezeichnenden Gebilde in der Umgebung des Keimbläschens (Fig. 10) oder auch weiter davon entfernt. Später wandeln sie sich um und verteilen sich im Dotter, an dessen Ausbildung sie sich, wie gesagt, beteiligen, ähnlich wie dies auch von manchen sogenannten Dotterkernen angegeben wurde. Im ganzen Eikörper verbreitet kann jetzt eine große Menge von Balken und Schnüren vorhanden sein, die sich aus sehr kleinen Mitochondrien zusammensetzen (Fig. 11); die Schnüre zeigen im einzelnen sehr verschiedene For- men, verbreitern und verschmälern sich, ver- schwinden auch in der Umgebung, um dann von neuem zu beginnen (Fig. 11). Späterhin oder direkt als solcher angesehen wurde, nämlich mit der Sphäre, dem Idiozom. Mit dieser Bezeichnung belegt man die um einen Zentralkörper (Centrosoma) mit Zen- tralkern (Centriol) gelagerten Gebilde, welche durch ein strahliges Gefüge ausgezeichnet sein können oder von dem eine Sphären- strahlung ausgeht (Fig. 12 a). Ihre Entstehung und Bedeutung, zumal ihre Beziehung zur Zellteilung gehört in das Gebiet der Cytologie (vgl. dieArtikel „Zelle" und., Zellteilung"), hier sei nur erwähnt, daß Sphären häufig und zwar schon in recht jungen Oocyten vor- kommen, wie sie überhaupt eine den Zellen im allgemeinen zukommende, wenn auch Fig. 11. Aelteres Eierstocksei der Frau, ba, bm, bm', bv das mitochondriale Netzwerk im Oosplasma, cv Sphäre mit Zentralkern, vg Keimbläschen, z Zona radialia. Nach Van der Stricht. löst sich das gröbere Strangwerk in ver- streute Mitochondrien und Chrondromiten auf, die sich ziemlichgleichmäßigimOoplasma verteilen (van der Stricht, M. Heiden- hain). Doch damit gelangen wir schon zur Dotterbildung, auf welche noch einzugehen sein wird. Die Mitochondrien-Anhäufungen können mit einem anderen bisher noch nicht be- sprochenen Gebilde in Beziehung stehen, welches ebenfalls zu Verwechselungen mit dem Dotterkern Veranlassung gegeben hat nicht immer sichtbar zu machende, aktiv vorhandene Einrichtung darstellen (Fig. 10 bis 11). Gut entwickelte Sphären zeigen dieselben Verhältnisse, wie sie aus anderen Zellen bekannt sind. Dämlich die Centro- somen mit ihrer charakteristischen Struktur, eine konzentrische Schichtung und vor allem die sehr deutlich ausgeprägte Strahlung (Fig. 12 a). Alles dies tritt oft freilich wenig deutlich hervor und die Sphären machen sich dann nur als körnige Masse mit einem zentralen Kern geltend, doch 10 Ei und Eil lildung- spielt dabei auch die Art der Konservierung eine Rolle, je nachdem es gelingt, diese oft nicht leicht zu erhaltenden Dinge wahrnehm- bar zu machen. Auch die schon vorher er- Fig. 12 a. Verschiedene Stadien der Eibildung von Limulus. A — D jnnge Eierstockseier (Oo- cyten), zum Teil noch in Verbindung mit dem Ovarialepithel, E ältere Oocyte mit kernartigen Gebilden im Dotter (dk), kbl Keimbläschen, pt Peritonealhülle des Eierstocks, s Sphäre, st Stiel des Follikels. Nach Munson. wähnte Umlagerung der Sphären durch Mitochondrien (Fig. 10) ist dazu angetan, sie Weniger deutlich hervortreten zu lassen. Beziehungen des Dotterkerns zu Centrosom und Sphäre, oder seine Herleitung von diesen (Mertens, Winiwarter, Gurwitsch, Hollander u. a.). Die Frage, inwieweit Dotterkerne und Sphären identische Bildungen sein können, oder die ersteren auf letztere zurückzuführen, als hypertrophische Centrosomen oder Sphä- ren anzusehen sind (Balbiani), kann hier ebensowenig eingehend diskutiert werden, wie die Beziehung zu anderen im Ooplasma vorhandenen Gebilden, den Mitochondrien, Chondromiten, Nebenkernen, Nebenkörpern, Polarringen und wie sie alle heißen. Es sei in dieser Beziehung auf die am Schluß mit- geteilte, sowie auf die cytologische Literatur im allgemeinen verwiesen. Es scheint, daß „Dotterkerne" von den bisher besprochenen Gebilden auch unab- hängig sein können. So beschreibt v. Voss bei Acanthocephalen (Echinorhynchus) ein anfangs kleines, später immer umfang- reicher werdendes Gebilde von kugliger Form und homogener Struktur, welches zuerst unabhängig vom Keimbläschen ist, infolge seines Wachstums sich ihm jedoch schließlich anlegt; späterhin nimmt dieser Dotterkern an Umfang wieder ab. In diesem Falle stellte man sich die Entstehung des „Dotterkerns" so vor, daß bei lebhafter Materialaufnahme von Seiten des Eies diese Stoffe nicht gleich verarbeitet werden konnten, sondern der Ueberschuß als Reservedepot eben im „Dotterkern" niedergelegt wurde *** \ W\ fc* \i*> " * *i*S» J1 '\ ä A B C Fig. 12b. A — C Chromatinabscheidung aus dem Keimbläschen der jungen Oocyte von Proteus angumeus. Nach Jörgensen. Zellorganen sind für recht verschiedene Tierformen festgestellt worden, so für Echi- nodermen (van der Stricht), Würmer (Vejdovsky), Limulus (Munson), Ara- chnoiden (Balbiani, Holländer), Selachier (Schmidt), Knochenfische (Cunningham), Amphibien (Lams), Vögel und Säugetiere um später mit verbraucht zu werden. Das wäre also eine Beteiligung an der Dotter- biidung, wovon noch die Rede sein wird. Wie man in neuerer Zeit den als Chro- midien aus dem Kern stammenden Teilen eine große Bedeutung für die Ausbildung des Eies zuzuschreiben geneigt ist, so hat Ei und Eibildung 11 man auch den Dotterkern ganz oder teil- weise darauf zurückgeführt (Goldschmidt, Jörgensen, Moroff u. a.). Bemerkenswert ist dabei, daß diese Beobachtungen für ganz verschiedene Formen, z. B. Trematoden, niedere Krebse (Copepoden) und Amphibien gelten. So treten nach Jörgensen bei Proteus während des Buketstadiums ge- formte Chromatinbestandteile aus dem Kern aus, um sich von ihm zu isolieren (Fig. 12b A bis C) und an der Bildung des Dotterkerns teilzunehmen. Nach einer von Moroff ge- gebenen Darstellung erfolgt diese bei Cope- poden ebenfalls durch Austritt geformter Gebilde, nämlich ziemlich umfangreicher man es hinsichtlich ihrer Herkunft und Ge- stalt mit ganz besonderen Formen von „Dot- terkernen" zu tun und es ist klar, daß der- artige Dinge mit den vorher geschilderten nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Somit geht daraus abermals hervor, daß man als Dotterkerne ganz verschiedene Bildungen im Ooplasma angesprochen hat, wie bereits oben bemerkt wurde. 2d) Eikörper. Ooplasma. Dotter und Dotterbildung. Chromidien. DieOrgani- sation des fertigen Eies ist ohne Kennt- nis ihres Zustandekommens nicht recht zu verstehen, weshalb, wie schon vorher ge- legentlich, so auch in diesem Abschnitt «£■£ B r . r D Fig. 12c. A— D Chromatinabgabe aus dem Keimbläschen der jungen Oocyte von Paracalanus parvus zur Bildung 'des Dotterkerns. Nach Moroff. Körner, aus dem Keimbläschen, die sich nachträglich zu schleif enförmigen, chromo- somenartigen Körpern vereinigen und schließ- lich eine einzige, recht umfangreiche Schleife bilden (Fig. 12 c A bis C). Von diesem als „Dotterkern" bezeichneten Gebilde lösen sich dann kleinere oder größere Teile ab (Fig. 12 c D), welche sich direkt oder indirekt an der Ausbildung des Eies beteiligen, so daß also auch in diesem Fall eine Anteil- nahme an der Dotterbildung vorläge. Gleich- zeitig geht der „Dotterkern" seiner Auflösung entgegen. In den zuletzt beschriebenen Fällen hat etwas vorgegriffen werden muß. Wenn die Oogonien (vgl. Abschnitt II) ihre Teilun- gen eingestellt haben, so besitzen diejenigen Zellen, welche später zu Eiern werden (Oocyten wie vorher als Oogonien), zunächst noch einen wenig umfangreichen Proto- plasmaleib. Auf dieser Stufe bleiben die Eier nur seilen stehen, denn gewöhnlich bedürfen sie für den Vollzug der später an ihnen ein- tretenden Entwickelungsvorgänge der Ein- lagerung mehr oder weniger voluminöser Nährsubstanzen in das Ooplasma. Häufig ist diese Einlagerung verhältnismäßig gering und man spricht dann von dotterarmen 12 Ei und Eibildung Eiern, wie sie in allen Gruppen des Tier- reichs von den Schwämmen bis hinauf zu den Wirbeltieren vorkommen. Im ausgebil- deten Zustand völlig dotterlose Eier kommen wohl kaum vor und wenn man von „alecithalen" Eiern spricht, so sind damit solche von sehr geringem Dottergehalt gemeint, denn eine gewisse, wenn auch nur bescheidene Dotter- menge brauchen wohl alle Eier zur Ent- wickelung. Für gewöhnlich ist die Dotter- einlagerung wie gesagt stärker und erreicht unter Umständen einen sehr bedeutenden Umfang, wie dies z. B. bei den ungemein dotterreichen Eiern vieler Insekten, Tinten- fische, Haifische, Knochenfische, Reptilien und Vögel der Fall ist. Mit dem Aufhören der Teilung beginnt also ein unverhältnismäßig starkes Wachs- tum der Eizelle und es fragt sich, wodurch dieses zu erklären ist. Das Verhalten des Kernes kann zunächst den Eindruck er- wecken, als ob die Zelle nochmals in die Tei- lung eintreten wolle, was sie in einem späte- ren Stadium wirklich tut (Reifungsteilung vgl. IL Abschnitt). Die färbbare Substanz des Kernes kann sich von neuem zu chromosom- artigen Schleifen anordnen, wodurch das bei ganz verschiedenen Tierformen (Spongien, Coelenteraten, Amphibien u. a.) beobachtete sogenannte Buketstadium (Fig. 12 b) zu- stande kommt. Wenn es sich hierbei um die Vorbereitung zu einer Teilung handelte, so wird diese jedoch unterdrückt .und das Chromatin des Kernes erfährt eine mit der weiteren Ausbildung des Eies in Ver- bindung stehende Modifikation, auf welche weiter unten noch zurück zu kommen sein wird. Neuerdings hat man diese Vorgänge in enge Beziehung zur Bildung des Dotters gebracht, weshalb auf diesen zunächst einge- gangen werden muß. Der Dotter (Nährdotter, D eu to- plas ma) ist ein Produkt der eigenen Tätigkeit der Eizelle und entsteht aus Nähr- substanzen, die auf verschiedenem Wege in das Ei gelangen, sei es, daß dieses in der Leibeshöhle der betreffenden Tiere oder in einem Hohlraum seiner Gonade von der er- nährenden Flüssigkeit umspült und durch- tränkt wird, sei es, daß bestimmte für die Ernährung des Eies vorhandene Zellen, Zellgruppen oder Zellschichten, die wir noch als Nährzellen und Follikel kennen lernen werden, die von ihnen vorbereiteten Nähr- stoffe an das Ei abliefern. In jungen Eizellen unterscheidet sich die Beschaffenheit des Ooplasmas kaum von derjenigen des Cyto- plasmas anderer Zellen; allmählich treten aber feinkörnige, später gröbere Einlagerun- gen auf, welche aus den oben erwähnten Nährflüssigkeiten innerhalb des Eikörpers abgeschieden oder aber von den Hilfszellen direkt an »das Ei abgegeben werden. In die- sem werden die aufgenommenen Substanzen verarbeitet, d. h. durch Resorption, Assimila- tion und Wiederabscheidung in einen Zustand versetzt, in welchem sie für die Eizelle bei deren weiterer Veränderung verwertbar sind. Treten dabei wieder körnige Gebilde mehr vereinzelt oder in Ansammlungen von größe- rem oder geringerem Umfang auf (Fig. 13), Fig. 13. Eierstockseier einer Ascidie (Molgula) in verschiedenen Altersstadien, die Vorstufen und allmähliche Ausbildung der Dottersubstanz zeigend. Nach Crampton. so handelt es sich zunächst wieder nur um Vorstufen des eigentlichen Dotters, welcher aus dieser vitellogenen Substanz hervorgeht, indem er in Form von kleinen Tröpfchen oder Kügelchen im Ooplasma abgelagert wird (Fig. 13). Anfangs ver- einzelt, allmählich immer zahlreicher treten die Dotterelemente in entsprechenden Lük- kenräumen (Vakuolen) des Ooplasmas auf, welches dadurch eine alveoläre Struktur erhält, insoweit diese nicht bereits vorhanden war, denn das Ooplasma mancher Eier zeigt an und für sich ein schaumiges Gefüge, wie es z. B. bei Medusen, Siphonophoren und Ctenopheren der Fall sein kann. Das Auftreten des Dotters im Ei erfolgt insofern auf recht verschiedene Weise, als es zuerst mehr in der Mitte, d. h. in der Umgebung des Keimbläschens und unter dessen Einflußnahme, aber auch anscheinend unabhängig davon an der Eiperipherie vor sich gehen kann. Im letzteren Fall, der z. B. beim Salamanderei beobachtet wird, treten in der schon angegebenen Weise kleine Körn- chen am Eirand auf, die vereinzelt in ziemlich unregelmäßiger Verteilung liegen, aber auch regelmäßiger in der Umgebung von Vakuolen verteilt sein können (Fig. 14 %). Die kleineren Ei und Eibildung 13 :*% .'-•« Fig. 14. Randzone von Eierstockseiern des Salamanders zur Erläuterung der Bildung der Dotterplättchen, A in früherem. B im späteren Stadium; z äußere homogene Randzone, F Follikelepithel. Dotterelemente werden später zu größeren finden, woraus sich dann das wesentliche Dotterplättchen, sei es, daß eine Verschmel- ergeben dürfte. zung unter ihnen stattfindet, sei es, daß Man geht am besten von der jungen sie durch Hinzufügung neuer Masse aus Oocyte bald nach der letzten Oogonienteilung der gelösten Substanz des Ooplasmas aus, von welcher bereits weiter oben die Rede wachsen. war. Die färbbare Substanz des Kernes kann Daß auch die als Dotter- kerne angesprochenen Eibe- A B standteile sich an der Bil- dung des Dotters beteiligen können, wurde bereits mehr- fach erwähnt. Der Dotter- kern kann dabei einem kör- nigen Zerfall oder einer Auf- lösung in anderer Form unterliegen (Fig. 8 und 4); jedenfalls treten auch dabei feinkörnige Massen auf, welche sich an der Ausbil- dung des Dotters beteiligen. Aehnliches wurde oben für die Mitochondrien angegeben (Fig. 10 und 11). Immer wieder ist auch von einer An- teilnahme des Keimbläschens an der Dotterbildung die Rede gewesen, sei es, daß eine solche in Form einer bloßen Beeinflussung des Ooplasmas durch den sich in dem wegen der eigenartigen Anord- Kern oder aber als Abgabe gelöster oder ge- nung als Buketstadium bezeichneten Zustand formter Bestandteile stattfände. Daß ge- befinden (Fig. 12b A), doch erfährt diese bald wisse Momente, wie die Aenderungen in der | eine Veränderung, indem sich kleinere Teile Größe und Struktur des Keimbläschens, von den Schleifen abtrennen und diese sowie die Gestalt und Lageveränderungen dadurch zur Auflösung kommen (Fig. 12 b für seine Anteilnahme an den im Ei- B und C). Von der Abgabe der Schleifen- körper sich vollziehenden Bildungsvorgängen enden aus dem Kern (Fig. 12 b A bis C) sprechen, wurde bereits erwähnt (S. 5) und war schon vorher in anderer Verbindung zwar würde dabei vor allen Dingen die die Rede, jedoch findet eine Abgabe von Dotterbildung in Betracht kommen. So- Chromatin seitens des Kernes auch weiter- weit es sich hierbei um den Austritt ge- j hin noch statt. Um bei dein gewählten Bei- löster Stoffe aus dem Kern in das Ooplasma ! spiel des Amphibieneies zu bleiben, so handelt, dürfte die Beteiligung an der Dotter- beschreibt Jörgensen bei Proteus eine bildung schwer zu verfolgen sein, doch hat : immer weiter fortschreitende Verteilung man seit langem auch an die Abgabe ge- des Chromatins im Kern, welches in Form formter Substanzen seitens des Keimbläs- j der Randnukleolen, zahlreicher feiner Körn- chens gedacht und derartige Vorgänge sind' chen usw. auftritt und schließlich eine Art von wiederholt beschrieben worden (Fig. 9), „Zerstäubung" erfährt. Feinste Chromatin- ohne daß sie sich einer besonderen Anerken- körnchen treten durch die Kernmembran nung zu erfreuen hatten. Ganz abgesehen in das umgebende Ooplasma aus. Den Aus- davon, ob es sich bei manchen dieser Angaben ! tritt solcher Chromidien aus dem Kern um Täuschungen gehandelt haben könnte, beschreibt derselbe Autor für ein ganz gewannen sie neuerdings unter dem Einfluß ; anderes Objekt, das Ei eines Schwammes der Chromidienlehre eine größere Bedeutung. (Sycandra) und entsprechendes wird von Diese legt gerade auch bei der Eibildung auf Schaxel für Pelagia und allerdings in etwas die Abgabe chromatischer Bestandteile anderer Weise für Ascidien, von Buchner seitens des Kernes und ihre Verwendung für Sagitta und von Moroff für Copepoden. beim Aufbau des Eikörpers ein großes Ge- wie auch noch von einer Reihe anderer wicht. Im einzelnen darauf einzugehen und Autoren für verschiedene Objekte angegeben, die auf recht verschiedenartige Objekte die hier nicht alle genannt werden können, bezüglichen Angaben zu erschöpfen, ist Nur die Beobachtungen des zuletzt genann- ter unmöglich, jedoch sollen wegen der ten Autors seien als besonders kennzeichnende diesen Vorgängen zukommenden allgemeineren noch hervorgehoben. Entgegen den Angaben Bedeutung einige von ihnen Berücksichtigung anderer Autoren, daß eine Chromatinaus- 14 Ei und Eibildung Wanderung aus dem Kern nur in bestimmten Perioden erfolge, betont er, daß sie bei den von ihm untersuchten Copepoden während der ganzen Zeit des Eiwachstums vor sich geht und zwar würde danach die Chromatin- abgabe seitens des Kernes eine ungemein starke sein. Nicht nur in Form^ kleinerer Partikel tritt die färbbare Substanz zur Chromidienbildnng aus dem Kern hervor, sondern größere Partien, ganze Stücke des Kernfadens lösen sich von diesem ab, um durch die mehr oder weniger schwindende Kernbegrenzung in das umgebende Ooplasma A B ,--.'." \ m C Fig. 14a. Abgabe chromatischer Substanz (Chro- midienbildung) in der jungen Oocyte von Cen- tropages Kröyeri. Nach Moroff. a einzutreten (Fig. 14 fr A bis C). Infolge der massigen Produktion von Chromiclien läßt Moroff diese ganz direkt an der Dotter- bildung beteiligt sein, wie nach seiner An- nahme das gesamte Eiwachstum nur eine Folge der Chromidienauswanderung ist. Damit kommt diese Auffassung am radikalsten zum Ausdruck, aber auch die übrigen genannten und manche andere Autoren schreiben unter deren Einfluß den von R Hertwig aufge- stellten, von Goldschmidt und anderen seiner Schüler energisch vertretenen Chromi- dienlehre den vom Kern produzierten Sub- stanzen einen weitgehenden Einfluß auf die Ausbildung des Eies und damit auch auf die Dotterbildung zu. Die Beschaffenheit des Dotters im aus- gebildeten Ei ist eine recht verschiedene so- wohl was das rein morphologische wie chemische Verhalten dieser Substanzen be- trifft. In letzterer Hinsicht schloß man aus dem Verhalten des Dotters gegen gewisse Farbstoffe und Reagentien. daß man es mit ähnlichen Körpern wie beim Chromatin deb Kernes zu tun habe und machte dafür den nuklearen Ursprung verantwortlich. In Wirklichkeit sind jedoch im Dotter keine Nukleine, sondern die in ihrer chemischen Struktur abweichenden Paranukleinstoffe vor- handen (A. Kossei). Die in den Kernen der sich entwickelnden Eier enthaltenen Nukleine sind nicht im Dotter vorgebildet, sondern entstehen während der Entwickelung in den Kernen durch deren eigene Tätigkeit, wie sich denn auch aus Kossels Untersuchungen ergab, daß der Gehalt an Nukleinen in dem sich entwickelnden Ei stetig zunimmt. Im allgemeinen besteht der Dotter aus Eiweißkörpern, die zum Teil gelöst, in flüssiger oder halbflüssiger Form, jedoch auch in fester Beschaffenheit vorhanden sind ; außerdem aber finden sich fettartige Sub- stanzen, Oeltropfen und dergleichen im Dotter verteilt oder sogar in Gestalt umfangreicher kugelförmiger Gebilde. Die Beschaffenheit des Dotters chemisch zu fixieren, ist aber schon deshalb schwierig, weil er nicht nur in den Eiern verschiedener Tiere eine sehr differente Zusammensetzung zeigt, sondern auch während der Eibildung und dann im Lauf der Embryonalentwickelung gewissen Veränderungen unterworfen ist. Was das morphologische Verhalten betrifft, so mußte auf die als Vitellogene oder Proto- lecithe bezeichneten Substanzen vorher bereits hingewiesen werden; hier sei bezüglich der Beschaffenheit des Dotters im ausgebil- deten Zustand des Eies noch hinzugefügt, daß er bei manchen Tieren ziemlich homogen oder gleichmäßig aus kleinen Körnchen zu- sammengesetzt erscheint. Bei anderen da- gegen zeigt er untermischt kleinere und größeren kugelige Elemente oder besteht aus Plättchen von verschiedener Größe wie dies besonders bei den Haifischen und Amphibien der Fall ist (Fig. 15). Dabei kann offenbar eine Vereinigung der kleineren zu größeren Dotterkörpern und andererseits auch wieder ein Zerfall der gröberen in feinere Elemente stattfinden. Die Dotterplättchen können zu regelmäßig geformten Täfelchen werden und kristalloide Formen annehmen, wie auch direkt Kristalle J im Dotter auftreten können (wohl Eiweiß- kristalle, wie sie gelegentlich in Eiern von 1 Gliedertieren und Wirbeltieren gefunden Ei und Eibildung 15 werden). Bei manchen Tieren, wie z. B. gewissen Insekten, kann der Dotter aus regelmäßig gestalteten Schollen bestehen, während er wieder bei anderen Insekten eine feine oder grobkörnige Masse darstellt. Fig. 15. Dotter- plättchen eines Rochens (Tor- pedo ocellata) in verschiedener Größe, nach Zer- fall der größeren Plättchen. Nach J. Rückert aus Waldeyer: Die Geschlechts- zellen. Bestimmte Regeln für die einzelnen Ab- teilungen des Tierreichs werden sich darin kaum aufstellen lassen, nur zeigen allerdings einzelne gewisse, für sie recht charakteristische Be- sonderheiten. Dazu gehört z. B. die Diffe- renzierung des Dotters in verschiedene Schichten und Regionen, wie sie unter anderen von den ungemein dotterreichen Eiern der Sclachier, Reptilien und Vögel bekannt ist. Am Vogelei unterscheidet man hauptsäch- lich einen gelben und weißen Dotter. Der erstere macht bei weitem die Hauptmasse des Dotters aus und setzt sich seinerseits wieder aus konzentrischen Schichten zu- sammen (Fig. 17). Er besteht aus gelblich gefärbten, sehr zartwandigen und leicht zer- störbaren Bläschen, welche einen feinkör- nigen Inhalt aufweisen. Der weiße Dotter (Fig. 16) ist aus kleineren farblosen Kügelchen zusammengesetzt, die einige stark licht- brechende Tröpfchen enthalten, Bildungen, welche man früher als zelliger Natur ansah und im Anklang daran als Dottercytoid? bezeichnet (Fig. 16). Der weiße Dotter des Vosreleies bildet noch eine stärkere Anhäufung A B Fig. 16. Dotterkörner des Hühnereies in ver- schiedener Größe, A ans dem gelben, B aus dem weißen Dotter. Nach Balfour. unter der Keimscheibe (Cicatricula, Narbe, Hahnentritt der alten Embryo- logen, Fig. 17) und erstreckt sich in dünner Lage um den gelben Dotter (Eidotter. Ei- gelb), wobei man sich das Verhalten dieser Schichten übrigens nicht so vorzustellen hat, daß sie scharf getrennt seien, sondern sie gehen vielmehr an den Grenzen inein- ander über. Die Verschiedenheit in der Zusammen- setzung des Dotters gibt sich bei vielen Eiern schon durch die Färbung zu erkennen; selten ist der Dotter farblos, so daß die dotterhaltigen Eier die Durchsichtigkeit dot- terarmer Eier bewahren. Oefter ist der Dotter opak und von gelblicher Färbung, ch env Fig. 17. Längsschnitt durch das Hühnerei, etwas schematisiert, ch Chalazen, dh Dotterhaut, eiw Eiweiß, gd gelber Dotter, ks Keimscheibe, lk Luftkammer, s Schale, sh Schalenhaut, wd weißer Dotter. 7. wie wir es besonders vom wo man direkt vom Eigelb spricht. Es kommen aber wir Vogelei kennen, als vom Dotter andere Dotter- wickelungsg geeignet. färbungen vor, rot, violett, blau, grün usw. ; derartig gefärbte Eier sind dann meistens sehr undurchsichtig und für das Studium ent- eschichtlicher Vorgänge wenig Üebrigens braucht die Farbe der Eier nicht an den Dotter gebunden zu sein, sondern kann dem sonstigen Ooplasma ange- hören und in Form zarter Pigmentkörnchen darin verteilt sein. Bekannt dafür sind besonders die Froscheier mit ihrer starken, braunen bis schwarzen, Pigmentierung der animalen Hälfte. Eine sehr charakteristische Pigmentierung findet sich bei einem Seeigel (Strongylocentrotus lividus), indem ein unter der Eioberfläche gelegenes gelbrotes Pigment einen breiten, mehr dem vegetativen Pol genäherten Ring um das Ei bildet. Derartige Differenzierungen haben sich für das Studiuni der Entwickelung zumal als Marken für den Ablauf des Furchungsvor- gangs als sehr wichtig erwiesen und bilden auch eine wertvolle Hilfe bei experimentellen Beobachtungen. Dem Dotter, seiner Verteilung im Ei und der Struktur des Eikörpers überhaupt mußte eine eingehendere Betrachtung gewidmet sh 16 Ei und Eibüdung werden, da diese Dinge als bedeutungsvolle Faktoren für den Ablauf der Entwickelung erkannt wurden und die Eistruktur von bestimmendem Einfluß auf die Art der Aus- bildung gewisser Regionen sein oder doch im engen Zusammenhang damit stehen kann. Bei vielen Tieren lassen sich zwischen bestimmten Regionen des Embryos und des Eies Beziehungen feststellen, so daß diese Regionen im Ei bereits festgelegt erscheinen und aus der Form und Struktur des Eies, sowie der Dotter- und Pigment- verteilung in ihm erkannt werden können (prospektive Eistruktur). Experimentelle Untersuchungen an Coelenteraten, Echino- dermen, Ascidien, Amphibien und anderen Tieren haben dies mit Sicherheit erwiesen (vgl. den Artikel ,, E n t w i c k e lu n g s m e c h a - nik und Entwickelungsph ysiologie der Tiere"). In dieser und anderer Bezie- hung, vor allem hinsichtlich der Entwicke- lung der Organe ist die Verteilung des Dotters im Ei sehr bedeutungsvoll, weshalb ihr noch eine kurze Betrachtung zu widmen ist, soweit nicht vorher bereits die Rede da- von war. Die Verteilung des Dotters bringt es mit sich, daß sich gewisse Regionen im Ei unterscheiden lassen. Bei den mit einem sehr geringen Dottergehalt versehenen, sogenannten alecithalen Eiern ist dies zwar weniger der Fall, wohl aber bei denjenigen m * Pol diejenige des Nervensystems, also eines „animalen" Organsystems vor sich zu gehen pflegt, so daß man diesen Pol den ani- malen Pol des Eies nennt. Er ist übrigens für gewöhnlich noch dadurch gekenn- zeichnet, daß an ihm als der an Protoplasma reicheren, also bildungsfähigeren Region des Eies die sogenannten Reifimgsteilungen er- folgen und dementsprechend hier die „Rich- tungskörper" gefunden werden (vgl. weiter unten Abschnitt II). „T e 1 o 1 e ci t h a 1 e" Eier sind ebenso wie die „alecithalen" im Tierreich sehr verbreitet und finden sich von den Schwämmen bis hinauf zu den Säugetieren. Die Dotteranhäufung am vegetativen Pol kann stärker und stärker werden, so daß die Bildungsmasse, das Protoplasma immer mehr nach dem animalen Pol hin verdrängt wird und schließlich hier nur noch eine ganz dünne scheibenförmige Lage bildet (Fig. 19). Dies ist dann der einzige noch Fig. 18. Gastropodenei mit Keimbläschen, Keim- fleck und Dotter. Eiern, deren Dottergelialt mehr zunimmt. Dies so pflegt bei sehr vielen tierischen Eiern zu geschehen, daß die Dotteranhäufung an einem Pole eine stärkere wird als an dem ^gengesetzten Pole (Fig. 18); man spricht dann von telolecithalen Eiern und be- zeichnet den dotterreichen als den vege- tativen Pol, weil später in der Embryonal- entwickelung an diesem Teil des Eies zu- meist die Anlage eines ausgesprochen „vege- tativen" Organs, nämlich des Darmkanals erfolgt, während an dem entgegengesetzten Fig. 19. Cephalopodenei im Längsschnitt, oben die Keimseheibe (ks) mit dem Keimbläschen, das übrige Dotter. bildungsfähige Teil am Ei gegenüber der so ungemein umfangreich gewordenen Nähr- substanz, welche den gesamten übrigen Ei-Inhalt ausmacht; da an ihr zunächst ausschließlich die Eifurchung und Anlage des Embryos erfolgt (vgl. den Artikel „Onto- genie"), so nennt man sie die Keimscheibe der so extrem ausgebildeten telolecithalen Eier (Fig. 19). Man findet diese sehr umfang- reich werdenden Eier vor allem bei den "Wirbeltieren, nämlich bei den Fischen, Rep- tilien und Vögeln, ausnahmsweise auch be; Ei und Eibildung; Vi Bedürfnis und bei von der den Amphibien (Cöcilien) während die Säuge- tiere kleine, verhältnismäßig dotterarme Eier besitzen, die sich total und nicht nur partiell furchen, wie es bei den anderen dotter- reichen Eiern der Fall ist. Diese durch eine discoidale, sich nur an der Keimscheibe vollziehende Furchung ausgezeichneten Eier der meisten Wirbeltiere nennt man deshalb „meroblastische" Eier im Gegensatz zu den sich vollständig (total) furchenden ,,h o 1 o b 1 a s t i s c h e n Eier n", wie sie außer den Säugetieren unter den Vertebraten noch den Amphibien wie den meisten anderen Tieren zukommen. Ausnahmsweise finden sich meroblastische Eier mit Keimscheibe auch noch bei einer Anzahl anderer Tierformen, so unter den Weichtieren bei den Cephalo- poden, unter den Gliedertieren beim Skorpion und einigen Krebsen (Oniscus, Mysis, Cuma), unter den Manteltieren (Tunicaten) bei den Feuerwalzen (Pyrosomen). Das Vorkommen dieser eigenartig strukturierten Eier mit einem dadurch bedingten besonderen Furchungsveiiauf bei so ganz verschiedenen Tierformen zeigt mit Sicherheit an, daß diese Eiform dem vorhandenen folgend zu verschiedenen Malen der einen Tierform unabhängig anderen entstand, daß ihr also irgendwelcher systematischer Wert nicht beizulegen ist. Ganz abweichend von der zuletzt ge- schilderten Verteilung des Dotters bei den telolecithalen Eiern ist diejenige, welche man bei den sogenannten „centrolecithalen Eiern" findet. Bei ihnen sammelt sich der DottPr und zwar ebenfalls sehr massenhaft im Ei-Innern an, um nur eine recht dünne Außenlage protoplasmatischer Substanz frei zu lassen (Fig. 20), das „Keimhautblastem" genannt, weil sich in diesem Bezirk, aber freilich in anderer Weise wie an der Keim- scheibe der telolecithalen Eier, die Ausbildunii- des Keims vollzieht. Jedenfalls ist aber auch hier diese ,, Bildungsschicht" gegenüber der zentralen Dottermasse der „centrolecithalen" Eier ausgezeichnet; allerdings vollziehen sich die ersten Entwickelungsvorgänge (Teilung der Furchungszellen) zunächst nicht in der peripheren Lage, sondern im Ei-Innern (vgl. den Artikel „Ontogenie"). Die Furchuims- kerne begeben sich dann größtenteils oder sogar alle in die protoplasmatische Rindenschieht. um hier das Blastoderm, die Keimhaut, zu bilden, wodurch die Furchung zu einer „super- ficiellen" wird. An dem Blastoderm ver- laufen zunächst die weiteren Entwicke- lungsvorgänge ziemlich unabhängig Dotter und da dies bis zu einem Grade auch die Furchung betrifft, so spricht man bei diesen Eiern ebenfalls von einer par- tiellen Furchung, was freilich im Hinblick auf die vorher im Eiinnern sich abspielenden Teilungsvorgänge nicht ganz richtig ist. Handwörterbuch der Naturwissenschaften Band lil Derartig gebaute und auf diese Weise sieh entwickelnde Eier besitzen hauptsächlich die Giedertiere, obwohl manche von ihnen (gewisse Krebse, Spinnen, Tausendfüße u. a.) eine totale oder dieser doch nahestehende Form der Furchung aufweisen, während wieder andere, wie schon oben erwähnt, Fig. 20. Dipterenei im Längsdurchschnitt. bl Keimhautblastem, ch Chorion, d Dotter, ; Eizelle außer dem Nährzellinhalt beher- bergen, so daß man von ihnen als von „Eiern'' zu sprechen pflegt (Fig. 28 A bis C). ei /® dz , Fig 28. Eikapseln A von Microcotyle mor- "ri, B von Distomum tereticolle, C von 1 Prostoma Steenstrupi, dz Dotterzellen, i . Fig. 27. Eikapsel von S c vi 1 in m mit den Befesti- gungsfäden. Nach Meisenheime r. und Ez Eizellen. Nach Lorenz, land und Halle z. Schauins- : Kokons, die allerdings nicht immer vom Leitungsapparat, sondern auch von Sekreten der Hautdrüsen geliefert werden, kommen bei den Regen würmern und Blutegeln vor (Fig. 29 Bei den zuletzt beschriebenen Eiern und 30)- Im ersteren FaU handelt es sich finden sich zuweilen mehrere „Eidotter" in A B einer Kapsel, welches Ver- halten zu den Kokons hinüber leitet, für die es gerade kennzeichnend ist, daß in einer Eikapsel mehrere Eier enthalten sind. Auch bei ihnen wird die Kapsel von Abschei- dungsprodukten des Lei- tungsapparates gebildet und solche liefern auch den gewöhnlich vorhandenen ernährenden Inhalt des Kokons, wenn nicht zellige Elemente (sogenannte Nähr- oder Dotterzellen) zum gleichen Zweck darin niedergelegt werden. Letz- : 1 . sr SP sn tere* gilt z. B. für die Eikapseln der Strudel- und Saugwürmer (Turbellarien und Trematoden) , von denen die letzteren aller- dings zumeist nur eine I Fig. 29. Regenwunn-Kokons(c)(Allolobophora foetida). A in der Schleimröhre (sr), B diese etwas zurückgezogen. Nach K. Foot. 22 Ei und Mbildung um gelbgefärbte, zitronenförmige Gebilde, die etwa erbsengroß werden und in der eiweiß- haltigen Flüssigkeit, welche sie erfüllt, mehrere A i> Fig. 30. Blutegel-Kokons (Hirudo medicinalis) in Oberflächenansicht (A) und durchschnitten (B). Nach Meisenheimer. Eier führen; sie werden außerdem bei der Ablage noch mit einer schützenden Schleim- hülle umgeben (Fig. 29). Die bis zu 2 cm Länge erreichenden Kokons der Blutegel sind von einer schwammigen Masse über- deckt, welche ihrer Wand eine besondere Dicke verleiht (Fig. 30). Aehnliche Kokons, die jedoch innerhalb des Geschlechtsappa- rates gebildet werden, finden sich auch bei den Insekten. Bei Mantis sind es aus einer spongiosen Masse bestehende Kapseln, die mit breiter Basis an Pflanzenstengeln oder Steinen sitzen. Bei den Schaben (Peri- planeta und Phyllodromia) sind es feste chitinöse Gebilde von kofferartiger Form, die in Fächern aufgereiht die Eier enthalten und vom Weibchen am Hinterleib herum- getragen werden. Bei dem Wasserkäfer — (Hydrophil us) stellt der Kokon ein regel- mäßig geformtes, ovales Gespinst dar, welches pallisadenartig angeordnet 45 bis 50 Eier enthält, an der Unterseite schwimmender Blätter am Wasserspiegel angelegt wird, und von dem mastartig ein ebenfalls ge- sponnener dünner Stiel nach oben ragt. Aus Fäden gesponnene Kokons umhüllen auch die Eier der Spinnen, welche ebenfalls gelegentlich vom Tier herumgetragen werden. Kokons von recht verschiedenartiger Form und Struktur kommen bei den Schnecken vor, bei welchen sie rund, oval, becherförmig gestaltet, mit Stielen versehen und gedeckelt sein können; die häutige Kapsel kann durch Inkrustation mit Kalksalzen die Konsistenz einer Kalkschale annehmen. Wenn die Kapsel bei einigen Landschnecken noch sehr umfangreich wird und wie bei der ceylonesi- schen Hei ix Waltoni die Größe eines Sper- lingseies oder bei einigen südamerikanischen Bu lim us-Arten diejenige eines Tauben- eies erreicht, so ist die Aehnlichkeit mit einem Vogelei eine recht große und kann zu einer Verwechselung damit führen. Insofern solche Kokons nur einen Embryo zu ent- halten pflegen, sind sie von einem echten „Ei" nur schwer zu unterscheiden. Eine Täuschung kann darin freilich insofern bestehen, als in dem Kokon zuerst mehrere Eier und Embryonen vorhanden waren, von diesen sich jedoch einige oder auch nur einer auf Kosten der anderen entwickelte und schließ- lich allein zur völligen Ausbildung gelangte, während die anderen zugrunde gingen und direkt oder indirekt zu seiner Ernährung verbraucht wurden. Bei einer anderen Schnecke (Janthina) werden die becherförmigen Eikapseln an einen voluminösen spindelförmigen, aus ent- sprechender Substanz bestehenden Körper befestigt, welcher luftführende Räume enthält und mit welchen die Schnecke, da er am zugespitzten Ende ihres Fußes befestigt ist, wie mit einem Floß herumschwimmt. Derartige wie einige der anderen angeführten Fälle gehören bereits in das Kapitel der Brutpflege, auf welchen Artikel hiermit verwiesen sei*(ArtikeIf„Br utpf lege"j. IL Eizelle und Eireifung. Nachdem"; wir die "Morphologie des Eies kennen lernten, ist die Basis gewonnen für die Erörterung des Begriffs „Ei" und „Eizelle", welche im Rahmen dieses Artikels nicht zu ent- behren ist, wenn sie auch aus bestimmtenGrün- den gewöhnlich in Verbindung mit anderen Er- scheinungen vorgenommen wird. Mit der Be- zeichnung Ei pflegt man recht verschiedene Dinge zu belegen, was sich praktisch schwer vermeiden läßt und daher auch in den vor- stehenden Ausführungen geschah. So spricht man von einem „Ei" als dem ganzen mit den Eihüllen ausgestatteten Gebilde, wie wir es etwa im Vogelei kennen, anderer- seits nennt man Eier und Eizellen auch die hüllenlosen, jüngeren und älteren weib- lichen Keimzellen deren Kern das Keim- bläschen ist und an denen sich also die Reifungsteilungen noch nicht vollzogen haben. Andererseits belegt man mit dem Namen Eizellen auch diejenigen Eier, welche den Reifungsprozeß bereits durchmachten. Obwohl dieser Vorgang erst am Schluß der Eibildung stattfindet, wird es aus den angegebenen Gründen wünschenswert sein, ihn schon an dieser Stelle kennen zu lernen, wenn dies auch allerdings hier nur gairz kurz geschehen kann und im übrigen auf den Ar- tikel „Befruchtung" verwiesen werden soll. Wenn das Ei seine völlige Ausbildung erlangt hat und der Befruchtung entgegen- geht, so vollzieht sich an ihm jener Vorgang, der schon lange als Bildung der Richtungs- I körper bekannt ist. Er besteht in der Haupt- Ei und Eibildung 23 sache darin, daß die ungereifte, mit Keim- einer großen Zelle, der gereiften Eizelle bläschen versehene „Eizelle" eine zweimalige und zweier oder dreier kleiner Zellen, der Teilung durchmacht, welche zur Bildung sogenannten Richtungskörper führt (Fig. 31) ; A B Fig. 31. Verlauf der Eireifung vom Keimbläschenstadium mit Chromosomen und Centrosomen (A) bis zur Ausbildung der ersten und zweiten Reifungsspindel (B — E) und Abschnürung der beiden Richtungskörper (C — F). Eingeleitet wird die Teilung dadurch, daß das Keimbläschen an die Peripherie des Eies und zwar gewöhnlich an den proto- plasmareichen animalen Pol rückt, wobei die Kernmembran schwindet, die färbbare j Substanz des Kernes Chromosomen liefert und der Nucleolus verloren geht, am Rande aber ein sich teilendes Centrosoma mit den Strah- lungen auftritt (Fig. 31 A). An der Eiperi- pherie bildet sich also eine Kernspindel mit Aequatorialplatte (vgl. den Artikel „Zell- teilung"); die sich weiter ausbildende, mit den beiden Tochterplatten versehene erste Reifungs- oder Richtungsspindel rückt mit ihrem äußeren Teil in eine hügelförmige Verwölbung des Ooplasmas hinein (Fig. 31 C . A^S5üP3). Indem letztere sich abschnürt, ist die erste Reifungsteilung vollzogen und der erste Richtungskörper gebildet. Dieser sowohl wie die übrig gebliebene große Zelle gehen sofort eine neue Teilung ein, indem die beiden Tochterplatten zur Aequatorial- platte je einer im ersten Richtungskörper und im Ooplasma gelegenen zweiten Rei- fungsspindel werden (Fig. 31 D und E). So wird der zweite Richtungskörper gebildet und der erste teilt sich in zwei kleine Zellen (F). Der im Ooplasma zurückbleibende, ziemlich kleine und chromatinarme Kern wird zum „Eikern" oder „weiblichen Vorkern". Infolge seines geringen Gehaltes an färb- barer Substanz erscheint er hell und ist im Vergleich mit dem gewöhnlich sehr umfang- reichen Keimbläschen recht unansehnlich. Später bei der Befruchtung vereinigt er sich mit dem Spermakern zur Bildung des Furchungskerns oder der Furchungsspindel. Das Ei ist also jetzt befruchtungs- und ent- entwickelungsfähig. Auf die wichtige Be- deutung des hier kurz geschilderten Vorgangs, auf die vielfachen Modifikationen, welche er zumal im Hinblick auf der Verhalten des Chromatins erfährt, sowie auf die weit- gehenden theoretischen Folgerungen, welche man zumal im Hinblick auf das Vererbungs- problem daraus gezogen hat, kann hier nicht eingegangen werden (vgl. die Artikel „Be- fruchtung" und „Vererbung"). Da- gegen muß auf die Konsequenzen hingewiesen werden, welche sich aus dem Vorgang der Reifungsteilung für die Auffassung der Eizelle ergeben. Es ist ersichtlich, daß die Keimzelle vor dem Vollzug der Reifungsteilung nicht den gleichen Wert haben kann wie diejenige nach geschehener Abgabe der Richtungsköper und daß man sie nicht wohl mit derselben Bezeichnung Ei oder Eizelle belegen sollte, wie es zumeist geschieht und zwar deshalb geschieht, weil die morphologische Beschaf- fenheit des Eies durch den ganzen Prozeß kaum beeinflußt wird. Eine gewisse Klärung dieser Verhältnisse ergibt sich aus dem Vergleich mit den bei der Bildung der Sperniatozoen sich vollziehenden letzten Teilungen. Man muß dabei auf die Ursamen- zellen zurückgehen , welche den bildungs- fähige]! Abschnitt der männlichen Keim- drüse erfüllen und in fortgesetzter Vermeh- rung begriffen sind; sie liefern die sogenannten 24 Ei und Eibilduns. Sperinatogonien, die zu den Spermatocyten heranwachsen und dabei gewisse Umbildun- gen ihres Zellkörpers erfahren. Die letzten beiden Teilungen dieser Zellen sind es nun, welche sich ohne weiteres mit den Reifungs- teilungen der weiblichen Keimzellen ver- gleichen lassen. Eine Spermatocyte erster Ordnung liefert in der ersten Reifungsteilung zwei Spermatocyten zweiter Ordnung (Fig. 32 A bis C) und jede von diesen durch den A B H Fig. 32. Verlauf der Samenreifung beim Pferde- spulwurm (As caris megalocephala bivalens). h. — C Spermatocyten n. Ordnung, D — H Sperma- tocytenlll. Ordnung oder Spermatiden (H). Nach A. Brauer. entsprechenden Vorgang, wie er oben von der zweiten Reifungsteilung des Eies beschrieben wurde, zwei sogenannte Spermatiden (D bis H), d. h. diejenigen Zellen, welche sich direkt zu den Spermatozoen umbilden Hier sind also vier funktionsfähige Zellen entstanden, während dort nur eine solche, die gereifte Eizelle und drei kleine bei der Embryonalentwickelung zugrunde gehende Zellen, die Richtungskörper, geliefert werden. Sie sind nichtsdestoweniger Zellen und der Vergleich mit jenen männlichen Zellen legt es nahe, sie als zurückgebildete, abortive Eizellen zu betrachten. In Analogie mit den männlichen Keim- zellen spricht man auch im weiblichen Ge- schlecht von Oogonien und Oocyten, von denen sich die Oocyten erster Ordnung bei der ersten Reifungsteilung in die beiden Oocyten zweiter Ordnung und diese in je zwei Oiden (gereifte Eizelle und zweiter Richtungskörper oder die Teilprodukte des ersten Richtungskörpers) teilt. Hiernach wäre es angezeigt, die heranwachsenden weiblichen Keimzellen nur als Oocyten zu bezeichnen und den Namen Eizelle für die gereiften Zellen zu verwenden, d. h. für diejenige Zelle, welche mit der gereiften und ausgebildeten Samenzelle zum Befruch- tungsakt zusammentritt. Aber ebensowenig wie bei den männlichen hat sich dies bei den weiblichen Zellen recht durchführen lassen, was wohl damit zusammenhängt, daß die weiblichen Keimzellen vor wie nach der Reifungsteilung ungefähr gleiche Struk- tur und Größe zeigen. Bedient man sich, wie es zumeist geschieht, des Sammelbe- griffs Eizellen für die weiblichen Zellen im nicht gereiften und gereiften Zustand, so muß man sich nur dessen bewußt sein, daß man es mit zwei recht verschiedenen Stadien der Oogenese zu tun hat. III. Eibilduiig (Oogenese). Von einem Teil der Eibildung mußte schon in den beiden vorhergehenden Abschnitten ge- sprochen werden, da sie sich schwer von der Morphologie des Eies und seiner Reifung trennen läßt. So wurde besonders die eigent- liche Ausbildung des Eies und die Dotter- bildung, bei denen auch Beziehungen zwischen Kern und Ooplasma in Betracht kommen, in Verbindung mit der Morphologie besprochen. Hier handelt es sich hauptsächlich um die Beziehungen der Oocyten zu anderen Zellen des Körpers und vor allem zu denen, mit welchen sie bei ihrer Ausbildung in nähere Verbindung feä&k^^W-7 i. Die verschiedenen Formen der Ei- bildung. Als primitivste Form der Ei- bildung wird man diejenige bezeichnen müssen, bei welcher die Eizellen regellos im Körper des Muttertiers verteilt sind, wie man dies bei den Schwämmen findet (Fig. 1). Die jungen Eizellen zeigen amöboide Gestalt (Fig. 1 und 45 A), wie dies auch bei Ei und Eibildung 25 den Zellen des Körperparenchynis der Fall sein kann; so sind sie von diesen schwer zu unterscheiden und werden auch direkt von ihnen hergeleitet (F. E. Schulze, Jörgensen 1910). Amöboide, über einen beträchtlichen Teil des Körpers verstreute Keimzellen kommen auch bei den Hydroidpolypen vor, bei denen sie nicht nur Wanderungen in den Epithelschichten ausführen, sondern auch von einem in das andere Keimblatt vor- dringen (Fig. 33 und 34), um ihre endgültige schon bei den Schwämmen eintreten kann. Die diffuse geht dann in eine lokalisierte Eibildung über, wie sie den allermeisten Tierformen zukommt. Die Bildung erfolgt also im allgemeinen in den Gonaden, den weiblichen Keimdrüsen, die man als Eier- stöcke oder Ovarien bezeichnet. Diese selbst sind unter Umständen nur mehr oder weniger umfangreiche Zellenhaufen, die durch fortgesetzte Zellwucherung entstanden (Fig. 35). Umgeben sie sich mit einer binde- ect ent ge. pm. — «h. B. cj.äT pm.. V.r. pm,-- T.v. ect ent ent ect ei ->~ Fig. 33 u. 34. Längsschnitte durch einen Zweig eines Hydroidpolypen (Eudendriuin race- mosum) mit wandernden Oocyten (ei) im Ectoderm (ect) und Entoderm (ent), sowie Durchbrechen der Stützlamelle zum Durchtritt von einem in das andere Keimblatt, bl Blasto- stylknospe. Nach A. Weismann. Lagerstätte aufzusuchen. Die Keimzellen bilden dann eine Gonade, wie übrigens eine gruppenweise Zusammenhäufung zur Bildung eines noch recht primitiven Ovariums auch Fig. 35. Entwickehmg des Eierstocks eines Ringelwunrjs (Amphitrite rubra). A — C Keimepithel (ge) und Geschlechtsdrüse (gdr) als Wucherung des Peritoneal- epithels (pm), D Ovarium mit sich loslösenden Oocyten (gz), Vv^r Bauchgefäß. Nach E. Meyen gewebigen oder epithelischen Membran, so hat man bereits besser abgeschlossene Ova- rien vor sich. Diese können plattenförmig, sack- oder schlauchförmig, traubenförmig verzweigt und von manchen anderen Formen sein. In ihnen hegen die jüngeren und älteren Ausbildungsstufen der Keimzellen entweder dicht gedrängt in einem massigen Keim- lager oder in Form eines Keimepithels (Fig. 36 und 37); sie lösen sich dann ab und gelangen in einen zentralen Hohlraum, welcher direkt oder indirekt in Verbindung mit dem Leitungsapparat steht, durchweichen die Eizellen nach außen geführt werden. In den Ovarien können recht verschie- denartige Zellen enthalten sein, je nachdem sich die Ausbildung des Eies in einfacher oder komphzierter Weise vollzieht. Vor allen Dingen lassen sich jedoch in der Ei- bildung drei Perioden unterscheiden, nämlich eine solche, während der sich die Keimzellen noch in Vermehrung (Teilung) befinden, 26 Ei und Eibildung Fig. 36. Längsschnitt durch Eierstockund Eileiter eines Ruderfüßers (Cantho- camptus staphylinus). Nach V. Haecker. Fig. 37. Blindes Ende des Eierstocksschlauehes von epithel, jüngeren und älteren Eiern. Nach Seesternen mit H. Ludwig. Keim- eine zweite, die Wachstumspe- riode, in welcher das Ei seiner Ausbildung ent- gegengeht und eine dritte , die Keifungsperiode, d. h. diejenige des Vollzugs der beiden Reifungs- teilungen , oder der Absclmürung der Richtungs- körper.Im Gegen- satz zu der Aus- bildung der männlichen Zel- len erfolgt der letztere Vorgang meistens nicht mehr in der Keim- drüse, sondern im Leitungsapparat oder außerhalb des mütterlichen Körpers. Obgleich er also den Ab- schluß der Ooge- nese darstellt, mußte er aus den oben angegebe- nen Gründen bei unserer Darstel- bereits vor- lung weg genommen sp_ I Bt • •• . ep w3 8oo 40 >i S40 5 000 13 600 20 000 ? 2 000? 60 000 200? 53" 32°N O — IO° 40—50° s 60—83° 70—80° 65—80° 50—70° 67 — 90° 100 oo( ?) 20(?) >I OOO 1 900 OOO 88 000 >IOO OOO 3 000 1 3 OOO OOO 2400 — 3200 2600 — 2900 3560 2900 2900 — 3800 750—1900 700 — 900 4800 — 6000 1600 — 3200 700 — 2200 1700 — 2200 3000 — 4000 3900 4900 4600 — 4700 4700 — 4S00 5300—5400 6200 4400— 4750 i.E. 6600 i. \Y. 3100—4500 1500 — 1700 1450 800 500 — 900 33oo 4500—5200 2000 — 2400 o — 1300 300 — 400 100 400 o IIOO 1620 o 60(0) 2900 ? o o 1460 4000 200 o o o o größeren Alpengletscher z. B. liegt sie zwischen 30 und 150 m/Jahr; .bei Gletschern des Himalaya wurden mehr als 700 m/Jahr gemessen, während einzelne Abflüsse des grönländischen Inlandeises Verschiebungen von 1000 bis 7000 m/Jahr erfahren. Der Uebergang von der Randgeschwindig- keit zur maximalen Achsengeschwindigkeit ist stetig; die Zunahme ist am Rand groß, gegen die Mitte klein; bei breiten Gletschern ist der mittlere Teil eines Quer- schnittes beinahe gleich rasch bewegt; in den Außenteilen (je 1/i bis x/5 der Breite) findet die Abnahme auf etwa y5 bis 7 10 der Maximalgeschwindigkeit statt. Diese Art der Geschwindigkeitsänderung in einem Querprofil (an der Oberfläche) bleibt dieselbe, wenn auch ein Gletscher aus meh- reren Zuflüssen besteht; an den durch die Längsmoränen (vgl. unten) gekennzeichneten Verschmelzungsstellen zeigen sich keine sprungweisen Aenderungen der Geschwindig- keit. Die Kurve, welche die Oberflächenge- schwindigkeit für einen Querschnitt angibt, zeigt fast bei allen beobachteten Gletschern in der Nähe des Randes zwei Wendepunkte. Für den Hintereisferner liegen diese Punkte so, daß sie Stellen starker Tiefenzunahme des Gletschers entsprechen. Es ist zu vermuten, daß ähnlich wie die Geschwindigkeit gegen den Rand abnimmt, sie sich auch in der Richtung der Tiefe ändert. Wenn für das abwärts von einem zu untersuchenden Querschnitt gelegene Gletschergebiet an möglichst vielen Stellen die Oberflächengeschwindigkeit und der Be- trag der jährlichen Eisabschmelzung be- kannt sind, so läßt sich die Tiefe jenes Quer- schnittes an einzelnen Stellen ermitteln, 46 Eis unter der Voraussetzung, daß für alle senk- recht untereinander hegenden Eisteilchen die- selbe Geschwindigkeit gelte, wie für die oberste. Solche Beobachtungen und Profil- rekonstruktionen wurden für den Hintereis- gletscher (Oetztaler Alpen) ausgeführt. Spä- ter angestellte Tiefbohrungen führten zu dem Ergebnis, daß die mittlere Querschnitts- geschwindigkeit etwa 0,6 der Oberflächen- geschwindigkeit beträgt. Bei den Tief- bohrungen zeigte sich auch, daß wahrschein- lich bis in große Tiefe hinab fast die gleiche Geschwindigkeit wie für die Oberfläche gilt. Daraus folgt, daß die Abnahme der Ge- schwindigkeit nach der Tiefe einem ähnlichen Gesetz folgt, wie die von der Mitte gegen den Rand. Die Tiefbohrungen ergaben außerdem, daß die Stellen starker Neigungsänderung im Querschnitt genau da liegen, wo sie nach den Konstruktionen auf Grund der Geschwindig- keits- und Abtragsmessungen liegen müssen. Dies ist eine wesentliche Stütze für die Mei- nung, daß ein Gletscher an ständiger Ver- tiefung seines Bettes arbeitet (vgl. unten Abschnitt 13). Im Längsprofil nimmt die Geschwindig- keit von den obersten Punkten des Firnes zu bis zu einer Stelle, die dem Uebergang aus dem Sammelbecken in das engere Ab- flußtal nahe liegt. Bis dahin wächst die Dicke der Eisschichte wegen des Zusammen- schubes von den Seiten her und wegen der Vermehrung des Materiales durch Auftrag von Schnee. Von dieser Stelle an bis zum Gletscherende nimmt die Geschwindigkeit, den wechselnden Neigungsverhältnissen ent- sprechend, ab, weil durch die Abschmelzung des Eises die Dicke des Gletschers beständig abnimmt. Auch dies ist durch zahlreiche Beobachtungen bestätigt. (Mer de Glace, Rhonegletscher, Hintereisferner, Vernagt- ferner u. a. m). Gelegentlich der Tiefbohrungen am Hinter- eisgletscher konnten Temper at u r m es- sungen bis zu 148 m Tiefe ausgeführt werden. Sie ergaben, daß die Gletscherzunge in ver- schiedenen Tiefen die dem (Vertikal-)Diuck entsprechende Schmelztemperatur hat. Diese Temperaturverhältnisse werden (mit Aus- nahme der Oberflächenschicht) durch die Jahreszeiten kaum beeinflußt. Von welcher Stelle im Firn an die Schmelztemperatur herrscht, ist bis jetzt nicht sicher bekannt. 10. Spalten. Bei der Bewegung des Eises, wie sie vorausgehend in den Hauptzügen tnzeichnet wurde, muß jede der verti- und zur Gletscherachse senkrechten Platten, in die man sich den Gletscher zer- legt denken kann, ausgewalzt werden. Die Hauptstreckimg erfahren dabei die Rand- partien, in di nen die stärksten Aenderungen der Geschwindigkeit stattfinden. Die bei dieser Streckung auftretenden Zugspan- nungen sind häufig größer, als die Zug- festigkeit des Eises; dies muß dann zer- reißen und die entstehenden Risse sind senkrecht zu den Richtungen der Zugspan- nungen. Die Randspalten müssen dem- nach beim Entstehen vom Rand schräg aufwärts gegen die Gletscherachse gerichtet sein. Das Reißen der Spalten ist von einem dumpfen Knall und einer fühlbaren Er- schütterung der Eismasse begleitet. Durch den anfänglich kaum ein Viertelmillimeter breiten Riß fließen die oberflächlichen Schmelzwasser teilweise ab. Die Spalten- ränder entfernen sich wegen der Abschmel- zung und wegen der Bewegung immer mehr voneinader; im gleichen Maße, wie sich die Spalten oberflächlich erweitern, setzen sie sich in die Tiefe fort und einige Wochen nach dem Reißen klaffen fast senkrecht tiefe Schrunde, welche die Wanderung auf dem Gletscher erschweren. Bei großen Gletschern gehen nur ganz in der Nähe des Randes die Spalten bis auf den Grund; gegen die Mitte finden sie ihre Tiefengrenze wohl meistens im oberen Drittel der Eismasse. Aber auf dem Grunde des Gletschers, an der Gletschersohle, bilden sich Spalten aus der gleichen Ursache wie am Rand; auch hier finden starke Aenderungen der Ge- schwindigkeit statt und die deshalb ent- stehenden Grundspalten sind anfänglich schräg aufwärts gerichtet. Grundspalten entstehen außerdem, wenn das Eis eine nach unten konvexe Krümmung erhält, wie etwa am Fuß von Steilstufen, wo es vom größeren zu kleinerem Gefälle übergeht. Umgekehrt wird am oberen Rande einer solchen Felsstufe das Eis eine nach oben konvexe Oberfläche erhalten; dann sind die obersten Eisschichten starken Zugkräften unterworfen und es bilden sich Spalten, welche annähernd dem Rande der Steil- stufe parallel, also meist quer über den Gletscher laufen, Qu er spalten. Sie er- halten bei starken Gefällsänderungen große Weite und reichen sehr tief in die Eismasse hinab, so daß unter Umständen das Gewicht des vorderen Teiles zu groß ist, um von dem Querschnitt, der die Verbindung mit dem oberen Teile herstellt, noch getragen zu werden. Dann bricht das vorgeschobene Stück ab und stürzt der Höhe der Talstufe entsprechend in die Tiefe, um sich nach der Ankunft auf schwächer geneigtem Boden in Pyramiden, Zacken und Eisnadeln von grotesken Formen aufzulösen. Können die nachrückenden Eismassen über die Wand der Talstufe eine Verbindung mit den unten liegenden herstellen, so wird der Sturz der Eismassen durch den Widerstand der unten- liegenden verlangsamt. Der entstehende Eisbruch (Serac), dessen steile Wände. Eis 47 die wunderschön blaue oder blaugrüne Fär- bung des Eises besitzen, zeigt starke Zerklüftung in mehreren Richtungen, da außer den Querspalten auch noch Rand- spaltenbildung auftritt. Stürzen die Eis- massen über sehr beträchtliche Höhe ab, so ist ein förmliches Zerstäuben die Folge. Die Trümmermasse schmiegt sich der Gestalt des auffangenden Untergrundes an und wenn sie genügend anwachsen kann, bildet sie einen regenerierten Gletscher, der mit seinem Nährgebiet keinen unmittelbaren Zusammenhang hat. Tritt der Gletscher aus einer Talenge in eine Erweiterung, oder kann sich das Glet- scherende auf flachem Boden ausbreiten, so fließt die Eismasse nach den Seiten auseinan- der, es entstehen Längsspalten, die an- nährend in der Strömungsrichtung des Eises verlaufen. Am Gletscherende zeigen diese Längsspalten fächerartige Anordnung; sie werden gegen den Rand des Eises immer weiter, da jede Ursache, sie wieder zu schlies- sen, fehlt. Dagegen werden Spalten aller Art, die in höher gelegenen Gletscherpartien gebildet werden, im Laufe der Bewegung des Eises wieder geschlossen. Auch im Firn treten Zugkräfte auf, welchen das Eis nur bis zu einem gewissen Grade Widerstand leisten kann. Doch sind hier die Rand- spalten, wegen der geringeren Bewegung, weniger häufig als auf der Gletscherzunge. Nur der Bergschrund (Randkluft), jene große Kluft, die in den obersten Firnhängen beim Uebergang vom steilsten zum weniger steilen Eis ziemlich senkrecht zur Fallrichtung verläuft, tritt mit großer Regelmäßigkeit auf. Er entspricht einer Querspalte und markiert die Stelle, von der an die eigent- liche Bewegung des Gletschers beginnt. Die über der Randkluft gelegenen, steilen Eis- partien sind meist nur dünn und an den Untergrund angefroren, während der fließende Gletscher überall lose seine Unterlage be- rührt. Im Sammelbecken der Gletscher ent- stehen Firnklüfte von großer Weite schon bei Neigungsänderungen, welche die Gletscherzunge ohne wesentliche Störung ihres oberflächlichen Zusammenhanges pas- sieren kann. Spalten von 1 bis 2 m Breite finden sich im Firn an fast ebenen Stellen und solche von 10 und mehr Meter Weite gehören nicht zu den Seltenheiten. Auch hier kommen steile Abstürze vor und es hängt von der Höhe der Wand ab, ob in gewissen Zeiten abwechselnd mächtige Lawinen ab- stürzen, oder ob ein fast rein weißer Eisfall, in welchem die blauen Farben an den Wan- dungen der zertrümmerten Masse (die noch sehr lufthaltig ist) fast ganz fehlen, den oberen Rand der Abbruchsteile mit dem unteren flacheren Gebiete verbindet. Die Spalten in den oberen Teilen des Firnes sind nur im Spätjahr, wenn der Gletscher weit ausgeapert ist, bequem sichtbar; dann findet man auch leicht die Stellen, Schnee- brücken, an denen die Klüfte überquert wer- den können. Früher, im Hochsommer, sind die Firnspalten meist noch verschneit; nur für sehr geübte Augen ist, wenn nicht frischer Schnee gefallen ist, ihre Lage auf einige Meter Entfernung erkennbar. Sie bilden dann ein sehr tückisches und gefährliches Hindernis für die Gletscherwanderer, die in diesem Gebiete durch Seilverbindung sich gegenseitig sichern müssen. Die Zerklüftung, wie sie hier geschildert wurde, trifft in erster Linie für die Gletscher des alpinen Typus zu. Aber auch im grön- ländischen Inlandeis, sowohl in der Nähe der randlichen Nunataker, als im Inneren, gibt es Spalten und ebenso wissen wir, daß die ' von mächtigen Hochgebirgen herabziehenden Eismassen des antarktischen Kontinentes stark zerklüftet sind. Auch hier zeigt sich also der Einfluß der Bodenformen auf die Gestaltung der Gletscheroberfläche. Die Mächtigkeit der Inlandeisdecken kann dem- nach nicht außergewöhnlich groß sein. ii. Struktur. Die Firnschichtung ist auf ausgedehnten Flächen zerklüfteten Firnes gut zu sehen. Während der Bewegung des Eises erfahren die anfänglich fast horizontalen Schichten starke Deformation; sie werden in löffeiförmige, ineinander liegende Schalen ausgewalzt, deren Ränder sich gegen die Ränder der Gletscherzunge und gegen das Gletscherende steiler aufrichten, während die axialen Teile flach bleiben. Diese durch Umformung aus der Schichtung hervorge- gangene Struktur ist auf der Gletscherzunge als Bänder ung vorhanden und durch das Ausgehende abwechselnd luftfreien blauen und luftreichen weißen Eises gekennzeichnet, das als eine Schar nach unten konvexer Linien über die Eisoberfläche läuft (Ogiven). Der Zusammenhang zwischen Schichtung und Bänderung ist durch Beobachtung (TL F. Reid) des allmählichen Ueberganges erkannt. Bei zusammengesetzten Gletschern hat jeder Zufluß für sich sein System von Ogiven ; an der Vereinigungsstelle zweier Zuflüsse stellen sich die Bänder beider Teile nahezu vertikal. Außer dem der Bänderung gibt es noch blaues und weißes Eis an vielen Stellen der Gletschermasse. So entstehen Ein- lagerungen von blauem Eis, wenn Wasser in Spalten eindringt, die sich während der Bewegung teilweise schließen und keinen Abfluß gewähren. Die Kristallachsen des klaren blauen Eises, das aus dem allmählich gefrierenden Wasser entsteht, sind senkrecht zu den Spaltenwänden. Fällt jedoch Schnee in solche sich schließende Spalten, so wird er in lufthaltiges, weißes Eis umgeformt. 48 Eis Auch aus Querspalten können bei Schräg- stellung ihrer Wände, längs deren feine Schmutzpartikeln verschoben werden, ogiven- ähnliche quer über die ganze Gletscherober- fläche (und Obermoränen) laufende Kurven entstehen. Oder es können in Eisbrüchen ausgedehnte parallele Eiswände in sich zu- sammenstürzen, während die benachbarten stehen bleiben. Die Abschmelzung wird beide Partien stark verändern, aber die Unterschiede im lufthaltigen aus dem zertrümmerten Material neu gebildeten Eise und dem benach- barten anderen bleiben unterhalb des Eis- bruches noch auf weite Strecken erhalten (Schmutzbänder). Gletscherkorn. Ein Stück Gletschereis ist aus Körnern zusammengesetzt, deren jedes ein Kristall von ganz unregelmäßigen Be- grenzungen ist, so daß die Gletscherkörner gelenkartig ineinandergreifen. Die Grenz- flächen der Körner sind für gewöhnlich nicht sichtbar. Sie werden es, wenn Schmelzwasser durch die feinen Haarspalten zwischen den Körnern in die Eismasse eindringen kann; dann schmilzt das an den Korngrenzen vor- handene Eis etwas leichter, als das der Korn- masse selbst. Die Kristallachsen der Glet- scherkörner liegen wirr durcheinander; es soll übrigens doch bei den Gletscherkörnern vom Ende des Gletschers, ■ die auf ihrem langen Wege viele Urnkristallisationen und Umlagerungen erfahren haben, eine Parallel- stellung in der Achsenrichtung benachbarter Körner auftreten. Im Firn sind die Gletscherkörner klein, etwa von Erbsengröße und durch Zusammen- schmelzen mehrerer Schneekristalle entstan- den. Am Gletscherende haben die Körner klaren, fast luftfreien Eises die Größe von Taubeneiern, ja von Fäusten. In der Zeit, welche der Firn braucht um den Weg bis ans Gletscherende zurückzulegen, ist also die Zahl der Gletscherkörner immer kleiner, das durchschnittliche Volumen eines Kornes aber immer größer geworden. Bei diesem Prozeß des Kornwachstums werden die kleinen Kör- ner von der größeren aufgezehrt. Die Ursache des Kornwachstums, das sich an allen Stellen innerhalb der Gletschermasse vollzieht, ist in | den durch die Bewegung der letzteren ver- anlaßten Druckschwankungen zu suchen, durch welche teilweises Schmelzen und dar- auffolgendes Wiedergefrieren benachbarter Körner zustande kommt. Bei diesem Um- kristallisieren wirkt die Anziehungskraft der größeren Körner richtend auf die fest wer- len Eispartikelchen. Für das langsam ^findende Kornwachstum genügen ganz Druckschwankungen im Eise, das temperatur ist. Ein Beispiel isammensetzung des Gletschereises lock vom Ende des Glacier des ntblancgruppe). Er bestand aus 40 Körnern mit einem durchschnittlichen Gewicht von 30 g; die 16 größten wogen im Mittel je 65 g, die 10 kleinsten je 2,5 g. Bei den Umkristallisationen wird auch die Luft immer mehr ausgetrieben; mehrere kleinere Luftblasen vereinigen sich zu einer größeren; deshalb muß die Reinheit und Klarheit des Eises gegen das Gletscherende hin beständig zunehmen. 12. Theorie der Gletscherbewegung. Die über Bewegung, Spalten und Struktur des Gletschereises beobachteten Tatsachen sind mit einer Theorie vereinbar, welche die Bewegung des Eises mit der einer sehr zähen Flüssigkeit vergleicht, die an ihrem Bette durch Reibungswiderstände gehemmt wird. Die Umfangsgeschwindigkeit ist in den verschiedenen Tiefen eines Querschnittes verschieden groß und ändert sich von Quer- schnitt zu Querschnitt. Daher darf die Be- wegung nur als ein Fließen oder Strömen, nicht aber als Gleiten auf fester Unterlage aufgefaßt werden. Ursache der Bewegung ist die Schwerkraft. Die beim Abwärts- bewegen erzeugte Energie wird z. T. inner- halb der Eismasse in Wärme verwandelt und hält die Temperatur derselben auf dem Schmelzpunkt. Die im Eis von Schmelz- temperatur, das unter Druck steht, not- wendig vorhandene Wassermenge ist wesent- liche Ursache der Plastizität des Eises, welche diesen Körper zum Fließen befähigt. Weil der Druck mit der Tiefe zunimmt, wächst auch diese Wassermenge und deshalb muß die Verschiebbarkeit der Eisteilchen (Glet- scherkörner oder Plättchen, aus denen ein Korn besteht) mit der Tiefe wachsen. Es ist wahrscheinluich, daß die Differenz zwischen Oberflächen- und Grundgeschwindigkeit in einer Vertikalen dem Quadrate der Eistiefe proportional ist. Die geometrischen Beziehungen, welche für eine strömende Eismasse bestehen, sind in S. Finster walders Strömungstheorie des Gletschers klar entwickelt. Diese Theorie hat mit der Erklärung der Bildung von Innenmoränen (s. u.) einen besonderen Er- folg aufzuweisen. Sie gibt vollständige Aufklärung über die Ursache der Geschwindigkeitsabnahme gegen das Gletscherende. „Es genügt vollständig die oberflächliche Ablation und die dadurch erzeugte Verminderung der strömenden Eis- massen in Betracht zu ziehen, um bei den auftretenden Gletscherformen die Erschei- nung vorauszusehen." Ebenso sind das Stranden der Bewegungslinien am Gletscher- rande sowie die gegen diesen zunehmende Krümmung der Oberfläche auf Grund dieser Theorie leicht zu verstehen. Ihr wesent- licher Inhalt besteht in Folgendem. Die Firnlinie teilt den Gletscher in zwei Gebiete, das Nährgebiet und das Abschmelzgebiet. Ein Eis 49 Eisteilchen, das im Firn anfällt, tritt in die Gletschermasse ein und beschreibt in ihr während der Bewegung des Gletschers eine Stromlinie, die im Abschmelzgebiet wieder auf die Gletscheroberfläche kommt, aus dem Gletscher austritt. Benachbarte Eisteilchen beschreiben benachbarte Stromlinien. Je höher im Firngebiet eine Stromlinie in den Gletscher eintritt, um so näher am Zungen- ende verläßt sie die Gletschermasse. Es kann auf diese Weise das ganze Firngebiet auf die Zungenoberfläche geometrisch abgebildet werden. Die Punkte der Firnlinie entsprechen dabei sich selbst. Wird der Gletscher als stationär voraus- gesetzt, ändert sich also seine Oberflächen- form an keiner Stelle, so muß in einer aus lauter Stromlinien gebildeten Röhre durch jeden Querschnitt in der nämlichen Zeit die gleiche Menge Eis befördert werden (Kon- tinuitätsbedingung). In sehr viele solcher Röhren kann man sich den Gletscher zer- legt denken; es kann keine Stromlinie aus einer dieser Röhren in eine benachbarte über- treten. Damit wird nicht nur jeder Punkt der Firnoberfläche je einem Punkt der Zungen- oberfläche eindeutig zugeordnet, sondern einer durch ein Netz von Längs- und Querlinien vorgenommenen Teilung des Firns entspricht eindeutig eine ähnliche Teilung der Zunge. Hat eine Masche des Netzes im Firn die Fläche F, die ihr zugeordnete auf der Zunge die Fläche f, und fällt in der Zeiteinheit, senkrecht zur Gletscheroberfläche gemessen, pro Flächen- einheit die Substanzmenge A an, während die ebenso gemessene Ablation auf der Zunge a beträgt, so sagt die Kontinuitätsbedingung zunächst F.A-f.a, Treten in F die Stromlinien mit der Ge- schwindigkeit V unter dem Winkel

l, d. h. der Gletscher kann nicht mehr stationär sein (Rückgang). Wird die Akkumulation A im Firn größer als V, so muß der Gletscher wachsen. — Für einige Gletscher der Alpen (Hintereis, Forno, Rhone), für welche die Ablation und die Geschwindig- keit im Firn und auf der Zunge an möglichst vielen Punkten gemessen wurde, konnten die Winkel $ und cp ermittelt werden. Es fand sich sinngemäße Uebereinstimmung mit den Böschungsverhältnissen in Firn- und Abschmelzgebiet. Für das Innere des Gletschers sagt die Kontinuitätsbedingung, daß für benachbarte auf den Stromlinien senkrechte Querschnitte Fi und F2 mit den Geschwindigkeiten vt und v2 F^v^F^. Mit Beachtung dieser Beziehung kann aus den beobachteten Werten der Oberflächen- geschwindigkeit und der Ablation die Er- mittelung der Eistiefe an einer Stelle des Gletschers vollzogen werden, die innerhalb des Beobachtungsgebietes liegt. Die für den Hintereisgletscher durchgeführte Rekon- struktion ergab Tiefen, welche mit den durch spätere Bohrungen gefundenen auf ca. 4% übereinstimmen (vgl. oben Abschnitt 9). Auf das Firngebiet wurden die theoretischen Betrachtungen bisher nur insoweit angewandt, als es sich um die während der Eisbewegung eintretende Deformation der Schichtflächen handelt. Ein sehr wichtiges Ergebnis der Strömungstheorie wurde durch deren Ur- heber mit der Erklärung der Moränen- bildung erzielt (vgl. unten 13: Anordnung des Schuttes). Beim Zusammenfluß zweier 1 Gletscher kommen Randgebiete der beiden in Berührung; es kann aber kein Ineinander- fließen stattfinden; vielmehr wird eine schuttführende Trennungsfläche zwischen beiden Gletscherteilen bestehen, die ent- weder schon vom Beginn des Zusammen- flusses an, oder erst unterhalb auf der Glet- scheroberfläche durch einen Schuttstreifen gekennzeichnet wird. 13. Eis und Fels. Wasser, das bei nor- malem Druck in Gestein eindringt und dort wegen Temperaturerniedrigung gefriert, muß eine Sprengwirkung auf das Gestein ausüben, weil es sich beim Festwerden ausdehnt. Es entstehen Risse im Fels und schließlich werden einzelne Bruchstücke von demselben losgesprengt. Auf diese Weise entstellt auch der feine Verwitterungsstaub, der sich überall in den Hochgebirgsregionen findet und z. B. auf den Firnfeldern ablagert. Solche Frost- verwitterung findet aber auch an der Sohle des Gletschers statt. Querschnittsände- rungen, Gefällsänderungen der Eismasse be- dingen Druckschwankungen innerhalb der- selben, die besonders stark bei Bewegungs- hindernissen auftreten. Hier wird das Eis teilweise schmelzen und soweit es fest bleibt, seine Temperatur erniedrigen. Das unter hohem Druck gebildete Schmelzwasser dringt ' in das Gestein unterkältet ein und gefriert, sobald es unter geringerem Druck steht. Der Betrag, welcher durch solche Frostver- j Witterung vom festen Fels im Laufe eines Jahres abgelöst wird, schwankt mit der Dichte und Härte des Gesteins. Klüftbarkeit ' des letzteren und der Verlauf der Klüftungs.- Handwörterbucn der Naturwissenschaften. Band III. 4 50 Eis flächen gegenüber der Bewegungsrichtimg des Eises werden ebenfalls von Einfluß sein. Was an der Firnumrahmung eines Gletschers abwittert und seine Unterlage verliert, stürzt auf die Firnoberfläche; frisch fallender Schnee überdeckt die Felstrümmer, welche mit diesem langsam zum Boden der Firn- mulde hinabsinken, wo sie in das Eis einge- backen, mit der diesem eigenen Geschwin- digkeit weiter zu Tal wandern. Sie bleiben stets auf der Unterfläche des Gletschers und bilden den ursprünglichen Bestandteil der Untermoräne (Grundmoräne). Sie kommen mit der Felsunterlage in unmittelbare Be- rührung und bearbeiten diese in ähnlicher Weise, wie die auf Leinwand gekitteten Schmirgelkörner Metalle schleifen und po- lieren. Das Gletscherbett zeigt überall die Spuren dieser Bearbeitung des Felses, dessen Oberfläche geschrammt und poliert, gerundet und geschliffen erscheint (Rundhöcker, Gletscherschliffe). Je nach der Härte des Gesteins werden die schrammenden und kratzenden Geschiebe, die natürlich selbst kantengerundet und gekritzt werden, ihre Spuren verschieden tief eingraben, welche als nahezu parallele Streifen annähernd in der Bewegungsrichtung des Eises verlaufen. Der Schleifprozeß wird durch die Klüftbar- keit und die Elastizität des feuchten Gesteins begünstigt und verstärkt, so daß als Produkte der Glazial-Erosion schließlich nicht nur feiner Schlamm und Schleifsand auf der Gletschersohle abtransportiert werden, son- dern auch die durch Frostverwitterung und einseitige Druckspannungen gelockerten grös- seren Gesteinsfragmente dem Trümmerwerk der Untermoräne einverleibt werden. Sand und Schlamm werden durch die Schmelzwasser der Gletschersohle dem Gletscherbach zuge- führt, von diesem talauswärts verfrachtet und in um so größeren Entfernungen vom Ursprungsort abgelagert, je kleiner ihr Korn ist. Ganz feiner Schlamm bleibt auch noch in den Gletscherabflüssen suspendiert, wenn sie längst das Gebirgsvorland erreicht haben. Die von Gletscherbächen mitgeführten festen Bestandteile schwanken zwischen einigen Gramm und 13 kg pro Kubikmeter Wasser, sowrit bisher Messungen vorliegen. Die daraus berechneten Größen des Abtrages der sich für ein Gletschergebiet ergibt, schwan- ken entsprechend zwischen einigen Tausend- stel Millimeter und 19 mm pro Jahr. Diese Zahlen müssen, um den wirklichen Abtrag für ein Gletschergebiet zu geben, noch um die Gesteinsmassen vergrößert werden, welche vom Gletscher abgelöst, aber nicht vom Gletscherbach, sondern unter, im und auf dem Gletscher transportiert werden. Die großen Zahlen für den Abtrag sind für große Gletscher (Alaska), die kleinen für kleine erhalten. Man kann also wohl sagen daß die glaziale Ero- sion mit der Größe der Gletscher und mit deren Geschwindigkeit wächst. Man ist von vornherein zu der Annahme geneigt, daß an Stellen stärkster Geschwindigkeit auch die Erosion am bedeutendsten ist (wenn das Gestein auf der ganzen Unterlage gleich- artig ist). Solche Gebiete sind die Region der größten Dicke des Eisstromes, die Stellen, welche kurz oberhalb der Eisbrüche liegen und die Strecken starker Neigung bei diesen Brüchen. Der Gletscher arbeitet also in der Region größter Geschwindigkeit an einer beständigen Tieferlegung seines Bettes und bei Talstufen an einer Verringerung der Neigung derselben. Der ausgehobelte Schutt wird nahe dem Ende abgelagert, wo auch wegen Ab- nahme von Druck und Bewegung die Ero- sionswirkung klein ist. Bei einem Alpen- gletscher ist also das Ergebnis der erodierenden Tätigkeit eine zunehmende Verflachung des Bettes, in welchem die Zunge talaus gepreßt wird und eine Zunahme der Neigung an den Wandungen des Firngebietes. Der Querschnitt des Gletscherbettes er- hält die Form eines breiten w im Gegensatz zu dem v förmigen Querschnitt eines durch Wassererosion entstandenen Tales. Auch bei kleinen, über der Schneegrenze liegenden Firnmassen findet Erosion und Verwitterung der Bergwandung statt, welche i wegen des Abtransportes der Erosionspro- dukte immer mehr zurückweicht. Rück- schreitende Erosion und Karbildung. Von besonderer Wichtigkeit ist die Beachtung der erodierenden Wirkung des bewegten Eises bei Beurteilung des Anteiles, welcher den Gletschern der Eiszeit an der Modellierung der Erdoberfläche zukommt. Die Alpen- täler z. B. sind von der oberen Schliffgrenze bis hinab zu ihren heutigen Sohlen, d. h. stellenweise 1600 m tief, unter Mitwirkung des Eises ausgestaltet; ebenso werden die Seen des Alpenvorlandes als Produkte gla- zialer Erosion angesehen. Die kleineren Täler zeigen an ihrem Ueber- gang in die großen Täler höher gelegene Sohlen, als diese. Die Haupttäler sind gegen die Seitentäler (Hängetäler) übei tieft; in ihnen hat der mächtigere Gletscher stärker erodiert, trotzdem sie kürzere Zeit vom Eis erfüllt waren, als diese, weil sich neben der größeren Eismasse die Wirkungen des druckhaften plastischen Gesteins hier am stärksten geltend machten. Wo besonders hartes und widerstands- fähiges Gestein das Gletscherbett bildet, muß dieses enger sein; es bleiben Felsriegel und Bodenschwellen stehen, wie sie in ehe- mals vergletscherten Tälern häufig gefunden werden : Selektive Erosion (z. B. Talenge Rhoneknie bei St. Maurice). Anordnung des Schuttes, a) Be- wegte Moränen. Was an der Firnumrah- Eis 51 mung eines Gletschers abwittert und auf diesen fällt, kommt allmählich auf die Gletschersohle und bleibt Untermoräne. Was am Rande der Gletscherzunge abwittert und auf die Zungenoberfläche fällt, wird hier forttrans- portiert und ordnet sich zu einem Walle, Seiten moräne, der so lange parallel dem Rande läuft, bis er an Stellen geringerer Neigung des Gehänges sich mit der Grund- (oder Unter-)moräne vermengt oder bis der Gletscherbach ihn zerstört und wegschwemmt. Treten im Inneren der Firnfläche Fels- inseln auf, welche vom Eis umflossen werden, so wird am Grunde beider Gletscherarme eine Bearbeitung der Insel stattfinden. Von der Vereinigungsstelle der Arme an bis zum Ende des Gletschers zieht dann im Inneren der Eismasse eine schuttführende Wand, In nenmoiäne,derenSchuttmasse von beiden Seitenflächen der Insel stammt, also ge- kritztes Grundmaterial ist. Liegt die Ver- einigungsstelle noch im Firn, so wird auch hier noch Schnee anfallen, der erst unterhalb der Firngrenze abschmilzt; also kann der Inhalt der Schuttwand erst unterhalb der Firngrenze auf die Oberfläche der Gletscher- zunge gelangen. Von der obersten Aus- ! schmelzstelle an zeigt sich auf der Zunge eine Obermoräne (Mittelmoräne, Längsmoräne) die gegen das Ende des Gletschers immer breiter wird, da stets neues Material der Innenmoräne das der Obermoräne vermehrt. Liegt die Vereinigungsstelle der die Insrl umfließenden Gletscherarme, also auch z. T. die Insel selbst unterhalb der Firngrenze, so wird von hier aus eine aus der Innenmoräne gebildete nach unten breiter werdende Ober- moräne bis ans Gletscherende ziehen. Zu dem aus Grundmoränenmaterial be- stehenden Schutt dieser Innenmoräne kann auch noch Abwitterungsmaterial kommen, das von den die Gletscherobei fläche über- ragenden Felsen der Insel stammt. Im ersten der beiden Fälle wird es sich mit dem Grundmaterial vereinen, also selbst Grund- material und auch gekritzt werden, da es ja von der Firnumrahmung stammt. Im zweiten Fall, wenn die Insel ins Abschmelz- gebiet eingreift, bildet das von einem Teil ihrer Felsen abwitternde Material nur einen nicht gekritzten Bestandteil der Obermoräne, der aber, gleichbleibende Schuttproduktion vorausgesetzt, längs des ganzen Walles der Obermoräne gleich bleibt, während das Grundmaterial sich abwärts immer stärker vermehrt. Felshindernisse im Firn, welche die Gletscheroberfläche nicht überragen, liefern Innenmoränen, die um so näher dem Glet- scherende auszuschmelzen beginnen, je höher oben die Hindernisse hegen. Sie bestehen, wie die im ersten der vorigen Fälle, nur aus Grundmaterial. In den Wänden von Spalten, welche quer durch Obermoränen laufen, sieht man nahezu vertikal verlaufende Streifen, längs deren Schutt aus dem Eise tritt ; sie sind die Spuren der Innenmoräne in den Spaltenwänden. Auf der Oberfläche der Gletscherzunge zeigt sich die Spur der Schuttwand der Innen- moräne als ein feuchtei Streifen, längs dessen verschieden große, häufig hochkant gestellte Schuttstücke ausschmelzen (Naht). Das Vorhandensein der Innenmoränen ist ein direkter Beweis für eine auf der ganzen Gletschersohle stattfindende Erosion. Bei Felsinseln, welche ganz im Bereiche der Gletscherzunge liegen, tritt Grundschutt auf die Eisoberfläche, der sich mit Rand- schutt mischen kann. Von der Insel an abwärts zeigt sich ein Schuttstreifen von gleich bleibendem Inhalt. In diesem Falle ist aber die Obermoräne nicht mit einer Innenmoräne ver- bunden. Sind die Bewegungslinien, die Verteilung der Geschwindigkeit über die Gletscher- oberfläche sowie auf dem Grunde bekannt, so ist man imstande aus der längs einer Innenmoräne pro Jahr ausschmelzenden Schuttmenge auf die Größe des jährlichen Abtrages zu schließen. Solche Messungen wurden am Hintereisgletscher angestellt und ergaben einen Abtrag von mindestens 0,027mm pro Jahr. Grundmoränenmaterial wird auch noch vom Eise in Grundspalten aufgenommen, die quer durch den Gletscher laufen. Kommen diese Eispartien in die Nähe des Randes, so kann der Schutt auf den Verschiebungs- flächen, die sich zwischen bodennahen, wäh- rend des Winters festangefrorenen Eis- schichten und den nachdrängenden Eismassen bilden und längs der alten Spaltenwände ver- laufen, wegen der Abschmelzung allmählich an die Oberfläche gelangen, wo er dann als Quermoräne auftritt. Auch solcher Schutt, der durch seitliche Wasserläufe im oberen Zungen- und Firngebiet auf den Grund von Spalten kam, die sich später wieder schlössen, kann in der Nähe des Gletscherendes eine Quermoräne bilden. Die Anordnung der bewegten Mo- S = M: I: Q= G = Fig. 1. = Seiten-Moräne \ m «Mittel- „ ) Obermoranen ^W ,',' ) ^«»moränen = Grund- ,, J Untermoräne. 52 Eis ränen läßt sich demnach in einem dem Gletscherende nahen (Ideal)- Querschnitt ver- anschaulichen, wie ihn die Figur 1 gibt. b) Abgelagerte Moränen. Aller Schutt, der auf, in oder unter dem Eise be- fördert wird, gelangt mit dem Verschwinden des Transportmittels zur Ablagerung. So lange ein Gletscher stationär ist, kann dieAblagerung, die nur an seinem Rande eintritt, bloß zur Bildung wallförmiger Schutthügel führen, welche den Gletscher- rand umdämmen. Es entstehen Ufer- und Endmoränen, indem an den Längsufern und an der Gletscherstirn beständig Grund- moräne unter dem Eise hervorquillt, die sich an einzelnen Stellen mit dem von den Obermoränen herstammenden Material mischt, wenn dieses von der steil abfallenden Gletscheroberfläche abrutscht. Schwindet der Gletscher, so hört die Bildung von Schuttwällen auf. Das abge- lagerte Material bildet dann eine ziemlich gleichförmige Decke über das eisfrei gewordene Gebiet, in welchem auch die Be- standteile der Innen- und Obermoränen in Streifen angeordnet als Längsmoränen zur Ruhe kommen. Rückt der Gletscher vor, so bewegt sich das Eis zunächst über die vorgelagerte Moränendecke, die nun als Ganzes zur Grund- moräne wird und unter hinreichend starker Eisdecke weiter talwärts wandert. Ein schwacher Schuttwall umgibt den Rand des vorschreitenden Eises; es ist die erste Anlage einer neuen Endmoräne, welche beim fol- genden Stillstand des Eises weiter ausge- bildet werden kann. Auch wenn der Rückgang eines Gletschers durch länger dauernden Stillstand unter- brochen wird, kann ein Endmoränenwall auf- geschüttet werden. Deshalb sieht man häufig auf der dem zurückgegangenen Gletscher vorgelagerten Moränendecke solche Wälle; ihre Zahl entspricht dem Minimum von Stillstandslagen, welche während der Rück- zugsperiode eintraten. Bei großen Gletschern, welche an ihrem Ende auf breitem, flachen Boden auseinander- fließen, zeigen die Längsmoränen radiale Anordnung innerhalb der Moränendecke, welche sie mehr oder minder hoch überragen. Diese Längsrücken entsprechen den Drums oder Dr umlins, welche in der Endmoränen- landschaft eiszeitlicher Gletscher gefunden werden. Gletscher, die ins Meer endigen, schieben natürlich auch ihre Schuttlast der Ober- moränen, ebenso wie die Untermoräne dahin. An der Stelle, wo das Eis wegen des Auf- triebes vom Boden abgehoben ist, entsteht auf diesem ein Schuttwall. Da die Erosionsfähigkeit eines Gletschers gegen das Ende zu immer kleiner wird, vor dem Gletscher aber, wegen der häufigen Schwankungen, eine Aufschüt- tung stattfindet, so kann das Zungen- ende eines auf flachem Boden auslaufenden Gletschers in einer muldenförmigen Ver- tiefung liegen. Diese Senke, das Zungen- becken ist an den Gletschern der Gegen- wart nicht, oder nur schwer nachzuweisen, innerhalb der Endmoränenlandschaft der eiszeitlichen Gletscher bildet es eine charak- teristische Eigentümlichkeit. c) Alluvionen des Gletscherbaches. i Die durch die Eisbewegung verursachten Schuttablagerungen erfahren durch das schlammreiche Wasser des Gletscherbaches Störungen. An einer oder mehreren Stellen durchbricht der Bach die Endmoräne, deren Geschiebe er teilweise fortrollt und außerhalb j des Moränenkranzes, mit Schlamm und Sand gemengt, ablagert. Es kommt so zur Aus- bildung großer Schotterflächen (Sandr): das vor dem Eise liegende Gebiet wächst über j die Sohle des Eises empor; es entsteht vor i der Endmoräne ein Schwemmkegel, Ueber- gangskegel, der stellenweise mit der End- moräne eng verbunden, verzahnt ist. Vor den großen Gletschern in Island und Alaska wurden Sandr und Uebergangskegel be- obachtet. In den Alpen sind 5 bis 10 km vom Ende des Gletschers in den Ablagerungen der Bäche die Spuren des Gletschertrans- portes vollständig verwischt. Schutt, welcher durch Längsspalten am Gletscherende auf den Grund fallen kann, wird dort mit Sand und Schlamm gemengt, stellenweise auch geschichtet, wenn der Gletscherbach ihn transportiert. Bei den eiszeitlichen Gletschern haben solche Bil- dungen teilweise große Ausdehnung erhalten (Ösen, Eskers, Kames). 14. Ernährung der Gletscher. Die Gletscher verdanken ihr Bestehen in erster Linie der Niederschlagsmenge, welche in den Sammelgebieten in fester Form anfällt. Diese schwankt mit den klimatischen Verhält- nissen der Gletschergebiete und ist in küsten- nahen Strichen der Hochgebirge größer, als in küstenfernen. Messungen über die jähr- liche Schneemenge in den Hochregionen sind bisher nur an einzelnen Stellen in den Alpen eingeleitet. Nach unserer bisherigen Er- fahrung darf für die Firngebiete der zentralen Ostalpen etwa 1 m Niederschlagshöhe pro Jahr (als Wasser gemessen) angenommen worden. Für die Randzone und die West- alpen ist die Niederschlagsmenge wohl etwas größer anzusetzen. Im Kaukasus soll sie bis zu 4 m, in Alaska bis 7 m betragen (nach Schätzungen). Auf Grönland und den übrigen arktischen Eisfeldern, sowie in der Antarktis wurden bisher immer mir kleine jährliche Schneemengen beobachtet; doch fehlen gerade hier eigentliche Messungen in Eis 53 den Hochregionen der Eisdecken. Von der im Firn anfallenden Niederschlagsmenge geht jedoch während der Zeit hohen Sonnen- standes und klaren Wetters ein beträchtlicher Teil durch Verdunstung in die Luft zurück; der Rest sinkt abwärts und dient zur Er- nährung der Gletscher. Auch Schnee, der auf die Gletscherzunge fällt, sowie Lawinen, die auf ihr abgelagert werden, vermehren die Gletschermasse: beide tragen also zur Erhaltung der Eisströme bei. "Aufzehrung der Gletscher. In den Hochgebirgen erfolgt die Auflösung der Gletscher durch Wärme die dem Eise ent- weder durch direkte Bestrahlung, oder durch bewegte Luft, durch Regen und Tau, durch die Schmelzwasser und endlich durch das Gestein, auf dem der Gletscher liegt, zuge- führt werden kann. Strahlung, Luftwärme, Niederschläge und Schmelzwasser, die über die Gletscheroberfläche herabrinnen, wirken hauptsächlich auf die Oberfläche ein und ergeben als Summe ihres Einflusses die Abschmelzung von oben, die Ablatio n. Schmelzwasser, die von oben durch Spalten in das Innere der Eismasse gelangen, Wasser, das von den seitlichen Talabhängen herab unter den Gletscher fließt, Luftströme, welche in Höhlungen mit den Wassermassen fort- gerissen werden, helfen mit das Eis zu zer- stören. Gegen die durch Ablation und Wasserläufe bewirkte Schmelzung des Gletschers ist die von der Erdwärme auf der Gletschersohle verursachte klein. Für Küstengletscher, welche ins Meer endigen, tritt zu den angeführten Mitteln, welche die Aufzehrung bewirken, als ein weiteres die Bildung von Eisbergen hinzu. Ablation. Für die Ablation ist, ebenso wie für die Verdunstung im Firn der Haupt- faktor die Strahlung, deren Intensität für die alpinenGletschergebiete zu etwa 2,1 cal/cm2 in der Minute bei schwarzer Auffangfläche, die zur Richtung der Wärmestrahlen senkrecht ist, angenommen werden kann. Die Strahlungswir- kung auf das Eis hängt von der Expo- sition der Eisoberfläche gegen die Sonnen- strahlung und von der Reinheit des Eises ab. Wo eine dünne, dunkle Sanddecke auf dem Eis liegt, schmilzt diese bis zu einer gewissen Tiefe in das umgebende reine Eis ein. Grober Schutt, oder dicke Sandschichten, die sich nur in den obersten der Sonne zugekehrten Teilen stark erwärmen, schützen das darunter hegende Eis gegen Abschmelzung; es bilden sich unter dicken Sandlagen Eiskegel aus, die ihre Umgebung um so mehr überragen, je mächtiger die schützende Decke ist. Auf den Himalayagletschern und am Rande des Inlandeises in N E Grönland wurden solche Kegel von 15 — 20 m Höhe beobachtet. Auf Alpengletschern, häufig bei Quermoränen zu sehen, erreichen sie bis 5 m Höhe. Unter großen Steinen bleiben Eispfeiler erhalten, so daß die Steine, wie Tischplatten auf einem Eisfuß ruhen (Gletschertische), von dem sie im Laufe der Zeit in der Mittagsrichtung abrutschen. Die schützende Wirkung, welche grober Schutt auf das Eis ausübt, ist auch die Ursache davon, daß die Obermoränen auf Eiswällen liegen, die vielfach recht beträcht- liche Höhen (10 bis 20 m über die umgebende Oberfläche) erreichen. Der Anteil der ein- zelnen Faktoren, von denen der Ablations- betrag abhängt, kann bis jetzt nicht getrennt angegeben werden. Die gesamte Größe des oberflächlichen Abtrages ist mehrfach ge- messen worden, indem man Stäbe in Bohr- löcher versenkte und deren Ausschmelzen beobachtete. Für Alpengletscher fand sich die Ablation bis zu 18 m/Jahr; in Grönland wurden 2 bis 2,3 m/Jahr gemessen, in Lapp- land bis zu 3,3 m/Jahr. Der Ablationsbetrag wächst von der Firnlinie bis zum Gletscher- ende rasch an, er ist auch in den seitlichen Randgebieten größer, als in der axialen Zone. Die Abschmelzung an der Obeifläche erfolgt hauptsächlich tagsüber und nur während der warmen Jahreszeit. Nachts und im Winter ist die oberste Kruste des Glet- schers meist gefroren. Die Schmelzwasser bilden zunächst kleine Bäche, welche über die Gletscheroberfläche rinnen. An Spalten werden sie in diese stürzen und entweder bis auf den Grund gelangen, oder die Ausbil- dung von Kanälen im Eis veranlassen, welche in der Talrichtung und allmählich auch gegen den Grund verlaufen. Hier vereinigen sich die einzelnen Wasserläufe zum Gletscher- bach, der am Ende des Gletschers aus dem Gletschertor hervorbricht. Wenn die Spalten, in welche Oberflächenbäche stürzen, im Laufe der Bewegung geschlossen werden, so bleiben doch häufig die von dem Sturzbach erzeugten vertikalen Kanäle noch lange erhalten: Gletschermühlen; sie wandern mit dem Eise talwärts. Gehen diese Kanäle bis zum Grund, so werden durch das ab- stürzende Wasser Steine der Grundmoräne in rasche Rotation versetzt; sie können bei hinreichender Härte das feuchte, druck- hafte Gestein des Gletscherbettes stark bearbeiten und kreisförmige Vertiefungen in diesem erzeugen, wenn die Fortschreitungs- geschwindigkeit des Eises nicht sehr groß ist. Auf diese Weise kann man sich die Riesen- töpfe und Strudellöcher in den Randzonen der eiszeitlichen Gletschergebiete entstanden denken, auf deren Grund häufig die Rollsteine gefunden werden. Am Muirgletscher in Alaska wurden auch Kanäle beobachtet, die innerhalb des Eises parallel zum Grund bis ans Gletscher- ende verlaufen. Die Abschmelzung durch die Erd- wärme beträgt ein Neuntel bis ein Siebentel 54 Eis der an der Oberfläche des Gletschers statt- während morgens Niedrigwasser ist. Die findenden. Sie kann aus der winterlichen Stunden des Eintritts der Extreme sind für Wassermenge der Gletscherbäche ungefähr bestimmt werden. Abschmelzung durch warme Quellen kann nur in seltenen Fällen sicher nachgewiesen werden. Oberflächenbäche, Schuttbedeckung, Run- dung der Spaltenwände durch die Ab- schmelzung, Wechsel zwischen Bändern blauen und weißen Eises geben der Gletscher- oberfläche im Sommer auch an Stellen geringer Neigung eine sehr unebene Beschaffenheit, welche kurz nach dem Verschwinden der winterlichen Schneedecke in geringerem Maße vorhanden ist, als im Hochsommer. Weil gegen den Rand und das Gletscher- ende die Geschwindigkeit des Eises rasch ab- nimmt, erhält in diesen Gebieten die Gletscher- oberfläche größere Steilheit. Am Rand des grönländischen Binneneises zeigen sich häufig 40 bis 50 m hohe vertikale Wände an Stellen Sommer und Winter nicht gleich, weil im Sommer das Wasser aus einem größeren Ge- biet stammt, also einen weiteren Weg bis zum Pegel hat, als im Winter. Aus dem gleichen Grund verschiebt sich der Eintritt des höchsten Wasserstandes zeitlich mit der Ausdehnung verschiedener Gletschergebiete. Je größer ein Gletscher, je länger seine Zunge, um so später am Tag zeigt sich das Maximum der Wasserführung nahe am Gletscherende. Der Umstand, daß die Gletscherbäche zur Sommerszeit am stärksten fließen, während andere Bäche und Flüsse wasserarm sind, macht sie zu einer Art Regulatoren der Wasserführung großer Flüsse und deshalb kommt ihnen für die Wasserwirtschaft der Gebirgsländer große Bedeutung zu. Kleine Gletscher sind im Winter an den mit ganz geringer Eisbewegung. Hier sind Boden angefroren (wenigstens im Randgebiet) die Strömungslinien fast horizontal, während die Abschmelzung bis zu fast 100 m Höhe ihren Betrag nicht ändert (vgl. Abschnitt 12). In den Firnfeldern bewirken die durch Strahlung und Luftwärme erzeugten ge- ringen Schmelzwassermengen besondere For- men der Gletscheroberfläche; Schmelz- gangeln und Zackenfirn (Büßerschnee). Die letzteren Formen bizarrer Schmelz- figuren sind besonders in tropischen Firn- gebieten groß (bis zu 2 m Höhe) ausgebildet, und liefern kein Wasser. Bei großen Glet- schern, ebenso wie beim Inlandeis in Grönland, fließen die Gletscherbäche aber auch im Winter. Ihre Wassermenge stammt dann fast ausschließlich von der auf der Gletscher- sohle durch Bewegung und Erdwärme ver- ursachten Schmelzung, das zeigt u. a. auch das Ergebnis ausgedehnter Winterwasser- messungen, welche an 27 Schweizer Gletscher- bächen vorgenommen wurden. Die Temperatur des Gletscherbaches finden sich aber auch in höheren Breiten, ist kurz nach dem Austritt aus dem Gletscher- Der Gletscherbach. Alles Wasser, tor etwas über 0° C, sie steigt wegen der das im Einzugsgebiet des Gletschers anfallt, ; Bewegung des Wassers und wegen der Luft- oder durch Schmelzen des Eises erzeugt wird, fließt im Gletscherbach ab. Da die Schmel- zung weitaus die größte Wassermenge liefert, gehen die Schwankungen in der Wasser- wärme mit wachsender Entfernung vom Gletscherende. Eisberge. Gletscher, welche ins Meer, oder in große Seen endigen, erfahren außer führung des Gletscherbaches denen der Ab- durch die Ablation auch noch einen Substanz- lation ziemlich parallel. Die Wasserführung Verlust durch das Abbrechen ihrer am muß sich also mit der Tageszeit, mit der weitesten ins Wasser vorgeschobenen Teile. Jahreszeit und der Witterung ändern. Größere Die Bruchstücke fallen ins Wasser und Messungsreihen über die Wassermenge der treiben mit dessen Strömungen als Eis- Gletscherbäche hat man von mehreren l berge fort. Zerklüftung, wie sie durch die Stellen der Ostalpen, vor allem aber von Bewegung im Gletscher hervorgerufen wurde, einer Anzahl von Schweizer Bächen. Dem die Abbruchflächen, Abschmelzung in der Sinne nach sind die Ergebnisse allerorts die '> Luft, die Einwirkung des salzigen Meer- gleichen, wenn auch die Beträge der Wasser- wassers durch Brandung, Schmelzung und mengen für die einzelnen Bäche sehr ver- Lösung vereinigen sich um den wandernden schieden sind wegen der ungleich großen Eisbergen die verschiedenartigsten Gestalten Einzugsgebiete. Während der Wintermonate zu geben. Erleiden sie einseitig größere Januar, Februar, März betrug z. B. bei der Massenverluste, so müssen sie neue Gleich- Rhone in Gletsch die sekundliche Wasser- 1 gewichtslagen annehmen; dann steigen Teile, menge (für 1900) 0,405 m3, sie stieg in den die längere Zeit unter Wasser waren, über folgenden Monaten rasch an, erreichte im I dessen Oberfläche empor und zeigen die Juli mit 16,60 m3/sec den Höchstwert, hatte | durch die Schmelzwirkung des Wassers er- schon im Oktober nur mehr 2,1 m3/sec, um J zeugten Hohlkehlen, die manchmal reihen- dann noch weiter, bis 0,60 m3/sec abzunehmen, i weise übereinander, annähernd horizontal Auch die Tagesschwankung ist nicht unbe- trächtlich, etwa 14%; der höchste Wasser verlaufen. Der Abbruch, das „Kalben" des Gletschers, stand tritt im Laufe des Nachmittags ein, kann entlang einer Fläche erfolgen, die nur Eis 55 einen Bruchteil vom Querschnitt der Glet- scherzunge ausmacht. Geht die Bruchfläche durch den ganzen Querschnitt, und hat das Bruchstück in der Länge größere Ausdehnung als in der Tiefe, so entsteht ein großer Tafel- eisberg. Solche zeigen sich vielfach in der Umgebung des Randes der großen Eiskappe, welche den Südpolarkontinent überlagert. Kleinere Eisberge werden beim Abbruch und Sturz ins Wasser wälzende Bewegungen aus- führen, durch welche es eintreten kann, daß die schutthaltigen Eispartien der Gletscher- sohle die oberste Stelle des schwimmenden Berges bilden und über Wasser hegen. In allen Fällen erkennt man die Spuren der Schichtung an den Eisbergen, so daß diese außer durch ihre Form, auch durch ihre Struktur von dem im Meerwasser gebildeten Eis unterschieden werden können. Das Volumen des unter dem Meerwasser befindlichen Teiles eines Eisberges ist etwa siebenmal so groß, als jenes des über das Wasser aufsteigenden. Da die Höhe großer, flacher Eisberge über Wasser bis zu 70 m be- tragen kann, so darf auf eine Dicke von 500 bis 600m geschlossen werden, welche die Ausläufer des grönländischen Inlandeises in den Fjorden besitzen, in denen sie dem Meere zuströmen. Daraus folgt, daß die Mächtigkeit des In- landeises im allgemeinen kleiner als 600 m sein wird, weil gegen die Fjorde hin ein Zu- sammenpressen der Eismasse eintreten muß. Da die im Wasser frei schwebende Eismasse des Gletscherendes keine Reibung an Rändern und Sohle erfährt, während die noch auf festem Land aufliegende Gletschermasse durch die Reibung gehemmt wird, treten an der Uebergangsstelle Spannungen auf, deren Resultat Spaltenbildung an Grund- fläche und Rändern des ausragenden Eis- balkens ist. Auftrieb und Gewicht desselben führen in wechselnder Wirkung seine Tren- nung vom Gletscher, eine große Kalbung, herbei. Da selbst bei bedeutender Geschwin- digkeit des Eises 30 bis 40 Tage nötig sind, damit eine Eismasse vorgeschoben wird, deren Länge größer als ihre Dicke ist, erklärt sich das seltene Eintreten solch großer Kal- bungen bei den grönländischen Gletschern leicht. In der Antarktis, wo das Eis nicht durch Fjorde sondern in sehr breitem Fladen zum Meere kommt, ist dessen Dicke geringer, daher auch die Zahl der tafelförmigen Eis- berge größer. Manche der antarktischen Eisberge bleiben auf dem der eigentlichen Küste vorgelagerten Schelf liegen. Zwischen ihnen, in ihren Spalten und auf ihrer Ober- fläche anfallender Schnee, der an vielen Stellen Meerwasser ansaugen kann, bildet neues Eis, so daß das Schelfeis ein Gemisch von Wassereis, Schnee und geschichtetem Material der Eisberge darstellt. 15. Gletscherschwankungen. Ernäh- rung und Abschmelzung eines Gletschers sind allen klimatischen Aenderungen unterworfen; daher werden sowohl seine Größe, als auch die in seiner Masse herrschenden Bewegungen ähnliche Schwankungen zeigen, wie sie dem Klima seines Gebietes zukommen. In der Tat ergaben die Beobachtungen, welche sich stellenweise auf sehr lange Zeiträume er- strecken, daß die Lage der Gletscherenden sich mit der Zeit bedeutend ändert, daß auf Perioden, während welcher die Gletscher weit ins Tal oder auf das Gebirgsvorland geschoben werden (Vorstoß), Schwindperio- den folgen, während deren die Gletscher- enden immei höher gelegt werden (Rück- gang). Schneereiche Winter und kühle Sommer, in denen die Abschmelzung geringere Sub- stanzminderung der Gletscherzunge hervor- bringt, wirken im gleichen Sinne; sie be- wirken eine absolute bezw. gegenüber dem Mittelzustande eine relative Vermehrung der Gletschermasse, steigern die Geschwin- digkeit der Eisbewegung und vermehren (nach einiger Zeit) die im Abschmelzgebiet liegende Eismasse; der Gletscher rückt vor und zwar um so beträchtlicher, je größer die Niederschlagsmehrung im Firn und je gün- stiger die Abflußbedingungen für das Eis sind. Wo ausgedehnte steile Mulden den Firn sammeln, um ihn durch enge Talquerschnitte in die Tiefe zusenden, wird sich ein solcher Vor- stoß durch eine starke Verlängerung der Zunge bemerklieh machen; wo beim Ueber- gang aus dem Sammelbecken ins Tal eine geringe Querschnittsänderung eintritt und auch die Neigung des Gletscherbettes eine kleine ist, da wird im allgemeinen ein Vor- stoß weniger leicht zu beobachten sein. Nur bei sorgfältiger Messung der Lage des Randes und der Geschwindigkeit können in solchen Fällen Schwankungen des Gletscherstandes festgestellt werden. Neben dem Einfluß des Klimas auf die Lage des Gletscherrandes, zeigt sich also noch ein Einfluß der oro- graphischen Verhältnisse des Gletscherbettes. Diese sind für benachbarte Gletscher sehr verschieden und daher kommt es, daß die Gletscher einer und derselben Gebirgsgruppe, für welche das Klima als gleichartig angesehen werden darf, vor allem die kleineren Vor- stöße zu verschiedenen Zeiten beginnen. Nur wenn eine Reihe niederschlagsreicher Wmter und kühler Sommer aufeinander folgen, tritt das Wachsen der Gletscher für ein großes Gebiet, wie etwa für die Alpen, annähernd gleichzeitig ein. Der Verlauf eines Vorstoßes konnte am Vernagtferner im Oetztal verfolgt wer- den (1897 bis 1902). Es trat von 1889 an eine anfangs (bis 1893) kleine, dann rasch zunehmende Steigerung der Geschwindig- keit des Eises ein, welche 1899 auf den 56 Eis 17-fachen Betrag angewachsen war, den sie 1889 hatte. Dann folgte eine rapide Ab- nahme, so daß schon 1903 nur noch etwa ein fünftel der Maximalgeschwindigkeit herrschte. Von 1897 bis 1899 schwoll das Ende der Gletscherzunge bedeutend an und rückte gegen das Tal vor, so daß 1902 der Maximalstand erreicht war — 3 Jahre nachdem im Meßprofil die Geschwindigkeit den Höchstwert hatte. Die Anschwellung des Gletscherendes rückte schneller vor, als der aus dem Firnfeld kommende Massen- zuwachs, sie war bis 1898 mit 240 m/Jahr gewandert, während im Meßprofil erst 177 m/Jahr als Geschwindigkeit bestand. Aehnlich, wenn auch nicht so genau, ist der Verlauf des Vorstoßes noch an einigen anderen Gletschern beobachtet. Im Verlauf der Schwindperiode, die vorzüglich am Rhone- gletscher verfolgt wurde, zeigt sich anfangs, unmittelbar nach dem Vorstoß, eine rasche Abnahme an Substanz und Areal des Glet- schers. Späterhin wird die Abnahme um so kleiner, je kleiner das Gebiet der Zunge ist und je höher deren Ende hegt. Die Größe der Flächen- und Massen- schwankungen sind für einzelne Gletscher sehr verschieden. Für die näher untersuchten Alpengletscher betrug bis 1904 der Flächen- verlust in der letzten Rückzugsperiode 8 bis 10% des Areals, der Substanzverlust im Durchschnitt stark von einander abweichen- der Werte etwa 25 Kubikmeter pro Quadrat- meter Firn. Die Dauer einer ganzen Schwankung ist für die einzelnen Alpengletscher ziemlich verschieden. Als Mittel aus ziemlich weit auseinander liegenden Einzelwerten ergab sich annähernd 35 Jahre. Für andere Glet- schergebiete sind die Beobachtungen beson- ders aus älterer Zeit weniger reichlich, als für die Alpen. Doch ist jetzt für die Eis- regionen der ganzen Erde festgestellt, daß ihre Gletscher periodischen Größenänderungen unterworfen sind. Die Dauer der Periode wurde aber bisher noch nicht allgemeiner ermittelt. Wo dies geschah, wie für Norwegen, da zeigte sie sich von der der alpinen Periode verschieden. Man neigt zu der Annahme, daß die letztere, ebenso wie die etwa 19jährige skandinavische als kleinere Schwankungen einer säkularen Periode von noch unbekannter Dauer untergeordnet sind. Die geringe Uebereinstimmung in der Dauer einer Schwankungsperiode, wie sie bisher für benachbarte Gletscher und für die verschiedenen Gletschergebiete der Erde gefunden wurde, zeigt deutlich, daß sich eine klimatische Periode, die ein größeres Gebiet betreffen muß, mit einer durch die orogra- phischen Verhältnisse des Einzelgletschers gegebenen überlagert. Eine Trennung beider Komponenten konnte bisher noch nicht durchgeführt werden. Außer den langperiodischen Aenderungen gibt es auch Schwankungen von kurzer Dauer. Da die Bewegung des Gletschers auch während des Winters andauert, während die Abschmelzung aufhört, wird im Winter ein kleiner Vorstoß des Gletscherendes, mindestens aber ein Stillstand des Rück- ganges eintreten. Auch in der Geschwindig- keit wurden durch besonders sorgfältige Messungen jahreszeitliche Schwankungen festgestellt. Am Hintereisgletscher ergibt für den Sommer die Geschwindigkeit nahe am Ende größere Werte, als für den Winter, während im Firn die Wintergeschwindig- keiten die größeren sind. Diese Messungen, sowie die Ergebnisse der Beobachtungen am Rhonegletscher stützen die Annahme, daß sich die Druckänderungen, welche die wech- selnden Niederschlags Verhältnisse im Firn veranlassen, rasch durch die ganze Gletscher- masse ausbreiten. Dies ist auf die Wasser- mengen zurückzuführen, die das Eis einge- schlossen hält. In mehreren Fällen haben besondere Er- eignisse, die mit den Schwankungen zusammen- hängen, zu Gletscherkatastrophen ge- führt. Es handelt sich dabei um Abstürze großer Eismassen, Gletscherlawinen, die in den Tälern Verheerungen anrichteten und um Ausbrüche von Stauseen. Bei den Gletscherlawinen ist der Vorgang meist der, daß durch das Wachsen der Gletscherzunge für einen Querschnitt derselben eine Zug- belastung entsteht, der er nicht genügenden Widerstand leisten kann; es erfolgt Bruch und Abrutsch des unteren Zungenteiles (Eis- rutsch am Alteis, Lawinen des Biesgletschers — Zerstörungen von Randa im Visptal, Eis- sturz am Gietrozgletscher im Val de Bagnes u. a. m. in den Alpen, Lawinen des Devdorak- gletschers im Kaukasus). Stauseen bilden sich, wenn das Eis eines vorschreitenden Glet- schers den Abfluß eines benachbarten ab- dämmt. Dann bildet sich oberhalb des Eis- dammes ein See, der so lange besteht, bis der Wasserdruck hinreicht, um den an einer Stelle (durch Abschmelzung) geschwächten Eisdamm zu durchbrechen. Mit einem Male ergießt sich dann eine verwüstende Flut- welle talwärts (Rofensee im Vernagtgebiet, Mattmarksee im Saaser Tal, Märjelensee am Aletschgletscher u. a.). Die Nachrichten über solche Katastrophen sind die einzigen, aus denen auf Gletschervorstöße in früheren Jahrhunderten geschlossen werden kann. Literatur. A. Heim, Handbuch der Gletscher- kunde. Stuttgart 1885. — H. Hess, Die Gletscher. Braunschweig 1904. — H. Barnes, Iceformation. New York 1906. — W. H. Hobbs, Charac- teristics of existing Glaciers. New York 1911. — R. S. Tatt'f The Yakutat Bay Region, Alaska Eis — Eisengruppe (Eisen) 57 Washington 1909. — Svenoniiis u. A., Die Gletscher Schwedens. Stockholm 1908. — H. Hess, Ueber die Plastizität des Eises. Annalen der Physik 1911. — E. Riecke, Zur Erniedrigung des Schmelzpunktes durch einseitigen Druck oder Zug. Zentralbl. f. Min., Geol. u. Paläontol. 1912. — V. Paschinger, Die Schneegrenze in verschiedenen Klimaten, Gotha 1912. — Zeit- schrift für Gletscherkunde Bd. I—VI. — Wissenschaf tliche Berichte der Süd- polarexpeditionen vom Anfang des Jahrhunderts. Koch und Wegener, Die glaciologischen Be- mit Sauerstoff und Schwefel, sind dagegen äußerst zahlreich und bilden zum Teil mächtige Erzlager. Die für die industrielle Verwertung wichtigen Eiseumaterialien sind das Brauneisenerz (2Fe203.3H20), der Spat- eisenstein (FeC03), der Roteisenstein (Fe203) und der Magneteisenstein (Fe304). Von den Schwefelmineralien ist das wichtigste der Pyrit (FeS2), auch Eisenkies oder Schwefel- kies genannt, der vor allem in der Schwefel- säurefabrikation zur Herstelluns: von Schwefel- H. Hess. obachtungen der Danmark- Expedition, Kopen- Dioxyd eine Rolle spielt. Wahrscheinlich hagen 1911. durch Oxydation des Eisenkieses entstanden, finden sich Eisenvitriole im Mineralreich. Weitere wichtige Erze sind der Kupferkies (Fe2S3, Cu2S), das Buntkupfererz (Fe2S3, 3Cu2S) und der Arsenkies (FeAsS)/ Alle Eisengruppe. natürlichen Wässer besitzen ferner einen i ^ t.*„KoH »\ tvt^l-oI mehr oder minder großen Gehalt an Eisen. a) Eisen, b) Kobalt, c) Nickel. Auch ^ ^ organisGchen Natur ist das Eisen Die Eisengruppe umfaßt die Metalle verbreitet. Es gehört zu den wesentlichen Eisen, Nickel, Kobalt und bildet im periodi- Bestandteilen des Blutfarbstoffes, des Hämo- schen System die erste Triade der letzten c^bins. Im reinen Chlorophyll dagegen kommt Vertikalkolumne. Im Gegensatz zu den ^isen njcht vor. Platinmetallen besitzen diese Metalle eine 3- Geschichte. Die Nutzbarmachung Elektroaffinität, die etwas größer als die des des Eisens durch die Menschheit reicht, ob- Wasserstoffs ist. In ihren Atomgewichten woj1] es erst nach dem Kupfer und der Bronze unterscheiden sie sich nur wenig, die Atom- entdeckt wurde, bis in die ältesten Zeiten Volumina sind fast identisch. Die Fähigkeit, zurüCk5 uncl man findet es schon bei den gefärbte Salze und in Lösung gefärbte Ionen Aegyptern vor 5000 Jahren vornehmlich zu bilden, tritt bei ihnen allen charakteristisch zur Anfertigung harter Gegenstände im hervor. Die Gruppe stellt die einzigen Gebrauch. Die verarbeiteten Erze waren stark magnetischen Metalle vor. Obwohl, 0ffenbar Brauneisenstein uncl Magneteisen- dem Atomgewicht entsprechend, dem Eisen stein, die in Schmelzöfen reduziert wurden, das Nickel" und diesem das Kobalt folgt, yon den schon damals erkannten Eigen- ordnen sie sich, ihrem chemischen und sciiaften sind besonders die Brüchigkeit und physikalischen Charakter nach, in der Reihen- die Fälligkeit, durch Berührung mit Magnet- folge Fe, Co, Ni dem periodischen System eisenstein zeitweilig magnetisch zu werden, ein. Die Fähigkeit, drei Valenzen zur Ver- hervorzuheben. Späterhin, bis zum Beginn fügung zu stellen, die für das Eisen charak- der Neuzeit, ist das Eisen in kleinen „Stück- teristisch ist, ist dem Nickel ganz verloren öfen« direkt als Schmiedeeisen in unge- gegangen, während das Kobalt, namentlich schmolzenem Zustande hergestellt worden, in seiner Komplexchemie, noch dazu be- ^ durch Benutzung der Wasserkräfte und fähigt ist. Auch der Schmelzpunkt sinkt die dadurch ermöglichte Verstärkung der Ge- in der Reihenfolge Fe, Co, Ni, ebenso die b]äSe im „Hochofen" das geschmolzene Magnetisierbarkeit. < kohlenstoffreiche Eisen erhalten wurde. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzte a) Eisen mit der Erfindung der Dampfmaschine Ferrum. Fe. Atomgewicht 55,84. und dem mächtigen Anwachsen da Ma- 1. Atomgewicht. 2. Vorkommen. 3. Ge- schinenindustrie das „eiserne Zeit ^alter em schichte. 4 Darstellung. 5. Formarten und Der Hochofenprozeß wurde durch eingehende physikalische Konstanten. 6. Valenzund Elektro- Untersuchungen aufgeklart, wobei die aui- chemie. 7. Analytische Chemie. 8. Spezielle blühende chemische Analyse, welche schon Chemie. 9. Thermochemie. 10. Kolloidchemie, die schädlichen Begleiter des Eisens kennen 11. Spektralchemie. und bestimmen gelehrt hatte, bei der Unter- i. Atomgewicht. Für das Atomgewicht suchung der Hochofengichtgase zum Ver- des Eisens ist von der internationalen Koni- ständnis des Prozesses wichtige linste mission in die Tabelle für das Jahr 1912 leistete. Durch die Erkenntnis der Rolle des der Wert 55,84 aufgenommen worden. I Kohlenstoffs im Eisen, wodurch die Be- 2. Vorkommen. Das Eisen kommt in Ziehungen und Eigenschaften der einzelnen gediegenem Zustande vereinzelt als Meteor- Eisensorten aufgeklärt wurden, und durch eisen in Grönland, Sibirien und Mexiko vor. zahllose andere Arbeiten wissenschaftlicher Eisenverbindungen, namentlich im Verein und technischer Natur ist die Eisenindustrie 58 Eisengruppe (Eisen) heute zum wichtigsten Faktor in der Welt- industrie geworden. 4. Darstellung. 4a) Gußeisen. Während sulfidische Erze den Ausgangspunkt für die Darstellung vieler praktisch wichtiger Metalle, wie Kupfer, Zink, Blei und Quecksilber, bilden, benutzt man zur Darstellung des Eisens seine Oxydverbindungen. Der Re- duktionsprozeß vollzieht sich gegenwärtig im sogenannten Hochofen, einem Schacht von Doppelkegelform, in welchem die zuvor schwach gerösteten Oxyde abwechselnd mit Schichten von Kohie und schlacken- bildenden Zusätzen von oben, von der Gicht her, eingeführt werden. Als Brenn- material verwendet man Koks, Holzkohle und Anthrazit, als Zusatz benutzt man Kalkstein oder Ton und Feldspat je nach der anwesenden Gangart. In dem unteren Teil, den Formen, befinden sich die Zu- führungen für die aus den Gebläsen ein- tretende heiße Luft, die den Kohlenstoff, da es sich um Temperaturen von ungefähr 1100° handelt, zu fast reinem Kohlen- monoxycl verbrennt (s. unten). Dieses redu- ziert die Oxyde zu Metall. Den unteren Ab- schluß des Hochofens bildet der sogenannte Herd, wo sich das flüssige Roheisen und dar- über die flüssige Schlacke absetzt. Die letztere pflegt kontinuierlich abzufließen, während das Roheisen von Zeit zu Zeit abgestochen wird. Der Betrieb im Hochofen ist ein ununterbrochener. In dem Maße, wie der Prozeß fortschreitet, führt man durch die Gicht neues Material zu, so daß ein solcher Ofen jahrelang im Betrieb sein kann. Die sich abspielenden Prozesse sind recht komplizierter Natur und wechseln mit der Temperatur. Da die kohlenoxydhaltigen Gase den Ofen von unten nach oben durch- strömen, also ein Temperaturgefälle durch- machen, hat man es in den verschiedenen Wärmezonen auch mit verschiedenen Vor- gängen zu tun. Im obersten Teil (400 bis 600°) findet nur ein Trocknen des Materials statt. Beim Heruntersinken in die heißeren Teile (700°) beginnt die Reduktion von Eisen(III)- oxyd zu Fe304. Weiterhin erfolgt Reduktion von Fe304 zu FeO und schließlich Reduktion zu Metall. Durch Einwirkung von Kohle auf Metall findet „Zementation", Bildung von Eisen-Zementit (Fe3C)-Legierung, statt, und in den heißesten Teilen, wenig oberhalb der Formen, tritt Schmelzen des kohlenstoff- haltigen Eisens ein. Der Zementationsprozeß ist wegen der Herabsetzung des Schmelz- punktes ein wichtiges Glied im Hochofen- prozeß, da durch die niedriger liegende Tem- peratur das Ofenmateria] gesehnt wird. Die beiden wesentlichen Reaktionen, die sich im Ofen abspielen, werden durch die umkeh- baren Gleichungen ausgedrückt: FeO + CO ^ C02 + Fe (a) C02+C ^CO (b) Da bei den Temperaturen (über 700°) und Drucken des Hochofens die CO-Konzentration, die dem Gleichgewicht (b) entspricht, größer ist als die des Systems (a), so ergibt die Theorie, daß das CO-C02-Gemisch immer reduktionskräftig bleibt. Praktisch aber kommt es nicht einmal so weit, das Gas- gemisch ist bei der großen Geschwindigkeit des Durchströmens immer reicher an CO als der Theorie entspricht, das Gleichgewicht kommt nicht zur Einstellung. Die mittlere Zusammensetzung der Hochofengase beträgt ungefähr: Stickstoff: 54 bis 66%, C02: 7 bis 19%, CO: 21 bis 31%, Wasserstoff: 1 bis 6%, Kohlenwasser- stoffe: 0 bis 6%. Man hat nun lange geglaubt, das entweichende CO durch voll- ständige Verbrennung besser auszunutzen, wenn die Dimensionen der Hochöfen mög- lichst große wären, d. h. die Berührung von CO und FeO intensiver gestaltet würde. Eine einfache Ueberlegung auf der Basis des Massenwirkungsgesetzes lehrt jedoch, daß hiermit nur wenig geändert wird. Denn in dem Gleichgewicht (a) ist das Verhältnis CO Ty.- allein eine Funktion der Temperatur und zwar ist die Aenderung gering, weil bei dem Reduktionsprozeß nur wenig Wärme entwickelt wird. Das Verhältnis CO t^T" ist dagegen völlig unabhängig vom Druck bezw. der Konzentration, ferner un- abhängig von der absoluten Menge des vorhandenen Eisens und Eisenoxyds. Es ist also die den Hochöfen entweichende Menge Kohlenoxyd für die gegebene Tem- peratur unveränderlich. Vgl. auch den Ar- tikel „Chemisches Gleichgewicht". Man nutzt demgemäß heutzutage die Gase derart aus, daß man sie entweder verbrennt und den Gebläsewind damit vorwärmt, oder aber noch vorteilhafter, indem man sie nach genügender Reinigung mit Luft gemischt in Gaskraftmaschinen verpuffen läßt. Derartige Hochofengasmotoren spielen im heutigen Wirtschaftsleben eine sehr große Rolle. Das durch den Hochofen gewonnene Eisen ist niemals rein, sondern stellt ein Produkt dar, das durch Kohlenstoff (3 bis 4,5 %), ferner durch Silicium, Mangan, Phosphor und Schwefel verunreinigt ist. Ueber den Einfluß dieser Elemente auf die verschiedenen Eisensorten siehe den Ab- schnitt 5. 4b) Schmiedeeisen. Der größte Teil des produzierten Roheisens wird durch Oxydationsverfahren in schmiedbares Eisen (Schweiß- oder Flußeisen) verwandelt, welches im Gegensatz zum Gußeisen nur einen Eisengruppe (Eisen) 59 Kohlenstoffgehalt von 0,1 bis 0,2% enthält. Die üblichen Oxydationsprozesse sind das Herdfrischen und der Puddelprozeß. Bei beiden Verfahren wird unter der Einwirkung von Sauerstoff der Kohlenstoff zu Kohlen- oxyd, das Silicium und der Phosphor zu Kieselsäure und Phosphorsäure oxydiert. Kohlenoxyd entweicht oder verbrennt, die Säuren werden verschlackt. 4c) Stahl. Unter Stahl verstand man früher ein Eisen, das 0,2 bis 0,5% Kohlen- stoff enthält, jedoch zählt man heutzutage auch Eisensorten mit weniger als 0,2%, die weichen Stahle, zu dieser Kategorie. Vom Roheisen ausgehend, findet der saure Bessemer-Prozeß, der Thomas-Gil- christ-Prozeß (basischer Bessemer-Prozeß), der Siemens -Martin-Prozeß, ferner der Tiegelstahlprozeß Anwendung. Beim sauren Bessemerprozeß wird durch das in einem birnenförmigen Behälter befindliche geschmol- zene Roheisen unter Druck Luft eingepreßt und durch den Sauerstoff der Reihe nach, ent- sprechend ihrer Affinität zum Sauerstoff, Silicium, Kohlenstoff und Mangan verbrannt. Die durch die Oxydation erzeugte Wärme genügt hierbei, die Masse bis über den Schmelz- punkt des sich zuerst bildenden Schmiede- eisens zu erhitzen. Durch Zusatz von Gußeisen, Schmiedeeisen oder Holzkohle kann man dem Stahl den gewünschten Kohlenstoffgehalt er- teilen. Durch Kippen wird die Birne entleert. Bei diesem Prozeß gelingt es jedoch nicht, dem Roheisen den namentlich in deutschen Erzen vorkommenden schädlichen Gehalt an Phosphor zu entziehen. Der Thomas-Gilchrist-Prozeß hat hier Abhilfe geschaffen. Durch Ausfütterung der Bessemerbirne mit basischem Futter, mit Kalk oder gebranntem Dolomit, wird das entstan- dene Phosphorpentoxyd unter Bildung von Calciumphosphat verschlackt, nach beendetem Prozeß die Schlacke abgezogen und das Metall ausgegossen. Die Schlacke bildet hierbei ein wegen des Phosphorgehalts wertvolles Nebenprodukt, das gepulvert als Dünge- mittel (Thomasmehl) der Landwirtschaft zugeführt wird. Der Siemens- Martin -Prozeß findet namentlich Verwendung zur Herstellung- feiner Eisensorten, da der Prozeß bequem kontrolliert werden kann und leicht Produkte bestimmter Zusammensetzung liefert. Die Rohmaterialien, meistens Alteisenabfälle und Roheisen, werden unter Zusatz kleiner Mengen reiner Eisenerze, auf dem Herd eines Siemens- Flammofens entkohlt, je nach der Bei- mengung auf basischer oder saurer Sohle; nach beendeter Entkohlung werden Zu- schläge von Spiegeleisen, Eisenmangan, Nickel, Chrom usw. je nach dem zu produ- zierenden Eisen zugesetzt. Stahle von außergewöhnlicher Qualität werden in großem Maßstabe nach dem Tiegelstahlprozeß hergestellt, bei welchem durch Abstehen des Stahls, d. h. völlige Ausscheidung von Schlackenmaterialien und Gasen, ferner Zerstörung gebildeten Eisen- oxyduls durch Silicium, ein hervorragendes Material erzeugt wird. Tiegelstahl wird ebenfalls vielfach durch Mischen mit Nickel, Chrom, Wolfram, Molybdän usw. auf Spezial- stähle verarbeitet. Auch die Elektrometallurgie des Eisens hat seit dem Jahre 1898, namentlich durch die Bemühungen von Stass an o und He roult bedeutende Fortschritte gemacht, so daß heutzutage bereits eine größere Anzahl von Werken in Europa und in Amerika an Orten mit Wasserkräften für die Gewinnung von Roheisen und Stahl im elektrischen Ofen in Betrieb gesetzt sind. 4d) Chemisch reines Eisen. Alles technisch dargestellte Eisen besitzt eine mehr oder minder große Verunreinigung durch Fremdstoffe. Um chemisch reines Eisen zu gewinnen, reduziert man reines Eisen- oxyd, Eisen(II)chlorid oder Oxalat im Wasser- stoffstrom möglichst über 450°, da bei tieferen Temperaturen pyrophorisches Eisen entsteht. 5. Formarten, Legierungen und physi- kalische Konstanten. Chemisch reines Eisen ist ein silberweißes, dem Platin ähnliches Me- tall, von größerer Weichheit und Dehnbarkeit als das Schmiedeeisen. Es besitzt ein spezi- fisches Gewicht von 7,84 und schmilzt bei 1505°. Ausgezeichnet ist es durch das Vor- kommen in drei allotropen Modifikationen, die alle regulär kristallisieren. Man kennt das a-Eisen oder den Ferrit, das ß-Eisen und das y-Eisen. Der erste Uebergang von y^ß-Eisen liegt scharf bei 880°, der zweite von ß ^ a-Eisen vollzieht sich infolge auftretender Mischkristallbildung in einem Temperaturvall bei ca. 780°, wie man auf der Kurve für die Abkühlungsgeschwindig- keit von auf ca. 1000° erhitztem Metall aus den auftretenden Haltepunkten leicht erkennen kann. Die Umwandlung von y- in ß-Eisen ist dabei mit einer Volumvermehrung verknüpft, bei der weiteren Umwandlung in a-Eisen entstellt dagegen ein dichteres Produkt. Der charakteristische Unterschied des a-Eisens vom ß- und j/-Eisen kommt außer in Verschiedenheiten m der elektrischen Leitfähigkeit, der spezifischen Wärme und dem spezifischen Gewicht, vor allem in seiner Magnetisierbarkeit zum Ausdruck. Nur das a-Eisen, also Eisen, wie es bei ge- wöhnlicher Temperatur vorliegt, besitzt mag- netische Eigenschaften, jedoch vermag die Anwesenheit von Kohlenstoff oder von Metallen wie Chrom, Wolfram, Nickel und Mangan eigenartige Aenderungen hervorzu- rufen. Durch Zusätze der eben genannten 60 Eisengruppe (Eisen) Art können nämlich die Umwandlungstempe- raturen in verschiedenem Maße sinken bezw. die Umwandlungen selbst verzögert werden, so daß z. B. ein Stahl, der mit 0,27% Nickel einen magnetischen Umwandlungspunkt bei 715° besitzt, bei einem Gehalt von 26% Nickel einen Umwandlungspunkt erst unter- halb 0° besitzt. Ein solcher Stahl erscheint also bei gewöhnlicher Temperatur unmagne- tisch, trotzdem er normalerweise magneti- sierbares a-Eisen enthalten sollte, und es bedarf starker Abkühlung, um die Um- wandlung in Ferrit herbeizuführen. Ein weiterer charakteristischer Unter- schied der drei Modifikationen liegt in der verschiedenen Löslichkeit für Kohlenstoff und Eisencarbid. Hier ist das y-Eisen die bevorzugte Modifikation mit dem größten Lösungsvermögen. Auch das ß-Eisen besitzt eine beschränkte Löslichkeit, während die- selbe dem a-Eisen völlig abgeht. Da die Menge und die Art der Lösung des im Eisen befindlichen Kohlenstoffs die größte Be- deutung für die verschiedenen Eisen- sorten besitzt, sei an dieser Stelle eine kurze Besprechung der vorkommenden Eisen- kohlenstofflegierungen eingeschaltet. Eisen und Kohlenstoff können sich unter Carbidbildung vereinigen. Das ent- standene Produkt, von der chemischen Zusammensetzung Fe3C, führt als Struktur- element den Namen Zementit und ist von beträchtlicher Härte (6 nach der Mo hs sehen Skala). Am einfachsten erfolgt die Bildung durch Auflösen von Kohlenstoff in flüssigem Eisen, wobei man im Schmelzfluß wohl ein Gleichgewicht zwischen Eisen, Kohlenstoff und Carbid annehmen kann. Je nachdem man nun die Schmelze langsam oder rasch erstarren läßt, findet Abscheidung des Kohlenstoffs vorwiegend in elementarer Form oder infolge Unterkühlung als Carbid statt. Dasselbe bildet im letzten Falle eine feste Lösung in y-Eisen und führt als solche den Namen Martensit. Zunächst mögen die Erstarrungserscheinungen bei schnellerer Ab- kühlung besprochen werden. Läßt man eine kohlenstoffreiche Schmelze derart erkalten, so scheidet sich zunächst ein Teil des Kohlen- stoffs als Zementit ab und die Abscheidungs- temperatur sinkt auf 1130°, wo die Schmelze zu einem eutektischen Gemisch von Martensit- Zementit mit einem C-Gehalt von 4,2% Ist der Kohlenstoffgehalt in der als dieser eutektischen geringer entspricht (2 bis 4,3% C), so erstarrt. Schmelze Mischung scheiden sich zunächst Mischkristalle aus, die weniger C enthalten, als die Schmelze. Da- durch steigt der C-Gehalt derselben, bis wieder die eutektische Zusammensetzung erreicht ist. Man hat schließlich Eutektikum und gesät- tigte Mischkristalle mit 2% C. Sind in der Schmelze weniger als 2% C enthalten, so sind die Mischkristalle kohlenstoff- ärmer. Mit der Erstarrung sind aber die Umwandlungserscheinungen noch nicht be- endet. Durch plötzliches Abkühlen in Eis- wasser auf Zimmertemperatur kann man zwar die eben geschilderten Zustände fixieren. Läßt man jedoch einem derartig erstarrten Produkt Zeit zur Abkühlung, so daß sich jederzeit das wahre Gleichgewicht einstellen kann, so beginnt zunächst infolge der ab- nehmenden Löslichkeit eine Abscheidung von Zementit aus den Mischkristallen, bis bei 710° die Beständigkeit der festen Lösung überhaupt aufhört und sie vollständig in ein Gemisch von Eisen und Zementitkristallen (wegen seines perlmutterartigen Aussehens Perlit genannt) zerfällt. Näheres siehe im Artikel „Legierungen". Aus diesen Betrachtungen geht hervor, daß bei rascher Abkühlung der in der Schmelze gelöste Kohlenstoff chemisch gebunden bleibt und daß man vornehmlich den harten Martensit in den Produkten behält. Verläuft die Abkühlung allmählich, so sind zunächst die Bedingungen zur Kohle- abscheidung, in Form von Graphit und amorpher Kohle (Temperkohle) gegeben, da der zeitliche Zerfall: Fe3C ^t Graphit + Schmelze, zum Teil stattfinden kann. Außer- dem liefert der Zerfall des Martensits in Perlit ein Eisen von nur mittlerer Härte. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, wird der Unterschied zwischen den ver- schiedenen Roheisensorten (2 bis 5,1 % C) verständlich. Gußeisen, durch plötzliche Abschreckung hergestellt, enthält den Kohlen- stoff als Zementit in fester Lösung und bildet das spröde harte, weiße Gußeisen. Langsam abgekühltes, also graphithaltiges Roheisen ist das weiche graue Gußeisen. Ein Mangan- gehalt wirkt der Graphitabscheidung ent- gegen, derartiges Roheisen sieht also meistens weiß aus. Ein 5 bis 20% Mangan enthaltendes Eisen kristallisiert in großen Blättern und führt den Namen Spiegeleisen. Gußeisen erweicht nicht unterhalb seines Schmelz- punktes, der je nach der Zusammensetzung ! zwischen 1100 und 1250° liegt. Es ist also nicht schmiedbar. Sehr kleine Phosphor- mengen (0,1%) machen das Metall in der Kälte brüchig. Schwefelbeimengungen machen es in der Wärme brüchig. Auch für die verschiedenen Stahlsorten finden die Betrachtungen über Eisenkohlen- stofflegierungen Anwendung. Langsam er- kalteter Stahl ist verhältnismäßig weich, abgeschreckter, martensithaltiger Stahl ist umgekehrt hart. Durch mäßiges Erhitzen (Tempern) kann die Härte des Stahls beliebig geändert werden (Anlassen des Stahls), da hierbei ein merklicher Zerfall von Martensit in Ferrit und Eisencarbid stattfinden kann. Aus den sogenannten Anlauffarben, die aus Eisengruppe (Eisen) 61 dünnen Oxydhäutchen bestehen, kann der Grad des Anlassens beurteilt werden. Der Stahl ist im Gegensatz zum Schmiedeeisen ein elastisches Metall und besitzt große Zähigkeit. Die Zerreißungsfestigkeit beträgt bis zu 100 kg pro qcm. Ein Kohlenstoff- gehalt von über 1 % und allzu starkes Härten nimmt dem Metall diese hervor- ragenden Eigenschaften. Stahl kann im Gegensatz zu reinem Eise und Schmiede- eisen dauernd magnetisch gemacht werden. Ueber den Einfluß der Zusätze zum Eisen, wie Chrom, Mangan, Wolfram, Vanadin, Nickel, Molybdän, die alle bei den sogenannten Spezialstählen eine große Rolle spielen, sei nur gesagt, daß ihre Wirkung in einer Aende- rung der Beständigkeit des Zementits, oder, wie bereits erwähnt, in einer Verschiebung der Umwandlungstemperaturen der allo- tropen Eisen-Modifikationen, ferner der elek- tischen Punkte, also der Mischkristall- felder liegt. Nickelstahle (2 bis 8 %) zeich- nen sich durch eine Zähigkeit aus, die doppelt so groß wie die des gewöhnlichen Stahls ist. Man braucht sie deshalb zur Darstellung von Panzerplatten. Chrom und Wolfram vermehren die Härte, ohne die Zähigkeit sehr herabzusetzen, auch wenn die Legie- rungen nicht abgeschreckt sind. Ein idealer Zusatz ist auch das Vanadin, welches die Zähig- keit in ganz hervorragendem Maße steigert. Physikalische Konstanten: Spezifisches Gewicht. Schmiedeeisen: 7,8; Gußeisen 7,1 bis 7,7; Eisendraht 7,7; Gußstahl 7,8. Schmelzpunkt. Reines Metall (99,95 %): 1505°, Stahl: bis 1400°, Gußeisen: 1100 bisl250°. Ausdehnungskoeffizient. Reines Metall: 0,000011 bei 18° ; zwischen 0 und 100°: 0,000012. Spezifische Wärme. Reines Metall: 0,105 bei 18°; Stahl: 0,114 bei 18°. Härte. Reines Metall: 4,5; Stahl 5 bis 8,5 nach Auerbachs Skala. Elektrische Leitfähigkeit. Reines Metall: 13,1.10* bei 16°. Stahl (1% C): 5,02.10* bei 18°; Gußeisen: 2,42.10* bei 20°. 6. Valenz und Elektrochemie. Das Eisen tritt in den Ferrosalzen (Eisen(II)- salzen) zweiwertig auf, wie aus Molekular- gewichtsbestimmungen des Chlorids in Lö- sungen von BiCl3 und Pyridin eindeutig hervorgeht, während die Dampfdichtebestim- mungen erst bei 1300° die einfache Mole- kularformel FeCl2 hervortreten lassen. Unter- halb dieser Temperatur, auch bei Gelbglut liegen die Werte noch zwischen FeCl2 und Fe2Cl4. Ferner spricht die Isomorphie des Eisen(II)sulf ats mit den zweiwertigen Kupfer-, Zink- und Magnesiumsulfaten deutlich für die Zweiwertigkeit. In den Ferrisalzen (Eisen(III)- salzen) findet sich das Eisen in drei- wertiger Form vor. Zum Beweise können auch hier die Molekulargewichtbestimmungen des Chlorids in Pyridin, Alkohol und Aether dienen. Oberhalb 700° liefert auch die Dampfdichtebestimmung normale Werte.- Eine weitere Bestätigung liegt in der Eigen- schaft des Ferrisulfats Alaune zu bilden, wobei das dreiwertige Aluminium und Chrom durch Eisen ersetzt wird. Höherwertiges Eisen findet man in den Peroxyden Fe02 und Fe205, ferner in den Salzen der Eisensäure, z. B. in Kaliumferrat, wo das Eisen wahr- scheinlich sechswertig anzunehmen ist. Entsprechend der Fähigkeit des Eisens in Salzform zwei- und dreiwertig aufzu- treten, hat man es in der wässerigen Lösung von Eisensalzen mit zwei- und dreiwertigen Fe- Ionen zu tun. Die reinen Eisen(II)- salze, die in wasserfreiem Zustande weiße Farbe, in wasserhaltigem grünblaue Farbe besitzen, spalten in wässeriger Lösung die blaßgrün gefärbten Fe"-Ionen ab. Diese Fe,--Ionen sind ausgezeichnet durch eine ausgesprochene Neigung durch Oxydation in das dreiwertige Fe— -Ion überzugehen. Dieser Prozeß kann durch Chlor, Salpeter- säure oder auch durch den Sauerstoff der Luft vor sich gehen, wobei in neutraler Lösung unlösliches, braungefärbtes basisches Salz ausfällt (a), bei Gegenwart von H- Ionen , also in saurer Lösung, neutrales Oxydsalz entsteht (b) a)2Fe-+4Cl'+1/2 0 = Cl2Fe— 0- 02+2H- = FeCl2. 2 Fe- ll) 2Fe-+6Cl' + + 6C1' + H20. Die Eisen (III) salze spalten in wässeri- ger Lösung das schwach gefärbte Fe "'-Ion ab. Trotzdem erhält man beim Lösen von Ferri- salzen meist braun gefärbte Lösungen, eine Erscheinung, die ihre Erklärung in der leichten hydrolytischen Spaltbarkeit der Eisen(III)sälze findet. Fe- + 3H20 ^ Fe(OH)3 -f 3H\ Das abgespaltene Hydroxyd bleibt hierbei, falls die Hydrolyse nicht allzu stark in Kraft tritt, kolloidal in Lösung. Starke Säuren, z. B. Salpetersäure, drängen die Hydrolyse durch Verminderung der OH'-Ionen zurück, wie aus der Farbänderung zu sehen ist. Umgekehrt bewirken Salze einer schwachen Säure, wie das Natrium- acetat, infolge Bindung der H--Ionen starke hydrolytische Spaltung. Eisen(II)hydroxyd ist im Gegensatz zum Eisen(III)hydroxyd eine relativ starke Base, infolgedessen sind die Eisen(II)salze auch nur mäßig hydrolysiert. Die schwache Basizität des Ferrihy- droxyds kommt besonders klar dadurch zum Ausdruck, daß es im Gegensatz zum Ferro- hydroxyd, wie das Al(OH)3 und Cr(0H)3 kein Carbonat zu bilden imstande ist. Ferri- salze besitzen stark reduzierenden Stoffen 62 Eisengruppe (Eisen) gegenüber beträchtliches Oxydationsvermögen, denn die dritte Valenz des Fe--Ions besitzt nur geringe Elektroaffinität, da die Umwand- lung des Fe" in das Fe"'- Ion sich unter Energieverbrauch vollzieht. Schwefelwasser- stoff wird z. B. leicht unter Schwefelab- scheidung oxydiert: 2Fe- + S" - 2Fe- + S. Der Wert des elektrolytischen Gleichge- wichtpotentials Fe/l-n Fe", entsprechend dem Vorgang Fe ^ Fe" + 2 0, beträgt £h = -0,43 Volt (Wasserstoffelektrode = 0). Jedoch erhält man diesen Wert nicht un- mittelbar nach Einbringen des Eisens (ge- schmolzenes, reines Eisen) in die Ferro- sulfatlösung. Vielmehr zeigt sich das ge- messene Potential wahrscheinlich infolge der Langsamkeit, mit der der mögliche elektroly- tische Lösungsdruck erreicht wird (vgl. auch den Artikel,, Passivität"), um 0,1 und mehr Volt edler und erst nach längerer Zeit erhält man konstante Werte. Umgekehrt bekommt man ein viel unedleres Potential, wenn man elektrolytisch abgeschiedenes, also H2-haltiges Eisen, besonders wenn es noch eine Zeitlang kathodisch polarisiert ist, zur Messung be- nutzt. Das Gleichgewichtpotential kann hier bei — 0,66 Volt liegen. Diese Erschei- nung hat zur Folge, daß auch der umgekehrte Vorgang, die kathodische Eisenabscheidung, ein verzögerter ist. Das Abscheidungs- potential liegt bei Zimmertemperatur für Chlorid- und Sulfatlösungen bei £h = —0,6 bis 0,7 Volt, also weit über dem Gleichge- wichtpotential. Das Potential für die Ionenumladung Fe" -> Fe*" berechnet sich aus der Kette Pt (platiniert) | FeCl3,FeCl2,HCl | gegen die Normalkalomelelektrode zu + 0,75 Volt. Ueber komplexe Ionen siehe die analy- tische und die spezielle Chemie. 7. Analytische Chemie. 7a) Qualitative Analyse, a) Vorproben auf trockenem Wege. Auf Kohle vor dem Lötrohr bei Gegenwart von Soda erhitzt, werden alle Eisenverbindungen zu Metall reduziert. Man erhält kein Metallkorn, sondern Metall- flitterchen. Die Phosphorsalzperle gibt je nach der Konzentration des aufgelösten Eisens und der Temperatur verschiedene Färbungen, die in der Oxydations- und Reduktions- flamme ziemlich gleichartig sind. Die Farb- änderung verläuft bei größerer Konzen- tration von rot zu gelbgrün, bei geringer von gelb zu farblos in der Kälte. Die Borax- perle durchläuft in der Oxydationsflamme die Farben rot bis gelb, in der Reduktions- flarnme die Farben braun bis schmutzig- grün mit abnehmender Temperatur. ß) Nachweis auf nassem Wege, I. Reaktionen auf Fe"-Ionen. Schwefelwasserstoff fällt aus sauren Lösungen kein Sulfid. Mit Schwefelämmon fällt quantitativ FeS, das sich in Säuren löst. FeS04 + (NH4)2S = FeS + (NH4)2S04. Natronlauge erzeugt bei Luftabschluß eine vollständige Fällung von weißem Ferro- hydroxyd, welches durch Luftsauerstoff rasch grünschwarz (Ferriferrohydroxyd) und schließlich rotbraun (Ferrihydroxyd) wird. FeS04 + 2NaOH = 2Fe(OH)2 + Na2S04. Ammoniak gibt bei Gegenwart von Ammoniumsalzen bei Luftabschluß keine Fällung (Zurückdrängung der OH'-Ionen- Konzentration durch die Gegenwart des gleichartigen NH4-Ions aus dem Ammonsalze. Bei Abwesenheit von Ammonsalzen tritt Fällung ein wie bei Natronlauge. Natrium carbonat gibt einen weißen, in Säuren leicht löslichen Niederschlag, der durch Luftsauerstoff unter Kohlensäureab- spaltung allmählich in braunes Ferrihydroxyd übergeht. FeS04 + Na2C03 = FeC03 + Na2S04 2FeC03 + 3H20 + 0 - 2C02 + 2Fe(OH)3. Kaliumcyanid erzeugt zunächst einen rotbraunen Niederschlag von Ferrocyanid, der sich im Ueberschuß des Fällungsmittels unter Bildung des Kaliumsalzes der kom- plexen Ferrocyanwasserstoffsäure löst. Die Ferroionen verschwinden dabei und die vorher beschriebenen Reaktionen bleiben nunmehr aus: FeS04 + 2KCN = K2S04 + Fe(CN)2 Fe(CN)2+ 4KCN = K4[Fe(CN)6]. Kaliumeisen(III)cyanid gibt einen blauen, in Säuren unlöslichen Niederschlag von Turnbulls Blau (a), der in alkalischer Lösung grünschwarz wird (b), charakteristische Re- aktion auf Ferrosalze. a) 3FeS04 + 2K3[Fe(CN)6] - Fe3[Fe(CN)6]3+3K2S04. b) Fe,[Fe(CN)6]a+8KOH = 2K4[Fe(CN)6]+ 2Fe(OH)3+ Fe(OH)2. Grünschwarz. Führt man die Reaktion a mit weniger als einem Molekül Ferrosulfat aus, so er- hält man lösliches Turnbullsches Blau, das durch K-Ionen aussalzbar ist. K3[Fe(CN)6] + FeS04 = KFe[Fe(CN)6] + K2S04. Kaliurneisen(II)cyanid fällt bei Luft- abschluß aus 1 Mol. Ferrosulfat weißes Eisen(II)kaliumeisen(II)cyanid (a), bezw. aus 2 Mol. Ferrosulfat Eisen(II)eisen(II)cyanid(b). a) K4[Fe(CN)6] + FeS04 = K2S04 + K2Fe[Fe(CN)J. b) K4[Fe(CN)6] + 2FeS04 = 2K2S04 + Fe2[Fe(CN)6]. Beide Niederschläge oxydieren sich rasch an der Luft, wobei aus a lösliches Berliner Eisengruppe (Eisen) 63 Blau, aus b unlösliches Berliner Blau gebildet wird. Das lösliche Berliner Blau scheint identisch mit dem löslichen Turnbullschen Blau zu sein. Khodankalium gibt zum Unterschied von Ferrisalzen keine Reaktion. II. Eeaktionen auf Fe,,--Ion. Schwefelwasserstoff reduziert in schwach salzsaurer Lösung zu Ferrosalz unter Schwefelabscheidung. Ausfällung von FeS findet nicht statt. Schwefelammon reduziert in gleicher Weise, und fällt, im Ueberschuß angewandt, sofort FeS. Natronlauge, Ammoniak, Natrium- carbonat, Baryumcarbonat erzeugen eine vollständige Fällung von rotbraunem Fe(0H)3. FeCl3 + 3NaOH - Fe(0H)3 + 3NaCl. Natriumacetat gibt in der Kälte eine Rotfärbung, in der Hitze durch zunehmende Hydrolyse einen rotbraunen, in Säuren lös- lichen Niederschlag, der sich beim Erkalten wieder löst. FeCl3 + 3NaC2Hs02 = Fe(C2H302)3+3NaCl (kalt). Fe(C2H302)3 + 2H20 ^ Fe(OH)2C2H302+ 2H.C2H302 (heiß). Natriumphosphat fällt gelblichweißes Ferriphosphat, das in Essigsäure unlöslich, leicht löslich dagegen in Mineralsäuren ist. Um die Fällung quantitativ zu machen, führt man sie deshalb bei Gegenwart von Alkaliacetat aus. FeCl3 + Na2HP04 + Na .C2H302 = 3NaCl + H.C2H302 + FeP04. Rhodankalium oder Rhodan- ammonium erzeugen eine blutrote, mit Aether oder Amylalkohol ausschüttelbare Färbung von Ferrirhodanid, und zwar tritt, da die Reaktion umkehrbar, bei einem Ueberschuß von Ferrisalz oder Rhodan- kalium die Rotfärbung am intensivsten auf. FeCl3 + 3KCNS ^ 3KC1 + Fe(CNS)3. Diese sehr empfindliche Reaktion versagt bei Anwesenheit von viel Alkaliacetat, ferner bei Gegenwart von weinsauren Salzen in neutraler Lösung, von Mercurichlorid und von salpetriger Säure. Andererseits erzeugt konzentrierte HN03 ohne Gegenwart von Ferrisalz mit NH4.SCN eine ausschüttel- bare, nach einiger Zeit verschwindende, Rot- färbung, herrührend von Zersetzungspro- dukten der Rhodanwasserstoffsäure. Kaliumeisen(II)cyanid gibt in neu- traler oder saurer Lösung eine Fällung von Berliner Blau, das in Oxalsäure und kon- zentrierter Salzsäure löslich ist, und mit Alkalien, wie alle Ferrisalze, unter Bildung von Ferrihydroxyd zersetzt wird. 4FeCl3+ 3K4[Fe(CN)6] = Fe4[Fe(CN)6]3 + 12KC1. Versetzt man Kaliumeisen(II)cyanid mit weniger als einem Molekül Ferrisalz, so erhält man lösliches Berliner Blau, das mit K-Ionen aussalzbar ist. FeCl3+ K4[Fe(CN)6] = KFe[Fe(CN)6] + 3KC1. Kaliumeisen(III)cyanid erzeugt in Ferrisalzlösungen nur eine braune Färbung. Allgemein ist zu den Reaktionen auf Fe"*- Ionen zu bemerken: Anwesenheit von orga- nischen Oxysäuren z. B. Weinsäure, ferner von Glycerin, Zucker und anderen Hydroxyl- verbindungen, hindert die Fällung des Eisens durch Ammoniak, Natronlauge, Natrium- carbonat, Alkaliacetat und -Phosphat. Schwefelammon fällt dagegen FeS aus. 7 b) Quantitative Analyse. a) Bestimmung als Fe203. Wesent- lich für diese Art der Bestimmung ist Vorhandensein dreiwertigen das Eisens. Zu diesem Zweck behandelt man die wässerige Lösung, z. B. eine solche von Ferrosulfat in der Hitze mit einigen ccm konzentrierter Salpetersäure und ver- setzt nach der Oxydation ebenfalls in der Hitze mit einem geringen Ueberschuß von Ammoniak. Auf diese Weise fällt das Eisen in dunkelrotbraunen Flocken aus, die man filtriert, mit heißem Wasser auswäscht, trocknet und in einem Porzellantiegel ver- brennt. Zum Schluß erhitzt man noch eine Zeitlang im halbbedeckten Tiegel über der Bunsenflamme, nicht jedoch auf dem Ge- bläse, da hierdurch leicht Fe304 gebildet wird, was zu niedrige Resultate geben würde. Man wägt als Fe203. Organische Substanzen dürfen bei der Fällung nicht zugegen sein (vgl. oben bei der qualitativen Analyse). ß) Bestimmung als metallisches Eisen. Liegen Eisenoxyde vor, so führt die Reduktion im Wasserstoffstrom zu metall- lischem Eisen rasch und bequem zum Ziel. Man bringt zu diesem Zweck die zu analysierende Substanz in einem Porzellanschiffchen in ein Rohr von schwer schmelzbarem Glas und leitet bei heller Rotglut einen getrockneten Wasserstoffstrom darüber, bis sich an den kalten Teilen des Rohres keine Wassertröpf- chen mehr bilden. Man läßt darauf im Wasserstoffstrom erkalten, verdrängt den Wasserstoff durch Kohlensäure und wägt das entstandene graue Eisen. y) Maßanalytische Bestimmung. Von den maßanalytischen Methoden ist die Permanganatbestimmung die einfachste und genaueste. Die Bestimmung verlangt zwei- wertiges Eisen und beruht auf der Oxy- dation von Fe" zu Fe"--Ion in saurer Lösung entsprechend der Gleichung: 2KMn04 + 10FeS04 + 8H2S04 = K2S04 + 2MnS04 + 5Fe2(S04)2 + 8H20. 64 Eisengruppe (Eisen) Liegt das Eisensalz in dreiwertiger Form vor, so muß es vorher durch Zink und Schwefelsäure zu Ferrosalz reduziert werden. Ohne jede Schwierigkeit kann diese Be- stimmung bei Abwesenheit von Salzsäure ausgeführt werden. Man säuert die zu titrierende Ferrosalzlösuug mit Schwefelsäure stark an und verdünnt mit Wasser auf ca. 400 ccm. Hierauf läßt man aus einer Bürette bis zur bleibenden Rotfärbung 1/10 n-Kaliumpermanganatlösung zufließen und berechnet aus der verbrauchten Menge KMn04 das vorhandene Eisen (1 Gewichtsteil KMn04 entspricht 5 Teilen Eisen). Muß die Titration in salzsaurer Lösung vorge- nommen werden, so titriert man, da Salz- säure durch Permanganat bei Gegenwart von Ferrochlorid zu Chlor oxydiert wird, bei Gegenwart von Mangansulfat und Phos- phorsäure, da unter diesen Umständen keine Chlorbildung eintritt, ferner die Schärfe des Umschlags infolge Bildung farbloser kom- plexer Phosphatverbindungen nicht beein- trächtigt wird. Man setzt also zur Aus- führung der Bestimmung ca. 5 g Mangan- sulfat und 3 ccm syrupöse Phosphorsäure hinzu und führt im übrigen die Bestimmung wie oben angegeben aus. 7c)Elektroanalyse: Für die quantitative elektroanalytische Bestimmung kommt prak- tisch einzig die von Classen ausgearbeitete Methode in Ammonoxalatlösung in Betracht. Man kann sowohl von Ferro- wie Ferrisalz- lösung ausgehen, kann ferner kalt und heiß elektrolysieren, nur muß man Sorge tragen, daß nicht Nitrate oder freie Salzsäure an- wesend sind. Das abgeschiedene Eisen ist kohlenstofffrei, sobald man den Strom nach der Abscheidung der letzten Spuren Eisen unterbricht; setzt man die Elektrolyse un- nütz lange fort, so erfolgt durch Reduktion der aus der Oxalsäure entstammenden C03- Anionen Abscheidung von Kohlenstoff. Man verwendet auf 0,2 g Metall ca. 7 g Amnion- oxalat, verdünnt das ganze auf ca. 150 ccm und elektrolysiert in einer matten oder polierten Platinschale mit einer Badspannung von 2 bis 4 Volt und einer Stromdichte ND100 = 1 bis 1,5 Amp. bei gewöhnlicher Temperatur, 0,5 bis 1 Amp. in der Wärme. Nach Entfärbung der Lösung prüft man mittels überschüssigem Rhodankalium und Salz- säure eine Probe der zuvor mit HN03 oxy- dierten Lösung, hebert ab, falls keine Rot- färbung mehr auftritt, und reinigt die Schale mit Wasser. Nach dem Waschen mit Alkohol und Aether trocknet man im Luftbade bei 70 bis 80°. Auch die Schnellfällung des Eisens mittels mechanischer oder nach Frary mittels magnetischer Rührung liefert gute Resultate. Man elektrolysiert mit einer Badspannung von 6 bis 7 Volt und einer Stromstärke von 7 Ampere. Die Dauer einer derartigen Elek- troanalyse beträgt 25 bis 30 Minuten. Außer dem Zusatz von Ammonoxalat tut man in diesem Falle gut, noch 1 ccm gesättigte Oxalsäurelösung hinzuzusetzen. 8. Spezielle Chemie. 8a) Allgemeines Verhalten des Metalls. Eisen ist unedler als Wasserstoff, infolgedessen löst es sich leicht in verdünnten Säuren unter Wasser- stoffentwickelung zu den entsprechenden Salzen auf. Gegen konzentrierte Schwefel- säure und sogenannte Mischsäure (Salpeter- säure und Schwefelsäure) ist es dagegen sehr beständig. Technische Prozesse, wie Sulfurierungen und Nitrierungen können daher in eisernen Gefäßen ausgeführt werden. Auch von Alkalien wird Eisen kaum ange- griffen. Em merkwürdiges Verhalten zeigt es konzentrierter Salpetersäure gegenüber. Es geht ebenso wie Chrom, Nickel und Kobalt in den passiven Zustand über, d. h. es wird edler und verdrängt nicht mehr den Wasserstoff in den Säuren, auch vermag es edleren Elementen wie z. B. dem Kupfer nicht mehr seine Ladungen zu entziehen. Die Erklärung für diese Erscheinung ist vielleicht in einer oberflächlichen Oxydation des Metalls zu suchen, die es vor äußeren An- griffen schützt, oder aber kann man die Tat- sache auch derart begründen, daß die Passivi- tät auf einer sehr kleinen Geschwindigkeit des Vorgangs Fe -> Fe " + 20 beruht, die in einer festen Lösung von Sauerstoff, der z. B. aus der Salpetersäure stammen kann, ihre Ursache hat. Umgekehrt kann man auch annehmen und damit kommt man viel- leicht den Tatsachen am nächsten, daß im aktiven Zustand der Vorgang Fe-3-Fe-+2 Q durch einen positiven Katalysator, nämlich durch mit Eisen legierten Wasserstoff, be- schleunigt wird. Der passive Zustand kann auch durch anodische Polarisation hervor- gerufen werden. An trockener Luft ist das Eisen beständig, an feuchter Luft überzieht es sich mit einer Oxydschicht, es rostet. Zur Rostbildung ist nicht, wie man früher an- nahm, Kohlensäure notwendig, indem sich durch hydrolytische Spaltung des gebildeten Carbonats Eisenhydrate bilden. Eisen rostet auch unter vollständigem Kohlensäureab- schluß. Wahrscheinlich tritt Rostbildung dadurch ein, daß in Wasser gelöster Sauer- stoff OH'-Ionen bildet, deren negative Ladung durch die positive Ladung von in Lösung befindlichen Eisen-Ionen kompensiert wird. ; Da das Löslichkeitsprodukt von Eisen- hydroxyd sehr klein ist, tritt Ausscheidung ein und der Vorgang, die Rostbildung, schrei- tet weiter. Um Eisen vor äußeren Angriffen zu schützen, verzinkt man es. Hier- durch erhält man ein kurz geschlossenes galvanisches Element, in der Zink als unedleres Metall die Lösungselektrode bildet, während Eiseng-ruppe (Eison ) 65 das Eisen unangegriffen bleibt. Mit Sauer- stoff reagiert Eisen, namentlich, wenn es bei schwacher Kotglut durch Reduktion im Wasserstoffstrom erhalten wurde, bereits bei gewöhnlicher Temperatur, es besitzt pyro- phorische Eigenschaften. Wasserdampf zer- setzt das Metall je nach der Temperatur unter Bildung verschiedenartiger Oxyde. In der Gegend von 350° entsteht, da hier der Dissoziationsdruck des Sauerstoffs aus dem Wasserdampf nur wenig größer als der des FeO ist, hauptsächlich dieses Oxyd. Erst von 820° an wird der Sauerstoffdruck des Fe304 und damit dessen Bildung erreicht. Wasserstoff wird von Eisen absorbiert und zwar wächst die Löslichkeit, die bei 800° ca. 0,2 mg pro 100 g Metall beträgt, mit der Temperatur. Charakteristische Sprünge tre- ten in der Löslichkeitskurve beim Uebergang von ß- in y-Eisen und besonders, wie auch beim Nickel und Kobalt, beim Schmelzpunkt auf. Der Uebergang von a- in ß-Eisen ist dagegen in der Kurve nicht erkennbar. Wie beim Platin, Nickel und Kobalt und anderen Metallen ist auch hier die Löslichkeit bei kon- stanten Temperaturen, bis herab zu Drucken von ungefähr 100 mm, der Quadratwurzel aus dem Wasserstoffdruck proportional, also offenbar auch hier atomistisch gelöster Wasserstoff anzunehmen. Eine besondere Rolle spielt die Wasserstoffabsorption bei der elektrolytischen Abscheidung des Eisens. Elektrolyteisen ist stets wasserstoffhaltig und zwar um so stärker, je höher die Strom- dichte und je niedriger die Elektrolyttempera- tur liegt. Technisch ist nun der Wasserstoff- gehalt eines Eisens von großer Bedeutung, da derartiges Metall, obgleich es sehr rein ist, zur Herstellung von Elektromagneten wegen der stark auftretenden Hysteresiserscheinung (magnetische Nachwirkung) nicht brauchbar ist. Es bedeutete daher einen großen Fort- schritt, daß es kürzlich gelungen ist, reines wasserstofffreies Elektrolyteisen herzustellen, welches, zum Bau von Motoren verwandt, einen Nutzeffekt ergab, der bisher nicht erreicht werden konnte. - - Zur Stickstoff- 8b) Verbindungen des zweiwertigen Eisens, Ferroverbindungen. Ferrooxyd, Eisen(II)oxyd, Eisen- oxydul, FeO entstellt durch Erhitzen von Eisen(II)oxalat bei Luftabschluß oder auch durch Reduktion von Eisen(III)oxyd mit Kohlenoxyd bei 500 ° als samtschwarzes Pulver von pyrophorischen Eigenschaften. Auf 1000° erhitzt bildet es eine stabilere Modifikation, die an trockener Luft haltbar ist. In Mineralsäuren ist es leicht löslich. Ferrohydroxyd,Eisen(II)hydroxyd, Eisenhydroxydul,Fe(OH)2, bildet sich bei Sauerstoffabschluß als weißer Niederschlag beim Versetzen einer Eisen(II)salzlösung mit Kaliumhydroxyd (vgl. 7, qualitative Analyse). F er rosulfid, Eise n( II) sulfid, Ei sen- su lfür, FeS, in der Natur als Troilit vor- kommend, bildet sich durch direktes Zu- sammenschmelzen aus den Komponenten. Es stellt eine metallglänzende Masse von dunkel- grauer bis grauschwarzer Farbe vor und schmilzt bei 950°. Es dient zur Herstellung von Schwefelwasserstoff. Ferrochlorid, Eisen(II)chlorid, Eisen chlor ür, FeCl2, bildet sich wasserfrei durch Glühenvon Eisenpulver in einem Strom von trockenem Chlorwasserstoffgas in Form weißer Schuppen, die bei Rotglut schmelzen und schließlich in glänzenden Blättchen sublimieren. Der Siedepunkt liegt bei 1400°. 100 g Wasser lösen bei 20° 68,5 g anhy- drisches Salz. Aus der wässerigen konzen- trierten Lösung scheidet sich in der Kälte das Hydrat FeCl2 + 4 H20 in grünen Kristal- len ab, die an der Luft durch Oxydation leicht gelbbraune Farbe annehmen. Ein zweites Hydrat FeCl2 + 2 H20 mit dem Uebergangs- piinkt bei 80~° erhält man durch Kristallisa- tion aus heißen Lösungen, oberhalb der Uebergangstemperatur. Am bequemsten erhält man Lösungen von Eisen(II)chlorid durch Auflösen von Eisen in Salzsäure. Ferrobromid, Eisen(II)bromid, E i s e n b r 0 m ü r, Fe Br2, entsteht unter heftiger Reaktion direkt aus den Elementen. Da bei höherer Temperatur Eisen(III)bromid stets in absorption scheint das Eisen, ebenso wie das ; Eisen(II)bromid und Brom dissoziiert, er- Nickel und Kobalt, nur wenig Neigung zu hält man unter diesen Bedingungen not- haben. Erst bei 1200° findet langsame Ab- wendigerweise stets das II-Bromid. Tech- sorption statt, die beim Schmelzpunkte unter irisch wichtig ist ein Gemisch von II-Bromid gleichzeitiger Nitridbildung lebhafter wird. — und III-Bromid für die Darstellung von Feinverteiltes Eisen, wie man es aus Eisen- Bromkalium und Bromnatrium, da beim Oxalat durch Reduktion im Wasserstoff ström Umsatz dieses Sesquibromides mit den erhält, verbindet sich bei 80° unter starkem entsprechenden Alkalicarbonaten unter Koh- Druck mit Kohlenoxyd zu Eisentetracarbonyl lensäureabspaltung neben Bromalkali ein Fe(CO)4. Unter bestimmten Bedingungen 1 gut filtrierbares, körniges Eisen(II)Eisen- kann man auch ein Eisenpentacarbonyl ge- (Ill)hydroxyd entsteht. Konzentrierte Lö- winnen, das wiederum im Licht in Hepta- sungen von Eisen(II)bromid scheiden in der carbonyl zerfällt. Bei hohen Temperaturen Kälte blaugrüne Kristalle der Zusammen- wird Kohlenoxyd durch feinverteiltes Eisen setzung FeBr2 + 4H20 ab. katalytisch in Kohle und Kohlensäure ge- Ferrojodid, Eisen(II)jodI d, Eisen- spalten, jodür, FeJ2, entstellt ebenfalls direkt aus Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. & 06 Eisengruppe (Eisen) den Elementen und kristallisiert aus kaltem Wasser mit 4 Molekülen H20. Ferrosulfat, Eisen(II)sulfat, Eisenoxydulsulfat, Eisenvitriol, FeS04+7H20, findet sich, wahrscheinlich durch Oxydation von Pyriten entstanden, in der Natur. Durch Lösen von Eisen oder Eisen(Il)sulfid in verdünnter Schwefelsäure ist es leicht herzustellen. Es kristallisiert monoklin, mitunter jedoch auch rhombisch, in blaßgrünen Kristallen mit 7 Molekülen H20, oxydiert sich jedoch leicht zu basi- schem gelbbraunem Sulfat. 100g Wasser lösen bei 20° 26,42 g anhydrisches Salz. Andere Hydrate sind das 4-Hydrat mit einem Ueber- gangspunkt bei 56,6° und das 1-Hydrat mit einem solchen bei 75,8°. Bei 100° getrocknet verliert das 7-Hydrat 6 Moleküle Kristall- wasser, das 7. Molekül geht erst bei 300° fort. Das wasserfreie Salz besitzt weiße Farbe. Beim starken Glühen wird S02 und S03 abgespalten und es hinterbleibt Eisenoxyd. Von seinen Doppelsalzen ist das wichtigste das Ammoniumeisen(II)sulfat, (NH4)2 Fe(S04)2 + 6H20, das sogenannte Mohrsche Salz, welches äußerst luftbeständig ist und daher in der Maßanalyse Verwendung findet. Die reduzierende Wirkung des Eisen(II)- sulfats kommt namentlich in seinem Ver- halten zu Goldlösungen zum Ausdruck, aus denen Metall ausgefällt wird. In alkalischer Lösung reduziert es organische Farbstoffe wie Indigo zur Leukobase, ferner Nitro- verbindungen zu den entsprechenden Amido- ' körpern. Ein eigentümliches Verhalten zeigt es, wie auch andere Eisen(II)salze , Stick- oxyd gegenüber. Dieses Gas wird mit tief- brauner Farbe gelöst und bildet je nach der Temperatur unbeständige Molekularverbin- dungen wechselnder Zusammensetzung. Beim Erhitzen zerfallen sie leicht wieder in ihre Komponenten. Vielleicht hat man es mit dem labilen Ionenkomplex FeNO" zu tun. Eisenvitriol wird als schwaches Desinfek- tionsmittel, ferner in der Färberei als Beiz- mittel und zur Darstellung von Tinten ver- wendet. Der tanninhaltige Galläpfelauszug bildet mit ihm Ferrotannat, welches durch Oxydation an der Luft in beständiges schwär- zes Ferritannat übergeht Ferronitrat, Eisen(II)nitrat ent- j steht durch Umsetzung von Eisen(II)sulfat mit Baryumnitrat und bildet ein äußerst zerfließliches Salz, Es kristallisiert mit 6 Mol H20 bei gewöhnlicher Temperatur aus, doch existiert noch ein 9-Hydrat mit dem Ueber- gangspunkt bei — 12°. 100 g Wasser lösen bei 20° 83,5 g anhydrisches Salz auf. Ferrophosphat,Eisen(II)phosphat, Fe3(P04)2+8H20, in der Natur den Vivianit ! bildend, entsteht auf nassem Wege durch Fällen von Eisensulfat mit phosphorsaurem Natrium als gelblich weißer Niederschlag. Einen Uebergang zwischen zwei- und drei- wertigem Eisen bildet der Magneteisen- stein, Fe304, ein Eisenoxyduloxyd, wel- ches in der Natur häufig in undurchsichtigen schwarzen Oktaedern vorkommt. Fe304 ist auch der sogenannte Hammerschlag. Synthetisch kann man es durch Verbrennen von Eisen in Sauerstoffgas darstellen. Es bildet das beständigste Oxyd des Eisens, oxydiert sich in der Glühhitze nicht weiter und besitzt stark magnetische Eigenschaften. In Säuren, selbst in konzentrierter Salpeter- säure ist seine Löslichkeit sehr gering. 8c) Verbindungen des dreiwertigen Eisens, Ferriverbindungen. Ferri- oxyd, Ei s e n(III)o xy d, Fe203, kommt in der Natur als Eisenglanz oder Rot- eisenstein vor. Es bildet sich leicht beim Glühen von Eisennitrat oder Eisensulfat, und entsteht ferner beim Rösten der Pyrite als Nebenprodukt der Schwefelsäurefabrikation (caput mortuum). In stark geglühtem Zu- stande ist Fe203 nur sehr langsam in Säuren löslich. Von Wichtigkeit sind seine kataly- tischen sauerstoffübertragenden Wirkungen, z. B. die Beschleunigung des Vorgangs S02+ O ^ S03, demgemäß kann Fe203 den Platin- asbest im Kontaktprozeß ersetzen. Es findet praktische Verwendung als Poliermittel, als Farbe (Pariser Rot), ferner in der hüttentech- nischen Fabrikation des Eisens. Hydrate des Eisen(III)oxyds wechselnder Zusammen- setzung finden sich in der Natur als Braun- eisenstein oder brauner Glaskopf, als Brauneisenocker und Nadeleisenerz. Fe(OH)3 Eisen(III)hydroxyd entsteht durch einfache Umsetzung von Eisen(III)- salzen mit Kalilauge. Im Gegensatz zu den Hydraten des Chroms und Aluminiums ist seine Löslichkeit in Alkali nur ganz gering. Es dissoziiert also nur ganz schwach nach dem Säuretypus. Ueber seine Neigung, kolloidale Lösungen zu bilden, siehe n Kolloidchemie des Eisens. Ferrifluorid, Eisen(III)fluorid, FeF3, direkt synthetisch aus den Elementen darstellbar, ist dadurch interessant, daß es mit Alkalifluoriden komplexe Verbindungen z. B. Na3[FeF6] analog dem Na3[Fe(CN)6] zu bilden vermag. Ferrichlorid, Eisen(III)chlorid, FeCl3, sublimiert beim Erhitzen von Eisen im Chlorstrom in Form metallisch glänzender, grünlichschimmernder Blättchen. Es ist enorm hygroskopisch und zerfließt anfeuchter Luft zu einer braunen Flüssigkeit. 100 g Wasser lösen bei 20° 91,8 g anhydrisches Salz. Außer in Wasser löst es sich in vielen organischen Flüssigkeiten, wieAlkohol,Aether, Benzol, Toluol. Aus konzentrierten, wässe- rigen Lösungen kristallisiert bei Zimmer- temperatur ein gelbes Hydrat der Zusammen- setzung FeCl3 + 12H20. Außer diesem Eisengruppe (Eisen) 67 Hydrat kennt man noch das 7-Hydrat, mit einem Umwandlungspunkt bei 27°, das 5-Hydrat mit einem solchen bei 30° und das 4-Hydrat, welches sich zwischen 55° und 66° im Gleichgewicht mit einer Lösung von Eisen(III)chlorid befindet. Das Studium dieser Hydrate ist für die Geschichte der Phasenlehre von großer Bedeutung gewesen, da Bakhuis-Roozeboom an diesem Bei- spiel die Bedeutung der heterogenen Gleich- gewichtslehre in ihren umfassenden Anwen- dungsmöglichkeiten erkannt hat. Wie bei allen Eisen(III)salzen macht sich in ver- dünnten Lösungen von Eisenchlorid die Hydrolyse stark bemerkbar, was durch Abscheidung basischer Salze zum Ausdruck kommt. Während das Eisen(III)bromid FeBr3 bei gewöhnlicher Temperatur beständig ist (man erhält es einfach durch Zusatz ent- sprechender Mengen Brom zu Eisen(II)- bromid), ist das nur in Lösung bekannte Eisen(III)jodid bereits bei Zimmertem- peratur stark in Eisen(II)jodid und Jod dissoziiert. Ferrisulfat, Eisen(III)sulfat bildet sich in mit Salpetersäure oxydierten Lösungen von Eisen in Schwefelsäure, ist jedoch wegen seiner Zerfließlichkeit schwer isolierbar. In prachtvollen Oktaedern kristallisiert es in Alaunform z. B. als schön amethystfarbener Ammoniumeisenalaun von der Zusammen- setzung (NH4).Fe(S04)2 + 12 H20. Bedeu- tung besitzt ferner der Rubidiumeisenalaun, weil er im Gegensatz zum Kalialaun ohne Zersetzung aus heißen Lösungen umkristalli- siert werden kann und hierin eine Methode liegt, Rubidium vom Kalium zu trennen. 8d) Verbindungen, in denen das Eisen höherwertig auftritt. Im Eisen- di sulfid, FeS2, dem luftbeständigsten Eisen- sulfid, das in der Natur dimorph als Pyrit in glänzenden, goldgelben Würfeln, Pentagon- dodekaedern und anderen Formen des regu- lären Systems oder aber als Markasit in Form von rhombischen Kristallen auftritt, ist das Eisen wahrscheinlich vierwertig anzu- nehmen. Bei Luftabschluß erhitzt, verliert der Pyrit Schwefel und verwandelt sich zum Teil in Fe3S4 oder FeS. An der Luft ge- röstet, wird der größte Teil des Schwefels zu In in schwarzroten rhombischen Prismen, die mit Kaliumsulfat und Kaliumchromat iso- morph sind, kristallisiert erhalten werden. Infolge leichter Hydrolysierbarkeit zerfallen Lösungen dieses Salzes allmählich in Kalilauge Eisenhydroxyd und Sauerstoff. Mitunter scheidet sich hierbei farbloses Natriumferrit, Na2Fe204, aus. Das der Eisensäure zugrunde liegende Oxyd ist unbekannt. 8e. Komplexe Verbindungen. Die wichtigsten Verbindungen dieser Gruppe sind bereits in dem analytischen Abschnitt er- wähnt worden. Das Ferrocyankalium, Kalium- ferro Cyanid, Kali um eise n (Il)cyanid, gelbes Blutlaugensalz, K4[FeCy6], welches durch Einwirkung von Cyankalium auf Eisensalze nach der Gleichung: 6 KCN + FeS04 = K4Fe(CN)6 + K2S04 ent- steht, wurde im großen früher durch Schmelzen von trockenen stickstoffhaltigen tierischen Abfällen (z. B. Blut, daher der Name) und Eisenfeilspänen mit Pottasche bei heller Rotglut hergestellt. Das gebildete Cyankalium und Kaliumeisensulfid KFeS2 setzen sich bei der Extraktion mit Wasser zu gelbem Blutlaugensalz um. Heutzutage verwendet man als Ausgangsmaterial die trockene Gasreinigungsmasse, d. h. Eisen- hydroxyd, welches das im Steinkohlen- teergas enthaltene Cyan neben Schwefel gebunden enthält. Gelbes Blutlaugensalz stellt ein zitronen- gelbes Salz vor, das in großen monoklinen Prismen kristallisiert. 100 g Wasser lösen bei 20° 25,1 g anhydrisches Salz. Zum Schmelzen erhitzt, zerfällt es in Stickstoff, Cyankalium und Eisenkarbid. Konzentrierte Schwefelsäure zersetzt das Salz unter Bil- dung von Kohlenoxyd, verdünnte Säure unter Entwickelung von Blausäure. Die freie Ferrocyanwasserstoff- säure erhält man aus konzentrierten F203. S02 oxydiert und es hinterbleibt Säuren ist FeS2 kaum löslich. S e c h s w e r t i g tritt das Eisen wahrschein- lich in der Eisensäure H2Fe04 auf, in der es sich wie Schwefel verhält. Die freie Säure ist unbekannt, dagegen erhält man leicht ihre Salze, wenn man entweder Chlor in eine wässerige Suspension von Eisenhy- droxyd in Kalilauge bei 70° leitet oder konzen- trierte Kalilauge iter Verwendung guß eisernen Anode elektrolysiert. Die Lösung färbt sich purpurrot und das Salz kann Lösungen des Kaliumsalzes mit Salzsäure in Form von unbeständigen weißen Kristallen. DurchOxydationderwässerigenLösungmit Chlor oder durch anodische Oxydation erhält man das rote Blutlaugensalz, Ferri- cyankalium, Kaliumferricyanid, Kaliumeisen(I II) Cyanid, K3[FeCy6], welches wasserfrei in dunkelroten monoklinen Prismen kristallisiert. 100 g Wasser lösen bei 20° 30,3 g anhydrisches Salz auf. Durch Zu- gabe von konzentrierter Salzsäure fällt neben Kaliumchlorid die freie Ferricyanwasser- stoffsäure aus in Form von weißen Kristallen, die wasser- und alkohollöslich sind. Die Bildung von löslichem und unlöslichem Berliner und Turnbullschen Blau ist im analytischen Teil ausführlich beschrieben. 9. Thermochemie. Bildungswärme der wichtigsten Eisenverbindungen für je 1 g- Molekül in g-Kalorien. 5* 68 Eisengruppe (Eisen — Kobalt) Bildungswärme FeCl2 82 200 cal FeCL, Aqua*) 102 100 ,, FeCl3 96 000 , , FeCl3, Aqua 128600 ,, FeBr.,, Aqua 78 100 ,, FeJ„ Aqua 47650 ,, FeO" 64 600 , , Fe(OH), 68300 ,, Fe,03 3 x 64800 ,, Fe(OH)3 95600 ,, Fe304 4 x 67 700 ,, Fe SO 4, Aqua 235600 „ FeS04, 7H20 240100 ,, Fe(N03),, Aqua 119 000 ,, FeC03 184500 „ Fe.,(S04)3, Aqua 652 100 ,, Fe(N03)3, Aqua 314300 „ *) Aqua bedeutet vi 'ässrige Lösung. 10. Spektralchemie. Die Linien des Eisen- Bogenspektrums — nach Ex 11 er und Haschek sind es vom Ultraviolett bis tief ins rote Gebiet hinein 2392 — werden ihrer großen Schärfe wegen in der Regel als Standardlinien bei "Wellenlängenmessungen benutzt und sind daher von verschiedenen Spektroskopikern sehr genau gemessenworden. Rowland gibt in seiner „Table of Standard wave lengths" die Wellenlängen des Bogen- und Funkenspektrunis. Eine vollkommene Zusammenstellung der Eisenlinien im Sonnen- spektrum befindet sich in Rowlands „Pre- liminary table of solar spektrum wave lenghts". ■ — Die Lösungen der einfachen Ferro- und Ferrisalze geben kein sehr charakteristisches Absorptionsspektrum; es zeigen sich nur diffuse einseitige Auslöschungen. Charakte- ristische Banden treten dagegen in stärker komplexen Eisenverbindungen auf, z. B. in ätherischen oder amylalkoholischen Lösungen des Eisenrhodanids, auch in der alkoholischen Lösung des Ferrichlorids. 11. Kolloidchemie. Die Darstellung von kolloidalem Eisen kann durch katho- dische elektrische Zerstäubung von Eisen- drähten in ausgekochtem gekühlten Wasser durchgeführt werden. Allerdings — A. von Jüptner, Grundzüge der Sidero- logie, Leipzig, Felix, 1900 bis 1904, 4 Bde. — H. Weilding , Grundriß der Eisenhüttenkunde, Berlin, Springer, 1907. — O. Dammer, Hand- buch der anorganischen Chemie, Stuttgart, Encke, III. Bd. 1893 und IV. Bd. 1903 („Fortschritte der anorganischen Chemie in den Jahren 1892 bis 1902"). — Graham und Otto, Lehrbuch der anorganischen Chemie 1889, Braunschweig, Vieweg & Sohn. — Der Band Eisen ist ferner in den Handbüchern von Chnelin- Kraut und von Abegg im Erscheinen begriffen,. F. Sommer, b) Kobalt. Co. Atomgewicht 58,97. 1. Atomgewicht. 2. Vorkommen. 3. Ge- schichte. 4. Darstellung und Verwendung. 5. Physikalische Eigenschaften und Konstanten. 6. Valenz und Elektrochemie. 7. Analytische Chemie. 8. Spezielle Chemie. 9. Thermochemie. 10. Spektralchemie. besitzen derartige Sole, da das Eisen unedler als Wasserstoff ist, nur eine äußerst geringe Be- ständigkeit, und bestehen wahrscheinlich zum Teil immer aus kolloidalem Hydroxyd. Eine kolloidale, in der Kälte unbegrenzt haltbare Lösung von Eisen(III)hydroxyd läßt sich leicht herstellen durch vorsichtige in der Kälte durchgeführte genaue Neutralisa- tion einer 30% filtrierten Lösung von Eisen- (Ill)chlorid mit 25% Ammoniumcarbonat- lösung und nachfolgender mehrtägiger Dialyse. Beim Kochen oder Zusatz von Elektrolyten tritt Ausflockung ein. Literatur. A. Ledebur, Handbuch der Eisen- hüttenkunde, Leipzig, Felix, 1906 bis 190S, 3 Bde. 1. Atomgewicht. Das Atomgewicht des Kobalts ist von der internationalen Atomgewichtskommission 1912 zu f;8,97 an- genommen worden. 2. Vorkommen. Co ist ein ständigei Be- gleiter der Nickelerze und findet sich in der Natur in ganz ähnlicher Weise wie das Nickel in Verbindungen mit Schwefel und Arsen, in sehr geringen Mengen kommt es auch im Meteoreisen vor. Man kennt den Kobaltkies Co3S4, den Speiskobalt CoAs2, den Tesseralkies CoAs3, den Glanzkobalt CoAs2+CoS2, die Kobaltblüte Co3As208+ 8H20, den schwarzen Erdkobalt Co0.2Mn02 -f 4H20, ferner den Kobaltvitriol von der Zusammensetzung CoS04+7H20. 3. Geschichte. Kobaltverbindungen — das Wort Kobalt ist synonym mit Kobold und ist wie Nickel ein Spottname für das Metall, welches trotz des schönen Aussehens kein Edelmetall (Silber) darstellte — sind seit den ältesten Zeiten bekannt. So benutzten schon die alten Aegypter Kobaltverbindungen zum Blaufärben von Glas. In den sächsischen Blaufarbenwerken wird seit über 400 Jahren die Smaltefabrikation betrieben, indem durch Schmelzen der gerösteten Kobalterze mit Kieselsäure und Pottasche prachtvolles, tief blau gefärbtes Kobaltoxydulkaliglas, Smalte, mit 2 bis 7% CoO hergestellt wird. Das Metall selbst wurde zuerst im Jahre 1733 von Brandt in Stockholm in unreinem Zu- stande gewonnen, aber erst die moderne Entwickelung der analytischen Chemie, die die völlige Trennung des Nickels vom Kobalt lehrte, gestattete die Herstellung reinen Metalls. 4. Darstellung und Verwendung. Metallisches Kobalt kann wie das Nickel leicht durch Reduktion seiner Oxyde mittels Eisengrappe (Kobalt) 09 Wasserstoff bei zirka 200° oder Kohle bei Weißglut, ferner durch starkes Glühen des Oxalats gewonnen werden. Technisch wird das Metall kaum hergestellt, da es trotz seiner wertvollen Eigenschaften zu selten ist , um industriell verwertet zu werden. Wie schon erwähnt, wird Kobalt haupt- sächlich in Form von Oxyd verwendet, welches durch die Eigenschaft, Glasflüsse blau zu färben, hohen technischen Wert besitzt. Auch als feuerbeständige Glasur- und Emailfarbe hat es Bedeutung, während es als Anstrich- oder Malerfarbe seit dem Jahre 1845 vom Ultramarin verdrängt wurde. 5. Physikalische Eigenschaften und Konstanten. Das Co ist ein silberweißes Me- tall von starkem Glanz, mit einem Stich ins Bläuliche, etwa wie das Zink. Von allen Me- tallen besitzt es die größte Zähigkeit, nur einige Stahlsorten übertreffen es in dieser Beziehung. Infolge seiner großen Dehnbar- keit läßt es sich wie das Nickel zu dünnstem Draht ausziehen. Das Metall ist stärker magnetisch als das Nickel, etwas weniger als das Eisen. Bei 1150° verliert es die Eigen- schaft der Magnetisierbarkeit plötzlich. Sein Schmelzpunkt liegt bei 1464°, etwa 30° höher als der des Nickels. In der Knallgas- flamme oder beim Behandeln mit starken elektrischen Strömen ist das Metall flüchtig, jedoch schwerer als das Nickel. Physikalische Konstanten. Das spezifische Gewicht beträgt für ge- Ol schmolzenes Metall: d j =8,718, für im Wasserstoffstrom reduziertes im Mittel 8,357. Die Härte ist nach der Mohsschen Skala 5,5. Der Ausdehnungskoeffizient berechnet sich zwischen 0° und 300° zu at =10~8 (1280+ 0,75t + 0,0035 t2). Die spezifische Wärme besitzt für das Intervall —182°' bis +15° den Wert 0,0822, für das Intervall +15° bis +350° den Wert 0,1087. Die elektrische Leitfähigkeit beträgt für 99,8% Metall bei 20° 10,3x10*. 6. Valenz und Elektrochemie. Kobalt tritt zwei- und dreiwertig auf, jedoch überwiegt die Zweiwertigkeit. Kobalt(II)- chlorid und Kobalt(II)bromid besitzen dem- gemäß in Pyridinlösung die monomolekulare Zusammensetzung CoCl2 und CoBr2. Auch das Kobalt(II)acetylacetonat besitzt normale, der Formel Co(C5H702)2 entsprechende Dampfdichte. Ferner ist die Isomorphie des Kobalt(II)sulfats CoS04.7H20 mit den Zink- und Magnesiumsulfaten ein weiterer Be- weis, wie auch die Mischkristallbildung des CoCl2 mit den gleich zusammengesetzten Manganochloriden vollkommen mit der Zwei- wertigkeit im Einklang steht. Die Drei- wertigkeit tritt vornehmlich in den Kobalti- alaunen und in der Isomorphie des Kobalti- cyankaliums mit dem Kaliumeisen(III)eyanid zu Tage. In den Komplexverbindungen mit Ammoniak findet man vornehmlich dreiwer- tiges Metall. Höhere Wertigkeiten bestehen vielleicht in der kobaltigen Säure und ihren Salzen (Me2Co03), ferner eventuell in der Kobaltsäure H2Co04. Da das Kobalt zwei Reihen von Salzen bildet, entsprechend zwei- und dreiwertigem Metall, so hat man es in wässeriger Lösung auch mit zwei- und dreiwertigen Kationen zu tun. Die gewöhnlichen Salze leiten sich vom zweiwertigen Metall ab und erteilen beim Lös ungs Vorgang dem Wasser die rote Farbe des Co ■ "Ions. In Gegensatz zu diesem ist das Co • • ■ Ion grün gefärbt und derart zersetzlich, daß es bereits die OH-Ionen des Wassers unter Zerfall in rotes Co" mit beträchtlicher Geschwindigkeit unter Sauer- stoffentwickelung zu zersetzen vermag ent- sprechend den Gleichungen: Co—-f OH' -> Co"+OH;20H^O+H2O.GrüneKobalt(III)- salzlösungen, z. B. das Sulfat, sind in- folgedessen nicht haltbar, da sie nach den Gesetzen der Massenwirkung entsprechend der Konzentration an Co-"- und OH'-Ionen mit bestimmter Geschwindigkeit zerfallen müssen. Die elektrolytisch, durch anodische Oxydation, durchführbare Synthese der grünen Salze geht demgemäß am besten vor sich in saurer Lösung (Verminderung der OH- Ionen) und möglichst niederer Temperatur, da hierdurch Bedingungen gegeben sind, die Zersetzungsgeschwindigkeit gegenüber der Bildungsgeschwindigkeit zu vermindern. Da in stark schwefelsaurer Lösung hierbei das Löslichkeitsprodukt des Kobalt(III)sulfats überschritten wird, kann festes grünes Ko- baltsulfat isoliert werden. Kobaltsalzlösungen sind in geringem Grade hydrolytisch gespalten und zwar etwas schwächer als die entsprechenden Nickel- salzlösungen. Das dem Vorgang Co -> Co- entspre- chende Normalpotential (bezogen auf die Einheitskonzentration - 1 g Formelgewicht im Liter die Normalwasserstoffelek- trode als Nullpunkt) beträgt - 0,29 Volt. Das Vorzeichen entspricht der Ladung der Elektrode. Für die Ionenumladung Co "->Co"* wurde der Wert + 1,8 Volt gefunden. Entsprechend der geringen Elektro äff inität ist das Co ••Ton in hohem Grade befähigt, Nebenvalenzen zu betätigen. Es existieren daher eine große Reihe von Ionen, in denen das Kobalt, hauptsächlich in dreiwertiger Form, als komplexes Kation bezw. Anion vorkommt. [Co(CN)6]'", [Co(N02)6]"' und [Co(NH3)6]"' sind die bekanntesten Beispiele. Auch die eigentümliche Erscheinung, daß Kobalt(II)salze beim Versetzen mit Salzsäure bezw. mit Chloriden wTie CaCl2 oder LiCl sich blau färben, ist wahrscheinlich auf Bil- 70 Eisengruppe (Kobalt) düng komplexer Kobaltionen zurückzuführen. Man hat es in der Lösung hierbei offenbar mit den Anionen CoCl3' bezw. CoCl4" zu tun. 7. Analytische Chemie. 7a) Quali- tative Analyse: Alle Kobaltverbindungen geben mit Soda und Kohle vor dem Löt- rohr erhitzt weiße, glänzende, magnetische Metallflitterchen. Perlreaktionen: In der Phosphorsalz- perle erhält man im Oxydations- sowie im Re- duktionsfeuer blauviolette Färbungen. Die Boraxperle erzeugt im Oxydations- wie im Reduktionsfeuer rein blaue Perlen, die beim Erkalten dunkler sind als in der Hitze. Reaktionen auf Kobalt(II)salze bezw. Co"- Ionen. Schwefelammon erzeugt einen schwarzen in Essigsäure und 4prozentiger kalter Salzsäure unlöslichen, in konzentrierter Salpetersäure und Königswasser leicht lös- lichen Niederschlag von Kobalt(II)sulfid. CoCl2 + (NH4)2S=CoS + 2NH4Cl. Natronlauge fällt in der Kälte zuerst blaues basisches Salz, das beim Erwärmen und weiterem Zusatz von NaOH in reines rotes Hydroxvd übergeht. Durch Einwirkung von Luftsauerstoff wird der Niederschlag bald mißfarbig und endlich braun unter Bildung von Kobaltoxyduloxydhydrat. /OH CoCl2+NaOH=Co<_ (blau) + NaCl .OH /OH Co/ +NaOH=Co<^ (rot) -f NaCl OH. /OH 3Co(OH)2 + 0 OH^ C0.O.C0.O.C0- \OH (braun) + H20 Versetzt man gleichzeitig mit Natronlauge und Bromwasser, so fällt schwarzes Kobalti- hydroxyd aus. Ammoniak verhält sich in geringen Mengen zugesetzt wie NaOH. In über- schüssigem Ammoniak löst sich der Nieder- schlag von Kobalthydroxyd leicht auf unter Uebergang in den wenig beständigen Kobalt- (H)amminkomplex, welcher wiederum durch den Sauerstoff der Luft leicht in den be- ständigeren Kobalt(III)ammoniakkomplex übergeführt wird. /OH 2Co<^ +14NH4OH+0=2[Co(NH3)6](OH)3 + 2NH4C1+UH20 Natrium- bezw. Kaliumcarbonat fällen rotviolettes basisches Carbonat aus. Cyankalium erzeugt zunächst einen Niederschlag von schmutzigrosafarbenem Ko- baltcyanid, das sich in überschüssigem Cyan- kali mit grünbrauner Farbe zu dem komplexen Salz K2[CoCy4] bezw. K4[CoCy6] löst. Beim Kochen unter Sauerstoffzutritt färbt sich die Lösung durch Oxydation unter Bildung des sehr beständigen" Kobalt(III)komplexes K3[CoCyfi] gelb und gibt jetzt mit Natron- lauge und Brom keinen Niederschlag mehr (Unterschied vom Nickel). CoCl2 + 2KCN= Co(CN)2 + 2KC1 Co(CN)2+ 4KCN= K4[Co(CN)6] 2K4[Co(CN)6] + 0 + H20 = 2K3[Co(CN)6] L v +2KOH Rhodanammon färbt Kobaltsalz- lösungen blau unter Bildung von komplexen (NH4)2[Co(SCN)4]. Letzteres geht beim Aus- schütteln mit einem Gemisch gleicher Teile Amylalkohol und Aether mit intensiv blauer Farbe in die ätherische Lösung. Eventuell vorhandenes Eisen fällt man vorher durch Zusatz von etwas Soda als Carbonat aus. Konzentrierte Kaliumnitritlösung erzeugt in essigsaurer Lösung einen gelben kristallinischen "Niederschlag von Natrium- kobaltihexanitrit CoCl, + 7KN02 + 2C2H402= 2KC1 + H20 + NO + 2C2H302K + [Co(N02)6]K3 (Unterschied vom Nickel.) 7b) Quantitative Analyse. Be- stimmung als Metall. Man fällt die Kobaltlösung am besten in einer Porzellan- schale siedend heiß mit reiner Kalilauge und Bromwasser, filtriert das Kobalt(III)hy- droxyd, trocknet, glüht im Wasserstoffstrom und wägt nach dem Erkalten als Metall. Eventuell extrahiert man nach dem Glühen noch mit Wasser, um mitgerissenes Alkali zu entfernen, und wiederholt das Ausglühen im Wasserstoffstrom. 7c) Elektroanalyse. Sehr bequem läßt sich das Kobalt elektrolytisch bestimmen. Man verwandelt das zu bestimmende Metall (0,1 bis 0,2 g) durch Abdampfen mit wenig verdünnter Schwefelsäure in das Sulfat und verdünnt unter Zugabe von 5 g Ammonium- sulfat, 30 ccm konzentriertem Ammoniak und 1 g Natriumacetat auf 150 ccm. Hierauf elektrolysiert man bei Zimmertemperatur entweder bei ruhender Elektrolytflüssigkeit mit einer Stromstärke von 0,5 bis 1 Ampere oder aber unter Rührung, die mechanisch oder nach Frary elektromagnetisch be- wirkt werden kann, mit 4 Ampere unter Benutzung einer Cl. Wink! ersehen Draht- netzelektrode. Im ersteren Falle dauert die Elektroanalyse 3 Stunden, im letzteren Falle ca. 25 Minuten. Das Kobalt scheidet sich fest haftend als graues Metall an der Kathode ab, die nacheinander mit Wasser, Alkohol und Aether gewaschen und sodann getrocknet und gewogen wird. 8." Spezielle Chemie. 8a) Allgemeines Verhalten des Metalls. Das reine Metall ist bei gewöhnlicher Temperatur in trockener Luft oder Sauerstoff beständig, oxydiert Eisengruppe (Kobalt) 71 Das entsprechende Hydroxyd Co(OH)2 ist ein rosagefärbter Niederschlag, welcher aus Kobalt(II)salzen mit Kalilauge entsteht und durch Oxydationsmittel wie Brom in schwar- Was s er s t off wird von Kobaltpulver nur j zes Co(OH)3 übergeführt wird, schwer absorbiert. Bei 700° ist die Absorption Kobalt(IIu.III)oxyd, Kobaltoxydul- erst meßbar und erreicht bei 1000° den Wert | oxyd, Co3C*4 bildet sich beim Rotglühen von 0,4 Volumina. Wasser dampf wird bei Kobalt(II)oxyd, Kobalt(II)hydroxyd, Kobalt- sich jedoch leicht in der Glühhitze. Reduziert man Kobaltoxyd bei Temperaturen von ca. 250° im Wasserstoffstrom, so besitzt das er- haltene Metall pyrophorische Eigenschaften, Rotglut Vereinigung zersetzt. Während Kobalt zur mit elementarem Stickstoff selbst oberhalb des magnetischen Um- wandlungspunktes bei 1050° keine Nei- gung besitzt, absorbiert es in der Kälte bereits große Mengen Stickstoffdioxyd und bildet die Verbindung Co2N02. Erhitzt man teinverteiltes Kobalt in einer Kohlen oxyd- Atmosphäre unter 100 Atmosphären Druck auf 150 bis 200°, so kann man orangefarbene Kristalle der Zu- sammensetzung Co(CO)4 isolieren, die bei 42° bis 46° unter Zersetzung schmelzen. Bei hohen Temperaturen zerlegt Kobalt kata- lytisch das Kohlenoxyd nach der Gleichung 2Co=C + C02. —Das Kobalt, welches unedler als Wasserstoff ist, löst sich langsam in kalter Salzsäure und Schwefelsäure auf, schneller bei Gegenwart von Platin, wahrscheinlich infolge Bildung von „Lokalelementen", ähn- lich wie beim Zink. Verdünnte Salpetersäure bleibt in der Kälte ohne Einwirkung, kon- zentrierte Säure greift das Metall stark an. Unter bestimmten Bedingungen tritt die Erscheinung der Passivität auf. Gegen Kalilauge ist das Metall auch in der Hitze sehr beständig. Setzt man das Metall als Anode in alkalischer Lösung der Wirkung des elek- trischen Stromes aus, so geht es, am besten bei Anwendung kleiner Stromdichten, in seiner niedrigsten Oxydationsstufe (CoO) kolloidal mit blauer Farbe in Lösung. Trotz der großen Aehnlichkeit mit dem Nickel unter- scheidet sich das Kobalt von ihm durch die größere Beständigkeit seiner Oxyd(III)ver- bindungen, die in Form von Komplexver- bindungen eine große Rolle spielen und auf deren Bildung wichtige Trennungen beider Metalle beruhen. Die wasserhaltigen Salze sind karmoisinrot, die wasserfreien lila bis blau gefärbt. Beim starken Erhitzen ver- lieren die Salze ihre Säure, falls dieselbe flüch- tig ist, und gehen in Oxyde über. 8b) Verbindungen mit Sauerstoff und mit Schwefel. — Von den existenz- fähigen Oxyden besitzen die folgenden Be- deutung. (Il)carbonat, -nitrat oder -Oxalat an der Luft oder in Sauerstoff. Es ist ein schwarzes Pulver und bildet kristallisiert stahlglänzende, mikro- skopische Oktaeder. Bei Weißglut geht es unter Sauerstoff entwickelung in CoO über. In Säuren ist es, mit Ausnahme von kon- zentrierter H9SOd, unlöslich. Kobalt(III)oxyd, Co203, entsteht durch gelindes Glühen von entwässertem Kobalt- nitrat und bildet ein braunschwarzes Pulver. Durch Oxydation von Kobaltsalzen, nament- lich in alkalischer Lösung, erhält man hydrati- siertes Co203 von wechselnder Zusammen- setzung. Alle diese Oxyde lösen sich in Säuren unter Sauerstoffentwickelung, in Salzsäure speziell unter Chlorentwickelung, da Co—-Jon in wässeriger Lösung ganz unbeständig ist (vgl. Abschnitt 6 „Elektrochemie"). Kobaltige Säure, H2Co03. Durch Versetzen von Kobalt(II)lösung mit Natrium- carbonat und Wasserstoffsuperoxyd erhält man grüne Lösungen, in denen wahrschein- lich Derivate der kobaltigen Säure, H2Co03, abgeleitet vom Oxyd Co02, enthalten sind. Kobaltsulfid. Durch Einwirkung von Schwefel oder Schwefelwasserstoff auf glühen- des Metall oder Kobaltoxyde entstehen Sulfide wechselnder Zusammensetzung. Durch Fällen einer Kobaltsalzlösung mit Schwefelammon entsteht hydratisiertes CoS, welches merk- würdigerweise in verdünnten Säuren unlös- lich ist (vgl. NiS, Qualitative Analyse). Von konzentrierter Salpetersäure oder Königs- wasser werden alle Kobaltsulfide gelöst. 8c) Salze des zweiwertigen Ko- balts, K o b a 1 1 o v e r b i n d u n g e n . Kobalt(II) chlorid, Kobaltchlorür, CoCl2, erhalten durch Einwirkung von Chlor auf Metall oder bequemer durch Lösen von metalli- schem oder oxydiertem Kobalt(CoOod.Co203) in Salzsäure ist als wasserfreies Salz blau ge- färbt. Die Lösung besitzt, entsprechend der Farbe des Co -Tons, rote Färbung. Auch das aus wässeriger Lösung mit 6 Mol H20 kristalli- sierende Salz bildet rote gefärbte Prismen, geht jedoch in trockener Luft in das violette Hydrat CoCl2.2H20 über. 100 g gesättigte Kobalt(II)oxyd, Kobaltoxydul, CoO, I Lösung enthalten bei 25° 34,4 g wasserfreies stellt ein graugrünes, an der Luft unveränder- j Salz. Wie aus der Löslichkeitskurve ersicht- liches, unmagnetisches Pulver dar. Es entsteht , lieh ist, erfolgt bei 25° Umwandlung des beim Glühen des Metalls im Wasserdampf- 6-Hydrats in 2-Hydrat, bei 50° Umwandlung ström oder beim Glühen des Hydroxyds oder in wasserfreies Salz. Durch Zusatz von Salz- Carbonats in indifferenter Atmosphäre. Bei säure oder von Chloriden wie CaCl2 oder LiCl Weißglut ist allein CoO beständig. Von ! zu der wässerigen Lösung tritt Farbenum- Säuren wird es zu Kobalt(II)salzen gelöst, schlag in Blau ein, offenbar infolge von Bildung 72 Eisengruppe (Kobalt — Nickel) der blau gefärbten Anionkomplexe CoCl3' bezw. C0CI4". CoCl2 ist auch in vielen or- ganischen Lösungsmitteln löslich. Kobalt(II)bromid, CoBr2, und Ko- balt(II) Jodid, CoJ2, können direkt durch Vereinigung von gepulvertem Kobalt mit Brom bezw. Jod in der Hitze erhalten werden. CoBr2 bildet wasserfrei glänzende, grüne Kristallblättchen, die sich in Wasser mit roter Farbe lösen. Verdunstet man die Lösung vor- sichtig, so bekommt man das 6-Hydrat als rote, bei 100° schmelzende Kristallmasse. Aus der Schmelze entweicht Wasser, und beim Erkalten hinterbleibt das 2-Hydrat als purpurblaue Masse. Bei 130° entweichen die letzten beiden Moleküle Wasser und man erhält wieder das grüne Salz CoBr2. Kobalt(II)- jodid bildet wasserfrei eine graugrüne, schmelzbare Masse, die sich in wenig Wasser grün, in viel Wasser rot auflöst. Aus der Lösung können durch vorsichtiges Abdunsten die grüngefärbten 2- und 4-Hyclrate bezw. die rotgefärbten, sehr unbeständigen 6- und 9-Hydrate gewonnen werden. Kobalt(II)sulfat, CoS04+7H20 bildet sich beim Auflösen von Kobalt in Schwefel- säure und kristallisiert in luftbeständigen, roten, monoklinen Prismen, die beim Erhitzen Kristallwasser verlieren und beim starken Glühen auch Säure abgeben. 100 g ge- sättigte Lösung enthalten bei 20° 26,58 g wasserfreies Salz. Außer dem 7-Hydrat existieren noch eine Reihe anderer Hydrate. Ueber die Umwandlung in Kobalt(III)sulfat vgl. Abschnitt 6 „Elektrochemie". Auch zur Bildung von Alaunen ist das Kobalt(III)- sulfat befähigt. Kobalt(II)nitrat, Co(N03)2+6H20 ent- steht durch Lösen von metallischem Kobalt oder dessen Hydroxyd bezw. Carbonat in Salpetersäure und kristallisiert in mono- klinen Kristallen, die bei 56° schmelzen und in das Trihydrat übergehen. Weitere Wasser- abspaltung ist mit gleichzeitiger Zersetzung verbunden. 100 g der bei 18° gesättigten Lösung enthalten 49,78% wasserfreies Salz. Kobalt(II) orthosilikat erhält man durch mehrstündiges Erhitzen eines innigen Gemisches von CoO und CoCl2 mit einem großen Ueberschuß von amorphem Si02 auf Rotglut. Es hinterbleibt nach dem Extra- hieren mit KOH und H20 als ein blau- violettes Pulver. Das Kalium- oder Natrium- kobalt(II)orthosilikat ist der färbende Be- standteil der in der Keramik als blauer Farb- stoff verwendeten S malte. Kobaltcarbonate existieren in mannig- fachen Zusammensetzungen. Das normale hellrote C0CO3 verliert schon bei geringem Erhitzen Kohlensäure und geht in Co304 über. Kobaltaluminat entsteht durch Glühen von A1203 mit Kobaltnitrat und ist bekannt unter dem Namen Thenards Blau. c0<; Me K 0 b alt(II) 0 x y d - Z i n k 0 x y d , erhalten durch Glühen von Zinkoxyd mit Kobaltoxyd, bildet das sogenannte Rinmanns Grün. 8d) Komplexe Verbindungen. Von großer Bedeutung, praktisch sowohl wie theo- retisch, sind die komplexen Kobaltverbindun- gen. Während die vom zweiwertigenMetallsich ableitenden Komplexverbindungen wie beim Nickel infolge ihrerUnbeständigkeit von unter- geordneter Bedeutung sind, bilden diejenigen des dreiwertigen Metalls wichtige, überaus beständige, schön gefärbte Verbindungen. Die Koordinationszald, d. h. die Maximalzahl der Moleküle (Ionen -j- Neutralteile), welche das Zentralion zu binden vermag, beträgt sechs. Kobaltammin Verbindungen. Von allen Ammoniakmetallen sind die Kobaltsalze am vollkommensten studiert worden. Die Konstitution der Hexamminkobaltsalze, die durch Einwirkung von Ammoniak auf Kobalt- salze bei Gegenwart von Sauerstoff entstehen, entspricht der Strukturformel: [Co(NH3)6]X3, wo X einen Säurerest wie Cl', N03', N02', SCN' usw. bedeutet, NH3 durch Pyridin, Aethylen- diamin, H20 und andere Reste ersetzt werden kann. Aus dieser Reihe sind naturgemäß (vgl. „Platin" im Artikel „Osmiumgruppe") wiederum am interessantesten die Tetrammin- und die Diamminverbindungen vom Typus (NH3)J X uni L (Me = einwertiges Metall), zwei stereoisomeren Formen existieren können. Die physikalischen Unterschiede dieser Ver- bindungen kommen schon charakteristisch durch die verschiedenartigen Färbungen zum Ausdruck, indem die Salze der cis(1.2)-Reihe (vgl. den Artikel „Platin") rotgelb bis violett (Flavo- und Violeoreihe) und die trans(1.6)-Salze gelb bis grünblau (Croceo- und Praseoreihe) gefärbt sind. Eine Bestätigung der Koordinationslehre (s. den Artikel „Valenzlehre") ist neuerdings durch das Studium der(Aethylen- diamin enthaltenden Komplexverbin- dungen erbracht worden, indem es nämlich Werner gelungen ist, Verbindungen wie die 1.2- Chloroammindiäthylendiaminkobalti- salze oder die 1.2-Dinitrodiäthylendiamin- kobaltisalze mittels Bromkampiersulfo- | säure in die optischen Antipoden zu spalten. Die optische Aktivität ist hier durch das Auftreten zweier Spiegelbildisomeren in der cis-Reihe bedingt. Kobaltinitrito Verbindungen. In die- ser Gruppe interessieren neben den stereoiso- meren eis- und trans-Dinitrotetramminko- baltiverbindungen (Flavo- bezw. Croceosalze) und ihren Derivaten namentlich die sich von der Hexanitritokobaltiwasserstoffsäure ab- leitenden Alkalisalze z. B. das K3|Co(N02)6] wegen ihrer Bedeutung für die analytische Chemie (s. Absatz 7, qualitative Analyse). ^(NH3)2 da sie beide 111 Eisengruppe (Kobalt - - Nick«']) '3 Kobalticy an verbin düngen. Auch von diesen Verbindungen besitzen die bereits im Abschnitt „Analytische Chemie" er- wähnten das komplexe Kobalticyanion [Co(CN)6]'" enthaltenden Alkalisalze Bedeu- tung, da das Kobalt hier in wässeriger Lösung in keiner Weise durch Fällungsreaktionen nachweisbar und hierdurch eine Trennung des Nickels vom Kobalt gegeben ist. 9. Thermochemie. Bildungswärmen der wichtigsten Kobaltverbindungen für je lg-Mol. in g-Kalorien: Bildungs wärme CnCl, 76 500 cal CoBr2, Aqua*) 72900 ,, CoJ.,, Aqua 42 500 ,, CoÜ 63800 ,, Co(OH), 63400 ,, Co(OH), 74 7°° .1 CoS, xH.O 21 700 ,, C0SO4, Aqua 230500 „ CoS04.7H2Ü 234°5° ,, Co(N03)o, Aqua H4 400 19 Co(N03)2.6H20 119 300 „ *) Aqua bedeutet wässrige Lösung. 10. Spektralchemie. Kobaltsalze liefern kein verwendbares Fl a m nie n spekt.ru m, dagegen erhält man mit Hilfe des einfachen elektrischen Funkens ein charakte- ristisches, linienreiches Spektrum, aus dem folgende Linien hervorzuheben sind: Hell- grüne Linie 564,1, grüne Linien 548,3, [535,3, 534,0], [528,0, 526,7], 521,2, 515,4, blaue Linien 486,8, 484, 481,5, 479,3, eine indigo- blaue Linie 453,3, und eine violette Linie 411,9. Die kursiv gedruckten Linien sind be- sonders deutlich zu beobachten. Die übrigen Linien siehe bei J. M. Eder und E. Valenta, Atlas typischer Spektren, 2 Teile, herausgegeben von .der Kaiserl. Akad. d. Wissenschaften, Wien 1911, und in der Neuauflage der Wellenlängentabellen von Exner und Haschek, Leipzig und Wien 1911, Franz Deuticke. Die Lösungen der einfachen Kobaltsalze liefern kein sehr charakteristisches Ab- sorptionsspektrum, wohl aber alkoholische oder salzsaure Lösungen von Kobalt(II)- chlorid. Besonders geeignet zur spektral- analytischen Untersuchung sind die kom- plexen Kobaltrhodanide, von denen die grünlichblauen amylalkoholischen Lösungen durch charakteristische Absorptionsstreifen ausgezeichnet sind. Literatur s. unter „Nickel". F. Sommer. c) Nickel. Ni. Atomgewicht 58,68. 1. Atomgewicht. 2. Vorkommen. 3. Ge- schichte. 4. Darstellung und Verwendung. 5. Physikalische Eigenschaften und Konstanten. 6. Valenz und Elektrochemie. 7. Analytische Chemie. 8. Spezielle Chemie. 9. Thermo- chemie. 10. Spektralchemie. 11. Kolloidchemie. 1. Atomgewicht. Das Atomgewicht des Nickels besitzt den Wert nach der Atomge- wichtstabelle für das Jahr 1912 58,68. 2. Vorkommen. In gediegenem Zustande findet sich Nickel im Meteoreisen, welches 2 bis 8% enthält. Ferner kommt es in Ver- bindung mit Schwefel und Arsen namentlich im Erzgebirge vor und bildet mit diesen Ele- menten den Nickel- oder Haarkies NiS, das Arsennickel NiAs, auch Rotnickelkies oder Kupfernickel genannt, das Weißnickelerz NiAs 2, den Nickelglanz oder Gersdorf fit NiS2+NiAs2, ferner die Nickelblüte Ni3As2Os + 8H20, ein Zersetzungsprodukt der nickel- haltigen Kiese. Auch existieren Verbindungen, in denen an Stelle von Arsen das Antimon ge- treten ist. Das technisch wichtigste Erz ist der Garnierit, ein wasserhaltiges Nickelsilikat, das mit Magnesiumsilikaten gemengt ist und hauptsächlich bei Noumea auf Neukaledonien, ferner auch in Oregon gefunden wird. Ein weiteres reiches Nickellager ist das von Sud- bury in Kanada, wo nickelhaltiger Magnet- und Kupferkies vorkommt. Als Begleiter enthalten die Nickelverbindungen meist die analogen Kobaltverbindungen. 3. Geschichte. In den ältesten Zeiten verwendeten die Chinesen bereits das Nickel zur Herstellung von Packfong, einer dem Neusilber entsprechenden Cu,Zn.Ni-Le2,ie- rung. In Europa wurde das Nickel im Jahre 1751 von Cronstedt im Arsennickel ent- deckt und als neues Metall erkannt. Die Ver- hüttung der Erze, die erst im Jahre 1824 ver- sucht wurde, begann in großem Maßstabe erst vor ungefähr 35 Jahren seit der Auf- findung der Nickelerze in Neukaledonien und Kanada. 4. Darstellung und Verwendung. Wäh- rend die D ar s t e 1 1 u n g des Nickels im kleinen keine Schwierigkeiten bereitet die Re- duktion der Oxyde durch Wasserstoff oder mittels Kohle, ferner starkes Glühen von oxalsaurem Nickel führen leicht zum Metall — , ist die technische Verarbeitung ein schwieriger und verwickelter Prozeß. So wurde reines Nickel überhaupt erst seit Entdeckung der Garnieritlager hergestellt. Der Gang des Garnieritprozesses ist folgender. Durch eine Art Hochofenbetrieb werden die gerösteten Silikate mit Koks und Zuschlägen reduziert und verschmolzen. Das so erhaltene kohle-, silicium- und eisenhaltige Rohnickel wird in einem Bessemer Converter oder Martin- Siemensofen verblasen, wobei die Kohle ver- brennt und das Eisen und Silicium verschlackt. Das zugleich oxydierte Nickel muß weiter reduziert werden. Elektrolytisch läßt sich aus Nickelammoniunisulfatlösungen leicht ganz reines Metall abscheiden. 74 Eisengruppe (Nickel) Die Verwendung des Metalls ist eine mannigfaltige. In Verbindung mit Kupfer (75% Cu+25% Ni) wird es als Münzmetall für Nickelgeld verwendet. Das Neusilber oder auch Argentan, Alfenide, Alpacca ge- nannt, besteht aus Kupfer, Nickel und Zink und enthält diese Metalle durchschnittlich im Verhältnis 5:2:2. Einen ungeheuren Ver- brauch an Nickel bedingt die Nickelstahl- fabrikation mit 2 bis 8% Nickel für Panzer- platten. Die Nickelstahle besitzen eine Zähig- keit, die doppelt so groß wie die des gewöhn- lichen Stahles ist. Bemerkt sei an dieser Stelle, daß ein Nickelstahl von 36% Ni einen Ausdehnungskoeffizient < 0,000002 besitzt, und unter dem Namen Inwar zur Herstellung von Präzisionsinstrumenten verwendet wird. Eine weitereVerwendung findet das Reinnickel zur Herstellung von Kochgeschirren, doch ist diese Art der Verwendung nicht unbedenklich bei der Angreifbarkeit des Metalls durch saure oder stark gesalzene Speisen, wenn man die physiologische Wirksamkeit der giftigen Nickelsalze bedenkt. Jedenfalls dürfen nur erstklassige Fabrikate verwendet werden. Auch galvanisch vernickelte Gefäße besitzen, da Nickel auf Eisen, Kupfer, Zink und auch Messing gut haftet, technische Bedeutung. 5. Physikalische Eigenschaften und Konstanten. Das Nickel ist ein stark glän- zendes, silberweißes, leicht magnetisierbares Metall von großer Zähigkeit und Dehnbarkeit, sodaß es zu stannioldünnen Platten ver- arbeitet und zu haarfeinem Draht gezogen werden kann. Das Metall ist strengflüssig wie Stabeisen und läßt sich wie dieses schmieden, schweißen und walzen. Der Schmelzpunkt liegt bei 1435°. Das Metall besitzt bei 360.8° einen Uniwandlungspunkt, bei wel- chem es in eine unmagnetische Modifi- kation übergeht. Nickel verflüchtigt sich bei der Temperatur des Knallgasgebläses und kann unter Anwendung starker elektrischer Ströme leicht destilliert werden. Physikalische Konstanten. Das spezifische Gewicht beträgt für ge- schmiedetes Nickel D 1/ = 8,82 bis 8,93"je nach der Darstellungsweise des Metalls. Die Härte ist nach der Mohsschen Skala 3,8. Der lineare Ausdehnungskoeffizient beträgt zwischen 0 und 300°: at =10~8 (1280+ 0,75t + 0.0035 t2). Die spezifische Wärme besitzt für das Intervall —185° bis +20° den Wert 0,0918, für 15° bis 100° den Wert 0,10842. Die elektrische Leitfähigkeit beträgt bei 0° 14,42 x 10*. 6. Valenz und Elektrochemie. Das Nickel ist ein vorwiegend zweiwertiges Metall. Die Zweiwertigkeit kommt vor allem in der Isomorphie seines Sulfats mit dem Magne- siumsulfat, ferner in der seines Chlorids und Nitrats mit den entsprechenden Kobalt(II)- salzen zum Ausdruck. Dreiwertig ist das Nickel im Ni203, Nickel(III)oxyd, von dem jedoch bis jetzt noch keine Salze bekannt sind. Nickelperoxyd, Ni02, welches in zwei iso- meren Formen vorkommt, repräsentiert in der Form des schwarzen Oxyds vielleicht vierwertiges Nickel. Da das Nickel in Salz- form ein streng zweiwertiges Metall vorstellt, hat man es in Lösung nur mit dem grün ge- färbten Ni-Ion zu tun. Die Farbe der dunkel- roten Lösungen, die beispielsweise durch Ein- wirkung von Ozon auf mit Nickelsalz ver- setzte Kaliumbicarbonatlösung oder durch anodische Auflösung von Nickel entstehen, stammt nicht von gebildeten Nickel(III)- verbindungen, also Ni*"-Ionen, sondern stellt eine kolloidale Lösung von Ni02 vor. Nickel- (Il)salze sind in wässeriger Lösung schwach hvdrolysiert. NiS04 nach dem Schema: Ni- + 20H' ^ Ni(OH)2, Nickelchlorid da- gegen in folgender Weise: /Cl NiCk+OH'^Ni<^tT OH Das dem Vorgang Ni -» Ni" entsprechende Normalpotential (bezogen auf die Einheits- konzentration — lg Formelgewicht im Liter — die Normalwasserstoffelektrode als Nullpunkt) beträgt -- 0,22 Volt. Das Vor- zeichen entspricht der Ladung der Elektrode. Wie das Kobalt, kommt auch Nickel, allerdings nur in zweiwertiger Form, als kom- plexes Ion vor. [Ni (NH3)e]-\ [Ni(CN)4]" sind die bekanntesten Beispiele. 7. Analytische Chemie, a) Qualita- tive Analyse. Mit Kohle und Soda vor dem Lötrohr erhitzt, geben Nickel- verbindungen magnetische Metallflitterchen. Perlreaktionen. In der Phosphorsalz- perle geben Nickelverbindungen in der Oxy- dations- und Reduktionsflamme fast gleiche Färbungen, in der Hitze eine dunkelrote, in der Kälte je nach Konzentration eine gelb- braune bis grünlichgelbe. In der Boraxperle liefert namentlich die obere Reduktions- flamme metallisches Nickel, so daß die Perle farblos erscheint. Reaktionen auf Nickel(II)salze bezw. auf Ni" -Ionen. Schwefelammon gibt einen schwarzen Niederschlag von NiS, der in Essigsäure und 4% kalter Salzsäure unlöslich, in konzen- trierter Salpetersäure und Königswasser leicht löslich ist. NiCl2+(NH4)2S=NiS+2NH4Cl Das bei dieser Fällung leicht in kolloi- daler Form in Lösung gehende NiS kann am besten durch Zusatz von Essigsäure und längeres Aufkochen ausgeflockt werden. Da NiS in 4 % Salzsäure praktisch un- löslich ist, so sollte es eigentlich auch aus saurer Lösung durch Schwefelwasserstoff ge- Eisengruppe (Nickel) 75 fällt werden. Der Grund liegt wahr- scheinlich in einer außerordentlichen Träg- heit der Fällung, also einer charakteristischen Uebersättigungserscheinung. Natronlauge fällt grünes, im Ueber- schuß des Fällungsmittels unlösliches Nickel(II)hydroxyd, das sich an der Luft nicht verändert. NiC]2+2NaOH=Ni(OH)2+2NaCl Durch Brom, Chlor oder unter- chlorige Säure wird es zu schwarzem Nickel(III)hydroxyd oxydiert. 2Ni(OH)2+0+H20=2Ni(OH)3 Ammoniak fällt in neutralen, ammon- salzfreien Lösungen grünes basisches Salz, das sich in überschüssigem Ammoniak oder Ammoniumchlorid unter Komplexsalz- bildung mit blauer Farbe löst /OH Hi<( + 5NH3+H20=[Ni(NH3)4](OH)2 + NH4C1 Natrium- oder Kaliumcarbonat fällen apfelgrünes Nickelcarbonat. Cyankalium erzeugt eine hellgrüne Fäl- lung von Nickel(II)cyanid, die sich im über- schüssigen Fällungsmittel zu dem gelben Kaliumsalz der komplexen Nickel(II)cyan- wasserstoffsäure löst. Ni(CN)2+ 2KCN = K2[Ni(CN)4] Aus dieser beim Kochen sich nicht ver- ändernden Lösung wird zum Unterschied von Kobalt durch Natronlauge und Brom schwar- zes Nickel(III)hydroxyd abgeschieden. CH3.C=NOH a-Dimethylglyoxim : CH3.C = NOH (Tschugaeffs Reagenz) gibt in essigsaurer oder ammoniakalischer Lösung eventuell erst beim Aufkochen noch bei einer Verdünnung von 1:400000 einen voluminösen roten Nieder- schlag von: CH,.C = NO — Ni — ON = C.CH, CH3.C C.CIL NOH HON (Unterschied von Kobalt). Sind bei Ausführung dieser Reaktion viel Kobalt(II)salze zugegen, so führt man diese erst durch Ammoniak und Wasserstoffsuper- oxyd in Kobalt(III)ammmsalze über, zerstört das überschüssige H202 durch Kochen und fällt erst jetzt mit dem Reagenz. So läßt sich 0,1 mg Nickel in Gegenwart von 500 mg Kobalt noch nachweisen. Dicyandiamidinsalz fällt bei Gegen- wart von überschüssiger Kalilauge alles Nickel als Dicyandiamidinnickel: (C2H5N40)2.Ni + 2H20 in Form von feinen gelben Nadeln, die in ammoniakhaltigem Wasser quantitativ unlöslich sind. Unterschied von Kobalt. Größere Mengen von Ammonsalzen sind, da sie lösend wirken, bei der Fällung zu ver- meiden (siehe auch unter quantitativer Analyse). b) Quantitative Analyse, a) Be- stimmung als Nickeldimethylgly- oxim. Zu der siedend heißen neutralen, höchstens ganz schwach sauren, Nickelsalzlö- sung, die nicht mehr als 0,1 g metallisches Ni auf 200 ccm enthalten soll, setzt man etwa die fünffache Menge Dimethylglyoxim in Form 1 prozentiger alkoholischer Lösung, macht ganz schwach ammoniakalisch und filtriert am besten durch einen Neubauer-Platintiegel. Man wäscht mit heißem Wasser aus und trocknet bei 110° bis 120°. Man wägt: NiCöH14N404. ß) Bestimmung als Dicyandiami- dinnickel. Man setzt zu der möglichst neu- tralen kalten Nickelsalzlösung auf zirka 0,1 g Nickel 2 g Dicyandiamidinsulfat, welches in heißem Wasser gelöst ist. Hierauf fügt man einige ccm Chlorammonlösung und reichlich ; Ammoniak hinzu, worauf man unter ständigem Umrühren mit überschüssiger 10 prozentiger Kahlauge bis zum Farbenumschlag von blau | in gelb versetzt. Der sich in feinen Nadeln ; absetzende Niederschlag wird noch einige Stunden stehen gelassen, sodann am besten durch einen Goochtiegel filtriert, mit ammoniakhaltigem Wasser gewaschen und bei 115° getrocknet. Man wägt fleisch- farbenes (C2H5N40)2Ni. Beide Methoden (a und ß) fällen Kobalt nicht aus. c) Elektroanalyse. Die elektroanaly- tische Bestimmung des Nickels kann unter ganz denselben Bedingungen wie die des Kobalts vorgenommenwerden(vgl. ,,K o b alt", Elektroanalyse). 8. Spezielle Chemie. 8a) Allgemeines Verhalten des Metalls. Reines Metall ist bei gewöhnlicher Temperatur an der Luft unveränderlich, überzieht sich jedoch beim Erhitzen in Luft oder Sauerstoff mit einer Schicht von NiO, wobei gleichzeitige An- wesenheit von Feuchtigkeit die Oxydations- geschwindigkeit begünstigt. Fein verteiltes Metall besitzt, bei möglichst niederer Tempe- ratur durch Reduktion mittels Wasserstoff gewonnen, pyrophorische Eigenschaften, ver- liert dieselben jedoch, wenn es einige Zeit im Wasserstoffstrom auf höhere Temperaturen erhitzt wird. Wird poröses Metall längere Zeit als Kathode in angesäuertem Wasser behandelt, so werden beträchtliche Mengen Wasserstoff absorbiert. Wasserstoffabsorp- tion tritt auch direkt beim Erhitzen in einer H2-Atmosphäre ein, und zwar beginnt sie bereits unterhalb 200°, nimmt mit der Temperatur zu und beträgt bei 1000° rund 1 Volumen. Wie beim Platin erfolgt auch hier die Absorption nicht nach dem einfachen Henry sehen Gesetz, sondern sie 76 Eisengruppe (Nickel) ist der Quadratwurzel aus dem Wasserstoff- druck proportional. Ammoniak wird von fein verteiltem Nickel bereits bei mäßiger Hitze in Stickstoff und Wasserstoff zersetzt; Neigung zur Nitridbildung scheint wie beim Kobalt nicht vorhanden zu sein. Interessant ist das Verhalten von fein verteiltem reduziertem Nickel gegen Kohlenoxyd. Zwischen 30° und 60° verbinden sich beide, besonders leicht unter Druck, zu dem sehr flüchtigen Nickel- tetracarbonyl, einer farblosen, leichtbeweg- lichen, sehr giftigen, bei 43° siedenden Flüssigkeit, die schon bei 155° in umkehr- barer Reaktion wieder in ihre Komponen- ten zerfällt. Au± diesem Verhalten beruht der Mondsche Prozeß zur Darstellung von reinem Nickel. Bei hohen Temperaturen spaltet Nickel Kohlenoxyd katalytisch in Kohle und Kohlensäure. Von Wasser ist Nickel auch in feinster Verteilung unangreifbar. Nickel löst sich nur langsam in verdünnter Phosphorsäure, Schwefelsäure und Salzsäure unter H2-Entwickelung zu den entsprechen- den zweiwertigen Salzen auf. Auch konzen- trierte Schwefelsäure greift das Metall nur sehr schwierig an. Leicht löslich ist es in verdünnter Salpetersäure ; kalte konzentrierte Salpetersäure macht das kompakte Metall passiv. Gegen Kalilauge ist Nickel, auch in der Hitze, sehr beständig. Nickelbleche finden daher als Elektroden im Knallgascoulometer, in dem aus der Menge des aus Natronlauge entwickelten Wasserstoff- Sauerstoffgemenges die Stromstärke bestimmt wird, vielfach Verwendung. Fein verteiltes Nickel katalysiert in hohem Maße eine Reihe von Reduktions- prozessen, und spielt deshalb namentlich in der organischen Chemie eine gewisse Rolle. Bei Temperaturen oberhalb 250° beschleunigt Nickel zum Beispiel die Bildung von CH4 aus Kohlenstoff undWasserstoff, ferner die Reduk- tion von Aldehyd zu Alkohol, auch der Ueber- gang von der aromatischen in die sogenannte hydroaromatische Reihe vollzieht sich in vielen Fällen leicht und gestattet die Synthese von Verbindungen, die sonst schwer zu- gänglich waren. 8b) Verbindungen mit Sauerstoff und Schwefel. Nickel(II)oxyd, Nickeloxydul, NiO, entsteht beim Glühen von Nickel(II)hydroxyd oder Carbonat unter Sauerstoffabschluß und bildet ein grünlich graues, säurelösliches, unmagnetisches Pulver. Es ist wie CoO bei hohen Temperaturen das einzig beständige Oxyd, da bei anhaltendem Glühen sämtliche Oxyde in NiO übergehen. Nickel(II)hydroxyd, Nickelhydr- oxydul, Ni(OH)2, durch Fällen eines Nickel- salzes mit Kali- oder Natronlauge erhalten, bildet einen gelatinösen, apielgrünen Nieder- schlag, der sich in Ammoniak unter Komplex- bildung löst. Die dabei auftretende Blau- färbung ist auf das Entstehen der positiv geladenen Ionen Ni(NH3)4" resp. Ni(NH3)2- zurückzuführen. Tn wässeriger Lösung spaltet das Hydrat beim Kochen kein Wasser ab, erst bei stärkerem trockenen Erhitzen bildet sich NiO. NickeHIL IIDoxyd, Nickeloxydul- oxyd, Ni304, kann durch Erhitzen vonNiCl2 im Sauerstoff ström bei 350° bis 400° erhalten werden und stellt ein grauschwarzes Pulver dar, welches sich in Salzsäure unter Chlor- entwickelung löst. Nickel(III)oxyd, Ni203, bildet sich bei gelindem Erhitzen von fein gepulvertem Nickelnitrat als schwarzes Pulver, das durch anhaltendes starkes Glühen ebenso wie Ni304 in NiO übergeführt wird. In Salzsäure ist es unter Chlorentwickelung, in Schwefelsäure und Salpetersäure unter Sauerstoffentwickelung zu den gewöhnlichen Salzen des zweiwertigen Nickels löslich. Auch Ammoniak wirkt unter Stickstoff entwickelung lösend. Ni20 3.3H20, das normale, unter Wasser dunkelbraun gefärbte Hydrat, bildet sich stets durch Zugabe von unterchlorig- oder unter- bromigsauren Salzen zu Nickelsalzen bei Zimmertemperatur. Es verhält sich beim Lösen wie das Oxyd. Nickeldioxyd, Nickelsuperoxyd Ni02, kommt in zwei isomeren Modifikationen vor. Schwarzes Dioxyd entsteht am sichersten aus mit überschüssigem Kaliumcarbonat alkalisch gemachten Nickellösungen durch Oxydation mit Alkalihypobromit bei 0°. Die grüne Modifikation bildet sich entweder aus freiem Nickel(II)hydroxydundWasserstoffsuperoxyd oder besser aus dem aus alkoholischer NiCl2- Lösung mittels KOH frisch gefällten Hydr- oxyd. Es besitzt grüngraue Farbe und hat ein pulveriges Aussehen. Die chemische Zu- sammensetzung ist Ni02.H20. Das schwarze Dioxyd bildet im Edisonakkumulator den wesentlichen Bestandteil der Anode. Von den Verbindungen des Nickels mit Schwefel existieren die folgenden: Ni3S2, NiS, Ni3S4, NiS2, außerdem wahrscheinlich noch Ni6S5. Das gewöhnliche hydratisierte Nickel (II) - sulfid,Nickelsul für, NiS, erhält man leicht aus Nickelsalzlösungen durch Fällen mit Schwefelammon, wobei das NiS große Neigung zeigt, kolloidal in Lösung zu bleiben. Es ist in verdünnten Säuren sehrweniglöslich. Durch Zusammenschmelzen von Nickel und Schwefel unter Atmosphärendruck kann NiS nicht er- halten werden, da der Dampfdruck des Schwefels im NiS bei Schmelztemperatur größer als eine Atmosphäre ist. Von allen Schwefelverbindungen des Nickels ist nur Ni3S2 bei Schmelztemperatur beständig. 8c) Salze des Nickels. Von Salzen des Nickels kennt man nur Derivate des Eisengruppe (Nickel) — Eiszeiten 77 zweiwertigen Metalls. Alle bisherigen An- gaben über Nicke] (Ill)salze beruhen auf Irrtümern. Nickel (II) chlorid, Nickelchlor ür, NiCl2, entsteht wasserfrei durch Einwirkung von Chlor auf fein verteiltes Nickel. Die sehr lebhaft verlaufende Reaktion liefert gelbe, glänzende, dem Mussivgold ähnliche Kris- tallschuppen. Auch durch Abdampfen von in HCl gelöstem Nickel erhält man es als braungelbe Masse. Es sublimiert ohne zu schmelzen und löst sich mit grüner Farbe in Wasser. Auch in Alkohol ist NiCl2 löslich. Von den Hydraten ist das grasgrüne 6-Hydrat dasjenige, welches bei Zimmer- temperatur aus wässeriger Lösung stets auskristallisiert. In 100 Teilen Wasser lösen sich bei mittlerer Temperatur 60 g NiCl2- 6H20. Nickel(II)bromid, NiBr2, durch Ein- wirkung von Bromdampf auf dunkelrot glühende Nickelfeile erhalten bildet nach dem Sublimieren je nach dem Aggregat- zustand strohgelb bis bronzebraun gefärbte Schuppen. Es löst sich in Wasser, wie alle Nickelsalze, mit grüner Farbe. Nickel( II) Jodid, NiJ2, kann durch Erhitzen von Nickelpulver mit Jod im evakuierten zugeschmolzenen Rohr bei 500° erhalten werden. Von den Nickelsulfaten, die sich beim Auflösen von Metall in Schwefelsäure bilden, ist das dem Ferrosulfat entsprechende 7-Hydrat das wichtigste. Es bildet schön smaragdgrüne, mit Magnesiumsulfat isomorphe rhombische Kristalle. In 100 g Wasser lösen sich bei 15° 34,19 g NiS04. 7H20. Das Salz, welches an der Luft bereits verwittert, verliert bei gelindem Erhitzen sämtliches Kristallwasser und nimmt hellgelbe Farbe an. Es bildet mit Alkalisulfaten Dop- pelsalze, die mit 6H20 kristallisieren. Das Ammonsulfat-Doppelsalz findet Verwendung bei der galvanischen Vernickelung. Als Anode dient dazu eine Platte aus reinem Nickel, die das auf dem zu vernickelnden Gegenstand abgeschiedene Nickel kontinuier- lich nachliefert. Nickel(II)nitrat, Ni(N03)2, kristalli- siert aus wässeriger Lösung in smaragd- grünen Kristallen. Eine bei 20° gesättigte Lösung enthält 49,06% Ni(N03)2. 8d) Komplexe Verbindungen. Die komplexen Nickelverbindungen leiten sich, im Gegensatz zum Kobalt, nur vom zweiwertigen Metall ab, besitzen aber ihrer geringen Beständigkeit wegen keine Bedeutung. Zu erwähnen sind hier die bereits bei der quali- tativen Analyse (Abschnitt 7) besprochenen Ammoniak- und Cyankomplexe. 9. Thermochemie. Bildungswärme der wichtigsten Nickelverbindungen für je 1 g- Mol. in g-Kalorien: Bildungswärmen NiCl, 74 500 cal NiBr2, Aqua*) 71 800 ,, NU«, Aqua 41400 ,, NiO 59 7°° » Ni(OH), 60 800 ,, NiS.xH,0 19400 ,, NiS04, Aqua 229400 ,, NiS04, 7H.,o 233 600 „ Ni(N03)2, Aqua 113 200 „ Ni(N03)2, 6H.0 120700 ,, *) Amin bedeutet \\ ässricrp T.r'kiinp- 10. Spektralchemie. Nickelsalze geben in der Flamme kein brauchbares Spektrum, wohl aber unter Zuhilfenahme des elek- trischen Funkens. Die für das Nickel besonders charak- teristischen Linien sind die grünen 547,7 und 508,1, ferner die blaue Linie 471,5. Die übrigen Linien findet man in den Wellen- I längentabellen (Literatur siehe beim Ko- 1 balt, Spektralchemie). Die wässrigen, grüngefärbten Lösungen von Nickelsalzen absorbieren den roten und violetten Teil des Spektrums. Aehnlich verhalten sich die grünen, alkoholischen Lö- sungen von Nickelchlorür. Die Auslöschungen der salzsauren und ammoniakalischenLösungen sind wenig charakteristisch. 11. Kolloidchemie. Kolloidales Nickel, welches durch kathodische Zerstäubung von Eisen- oder Zinkdrähten mit elektro- ! lytisch vernickeltem negativem Pol entsteht, bildet eine braunschwarze, ganz unbe- ständige, durch Elektrolytzusatz sofort , koagulierende Flüssigkeit, * Dieselbe Unbe- ständigkeit haftet auch den nach anderen Methoden dargestellten Solen an. Literatur. Gmelin-Kraut, Handbuch der an- organischen Chemie, Band V, Abt. 1. Heidel- berg 1909. F. Sommer. Eiszeiten. 1. Begriff und Wesen einer Eiszeit. 2. Verbrei- tung und Alter der Eiszeiten: a. Die quartäre Eiszeit: a) Das nordeuropäische Iniandeis. ß) Gebirgsvergletscherung in Europa, y) Das nord- amerikanische Inlandeis, d) Die übrigen Erdteile. a) Die zeitlichen Beziehungen zwischen den quartären Vereisungen, b. Die spät-paläozoische Eiszeit: u) Verbreitung, ß) Alter, c. Verbreitung und Alter der früh-paläozoischen und algon- kischen Eiszeiten. 3. Geologische Wirkungen der Eiszeiten: a. Aufschüttungen: a) Erratische Geschiebe. ß) Grundmoränen (Lokalmoränen, dünnbankige Absonderung, Steinpflaster). Ge- schiebemergel. Geschicbelehm. Geschiebesand. 78 Eiszeiten Steinsohle. Tillit. y) Endmoränen, Zungen- becken, Seenlandschaften. Drundins. Stein- ströme. Solifluktion. <5) Schotterfelder. Hvitä- bildurigen. Sandr. Stauseen. Sedimente (Bän- derton). Ose (Asar). Fluviatile Sedimente, Löss. b. Erosionen: a) Glättung. Rundhöcker. Streifung. Scheuersteine (Faeettengeschiebe). Riesentöpfe. Solle, ß) Uebertiefte Täler. Riegel. Fjorde. Kare. y) Terrassen und Talfurchen. c. Schichtenstörungen. Stauchung. Ueber- schiebung. Staumoränen. 4. Ursachen der Eis- zeiten: a) Methodologische Vorbemerkung, ß) Klima der Vereisungen, y) Klima des Inter- glacials und der Schwankungen. 1. Begriff und Wesen einer Eiszeit. Als erkannt war, daß nicht allgemeine Ueber- schwemmungen, sondern eine über das gegen- wärtige Maß hinausgehende Ausdehnung der Gletscher für das ältere Quartär charak- teristisch sei, stellte sich die Bezeichnung „Eiszeit" gleichbedeutend neben das bisher übliche „Diluvium". Späterhin zwang die Entdeckung anderer, älterer Vereisungen von mindestens gleichem Umfang dazu, dem Begriff „Eiszeit" die rein zeitliche Be- deutung zu nehmen und ihn anzuwenden zur Beschreibung eines Zustandes, der sich mehrfach wiederholt hat und noch jetzt in Grönland, der Antarktis und den höheren Gebirgen besteht. Der ursprüngliche, zeit- liche Sinn tritt noch zuweilen hervor, aber stets bezeichnet man nur die unmittelbar oder mittelbar durch Vereisungen abgesetzten, niemals die gleichalten Bildungen anderer Entstehung und anderer Orte als eiszeitlich. Die Anzeichen für vorzeitliche Vereisungen bestehen in Gesteinen und Oberflächen- formen, die sich auch noch jetzt durch Gletscher herausbilden. Es sind lockere Anhäufungen des vom Eis transportierten Schuttes, ferner glaciale Erosionen, leicht zerstörbare Wirkungen also, die bei länger andauernder oder verstärkter Verwitterung und Abtragung unkenntlich werden. Eine größere Widerstandskraft besitzen, schon wegen ihrer Ausdehnung, die Grundmoränen, aber von älteren Eiszeiten sind auch sie nur erhalten, soweit sie durch bald nachfolgend aufgelagerte Gesteinsschichten oder durch Absinken an Verwerfungsspalten geschützt und der Erosion entzogen waren. Die heutige Begrenzung der Grundmoränen darf also nur bei der quartären Eiszeit der Begrenzung der einstigen Eisbedeckung gleichgesetzt werden, während wir von den älteren Eiszeiten nur die Orte des Auftretens, nicht den geo- graphischen Umriß der Vereisungsherde kennen. Wenn Vereisungen an das Meer stoßen, wie jetzt in Grönland und der Antarktis, oder in Süßwasserbecken eindringen, so entstehen zu- nächst Zwischenbildungen, in denen der Gletscher- schutt geschichtet abgelagert, weiterhin über eine breite Driftzone durch Eisberge verschleppt wird. Dem rein marinen Sediment mischt sich dann in einer nach außen steigenden Verdünnung glaciales Material bei. In marinen Schichten, die fern von den Eisherden entstanden sind, wer- den derartige Fremdlinge sich nur selten finden, und es ist nicht wahrscheinlich, daß die leicht zerstörbaren Merkmale des Eistransports, Schlei- fung und Schrammung, bei ihnen erhalten bleiben. Man wird also in der Regel eines ausreichenden Grundes entbehren, um unter Ablehnung anderer Erklärungsmöglichkeiten aus ihrem Auftreten gerade auf die Existenz einer fernliegenden Ver- eisung zu schließen. In der Tat wären sie die einzigen, freilich schwer kenntlichen Zeugen für Eiszeiten auf versunkenen, leer gefegten oder sonst der Beobachtung entzogenen Flächen alter Kontinente. Zu negativen Schlüssen, aus dem Fehlen von Eiszeitbildungen in den bekannten Ablagerungen einer Periode, sind, wie an anderer Stelle ausgeführt,1) die Grundlagen niemals ausreichend. Zweifelhafte Spuren von Eiszeiten werden genannt aus der oberen Kreide Englands, dem Oberkarbon und Unterperm Europas. Sichere Beweise liegen vor für eine quartäre, weltweit verbreitete, für eine spät-paläo- zoische der Südhemisphäre und Vorder- indiens, für eine devonische in Südafrika und schließlich für früh-paläozoische und al- gonkische Eiszeiten aus sehr verschiedenen Weltgegenden. 2. Verbreitung und Alter der Eiszeiten. 2a) Die quartäre Eiszeit. Die jüngste Vereisung wird füglich an den Anfang ge- stellt, weil ihre Bildungen weitaus am voll- ständigsten erhalten sind, und weil die Hauptherde in den geologisch am besten bekannten Weltteilen, in Europa und Nord- amerika lagen. a) Das nordeuropäische Inlandeis. Von Skandinavien, also aus einer dem mittleren und südlichen Grönland ent- sprechenden Breite, floß ein Inlandeis einer- seits westlich zum atlantischen Ozean, an- dererseits über Finland, Nordwest- und Mittel- rußland, Polen und Norddeutschland und drang über die Nordsee bis England vor. Die Eisscheide lag östlich der heutigen Wasser- scheide Skandinaviens und verlief in geschwunge- ner Linie aus dem Zentrum des südlichen Nor- wegen nordöstlich mitten durch Schweden und Lappland. In der Maximalausdehnung erreichte das Eis den Nordural und verband sich hier mit den vom Ural und Timan herabsteigenden Gletschern. Zwischen Petschoraquelle und Weich- selquelle trat es in drei breiten Zungen hervor; die östlichste überdeckte zwischen Ural und dem Oberlauf der Wolga das Quellgebiet der Wiatka und Kama, die mittlere drang zwischen Donetz und Unterlauf der Wolga bis nahe an den 50. Breitengrad, die westlichste schob sich im Dniepr- gebiet etwas über den 50. Breitengrad hinaus. Von der Weichselquelle bis zur Nordsee liegt die Eisgrenze am Rand der Mittelgebirge, dann entlang dem heutigen Rheinlauf. Sie wird durch l) Paläoklimatologie 2 b a. Eiszeiten 79 den Harz im Norden zurückgehalten, berührt aber seitwärts davon den Thüringer Wald und die rheinischen Gebirge. Auf englischem Boden schließlich floß das skandinavische Inlandeis zwischen Yorkshire und der Themsemündung mit dem dort einheimischen, von Schottland ausgehenden Eis zusammen. An dieses Hauptgebiet schließen sich einige Vereisungen von größerer oder geringerer Selbständigkeit und Ausdehnung an: Nord- ural und Timan, Nowaja Semlja, Jan Mayen, Spitzbergen, Island und die Shetlandsinseln, ferner Irland und schließlich Schottland mit dem nördlichen und mittleren England etwa bis an den Themselauf. Das Vorrücken und Zurückweichen des skandinavischen Eises stellt keine einfache Phase dar, sondern war von mehrfachen Schwankungen, vorübergehendem Wachs- tum und Abnehmen unterbrochen. Daher besteht die Grundmoräne dieser Vereisung nicht überall in einer einfachen Decke, son- dern ist an vielen Orten in mehrere Decken, Zeugen wiederholten Vorschreitens, zer- spalten, die oft durch mächtige Bildungen nichtglacialer Entstehung getrennt sind oder vor der Eindeckung einer starken Ver- witterung ausgesetzt waren. Die Ausdehnung dieser Vorstöße und Rückzüge läßt sich noch nicht genau begrenzen, wie überhaupt diese Einzelheiten der quartären Eiszeit ein Gegen- stand unerledigter und vielfach scharf um- strittener Meinungsverschiedenheiten sind. Nur andeutungsweise kann der Stand der Frage wiedergegeben werden, wo das Eingehen auf Einzelheiten ausgeschlossen ist. Jedoch scheint die Klärung der Streitfrage nicht so sehr durch widersprechende Auffassung von Einzelheiten, als vielmehr durch die Beschaffenheit des Tat- sachenmaterials überhaupt und durch die Ver- schiedenartigkeit der Betrachtungsweise erschwert zu werden. Das Vereisungsgebiet ist ungleichmäßig durch- forscht: die Kenntnis beruht nur zum kleineren Teil auf zusammenhängender genauer Kartierung, für weitaus die größere Fläche auf mehr kursori- scher Begehung und eingehenderer Untersuchung kleinerer, abgerissener Areale. Daher ist ein Bedürfnis vorhanden nach einer Arbeitshypo- these, die erlaubt, während der Aufnahme den noch zusammenhangslosen Einzelheiten eine definierte Stellung in einem stratigraphischen System anzuweisen und die Verhältnisse eines enger begrenzten, aber genau studierten Gebiets als Typus der Gesamtentwickelung schemabildend einzusetzen. Nun sind zwei Möglichkeiten gegeben : entweder vollzogen sich die Schwankungen des Eisrandes insgesamt zu gleicher Zeit, die inter- moränalen Schichten und Verwitterungskrusten stellen also Leithorizonte dar, die zur zeitlichen Einstellung dienen können, oder aber die Schwan- kungen waren rein lokaler Natur: dem Vorrücken ( an einem Ort entsprach ein Zurückweichen oder Stocken an anderen. Die intermoränalen Schich- ten und Verwitterungskrusten wären dann keine Leithorizonte, sondern ihre zeitlichen Beziehungen müssen durch besondere Untersuchungen erst festgelegt werden. Diese beiden in der Gegenwart vertretenen Anschauungsweisen stützen sich vielfach auf Hypothesen über das Klima der Eiszeiten und Intermoränal-(Interglacial-)Zeiten, können also insoweit erst später besprochen werden. Auf rein tatsächlichem, geologischen Boden erhellt aber ohne weiteres, daß nur die erstgenannte, in der Majorität herrschende, die Bedingungen einer Arbeitshypothese erfüllt. Mit der zweit- genannten Hypothese der Minorität gelangte man erst zu einem Gesamtbild und einer Gliede- rung, wenn alle lokalen Einzelheiten lückenlos feststehen und angegeben werden kann, in welcher Weise und Reihenfolge die Einzelheiten zum jetzt vorliegenden Befund zusammen- wirkten. Nach jener ersten Vorstellung wäre das Eis dreimal über Norddeutschland vorgedrungen und zurückgewichen, jedesmal in anderer Ausdehnung. Die Grenzen lassen sich im einzelnen noch nicht bestimmen, doch gilt allgemein die zweite als die Haupteiszeit, weil im Norden ihre Grundmo- räne die der übrigen an Mächtigkeit zu übertreffen schien und ihr deshalb die Maximalausdehnung zuzuschreiben war. Als tatsächlicher Beweis dafür, daß zwischen zwei Zeiten des Vorrückens längere Zeit verflossen sei, wird angeführt, daß die älteren Moränen vor ihrer Eindeckung tief- gründiger verwittert seien, als die oberste, erst seit dem letzten Weichen des Eises freigelegte. Jedoch würde dieser Schluß und damit die An- nahme eines auch räumlich weiten Rückgangs nur bindend sein, wenn die Mächtigkeit einer Verwitterungskruste nichts als eine Funktion der Verwitterungsdauer, und nicht auch der Stärke der Verwitterungsagentien wäre. Eine Dreiteilung des Glacials zeigt sich auch in Skandmavien, da dort die Bewegungsrichtung des Eises dreimal wechselte nach Ausweis der Schrammen, in Schonen beispielsweise während des „älteren" und des „jüngeren baltischen Eisstromes" aus SSO, während der dazwischen liegenden „Haupteiszeit" aber aus NO kam. Jedoch fehlt es durchaus an unbezweifelten Anzeichen für Eisfreiheit in den Zwischenzeiten, besonders zwischen dem älteren baltischen Eis- strom und der Haupteiszeit, und so gewinnt die Ansicht, daß in Skandinavien die Eisbe- deckung ununterbrochen bestand, immer mehr Anhänger. Dann würde, als Ganzes betrachtet, das quartäre Inlandeis Nordeuropas ein einheit- liches Ereignis gewesen sein, denn, wie es sich auch mit den Schwankungen in Norddeutschland und der ganzen Randzone verhalten haben möge, sie hätten nicht auf den eigentlichen Eisherd zurückgegriffen, wären nicht Unterbrechungen der Eiszeit, sondern lokale Ereignisse größeren und kleineren Maßstabes gewesen. Ob sie in den Randzonen gleichzeitig oder örtlich zu ver- schiedenen Zeiten auftraten, kann nur durch direkte Beobachtung festgestellt werden: sind die intermoränalen Schichten und Verwitte- rungskrusten überall durchgehende Horizonte, so wird man sie als Zeugen für gleichzeitige Unterbrechungen der Eiszeit betrachten müssen. Lückenhaft, wie bis jetzt die Erkenntnis ist, läßt sie sich, wenn allein die Argumente direkter 80 Eiszeiten Beobachtung in Betracht kommen, mit der einen wie mit der anderen Vorstellung vereinigen. Im äußersten Westen finden sich, und zwar in Holland wie in Oldenburg, zwei Moränen- decken, in Hannover und Westfalen nur eine, in Schleswig-Holstein jedoch drei; es ist nicht beobachtet, wie weit sie südwärts über die Elbe vorschreiten und welche von ihnen bis an die Grenze der Maximalver- eisung geht. Am Harzrand sind zwei Decken bekannt, bei Berlin und in der Umgegend von Halle wiederum drei, von denen die älteste sich am weitesten, bis an den Rand des Thüringer Waldes ausdehnt; die jüngste bleibt am weitesten zurück. Die Umgegend von Leipzig war nur einmal vereist, Schle- sien in einiger Entfernung von den Gebirgen dagegen zweimal. Das Gebiet einer doppelten Moränendecke umfaßt den Nordosten Deutsch- lands sowie Polen und Litthauen. In den russischen Ostseeprovinzen sowie im ganzen inneren Rußland ist wiederum nur eine vor- handen und erst im Norden, in Finnland und im Olonetzgebiet stellt sich eine Verdoppe- lung wieder her. Sowie die Vereisung Englands von einem eigenen Eisherd in Schottland ausging, so scheinen auch die Schwankungen sich un- abhängig von den kontinentalen vollzogen zu haben. Jedenfalls hat das Schema Gei- kies, der sechs Eiszeiten und fünf Inter- glacialzeiten unterschied, sich auf die konti- nentalen Verhältnisse nicht anwenden lassen, übrigens auch auf dem Boden Großbritanniens verschiedene Schwierigkeiten und manchen Widerspruch gefunden. ß) Gebirgsvergletscherung in Eu- ropa. Quartäre Vergletscherungen sind auf ■den höheren Teilen der europäischen Gebirge vielfach nachgewiesen, in der Nähe des In- landeises und weit davon entfernt, in Frank- reich und Spanien. Größere Bedeutung gewannen die Gletscher jedoch nur in den Pyrenäen und besonders in den Alpen. In sämtlichen Fällen war der eiszeitliche Zu- stand nur graduell von dem heutigen ver- schieden, denn die quartäre Schneegrenze verlief parallel zu der gegenwärtigen, nur mehr als 1000 m tiefer. Der Mittelpunkt der Alpenvereisung lag in. der Schweiz und Tirol. Sie bildete nirgends ein Inlandeis wie in Skandinavien, sondern die im allgemeinen schildförmige Eismasse wurde durch Firngrate zerschnitten und in ein Eis- stromnetz zerlegt, dessen Maschen nach Osten und Westen lockerer wurden und schließlich zerfielen. Die Scheitelhöhe lag ungefähr bei 2500 m; die Eisscheide befand sich nördlich der heutigen Wasserscheide. Die Eisbewegung folgte im allgemeinen den- selben Bahnen wie die heutigen Flüsse und trat auch in den heutigen Flußtälern auf das Vorland hinaus, in breiten Gletscherzungen, die dann teils ; selbständig blieben, teils zu einer Vorlandver- gletscherung zusammenflössen. So läßt sich ein Rhonegletscher unterscheiden, der bis in das Saonetal vordrang; daran anschließend ein Linth- und Reuß-Gletscher und drittens ein Rheingletscher. In der Zeit der Maximalausdeh- nung war also die Schweiz unter einer über 1000 m mächtigen Eisdecke begraben, die zu- sammenhängend von Lyon bis unweit Ulm reichte, den Schweizer Jura überstieg, aber am Schwarz- wald und am Schwäbischen Jura eine Grenze fand. Von beträchtlicher Ausdehnung war auch noch das aus Hier-, Lech- und Isar- Gletscher zu- sammengeschobene Vorlandeis, das zeitweilig bis an den Schwäbischen Jura und bis unweit Augsburg vordrang. Die ostwärts folgenden Gletscher im Gebiet des Inn, der Salzach, der Traun und Krems blieben immer mehr auf das unmittelbar anstoßende Vorland und schließlich auf das Gebirge selbst beschränkt. Im Westen und Süden der Alpen ward der Gebirgsrand nur im Gebiet der oberitalischen Seen überschritten, doch blieb das Ausmaß der Gletscher weit hinter dem der nordalpinen zurück. Im Osten wuchs nur der Drau- und Save-Gletscher zu beträcht- licher Größe, ohne aber das Vorland zu er- reichen. In den Pyrenäen blieben die Gletscher getrennt und traten nicht in das Vorland. Auf der Nord- seite war die Vereisung stärker als auf der Süd- seite, im Westen stärker als im Osten. Penck und Brückner haben die Schwan- kungen des Eisrandes in den Alpen auf das eingehendste studiert und beschrieben. Sie unterschieden zunächst im nördlichen Vor- land vier, durch längere eisfreie Interglacial- zeiten getrennte Vereisungen, die als Günz-, Mindel-, Riß-, und Würm-Eiszeit bezeichnet werden. Die älteste, die Günzeiszeit, hatte im großen und ganzen dieselbe Ausdehnung wie die jüngste, in der Bodenform des Alpen- vorlandes bestimmend auftretende Würm- eiszeit, die Moränen der Mindel- und Rißeis- zeit, stark abgetragen und verwischt, drangen weit darüber hinaus. Nur im Südosten über- schritt die Würmeiszeit die Rißmoränen. Neben diesen großen Schwankungen traten auch solche kleineren Ausmaßes auf, die aber ■ wohl wegen der Erhaltungsbedin- gungen — nur aus den Rückgangszeiten der Würmeiszeit bekannt sind. Moränen der Günzeiszeit sind so gut wie gar nicht erhalten; sie verrät sich hauptsächlich in fluvioglacialen Schotterbildungen, die sich an die Moränen anschließen. Bei erneutem Vor- dringen des Eises wurden diese von den Schmelz- wassern teilweise abgetragen und zerschnitten. Auf diese Weise entstanden Terrassen, die sich im bayrischen Vorland in Vierzahl, als älterer und jüngerer Deckenschotter, Hoch- und Nieder- terrasse bezeichnet, finden und in derselben Reihenfolge der Günz-, Mindel-, Riß- und Würm- eiszeit entsprechen. Im Innern der Alpen waren nach den wenigen vorliegenden Beobachtungen die Un- terschiede zwischen den Gletschermächtig- keiten unbeträchtlich. Intermoränale Ab- Eiszeiten 81 lagerimgen, der Zeit zwischen Riß- und Würmeiszeit zugewiesen, finden sieh im Vor- land und nur ganz vereinzelt in den Rand- zonen des Gebirges, z. B. die Höttinger Breccie bei Innsbruck. Der Fülle von Beobachtungen gegenüber, die Penck und Brückner zusammengebracht niemals mit den benachbarten in direkten Zusammenhang getreten ist. Wie in Europa, so beweiseu auch in Amerika Verwitterungskrusten und inter- moränale Bildungen nichtglacialer Ent- stehung, daß die Ausdehnung des Eises mehr- fach schwankte. Auch scheinen die drei haben, ist es für Umdeutungen des Befundes i Zentren nicht gleichzeitig ihre größte Be- schwer, sich Gehör zu schaffen Der meist .als deutung erlangt zu haben; insbesondere unbedingt triftig geltende Schluß daß die Alpen • das Keewatineis dem Labradoreis voran den Interglacialzeiten eisfrei oder nicht starker JJ,^,,,^ r;0k;ü+0 mara+ :„ Aanan Aar>r, in als letzt vergletschert waren, ruht fast ganz auf und überdeckte Gebiete zuerst, m denen dann klimatischen Vorstellungen, die hier zunächst sPater das Labradoreis einzog. Die Gkede- außer Betracht bleiben. Die intermoränalen rungsversuche können bei der Ausdehnung Bildungen innerhalb des Gebirges werden von und unvollständigen Durchforschung des anderer Seite als teils präglacial, teils postglacial Gebiets nur provisorische Geltung bean- bezeichnet. Im Gebirge sind Moränen der älteren I sprachen. Eiszeiten nicht vorhanden; sie wurden also ent- „ , , . , . ., ,. „ „ , weder abgetragen durch späteres Vorrücken der Ff stehen sich ^Amerika dieselben Grund- Gletscher, oder es war bei einheitlicher Vereisung dort nur eine einheitliche Moräne vorhanden. So anschammgen gegenüber wie in Europa, der einen schwand die Eisbedeckung während der Eiszeit niemals gänzlich, sondern veränderte nur ihre Verbreitung: nach der anderen schoben sich zwischen die Eiszeiten Interglacialzeiten mit völliger Eisfreiheit ein, doch widersprechen sich die Angaben über deren Anzahl. Es werden zwei bis fünf Eiszeiten angegeben und mit be- sonderen, zuweilen in verschiedenem Sinn ange- wandten Namen belegt. <5) Die übrigen Erdteile. Schon die ist bis jetzt auf dem Boden der geologischen Tat- sachen auch die andere Vorstellung möglich, daß im Innern der Alpen das Eisstromnetz die ganze Zeit hindurch unverändert bestand, und daß die Schwankungen nur in der Vorlandvereisung und vielleicht nicht einmal in allen Gletscherzungen gleichzeitig auftraten. Der sichtbarste Vorzug der Vier-Eiszeitentheorie ist ihre Verwendbarkeit als Arbeitshypothese. In den meisten übrigen Gebirgen ist bei gewöhnlich wenig umfangreichen Vereisungen nichts über Schwankungen beobachtet. Je- doch findet sich z. B. im Schwarzwald eine dreifache Moränenbildung, im oberen Mosel- tal deuten vierfache Terrassen auf viermalige, in den Pyrenäen dreifache Schotter auf dreimalige Vergletscherung. y) Das nordamerikanische Inland- eis. Während an der europäisch-atlantischen Küste das Inlandeis nördlich vom 50. Breiten- grad blieb, erreichte es in den. atlantischen Staaten Nordamerikas den 40., in den pazi- fischen den 47. Breitengrad. Diesem folgt im Westen des Festlandes die Südgrenze der Maximalvereisung; sie geht dann an- nähernd dem Lauf des Missouri entlang bis in die Nähe von St. Louis und schwingt dann zurück, um in der Gegend von New York die Küste zu treffen. Das Eis drang also vor bis in die Breite Siziliens und bedeckte eine ungefähr dreimal so große Fläche als in Europa. Es ging aus von drei Vereisungs- herden, die in Labrador, in Keewatin zwischen Hudsonsbay und großem Sklavensee und in der Küstencordillere von Britisch-Colum- bia ihren Sitz hatten. Mehrere Zentren geringeren Umfangs schlössen sich an, auch wegten, aber sonst überall aufsteigenden Küste Gebirgsvergletscherungen in den Rocky moun- deuten- Bestätigung bleibt abzuwarten, tains, der Sierra Nevada u. a. Auch das Gegen die südliche gemäßigte Zone sank grönländische Inlandeis, dessen quartäre die Schneegrenze wieder herab. Daher nahm Ausdehnung die gegenwärtige übertraf, kann die Vereisung der chilenisch-patagonischen als ein amerikanisches Vereisungszentrum Anden südwärts zu, doch erst vom 40. Grad betrachtet werden, obwohl es wahrscheinlich Südbreite ab traten die Gletscher aus dem Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. b Cordillerenvereisung Nordamerikas ist mehr eine Gebirgsvergletscherung als ein Inlandeis. Diese letztere Vereisungsform tritt außer an den beiden Seiten des Atlantik nur noch in der Antarktis auf, wo die quartäre Vereisung stärker gewesen zu sein scheint als die gegen- wärtige. Auch waren damals die Kerguelen und Südgeorgien eisbedeckt, dagegen die Falklandsinseln anscheinend nicht. In den meisten Gebirgen der Erdelag die quartäre Schneegrenze tiefer als jetzt. So finden sich Gletscherspuren in Mittelasien von den Küstenketten am Ochotskischen Meer bis zum Südabhang des Himalaja. am Kaukasus usw., auch in den Tropen, wie in den peruanischen Anden, am Kiliman- dscharo und in Westneuguinea am Wilhelmina Peak, hier überall jedoch erst in Meeres- höhen von mehr als 4000 m. Sehr auffällig ist, daß am Franziskahafen in Deutsch-Neuguinea, auf 7° Südbreite und in- mitten einer Küste, die an norwegische Fjord- landschaften gemahnen soll, angeblich quartäre Moränen im Meeresniveau gefunden sind. Es wird angenommen, daß sie in derselben Meeres- höhe entstanden sind, wie die sonstigen qnartären Gletscherbildungen der Tropen und auf starke lokale Senkungen an dieser vulkanisch sehr be- 82 Eiszeiten Gegenwart übergeführt Gebirge heraus und bildeten auf der Ost- seite langgestreckte Vorlandsvereisungen. Auffällig ist demgegenüber die Angabe, daß auf den Falklandinseln keine quartäre Verglet- scherung nachweisbar sei. Auch in Südaustralien, Neuseeland und Tasmanien trat die Eiszeit als Gebirgsver- gletscherung von teilweise bedeutenden Di- mensionen auf. Die Kenntnisse über die Ausdehnung dieser Gletscher sind vielfach noch ungenau. Schwankungen oder mehrfache Vereisungen werden nur aus Südamerika berichtet, wo zweifache oder dreifache Moränenbildung stattgefunden hat, Das ältere Quartär wird demnach über- all auf der Erde durch tiefere Lage der Schnee- grenze charakterisiert und war auch in solchen Ländern, in denen es nicht zur Gletscher- bildung kam, meist eine Zeit erhöhter Nieder- schläge, eine Pluvialzeit, die wie die Eiszeit allmählich und vielfach mit Schwankungen und vorübergehenden Stillständen in die Verhältnisse der wurde. e) Die zeitlichen Beziehungen zwischen den quartären Vereisungen. Wenn auch das ungefähre Alter der bespro- chenen Glacialbildungen nicht zweifelhaft ist, da sie sämtlich einer der Gegenwart un- mittelbar vorangehenden Zeitstufe, also dem Quartär angehören, so ist doch die Gleich- zeitigkeit der Eiszeiten an den verschiedenen Orten, noch mehr der angenommenen Einzel- phasen und Interglaciale, zunächst nur eine Arbeitshypothese der Stratigraphie, deren Zulänglichkeit für paläogeographisch-klima- tologische Zwecke der Nachprüfung bedarf. Aber auch sonst legt die ungleichzeitig ein- getretene Maximalausdehnung der nord- amerikanischen Eiszentren den Gedanken nahe, zu verallgemeinern und die Ungleich- zeitigkeit der in verschiedenen Weltgegenden liegenden Eiszeiten als möglich zu betrachten. Hiernach aber erheben sich Bedenken, ob beispielsweise das von Penck und Brückner für die Alpen abgeleitete Schema ohne weiteres auf andere Gebiete, auch bei rein strati- graphischer Betrachtung, übertragen werden dürfe, besonders wenn unabhängige Unter- suchung zu einer anderen Einteilungsweise geführt hatte. In der Regel wird die Ent- scheidung hierüber durch Hypothesen und Opportunität bestimmt bleiben, denn nur inem einzigen Fall lassen sich die zeit- lichen Beziehungen zwischen den Schwan- kungen getrennter Eisherde mittels geolo- gischer Beobachtung der Lagerungsverhält- nisse aufsuchen, nämlich zwischen den Alpen und dem nordeuropäischen Inlandeis, da die von den alpinen Vereisungen abhängigen Terrassen des Rheins und die Grundmoränen Hollands in Verbindung treten. Doch ist eine derartige Untersuchung noch nicht durchgeführt. Es steht nicht fest, welche der drei in Nord- deutschlaDd bekannten Moränendecken sich bis Holland fortsetzt, nachdem neuere Beobach- tungen über die Moränenmächtigkeit zeigten, daß die mittlere, die der „Haupteiszeit", nicht so weitaus die stärkste ist, als man früher annahm. Zweitens ist unbekannt, ob die zwei Moränen- decken Hollands einer einzigen von den nördlichen zugehören und nur untergeteilt sind, wie man es bisher für die oldenburgischen annahm, oder ob jede die Fortsetzung einer der nördlichen ist. Drittens ist vielfach bestritten worden, daß die Niederterrasse des Rheinunterlaufs, die dem Glacial Hollands entspricht, die Fortsetzung der oberrheinischen Hochterrasse und der Schwei- zer Rißmoränen sei, wie man das behauptet hatte als Beweis für die Gleichzeitigkeit der nördlichen Haupteiszeit und der alpinen Rißeiszeit, Daher ist es vorläufig nur eine Vermutung, daß die Günzgletscher Skandinaviens nicht nach Nord- deutschland gelangt seien, und daß weiterhin die Mindeleiszeit der ersten, die Rißeiszeit der zweiten, die Wünneiszeit der dritten Eiszeit des Nordens sowohl zeitlich als den Größenver- hältnissen nach entspräche, eine Vermutung, die, solange im Norden noch nirgends 4 Moränen übereinander nachgewiesen sind, zudem für die Günzeiszeit völlig in der Luft schwebt, und der, in welcher Begründung sie auch auftritt, auf Grund anderer Verschiedenheiten im Auf- treten der nordischen Vereisung widersprochen wird. 2b) Die spät-paläozoische Eiszeit, a) Verbreitung. Die spät-paläozoische Eiszeit hatte ihre Herde auf dem Boden des alten Gondwanakontinents, in Australien, Vorderindien, Südafrika und Südamerika, weist also in der Verbreitung nicht die ge- ringste Aehnlichkeit mit der der quartären auf. Das australische Eis ging aus von einem südlich des heutigen Kontinents gelegenen Festland und erstreckte sich über Tasmania, Viktoria und die anstoßenden Teile von Neusüdwales. An das Inlandeis schloß sich nördlich eine breite Driftzone, deren Spuren sich an der Ostküste des Erdteils bis über den Wendekreis hinaus in Kohlenbildungen eingeschleppt finden, ferner, von anderen Strecken des Eisrandes ausgehend, an ver- schiedenen Orten Mittel- und Westaustraliens. Auch in Vorderindien lag der Ausgangs- punkt im Süden; die Grundmoräne, das T a 1 c h i r k o n g 1 o m e r a t , beginnt südlich vom 20. Grad nördlicher Breite in der Umgegend von Gianda und läßt sich über breite Unterbre- chungen hinweg bis einerseits nach Bengalen, andererseits in das Pendjab und in die Salt- range verfolgen. Hier, jenseits des 32. Grades nördlicher Breite, erreichten die Eismassen das Meer. Eine Driftzone ist unbekannt. Der Ausgangspunkt des südafrikanischen Eiszeiten 83 Eises wurde bisher in Rhodesia gesucht. Jedenfalls kam die Bewegung in Transvaal, Natal und dem Kapland aus Norden. Die Grundmoräne, das Dwykakonglomerat, ist ungefähr vom 25. Grad südlicher Breite bis zum Kap ziemlich zusammenhängend be- kannt, ändert aber in der Gegend des 33. Breitengrades ihre Beschaffenheit insofern, als von hier ab südwärts der x\bsatz unter Mitwirkung des Wassers, des Meeres oder großer Landseen erfolgt sein muß. Westlich wurde nach gefundenen Fossilien das Meer erreicht, in der Gegend von Keetmannshoop. Noch ungeklärt ist, ob die neuerdings bei Katanga auf 10 Grad südlicher Breite gefundenen Glacialkonglomerate zum Dwyka gehören und ob nun der Ausgang der süd- afrikanischen Vereisung nördlich oder süd- lich von Katanga zu suchen ist. Die Alters- bestimmung stützt sich in Ermangelung anderer Anhaltspunkte nur darauf, daß das Dwykakonglomerat das verbreitetste und bekannteste Glacial in Südafrika ist. Da jedoch aus dem Kapland außerdem noch eine devonische und eine kambrisch-prä- kambrische Eiszeit genannt wird, und da ferner nach den bisherigen Anschauungen in Katanga Konglomerate verschiedenen Alters vorkommen, ist diese Art der Paralleli- sierung nicht beweiskräftig. Das gleiche gilt dann für das noch weiter entfernte Glacial von Togo. Die spät-paläozoische Vereisung Brasiliens ist erst in jüngerer Zeit in den Staaten Minas Geraes und Paranä erkannt, sowie Drift in S. Paulo, Sta. Catharina, Rio grande do Sul. Genauere Angaben stehen noch aus, auch darüber, ob es sich um marine oder lagunäre Drift handle. Die Nähe der Küste ist nach Beobachtungen anderer Art wahr- scheinlich. Weit außerhalb der sonst von diesen Vereisungen eingehaltenen Zone, auf dem 50. Grad südlicher Breite sind auf den Falklands- inseln Ueberreste eines zugehörigen, in An- betracht der Entfernung wohl als selbständig zu betrachtenden Eisherdes gefunden, lieber Bewegungsrichtung und über Lage zum Meer ist nichts bekannt. Schwankungen und intermoränale Ab- lagerungen sind bei den Moränen dieser Eiszeit nirgends beobachtet. ß) Alter. Die Altersbestimmung der spät-paläozoischen Eiszeit bietet Schwierig- keiten und schwankt, nachdem sie ursprüng- lich auf eine Zwischenstufe ,,Permokarbon;' gelautet hatte, zwischen Oberkarbon und unterem Perm. Auf dem Boden stratigra- phischer Betrachtungsweise stellt man nach der schon beim Quartär besprochenen Ar- beitshypothese die verschiedenen Vereisungen trotz ihrer räumlich so weiten Trennung auf dieselbe Zeitstufe ein und bleibt dann im Einklang mit der grundlegenden Arbeits- hypothese der Stratigraphie, der zeitlichen Gleichsetzung identischer Fossilien, da in Australien, in der Saltrange und Deutsch- Südwestafrika eine charakteristische, durch Conularia und Eurydesma bezeichnete K~ Fauna im Zusammenhang mit den Glacial- bildungen auftritt, und unmittelbar darüber die ältesten Typen der ( ilossopterisflora. Dann aber gibt es verschiedene Wege, diese glaciale Zeitstufe in das stratigraphische System einzuordnen. S Bei strengem Festhalten an den Arbeits- hypothesen der Stratigraphie ergibt sich, daß die spätpaläozoische Eiszeit dem Oberkarbon, vielleicht sogar dem Mittelkarbon zuzurechnen sei, wie das durch Tschernyschew und neuer- dings durch Haug geschah. Die ostaustralische Drift findet sich in Schichten, deren Fauna eine gewisse, wenn auch nicht sehr starke Verwandt- schaft mit der des unteren Produktuskalks in der Saltrange aufweist. Dieser ist einerseits von dem glacialen Konglomerat durch eine Gruppe von Zwischenschichten getrennt und hat anderer- seits der Fauna nach enge Beziehungen zum uralischen Oberkarbon. Die zeitliche Gleich- stellung beider Faunen wird noch dadurch begünstigt, daß die Fauna des mittleren Pro- duktuskalks der des russischen und mediterranen Perm entspricht. Zu gleichem Ergebnis führt die stratigraphische Auswertung der Pflanzen: in Afrika und in Brasilien überdecken sich die Verbreitungsgebiete der nördlichen (Lepidoden- dron-) und der südlichen (Glossopteris-) Flora. Hiernach würden die Ekkaschichten, die in Südafrika, und die Karharbarischichten, die in Indien in einigem Abstand den Glacialbildungen folgen, nebst den brasilianischen Aequivalenten zum unteren Perm, die Glacialschichten also zum Oberkarbon gehören. Jedoch geht der Produktuskalk nach oben ohne irgendwelche Unterbrechung des Zusammen- hangs in unzweifelhafte Triasbildungen über, und es scheint nicht angängig, eine in sich so einheit- liche Schichtenfolge, deren Fauna deutlich auf geschlossene Entwicklung verweist, über die lange Zeitspanne vom Beginn des Oberkarbon bis zum Beginn der Trias zu strecken, noch dazu auf Grund nicht gerade erdrückender Ueberein- stimmungen der Faunen und unter Nichtbeach- tung mancher faunistischen Unterschiede. Ferner tritt die älteste Glossopterisflora, bezeichnet durch die Gattungen Glossopteris und Gangamop- teris und der australischen Eisdrift und den Tal- chirschichten Indiens angehörig, wenig oder gar nicht verändert an der Dwina unmittelbar über Schichten mit einer Zechsteinfauna auf, hier sogar vergesellschaftet mit Pareiüsaurus und .; Dicynodon, Reptilien der unteren Be auf ort- schichten, die in Afrika den Ekkaschichten folgen. Die Glossopterisflora wanderte also während oder nach der Eiszeit in Vorderindien ein und breitete sich später, und zwar nach neueren Funden wahrscheinlich über ein sibirisches Fest- land nordwärts aus. Da ist es aber kaum glaub- lich, daß eine Kryptogamenflora bei ihrer raschen Wanderfähigkeit die Zeit vom Beginn des Ober- karbon bis in die Mitte des Perm habe aufwenden 6* 84 Eiszeiten müssen. Wenn nun bei der Altersbestimmung die | gewesen sei. Nimmt man aber längere Dauer Zeitdauer von Wanderungen überhaupt berück- für sie an, so tritt man in Widerspruch zu sämt- sichtigt werden soll, so muß das auch bei Meeres- ; liehen bisher vorliegenden Rekonstruktionen. faunen geschehen. Nun ist die Fauna des Pro- duktuskalk offenbar erst nach dem Ende der Eiszeit in dieses Küstengebiet eingezogen und hat dort die ältere, durch Conularia bezeichnete verdrängt oder ersetzt. Ein Teil der eingewan- derten Arten tritt auch im Oberkarbon des Ural auf, ist dort aber als einheimisches Element zu betrachten, da eng verwandte Formen schon vorher in den rassischen Meeren lebten. Die Wanderung dieser Brachiopoden muß bei der geringen Wanderungsfähigkeit des Typus sehr viel längere Zeit beansprucht haben, als die umgekehrt gerichtete der Glossopterisflora. Durch Betonung teils dieser Lagerungsverhältnisse, teils der theoretischen Argumente gelangten Noetling und Koken dazu, die Talchirschichten in das mittlere Rotliegende, folglich das Talchir- konglomerat und die Eiszeit etwa an die Grenze des unteren und mittleren Rotliegenden zu setzen, Die Abweichung zwischen diesen beiden Schlußreihen beruht darauf, daß die erste rein stratigraphisch verfährt, die zweite aber mit der Möglichkeit rechnet, daß Faunen und Floren wanderten ohne ihre Beschaffenheit wesentlich zu ändern, also in Annäherung an paläogeo- graphische Betrachtungsweise die Arbeitshypo- these der Leitfossilien nicht mehr als unbedingt gültig anerkennt. Der Versuch, sie durch Abwägen der Gründe zu einem Gesamtresultat zu ver- einigen, ist aussichtslos, weil sich die jeweiligen Methoden und Ziele ausschließen. Jedoch ist gegen die zweitbesprochene Altersbestimmung verschiedenes einzuwenden. Der augenblickliche Stand der Altersfrage lautet also, daß bei rein stratigraphischer Betrachtung die spät-paläozoische Eiszeit dem Oberkarbon angehört, daß sich aber für paläogeographische Zwecke nur eine in weiten Grenzen schwankende Altersbestim- mung ergibt. Da letzten Endes alle Unter- suchungen über Eiszeiten in paläogeogra- phischer oder paläoklimatiseher Richtung ausmünden, so erhellt, daß diesen weiteren Betrachtungen bei der spätpalaeozoischen Eiszeit die von grundsätzlichen Bedenken freie Unterlage fehlt. 2 c) Verbreitung und Alter der früh-paläozoischen und algonkischen Eiszeiten. Südafrika hat mehrfach Spuren älterer Vereisungen geliefert und zwar Drift- einschwemmungen in Schieferlagen des unter- devonischen Tafelbergsandsteins und eben- solche in dessen Liegendem. Die letzteren bedürfen noch der Bestätigung und ihr Alter läßt sich vorläufig auch nur als vordevonisch bezeichnen. Wie erwähnt, gehören möglicher- weise die Glacialbildungen von Togo und Katanga einer dieser Eiszeiten, oder auch einer selbständigen anderen an. Auch Südaustralien, die Gegend von Adelaide, war Schauplatz einer alt-paläo- zoischen Vereisung, deren Herd wiederum jenseits der heutigen Küste zu suchen ist. Zwischen dem Ural und der Saltrange liegt = ein breites, so gut wie unerforschtes Gebiet, und ?üst^J ^S^Lu0^^^6 Ä*8^ es ist daher unbekannt, wieweit die uralische Fannenprovinz sich schon im Karbon und während der Eiszeit gegen Indien ausgedehnt hat. Die Dauer einer Wanderung, deren Weglänge man nicht kennt, läßt sich nicht abschätzen. Ferner ist es nicht wohl angängig, sich nur von der einen Arbeitshypothese der Stratigraphie frei- zumachen, die andere aber, die bei paläogeo- graphischer Betrachtung gleichfalls unzulänglich ist, die zeitliche Gleichsetzung der Vereisungen beizubehalten. Es ist dann zu berücksichtigen, daß die spätpaläozoische Eiszeit aus einer Reihe selbständiger Vergletscherungen in weit ent- fernten Gebieten bestanden haben kann, die sich im Alter auf die Zeit vom Oberkarbon bis ins untere Perm verteilten. Die Conularienfauna oder Drift vorliegt; ebensowenig ist das Alter fest bestimmt, da die Glacialschichten diskordant auf archäischen und konkordant unter kambrischen Schichten liegen. Derselbe zeitliche Spielraum zwischen Kambrium und Algonkian ist gelassen beim Glacial von Simla am Südabhang des Hima- laja und von Wutschang am Yangtse; ein noch weiterer, zwischen Algonkian und Perm, bei den Glacialbildungen am Varangerfjord, dem unter allen hier zu nennenden am längsten und genauesten bekannten Vorkom- men. Hieran reihen sich einige Eiszeiten früh-paläozoischen oder prä kambrischen Al- ters, die noch mit Unsicherheiten verschie- erschiene dann als Bewohnerin abgekühlter rf10' u\c "■fTai 1"lt. uuMi^iKai*u^yt«Dwu«» Meeresküsten, verlöre den Leitfossilcharakter und dener Art behaftet sind Moranenbildimgen ähnlich wäre das Auftreten identischer Floren im Coppermine-Distrikt des arktischen Ame- über den Glacialbildungen pflanzengeographisch, rika, m Labrador, Spitzbergen, an der Lena- icht in erster Linie zeitlich, zu begreifen. mündung und weiter südlich, in Westschott- Zu einer methodologisch einwandfreien, rein land. In beträchtlicher Ausdehnung ist eine paläogeographischen, Behandlungsweise ist das Oberkarbon und Perm noch nicht geeignet. Wie algonkische, huronische Eiszeit bekannt ge- nig Vertrauen die bisherigen Darstellungen worden aus der Umgegend des Lake superior enen, «-hellt aus dem Auftreten der gleichen | mid d kanadischen Provinz Ontario. Es Keptuiensattnngen m Südafrika und an der ,. , , „ T,. ., , Dwina. Danach müßte im Perm eine Landver- ^egt nahe alle genannten Eiszeiten schwan- bindung quer über die Tethvs bestanden haben: Bender Altersbestimmung mit dieser zeitlich nichts berechtigt zu dem Schluß, daß sie nur festliegenden zu parallelisieren und >hr eine schmal und eine rasch vorübergehende Bildung , weltweite, die Bedeutung der quartären noch Eiszeiten 85 in Schatten stellende Verbreitung zuzuschrei- ben. Indessen würde dadurch dem geologi- schen Befund in ähnlicher Weise Gewalt angetan, wie es bei Annahme oberkarbo- nischen Alters für die spät-paläozoische Eis- zeit der Fall ist , denn die Ablagerungen, die sich in Australien und im Yangtsetal bei fast völliger Konkordanz zwischen das Gla- cial und den ersten fossilführenden, kam- brischen Horizont schieben, scheinen nicht mächtig genug zur Deckung einer so gewal- tigen Zeitspanne. Demnach ist es richtiger, in den meisten dieser Fälle auf genaue Alters- bestimmung zu verzichten und mit zwei zeitlich weit getrennten Eiszeiten von noch unbekannter Ausdehnung zu rechnen, die dann dem Kambrium und dem Algonkian, speziell dem Huronian, augehören. Einer näheren Betrachtung nach paläogeo- graphischen und paläoklimatischen Gesichts- punkten sind diese Bildungen einer so sehr lückenhaft bekannten Vorzeit ohnehin unzu- gänglich. 3. Geologische Wirkungen der Eiszeiten. 3a) Aufschüttungen. a) Erratische Geschiebe. Die erratischen Geschiebe, Blöcke landfremden Gesteins, die im Gebiet aller Quartärvereisungen sehr häufig und in beträchtlicher Größe auftreten, gaben zuerst Anlaß zur Aufstellung der Eiszeittheorie, nachdem man sich überzeugt hatte, daß der Transport so großer Massen am einfachsten durch Eiswirkung, Gletscher oder Eisberge, erklärt werden könne. Die größten solcher Blöcke haben von jeher die Aufmerksamkeit erregt, traten in Beziehung zur Sage und er- hielten, wie die Markgrafensteine bei Fürsten- walde, besondere Namen. ß) Grundmoränen usw. Die Herkunft und damit die Richtung des Eistransports ließ sich ermitteln, als man die eingeschleppten Gesteine anstehend in Skandinavien, den Alpen usw. fand. Jedoch erwiesen sich für die Kenntnis der Eiszeiten die Grundmo- ränen weit wichtiger, deren Erkennung im nordeuropäischen Diluvium den älteren Eisberg- und Drifttheorien den Garaus machte. Als Gesamtbezeichnung hat sich freilich im Deutschen das Wort „Diluvium", im Englischen das Wort „Drift" erhalten, doch ist der alte Sinn dieser Worte ver- loren gegangen. Die Grundmoränen bestehen aus ungeschichteten Mergeln mit unregel- mäßig eingestreuten Geschieben, dem Pro- dukt der glacialen Erosion. Sie enthalten außer dem vom Ausgangsgebiet eingeschlepp- ten Schutt noch eine größere oder geringere Menge von unterwegs aufgenommenem. Die Quartärmoränen Norddeutschlands führen daher Trümmer tertiärer und creta- cischer Gesteine, die den skandinavischen fehlen und haben außerdem aus den über- schrittenen Tertiärbildungen ihren Sandgehalt angereichert. Moränen, die vorwiegend aus Trümmern des direkt unterlagernden Ge- steins bestehen, nennt man Lokalmoränen. Bisweilen wird der Eindruck der Schichtung hervorgerufen durch das Auftreten von dünn- bankiger Absonderung, die unter dem Druck der überlagernden Eismassen entstanden ist, ferner dadurch, daß sich größere Geschiebe in ungefähr parallelen Lagen wie Steinpflaster anordnen, wahrscheinlich infolge rein lokaler, mit der Mecha- nik der Moränenbewegung zusammenhängender Ursachen. Die Gesteinsfarbe der Grundmoränen, des frischen Geschiebe mergeis ist blaugrau. Durch Verwitterung geht sie über in grau oder gelb. Nicht selten ist auch rote Ver- färbung beobachtet, die dem Mergel eine gewisse Aehnlichkeit mit Laterit, dem typisch tropischen Verwitterungsprodukt verleiht, doch läßt sich noch nicht entscheiden, ob es sich nur um eine Aehnlichkeit der Farbe oder um weitergehende Uebereinstimmung handelt. Der durch Verwitterung entstandene Geschiebelehm unterliegt einer weiteren Veränderung dadurch, daß die tonigen Be- standteile herausgespült werden. Durch solche relative Anreicherung der sandigen Bestandteile entstehen zunächst Zwischen- stufen zwischen Sand und Lehm; das End- produkt ist reiner Geschiebesand, der dann zuletzt durch Auswaschung alles feinzerriebe- nen Detritus sich in eine Steinsohle, einen nur aus den gröberen Geschieben bestehen- de Moränenrest umwandelt. Das Gestein der paläozoischen Grund- moränen ist ein Geschiebemergel (englisch Till) mit allen Merkmalen des quartären, nur meist verfestigter und erhärtet. Er wird als Ti Hit bezeichnet. y) Endmoränen usw. Die Endmoränen sind nur aus dem Quartär bekannt und auch hier nur von dem letzten Eisvorstoß, der die Gegend betroffen hat, da die ' der früheren Etappen durch die letzte abgetragen und in die neue Grundmoräne aufgenommen sind. Direr Entstehung nach gehören die eiszeit- lichen Endmoränen zum Komplex der Grund- moränenbildungen, da sie nicht wie die Stirnmoränen der heutigen Gletscher vor- wiegend durch Anhäufung des Oberflächen- moränenschuttes, sondern durch Aufstau- ung der Grundmoränen entstanden sind. Daher bilden die Moränen der quartären Gletscher eine einheitliche Serie zusammen- hängender und zusammengehöriger Erschei- nungen, die von Penck aus dem Vorland der Alpen eingehend beschrieben und als Zungen- becken bezeichnet sind. Um ein waiinen- förmiges vertieftes Feld, das nur von einer dünnen Grundmoränenschicht bedeckt ist und dessen Mitte durch einen See oder ein Moor eingenommen zu werden pflegt, schließt sich ansteigender Boden, indem die Grund- 86 Eiszeiten moräne sich verdickt, und zuletzt ein bogen- förmiger Gürtel von Endmoränen, die in der Landschaft als wallartige Erhebungen, meist in mehreren gleichlaufenden Zügen ange- ordnet, hervortreten. In der Umgebung eines Inlandeises sind ' die Zungenbecken selten deutlich individua- lisiert ; sie treten zu langen Zügen zusammen und verfließen ineinander. Dabei geht die \ Beckenform verloren ; die Endmoränen ordnen sich zu langen Hügelzügen, die sich in Norddeutschland an verschiedenen Stehen, so z. B. zwischen Oder und Warthe und in der Küstengegend der Ostsee von Schleswig- Holstein bis Ostpreußen erhalten haben. Die Endmoränengebiete sind hier wie im Vorland der Alpen landschaftlich charak- terisiert durch ihr bewegtes Bodenrelief und ihren Reichtum an Seen: die Seenland- schaften Bayerns, das Balticum usw. ge- hören zum größten Teil hierher. Eingehende Schilderungen der Grundmoränen- und Endmoränenlandschaften in Norddeutsch- land enthält Wahnschaffes bekanntes Werk über die Oberflächengestaltung des norddeut- schen Flachlandes. Die Endmoränen bezeichnen im Gebiet der Inlandvereisungen nicht die äußerste Grenze, bis zu der ein Eisvorstoß gelangt ist, vielmehr geht die zugehörige Grundmoräne oft weit über die Endmoräne hinaus; sie bezeichnen nur die Orte, an denen das zurück- weichende Eis längere Zeit hindurch stationär blieb. Die verschiedenen Moränenzüge erlauben daher, annähernd die Geschwindigkeit des Zu- rückweichens an verschiedenen Orten abzu- schätzen. So zeigt sich, daß ihre Linien sich auf skandinavischem Boden gegen Christiania zu- sammendrängen und fächerartig über das süd- liche Schweden ausstrahlen, wonach zwiscnen zwei Stillständen der Rückgang in Schweden weit schneller erfolgt wäre, als näher am Gebirge, dem eigentlichen Eisherd. Bemerkenswerter als diese Tatsache, die man auch ohne Beweis voraussetzen würde, sind die Beobachtungen De Geers über die kleinen Endmoränen in der Gegend von Stockholm. Sie wiederholen sich in regelmäßigen Abständen und gleich an Größe und Beschaffenheit, so daß sie Stillständen in kurzfristigen Perioden, vermutlich von Winter zu Winter darstellen müssen. Hiernach hätte der jährliche Rückgang 200 bis 300 m betragen. Zu den Grundmoränengebilden gehören die Drumlin, schwarmförmig angeordnete Hügel von elliptischem Grundriß und in der Richtung des Eisschubs angeordnet. Sie bestehen aus dem Material der Grund- moränen, häufig mit einem Kern anderer, fluvioglacialer Entstehung, und finden sich bei Inland- und Vorlandvergletscherungen da, wo gegen die Endmoräne zu die Grund- moränendecke mächtiger wird, sind also sicher unter Eisbedeckung entstanden. Da man sie von heutigen Gletschern nicht kennt, hat man über ihre Entstehungsweise nur Vermutungen, nach denen sie entweder ein- gehüllte Erosionsreste oder aufgepreßte Teile der Grundmoräne unter Längsspalten in der Eisdecke darstellen. Nicht unbestritten ist die glaciale Ent- stehung der Steinströme, die ein Analogon der heutigen Oberflächenmoränen sein sollen und neuerdings mehrfach als Beweise für die quartäre Vergletscherung von Mittelgebirgen angeführt werden. Man nimmt an, es seien hier von den Talrändern so gewaltige Massen von Schutt auf kleine Gletscher gestürzt, daß sie von diesen nicht mehr hätten transportiert und zu Endmoränen aufgebaut werden können. Nach anderen Autoren ist jedoch diese Art von Blockanhäufung nicht glacialer Entstehung, sondern eine Folge der Verwitterung in kaltem, aber gletscherfreiem Klima. Die Angabe, daß die Falklandsinseln im Quartär nicht vereist gewesen seien, stützt sich darauf, daß die dort vorhandenen Stein- ströme auf die letztere, Solifluktion genannte Art entstanden seien, die, wenn nuch abge- schwächt, noch jetzt dort fortwirkt. d) Schotterfelder usw. An die alpinen Zungenbecken und die Endmoränenzüge der Inlandvereisungen schließen sich mehr oder weniger breite Schotterfelder, Sedimente der Gletscherbäche und -flüsse. Jede Schwan- kung des Eisrandes verschob die Grenze zwischen Glacial und Fluvioglacial; daher finden sich vielfach Moränen und Sedimente ineinander verzahnt und ineinander über- gehend. Unter J vi täbil düngen versteht man Absätze der Gletscherbäche in nächster Nachbarschaft des Eisrandes, Sande und grobe Geröllmassen, die sich über den an- stoßenden Boden ausbreiteten (Sandr) und von rasch fließendem, durch Erosionsschlamm getrübten Wasser (hvitäar — Weißwasser) her- beigeführt wurden. Während der Rückzugszeiten bildeten sich vielfach in Nordeuropa, in größerem Maß- stab aber in Nordamerika Stauseen am Eisrand, Ansammlungen von Schmelzwäs- sern, denen auf der einen Seite durch die Bodenschwelle der Endmoränen, auf der anderen durch das Eis der Abfluß verlegt war. In sie drangen deltaförmig die Hvitä- bildungen ein, andererseits schlug sich ruhiger sedimentiertes Material, Sande und Tone in ihnen nieder. Die südlichsten Teile des 1 hv ykakonglomerats in der Kapkolonie sollen in Süßwasserseen abgesetzt sein, die man sich vielleicht den quartären Stauseen ähnlich vorstellen könnte. Unter den Glacialtonen ist besonders bemerkenswert der Bänder- ton, ein auffallend fein geschichteter Ton, dem entweder winzig dünne Sandschichten in regelmäßigen engen Abständen eingelagert sind, oder der in jeder Schicht dieselbe Reihen- folge von Farbveränderungen wiederholt. Man hat die Bänderung mit Jahresringen Eiszeiten s7 verglichen und durch Sedimentsveränderung wiegend aus unverwittertem Material, das infolge der jahreszeitlichen Verschieden- heit in der Zuflußgeschwindigkeit erklärt. G. de Geer hat in sehr eingehender Unter- suchung hieraus die Dauer und Schnelligkeit der Abschmelzung während der letzten Eiszeit- stadien zu berechnen gesucht. Er fand, daß unge- fähr 12 000 Jahre verflossen seien, seitdem das : letzte Quartäreis Schonen verließ, und daß der j jährliche Rückgang in Südschweden 50 rn, bei ] Stockholm (übereinstimmend mit dem oben S. 86 i angeführten Ergebnis) 250 m, und weiter nördlich 300 oder 400 m betragen habe. Zu den fluvioglacialen Ablagerungen ge- ' hören auch die Ose (isar), langgestreckte Kücken, die aus gerolltem Gletscherschutt bestehen, oft Kreuzschichtung zeigen, also aus stark bewegtem Wasser abgesetzt sind. Ihre Richtung fällt ungefähr zusammen mit der Bewegungsrichtung des Eises; die ebenso gerichteten Drumlin unterscheiden sich von den Ösen durch ihren kurz-elliptischen Grund- riß, ihr schwarmartiges Auftreten und durch ihre Zusammensetzung aus Grundmoränen- material. Die Ose bilden vielmehr lange, in der Landschaft deutlich hervortretende Rücken, die sich auf Kilometerlänge, unab- hängig von den sonstigen Bodenformen ver- folgen lassen und zuweilen im Kartenbild an Flußsysteme mit spitzwinklig einmünden- den Quellbächen erinnern. Diese topogra- phische Gesamtgestalt legt die Deutung nahe, daß die Ose als Absätze subglacialer Schmelz- wasserbäche entstanden seien durch Auf- höhung des Bettes zwischen den Wänden des Eistunnels. Eine andere Erklärung faßt sie auf als Deltabildungen an der erweiterten Mündung solcher Tunnel, wobei die Längen- erstreckung als Folge alljährlicher Anstücke- lung beim Zurückweichen des. Eisrandes erschiene. Für letzteres sprechen manche Einzelheiten im Aufbau, besonders eine Art von querserialer Anordnung des gröberen und feineren Schuttes. Die fluvioglacialen Sedimente gehen in größerer Entfernung vom Eis in rein fluvia- tile Schotter, Sande und Tone über, die nur insofern hier kurze Erwähnung finden, als ihr Material zu einem Teil den Moränen ent- nommen ist. Aus demselben Grunde ist hier auch der Löß anzuführen, feinster kalk- haltiger Tonstaub, der im Gebiet des quar- tären Glacials in der Hauptsache den Moränen entnommen ist, und unter Bedingungen ent- stand, die als eine Nebenwirkung im Gefolge der Vereisung auftraten. 3b) Erosionen. a) Glättung usw. Die ungeheure Masse des von eiszeitlichen Gletschern verfrachteten Schuttes beweist eine gleichzeitige, sehr starke Erosion. Wenn auch die Kontinentalflächen vor der Eiszeit tief- gründig verwittert und aufgelockert gewesen sein werden, so bestehen doch die Moränen vor- erst vom Eis losgebrochen und abgeschrammt wurde. Die Erosionswirkungen sind sehr oft, auch unter den paläozoischen Moränen be- merkt worden, und zwar als Glättung und Polierung der festen Gesteinsoberflächen. Charakteristisch sind besonders die Rund- höcker, die im Liegenden des Dwykakonglo- merats so gut wie in Skandinavien und sonst im Quartär erhalten sind, ferner die Schram- mung und Streifung der polierten Flächen, der sicherste Anhaltspunkt, um die Richtung des Eisschubs zu bestimmen. Aehnliche Schrammung zeigen viele Geschiebe, die Sc heuer st eine. Ihr Vor- kommen gilt als bündigster Beweis dafür, daß eine moränenartige Bildung wirklich dürfen Eistransport und nicht als fluviatile oder marine Geröllschicht entstanden ist. Doch sind niemals alle Geschiebe „gekritzt", auch geht die Schrammung durch Verwitte- rung der Oberfläche oder bei weiterem Transport des Gerölls im Wasser verloren. Die Facettengeschiebe, wie sie zuerst aus den Moränen der Saltrange bekannt wurden und längere Zeit als charakteristisch für die spät- paläozoische Eiszeit galten, finden sich auch in quartären Moränen, sind aber nirgends häufig. Sie zeigen mehrere, in scharfen Winkeln zu- sammenstoßende Schliffflächen, haben also unter dem Gletscher oder in einem vor oscillierenden Eisrändern gelegenem Steinpflaster der Grund- moräne eine Drehung erfahren, deren Ursache in lokalen Zufällen zu suchen sein wird. Für die Kenntnis der glacialen Erscheinungen sind^diese Geschiebe bedeutungslos. 9| « Lokalerscheinungen sind ferner die aus dem Gletschergarten bei Luzern, von Rüdersdorf und sonst in großer Zahl bekannten Riese n- töpfe, entstanden durch den Strudel des in Gletschermühlen von der Oberfläche des Eises auf die Unterlage herabstürzenden Schmelzwassers. Auch den Sollen, kreis- förmigen Seen von beträchtlicher Tiefe, die im lockeren Boden der norddeutschen Grundmoränenlahdschaft nicht selten auf- treten, wird die gleiche Entstehung zuge- schrieben. Doch steht die Erklärung nicht recht im Einklang damit, daß mehrfach auch schrägstellende, also wohl nicht durch Wasser- fall ausgebohrte oder „ausgekolkte" Kessel beobachtet sind. ß) Uebertiefte Täler usw. Den Erosionswirkungen kleineren Maßstabs, aber sicher glacialer Entstehung stehen andere gegenüber, die sich in der Landschaft vielfach formbestimmend ausprägen, deren Entstehung durch Eiserosion jedoch nicht unbestritten geblieben ist. Die Alpentäler, durch welche die quartären Gletscher austraten, sind übertieft, d. h. sie zeigen nur oberhalb der von Eiswirkungen betroffenen Zone die Gehängeneigung, die reifen Talformen und 88 Eiszeiten der Gesteinsart entspricht; in der Tiefe ist die Sohle verbreitert, die Hänge sind über- steil und die Seitentäler fallen in einer scharfen Stufe zum Boden des Haupttals ab. Oberhalb der Stufe sind die Böden der Seiten- täler flach geneigt. Denkt man sie in dieser Neigung bis in die Mitte des Haupttals fort- gesetzt und in diesem von beiden Seiten her die Neigung der oberen Hänge nach unten verlängert, so treffen diese drei Flächen in einer Höhe zusammen, die annähernd die Lage der Haupttalsohle vor der Uebertiefung wiedergeben muß. Daß tatsächlich glaciale Erosion Ursache der Uebertiefung ist, geht außerdem noch hervor aus dem Auftreten von Riegeln, die in den Haupttälern zwar weniger auffallen als in den Nebentälern, aber doch deutlich vorhanden sind. Verfolgt man ein Seitental aufwärts, so findet man nicht selten, daß Steilabsätze gleich der Stufe zum Haupttal sich wiederholen. Hinter der Stufe ist der Talboden muldenartig vertieft und ausgeweitet, enthält auch oft einen See, so daß sich zwischen diesem und dem Steilab- satz eine Bodenschwelle, der Riegel befindet. Diese Talform ist charakteristischfür Gletscher- erosion und findet sich nur neben anderen Spuren der Gletscherwirkung; sie fehlt den allein durch fließendes Wasser ausgefurchten Tälern, wiederholt sich aber in den mulden- förmigen Mitten der Zungenbecken und in den Fjorden, die demnach als unter den Meeresspiegel gesenkte Gletschertäler er- scheinen. Die Wertschätzung der Gletschererosion ist jedoch Gegenstand weitgehender Meinungsver- schiedenheiten, in denen sich vielleicht Ueber- schätzung auf der einen Seite, Unterschätzung auf der anderen die Wage halten. Da Fjorde nur an einstmals vergletscherten Küsten vor- kommen und übertiefte Täler nur an den Zugstraßen alter Gletscher, so dürfte der — doch zweifellos vorhandenen — Gletscher- erosion die Ausschleifung und Ausgestaltung der speziellen Bodenform mit Bestimmtheit zuzu- schreiben sein. Eiiie andere Frage ist, ob das Eis sich die Bahn selbst gebrochen oder nur die vorhandenen benutzt habe. Die erodierende Wirkung des Eises besteht im Abglätten und Schleifen, ist also, wie die Rundhöcker und viele Beobachtungen an Gletschern der Gegenwart zeigen, gering auf glatten Flächen, die dem Eis keine Unebenheiten und Ansatzstellen zur Ab- hobelung bieten. Solche werden aber in der Unterlage des Eises durch Spaltenfrost und subglaciale Verwitterung stets neu geschaffen und bis auf eine Art von Gleichgewichtsfläche wieder abgeglättet und ausgeschliffen. Es ist ohne weiteres anzunehmen, daß der Eisabfluß vor- handene Wasserrinnen bevorzugt haben wird, daß also die heutigen Fjorde und Alpentäler durch Luviatile Erosion angelegt und durch glaciale ausgeweitet und vertieft sind, in einer isammen- oder Nachein anderwirkens, die sich nicht generell abschätzen läßt. Eine andere Art der Eiserosion zeigt sich in den Karen, Gebirgsformen der Gipfel- regionen, die in steilwandig begrenzten Ni- schen mit einem flachen oder wannenförmig vertieften Boden bestehen. Sie umschließen vielfach einen See und sind durch einen Riegel oder Steilabsturz gegen das anschlie- ßende Tal abgegrenzt. Kare fehlen im Gebiet der Inlandvereisungen und bezeichnen in eiszeitlich-vergletscherten Gebirgen die obere Gletschergrenze. Die Karwände zeigen keine Spuren von Eiserosion, sondern ver- danken ihre Entstehung der subaerischen Verwitterung. Sie sind die Reste der über das Eis hinausragenden Firngrate, während die Karböden als „Gletscherquellen" bezeich- net werden können. Der Zusammenhang zwischen Gebirgsform und Vergletscherung ist für die Alpen von Penck und Brückner eingehend in Wort und Bild geschildert worden. y) Terrassen usw. Fluvio glaciale Erosion ist stark beteiligt an der Ausbil- dung der Landschaftsformen im Vorland der Vereisungen. Die Entstehung der Terrassen und ihre geologische Bedeutung wurde schon oben angemerkt. Weiterhin ist die Breite mancher Täler, die jetzt nur von unbe- deutenden Gewässern durchflössen sind oder ganz trocken hegen, auf Erosion seitens der massenhaften Schmelzwässer des Quartär zurückzuführen. In Norddeutschland läßt die Lage der Täler erkennen, daß der Strom, der die Schmelzwässer aufnahm, dem weichenden Eisrand folgend etap- penweise sich nach Norden verlegte. Die Richtung dieser quartären Täler hat den heutigen Flüssen, die sämtlich auf lange Strecken von OSO nach WNW verlaufen, ihre Bahn vorgezeichnet. In Nordamerika nahm der Mississippi einen beträchtlichen, wenn nicht den größten Teil der Schmelzwässer auf; sein Bett hat keine wesentliche Verlegung, wohl aber eine starke Einengung er- fahren. Es gehört zu den Aufgaben der Geo- graphie, den Zusammenhang zwischen den quar- tären und den gegenwärtigen Flußtälern im ein- zelnen aufzudecken. Die „Eiszeit" kommt dabei nur in Betracht, weil die erodierenden Wasser- massen und das sedimentierte Material von Gletschern stammen. 3c) Schichtenstörungen usw. Wenn ein vorrückender Gletscher gegen eine feste Bodenschwelle stößt, so gleitet er über sie hinweg oder schleift sie zum Rundhöcker ab ; eine Bodenschwelle aus lockerem Gestein, etwa eine Stirnmoräne, wird zunächst fort- geschoben, dann ebenfalls überstiegen und eingeebnet, Die lockere Decke eines festen, ansteigenden Bodens wird dagegen vom Eis wie von einem Pflug abgeschält und in Falten gestaucht. Das quartäre Inlandeis hat in vielen Fällen kaum irgendeinen Einfluß auf lockere Untergrundschichten ausgeübt, in anderen Eiszeiten 89 aber Stauchungen und Durchknetungen höchst verwirrter Art hervorgerufen. Diese Störungen haben jedoch nur lokalen Wert und sind dadurch entstanden, daß das Eis gegen eine Bodenschwelle oder beim Ueber- queren einer Bodensenke gegen die jenseitige Talwand, und zwar gegen lockeres Gestein gepreßt wurde. In festem Gestein können durch Gehängeschnb ähnliche Erscheinungen entstehen. Nach Frech treten glaciale Stauchungen auch in plastischen Gesteinen nur auf, solange der Eisdruck gering und der Boden nicht durchgefroren und fest geworden ist, also nur am Stirnrand des vor- rückenden Eises oder dicht dahinter. Ist das Hindernis überwältigt, so bilden sich in dem durch Belastung und Frost starr gewordenen Grund nur die Erosionsformen festen Gesteins aus, Abschleifung und daneben Ueberschiebung. Glaciale Ueberschiebung ist eine Art von Geschiebeaufnahme größeren Maßstabs, tritt aber zuweilen als Fortsetzung einer Stauchung auf infolge Aenderung der Schich- tenplastizität. Manche Kreidevorkommnisse Norddeutschlands, die technisch abgebaut werden, stellen sich trotz ihrer Größe als überschobene Schollen dar. Eine Stauchungserscheinung anderer Art sind die Staumoränen. Sie werden nicht als Wirkungen des vorrückenden Eises aufgefaßt, sondern sollen am Rande des stillstehenden Eises aufgepreßt worden sein, indem der frisch angeschüttete, bewegliche Untergrund nach der Seite minderer Belastung auswich und somit vor dem Eisrand nach oben durch- brach. 4. Ursachen der Eiszeiten. 4a) Metho- dologische Vorbemerkung. Der Frage nach dem Klima und den Ursachen der Eis- zeiten kommt im Lehrgebäude der Geologie größere Bedeutung zu als den übrigen palä- 0 klimatischen Problemen, denn diese pflegen nur als eine Art von Zugabe zur Darstellung der geologischen Verhältnisse einer Periode aufzutreten und die eigentliche Untersuchung geht ohne Beteiligung klimatischer Erwägungen vor sich. Hier aber, besonders bei der quartären Eiszeit wird die Deutung und Anordnung des Befundes vielfach stark beeinflußt durch Vor- stellungen über die Beschaffenheit des glacialen und interglacialen Klimas. Es spricht nun nicht für die Berechtigung, in dieser Weise von der sonst üblichen Methode abzuweichen, daß noch jede zusammenfassende Darstellung schließlich Wesen und Ursache der Eiszeit für ein ungelöstes Rätsel erklären und den Mißerfolg der vielen auf dieses Thema verwendeten Mühe zugeben mußte. Dieser bedenkliche Zustand des ganzen Problems wird noch unterstrichen durch den Umstand, daß die Behandlungsweise sich über- haupt von der sonst gegenüber komplizierten Verhältnissen üblichen unterscheidet. Es hat sich sonst bewährt und gilt sogar als einzig zulässiger Weg, den leichtest angreifbaren, voll- ständigst bekannten Teil des Problems abzuson- dern, hierauf allein eine provisorische Theorie zu begründen und bis auf weiteres anzunehmen, daß die Lösung des zugänglichen der des unzu- gänglichen präjudiziere. Der Fortschritt ge- schieht dadurch, daß man auch zu den anderen Problemteilen Zugang zu gewinnen sucht und die erste Theorie nach Maßgabe der neuen Er- fahrungen ergänzt, umgestaltet oder durch eine neue , umfassender gültige ersetzt. Dagegen gilt es vielfach für erforderlich, das eiszeitliche Problem als ganzes, mit einer alles auf einmal aufklärenden Theorie zu lösen. So kann man oft den Einwand hören, daß eine zur Erklärung eines Problemteils, etwa der quartären Eiszeit Europas, aufgestellte Theorie schon deshalb falsch sein müsse, weil sie andere Problemteile, etwa die quartäre Eiszeit Südamerikas, nicht miterkläre. Dabei wird aber nicht gefragt, zu welcher Theorie man denn gelangte, wenn man diese anderen Problemteile nach den für den ersten provisorisch bewährten Gesichtspunkten behandelte, sondern die in anderen Wissenschaften und auch sonst. in der Geologie erfolgreiche Methode, dem Problem mit Hilfe provisorischer Theorien schrittweise näher zu rücken, wird von vornherein als unzu- lässig abgelehnt. Der eingestandene Mißerfolg dieses Vorgehens stellt die anders, d. h. in der allgemein üblichen Art operierende Betrachtungsweise in den Vordergrund, wonach also hier Un Vollständig- keiten des geologischen Befundes nur im Falle der Beobachtungsunmöglichkeit durch theore- tisch-klimatische Erwägungen ergänzt werden dürfen und die Betrachtung mit dem bestbekann- ten Teil, den klimatischen Verhältnissen eines nordeuropäischen Inlandeises wie mit einem selbständigen Problem zu beginnen hat. 4b) Klima der Vereisungen. Das Aus- gangsgebiet des nordeuropäischen Inland- eises liegt ungefähr in der Breite des heutigen grönländischen; es können also die klima- tischen Verhältnisse des letzteren für die quartären Skandinaviens eingesetzt werden. Leider sind jedoch die Erfahrungen über die Metereologie Grönlands noch sehr unvoll- ständig, besonders wissen wir zu wenig über die Höhe und die jahreszeitliche Verteilung der Niederschläge auf dem Eisgebiet selbst. Nur steht fest, daß die Gesamtmenge nicht sehr groß ist und doch ausreicht, um trotz der starken Abgabe durch Eisberge den gegen- wärtigen Zustand aufrecht zu erhalten. Die Firn- und Eisanhäufung wächst zu solcher Mächtigkeit an hauptsächlich wegen des geringen Verlustes durch Abtauen und Ver- dunstung. Die Eisscheide liegt in Grönland gegen Osten verschoben, die niederschlag- brmgenden Winde kommen von Westen, also aus dem Gebiet des durchschnittlich niedri- geren Luftdrucks. Ein skandinavisches Inlandeis würde über sich eine starke Ab- kühlung der Luft hervorrufen und deshalb Winters und Sommers durch eine Antizyklone bezeichnet sein. Die Niederschläge wären zwar geringer als jetzt, aber weil zugleich die warmen, das Abtauen bewirkenden Winde teils fern gehalten, teils bald abgekühlt würden, 90 Eiszeiten >^_/^j werden. so bedürfte es wie jetzt in Grönland auch keiner starken Zufuhr, um den einmal bestehenden Zustand aufrecht zu erhalten. Die Eisscheide lag, obwohl östlich von der heutigen skandi- navischen Wasserscheide, doch nahe dem Westrand des Eisgebietes; die Niederschläge kamen demnach von Ost und Südost und in dieser Richtung muß ein Streifen durch- schnittlich geringeren Luftdrucks gesucht Die skandinavische Antizyklone verlegte die jetzt meist eingeschlagenen Straßen der Minima und ließ nur die südlichen, an den Alpen vorüber und von da nach 0 und NO führenden offen, was die bezeichnete Abweichung von den heutigen Luft drucks Ver- hältnissen zur Folge haben mußte. Lepsius erklärt die Lage von quartärer Eisscheide und heutiger Wasserscheide in Skan- dinavien durch die Annahme, daß im Quartär Eisscheide und Wasserscheide zusammengefallen sei, und daß durch schiefe tektonische Verschie- bung im Untergrund die letztere seit dem Quartär nach Osten verlegt wurde. Ein Inlandeis besitzt daher eine Art von Selbsterhaltungsfälligkeit, insofern als eine vorhandene Eisfläche sich bei genügender Größe die notwendigen klimatischen Bedin- gungen selber schafft. Damit steht im Ein- klang, daß in Skandinavien, je kleiner beim Rückgang der Vereisung die Eisfläche ward, desto mehr das Abschmelzen sich beschleu- nigte. Das grönländische Inlandeis würde sich weiter nach Osten und Süden ausdehnen können, wenn die Eisdecke über ein Fest- land weiter glitte, statt auf die Küste zu treffen und dort in Eisberge zu zerbrechen; es bedarf also keiner Sondererklärung, weshalb vom skandinavischen Zentrum, war dieses einmal eisbedeckt, die Gletscher die Breitenlage Grönlands nach Süden überschritten. Die skandinavische Antizyklone und daher vermutlich auch deren quartäre Ursache, die Eisdecke, bestand, wie Harmer mit Beob- achtungen belegt hat, schon zur Zeit des red crag. Daher ist die Ursache der Eiszeit auch nicht in Verhältnissen zu suchen, die erst im Quartär begannen; ohne Zweifel muß vielmehr dem kalten Meeresstrom, der sich gegen Ende des Tertiärs im Nordseegebiet bemerkbar macht, ferner der nachweislich damals größeren Höhe der skandinavischen Gebirge große Bedeutung für die erste Ent- stellung der skandinavischen Vergletsche- rung beigelegt werden, wenn man nicht über- haupt hierin die ausreichende und einzige Ursache davon zu erblicken hat. Wie von meteorologischer Seite oft her- loben, bietet es bis hierher keine prin- a Schwierigkeiten, die Entstehung unO iehnung eines skandinavischen In- landeises durch die heutigen klimatischen Fak' u erklären, denn es ist mit geolo- gischen Beobachtungen zu belegen, daß sich seit dem Pliozän Skandinavien klimatisch in der Lage des heutigen Grönland befand. Die Fortdauer dieses Zustandes im Quartär, kombiniert mit der Fälligkeit großer Eis- flächen sich selbst zu erhalten und noch aus- zudehnen, weil alle Niederschläge infolge der Abkühlung der Luft in fester Form fallen, erklärt den Umfang dieses Inlandeises; als die heutigen geographischen Zustände sich herstellten und der kalte Meeresstrom aus den europäischen Gewissem verschwand, und zwar infolge von marin-geographischen Veränderungen, die sich, wie an anderer Stelle bemerkt (vgl. den Artikel „Paläo- klimatologie" 2a, y), weder in den Küsten- gebieten Europas noch unter wesentlicher Umgestaltung der Festlandsumrisse voll- zogen zu haben brauchen, mußte nach dem Aufhören der Hauptursache die Vereisung erst allmählich, dann beschleunigter zurück- gehen. Außerdem erfuhr Skandinavien während der Eiszeit eine starke Absenkung, vielleicht infolge der Eislast, doch ist nicht abzuschätzen, ob die Überfläche des mit einer mehr als 1000 m mäch- tigen Eisschicht bedeckten Landes nun wesent- lich tiefer lag und mit geringerer Fläche in die Schneeregion aufragte, als die des unvereisten im Pliozän. Von dem Gedanken, daß die Eiszeit sich sozusagen ihr Ende selbst bereitet habe, nimmt man besser Abstand. Schreitet man auf diesem Wege fort, so ergibt sich zunächst, daß die auf die süd- licheren Zugstraßen gedrängten Zyklonen dort die Niederschlagsmenge erhöhen, also Pluvialzeiten und auf den Gebirgen lokale Eiszeiten hervorrufen mußten, letzteres so- weit durch den kalten Küstenstrom die Luft- temperaturen erniedrigt und die Schnee- grenze herabgedrückt wurde. Nun stammt aber nach A. Woeikof , der in dieser meteoro- logisch - paläo klimatischen Betrachtungs- weise zuerst mit Nachdruck vorgegangen ist, die Feuchtigkeit der inländischen Winde nicht vom Meer, sondern diese wird an den Küsten schon fast völlig abgefangen und später durch neue, über feuchten Land- strecken aufgenommene ersetzt. Die Tat- sache, daß die Alpen im Norden stärker als im Süden vergletschert waren, und die Lage der Eisscheide, die sich zwar nördlich der heuti- gen Wasserscheide, aber doch dem Südrand des vereisten Gebietes genähert findet, verweist darauf, daß die Zufuhr der Nieder- schläge aus Norden und weniger aus dem mediterranen Pluvialgebiet und dem dortigen Streifen durchschnittlich niederen Luft- drucks erfolgte. Die von Norden kommenden Winde strichen aber während der Abschmelz- periode des nordischen Inlandeises über ein viel feuchteres Land als vorher während dessen größter Ausdehnung. Daher ist von meteorologischer Seite oft behauptet werden, Eiszeiten 91 daß die stärkste Ausdehnung der Alpenver- eisung erst begonnen habe, als die des nörd- lichen Europas im Verschwinden war. Wei- terhin ergibt sich, wie Harm er ausgeführt hat, daß bei solcher Betrachtungsweise ein Alternieren der Vereisungen in Europa und in Nordamerika angenommen werden müsse. Wäre es nun mehr als Arbeitshypothese, daß die Vereisungen überall zeitlich zusammen- fallen, so würde mit diesen letzten Ergebnissen der Versuch einer meteorologischen Erklärung sein Scheitern bewiesen haben. Bis jetzt wird aber dadurch nur die Grenze bezeichnet, über die hinaus jedes weitere Folgern ein zweck- loses Aneinanderreihen von leeren Vermu- tungen wäre. Man könnte nur dann berechtigt sein, zwecks meteorologischer Erklärbarkeit eine Ungleichzeitigkeit in bestimmter Reihen- folge der quartären Eiszeiten an ihren ver- schiedenen Zentren einzusetzen, wenn geo- logische Beobachtung, unabhängig von aller Rücksicht auf Klimafragen, gezeigt hätte, daß die Eiszeit' der Alpen mit der nordeuro- päischen in einer Weise zusammenhängt, die eine meteorologische Erklärung begünstigt. Auch müßte festgestellt sein, welche der nordischen Moränen sich nach England oder wenigstens bis Holland ausdehnt, ehe die zeitlichen Beziehungen zwischen der skandi- navischen und der großbritannischen Ver- eisung geprüft werden können. Solange jedoch hierüber Nachweise oder Gegenbeweise fehlen, besitzt die eben vorgetragene Theorie auch für Skandinavien nur provisorischen Wert; immerhin eröffnet sie schon jetzt manchen Ausblick auf wirkliche Erklärungsmöglich- keiten und stützt sich mehr als die sonstigen Theorien auf bekannte und der Beobachtung zugängliche Klimafaktoren. Nach Lepsius sind die alpinen Terrassen überhaupt nicht mittelbare Glacialwirkungen, sondern Folge tektonischer Ereignisse im Mittel- rheingebiet. Dann wäre der Versuch, die schweizer Terrassen bis an die niederrheinischen Moränen zu verfolgen, zwecklos. Die Höhe der Schneegrenze ist im groben abhängig von der geographischen Breite: sie senkt sich, je näher den Polen, desto mehr auf Meeresniveau herab. Im einzelnen wird sie be- stimmt durch klimatische Faktoren, die ihrer- seits letzten Endes mit der Lage zum Meer, den geographisch-klimatischen Verhältnissen in diesem Meer und mit der Luftzirkulation zusammen- hängen. Die Größe der Gletscher ist hauptsächlich bestimmt durch die Größe der Firnfelder und die Lufttemperaturen, da das untere Ende der Gletscher sich an der Stelle befindet, wo Eiszufuhr und Abtauung sich die Wage halten. Zunahme der Gletscher kann erfolgt sein erstens wegen Ver- größerung der Firnfelder infolge allgemeinen oder örtlich bedingten Herabsinkens der Schneegrenze oder Aufsteigens des Landes und Erweiterung der über die unverändert stehende Schneegrenze aufragenden Fläche; zweitens wegen Verminde- rung der Abtauung infolge allgemeiner oder ört- lich bedingter Temperaturherabsetzung des Som- mers. So viele Bedingungen, so viele Möglich- keiten auch, Veränderungen anzunehmen; daher entsteht eine unübersehbare Fülle von Hypo- thesen, Varianten und Kombinationen zur Er- klärung der Eiszeit. Dagegen ruft, wie das Bei- spiel des jetzt wie im Quartär unvergletscherten Ostsibiriens zeigt, strenge Kälte des Winters oder des ganzen Jahres für sich allein noch keine Eiszeit hervor. Wenn man die Ungleichzeitigkeit der Ver- eisungen in Betracht ziehen darf, so wären viel- leicht die „postglacialen" Schichten Islands und der Arktis mit ihrer jetzt weiter südlich lebenden marinen Fauna zum Teil nicht dem skandinavi- schen „Postglacial" gleichzusetzen, sondern ent- sprächen der dortigen Eiszeit. Sie bezeugten dann eine Art der marinen Zirkulation, wie sie an anderer Stelle (vgl. den Artikel „Paläoklima- tologie" 2a, y) als Ergebnis eines an der europä- ischen Küste entlang fließenden kalten Stromes entwickelt wurde. Der Vorstoß wärmeren Klimas in Nordeuropa, der dem Rückgang des Eises folgte, wäre dann davon getrennt zu halten. Das Ende der nordeuropäischen Eiszeit wäre am einfachsten durch die Annahme zu erklären, daß noch im Quartär eine Senkung zwischen Grönland und Labrador den kalten Wassern einen Ausfluß an der amerikanischen Seite des atlanti- schen Ozeans eröffnete und so den heutigen Zu- stand herstellte. 4c) Klima des Interglacials und der Schwankungen. Die für klimatische Zwecke wichtigsten Interglacialbilclungen Norddeutschlands bestehen in Austernbänken und anderen marinen Schichten mit einer an die heutige Nordsee gemahnenden Fauna, ferner in terrestrischen Ablagerungen mit Tieren und Pflanzen, die im großen und ganzen auch gegenwärtig in diesen Gegenden auf- treten könnten. In den Alpen sind besonders hervorzuheben die - - zwar nicht zahlreichen — Vorkommnisse mit Rhododendron pon- ticum, die, wie z. B. die Höttinger Breccie, meistens zwischen Riß- und Würmeiszeit gestellt werden. Zwar können die Existenzbedingungen auch lebender Tiere und Pflanzen nicht ohne weiteres sichere Schlüsse auf das Klima ihrer vorzeitlichen Standorte gewährleisten; auch bleibt in vielen Fällen die Altersbestim- mung noch zweifelhaft, besonders besteht manches norddeutsche ,,Interglacial" aus verschleppten Schollen und ist nachweislich präglacialen Alters. Indessen bleibt genügen- der Anlaß zu dem Schluß, daß wenigstens vorübergehend während der Eiszeit nicht ein ausgesprochen grönländisches, sondern un- gefähr das heutige dort herrschende Klima in den Vereisungsgebieten bestand. Die ein- fachste Folgerung hieraus ist, daß das Eis sich zeitweilig ganz zurückzog, in den Alpen bis in die Gipfelregion, im Norden mindestens bis Skandinavien. Oscillationen dieses Um- fangs lassen sich durch rein meteorologische 92 Eiszeiten Faktoren nicht erklären, wenn man nicht zu der ganz unwahrscheinlichen Annahme greifen will, daß die Senkungen und Hebungen des Festlandes sich in Skandinavien und zwischen Europa und Amerika mehrere Male in genau derselben Weise wiederholt hätten. Man wäre also gezwungen, die Ursache der Vereisung in kosmischen, außerhalb der Erde liegenden Veränderungen zu suchen, würde dann die in verschiedenen Gegenden beobachteten Schwankungen des Eisrandes für Wirkungen derselben Ursache und für gleichzeitig er- klären, gelangte also zu einer Anschauung über das Wesen der Eiszeit, die früher als brauchbare Arbeitshypothese der Strati- graphie bezeichnet wurde. Rechnet man also mit mehrfachen Vereisungen und durch- greifenden, gleichzeitigen Interglacialstufen, so stützt man sich weniger auf geologische Beobachtung, als auf abgeleitete Schlüsse über die Existenzbedingungen der inter- glacialen Tiere und Pflanzen. Keiner dieser Schlüsse ist aber so fest begründet, daß er noch aufrecht erhalten werden könnte, wenn die Untersuchung der ' Lagerungsver- hältnisse die Ungleichzeitigkeit der alpinen und nordeuropäischen Vereisung bewiese. Außerdem hat diese verbreitete Anschau- ung über das Wesen der Eiszeit es noch nicht vermocht, eine erkennbare, der Beobachtung und Prüfung zugängliche Angabe über die Art der behaupteten kosmischen Veränderung aufzustellen. Die mit einmaliger Vereisung und lokalen Schwankungen rechnende Theorie zieht hauptsächlich dadurch an, daß sie einen Ausblick auf Verständnis der Ursachen eröffnet; ihre Schwäche liegt darin, daß man sich Rhododendren in den Alpen und in Norddeutschland Pappel und Linde nur ungern als Bewohner eines durch Eisnach- barschaft abgekühlten Landes denkt. Es ist unverkennbar, daß die geographische Lage der vereisten Gebiete als Ursache in Be- tracht zu ziehen ist, läßt sich doch sogar bei der spätpaläozoischen Eiszeit noch bemerken, daß die Küste der damaligen Meere nicht weit von den Inlandsvereisungen entfernt war. In Nord- amerika wie in Skandinavien gingen die quar- tären Gletscher von hochgelegenen, nachher ge- senkten und wieder aufgestiegenen Gebieten aus, wenngleich Lepsius, der nur mit diesem Faktor rechnet, wohl dessen Bedeutung überschätzt, anderes aber unterschätzt. Trat die Maximal- vereisung gleichzeitig in Europa und in Nord- amerika oder gar überall auf der Erde ein, so müssen die meteorologischen Faktoren nicht nur durch einen hinzutretenden hypothetischen er- zt, sondern teilweise durch ihn geradezu ben gewesen sein, weil die Niederschlags- irmemenge konstant bleibt und durch eine •ung im Zusammenwirken jener klima- tischen ] aktoren nur anders verteilt wird; eine ng an einem Ort gleicht sich aus durch eine Verminderung an einem anderen. Ein hypo- thetischer Faktor müßte ferner erklären, weshalb zwar auf den meisten Festländern Abkühlung und Vermehrung der Niederschläge eintrat, aber die Verbreitung des klimatisch empfindlichsten Faunenbestandteils der tropischen Meere, z. B. der Riffkorallen nicht beeinflußt wurde. Ein solcher Einfluß ist nie behauptet oder nachge- wiesen und ebensowenig ein derartiger Klima- faktor auch nur hypothetisch namhaft gemacht worden, vielmehr hätte alles, was als kosmische Ursache der Eiszeit angeführt wird, auch die Tropen abkühlen und die dortige Fauna einengen müssen. Schließlich obliegt der Theorie von der mehrfachen Vereisung durch kosmische Fak- toren der Nachweis, daß geologische Beobachtung in allen Glacialgebieten zu dem gleichen, an dem typischen Gebiet konstatierten System von Eiszeiten und Interglacialen führt. Bisher ist nur versucht worden, ein System hypothetisch von einem Gebiet auf ein anderes zu* übertragen und stets haben gewichtige Stimmen mit höchster Energie bestritten, daß die Tatsachen sich dem übertragenen System einfügen ließen. Ebenso hat auch die Theorie von der Einheit der Eiszeit den Beweis ihrer Berechtigung noch zu erbringen und hat nachzuweisen, in welcher Weise die Schwankungen des Eisrandes im ein- zelnen geschahen, ferner, daß die Interglacial- bildungen entweder wirklich teils präglacial, teils postglacial sind, oder, wenn der Vereisung gleich- zeitig, in ihrem Nebeneinander von Wäldern und Steppen unter den klimatischen Bedingungen, wie sie in der Nachbarschaft eines Inlandeises herrschen, entstanden sein können, eine Aufgabe, mit deren Lösung sich hauptsächlich E. Geinitz beschäftigt hat. Vorläufig stehen sich also zur Erklärung der quartären Eiszeit zwei Hypothesen ent- gegen, die vorbildlich sind für die Betrachtung der älteren Eiszeiten, aber trotz der Ent- schiedenheit, mit der sie zuweilen verteidigt werden, bisher nichts als Denkmöglichkeiten vorstellen. Jede von ihnen hat ihre stärksten Wurzeln dort, wo die andere schwach begrün- det ist. Unstreitig ist die „polyglacialistische" bestechender, weil sie zu praktischer Ver- wendung als Arbeitshypothese taugt und ein sozusagen grandioseres Bild der quartären Erdgeschichte entwirft. Die „monoglacia- listische" stellt dem nur ein in den Einzel- heiten noch verschwimmendes Bild entgegen, das an Stelle gewaltiger Allgemeinvorgänge ein lokales Nacheinander ähnlicher Erschei- nungen bringt und erst klarer ausgestaltet und gruppiert werden kann nach Hinzufügung zahlloser, schwer übersichtlicher Einzelheiten geologischen, klimatologischen und biono- mischen Inhalts. Eine Entscheidung auf tatsächlichem Boden ist somit noch uner- reichbar; die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß dem Geologen das meteorologische Element, dem Meteorologen umgekehrt das geologische zu wenig vertraut ist und deshalb minder gewichtig scheint. Jedoch ist vom methodologischen Standpunkt aus die heute meist anerkannte Vorstellung mehrfach wie- derholter Eiszeiten angreifbar, solange sie die Eiszeiten — Eiweißkörper 93 behaupteten Vorgänge auf eine dem Wesen nach unbekannte und unkontrollierbare Ur- sache zurückführt, denn so erfüllt sie die Forderung nicht, die an eine wissenschaftliche Lehre zu allererst gestellt werden muß: beobachtete Tatsachen durch Zurückführimg auf eine Ursache und durch Schlüsse auf das Wesen und die Wirkungsgesetze von Natur- kräften wirklich zu erklären. Wohl mögen Kräfte existieren, deren Wirkungen wir nur aus der Vorzeit der Erde kennen, aber in der Gegenwart bisher noch nicht herausfinden konnten, jedoch hat sich auch schon oft gezeigt, daß nur deshalb auf vorzeitliche Mitwirkung von jetzt unbekannten Faktoren geschlossen wurde, weil der Beobachtungsstoff naturwidrig angeordnet war und es deshalb schien, als reichten die aus anderen Zusam- menhängen sehr wohl bekannten Naturkräfte zur Aufklärung des angeblich unlösbaren, in Wirklichkeit nur mißverstandenen oder verunstalteten Problems nicht aus. Literatur. E. Hang, Traue de geologie IL Paris 1908 bis 1911. — J. Geikie, The great Ice Age. 3. Aufl. London 1894- — -F. E. Geinitz , Das Quartär Kordeuropas. Lethaea geognostica III, Bd. 2. Stuttgart 1908 bis 1904- — Derselbe, Die Einheitlichkeit der quartären Eiszeit. Neues Jahrbuch f. Mineralogie usw. Beilage Bd. XVI, 1903. — Derselbe, Die Eiszeit. Braunschweig 1906. — F. Wahn- schaffe, Die Oberflächengestaltung des nord- deutschen Flachlandes 3. Aufl. Stuttgart 1909. — JR. Lepslus, Geologie von Deutschland Bd. II. Leipzig 1910. — Derselbe, Die Einheit und. die Ursachen der diluvialen Eiszeit in den Alpen. Abhandl. d. großherzogl. hess. geol. Landesanstalt zu Darmstadt Bd. V, 1910. — A. Penck und E. Brückner, Die Alpen im Eiszeitalter. Leipzig 1909. — G. F. Wright, The Ice Age in North America. 5 th ed. Ober- lin Ohio 1911. — W. Sievers, Die heutige und die frühere Vergletscherung Südamerikas. Ver- handlungen der Ges. deutscher Naturforscher und Aerzte 1911. — F. Frech, Die dyadische Eiszeit der Südhemisphäre . Lethaea geognostica I, Bd. 2, 1902. — E. Koken, Indisches Perm und die permische Eiszeit. Neues Jahrbuch für Mineralogie usw. Festband 1907. — E. Ph ilippi, Das südafrikanische Dwykaconglomerat. Zeitschr. d. Deutschen geol. Ges. Bd. 55, 1904. — T. W. E. David, Conditions of climate at different geological epoehs with special reference to glacial epochs. Compte rendu des X. internationalen Geologen Congresses 1906. — Zu vergleichen sind auch die im Artikel „Paläo klimatologie" genannten Werke und der Artikel „Eis". M. Semper. Eiweißkörper. 1. Einleitung und Definition. 2. Primäre Spaltungsprodukte. 3. Konstitution. 4. Zusammen- setzung aus den einzelnen Aminosäuren. 5. Fer- mente. 6. Sekundäre Spaltungsprodukte. 7. Re- aktionen. 8. Albumosen und Peptone. 9. Eiweiß- salze. 10. Halogeneiweiße und Verwandtes. 11. Physikalische Eigenschaften der Eiweiß- körper. 12. Spezieller Teil. Einteilung. a) Einfache Eiweiße. Albumine, Globuline, Alkohollösliche Eiweiße, Histone, Protamine, Gerüsteiweiße (früher Albuminoide genannt). b) Umwandlungsprodukte. Acidalbumin und Alkalialbuminat. Albumosen. Peptone. Pep- tide. Halogeneiweiß usw. c) Proteide, Phos- phoproteide, Nucleoproteide, Hämoglobin, Glyco- proteide. I. Einleitung und Definition. Die Eiweißkörper oder Proteinstoffe bilden eine scharf abgegrenzte Klasse von organischen Verbindungen, die in ihrem natürlichen Vor- kommen und in ihren Eigenschaften seit lange bekannt sind, und deren Konstitution in ihren Grundzügen erforscht ist. Sie be- | stehen aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauer- : stoff, Stickstoff und Schwefel in einem I ziemlich konstanten Verhältnis und setzen sich in der Hauptsache aus bestimmten a-Aminosäuren zusammen, die als Säure- amide miteinander verkoppelt sind. Diese Struktur gibt ihnen eine solche Gleichartig- keit des chemischen Verhaltens, daß man über die Zugehörigkeit eines Körpers zu der Klasse kaum jemals im Zweifel sein kann. Synthetisch dargestellt sind bisher nur die allerersten Glieder der Reihe. Historisch hat man mit dem Namen „Eiweißkörper zuerst die kolloidalen Ei- weißkörper bezeichnet, die in der Natur vor- kommen und den größten und wichtigsten Teil der lebenden Pflanzen und Tiere bilden. Erstens enthalten die Flüssigkeiten der Tiere und Pflanzen, Blut, Lymphe, Zellsaft usw., Eiweißkörper in gelöster Form. Zweitens bil- den die Eiweißkörper, der Hauptmasse nach Proteide, zusammen mit anderen organischen und unorganischen Substanzen das merk- würdige, zwischen dem festen und flüssigen Aggregatzustande in der Mitte stehende Ge- menge von eigenartiger Struktur, das man das lebendige Protoplasma der tierischen und pflanzlichen Zellen und Gewebe nennt. Aus den Organen lassen sich die Eiweiß- körper teils durch einfaches Auflösen, teils aber nur durch stärker verändernde Ein- griffe in Lösung bringen. Ein dritter Teil der Eiweißkörper ist als Ernährungsmaterial wachsender Embryonen in Pflanzensamen und den Eiern von Tieren, in fester, zum Teil kristallinischer Form abgelagert. Später fand man, daß im Tierkörper weit verbreitet Stoffe vorkommen, die in Zu- sammensetzung und Reaktionen mit den Eiweißkörpern nahe übereinstimmen, sich aber physikalisch dadurch von ihnen unter- scheiden, daß sie feste Körper sind, und die Gerüstsubstanzen der Tiere bilden. Sie wurden als „eiweißälmliche Körper" oder Albuminoide bezeichnet, während wir heute keinen Grund haben, sie von den übrigen 94 Eiweißkörper natürlichen Eiweißkörpern zu trennen. Eine weitere Ausdehnung erfuhr der Begriff, als man Körper kennen lernte, die aus der Ver- bindung eines Eiweißkörpers mit einem an- deren chemischen Körper bestanden. Sie werden in der deutschen Literatur allgemein als Proteide bezeichnet. Die beiden Gruppen der nativen oder einfachen oder Eiweißkörper im engeren Sinne und der Proteide oder zusammenge- setzten Eiweißkörper kommen in der Natur vor. Ihnen gegenüber stehen die eiweiß- artigen Spaltungsprodukte und Derivate, die Albumosen, Peptone usw., die chemisch durchaus Eiweißkörper sind, sich von den anderen Eiweißen aber durch den Mangel des kolloidalen Charakters und durch ihren Ursprung unterscheiden. Sie kommen einmal in der Natur, als Produkte der Verdauung und des Stoffwechsel vor, sodann werden sie künstlich durch Spaltung der anderen Ei- weiße dargestellt. Ihnen schließen sich die synthetischen Peptide an. Ein Synonym für Eiweißkörper ist „Pro- teine", wovon sich Bezeichnungen wie pro- teolytisch usw. ableiten. Das früher ge- brauchte Wort „Albuminstoffe" ist nicht mehr üblich, da es zu Verwechselungen mit. den Albuminen, einer bestimmten Gruppe von Eiweißen, führt. Die Bezeichnung „Proteide" wird im Deutschen für die zu- sammengesetzten Eiweiße reserviert. Im Englischen wurde bisher der Ausdruck „Proteids" für alle Eiweißkörper im weitesten Sinne gebraucht, neuerdings haben sich die englischen und amerikanischen physiologi- schen Chemiker geeinigt, die Eiweißkörper „Proteins" zu nennen, die in „simple", „conjugated" und „derived proteins" zer- fallen. Im Französischen ist der Name „Substances albuminoides" für alle Eiweiß- körper üblich und nicht etwa für die Gerüst- eiweiße, die im Deutschen früher Al- buminoide genannt wurde. Doch sind auch Ausdrücke üblich, die sich von „proteine" ableiten. 2. Primäre Spaltungsprodukte. Um die Konstitution des Eiweiß zu erforschen, hat man das Eiweißmolekül bis zum Ver- schwinden seines chemischen Charakters zer- legt und die dabei entstehenden Spaltungs- produkte untersucht. Die Zerlegung ge- schieht durch Kochen mit Säuren oder Al- kalien, durch Oxydation mit Wasserstoff- superoxyd, durch Schmelzen mit Kali, durch Einwirkung überhitzten Wasserdampfes, i tierische und pflanzliche Fermente oder den Stoffwechsel lebender Organismen. Bei diesen Prozessen entsteht zu- nächsl (ine Reihe von Körpern, die noch mehr oder weniger den gleichen chemischen Bau besitzen wie das ursprüngliche Eiweiß, und die daher zu den Eiweißkörpern im weiteren Sinne gerechnet werden, die Albu- mosen, Peptone, Peptide usw. Diese aber zerfallen wieder in Körper ganz anderer Art, die man im Gegensatz zu ihnen als kristallinische oder abiurete Spal- tungsprodukte bezeichnet. Beide Namen sind nicht mehr korrekt, seit man kristalli- sierende Eiweißkörper und Peptone kennt, und seit zwischen den Peptonen, die die Biuretreaktion geben, und den einfachen Spaltungsprodukten eine Reihe von Ueber- gangsgliedern bekannt geworden sind. Doch werden beide Namen noch vielfach ange- ! wendet. Unter der großen Zahl der einfachen Spal- tungsprodukte nehmen einen besonderen Rang diejenigen ein, die beim Kochen mit Salz- oder Schwefelsäure oder durch die Ver- dauungsfermente von der Art des Trypsins entstehen, die primären Spaltungspro- dukte. Bei dieser Spaltung bleiben die Kohlenstoffketten unversehrt und es wird lediglich die Bindung gelöst, die sie an- einanderknüpft. Andererseits ist es E. Fischer gelungen, zwei und mehr dieser primären Spaltungsprodukte zu Säureamiden zusammenzufügen, die den einfachsten Ei- weißkörpern, den Peptonen, nahe stehen. Es kann keinem Zweifel untei liegen, daß die primären Spaltungsprodukte im Eiweiß- molekül sozusagen präformiert sind, seine Bausteine darstellen. Von den folgenden Spaltungsprodukten dürfen wir nach unseren heutigen Kennt- nissen annehmen, daß sie im Eiweiß prä- formiert sind: 1. Aminoessigsäure, Glykokoll, C2H5N02. 2. a-Aminopropionsäure, Alanin, C3H7 j NO,. 3. a-Aminoisovaleriansäure, Valin, C5Hn N02. 4. a-Aminoisocapronsäure, a-Aminoiso- butylessigsäure, Leuein, C6H13N02. 5. a-Aminoisocapronsäure, cc-Amino- /5-methyläthvlpropionsäure, Isoleucin, C6H13 N02. 6. a-Aminobernsteinsäure, Asparaginsäure, C4HgN04. 7. a-Aminoglutarsäure, Glutaminsäure, C5H9N04. 8. a-Pyrrolidincarbonsäure, Prolin, C5H9 N02. 9. a-Oxypyrrolidincarbonsäure, C5H9N03. 10. Phenyi-a-aminopropionsäure, Phenyl- alanin, CgH^NOa. 11. p-Oxvphenvl - a-aminopropionsäure, Tyrosin, C^NO,.' 12. Indol-a-aminopropionsäure, Trypto- phan, CgHuNoOa. 13. Imidazol-a-aminopropionsäure. Histi- din, C6H9N302. 14. a,ö-Diaminovaleriansäure, Ornithin, C5H12N202. Eiweißkörper 95 15. a-,£-Diamino-n-capronsäure, Lysin, C6H14N202. 16. a-Amino-/5-oxypropionsäure, Serin, C3H7N03. 17. a-Diamino-/j-dithiodilaktvlsäure, Cv- stin, C6H1.,04N2S2. 18. Harnstoff, CH4ON2. 19. Ammoniak, NH3. Ornithin und Harnstoff sind zu dem Arginin vereinigt. Die Bindung zwischen ihnen wird durch Kochen mit Säuren und die Fermente Trypsin und Erepsin nicht gelöst, und bei diesen Spaltungen erscheint an Stelle von Ornithin und Harnstoff als Spaltungsprodukt das Arginin. Die Spaltungsprodukte der Eiweißkörper sind alle a-Aminosäuren, und die Gruppe NH, I -C-COOH H bestimmt ihr und damit auch der Ei- weißkörper chemisches Verhalten. Für die Eiweißchemie kommen insbe- sondere folgende Eigenschaften der a-Amino- säuren in Betracht: 1. Sie sind amphotere Elektrolyte und können daher mit Säuren wie mit Basen Salze bilden, die aber stark hydrolytisch dissoziiert sind. 2. Durch Besetzung, sei es der sauren oder basischen Gruppe, kann ihnen dieser Doppelcharakter genommen werden; es ent- stehen Körper, die entweder nur Säuren oder nur Basen sind. a) Glykokoll und die anderen Amino- säuren bilden mit Alkoholen Ester, die Basen sind CH2NH2COOH + C2H5OH = CH2NH2C0.0 .C2H5. b) Glykokoll und die anderen Amino- säuren bilden durch Methylierung die syn- thetischen Betaine, die ebenfalls deutlich basisch sind 4. Durch Anlagerung von Kohlensäure an die Aminogruppe entstehen Carbamino- säuren (Carbaminoreaktion): H2CN^ I H COOH CO.,: H2CN< H COOH COOH. Bei alkalischer Reaktion entstehen die Salze der betreffenden Carbaminosäure. Die Aminosäuren aus Eiweiß sind mit Aus- nahme des Glykokolls, alle optisch aktiv; durch Kochen mit Alkali werden sie race- misiert, und zwar verschieden leicht. Koch leichter werden sie im allgemeinen racemi- siert, solange sie noch im Gefüge des Eiweiß- moleküls stecken. Die Salze der Aminosäuren mit Säuren oder Basen haben ein von den freien Amino- säuren verschiedenes, ja bisweilen das ent- gegengesetzte Drehungsvermögen. Da die Salze stark hydrolytisch dissoziiert sind, wechselt das Drehungsvermögen mit dem Gehalt an Salzsäure und wird erst bei sehr großem Salzsäureüberschuß einigermaßen kon- stant, ist dann aber auch sehr charakteristisch und wird besonders häufig zum Beweise der Reinheit der Aminosäuren benutzt. Zur Bestimmung der Polarisation sind die Amino- säuren daher meist in Salzsäure von 21 % gelöst worden, bisweilen auch in Natron- lauge. Die Bezeichnung der Aminosäuren als rechts- und linksdrehend (d- und 1-) erfolgt nach ihrem Drehungsvermögen in wässeriger, neutraler Lösung. Eine rationelle, genetische Bestimmung der sterischen Konfiguration ist bisher nur für Serin, Cystein und Alanin gelungen, die auf Traubenzucker be- zogen — folgende Konfiguration haben: COOH COOH COOH H„C -N(CH3)< C-O— 0 3. Durch Reaktion der Aminogruppen mit Aldehyden, z. B. Formaldehyd, ent- stehen Methylenverbindungen, die ausge- sprochene Säuren sind H,CNH, H2CNCH2 + HCOH = + H20. COOH COOH Die Aminosäuren sind neutrale Körper, die Methylenverbindungen Säuren, und so kann das Sauerwerden einer Lösung beim Zusatz von Formol zum Kachweis Aminosäuren z. B. im Harn dienen. von H2N-C— H HoN-C— H H,N-C— H I I ! CH3 CH2OH CH2SH Alanin Serin Cystein Dabei ist Alanin rechts-. Serin und Cystein linksdrehend. Das Glykokoll, das daher seinen Namen hat, und die anderen a-Aminosäuren schmek- ken süß, während die ß- und y- Amino- säuren geschmacklos sind. Doch beschränkt sich der Süßgeschmack bei einigen Amino- säuren auf eines der beiden Stereoisomeren. Beim Leucin schmeckt das im Eiweiß vor- kommende 1-Leucin fade und schwach bitter, das d-Leucin stark, das d, 1-Leucin schwach süß. Von den Spaltungsprodukten zeigen Tyro- sin, Tryptophan, Histidin und Cystin charak- teristische Farbenreaktionen (vgl. Abschn. 7). 1. Tyrosin, a) die Millonsche Reaktion, 96 Eiweißkörper b) die Diazoreaktion, c) Dunkelf är bung durch Tyrosinase. 2. Tryptophan. a) Ad amkiewicz-Hopki n sehe Reaktion. b) Tryptophanreaktion, Violettfärbung beim Zusatz von Brom- oder Chlorwasser und Essigsäure. Wird nur von isoliertem Tryptophan gegeben, und dient daher zum Nachweis der Zerlegung des Eiweißes. 3. Histidin. a) die Diazoreaktion wie das Tyrosin. b) Brom wasser, wird durch Histidin erst entfärbt, dann gelb, beim Erhitzen erst farblos, dann weinrot. Tyrosin und Leucin haben charakteri- tische Kristallformen, alle anderen Amino- säuren müssen zu ihrer Identifizierung iso- liert werden. Für das Arginin, Lysin und Histidin geschieht das durch Fällung mit Phosphorwolframsäure, die diese stark basi- schen Stoffe wie andere organische Basen niederschlägt und weiterhin nach einem von Kessel herrührenden sehr genauen Ver- fahren. Die Monoaminosäiiren werden nach Emil Fischer mit Salzsäure und Alkohol verestert, die basischen Ester in Freiheit gesetzt und durch fraktionierte Destillation getrennt. Diese beiden Verfahren haben die Grundlage der heutigen Eiweißchemie ge- bildet. Weitere primäre Spaltungsprodukte als die angeführten anzunehmen, liegt z. Z. kein Anlaß vor, abgesehen von einer Di- aminotrioxydodekansäure, die einmal ge- funden ist. Der Schwefel ist in den ein- fachen Eiweißkörpern anscheinend ausschließ- lich in Form von Cystin enthalten, in den zusammengesetzten Eiweißen noch in anderer Form. Ein Kohlehydrat fehlt den einfachen Eiweißen, unter den zusammengesetzten findet sich eine Gruppe, die Glukosamin enthält. Während bei der Säurespaltung die Hauptmasse des Eiweißes in reine Bausteine zerfällt, entstellen durch eine Nebenreaktion außerdem braun- oder schwarzgefärbte Stoffe, die man wegen ihrer Aehnlichkeit mit den dunkeln Stoffen in verwesenden Substanzen als Humine bezeichnet. Wegen ihrer Aehnlichkeit mit den Melaninen, den schwar- zen oder braunen Pigmenten der Tiere, werden sie auch als Melanoidine bezeichnet. Sie entstehen nicht nur aus Eiweiß, sondern in noch reicherem Maße aus Kohlehydraten, sind aber dann natürlich stickstofffrei, wäh- rend die Humine aus Eiweiß 5 bis 8 % N halten. Alle Humine zeigen hohen Kohlenstoff- und niederen Wasserstoffgehalt (64 und 5 %). Die Humine sind in Wasser Säure unlöslich, in Alkalien leicht Jnter den Bausteinen des Eiweißes zeig« roßte Neigung zur Huminbildung das Tryptophan und das Glukosamin, nächst ihnen Tyrosin und Lysin. Die Huminbildung bedingt einen Teil der Unsicherheit der Bestimmung der Aminosäuren. 3. Konstitution. Die Eiweißkörper werden durch Kochen mit Säuren und durch die Einwirkung bestimmter Fermente in die bisher geschilderten Spaltungsprodukte zer- legt, die bis auf Harnstoff und Ammoniak alle a- Aminosäuren sind, also die Gruppe H I H2N-C-COOH enthalten. Derartige Aminosäuren sind zuerst von Curtius, später von Schiff miteinander vereinigt worden. Die Auf- klärung der Konstitution der Eiweißkörper erfolgte aber erst durch die Darstellung der Peptide durch Emil Fischer. In den Peptiden sind die Aminosäuren als Säureamide so miteinander vereinigt, daß das entstehende Peptid selbst wieder eine Aminosäure ist. Das einfachste Peptid besteht aus 2 Molekülen Glykokoll oder Glycin und entsteht nach der Formel: NH2CHoCOOH+NH2CH2COOH-H,0 =NH2CH2CONHCH2COOH. Man schreibt es: H H I I H2N-C-C-N— C-COOH. I II I I H 0 H H Entsprechend entsteht aus 2 Molekülen Leucin das Leu cy Heu ein: H H I I H9N- C- -C- N- -C- COOH CH2 0 H CH l CH2 CH CH3 CH3 CH3 CH3 In derselben Weise können verschiedene Aminosäuren Peptide bilden. Da die ge- bildeten Dipeptide ihrerseits die anlage- rungsfähigen Gruppen der Aminosäuren be- sitzen, und den a- Aminosäuren, wie E. Fischer gefunden hat, in hervorragendem Maße die Fälligkeit zukommt, lange Ketten zu bilden, so entstehen Tripeptide etwa vom Typus des Leucylglycylphenylamins, das aus je 1 Molekül Leucin, Glykokoll und Phenylalanin bestellt: H H H I I I H2N-C- -C— N— C— C— N- -C-COOH. CH, 0 H H 0 H CH CH3 CH3 CH, C6H5 Eiweißkörper 97 Die Synthese solcher Polypeptide ist bisher bis zu einer 18gliedrigen Kette, einem Okta- dekapeptid aus 3 Molekülen 1-Leucin und 15 Molekülen Glykokoll, fortgeschritten; neben den Mono amino säuren sind auch die Eiweißbasen in die Synthese einbezogen worden; neben den erst verwendeten race- mischen sind später meist die optisch ak- tiven Aminosäuren zum Aufbau der Peptide benutzt worden; ebenso sind Amide der Aminosäuren und Peptide dargestellt. Mit dem Aufbau der Peptide ist die Frage nach der Struktur des Eiweißes im Prinzip gelöst; denn die Peptide stimmen mit den Eiweißkörpern in ihren wesentlichen chemischen Eigenschaften überein. Die komplizierten Polypeptide stehen in bezug auf Löslichkeit, Fällbarkeit und andere Eigenschaften den natürlichen Peptonen sehr nahe; ja einige werden wie Albumosen ausgesalzen. Bei dem kombinierten Abbau von Eiweiß durch Salzsäure, Trypsin und Alkali gelangten E. Fischer und andere zu Peptiden, die sich mit synthetischen Peptiden als identisch erwiesen. Daß diese Struktur nicht ausreicht, davon wird unten noch die Kede sein. Vor allem sind die natürlichen kolloidalen Eiweiß- körper zweifellos noch viel komplizierter ge- baut als selbst das Oktadekapeptid mit dem Molekulargewicht 1213, obwohl dies schon eines der höchsten Molekulargewichte bei einem bekannten Körper ist. Aber die Peptone, die aus diesen kolloidalen Eiweiß- körpern entstehen, sind im wesentlichen Polypeptide. Durch die Peptidstruktur werden folgende Eigenschaften der Eiweißkörper erklärt: 1. Die Tatsache, daß die Eiweißkörper aus so sehr differenten Spaltungsprodukten sich aufbauen und doch alle in ihren Eigen- schaften außerordentlich gleichartig sind. Auch wird hierdurch verständlich, daß die Spaltung der Eiweißkörper durch die verschiedensten Reagenzien so sehr gleich- mäßig verläuft und nicht bald da, bald dort, sondern immer an dem präformierten locus minoris resistentiae angreift. Im Gegensatz zu den Kohlehydratfermenten, die für die einzelnen Polysaccharide spezifisch sind, werden alle Eiweißkörper von den gleichen Fermenten gespalten. 2. Die Biuretreaktion. Sie ist eine Rotfärbung, die das Biuret und entsprechend gebaute Körper beim Zusatz von Natron- lauge und wenig Kupfersulfat geben. Sie wird von allen Verbindungen gegeben, welche zwei — CONH2- Gruppen an einem Kohlen- stoff- oder an einem Stickstoffatom oder direkt miteinander vereinigt besitzen. Im Eiweiß liegt hiervon die Kombination -CHNH- CONH— vor. Diese Reaktion wird von den meisten Peptonen und ebenso von vielen synthetisch aufgebauten Peptiden gegeben. Ganz klar ist bisher nicht, nach welchen Regeln bei den synthetischen Peptiden die Biuret- reaktion auftritt oder fehlt, und ebenso- wenig ist klar, weshalb die Biuretreaktion bei gewissen Peptonen, die sich sonst nicht von anderen Peptonen unterscheiden, fehlt, weshalb manche Peptide und Eiweißkörper eine rote, andere eine viel undeutlichere violette Reaktion geben. 3. Das Verhalten zu den Eiweiß- fermenten. Durch die Fermente vom Typus des Trypsins und Erepsins werden die Eiweißkörper und die Di- und Polypeptide i in Aminosäuren zerlegt, aber keine anderen Körper angegriffen (siehe unten). 4. Der gleichzeitig saure und ba- sische Charakter der Eiweißkörper. Wie bei den Eiweißsalzen eingehend aus- einandergesetzt werden wird, ist das Eiweiß an sich in wässeriger Lösung nahezu neutral, kann aber mit Säuren und Basen Salze bilden. Geradeso verhalten sich bis in alle Einzelheiten hinein die Aminosäuren, die ! das Eiweiß aufbauen. Nun ist aber die oben geschilderte Verknüpfung, bei der die Amino- gruppe der einen mit der Carboxylgruppe der anderen in Verbindung tritt, die einzige, durch die der Doppelcharakter der Amino- säuren gewahrt bleibt. Das Glycylglycin H2NCH2CONHCH2COOH und das Diglycylglvcin H2NCH2CONHCH2CONHCH2COOH sind ebensogut Aminosäuren wie das Glyko- koll selbst. Fände die Verknüpfung nur durch die Aminogruppen statt, so würden die freien Carboxyle das Eiweiß zur Säure machen, umgekehrt würden Verknüpfungen zweier Carboxylgruppen die Eiweißkörper zu Basen machen. Der sogenannte Amidstickstoff der Eiweißkörper ist offenbar in derselben Weise gebunden, wie die Aminosäuren aneinander. Er wird durch siedende Säuren, Trypsin und Erepsin abgespalten. Emil Fischer und andere Autoren haben neben den Peptiden auch deren Amide dargestellt, die ebenfalls durch die Eiweißfermente gespalten werden Argin in bin düng. Während in den bisher geschilderten Peptiden ein Stickstoff- atom zwei Kohlenstoffatome miteinander verknüpft, an deren einem ein Sauerstoff- atom steht, also -C-N-C— 0 H H Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 98 Eiweißkörper sind im Arginin durch ein Stickstoffatom zwei Kohlenstoffatome miteinander ver- knüpft, deren keines mit Sauerstoff ver- bunden ist. -C— N— C- H H H Auf diese Art werden Ornithin und Harn- stoff oder Guanidin und Aminovalerian- säure zum Arginin vereinigt. Diese Bindung wird von siedenden Säuren und den Fer- menten vom Typus des Trypsins und Erep- sins nicht angegriffen, dagegen durch sie- dende Alkalien und das Ferment Arginase, wobei Ornithin und Harnstoff entstehen. Der Guanidin- oder Harnstoffrest ist end- ständig, d. h. das Arginin ist nicht anders eingefügt als die einfachsten Aminosäuren. Diese zweite Bindung ist in der über- wiegenden Mehrzahl der Eiweißkörper viel seltener enthalten als die Peptid bindung. Da aber alle heute bekannten Eiweißkörper Arginin enthalten, ist sie ebenfalls charak- teristisch für das Eiweißmolekül. In den Historien, wichtigen Eiweißkörpern voiwie- gend der Zellkerne, ist der vierte Teil des Stickstoffs in der Form von Arginin ent- halten. Noch höher ist der Arginingehalt in manchen Protaminen und in den Prot- aminen Salmin, Clupein und Scombrin sind % des Stickstoffs Arginin, d. h. etwa 2/3 Guanidin. In ihnen — sie sind die einzigen ganz aufgelösten Eiweiße - - kommt auf je 2 Moleküle Arginin nur je 1 Molekül einer Monoaminosäure, d. h. es müssen in ihnen 2 Moleküle Arginin miteinander verbunden sein; sie enthalten Diarginidkomplexe und die Untersuchung der Protone, der pepton- artigen Spaltungsprodukte dieser Protamine, hat ergeben, daß die Anordnung der Bau- steine im Molekül eine symmetrische ist, d. h. daß die Aminosäuren zuerst zu Di- arginylvalin, Diarginylprolin usw. zusammen- gefügt und erst diese zum Protamin ver- einigt sind. Bei diesen Protaminen wird durch Arginase und durch Alkaliwirkung ein Teil des Harnstoffs, zweifellos dem end- ständigen Arginin entsprechend, abgespalten, während die Peptidbindungen des übrigen Moleküls erhalten bleiben. Bei den anderen, argininärmeren Eiweißkörpern ist das in- dessen, wenigstens durch Alkali, nicht oder in viel kleinerem Maße der Fall. — Salpetrige Säure spaltet aus dem Lysin Stickstoff ab. Solche Umwandlungsprodukte von Ei- weißkörpern, die durch Alkali oder salpetrige Säure ihrer endständigen Harnstoff- oder Aminogruppen zum Teil beraubt sind, sind unter den Namen Desamidopepton, Des- amidoalbumin usw. beschrieben worden. Lnung der Bausteine im Ei- weißmolekül. Die Art, wie die primären Spaltungsprodukte miteinander verbunden sind, ist bisher besprochen. Weiterhin sind folgende Tatsachen bekannt: Wie Kossei und Weiß gefunden haben, werden' die Spaltungsprodukte des Eiweißes durch Alkalien sehr viel leichter racemi- siert, wenn sie im Eiweiß gebunden, als wenn sie frei sind. Am leichtesten wird dabei das Ornithin racemisiert. Diese Bacemisierung beruht auf der Bildung einer Enolform, bei der das Kohlenstoffatom der Gruppe CH seine symmetrische Beschaffen- heit verliert. Ferner erfolgt die Abspaltung der Amino- säuren verschieden leicht (Anti- und Hemi- gruppe). Seit Schützenberger und Kühne weiß man, daß das Eiweißmolekül gegen die spal- tende Wirkung von Säuren oder Fermenten verschieden resistent ist, und es hat sich späterhin herausgestellt, daß der leicht spaltbare Anteil durch seinen Gehalt an Tyrosin und Tryptophan, der schwer spalt- bare durch Phenylalanin, Glykokoll und Prolin charakterisiert ist. Die anderen Aminosäuren gehören beiden Teilen an. Dieser Unterschied in den Bausteinen und die verschiedene Festigkeit der Verknüpfung gehn stets Hand in Hand. Früher nahm man meist an, daß das Eiweiß sich aus mehreren koordinierten Teilen von verschiedener Spaltbarkeit zu- sammensetze. Die einleuchtendere, heute meist akzeptierte Auffassung ist, daß der Abbau durch Säuren und Fermente all- mählich erfolgt. Während die „äußeren'1 Aminosäuren schon abgespalten sind, bleibt ein Kern enthalten, der immer noch Eiweiß ist. Jedenfalls ist die Erscheinung, daß ein Teil des Eiweißes sehr rasch gespalten wird, daß dann aber Körper zurückbleiben, die nach Reaktionen und Eigenschaften sich scheinbar nicht allzuweit vom Aus- gangsmaterial entfernen, und noch den chemischen Charakter der Eiweißkörper be- wahrt haben, bei allen Eiweißspaltungen zu beobachten und praktisch und technisch wichtig. Einen dritten Hinweis auf die besondere Art der Anordnung der Bausteine im Ei- weißmolekül bietet die Pepsinverdauung. Durch Pepsin wird nämlich das Eiweiß in Peptone verwandelt, diese aber nicht in Aminosäuren zerlegt (s. unten). Dabei sind die schließlich entstehenden Körper, die Peptone, zum großen Teil wahrschein- lcin gar nicht besonders hochmolekulare Körper, sondern mit den künstlichen Pep- tiden auf eine Stufe zu stellen, vielleicht entstehen selbst schon Dipeptide durch das Pepsin, dagegen niemals Aminosäuren. Auch wird das Brechungsvermöiren einer Eiweißlösung, eine physikalische Konstante, die molekulare Aenderungen sehr genau zu Eiweißkörper 99 erkennen gestattet, durch die Pepsinver- dauung gar nicht beeinflußt, während die Zerlegung der Peptone in Aminosäuren eine starke Vermehrung des Brechungsvermögens hervorruft. Die einzelnen Pepsinpeptone verhalten sich in der Weise genau wie das ursprüngliche Eiweiß, als durch Säure- oder Trypsinspaltung aus ihnen zunächst einzelne Aminosäuren, darunter Tyrosin und Trypto- phan, abgespalten werden, während der Rest zunächst unverändert bleibt. Der Unterschied der Pepsinspaltung von der völligen Spaltung kann nicht wohl anders gedeutet werden, als daß die Peptone in irgendwie anderer Weise zum Eiweißmolekül zusammengefügt sind, als die Aminosäuren zu den Peptonen oder Peptiden. Andere Atomgruppierungen als die im vorigen Kapitel aufgeführten Aminosäuren und die durch ihre Verknüpfung entstehenden Gruppierungen fehlen im Eiweiß. Der Stickstoff ist ausschließlich als NH3 vorhanden, nicht aber als Nitro-, Nitroso- oder Azostickstoff, was dadurch bewiesen wird, daß für das Eiweiß wie für alle seine Spaltungsprodukte die Bestimmung nach Kjeldahl ziemlich denselben Wert liefert wie die nach Dumas. Der Kohlenstoff gehört teils der Fett- reihe, teils der aromatischen an. Die Ein- fügung beider ist nicht verschieden. Hetero- zyklische Gruppen sind das Tryptophan, das Histidin, das Prolin und die Oxy-a- Pyrroliclincarbonsäure. Hydroxylgruppen enthalten von den Spaltungsprodukten das Tyrosin, Serin und die Oxy-a-Pyrollidin- carbonsäure. Aldehyd- und Ketongruppen enthält das Eiweiß nicht Gruppen O.CH3 und O.C2H5. 4. Zusammensetzung aus den einzelnen Aminosäuren. Die qualitative Zusammen- setzung der Eiweißkörper aus den einzelnen Gruppen schien anfangs eine sehr verschiedene zu sein. Mit der Verbesserung der Darstellungs- methoden haben sich diese Unterschiede aber immer mehr verwischt. Seit Kossei sichere Methoden zur Darstellung des Lysins, Arginins und Histidins angegeben hat, haben sich das Arginin in allen, die beiden anderen in nahezu allen Eiweißkörpern gefunden. E. Fischers Methode für die Monoamino- säuren hat ebenfalls eine große Ueberein- stimmung ergeben. Am wenigsten Bausteine (Ornithin, Harnstoff, Alanin, Prolin) ent- hält das Protamin Scombrin, dann folgt mit fünf Spaltungsprodukten (Ornithin, Harn- stoff, Serin, Valin, Prolin) das Protamin Salmin, dann Clupein, Sturin und andere Protamine, die alle kein Cystin und wech- selnde, aber immer nur wenige Monoamino- säuren enthalten. Alle übrigen Eiweiß- körper enthalten immer die meisten Bau- steine mit nur einigen Ausnahmen. So ebensowenig die fehlt das Glykokoll dem Casein, Zein, Globin und Serumalbumin, das Tyrosin dem Leim, das Tryptophan dem Leim und dem Zein, das Lysin dem Zein, Gliadin und anderen alkohollöslichen Pflanzeneiweißen. In einer Anzahl anderer sind einzelne Spaltungs- produkte, auch gut bestimmbare, in so winziger Menge vorhanden, daß man an eine Beimengung anderer Eiweißkörper denken muß. Diese ist schon bei den kristallisierenden Eiweißen oft schwer auszuschließen, noch schwerer aber ist das der Fall bei den Ei- weißkörpern der Stützgewebe, die immer in Wasser und Salzlösungen, häufig auch in ver- dünnten Säuren und Laugen unlöslich sind. Diese werden dann in der Regel so gewonnen, daß die übrigen Eiweißkörper weggelöst werden, und der unlösliche Rückstand das betreffende Gerüsteiweiß darstellt. Dabei muß man dann gewöhnlich zwischen der Gefahr, ungelöste Reste eines anderen Eiweißes mitzubekommen, und der Gefahr, das Ge- rüsteiweiß zu spalten, durchlavieren, und die Analysen des Leims, Elastins usw. be- sitzen immer eine gewisse Unsicherheit. Hauptsächlich aber müssen die Unter- schiede der einzelnen Eiweißkörper nicht sowohl auf Verschiedenheiten ihrer Bau- steine beruhen, als darauf, daß diese Bau- steine in verschiedener Menge und verschie- dener Anordnung auftreten. Die Menge ist sehr different, da die meisten Spaltungs- produkte nicht einmal, sondern mehrfach im Eiweißmolekül auftreten. So zeigt ein Vergleich des Histidins mit dem Tyrosin, daß im Globin mindestens 10 Histidin- moleküle vorhanden sein müssen. Legt man das aus den Analysenzahlen berechnete mindeste Molekulargewicht des Hämoglobins von 16 669 zugrunde, so ergeben sich sogar 12 Moleküle Histidin. Entsprechend be- rechnen sich aus dem Arginingehalt des Zeins 17 Moleküle Glutaminsäure, aus dem Tyrosingehalt des Gliadins 38 Moleküle Glut- aminsäure. Das Salmin enthält 10 Moleküle Arginin auf 1 Molekül Valin oder Prolin. Bei der partiellen Spaltung des Eiweiß- moleküls finden sich die meisten Amino- säuren sowohl in dem zerlegten Teil als im unangegriffenen Rest, müssen also an verschiedener Stelle des Moleküls oder in verschiedener Bindung vorhanden sein. Es ist wohl möglich, daß die durch die letzte Beobachtung wahrscheinlich gemachte verschiedene Anordnung der Aminosäuren im Molekül auch eine Rolle spielt, bisher ist nur die Gesamt menge der auf die einzelnen Eiweiße kommenden Aminosäurenmenge bestimmt worden, und es hat sich dabei gezeigt, daß jedem Eiweiß eine ganz bestimmte und konstante Zusammensetzung aus Amino- säuren zukommt, die es von jedem anderen Eiweiß unterscheidet. Diese Zusammenset- 100 Eiweißkörper zung ist daher die gegebene Grundlage für die Einteilung der Eiweißkörper, und es hat sich ergeben, daß den älteren Gruppierungen, die sich auf den physikalischen Eigenschaften, der Löslichkeit usw. der natürlichen Ei- weißkörper aufbauten, auch Uebereinstim- mungen in der Zusammensetzung aus den Aminosäuren entsprechen. Im speziellen Teil werden bei jeder Gruppe die für sie charak- teristischen Mengen der Bausteine angegeben werden. Die folgende Tabelle enthält die Zusammensetzung weitgehend aufgelöster und besonders typischer Eiweißkörper. Ornithin und Harnstoff sind zusammen als Arginin aufgeführt. Die Zahlen beziehen sich auf 100 g Eiweiß, am Schluß ist in Prozenten angegeben, wieviel von den Bausteinen be- kannt ist: Glykokoll . . . Alanin .... Valin Leucin .... lsoleucin2) . . Asparaginsäure. Glutaminsäure . Prolin Oxyprolin . . ' Phenylalanin . Tyrosin . . . Tryptophan . . Histidin .... Arginin .... Lysin Serin Cystin _..... Ammoniak . . o 4,J9 301) 4,43 7,7 2,34 i,°4 4,24 2,1 0,56 2,53 o.Q5 .0 C =3 5 -° --I -^ 1-3 ■S'3 3£ .5 » OS -ti 'S E = o CS3f* 0 £ o 5 -^ s •SS >> cd G 3 CD Om 3,0 3,6 1,0 15,0 2,0 10,4 3,6 2,5 3,82 +3) + 3,o 4,0 0,8 1,17 vorn. 0,5 4,0 0,9 7,8 o,5 13,6 3,3 2,5 2,2 + 2,66 5,o6 3,26 + i.47 3,8 0,6 0,38 0,89 1 0 3,6 2,33 2,08 4,65 2,0 6,2 i,5i 0,24 0,21 14,5 8,7 8,0 5,95 5,6i 4,5 3,85 5,3o 0,91 0,58 14,5 12,94 16,97 23,42 37,33 i,7 3,65 3,22 4,23 7,06 2,4 3,55 3,75 i,97 2,35 2,1 3,°3 i,55 4,25 1,20 + + + + 2,19 i-47 1,69 1,76 0,58 14,17 14,29 n,73 4,72 3,i6 1,65 1,04 4,98 1,92 0 2,28 1,80 2,05 4,01 5,ii o 1,34 1,40 7,o 1,32 43,20 13,73 5,o3 1,67 1,28 2,16 o o 9,79 8,98 19,55 i,73 26,17 9,04 6,55 3,55 o 0,82 i,55 o 4,87 | 3,64 o,5 3,46 11,8 3,66 1,46 2,2 6,31 + 1,21 14,36 7,7 1,66 3 6 o o 11 o o o o 87 o o o Summe .... 1 60 | 55 | 49 I74 60 | 62 ,59 *) Wahrscheinlich Summe von Valin, Leucin und lsoleucin. 66 83 92 55 100 2) lsoleucin ist selten bestimmt, 3) + bedeutet vorhanden, Vollständig aufgelöst sind demnach nur 2 Protamine, bei allen anderen fehlt der vierte Teil und mehr, da bei der Aufspaltung der Eiweißkörper ja Wasser eintritt, und somit die Summe der Aminosäuren 100% übersteigen müßte. Doch hat man allen Grund anzunehmen, daß das Defizit nur darauf be- ruht, daß die Estermethode, wenigstens wenn man alle Aminosäuren gleichzeitig bestimmen will, nur Minimalwerte liefert. Bei den Eiweißkörpern der Pflanzensamen, die von den komplizierten Eiweißkörpern am sorg- fältigsten untersucht sind, fehlt nicht mehr allzuviel zur vollständigen Auflösung. Die physikalischen Eigenschaften der einzelnen Eiweißkörper lassen sich aus ihrem Aufbau aus Aminosäuren bisher nicht erklären, es läßt sich nur feststellen, daß das Fibrom der Seide und der ihm nahestehende charak- teristische Eiweißkörper der Spinnenfäden auf lallend reich an Glykokoll und Alanin sind, die Hornsubstanzen viel Tyrosin und besonders Cystin enthalten, die Eiweiße der (ietreidearten 1. alkohollöslich sind und 2. kein Lysin enthalten usw. Die Frage, ob die entsprechenden Ei- weißkörper bei verschiedenen Tieren und Pflanzen identisch sind oder nicht, ist bisher nur bei einzelnen Gruppen von Eiweiß- körpern systematisch untersucht worden. Osborne hat bei den Eiweißkörpern der Pflanzensamen festgestellt, daß Pflanzen, ; die morphologisch keine Aehnlichkeit be- sitzen, auch ganz verschiedene Eiweißkörper als Reservestoffe für den wachsenden Embryo in ihren Samen angehäuft haben. Nahe ver- wandte Pflanzen haben dagegen auch Samen- eiweiße, die sich außerordentlich nahe stehen, und nur unbedeutende, häufig schwer fest- i stellbare Differenzen in der Zusammen- j setzung zeigen. Ganz identisch scheinen die Sameneiweiße indessen bei zwei ver- schiedenen Arten, selbst einer Gattung, nie zu sein, die Zusammensetzung des Samen- eiweißes ist daher so gut Artmerkmal wie die anatomischen Unterschiede. Eine Anzahl von Fischen enthält in ihren Spermatozoon charakteristische, stark basische Eiweißkörper, die Protamine, und die Untersuchungen Kos s eis haben gelehrt, daß jede der bisher untersuchten Arten ihr eigenes Protamin besitzt. Beziehungen Eiweißkörper 101 zwischen Aelmliclikeit der Protamine und Verwandtschaft der Arten im System liegen nicht vor. Abderhalden hat die Aminosäuren der Fibroine verschiedener Seidensorten be- stimmt, und ebenfalls unverkennbare Unter- schiede gefunden. Ebenso sind die Keratine der Haare verschiedener Tiere erheblich ver- schieden. Menschliche Haare haben einen gehalt fast doppelt so hohen Schwefel- und Cystin- als die von Pferden oder Schafen. Robert und Reichert und Brown haben die Kristallformen der Hämoglobine einer großen Anzahl verschiedener Tier- arten untersucht, und dieselben immer odsr fast immer deutlich unterschieden gefunden, wobei freilich nicht gesagt ist, daß diese Unterschiede unbedingt auf chemischen IOO r- J2 Sturin Stör Leim Hörn Rind I laare Pferd Elastin Nacken- band Fibroin Canton- seide Seiden - leim Canton- seide Casein Kuhmilch Casein Frauen- milch Vitellin Hühnerei Globin O 0 19,25 o.34 4,7 25,75 37,5 1,2 0 0 0 0 Glykokol o + 3,o 1,2 i,5 6,58 23,5 9,2 0,9 1,2 0,75 4,i9 Alanin 4,3 0 5,7 0,9 1,0 6,69 1,87 Valin o + 6,75 18,3 7,i 21,38 i,5 5,o 7,92 i,43 8,8 9,87 29,04!) Leu ein Isoleucin o 0 0,56 2,5 0,3 o,75 2,5 1,2 1,0 2,13 4-43 Asparaginsäure o 0 14,0 14,0 viel 0,76 0 2,0 io,77 io,95 12,95 i,73 Glutaminsäure II 7,7 6,4 3,6 3,4 i,74 1,0 2,5 6,7 0,23 * iS 2,34 1,04 Prolin Oxyprolin o 0 viel 3,° + 3,89 1,6 0,6 3,5 2,8 2,54 4,24 Phenylalanin o 0 0 4,58 3,2 o,34 9,8 2,3 4-5 4,7i 3,37 i,33 Tyrosin 0 0 0 0 2,0 T + Tryptophan o 12,9 0,4 + 0,61 o,53 2,6 1,90 10,96 Histidin 87 61,8 9,3 2,25 4,45 1,86 + 4,8 7,46 5,42 Arginin 0 12,0 5-6 + 1,12 2,48 5,8 4,81 4,28 Lysin 7,8 0,4 o,7 0,6 i,5 5,8 o,43 0,56 Serin 0 0 0? 6,8 7,98 0? + 0,31 Cystin 0 0 043 0,05 Spur i,5 i.S 1,25 o,93 Ammoniak 100 74 i 64 | 36 die unter Leucin angegebenen nicht quantitativ bestimmt. f->5 Zahlen 78 beziehen 32 | 62 sich auf die I 54 l 7i I Summe von Leucin und Isoleucin. Unterschieden der Hämoglobine selbst be- ruhen müssen, da die Blutkörperchen und das aus ihnen sich zunächst abscheidende Hämoglobin noch andere Stoffe enthalten. Für das Blutserum gestattet die bio- logische Reaktion, sichere Unterschiede zwi- schen allen Arten zu machen, wobei wieder- um nahe verwandte Alten ähnliche Reak- tionen geben, entfernt stehende nichts Ge- meinsames haben. Freilich ist nicht sicher, wieweit die Reaktion auf den Eiweißkörpern beruht. Selbst bei sehr wirksamem Prä- zipitin wird nur ein sehr kleiner Teil, weit unter 1 % des reagierenden Eiweiß, gefällt, und chemisch sind Serumeiweiß und Milch- oder Eiereiweiß einer Art jedenfalls ver- schiedener, als die durch die biologische Reaktion zu unterscheidenden zwei Serum- eiweiße. Die Präzipitinreaktion erlaubt somit kein sicheres Urteil, ob die Spezifizität der Art bereits bei dem chemischen Bau der Eiweißkörper beginnt. Noch weniger ist über die Organeiweiße bekannt. Nur in einzelnen Organen, wie den Muskeln oder dem Fischsperma, sind spezifische Eiweiße gefunden worden. Sonst wissen wir, daß wir aus dem Protoplasma aller drüsigen Organe Proteide und Globu- line isolieren können; aber wir wissen nicht, ob bereits an diesen Körpern die Spezi- fizität der Organe haftet, ob die einzelnen chemischen Individuen die Funktion der Organe bedingen, oder ob nicht vielmehr aus gleichen chemischen Körpern das Proto- plasma sich in jeweils besondeter Art und Weise aufbaut, Mein- charakteristische Eigenschaften zeigen die Eiweißkörper der Gerüstsubstanzen, die also kein Teil des Protoplasmas, indessen von ihm gebildet sind. Die Kollagene, Keratine, Fibroine, Elastiu, Amyloid und Konchiolin sind ganz typisch gebaute Körper, deren Artspezifizität bei "Keratin und Fibroin feststeht, beim Kollagen wahrscheinlich ist. 5. Fermente. Eiweißspaltende Fermente sind unter den lebenden Wesen außerordent- lich weit verbreitet, ja wahrscheinlich pro- duzieren alle Organismen und vielleicht alle Zellen derartige Fermente. Folgende Fermente sind genauer unter- sucht: 1. Pepsin. Es wirkt nur in Gegenwart 102 Eiweißkörper von H-Ionen, am besten zusammen mit einer etwa n/10- Salzsäure. Es greift alle nat iirlichen einfachen und zusammengesetzten Eiweiße an, wenn auch manche Gerüst- eiweiße, wie besonders das Keratin, sehr schwer, in dicker Schicht praktisch kaum löslich sind; nicht angegriffen werden die Protamine. Ungelöste und gelöste Eiweiß- körper werden zunächst wenigstens zum größten Teil in sogenanntes „Acidalbumin" verwandelt und dann in Albumosen und Peptone gespalten; auch hier ist die Spal- tung des Eiweißes eine allmähliche, es treten Peptone und Acidalbumin neben- einander auf. Es scheint, daß die Wirkung des Pepsins sich in der Art und Reihenfolge der Spaltungsprodukte nicht von einer Ei- weißspaltung unterscheidet, die durch n- Salzsäure oder schwächere in der Siedehitze vor sich geht, daß das Pepsin also die Wir- kung der H-Ionen nur katalytisch beschleu- nigt. Dagegen unterscheidet sich die Pepsin- spaltung in Gegenwart schwacher Säuren dadurch von der Spaltung durch starke Säuren, daß sie nicht über die Peptonstufe hinausgeht, und daß keine Aminosäuren ge- bildet werden. Diese Tatsache ist von Kühne gefunden und seitdem immer wieder bestätigt worden. Die bei monatelang fort- gesetzten Versuchen bisweilen in Spuren gefundenen Aminosäuren entstehen durch Säure-, nicht durch Fermentwirkung. Die künstlichen Peptide werden von Pepsin alle nicht angegriffen. Bei bestimmten geronnenen Eiweißkör- pern, dem Myosin und besonders dem Fibrin, ist es für die Pepsinwirkung er- forderlich, daß die Eiweißkörper in Säuren quellen, und alle Substanzen, die diese Quellung verhindern, stören die Pepsin- wirkung. Doch dürfen derartige, am Fibrin gemachte Beobachtungen nicht verallge- meinert werden. Die Widerstandsfähigkeit der Eiweiß- körper gegen Pepsin ist verschieden; so wird das Serumalbumin leichter als das Eieralbumin gespalten, am schwersten das Serumglobulin. Die Verdaulichkeit des Eiweißes wird durch trockenes Erhitzen, ja schon durch Kochen von im Wasser sus- pendiertem Eiweiß sehr erheblich vermindert. Das Pepsin wird von bestimmten Drüsen der Magenschleimhaut der Wirbeltiere sezer- niert. Eiweißlösende Fermente, die am besten oder ausschließlich bei saurer Reaktion wirken, sind bei Wirbellosen und Ein- zelligen mehrfach beschrieben, aber nicht hinreichend studiert, um ihre Beziehungen zum Pepsin feststellen zu können. Die Pepsine der verschiedenen Wirbeltiere zeigen keine Differenzen, die berechtigen würden, ihre Identität zu bezweifeln. 2. Trypsin. Es löst Eiweiß am besten bei der Reaktion einer verdünnten Bikar- bonatlösung, ist aber von der Reaktion wenig abhängig. Es löst die große Mehrzahl der natürlichen Eiweißkörper auf: Eine Ausnahme ist die Muttersubstanz des Glutins, das soge- nannte Kollagen, andere Gerüsteiweiße, wie das Keratin, werden wenigstens sehr schwer an- gegriffen, und sind in einigermaßen dicker Schicht praktisch unverdaulich. Eine zweite Ausnahme sind die Albumine, das Eier- und besonders das Serumalbumin, solange sie sich in kolloidalem Zustande befinden. Sie binden das Trypsin zwar wie andere Eiweiß- körper, werden aber nicht oder so gut wie nicht gelöst und hindern dadurch die Trypsin- Wirkung auf andere Eiweißkörper. Ge- kochtes oder mit Säure behandeltes Albumin ist nicht schwer verdaulich. Das Trypsin bildet zunächst Peptone, zerlegt aber allmählich einen großen Teil in Aminosäuren. Ob alle Amino- säuren zunächst in Form von Pepton aus dem Eiweiß hervorgehen oder die leiclr- test abspaltbaren, wie das Tyrosi, ndirekt abgespalten werden, ist ungewiß. Die schwer spaltbaren Peptone nennt man Antipeptone, der gar nicht angreifbare Rest gibt keine Biuretreaktion. Seine Menge ist bei den einzelnen Eiweißkörpern verschieden, beim Casein höchstens 15%, beim Edestin fast die Hälfte, beides nur nach wochenlang fortgesetzter Verdauung. Nach kürzerer Verdauung findet man erhebliche Mengen Pepton. Die Trypsinverdauung geht etwas weiter, wenn die Eiweißkörper erst mit Pepsin peptonisiert, dann erst mit Trypsin gespalten werden, beim Casein vermindert sich die übrigbleibende Peptonmenge auf etwa 8 %. Aus den Pepsinpeptonen werden Tyrosin und Tryptophan ganz, aridere Amino- säuren zum Teil durch Trypsin abgespalten. Der Nachweis, daß das Trypsin einen Teil des Eiweißes unangegriffen läßt, und wie groß der Anteil ist, wird am sichersten durch die Darstellung des unverdauten Restes geliefert. Außerdem aber existiert eine besondere Methode, die Formol- titrierung von Sörensen, die den Spaltungsgrad der Eiweißkörper zu erkennen gestattet. Das Prinzip der Methode beruht darauf, daß Aminosäuren, Peptone und Eiweißkörper neutrale Körper sind, daß sie aber durch Hinzufügung des eben- falls neutralen Formaldehyds in die Me- thylenverbindungen überführt werden, die Säuren sind. CH3 CH3 HCNH2+H2CO=HCN:CH2+H20. COOH COOH Man neutralisiert die zu untersuchende Lösung genau mit Lackmus, behandelt sie mit Formol, und titriert sie dann mit Phenol- Eiweißkörper 103 phthalein bis zur starken Rotfärbung. Die Menge des zu dieser Titration verbrauchten Alkalis ist ein Maß für die Menge der freien NH2- Gruppen, die mit Formol reagieren können. Da auch Ammoniak reagiert, muß es anderweit bestimmt und abgezogen werden. Wenn man nun ein Eiweiß mit Trypsin verdaut, das Verdauungsgemisch der Formol- titration unterwirft, es nachher durch sie- dende Säuren spaltet und es nun von neuem formoltitriert, so erhält man einen höheren Wert als Beweis dafür, daß neue NH2- Gruppen frei geworden sind. Nach dieser Methode gemessen, bleiben von Witte- pepton und von Casein auch nach einer Trypsinverdauung von 14 und 25 Tagen reichlich 40 % der Peptidbindungen un- gelöst. In anderen Reihen blieben in einem Tage etwa 60, in 6 Tagen um 50 % unan- gegriffen. Andererseits kann die Formol- titrierung dazu benutzt werden, um das Vorhandensein eines Ferments zu beweisen, das über die Peptonstufe hinaus Peptidbin- dungen löst. Von den künstlichen Peptiden wird durch Trypsin ein Teil gespalten. Der Angriff des Ferments auf Racemkörper erfolgt asym- metrisch, und Dipeptide, in denen eine oder beide Komponenten die optischen Antipoden der natürlichen Aminosäuren sind, werden überhaupt nicht angegriffen. Außer- dem werden aber noch eine Reihe Peptide, die aus den natürlichen Aminosäuren be- stehen, nicht angegriffen. Der Grund ist so wenig klar, wie die Differenz zwischen Hemi- und Antigruppe bei den natürlichen Eiweißkörpern. Die Racemisierung der natürlichen Eiweißkörper durch Alkali ver- nichtet oder vermindert auch ihre Ver- daulichkeit durch Trypsin. Das Trypsin löst nur die Peptidbindung, wirkt aber auf andere Stoffe, auch chemisch ähnliche, z. B. die Hippursäure, nicht ein. C6H5— CO— NH— CH2- COOH Hippur- säure, NH2-CH2-CO-:-NH-CH2-COOHGlycyl- glycin. Das Trypsin wird von der Pankreas- drüse der Wirbeltiere sezerniert, und durch die von der Darmschleimhaut sezernierte Enterokinase aktiviert. Trypsinähnliche Fermente, die viel- leicht mit dem Trypsin identisch sind, sind unter den Wirbellosen sehr weit verbreitet, z. B. in der Mitteldarmdrüse der Cephalo- poden, bei Echinodermen usw. Auch in Pflanzen kommen derartige Fermente vor, z. B. das Papayotin, das Aminosäuren frei macht, daneben aber Peptone bestehen läßt, anscheinend mehr als das Trypsin. Papayotin soll bei 80° ein Optimum haben. 3. Erepsin. Es wirkt am besten bei neutraler oder der Reaktion einer verdünn- ten Bikarbonatlösung, ist aber wenig von der Reaktion abhängig. Es wirkt auf die kolloidalen oder Eiweiß- körper im engeren Sinne gar nicht ein, die Histone und das Casein werden von ihm gespalten, aber langsam und unvollkommen; die verschiedenen Albumosen und die Pep- tone werden von Erepsin weitgehend ge- spalten, ob ganz vollständig ist nicht genau bekannt. Vollständig und sehr schnell werden die Pepsinpeptone zerlegt, so daß die Spaltung erst durch Pepsin und dann durch Erepsin so vollständig ist wie die durch siedende Säuren. Das Erepsin spaltet auch alle unter- suchten künstlichen Peptide. Der Angriff erfolgt asymmetrisch. Hippursäure spaltet es nicht. Das Erepsin ist zuerst im Extrakt der Darmschleimhaut und im Darmsaft der Säugetiere aufgefunden, aber auch im Darm aller untersuchten Wirbeltiere enthalten. Ferner findet es sich in größerer oder ge- ringerer Menge in den Formelementen des Blutes, und in allen oder fast allen unter- suchten Organen, und zwar auch wenn sie von Blutbestandteilen frei sind. Die Fermente der verschiedenen Organe voneinander zu unterscheiden, liegt bisher kein Grund vor; sie werden, da sie Peptone und Peptide spalten, Eiweiß aber nicht, auch als „peptolytische Fermente" be- zeichnet. Ein peptolytiscb.es Ferment der Magenschleimhaut spaltet Peptone bei schwach saurer Reaktion, nicht aber bei Gegenwart von freier Salzsäure in Amino- säuren. Die Gegenwart dieses Erepsins in Magenschleimhautextrakten, z. B. vielen käuflichen Pepsinen, hat schon viel Ver- wirrung hervorgerufen. Nachgewiesen wird das Erepsin durch Verschwinden der Biuretreaktion in Pepsin- peptonen oder durch das Freiwerden von Tryptophan und das Auftreten der Tryp- tophanreaktion in Peptonen und Peptiden oder das Ausfallen von Tyrosin bei Ver- wendung tyrosinhaltiger Peptone und Pep- tide oder die Verminderung der Drehung bei Verwendung von Peptonen, die selbst stark drehen, während die Spaltungsprodukte nur schwach drehend sind, endlich auch durch die Formoltitrierung. 4. Fermente, die Eiweiß lösen, und es vollständig in Aminosäuren zer- legen, also wie eine Kombination von Trypsin und Erepsin wirken. Dahin gehört zunächst ein Ferment der Hefe, die Endotryptase, die Eiweiß an- scheinend vollständig und die künstlichen Peptide so rasch spaltet, daß sie häufig zu Fermentstudien verwendet worden ist. Ferner gehören hierher vielleicht die Fermente der 104 Eiweißkörper Pflanzensamen, durch die das Reserve- eiweiß des Embryos in den Stoffwechsel einbezogen wird. Auch sie bilden große Mengen von Aminosäuren und spalten die künstlichen Peptide. Da sich neben den Aminosäuren in den Samen auch Peptone und vielleicht Peptide finden, ist es aber 1. nicht sicher, ob die Pflanzenfermente das Eiweiß zu Ende spalten, und 2. ist es durch- aus möglich, daß sich in den Pflanzen zwei Fermente finden, deren eines dem Pepsin, das andere dem Erepsin analog ist. Auch in anderen Pflanzenteilen als den Samen kommen eiweißspaltende Fermente vor. Aminosäuren bildet auch das Bromelin der Ananas. Hierher gehören vielleicht auch die auto- lytischen Fermente der Organe. Wenigstens werden die Organeiweiße von ihnen gelöst, und es treten große Mengen Aminosäuren, dagegen nicht oder nur vorübergehend Peptone auf, auch werden Peptide gespalten. Es ist aber ebensogut möglich, daß es sich hier um Erepsin handelt. Denn bei den autolytischen Versuchen wird zwar das in Lösung gehende Eiweiß ganz abgebaut, aber es geht immer nur ein Teil des Eiweiß in Lösung und dieser könnte einem Eiweiß entsprechen, das wie das Histon von Erepsin langsam angegriffen wird. Es ist für die autolytischen Vorgänge typisch, daß die Auflösung der Eiweißkörper, die eigentliche Autolyse sehr langsam erfolgt, die Spaltung zugesetzten Peptons dagegen sehr schnell. In den weißen Blutkörperchen und in der Milz sind zwei Fermente vorhanden, die Eiweiß lösen und Aminosäuren bilden, das eine wirkt in saurer, das andere in alkalischer Reaktion. Hedin bezeichnet das in al- kalischer Lösung wirksame als Lieno-a-pro- tease, das in saurer Lösung wirkende als Lieno-/?-protease. Nach Dakin wirkt auch das Nierenferment bei saurer Reaktion. Die Fermente der Bakterien lösen Ei- weiß, bilden Aminosäuren und spalten Pep- tide, sind aber noch wenig isoliert. Das Bacterium coli commune enthält nur Erep- sin, kein eiweißlösendes Ferment. 5. Arginase. Sie wirkt bei neutraler Reaktion und zerlegt Arginin in Harnstoff und Ornithin, löst also im Gegensatz zu Trypsin und Erepsin die zweite im Eiweiß vor- kommende Bindung, wirkt also wie siedende Alkalien. Es ist schon erwähnt worden, daß sie in den Protaminen, nicht aber in den anderen Eiweißkörpern, diese Bindung auch intraprotein spaltet, Die Arginase ist in reichlicher Menge in der Leber enthalten, außerdem in der Dünndarmschleimhaut, der Thymus und den Lymphdrüsen; im Muskel ist sie in geringer Menge vorhanden, im Blute, der Milz, den Nebennieren und der Galle ist sie nicht sicher, im Pankreassaft nicht nachweisbar. In der Hefe ist sie ge- funden, in Pflanzensamen nicht, 6. Sekundäre Spaltungsprodukte. Bei allen Spaltungen zerfällt das Eiweißmolekül zunächst in die Aminosäuren, diese werden aber dann durch viele Eingriffe weiter ver- wandelt, und diese sekundären Umwand- lungsprodukte des Eiweißes sind zum Teil biologisch und technisch von allergrößter Bedeutung. Rein erhält man sie nur dann, wenn man einzelne Aminosäuren für sich abbaut. Entstehen sie aus dem Eiweiß, so sind sie nicht nur unter sich, sondern auch mit den primär entstandenen Amino- säuren gemengt. 6a) Die künstliche Zersetzung des Eiweißes durch Chemikalien, a) Die Spaltung des Eiweißes durch siedende Alkalien. Die zunächst ge- bildeten Aminosäuren sind optisch inaktiv, und an Stelle des Arginins erscheinen Or- nithin und Harnstoff. Weiterhin wird aus den Aminosäuren Ammoniak abgespalten, und es finden sich statt und neben den Aminosäuren die betreffenden einfachen Säu- ren, Essig-, Propion-, Butter- und Valerian- säure, daneben natürlich in großen Mengen Ammoniak. Nebenher gehen noch andere Prozesse, die zum Auftreten von Ameisen- säure und Kohlensäure führen. Noch ener- gischer wirkt das Schmelzen der Eiweiß- körper mit Kali in Substanz; auch hier treten Fettsäuren auf, aus der Indolamino- propionsäure, dem Tryptophan, wird Indol und Skatol, aus dem Cystin entstehen Schwefelwasserstoff und Merkaptan. Da Skatol, Merkaptan, Schwefelwasserstoff und manche Fettsäuren durch den Geruch leicht nachzuweisen sind, ist das Auftreten bei der Kalischmelze schon früh beobachtet worden, und es wurde die Aehnlichkeit mit der Fäulnis betont, bei der diese Stoffe zum Teil auch auftreten. Aehnlichkeit nicht allgemein Ganz ähnlich wie das Kochen mit AI kalien scheint überhitzter Wasserstoff wirken. ß) Die Oxydation des Eiweißes mit Schwefelsäure und Permanganat oder Bichromat, Hierbei entstehen ebenfalls Fettsäuren, ebenso bei der Oxydation mit Permanganat allein. Das Arginin geht durch Permanganat erst in Guanidinbuttersäure, dann und zwar quantitativ in Guanidin über. y) Die Oxydation mit Wasserstoff- superoxyd. Diese spaltet aus den isolierten Aminosäuren Kohlensäure und Ammoniak ab, und es entstehen die um ein C ärmeren Aldehyde, die dann zum Teil weiter zu den entsprechenden Säuren oxydiert werden. Aus Alanin entstehen so Metaldehyd und Essigsäure, aus Valin Isobutylaldehyd und Buttersäure, usw. Bei der Einwirkung auf Doch gilt diese zu Eiweißkörper 105 das gesamte Eiweiß sind eine Reihe dieser Aldehyde gefunden worden. ö) Die Oxydation mit Salpeter- säure. Es entstehen erhebliche Mengen von Oxalsäure. Aus dem Arginin ent- stehen Nitro arffinin und Nitroguanidin; auch die aromatischen mutlich nitriert. Bausteine werden ver- e) Das Erhitzen mit Brom unter Druck. Es entsteht ebenfalls Oxalsäure, daneben bromierte Fettsäuren. 6b) Die Zersetzung des Eiweiß im Stoffwechsel lebender Wesen, Bakterien, Pflanzen, Tiere. Im Stoffwechsel der Tiere, Pflanzen und Bak- terien wird Eiweiß ab- und aufgebaut. Der Abbau beginnt, soweit wir wissen, ausnahms- los mit der Spaltung des Eiweißes durch Fermente in Aminosäuren. Die Amino- säuren aber werden dann vielfach weiter verwandelt, und das Studium dieser sekun- dären Umwandlungsprodukte ist eins der wichtigsten Gebiete der physiologischen Che- mie. Für diese sekundären Umwandlungs- produkte der Aminosäuren schlagen Acker- mann und Kutscher neuerdings den Namen „Aporrhegmen" vor, der sich in- dessen noch nicht eingebürgert hat. Ihre Bildung durch Fermente wird vielfach ange- nommen, es ist aber bis heute kein Fall be- kannt, in dem die Umwandlung der Amino- säuren in Lösung nach Aufhebung der Struktur und des Lebens der Zelle noch vor sich ginge. Das Studium der sekundären Umwandlungsprodukte ist bei der Hefe und anderen Bakterien relativ einfach, weil hier die gebildeten Körper meist keine weitere Verwertung finden, bei den höheren Tieren, bei denen der Eiweißkohlenstoff Energie- quelle ist, außerordentlich ' schwierig und oft nur auf Umwegen möglich. a) Eiweißzersetzung durch Hefe. Die Hefe enthält ein eiweißspaltendes Ferment, das Eiweiß wie siedende Säuren spaltet. Aus den Aminosäuren wird Ammo- niak und Kohlensäure abgespalten, und der Rest der Aminosäure wird weiter oxydiert. Es scheint, als ob, wie bei der Oxydation mit Wasserstoffsuperoxyd, zunächst immer der Aldehyd entsteht, der einen Kohlenstoff weniger enthält, als die Aminosäure, und daß dieser dann sekun- där entweder zu der betreffenden Säure oxydiert oder zu dem Alkohol reduziert wird. Daneben finden sich bisweilen auch niedere Homologe vor. Das Ammoniak wird zum Eiweißaufbau der Hefe verwendet, die Alkohole und Säuren verbleiben in der Kulturflüssigkeit und können dort nach- gewiesen werden. Aus Valin, Leucin und Isoleucin ent- stehen die drei Alkohole, die zusammen das Fuselöl bilden, Isobutylalkohol, Isoamyl- alkohol und aktiver Amylalkohol: CH3CH3 \> CH I CHNH2 COOH Valin werden zu CH3CH2 CH I CH2OH Isobutyl- alkohol C H3 CH CHo CHNH2 COOH Leucin CH3CH3 CH I CH2 CH2OH Isoamyl- alkohol CHXH CHNH; COOH Isoleucin CH2OH aktiver Amyl- alkohol. Aus Leucin entstehen daneben Iso- valeraldehyd, Isovaleriansäure und Leucin- säure. Aus Glutaminsäure entsteht in der Hauptsache Bernsteinsäure, daneben Bern- steinsäurehalbaldehyd und Oxyglutarsäure. Aus Tyrosin entsteht Oxyphenyläthylalkohol, aus Phenylalanin Phenyläthylalkohol, aus Ornithin vielleicht Butylengiycol. Auch Milchsäure ist ein solches Ümwandlungs- produkt. Der Angriff der Hefe erfolgt asymmetrisch, d. h. es wird nur die natürliche Aminosäure verwandelt, fügt man racemische Aminosäuren zur Hefe hinzu, so bleibt der nicht natürlich vorkommende Antipode ganz oder fast unangegriffen. Die sogenannten Nebenprodukte der al- koholischen Gährung, die ja zum Teil un- erwünscht sind, wie das Fuselöl, zum Teil aber auch die Geschmacks- und Geruchs- stoffe der alkoholischen Getränke bilden, haben demnach gar nichts mit der Umwand- lung des Zuckers in Alkohol und Kohlen- säure zu tun, sondern entstammen dem Eiweißstoffwechsel der Hefe. Seit dieser Erkenntnis hat man auch bereits versucht, die Hefe statt mit Eiweiß mit Ammoniak oder mit bestimmten Aminosäuren zu er- nähren, oder ihr andere Aminosäuren wegzunehmen, doch scheinen die Versuche bei der praktischen Anwendung noch auf Schwierigkeiten zu stoßen. ß) Eiweißzersetzung durch Fäulnisbakterien. Die Zersetzung des Eiweißes durch die ubiquitären Fäulnisbakterien oder die Bakterien des Darmkanals ist eine Zeitlang sehr eifrig studiert worden, und hat " eine Reihe 106 Eiweißkörper Reihe von Bausteinen des Eiweißes erschließen lassen, lange ehe sie selbst direkt gefunden wurden. Später hat man nicht mehr be- liebige „Fäulnisbakterien" auf das Eiweiß wirken lassen, sondern Reinkulturen von bestimmten Bakterien, so den Rauschbrand- bazillusunter anaeioben Bedingungen, andere Anaeroben, den Tuberkelbazillus, den Strep- tococcus longus, das Bacterium coli und den Proteus vulgaris, den Bacillus mesen- tericus vulgatus, der das „fadenziehende Brot" macht, die Bakterien des „Gärström- lings", eines skandinavischen Nahrungsmit- tels, das durch Einwirkung offenbar ganz bestimmter Mikroorganismen auf gesalzene Fische entsteht, die Bakterien, die das Casein der Milch bei der Reifung des Emmen- taler Käses zersetzen und andere. Diese Mikroorganismen verhalten sich zum Teil sehr verschieden, und die Resultate be- sitzen daher ein hohes biologisches Inter- esse. Für die Eiweißchemie sind die Unter- suchungen bedeutsamer, die nicht das ganze Eiweiß, sondern einzelne primäre Spaltungs- produkte der Bakterieneinwirkung aus- setzten. Die Bakterien spalten zunächst das Eiweiß in der gleichen Weise wie die Fer- mente; es entstehen erst Albumosen und Peptone, dann die Aminosäuren. Doch bleibt die Wirkung der Bakterien nur unter be- stimmten Bedingungen, wie bei der nor- malen Käsebereitung, bei ihnen stehen. Sind doch gerade die a-Aminosäuren die besten Nährstoffe der Bakterien. Die Amino- säuren werden in verschiedener Weise weiter verwandelt. Es wird entweder analog wie durch Alkalien o der Oxydations- mittel, das Ammoniak eliminiert, aus den Aminosäuren werden die entsprechenden einfachen Säuren, der Stickstoff des Eiweißes wird zu Ammoniak; oder es wird Kohlendioxyd abgespalten, es entstehen Basen; oder es werden, analog wie bei der Hefe und durch Wasserstoffsuperoxyd, Ammoniak und Kohlensäure eliminiert, und es ent- stehen Aldehyde, Alkohole, Säure nund Oxy- säuren. Ueber Umwandlungsprodukte des Gly- kokolls und Alanins ist nichts ganz Sicheres bekannt. Doch sind Ameisensäure, Essigsäure und Propionsäure bei vielen Fäulnis versuchen gefunden worden, außer- dem Methylamin und Methan. Valin, Leucin und Isoleucin werden durch manche Pilzarten genau wie durch Hefe zu den Alkoholen des Fuselöls. Ferner sind Buttersäure, Valeriansäure und Capron- säure wiederholt bei der Fäulnis gefunden, die wohl zum Teil auf diese Aminosäuren zu beziehen sind. In faulem Fleische ist Isoamylamin gefunden worden. Aus Asparaginsäure wird Bernsteinsäure und Propionsäure, aus Glutaminsäure n- Buttersäure und y-Amino buttersäure ge- wonnen. Für das Phenylalanin ergibt sich aus den älteren Untersuchungen der Abbau: PhenylannnopropionsäureC6H5CH2CHNH2COOH Phenylpropionsäure C6H5CH2CH2COOH PhenylessigKäure C6H5CH2COOH Benzoesäure C6H5CÜOH Daneben ist Phenyläthylamin gefunden. Für das Ty rosin ist folgende Reihe be- kannt : p-Oxyphenylaminopropionsäure C6H4. OH. CH2CHNH2C00H p-Oxvphenylpropionsäure . . C6H4. OH.CH2CH2COOH p-OxvphenVlessigsäure . . . . C6H4. OH.CH2COUH p-OxVmandelsäure C6H4. ()H.CH(OH)COOH p-Kresol C6H4.0H.CH3 Phenol C6H5.OH In faulem Fleisch und abnormem Käse bildet sich p-Oxyphenyläthylamin; auch im Mutterkorn ist ' es enthalten, bei dessen Bildung ja auch Bakterien eine Rolle spielen. Das Tryptophan, die Indolamino- propionsäure bildet Indolpropionsäure, Indol- cssi^säure (Skatolcarbonsäure), Skatol und Indol. Auch die Bildung von Indolaldehyd ist wahrscheinlich, da im Harn ein Farbstoff vorhanden ist, der im Reagenzglas be- sonders leicht aus Indolaldehyd entsteht. Phenol, Indol und Skatol gelten als charakteristische Fäulnisprodukte, da sie wegen ihres Geruches leicht nachweisbar sind, und weil sie als Endprodukte der Darmfäulnis resorbiert und als gepaarte Schwefelsäuren oder Glykuronsäuren im Harn ausgeschieden werden. Urorosein, Skatolrot und Indican, drei Harnfarbstoffe, verdanken den Körpern ihre Entstehung, die aus dem Tryptophan von den Darmbakterien gebildet werden. Aus dem Histidin entstehen Imidazolyl- propionsäure und Imidazolylaethvlamin. Das letztere ist von besonderem Interesse, weil es die oder eine der wirksamen Substanzen des Mutterkorns darstellt. Aus Ornithin entsteht Tetramethylen- diamin oder Putrescin Eiweißkörper 107 CH,NH2 CH, CrLNH, CH2NH2 CIL CH," — C02 CHNH, COOH" außerdem <3-Aminovaleriansäure. Aus Lysin entsteht Pentämethylendia- min oder Kadaverin, CäH14N2, CH2NH CH2 CH, GH.; CHNH 2 CH.NH, CH.; — C02=CH, ch: COOH CH2NH2 daneben vielleicht e-Aminocapronsäure. Aus Arginin können Bakterien Ornithin und dann Putrescin bilden, oder sie können Guanidin bilden, dies aber auch in Harn- stoff verwandeln; im Mutterkorn findet sich Agmatin, C5H14N4, das durch Kohlen- säureabspaltung aus Arginin entsteht. Aus dem Cystin wird Schwefelwasser- stoff abgespalten, ein charakteristisches Fäulnisprodukt, daneben bildet sich Methyl- merkaptan. Doch muß man liier mit Schlüssen auf seine Herkunft sehr vorsichtig sein, da es auch synthetisch gebildet werden kann; auch unterschweflige Säure und Aethyl- sulfid sind beobachtet. Die giftigen Stoffwechselprodukte der Bakterien scheinen Eiweißkörper zu sein, gehören aber nicht hierher. y) Die Spaltung im Stoffwechsel der Pflanzen. In den Samen der Pflanzen befinden sich Eiweißkörper, die dem wachsenden Embryo als Reserve- material dienen und die beim Beginn der Keimung durch proteolytische Enzyme zerlegt werden. Diese Enzyme erzeugen die Aminosäuren. Da nun im Gegen- satz zu den Tieren mit ihrem Zirkulations- system die Aminosäuren nicht fortgeführt werden, bleiben sie in dem Keim oder den Keimblättern liegen. Weiterhin beginnt in den Pflanzen eine Synthese, bei der aus einem Teile der Monoaminosäuren Ammoniak abgespalten wird und dieses sich mit nicht veränderten Monoaminosäuren zu Amiden vereinigt. Aus Asparaginsäure und Glutaminsäure werden Asparagin, C4H8N203, und Glutamin, C5H10N2O3. Beide finden sich als Reservematerial in den Keimen vor, können auch in diesem Stadium transportiert werden. Aus beiden wird dann, durch weitere kompliziertere Syn- thesen, Eiweiß gebildet, eventuell unter Eintritt stickstofffreien Materials, das aus den stets vorhandenen Kohlehydraten, viel- leicht auch aus dem stickstofffreien Rest der Monoaminosäuren, stammen kann. Ueber etwaige Zwischenstufen zwischen Amino- säuren oder Amiden und Eiweiß ist nichts bekannt. Guanidin, Ornithin, Tetra- und Pentamethylendiamin fehlen in allen unter- suchten Pflanzen. Ammoniak findet sich nur, wenn durch Abschluß des Lichtes die Synthese aufgehoben ist. Im späteren Leben bauen die Pflanzen ihr Eiweiß aus Kohlehydraten und anorganischem Stick- stoff, d. h. in letzter Linie Ammoniak, auf. Zwischenglieder in diesem Prozeß sind aber nicht bekannt. Dagegen sind einige besondere Um- wandlungen einzelner Aminosäuren im Pflan- zenreiche bekannt, die wohl speziellen Funk- tionen dienen. So wird das Tyrosin durch ein Oxydationsferment, die Tyrosinase, in rote, braune, schließlich schwarze Pro- dukte umgewandelt. Tyrosinhaltige Pep- tide werden ebenfalls angegriffen, und geben dann zum Teil grüne oder blaue Farben. Auf der Wirkung der Tyrosinase beruht die Buntfärbung der Blätter im Herbst, die Dunkelfärbung an der Schnittfläche von Pilzen, Rüben und anderen Pflanzen, die Bildung des schwarzen Lackes durch den Saft des ostindischen Lackbaumes usw. Sodann findet man in Pflanzen methylierte Aminosäuren, die sogenannten Betaine. Klar sind in ihren Beziehungen zu Eiweißspal- tungsprodukten das Betain oder Trimethyl- glykokoll, das Stachydrin oder Dimethyl- prolin, das Hordenin oder Dimethyl-p- oxyphenyläthylamin, und das Tetramethyl- putrescin aus Hyoscyamus muticus. Die Pyrrolidinderivate sind auf Prolin oder Ornithin zurückzuführen. Auch das Surin- amin und das Trigonellin gehören hierher. Die Bedeutung der Methylisierung und der Betaine für den Stoffwechsel der Pflan- zen ist nicht bekannt. Die Betaine aber stellen in naher chemischer Beziehung zu den Alka- loiden der Pflanzen. Das Methylmerkap- tan, das nach Spargelgenuß im Harn auf- tritt, verdankt seinen Umfang wahrschein- lich auch einem methylierten Umwandlungs- produkt des Cystins in den Spargeln. d) Die Eiweißspaltung im tierischen Stoffwechsel. Das von den höheren Tieren verzehrte Nahrungseiweiß wird im Magen- darmkanal durch die proteolytischen Fer- mente Pepsin, Trypsin und Erepsin in der Hauptsache bis zu den Aminosäuren ge- spalten; ein gewisser Anteil wird vermutlich auch als Pepton resorbiert, das dann in den Organen durch deren proteolytische Fermente ganz aufgespalten wird, verhält sich also schwerlich anders als die Hauptmenge. Jahre- lang war die allgemeine Meinung der Physio- logen, daß das Nahrungseiweiß in Form der Aminosäurenresorbiert, denOrganen zugeführt und dort verwertet werde, sei es um ver- brannt zu werden, sei es um zum Aufbau der Organeiweißes zu dienen. Diesen Aufbau, 108 Eiweißkörper der ja die besondere Funktion des Eiweißes ist, stellte man sich so vor, daß die Amino- säuren dabei so zusammengefügt wurden, wie der Chemiker sie beim Aufbau der Peptide aneinanclerlegt, eine Neubildung von Amino- säuren wurde nicht angenommen, und dem- nach wurde auf den Aufbau der Eiweiße aus verschiedenen Aminosäuren auch für den Stoffwechsel und die ernährende Funktion des Eiweißes Wert gelegt. Diese Anschauung ist neuerdings unhaltbar geworden, es ist wahrscheinlicher, daß der Tierkörper sein Organeiweiß ebenso wie die Pflanze und die Pilze aus Kohlehydraten und Ammoniak aufbaut. Von den Zwischenprodukten dieses Auf- baues und des in der Kegel überwiegenden Abbaues wiesen wir indessen noch relativ wenig. Das Eiweiß verläßt den Körper, verbrannt zu Wasser, Kohlensäure und Harnstoff. Der Weg von den Amino- säuren zu den Endprodukten liegt für uns noch zum großen Teil im Dunkel, und nur bestimmte experimentelle und pathologische Tatsachen gestatten, einige Streiflichter auf ihn zu werfen. 1. Es erfolgt eine Eliminierung des Am- moniaks aus den Aminosäuren. Sie ist bei Fischen beim Durchtritt durch die Darm- wand beobachtet, bei Säugetieren bei Leber- durchblutung. In der Leber werden die Amino- säuren in die betreffenden Ketosäuren über- führt, die nachträglich zu den Alkohol- säuren oder den einfachen Säuren reduziert werden können. Unter pathologischen Um- ständen (Phosphorvergiftung) können die Um- wandlungsprodukte mit dem Harn aus- geschieden werden. Beobachtet sind: Ty- rosin, p-Oxyphenylbrenztraubensäure, p-Oxy- phenylmilchsäure, Phenylalanin, Phenyl- milehsäure ; Phenylaminoessigsäure, Phenylglyoxyl- säure, Mandelsäure, Benzoesäure; Alanin, Milchsäure. 2. Die Eiweißspaltungsprodukte Leucin, Tyrosin und Phenylalanin nebst anderen Körpern werden bei Durchblutung der über- lebenden Leber zu Acetessigsäure, die entweder zu Aceton weiter umgewandelt oder zu Oxybuttersäure reduziert werden kann. 3. Als pathologische Abnormität, bei der sogenannten Alkaptonurie, gelangt ein Körper des intermediären Stoffwechsels, die Homogentisinsäure, zur Ausscheidung. Wenn man auch nicht mit voller Sicherheit ausschließen kann, daß „der Wagen nicht schon früher auf ein falsches Geleise gelaufen" ist, so nimmt man doch allgemein an, daß die weitere Oxydation eines normal entstehenden Kö] ! ehemmt ist und dieser daher durch die ß ' n Körper verläßt, eine chemische Hemmungsmißbildung. Die Homogentisinsäure ist Dioxyphenyl- essio'säure. Sie entsteht aus dem Tyrosin und, dem Phenylalanin. Die drei OH Formelbilder CH2CHNH2COOH CH2CHNH2COOH Phenylalanin Tyrosin OH HO CHXOOH Homogentisinsäure beweisen, daß nicht nur an der Seitenkette, sondern auch am Benzolkern durch gleich- zeitige Oxydation und Reduktion Verände- rungen vor sich gehen, wobei che Bildung chinolähnlicher Zwischenglieder wahrschein- lich ist. Die Alkaptonurie ist oft benutzt worden, um die Beziehung des Tyrosins oder Phenylalanins zu hypothetischen Zwischen- gliedern, die Umsetzung tyrosinhaltiger oder tyrosinähnlicher Körper zu studieren. 4. Eine zweite derartige chemische Miß- bildung ist die Cystinurie, bei der Cystin in größerer oder kleinerer Menge mit dem Harn entleert wird. Bei einem Teil der Fälle erleiden Ornithin und Lysin eine Umwand- lung, indem sie, ganz wie durch Fäulnis- bakterien, unter Abspaltung von Kohlen- dioxyd in Tetra- und Pentamethylendiamin übergeführt und als solche ausgeschieden werden. Es besteht neben der Cystinurie eine Diaminurie oder Ptomainurie. Analog der Alkaptonurie schließt man aus der Ptomain- urie, daß der normale Abbau der beiden Diaminosäuren über die Diamine führt. 5. Eine entsprechende Abspaltung von Kohlendioxyd läßt aus dem Arginin aus dem das Agmatin entstehen, das sich im Heringssperma findet. 6. Eine analoge Kohlendioxydabspaltung ist es, wenn aus Asparaginsäure /5-Ala- nin und aus Glutaminsäure y-Amino- buttersäure entsteht. 7. Durch Kohlendioxydabspaltung und gleichzeitige Oxydation des Schwefels ent- steht aus dem Cystin das Taurin. 8. Methylierungen im Tierkörper sind bei mit Phosphor vergifteten Hunden be- obachtet, die im Harn Trimethyl-}/-ainino- buttersäure ausscheiden; die Muskeln von Krebsen enthalten Betain oder Trimethyl- glykokoll. 9. Im Fleischextrakt und im Harn findet sich Methyl- und Dimethylguanidin, die wenigstens möglicherweise Abkömmlinge des Eiweißes sind. Auch Beziehungen zum Kreatin ergeben sich. Eiweißkörper Kl!) 10. Aus Tryptophan entsteht im Or- ganismus des Hundes y-Oxychinolincar- bonsäure oder Kynurensäure. 11. Glykokoll kann nicht nur direkt aus Eiweiß entstehen, sondern es entsteht im Körper als entgiftender Paarung in solchen Mengen, daß seine Bildung aus anderen Aminosäuren notwendig ist. 12. Physiologisch wichtig, aber chemisch ganz unaufgeklärt ist, daß der größere Teil des Kohlenstoffs des Eiweißes im Körper zu Traubenzucker beziehungsweise Glykogen wird. Der Weg von den Aminosäuren zu den Kohlehydraten ist kein direkter. Vielmehr werden die Spaltungsprodukte offenbar erst sehr weitgehend abgebaut und dann von neuem synthetisiert. Der Kohlenstoff des Gly- kokolls und Alanins wird vollständig in Glucose verwandelt, von den Kohlenstoff- atomen der Asparagin- und Glutamin- säure je drei. Tyrosin und Glukosamin geben keine Glukose. Aus 100g Eiweiß können 58 g Glukose gebildet werden. 13. Umgekehrt wie aus den Beobachtungen bei der Alkaptonurie kann man aus der Nichtverbrennlichkeit mancher Körper darauf schließen, daß sie nicht im Stoffwechsel auf- treten. So wird subkutan gegebenes Tryp- tophan vollständig verbrannt; wenn es aber durch die Bakterien des Darms vorher in Indol verwandelt ist, wird es größtenteils ausgeschieden. Indol ist danach kein nor- males Produkt des intermediären Stoff- wechsels. 14. Unter den sekundären Umwandlungs- produkten von Aminosäuren im Pflanzen- stoffwechsel sind die dunkelgefärbten Stoffe genannt worden, die durch Tyrosinase aus dem Tyrosin entstehen. Ganz ähnliche oder identische Stoffe werden auch im Tierreiche gefunden, und Melanine genannt. Dahin gehören die Tinte der Sepia und anderer Cepha- lopoden, die Pigmente der menschlichen und tierischen Haare, der Negerhaut, des Auges und mancher Geschwülste. Die am meisten untersuchten Melanine der Geschwülste sind in trockenem Zustande schwarze, glänzende Massen, als feines Pulver sehen sie heller, mehr braun aus. Sie sind in Wasser, Säuren, neutralen Salzlösungen, Alkohol, Amylalkohol Aether, Chloroform, Benzol usw. unlöslich, In Alkalien, Ammoniak oder kohlensauren Al- kalien lösen sich die Melanine dagegen leicht zu einer, bei stärkerer Konzentration schwarz- oder braunroten, in größerer Verdünnung gelbbraunen Flüssigkeit auf, aus der sie durch Säuren gefällt werden. Rein dargestellt sind die Melanine aus den Geweben nicht, man hat häufig Gemenge von Melanin mit Eiweißkörpern und anderen untersucht. Die Analysen ergeben etwa 58% C, 4% H, 11% N. Ueber die Humine s. o. Abschnitt 2. 7. Reaktionen. Als chemisch überein- stimmend gebaute Körper haben die Eiweiße eine Reihe von Reaktionen miteinander ge- mein, von denen zwar keine an sich für das Eiweiß charakteristisch ist, die aber, wenn sie alle odercloch mehrere von ihnen zusammen auftreten, einen Körper als Eiweiß erkennen lassen. I. Die Farbenreaktionen. Mit Aus- nahme der Biuretreaktion ist keine der Farbenreaktionen dem Eiweiß als solchem eigentümlich, sie kommen vielmehr alle gewissen anderen Komplexen beziehent- lich Atomgruppierungen zu und werden von dem Eiweiß deshalb gegeben, weil diese Grup- pen im Eiweißmokül in reaktionsfälüger Form enthalten sind. Sie beweisen daher die An- oder Abwesenheit der betreffenden Gruppe und dienen dadurch zur Charakteri- sierung der einzelnen Eiweißkörper. 1. Die Xanthoproteinreaktion. Fügt man zu einer wässerigen Eiweißlösung starke Salpetersäure, so tritt entweder schon in der Kälte, in der Regel erst beim Erwärmen eine tiefe dunkle Gelbfärbung ein, die beim Zusatz von überschüssiger Natronlauge rotbraun, mit Ammoniak schön orangefarben wird. Die Reaktion beruht auf der Bildung von Nitroderivaten und ist der Indolgruppe im Tryptophan und den Benzolderivaten zuzuschreiben. 2. Die Millonsche Reaktion. Kocht man Eiweiß in wässeriger Lösung oder Ei- weiß in Substanz in Wasser aufgeschwemmt mit dem sogenannten Millonschen Reagens, einer Lösung von salpetersaurem Quecksilber- oxyd, die etwas salpetrige Säure enthält, so färbt sich die Flüssigkeit wie der entstandene Niederschlag rosa bis schwarzrot. Die Reak- tion wird von allen Benzolderivaten ge- geben, die einen Wasserstoff durch die Hydro- xylgruppe ersetzt haben; sie entspricht im Eiweiß der Tyrosingruppe, der einzigen Oxyphenylgruppe. Eintritt von Jod in das Tyrosinmoiekül verhindert die Millonsche Reaktion, die daher von Jodeiweißen nicht ge- geben wird. Chlornatrium in etwas stärkerer Konzentration verhindert die Reaktion. 3 . D i e P a u 1 y s c h e D i a z 0 r e a k t i 0 n . Ve r - setzt man eine Eiweißlösung mit Soda und lügt 3 bis 5 ccm einer Soclalösung hinzu, die einige Zentigramm Diazobenzolsulfosäure ent- hält — die am besten frisch aus Sulfanil- säuro bereitet wird — , so tritt eine kirschrote Färbung ein. die beim Verdünnen mit Wasser beständig ist. Beim Ansäuern nimmt die Lösung einen orangeroten Ton an. Die Reak- tion wird von den Eiweißspaltungsprodukten Tyrosin und Histidin gegeben und kommt, da beide sehr verbreitet sind, den meisten Eiweißkörpern zu. 4. Die Schwefelbleireaktion. Wenn man Eiweiß mit Alkalilauge und einem Blei- salz kocht, so bildet sich ein schwarzer Nieder- 110 Eiweißkörper schlag, oder doch zum mindesten eine Schwarz- oder Braunfärbung. Die Reaktion beruht auf der Abspaltung von Schwefel- wasserstoff und der darauf folgenden Bildung von Schwefelblei; sie gehört dem Cystin an. 5. Die Reaktion von Adamkiewicz- Hopkins. Man fügt zu einer wässerigen ; Eiweißlösung einige Tropfen einer wässerigen Lösung von Glyoxylsäure und unterschichtet mit konzentrierter Schwefelsäure. An der Berührungsstelle entsteht ein blauvioletter Ring. Die Reaktion ist sehr empfindlich. Sie beruht auf dem Tryptophan. Auch andere, besonders aromatische, Aldehyde geben mit dem Eiweiß, d. h. dessen Tryptophan- gruppe, farbige Reaktionen. 6. Die Reaktion von Molisch. Diesel Reaktion ist eine Kohlehydratreaktion und { beruht auf der Bildung von'Furfurol. Sie, wird nur von dem Eiweiß gegeben, das eine Kohle- hydratgruppe enthält, d. h. von den Glyko- proteiden. Da viele Eiweißstoffe Kohle- hydrate beigemengt enthalten, und die Reaktion sehr empfindlich ist, hat sie viel Verw irru ng angericht et . 7. Die Biuretreaktion. Fügt man zu einer wässerigen Eiweißlösung eine reich- liche Menge Natron- oder Kalilauge und wenige Tropfen einer verdünnten Lösung von Kupfer- sulfat, so entsteht bei den nativen Eiweiß- körpern eine blau- bis rotviolette, bei den Umwandlungsprodukten, den Albumosen und Peptonen, sowie bei einigen Vitellinen und den Histonen eine rein rote Färbung. Für die praktische Ausführung ist von Wichtig- keit, daß ein Ueberschuß von Kupfersulfat infolge der entstehenden Blaufärbung die Reaktion verdeckt, Auch darf bei Aus- führung der Biuretreaktion nicht erwärmt werden, da heiße Natronlauge viele Peptone zersetzt. Die Biuretreaktion ist dadurch von einer besonderen Wichtigkeit, daß sie im Gegen- satz zu den anderen Reaktionen, mit einer Ausnahme, keinem der nicht mehr eiweiß- artigen Spaltungsprodukte des Eiweißes zu- kommt. Sie wird daher allgemein zur Ab- grenzung des Eiweißes gegen seine einfacheren Spaltungsprodukte benutzt und gewöhnlich als die wichtigste Farbenreaktion der Eiweiß- körper bezeichnet. Denn da Biuret, Malon- amid, Oxamid usw. in der Natur nicht vor- kommen und bei physiologisch-chemischen Arbeiten nicht auftreten, so beweist sie das Vorhandensein von Körpern der Eiweiß- gruppe. Wenn das Eiweiß durch Fermente oder Säuren zerstört wurde, so sah man das Verschwinden der Biuretreaktion als den Be- weis der vollständigen Zertrümmerung des Eiweiß an. Diese "Wertschätzung ist sehr übertrieben. Denn es existieren Peptide und Peptone, die keine Biuretreaktion geben, und von den Aminosäuren zeigt das Histidin eine Andeutung von Biuretreaktion. Doch ist die Scheidung praktisch häufig brauchbar, z. B. bei Zerlegung der Pepsinpeptone durch andere Fermente oder bei der Ausfällung von Eiweiß aus Gewebsextrakten oder zum Nachweis von Peptonen und Albumosen. Die Pepsinpeptone geben die Reaktion noch in einer Verdünnung 1:100000; für Albumosen und natives Eiweiß ist die Empfindlich- keit geringer. Unter den Albumosen scheinen sich Körper zu befinden, die den Eintritt der Reaktion stören. — Die stark basischen Prot- amine geben die Biuretreaktion ohne Alkali- zusatz, das kupferhaltige Hämocyanin ohne Kupferzusatz. IL D i e F ä 1 1 u n g s r e a k t i o n e n. Die Eiweißkörper sind im allgemeinen nur in Wasser löslich und werden daher bei Zusatz von Aceton, Chloroform, Aether gefällt, Am wichtigsten ist die Fällung mit Alkohol. In absolutem Alkohol sind alle EiwTeißkörper unlöslich, der Grad der fäl- lenden Verdünnung ist dagegen bei den ein- zelnen Eiweißkörpern sehr verschieden und dient zu ihrer Charakterisierung. Die alko- hollöslichen Pflanzeneiweiße sind in abso- lutem Alkohol unlöslich, in Alkohol von 90% aber löslicher als in Wasser. Die Chloride und Natronsalze des Eiweißes, zumal des denatu- rierten Eiweißes, sind in Alkohol viel löslicher als die Eiweiße selbst, so daß bei nicht neu- traler Reaktion Alkohol schwer fällt. Wie Basen verhalten sich Harnstoff und alkohol- lösliche Salze, indem sie die Löslichkeit in Alkohol erhöhen. Von dem Aussalzen, von der Hitzekoagu- lation und dem Ausflocken wird in Ab- schnitt ii die Rede sein. Mit einer Reihe von Säuren und Basen bilden die Eiweißkörper schwer- oder unlös- liche Verbindungen und werden so aus wäs- seriger Lösung gefällt. Diese Fällungsreak- tionen zeigen bei den kolloidalen Eiweiß- körpern eine Reihe von Eigentümlichkeiten, 'die ebenfalls in Abschnitt n besprochen werden. Bei den Albumosen und Peptonen treten die Fällungen schwerer ein als bei den eigentlichen Eiweißen, und um so schwerer, je weiter sie vom Eiweiß abstehen. a)Die Fällungen der Eiweißkörper mit Salzen der Schwermetalle. Sie er- folgen bei jeder Reaktion. Die Fällungen sind im Ueberschuß des Eiweißes und des Metall- salzes löslich. Fast alle Schwermetalle fällen, häufige Anwendung finden davon die fol- genden: 1. Eisenchlorid und Eisenacetat. Im Ueberschuß des Eisenchlorids lösen sich die Eiweißfällungen leicht auf. 2. Kupfersulfat und das noch empfind- lichere Kupferacetat. 3. Quecksilberchlorid. Wegen seiner Eiweißkörper 111 desinfizierenden Eigenschaften ist es von praktischer Wichtigkeit. 4. Bleiacetat, basisches und neutrales. 5. Zinkacetat. 6. Uranylacetat. Es wurde bei der Reinigung der Fermente von Eiweißkörpern benutzt. Außer von den Schwermetallen wird das Eiweiß von einer Reihe organischer Basen, Farbbasen, gefällt, so durch Malachitgrün, Brillantgrün, Neufuchsin, Auramin, Phenol- safranin und Rosanilinacetat. Analog verhalten sich einige basische Eiweißkörper, die Historie und Protamine, die in alkalischer Reaktion anderes Eiweiß fällen. 2. Fällung durch Säuren. Alka- loidreagenzien. Als organische Base wird das Eiweiß durch eine Reihe komplexer or- ganischer Säuren, die sogenannten Alkaloid- reagenzien, gefällt. Da aber die Eiweiß- körper sehr schwache Basen sind, so werden die Salze, das phosphorwolframsaure usw. Eiweiß, durch die Ionen des Wassers hydro- lysiert, und die Niederschläge bilden sich nur bei einem Ueberschuß von Säure. Bei alka- lischer Reaktion lösen sie sich wieder auf; ker basische Eiweiße, die nur einige Histone, das Histopepton und besonders die Protamine, werden auch bei schwach al- kalischer oder mindestens neutraler Reak- tion gefällt. Schon bei den eigentlichen Ei- weißen, noch mehr bei den Peptonenund einem Teil der Albumosen sind die Niederschläge im Ueberschuß des Fällungsmittels löslich. Die wichtigsten Alkaloidreagenzien sind: Phosphorwolframsäure, und, seltener angewandt, P ho s p ho r rao 1 y b d an s äu r e. Beide fällen außerdem die basischen Amino- säuren und die meisten Peptone. Phosphor- wolframsaure Pe])tone (und Aminosäuren) sind in Alkohol und Aceton löslich. Gerbsäure (Vorschrift 70 Gerbsäure, 100 g CINa, 50 cm Eisessig ad 1000 Wasser). Sie fällt auch die meisten Peptone. Besonder- heiten s. u. Abschnitt n. Gerbsaure Peptone sind in Aceton löslich. F e r r o cy an w as s er s t o f f s äu r e. Meist als Ferrocyankalium und Essigsäure, in dieser Form klinische Eiweißprobe. Pikrinsäure mit Essigsäure, als ,,Eßbachs Reagens" klinische Eiweißprobe. Joclquecksilberjo dkalium + Salz- säure, sogenanntes Brückesches Reagens. J o d w i s m u t - J o d k a 1 i u m + Jod- wasserstoffsäure (50 KJ, 100 BiJ3 in 100 cm 0,5 JH. Das Fällungsvermögen nimmt zu, wenn die Lösung reichlich Neutralsalze enthält. iVuch Jod-Jod-Kalium, Metaphosphor- säure, Platinchlorid, Quecksilberchlorid, Bromwasser, Allotellursäure fällen Eiweiß. Ebenso verhalten sich manche saure Anilin- salze, die gefärbte und daher gut erkenn- bare Niederschläge geben. Fällende Eigen- schaften besitzen auch einige, komplizierte organische Säuren, Nucleinsäure Taurochol- säure, Chondroitinschwefelsäure, auch sie nur bei saurer Reaktion. Etwas verschieden von dem Besprochenen ist die Fällung der Eiweißkörper, auch man- cher Albumosen, durch starke Mineralsäuren, Salzsäure, Schwefelsäure, Salpetersäure und Phosphorsäure. Von diesen ist wichtig die Salpetersäure. Die Reaktion mit Sal- petersäure ist sehr empfinlich und wird daher als klinische Eiweißprobe im Harn angewandt. Die eigentlichen Eiweiße lösen sich im Ueber- schuß der Salpetersäure und beim Erwärmen nicht, wohl aber die Albumosen. Beim Er- kalten kommt der Niederschlag wieder. Beim Erwärmen tritt nebenher die Xantho- proteinreaktion auf. 8. Albumosen und Peptone. Wenn die in der Natur vorkommenden Eiweißkörper durch irgendwelcheEingriffe gespalten werden, so zerfallen sie zunächst in die Albumosen und Peptone. Diese sind selbst noch Eiweiß- körper im weiteren Sinne, denn sie besitzen dieselbe chemische Struktur und zerfallen in dieselben Bruchstücke. Sie geben daher auch die chemischen Reaktionen der Eiweißkörper, die Farbenreaktionen, vor allem die Biuret- reaktion, und die Fällungen mit Säuren und Basen. Doch sind die Albumossen und ihre Salze viel löslicher, so daß sie, je weiter sie sich von den Eiweißkörpern entfernen, desto schwerer gefällt werden und eine An- zahl von Reaktionen teils nicht mehr, teils nur unter besonderen Bedingungen zeigen. Dagegen fehlen ihnen die physikalischen Eigenschaften des Eiweiß, diejenigen, die auf seiner Molekulargröße und seinen „kolloi- dalen" Eigenschaften beruhen. Man hat sie daher von jeher mit den Dextrinen, Di- und Monosacchariden in Parallele gestellt, die aus den kolloidalen Kohlehydraten entstehen. Der Uebergang von den nativen Eiweiß- körpern zu den Aininsäuren ist nun ein sehr allmählicher und erfolgt über eine große Reihe von Zwischenstufen. Da er noch nirgends völlig aufgeklärt ist und aus der sehr großen Zahl der existierenden Körper nur wenige als chemische Individuen erkannt sind, ist die Einteilung zurzeit schwierig und willkürlich. Früher nannte man diese Körper Peptone, und der Name ist noch vielfach ge- bräuchlich und bisweilen kaum zu umgehen. Die heute geltende Einteilung stammt von Kühne. Er nennt Peptone diejenigen Eiweißkörper, die überhaupt nicht ausgesalzen werden können; sie geben die Fällungsreaktionen nur noch zum Teil, von den Farbenreaktionen ausnahmslos die Biuretreaktion, die übrigen nur sehr teil- weise. Dagegen werden alle diejenigen löslichen Spaltungsprodukte des Ei- 112 Ei weißkörper weiß, die nicht mehr koaguliert wer- den können, aber durch irgendwelche Salze (am wirksamsten sind Ammonsulfat und Zinksulfat bei sauerer Reaktion) aus- gesalzen werden können, als Albu- mosen bezeichnet. Sie werden wieder ein- geteilt in primäre Albumosen, die dem Eiweiß zum Teil noch recht nahe stehen, und in Deuteroalbumosen, deren Abgrenzung gegen die Peptone ziemlich willkürlich ist. An die Peptone schließen sich die synthetischen Polypeptide an. Hier irgendeine Grenze ziehen zu wollen, wäre ganz willkürlich. Am besten erscheint es, wenn man die ihrer Struktur nach vollständig bekannten Körper Polypeptide, und die, bei denen das nicht der Fall ist, Peptone nennt. Die Trennung der Albumosen von den Peptonen auf Grund ihrer Aussalzbarkeit hat Bedenken, da unter den künstlichen Peptiden, die gar nicht be- sonders hochmolekular sind, einige aussalzbar sind. Indessen ist es auch nicht angebracht, diese Unterscheidung ganz fallen zu lassen. Denn bei der Säurespaltung und bei der be- sonders genau studierten Pepsinverdauung entstehen anfangs ganz überwiegend aus- salzbare Körper; in dem Maße, wie die Ver- dauung fortschreitet, gehen immer größere Anteile in die nicht aussalzbare Form über Auch die geringere Dialysierfähigkeit und geringere Löslichkeit der Albumosen sprechen durchaus dafür, daß sie wirklich ein größeres Molekulargewicht haben und zwischen dem Ausgangseiweiß und den Peptonen stehen. Genauer untersucht sind die Albumosen j bei der Pepsinverdauung ; weniger häufig die j Albumosen der Spaltung durch verdünnte Säuren, Alkalien und überhitzten Dampf. Von Peptonen sind untersucht die der Pepsin- und Trypsinverdauung und die durch Säure- spaltung entstehenden sogenannten Kyrine, ferner Alkalipeptone und die aus den Prot- aminen entstehenden Protone, außerdem Pep- tone, die in Pflanzen, im Fleischextrakt und im Harn vorkommen. Endlich sind außer- dem durch Abbau mittels Säuren, Alkalien und Fermenten genau gekannte Peptide ge- wonnen worden. Die Albumosen sind in trockenem Zu- standeweiße, staubende, nicht hygroskopische, nicht kristallinisch gewonnene Pulver. Mit Ausnahme der Heteroalbumose sind sie in Wasser leicht löslich, noch löslicher sind viele ihrer Salze. Durch Alkohol werden alle, aber bei sehr verschiedener Konzentration gefällt, in verdünnten Alkoholen sind sie zum Teil leicht löslich. Die Biuretreaktion geben die Albumosen mit einer roten, ins Violette spie- lenden Farbe. Ebenso geben alle dieXantho- proteinreaktion. Die anderen Farbenreaktio- nen richten sich nach den Komplexen, die in den einzelnen Körpern enthalten sind. Die Albumosen werden durch Eisenchlorid, neutrales und basisches essigsaures Blei, Quecksilberchlorid und andere Metallsalze gefällt, die Niederschläge sind aber im Ueber- schusse der Fällungsmittel mehr oder we- niger leicht löslich. Kupfersulfat und das empfindlichere Kupferacetat fällen nur die primären, nicht die Deuteroalbumosen, dienen daher zu ihrer Trennung. Essigsäure plus Ferrocyankalium, fällt alle Albumosen; doch kann die Anwesenheit von Pepton die Re- aktion stören. Der Niederschlag verschwindet beim Erhitzen und kehrt in der Kälte wieder. Durch Salpetersäure werden die primären Albumosen auch in salzarmer Lösung, die Deuteroalbumosen nur bei Gegenwart von Kochsalz, die niedrigsten schließlich nur in mit Kochsalz gesättigter Lösung gefällt. Der Niederschlag ist im Ueberschusse der Salpetersäure, besonders aber beim Er- wärmen, löslich, und kehrt beim Abkühlen wieder. — Durch die Alkaloidreagenzien werden die Albumosen gefällt, die Nieder- schläge verhalten sich zum Teil wie die des nativen Eiweiß, zum Teil sind sie in der Wärme und im Ueberschuß sehr leicht löslich. Taurocholsäure, daher Galle bei saurer Raektion, und Nucleinsäure fällen einen Teil der Albumosen. Die primären Albumosen werden bei alkalischer Reaktion durch Protamin und Histon gefällt. — Die Albumosen diffundieren durch Pergament, aber verschieden schnell, die Heteroalbumose sehr langsam, die Protalbumose und manche Deuteroalbumosen schnell und vollständig. Beim Aussalzen scheiden sich die Albu- mosen als ein zäher, klebriger Niederschlag aus, der auf der Flüssigkeit schwimmt oder an der Wand des Gefäßes oder an einem zum Rühren dienenden Instrument haftet und oft besser durch Ausrühren oder Abschöpfen als durch Filtrieren entfernt werden kann. Zur Untersuchung der Albumosen hat meist das „Peptonum siccum" von F. Witte in Rostock gedient, das zum größten Teil aus Albumosen besteht. Später hat man die Al- bumosen häufig aus bestimmten Eiweißkör- pern gewonnen. Die Albumosen der einzelnen Eiweiße werden ]e nach der Herkunft aus Glo- bulin, Vitellin, Myosin, Gelatine, Fibrin usw. als Globulosen, Vitellosen, Myosinosen, Gela- tosen, Fibrinösen bezeichnet; Albumosen würden danach nur die Spaltungsprodukte des Eier- oder Serumalbumins heißen, doch wird der Name allgemein auch auf die Pro- dukte der anderen Eiweißkörper ausgedehnt, dritten den hat dafür den besonders im Englischen viel gebrauchten Namen Proteo- sen eingeführt. Die Heteroalbumosen, daher auch das Al- bumosengemenge, das Wittepepton, u. a. zeigen bei parenteraler, d. h. bei Zufuhr direkt in die Blutbahn eine Reihe von Giftwirkun- Eiweißkörper 113 gen, Blutdruckerniedrigung, Ungerinnbar- machen des Blutes usw. Die Peptone sind farblose, trockene Pulver. Sie sind in Wasser ungemein lös- lich, auch in Eisessig, ebenso in allen Salz- lösungen, zum Teil löslich in 96proz. Alkohol, unlöslich in allen anderen gebräuchlichen Lösungsmitteln. Sie geben alle noch in großer Verdünnung eine sein* intensive, rein rote Biuretreaktion, außerdem alle die Xanthopro- teinreaktion, die anderen Farbenreaktionen sind verschieden. Sie sind schwefelfrei. Die Schwermetalle bewirken keine Fällungen; die Alkaloidreagenzien fällen mit Ausnahme von Ferro Cyanwasserstoff säure und Pikrin- säure, doch sind die Fällungen unvollständig und lösen sich im Ueberschuß des Reagens oder auch nur von Säure meist leicht wieder auf. Die Fällbarkeit der Peptone nimmt zu, wenn man sie in gesättigten Salzlösungen (Ammonsulfat, Calciumchlorid, Calciumni- trat, Natriumchlorid) fällt. Ohne Salzzusätze fällt noch am vollständigsten die Phosphor- wolframsäure. Im Gegensatz zu den Eiweiß- basen wird die Fällbarkeit der Peptone durch Gegenwart von Schwefelsäure nicht erhöht, eher vermindert. Oft kommt man gut zum Ziel, wenn man zunächst den größten Teil der Peptone mit Phosphorwolframsäure fällt, abfiltriert, und nun erst den Rest ausfällt. In verdünnter Lösung bleibt die Fällung aber auch dann noch unvollkommen. Die Nieder- schläge der Peptone mitPhosphorwolframsäure sind in Alkohol und Aceton löslich. Die argininreichen Peptone werden wie das Argin in selbst durch Silbersulfat und Sättigen der Lösung mit Barythydrat gefällt. Wie alle Eiweißkörper sind die Peptone amphotere Elektrolyt^, der Säurecharakter überwiegt bei ihnen beträchtlich; sie sind aus- gesprochene Säuren, deren Salze relativ wenig hydrolysiert werden. Bei der Pepsin Verdauung entsteht zunächst Acidalbumin, dann die primären Albumosen, die Proto- und Heteroalbumose, die durch Sättigen mit Chlornatrium und durch Halbsättigung mit Ammonsulfat fällbar sind. Aus ihnen entstehen die Deutero albumosen, die nur durch Ammonsulfat gefällt werden, daraus schließlich die Peptone. Doch ist die Reihenfolge nur so zu verstehen, daß an- fangs die mit Kochsalz aussalzbaren Albu- mosen überwiegen, später die Deuteroalbu- mosen, und daß endlich beigenügend langer Ver- dauung, wirksamem Pepsin und viel Salzsäure die Albumosen ganz verschwinden. Kleine Mengen Peptone finden sich aber schon im Beginn der Verdauung und ebenso treten von Anfang an Peptone auf, die keine Biuret- reaktion geben. Die Bedeutung der Albu- mosen ist früher sowohl für die Eiweißchem'e wie in biologischer Hinsicht sehr hoch einge- schätzt worden. Heute wissen wir, daß bei Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. den günstigen Verhältnissen des lebenden Magens der größte Teil des Eiweißes zu Pepton wird, und die Albuniosen nur Durchgangs- stufen sind. Bei der Verdauung in vitro kann man allerdings beträchtliche Mengen von Albumosen bekommen. Die vielfachen Versuche zur Zerlegung der Albumosen haben bisher kaum mehr zu Körpern geführt, die eine Gewähr für chemische Reinheit bieten. Eine Ausnahme macht vielleicht die Heteroalbumose, die den schwerst angreifbaren, beziehungsweise den noch nicht angegriffenen Teil des Eiweißes darstellt (vgl. Abschnitt 3). Sie ist tyrosinfrei, und ist ver- hältnismäßig sehr resistent, auch gegen die Einwirkung anderer Fermente, der Trypsins und Erepsins. Die Heteroalbumose ist in Wasser unlöslich; in verdünnten Salzlösungen ist sie löslich, aber bisweilen verliert sie auch diese Löslichkeit, und scheidet sich spontan aus. Diese Ausscheidung ist Dysalbumose, Antialbumingerinnsel oder Plastein genannt worden. Durch wirksames Pepsin gehen diese Körper wieder in Lösung, und die Abscheidung hat nicht die Bedeutung, die man ihr ge- legentlich zugeschrieben hat. Bei Verdauung mit viel Säure und wirksamem Pepsin gehen Eiweiß und Albumosen rasch in Pepton über. Aus dem Gemenge der Pepsinpeptone des Fibrins läßt sich, in schlechter Ausbeute, ein Individuum isolieren, dessen Analysen auf die Formel C21 H34 N6 09 führen. Doch muß die Formel vervielfacht werden. Bei der Spaltung liefert es Tyrosin, Tryptophan Arginin, Lysin, Asparagin- und Glutamin- säure. Ein entsprechendes Pepton aus Leim ist besonders reich an Glykokoll. Aus den Histonen entsteht ein zu den Deuteroalbumosen gehöriger Körper, das Histopepton, das sich durch seine Fällbar- keit durch Natriumpikrat bei neutraler Reaktion auszeichnet, und sehr reich an Argi- nin und Lysin ist. Aus dem Elastin entsteht durch Pepsin- verdauung eine Albumose, das Hemielastin, das durch Aufkochen seiner wässerigen neutralen Lösung ausgefällt wird, um sich beim Erkalten wieder aufzulösen. Da diese ,,Hemi- elastinreaktion" keinem anderen Eiweiß- körper zukommt, ist sie verwendet worden, um einen ,, gezeichneten" Eiweißkörper durch den Organismus zu verfolgen. Durch die Einwirkung von verdünnten Säuren, V10 bis 7« »-HCl oder H2S04, ent- stehen im allgemeinen dieselben Albumosen und Peptone wie durch Pepsin- Salzsäure. Nur ist die Wirkung langsamer und geht bei längerer Einwirkung bi weilen weiter. Durch mehrwöchentliche Einwirkung von 12 bis 17prozentigerHCl bei Körpertempera- tur entstehen aus Eiweiß und Peptonen stark basische Komplexe, die sogenannten Kyrine, 8 114 Eiweißkörper die durch Phosphorwolframsäure fällbar sind. IhreAnalyse führt auf die Formel C22H47N908 (Caseinokyrin) oder ähnliche. Bei der Spaltung durch siedende Säuren ent- stehen hauptsächlich Arginin und Lysin, beim Globinokyrin auch Histidin, daneben wenig Glutaminsäure und Glykokoll. Die Phosphorwolframat-Peptone sind im Gegen- satz zu den anderen Peptonen kristallinisch. Durch Einwirkung von 70prozentiger Schwefelsäure bei Zimmertemperatur ent- stehen aus Fibrin, Edestin unter anderen Eiweißen Di- und Tripeptide. Aus den Protaminen entstehen durch Kochen mit Schwefelsäure von 10% in Y2 bis 3 Stunden die sogenannten Protone, die auch kristallinische Derivate liefern. Beim Clupein sind diese Protone in ihrem Bau aufgeklärt, und als Diarginylvalin, Diarginylprolin usw. erkannt. Durch verdünntes ( % n) Alkali, durch über- hitzten Wasserdampf oder durch Papayotin entstehen Albumosen, die den Pepsin- albumosen ähneln. Die Protone, die durch Alkali aus den Protaminen entstehen, ent- halten statt des Arginins Ornithin, da der Harnstoff intraprotein abgespalten ist. Durch Trypsin entstehen Albumosen nur ganz vorübergehend, ein großer Teil der Eiweiß zerfällt in Aminosäuren, der ungespaltene Rest wird als Antipepton be- zeichnet. Aus dem Antipeptongemenge lassen sich Individuen isolieren, deren Analysen auf die Formel C10 H17 N3 05 führen. Sie enthalten Lysin, Arginin, Glykokoll und verschiedene andere Aminosäuren, kein Tyro- sin und Tryptophan. Durch Trypsinein- wirkung auf die Pepsinpeptone entsteht neben Aminosäuren Antipepton, durch Ein- wirkung von Säuren auf Antipepton ent- stehen Kyrine. Nach langer Trypsinwirkung bleiben Antipeptone zurück, die einen er- heblichen Teil der Eiweiße ausmachen, aber nur noch eine sehr schwache Biuretreaktion geben. Vor kommen von Albumosen undPep- t o nen. Im Mageninhalt findet man alle Pep- sinalbumosen, daneben relativ wenig Peptone; in dem Chymus, der in den Darm übertritt, findet man überwiegend Peptone, neben denen dann in steigendem Maße Aminosäuren auf- treten. Am Ende des Dünndarmes findet man kaum noch Peptone. Dagegen enthält für gewöhnlich kein Teil des menschlichen oder tierischen Organismus, mit Ausnahme Verdauungstraktus, nachweisbare Men- gen von Albumosen oder Pepton. iter pathologischen Umständen, bei Eiterungen, bei der Einschmelzung und Resorption von Exsudaten und ähnlichen Prozessen kommt es zur Bildung von Albu- mosen im Innern des tierischen Organismus. Durch autolytische Vorgänge werden sie postmortal gelegentlich schnell und reichlich gebildet, z. B. bei der Phosphorvergiftung. Ferner hat sich eine Beziehung von im Blut kreisenden Albumosen zum Fieber ergeben; ebenso sind im Sputum Albumosen beobachtet worden. Bei allen diesen Pro- zessen wurden nun stets auch Albumosen im Harn gefunden, dagegen niemals Pepton. Was den Nachweis der Albumosen im Harn anlangt, so können dadurch Irrtümer ent- stehen, daß das Urobilin mit Natronlauge und Kupfersulfat eine Färbung gibt, welche von der der Biuretreaktion nicht zu unter- scheiden ist. Im Fleischextrakt finden sich häufig Leim-Albumosen, die aus dem Bindegewebe des Fleisches stammen. Im Harn ist ein Körper enthalten, der in mancher Beziehung an die Albumosen erinnert, in anderer Hinsicht an das be- sonders resistente Antipepton , das eine schwache Biuretreaktion gibt. Er wird Oxy protein säure genannt. Die Ana- lysen führen auf eine Formel C43H82N14031S. Bei der Säurehydiolyse liefert sie viel Gly- kokoll und kleinere Mengen von anderen Aminosäuren. Sie gibt die Mi 1 lo n sehe, aber nicht die Biuretreaktion. Aus der Oxy- : proteinsäure stammt ein Teil des Glykokolls, j das man in menschlichem Harn findet. Menschlicher Harn enthält 3 bis 4 g pro Tag oder mehr. 4 bis 5% des Gesamtstickstoffs und eine gewisse Menge des unoxydierten Schwefels kommen auf sie. Auch der Hunde- harn ist reich daran. Bei der Seeschnecke Tritonium nodosum findet sich in den Speicheldrüsen neben A^paraginsäure ein Körper, der nach seinen Reaktionen ein Pepton ist. Aus ungekeimten Pflanzensamen (von Lupinus luteus) läßt sich in einer Menge von 100 g auf 80 kg Samen ein Pepton gewinnen, das in seinen Eigenschaften mit denPepsinpep- tonen übereinstimmt. Bei der Säurespaltung konnten Lysin, Arginin und Glutaminsäure isoliert werden. Tierkohle absorbiert dies Pepton. Ferner kann man aus den Samen nahezu aller Kulturgewächse, Getreidearten, Legu- minosen und Oelsamen, neben den nativen Eiweißkörpern kleinere, selten etwas größere Mengen von Albumosen isolieren, die etwa die Eigenschaften der Pepsinalbumosen haben. Ob dieselben in den lebenden Samen prä- formiert sind, ist fraglich, da die Samen für die spätere Keimung proteolytische Fermente enthalten, die während der Ex- traktion die Eiweißkörper angreifen können. In den Nährlösungen, in denen Bakterien wachsen, finden sich in der Regel Albumosen, und bei pathogenen Bakterien haftet an solchen „Toxalbumosen" bisweilen die Gift- wirkung der Bakterien. Doch können Eiweißkörper 115 auch die gewöhnlichen Albumosen, wie sie etwa zur Herstellung des Nährbodens dienen, Fieber hervorrufen. 9. Eiweißsalze. 9a) Elektrolytischer Charakter. Hydrolytische Dissocia- tion. Wie im Abschnitt 3 auseinanderge- setzt wurde, sind die Eiweißkörper Amino- säuren. Wie diese sind sie daher „amphotere Elektrolyte". Die gleichzeitige Anwesenheit der NH2- und der COOH-Gruppe in einem Molekül schwächt beide so weit ab, daß die Aminosäuren und die Eiweißkörper sehr schwache Basen und sehr schwache Säuren sind. Als Base ist das Eiereiweiß nur 500 mal stärker als Wasser, und 34 mal schwächer als Anilin. Ein Teil der Eiweißkörper kann aller- dings auch stärker sauer oder basisch sein, ohne darum aufzuhören, amphoterer Elek- trolyt zu sein. Als sein* schwache Säuren und Basen bilden die Eiweißkörper Salze, die weit- gehend hydrolytisch sind. In Abwesenheit von Säuren und Basen sind sie neutrale Stoffe, die nur wenige Ionen enthalten, den elektrischen Strom kaum leiten und wenig reaktionsfähig sind. Bei Gegenwart einerstarken Säure, etwa Salzsäure wird diese durch Hydrolyse frei, die Lösung reagiert stark sauer und verhält sich wie ein Gemenge von Salzsäure und Salz. Bei Gegenwart einer starken Base reagiert die Lösung umgekehrt alkalisch, und enthält reichlich OH-Ionen. Es liegt im Wesen der Hydrolyse, daß sie, auch abgesehen von der Temperatur, nicht konstant ist, sondern sie schwankt mit der absoluten und der relativen Menge beider Komponenten. Sie hängt bei dem salzsauren Eiweiß ab 1. von der Konzentration, 2. von dem Ueberschuß der Salzsäure. Mit steigen- der Konzentration nimmt die Hydrolyse ab, so daß verdünnte Lösungen mehr freie Salzsäure und weniger salzsaures Eiweiß enthalten als konzentrierte. Viel wirk- samer ist ein Ueberschuß von Salzsäure, der die Hydrolyse verringert; bei starkem Salzsäureüberschuß ist die hydrolytische Dissoziation fast Null, während 80 bis 90% hydrolysiert sind, wenn Säure und Eiweiß in äquivalenten Lösungen vorhanden sind. Umgekehrt bindet im Casein-Natrium 1 g Casein bei starkem Ueberschuß von Alkali 180. 10-5 g-Mol (0,1 g) KOH, bei dem auf Lackmus neutralen Punkt 51.10-5 g-Mol (0,056 g) KOH, bei der geringsten Menge Alkali, die Casein in Lösung hält 11,4. 10~5 g- Mol (0,006 g) KOH. Abweichend von den Aminosäuren sind die Eiweißkörper vielsäurige Basen und vielbasische Säuren. Da sich unter den Aminosäuren zweibasische Säuren, Aspara- gin- und Glutaminsäure, und zweisäurige Basen, Ornithin und Lysin, befinden, so wäre es möglich, daß auf diesen die Poly- valent der Eiweißkörper beruht. Es ist aber auch denkbar, daß wenigstens für die Basen- eigenschaft auch die Peptidbindungen in Frage kommen; oder daß in dem Eiweiß- molekül mehrere Peptidketten stecken, die also mehrere Enden haben. Jedenfalls ergeben '■ sich durch die Polyvalenz Abweichungen von den bei den Aminosäuren ermittelten Gesetzmäßigkeiten, die noch nicht auf- geklärt sind. Die hydrolytische Dissoziation bewirkt also, daß 1 g Eiweiß je nach der beider- seitigen Konzentration und der Natur der mit ihm zusammentretenden Basen und Säuren ganz verschiedene Mengen von ihnen neutralisiert, und diese Erscheinung hat dem Verständnis lange die größten Schwierig- keiten bereitet. Früher hat daher die Ansicht Vertreter gefunden, daß es sich bei der Reaktion von Eiweiß mit Säuren und Basen gar nicht um Salzbildung handele, sondern um einen „Verteilungsvorgang", um „Ad- sorption" und ähnliches. Für das Verhalten kolloidaler Metalle un'd anderer Kolloide zueinander und zu Kristalloiden gleicher oder entgegengesetzter elektrischer Ladung sind eine Reihe Gesetzmäßigkeiten ermittelt wor- den; die natürlichen Eiweißkörper sind Kolloide, und so konnte ein Teil dieser Gesetz- mäßigkeiten auf die Eiweißkörper über- tragen werden. Zwei Kolloide fällen sich oder flocken sich aus, können sich aber auch in Lösung halten (Schutzkolloid); Salze, die außerdem in der Lösung sind, können je nach den Bedingungen die Ausflockung herbei- führen oder hemmen. Die auffälligste hierher gehörige Er- scheinung ist die,- daß bei den Eiweißfällungen in der Regel eine bestimmte optimale Be- ziehung zwischen dem Eiweiß und dem Fällungsmittel bestehen muß. Wenn man Natriumsulfat mit wechselnden Mengen Chlorbaryum vermischt, so fallen die gesamten einander äquivalenten Mengen aus, und das überschüssige Baryumsalz oder Sulfat bleibt in Lösung. Versetzt man aber Leim mit steigenden Mengen Gerbsäure, so kommt es nur bei einem ganz bestimmten Mengen- verhältnis zur Bildung eines Niederschlages, sonst löst er sich ganz oder teilweise wieder auf. Es ist einigermaßen beliebig, ob man hier von der Bildung eines Albuminates sprechen will, das in Wasser unlöslich, im Ueberschuß der Gerbsäure und des Eiweiß löslich ist, oder ob man die Ausdrucksweise der Kolloidchemie anwendet. Doch findet man die Bedeutunug der Mengenverhält- nisse ganz ebenso bei den Peptonen, die keine Kolloide sind, und selbst bei Aminosäuren, so daß es richtiger erscheint, auch beim Eiweiß von Salzbildung zu sprechen. Die hydrolytische Dissoziation ist bei der Untersuchung jeder eiweißhaltigen 8* 116 Eiweißkörper Flüssigkeit zu berücksichtigen. Denn zwi- schen dem Wasser, den Säuren und Basen und dem Eiweiß besteht für die jeweilige Konzentration ein Gleichgewichtszustand, der verschoben wird, sobald sich einer der Faktoren ändert. Infolgedessen ist es un- möglich, die Azidität oder Basizität einer Eiweißlösung zu titrieren. Denn mit jedem Kubikzentimeter Na OH, den man zu einer salzsauren Eiweißlösung hinzusetzt, ver- ringert sich der Salzsäureübersclmß, ver- mehrt sich daher die Dissoziation, bis schließ- lich nahezu alle Salzsäure vom Eiweiß ab- gespalten, also frei wird. Da jeder Zusatz den Gleichgewichtszustand verschiebt, darf man zur Basizitätsbestimmung des Eiweiß kinetische, d. h. Methoden, die auf der Ent- fernung oder dem Verbrauch einer der Kom- ponenten beruhen, nicht anwenden. Nur durch physikalische Methoden (elektrische Leitfähigkeit, Gasketten u. a.) erhält man Aufschlüsse über das wirkliche Verhalten von Eiweiß, Säuren und Basen in Lösungen. Kinetische Methoden lassen sich nur unter Kontrolle der physikalischen anwenden. So gestattet die genauere Kenntnis der Indika- toren, die man neuerdings besitzt, auch deren Verwendung, also die Titration. Die Unter- schiede der Indikatoren sind bedeutend: nach Kobertson müssen zu 100 ccm einer 8 proz. Lösung von Natriumcaseinat, die auf Lackmus neutral ist, 24 ccm 1/w n-Alkali hinzugefügt werden, um sie neutral gegen Phenol- phtalein, und 66 ccm a/io n-Säure, um sie für Kongo sauer zu machen. Von der Differenz der Indikatoren macht man Gebrauch bei der Aziditätsbestimmung im Mageninhalt, der salzsaures Eiweiß und salzsaure Albumosen neben überschüssiger Salzsäure enthält: bei der Titration mit Phenolpht alein ergibt die Titration die volle Azidität der vorhandenen Salzsäure, gleich als wäre das basische Eiweiß gar nicht vorhanden, die sogenannte Gesamt- azidität. Bei der Titrierung mit bestimmten Indikatoren „für freie Salzsäure", Phloro- gluzin vanillin, Tropäolin, Kongorot, Methyl- violett u. a., die für H-Ionen relativ unemp- findlich sind, erhält man Werte, die der Ionen- konzentration, also der hydrolytisch abgespal- tenen Salzsäure ziemlich genau entsprechen. Die hydrolytische Dissoziation der Eiweiß- salze spielt eine wichtige Rolle bei der Auf- rechterhaltung der neutralen Reaktion der Körperflüssigkeiten und Gewebe. Durch die Eiweißkörper werden Säuren und Basen im Blut und im Protoplasma neutralisiert, andererseits können sie aber jederzeit, wenn die Konzentration sinkt, wieder abgespalten werden. Die Eiweißkörper konkurrieren hierin mit den Carbonaten und Phosphaten. Nach Robertson wird durch Zusatz von 22,5 ccm Vioo n-Salzsäure zu 100 ccm einer 8 prozentigen Lösung des Serumeiweiß die Konzentration der Wasserstoffionen nur von 0,37. 10-7 auf 1,0. 10-7 gesteigert. Eine Folge der hydrolytischen Disso- ziation ist auch das Verhalten der Eiweiß- körper zu den Alkaloidreagenzien. Diese bilden mit Eiweiß unlösliche Salze; bei mangelndem Säureüberschuß aber werden diese hydrolvsiert und bleiben daher in Lösung. So schwache Basen wie die Eiweiß- körper erfordern infolgedessen einen ge- wissen Säureüberschuß, um durch Phosphor- wolframsäure usw. ausgefällt zu werden. Neutrale phosphorwolframsaure, pikrinsaure, gerbsaure Salze, Ferro cyankalium usw. fällen kein Eiweiß, sie tun es nur bei saurer Reaktion. Entsprechend verhalten sich Nuclein- und Taurocholsäure. Nur die stets basischen Protamine werden bei alkalischer, die eben- falls basischen Histone und Histopeptone bei neutraler Reaktion gefällt. Auch in festem Zustande, als „Boden- körper", reagieren die Eiweißkörper mit Säuren und Basen. Eine in Salzsäure schwimmende Fibrinflocke oder ein Stück koaguliertes Eiereiweiß beladen sich mit Salzsäure, und können sie so der Lösung zum großen Teil entziehen. Die festen Salze stehen ebenfalls im Wechselwirkung mit der über ihnen befindlichen Lösung, sie spalten also ebenfalls durch Hydrolyse Säuren oder Basen ab. So zersetzen sich einmal gebildete Niederschläge von Alkaloid- reagenzien ohne genügenden Säureüber- schuß; ein durch Phosphorwolframsäure hervorgerufener Niederschlag löst sich wieder auf, wenn er anhaltend mit Wasser gewaschen wird, verträgt aber Waschen mit Schwefelsäure. Andererseits lassen sich bei- gemengte Säuren, Basen und Salze aus Eiweißniederschlägen herauswaschen. Die dem Eiweiß beigemengten Körper befinden sich in chemischer, wenn auch durch Hydro- lyse zu lockernder Verbindung mit ihm. und das erklärt die Schwierigkeit ihrer Entfernung. Neben den bisher geschilderten Salzen sind nun noch andere beschrieben worden, | bei denen die Säure oder Base in viel kleinerer Menge vorhanden ist, dafür aber nicht so leicht abgespalten werden kann. Dahin i gehören die Chloride, Dichloride, Sulfate, i Nitrate, Natron- und Kalisalze des Edestins, in denen das Aequivalentgewicht des Eiweiß 14 300 bis 7000 beträgt, und aus denen die Säure oder Base auch durch starke Ver- dünnung und langes Waschen schwer zu entfernen ist. Beim Casein ergibt sich ein Aequivalentgewicht von 5000 bis 9000, beim Nucleohiston von 6000 usw. Diese Zahlen sind etwa 50 mal so groß als bei den bisher besprochenen Eiweißsalzen. Auf Lackmus reagieren diese Salze in der Regel neutral. Eiweißkörper 117 Bei diesen Salzen kann es sich um zweierlei handeln. Entweder ist die gefundene geringe Menge von Säure oder Base nur der letzte Rest, der auch bei starker Hydrolyse noch nicht abgespalten ist, und die relative Kon- stanz der Werte erklärt sich nur aus der durch die Löslichkeit usw. gegebenen gleichmäßigen Behandlung. Oder die sauren und basischen Gruppen des Eiweiß zeigen Differenzen: eine unter ihnen bildet stabile Salze, während die anderen der geschilderten weitgehenden Hydrolyse unterliegen. Bei dem Casein und Nucieohiston, die Phosphor- und Nuclein- säure enthalten, liegt die letztere Vermutung besonders nahe; aber auch beim Edestin lassen Erfahrungen über den konstanten Säuregehalt der Kristalle eine wirklich feste Bindung wahrscheinlich erscheinen. Die Fähigkeit, mit Säuren und Basen als Kation und Anion Verbindungen eingehen zu können, kommt allen Eiweißkörpern und ihren eiweißähnlichen Derivaten ohne Aus- nahme zu, wie bei den Aminosäuren kann aber der saure oder basische Charakter in einem Eiweiß überwiegen. So sind die Phos- phoproteide und Murine ausgesprochene Säuren, die durch Säuren gefällt werden, sich in Alkalien sehr leicht lösen, Kohlen- säure austreiben und Lackmuspapier röten. Dasselbe gilt in schwächerem Maße von dem Globulin und wieder sein1 deutlich von den Nucieoproteiden, die als Paarung die Nuclein- säure, eine ziemlich starke Säure, enthalten. Die Albumine scheinen neutral zu sein. Dagegen sind die Histone basische Körper, die durch Alkalien gefällt werden und sich in Säuren lösen; noch stärker basisch sind die in ihrem Bau abweichenden Protamine; beide bilden als Salze der Nucleinsäure manche Nucleoproteide. Die Albumosen enthalten sowohl saure wie basische Sub- stanzen, ihr Gemenge reagiert in der Regel auf Lackmus schwach alkalisch. Sie Sieg- friedschen Peptone sind kräftige Säuren, aus ihnen geht durch Säurespaltung das Kyrin, eine starke Base, hervor. 9b) Eiweißkörper und Neutralsalze. Wenn man Eiweißkörper in einer Lösung von elektrisch neutralen Salzen auflöst, so ist die Ionenkonzentration geringer, als sie in der Salzlösung ohne Eiweiß sein würde. Das Eiweiß geht also mit dem Salz oder dessen Ionen eine Verbindung ein. In ver- dünnten Lösungen von Chlornatrium und ähnlichen Salzen sind die Eiweißkörper in der Regel löslicher als in reinem Wasser, was sich in einer Verminderung; der inneren Reibung kundgibt. In konzentrierten Salz- lösungen nimmt die Löslichkeit wieder ab, doch handelt es sich hierbei um etwas ganz anderes (vgl. Abschnitt 11). Die Verbindung der Eiweißkörper mit Salzen spielt bei drei Erscheinungen eine Rolle: 1. Bestimmte Eiweißkörper, die Globu- line und die Heteroalbumose, sind überhaupt nur in Salzlösungen löslich, nicht in reinem Wasser. Sie werden nicht nur durch Ver- minderung des Salzes, auch durch bloße Verdünnung gefällt. Näheres bei den Glo- bulinen (spezieller Teil). 2. Wenn man Eiweiß in Gegenwart alko- hollöslicher Salze (CaCL, SrCl2) aus wässe- riger Lösung mit Alkohol fällt, so werden diese alkohollöslichen Salze mitgefällt, und lassen sich auch durch wiederholtes Lösen und Fällen und durch Waschen mit viel Alkohol immer nur zum Teil entfernen. Hierauf beruht zum großen Teil der Asche- gehalt der aus den Körperflüssigkeiten und Geweben dargestellten Eiweißkörper oder der Albumosen und Peptone der Pepsin- verdauung. Eiereiweiß bindet 16% seines Gewichts an Chlorcalcium; durch wieder- holtes Umfallen läßt sich diese Menge auf 8 bis 12% herabdrücken. 3. Beim Zusammenbringen von Eiweiß und Schwermetallsalzen (CuS04,AgN03) in wässeriger Lösung entsteht bei bestimmten Mengenverhältnissen ein Niederschlag, der Eiweiß, Metall und Säure enthält. Bei anderen Mengenverhältnissen besteht zwar auch eine Verbindung des Eiweiß mit dem Salz, aber sie bleibt gelöst. Bei einem Ueberschuß von Kupfersulfat, aber auch von Eiweiß, bildet sich kein Niederschlag. Der Transport von Schwermetallen durch die eiweißhaltigen Körperflüssigkeiten erklärt sich hierdurch; andererseits ist in Gegenwart von Eiweiß nicht das vielleicht giftige Metall-Ion ent- halten; Eiweiß kann so auch entgiften. Die Niederschläge von Eiweiß mit Kupfersulfat enthalten bis zu 30% Kupfer. Die Art dieser Verbindungen von Eiweiß und Salzen ist bisher nicht aufgeklärt. Am wahrscheinlichsten ist es, daß gleichzeitig die sauren und basischen Aequivalente des Eiweiß mit Basen und Säuren Salze bilden; andererseits ist aber auch eine „molekulare Verbindung" von der Art komplexer Doppel- salze mit dem nicht ionisierten Teil des Salzes möglich. Die Base und die Säure des Salzes sind immer in ziemlich genau äcjui- valentem Verhältnis gebunden, beide lassen sich in gleicher WTeise abspalten. Da in den Geweben und Flüssigkeiten der Pflanzen und Tiere neben dem Eiweiß immer Salze vorkommen, so müssen sich in ihnen die hier besprochenen Verbindungen bilden; die Wichtigkeit ihres ständigen Vorhandenseins für die Reaktionsfähigkeit des Eiweiß wird vielfach betont. 9c) Die einzelnen Salze. Die Chloride und Sulfate aller Eiweißkörper sind in Wasser viel löslicher als die reinen Eiweißkörper; im Gegensatz zu den meisten neutralen Eiweißen auch in ziemlich starkem Alkohol, 118 Eiweißkörper die salzsauren Peptone auch in absolutem Methylalkohol und Aethylalkohol und Eis- essig." Das kristallisierte Serumalbumin ist das Sulfat des Eiweiß, das kristallisierte Eieralbumin das Acetat. Die Magenverdau- ung bildet salzsaure Albumosen und Peptone, deren Hydrolyse die komplizierten Aciditäts- verhältnisse des Mageninhalts bedingt. Die sauren Eiweißkörper, Mucin, Carcin, Phospho- proteide sind im Organismus als Natrium- und Calciumsalze vorhanden. 9d) Salze der Eiweißkörper mit Anilinfarben. Die meisten der in der Mikro- skopie gebräuchlichen Farben bilden mit den Eiweißkörpern der Gewebe gefärbte Salze. Sie können sich in Lösung bilden, ebensogut aber an festem, suspendiertem Ei- weiß oder an mikroskopischen Schnitten, wobei es ebensogut eine Neutralisation gibt, als wenn unlösliches Silberoxyd durch Salz- säure zu unlöslichem Silberchlorid neutrali- siert wird. Auch hier spielt wieder die Doppel- natur der Eiweißkörper eine Rolle, indem sie als Säuren mit Farbbasen, als Basen mit Farbsäuren reagieren. Den besten Beweis bilden die Fälle, in denen die Salze anders gefärbt sind als die freien Basen oder Säuren. So sind die Salze der Nilblaubase blau, die freie Base dagegen rot; bringt man nun die rote Base mit einer Eiweißlösung zusammen, so bildet sich eiweißsaures Nil- blau, die Flüssigkeit wird blau, gerade so gut, als ob man die Lösung der Nilblaubase angesäuert hätte. Ein Beispiel für die um- gekehrte Reaktion ist das Kongorot. Hier ist die freie Kongosäure blau, wird aber sofort rot, wenn Eiweiß hinzugefügt wird. Festes Eiweiß, z. B. mikroskopische Schnitte, färbt sich durch Kongosäure rot, während die Lösung die überschüssige blaugefärbte Säure enthält. Selbstverständlich sind auch hier die Gesetze der hydrolytischen Dissoziation maß- gebend. Die sauren Farbstoffe wirken gut nur in saurer Lösung. Denn in neutraler Lösung hydrolysiert das gebildete farbsaure. Eiweiß, und je nach der Stärke der Farb- säure kommt gar keine oder nur eine unbe- deutende Färbung zustande. Säureüber- schuß drängt die Hydrolyse zurück, stellt so das Salz wieder her und läßt die Salz- farbe erscheinen. Auch hier ist das Ver- halten einer Eiweißlösung zu Kongorot ein deutliches Beispiel: eine Lösung von kongosaurem Eiweiß zeigt die hellrote Salz- farbe sogar, wenn die Lösung durch Essig- säure oder Salzsäure deutlich sauer ist. In einer roten alkalischen Nilblaulösung sind 5iweißflocken umgekehrt blau gefärbt. Ein Teil der Anilinfarben, hauptsächlich der sauren, bildet außerdem mit Eiweiß unlös- liche Salze und fällt daher Eiweißkörper wie die Alkaloidreagentien. Die starke Färbung dieser Niederschläge macht sie leicht kenntlich und die Proben daher sehr empfindlich. Ein beträchtlicher Teil der Farbstoffe, die zu mikroskopischen Färbungen ver- wendet werden, sind Kolloide und so gelten auch für ihre Reaktionen mit den Eiweiß- körpern die komplizierteren Beziehungen, die oben etwa für Eiweiß und Gerbsäure be- schrieben worden sind. Nun ist oben schon von den chemischen Differenzen der Eiweißkörper dieRedegewesen. Da sie alle Basen und Säuren sind, müssen sie alle mit jedem dieser Farbstoffe ein ge- färbtes Salz bilden, und man sieht ja auch in der Tat bei den meisten Färbungen die Gewebe sich zunächst diffus färben. Aber diese Färbung ist nicht gleichmäßig be- ständig. Angenommen die Färbung durch einen basischen Farbstoff, so werden beim i Auswaschen die Salze der schwach sauren, mehr basischen Eiweißkörper stärker hydro- lysiert als die der ausgesprochenen Säuren, I sie geben ihren Farbstoff leicht ab, wäh- rend ihn bei der gleichen Verdünnung die sauren Eiweiße festhalten. Versetzt man in Alkohol suspendierte Flocken von neutralem Eieralbumin und saurem Casein gleichzeitig ; mit Kongo und mit Nilblau, macht ab- wechselnd sauer und alkalisch und spült dann | gut aus, so ist das Casein durch Nilblau blau, das Albumin durch Kongo rot gefärbt. Durch die Fixierung werden die Eiweißkörper der Gewebe koaguliert, aber ihr chemischer Charakter wird dadurch nicht geändert. Die durch basische Anilinfarben leicht färbbaren Gewebe sind nach Heidenhain ■ die Kerne, die Schleimsubstanzen, Knorpel, Amyloid und die Dotterbestandteile: sie enthalten in den Nucleoproteiden, Nuklein- säuren, Mucinen, Mucoiden und Vitellinen ausgesprochene Säuren. Unterstützt wird die elektive Färb- barkeit der Gewebe durch den Kolloid- charakter der Eiweißkörper und der Farben. Zur Bildung einer festen Verbindung kommt 1 es infolgedessen nur bei bestimmten Mengen- verhältnissen; die mikroskopische Technik pflegt ja sehr ins einzelne gehende Vorschrif- ten zu machen. Unterstützt wird die elek- tive Färbbarkeit ferner durch die Fixie- rung der Gewebe durch Säuren oder durch Formaldehyd,, das die amphoteren Elek- trolyte in Säuren verwandelt. 10. Halogeneiweiße und Verwandtes. Infolge Eintritts von Fluor, Chlor, Brom oder Jod in einige ringförmige Bausteine lassen sich die Eiweißkörper halogenieren, und solche Halogeneiweiße kommen auch in der Natur vor. Die Halogeneiweiße ver- halten sich wie die halogensubstituierten Benzole, sie enthalten kein Halogen-Ion, sondern gestatten den Nachweis des Halogens erst nach erfolgter Veraschung. Eiweißkörper 119 ioa) Jodeiweiße. Läßt man ein Ge- menge von jodsanrem Kalium und Jodkalium unter Vermeidung saurer Reaktion auf Eiweiß wirken, so werden in dem Tyrosin, Tryptophan und Histidin mehrere Wasser- stoffatome durch Jod substituiert. Ganz entsprechend lassen sich die isolierten Amino- säuren substituieren, und es sind aus ihnen jodierte Peptide aufgebaut worden. Die gebildeten Jodeiweiße sind braune, lockere Pulver, die in Wasser, Alkohol und Säuren nicht löslich sind, sehr leicht dagegen sich in Alkalien, Ammoniak oder kohlen- sauren Alkalien lösen und aus diesen ihren Lösungen durch Säuren gefällt werden, um sich im Ueberschusse wieder zu lösen. Sie geben die Fällungsreaktionen der übrigen Eiweißkörper, von den Farbenreaktionen die Biuretreaktion, die Molischsche Reak- tion und die Xanthoproteinreaktion, nicht aber die Reaktionen von Millon und Adam- kiewicz, auch nicht die Schwefelbleireak- tion. In ihrer prozentischen Zusammen- setzung zeigen sie, wenn man das Jod abzieht, keine bedeutenden Differenzen gegen den betreffenden unveränderten Eiweißkörper; der Schwefelgehalt bleibt unverändert. Das Jodcasein enthält noch Phosphor, das Jod- hämoglobin noch Eisen; in ihm scheint auch das Hämatin jodiert zu sein. Der Jodgehalt der Jodeiweiße wechselt. An einigermaßen reinen Eiweißkörpern liegen folgende Zahlen vor: /o Serumalbumin 12 Serumglobulin 13 bis 14 Hämoglobin 11 bis 12 Eieralbumin 8,93 Eiereiweiß 7,1 Muskeleiweiß 10 bis 11 Muskeleiweiß 11 Casein 7 bis 7,5 Casein 5,7 bis 8,7 Casein 11 bis 13 Leim 1,3 bis 2,0 Thvreoglobulin 6 bis 6,6 Nucleohiston 11,22 Analysen des Jodeieralbumins führen auf die Formel C227H370 J4N48S2075. Daneben existieren Körper mit viel höherem Jodgehalt, die das Halogen nur zum Teil in der gleichen festen Bindung enthalten, es vielmehr zum Teil sein- leicht abgeben. Dahin gehört das Perjodcasein mit einem Gehalt von 17,8% Jod. Auch die zu pharmazeutischen Zwecken fabrik- mäßig hergestellten Jodeiweiße gehören über- wiegend hierher. Bei der Jodierung kommt es in der Regel auch noch zu einer teilweisen Spaltung des Eiweiß und anderen sekundären Verände- rungen. Mit der biologischen Reaktion untersucht, zeigen jodierte Eiweiße keine Artverschiedenheit mehr. Durch Trypsin und durch Erhitzen mit Säuren wird aus Dijodtyrosm das Jod ganz oder teilweise abgespalten, ebenso aus den Jodeiweißen. Daneben entstehen jodierte Peptone, aus Jodcasein z. B. das Caseojodin. In der Natur kommen Jodeiweiße vor in der Schilddrüse und in den Skeletten von Anthozoen, Schwämmen und Korallen. Das Thvreoglobulin der Schilddrüse enthält 1,75% Jod, d. h. weniger als die künstlichen Jodeiweiße. An diesem Jod- eiweiß haftet die der Schilddrüse eigentüm- liche physiologische Wirkung. Doch scheint sie von dem Jodgehalt unabhängig zu sein. Bei der Trypsinverdauung des Thyreoglobu- lins wird Jod abgespalten. Ein dem Caseo- jodin vergleichbares Spaltungsprodukt des Thyreoglobulins ist das Jodothyrin, das direkt aus der Schilddrüse und durch Säure- spaltung aus dem Thvreoglobulin dargestellt worden ist; es enthält 14,2% Jod, in Wasser und Säuren ist es unlöslich, in Alkalien da- gegen löslich. Es besitzt noch die physio- logische Wirksamkeit des Thyreoglobulins. Ferner enthalten alle Anthozoenskelette Halogeneiweiße, und zwar meist Jod-, Brom- und Chloreiweiße nebeneinander. Die Chlor- eiweiße sind immer nur in kleiner, Brom- und Jodeiweiße dagegen bei den verschiedenen Arten in äußerst verschiedener Menge vor- handen; auch überwiegt bald das Jod-, bald das Bro mei weiß. In verschiedenen Exemplaren einer Art konnte kein Unterschied gefunden werden, so daß der Halogengehalt der Gerüste ein konstantes Artmerkmal ist. Es beträgt der Gehalt der organischen Gerüstsubstanz an Clüor weniger als 1 % Brom Spuren bis zu 4,2% Jod Spuren bis zu 8% Am genauesten untersucht ist das Gor- gonin, das Jodeiweiß der Koralle Gor- gonia Cavolinii. Durch Trypsin wird es unter Jodabspaltung verdaut, durch Alkali entsteht Dijodtyrosin. - ■ Ebenso enthalten die Schwämme ein Jodeiweiß, aus dein sich durch Spaltung das Jodospongin darstellen läßt, das 9,01% Jod und 4,54% S enthält. Der ganze Badeschwamm enthält 1,5 bis 1,6% Jod," tropische Hornschwämme 8 bis 14%. 10b) Andere Halogeneiweiße. Ganz analog dem Jod lassen sich auch die anderen Halogene Brom, Chlor, und Fluor in das Ei- weißmolekül einführen. Der Halogengehalt entspricht, dem des Jodeiweiß. Für das Eiereiweiß wurde gefunden 6 bis 7% Jod 4 bis 5% Brom 2% Chlor 1,2% Fluor. 120 Eiweißkörper Eigenschaften und Löslichkeit sind die der Jodeiweiße. Neben diesen eigentlichen Bromeiweißen gibt es auch hier höher halo- genierte Körper mit locker gebundenem Brom, die dem Perjodcasein entsprechen und 11 bis 17,6% Brom enthalten. Viele der technisch dargestellten Halogeneiweiße gehören in diese Gruppe. io c) Nitro Substitutionsprodukte. In analoger Weise wie durch Halogene werden Eiweißkörper durch Nitrogruppen substi- tuiert. Aus dem Casein entsteht, wenn man der Salpetersäure Harnstoff hinzufügt und so das Auftreten von salpetriger Säure hintanhält, ein Nitrocasein. Ohne Harn- stoffzusatz findet eine weitergehende Spal- tung statt; es entsteht Xanthoprotein, daneben aber in reichlicher Menge Albumosen und Peptone, die meist auch nitriert sind. Vielleicht werden auch Aminosäuren gebildet. Das Xanthoprotein und die anderen Nitro substitutionsprodukte haben sauren Charakter und zeichnen sich vor allem durch ihre gelbe Farbe aus, die in Kotbraun übergeht, wenn man die Lösung alkalisch macht. Sie zeigen also die Farbe der Xanthoproteinreaktion, die auf der Bildung derartiger Körper beruht. Auch das Clupein ist nitrierbar, indem das Arginin, aus dem es zum größten Teil besteht, nitriert wird. iod) Oxydationsprodukte. Oxydiert man Eiweiß mit Permanganat in alkalischer Lösung, so wird ein je nach den Versuchs- bedingungen größerer oder kleinerer Teil ge- spalten (vgl. Abschnitt 6) und es hinterbleibt ein ungespaltener, stark oxydierter Rest, die Oxyprotsulfonsäure; sie ist ein lockeres weißes Pulver von stark sauren Eigen- schaften, in Wasser und Säuren unlöslich, in Alkalien leicht löslich. Durch fortgesetzte Oxydation lassen sich weitere Aminosäuren abspalten und eine stärker oxydierte Peroxy- protsäure erhalten. Auch durch Wasserstoffsuperoxyd läßt sich Eiweiß oxydieren. Es entsteht das ebenfalls saure Oxyprotein. Durch Ozon wird das Eiweiß ebenfalls teilweise gespalten, teilweise oxydiert. io e) Formaldehyd -Verbindungen. Methyleneiweiße. Wie den Aminosäuren, läßt sich auch den Eiweißkörpern durch Formaldehyd der basische Charakter nehmen ; es resultieren Säuren, denen einige der charakteristischen Eigenschaften der Eiweiß- körperfehlen, vor allem ihre Koagulierbarkeit. Andere Aldehyde haben eine ähnliche, Wenn auch viel schwächere Wirkung. als Maximum wurden 43 Mol Aldehyd auf 100 Mol N des Eiweiß aufgenommen. Das gebildete Methyleneiweiß ist in Wasser und Salzlösungen löslich; es koaguliert beim Erhitzen nicht, wird durch Alkohol in salz- freiem Zustande gar nicht, in salzhaltigem schwer gefällt und gibt die meisten Eiweiß- reaktionen. Das durch Acetaldehyd ent- standene Aethyleneiweiß ist in Säuren und Alkalien sehr leicht löslich, bei neutraler Reaktion unlöslich. Konzentrierte Eiweiß- lösungen werden von Formaldehyd in eine Gallerte verwandelt. Bemerkenswert ist, daß die Halogeneiweiße keinen Formaldehyd an- lagern. Durch Pepsin sind die Methylen- usw. Eiweiße verdaulich. iof) Andere Eiweißverbindungen. Silber-Eiweiß. Ferner verbindet sich Ei- weiß auch mit Estern, Ketonen, mehrwertigen Alkoholen, wie dem Zucker, und aromatischen Alkoholen, wie dem Resorcin. Auch Phosphorsäureester des Eieralbu- mins sind beschrieben, ebenso Diazo Ver- bindungen des Eiweiß, die durch Einwirkung salpetriger Säure entstehen, ferner Ver- bindungen des Eiweiß mit Schwefelkohlen- stoff, sowie Kombinationen dieser Einwir- kungen mit der von Formaldehyd. Eiweißlösungen Werden durch Zusatz von metallischem Silber ungerinnbar, also denaturiert. Ebenso verhält sich Osmium- säure. Die Eiweiße gehen mit Silber irgend- welche chemisch noch unbekannte Verbin- dungen ein. Bei der Osmiumsäure handelt es sich um etwas Aehnliches oder um die Bildung eines löslichen Salzes. Derartige Lösungen können erhitzt werden, ohne sich zu ver- ändern; diese Eigenschaft der Gewebseiweiße kann vorteilhaft histologisch verwendet wer- Wenige Tropfen Formalin - 40% For- maldehyd— machen mehrereKubikzentimeter einer kristallinischen Serumalbuminlösung ungerinnbar. Dabei verschwindet das Alde- den. II. Die physikalischen Eigenschaften der Eiweißkörper. Die Angaben dieses Kapitels beziehen sich ausschließlich auf die in der Natur vorkommenden Eiweiß- körper, in der Hauptsache auf die kolloi- dalen Eiweißkörper im engeren Sinne. na) Aussehen. Zusammensetzung. Molekulargewicht. In trockenem Zustande sind die Eiweißkörper weiße oder doch kaum 1 gefärbte, lockere, voluminöse, nichthygros- kopische Pulver. Einige Eiweißkörper sind in Kristallen bekannt, die Mehrzahl ist amorph. Sie sind teils in Wasser, teils nur in Salz- lösungen, in verdünnten Säuren und Alkalien löslich, unlöslich dagegen in Alkohol, Aether, Chloroform, Benzol und allen übrigen sonst angewandten Lösungsmitteln. In stärkeren Alkalien und Säuren, sowie in Eisessig lösen sie sich unter Zersetzung auf. Beim Ver- brennen hinterlassen sie einen charakteristi- schen Geruch „nach verbrannten Haaren", bilden eine voluminöse, schwer verbrennliche hyd zum Teil sofort, zum Teil erst allmählich ; Kohle und hinterlassen einen Aschenrück- Eiweißkörper 121 stand, der neben der Schwefelsäure, die aus dem Schwefel des Eiweiß hervorgeht, meist auch andere unorganische Elemente, Kalk, oft auch Phosphorsäure, enthält. Die Analysen der Eiweißkörper sind wegen der Schwerverbrennlichkeit, dem Schwefel- und Aschegehalt nicht ganz einfach, und es ist schon bei der quantitativen Be- stimmung der Spaltungsprodukte auf die große Schwierigkeit hingewiesen worden, einheitliche und reine Körper als Ausgangs- material zu gewinnen. Das Serumalbumin, das in vieler Hinsicht als Typus eines ein- fachen Eiweißkörpers angesehen werden kann, hat folgende prozentische Zusammensetzung: C 53,08% H 7,10% N 15,93% S 1,90% 0 21,99% Es ist sehr bemerkenswert, wie wenig die anderen Eiweißkörper, trotzdem sie sich aus qualitativ und quantitativ so verschie- denen Aminosäuren zusammensetzen, in ihrer prozentischen Zusammensetzung hier- von abweichen. Der Kohlenstoffgehalt steigt beim Casein und Histon auf 54 und54,97, und fällt bei anderen Eiweißen bis unter 52%; der Stickstoffgehalt steigt bei den Histonen auf über 18, bei den Pflanzenglobulinen und manchen Gerüsteiweißen auf über 19, und sinkt beim Eieralbumin, das indessen kein einfaches Eiweiß ist, auf 15%. Die Proteide, die anders zusammengesetzte Gruppen neben dem Eiweiß enthalten, zeigen natürlich etwas stärkere Abweichungen, ebenso die Protamine. Erheblicher differiert der Schwe- felgehalt, der bei einigen schwefelreichen Albuminen auf über 2%, bei dem Keratin auf 4 bis 5% steigt, beim Hämoglobin auf 0,4% sinkt. Die aus der prozentischen Zusammen- setzung zu erwartende Molekularformel muß beim Serumalbumin mindestens verdoppelt werden, da das schwefelhaltige Spaltungs- produkt Cystin ist, das 2 Atome Schwefel enthält. Auf Grund der Erfahrungen bei der Jodierung berechnet Hofmeister sogar eine Formel mit 6 Atomen Schwefel: ^45011720-^1^6^! 40, was einem Molekulargewicht von 10166 entsprechen würde. Auf zwei ganz verschie- denen Wegen kann man eine Berechnung der Molekulargröße beim Hämoglobin vornehmen, was um so mehr ins Gewicht fällt, als man bei seiner leichten Kristallisierbarkeit von zweifellos reinem, einheitlichem Material aus- gehen kann. Erstens kann man aus dem prozentischen Verhältnis des Eisens und Schwefels die mindeste Molekulargröße be- rechnen. Auf diese Weise berechnet sich für Hundehämoglobin die Formel: ^758^1203^ 195*-' 2 18-^ 6^3 mit dem Molekulargewicht 16 669. Eine zweite Bestimmungsmethode liefert das Bindungs vermögen des Hämoglobins für Sauerstoff und Kohlenoxyd, das sehr exakt bestimmt werden kann und aus dem sich da 1 Molekül Hämoglobin 1 Molekül Kohlen- oxyd bindet, dasselbe Molekulargewicht wie aus den Prozentzahlen des Eisens berechnet. Das Molekulargewicht des Globins, des Eiweißanteils des Hämoglobins, kann freilich niedriger sein, da nicht be- kannt ist, ob die Farbstoffkomponente, das Hämatin, mit einem oder mehreren Mole- külen Globin verkoppelt ist. Doch ergeben auch die Verhältnisse der Spaltungsprodukte zueinander und die Aequivalentgewichte Zahlen dieser Größenanordnung. Von den direkten Bestimmungsmethoden ist die Siedepunktserhöhung unanwendbar. Die Gefrierpunktserniedrigung und der osmo- tische Druck sind bestimmt wrorden. Doch beruhen die Werte wohl ausschließlich auf Salzbeimengungen und die Eiwreißkörper haben als Kolloide gar keinen osmotischen Druck. Für die Peptone ergeben sich aus den Spaltungsprodukten Werte zwischen 200 und 1000, das komplizierteste synthetische Peptid hat ein Molekulargewicht von 1213. nb) Verbrennungs wärme. Die Ver- brennungsw7ärme beträgt für Serumalbumin 5917,8 cal., für Amandin 5543, für Glutin 5200 cal. Sie ist im allgemeinen proportional dem Kohlenstoff- und umgekehrt proportional dem Sauerstoff gehalt. Im Tierkörper liefern die Eiweiße eine geringere Verbrennungs- wrärme, da der Stickstoff im Unterschied zu der Verbrennung in der Bombe nicht oxy- diert wird. ii c) Optische Eigenschaften. Drehungsvermögen. Brechungs- koefficient. In wässeriger Lösung drehen die Eiweißkörper und Peptone die Ebene des polarisierten Lichtes nach links, und zwar ver- schieden stark, so daß man das Drehungs- vermögen zur Charakterisierung der ein- zelnen Eiweiße zu verwerten gesucht hat. Die Eiweißkörper haben indessen wie die Aminosäuren die Eigenschaft, daß die Salze ein anderes Drehungsvermögen zeigen als die freien Körper, und daß wegen der hydro- lytischen Dissoziation das Drehungsver- mögen der Salze je nach der Konzentration des Eiweiß wie der Säure und Base wechselt. Da man sie wegen der eintretenden Zer- setzung in starker Säure oder Lauge nicht untersuchen kann, sind nur die ganz wenigen Zahlen anwendbar, die in genau neutraler Lösung an wirklich reinen Eiweißen erhalten wurden. Dagegen sind einige Proteide, 122 Eiweißkörper das Hämoglobin und die Nucleoproteide, rechtsdrehend. Der Brechungskoeffizient von Eiweiß- lösungen ist sehr hoch. Er ist mit dem P ulf r i c h sehen Refraktometer für die Eiweiß- körper des Blutserums, Casein, Ovomucoid und Ovovitellin bestimmt worden. Er ist so hoch, daß er zur Bestimmung der Eiweiß- menge verwendet werden kann. ii d)Diekolloidalen Eigenschaften der Eiweißkörper. Präzipitine. Gelöst diffundieren die Eiweißkörper gar nicht durch tierische Blase und vegetabilisches Pergament, gehören also nach der Bezeichnung von Graham zu den kolloidalen Körpern, i Von den echten Kolloiden, als deren Typus man die kolloidal gelösten Metalle und das oft untersuchte kolloidale Eisenoxydhydrat ansehen kann, unterscheiden sie sich indessen in einigen Punkten und bilden so einen J Uebergang zu den Kristalloiden. Die Eiweißkörper sind ultramikroskopisch sichtbar, und auch ihre Reaktionen mit den gleichfalls kolloidale Farbstoffen können so be- obachtet werden. Bei der Spaltung des Eiweiß durch Fermente verschwindet die Sichtbarkeit. Ferner werden alle Eiweißkörper bereits durch Schütteln ihrer Lösungen koaguliert und ausgefällt; anfangs, scheint es, noch in löslichem Zustande, nach kurzer Zeit aber tritt Denaturierimg und dauerndes Unlös- lichwerden ein. Fibrinogen und die Globuline werden dabei leichter koaguliert als die löslicheren Albumine. Fibrinogen und Globu- lin haben die Neigung, auf geringe, sonst chemisch indifferente Einflüsse, wie Wasser- verdunstung, Berührung mit porösen Sub- stanzen usw., unlöslich zu werden und sich in Form feinster, quellbarer Membranen und Partikelchen unlöslich auszuscheiden. Ein Teil der Eiweißkörper, das Casein und andere Proteide, Fibrinogen, viele Gewebseiweiße usw. werden auch durch i Oberflächenwirkung, durch Eintragen von gebranntem Ton oder Tierkohle in ihre Lösungen gefällt; derselbe Prozeß liegt vor, I wenn man Milch durch Tonzellen saugt oder fein zerkleinerte Gewebe mit Kiesel- gur mischt und auspreßt; dann geht das Albumin zwar durch, Casein, Myosin usw. aber werden von dem porösen Ton gefällt und zurückgehalten. Auch das Hämoglobin filtriert nicht durch Tonzellen. Mit dem kolloidalen Charakter der Eiweiß- j körper steht ihre Fähigkeit in Zusammen- hang, an sich unlösliche Körper in Lösung zu halten. Auf diese Weise sind Lecithin und Kalkseifen im Serum, phosphorsaurer Kalk in der Milch gelöst. Vor allem aber bleiben so Eiweißkörper und Albumosen in j eiweißhall 'gen Flüssigkeiten gelöst, in denen sie an sich unlöslich sind, was ihre Trennung so außerordentlich erschwert. Doch können hierbei auch Salze oder andere Verbindungen der so sehr reaktionsfähigen Eiweißkörper eine Rolle spielen. Verwandt damit ist die Fähigkeit des Caseins und anderer Eiweiße, mit fein verteilten Fetttröpfchen haltbare Emulsionen zu bilden; bei der Ausfällung des Caseins fällt das gesamte emulgierte Fett mit aus. Eine genauere Kenntnis der physikalischen Verhältnisse, der Haptogen- membranen usw. in der Milch steht noch aus. Diese kolloidalen Eigenschaften sind es, die den Eiweißkörpern wie keinem anderen Stoffe die Fähigkeit verleihen, Gewebe zu bilden und an dem Aufbau des Protoplasmas mit seiner eigentümlichen, halbflüssigen Struk- tur den wesentlichsten Anteil zu nehmen. Das Gegenstück ist die Eigenschaft der Eiweißkörper, beim Ausfallen aus Lösungen oder bei sonstiger Berührung andere in der Lösung befindliche Stoffe durch eine Art Oberflächenattraktion mit sich niederzu- reißen oder auf sich niederzuschlagen. Auch hier spielen chemische, durch Hydrolyse zu lockernde Bindungen eine Rolle. Eine Reaktion zwischen zwei Kolloiden sind die Ausflockungserscheinungen, die hier nicht näher behandelt werden sollen. Zum Ausfällen der Eiweiße bedient man sich dieser Ausflockungen durch Martite, Kaolin u. a. Daß auch bei den Reaktionen des Eiweiß mit vielen Säuren, Basen und Salzen, wie den komplexen Alkaloidreagenzien, vielen Anilinfarben und den Schwermetallsalzen der kolloidale Charakter des Eiweiß in Rechnung gezogen werden muß, ist in Abschnitt 9 erwähnt. Als nicht eigentlich gelöste Stoffe ver- leihen die Eiweißkörper ihren Lösungen einen hohen Grad von Viskosität oder innerer Reibung. Bei der Spaltung des Eiweiß nimmt sie ab, ebenso wenn die Lös- lichkeit des Eiweiß durch den Zusatz von Salzen erhöht wird. Beginnende Ausschei- dung von Eiweiß läßt sie dagegen zunehmen. Doch soll auf die Anwendungen in der Biochemie nur verwiesen sein. In Zusammenhang mit dem kolloidalen Charakter der Eiweißkörper steht ihre Fähig- keit, spezifische Präzipitine und andere Antikörper zu erzeugen wenn sie in die Blut- bahn von Tieren eingeführt werden. Diese Präzipitine erzeugen in einer Lösung des Ei- weiß, das als „Antigen" zur Einspritzung ge- dient hat, einen Niederschlag, der zum großen Teile aus Eiweiß besteht. Bei der Pepsin- und Trypsinspaltung des Eiweiß hört die Präzipi- tinbildung gleichzeitig mit dem Verschwinden des letzten kolloidalen Eiweiß auf. Ebenso verlieren Eiweißlösungen durch Auf- kochen die Fähigkeit, Präzipitine hervorzu- rufen, und mit Präzipitinen zu reagieren. Erwärmen der Eiweißkörper auf den Koa- gulationspunkt (s. unten) hebt dagegen, wenn Eiweißkörper 123 es nicht zu einer Ausscheidung des Eiweiß kommt, beide Fähigkeiten nicht auf, setzt sie höchstens herab. Alles Nähere über die „biologischen Reaktionen" siehe in den Artikeln „Blut" (S. 64) und „Immunität". ne) Das Aussalzen der Eiweißkör- per. Eiweißkristalle. Die Eiweißkörper werden durch viele unorganische Salze aus ihren Lösungen ausgeschieden. Dies Aus- salzen wird als ein Verteilungsvorgang ange- sehen, bei dem sich das Eiweiß als feste Phase von der Salzlösung als flüssiger Phase son- dert. Das Eiweiß scheidet sich als solches ab, und nicht als Verbindung mit dem Salz oder demWasser, die ihm nur mechanisch anhaften. Für die Eiweißchemie hat das Aussalzen da- durch eine ganz besondereWichtigkeit erlangt, daß die Eiweißkörper beim Aussalzen nicht oder doch sehr viel langsamer denaturiert werden, als durch die anderen Fällungsmetho- den, und daß die Unterschiede der einzelnen Eiweißkörper in der Aussalzbarkeit viel größer sind als in der sonstigen Fällbarkeit. Das Aussalzen hat daher die größten Dienste zur Reindarstellung der Eiweiße geleistet. In bezug auf die aussalzende Fähigkeit der Salze bestehen gewisse Gesetzmäßigkeiten und Beziehungen zu anderen physikalisch- chemischen Eigenschaften der Salze, aber auch erhebliche Abweichungen. Die eiweiß- fällende Kraft mußte jedenfalls empirisch ermittelt werden. Eine erste Gruppe bilden das Natriumchlorid, -sulfat, -acetat un*d -nitrat, durch welche die leichtest aussalz- baren Eiweiße zum Teil schon vor der Sättigung ausgefällt werden. Wirksamer ist das Magnesiumsulfat, das eine scharfe Grenze zwischen den schwer und den leicht aussalzbaren Eiweißkörpern zu ziehen ge- stattet. Alsdann folgen ' Kaliumacetat, Calciumchlorid und Calciumnitrat, von denen die beiden letzteren indessen die Eiweiße rasch unlöslich machen; bei den Calcium- salzen und bei einem etwaigen Kalkgehalt anderer Salze liegen überhaupt Besonder- heiten vor. Kaliumacetat und die beiden Kalksalze fällen alle nativen Eiweißkörper aus ihren Lösungen, dasselbe tun die Kombi- nationen von Natriumsulfat und Magnesium- sulfat, durch die auch die schwer fällbaren Albumine ausgesalzen werden, und Natrium- sulfat bei 37°. Am wirksamsten endlich sind Ammoniumsulfat und Zinksulfat, die auch alle Spaltungsprodukte der Eiweiße, mit Ausnahme der echten Peptone, fällen und die in dieser Beziehung als universal zu be- trachten sind. Eine Reihe der gut ausfällenden Salze, wie Natriumchlorid und Magnesiumsulfat, haben die Eigenschaft, nicht nur, wenn ihre Lösungen ganz gesättigt sind, auszusalzen, sondern einen Teil der Eiweißkörper schon bei niederen Konzentrationen zum Ausfallen zu bringen. Ganz besonders gilt dies von zwei Salzen, dem Ammoniumsulfat und Zink- sulfat, und die systematische Anwendung der fraktionierten Fällung mit diesen Salzen hat die Kristallisation der Albumine, die Rein- darstellung vieler Eiweiße und die Auf- klärung der Albumosenchemie ermöglicht. Es hat sich dabei ergeben, daß es für jeden Eiweißkörper eine Konzentration des fällen- den Salzes gibt, bei der er sich auszuscheiden beginnt, und eine etwas höher gelegene, bei der die Ausfällung vollendet und nichts mehr in Lösung ist. Die Fällungsgrenzen für Ammonsulfat sind nach Hofmeister „ebenso charakteristisch für den Eiweißstoff wie etwa der Löslichkeitsgrad für einen kristallisierten Körper". Die Versuche werden meist so angestellt, daß in dem gleichen Volum die Menge zugesetzter konzentrierter Ammonsulfatlösung variiert wird. Die Fäl- lungsgrenzen für ein Eiweiß sind 2,9 und 4,6, besagt demnach: wenn von 10 ccm 2,9 ccm kalt gesättigte Ammonsulfatlösung sind, be- ginnt das Eiweiß auszufallen; sind 4,6 ccm Ammonsulfatlösung, so ist die Fällung vollen- det, ein weiterer Zusatz ändert nichts mehr. Die Grenzen, die die Fraktionierung mit Ammonsulfat zwischen den einzelnen Eiweiß- körpern zieht, fallen meist mit denen zu- sammen, die sich durch die anderen Salze ergeben, und die Gruppen mit dem gleichen Verhalten zu Salzen zeigen auch sonst gewöhnlich eine gewisse Uebereinstimmung. Es ergibt sich so eine erste Gruppe von kompliziert gebauten Eiweißen, Fibrinogen und manche Eiweißkörper des Zellproto- plasmas, die von Magnesiumsulfat und Na- triumchlorid zum Teil schon vor der vollen Sättigung gefällt werden, und deren obere Fällungsgrenzen für Ammonsulfat nahe bei 3,0 liegen; die Eiweiße der zweiten Gruppe werden durch die anderen Salze erst bei völliger Sättigung ausgesalzen, besonders vollständig durch Magnesiumsulfat; die Fäl- lungsgrenzen für Ammonsulfat liegen recht übereinstimmend etwa zwischen 2,7 und 4,6; es sind die tierischen Globuline verschiedenster Herkunft, die Murine, außer- dem gehören die primären Albumosen hierher. Die dritte Gruppe endlich, die Albumine, das Hämoglobin, werden durch die anderen Salze mit Ausnahme etwa der Kom- bination Magnesium- + Natriumsulfat — nicht, durch Ammonsulfat und Zinksulfat erst bei nahezu voller Sättigung gefällt; ebenso verhalten sich die Deuteroalbumosen. Die Pflanzeneiweiße lassen sich weniger gut einordnen. Die erneute Fraktionierung dieser Frak- tionen ist versucht worden, hat aber wenig sichere Ergebnisse gezeitigt. Nur zur Isolie- rung eines etwa mit dem Eiweiß ausfallenden 124 Eiweißkörper Stoffes kann sie einmal praktisch brauchbar sein. Diese Angaben beziehen sich nur auf das Aussalzen bei neutraler Reaktion. Bei saurer Reaktion sind die Fällungsgrenzen für Am- monsulfat und Zinksulfat ganz allgemein nach unten verschoben, d. h. die Fällung beginnt und endet immer schon bei geringe- rem Salzgehalt. Kochsalz scheidet bei saurer Reaktion alle nativen Eiweißkörper aus. Das bei saurer Reaktion ausgeschiedene Eiweiß ist nicht das freie Eiweiß, sondern sein Sulfat, so daß man auch sagen kann, die Salze des Eiweiß sind leichter auszu- scheiden als das freie Eiweiß. Bei alkalischer Reaktion ist Eiweiß im Gegenteil schwerer auszusalzen. Die Aussalzung durch Ammonsulfat schei- det manche Eiweißkörper kristallinisch ab, vor allem die Albumine. Der Nieder- schlag scheidet sich zunächst amorph ab, wird aber beim Stehen kristallinisch. Man kann ihn in wenig kaltem Wasser lösen und in der gleichen Weise wieder hervor- rufen, auf diese Art das Albumin also Um- kristallisieren. Das Verfahren ist in den letzten Jahren für die Albumine, dann auch für das Hämocyanin, Hämoglobin und Phy- koerythin häufig angewendet worden. Diese Kristallisation weicht von anderen Kristallisationen ab; sie ist ein Aussalzungs- vorgang. Es liegt im Wesen der Methode, daß die entstehenden Eiweißkristalle nicht rein sind, sondern Mutterlauge in erheblicher Menge enthalten. Zur Reindarstellung des Eiweiß löst man die Kristalle und dialysiert, wobei man das Ammonsulfat und andere Salze natürlich los wird, nicht aber die kolloidalen Verunreinigungen. Es bedarf eines drei- bis sechsmaligen Umkristallisierens, um diese zu entfernen. Dazu kommt eine zweite Eigenschaft dieser Eiweißkristalle, sich mit Farbstoffen, Salzen usw. zu be- laden; die Kristalle saugen sich mit allen möglichen in Lösung befindlichen Stoffen voll „wie ein Schwamm". Es ist schon oben erwähnt, daß es sich dabei ver- mutlich nicht um mechanisches Mitreißen handelt, sondern um Salzbildungen der reaktionsfähigen Eiweiße mit diesen Körpern. So wichtig daher die Kristallisation der Albumine für die Auffassung der Eiweiße als einheitlicher chemischer Individuen und damit für die Eiweißchemie überhaupt ge- worden ist, so darf man doch nie vergessen, daß die Eiweißkörper einer sehr gründlichen Reinigung durch oftmaliges Umkristalli- sieren bedürfen. )ie Albuminkristalle gehören wahr- scheinlich dem hexagonalen System an und sind mehr oder weniger stark, und zwar positiv doppelbrechend. Eieralbumin liefert überwiegend sechsseitige Säulen von 0,1 bis Vorgang ist irreversibel als Denaturierung 0,15 mm Länge und 0,003 bis 0,021 mm Dicke, Serumalbumin und Milchalbumin verschiedene Kombinationen von Proto- prisma und Protopyramide. Die Kristallisation des Hämoglobins und mancher Pflanzeneiweiße, die beim Ab- kühlen ausfallen, unterscheidet sich im Gegensatz hierzu nicht von anderen Kristalli- sationen. Die Beimengung von anderen Kolloiden spielt aber auch hierbei eine Rolle. nf) Die Denaturierung der Eiweiß- körper. Koagulation. Spaltung durch Säuren und Alkalien. Wie anderen Kolloiden kann dieser ihr Charakter den Ei- weißkörpern leicht genommen werden. Dieser man bezeichnet ihn oder Koagulation. Es ist das Kennzeichen der nativen oder echten oder Eiweißkörper im engeren Sinne, daß sie durch Erhitzen ihrer Lösungen oder andere Prozesse koaguliert werden, und dann ohne weitergehende Spaltung und ohne Aenderung ihrer ursprünglichen Eigenschaf- ten nicht mehr gelöst werden können, sondern dauernd denaturiert sind. Die Salze des denaturierten Eiweiß mit Säuren werden Acidalbumin, die mit Basen Alkalialb uminat genannt. Die englische physiologische Gesellschaft schlägt für die denaturierten Eiweiße den Namen Metaproteine vor, die amerikanischen physiologischen Chemiker wenden ihn eben- falls an, oder benutzen den Ausdruck „Pro- teen", wobei zu dem kolloidalen Edestin und Globulin das denaturierte Edestan und Globulan gehören. a) Die Koagulation durch Erwär- men. Wenn man Eiweißkörper in wässeriger Lösung auf eine bestimmte Temperatur erwärmt, werden sie koaguliert. Das prak- tische Arbeiten mit eiweißhaltigen Flüssig- heiten erfordert eine eingehende Kenntnis dieses Prozesses. Von Bedeutung für die Wärmekoagu- lation ist die Reaktion der Lösung und ihr Gehalt an Salzen, aber allerdings nur für die Erscheinungsform der Koagulation. Denn die Denaturierung der Eiweißkörper tritt durch Erhitzen bei jeder Reaktion mit und ohne Salze ein, aber die Schicksale des entstandenen denaturierten Eiweiß sind verschieden. Das denaturierte Eiweiß ist nämlich in Wasser und neutralen Salzlösungen unlöslich, löslich dagegen in Säuren und Alkalien. Erfolgt daher die Koagulation in salzfreier, aber schwach alkalischer Lösung, so bildet sich sofort ein lösliches Salz des denaturierten Eiweiß mit dem betreffenden Metall; erfolgt sie bei saurer Reaktion, so entsteht entsprechend das Salz des dena- turierten Eiweiß mit Säure. Nur bei neu- traler Reaktion fällt das als solches unlösliche denaturierte Eiweiß einfach aus, es kommt Eiweißkörper 125 zu einer wirklichen kompletten Koagulation. Der Zusatz eines Tropfens verdünnter Säure oder verdünnten Alkalis dagegen verhindert die Koagulation anscheinend vollständig; die Lösung bleibt beim Erhitzen klar. Anders in salzhaltiger Lösung: Die Salze des denaturierten Eiweiß mit Salzsäure, Schwefelsäure, Essigsäure und andere sind in Wasser sehr leicht löslich, sie werden dagegen durch Salze gefällt, und zwar schon durch sehr geringe Mengen eines Salzes. Es besteht dabei eine Abhängigkeit von der Menge der Säure, indem bei einem kleinen Säureüberschuß die Fällung durch eine geringe Menge Salz erfolgt, bei einem größeren Ueberschusse dagegen viel mehr Salz erfor- derlich ist. Die Fällung der Säuresalze j des denaturierten Eiweiß durch Salze tritt auch ein, wenn man erst erhitzt, und dann erst das Salz hinzusetzt. Dabei wird das Eiweiß indessen leicht weiter verwandelt. Die Art des Salzes scheint auf die Fällung des Acidalbumins keinen großen Einfluß zu haben, außer natürlich bei Salzen, die nicht neutral reagieren. Für die praktische Ausführung der Koagu- lation folgt daraus, daß man ganz reines, durch gründliche Dialvse salz- und alkalifrei gemachtes Eiweiß ohne jeden Zusatz erhitzen muß. Die natürlichen Flüssigkeiten, Serum, Harn oder Gewebsextrakte, die ja immer kleine Mengen Salze enthalten, koaguliert man seit alters unter Zusatz einer sehr kleinen Menge von Essigsäure, so daß die Reaktion auf Lackmus eben schwach sauer ist. Bei Verwendung starker Säuren entstellt zu leicht ein Ueberschuß. Doch auch mit Essigsäure stößt man bei der Koagulation der Muskel- und anderer Organeiweiße auf kaum über- windbare Schwierigkeiten und es ist dann am bequemsten, der zu koagulierenden Flüssigkeit Chlornatrium oder ein anderes Neutralsalz zuzusetzen und dann einen Ueberschuß von Essigsäure anzuwenden. Die Nichtberücksichtigung der Tatsache, daß nur bei ganz vorsichtigem und genauem Innehalten einer eben wahrnehmbaren, sehr schwach sauren Reaktion oder bei einem reichlichen Salzgehalt der Lösung das Eiweiß durch Erhitzen gänzlich ausgefällt werden kann, hat zu bedenklichen Irrtümern geführt. Beim Koagulieren einer natürlichen Ei- weißlösung verschiebt sich die Reaktion nach der alkalischen Seite, so daß eine neutrale oder selbst schwach saure Lösung beim Kochen deutlich alkalisch wird. Der Grund ist vielleicht die Zersetzung der Karbonate. Bei den Pflanzenelobulinen kommt es bei längerem Sieden zu einer beträchtlichen Alkaleszenz, die nur auf einer Spaltung des Eiweiß beruhen kann. Wieder anders liegen die Verhältnisse, wenn Eiweiß bei alkalischer Reaktion erhitzt wird, so daß das Eiweiß als Säure ein Salz mit einem Metall bildet. Ob auch dieses Salz durch Neutralsalze gefällt wird, scheint unsicher, jedenfalls ist dazu eine unvergleich- lich viel größere Salzmenge erforderlich als bei saurer Reaktion. Mit den meisten Basen, Kali, Natron, Ammoniak, Lithion, auch organischen Basen, bildet das Eiweiß lös- liche Salze. Dagegen besitzt das denatu- rierte Eiweiß ein schwer lösliches Kalk- salz, das sich freilich in der Regel nicht glatt absetzt wie die Salzfällungen bei saurer Reaktion, sondern das eine trübe, mehr oder weniger haltbare Emulsion bildet. Nun enthalten alle tierischen und pflanzlichen Gewebe und Flüssigkeiten Kalk, ihre neutrale Reaktion verschiebt sich beim Erhitzen nach der alkalischen Seite, und so erhält man beim Erhitzen von Serum, von Gewebs- extrakten usw. ohne Säurezusatz eine trübe opaleszente Lösung, bei größerer Konzen- tration eine Gallerte. Durch nachträgliches Ansäuern einer solchen opaleszenten Flüssigkeit läßt sich das Eiweiß bisweilen klar ausfällen, bisweilen aber auch nicht; eine Enteiweißung durch Erliitzen bei alkalischer Reaktion ist daher niemals sicher ausführbar. Ein sehr bekanntes Beispiel dieser opales- zenten Fällung ist das Festwerden des Weißen der Hühnereier, einer kalkhaltigen alkalischen konzentrierten Eiweißlösung, beim Er- hitzen. Bei den Hühnereiern und den Eiern anderer Nestflüchter ist dies Eiweiß weiß und undurchsichtig; dagegen enthalten die Eier der meisten Nesthocker, so der Krähe, Schwalbe, des Kiebitz usw. das sogenannte Tataeiweiß, das beim Kochen zu einer glas- hellen, durchsichtigen Gallerte gerinnt. Die Erscheinung beruht auf dem verschiedenen Gehalte an Salzen und an Alkali, und auch das Weiße der Hühnereier erstarrt durch- sichtig, wenn man die Eier 2 bis 3 Tage in 10- prozentige Kalilauge legt. Eine andere An- wendung des gallertig und durchsichtig er- starrten Eiweiß ist von Koch in die bakterio- logische Technik eingeführt worden; wenn man nämlich Blutserum einige Zeit auf etwa 65° erwärmt, so erstarrt es ziemlich durchsichtig; durch Aenderungen der Kon- zentration "und der Schnelligkeit des Er- wärmens läßt sich die Art der Gerinnung etwas beeinflussen. Wenn die Koagulation in salzfreier Lösung oder bei saurer Reaktion ausgeführt wird, so koaguliert jeder Eiweißkörper bei einer bestimmten Temperatur. Im allgemeinen koagulieren die komplizierten, gewebsbil- denden Eiweiße, sowie die differenzierteren Körper, wie Fibrinogen und Myosin, schon bei niedrigerer Temperatur als die einfachen Albumine und Globuline. Indessen kommt auf die Art des Erhitzern so viel an, daß 126 Eiweißkörper sich die Bestimmung des Koagulations- punktes kaum zur Charakterisierung der Eiweißkörper verwenden läßt. Einige Grade unter der Temperatur, bei der die Koagu- lation momentan eintritt, wird der Eiweiß- körper gefällt, wenn man ihn längere Zeit erwärmt. Weiterhin hat die Anwesenheit von Salzen einen bedeutenden Einfluß, indem sie den Koagulationspunkt um 2 bis 12° erhöhen. Bei Verminderung des Druckes ändert sich die Koagulationstemperatur der Eiweißkörper gar nicht, was das Kochen der Speisen auf hohen Bergen erschwert. ß) Andere Methoden der Denaturie- rung. Dieselbe Umwandlung des natürlich vorkommenden kolloidalen in den denaturier- ten Zustand erleiden die Eiweißkörper durch vieles andere. Sie tun es zunächst beim Verweilen im ungelösten Zustande; Globulin, Fibrinogen und Myosin werden dabei so schnell unlöslich, daß es das Arbeiten mit ihnen er- schwert; aber auch die dauerhafteren Albu- minkristalle werden beim Stehen in einer Ammonsulfatlösung schließlich in denaturierte Pseudomorphosen verwandelt. In ganz trok- kenem Zustande sind sie haltbarer. Reine Eiweißkristalle vertragen ein kurzes Er- hitzen auf 150° oder eine 5 stündige Er- hitzung auf 120°. Casein ist empfindlicher. Bei längerem Erhitzen in ungelöstem Zu- stande nimmt die Verdaulichkeit durch Pepsin und Trypsin ab. Weiterhin erfolgt die Denaturierung durch alle Fällungsmittel mit Ausnahme des Aus- salzens. Doch erfolgt die Denaturierung meist nicht sofort; in salzfreier Lösung fällt der Alkohol die Eiweißkörper nur schwer, und sie bleiben zunächst noch löslich, bei Zusatz einer Spur von Salz aber erfolgt eine reichliche Fällung, und die kolloiden Eiweiße werden bald denaturiert. Nicht an- ders als Alkohol verhält sich Aceton, indem die Eiweißkörper zunächst löslich gefällt und erst sekundär denaturiert werden, und auch die Fällungen durch Phosphorwolfram- säure und durch Schwermetallsalze sind anfangs reversibel, später nicht mehr. Im Laufe der Reindarstellung, besonders wenn dabei häufige Fällungen mit Alkohol und Aether benutzt werden, können Eiweiß- körper wie Zein und Casein nicht nur ihre Löslichkeit, sondern auch ihre Verdaulichkeit ganz einbüßen. Wie die gelösten Eiweiße verhalten sich auch die festen, das Fibrin und die gewebs- bildenden; auch sie werden durch Erhitzen, Alkohol, Metallsalze, Formaldehyd usw. koa- guliert und denaturiert. Auf dieser Koagu- lation beruht die Härtung und Fixierung von Organen und Präparaten. Die dazu verwendeten Verbindungen, Alkohol, Subli- mat, Formaldehyd, Salpetersäure usw., sind alle Eiweißfäller. Mit der Denaturierung gehen den Eiweiß- körpern die Differenzen in der Löslichkeit verloren; alle denaturierten Eiweißkörper verhalten sich darin gleich, daß sie in Alkalien und Säuren löslich, in Wasser und Salzen unlöslich sind. Auch ist ihnen allen ge- meinsam, daß die Acidalbumine und Alkali- albuminate in verdünntem Alkohol sehr viel löslicher sind als die nativen Eiweißkörper. Dagegen bleiben Zusammensetzung, chemi- sche Natur, Reaktionen, Salzbildung usw. natürlich erhalten. Für die mikroskopische Färbung, die ja ganz überwiegend an koagu- liertem Eiweiß vorgenommen wird, ist es von entscheidender Wichtigkeit, daß die verschiedene Löslichkeit und Hydrolysier- barkeit der Salze der Eiweißkörper mit Farbstoffen bei den denaturierten Eiweiß- körpern ebensogut wie bei den nativen zu beobachten ist. Ob im einzelnen hierbei Unterschiede existieren, ist freilich nicht untersucht. Ein besonders sorgfältig untersuchtes denaturiertes Eiweiß ist das „aschefreie Eiweiß", das man erhält, indem man Eier- eiweiß mit Kupfersalzen fällt, das Kupfer- albuminat in Alkali löst, durch genaues Neutralisieren fällt und dies mehrmals wieder- holt. Im Gegensatz zu den natürlichen Ei- weißen werden die Halogeneiweiße, das Oxyprotein, die Methyleneiweiße und die Verbindungen der Eiweißkörper mit Silber und mit Osmiumsäure (vgl. Abschnitt io) durch Erhitzen nicht koaguliert. Man muß wohl annehmen, daß es sich bei ihnen überhaupt um Verbindungen von denaturiertem Eiweiß handelt. Bemerkenswert ist, daß sie alle die Schwefelbleireaktion nicht oder schlecht geben sollen. y) Die Spaltung des Eiweiß durch Säuren und Alkalien. Nahe verwandt mit den Erscheinungen der Koagulation ist die Spaltung des Eiweiß durch Alkalien und Säuren, da es hierbei zunächst auch in Alkalialbuminat oder Acidalbumin umge- wandelt wird. Freilich bleibt der Prozeß hierbei nicht stehen, sondern es treten früher oder später neben dem Acidalbumin oder Alkalialbuminat Albumosen und Peptone auf. Ja bei Einwirkung auch nur einiger- maßen stärkerer Säuren oder Alkalien be- ginnt der Prozeß der Abspaltung anscheinend gleichzeitig mit dem der Umwandlung, und es tritt die Ers cheinung ein, die in den Abschnitten 3 und io geschildert ist, daß ein Teil des Eiweiß weiterverwandelt wird, während ein wider- standsfähiger Rest zurückbleibt. Das Acid- albumin des ganzen Eiweiß und das nur der Antigruppe angehörende Acidalbumin haben äußerlich, nach Löslichkeit und Fällbarkeit, die gleichen Eigenschaften, so daß äußerlich Eiweißkörper 127 die Spaltung des Eiweiß sich nicht von der bloßen Denaturierung unterscheidet. In ihrer Empfindlichkeit gegen Alkali- und Säurewirkung zeigen die einzelnen Eiweißkörper Differenzen. Das Myosin wird außerordentlich leicht in Acidalbumin übergeführt, durch einen Tropfen 1/10 n- Salzsäure in wenigen Minuten, so daß die Koagulation des Myosins auf Schwierig- keiten stößt. Für dies sehr leicht entstehende Acidalbumin des Muskeleiweiß wurde speziell der Name Syntonin eingeführt; er wird indessen auch für alle Acidalbumine ohne Unterschied angewendet. Das Eieralbumin wird bei Zimmertemperatur durch 1/s n-HCl in 1 Stunde umgewandelt, das Serumalbumin gar durch 1/i n-HCl erst in vielen Stunden. Pepsin (s.Abschnitt 5) beschleunigt die Säure- wirkung sehr. Viel empfindlicher als gegen Säuren ist das native Eiweiß gegen Alkalien, die Alkali- albuminatbildung erfolgt im allgemeinen schneller, bei niederer Temperatur und ge- ringerer Konzentration. So genügt bei Zimmertemperatur eine 1J20 n-Natronlauge, um in 2% Stunden Serumalbumin zum großen Teil in Älkalialbuminat überzuführen; auch kommt es schon hierbei zur Ammoniak- entwickelung. Eine y2 n-Natronlauge aber zersetzt das Serumalbumin in weitem Maße, eine 1/len- Kalilauge zerstört Eiereiweiß zum großen Teil. Mucin verliert durch Alkali sehr leicht seine charakteristischen physikalischen Eigenschaften, Casein spaltet Phosphorsäure ab. Abweichend von der bisher besprochenen Bildung von Acidalbumin und Älkalialbu- minat, die sich äußerlich bei Salzmangel gar nicht, bei Salzgegenwart durch eine Fällung zu erkennen gibt, gestaltet sich die Erscheinung, wenn man konzentriertere Säu- ren und Laugen und konzentrierte Eiweiß- lösungen anwendet. Dann verwandelt sich die Flüssigkeit in eine mehr oder minder steife Gallerte, die alle Uebergänge zwischen heller, glasartiger Durchsichtigkeit und dicker, weißer Opaleszenz zeigen kann. Diese Gallerte empfing zuerst die Namen Acid- albumin und Älkalialbuminat. Mit dem Viskosimeter ist eine anfängliche Zunahme der inneren Reibung bei der Einwirkung von starken Säuren und Alkalien auf Eiweiß beobachtet. Ueber Labgerinnung und Blutgerinnung siehe unten Casein und Fibrinogen, über Totenstarre Myosin. 12. Spezieller Teil. Im Abschnitt 4 ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Eiweißkörper sich durch ihre Zusammen- setzung aus qualitativ und quantitativ ver- schiedenen Aminosäuren unterscheiden. Selbstverständlich wäre es das Richtigste, diese Verschiedenheit der Bausteine zur Grundlage der Einteilung zu machen. Gewisse Gruppen, wie die Protamine und Historie werden auf diese Weise scharf umgrenzt, die große Masse der natürlich vorkommenden Eiweiße würden in eine, nicht weiter auflösbare Gruppe vereinigt werden müssen. Um auch diese mitzuumfassen, muß man daher die alte, auf Löslichkeit und Vorkommen gestützte Einteilung teil- weise beibehalten, und es ist dies auch insofern gerechtfertigt, als sich immer mehr herausstellt, daß zwischen der Zusammen- setzung eines Eiweiß aus Aminosäuren und seiner Löslichkeit und seinen sonstigen Eigen- schaften ein Zusammenhang besteht, daß die alten Gruppen also natürliche sind. Danach bilden den Mittelpunkt des Systems die in der Natur vorkommenden einfachen Eiweißkörper. Ihnen gegenüber stehen einmal die noch eiweißartigen Körper, die durch Umwandlung oder Spaltung aus ihnen hervorgehen, die Acidalbumine und Alkalialbuminate, die Albumosen, Peptone und Peptide, die Halogeneiweiße usw. Die dritte Gruppe sind die Proteide oder zu- sammengesetzten Eiweiße, die aus einer Verbindung eines Eiweißkörpers mit einem anderen Körper, einer „prostetischen Gruppe" bestehen, und die nach dieser prosthetischen Gruppe eingeteilt werden. Die alte Einteilung der nativen Eiweißkörper in die wasserlös- lichen Albumine und die in Wasser unlös- lichen, in Säuren, Alkalien und Salzen lös- lichen Globuline hat sich bewährt. Die Albumine sind zwar sehr verschieden zu- sammengesetzt, aber sie ähneln sich in ihrem Verhalten, besonders ihrer Kristallisier bar- keit, auch zeigen sie und die Globuline unter sich sehr übereinstimmende Aussal- zungsgrenzen, sowie auch einige Ueberein- stimmung in der Anordnung der Amino- säuren. Die weiteren Gruppen der alkohol- löslichen Pflanzeneiweiße, der Histone und Protamine sind natürlich. Eine weitere Gruppe von einfachen Ei- weißkörpern sind die „Albuminoide", die im festen Aggregatzustande die tierischen Gerüstsubstanzen bilden; der Name umfaßt also keine chemische, sondern eine anato- mische Einheit. Doch bedingt die gemeinsame Funktion auch eine Gemeinsamkeit mancher Eigenschaften. Das Schema der Eiweißein- teilung würde also lauten: A. Einfache Eiweißkörper. I. Albumine. Serumalbumin, Eieralbu- min, Milchalbumin. II. Globuline. Serumglobulin, Fibrinogen und Fibrin. Milchglobulin, Eierglobulin, Percaglobulin, Kristallin, Pankreasglo- 128 Eiweißkörper bulin, Harnglobuline, Organglobuline, Myosin, Pflanzenglobuline. III. Alkohollösliche Pflanzeneiweiße. Gliadin, Hordein, Zein. IV. Histone. V. Protamine. VI. Gerüst eiweiße (früher Albuminoide). 1. Kollagen. 2. Keratin, Koilin. 3. Elastin. 4. Fibroin und Seidenleim. 5. Spongin, Gorgonin usw. 6. Conchiolin. 7. Amyloid. 8. Ichthylepidin. 9. Andere Gerüsteiweiße (Albumoide). B. Umwandlungsprodukte. 1. Acidalbumin und Alkalialbuminat. 2. Albumosen, Peptone, Peptide. 3. Halogeneiweiße, Oxyprotsulfonsäure usw. C. Proteide oder zusammengesetzte Ei- weiße. 1. Phosphoproteide. 2. Nucleoproteide. 3. Hämoglobin und Verwandte. 4. Glykoproteide. Murine, Mucoide, He- licoproteid. A. Die einfachen Eiweißkörper. Die zunächst zu besprechende Gruppe der einfachen, koagulierbaren, nativen, ge- nuinen oder echten Eiweiße, der Albumine und Globuline kann als Typus der Klasse angesehen werden. An ihnen haftete im ursprünglichen Sinne allein der Name Eiweiß, und alle älteren Schilderungen, zumal über das physikalische Verhalten der Eiweiß- körper, beziehen sich auf die Albumine und Globuline. I. Die Albumine. Die Albumine sind koagulierbare neutrale Eiweißkörper, die in salzfreiem Wasser löslich sind. Ebenso sind sie in verdünnten Salzlösungen, Säuren und Alkalien löslich. Ihre reinen Lösungen sind genau neutral. Im allgemeinen sind sie schwerer fällbar als die Globuline und viele Proteide, was zu ihrer Reindarstellung häufig Verwendung efunden hat. So werden sie durch Be- rührung mit Tierkohle oder Ton, im Unter- schiede etwa vom Casein, nicht unlöslich, können daher durch Tonplatten filtriert werden, ohne auszufallen. Durch NaCl und MgS04 werden sie bei neutraler Reaktion nicht ausgesalzen. Für Ammonsulfat liegen ihre Fällungs- grenzen nach Hofmeister zwischen 6,4 und 9, also sehr hoch; sie werden demnach durch Halbsättigung ihrer Lösungen nicht ausgesalzen, wohl das bequemste Mittel, um sie von den Globulinen zu trennen, mit denen sie stets zusammen vorkommen. Die Albumine sind kristallinisch bekannt. In ihrer Zusammensetzung haben sie nur gemeinsam, daß sie kein Glykokoll ent- halten. Serumalbumin. Es bildet einen wech- selnden Anteil der Eiweißkörper des Blut- serums der Wirbeltiere, kommt ebenso in der Lymphe vor und findet sich daher in allen nicht gründlich von Blut und Lymphe be- freiten Organen. Bei Nierenentzündungen geht es in den Harn über, ebenso in patholo- gische Transsudate. Die Kristallisation gelang zuerst aus Pferdeblut und geschieht am bequemsten durch Ammonsulfat und Schwefelsäure. Auch aus Kaninchenblut ist es kristallinisch gewonnen, bei anderen Tieren nur amorph. Analyse siehe Abschnitt 1 1, Spaltungsprodukte Abschnitt 4. Sehr hoch ist der Gehalt aus Leu ein, ferner der an Cy- stin und daher an Schwefel. Die Koagula- tionstemperatur ist um 67°. Sein* bemerkenswert ist das Verhalten des nativen Serumalbumins gegen Trypsin. Das Semmalbumin wird nämlich von dem Trypsin kaum gespalten, geht aber mit dem Trypsin wie andere Eiweißkörper eine Verbindung ein, und entzieht dadurch an- deren, leichter spaltbaren Eiweißkörpern das Trypsin, wirkt also ,,antitryptisch". Denaturierung vernichtet diese Eigenschaft. Auch gegen Säuren ist Serumalbumin sehr resistent, Alkohol und Aether denaturieren nur langsam. Eieralbumin. Das Eieralbumin bildet den Hauptbestandteil der konzentrierten Eiweißlösung, die als Eiereiweiß, Eierweiß, Hühnereiweiß oder Eierklar bezeichnet wird und das Weiße der Hühnereier bildet. Sie enthält außer dem Eieralbumin noch ein Globulin und ein Mucoid, von denen das letztere erst relativ spät von dem Eieralbumin getrennt wurde. Alle älteren und viele neueren Untersuchungen beziehen sich daher nicht auf das reine Eieralbumin, sondern auf sein Gemenge mit dem einen oder anderen dieser Eiweißkörper. Das Eieralbumin enthält neben den Aminosäuren Glucosamin, ist also kein einfaches Eiweiß, sondern ein Glycoproteid, und wird nur der Tradition folgend zu dieser Stelle zugeführt. Ueber das Glucosamin siehe bei den Glycoproteiden. Daß man das Eier- albumin für einen einfachen Eiweißkörper hielt, und die Zuckerabspaltung aus ihm Eiweißkörper 129 infolgedessen verallgemeinerte, hat viel Ver- wirrung hervorgerufen. Das Eieralbumm aus frischen Hühner- eiern kristallisiert gut aus saurer Ammon- sulfatlösung; auch aus anderen Vogeleiern (Krähen, Tauben) wurden Kristalle erhalten. Ueber das Eiweiß der Nesthocker siehe Ab- schnitt ii. Das Eieralbumin enthält infolge des Glucosamingehalts nur 15% N, und relativ viel Sauerstoff. Der S- Gehalt ist niedrig und neben dem Cystin scheint noch ein anderer S-haltiger Körper vorzukommen. Die Aminosäuren zeigen nichts Charakteris- tisches. Trotz seiner Kristallisierbarkeit ist das Eieralbumin nur schwer von anderen Kolloiden des Eiereiweißes zu trennen. Gegen Trypsin verhält es sich ähnlich wie Serumalbumin, ist aber nicht ganz so schwer verdaulich. Milchalbumin. Es ist ein konstanter Bestandteil aller Milcharten, aber neben dem Casein meist nur in geringer Menge vorhanden. Analysen, Spaltungsprodukte und physikalische Konstanten gestatten kein Urteil über etwaige Beziehungen zum Serum- albumin. Andere Albumine sind nicht bekannt, die aus Organen gewonnenen entstammen Besten von Blut und Lymphe. Auch Infusorien und Muscheln enthalten kein Albumin. Es ist zwar in der Literatur öfters von „Albuminen" des Eigelbs, von Organen, Bakterien und Pflanzen die Bede, doch ist damit in der Kegel nur ein koagulier- bares Eiweiß gemeint, kein Albumin in dem hier behandelten Sinne. Ueber die Albumine, die in kleiner Menge in Pflanzensamen ge- funden werden, siehe bei den Pflanzen- srlobulinen. II. Die Globuline. Die Globuline sind einfache, koagulierbare Eiweißkörper, die im Gegensatz zu den Albuminen in reinem Wasser und in ver- dünnten Säuren unlöslich, in verdünnten Alkalien, in Neutralsalzlösungen und stär- keren Säuren dagegen löslich sind. Sie werden daher aus ihren salzhaltigen Lösungen durch Verdünnen mit Wasser, vollständiger noch durch Fortdialysieren der Salze, ganz oder teilweise gefällt, sind aber dann in Salzlösungen wieder löslich. Ebenso werden sie durch Ansäuern ihrer Lösungen, auch schon durch anhaltendes Durchleiten von Kohlensäure, gefällt und sind dann in neutralen Lösungen ebenfalls wieder löslich. Indessen werden sie nach dem Fällen mit Säure oder durch Dialyse sehr bald, viel rascher als die Albumine, unlöslich, d. h. denaturiert und sind nur frisch gefällt wieder vollständig aufzulösen. Ihre Fällbarkeit durch Säuren und Lös- lichkeit in Alkalien beruht darauf, daß sie ; selbst Säuren sind, die auf Lackmus sauer reagieren und Kohlensäure austreiben. In- folgedessen sind sie früher mit den Alkali- albuminaten zusammengeworfen worden. Schwerer zu erklären ist ihre Löslichkeit in Neutralsalzlösungen; in Abschnitt 9 ist aus- geführt, daß es sich bei den Verbindungen der Eiweißkörper mit Neutralsalzen entweder um „molekulare Verbindungen", um Doppel- salze handelt, oder daß die Eiweißkörper als amphotere Elektrolyte mit beiden Ionen des Salzes Salze bilden. Sicher ist, daß es bei der Löslichkeit des Globulins in Salzen nicht nur auf die absolute Menge des Salzes ankommt, sondern auch auf die Konzen- tration (Ausfällen durch Verdünnen) und daß alle Salze gleich wirksam sind, die nicht Eiweiß fällen oder aussalzen. Niehtelek- trolyte können in keiner Konzentration Globuline in Lösung halten. Die Globuline werden durch Magnesium- sulfat, teilweise auch durch Chlornatrium, bei vollständiger Sättigung der Lösung ausgesalzen; bei neutralem Ammonsulfat hegen die Grenzen für Serumglobulin bei 2,9 und 4,6, für die anderen Globuline ganz ähnlich: jedenfalls werden sie alle durch Halbsättigung ihrer Lösungen mit Ammon- sulfat vollständig gefällt und stehen so in der Mitte zwischen den schwerer aussalz- baren Albuminen und dem Fibrinogen, Casein usw., die noch leichter ausgesalzen werden. Die Darstellung der Globuline erfolgt so- daß man die globulinhaltige Flüssigkeit, z. B. das Serum, nach Hammarsten mit neu- tralem Magnesiumsulfat sättigt, oder be- quemer mit dem gleichen Volumen kalt- gesättigter neutraler Ammonsulfatlösung ver- setzt. Der Niederschlag wird in Wasser gelöst — falls die anhaftenden Salze nicht genügen sollten, unter Zusatz von etwas Chlornatrium - - dann entweder sehr stark mit destilliertem Wasser verdünnt oder besser die Salze durch Dialyse entfernt, und endlich das Globulin durch sehr verdünnte Essig- säure vorsichtig gefällt. Die Ausbeute ist aber bei der Fällung durch Dialyse und Ansäuern schlecht, und falls es nicht auf Salzfreiheit ankommt, ist es zweckmäßiger, das Globulin nur durch wiederholtes Aus- salzen darzustellen. Der Nachweis der Globuline beruht darauf, daß sie phosphor- freie, koagulierbare Eiweiße sind, die durch Verdünnen und Ansäuern gefällt werden, sowie auf ihrem Verhalten zu Salzen. In ihrer Löslichkeit ähneln sie den Phosphor Proteiden, und da die Globuline sehr leicht Lecithin und Phosphate aus Flüssigkeiten und Geweben festhalten, so sin Extraktion bekommt man es zusammen mit der Nucleinsäure. Die Spaltungsprodukte bieten keine Besonderheiten, der N-Gehalt ist 17 bis 18%, der S-Gehalt beim Leucosin über 1%, bei den Globulinen 0,7%. Im Weizenkorn sind 0,4% Leucosin enthalten, im Mehl 0,6% Globulin, im Keim etwa 10% Albumin. Im Roggenmehl sind etwa 0,4% Leu- cosin enthalten, 1,7% Globulin und Albu- mose. In der Gerste ist das relative Mengen- verhältnis dasselbe wie in Roggen und Weizen. In Gerstenmalz fand sich daneben noch ein edestinartiges Globulin. Im Mais konnte ein Albumin nicht mit Sicherheit gefunden werden, dagegen mehrere Globuline. Im Hafer sind nur Spuren von Albumin enthalten, dagegen eine große Quantität von Globulin, das an Menge den alkohollös- lichen Eiweißkörper übertrifft. Es kristalli- siert. 1 kg Reis enthält 1,4 g Globulin und 0,4 g Leuconin. III. Die alkohollöslichen Eiweißkörper der Getreidearten. Gliadin, Hordein, Zein, Avenin, Kleber. Weizen und Roggen; Gliadin, Glit- te n in. Das Endosperm des besonders genau untersuchten Weizenkorns enthält neben viel Kohlenhydraten zwei einfache Eiweißkörper, das alkohollösliche Gliadin und das Glutenin, das in Wasser und neutralen Salzlösungen unlöslich ist und sich nur in Säuren und besonders in Alkalien löst. Die beiden Eiweiß- körper bilden zusammen das Klebereiweiß oder Gluten, das beim Behandeln des Weizen- mehles mit Wasser als eine teigige Masse von eigentümlicher Konsistenz zurückbleibt. Auf den physikalischen Eigenschaften dieses Ge- menges beruht die Möglichkeit, Mehl zu Brot zu backen. Beide Eiweiße zusammen wurden früher auch als Pflanzenfibrin be- zeichnet, das Glutenin auch als Glutencasein, und sie sind sehr oft untersucht worden. Doch haben auch hier erst Osbornes Unter- suchungen wirkliche Klarheit geschaffen. Die absolute Menge des Eiweißes ist in den einzelnen Weizensorten sehr verschieden (um das Zwei- bis Dreifache), immer aber sind Gliadin und Glutenin in etwa gleichen Anteilen vorhanden. Das Gliadin — und die entsprechenden Eiweiße des Roggens und der Gerste ver- halten sich genau so — ist in Salzlösungen unlöslich und wahrscheinlich auch in reinem Wasser, bildet aber schon mit kleinen Mengen von Säure oder Base Salze, die in Wasser löslich sind. Die Salze mit Säuren werden durch Salze, die mit Alkalien durch Carbonate gefällt. In absolutem Alkohol ist es unlöslich, in einem Gemenge von Wasser und Alkohol dagegen leicht löslich, am leichtesten in Alkohol von etwa 70%. Auch andere verdünnte Alkohole lösen. Beim Kochen in alkoholischer Lösung wird Gliadin nicht verändert, beim Kochen einer Aufschwemmung in Wasser oder in sehr verdünntem Alkohol verliert es dagegen seine Löslichkeit. Die Spaltungsprodukte des Gliadins, Hordeins und Zeins sind in der Tabelle in Abschnitt 4 genannt. Das Glutenin zeigt keine besondere Eigentümlichkeit, nur daß der Basengehalt im ganzen niedrig, der an Glutaminsäure und Ammoniak hoch ist; um so mehr das Gliadin, es enthält viel Prolin, mehr als ein Drittel seines Gewichts Glutaminsäure, sehr viel Ammoniak, kein Lysin, wenig Arginin und anscheinend auch kein Glykokoll. Damit erscheint das Gliadin — zusammen mit den ihm nahestehenden Eiweißen der anderen Getreidearten - als eines der bestcharakterisierten Eiweiße über- haupt, und die Bildung einer besonderen Gruppe ist erforderlich. Osborne schlägt für diese Gruppe den Namen „Prolamm" vor, der aber dem „Protamin" zu ähnlich ist. Die Eiweißkörper des Roggens stimmen mit denen des Weizens ganz nahe überein. Die Reindarstellung des Glutenins stieß bisher wegen der Beimengung eines gummi- artigen Kohlenhydrats auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Gerste; Hordein. Ganz ähnlich dem Weizen. Das Glutenin konnte noch nicht isoliert werden, das alkohollösliche Hordein ist eines der vollständigst aufgelösten Eiweiße. Mais; Zein. Im Mais findet sich das alkohollösliche Eiweiß Zein, das sich durch seine Löslichkeit selbst in starkem Alkohol auszeichnet. In absolutem Alkohol ist es zwar unlöslich, aber in 96 prozentigem Alkohol löst es sich leicht und kann daraus nur durch Aether gefällt werden. Man hat diese Lös- lichkeit, die es vor allen Eiweißkörpern, Proteiden und Albumosen auszeichnet, be- nutzt, um den Weg des Zeins durch den Körper zu verfolgen." Außerdem zeichnet sich das Zein dadurch aus, daß es beim Erhitzen mit Wasser leicht ganz unlöslich und dann auch für die Verdauungsfermente schwer angreifbar wird. Auch ohne Erhitzen wird es leicht unlöslich. Es ähnelt in dem hohen Glutaminsäuregehalt den Gliadinen, wenn er auch niedriger ist, auch fehlen ihm wie diesen Lysin und Glykokoll, außerdem aber fehlt ihm das Tryptophan, was ebenfalls zu physiologischen Versuchen benutzt ist. Auf- fallend hoch ist der Leucingehalt. Das Zein ist nächst den Protaminen am vollständigsten aufgelöst. Das Zein ist im Mais in relativ vorhanden, als das Gliadin größerer Menge i:;ii Eiweißkörper im Weizen, Glutenin in geringerer; der Mais liefert daher auch kein Gluten wie Weizen, Roggen und Gerste, und kann nicht zu Brot verbacken werden. Das Glutenin enthält Lysin und Tryptophan, so daß die Eigenart des Zeins bei der Ernährung mit dein ganzen Maiskorn keine Rolle spielt. Hafer; Avenin. Im Hafer ist ebenfalls ein alkohollösliches Eiweiß vorhanden, das Avenin, das anscheinend viel Schwefel ent- hält, außerdem ein Globulin, das aus warmer lOprozentiger Kochsalzlösung beim Abkühlen in Kristallen ausfällt. Ein Albumin scheint zu fehlen und auch die Existenz eines Glutenins ist nicht bewiesen; Kleber ist infolgedessen nicht zu erhalten. Reis; Oryzenin. Im Reis findet sich neben kleinen Mengen Albumin und Globulin als Hauptmasse ein Eiweiß, das sich nur in Alkali löst, das Oryzenin, das also als Glutenin bezeichnet werden muß. Ein alkohollösliches Eiweiß fehlt, und damit die Möglichkeit, aus Reismehl Brot zu backen. IV. Histone. Die Histone sind Eiweißkörper, die einen relativ hohen Gehalt an Basen, besonders an Arginin, haben und daher selbst einen über- wiegend basischen Charakter annehmen. Sie werden infolgedessen, und das ist ihre auffallendste Eigenschaft, von Alkalien, spe- ziell Ammoniak, gefällt, im Ueberschusse aber — wenigstens die meisten — wieder auf- gelöst. In Säuren sind sie sehr leicht löslich; sie verhalten sich also umgekehrt wie die Eiweiße von saurem Charakter, die Globuline und Caseine. Der N- Gehalt ist hoch (18 bis 2 %), der S- Gehalt niedrig. Unter den Spaltungs- produkten überwiegt das Arginin, auf das etwa V4 des N fällt (vgl. Tabelle in Ab- schnitt 4). Durch Pepsinsalzsäure entsteht das Histopepton (Abschnitt 8). Die Histone bilden in Verbindung mit Nucleinsäure den Hauptbestandteil der Zell- kerne der weißen und kernhaltigen roten Blutkörperchen und der Spermatozoen einiger Fische; auch in anderen zahlreichen Organen, z. B. der Milz ist Histon gefunden. Nucleohiston aus den Leucocyten der Thymusdrüse. Man extrahiert Thymusdrüsen mit Wasser und fällt aus der Lösung mit Essigsäure ein Nucleoproteid, das Nucleohiston. Wenn man dieses mit Salz- säure von 0,8% behandelt, fällt ein Nuclein aus, und es bleibt Histon in Lösung, das dann mit Ammoniak gefällt ward. Siehe unter Nucleoproteide. Bemerkenswert ist der hohe Gehalt an Tyrosin. Das Thymushiston ist sehr leicht verdaulich und wird sogar von Erepsin angegriffen. Kalbsthymus ist für seine Leichtverdaulichkeit bekannt, Histon aus den roten Blutkörper- chen der Vögel. Die Blutkörperchen der Gans werden wiederholt mittels der Zentri- fuge mit Kochsalzlösung gewaschen, und die Zellsubstanz mit Wasser zur Lösung gebracht. Durch abwechselndes Behandeln des kernhaltigen unlöslichen Rückstandes mit Wasser und Kochsalzlösung lassen sich das Hämoglobin und die übrigen Bestand- teile des Protoplasmas entfernen, und durch Auskochen mit Alkohol und Aether entfernt man Lecithin und andere Bestandteile der Kernsubstanz. Es bleibt ein Rückstand, der fast nur aus Histon und Nucleinsäure besteht, etwa 42,1% Nucleinsäure und 57,8% Histon enthält. Aus ihm läßt sich mit Salzsäure von 1% der größte Teil des Histons ge- winnen. Histon aus den Spermatozoen von Fischen. Die Spermatozoen mehrerer Fische, des Kabeljaus (Gadus morrhua), der Quappe (Lota vulgaris) und des Dorn- hais (Centrophorus granulosus), sowie des Seeigels Arbacia pustulosa enthalten in reifem Zustande Histone, ebenfalls an Nu- cleinsäure gebunden. In den Hoden des Lachses (Salmo salar) und der Makrele (Scomber scombrus) sind in reifem Zustande Protamine enthalten. Die unreifen Spermatozoen enthalten dagegen Körper, die nach ihren Reaktionen Histone sind. Sie würden also eine Zwischenstufe zwischen den gewöhnlichen Eiweißkörpern und den Protaminen sein, wozu die Histone nach Eigenschaften und Zusammensetzung wohl geeignet sind. Doch ist es nicht aus- geschlossen, daß ein Gemenge von Protamin und Eiweiß vorgelegen hat, das in seinen Reaktionen an die Histone erinnert. Die Spermatozoen der Säugetiere ent- halten nach Mi es eher und Mathews weder Histon noch Protamin, sondern andere Eiweißkörper. V. Die Protamine. Mi es eher fand 1874 in den reifen Sper- matozoen des Lachses eine Base, die er Protamin nannte. Aufgenommen wurden Mieschers Untersuchungen durch Kos sei, der die Protamine zu einer der bestgekannten Gruppe der Eiweißkörper gemacht hat. Durch ihn und seine Schüler sind in den Spermato- zoen mehrerer Fische Protamine gefunden worden, die untereinander große Aehnlichkeit zeigen, und die Kos sei je nach dem Tiere, von dem sie stammen, als Salmin, Sturin, Clupein, Scombrin usw. bezeichnet. Die Protamine bilden eine gut abge- grenzte Gruppe, die von der Mehrzahl der übrigen Eiweißkörper nicht unerheblich ab- weicht. Sie sind schwefelfrei und enthalten sehr viel mehr Stickstoff und weniger Kohlen- Eiweißkörper 137 stoff als die anderen Eiweiße. Die Protamine enthalten nämlich in ganz überwiegendem Maße die basischen Spaltungsprodukte, ins- besondere das stickstoffreiche Arginin, das bei den genau untersuchten 58 bis 84% der Spaltungsprodukte ausmacht. Dafür treten die Monoaminosäuren zurück. Glykokoll, Phenylalanin, Asparagin- und Glutamin- säure und Oxypyrrolidincarbonsäure fehlen ganz, ebenso Ammoniak, und die anderen traten immer nur in geringer Menge und vereinzelt auf. Die Bausteine, aus denen sich die Protamine aufbauen, können ebenso zahlreich sein wie die der anderen Eiweiße, aber sie sind weniger verschieden als sonst, die einzelnen wiederholen sich gleichmäßiger. Deshalb gelingt die Auflösung der Protamine in ihre Spaltungsprodukte so sehr viel leichter als bei den anderen Eiweißkörpern, und das ist der Grund, weshalb Kos sei sie als ein- fachste Eiweißkörper bezeichnet (vgl. Ab- schnitt 4 und 3). Für das Salmin führen Analyse und Spaltung entweder zu der Zusammensetzung C8iH155N45018 10 Mol. Arginin + 2 „ Serin 4- 2 „ Prolin -j- 1 „ Valin oder zu der Zusammensetzung C98H186N54021 . . .= 12 Mol. Arginin + 2 ,, Serin + 3 „ Prolin + 1 Valin Beim Clupein stehen Arginin und Prolin in gleichem Verhältnis zueinander, wie im Salmin, auf 2 Moleküle Valin kommen 1 Molekül Serin und 1 Molekül Alanin. Beim Scombrin ist die vollständige Aufteilung ebenfalls gelungen; es enthält nur Arginin, Alanin und Prolin, und zwar wie das Salmin in einem Verhältnis, daß 2 Argininmoleküle auf 1 Molekül der beiden anderen Spaltungsprodukte kommen. Von den Protonen, den Peptonen der Protamine, war schon in Abschnitt 3 und 8 die Rede; sie sind symmetrisch gebaute Diar- ginide, von denen ein Derivat des Diarginyl- valins (C17H35N9015) in Kristallen gewonnen werden konnte. Die Protamine sind starke Basen, deren Eigenschaften in freiem Zustand wenig unter- sucht worden sind. Sie ziehen Kohlensäure an und bläuen intensiv Lackmus. Sie lassen sich ohne Schwierigkeit mit Säure titrieren, wobei sich ergeben hat, daß die Alkaleszenz des Clupeins ebenso groß ist, wie die des Ar- ginins, welches daraus hervorgeht. Von den Salzen sind die Sulfate am besten getrennt, doch auch die löslicheren Chloride, die Pikrote und andere. Durch Zusatz von ge- sättigter Kochsalzlösung werden die Salze als Oele abgeschieden. Durch Erhitzen werden die Protamine nicht koaguliert; dagegen zeigen sie beim Stehen Veränderungen, die auf eine Art Denaturierung schließen lassen. Durch die Alkaloidreagenzien werden die Protamine, nicht nur wie die Histone bei neutraler, sondern auch bei alkalischer Reaktion ge- fällt, so daß hier die Reihe Eiweiß — Histon— Protamin sehr deutlich ist. Bei schwach ammoniakalischer Reaktion geben Prot- amine mit Eiweißkörpern und primären Albumosen Niederschläge; Deuteroalbu- mosen und Peptone geben keine Fällung. Leim gibt unter bestimmten Bedingungen einen Niederschlag. Die Niederschläge haben Aehnlichkeit mit den Histonen. Durch Pepsin wird das Protamin nicht angegriffen, durch Trypsin, Erepsin und die Fermente von deren Typus dagegen in Aminosäuren oder Protone zerlegt. Die Protamine haben ähnliche toxische Wir- kungen wie die Albumosen. In den unreifen Spermatozoen des Lachses und der Makrele sind, wie bei den Histonen erwähnt Wurde, Körper gefunden worden, die nach ihren Reaktionen Histone sind; doch ist freilich zu berücksichtigen, daß ein Ge- menge von koagulierbarem Eiweiß und Protamin viele Eigenschaften der Histone zeigen kann. Sind es aber wirklich Histone, so bestünde hier chemisch und genetisch die gleiche Reihe. Das Protamin muß näm- lich beim Lachse aus dem Körpereiweiß her- vorgehen, weil der Lachs während des Wachs- tums der Testikel keine Nahrung aufnimmt. Die bedeutenden Mengen Arginin, die zum Aufbau des Salmins erforderlich sind, brau- chen dabei nicht neu gebildet zu werden, vielmehr liefert das während dieser Zeit in Verlust gehende Muskeleiweiß reichlich genug Arginin. Doch läßt das Vorkommen des Agmatins im Heringssperma immerhin daran denken, daß die Umsetzung auch über das Arginin hinaus gehen kann. Genau untersucht sind die drei zu einer Gruppe gehörigen Protamine Salmin, Clupein, Scombrin, ferner das Sturin, weniger voll- ständig die beiden Cyprinine, das Crenilabrin und das Cyklopterin, sowie das Acipenserin des Scherg* (Acipenser stellatus). Protamine sind enthalten auch in dem Sperma der Bachforelle (Salmo fario), des Schnäpels (Coregonus oxyrhynchus), des Welses (Silurus glanus) und des Hechtes Esox lucius). In Bakterien sind basische, schwefelfreie Eiweiße gefunden worden, die möglicherweise hierher gehören. 138 Eiweißkörper VI. Die Gerüsteiweiße. (Früher Älbuminoide ) Unter dem Namen der Älbuminoide faßt man seit langem eine Reihe von Eiweiß- körpern zusammen, welche die Gerüstsub- stanzen der Tiere bilden, also der histologi- schen Gruppe des Bindegewebes im weitesten Sinne angehören. Sie sind niemals Teile einer tierischen Zelle, sondern sie bilden die Grund- substanz, in welche die Zellen eingelagert sind. In den Ernährungsflüssigkeiten der Tiere, Blut, Lymphe usw., kommen keine derartigen Körper vor, und ebensowenig in Pflanzen. Sie sind Eiweißkörper so gut wie die löslichen Eiweiße: sie zerfallen durch Säuren oder Fermente in die gleichen Albumosen, Peptone und Aminosäuren, sie werden durch Halogene substituiert, bilden Salze, haben etwa die gleiche prozentische Zusammen- setzung und geben die gleichen Farbenreak- tionen. Darum ist es zweckmäßig, den alten Namen Älbuminoide oder eiweißähnliche Körper fallen zu lassen, der aus der Zeit stammt, da man den kolloidalen Charakter der Albumine und Globuline als das Wesent- liche für den Eiweißbegriff ansah. Die eng- liche Nomenklaturkommission hat den Namen „Seieroproteins" geprägt; hier soll von den „Gerüsteiweißen" die Rede sein. Chemisch umfaßt die Gruppe die aller- verschiedensten Körper. Dem Leim fehlen Tyrosin und Tryptophan, wogegen er sich durch einen hohen Gehalt an Glykokoll, außerdem an Basen und an Prolin auszeichnet. Das Keratin ist von allen Eiweißen am reichsten an Cystin und damit an Schwefel, außerdem reich an Tyrosin; das Elastin nähert sich durch seine Basenarmut einigen Pflanzeneiweißen. Das Fibroin besteht zu mehr als 50% aus Alanin und Glykokoll. Immerhin bedingt die anatomische Zu- sammengehörigkeit eine Reihe chemischer Eigentümlichkeiten, die allen Gerüst- eiweißen gemeinsam sind. Ihre Funktion besteht darin, daß sie dem Körper als Stütze und Decke dienen und dem leben- den Protoplasma der Organe Form und Zusammenhalt verleihen, und sie haben daher alle die physikalische Eigenschaft großer Festigkeit. Dabei kann es sich entweder um die durch Einlagerung von Mineralbestand- teilen bedingte außerordentliche Härte der Knochen der Wirbeltiere oder der Schalen der Weichtiere oder anderer zum Schutze dienenden Bedeckungen vieler niederer Tiere handeln, für die meist Gerüsteiweiße die organische Grundsubstanz liefern. Oder es handelt sich um Körper von hoher Elastizität, wie bei den Sehnen und den aus elastischem Gewebe bestehenden Körperteilen; oder end- lich es wird nur, wie bei dem gewöhnlichen Bindegewebe, ein gewisser Grad von zähem Zusammenhalten ohne eigentliche Festig- keit verlangt. Eine Eigenschaft müssen aber alle Gerüstsubstanzen haben, und das ist ihre vollständige Unlöslichkeit in allen tierischen Flüssigkeiten. Alle Gerüsteiweiße sind in Wasser und Salzlösungen ganz unlöslich, meist aber auch in verdünnten Säuren oder Alkalien kaum löslich, sondern sie können nur durch Eingriffe in Lösung gebracht werden, die diese ihre Grundeigenschaft aufheben und von denen wir auch sonst wissen, daß alle Eiweißkörper durch sie zerstört und chemisch verändert werden. Da wir einen chemischen Körper nun nicht wohl anders als in Lösung vollständig untersuchen können, so gehört es zur Charakteristik der Gerüsteiweiße, daß sie im nativen Zustande, wie sie im Körper vorkommen, unzugänglich sind und immer erst, nachdem sie mannigfachen Veränderun- gen unterworfen wurden, zur Untersuchung kommen. Die Isolierung, die Feststellung der chemischen Individualität, der Eigen- schaften und der Zusammensetzung der Älbuminoide ist daher noch viel schwerer als bei den Zelleiweißen, die im Protoplasma doch im halbflüssigen, halbgelösten Zustande vorkommen. Was die physikalischen Eigenschaften der nativen Eiweiße anlangt, ihren kolloidalen Charakter und was damit zusammenhängt, so ist ein Vergleich mit fleh im festen Aggre- gatzustande befindlichen Gerüsteiweißen nicht wohl möglich. Nur das leichtest lös- liche unter den Gerüsteiweißen, das Kollagen, macht hiervon eine Ausnahme; das aus ihm durch kurzes Kochen entstehende Glutin, der Leim, erstarrt beim Erkalten seiner Lösungen zu einer Gallerte, eine Eigenschaft, die seinen Umwandlungsprodukten nicht mehr zukommt und die daher wohl mit der Löslichkeit der genuinen Eiweiße, die ihnen I bei der Denaturierung verloren geht, ver- glichen werden kann. Auch von dem Moleku- largewicht kann bei festen Körpern nicht wohl die Rede sein. Die Abgrenzung der Gerüsteiweiße gegen die übrigen Eiweiße ist eine scharfe, höchstens könnte man von einigen Uebergängen zu den Murinen reden, etwa dem Chondromucoid; die Aehnlichkeit beruht indessen nicht auf ! der chemischen Uebereinstimmung der be- treffenden Körper, sondern darauf, daß sie im Organismus zu einer funktionellen Einheit zusammengefaßt sind. Schwieriger ist da- gegen die Abgrenzung (TPO'Pll bcbC11 eine Reihe nicht eiweißartiger Gerüstsubstanzen, die bei niederen Tieren vorkommen, wie das Hyalin, und die chemisch kaum bekannt sind. Glutin, Keratin, Elastin, Fibroin, Spongin. Koilin, Konchiolin, Amyloid usw. sind gut charakterisierte Stoffe. Eine Anzahl wenig Eiweißkörper 139 gekannte Körper sind als Albumoide zu- sammengefaßt. Eine wesentliche Eigentümlichkeit der Gerüsteiweiße, die ebenfalls durch ihren anatomischen Charakter bedingt ist und die ihre Beschreibung erschwert, ist ihr Altern. Die Zellen werden durch ihren Stoff- wechsel fortwährend neu ergänzt und altern nicht; die Zelleiweiße und die löslichen Eiweiße bleiben im Laufe des Lebens der Tiere dieselben. Wohl aber verändert sich im Alter die Zwischensubstanz in erheblicher Weise ; sie nimmt an Masse zu und wird fester und härter. Besonders an dem eigentlichen Bindegewebe ist dies deutlich; während junges Bindegewebe überwiegend aus Zellen mit wenig und weicher Grundsubstanz besteht, bildet diese im Alter, etwa bei Narben- gewebe, eine derbe, zähe, feste Masse, die mit der Grundsubstanz des jungen Gewebes physikalisch kaum mehr eine Aehnlichkeit hat. Auch bei den anderen Gerüsteiweißen, besonders bei denen, welche die Gerüste oder Schalen der Wirbellosen bilden, spielen diese Altersunterschiede eine Rolle. Das- selbe Gewebe, das im jugendlichen Zustande weich und biegsam war, ist im Alter, zumal wenn noch Kalkeinlagerungen dazu kommen, steinhart. Chemisch ändert es sich dabei nicht, aber die Löslichkeit nimmt mit dem Festerwerden naturgemäß immer mehr ab, so daß Kollagen und Elastin dem Keratin ähnlich werden, während ihre Spaltungs- produkte, ihre Reaktionen und ihre Zusam- mensetzung die früheren geblieben sind. 1. Kollagen; Leim. Die Fibrillen des gewöhnlichen Bindegewebes, die Grund- substanz der Knochen und Knorpel, bestehen aus „leimgebendem Gewebe" oder Kollagen. Wenn man dies Kollagen mit kochendem Wasser behandelt, so geht es in Lösung, und diese in Wasser lösliche Substanz nennt man Glutin, Leim oder Gelatine. Die wichtigste Eigenschaft des Glutins ist, daß es beim Abkühlen seiner Lösungen auf Zimmertemperatur zu einer Gallerte erstarrt, die sich beim Erwärmen wieder auflöst, um beim Erkalten von neuem zu entstehen. Das Kollagen ist naturgemäß wenig be- kannt. Das Kollagen des gewöhnlichen Binde- gewebes ist in Pepsinsalzsäure sehr leicht löslich, in Trypsin dagegen in unverändertem Zustande unlöslich, was zur Isolierung des Bindegewebes in mikroskopischen Präparaten benutzt wird. Die Uliverdaulichkeit des Binde- gewebes in Trypsin verwendet man auch zur Prüfung auf das Vorhandensein von Pepsin bei Patienten (Schmidt sehe Probe). Man gibt Stückchen rohen Fleisches zu essen, das durch Pepsin ganz gelöst wird. Fehlt das Pepsin aber, so werden die Muskelfasern durch Trypsin gelöst, das Bindegewebsgerüst erscheint aber im Kot. Das Kollagen wird in Trypsin ebenfalls löslich, wenn es in Säuren gequollen und dann durch Erwärmen in Wasser auf 70u wieder geschrumpft ist. In den Sehnen und verwandten Geweben, z. B. dem Ligamentum nuchae kommt Kolla- gen mit Elastin und Mucin zusammen vor, auch hier in Fibrillen angeordnet. Aus dem Kollagen entsteht der Leim verschieden leicht, am schnellsten durch Kochen mit Säuren; aber auch anhaltendes Kochen mit Wasser bringt das Kollagen in Lösung. Die Zeit, die hierfür erforderlich ist, wechselt bei den einzelnen Glutinen sehr; leicht löslich ist das Kollagen der Fischschuppen; den Leim aus Tracheal- knorpel vom Rind oder dem Nasenknorpel des Schweins erhält man durch bloßes Er- wärmen auf dem Wasserbade, während der Ohrknorpel vom Schwein Erhitzen auf 110° erforderte. Worin die Umwandlung des leimgebenden Gewebes in Leim ihrem Wesen nach besteht, ist unbekannt. Das Glutin oder der Leim ist im trockenen Zustande ein farbloses, amorphes Pulver. In der Regel aber kommt er in glasigen noch wasserhaltigen Stücken vor, der be- kannten käuflichen Gelatine. Wie bei allen Gerüsteiweißen schwankt die Zusammenset- zung, Löslichkeit usw. je nach der Art der Vorbehandlung etwas. Sind doch die Fibrillen stets in Gemenge mit anderen Gewebebe- standteilen, aus denen Eiweißkörper u. a. mit dem Leim in Lösung gehen und wenn man durch stärkeres Kochen oder Lösungs- mittel diese Beimengungen entfernen will, läuft man dann wieder Gefahr, den Leim zu zersetzen. Gewöhnlich sucht man die Bei- mengungen zu entfernen, indem man die Gewebe abwechselnd mit verdünnter Säure und verdünntem Alkali in der Kälte be- handelt, mit kaltem Wasser wäscht und durch Kochen den Leim in Lösung bringt. Die Analysen ergeben alle einen relativ hohen N-gehalt (18%) und einen niedrigen S- Gehalt (0,5%); auch der C- Gehalt ist niedrig (49%), was sich in der niedrigen Verbrennungswärme äußert. Wichtiger sind die Spaltungsprodukte, bei denen die kleinen Differenzen in der Reinheit eine geringere Rolle spielen. (Vgl. Tabelle in Abschnitt 4.) Leim enthält 16 bis 19% Glykokoll, viel Prolin und Lysin, reichlich Arginin, dagegen kein Tyrosin und Tryp- tophan. Mit dem hohen Gehalt an Glykokoll, dem Fehlen der Tyrosins und Tryptophans steht die relative Schwerverdaulichkeit des Leims im Einklänge. Es liefert Antipepton in Filter Ausbeute, ebenso Pepsinalbumosen und Kyrin. 140 Eiweißkörper Salpetersäure fällt nicht, ebensowenig die meisten Schwermetalle; die Nieder- schläge mit Platinchlorid, Zinnchlorid sind in der Siedehitze löslich, und kehren beim Erkalten zurück, ebenso die mit Gerbsäure und Pikrinsäure. Der Niederschlag mit Phosphorwolframsäure ist hitzebeständig. Ferrocyankalium und Essigsäure geben mit Leim außer bei besonderen Bedingungen keine Fällung, was seit Alters als charak- teristisch gilt. Bei der Fällung des Leims mit Gerbsäure ist (vgl. Abschnitt 9 und 11) ein bestimmtes optimales Verhältnis nötig. Eine vollständige Fällung kommt nur zustande, wenn Leim und Gerbsäure im Verhältnis 1:0,7 vorhanden sind. Bei einem Ueberschuß von einem der beiden Bestandteile löst sich der Niederschlag teilweise wieder auf. Locker vermag Leim aber nicht nur diese, sondern die dreifache Menge Tannin zu binden. Dem frischgefällten Leimtannat entzieht Alkohol einen Teil des Tannins, ist der Niederschlag aber einmal getrocknet, so ist er unzersetzlich, geworden, und gibt auch an Alkohol keine Gerbsäure ab. Auf der Bildung dieses be- ständigen, nicht zersetzlichen, kaum angreif- baren Leimtannats beruht bekanntlich das Gerben der Haut zu Leder. Der Leim ist in kaltem Wasser, in Salz- lösungen, Säuren und Alkalien unlöslich, quillt aber darin auf. Die Quellung ist in Säuren und Alkalien viel stärker als in reinem Wasser; das Aufquellen der Haut in alkalischen Lösungen ist ja bekannt. In heißem Wasser ist der Leim äußerst '• leicht löslich; eine derartige Lösung erstarrt beim Abkühlen zu einer Gallerte, die je nach der Konzentration die derbe Konsistenz des Tischlerleims besitzt oder dünn und zitternd ist. Reine Gelatine erstarrt, je nach der Konzentration, bei 18 bis 25°, beim Er- wärmen schmilzt sie bei 26 bis 29°. Der Schmelz- und Erstarrungspunkt wird aber durch Salze und durch organische Kristalloide beeinflußt. Diese Fähigkeit, zu gelatinieren, kommt nur dem unveränderten Leim zu, nicht aber seinen Umwandlungsprodukten, den Gelatosen oder Glutosen, oder dem Glutinpepton. Wenn eine Leimlösung daher mit irgendwelchen Mitteln behandelt wird, durch die Eiweißkörper in Albumosen ge- spalten werden, so verliert sie die Fähigkeit, zu erstarren. Dies geschieht durch Kochen mit Wasser mit oder ohne erhöhten Druck ferner durch Kochen mit Säuren und Alkalien, durch die Pepsin- und die Trypsinverdauung und die Fäulnis. Aber noch bevor es zu dieser Spal- tung kommt, tritt ein Stadium ein, in dem Leimlösungen sonst unverändert sind, aber nicht mehr gelatinieren, ein Zustand, den man der Denaturierung des Eiweiß ohne weitergehende Spaltung vergleichen kann. Bei Körpertemperatur gehaltene Leimlösun- gen verlieren ihre Gelatinierfähigkeit in der Regel ziemlich rasch, oft in 1 bis 2 Tagen. Durch trockenes Erhitzen verliert Ge- latine umgekehrt ihre Löslichkeit in warmem Wasser. Bei subkutaner, noch mehr bei intra- venöser Injektion kommen dem Leim gewisse Giftwirkungen zu. Es kommt zu Sopor, Temperaturerniedrigung und Tod. Außerdem beschleunigt er die Blutgerinnung. Hornhaut- und Fischschuppen- kollagen. Das bisher geschilderte Glutin ist das aus Bindegewebe oder Sehnen gewonnene. Genau so verhält sich das Kollagen in Horn- haut und Sclera und das aus den Fisch- schuppen. Die Hornhauttrockensubstanz besteht zu 80%, die der Sclera zu 87% aus Kollagen. Der Rest kommt größtenteils auf Mucoid. Die Linse und die übrigen Teile des Auges enthalten kein Kollagen. Die Fischschuppen bestehen zu 1/5 aus dem Ichthylepidin (siehe unten), zu 4/5 aus Kollagen, das sich durch die Leichtigkeit auszeichnet, mit der es zu Glutin wird. 1 Wenn man Muskeln in Wasser kocht, geht Glutin oder Gelatosen in Lösung, finden sich daher im käuflichen Fleisch- extrakt. Knorpelkollagen. Die Grundsubstanz des Knorpels besteht aus einem Gemenge von Kollagen und einem Mucoid, dem Chondromucoid. Außerdem ist im Knorpel ein Bestandteil der Chondro mucoids, die Chondroitinschwefelsäure , noch frei ent- halten, und ferner noch ein Gerüsteiweiß (Albumoid, siehe unten), das sich aber nur in altem Knorpel findet. Das Balkennetz der älteren Knorpel besteht aus diesem Gerüsteiweiß und Kolla- gen, die davon umschlossenen, durch anderes Verhalten gegen Farbstoffe sich abhebenden Chondrinballen aus Kollagen und Mucoid. Durch verdünnte Säuren bei 40° wird aus dem Knorpel ein Gemenge von Glutin mit Chondroitinschwefelsäure, durch Kochen im Papinschen Topf ein solches von Glutin, Mucoid und der Säure erhalten. Dies Ge- menge wird zum Unterschiede von gewöhn- lichem Glutin nicht durch Tannin gefällt, weil die Chondroitinschwefelsäure die Eigen- schaft besitzt, die Fällung zu verhindern. Knochenkollagen. Ossein. Die Grundsubstanz des Knochens besteht größ- tenteils aus Kollagen und Kalksalzen, die in dieses eingelagert sind. Außerdem enthält er ein Albumoid (siehe unten) und ein Mucoid, das dem Chondromucoid ähnelt (siehe unten). Die Bildung des Knochenleims aus dem Kollagen scheint schwer zu sein. Das Ossein, d. h. entkalkter Knochen, wird Eiweißkörper 141 von Pepsin so leicht gelöst wie anderes Glutin. Auch Bindegewebe von Wirbellosen be- steht, soweit untersucht, aus Kollagen, der Seidenleim gehört aber nicht hierher. 2. Keratin. Das Keratin bildet die Hornsubstanzen des menschlichen und tieri- schen Körpers, also die verhornten oberen Schichten der Epidermis, die Haare, Federn, Nägel, Hufe, Hörner usw. Das sogenannte Neurokeratin bildet einen Teil der Scheide der markbaltigen Nerven. Auch der orga- nische Bestandteil der Eierschalen ist ein Keratin. Das Keratin ist von allen Albuminoiden wohl das unlöslichste. Es ist in Wasser, verdünnten Säuren und Alkalien ganz unlös- lich, selbst Kalilauge von 10% löst nur in der Hitze; in der Kälte ist eine Lauge von 20% zur Lösung erforderlich, und dann ist das Keratin natürlich ganz zersetzt. Auch die Verdauungsfermente vermögen Keratin kaum aufzulösen. Auf welche Weise die Raupe der Pelzmotte sich ihre Nahrung verschafft, ist nicht bekannt. Eine Kenntnis der Löslich- keit usw. des Keratins als solchen ist daher unmöglich; andererseits sichert gerade die vollständige Unlöslichkeit des Keratins eine gewisse Genauigkeit seiner Analysen. Denn durch aufeinanderfolgende Behandlung mit Säuren, Alkalien, Pepsin und Trypsin lassen sich schließlich alle anderen Eiweißstoffe usw. entfernen, und es bleibt reines Keratin zurück. Bei der Analyse war am auffallendsten immer der hohe S- Gehalt, der bei Menschen- haaren bis 6,3, bei anderen Haaren und Eierschalen wenigstens auf 4,3% steigt, und bei Hörnern und Klauen auch noch 2,6 bis 3% beträgt. Dabei enthält auch das Keratin kein anderes S-haltiges Spaltungs- produkt als das Cystin, das demnach 20% des Moleküls ausmachen muß. Bei der Säurespaltung erhält man freilich immer nur einen Teil, da sich das Cystin unter Bildung von Schwefel, Schwefelwasserstoff, Ammo- niak und Humin zersetzt. Sonst ist noch der relativ hohe Gehalt an Glutaminsäure zu erwähnen. Tyrosin ist reichlich vorhanden, doch nicht mehr als etwa im Casein, Glyko- koll nur in geringer Menge, ebenso die Basen. (Vgl. Abschnitt 4, Tabelle.) An den Keratinen sind Untersuchungen darüber angestellt worden, ob die Keratine verschiedener Herkunft verschiedene Mengen Bausteine enthalten, mit dem Ergebnis, daß die Zusammensetzung der einzelnen Keratine verschieden sein muß; man müßte denn annehmen, daß etwa die Menschen- haare reines Keratin seien, die anderen Hornsubstanzen andere Eiweißkörper beige- mengt enthielten, wofür anatomisch kein Anhaltspunkt vorliegt. Für Pepsin und Trypsin ist das Keratin im allgemeinen nicht angreifbar; sogar die dünnen Haare passieren den Verdauungs- kanal des Hundes unverändert. Nur junges Keratin ist etwas angreifbar. Die durch überhitzten Dampf gebildeten Stoffe, das Atmidkeratin und die Atmidkeratosen, sind dagegen verdaulich. Der Nachweis des Keratins gründet sich darauf, daß die Millonsche und besonders die Schwefelbleireaktion sehr stark aus- fallen, und daß die Substanz in Säuren und Alkalien unlöslich und gegen Pepsin und Trypsin resistent ist. Auf Grund dieser Defi- nition ist von jeher außer den eigentlichen Hornsubstanzen auch die organische Grund- substanz der Schale des Hühnereies zu den Keratinen gerechnet worden, auch die Ei- schale eines eierlegenden Säugetiers, des Ameisenigels (Echidna histrix), und die Eierschale des Krokodils besitzen die physi- kalischen Eigenschaften des Keratins und enthalten 5% Schwefel. Auch bei dem Echidna-Keratin hängt die Resistenz gegen Pepsin vom Alter ab. Eine Reihe anderer Eischalen enthält dagegen Eiweißkörper, die keinen besonders hohen Schwefelgehalt besitzen und die keine Keratine sind. Unter- sucht sind die Eierschalen von Schildkröten, Schlangen und verschiedenen Haifischen. Es fand sich reichlich Tyrosin, wenig basischer Stickstoff, und bei der Untersuchung der Aminosäuren wenig Charakteristisches. Das sogenannte Neurokeratin ist trotz seiner Anordnung in äußerst dünner Schicht noch resistenter, selbst gegen recht starke Alkalien, als das Keratin der Epidermis, und bleibt daher zurück, wenn man Nervengewebe nacheinander mit Alkohol, Aether, Säuren, Alkalien und Fermenten behandelt. Man erhält es als ein hellgelbes Pulver, das alle Eiweißreaktionen gibt. Die Analysen er- gaben einen auffallend hohen Kohlenstoff-, einen etwas niedrigeren Schwefelgehalt als bei dem anderen Keratin. Unter den Spal- tungsprodukten findet sich viel Tyrosin, wenig Histidin. etwas mehr Lysin und Arginin; er liefert auch viel Humin. Das Neurokeratin bildet einen Teil der Scheide der markbaltigen Nerven der Wirbeltiere und kommt daher in Gehirn, Rückenmark, Retina und in peripheren Nerven reichlich vor; im Zentralnervensystem macht es etwa 15 bis 20% der von den Myelinsub- stanzen befreiten Trockensubstanz aus. im N. ischiadicus 0,3 % des frischen Nerven. Im Baiichstrang des Hummers findet sich kein Neurokeratin, dafür Chitin. Aufgeführt sei hier auch das Koilin. Es bildet die äußerst feste und harte Hornschicht, die den Muskel- magen der körnerfressenden Vögel auskleidet. Es ist ein erhärtetes Drüsensekret. Nach seiner Zusammensetzung hat das Koilin 142 Erweißkörper nichts mit den Keratinen zu tun, es ähnelt ihnen nur darin, daß es unverdaulich ist, und durch Alkalien und Säuren nur beim Sieden gelöst wird. 3. Elastin. Das Elastin bildet, in Fasern angeordnet, das elastische Gewebe, sei es zu einem dicken, derben Strang ver- einigt, wie in dem oft untersuchten Ligamen- tum nuchae des Ochsen, sei es zu flächen- haften Gebilden ausgebreitet, wie in den Fascien und der Wand der Aorta, sei es endlich in einzelnen Fibrillen in anderes Bindegewebe eingefügt, wie in den Sehnen und dem gewöhnlichen Bindegewebe. Das Elastin ist nicht viel leichter löslich als das Keratin; in der Kälte wird es von 5 prozentiger Säure nicht, von 1 prozentiger Kalilauge selbst in derHitze kaum angegriffen. Dagegen wird es von Pepsin-Salzsäure wie von Trypsin verdaut und, wenn auch langsam, in Albumoseu zerlegt. Die Reindarstellung besteht wie bei dem Keratin darin, daß Eiweiß, Leim und andere Körper durch wechselnde Behandlung mit Säuren und Alkalien in Hitze und Kälte entfernt werden und das Elastin zurückbleibt. Die Analysen ergeben einen auffallend hohen C- Gehalt und einen äußerst niederen S- Gehalt (Spaltungsprodukte vgl. Abschnitt 4). Unter den Spaltungsprodukten macht Glyko- koll über 25% aus, Leucin ist reichlich vor- handen, auch Alanin und Phlenylalanin ; Tyrosin findet sich nur in Spuren, fehlt vielleicht ganz. Audi Tryptophan fehlt. Die 3 Basen sind vorhanden. Ueber das Hemielastin siehe Abschnitt 8. 4. Fibroin und Seidenleim. Die von der Seidenraupe gesponnenen Fäden be- stehen aus Fibroin, das von einer leimartigen Hülle umgeben ist. Die Rohseide ist daher abgesehen von Salzen usw. ein Gemenge von Fibroin und Seidenleim oder Sericin. Lom- bardische Rohseide liefert gegen 70% Fibroin, der Rest ist Leim. Andere Seiden liefern meist weniger Leim (siehe unten). Auch technisch degommierte Seide enthält noch Leim. Der Seidenleim hat die Löslichkeitsver- hältnisse des Glutins. Das Fibroin ist da- gegen in Wasser, auch überhitztem, in ver- dünnten Säuren und Alkalien unlöslich, und man hat daher das Auskochen der Seide im Papin sehen Topfe von jeher zur Trennung ihrer Bestandteile benutzt. Durch Kochen der Seide bei streng neutra- ler Reaktion erhält man das Fibroin unver- ändert. Es besitzt noch die Festigkeit des Seidenfadens, aber nicht mehr den vollen * danz und die Weichheit; auch ist die Hygro- skopizität vermindert. Durch Säuren und Alkalien wird es dagegen zersetzt und in eine brüchige Masse verwandelt. Starke, kalte Salzsäure löst, und aus dieser Lösung läßt über 5% sich durch Alkali ein Albuminat gewinnen, das Sericoin, das beträchtlich weniger Stick- stoff enthält. Daneben entstehen Albumoseu und Peptone. Pej sin und Trypsin greifen Fibroin nicht an, auch im Darm der Säuge- tiere werden-Seidenfäden, selbst in Monaten, nicht gelöst. Leukocyten zerstören es da- gegen schließlich. Der Seidenleim verhält sich in bezug auf die Löslichkeit usw. ähnlich wie Glutin. Die Untersuchung der Spaltungsprodukte hat aber ergeben, daß Seidenleim weder mit Leim noch mit Fibroin etwas zu tun hat. Von großem Interesse ist der Aufbau des Fibroins aus seinen Bausteinen (vgl. Tabelle in Abschnitt 4). Es weicht danach erheblich von den übrigen Eiweißen ab, da es zu mehr als der Hälfte aus Glykokoll und Alanin besteht und 10% Tyrosin enthält. Leucin, Glutamin- und Asparaginsäure treten da- gegen stark zurück, und ebenso die Basen, von denen Lysin und Histidin nicht einmal ganz sicher gefunden sind. Ammoniak ist nur in Spuren vorhanden. Cystin und Schwe- fel scheinen zu fehlen. Infolge der beschränk- ten Zahl der Bausteine ist das. Fibroin relativ weitgehend aufgelöst. An dem Fibroin sind systematische Unter- suchungen darüber angestellt worden, ob die Eiweißkörper des gleichen Gewebes bei nahestehenden Arten oder Rassen identisch sind oder nicht. Der Tyrosingehalt ist recht konstant, der Gehalt an Alanin und besonders an Glykokoll weist dagegen so bedeutende Differenzen auf, daß die einzelnen Fibroine jedenfalls nicht identisch sein können. Die Analysen des Fibroins weisen einen hohen N- und niedrigen C- Gehalt auf. Dem Fibroin ähneln in seiner Zusammen- setzung die Spinnenfäden, das Gespinst der großen Spinne Nephila madagascariensis. Auch der Byssus der Muschel Pinna nobilis, der aus seidenartigen Fäden besteht, gehört hierher. Der physikalischen Aehnlichkeit entspricht hier also der chemisch ähnliche Bau. Auch das Elastin hat ja eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Fibroin und enthält wenigstens viel Glykokoll, wenn auch weniger Alanin. 5. Spongin. Gorgonin. Die Gerüst- substanzen der Schwämme und Korallen sind Halogeneiweiße und werden bei diesen be- sprochen. Das Spongin des Schwammes enthält viel Glykokoll, Prolin, Glutaminsäure, Lysin und Arginin, das Gorgonin der Edel- koralle enthält dagegen kein Glykokoll. Cystin ist vorhanden, aber nicht viel, so daß eine Zugehörigkeit zu den Keratinen, an die man wegen der Härte und Schwerlöslich- keit gedacht hat, nicht besteht. Spongin löst sich besonders leicht in Kupferoxyd- ammoniak. (3. Konchiolin. Die Schalen der Schnek- Eiweißkörper 143 ken enthalten massenhaft Kalksalze. Nach ihrer Entfernung bekommt man elastische Häute, die etwa 1% der Schalen ausmachen. Sie werden als Konchiolin bezeichnet. Dieses ist in Säuren und in überhitztem Wasser nur schwer löslich, ziemlich leicht dagegen in Alkalien, wenigstens verhält sich das junge Konchiolin so, das alte ist nach Voit viel unlöslicher. Tyrosin ist reichlich vorhanden, auch Glykökoll und die Basen sind nachgewiesen. In den Muschelschalen ist das Konchiolin in deutlichen Lamellen angeordnet, die ver- schieden gefärbt sind, aber keine erheblichen chemischen Differenzen zeigen. 7. Amyloid. Das Amyloid ist eine Substanz, die dem normalen Körper fremd ist, und die sich nur unter pathologischen Verhältnissen bildet. Es kommt in zweierlei Gestalten vor, einmal in Form der sogenann- ten Corpora amylacea im Gehirn und an anderen Orten, dann aber in massenhaften Ablagerungen von amyloider Substanz in dem Parenchym der Leber, Milz, Niere usw. bei der Amyloiddegeneration oder speckigen Entartung dieser Organe, wie sie bei chroni- schen Eiterungen, Kachexien usw. auftritt. Das Amyloid bildet hier glänzende, homogene Schollen; bei massenhafter Entwicklung sind die Organe vergrößert, derb, fast holz- artig und sehen eigentümlich speckig und glasig aus. Es soll regelmäßig in der gesunden Aorta, gelegentlich auch in altem Knorpel ein Körper vorkommen, der die Eigenschaften des Amyloids zeigt ; danach wäre das Amyloid kein ausschließlich pathologisches Produkt. Charakteristisch für das Amyloid sind einige Farbenreaktionen: 1. Mit einer Jodjodkaliumlösung färbt es sich nicht hellgelb wie anderes Gewebe, son- dern dunkelbraunrot oder mahagonibraun; behandelt man das mit Jod gefärbte Amyloid mit Schwefelsäure oder mit Chlorzinklösung, so wird es noch dunkler braun oder feuerrot oder violett oder mehr blau oder grün; mit- unter tritt auch schon bei der Behandlung mit Jodlösung allein eine Violettfärbung auf. 2. Mit Methylviolett färbt sich das Amy- loid schön rubinrot, mitunter auch mehr rosa oder rotviolett, nicht blau oder blauviolett wie die normalen Gewebe. Zur Darstellung hat man die sorg- fältig zerkleinerten Organe (Milz und Niere) mit viel 0,1- bis 0,2 prozentigem Ammoniak von Nucleinsubstanzen und anderem Eiweiß befreit, den Rückstand gut mit Wasser gewa- schen, das im Rückstand befindliche Amyloid mit 0,5- bis 1 prozentigem Barytwasser in 10 bis 15 Minuten gelöst, mit Salzsäure ausgefällt, mit Wasser gewaschen und mit Alkohol und Aether getrocknet. Nor- male Organe enthalten kein Eiweiß, das sich in Barytwasser von 0,5% löst, und in Ammoniak von 0,2 % nicht. Indessen hat man in früherer Zeit, in der langdauernde Eiterungen häufiger waren als heute, an- scheinend viel mächtigeres und darum schwe- rer lösliches Amyloid in Händen gehabt. Das Amyloid ist in kaltem Wasser und Salzlösungen ganz unlöslich, durch tage- langes Erhitzen mit Wasser geht es auch nur zum Teil in Lösung, leichter durch Er- hitzen unter Druck. In Säuren löst sich derbes Amyloid nur sehr schwer, fein ver- teiltes leichter; dasselbe gilt von Pepsin. Durch vorhergehende Einwirkung von Natron- lauge wird die Verdaulichkeit für Pepsin erhöht. Durch Pepsin entstehen iVlbumosen und Peptone, die beide Farbenreaktionen des Amyloids noch sehr schön, zum Teil ausgesprochener als die Muttersubstanz geben. Von den Spaltungsprodukten sind die Basen genauer untersucht, sie sind nicht in besonderer Menge vorhanden. 8. Ichthylepidin. In den Fischschup- pen findet sich zusammen mit einem Kol- lagen ein besonderes Eiweiß, das Ichthy- lepidin. Es bildet etwa 20 % der gewöhnlichen Schuppen der Teleostier, fehlt dagegen bei den Ganoidschuppen. Bei Teleostiern fehlt es nur in den Schuppen der Schleie. Der N- Gehalt ist niedrig, Glykökoll ist vorhanden, sonst bieten die Spaltungsproukte nichts Be- sonderes. Es ist in Wasser unlöslich, auch beim Kochen, selbst mit überhitztem Wasser- I dampf nur teilweise löslich. In verdünnten I Säuren und Alkalien ist es in der Hitze, I in konzentrierten auch in der Kälte löslich. j Pepsin und Trypsin lösen es auf. 9. Andere' Gerüsteiweiße (Albu- moide). Unter dem Namen Albumoide, der eigentlich nur ein seltener gebrauchtes Syno- nym für Albuminoide ist, sollen eine Anzahl Substanzen zusammengefaßt werden, die sonst nicht unterzubringen sind, und die eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften haben , Sie bilden die Membranae propriae mancher Drüsen, die Glasmembranen und ähnliches, das Sarkolemm, den festen Bestandteil der Linse usw. Chemisch ist über diese Körper meist herzlich wenig bekannt, vor allem, weil sie meist in sehr handen sind. In Bezug auf Löslichkeit und Verdaulich- keit erinnern sie an das leimgebende Gewebe, von dem sie sich aber dadurch scharf unter- scheiden, daß sie kein Glutin liefern. Sie bleiben zurück, wenn man aus einem Gewebe alle in Wasser, Salzlösungen oder verdünnten Alkalien löslichen Eiweißkörper herauslöst. Das Sarkolemm, aus dem die Hüllen der Muskelfasern bestehen, unterscheidet sich dadurch von den Bindegewebsfibrillen, das es von Trypsin ohne weitere Vorbereitung verdaut, dagegen durch Osmiumsäure un- verdaulich gemacht wird. Ebenso verhält geringer Menge vor- 144 Eiweißkörper sich der häutige Teil der Schwannschen Scheide, sehr ähnlich die Membranae pro- priae der Harnkanälchen, der Magendrüsen und des Pankreas, sowie die Substanz, aus der die Linsenkapsel und die Descemet sehe Membran bestehen. Die letztere wird als Membran in bezeichnet. In Knorpel und Knochen findet sich ein solches Albumoid, das zurückbleibt, wenn alles lösliche Eiweiß, Mucoid und Glutin entfernt wird. Ein anderes Albumoid bildet zusammen mit den Kristallinen die Linsen- fasern. Bei den Linsen von ausgewachsenen Rindern bildet das Albumoid 48% der Eiweißkörper, 17% der frischen Linse; seine Menge hängt indessen vom Alter ab ; in den inneren, älteren Schichten ist es viel reich- licher vorhanden als in den jungen äußeren. Die Chorda dorsalis der Knorpelfische, ein an festen Bestandteilen sehr armes Gewebe, enthält weder Glutin noch ein Murin oder Mucoid, dagegen einen Eiweiß- körper, der sich in Alkalien ziemlich leicht löst, von Säuren gefällt wird und durch Pepsin leicht verdaut werden kann. Mit dem Namen Retikulin bezeichnet man einen Körper, der zusammen mit Kolla- gen das retikuläre Gewebe der Darmmucosa bildet. Es ist pbosphorhaltig. Ferner gehört zu den Albumoiden die früher für Chitin gehaltene Cuticula des Regenwurms. B. Umwandlungsprodukte. Die Umwandlungspro dukte wurden im allgemeinen Teil besprochen. C. Die Proteide oder die zusammen- gesetzten Eiweißkörper. Die Proteide sind Verbindungen eines oder mehrerer Eiweißkörper mit einem Körper, der kein Eiweiß ist, einer „prosthetischen Gruppe". Diese letztere bedingt ihre beson- deren Eigenschaften und ihre Einteilung. Die sehr reaktionsfähigen Eiweißkörper gehen mit vielen chemischen Stoffen Ver- bindungen ein, die in §§ 9 und 10 beschrieben sind. Auch aus den Geweben und Körper- flüssigkeiten lassen sich Verbindungen des Eiweiß mit Lecithin in Lösung bringen, die unter dem Namen Lecithalbumin beschrieben sind. Auch von Lipoproteiden ist gesprochen worden. Hier sollen nur die 4 Gruppen ein- gehender besprochen werden, die bisher als gut gekannte Individuen in der Natur aufgefunden sind, die Phosphoproteide, die Nucleoproteide, die Glykoproteide und die Hämoglobine und Verwandte. I. Die Phosphoproteide. Die Phosphoproteide sind phosphorhal- tige saure Eiweißkörper. Sie sind anfsngs mit den ebenfalls phosphorhaltigen sauren Nucleoproteiden zusammengeworfen worden, mit denen sie das eigentümliche Verhalten gegen Pepsinsalzsäure gemeinsam haben. Als dann die Nucleinsäure, der charakteristi- sche Paarung der Nucleoproteide, entdeckt wurde, trennte man die beiden Gruppen, behielt aber für die hier zu besprechende Gruppe den Namen Nucleoalbumine (im Gegensatz zu den Nucleoproteiden) bei. Erst allmählich ergab sich, daß die Nucleo- albumine den Nucleoproteiden recht fern stehen, und man nennt sie daher heute Phosphoproteide. Das am meisten untersuchte Glied der Gruppe ist das Casein. Ferner gehören dazu die Vitelline aus Eiern, eine Anzahl Phospho- proteide, die physikalisch zu den Schleim- substanzen gehören, und Phosphoproteide aus dem Zellprotoplasma drüsiger Organe. Die Phosphoglykoproteide werden bei den Glykoproteiden besprochen. Behandelt man die Phosphoproteide mit 1 prozentiger Natronlauge, so wird ihr ge- samter Phosphor als Phosphorsäure, P04H3, abgespalten. Die Phosphorsäure muß dem- nach bis auf weiteres als die „prosthetische Gruppe" dieser Eiweißkörper angesehen werden. Ueber die Art und Weise, wie sie mit dem Eiweiß vereinigt ist, weiß man nichts, ebensowenig darüber, ob sie nicht etwa erst aus einem anderen Körper hervorgeht. Doch unterscheidet sich der Phosphor der Phosphoproteide hierdurch leicht von allen anderen organischen Phosphorverbindungen, die im Körper vorkommen, und kann auf diese Weise gut bestimmt werden. Durch Säure findet diese Abspaltung von Phosphor- säure nicht statt, auch nicht durch stärkere Säuren. Trypsin spaltet Phosphorsäure ab, aber nur einen kleinen Anteil, der Rest wird in einen wasserlöslichen, noch unbekannten ! organischen Körper verwandelt, aus dem durch Alkali die Phosphorsäure weniger leicht abgespalten wird, als aus dem ursprüng- lichen Phosphoproteid. Ein wichtiges Charakteristikum der Phos- phoproteide ist ihr Verhalten gegen Pepsin- salzsäure, die aus den Phosphoproteiden einen unlöslichen, phosphorhaltigen Komplex abspaltet, und daher, während der Rest des Eiweiß peptonisiert wird, einen Niederschlag entstehen läßt. Die Ausscheidung ist häufig nur vorübergehend, und geht durch wirk- sames Pepsin wieder in Lösung. — Eine derartige Ausscheidung läßt sich auch bei den Nucleoproteiden beobachten; sie besteht dort aus der Nucleinsäure in Verbindung | mit einer gewissen Menge von Eiweiß, und wird Nuclein genannt. Die entsprechende Ausscheidung bei den Phosphoproteiden ist infolgedessen Paranuclein, Pseudonuclein oder Paranucleinsäure genannt worden. Der Körper enthält 3 bis 4% P und ist eine ausgesprochene Säure, die sich in Alkali Eiweißkörper 145 löst und durch Säuren gefällt wird. Bei dem meist untersuchten Casein ist die Menge des Pseudonucleins gering, bei den anderen Körpern anscheinend größer, bei einem Ichthulin werden 10 bis 15% des Eiweiß von Pepsinsalzsäure gefällt. Die Phosphoproteide sind ausgesprochene Säuren; sie röten Lackmuspapier, sind in Wasser als solche nicht löslich, sehr leicht dagegen in Form ihrer Salze mit Alkalien oder Ammoniak; durch Säuren werden sie aus diesen Lösungen frei gemacht und gefällt. Die Lösungen ihrer Salze sind nicht koagu- lierbar und können daher ohne Veränderung gekocht werden. Im übrigen geben sie die gewöhnlichen Fällungsreaktionen der Eiweiß- körper. Beim Liegen in nicht gelöstem Zustande werden sie nicht unlöslich; auch sind sie gegen Säuren relativ resistent, durch Alkalien werden sie dagegen leicht zersetzt und verändert. Dabei sind die Phosphoproteide indessen wie alle Eiweißkörper amphotere Elektrolyte, und bilden auch mit Säuren Salze. Essig- säure löst in der Regel erst in einem starken Ueberschuß, Salzsäure dagegen schon bei einer Konzentration von 0,5 bis 1%, was zur Trennung von anderen sauren Eiweißen, z. B. den Mucinen, benutzt worden ist, die erst von stärkeren Säuren gelöst werden. 1. DasCasein. Das Casein ist der haupt- sächliche, charakteristische Eiweißkörper der Mich. Die Caseine verschiedener Tiere sind nach Löslichkeit, Fällbarkeit und Spaltbar- keit verschieden, wie weit sie es auch in Zu- sammensetzung und Spaltungsprodukten sind, erscheint noch fraglich. Das Casein aus Kuhmilch hat folgende Zusammensetzung: C 52,96%, H 7,05%, N 15,65%, S 0,758%, P 0,847%. Die Verbrennungswärme ist 5687 cal, Spaltungs- produkte siehe Tabelle im Abschnitt 4. Die Caseine aus Ziegen- und Frauenmilch zeigen recht ähnliche Mengen der Spaltungsprodukte. Bemerkenswert ist das Fehlen des Glyko- kolls und der hohe Gehalt an Tyrosin und Tryptophan. Es hängt damit zusammen, daß das Casein durch Pepsin und Trypsin sehr leicht zerlegt wird; auch wird es als einziges natives Eiweiß von Erepsin angegriffen. Trypsin läßt nur einen kleinen Teil, höchstens 15%, ungespalten. Die Millonsche Reaktion und die Tryptophanreaktionen sind be- sonders stark, die Schwefelbleireaktion schwach. Ueber die Salze des Caseins mit Basen gilt das in Abschnitt 9 Gesagte, daß es wegen der Hydrolyse unmöglich ist, bestimmte Aequi- valenzverhältnisse zu bestimmen. Doch lassen sich einigermaßen deutlich zwei Reihen von Salzen, neutrale und saure, unter- scheiden. Die neutralen Natrium- und Am- moniumsalze sind sehr leicht löslich, die sauren Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. III. Salze sind ebenfalls löslich, doch sind die Lösungen stark opaleszent. Caseinsaures Calcium ist wesentlich schlechter, doch noch leidlich löslich, die Lösung hat aber eine ausgesprochen weiße, „milchige" Farbe: caseinsaures Baryum ist noch schlechter löslich. Das Eucasein ist Caseinammo- nium, die Nutrose und das Plasmon Casein- natrium. In der Milch ist das Casein als Casein- calcium enthalten und steht dabei in Ver- bindung mit phosphorsaurem Kalk. Die Art dieser Beziehung ist noch unaufgeklärt. Das Caseincalcium kann als solches die Eigentümlichkeit haben, das gleichzeitig in der Milch vorhandene neutrale Calcium- phosphat irgendwie in Lösung oder in fein suspendiertem Zustande zu erhalten, oder es kann in der Milch ein eigentliches Doppelsalz von Caseincalcium und Calciumphosphat vorliegen; jedenfalls fällt bei jeder Casein- fällung das Calciumphosphat mit aus, und ebenso das gesamte Milchfett, dessen Emul- sion auch durch das Caseincalcium vermittelt wird. Es ist daher außerordentlich schwer, das Casein von Fett und von phosphorsaurem Kalk zu befreien. Um die einzelnen Fett- kügelchen der Milch befindet sich eine Hülle, an deren Bildung auch die anderen Eiweiß- körper der Milch beteiligt sind. Beim Kochen der Milch verändert sich das Casein ver- mutlich nicht, die Hautbildimg beruht wohl auf der Koagulation der beiden anderen Eiweißkörper der Milch. Doch sind diese Dinge noch wenig aufgeklärt. Aus den Lösungen dieser Salze, also auch aus der Milch wird das Casein durch Mineralsäuren in sehr geringer, durch Essig- säure in stärkerer Konzentration gefällt und im Ueberschusse gelöst; auch Kohlensäure fällt. Die Darstellung des Caseins geschieht so, daß man verdünnte Milch mit Essig- säure fällt, den Niederschlag in verdünntem Ammoniak oder Natriumkarbonat unter Vermeidung alkalischer Reaktion löst und das Verfahren mehrmals wiederholt. Dann wird das Casein mit Alkohol und Aether gründlich von Fett befreit und nochmals mit Essigsäure und Soda behandelt, Die Entfettung kann man sich sehr erleichtern, wenn man statt der Vollmilch die fabrik- mäßig entfettete Magermilch benutzt. Eine Hitzekoagulation zeigt das Casein, wie erwähnt, nicht, denn die Lösungen seiner Salze können, ohne eine Veränderung zu erleiden, gekocht werden. Beim trockenen Erhitzen auf 120 bis 130° verliert es seine Löslichkeit. Präparate, die sehr gründlich gereinigt und entfettet sind, sind bisweilen für die Verdauungsfermente auffallend schwer angreifbar. Zu den gewöhnlichen Fällungsmitteln der Eiweißkörper kommt hier noch der 10 146 Eiweißkörper Kalialaun, der bei geeigneter Konzentration das Casein in der Milch ohne die anderen Eiweißkörper ausfällt. Die Gesamteiweiße der Milch werden durch Eintragen von Kupferoxydhydrat oder durch Tannin gefällt. Das Casein und seine Salze werden durch Kochsalz, durch Magnesiumsulfat und Natri- umsulfat ausgesalzen, wenn die Flüssigkeit völlig gesättigt ist. Die Grenzen für Ammon- sulfat sind für die Hauptmasse des Caseins 2,2 und 3,6. Ferner wird Caseincalcium gefällt, wenn man die Lösung mit Chloroform behandelt, oder wenn man viel Tierkohle oder gebrannten Ton in die Lösung einträgt; es fällt auch schon bei der Berührung mit einer Tonwand aus, so daß beim Durchsaugen von Milch durch Chamberlainfilter das Casein zurückbleibt, die anderen Eiweißstoffe ins Filtrat gehen. Caseinnatrium läßt sich durch- filtrieren. Wirken Pepsin und Salzsäure oder andere eiweißlösende Fermente auf Casein in Gegen- wart von Kalksalzen ein, so kommt es zu einer Gerinnung. Bei geringer Konzentration scheiden sich Flocken ab, bei hohem Gehalt an Casein, wie er z. B. in der Kuhmilch vorliegt, wird die Lösung fest und scheidet sich später in einen festen Kuchen, den Käse, der bei der Milch außer dem Casein auch den phosphorsauren Kalk und das Fett enthält, und eine Flüssigkeit, die sogenannte Molke, die bei der Milch die beiden anderen Eiweißkörper der Milch, den Milchzucker und die löslichen Salze enthält. Man bezeich- net die Erscheinung als „Labung". Das Casein zerfällt dabei irreversibel in Paracasein und in Molkeneiweiß. Das Paracasein scheidet sich unlöslich aus, falls Kalksalze in der Flüssigkeit zur Verfügung stehen. Lange Zeit hat man die Labgerinnung für die Wirkung eines besonderen Fermentes, des sogenannten Labfermentes gehalten. Heute ist die weitaus wahrscheinlichste Annahme, die alle Beob- achtungen erklärt, die, daß die Labgerinnung einfach der erste Schritt der Caseinspaltung ist; das Paracasein ist das Acidalbumin oder die erstentstehende Albumose des Caseins, und die Gerinnung beruht darauf, daß dieser im Beginn der Spaltung gebildete Körper ein unlösliches Kalksalz besitzt. Alle proteoly- tischen Fermente haben daher auch „labende" Wirkung. Bei stärkerer Fermentwirkung zerfällt das Paracasein weiter und der Käse löst sich. Die Bedeutung der Labgerinnung im Magen liegt darin, daß durch sie die Hauptnahrungsbestandteile der Milch gleich im ersten Beginn der Magenverdauung in einen festen Körper verwandelt werden, der e im Magen liegen bleibt, und dort gründlicher verdaut wird, als es bei einer rasch ablaufenden Flüssigkeit der Fall wäre. Das Paracasein hat, abgesehen von der Unlöslichkeit seines Kalksalzes, keine charak- teristischen Eigenschaften; der Phosphor- gehalt ist derselbe wie der des Caseins. Neben dem Casein sind in der Kuhmilch noch die zwei früher erwähnten Eiweißkörper vorhanden, das Laktalbumin und das Lakto- globulin, dagegen keine Albumosen, wohl aber noch andere N-haltige Stoffe. Man rechnet gewöhnlich, daß in der Kuhmilch x/7 des Eiweiß auf Casein kommt, 1/7 auf Albumin und Globulin, und daß die Menge der Extraktivstoffe gering ist, 1/w des Stick- stoffs, 22 bis 34 mg Stickstoff in 100 ccm. Viel erörtert ist die Frage, ob das Frauen- casein mit dem Kuhcasein identisch sei oder ob die zweifellos vorhandenen Unterschiede der beiden Milchsorten sich nur auf die ver- schiedenen Mengenverhältnisse der einzelnen Stoffe in der Milch bezögen. Die Spaltungs- produkte des Frauencaseins sind schon oben mitgeteilt; ihre Menge spricht mehr für Iden- tität, ohne daß die Frage nach kleinen Diffe- renzen, wie etwa zwischen den Eiweißen nahestehender Pflanzen, irgendwie ent- schieden wäre. Ein deutlicher Unterschied zwischen Frauenmilch und Kuhmilch besteht in der Form der Gerinnung; das Kuhcasein gerinnt in derben Flocken oder als festes Gerinnsel, das Frauencasein in feinen gallertigen Flöck- chen. Doch beruht das nur auf dem ver- schiedenen Phosphatgehalt und der verschie- denen Reaktion. Ferner ist das Casein aus der Frauenmilch durch Säure nicht so gut zu fällen wie aus Kuhmilch. Nach Engel muß zumal für Salzsäure ein bestimmtes Mengenverhältnis eingehalten werden, 2 bis 3 ccm yi0 n- Salzsäure, 5 bis 12 ccm V10 n- Essig- oder Phosphorsäure für 10 ccm Milch. Bei mehr oder weniger Säure erhält man keinen sich absetzenden Niederschlag, und außerdem gelingt die Fällung sehr viel besser, wenn die Milch erst dialysiert oder eine Zeit- lang auf 40° erwärmt wird, oder wenn sie vorher gefroren und wieder aufgetaut wird. Auch Lab gibt nur dann eine gut sich ab- setzende Fällung, wenn man die Milch vorher einige Zeit auf 40° hält. Die Frauenmilch ist im ganzen erheblich ärmer an Eiweiß, die Zusammensetzung schwankt stark. Von dem Stickstoff ist Y5 kein Eiweiß, und von dem Eiweiß kommen nur gegen 60% auf das Casein. Die Eselinnenmilch steht in ihrer Zu- sammensetzung und ihren Eigenschaften, auch dem Verhalten zu Lab, der Frauenmilch nahe, 2/3 bis 3/4 des Eiweißes sind Casein, 10 bis 15% des Stickstoffs kein Eiweiß, die Milch enthält 0,94% Casein. 2. Vitellin. Im Eidotter der Hühner- eier befindet sich ein phosphorhaltiger Eiweiß- körper, der als Vitellin bezeichnet wird. Es enthält 12% N, 1,3% P. Es liefert kein Glykokoll, sonst bieten die Spaltungs- Eiweißkörper 147 produkte keine Besonderheiten. Dagegen enthält das Vitellin wahrscheinlich Glucos- amin, ist also ein Phosphoglycoproteid wie das Ichthulin. In seiner Löslichkeit erinnert Vitellin an die Globuline, da es auch in Koch- salzlösung löslich ist. Eingehend ist die aus dem Vitellin hervor- gehende Paranucleinsäure untersucht worden, die Bunge Hämatogen genannt hat. Da das Präparat Eisen zu enthalten schien, das erst nach der Veraschung nachweisbar war, nahm Bunge an, daß das Eisen im Eidotter orga- nisch gebunden enthalten sei, wie im Hämoglobin, nicht als Ion, und hielt das ,. Hämatogen" für die Muttersubstanz des Blutfarbstoffs. Es wird indessen bei den Nucleoproteiden (Piasminsäure) gezeigt wer- den, daß die Anschauung von der orga- nischen Bindung des Eisens in den Phos- phoreiweißen unrichtig ist. Dagegen ist das Vitellin sicher ein wich- tiges phosphorhaltiges Reservematerial. In unbebrüteten Eiern sind 64,8% des Phos- phors im Lecithin, 27,1% im Vitellin ent- halten. Im Laufe der Entwickelung, beson- ders in den späteren Bebrütungsstadien, nehmen beide stark ab, das Vitellin ver- schwindet schließlich ganz, und der Phosphor wird zu Nucleinsäure und zu dem phosphor- sauren Kalk des Skeletts. Auch die Froscheier enthalten reichlich Vitellin, das im Laufe der Entwickelung abnimmt. 3. Ichthulin. Ganz ähnliche Körper wie das Vitellin des Hühnereies sind in den Eiern der Fische enthalten; sie sind lange bekannt und erregten die Aufmerksamkeit dadurch, daß sie in kristallinischer Form, als sogenannte Dotterplättchen vorkommen. Auch hier ist der Körper wahrscheinlich mit Lecithin vereinigt. Untersucht sind die Ichthuline aus den Eiern des Karpfens des Kabeljaus, des Flußbarschs und des Störs. Neben demP(0,6%)isteinGlucosamin vorhanden. Das Karpfenichthulin löst sich klar nur in Alkalien, in Salzlösungen dagegen zu einer opaleszierenden Flüssigkeit, aus der es durch Verdünnen oder Durchleiten von Kohlen- säure gefällt wird. Das Barschichthuhn ist anfangs in Salzlösungen löslich, verliert die Löslichkeit aber nach der Säurefällung. Zu Salzen verhält es sich wie die tierischen Globuline. Die Paranucleinsäure aus dem Kabeljau hat einen Phosphorgehalt von 10,34%. 10 bis 15% des Ichthulins werden durch Pepsinsalzsäure gefällt. In der Zwischen- flüssigkeit der Barscheier ist das bei den Globulinen genannte Percaglobulin enthal- ten, in den Eiern selbst findet sich kaum ein anderes Eiweiß neben dem Ichthulin. Ein weiteres Phosphoglykoproteid ist bei den Glykoproteiden aufgeführt. In Seeigeleiern (Arbacia pustulosa) findet sich kein Phosphor, der sich wie Vitellin- phosphor verhielte. 4. Mucinähnliche Phosphoproteide. Sie haben die Eigentümlichkiet, sich physi- kalisch genau wie die eigentlichen Schleim- substanzeu, die Mucine und Mucoide, zu ver- halten, d. h. die neutralen Ammoniak- oder Alkalisalze bilden zähe, fadenziehende Flüssig- keiten; durch Säuren werden sie gefällt, bei der Denaturierung, z. B. durch zu starke oder zu langdauernde Alkaliwirk ung, langes Kochen oder lange fortgesetzte Alkohol- behandlung verlieren sie diesen Schleim- charakter, koaguliert werden sie nicht. Sie vertreten beimRind, vielleicht auch bei anderen Tieren die Stelle der Mucine; die Schleim- substanz der Niere, Gallenblase und Gelenk- synovia der Rinder ist also ein Phospho- proteid. Diese Körper haben alle einen ziemlich hohen Schwefelgehalt; sonst verschiedene Zusammensetzung. Sie enthalten kein Kohle- hydrat; sie geben mit Pepsinsalzsäure ein Pseudonuclein. Aus manchen zellreichen Organe sind ebenfalls saure phosphorhaltige Eiweißkörper dargestellt wurden, und es ist angenommen worden, daß Phosphoproteide zur regel- mäßigen Zusammensetzung des Protoplasmas gehörten. Es ist in der Regel aber kaum möglich, festzustellen, ob es sich nicht um Nucleoproteicle , oder deren Gemenge mit Globulinen gehandelt hat. II. Die Nucleoproteide. Sie bestehen aus Eiweiß und Nuclein- säure. a) Bau der Nucleinsäuren. Die echten Nucleinsäuren haben folgenden Bau: HOx HO>-C6H10O5-C5H4N6O 0 0 \/ P-C6H10O5-C4H4NsO A Xplc6H10O-C5H5N2O7 0 0 HOs HO P-C6H10O5-C5H4N2 Sie bestehen aus einer kondensierten Phosphorsäure, die mit 4 Molekülen von Glucosiden Ester bildet. Die Glucoside be- stehen aus je 1 Molekül einer bisher noch 10* 148 Eiweißkörper unbekannten Hexose und je 1 Molekül der 4 Basen Guanin, Adenin, Thymin und Cytosin. Ihre Formel ist C43H61N15P4034, ihr Molekulargewicht ist 1455. Sie ist eine 4 basische Säure. Behandelt man die Nucleinsäure in der Kälte mit starker Salpetersäure, so werden zunächst Guanin und Adenin vollständig abgespalten, und ihre schwer löslichen Nitrate kristallisieren aus. Diese Kristalli- sation gelingt so leicht, selbst mit den kleinsten Mengen nucleinsaurer Salze, z. B. unter dem Mikroskop, daß man sie als charakteristische Reaktion gebrauchen kann. Das Kohlenhydrat wird zu einer Säure C6H1008 oxydiert, die mit den bekannteren Säuren, Zucker- oder Schleimsäure, nicht identisch zu sein scheint. Bei der Spaltung durch starke, siedende Säuren (meist ist Schwefelsäure verwendet worden), wird das Nucleinsäure-Molekül ganz zerlegt, aber die Spaltung bleibt hierbei nicht stehen, vielmehr werden durch die Säuren die beiden Aminopurine Adenin und Guanin teilweise in die entsprechenden Oxypurine Hypoxanthin und Xanthin umgewandelt. Das Cytosin wird teilweise in Uracil über- führt: da diese Prozesse Desamidierungen sind, findet sich dann daneben Ammoniak. Aus dem Kohlenhydrat aber entstehen neben huminartigen Substanzen Lävulinsäure und Ameisensäure. Infolge der sekundären Desamidierung findet man also bei der Spaltung der Nuclein- säure selbst oder bei der Hydrolyse von Nucleoproteiden oder ganzen Organen sieben stickstoffhaltige Bestandteile der Nuclein- säure, 3 Pyrimidine und 4 Purine. Die 3 Pyrimidine sind: 1. Uracil oder 2,6-Dioxypyrimidin. 2. Thymin oder 5-Methyi-2,6-dioxypyri- midin. 3. Cytosin oder 6-Amino-2-oxypyrimidin. NH— CO NH— CO NH=CNH2 II II II CO CH CO CCH3 CO CH I II I II I II NH— CH NH— CH NH— CH Uracil Thymin Cytosin Die 4 Purinbasen sind: C5H5N5, das Adenin oder 6-Aminopurin, C5H5N50, das Guanin oder 2-Amino-6- oxypurin, C5H4N40, das Hypoxanthin oder Sarkin oder 6-Oxypurin, C5H4N402, das Xanthin oder 2,6-Dioxy- purin. N=CNH2 HN— CO HC C— NH HC C— NH N— C— N Adenin >CH N— C— N Hypoxanthin. CH NH— CO I I OC C— NH N— CO I I NH2— C C- HN— C— N Xanthin >CH -NH \ // N— C— N Guanin. CH Diese Purinderivate werden auch Nuclein- basen genannt; auch heißen sie Alloxurbasen oder Xanthinbasen. Durch Kochen der Hefe-Nucleinsäure unter Druck bei neutraler Reaktion werden aus ihr die beiden Purinbasen zusammen mit der Hexose, also die Glucoside, abgespalten. Sie heißen Guanosin und Adenosin. Aus der Thymusnucleinsäure läßt sich kein Guanosin erhalten, aus dieser werden durch ver- dünnte Salpetersäure Guanin und Adenin abgespalten, während der Rest des Moleküls, die beiden Pyrimidine, die Phosphorsäure und die Hexose noch zusammenhängen. Dieser Rest wird als Thyminsäure bezeichnet. Neben diesen echten Nucleinsäuren, wie sie bisher aus der Thymus, dem Herings- und Lachssperma und der Hefe dargestellt sind, gibt es eine zweite Gruppe, von der bisher 2 Vertreter bekannt sind, die Guanyl- säure aus dem Pankreas und die Inosinsäure aus den Muskeln. Sie bestehen aus Phos- phorsäure, einer Purinbase und einer Pentose, der d-Ribose, und enthalten von jedem dieser Bestandteile je ein Molekül. Bei der Hydro- lyse zerfällt die Guanylsäure nach der Gleichung: C10H14N508P+ 2H20= C5H5N50 Guanylsäure Guanin + C5H10O5+H3PO4 Pentose Phosphor- säure. Die Inosinsäure zerfällt nach der Glei- chung : C10H13N4O8P+ 2H20 = C5H4N40 Inosinsäure Hypoxanthin + C5H1005+H3P04 Pentose Phosphor- säure. Durch Spaltung mit verdünnter Schwefel- säure erhält man aus der Inosinsäure das Glucosid Inosin, das sich aus Hypoxanthin und der Pentose zusammensetzt, also Inosin- säure minus Phosphorsäure ist. b) Dar Stellung und Eigenschaften der Nucleinsäuren. Die Darstellung der Nucleinsäuren erfolgt am besten nach dem Verfahren von Neu mann Die Organe werden zunächst mit ganz verdünnter Essigsäure gekocht, der Rück- stand durch Kochen in verdünnter Natron- lauge (33:2000 für 1000 g Organ), der noch Natriumacetat (200 g) zugesetzt ist, in Eiweißkörper 149 Lösung gebracht und y2 Stunde erhitzt. Dann fällt man das Natriumsalz der Nuclein- säure durch Zusatz des gleichen Volumens Alkohol, und wiederholt dies mehrmals. Die freie Säure erhält man schließlich durch Fällen mit Salzsäure. Eine andere Methode stammt von Schmiedeberg: er behandelt die Organe mit Kupferchlorid, wobei das nucleinsaure Eiweiß sich zu löslichem, salzsaurem Eiweiß und unlöslichem, nucleinsaurem Kupfer um- setzt, und entfernt so den größeren Teil des Eiweiß. Dann wird das nucleinsaure Kupfer durch Kaliumacetat zur Quellung gebracht, nochmals gewaschen, und schließlich mit Kalilauge und Alkohol behandelt. Darin lösen sich die Reste des Eiweiß, während das nucleinsaure Kupfer zurückbleibt. Doch scheint die so aus den Geweben isolierte Nucleinsaure auch schon nicht mehr die ursprüngliche zu sein, sondern sich von dieser durch die Löslichkeit der Säure und des Kupfersalzes in Kaliumacetat zu unter- scheiden. Die Nucleinsäuren sind im trockenen Zustande weiße, nicht hygroskopische Pulver. Sie sind nur amorph bekannt. Sie sind in kaltem Wasser wenig, in heißem viel leichter löslich, sehr leicht löslich in Alkalien, auch in Kaliumacetat. Durch Mineralsäuren werden sie gefällt und im Ueberschusse gelöst. Durch Alkohol werden sie bei Zusatz von gleichen Teilen gefällt, am besten durch Salzsäure- 1 haltigen 50prozentigen Alkohol oder unter ; Zusatz von Aether oder Natriumacetat. Mit ' den meisten Schwermetallengeben die Nuclein- säuren unlösliche Salze, werden daher von Kupfer-, Silber-, Zink-, Blei-, Eisensalzen ge- fällt. Ferner werden sie durch Gerbsäure, Pikrinsäure und Phosphorwolframsäure ge- fällt, sind also wie alle Purinderivate auch Basen. Die Farbenreaktionen des Eiweiß geben sie natürlich nicht, auch sonst keine charakteristischen Farbenreaktionen, wohl aber tun dies ihre Derivate, besonders die Purine. Die Salze der Nucleinsaure, besonders aus den Leukocyten der Thymus, besitzen die bemerkenswerte physikalische Eigenschaft, Gallerten oder schleimartige Lösungen zu bilden. Eine 5 prozentige Lösung von nuclein- saurem Natron erstarrt beim Abkühlen auf etwa 42° zu einer glasklaren, festen, leim- artigen Gallerte, und auch 2,5 prozentige Lösungen erstarren ebenso, wenn sie Koch- salz oder Fleischwasserpeptonbouillon ent- halten. Man hat dies nucleinsaure Natron daher zur Herstellung von festen, bei 37° noch fest bleibenden, Nährböden für Bak- terien benutzt. Sind die Lösungen verdünnter, so erhält man keine feste Gallerte, aber die Lösungen haben, zumal in Gegenwart von Eiweiß, eine ausgesprochen zähflüssige, an Mucinlösungen erinnernde Konsistenz. Vogelblut erstarrt beim Zusatz von Natronlauge durch die Nucleinsaure der kernhaltigen Blutkörper- chen gallertig, und auch menschliches Blut zeigt, zumal bei vermehrter Leukocytenzahl, noch Anzeichen davon, ebenso leukocyten- reicher Harn. Die Nucleinsäuren und ihre Derivate, die Nucleine und Nucleoproteide, sind rechts- drehend. Die Eiweißkomponente ist links- drehend, doch überwiegt die Drehung der Nucleinsaure. Am wichtigsten sind die Salze der Nu- cleinsaure mit Eiweiß. Sie sind unlöslich, verhalten sich aber wie die Salze der Eiweiß- körper mit den Alkaloidreagenzien, d. h. sie werden bei mangelndem Ueberschuß von Säure hydrolytisch dissoziiert. Die Nuclein- saure fäilt daher Eiweiß nur bei saurer, nicht aber bei alkalischer oder neutraler Reaktion. Eine Zeitlang hat man angenommen, die Nucleinsaure enthalte Eisen, und zwar in organischer Bindung d. h. nicht als Ion, und schrieb dem Eisen der Zellkerne, das in dieser Weise gebunden sein sollte, eine wichtige physiologische Rolle zu. Neuerdings hat sich aber ergeben, daß die Nucleinsaure, die Nucleoproteide und wahrscheinlich die Zellkerne und Zellen überhaupt eisenfrei sind. Die Nucleinsaure „maskiert" nämlich Eisen. Setzt man zu einer Lösung von Meta- phosphorsäure so viel Eisenchlorid hinzu, wie durch die überschüssige Säure in Lösung gehalten werden kann, stumpft mit Ammoniak ab und fällt mit Alkohol und Aether, so er- hält man einen in Wasser, Salzsäure und Ammoniak löslichen Körper, in dem das Eisen mit wenig Schwefelammonium gar nicht, durch mehr auch nicht sofort nachgewiesen werden kann, und aus dem es mit Salzsäurealkohol nur unter besonderen Bedingungen extrahierbar ist. Genau so verhält sich die Nucleinsaure, die ja eine Metaphosphorsäure ist. Auch sie verhindert das Eintreten der Eisenreaktionen, ohne daß irgendein Grund vorliegt, an eine „orga- nische" Bindung des Eisens, d. h. eine Ver- bindung, in der das Eisen nicht Ion ist, zu denken. Auch die Paranucleinsäure aus den Phosphoproteiden und die Nucleoproteide maskieren in dieser Weise Eisen. Das in den Geweben etwa vorhandene Eisen wird bei der Extraktion und Darstellung der Nuclein- säuren und besonders der Nucleoproteide mit diesen zusammen gewonnen, die Reak- tionen des Eisenions werden verhindert, und so kam die Lehre zustande, die Nuclein- säuren und Nucleoproteide enthielten Eisen in nicht ionisierter Form. Vgl. auch das sogenannte Hämatogen aus Vitellin, das die Vorstufe des Hämoglobins sein sollte. c) Die Nucleinsäuren in den leben- 150 Eiweißkörper den Organismen. In derselben Weise wie durch siedende Säuren wird die Nuclein- säure durch Fermente zerlegt, die sogenannten Nucleasen. Sie sind im Pankreas- und wahr- scheinlich im Darmsaft vorhanden, außerdem in der Thymus und vermutlich in anderen Organen und in Bakterien. Bei jeder Auto- lyse findet man Purinbasen und Pyrimidine. Doch ist es bisher nicht möglich gewesen, die Nuclease in gut wirksamem Zustande zu extrahieren, und auf Nucleinsäure einwirken zu lassen. Die Extrakte veränderten die Nucleinsäure, verloren aber vor der vollen Spaltung ihre Wirkung. Wie andere Fer- mente haftet die Nuclease bei der Extraktion der Organe an den Nucleoproteiden. Ein weiteres Ferment wirkt ebenfalls wie siedende Säuren, es spaltet Adenin und Guanin in Hypoxanthin und Xanthin. Es ist in Leber, Milz, Niere, in Pflanzen, Bak- terien gefunden und als Ergebnis seiner Wirkung findet man bei der Autolyse alle 4 Purinbasen und alle 3 Pyrimidine. Im Stoffwechsel der Tiere wird die Phos- phorsäure der Nucleinsäure als Phosphor- säure ausgeschieden, über das Schicksal der Pyrimidinderivate besteht noch keine Klar- heit, bei den Purinderivaten bestehen zwi- schen den Tieren große Differenzen; beim Hund geht jedenfalls ein Teil in Allantom über, ebenso beim Schwein, beim Menschen wird der Stickstoff der Nucleinsäure in der Hauptsache zu Harnstoff, daneben wird eine Beziehung der Purinbasen zum Harn- säurestoffwechsel angenommen, da die Harn- säure als 2-, 6-, 8-Trioxypurin dem Xanthin außerordentlich nahe steht, und durch fermentative Oxydation aus ihm entstehen kann. Doch ist diese Bildung der Harnsäure schwerlich die einzige. Bei den Vögeln wird sie synthetisch gebildet. Ferner kommt unter den Extraktiv- stoffen des Fleisches freies Hypoxanthin vor, und außerdem das obengenannte Inosin. Ein Gemenge von Inosin und Hypoxanthin ist das Carnin des Fleischextraktes. In jungen Pflanzen, z. B. der Wicke, ist Gua- nosin gefunden, und unter dem Namen Vernin beschrieben. In anderen Pflanzen, und damit in der Nahrung der Tiere finden sich methylierte Xanthine, vor allem das Trimethylxanthin oder Kaffein, und die Dimethylxanthine Theobromin und Theo- phyllin. d) Die Nucleoproteide. Die Nuclein- säure bildet mit Eiweiß die sogenannten Nucleoproteide. In den Spermatozoen einiger Fische ist die Nucleinsäure als Salz, nämlich als nucleinsaures Protamin oder nuclein- saures Histon enthalten. In den Organen der Säugetiere liegen andere, noch keineswegs aufgeklärte Verhältnisse vor. Ja, es ist gelegentlich die Existenz der Nucleoproteide als besonderer Verbindungen überhaupt be- stritten worden, indem man so folgerte: Die Nucleinsäure fällt Eiweiß nur bei saurer Beaktion. Extrahiert man daher ein Organ mit einer neutralen oder alkalischen Flüssig- keit, so kann neben dem Eiweiß das darin enthaltenene nucleinsäure Natron in Lösung gehen; säuert man aber an, so fällt nuclein- saures Eiweiß aus. Wenn man daher bei- spielsweise aus einem Wasserextrakt der Thymus mit Essigsäure ein „Nucleoproteid" fällt, so kann dies ein Kunstprodukt sein, das in der Zelle nicht präformiert war, und es brauchen die nucleinsauren Eiweiße ebenso- wenig eine Sonderstellung einzunehmen, wie etwa die phosphorwolframsauren oder tauro- cholsauren Eiweißkörper. Der Einwand ist kaum richtig, und man darf daher die Nucleo- proteide als chemische Individuen und eigene Eiweißkörper ansehen. Sicher ist freilich, daß die eiweißfällende Eigenschaft der Nu- cleinsäure, und auch mancher Verbindungen der Nucleinsäure mit Eiweiß, die Gewinnung und Untersuchung reiner Körper außerordent- lich erschwert. Die Nucleoproteide sind daher noch schlechter gekannt als die einfachen Eiweißkörper des Zellinhaltes. Die Nucleoproteide gehen immer dann und nur dann in Lösung, wenn der Zell- kern zerfällt. Die Nucleoproteide sind also Bestandteile des Zellkerns und übertreffen damit in den zellreichen, drüsigen Organen alle anderen Eiweißkörper an Menge. Von den Leukocyten der Thymus sind 77% der Trockensubstanz Nucleohiston und die Köpfe (Kerne) der reifen Spermatozoen der Fische bestehen, wenn man von den ätherlös- lichen Produkten absieht, fast ganz aus nucleinsaurem Protamin und enthalten andere Eiweißkörper nur in Spuren. Da die den Zellkern mikroskopisch charakterisie- renden Gebilde basophil, d. h. Säuren sind, kann es keinem Zweifel unterliegen, daß das Chromatingerüst des Kernes in der Haupt- sache aus den sauren Nucleinstoffen besteht. Ob dies freilich Nucleoproteide sind, oder ob das Chromatin Nucleinsäure ist, während die , ungefärbte Zwischensubstanz Eiweiß ent- ! hält, das ist augenblicklich weder chemisch , noch mikroskopisch zu entscheiden. Gründet sich der mikroskopische Nachweis doch über- wiegend auf den Charakter des Chromatins als Säure, und Säuren sind die Nucleine und Nucleoproteide wie die Nucleinsäure. Zwi- schen der färberisch sichtbar zu machenden Menge des Kernchromatins und der chemisch nachweisbaren Menge des Nucleinphosphors besteht bei der Entwicklung der Seeigeleier gar keine Proportionalität. Histologisch nimmt die Menge des Chromatins während der Furchung ungeheuer zu, während der Nucleinphosphor nahezu unverändert bleibt. Die Eiweißpaarlinge der Nucleinsäure der Eiweißkörper 151 Fischhoden sind Protamine und Histone, die bei den einfachen Eiweißkörpern be- sprochen sind. Auch in den Leukocyten der Thymus und den kernhaltigen roten Blut- körperchen ist die Nucleinsäure mit Histon vereinigt. In allen anderen Organen ist der Eiweißpaarling nicht isoliert. In den Sperma- tozoen und den Vogelblutkörperchen hegt ein Salz der Nucleinsäure mit Protamin und Histon vor, bei anderen Nucleoproteiden scheint dagegen eine andere Verbindung zwischen Nucleinsäure und Eiweiß möglich zu sein. Bei deren Spaltung wird nicht die Nucleinsäure von dem Eiweiß abge- spalten, sondern eine Verbindung der Nu- cleinsäure mit einem weiteren Teile des Eiweiß, ein sogenanntes Nuclein. Es sieht danach so aus, als sei die Nucleinsäure mit zwei Teilen Eiweiß verbunden, von denen der eine leicht, der andere schwer abzutrennen ist. Dazu ist indessen zu bemerken, daß die Nucleine noch viel schwerer rein zu erhalten sind als die Nucleoproteide, und daß man daher noch leichter Gemenge oder Kunst- produkte bekommen kann. Sie enthalten etwa 4% P. Die Nucleoproteide sind in reinem Zu- stande, wie andere Eiweißkörper, lockere, weiße, nicht hygroskopische Pulver. Sie haben alle ausgesprochen sauren Charakter, sind in Wasser und Salzlösungen löslich, lös- licher noch in Alkalien. Durch Säuren werden sie gefällt, im Ueberschusse, besonders der Mineralsäuren, wieder gelöst; doch können sie hierdurch zerlegt werden. Die Aussal- zungsgrenzen sind bei den einzelnen ver- schieden, ebenso das Verhalten beim Er- hitzen, doch koaguliert jedenfalls der größere Teil der Nucleoproteide mit dem Eiweiß der Organe (siehe unten beim Pankreas) und findet sich daher im Rückstand, wenn man die Organe mit Wasser auskocht. Löslich- keit in Salzen siehe unten bei der Thymus. Mit Pepsinsalzsäure geben Nucleoproteide einen Niederschlag, der Nucleinsäure mit etwas Eiweiß ist, also ein Nuclein. Zellkerne werden daher vom Magensaft nicht aufgelöst. Pankreassaft löst sie dagegen leicht, was zu einer klinischen Probe "auf die Suffizienz des Pankreas verwertet wird. Die Nucleoproteide haben die gleichen Löslichkeitsverhältnisse wie viele Fermente, und man erhält beide Klassen von Körpern daher häufig gemeinsam. So haften Pepsin, Trypsin, Fibrinferment, Enterokinase und manche Toxine an ihnen, ohne darum natür- lich Nucleoproteide zu sein. Auch sonst sei betont, daß das besonders reichliche Vor- kommen der Nucleoproteide an sich noch kein Beweis für eine besonders wichtige biologische Funktion ist. Sie können ebenso- gut die Gerüst- und Schutzsubstanzen des eigentlich Lebendigen sein. e) Die einzelnen Nucleoproteide und Nucleinsäuren. 1. Nucleoproteide aus den Spermatozoenköpfen. Wenn man reife Lachs- oder Heringshoden mit Wasser, Alkohol und Aether extrahiert, so gehen die übrigen Bestandteile der Sperma- tozoen in Lösung und es bleiben die Sperma- tozoenköpfe als blendendweiße, aus kleinen gleichmäßigen Kügelchen bestehende Masse zurück, die zum weitaus größten Teile aus nucleinsaurem Protamin besteht. 65,4% sind Nucleinsäure, 22,3% Protamin. Kaum mehr als 10% fehlen noch, ein bei der großen biologischen Bedeutung der Spermakörper sehr bemerkenswertes Resultat. Nuclein- säuren sind auch im Sperma anderer Fische und in Säugetiersperma gefunden. 2. Thymus. Nucleohiston. Wenn man Kalbsthymus mit physiologischer Koch- salzlösung behandelt, so erhäL man eine große Menge von Leukocyten, die man mit Wasser in Lösung bringen kann. Durch Fällen des Wasserextraktes mit Essigsäure erhält man das Nucleohiston, das 77%, der Trockensubstanz der Leukocyten ausmacht. Es ist löslich in Wasser, Alkalien und kohlen- sauren Alkalien, durch verdünnte Essig- säure wird es gefällt. Durch Behandeln mit Salzsäure von 0,8% zerfällt es in Histon, das früher bereits beschrieben wurde, und ein Nuclein, das Leukonuclein. Dies Nuclein enthält 4,702% Phosphor. Durch Kochen und durch Pepsin und Salzsäure resultiert ebenfalls ein Nuclein, das letztere mit 4,99% Phosphor. Die Thymusnucleinsäure ist die genauest bekannte. Wahrscheinlich gibt es mehrere Nucleohistone, die sich durch ihre Fällungsgrenzen, auch ihren Phosphorgehalt unterscheiden. Eines von diesen ist in einer NaCl-Lösung von 0,9% unlöslich, in ver- dünntem- und konzentrierterer Lösung wird es dagegen gelöst. Auf der Existenz dieses Nucleohistons beruht es demnach, daß sich die Leukocyten nicht in 0,9 prozentiger NaCl-Lösung, wohl aber in reinem Wasser und stärkeren Salzlösungen lösen. Diese Tatsache ist deswegen von besonderem Inter- esse, weil man sonst die Auflösung der Leuko- cyten in Wasser auf physikalische Eigen- schaften der Zellen zurückführt, während sie hier als chemisch begründet erscheint. Nucleinsäuren sind auch aus anderen, an Leukocyten reichen Organen gewonnen, so aus der Milz, aus Lymphdrüsen, aus Eiter usw. Nucleoproteide sind ferner isoliert aus dem Magensaft, der Magenschleimhaut, der Schilddrüse, den Nebennieren, der Leber, der Darmschleimhaut und der Milchdrüse, dem Hepatopankreas der Oktopoden und Schnecken. Purinbasen, also charakteristi- sche Spaltungsprodukte der Nucleinsäure, 152 Eiweißkörper sind noch aus vielen anderen Organen ge- wonnen. 3. Nucleoproteid aus den Kernen der roten Blutkörperchen des Vogel- und Reptilienblutes. Es enthält N 17,20% P 3,93% und liefert Nucleinsäure 42,1 % Histon 57,82% 4. Die Nucleoproteide des Pan- kreas. Das Pankreas enthält 2 Nucleo- proteide. Extrahiert man Pankreasdrüsen mit eiskalter Kochsalzlösung, so geht ein Nucleoproteid in Lösung, das durch Essig- säure fällbar ist, 1,67% P enthält, und beim Kochen ein Nuclein mit 4 bis 5% P liefert, das in sehr verdünnter Essigsäure löslich ist. Aus diesem Proteid läßt sich die Guanyl- säure gewinnen, die man daher auch in Lösung bekommt, wenn man Pankreasdrüsen bei schwach saurer Reaktion auskocht. Im Rückstand von der Kochsalzextraktion oder von dem Auskochen befindet sich ein zweites Proteid, aus dem sich eine Nucleinsäure gewinnen läßt, die der Thymusnucleinsäure analog konstituiert ist. 5. Nucleoproteide aus Hefe, Bak- terien, Pflanzen. Die Hefenuclcinsäure, die eine der bestgekannten ist, gehört zu der Gruppe der Thymusnucleinsäuren. In der Hefe kommt außerdem die Piasminsäure vor, eine Metaphosphorsäure, die wie die Nucleinsäure Eisen maskiert. Bei Schimmel- pilzen kommen 40% des N auf Nuclein-N. Im Weizen kommt die Triticonuclein- säure vor, eine echte Nucleinsäure. Aus vielen anderen Pflanzen sind Nucleinsäuren oder ihre Spaltungsprodukte isoliert. Auch bei den Pflanzen sind die zellreichen Teile besonderes reich an Nucleinsäure; so sieht man bei Verwundungen von Pflanzen und der dadurch bedingten Gewebsneubil- dung eine Vermehrung der Nucleoproteide. III. Hämoglobin und Verwandte. Das Hämoglobin, der rote Blutfarbstoff der Wirbeltiere, bildet den Hauptbestandteil der roten Blutkörperchen. Es besteht als Proteid aus einem Eiweißkörper, dem Globin, und einem nichteiweißartigen Bestandteile, dem Hämatin (vgl. zu dem ganzen Ab- schnitt den Artikel „Blut"). Das Hämatin und seine Derivate. Das Hämatin, der nichteiweißartige Paarling les Hämoglobins, ist ein eisenhaltiges Pyrrol- lerivat, dessen Konstitution zwar noch nicht dien Einzelheiten aufgeklärt, aber in den Hauptzügen bekannt ist. Danach kann man aus dem Hämatin oder einem seiner Derivate durch Reduktion als charakteristischen Baustein Hämopyrrol gewinnen, C8H13N, das Dimethyläthylpyrrol oder ein Gemenge von diesem mit einem Pyrrolin und mit Methyläthylpyrrol ist: H3CC — CCH0CH3 II II HC CCH3 \/ NH Neben dem Hämopyrrol entsteht die Hämo- pyrrolcarbonsäureC9H13N02, von der Formel: H3CC-C-CH2CH2COOH II II HC CCH, NH Das Hämatin enthält also 2 verschiedene Pyrrolderivate, und 2 von jedem dieser, es sind also 4 Pyrrolkerne zum Hämatin vereinigt. Wie sich die Pyrrolkerne aber nun miteinander verketten, und wie sich allem ihre Seitenketten miteinander vor vielleicht zu neuen Ringbildungen Ver- seilungen, das ist durchaus nicht klar. In jedem Falle aber hat man ein Gemenge von nahe verwandten Isomeren und Homologen sich. Infolge der Anwesenheit der vor Hämopyrrolcarbonsäuren enthält das Häma- tinmolekül 2 Carboxylgruppen, die aber an- scheinend nicht oder nicht in allen Derivaten frei sind, sondern Ester oder Anhydride bilden. Mit der Bindung des Eisens haben sie aber nichts zu tun. Zwei dieser Pyrrole vereinigt, stellen das Hämatoporphyrin dar, C16H18N203, das be- reits ein charakteristisches Spektrum hat, und zwei Moleküle Hämatoporphyrin werden durch den Eintritt eines Eisenatoms zu dem Hämochromogen miteinander vereinigt, dem wahrscheinlich die Formel C34H34N4Fe04 oder eine ähnliche zukommt. Das Eisen ist nicht etwa als Ion vor- handen, sondern es ersetzt die Imidwasser- stoffe der Stickstoffatome. Es ergibt sich folgendes Bild, wobei das Eisen zweiwertig gedacht, aber in komplexer Form auch noch mit 2 weiteren Stickstoffatomen verbun- den ist: C-Cx /C-C 1 X X 1 C-CX \ / C-C C-Cx / \ C-C )W 'N< | c-cx C-C Außer durch das Eisen sind die Pyrrole noch durch ihre Seitenketten verknüpft. Durch den Eintritt des Eisens gewinnt das Molekül nun die Fähigkeit, mit Sauerstoff zu reagieren. In dem Hämochromogen ist das Eisen zweiwertiges Ferroeisen und dies Eiweißkörper 153 kann nun entweder in lockerer Weise Sauer- stoff anlagern, etwa in der Form eines Per- oxyds, oder eskannzu dreiwertigem Ferri eisen oxydiert werden, und der so gebildete Stoff ist das Hämatin a, das zwar durch Reduk- tionsmittel der verschiedensten Art wieder zu der Ferroverbindung Hämochromogen reduziert werden kann, im Vakuum seinen Sauerstoff aber nicht abgibt. Von diesem a-Hämatin leiten sich zwei weitere Fernverbin- dungen ab, das sogenannte /?-Hämatin, das wahrscheinlich ein Polymerisationsprodukt des a-Hämatins und darum weniger reak- tionsfähig ist, und das Hämin. Dem Hämin kommt die Formel zu C34H32N4FeC104, wo an Stelle des Eisens der Chloroferrikomplex steht. Hämin. Wegen seiner leichten Kristalli- sierbarkeit wird es oft als Ausgangspunkt der Hämatinuntersuchungen benutzt. Auch zum Blutnachweis dient es (Teichmannsche Kristalle). Das Hämin sowohl wie die übrigen hier zu nennenden Körper, insbesondere auch das Hämoglobin und seine Verbindungen mit Gasen, haben äußerst charakteristische Spektra, die oft untersucht und zur Er- kennung der Körper benutzt worden sind. Das Hämin bildet Streifen, 1. im Rot, 2. im Rot-Orange und an der Grenze des Violetts. An den beiden letzteren Orten haben die meisten der Hämoglobinderivate die wichtigsten Streifen. Hämatin. Aus dem Hämin erhält man durch Verseifung mit Natronlauge, die schon in der Kälte sehr leicht ist, und Fällen mit Salzsäure das Hämatin. Es ist ein amorphes, blauschwarzes Pulver, das sich in Wasser, Alkohol, Aether nicht, in Eisessig und Säuren sehr wenig löst, leicht dagegen in Alkalien und in säurehaltigem Alkohol oder Aether. In alkalischen Lösungen ist es rot, in dünner Schicht grünlich, in saurer braun. Das Spek- trum des sauren Hämatins hat eine große Aehnlichkeit mit dem des sauren Methämo- globins; es hat 2 Streifen im Grün zwischen D und E, sehr ähnlich denen des Oxy- hämoglobins und einen breiten Streifen zwischen b und F, endlich einen Streifen im Rot. Im Violett zeigt es ein breites, inten- sives Band. Das Hämatin hat in verdünnter Lösung einen gelben Farbenton, der leicht durch Farben nachzuahmen ist. Deshalb, und da es im Unterschied von dem Hämoglobin haltbar ist, wird es bei einigen Apparaten zur Hämoglobinbestimmung im Blut benutzt, indem das Blut stark verdünnt, das Oxy- hämoglobin mittels Salzsäure in Hämatin verwandelt und dessen Farbe mit der einer bekannten Lösung verglichen wird (Sahli, Königsberger und Autenrieth). Hämochromogen. Aus dem Hämatin ! entsteht durch Reduktion das Hämochro- mogen, das auch direkt durch Zersetzung des reduzierten Hämoglobins unter Sauer- stoffabschluß erhalten werden kann. Es bildet ein Pulver, das wie roter Phosphor aussieht, beim stärkeren Trocknen braunrot wird und in feuchtem Zustande sorgfältig vor Luft geschützt werden muß, da es sonst in Hämatin übergeht. Es ist in Wasser, Alkohol und Aether unlöslich, in Alkalien leicht löslich mit schön kirschroter Farbe ; durch Neutrali- sation wird es gefällt. Wenn man Blut mit Alkalien behandelt, besonders in der Hitze, erhält man eine Flüssigkeit von der Farbe des Hämochromogens, doch sind die Verhältnisse noch nicht aufgeklärt. Hämochromogen bildet mit Pyridin sehr leicht charakteristische Kristalle, die wie die Teichmannschen Kristalle zum Nachweis von Blut in Betracht kommen. Wenn man eine alkalische Hämochromo- genlösung mit Luft schüttelt, so geht sie in Hämatin über: durch erneute Reduktion entsteht wieder Hämochromogen. Ferner gibt das Hämochromogen, nicht aber das Hämatin, analog dem Hämoglobin ein Koh- lenoxydhämochromogen mit dem Spektrum des Kohlenoxydhämoglobins, ebenso ein Stick- oxydhämochro mögen, dessen Spektrum eben- falls dem des Stickoxydhämoglobins ent- spricht, und das nicht reduziert werden kann. Beide entstehen dadurch, daß Kohlenoxyd und Stickoxyd an derselben Stelle angreifen, an der das Sauerstoffmolekül angelagert wird, wenn das Hämochromogen zu Hämatin oder richtiger zu dem nicht mit Sicherheit isolierten peroxydartigen Körper oxydiert wird. Infolgedessen kann das Hämochromogen ! nur mit einem der 3 Gase Sauerstoff, Kohlenoxyd und Stickoxydul reagieren, d*. h. ! die Gase verdrängen einander. Betrachtet man nun die 3 Moleküle : 02 CO NO Sauerstoff, Kohlenoxyd, Stickoxyd, so sieht man, daß der Sauerstoff keine freie Valenz im Sinne der strengen älteren Valenz- lehre besitzt, wohl aber das Stickoxyd, und daß das Kohlenoxyd zwischen beiden steht. Infolgedessen ist Sauerstoff am lockersten gebunden, dann folgt Kohlenoxyd, und am j festesten haftet Stickoxyd. Ueber die Einzel- heiten der Verbindungen mit diesen Gasen ! siehe unten beim Hämoglobin. Für die Auffassung der Bindung ist es von entschei- dender Wichtigkeit, daß im Kohlenoxyd- hämochromogen (dies ist leichter zu unter- suchen, als die entsprechende Verbindung mit Sauerstoff) auf ein Atom Eisen genau ein Molekül Sauerstoff kommt. Das Hämochromogen zeigt einen Streifen zwischen D und E, näher zu D, sowie einen zweiten, der vor E beginnt und bis über B 154 Eiweißkörper herausgeht. Es hat eine hohe Lichtextink- tion, besonders der erste Streifen ist sehr intensiv. Im Violett hat es einen ebenfalls sehr intensiven Streifen zwischen H und G. Durch stärkere Einwirkungen, besonders von Säuren, wird das Eisen aus dem Häma- tinmolekül entfernt. Hämatin und Hämo- chromogen werden zu Hämatoporphyrin. Hämatoporphyrin. Läßt man Brom- wasserstoff auf Hämin wirken, so resultiert die Gleichung: C32H32N4Fe04 + 2 H20 + 2 HBr = 2C16H18N203 + FeBr2 + H2. Das Hämatoporphyrin ist durch die Carboxylgruppe der Hämopyrrolcarbon- säure, die im Gegensatz zu den Verhältnissen beim Hämatin hier frei ist, eine Säure, die ein- und zweibasische Metallsalze besitzt. Da aber durch die Entfernung des Eisens auch die Imidwasserstoffatome der Pyrrole frei sind, bildet es auch mit Salzsäure ein in braunroten Nadeln kristallisierendes Salz. Das Hämatoporphyrin ist bei Sulfonalvergiftung, gelegentlich auch bei anderen Krankheiten oder bei Gesunden im Harn gefunden worden, aus dem es durch Baryt- oder Kalkhydrat, nach Nebelthau am einfachsten durch Essigsäure, gefällt wird. Der Harn hat dann eine burgunderrote Färbung. Häufig scheint es sich erst beim Stehen an der Luft aus einem ungefärbten Chromogen zu bilden. Durch vorsichtige Reduktion des Hämato- porphyrins oder des Hämins entsteht das Mesoporphyrin von der Zusammensetzung: Ci6H18N202, das also ein Sauerstoffatom weniger ent- hält als das Hämatoporphyrin. Es steht dem Hämatoporphyrin spektroskopisch und chemisch sehr nahe (siehe unten). Durch energischere Reduktion entstehen Hämopyrrol und seine Derivate, durch Oxydation die sogenannten Hämatinsäuren. Beziehungen des Hämatins zu anderen natürlich vorkommenden Farbstoffen. Es wurde schon erwähnt, daß die Seitenketten der das Hämatin zusammen- setzenden Pyrrolkerne sich anscheinend zu weiteren Ringen zusammenschließen. Viel- leicht findet sich unter diesen ein Indolring, so daß auf diese Weise das Eiweißspaltungs- produkt Tryptophan, das auch den Indolring enthält, in Beziehungen zu dem Hämatin treten könnte. Derivate des Hämatoporphyrins kommen im Tierkörper vor. 1847 entdeckte Virchow in Blutextravasaten das Hämatoidin, das dort in schön ausgebildeten Kristallen, schiefen rhombischen Säulen von hell ziegel- bis tief rubinroter Farbe vorkommt. Dieses ist mit dem Mesoporphyrin identisch, das auch die Farbenänderungen des Hämatoidins zeigt. Aber auch der Gallenfarbstoff ist ein Abkömmling des Hämatoporphyrins, ist dem Mesoporphyrin ähnlich und liefert die gleichen Oxydationsprodukte. Aus dem Bilirubin der Galle, aus dem Hämatin und Hämatoporphy- rin erhält man durch Reduktion das Hydro- bilirubin, das mit dem Urobilin, einem Farb- stoff des Harnes und Kotes identisch ist. Vielleicht noch interessanter sind die Beziehungen zwischen Blut- und Blattfarb- stoff. Aus dem Chlorophyll, dem grünen Farbstoff der Pflanzen erhält man durch Be- handlung mit Alkalien eine Reihe von Sub- stanzen, die Phylhne, die durchaus den charakteristischen Aufbau des Hämatin- moleküls besitzen, 4 Pyrrolderivate, von denen 2 Säuren sind, und die alle 4 durch ein komplex gebundenes Metall miteinander zusammenhängen. Die Stelle Fe ist beim Chlorophyll durch Mg eingenommen. Durch Säurewirkung läßt sich aus den Phyllinen wie aus dem Hämatin das Metall entfernen, und es entstehen die Phylloporphyrine, die sich zwar noch nicht in Hämatoporphyrin verwandeln lassen, aber doch in Mesopor- phyrin, das von der Mittelstellung zwischen Hämato- und Phylloporphyrin seinen Na- men hat. Das Globin. Das Globin ist der, oder jedenfalls der hauptsächlichste, Eiweißbe- standteil des Hämoglobins. Das Globin hat mit den Histonen die Eigenschaft gemein, durch Alkalien gefällt zu werden. Nur wird es durch eine viel geringere Menge Ammoniak und Alkali gefällt, aber schon durch einen sehr geringen Ueberschuß wieder gelöst, bei stärkerem Ueberschusse sogar bei Gegen- wart eines Ammoniaksalzes. Ueber Spal- tungsprodukte vgl. die Tabelle in Abschnitt 4. Bemerkenswert ist der sehr hohe Gehalt an Histidin, und der sehr niedere S- Gehalt, sowie das Fehlen des Glykokolls. Es ist eines der weitest aufgelösten Eiweiße. Wenn man eine reine, salzfreie Hämo- globinlösung mit wenigen Tropfen sehr ver- dünnter Säure behandelt, so wird das Hämo- globin in Globin und Hämatin gespalten. Doch scheint kein Salz vorzuliegen, sondern eher ein Ester oder ähnliches. Versetzt man eine Hämoglobinlösung mit wenig Säure und dann mit Alkohol und Aether, so geht das Hämatin in den Aether, während das Globin in dem wässerig-alkoholischen Anteil bleibt. Behandelt man Hämoglobin mit Pepsin- Salzsäure, so scheidet sich das Hämatin unlöslich ab, während das Globin peptonisiert wird. — 100 Teile Hämoglobin liefern 94 Teile Globm, 4,47 Teile Hämatin, daneben niedere Säuren der Fettreihe. Hämoglobin. Es kristallisiert in wohl- ausgebildeten Kristallen und ist damit einer der bestgekannten Eiweißkörper. Zu- sammensetzung (Pferdeblut)C 54,4%, H 7,2%, Eiweißkörper 155 N 17,61%, S 0,65%, Fe 0,47%, 0 19,67%. Molekulargewicht vgl. Abschnitt 1 1. Verbren- nungswärme5885 cal., Aussalzungsgrenzenfür Ammonsulfat 6,5 und 10. Im Gegensatz zu den einfachen Eiweißen, aber in Ueber- einstimmung mit dem Casein wird Hämo- globin durch Schütteln mit Chloroform ge- fällt, geht dagegen wie die Albumine durch Porzellan und Kieseiguhr durch. Bemerkens- wert ist die große Eesistenz des Hämoglobins gegen die Fäulnis, die zwar das Oxyhämo- globin in reduziertes Hämoglobin umwandelt, dies aber nicht weiter angreift. Auch gegen Trypsin ist Hämoglobin sehr resistent, be- sonders solange es sich in den lebenden roten Blutkörperchen befindet. Zur Bestimmung des Hämoglobins im Blute sind eine Reihe von kolorimetrischen Methoden angegeben worden, die eine exakte Bestimmung in 1 Tropfen (20 cmm) gestatten. Bei der Methode von Haidane wird das Hämoglobin in Kohlenoxydhämoglobin verwandelt, bei den von Sahliund Autenriethund Königs- berger in Hämatin (siehe oben S. 153). Im Gegensatz zum Globin und den ein- fachen Eiweißkörpern ist das Hämoglobin rechtsdrehend. Ferner sind Hämoglobin und seine verschiedenen Verbindungen mit Gasen im elektrischen Felde diamagnetisch, das Hä- matin dagegen stark paramagnetisch. Hämo- globin ward durch Licht in starker Weise beeinflußt. Es erwiesen sich alle Lichtstrahlen als wirksam, aber die kurzwelligen, von einer Wellenlänge von 310 jliju, sind wie bei allen photochemischen Prozessen besonders wirk- sam. Im Vakuum werden Methämoglobin und Oxyhämoglobin durch Licht in redu- ziertes Hämoglobin umgewandelt, bei Gegen- wart von Sauerstoff aber wird Hämoglobin durch Licht gespalten und es entsteht Hämatin. Die roten Blutkörperchen der Säugetiere bestehen zum größten Teile aus Hämoglobin; von ihrer Trockensubstanz kommen beim Menschen 94,3, beim Hunde 86,5, beim Igel 92,25% auf Hämoglobin; bei der Gans da- gegen nur 62,65 und bei der Ringelnatter 46,70%. Der Rest besteht aus der Gerüst- substanz, bei den Nichtsäugetieren außerdem aus dem Kern. Wenn man das Hämoglobin aus den roten Blutkörperchen in Lösung bringt, d. h. das Blut lackfarbig macht, so kristallisiert aus vielen Blutarten des Hämoglobin direkt aus, bei anderen bedarf es der Entfernung des Plasmas, der Zufügung von Alkohol, der Kälte oder anderer Beihilfen. Diese sich direkt ausscheidenden Kristalle bestehen nicht aus reinem Hämoglobin, sie werden daher, je nachdem sie Oxyhämoglobin oder reduziertes Hämoglobin enthalten, Arterin und Phlebin genannt. Die Kristallformen sind bei den einzelnen Tieren verschieden, sind also ein Artmerkmal so gut wie die ana- tomischen Eigentümlichkeiten der Tiere. Meist handelt es sich um Tafeln, Platten, Prismen oder Nadeln, die dem rhombischen System angehören; das Hämoglobin des Eichhörnchens kristallisiert im hexagonalen System, das des Meerschweinchens in Tetra- edern. Aber auch bei ein und derselben Tier- art, z. B. beim Menschen, kommem ver- schiedene Kristalle vor, die beim Umkristalli- sieren ineinander übergehen können. Die verschiedene Kristallform ist indessen nicht das einzige unterscheidende Merkmal zwi- schen den verschiedenen Hämoglobinen, auch die Lösüchkeit wechselt. Rinderhämoglobin zerfließt an der Luft; während das des Eich- hörnchens sich erst in 597 Teilen Wasser löst, das des Raben in kaltem Wasser kaum aufgelöst werden kann. In der Wärme ist die Löslichkeit viel größer, von Hundehämoglo- bin lösen sich in 100 Teilen Wasser bei 5° nur 2 Teile, bei 18° 12 bis 15 Teile. Bei den biologischen Reaktionen (Präzipitierung, Anaphylaxie) zeigen die Hämoglobine Art- spezifität (vgl. Abschnitt 4 und die Artikel „Blut" und „Immunität"). Daraufhin nun aber anzunehmen, daß auch die durch oftmaliges Umkristallisieren gereinigten Hämoglobine differente Körper sind, ist nicht gestattet. Es hat sich im Gegen- teil ergeben, daß wenigstens die biologisch interessierenden Eigenschaften des Hämo- globins, sein Eisengehalt, sein Gasbindungs- vermögen und seine spektralen Eigenschaften bei allen untersuchten Tieren und unter allen physiologischen Bedingungen, beim Menschen auch in Krankheiten, absolut konstant sind, so daß man ein Recht hat, von nur einem Hämoglobin zu reden. Der Unterschied zwischen diesem ganz reinen Hämoglobin und dem in den lebenden Blutkörperchen im Gemenge, wohl auch in Verbindung mit anderen Stoffen stehenden Hämoglobin ist besonders in einem Punkte wichtig: beide zeigen nämlich eine verschie- dene Dissoziationskurve bei wechselndem Sauerstoff druck. Der Chemiker also, den die Dissoziation des Oxyhämoglobins als physikalisch-chemi- scher Gleichgewichtsvorgang interessiert, wird mit einem besonders reinen Hämoglobin arbeiten müssen, der Physiologe, der die Gesetze der Sauerstoffversorgung im tieri- schen Organismus studieren will, darf nur mit möglichst unverändertem Blut experi- mentieren. Beide Postulate sind nicht immer erfüllt worden. Die Hämoglobinkristalle sind undurch- sichtig, seidenglänzend und doppelbrechend; ferner haben sie einen sehr ausgesprochenen Pleochroismus. Am schönsten zeigen ihn die Kristalle des reduzierten Hämoglobins; bei Betrachtung mit nur einem Nicol haben sie 3 sehr differente Achsenfarben; blaupurpurn, 156 Eiweißkörper rotpurpurn, farblos. Die Oxyhämoglobin- kristalle zeigen den Pleochroismus weniger gut, aber immerhin deutlich, indem sie je nach der Stellung des Nicols bald dunkel scharlachrot, bald hell gelbrot aussehen. Das Methämoglobin ist dunkel schwarzbraun und hell gelbbraun, bei dünnen Kristallen farblos, das Kohlenoxydhämoglobin purpurn und weiß, das Hämin dunkel schwarzbraun und hell gelbbraun. Ferner zeigen sie ent- sprechend der Achsenrichtung auch ver- schiedene Spektralerscheinungen, indem die Streifen nach dem roten oder dem violetten Ende des Spektrums verschoben sind. Durch Liegen, Eintrocknen, Alkohol- wirkung usw. werden die Kristalle denaturiert und in Pseudomorphosen verwandelt; doch können sie einen Teil ihrer optischen Eigen- schaften, z. B. die Doppelbrechung dabei noch eine Zeit lang bewahren. Außer in den roten Blutkörperchen kommt Hämoglobin in den Muskeln vor. Man unterscheidet hämoglobinarme, weiße, von hämoglobinreichen, roten oder braunen Muskeln, beide Arten verhalten sich physio- logisch nicht ganz gleich. Von den bekann- teren Haustieren haben Huhn, Taube, Kaninchen weiße, Hund, Rind, Wild über- wiegend rote Muskeln. Endlich kommt das Hämoglobin bei manchen Wirbellosen, Weich- tieren, Crustaceen und Würmern im Blute vor, aber nicht, wie bei den Wirbeltieren, in Blutkörperchen, sondern in Lösung. DieVer bin düngen des Hämoglobins mit Gasen und seine optischen Eigen- schaften. Oxyhämoglobin. Bekanntlich sättigt sich das Blut der Wirbeltiere in den Lungen mit Sauerstoff und gibt diesen auf sei- nem Kreislauf durch den Körper an die Ge- webe ab ; das arterielle, sauerstoffhaltige Blut ist hellrot, das venöse, sauerstoffarme, dunkler rot bis purpurfarben, das sauerstofffreie Er- stickungsblut ist noch viel dunkler, fast schwarz. Diese Sauerstoffaufnahme und die damit verbundene Farbenänderung be- ruht auf den gleichen Eigenschaften des in den roten Blutkörperchen enthaltenen Hämoglobins. Bei der Besprechung des Hä- matins ist auseinandergesetzt worden, daß das Eisenatom in 3 möglichen Formen existieren kann: 1. als Ferroeisen ohne Sauerstoff; 2. als Ferroeisen mit locker gebundenem Sauerstoff, vielleicht in einer an die Super- oxyde erinnernden Form; 3. als Ferrieisen mit festgebundenem Sauerstoff. Genau so wie das Hämatin und seine Derivate verhält sich nun das Hämoglobin, nur daß bei ihm die Verhältnisse besser gekannt und übersicht- licher sind. Man muß demnach unterscheiden : 1. Hämoglobin ohne Sauerstoff: Hämo- chromogen, reduziertes Hämoglobin oder Hämoglobin schlechthin. 2. Hämoglobin mit lockerem Sauerstoff: Oxyhämoglobin. 3. Hämoglobin mit festgebundenem Sauerstoff: a-Hämatin, Hämin, Me- thämoglobin. Eine Lösung von Hämoglobin nimmt bei Berührung mit einer Sauerstoffatmosphäre, etwa der Luft, auf ein Molekül ein Molekül Sauerstoff auf und geht dabei in das soge- nannte Oxyhämoglobin über. Das Haupt- kennzeichen der beiden Hämoglobine, des reduzierten und des sauerstoffhaltigen, ist ihr spektrales Verhalten. Das Oxyhämoglobin hat 2 scharfe, gut begrenzte Spektralstreifen in Gelb und Grün zwischen den Fraunhofer sehen Linien D und E, von denen der eine schmälere und schärfer begrenzte dicht neben D beginnt. Der zweite hat für das Auge keine ganz so hohe Intensität wie der erste, doch ist dies bei spektrophotometrischen Messun- gen nicht der Fall. Ein dritter, etwa ebenso intensiver Streifen liegt im Blauviolett. Hämoglobin absorbiert also gerade das für unser Auge hellste und das chemisch wirk- samste Licht. Das reduzierte Hämoglobin hat im Gelb- grün nur einen Streifen, der ziemlich genau in der Mitte zwischen D und E, somit auch zwischen den Streifen des Oxyhämoglobins gelegen ist. Er ist breiter, aber weniger scharf begrenzt und weniger intensiv als die Streifen des Oxyhämoglobins. Im Violett hat es auch einen Streifen. Eine Hämoglobinlösung nimmt beim Schütteln mit Luft Sauerstoff auf, wobei das Spektrum des Hämoglobins in das des Oxyhämoglobins übergeht; Blut oder lack- farbenes Blut verhält sich ebenso. Durch reduzierende Agenzien (Stokes' Reagens, Ferrosulfat) wird es wieder in Hämoglobin zurückverwandelt. Die Verwandlung des Oxyhämoglobins in reduziertes geschieht aber auch durch das Vakuum oder durch anhalten- des Durchleiten eines indifferentes Gases, Wasserstoff oder Stickstoff, die Verbindung des 02 mit dem Hämoglobin ist also eine sehr lockere. 1 g Hämoglobin vermag in maximo 1,34 cem Sauerstoff zu binden; diese Menge wird aber nur bei einem Ueber- schusse, d. h. bei einem hohen Partialdruck der 02 erreicht. Sinkt dieser, so wird ein Teil des 02 durch Dissoziation frei. Wieviel 02 in einer bestimmten Lösung gebunden ist, das wird entweder spektroskopisch ermittelt, indem man bestimmt, welcher Anteil des Hämoglobins Oxyhämoglobin, welcher redu- ziertes Hämoglobin ist. Oder man verwandelt das Oxyhämoglobin in Methämoglobin (siehe unten) * und bestimmt die Menge des frei werdenden 02. Partialdruck des 02 und Disso- ziation des Oxyhämoglobin stehen — im Blut — in folgender Beziehung (vgl. aber oben): Eiweißkörper 157 02-Druck abgespaltener 02 mm Hg % 5 64 30 23 (Lungenluft, niedrigster möglicher Barometer- druck) 57 14 (Lungenluft, Monte Rosa) 64 12,5 (— , 2800 m) 95 8,7 (— , 1400 m) 110 7,6 (— , Ebene) 150 5,7 (Atmosphäre, Ebene) Bei einer graphischen Aufzeichnung würde die Kurve erst bei niederem Druck steil steigen, dann eine breite Umbiegimg haben, um endlich von einem Druck an, der etwa 3/4 des Atmosphärendruckes entspricht, sich der maximalen Bindung asymptotisch zu nahem. -. . • -■ • Methämoglobin. Hier ist das Eisen des Hämoglobins dreiwertiges Ferrieisen, das infolgedessen keinen Sauerstoff locker an- lagern oder abgeben kann. Es ist ein stabiler Körper, der durch Gase nicht beeinflußt wird. Es entsteht aus dem Oxyhämoglobin durch oxydierende Agentien, außerdem aber auch durch viele andere Stoffe, wie Amylnitrit, Antifebrin, Chlorate. Auch im strömenden Blute kann die Methämoglo- binbildung vor sich gehen, und die betreffen- den Stoffe sind daher giftig. Bei der Oxy- dation des Hämoglobin zu Methämoglobin entweicht der locker gebundene 02. Diese Abspaltung des Sauerstoffs bei der Ein- wirkung von Ferricyankalium auf Oxy- hämoglobin ist von Barcroft benutzt worden, um den Sauerstoff des Oxyhämo- globins quantitativ zu bestimmen, und seine Methode ist in den letzten Jahren sehr viel- fach angewendet worden. Gestattet sie doch, die Sauerstoffbestimmung in 1 ccm Blut exakt auszuführen. Auchbeim bloßen Liegen geht Oxyhämoglobin bisweilen in das stabi- lere Methämoglobin über. Durch Reduk- tionsmittel (Stokes' Reagens, Schwefelammo- nium) wird Methämoglobin in reduziertes Hämoglobin verwandelt, das dann wieder 02 anlagern kann. Das Methämoglobin ist in Substanz und in saurer oder neutraler Lösung nicht schön rot, wie das Oxyhämoglobin, sondern braun, wie englischer Porter, in alkalischer Lösung dagegen ebenfalls rot. Seine Kristalle sind graubraune, rehfarbene Nadeln, die in Masse eine Art Atlasglanz zeigen. In neutraler Lösung hat es einen sehr ausgeprägten Strei- fen iin Orangerot, zwischen C und D, nahe bei C. Ein zweiter Streifen liegt im Hell- blauen zwischen G und F, dicht neben F. Kohlenoxydhämoglobin: Ebenso wie mit dem Sauerstoff geht das Hämoglobin eine Verbindung mit dem Kohlenoxyd ein. Das Kohlenoxydhämoglobin unterscheidet sich von dem Oxyhämoglobin durch seine hellere, mehr kirschrote Farbe; der Schaum ist violett. Die Kristalle sind mit denen des Oxyhämoglobins isomorph, sehen aber dun- ler, mehr bläulich aus. Die Absorptions- streifen sind denen des Oxyhämoglobins sehr ähnüch, nur sind sie etwas verschoben, der erste Streifen ist etwas schärfer be- grenzt, der zweite Streifen ist weniger inten- siv. Die Differenzen gegen das Oxyhämo- globin sind nur erkennbar, wenn die Lö- sungen direkt verglichen werden können, und auch dann minimal. Die wichtigste Eigenschaft des Kohlen- oxydhämoglobins ist aber seine größere Festigkeit. Es gibt das Kohlenoxyd nur schwer an das Vakuum ab; seine Dissozia- tion ist 33 mal kleiner als die des Oxyhämo- globins. Bei einem CO-Gehalt der Luft von 0,05% ist der Partialdruck des Sauerstoffs 545 mal größer, und doch sind 27% des Hämoglobins von dem Koblenoxyd ge- bunden. Wegen dieser größeren Festigkeit ist es wiederholt zur Bestimmung des mit dem Hämoglobin verbundenen Gasvolums benutzt worden; auch die früher angegebene end- gültige Zahl, die zur Molekulargewichtsbe- stimmung des Hämoglobins geführt hat, ist an Kohlenoxydhämoglobin gewonnen Auf dieser größeren Festigkeit des Kohlen - oxydhämoglobins beruht die Fähigkeit des Kohlenoxyds, auch in mäßiger Konzentration Sauerstoff zu verdrängen, und beruht damit auch die Giftigkeit des Kohlenoxyds z. B. im Leuchtgas, welches das Hämoglobin der Blut- körperchen mit Beschlag belegt und so die Zufuhr des Sauerstoffs zu den Geweben verhindert. Der Tod erfolgt, wenn etwa die Hälfte des Hämoglobins zuKohlenoxydhämoglobin wird ; wird diese Grenze nicht erreicht, so tritt Erholung ein, indem das Kohlenoxyd durch die Massenwirkung des schwächeren Sauer- stoffs verdrängt wird. Infolge dieser größeren Festigkeit der Bindung, wird Kohlenoxydhämoglobin durch Schwefelammonium und das Stokes sehe Reagens im Unterschied von Oxyhämo- globin nicht reduziert. Da die Streiten des Kohlenoxyd- von denen des Oxy- hämoglobins spektroskopisch schwer zu unterscheiden sind, ist dieses Ausbleiben der Reduktion zu Hämoglobin das beste Mittel zum Nachweis des Kohlenoxyds im Blute bei Vergiftungen. Ebenso wird es viel schwerer in Methämoglobin verwandelt, und auch gegen fällende Reagenzien, durch die das Hämoglobin bei der Fällung zerlegt wird, ist das Kohlenoxydhämoglobin viel resistenter; so bewahrt Kohlenoxydhämo- globin bei der Fällung mit Natronlauge, Gerbsäure oder Ferrocyanwasserstoffsäute 158 Eiweißkörper lange seine schöne rote Farbe, während anderes Hämoglobin rasch zersetzt wird und eine schmutzige, braun-grünliche Färbung annimmt. Dasselbe ist der Fall mit dem Schwefelwasserstoff, der Oxyhämoglobin in kurzer Zeit zerstört, während Kohlenoxyd- hämoglobin dabei seine rote Farbe und seine Spektralstreifen lange bewahrt. Wenn man den Sauerstoff absorbiert und dadurch die Wirkung des Kohlenoxyds begünstigt, kann man es mittels Tannin noch in einer Ver- dünnung von 1 : 40 000 nachweisen. Stickoxydhämoglobin. Es ist noch beständiger als das Kohlenoxydhämoglobin, und das Stickoxyd verdrängt daher das Kohlenoxyd aus seiner Verbindung. Das Stickoxydhämoglobin bildet Kristalle, _ die denen des Oxyhämoglobins isomorph sind; seine Lösungen sind hellrot. Im Spektrum zeigt es die gleichen Streifen wie das Kohlen- oxydhämoglobin, nur etwas nach dem roten Ende verschoben, also dem Oxyhämoglobin ähnlicher. Es ist ebensowenig reduzierbar wie Kohlenoxydhämoglobin. Auch mit Schwefelwasserstoff (Sulphur- globin), Blausäure (Cyanmethämoglobin), Acetylen und anderen Gasen geht Hämoglobin Verbindungen ein. Auf einer Verbindung mit Nitriten beruht die rote Farbe von Fleisch, dem Nitrite zur Konservierung zu- gesetzt sind. Das Hämocyanin. An Stelle des eisenhaltigen Hämoglobins ist bei Cephalo- ooden in der Blutflüssigkeit ein kupfer- laltiges Proteid enthalten, das Hämocyanin. J&s Hämocyanin kristallisiert wie die Albu- mine aus Ammonsulfatlösung. Gegen Säuren ist es so empfindlich wie Hämoglobin, indem es in Eiweiß und Kupfer zerlegt wird. Doch ist das Hämocyanin kein Kupfersalz, da es ungespalten die Reaktion des Kupferions nicht gibt. Das Hämocyanin vermag Sauerstoff zu binden und gibt ihn beim Durchleiten von Wasserstoff, Kohlenoxyd und besonders Koh- lendioxyd wieder ab. In reduziertem Zu- stande ist es farblos, im sauerstoffhaltigen Zustande dagegen zeigt es ein schönes, reines Blau, im Spektrum ist keine Absorption wahrzunehmen. Das Sauerstoffbindungsyer- mögen ist geringer als das des Hämoglobins. Das Hämocyanin ist der einzige Eiweiß- körper im Blut der Cephalopoden, deren Respiration es vermittelt. Außerdem kommt Hämocyanin bei manchen Krebsen vor. Andere zu den Eiweißkörpern gehörige Farbstoffe, die zum Teil gut kristallisieren, sind das Phykoerythrin aus Meeresalgen, das Phykocyan aus Cyanophvceen und ein blauer Farbstoff, den das Männchen des Fisches Crenilabrus pavo im Frühjahr besitzt. IV. Die Glycoproteide. Die prosthetische Gruppe der Glyco- proteide ist das Glucosamin. Wenigstens ist es beim Ovimucoid gelungen, durch kurzdauernde Behandlung mit verdünnter Salzsäure direkt Glucosamin darzustellen, frühere Autoren hatten immer nicht redu- zierende Kohlenhydratkomplexe erhalten, aus denen erst nachträglich das Glucosamin sich abspalten ließ. Es ist daher immer ange- nommen worden, die prosthetische Gruppe der Glycoproteide sei ein höheres Kohlen- hydrat, und es sei fester an das Eiweiß gebunden, als Hämatin und Nucleinsäure. Für das Ovimucoid scheint es sich anders zu verhalten, weitere Angaben über die All- gemeingültigkeit des Befundes müssen ab- gewartet werden. Das Glucosamin hat folgende Struktur: H H H H2OHC— C— C— C— CH(NH2)COH ÖHÖHÖH Es leitet sich also von der Glucose ab. Nur die sterische Stellung der Aminogruppe ist noch unsicher. Es ist identisch mit dem aus dem Chitin der Gliedertiere dargestellten Glucosamin. Auf dieses Glucosamin lassen sich alle älteren Angaben über das Vorkommen von Zucker im Eiweiß zurückführen, bei denen vereinzelte Befunde an Glycoproteiden fälschlich verallgemeinert wurden. Zu den Glycoproteiden gehören die Schleimstoffe und ihre Verwandten, das Eieralbumin und noch einige Phosphogly- coproteide. Das Eieralbumin ist bei den Albuminen beschrieben. Hier soll nur die gut kenntliche und scharf abgegrenzte Klasse der Mucine und Mucoide besprochen werden. Die Mucine und Mucoide sind saure, phosphorfreie Eiweißkörper, aus denen beim Kochen mit Säuren eine reduzierende Sub- stanz hervorgeht. Ihre prozentische Zu- sammensetzung ist ausgezeichnet durch einen niedrigen Kohlenstoff- und Stickstoff-, einen hohen Sauerstoffgehalt, bedingt durch den Eintritt der sauerstoffreichen Kohlehydrat- gruppe. Im Zusammenhange damit steht ihre niedrige Verbrennungswärme. Außerdem sind sie relativ reich an Schwefel, was jeden- falls bei einigen Glycoproteiden mit dem | Gehalt an Chondroitinschwefelsäure zu- sammenhängt (siehe unten). Das Kohlen- hydrat steigt bis zu 37%, meistens sind nur Minimalwerte bestimmt, die oft viel zu j niedrig sind. Von den Farbenreaktionen geben alle Mucine die Biuretreaktion, und zwar jmit violetter Farbe wie die eigentlichen 'Eiweiße, ferner die Xanthoprotein- und die I Schwefelbleireaktion, ebenso die nach Millon und Molisch. Mucine und Mucoide werden durch Er- hitzen nicht koaguliert und unterscheiden Eiweißkörper 159 sieh dadurch scharf sowohl von den nativen Eiweißen, wie von den Proteiden. Dagegen zeigen sie eine deutliche Denaturierimg, indem sie durch Einwirkung von Säuren und besonders Alkalien, von Alkohol und anderen Fällungsmitteln, durch langes Liegen im ungelösten Zustande usw. ihre physika- lischen Eigenschaften verändern und ihren Schleimcharakter verlieren. Diese Umwand- lung oder Spaltung kann so wenig wie die Denaturierung der echten Eiweiße rück- gängig gemacht werden, sondern ist eine dauernde. Die Glykoproteide sind ausge- sprochene Säuren, die Lackmuspapier röten und meist durch Säuren gefällt werden. Durch beide Eigenschaften, die Nicht- koagulierbarkeit, welche die Möglichkeit einer Denaturierung nicht ausschließt, und den Charakter als Säuren, gleichen die Glykoproteide den Phosphoproteiden, von denen sie sich aber durch den mangelnden Phosphor- und den Kohlenhydratgehalt scharf unterscheiden. Als Säuren werden die j meisten Glykoproteide durch Essigsäure ge- fällt und sind auch im Ueberschuß schwer löslich, viel schwerer als die anderen sauren Eiweißkörper, wie Globuline, Phospho- oder Nucleoproteide. Mineralsäuren fällen eben- falls, lösen aber im Ueberschuß leichter auf. In Alkalien, kohlensauren Alkalien und in Ammoniak sind die Glycoproteide alle sehr leicht löslich und bilden mit ihnen Salze, die neutral, zum Teil auch noch sauer reagie- ren. Durch einen, auch ganz geringen Ueber- 1 schuß von Alkali werden sie sehr leicht dena- turiert und zersetzt. a. Die Mucine. Die Murine kommen in den meisten schleimigen Flüssigkeiten vor und bedingen dadurch deren Charakter. Sie bilden schon in sehr großer Verdünnung mehr oder weniger schleimige, fadenziehende Lösungen. Sie werden teils von Becherzellen an der Oberfläche aller Schleimhäute, der des Respirations- wie des Verdauungstractus, der Gallengänge, Harnwege usw., teils von J großen Schleimdrüsen, besonders einer der Speicheldrüsen, der Glandula submaxillaris, abgesondert. Auch bei Wirbellosen, z. B. den Schnecken, deren Haut mit Schleim überzogen ist, sind sie verbreitet. Andere den Mucinen sehr nahestehende Körper, die den Uebergang zu den Mucoiden bilden, kommen im Bindegewebe, z. B. den Sehnen, im Glaskörper, Nabelstrang usw. vor. ; sie werden bei den Mucoiden besprochen. Bei einigen Tieren treten statt der Mucine | Phosphoproteide auf, die physikalisch den gleichen Schleimcharakter haben (siehe dort). Genauer untersucht sind die Mucine der Speicheldrüsen, der Respirationsschleimhaut, der Galle, des Froschlaichs, des Barschlaichs und der Schneckenhaut. Das Sputum- Murin hat die Zusammensetzung C 48,17%, H 6,91%, N 10,8%, S 0,84%; es enthält 37% Glucosamin, andere Mucine enthalten weniger und sind meist N-reicher, Frosch- laich-Mucin ist noch N-ärmer. Das Murin ist in trockenem Zustande ein weißes, lockeres, kaum hygroskopisches Pul- ver und kann so jahrelang aufbewahrt wer- den, ohne seine Eigenschaften zu verändern. Es ist in Wasser und neutralen Salzlösungen sehr schwer löslich, in Säuren unlöslich, bildet aber auf Zusatz von Essigsäure ein zähes, klebriges Gerinnsel. Dagegen löst es sich in sehr verdünnten xVlkalien zu einer neutralen Flüssigkeit, die sich bei einem Mucingehalte von 0,228% noch wie eine typische Schleim- lösung verhält, klebrig, dickflüssig und faden- ziehend. Der natürliche Schleim ist mucin- saures Natrium. Aus dieser Lösung wird das Murin durch Säuren, insbesondere Essig- säure, gefällt, aber nicht als flockiger Nieder- schlag, sondern in Form eines zähen, schleimi- gen Klumpens, der sich beim Umrühren um den Glasstab windet. Im Ueberschuß von Essigsäure löst sich das Murin nicht, oder doch nur sehr schwer wieder auf, Salz- säure dagegen löst schon bei einer Konzen- tration von 0,1 bis 0,2%, die freilich noch immer wesentlich höher hegt als bei den Nucleoalbuminen oder Globulinen. Die Säurefällung der Mucine gelingt nur in salz- armen Lösungen, dagegen nicht bei Gegen- wart von Chlornatrium oder anderen Neutral- salzen. Durch Kochen wird das Murin wie alle Glycoproteide nicht koaguliert; auch Zusatz von Essigsäure zu der siedenden Lösung bewirkt keine stärkere Fällung, als sie die Essigsäure auch in der Kälte hervor- rufen würde, und bei Zusatz von Chlor- natrium, das die Koagulation der eigentlichen Eiweiße ja begünstigt, bleibt sie auch beim Erhitzen ganz aus. Man hat diese Eigen- schaften benutzt, um koagulierbares Eiweiß neben Murin nachzuweisen. Durch Alkohol wird das Murin gefällt, aber nur bei Gegen- wart einer hinreichenden Menge von Neutral- salzen; in salzfreier Lösung entsteht durch den Alkohol nur eine mehr oder weniger starke Opaleszenz. Durch Salpetersäure wird das Murin gefällt, ebenso durch Schwer- metalle. Die Alkaloidreagenzien bewirken in neutraler Lösung keine Fällung, wohl aber fällen sie das im Ueberschuß von Salzsäure gelöste Murin. Durch Sätti- gung mit Chlornatrium und Magnesium- sulfat wird das Murin ausgesalzen. Die Grenzen für Ammonsulfat sind 3,2 und 4,6. Gegen Säuren ist das Murin recht resi- stent, um so leichter wird es durch Alkalien denaturiert. Beim Stehen in ganz schwach alkalischer Lösung wird es zwar anfangs noch durch Essigsäure als typischer Schleim gefällt, bald aber tritt daneben ein flockiger Niederschlag auf, und nach einiger Zeit 160 Eiweißkörper fällt das gesamte Mucin flockig aus; dann hat auch die Lösung ihre charakteristische physikalische Beschaffenheit verloren, ist dünnflüssig geworden und verhält sich in ihren Keaktionen wie ein gewöhnliches Alkalialbuminat. Pepsin und Trypsin lösen; eine Abspaltung von Kohlenhydrat findet dabei nicht statt. Gegen die Fäulnis sind die Murine sehr resistent, da ihr eigentümliches physikalisches Verhalten den Fäulnisbak- terien das Eindringen erschwert. In mancher Beziehung abweichend von dem Mucin der Wirbeltiere verhält sich das der Weinbergschnecke, Helixpomatia. Es wird nicht als solches abgesondert, sondern als ein Mucinogen, das sich auch in Alkali nur schwer zu einer zähen, nicht eigentlich schleimigen Flüssigkeit löst. Durch Alkaliwirkimg, viel langsamer durch bloßes Stehen in wässeriger Lösung, geht dies Mucinogen dann in typi- sches Murin über. Dieselbe Erscheinung, daß von den Schleimdrüsen erst Mucinogen abge- sondert wird, das dann erst unter dem Einfluß des Wassers sich in Mucin umwandelt, ist bei dem Mucin der Eihüllen des Barsches und am Seeigel beobachtet und die Er- scheinung scheint bei Wirbellosen weit ver- breitet zu sein. Das Mucin der Speichel- drüsen der Wirbeltiere besitzt keine solche Vorstufe, sondern ist von vornherein ein wirkliches Mucin. Das Pseudo- oder Paramucin. In den normalen Graafschen Follikeln, auch bei sogenanntem Hydrops ovarii kommen nur koagulierbare Eiweißkörper vor ; dagegen enthalten proliferierende, papilläre oder glan- duläre Kystome das sogenannte Pseudomucin und haben infolgedessen einen mehr oder weniger schleimigen oder zähflüssigen Inhalt. Das Pseudomucin, wie es aus eiweißfreien oder eiweißarmen Kystomflüssigkeiten durch Alkoholfällung gewonnen wird, stellt im trockenen Zustande ein feines, weißes, sehr hygroskopisches Pulver dar. In Wasser löst es sich leicht und bildet bei geringer Konzentration Lösungen, die sich wie Mucin- lösungen verhalten; bei stärkerer Konzen- tration — in Ovarialkystomen finden sich 0,88 bis 10,83% eiweißartige Körper — bildet es eine weißliche, zähe und schleimige Flüssig- keit von dem Aussehen eines dicken Gummi- schleims. Durch Ansäuern mit Essigsäure oder Salzsäure wird das Pseudomucin im Unterschiede von den echten Murinen nicht gefällt; auch Salpetersäure fällt nicht, son- dern macht die Flüssigkeit nur stärker opaleszierend und dickflüssig. Sonst gibt es die Reaktion der Murine. In 100 g sind 20 g Glucosamin gefunden, außerdem die meisten Aminosäuren. Eine Abart des Pseudomucins ist das Paramucin, das gele- gentlich in Ovarialkystomen gefunden wird, das in Wasser gelöst keine schleimige Flüssigkeit bildet, sondern eine zitternde Gallerte. Einen dem Pseudomucin recht ähnlichen Körper, der aber nur 45,74% Kohlenstoff und 5,68% Stickstoff enthielt, hat Harn- marsten einmal in einem „Ganglion" unbe- kannten Ursprungs vom Unterschenkel eines Mannes gefunden. b. Die Mucoide. Unter Mucoiden ver- steht man eine Reihe von Körpern, die in ihrer Zusammensetzung und ihren Reak- tionen eine große Aehnlichkeit mit dem Mucin haben. Sie unterscheiden sich von ihm ent- weder durch ihre physikaüschen Eigenschaften oder durch die mangelnde Fällbarkeit mit Säuren. Sie kommen zum Teil in gelöster Form im Blutserum, im Eiereiweiß und in Ascitesflüssigkeiten vor, zum Teil nehmen sie zusammen mit Kollagen usw. am Aufbau der Gewebe teil. Ihre Abgrenzung von den Murinen ist willkürlich ; die hierher gehörigen Substanzen aus dem Glaskörper, den Sehnen und dem Nabelstrange werden bald als Mucoide, bald als Murine bezeichnet, ohne daß ihre Eigenschaften erkennbare Diffe- renzen aufweisen. Um den Namen Murine für die wirklichen, von Epithelien sezernierten Schleimstoffe zu reservieren, sollen alle diese Körper hier bei den Mucoiden behandelt werden. 1. Das Chondromucoid und die Chondroitinschwefelsäure. Ueber die Zusammensetzung des Knorpels siehe oben beim Kollagen. Das Chondromucoid zeigt die gewöhn- lichen Reaktionen der Murine oder Mucoide; es löst sich in Alkalien zu einer neutralen, dicklichen Flüssigkeit, die von Säuren gefällt wird. Die meisten Schwermetalle fällen, dagegen die Alkaloidreagentien nicht; ins- besondere fällt Gerbsäure auch bei Salz- gegenwart nicht. Das Mucoid hat im Gegen- teil die Eigentümlichkeit, die Fällung anderer Eiweiße, z. B. des Glutins, durch Gerbsäure zu verhindern. Die Zusammensetzung ist: C47,3, H6,42, N 12,58, S 2,42, 0 31,28%, sie entspricht der der Murine; bemerkens- wert ist der hohe Schwefelgehalt von 2,42%, wovon 1,8% der Chondroitinschwefelsäure angehören. Von den Aminosäuren sind die Basen isoliert. Neben ihnen entsteht bei der Spaltung die Chondroitinschwefelsäure oder Glucothionsäure, die etwa 27 % des Mucoids ausmacht. Aus der Chondroitinschwefelsäure wird durch Kochen mit verdünnter Salzsäure der gesamte Schwefel als Schwefelsäure abgespalten, wodurch sich die Chondroitin- schwefelsäure als Aetherschwefelsäure charak- terisiert. Der Rest ist ein stickstoffhaltiges Kohlenhydrat von sauren Eigenschaften, aus dem nach stufenweisem Abbau endlich Eiweißkörper 161 Glucosamin, daneben aber noch andere eigentlichen fadenziehenden Schleimlösung Körper hervorgehen. j ist. Es gibt die gewöhnlichen Mucinreak- Die Chondroitinschwefelsäure reagiert tionen; daneben enthält der Glaskörper stark sauer und bildet mit Metallen neutrale, Spuren von koagulierbarem Eiweiß, meist gut lösliche Salze. In Wasser ist Die Grundsubstanz der Cornea enthält sie leicht löslich und bildet bei genügender 20, die der Sclera 13% Mucoid, der Rest ist Konzentration gummiartige Lösungen. Sie Kollagen. Ob dies Mucoid Chondroitin- wird durch Zinnchlorür, basisches Bleiacetat, schwefelsaure enthält, ist nicht bekannt. Quecksilberoxydulnitrat, Eisenchlorid und Es gibt die gewöhnlichen Mucoidreaktionen. Urannitrat gefällt, durch andere Metalle Ebenso verhält sich das Mucoid des Nabel- dagegen ebensowenig wie durch irgendwelche Stranges. Säuren oder die Alkaloidreagenzien. Durch Das Chordagewebe, das mit dem Nabel- Eisessig wird sie nur im starken Ueberschuß, sträng sonst Aehnlichkeit hat, enthält kein durch Alkohol nur bei Salzgegenwart gefällt. Sie reduziert nicht, hält aber, da sie mit ihnen lösliche Salze bildet, Kupferoxyde und andere Metalloxyde in Lösung. Ihre wässeri- gen Lösungen sind linksdrehend. Mit Eiweißkörpern, z. B. Glutin, bildet die Chondroitinschwefelsäure unlösliche Salze, die sich wie die Nucleinsäure verhalten, d. h. bei mangelndem Säureüberschuß hydro Mucoid (vgl. Gerüsteiweiße). 4. Das Ovimucoid. In dem Eier- eiweiß von Hühner- und anderen Eiern findet sich neben dem bekannten Albu- min und Globulin ein Glykoproteid, das Ovimucoid ; es bildet etwa den achten Teil der organischen Stoffe, 1,5% der Lösung. Das Ovimucoid wird wie die anderen Mucoide durch Erhitzen nicht lytisch dissoziiert werden. Sie selbst fällt koaguliert, aber auch nicht durch Säuren, daher Eiweiß, ihre Salze dagegen nicht, weder Essigsäure, noch Salz- oder selbst Für die Reaktionen des Harnmucoids (siehe Salpetersäure, gefällt. Ebensowenig wird es unten) und mancher Gewebsextrakte ist diese durch Metallsalze und die meisten Alka- Eigenschaft von Bedeutung. loidreagenzien gefällt, sondern nur durch Die Chondroitinschwefelsäure ist in der Gerbsäure, Phosphorwolframsäure, Blei- Hauptsache ein Bestandteil des Chondro- acetatammoniak und Alkohol. Die Darstel- mucoids, außerdem aber kommt eine geringe lung kann daher nur so erfolgen, daß man das Menge im Knorpel auch frei, beziehentlich Albumin und Globulin des Eiereiweißes als Alkalisalz vor. Außerdem kommt sie in der gewöhnlichen Weise durch Erhitzen in Knochen und Sehnen, der inneren Schicht bei schwach saurer Reaktion koaguliert der Aorta und auch noch in anderen Ge- und im Filtrat das Mucoid durch Alkohol weben vor. fällt. In trockenem Zustande bildet es Endlich wurde die Chondroitinschwefel- spröde, durchsichtige Lamellen, eine kon- säure regelmäßig und in nicht unbeträcht- zentrierte Lösung ist gummiartig klebend, licher Menge — etwa 0,05% ■ im Harn eine verdünntere schäumt stark, ist aber gefunden, wo ihre Gegenwart bei Eiweiß- nicht fadenziehend. In kaltem Wasser reaktionen zu berücksichtigen ist, da sie quillt es nur, löst sich aber nicht, wohl einerseits nach dem Ansäuern Eiweiß fällt, aber in heißem Wasser und bleibt dann beim andererseits manche Eiweißreaktionen, z. B. Abkühlen in Lösung. die mit Gerbsäure, stört. Auch gehört ein Ein Teil des Schwefels scheint als Schwe- Teil der Aetherschwefelsäuren ihr und nicht feisäure abspaltbar zu sein, also analog den der Indoxvlschwefelsäure usw. an. anderen Mucoiden. 2. Mucoide aus Sehnen, Knochen Aus dem Ovimucoid wird, als bisher und Lederhaut. Diese Mucoide stimmen in j einzigem Glycoproteid, durch Erwärmen mit ihren Eigenschaften durchaus mit dem Salzsäure direkt Glucosamin abgespalten; Chondromucoid überein, enthalten auch Chon- es sind gegen 30 % gefunden. — Durch Chlor- droitinschwefelsäure. In 100 g Sehne natrium wird das Ovimucoid nicht, durch (Achillessehne, Ochse) sind enthalten Natrium- und Magnesiumsulfat nur beim ,T . , 1 oq Kochen, durch Ammonsulfat schon in der Mucoid 1,28 ff Kälte ausgesalzen, und zwar fällt es bei 2/3-Sättigung partiell, ganz erst bei voll- ständiger Sättigung. 5. Das Serummucoid. Im Blutserum findet sich ein Mucoid, das in Eigenschaften 3. Das Mucoid des Glaskörpers, und Zusammensetzung dem Ovimucoid sehr Elastin 1,63 g Kollagen 31,59 g Asche 0,47 g Wasser 62,87 g der Cornea und des Nabelstranges. Es beträgt nach Mörner nur 0,1% der Glasflüssigkeit, bedingt trotzdem ihre physi- kalische Beschaffenheit, die freilich mehr die einer sehr dünnen Gallerte als einer nahe steht; isoliert wurden 0,1 bis 0,25 g aus 1 1 Serum. Durch Säurespaltung ließen sich 24% Glucosamin gewinnen. Die Farbenreak- tionen sind positiv, mit Ausnahme der Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 11 162 Eiweißkörper Schwefelbleireaktion. Bleiacetat fällt nicht, wohl aber Bleiacetat und Ammoniak. 6. Das Harnmucoid. Ein Mncoid, welches ebenfalls mit dem Ovimucoid Aehn- lichkeit hat, aber den echten Mucinen näher steht und durch Essigsäure fällbar ist, ist im menschlichen Harn gefunden. 260 1 lieferten 4,3 g. Es ist teils gelöst, teils bildet es die sogenannte Nubecula. Bei manchen Tieren ist es durch ein Nucleoalbumin er- setzt, auch hat die Nucleinsäure aus den Leukocyten des Harns ja schleimartige Eigenschaften. 7. Mucoid aus Ascitesflüssigkeiten. In Transsudaten der Bauchhöhle sind die Eiweißkörper des Plasmas und der Lymphe vorhanden. In entzündlichen Exsudaten der Bauchhöhle und anderer seröser Höhlen ist da- gegen einMucoid gefunden, welches den Flüssig- keiten ein opaleszierendes Aussehen und eine eigentümlich klebrige Beschaffenheit ver- leiht. Es ist in reinem Zustande durch Essig- säure fällbar, in der Ascitesflussigke.it dagegen erst nach Ausfällung des Eiweiß und Ent- fernung der Salze durch Dialyse oder nach starkem Verdünnen. Bei direktem Zusatz von Essigsäure zu der Exsudatflüssigkeit entsteht keine absetzbare Fällung, sondern die Flüssigkeit wird opaleszenter und klebriger. Bei der Fällung der koagulierbaren Eiweiß- körper wird es mitgerissen, läßt sich aber wieder in Lösung bringen. Der Körper wird von den Alkaloidreagenzien, auch vou Ferro- cyankalium, ferner von Salpetersäure, Kup- fersulfat, Eisenchlorid und Bleiacetat gefällt und gibt alle Farbenreaktionen des Eiweiß. Pepsin und Trypsin lösen vollständig. Am- monsulfat fällt bei Halbsättigung voll- ständig. Durch kurzes Kochen mit Säuren entstehen nur sehr geringe Mengen redu- zierender Substanz, so daß Zweifel an der Mucinnatur des Körpers geäußert sind; auch der N- Gehalt von 13 bis 15% ist für ein Mucoid hoch. Da er indessen frei von Phosphor ist und durch Kochen nicht ge- fällt wird, so ist er einstweilen nur hier unterzubringen. Die Menge des Körpers ist wie bei allen Mucinen und Mucoiden sehr gering, weniger als 0,5% gegen 3% koagulierbares Eiweiß, während er die physikalische Beschaffenheit der Lösung stark beeinflußt. In der Synovial- flüssigkeit ist an Stelle oder neben dem Mucoid ein Phosphoproteid vorhanden. Bisweilen kommen auch in Exsudaten phosphorhaltige Eiweiße vor. 8. Mucoid der Eihüllen der Cepha- lopoden. Die Eier der Tintenfische sind von einer derben, elastischen Hülle umgeben, dem erhärteten Sekret der Nidamental- drüsen. Sie besitzt die Zusammensetzung der Mucoide; durch Kochen mit Säuren entsteht aus ihr, mit einer Ausbeute von 36 bis 39%, eine amidierte Hexose. Ebenso besteht die Eihülle von Loligo aus einem Glycoproteid und läßt sich aus den Eihüllen von Octopus Glucosamin gewinnen, ebenso aus der Grundsubstanz des Gallertschwammes Chondrosia reniformis. c) Die Phosphoglykoproteide. Es sind dies Körper, die mit den Mucinen und Mucoiden nur ihren Kohlehydratgehalt ge- mein haben und die außerdem Phosphor enthalten. Vitellin und Ichthulin sind bei den Phosphoproteiden besprochen worden, hier soll das sogenannte Helicoproteid aus der Eiweißdrüse der Weinbergschnecke auf- geführt werden, das sonst nicht unterzu- bringen ist. Es hat die Zusammensetzung: C 46,99, H 6,78, N 6,08, S 0,62, P 0,47, weicht also von allen sonst bekannten Ei- weißen erheblich ab. Es bildet eine weißlich opaleszierende Lösung, wird durch Kochen nicht koaguliert, aber durch Essigsäure in salzfreier Lösung gefällt. Salpetersäure und Salzsäure fällen und lösen im Ueber- schuß. Durch Pepsinsalzsäure fällt ein Nuclein oder Pseudonuclein. Von Xanthin- basen ist nichts bekannt. Durch Kochen mit Salzsäure oder Kalilauge entstehen Albu- minate, Albumosen und ein höheres Kohlen- hydrat, das Sinistrin. Das Sinistrin dreht links, gärt nicht, reduziert nicht und gibt keine Jodreaktion. Von Ptyalin wird es nicht angegriffen, durch Kochen mit Säuren aber in ein reduzierendes, rechtsdrehendes Kohlehydrat überführt. Literatur. Zu 1: Zusammenfassende Darstellung der Eiweißchemie : O. Cohnheim, Chemie der Eiweißkörper. 3. Aufl. Braunschweig 1911. — Diese Darstellung ist hier zugrunde gelegt und benutzt. Zu 2: Monoaminosäuren : Emil Fischer, Zahlreiche Aufsätze in Zeitschr. f. physiolog. Ch. u. Der. d. deutsch, ehem. Ges. 1899 bis 1906. Zusammengefaßt in „Untersuchungen über Amino- säuren, Peptide u. Proteine". Berlin 1906. — Basen: A. Kossei, Zahlreiche Aufsätze in Zeitschr. f. physiol. Ch. 1900 bis 1910. Methodik insbesondere Band 31, 41, 4~, 49, 68. — Carba- minoreaktion : M. Siegfried, Ergebnisse der Physiol. 9. (1910). Zeitschr. f. physiolog. Ch. 44, 46, 54. — Humin: O. Schmiedeberg, Arch. f. exper. Path. u. Pharm. 39. — E. Hart, Zeitschr. f. physiol. Ch. 33. Zu 3: Die oben bei 2 zitierten Arbeiten von Emil Fischer, Synthetische Peptide sind auch nach 1907 von Fischer und Abderhalden dar- gestellt worden. — Arginin: Die Arbeiten von A. Kossei, besonders Zeitschr. f. physiol. Ch. 41, 42, 49, 60. Biochem. Zenlralbl. 5. Zu 4 : Siehe Literatur zum spcciellen Teil. Für die Pflanzeneiweiße und die Frage der vollstän- digen Auflösbarkeit: T. B. Osborne, Ergeb- nisse der Physiologie 10, 47 bis 215 (1910). Vegetable Proteins, London 1909. Zu 5: Peptide: E. Fischer und E. Abder- halden, Zeitschr. f. physiol. Ch. 39, 46, 51. — Trypsin : W. Kühne, Virchows Arch. 39. — Eiweißkörper 163 F. Kutscher, Zeitschr. f. physiol. Ch. 28. — E. Fischer und E. Abderhalden, 89, 46. — Formoltitrierung : S. P. L. Sörensen, Biochem. Zeitsehr. 7. — Henriquez und Gjaldbäk, Z. f. physiol. Ch. 67. — Papayotin : Neu- meister, Zeitschr. f. Biol. 26. — Siegfried, Z. f. physiol. Ch. 88. — Kutscher und Loh- mann, ebenda 46. — Erepsin : O. Cohnheim, Z. f. physiol. Ch. 38, 35, 49, 51, 69. — E. Abderhaldenund Mitarbeiter, ebenda 49, 51, Gl, 66. — Hefe : M. Hahn, Z. f. Biol. 40. — F. Kutscher, Zeitsehr. f. physiol. Ch. 32, 34. — E. Abderhalden, ebenda 51, 54, 55. — Pflanzen: E. Schulze, ebenda 24, 38, 45, 47, 65. — E. Abdo'halden, ebenda 49. — S. H. Vines, Annais of Botany 17 bis 20. — Auto- lyse: E. Salkouski, Z. f. Min. Med. 17, Suppl.; 31. Jacoby, Zeitsehr. f. physiol. Ch. 30, 32. — H. D. Dahin, Journ. of Physiol. 30. — Arginase: Kossei und Dahin, Z. f. physiol. Ch. 41, 42. Zu 6: Alkalispaltung: E. Fischer, Z. f. phys. Ch. 85. — H. Steudcl, ebenda 35. — A. Kossei und F. Weiss, ebenda 59, 68. — Permanganat: G. Zickgraf, ebenda 41. — R. Bernert, ebenda 26. — Wasserstoffsuperoxyd: H. D. Dahin, Journ. of Biolog. Chem. 1. — Salpetersäure: O.v. Fürth, Habilitationsschrift. Straßburg 1899. — A. Kossei und F. Weiss, Z. f. physiol. Ch. 78. — Brom : Hlasiwetz und Habermann, Liebigs Ann. 159. — Hefe : F. Ehrlich, Biochem. Zeitschr. 2, 18. — H. Pringsheim, ebenda 10. — Fäulnis: D. Acker- mann und F. Kutscher, Zeitschr. f. physiol. Ch. 69. — A. Ellinger, ebenda 29, 62, 65. — Pflanzen: E. Schulze, ebenda 24, 26, SO, 38, 35, 47, 65, 67, 69. — Tiere: Desa midier ung : O. Cohnheim, ebenda 59, 76. — Leber: O. Neubauer, ebenda 67. — Acetessigsäure : G. Embden, Hofmeisters Beilr. 6, 8, 11, Biochem. Zeitschr. 27. — Alkaptonurie: Falta u. Lang- stein, Zeitschr. f. physiol. Ch. 37. — E. Fried- mann, Hofmeisters Beitr. 11. — Cystin u rie : A. E. Garrod, Journ. of Physiol. 34. — Diaminurie : E. Baumann, Zeitschr. f. physiol. Ch. 13, 15. — Agmatin : A. Kossei, ebenda 66, 68. — Methylierungen : D. Ackermann uud F. Kutscher, ebenda 69. — Kynuren- säure: A. Ellinger, ebenda 43. — Glykokoll: A. Magnus-Levy, Biochem. Zeitschr. 6. — Zucker und Eiweiß: G. Lusk, Zeitschr. f. physiol. Ch. 66. — Glukosamin: R. Fabian, ebenda 27. — Tryptophan : A. Ellinger, Hof- meisters Beitr. 4- — Methylmerkaptan nach Spargeln: 31. Nencki, Arch. f. exper. Path. u. Pharm. 28. — Melanin: O. v. Fürth, Hof- meisters Beitr. 1, 10. — M. Nencki, Bei: deutsch, ehem. Ges. 28. Zu 8: Albumosen: W. Kühne, Zeitschr. f. Biol. 29. — R. Neumeister, ebd. 26. — F. Hof- meister, Ergebnisse der Physiologie, I, Biochem ie. — Pepsinpepton : M. Siegfried, Zeitschr. f. physiol. Ch. 88, 45, 65. — Histopcpton : A. Kossei, ebd. 49. — Hemielastin : L. Borchardt, ebd. 51. — Plastcin: W. W. Sawjalow, ebd. 54. — ■ Kyrine : M. Siegfried, ebd. 48, 48, 50. — Protone: A. Kossei, ebd. 49. ■ - Säure- Peptide: E. Fischer und E. Abderhalden, Ber. deutsch, ehem. Ges., 39, 40. — E. Abder- halden, Zeitschr. f. physiol. Ch. 58, 62, 63, 64, 65, 66. — Acidalbumosen : M. Dcnnstedt und P. Hassler, ebd. 48. — R. Neumeister, Zeitschr. f. Biol. 26, 36. — Alkalialbumosen : O. Maas, Zeitschr. f. physiol. Ch., 80. — A. Kossei, ebd. 59, 60, 68. — Antipepton: M. Siegfried, ebd. 35, 38, 45, 54. — E. Fischer und E. Abderhalden, ebd. 39, 40. — Fleisch- extrakt: K. Mays, ebd. 78. — Oxyprotcin- säure : F. Pregl, Pflügers Arch. 75. — E. Abderhalden und F. Pregl, Zeitschr. f. physiol. Ch. ^C. — Pflanzensamen: M. Sieg- fried und W. R. Mach; ebd. 42. — T. B. Osborne, Ergebnisse der Physiologie, 10. — Tritonium : 31. Henze , Ber. deutsch, chem. Ges. 34. Zu 9: Amphotere Elektrolyte: K. Winkel- blech, Zeitschr. f. physikal. Ch.36. — Hydrolyse : J. Sjögvist, Skandinav. Art. f. Physiol. 5. — O. Cohnheim, Zeitschr. f. Biol. 88. — T. Br. Robertson, Ergebnisse der Physiologie 10. — Undissocierte Sähe: T. B. Osborne, Zeitschr. f. physiol. Ch. 33; l. c. — T. Br. Robertson, I. c. ■ — Alkohollösliche Salze: F. Simon, Zeitschr. f. physiol. Ch. 66. — Schwermetallsalze: G. Galeotti, ebd. 40, 4~> 4$- — Anilinfarben: M. Heidenhain, lJflügers Arch. 90, 96. — G. 31ann, Physiological Histology, methods and theory, Oxford 1902. ZulO: Jodeiweiße : Blum, Journ. f. pr. Ch. (2) 56, 57. Zeitschr. f. physiol. Ch. 28. — F. Hof- meister, ebd. 24. — D. Kurajeff, ebd. 26, Hofmeisters Beitr. 3, Zeit- 58, 59, 60, 62. — Brom- — F. G. Hopkins, Ber. 30, 31. — Fluoreiweiß: Gans, Chem. Centralbl. A. Oswald,, Zeitschr. f. .j L. sehr. f. ei/weiß: deutsch Blum, 1901. - physiol A. Oswald, physiol. Ch. Blum, l. c. - , ehem. Ges. , l. c. — S. W - Schilddrüse . Ch. 27, 32, 62. 51, 55. — Korallen: C. T. 31örner, ebd. 51, 55. - - 3L. Henze, ebd. 51. — Schwämme: E. Hai-nack, ebd. 24. — Nitro- körper: O. v. Fürth, Habilitationsschrift, Straß- burg 1899. — A. Kossei, Zeitschr. f. physiol. Ch. 72, 76. — Oxyprotsulfonsäure : O. v. Fürth, Hofmeisters Beitr. 6. — Oxyprotcin : F. N. Schulz, Zeitschr. f. physiol. Ch. 29. — Ozon: C. Harries und K. Langheld, ebd. 51. — Formaldehyd : S. Schwarz, ebd. 31. — Ester: H. Bechhold, ebd. 34. — Diazoverbindungen : Z. Treves und G. Salomone, Biochem. Zeit- schr. 7. — Silber: Schadee van der Does, Zeitschr. f. physiol. Ch. 24. — Osmiumsäure: A. Bethe, Arch. f. mikroskop. Anatomie 54- Zu 11: Molekular cjrößt ?: -F. Hofmeister, Zeitschr. f. physiol. Ch.24. — G. Hüfner, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1894. — J. Barcroft. Journ. of Physiol. 39. — E. W. Reid. cid. 31, 38. - Verbrennungswärme: F. Stohmann und H. Langbein, Journ. f. pr. Ch. (2)44- — F. G. Benedict und T. B. Osborne, Journ. of Biolog. Chem. 8. — Polarisation : L. Frede'ricq, Arch. de Biol. 1, 2. — Refractometrie : T. Br. Robertson, Journ . of Physical. <'hz) bezeichnen können (s. Fig. 2). ^Von diesen neun Komponenten stehen Xx, Yy, Zz offen- bar senkrecht zu dem Flächenelement, zu Big. 2. welchem sie gehören. Die übrigen fallen in die Fläche. Die ersteren werden als Normalspannungen, die letzteren als Tan- gentialspannungen (Schubspannungen) be- zeichnet.1) Die Normalspannungen werden „Zugspannungen" genannt, falls der Span- nungsvektor nach der „äußeren Seite" des Flächenelements zeigt, Druckspannungen, falls er nach „innen" gerichtet ist. x) In der technischen Litteratur werden die Normalspannungen mit ffx, ßy, 6z, die Schub- spannungen mit rxy . rvz usw. bezeichnet. 168 Elastizität Es ist zunächst leicht einzusehen, daß diese neun Spannungsgrößen sich auf sechs reduzieren, da die sechs Schubspannungen paarweise gleich sind. Es gelten nämlich die Beziehungen Xy = Yx YZ = Zy zx = xz. Dies kann man folgendermaßen einsehen: Da beliebige Teile des Körpers im Gleich- gewicht sein müssen, so können wir dieses Prinzip auf einen Würfel von der Kanten- änge Ax— Ay = Az anwenden (s. Fig. 3) und die Bedingung ausdrücken, daß die Kräfte kein Drehmoment ausüben, das das Volum- element drehen würde. Wenn auch eine stetig verteilte äußere Kraft (z. B. Schwere) vorhanden ist, so kann sie doch kein merk- liches Drehmoment ausüben, weil ihre Besul- tierende angenähert durch den Schwerpunkt des Würfels geht, und zwar um so genauer, je kleiner der Würfel ist. Ein merkliches Drehmoment kann also nur von den Span- nungen herrühren. Kechnen wir z. B. das Drehmoment aus, welches um die y-Achse dreht, so kommen zwei Kräftepaare in Betracht, und zwar die Spannungen Xz an den Flächen AxAy mit dem Hebelarm Az und die Spannungen Zx an den Flächen AyAz mit dem Hebelarm Ax. Diese beiden Kräfte- paare müssen im Gleichgewicht sein, woraus folgt oder Xz.AxAy.Az = Zx.AzAy.Ax völlig festlegen. Wenn dies der Fall ist, so muß es möglich sein, die Spannung in bezug auf eine beliebige Ebene durch diese sechs Komponenten auszudrücken. Man kann nun in der Tat zeigen, daß dies immer möglich ist. Zu diesem Zwecke betrachtet man ein Tetraeder mit den Kartenlängen Ax, Ay, z/z. (s. Figur 4). Ein solches Tetraeder muß offen- bar ebenfalls im Gleichgewicht sein, wie jeder aus- Ebenso folgt Gleichgewieht Xz = Zx. aus dem Drehmomente um die x- und z-Achse Gleichheit von Yz und 7y bezw. von und Yx. Die Schubspannungen, die der die Xy sich „in einer Würfelkante treffen", sind also gleich. Es fragt sich nun, ob die sechs Spannungs- komponenten Xx, Yy, Zz, Xy, Yz, Zx den Spannungszustand in dem Punkte wirklich Fig. 4. geschnittene Teil des Körpers. Die Kräfte in der Richtung rühren von den Spannungskomponenten Xx, Xy, Xz und von der x-Komponente Xn der unbekannten Spannung Sn in bezug auf die Fläche ABC her. Da die Flächen, auf die die drei erstgenannten Spannungen wirken, x/2 AyAz, 1/2 AxAz, 1/2 AxAy betragen, so liefern diese eine Kraft in der x-Richtung von der Größe Va (XxAyAz+XyAxAz+XxAzAy). Diese Kraft muß, wenn keine äußeren Kräfte wirken, der Kraft Xn.ABC das Gleichgewicht halten. Da die drei Seitenflächen als Projektionen der Fläche ABC auf die Koordinatenebenen entstehen, so gelten die Relationen: 1 zlyzlz=ABC cos a V, zlzzlx=ABC cos ß 72 zlxzly = ABC cos y wobei a, ß, 7 die Richtungskosinusse der Normalen des Flächenelements ABC bezeichnen. Man hat daher Xx cos a + Xy cos ß + Xz cos y = Xn. In ähnlicher Weise erhält man Relationen für Yn und Zn. Diese Relationen müssen nun be- stehen bleiben, wie klein auch Ax, Ay, Az ge- wählt werden, d. h. auch wenn man mit der Ebene ABC ganz nahe an den Punkt 0 rückt. Man sieht aber, daß die Relation dann auch für den Fall gilt, daß beliebige äußere Kräfte wirken, da das Volumen und damit alle „räumlich ver- teilten Kräfte" klein von der dritten Ordnung werden : die äußere Kraft wird bei Verkleinerung des Tetraeders immer kleiner, während die Span- nungen endlich bleiben. Rückt man mit ABC ganz zum Punkte 0 heran, so gehen Xn, Yn, Zn in die Spannungen im Punkte 0 in bezug Elastizität 169 auf die Flächenrichtung ABC über, und da- mit sind die drei Komponenten der Spannung in bezug auf eine beliebige Ebene in der Tat durch die sechs Spannungskomponenten ausge- drückt. Der Spannungszustand in einem Punkte kann durch folgende Darstellung geometrisch veranschaulicht werden. Man kann eine Fläche zweiten Grades (eine sog. Spannungsfläche) in der Weise konstruieren, daß jede Ebene mit dem zugehörigen Spannungsvektor ein Paar konjugierter Elemente bildet, d. h. wenn wir die Richtung des Spannungs- vektors als Fahrstrahl auffassen, so ist die zugehörige Ebene parallel der Tangential- ebene an die Spannungsfläche am Endpunkte des Fahrstrahls. Die Größe des Spannungs- vektors kann man an dieser Darstellung ebenfalls ablesen: ihre Normalkomponente ist gleich dem Quadrat der Entfernung der Tangentialebene von dem Mittelpunkt der Fläche, wodurch die Größe des Spannungs- vektors selbst, da seine Richtung bereits be- kannt ist, ebenfalls bestimmt wird. Der allseitig gleichen Druckverteilung (z. B. in ruhender Flüssigkeit) entspricht als Span- nungsfläche offenbar eine Kugel. Bei diesem Spannungszustande steht die Spannung stets senkrecht zu dem zugehörigen Flächenelement. Man sieht aber unmittelbar ein, daß dies nur in diesem einzigen Falle zutrifft. Im allge- meinen werden wir stets drei Ebenen finden, die die Eigenschaft haben, daß die Spannung auf der Ebene senkrecht steht, so daß in diesen Ebenen keine Schubspannungen auf- treten. Diese Ebenen sind die sogenannten „Hauptebenen", die zugehörigen Span- nungen, die offenbar in die Richtung der Hauptachsen der Spannungsfläche fallen und dem Quadrate derselben gleich sind, nennt man ,, Hauptspannungen". Unter den drei Hauptspannungen sind die größte und die kleinste Spannung in dem betreffenden Punkte enthalten, bezw. die größte positive und die größte negative Spannung. 2. Der Deformationszustand. Man kennt den Deformationszustand eines kon- tinuierlichen Mediums vollständig, falls man für jedes vor der Deformation aus dem Körper herausgegriffene Linienelement Rich- tung und Länge nach der Deformation an- geben kann (s. Fig. 5). Betrachten wir z. B. ein Parallelepiped mit den Kantenlängen Ax, Aj, /dz, so ist der Deformationszustand desselben bekannt, falls wir die neuen Lagen der Linienelemente und ihre neuen Längen an- geben können. In der Elastizitätslehre nimmt man nun an, daß auf den Spannungszustand nur die sogenannte „reine Deformation", d. h. die Längenänderungen und die relativen Winkeländerungen der in dem Punkte zu- sammenlaufenden Linienelemente von Ein- fluß sein können. In dieser Annahme ist Zweifaches ausgedrückt : a) Man macht die Voraussetzung, daß eine Translation oder Drehung des Volumelements Fig. 5. keine Spannungen hervorrufen kann. Dies wird dadurch plausibel, daß sonst eine reine Drehung oder Translation des Gesamt- körpers ebenfalls elastische Spannungen her- vorrufen würde, was der Erfahrung offenbar widerspricht. b) Man stellt sich dadurch, daß man für die Spannungen nur die Dehnungen und Winkeländerungen des in dem betreffenden Punkte zusammenlaufenden Achsenkreuzes als maßgebend ansieht, auf den Standpunkt der „Nahewirkungstheorie". Der Einfluß der weiteren Umgebung wird vernachlässigt. Diese Auffassung bildet zwar heutzutage die Grundlage unserer Mechanik der Kon- tinua, von dem Standpunkte der Molekular- theorie aus ist sie aber nur als eine erste Näherung zu betrachten. Die sechs Deformationsgrößen, die wir zu betrachten haben, sind also die drei Längen- änderungen (Dehnungen) der Linien- elemente: ex, £y, £z und die drei Winkel- änderungen der drei Achsen: yxy, yyz, yxz. Man erhält reine Dehnungen, wenn man annimmt, daß das Parallelepiped ein solches bleibt und nur die Kantenlängen verändert werden. Andererseits erhält man den Fall reinen Schubs, falls wir alle Kanten- längen behalten und das Parallelepiped in ein Rhomboeder überführen. Aehnlicher- weise wie durch die sechs Spannungskompo- nenten die Spannung in bezug auf eine be- liebige Flächenrichtung festgelegt ist, so kann man aus den Dehnungen und Winkel- änderungen eines einzigen Achsenkreuzes die Dehnung eines beliebig gerichteten Linien- elementes und die Winkeländerung zwischen zwei beliebigen Linienelementen berechnen. 170 Elastizität Man findet in Analogie zu den drei Haupt- ebenen, in denen die Schubspannungen ver- schwinden, drei aufeinander senkrechte Linien- elemente, die nur eine Dehnung und keine Winkeländerung erfahren. Dies kann man am einfachsten folgendermaßen veranschaulichen : Schneiden wir eine Kugel aus dem Körper heraus, so wird diese bei der Deformation an- nähernd in ein Ellipsoid übergehen ; alsdann bilden die drei Hauptachsen ein Achsen- kreuz, welches vor und nach der Defor- mation aus drei aufeinander senkrechten Linienelementen besteht. Die Dehnungen dieser Linienelemente nennt man „Haupt- dehnungen". Diese enthalten die größte und kleinste Dehnung, die irgendein durch den betreffenden Punkt gezogenes Linien- element erfahren kann (bezw. größte positive und größte negative Dehnung). Offenbar kann man den Deformationszustand statt durch Angabe der sechs Dehnungskompo- nenten in bezug auf ein behebiges Achsen- kreuz auch dadurch festlegen, daß man die Größe und Orientierung der drei Haupt- dehnungen angibt und dadurch das Ellipsoid festlegt, in welches die Kugel übergegangen ist. Unter Dehnung verstehen wir die spe- zifische Längenänderung, d. h. die Längen ander ung der Längeneinheit; und zwar soll Verlängerung positiv, Verkürzung negativ gerechnet werden. Sowohl die Deh- nungen als die Winkeländerungen sind dimensionslose Zahlen; sie lassen sich be- rechnen, sobald die Verschiebungen der einzelnen Punkte bekannt sind. Betrachten wir das Achsenkreuz X, Y, Z im Punkte 0 (s. Figur 6) und bezeichnen wir die S + §Az s dz S+gAx A £+^Ax x dx Fig. 6. Verschiebung des Punktes 0 mit £, tj, £, wobei diese Großen als abhängig von den Koordinaten des Punktes x, y, z zu betrachten sind, so werden die Endpunkte der drei Linienelemente offenbar etwas veränderte Verschiebungen er- fahren und zwar B: d£ d?i d? oz oz 9z Die Länge z/x geht daher angenähert in über, so daß die spezifische Längenänderung «X dx _d§ dx ~ dx beträgt. Ebenso ist die Dehnung nach der y- z- Richtung ^ und ^-. Was die Winkelände- öy dz rungen anbelangt, so kann man diese auch durch Differentialquotienten der Verschiebungen aus- drücken. So besteht die Winkeländerung zwischen der x- und z-Achse aus der Summe der beiden Winkel »i öx z/x z/x fr. dz ^y ^y so daß die Winkeländerungen durch die Formeln 7xy 7yz dx + dy dy + dz d| + dz dz dx yzx ausgedrückt werden. Die sechs Formänderungskomponenten setzen sich also aus den Ableitungen der drei Verschiebungen |, r\, 'Q linear zusammen. Daraus folgt, daß man nicht beliebige Größen als Formänderungskomponenten an- nehmen kann, sondern diese müssen gewissen Bedingungen genügen, die es ausdrücken, daß sie eben von drei Funktionen £, t], £ in der angegebenen Weise hergeleitet werden können. Man nennt diese Bedingungen „Kompatibilitätsbeclingungen". 3. Beziehungen zwischen Spannungen und Deformationsgrößen. Das Hookesche Gesetz. Wie wir in der Einleitung aus- einandergesetzt haben, ist für einen idealen elastischen Körper der Spannungszustand durch den jeweiligen Deformationszustand völlig bestimmt und umgekehrt, d. h. die sechs Spannungskomponenten und die sechs Deformationsgrößen müssen miteinander durch eindeutige funktionale Beziehungen verknüpft sein. Die mathematische Elasti- zitätstheorie nimmt für die meisten Unter- suchungen speziell eine Proportionalität zwischen Spannungsgrößen und Deforma- tionsgrößen an. Für eine große Klasse von Körpern liefert dies in der Tat eine recht gute Annäherung. Die Proportionalität zwischen Kraftwirkung und Deformation hat zuerst in allgemeiner Weise Robert Hooke (1676) ausgesprochen in der berühmten Aussage: „ut tensio, sie vis". Man nennt daher den präzisen Ansatz, der erst viel später, nach der durch Navier, Cauchy und Poisson er- folgten Analyse des Spannungs- und Defor- mationszustandes aufgestellt werden konnte, Elastizität 171 das verallgemeinerte Hookesche Gesetz. Die Proportionalitätsfaktoren nennt man im allgemeinen Elastizitätskonstanten. Ihre Anzahl ist bei dem allgemeinsten aniso- tropen Körper (bei einem Kristall des tri- klinischen Systems) 21, für isotrope Körper, d. h. für Stoffe, bei welchen sämtliche Richtungen gleichwertig sind, kann ihre Anzahl "nicht größer sein, als 2. Zwischen diesen Grenzen liegen die verschiedenen Kristallsysteme mit ihren verschiedenen Symmetrieeigenschaften. Bei isotropen Körpern ist es zunächst ein- zusehen, daß ein Parallelepiped durch Normal- spannungen keine Winkeländerung erfahren kann. Denken wir z. B. einen Würfel durch zwei Normalkräfte auf Zug beansprucht, so können diese offenbar keinen Schub zur Folge haben, weil eine Druckspannung von derselben Größe den entgegengesetzten Schub bewirken würde, und dies der Gleichwertig- keit aller Richtungen widerspricht: es ist gar nicht einzusehen, warum die Zugspan- nung einen Schub gerade nach links, die Druckspannung nach rechts hervorrufen sollte, oder umgekehrt. Man kann sich in dieser Weise überzeugen, daß bei einem iso- tropen Körper die Normalspannungen nur Dehnungen und die Schubspannungen nur Winkeländerungen hervorrufen können (Hauptdehnungen und Hauptspannungen fallen also der Richtung Berücksichtigt man noch, auf die Dehnung in der y- z- Richtung denselben Einfluß haben muß, so gelangt man zu dem allgemeinen Ansätze ex =a(Xx-KYy+Zz)) ey = a(Yv-r(Xx+Zz)) ez = a(Zz-r(Xx+Yy)) y*y=ßXy yyz=ßYz yzx = ß Zx Man nennt a den „Dehnungskoeffizienten", ß den „Schiebungskoeffizienten". v ist die sogenannte Poissonsche Verhältniszahl; sie bestimmt nach dem Ansatz das Verhältnis der Dehnungen, welche eine Zugspannung in der Querrichtung und in der Längs- richtung; hervorruft. Man kann außerdem zeigen, daß zwischen den drei Konstanten eine universelle Re- lation bestehen muß, so daß die Anzahl der unabhängigen Elastizitätskoeffizienten sich auf 2 reduziert. Betrachten wir z. B. (Fig. 7) einen Würfel von der Kantenlänge 1, der in der x-Richtung auf Zug beansprucht wird, so sind die drei Dehnungen fx= a Xx ey= — a»Xx £z= — ai'Xx d. h. der Würfel von der Kantenlänge Eins erfährt eine Verläne;-crung um aXx in der Längsrichtung und die v-fache Verkürzung in den beiden Querrichtungen. Wir wollen nun einen Schnitt AB durch die Diagonal- fläche durchlegen und die Spannungen und Dehnungen auf das Achsenkreuz £, Z be- ziehen (s. Figur 7a). In der Fläche AB tritt eine nach zusammen), daß eine x- Kraft und auf die in der Fig. 7a. Fig. 7b. Normalspannung und eine Schubspannung auf, die mit der Spannung Xxim Gleichgewicht sein müssen, da die Gleichgewichtsbedingung für beide Körperhälften erfüllt sein muß. Daraus folgt, daß Normalspannung und Zugspannung, die auf eine Fläche von der Größe Jyzlz]'2 wirken, den Betrag - x haben müssen. Was die Formänderung anbelangt so erfahren die beiden Achsen £*, Z eine Winkeländerung, die proportional ist der Schubspannung, d. h. es muß gelten (s. Figur 7b) Andererseits kann man die Winkeländerung geometrisch aus den Längenänderungen in der x- und y-Richtung berechnen. Man erhält 2fr=2l £z< 2 45°- arctg 1+ £x 172 Elastizität oder angenähert 2*=ex-ez Daraus folgt unmittelbar die Beziehung Xxa(l+v)=^ oder a ß 2{l + v) In der mathematischen und technischen Literatur werden im allgemeinen verschiedene Elastizitätskonstanten eingeführt, die natür- lich gegenseitig ausgedrückt werden können. Diese Elastizitätskonstanten können in ein- fachen Fällen leicht gedeutet werden, was in dem nächsten Abschnitt gezeigt werden soll. 4. Deutung der Elastizitätskonstanten. 4a) Lamesche Konstanten. In der mathematischen Elastizitätslehre benutzt man zumeist die Lame sehen Ausdrücke, die die Spannungen als Funktionen der Form- änderungsgrößen angeben.1) Die Relationen lauten: Xx = A(£x + £y + £z)+ ^jUSx Yy = ;L( £X -f £y + £Z )+ 2/«£y Zz =A(£X+ £y + £z) + 2/«£z xy = /'7xy Yz = juyjz Zx = /uyZx Die beidenKonstanten können mittels unserer vorigen Konstanten durch die Beziehungen a I M: 2v2 1 ß ausgedrückt werden. Ein Vorteil der Lame- schen Bezeichnungsweise besteht darin, daß man gewissermaßen Volumelastizität und Gestaltselastizität trennt. Ist nämlich ju = 0, so sind sämtliche Normalspannungen gleich, die Schubspannungen = 0, so daß man einen allseitig gleichen Druckzustand vor sich hat, wie in einer idealen Flüssigkeit. Da die Summe der drei Dehnungen ange- nähert gleich der Volumänderung des Volum- elementes ist, so drückt X in diesem Falle das Verhältnis des Druckes zu der Volum- änderung aus. 4b) Elastizitätsmodul und Gleit- raodul. In der technischen Praxis speziali- siert man die Elastizitätskonstanten da- durch, daß man den Fall des reinen Zug- und Druckversuchs und den Fall des reinen Schubs (reine Winkeländerung) betrachtet. Für eine Zugbeanspruchung in der x-Rich- x) Die mathematische Elastizitätstheorie be- nutzt für die Formänderungskomponenten zu- meist folgende die Dehnungen Bezeichnungen Xy, Vz , zx zz für &v~. xx, yy fürWinkeländerungen. tung (s. Fig. 8) ist die entsprechende Deh- nung £x = aXx; den reziproken Wert von a bezeichnet man als Elastizitätsmodul (Dehnungsmodul), E = — . Die englischen a Autoren nennen diese Größe den Young- Fig. 8. sehen Modul, da Young (1807) als erster den Begriff präzisierte. Für eine reine Schubbeanspruchung (s. Fig. 9) hat man Fig. 9. zwischen Schubspannung und Winkel- änderung die Beziehung yxz = ßX£ ; der reziproke Wert des Schiebungskoeffizien- 1 ten ß heißt der Gleitmodul, G = -5- (= ju). 4c) Kompressionsmodul. Für einen allseitig gleichen Druckzustand erhält man aus den obigen Gleichungen wegen Gleichheit der drei Normalspannungen bezw. der drei Deh- nungen die Beziehung Xx = Yy = Zz = (A+ 3 //)(£x + £y + £z) = (A+ -q ju).3e. Bezeichnet man den allseitigen Druck mit p und die spezifische Volumänderung mit — = £x+ £y + £z = os, Elastizität 173 so wird1) p=U+gA* Av v der Faktor Ä + o ß heißt der Kompressi- bilitätsmodul K, der reziproke Wert des- selben die Kompressibilität k. Der Kompressibilitätsmodul wird durch Elastizitätsmodul und Poissonsche Zahl in 1 E der Form K = ^ -z — ~- ausgedrückt. Man fol- o 1 — zv gert daraus, daß die Poissonsche Verhält- niszahl stefs zwischen den Grenzen 0 und 0.5 hegt. Wäre nämlich v> 0,5, so würde K negativ ausfallen, d. h. der Körper würde bei Zug sich zusammenziehen, bei Druck sich ausdehnen, was der Erfahrung widerspricht. 5. Die Ziele der mathematischen Ela- stizitätstheorie. Durch Festsetzung der Beziehungen zwischen Deformationsgrößen und Spannungen ist die Möglichkeit ge- geben, für vorgeschriebene Belastungsver- hältnisse die Deformation eines elastischen Körpers zu berechnen. Diese ist vollständig bekannt, falls wir die Verschiebungen £, ■T], £ als Funktionen des Ortes angeben. Es fragt sich nun, wie diese bestimmt werden. Die einzige Bedingung, die wir zu erfüllen haben, ist die Gleichgewichts- bedingung für ein beliebiges Volum- element. Genauer gesagt: durch die Ver- schiebungen sind die Deformationsgrößen gegeben, durch die Deformationsgrößen die Spannungen und nun müssen die von den Verschiebungen in dieser Weise abgeleiteten Spannungen für einen beliebigen Teil des Körpers sich im Gleichgewicht befinden. Da die Deformationsgrößen sich linear aus den Ableitungen der Verschiebungen |, ?y, £ zusammensetzen, die Spannungen laut des Hookeschen Gesetzes lineare Funktionen der Deformationsgrößen sind, so erhalten wir als Gleichgewichtsbedingungen drei lineare Differentialgleichungen für die drei Funkti onen £, 1], £, die diese mit Hilfe der zugehörigen Randbedingungen völlig bestimmen. Bezüg- lich der Randbedingungen sind zwei Haupt- fälle zu unterscheiden: Zumeist sind ent- weder die Verschiebungen an der Begrenzung des Körpers (z. B. Stab mit festgehal- tenen Enden) oder aber die Oberflächen- krälte (z. B. ein Körper unter Flüssigkeits- druck) gegeben. In dem letzteren" Falle müssen die Spannungen, falls wir uns der Begrenzung nähern, in die vorgeschriebenen Oberflächendrucke übergehen. In beiden Fällen reichen die Randbedingungen gerade aus, die Verteilung der Deformationen und Spannungen zu bestimmen. Man erhält die Gleichgewichtsbedingungen an dem Volumelement, falls man die Differenzen der Spannungen an gegenüberliegenden Seiten- flächen vergleicht. Die Spannungskomponenten, die eine Kraft nach der x-Richtung liefern, sind Xx, Xy, Xz. Der Ueberschuß dieser Spannungen an den Flächen nach der wachsenden x-, y- und z-Richtung beträgt offenbar ÖXx . ÖXy . ÖXz „ -jr— ^x, -j-±- Jy, ~Az; öx öy ■" dz der Ueberschuß an Kraft für das ganze Volum- element ist daher (wobei wir mit den betreffenden Flächen multiplizieren) ÖXx , ÖXy ÖXZ\ . . , öx öy öz / Diese Kraft muß, falls keine räumlich verteilte äußere Kraft vorhanden ist, verschwinden, bei Vorhandensein einer solchen von der Größe X, Y, Z pro Volumeinheit der Kraft X Ax Ay z/z das Gleichgewicht halten. Es folgt daraus: ÖXX , ÖXy ÖXz . „ öx öv öz 0 und entsprechend öYxöYyöYz öx ^ öv ^ öz ^ ÖZx . ÖZv , ÖZz „ öx öv öz 0. Im Falle der Bewegung sind die rechten Seiten durch die Ausdrücke ö2£ 02?] 02! öt2 ' Q öt2 £ öt2' '? M2 ' * *) Die Volumänderung eines Würfels von der Kantenlänge a beträgt offenbar, falls jede Kante die Dehnung s erfährt Av = a3(l + ?)3 — a3, oder Av angenähert Av = 3a3s, woraus - - = 3s folgt. zu ersetzen, wobei q die Masse der Volumeinheit (Dichte), ö2| ö2^ ö2£ öF' "öF öt2 die Komponenten der Beschleunigung in dem betreffenden Punkte bezeichnen. Führt man in diese drei Gleichungen das Hookesche Gesetz für die Spannungen, ferner in das Hookesche Gesetz die Ausdrücke für die Formänderungsgrößen ein, so erhält man drei lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung für g, 7], £. Man bezeichnet sie als „Grund- gleichungen der Elastizitätstheorie". Durch die Lösung der Grundgleichungen erhält man allerdings die Spannungen nur in dem Falle richtig, wenn der Körper span- nungslos ist, solange keine äußeren Kräfte auf ihn wirken. Dies ist aber oft nicht zu- treffend. Man kann z. B. einen geschlossenen Metallring aufschneiden, einen Sektor aus ihm herausschneiden, und die beiden Enden wieder zusammenlöten: der so gewonnene Körper ist offenbar auch ohne Einwirkung von irgendwelchen äußeren Kräften in einem bestimmten Span- nungszustande. Es sind „Anfangsspannun- 174 Elastizität gen" vorhanden. Wird der Körper be- lastet, so gibt die Lösung der elastischen Grundgleichungen nur die „zusätzlichen" Spannungen. Ebenso werden bei Metall- körpern, die aus der Schmelze durch rasche Abkühlung fest geworden sind, stets innere Spannungen vorhanden sein, denen man sehr schwer Rechnung tragen kann. Man kann die inneren Spannungen dadurch konstatieren, daß, falls man einen solchen Körper zerschneidet, die beiden Teile im allgemeinen nicht mehr zueinander passen. 6. Formänderungsarbeit. Minimal- prinzipe. Man kann die Bestimmung des elastischen Gleichgewichts auf ein allge- meines energetisches Prinzip zurückführen, wenn man die Arbeit, die bei der elastischen Deformation eines Körpers geleistet wird, als eine Art potentieller Energie des Körpers auffaßt Diese Arbeitsmenge repräsentiert infolge der Reversibilität der Deformation in der Tat eine in dem Körper aufgespei- cherte Arbeitsfähigkeit, die man als Defor- mationsenergie (Formänderungsener- gie) bezeichnet. Betrachtet man nun den elastischen Körper und die angreifenden äußeren Kräfte als ein abgeschlossenes System, so ist das Gleichgewicht offen- bar durch das Minimum der potentiellen Energie des Gesamtsystems bestimmt. Die Deformation erfolgt in der Weise, daß die Formänderungsenergie des elastischen Körpers, vermindert um die Arbeitsfähig- keit, die die Kräfte durch Verschiebung ihrer Angriffspunkte einbüßen, möglichst klein ausfällt. Daß die Arbeitsleistung der äußeren Kräfte bei Verschiebung ihrer An- griffspunkte als Verminderung der poten- tiellen Energie des Gesamtsystems anzu- sehen ist, erkennt man am einfachsten, falls man als äußere Kräfte Gewichte an- bringt. Wird z. B. ein Stab durch ein Ge- wicht gebogen, so ist die Durchsenkung des Gewichtes offenbar eine Verminderung der potentiellen Energie desselben, da es vom höheren Niveau zu einem niedrigeren gesunken ist. Die bei der Biegung geleistete Formänderungsarbeit gilt dagegen als Zu- nahme der potentiellen Energie, da da- durch eine Arbeitsfähigkeit im Körper auf- gespeichert wurde : wird die Belastung langsam aufgehoben, so ist der Körper in der Tat imstande, eine gewisse Arbeit zu leisten. Nach unserem Prinzip wird das Gewicht den Stab nur soweit durchbiegen, bis die Zunahme der Formänderungsarbeit stärker wird als die Abnahme der poten- tiellen Energie durch das Sinken des Ge- wichtes.1) Man kann zeigen, daß für einen iso- tropen Körper, für den das Hookesche Gesetz gilt, die bei der Deformation ge- leistete Arbeit pro Volumeinheit (Energie- dichte) W = -2(XX£X+Yy£y+Zzfz+Xyyxy + Yz yyz + Zxyzx ) beträgt. Man nennt diesen Ausdruck auch elastisches Potential, mit Rücksicht darauf, daß die Spannungen als Ablei- tungen dieser Größe nach den Deformations- größen sich darstellen lassen. Das Prinzip vom Minimum der poten- tiellen Energie ist vielfach benutzt worden, für spezielle Fälle einfache Rechnungsver- fahren herzuleiten. Besondere Beachtung verdient die Anwendung des Prinzipes in den Fällen, wo mehrere Gleichgewichtsge- stalten möglich sind und es um die Entschei- dung sich handelt, welche dieser Gleich- gewichtsgestalten stabil ist. Die stabile Gleichgewichtskonfiguration muß nach be- kannten Grundsätzen die kleinste poten- tielle Energie besitzen (vgl. II, 5). II. Elastizität von Stäben und Fäden. Die in den vorliegenden Nummern prä- zisierte mathematische Aufgabe kann nur in einzelnen einfachen Fällen in exakter Weise gelöst werden, so daß man sich zu- meist mit angenäherten Lösungen be- gnügt. Einfache Lösungen erhält man insbesondere für solche Körper, bei denen eine oder mehrere Dimensionen klein sind gegen die anderen, wie z. B. für dünne Platten und insbesondere für dünne Stäbe. Diesen Fällen kommt von zwei Gesichtspunkten aus eine besondere Be- deutung zu. Einerseits sind an Bauwerken oder Maschinen zumeist gerade jene Kon- struktionsteile der Bruchgefahr am meisten ausgesetzt, die als solche Stäbe oder Platten betrachtet werden können, so daß diese Annäherungslösungen für die technische Festigkeitslehre fast vollkommen ausreichen (vgl. den Artikel „Festigkeit"). Anderer- :) Man wäre zunächst geneigt zu glauben, daß die beiden Arbeitsmengen stets gleich sind, da der Stab doch durch die äußere Kraft deformiert wurde. Es ist indessen zu beachten, daß der Stab als potentielle (Formänderungs-) Energie nur jene Arbeit aufnimmt, die geleistet wird, falls dqr Stab durch sukzessiv wachsende Gewichte belastet wird, d. h. falls die Belastung bei jeder Durchbiegung so viel beträgt, wie nach dem Ho oke sehen Gesetz gerade ausreicht, die De- formation hervorzurufen. Dies äußert sich darin, daß ein plötzlich durch das volle Gewicht be- lasteter Stab in Schwingungen gerät. Man kann leicht nachrechnen, daß im Gleichgewichts- zustände die Formänderungsenergie des Stabes nicht gleich Gewicht x Weg ist, sondern genau die Hälfte dieser Größe. Elastizität 175 seits eignen sich besonders Stäbe am besten zn physikalischen Messungen, weil sie bei mäßigen Kräften verhältnismäßig größere Deformationen liefern als Körper von ge- drängter Gestalt. Wählt man insbesondere einfache Anordnungen, wie Zug, Druck, Verdrehung oder Biegung zylindrischer Stäbe, so ist man in der Lage, auf Grund der er- wähnten angenäherten Lösungen der Elasti- zitätsgleichungeii die Verhältnisse vollkom- men zu übersehen und die Gültigkeit der Grundgesetze zu prüfen, sowie die Werte der Elastizitätskonstanten zu bestimmen. Von besonderer Wichtigkeit ist die ela- stische Deformation von Stäben und Platten außerdem für die Akustik (vgl. den Artikel „Klang"). Der einfachste Fall eines Stabes ist ein gerader Zylinder von konstantem Querschnitt, Die Achse des Zylinders die durch den Schwer- punkt des Querschnittes gehen soll, heißt die Zentrallinie. Eine Erweiterung des Begriffes ist der Stab mit „veränderlichem Querschnitt". Ein „gekrümmter Stab" hat eine krumme Linie als Zentrallinie; als Querschnitte gelten die Schnitte senkrecht zu dieser Linie. Bei einer Platte oder einem Rohr spricht man von Zentral- f lache. Die dazu senkrechte Abmessung heißt die Plattendicke. Es sei schließlich bemerkt, daß ein Stab mit sehr geringer Biegungssteifigkeit ein Faden, eine Platte mit geringer Biegungs- steifigkeit Membran genannt wird. i. Zug und Druck gerader Stäbe (Fä- den). Wird ein zylindrischer Stab, dessen Achse in die x-Richtung fallen soll und dessen Querschnitt F beträgt, durch die axiale Kraft P gezogen oder gedrückt, so entsteht eine Zug- oder Druckspannung von der Größe Dabei ist angenommen, daß die Spannung sich auf den' Querschnitt gleichmäßig ver- teilt; in einiger Entfernung von den Ein- spannstellen Ist dies tatsächlich der Fall. Die spezifische Dehnung beträgt ex = ^r E und demnach die Längenänderung AI einer Strecke von der Länge 1 PI somit die Verminderung des Querschnittes angenähert A\ = FE Die Längenänderung ist also proportional der Zugkraft und der Länge, umgekehrt propor- tional dem Querschnitt und dem Elastizitäts- modul. Wie schon öfters erwähnt der Zug im allgemeinen von minderung des Querschnittes, von einer Vergrößerung desselben be- gleitet, Die spezifische Längenänderung in der Querrichtung beträgt vV £y — sz — vex— FE, wurde, ist einer Ver- der Druck AF_ F = £y+ £z= 2v FE" Sowohl die Messung der Dehnung als der Querkontraktion können zur Bestim- mung der Elastizitätskonstanten herange- zogen werden. Die Methoden zur Messung der Dehnung sind bis zu einer großen Ge- nauigkeit getrieben worden. Längenände- rungen bis etwa 0,02 mm kann man mit Hilfe eines Kathetometers durch direkte Ablesung messen; durch mechanische oder optische Uebersetzung (Spiegelmethode) kann man die Genauigkeit bis zu Ablesungen von etwa 0,0005 mm steigern. Für die genauesten Messungen empfiehlt sich die Interferenz- methode. Bei diesem Verfahren werden durch Reflexion an zwei Glasplatten, die mit zwei verschiedenen Querschnitten des Stabes verbunden sind, Interferenzstreifen erzeugt. Aus der Verschiebung der Inter- ferenzstreifen kann auf die gegenseitige Annäherung oder Entfernung der Quer- schnitte schließen. Mit dieser Methode hat man Längenänderungen bis zu 30 ///< nach- gewiesen. Die Messung der Querdehnung verlangt große Genauigkeit, da die Verschiebungen sehr klein sind. Die Interferenzmethode ist auch hier mit Erfolg angewendet worden, dagegen sind die direkten Messungen mit Fühlhebel und Spiegelablesung wenig genau. Bei praktischen Messungen bestimmt man die Poissonsche Verhältniszahl v nicht direkt durch Beobachtung der Querdehnung, sondern man berechnet sie aus Elastizitäts- und Gleitmodul, wobei der letztere zu- meist durch Torsionsversuche bestimmt wird (s. unten 3). 2. Biegung gerader Stäbe. Bei gleich- förmiger Biegung eines geraden Stabes kann man den Grundgleichungen der Elasti- zität streng genügen, wenn man annimmt, daß von allen Spannungskomponenten nur die Zug- oder Druckspannung in der Achsen- richtung von Null verschieden ist. Für diesen Fall ergibt sich eine Deformation des Stabes, bei der jeder ebene Querschnitt eben bleibt. Wir beschränken uns auf die Biegung in einer Ebene. Die Stabachse falle mit der x- Achse zusammen, und der Stab sei in der x-z-Ebene gebogen (s. Fig. 10). Wir nehmen außerdem an, daß der Querschnitt in bezug auf die z-Achse symmetrisch sei. Da alle "Spannungskomponenten bis auf eine verschwinden, steht diese mit der zuge- hörigen Dehnung in derselben Beziehung wie bei einem einfachem Zug- oder Druckversuch: Xx = EeK. Dehnung in einfacher Andererseits wird die 176 Elastizität Weise durch den Krümmungsradius aus- gedrückt, den die Zentrallinie des gebogenen Stabes annimmt. Die äußeren Fasern werden offenbar gezogen, die dem Krüm- mungsmittelpunkte zugewendeten gedrückt. Es gibt also eine Schicht, die keine Dehnung erfährt; sie heißt die „neutrale Schicht". Wird der Krümmungsradius einer Faser in der neutralen Schicht mit R bezeichnet und Fig. 10. die Verlängerung einer beliebigen Faser von der Länge 1 in der Entfernung z von der neutralen Schicht mit A 1, so besteht die Relation P'Q' _ 1+zJl R+z PQ I R Die spezifische Dehnung wird daher _A\_ z Man erhält daraus für die Spannung den Ausdruck Xx=R- Wenn wir den Stab durch den Schnitt ABCD in zwei Teile zerlegt denken, so müssen offen- bar beide Teile im Gleichgewicht sein, d. h. die Spannungen Xx müssen den äußeren Kräften, die z. B. links vom Querschnitt angreifen, das Gleichgewicht halten. Bei gleichförmiger Biegung durch zwei entgegen- gesetzte Momente haben wir keine resul- tierende Kraft, nur das Moment Mi,. Man hat daher Gleichgewicht, falls die Resul- tierende der Spannungen verschwindet und ihr resultierendes Moment gleich Mi, wird: / /Xxdydz.z = Mb. Setzt man den Wert i; E ein, so liefert die erste Gleichung offenbar die Bedingung, daß die neutrale Schicht durch den Schwerpunkt geht. Die Zentrallinie bleibt also ungedehnt. Die zweite Gleichung liefert eine Beziehung zwischen dem Biegungs- moment und der Krümmung 1/R Mb =^E.r/Wydz. Das Integral /j'z2dydz gibt die Summe aller Flächenelemente, multipliziert mit dem Qua- drat der Entfernung von der y-Achse. Diese Achse heißt die „neutrale Achse" oder „Schwerpunktsachse". Die erwähnte Summe wird als Trägheitsmoment J des Querschnitr tes in beziig auf diese Achse bezeichnet. Man hat daher als Grundgleichung der Biegung Mh = JE R' ffxxdydz = (> d. h. die Krümmung ist proportional dem Biegungsmoment und umgekehrt proportional dem Trägheitsmoment des Querschnittes und dem Elastizitätsmodul. Das Produkt JE wird auch „Biegungssteifigkeit" genannt. Die soeben abgeleitete einfache Beziehung gilt in allen Fällen, in denen das Biegungsmoment um eine sogenannte Hauptträgheitsachse des Querschnittes wirkt. Zieht man beliebige Gerade durch den Schwerpunkt und vergleicht die zu- gehörigen Trägheitsmomente, so gibt es zwei aufeinander senkrechte Richtungen, die das größte und kleinste Trägheitsmoment liefern. Diese Geraden heißen die Hauptträgheitsachsen. Solange das Biegungsmoment um eine Haupt- trägheitsachse wirkt, wird der Stab in der dazu senkrechten Ebene gebogen und die obige Be- ziehung ist stichhaltig. Wirkt aber das Bie- gungsmoment um eine andere Achse, so ist die Ebene der gekrümmten Zentrallinie im allge- meinen verschieden von der Ebene des Biegungs- moments. Die obige, zunächst nur für die gleich- förmige Biegung durch zwei Biegungsmomente gewonnene Gleichung wird in der Biegungs- theorie auch für veränderliche Biegungs- momente angewendet, wobei also das Biegungsmoment als eine Funktion von x auf- gefaßt werden muß. Setzt man die Durch- biegung allgemein = f(x), so wird die Krüm- 1 d2f mung angenähert ~ = — _p^, und man er- hält als Gleichung der „elastischen Linie" rl2f Elastizität 177 Diese Gleichung liefert die Grundlage zu der Theorie der sogenannten „Träger", die in der Technik eine große Rolle spielen. In der Praxis wird die Biegung zumeist Stab wird an einem Ende fest eingeklemmt, am anderen Ende mit einer ausbalanzierten drehbaren Scheibe verbunden. Ist die Ver- drehung der Scheibe gleich &, das Trägheits- durch Einzelkräfte oder durch stetig ver- moment derselben um die Drehachse gleich D, teilte Belastung ausgeübt. Die elastische so lautet die Bewegungsgleichung der Scheibe Linie wird außer der Art der Belastung ^ $*& beeinflußt durch die Anordnung und die Art der Unterstützung. Man sagt, der Stab D--K sei frei gestützt (vgl. Figur 11 oben), Das Drehmoment M wird in diesem Falle wem, nur die Durchbiegung gehindert wird, d.ad»r<* ausgeübt daß der Stab der Biegung aber die Richtung der elastischen Linie in f?™ elastischen Widerstand entgegensetzt; dem betreffenden0 Punkte nicht bestimmt dieser ist gleich und entgegengesetzt ge- ist, er sei dagegen eingeklemmt (vgl. Figur 11 ' ™htet dem Biegungsmoment welches dem unenl sobald Durchbiegung und Richtung £tab die gleiche Biegung er eilen wurde Fig. 11. der Tangente festgelegt sind. Für physi- kalische Messungen kommt hauptsächlich der Wert der größten Durchbiegung (Bie- gungspfeil) in Betracht. Man erhält für die einfachsten Anordnungen nachfolgende Werte : an einem Ende eingeklemmt, am anderen Ende durch die Kraft P belastet: 1 PI3 1-3 JE' an beiden Enden frei gelagert, in der Mitte belastet: f 1 PL3. 48 JE' an beiden Enden eingeklemmt , in der Mitte belastet: JL_ PI3 192 JE' Da die Verdrehung der Stabenden gleich ist der Verdrehung der Scheibe, so beträgt die Krümmung (1 die Länge des Stabes) 1 i — =— . Das Biegungsmoment ist daher R 1 M„= JE 9 M. Hieraus folgt die Gleichung D d2# , JE (ll- 1 &= 0 Die Lösung lautet: 9- A sin ;JE Dl Die Schwingungsdauer beträgt daher T = 2ji] /JE DL f durch Messung dieser Zeitdauer kann der Ela- stizitätsmodul (bestimmt werden. Vorteile der Methode sind zunächst eine theoretisch einwandfreie Anordnung, da die Biegung streng durch Momente ausgeübt wird, ferner großeGen auigkeit, da man durch Vergrößerung des Trägheitsmoments der Scheibe die Schwingungszeit beliebig vergrößern kann. Man kann durch den Biegungsversuch die Poissonsche Verhältniszahl auch er- mitteln, sobald man die Verzerrung des Querschnittes berücksichtigt. Bei der Bie- gung kontrahieren sich die gezogenen Fasern -o- , • i •,, i, „ ! in der Querrichtung, die gedrückten dehnen Biegungsversuche eignen sich unmittelbar ., ^ ^ ,°j . i°fi An„ n„«TO«i.«u+ zur Bestimmung des Elastizitätsmoduls. Man mißt z. B. den Biegungspfeil und die zuge- hörige Kraft. Die Messung der Deformation sich aus. Daraus folgt, daß der Querschnitt nicht unverändert bleiben kann; er erleidet eine Verbiegung in der eigenen Ebene und zwar beträgt die entstehende Krümmung (vgl. geschieht zumeist mittels Spiegelablesung ; da ; f { mm ih leicht überzeugen kvaifn bei ähnlichen Querschnittsabmessungen und ; ö <" . mäßigen Kräften beim Biegungsversuch r falls - die Krümmung der Stabachse be- größere Verschiebungen vorkommen, als beim Zugversuch, so bietet der Biegungsversuch ein bequemeres Mittel zur Bestimmung des Elastizitätsmoduls. Eine sehr bequeme und genaue R R deutet. Bei einem viereckigen Stab geht also die Oberfläche in eine Sattelfläche über 1 v tit fl i I mit den Hauptkrümmungen ~ und -„. Bei hat W. Voigt angewendet, indem er die : einem durchsichtigen Material (z. B. bei Bie- Belastung durch eine schwingende Scheibe j gung von ebenen Glasplatten) kann man nun Der ' diese Formänderung der Fläche beobachten 12 mit großem Trägheitsmoment ersetzte Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 178 Elastizität mit Hilfe der Interferenzlinien, indem man das an der deformierten und an einer ebenen Fläche reflektierte Lieht interferieren läßt. Die Interferenzstreifen bilden eine Hyperbel- schar, deren Asymptoten einen Winkel ß mit- einander einschließen, welcher mit dem Ver- hältnis der beiden Hauptkrümmungen, d. h. mit der Verhältniszahl v in der Beziehung tgß=v steht. 3. Torsion gerader Stäbe. Während bei der Biegung nur die zum Querschnitt senkrechte Spannungskomponente von Null verschieden ist, kommt es bei der gleich- mäßigen Verdrehung gerader Stäbe auf die Schubspannungen im Querschnitt an. Eine einfache Lösung für die Spannungsverteilung kann man jedoch nur bei solchen Quer- schnitten angeben, die durch einen Kreis oder durch mehrere konzentrische Kreise begrenzt sind (Kreisstab, kreisförmiges Kohr). In diesem Falle steht die Schubspannung in jedem Punkte senkrecht zum Radius. Man erhält offenbar keine resultierende Kraft, sondern nur ein Drehmoment um die Stab- achse von der Größe (R Halbmesser des Querschnittes, r die Schubspannung) R Mt = r27tr2rdr. Man erhält also für die Schubspannung den Ausdruck r=GT und für das Drehmoment R Mt-^/^yrrMr o Das Integral heißt das polare Trägheitsmoment Jp des Querschnittes: es ist gleich der Summe aller Flächenelemente multipliziert mit dem Quadrat der Entfernung von der Stabachse. Das Drehmoment Mt muß Gleichgewicht halten mit dem Drehmoment der äußeren Kräfte, d. h. die durch das Torsionsmoment Mt erzeugte Verdrehung des Stabes der Länge 1 beträgt Mtl von %■ J11G ■/' Andererseits muß die Schubspannung pro- portional der Winkeländerung sein, die ein Volumelement erfährt. Man setzt daher Die Verdrehung ist proportional dem Dreh- moment, der Meßlänge und umgekehrt pro- portional dem Gleitmodul und dem polaren Trägheitsmoment des Querschnittes. Für einen beliebigen Querschnitt gilt diese Relation nicht mehr, wie dies zuerst von St. Venant nachgewiesen wurde; aller- dings besteht der Unterschied nur darin, daß das polare Trägheitsmoment durch eine andere Größe ersetzt wird, die ebenfalls nur von der Querschnittsform und den Quer- schnittsabmessungen abhängt. Das Pro- dukt dieser Querschnittsgröße und des Gleitmoduls nennt man Torsionssteifigkeit (C). Dann gilt allgemein für die Verdrehung Mtl 9- C Fig. 12. r = Gy Die Winkeländerung y ist die Schiebung eines Volumelementes durch die Verdrehung zweier benachbarter Querschnitte (s. Fig. 12). Jede Erzeugende der Zylinderfläche geht in eine Schraubenlinie über. Denken wir uns eine solche Schraubenlinie in der Entfernung r von der Stabachse, und wird die Verdrehung zweier Querschnitte, die in der Entfernung 1 vonein- liegen, mit & bezeichnet, so ist die Winkeländerung Y = 1 Im Falle eines belie- bigen Querschnittes kann man die Spannungsvertei- lung nach Prandtl in folgender Weise veranschau- lichen : Man denke sich eine biegsame Membran über den betreffenden Quer- schnitt ausgespannt und durch konstanten Flüssigkeitsdruck durchge- bogen. Die Gestalt der Membran liefert die sogenannte „Spannungsfläche" für die Torsion des Querschnittes. Diese Fläche hat die Eigen- schaft, daß ihre Linien gleicher Höhe in jedem Punkte die Richtung, ihr Gefälle senkrecht zu diesen Niveaulinien den Betrag der Schub- spannung in dem betreffenden Punkte angeben. Sind die Ordinalen der Spannungsfläche so bestimmt, daß das Gefälle numerisch gleich der Schubspannung ist, so wird der Flächen- inhalt zwischen dem ebenen Querschnitt und der Spannungsfläche numerisch gleich dem Torsions- moment. Mathematisch läuft es auf die Lösung Elastizität 179 folgenden Problems ans: die Ordinate der Spannungsfläche Z genügt der Gleichung: Ö2Z , ö2Z . W + W = k0nSt Man muß jene Lösung dieser partiellen Differential- gleichung bestimmen, für die am Rande des be- treffenden Querschnittes Z = 0 ist. Die Analogie des Torsionsproblems mit der Durchbiegung einer ebenen Membran kann man dazu benutzen, um die Spannungs Verteilung bei komplizierten Querschnitten experimentell fest- zustellen, indem man etwa über einen Rahmen von der Form des betreffenden Querschnittes eine Seifenhaut aufspannt und diese durch gleich- mäßigen Luftdruck aufbläst. Durch Messung der Durchbiegung kann man die Spannungs- fläche und daraus die Spannungsverteilung be- stimmen. Die Deformation bei einem beliebigen Querschnitt ist insofern verschieden von der Deformation des kreisförmigen Stabes, daß im allgemeinen die ebenen Querschnitte nicht eben bleiben, sondern eine Wölbung Bei viereckigem Querschnitt Quadrate vorhanden, die ab- annehmen. sind vier wechselnd nach entgegengesetzten Rich- tungen gewölbt werden (s. Fig. 13). Fig. 13. Der Torsionsversuch kann zur unmittel- baren Bestimmung des Gleitmoduls G die- nen. Nach der sogenannten statischen Methode mißt man die Verdrehung zweier Querschnitte in einer bestimmten Ent- fernung bei gegebenem Drehmoment. Ge- nauere Resultate erhält man durch Schwin- gung sbeobachtungen, indem man als Belastung wieder die Trägheitskraft einer Scheibe benutzt, die mit dem freien Ende eines in diesem Falle vertikal aufgehängten Stabes starr verbunden ist. Die Bewegungs- gleichung der Scheibe lautet (D Trägheits- moment um die Drehachse, M Drehmoment) Bezeichnen wir die jeweilige Verdrehung des unteren Stabendes mit &, so ist das Drehmoment, welches der deformierte Stab — den wTir kreisförmig annehmen — auf die Scheibe ausübt, Mt GJ £#= — M, so daß die Schwingungsgleichung lautet: Dc]^ GJp dtai" 1 Entsprechend der Lösung &= 0 a-=Asm)Ät erhält man folgenden Schwingungsdauer Ausdruck für die 2 71 i Es wird T beobachtet und daraus G be- rechnet. Bei Stäben mit anderen Quer- schnitten wird Jp durch eine entsprechende bekannte Querschnittsgröße ersetzt. Resultate über Ela- 4a) Elastizitäts- Wie es bereits dar- 4. Experimentelle stizitätskonstanten. und Gleitmodul, gestellt wurde, kann der Elastizitätsmodul unmittelbar durch Zug-, Druck- und Bie- gungsversuche, der Gleitmodul durch Tor- sionsversuche bestimmt werden. Man kann auch Biegung und Torsion gleichzeitig an- wenden, so daß man beide Konstanten an demselben Probestab gleichzeitig bestimmt (Kirchhoff). Sind die Deformationen klein, so superponiert sich Biegung und Drillung, ohne sich gegenseitig zu beein- flussen. Ueber die Größenverhältnisse der beiden Elastizitätskonstanten für einige wächtigeren Stoffe soll nachstehende Zahlentafel Aus- kunft geben, wrobei die Stoffe nach ab- nehmendem Elastizitätsmodul geordnet sind. 12* 180 Elastizität Stoff E kg/cm2 G kg/cm2 Stoff E kg/cm2 G kg/cm2 Iridium 5 250 000 ■ — ■ Quarzfäden 520 000 — 620 OOO 146 000 — 290 OOO Korund 5 200 000 — Zinn 410 000 — 540 OOO 153 000 — -173 OOO Topas 2 900 000 — Marmor 260 OOO — . Beryll 2 300 000 — Granit 245 OOO . Flußeisen, Blei 150 000 — 180 OOO 550 000 — -814 OOO Stahl 2 Ü50 OOO — -2 200 OOO 740 000 — -820 OOO Akazienholz 127 OOO Platin 1 550 000 — -1 720 OOO 658 000 — 663 OOO Sandstein 63 OOO Gußeisen 1 170 000 — -1 280 OOO — ■ Pappel 52 OOO — . Kupfer 1 050 000 — -i 250 OOO 400 000 — -480 OOO Eis 24 000 — 67 OOO — Zink 873 000 — -i 050 OOO 380 000 — -390 OOO Paraffin 17 OOO 5700 Gold 760 000 — 980 OOO 250 000 — 285 OOO Wachs 5 000 Silber 700 000 — 780 OOO 247 000 — -296 OOO Kautschuk . 8—12 . . Gläser 470 000 — 820 OOO 184 000 — 329 OOO Bemerkungen: Die Elastizitätsmoduln der Kristalle, die in der Tabelle vorkommen, beziehen sich auf den isotropen (sogenannten dichten) Zustand. Bei Metallen hängt der Modul sehr stark von der vorangegangenen Be- arbeitung der Probestäbe ab (gezogen, gehämmert, gegossen, gewalzt usw.); es sind deshalb Grenz- werte angegeben. Für die Gesteine (Marmor, Granit) sind die technischen Messungen berück- sichtigt worden; neuerer Zeit sind in Japan an Gesteinen sehr viele Elastizitätsmessungen zu seis- mischen Zwecken gemacht worden, die jedoch eine Schwankung der Werte innerhalb sehr weiter Grenzen zeigen. Bezüglich der Hölzer bilden AkazienholzundPappel Grenzf alle ;die angegebenen Zahlen sind Elastizitätsmoduln für Zug in der Faserrichtung; die Moduln in tangentialer und radialer Richtung sind viel kleiner. Bei Kaut- schuk gilt der angegebene Wert für kleinere Dehnungen; wird er sehr stark gedehnt (etwa bis auf das 3 bis 4fache der ursprünglichen Länge), so wächst der Modul bis zu einem Betrage von 30000 kg/cm2. 4b) Poissonsche Verhältniszahl. Die Poissonsche Verhältniszahl (Verhältnis der Quer- und der Längsdehnung) kann ent- weder unmittelbar durch Zug- und Druck- versuch, ferner durch Beobachtung der Querbiegung beim Biegungsversuch gemes- E sen oder aber aus dem Verhältnis -^ mittels G der Formel Mittlere Werte für die Poissonsche Zahl. Stoff 6 Stoff 6 Kork 0,00 Eisen, Stahl 0,29 Opal 0,06 Kupfer °,34 Platin 0,21 Bronze °,3o Elektrolyt. Blei 0,42 Kupfer 0,25 Kautschuk °,49 Gläser 0,26 Paraffin 0,50 1+v _E_ 2G berechnet werden. Die direkt gemessenen Werte stehen mit den berechneten zwar nicht immer in bester Uebereinstimmung, doch liegen die Abweichungen innerhalb der Grenzen der Unsicherheit der Beobachtungen, die infolge Ungleichheit des Materials oft ganz erheblich sind. 4c) Abweichungen vom Hookeschen Gesetz. Die Bestimmung der Elastizitäts- konstanten wird durch die Tatsache er- schwert, daß eine elastische Formänderung stets von einer, wenn auch oft sehr geringen bleibenden Aenderung begleitet wird. Wenn man aber auch diesen Dehnungsrest durch mehrmalige Wiederholung des Versuches eliminiert, so zeigen die genaueren Unter- suchungen, daß auch die rein elastischen Formänderungen dem Hookeschen Gesetze (Proportionalität zwischen Spannung und Dehnung) mir angenähert gehorchen. Be- ; trächtlich sind die Abweichungen z. B. bei Gußeisen, wie dies bereits vor Jahrzehnten festgestellt wurde, ferner bei vielen Ge- steinen und bei den technisch wichtigen hydraulischen Bindemitteln (Zement, Beton). Im allgemeinen nimmt die Dehnung stärker zu als die Spannung; bei einigen Gesteinen, z. B. bei Marmor, hat man jedoch zunächst eine stärkere Zunahme der Spannung, wäh- rend bei größerer Belastung wieder die Dehnung stärker zunimmt. Bei Kautschuk ist es gerade umgekehrt. Betrachtet man das Hookesche Gesetz nur als erste Annäherung, so wird man die Beziehung zwischen Spannung und Dehnung allgemein durch eine funktionelle Beziehung o = f(e) angeben. Der Differentialquotient -j— kann dann als ein von der Größe der je- weiligen Dehnung bezw. Spannung abhän- giger Elastizitätsmodul betrachtet werden. Die diesbezüglichen Untersuchungen be- ziehen sich zumeist auf die Aenderung des Elsatizitätsmoduls; über die Aenderung des Gleitmoduls sind nur wenig Beobachtungen vorhanden. Um die größeren Abweichungen bei Gußeisen und bei Gesteinen für die prak- tischen Rechnungen zu berücksichtigen, hat C. Bach als allgemeine Interpolations- Elastizität 181 formel für elastische Formänderungen die Gleichung (e Dehnung, o Spannung) vorgeschlagen ; für m = 1 ergibt sich als Spezialfall das Hookesche Gesetz. Diese Interpolationsformel hat aber den Nachteil, daß sie für kleine Dehnungen die Spannungs- Dehnungsbeziehung nicht richtig darstellen kann, da für e = o = 0 der Differentialquo- tient - - gleich Null oder unendlich wird, je de - nachdem der Exponent m > 1 ist. Dies würde also eine ganz rasche oder ganz lang- same Zunahme der Dehnungen bei kleinen Kräften bedeuten, während gerade für sehr kleine Kräfte das Hookesche Ge- setz bestehen soll, wie dies F. Kohl- rausch und E. Grüneisen durch sehr genaue Messungen nachgewiesen haben. Man wird also Formeln bevorzugen, die für sehr kleine Werte von e und o in die einfache lineare Formel übergehen.1) 4d) Beziehungen zur Molekular- theorie. Es ist schon ziemlich früh ver- sucht worden, die Elastizitätskonstanten mit den für den molekularen Aufbau der Körper charakteristischen Größen in _ Be- ziehung zu setzen; es ist jedoch in dieser Hinsicht eigentlich recht wenig erreicht worden. Die Elastizitätstheorie, wie sie im Kapitel I geschildert wurde, behandelt den festen Körper als Kontinuum. Nun kann man dieselben Gleichungen auch auf Grund der Annahme ableiten, daß der Körper aus Molekülen (oder Atomen) aufgebaut ist, zwischen denen irgendwelche Kräfte wirken, die die Teilchen in stabiler Anordnung hal- ten. Allerdings wissen wir über diese Kräfte zunächst recht wenig. Würde man annehmen, daß die Kräfte nur von der Entfernung ab- hängen, so müßten die Elastizitätskonstanten irgendwie durch die Abstände der Moleküle bestimmt sein. Wertheim fand, daß für alle Metalle der Elastizitätsmodul umgekehrt proportional ist der 7. Potenz des mittleren Atomabstandes, den man aus Atomgewicht und Dichte ermitteln kann. Voigt fand eine bessere Uebereinstimmung mit der 6. Potenz (so daß Elastizitätskonstanten multipliziert mit dem Quadrate des Atom- volums eine universelle Konstante ergeben würden). Die Uebereinstimmung ist nicht besonders gut, doch auch dieses mangel- hafte Resultat zeigt wenigstens so viel, daß zwischen den Atomen Kräfte wirken müssen, die von den Massen derselben wenig abhängig sind, da diese bei den ver- glichenen Metallen zwischen außerordentlich weiten Grenzen schwanken. Nimmt man an, daß zwischen den Mole- külen nur Zentralkräfte wirken, so kann man nachweisen, daß ein isotroper Körper ! nur eine unabhängige Elastizitätskonstante besitzen kann. Würde die Annahme zu- treffen, so müßte zwischen den beiden Kon- stanten E und G eine universelle Beziehung ; bestehen, entsprechend einem Werte der Poissonschen Konstante v=1/i für alle isotropen Substanzen. Diese Beziehung trifft aber nicht zu, vielmehr variiert v zwischen 0 und -rr. Der Widerspruch wurde von W. !) Eine vollständige Zusammenstellung der Dehnungs-Spannungsformeln findet man bei Mehmke, Z. f. Math. u. Physik 1897. T Voigt durch die Bemerkung beseitigt, daß die meisten isotropen Körper (Metalle, Ge- steine usw.) eigentlich aus kristallinischen ! Bausteinen bestehen, die an und für sich anisotrop sind, aber nach allen Richtungen gleichmäßig verteilt sind, so daß sie ein iso- tropes Konglomerat bilden. Voigt hat für ein solches Gebilde die mittleren Elasti- zitätskonstanten berechnet und gezeigt, daß für ein solches Konglomerat die erwähnte i universelle Beziehung nicht mein bestehen ; muß. 4e) Temperaturabhängigkeit der Elastizitätskonstanten. Ueber die Tem- peraturabhängigkeit der Elastizitätskonstan- ten sind zahlreiche Messungen angestellt worden. Man findet bei den meisten Sub- stanzen eine Abnahme mit wachsender Tem- peratur sowohl für den Elastizitätsmodul als für den Gleitmodul. Im allgemeinen nimmt aber der Elastizitätsmodul wesentlich stär- ker ab, so daß die Poissonsche Verhältnis- zahl, die mit den beiden durch die Relation ■p G = ^ c verbunden ist, zunimmt. Es 2(1+ v) ist sehr wahrscheinlich, daß v in der Nähe des Schmelzpunktes, oder, falls die Sub- stanzen in einen weichen Zustand über- gehen, nahezu ~ wird (z.B. bei Kautschuk) ; alsdann ist der Kompressibilitätsmodul ■p K = 7^~-7r- ungleichmäßig größer als so- o(l — lo) wohl der Dehnungs- wie der Gleitmodul. Die Substanzen setzen in diesem Zustande der Volumänderung einen viel größeren Widerstand entgegen, als der Gestalts- änderung, wie dies in der Nähe des Ueber- ganges in den flüssigen Zustand auch zu erwarten ist. Was die Größe des Temperaturkoeffi- zienten, d. h. der prozentuellen Abnahme für 1° Temperaturerhöhung anbelangt, so fand Cl. Schäfer (1901), daß dieser ledig- lich von dem Abstände vom Schmelzpunkt abhängt. So ist bei Zimmertemperatur der 182 Elastizität Temperaturkoeffizient bei Metallen im all- gemeinen desto größer, je höher der Schmelz- punkt des betreffenden Metalls liegt. Aller- dings kommen die verschiedensten Aus- nahmen von dieser allgemeinen Regel vor. Interessant ist das Verhalten von einigen Legierungen: Bei Nickelstahl nimmt der Elastizitätsmodul mit der Temperatur ab, wenn der Nickelgehalt kleiner als 17 % oder größer als 44 % ist. Zwischen diesen Grenzen nimmt der Elastizitätsmodul mit der Temperatur zu, so daß es zwei Zusammen- setzungen gibt, bei denen der Elastizitäts- modul von der Temperatur praktisch unab- hängig ist (beachtenswert ist ein analoges Verhalten bezüglich der magnetischen Eigen- schaften). Ebenso gibt es bei antimonhaltigen Gläsern eine bestimmte Zusammensetzung, deren Temperaturkoeffizient gleich Null ist. Für niedrige Temperaturen hat man die Aenderung der Elastizitätskonstanten bis zum Siedepunkt der flüssigen Luft verfolgt. In diesem Intervall findet man eine ungefähr lineare Zunahme mit sinkender Temperatur. Bei —185° hat z. B. Stahl einen um etwa 8,7 %, Kupfer um 18 % größeren Elasti- zitätsmodul als bei Zimmertemperatur. Es sei noch bemerkt, daß die Temperatur- abhängigkeit der Elastizitätskonstanten auf Grund thermodynamischer Ueberlegungen berechnet werden kann aus der thermischen Ausdehnung und der Abkühlung bei adia- batischer Deformation. Dies liefert eine Methode zur Bestimmung des Temperatur- koeffizienten des Elastizitätsmoduls. 5. Elastische Stabilität. Solange die Deformationen eines Stabes klein sind gegen die Abmessungen desselben, gibt es stets nur eine Gestalt, die bei bestimmten äußeren Kräften eine Gleichgewichtslage darstellt. Bei sogenannten „endlichen Deformationen", d. h. bei Formänderungen, die vergleichbar sind, wenn auch nicht mit der Länge, aber wenigstens mit den Querschnittsabmes- sungen des Stabes, kann es vorkommen, daß ein in ganz bestimmter Weise be- lasteter Stab mehrere verschiedene Gleich- gewichtslagen annehmen kann. Man denke sich z. B. einen vertikal gestellten, am unteren Ende eingeklemmten Stab, der am oberen Ende ein Gewicht G trägt (Fig. 14). Unter Umständen ist es möglich, eine gebogene Gestalt zu finden, die der Gleichgewichts- bedingung — Drehmoment proportional der Krümmung — ebenfalls genügt, so wie dies bei dem aufrechten geraden Stabe (Bie- gungsmoment = 0, Krümmung = 0) offen- bar der Fall ist. Welche dieser beiden Kon- figurationen stabil ist, hängt davon ab, in welcher Lage die potentielle Energie des Ge- samtsystems, Stab + Gewicht, kleiner ist. Kann man eine gebogene Lage in der Weise finden, daß die Zunahme der Energie in- folge der Biegung weniger beträgt als die Abnahme durch das Sinken des Gewichtes, so ist diese gekrümmte Lage stabil, die aufrechte labil. Die Rechnung zeigt, daß die aufrechte Lage so lange die einzig Fig. 14. mögliche und somit zweifellos stabile Gleich- gewichtslage bildet, bis das Gewicht G den sogenannten kritischen Wert (J Trägheits- moment des Querschnittes, 1 Länge des Stabes) JE Gi n' 1- nicht erreicht. Bei größerer Belastung I gibt es eine gekrümmte Gestalt (eigent- lich wenigstens zwei , eine nach rechts und eine nach links), die stabil ist; die aufrechte Lage ist alsdann labil. Der Stab wird durch das Gewicht „geknickt". Dieses Resultat hat bereits Euler gewonnen, der das Problem mit Rücksicht auf die Festigkeit von Säulen behandelte (vgl. den Artikel „Festigkeit"). Aehnliche Fälle kommen bei anderen An- ordnungen ebenfalls oft vor. So kann z. B. das Gleichgewicht einer hochkantgestellten schmalen Schiene labil werden, wenn sie durch ein Gewicht in ihrer Ebene gebogen wird. Bleibt die Schiene in der Ebene, wie es zunächst aus Symmetrierücksichten plau- sibel erscheint, so erleidet sie eine reine Biegung; dabei ist aber die Durchbiegung gering, wegen der großen Biegungssteif ig- keit des hochkantgestellten Querschnittes. Eine größere Durchbiegung kann nur er- reicht werden, falls die Schiene sich verdreht, wozu natürlich Arbeit geleistet werden muß. Es kann aber vorkommen, daß die zu ; der Torsion notwendige Arbeitsmenge weniger ! beträgt, als der Gewinn an Arbeitsfähigkeit durch die größere Durchbiegung bezw. größere Senkung des Gewichtes. Alsdann ist die verdrehte Gestalt die stabile. Aehnliche ! Fälle treten auch bei Torsion von sehr langen und sehr dünnen Stäben auf. Elastizität 183 6. Elastizität ursprünglich krummer Stäbe. Federn. Die elastische Deformation ursprünglich krummer Stäbe hat gewisse Bedeutung mit Rücksicht auf die Federn, die bei vielen Konstruktionen, Meßinstru- menten usw. eine wichtige Rolle spielen. Es handelt sich zumeist um die Beziehung zwischen Kraftwirkung und Deformation. Dies war eben das spezielle Problem, an dem das Hookesche Gesetz zuerst erkannt wurde. Gerade „Biegungsfedern", sowie gerade „Torsionsfedern" (Fäden) werden nach den Formeln gerechnet, die wir für gerade Stäbe abgeleitet haben. In diesem Abschnitt wollen wir nun jene Federn betrachten, die in unbelastetem Zustande eine gekrümmte Zentrallinie besitzen. Wird ein bereits in einer Ebene ge- krümmter Stab in seiner Ebene weiter ge- bogen, so nimmt man an, daß zwischen der Aenderung der Krümmung und dem Bie- gungsmoment dieselbe Beziehung besteht wie zwischen Krümmung und Biegungs- moment bei einem geraden Stab von dem- selben Querschnitt. Wird z. B. ein Kreis- bogen vom Radius q1 in einen Kreisbogen vom Radius q2 gebogen, so ist Q* Qi JE' Auf Grund dieser Formel kann man z. B. die Deformation von Spiralfedern (Uhr- federn) berechnen. Gegenstand vieler Arbeiten bildete die Theorie der „Schraubenfedern". Die Wirkungsweise einer Schraubenfeder be- steht lediglich in der Verdrehung (Tor- sion) der Stabelemente. Wird z. B. eine Schraubenfeder vom Halbmesser r durch die Kraft P, die in der Achse der Schrauben- linie wirken soll, zusammengedrückt, so übt diese Kraft auf jeden Querschnitt ein Tor- sionsmoment Pr aus. Schneiden wir die Feder durch einen beliebigen Querschnitt durch, so müssen die Torsionsspannungen im Querschnitt diesem Drehmoment das Gleichgewicht halten. Dementsprechend werden die Stabelemente verdreht und die Zusammendrückung der ganzen Schrauben- linie entsteht durch Summation dieser elemen- taren Verdrehungen. J. Thomson hat ge- zeigt, daß die Kraft P denselben Weg zu- rücklegt, als wenn sie am Ende eines geraden Stabes von demselben Querschnitt und der- selben Länge (d. h. von einer Länge gleich der Bogenlänge L der Schraubenlinie) mit dem Hebelarm r angebracht und somit ein Torsionsmoment P.r ausüben würde. Der Weg der Kraft ist aber offenbar gleich die Zusammendrückung; sie beträgt falls C die Torsionssteifigkeit des Feder- querschnittes bezeichnet. III. Elastizität von Platten und Schalen. i. Ebene Platten. Die strenge Theorie der elastischen Deformation von Platten bietet bedeutend größere mathematische Schwierigkeiten als die Theorie der Stäbe. Man kann aber eine einfache angenäherte Theorie für den Fall ableiten, daß einerseits die Plattendicke klein ist gegen die übrigen Abmessungen, andererseits aber die Durch- biegung klein ist gegen die Plattendicke. Eine Ausnahme von der Gültigkeit dieser Theorie bilden also die sehr dicken Platten, ferner die sehr leicht biegsamen mit ganz ge- ringer Dicke, die mehr den sogenannten Mem- branen ähnlich sind. Trifft aber unsere Vor- aussetzung zu, wie es bei nicht allzu dünnen Platten bei mäßigen Kräften tatsächlich der Fall ist, so kann man die Reckung der Platte in ihrer eigenen Ebene und die Durchbiegung senkrecht dazu vollständig trennen und für beide Arten der Deformation einfache Glei- chungen gewinnen. Für die Anwendungen kommt hauptsächlich die Durchbiegung von Platten durch Flüssigkeitsdruck oder senk- rechte Einzelkräfte in Betracht. Als charakteristische Größen für die Formänderung des Plattenelementes sind die „Hauptkrümmungen" zu betrachten. Denkt man sich Schnitte senkrecht zur Tangentialebene der durchgebogenen Fläche, so gehört zu jedem Schnitte ein Krümmungs- radius. Von all diesen Krümmungsradien gehören der größte und der kleinste (bezw. größter negativer und größter positiver Wert) zu zwei senkrechten Schnitten. Man bezeichnet diese als Hauptschnitte und die zugehörigen Krümmungsradien als Haupt- krümmungsradien. Ihre Größe und die Orientierung der zugehörigen Schnitte charak- terisieren vollkommen die Krümmungsver- hältnisse in dem betreffenden Punkte. Schneiden wir nun ein quadratisches Plattenelement von der Seitenlänge Eins und der Höhe h (Dicke der Platte) aus (vgl. Fig. 15), so liefern die Normalspannungen im gebogenen Zustande an jeder Stirnfläche Momente, die das Plattenelement gebogen halten. Sind die Richtungen x, y speziell parallel zu den Hauptschnitten gewählt, so werden die Momente der Spannungen proportional den Hauptkrümmungen Ri und -5- Es bestehen die Relationen R2 (Mi und M2 die Biegungsmomente) M,= Eh3_ 12 1- -V2 \Qt V Q2 184 Elastizität 12 1 — v2 \gt qJ wobei v die Poissonsche Verhältniszahl, E den Elastizitätsmodul des Materials be- /h3 zeichnet -jö" ist das Trägheitsmoment eines Querschnittes von der Höhe h und der Breite Eins). Stellt man nun die Gleich- gewichtsbedingungen für die Momente und die Kräfte auf, die auf das Plattenelement wirken, so gelangt man zu einer Differen- £ _§_ 3 + * _ PR4 Fig. 15. tialgleichung für die Durchbiegung, indem man noch die Krümmungen angenähert durch die zweiten Differentialquotienten der Durchbiegung ausdrückt. Die Differential- gleichung der elastischen Fläche lautet dann schließlich Eh3 I2(i-v2)\dx* ' öy fi^w ö% + 2 ö4w öx2öy2 l> (w Durchbiegung, p der belastende senkrechte Druck an der betreffenden Stelle x, y). Die Integration dieser Gleichung führt zu der Berechnung der Durchbiegung als Funktion des Ortes. Als Randbedingungen kommen verschiedene Fälle in Betracht: die Platte kann eingeklemmt sein (d. h. an dem Rand ist sowohl Durchbiegung als Tangential- ebene der Fläche bestimmt) oder frei auf- liegen (in diesem Falle ist nur die Durch- biegung gegeben, dafür muß aber der Rand spannungsfrei bleiben). Je nachdem erhält man verschiedene Formeln für die Durch- biegung. Für die maximale Durchbiegung (Biegungs- pfeil) erhält man bei einigen einfachen An- ordnungen folgende Ausdrücke (f Biegungs- pfeil): Kreisförmige Platte frei aufliegend und in der Mitte durch die Einzelkraft P belastet: f 3 3 +v PR2 4» 1 + v h3(l — ?'2)E' dieselbe eingeklemmt 3^ PR2 4» h3(l— *2)E' frei aufliegend und durch den gleichmäßigen Druck p belastet 16 1 + vhs(l — i'2)E' dieselbe eingeklemmt f - JL pR4 ~~ 16h3(l— ^2)E" Die elastische Deformation der Platten ist übrigens mehr von technischem als von physikalischem Standpunkte aus von Wich- tigkeit; für physikalische Messungen eignen sich Platten weniger als dünne Stäbe, da eine sichere, den theoretischen Bedingungen entsprechende Einspannung am Rande schwer zu bewerkstelligen ist. 2. Rohre und Schalen. Die allgemeine Theorie der Deformation ursprünglich krum- mer Flächen muß die Mittel der Flächen- theorie benutzen und so wollen wir uns auf einige besonders einfache Fälle be- schränken, in denen die Spannungsverteilung ohne besondere Rechnung durch Gleichge- wichtsbetrachtungen ermittelt werden kann. Ein dünnwandiger Hohlzylinder sei durch inneren oder äußeren Flüssigkeitsdruck belastet. Man kann die Spannung, die in der Wandung auftritt, dadurch ermitteln, daß man das Rohr von der Länge 1 und dem Halbmesser R längs zwei diametral entgegengesetzten Erzeugenden aufgeschnitten denkt. Alsdann wirkt auf jede Hälfte die Kraft 2plR (p der innere bezw. äußere Ueberdruck). Diese Kraft muß mit den Zug- bezw. Druckspannungen, die in dem Schnitte auftreten, im Gleichgewicht sein; falls die Wand- stärke ö klein ist gegen den Halbmesser, kann man die geringen Unterschiede in dem Quer- schnitt vernachlässigen, und man erhält für die mittlere Spannung, da die Fläche der beiden Schnitte 2lö beträgt, 2plR pR 2W ä * Bei den sogenannten Federrohrmanometern wird ein gekrümmtes Rohr mit elliptischem Querschnitt zur Druckmessung angewendet. Wird ein bestimmter Ueberdruck in das Innere des Rohres geleitet, so geht die flache Durch- schnittsform in eine weniger flache über, so daß der Krümmungsradius der Zentrallinie vergrößert wird. Das Rohr nähert sich der geraden Gestalt. Der Weg des Endpunktes wird zur Registrierung des Druckes benutzt. Es sei noch die Deformation einer dünnen Hohlkugel durch inneren Ueberdruck erwähnt. Schneidet man diese durch einen größten Kreis durch, so erfährt jede Hälfte die Kraft R2?rp. Da die Schnittfläche 2R7td beträgt, so ist die in der Wandung auftretende Zugspannung R 2 1/i ist, die Kompressibilität mit der Temperatur abnehmen, für Stoffe mit v < Y-i zunehmen. Diese Folgerung scheinen die Versuche im allgemeinen zu bestätigen. 2. Deformation einer Kugel. Elastizität der Erde. Von den geometrisch einfachen Körpern, für welche die Grundgleichungen der Elastizitätslehre für beliebige Belas- tungen vollständig gelöst werden können, verdient hauptsächlich die Kugel besondere Beachtung, da man durch diese Rechnungen in die Lage gesetzt wird, die elastische Nach- giebigkeit der Erde abzuschätzen. Es sind hauptsächlich zwei Fragen von Interesse: die Abplattung der Erde durch die Rotation und der Einfluß derGezeiten,d.h.der periodischen Wirkung von Mond und Sonne auf den Erdkörper. Die Rechnungen werden zumeist unter der Annahme durchgeführt, daß die Kompressibilität der Erde vernachlässigt werden kann. In diesem Falle kann man die Deformation der elastisch festen, in- kompressiblen Kugel mit jener einer flüssi- gen gravitierenden Masse unmittelbar ver- gleichen. Man gelangt zu dem Resultate, daß die Abplattung durch die tägliche Rotation bei einer flüssigen Kugel Y230 betragen würde, während bei einem elasti- schen Körper von derselben Abmessung V383 herauskäme, falls man den Elasti- zitätsmodul etwa dem des Glases gleichsetzt. Die tatsächliche Abplattung ist etwa 7297- Es ist dabei interessant, daß ein elastisch fester Körper von der Größe der Erde durch die Rotation eine Abplattung von derselben Größenordnung erleidet wie eine flüssige Masse. Allerdings kann man aus diesem Resultat keine bestimmte Abschätzung für den Elastizitätsmodul der Erde gewinnen, da man sich durch Rechnung überzeugen kann, daß eine Inhomogeneität der Dichte, die bei der Erde sicher vorhanden ist, die Deformation ganz erheblich beeinflußt. Etwas sicherer wird die Abschätzung durch die Berechnung der Deformationen, die den Gezeiten entsprechen. Die Berech- nung der Abplattung läßt zunächst auch die Möglichkeit zu, daß die Erde in ihrem Innern wesentlich aus flüssigen Substanzen besteht, deren Deformation die äußere Schale nur ganz wenig vermindert. Diese Möglich- keit wird nun durch die Tatsache ausge- schaltet, daß man überhaupt relative Ver- schiebungen des Meeres gegen das Festland beobachtet; wäre die Erde lediglich flüssig, so würde sie den periodischen Attraktions- wirkungen beinahe wie eine Flüssigkeit nach- geben. Man findet die Erhöhung der Meeresoberfläche um ein Drittel kleiner, als nach der Annahme einer flüssigen Kugel sich ergeben würde. Diese Verminderung ist offenbar eine Folge der geringeren Nach- giebigkeit der Erde. Die Berechnung zeigt, daß die Erde einen mittleren Elastizitäts- modul von der Größenordnung des Elastizi- tätsmoduls des Stahls besitzen muß, um diese Verminderung der Gezeitenwirkung hervorzurufen. Ganz ähnliche Folgerungen Elastizität 187 lassen die periodischen Lotabweichungen zu, die infolge der täglichen Aenderung der Mondanziehung auftreten; ferner die Verlängerung der Periode der Breiten- schwankungen (Präzession der Erdachse) auf 427 Tage statt der theoretisch berech- neten Periode von 306 Tagen. Diese Ver- längerung der Periode soll ebenfalls eine Folge der Deformation, namentlich einer Ver- änderung der Trägheitsmomente durch die Deformation sein. 3. Berührung fester Körper. Ein eigen- artiges Problem, welches für viele Anwen- dungen von Wichtigkeit ist und von Hertz in vollständiger Weise gelöst wurde, bietet die Berührung fester Körper. Werden z. B. zwei elastische Kugeln durch die Kraft P aneinander gedrückt (s. Fig. 16), so berühren Fig. 16. sie sich nicht in einem Punkte, wie es bei starren Kugeln der Fall wäre, sondern es ent- steht infolge der elastischen Deformation eine kleine kreisförmige Druckfläche. Ist der Halbmesser der Druckfläche klein gegen den Halbmesser der Kugeln, so kann die Verteilung der Spannungen und die ent- sprechende Deformation in der Nähe der Berührungsstelle vollständig diskutiert wer- den. Bezeichnen wir die Halbmesser der beiden Kugeln mit Rj und R2, so ergibt sich für den Durchmesser der Druckfläche (G Gleitmodul, v Poissonsche Verhältniszahl) Für den einfachsten Fall, daß eine Kugel in eine ebene Fläche von demselben Ma- terial eingedrückt wird, beträgt die Abplat- tung f= i/16 (IzzJf 1/?L G2 [/ R und der Durchmesser der Druckfläche d = V®v- ■v) |/PR. d= /' ^ i (1 — v) ^f1 R t R ., 3 G y Rx + R2 und für die Annäherung der beiden Kugel- mittelpunkte 3 G Die Hertz sehen Rechnungen wurden schon von ihm selbst zu dem Zwecke benutzt, ein absolutes Maß für die Härte fester Körper aufzustellen. Eine andere Anwendung besteht in der Berechnung der Stoßdauer beim Zu- sammenstoß von elastischen Körpern. Han- delt essich z. B. um den Stoß zweier Kugeln, so kennen wir auf Grund der Hertzschen Formel die Kraft als Funktion der An- näherung der beiden Kugelmittelpunkte. Man kann also den Kraftverlauf während der Annäherung und der Wiederentfernung der beiden Kugelmittelpunkte verfolgen, und da andererseits für die beiden Körper das Gesetz : Kraft = Masse x Beschleu- nigung: gelten muß, so kann man da- raus die Dauer des Stoßes berechnen. Es zeigt sich, daß diese mit der fünften Wurzel jener Geschwindigkeit umgekehrt propor- tional ist, mit der die beiden Kugeln sich einander nähern. Dieses Resultat ist auch experimentell bestätigt worden. V. Hysteresiserscheinungen. Falls ein belasteter elastischer Körper wieder entlastet wird, so findet man durch genauere Beobachtung, daß der Vorgang irreversibel ist, d. h. denselben Belastungen entsprechen während der Entlastung andere und zwar stets größere Deformationen als bei der Belastung der Fall war. In dieser Irreversibilität sind jedoch eigentlich zwei Erscheinungen vermischt: Es ist zunächst ein Verzögern der elastischen Deformation vorhanden, d. h. ein Teil des Deformations- restes verschwindet noch, falls wir nur dem Körper genügende Zeit gewähren. Dagegen bleibt ein oft nicht unbeträchtlicher Teil bestehen. Speziell diese zweite Art der Irreversibilität, die Verschiedenheit der Gleich- gewichtsdeformationen (Ruhelagen) bei Belastung und Entlastung, nennt man Hysteresis, während man die verzögerte Deformation der „elastischen Nachwirkung" zuschreibt. Natürlich sind die beiden Effekte praktisch sehr schwer zu trennen, da die nachwirkende Deformation langsam vor sich geht, und es ist eine Bewegung noch nach Stunden, Tagen, sogar Wochen zu merken. Trotzdem scheint es zweifellos zu sein, daß die Enddeformation, der der Körper während dieses langsam verlaufenden Prozesses zu- 188 Elastizität strebt, merklich verschieden ist von der- jenigen, die derselben Belastung bei Bean- spruchung in dem entgegengesetzten Sinne entspricht. Man kann die Verhältnisse am besten übersehen, falls man die Beziehung zwischen Spannung und Dehnung graphisch dar- stellt. Um die Ideen zu fixieren, wollen wir einen einfachen Zugversuch betrachten; bei Biegung und Torsion sind jedoch die Ver- hältnisse ganz ähnlich. Trägt man die Zugspannung als Ordinate, die Dehnung als Abszisse auf (s. Fig. 17), so Fig. 17. ist im allgemeinen bei der ersten Belastung eine Abweichung von dem Hookeschen Gesetze in dem Sinne vorhanden, daß die Dehnungen etwas rascher zunehmen als die Spannungen. Die entsprechende Kurve ist also von unten konkav. Man nennt diese, der ersten Deformation entsprechende Kurve die „jungfräuliche". Wird nun die Belastung z. B. im Punkte B unterbrochen und der Stab langsam entlastet, so erhält man eine entgegengesetzt gekrümmte Kurve, die ganz unterhalb der jungfräulichen Kurve liegt. Es ist nun eine sehr merkwürdige Erschei- nung, die aber den analogen Vorgängen der magnetischen Hysteresis genau ent- spricht, daß nach Umkehrung in einem be- liebigen Punkte C die neue Belastungskurve genau in den vorigen Umkehrpunkt B hereinläuft. Man erhält einen geschlossenen „Zykel" zwischen B und C; bei Wieder- holung der Belastung und Entlastung zwischen diesen Grenzen wird dann stets derselbe Zykel durchlaufen. Kehrt man aber in einem Zwischenpunkte D um, so läuft die Entlastungskurve wieder in den vorletzten Umkehrpunkt C ein. Man sieht, daß man in dieser Weise, solange die Belastung innerhalb der den Punkten B und C ent- sprechenden Grenzen bleibt, nie aus dem ersten Zykel herauskommt; innerhalb des Zykels kann man aber einen beliebigen Punkt erreichen. Bezüglich der Form der Kurven ist es auffallend, daß die Anfangstangente jeder Kurve parallel ist und ungefähr dieselbe Neigung besitzt, wie die jungfräuliche Kurve im Punkte 0. Man darf also annehmen, daß nach jeder Umkehr der Anfang der Deformation genau dem Hook eschen Ge- setze gehorcht. Man schließt daraus, daß durch die Deformation ein Teil der Mole- küle des festen Körpers die Verbindung zu ihrer ursprünglichen Gleichgewichts- lage verloren hat und in eine andere stabile Konfiguration übergegangen ist. Für die neue Konfiguration sind die Verhältnisse nun ganz analog wie in dem undeformierten Zustande: kleine Deforma- tionen sind völlig reversibel und Spannungs- änderungen proportional der Deformation. Unmittelbar nach der Umkehr (z. B. in B), sind also alle Deformationen umkehrbar: die Moleküle, deren Gleichgewichtslage nicht geändert worden ist, streben der alten Gleichgewichtslage zu, die anderen ihren neuen Gleichgewichtslagen. Wären diese mit- einander verträglich, so würde die Ent- lastungskurve von einer geraden Linie nicht merklich abweichen und nicht in den alten Umkehrpunkt C zurückkehren. Es ist aber sehr plausibel, daß dies nicht der Fall sein kann: die Moleküle, die ihre alte Gleich- gewichtslage noch nicht erreicht haben, zwingen sozusagen die anderen, ihre Gleich- gewichtslage wieder zu verlassen, bis Alles in die alte Konfiguration zurückgekehrt ist. er in, in/ -A A ff/1 Fig. 18. Es ist noch die eigenartige Bolle der jungfräulichen Kurve zu erklären, die ganz aus dem Zykel herausfällt. Dieser Punkt wird gewissermaßen durch die folgende Be- obachtung geklärt: setzt man die Belastung nach einmaliger Entlastung in dem entgegen- gesetzten Sinne fort (s. Fig. 18), so kann man einen Zykel herstellen, dessen Mittelpunkt der Nullpunkt bildet. Man kann nun in den Nullpunkt zurückgelangen, indem man den Körper eine Art Spirale durchlaufen läßt in der Weise, daß man stets kurz vor Schließen eines Zykels den Belastungssinn umkehrt. Wird nun der Körper von dem Nullpunkt aus wieder belastet, so erhält man die jung- fräuliche Kurve wie bei der ersten Belastung; sie geht dabei durch sämtliche Umkehr- Elastizität 189 punkte der Spirale durch. Durch die Belastung zwischen langsam zu Null abnehmenden Grenzen wird sozusagen der Einfluß der vorangegangenen Deformationen ausgeschal- tet, und der Körper befindet sich wieder in jungfräulichem Zustande. Man kann aber auch für einen beliebigen anderen Punkt der Ebene den Körper in diesen Zustand versetzen, d. h. von den vorange- gangenen Deformationen unabhängig machen, indem man dafür sorgt, daß man durch langsam abnehmende Zykeln in den Punkt gelangt, Wiederbelastet wird der Körper eine der jungfräulichen ganz ähnliche Kurve beschreiben, die man — da sie wieder durch alle Umkehrpunkte der Zykeln hindurchgeht — als „Durchschreitungskurve" bezeichnet, Eine mathematische Theorie dieser Vor- gänge fehlt bisher vollständig. Es muß außerdem bemerkt werden, daß das eben Berichtete ein idealisiertes Schema der Vor- gänge bietet. Es treten hauptsächlich zwei Erscheinungen störend hinzu: a) Die Zykeln werden genau nur dann wiederholt, falls sie zwischen nicht allzuweiten Spannungsgrenzen und insbesondere bei nicht allzugroßen Deformationen verlaufen (d.h. bei schmalen Zykeln). Erstreckt sich der Zykel auf große Deformationen, so verschiebt er sich bei jeder Wiederholung nach der Rich- tung der wachsenden Deformationen, d. h. es tritt stets ein neuer Dehnungsrest hinzu. b) Es ist gewissermaßen „Akkommodation" vorhanden, besonders bei den ersten Wieder- holungen. Die Zykeln werden schmaler und schmaler. Dieser Einfluß läßt sich aber fast ganz eliminieren, wenn man die Zykeln erst mehrere Male durchlaufen läßt. Nach den dargestellten Gesetzmäßig- keiten kann zwar die Hysteresis als irrever- sibler Vorgang bezeichnet werden, aber nur in einem beschränkten Sinne, indem jeder Zustand doch nochmals zu erreichen ist. Energetisch bedeutet jeder Zykel natürlich einen Arbeitsverlust, und zwar ist die ein- geschlossene Fläche unmittelbar proportional der bei jeder Wiederholung geleisteten Arbeit. Diese Energiemenge geht in Bewegungs- energie der Moleküle (Wärme) über. VI. Elastische Nachwirkung. i. Gedämpfte Schwingungen. Loga- rithmisches Dekrement. Eine der ein- fachsten jener Tatsachen, die in den Bereich der Nachwirkungserscheinungen gehören, ist die innere Dämpfung der elastischen Schwing- ungen. Wird z. B. ein am oberen Ende befestigter vertikaler Stab am unteren Ende mit einem Gewicht verbunden und in Tor- sionsschwingungen versetzt, so würde nach dem Hook eschen Gesetze die Bewegungs- gleichung für das schwingende Gewicht fol- gendermaßen lauten (vgl. II, 3): D d2# JpG#=0 dt2 ' 1 (D Trägheitsmoment des Gewichtes um die Stabachse, JPG Torsionssteif igkeit des kreisförmig vorausgesetzten Querschnittes, 1 Stablänge). Der Stab würde — wie dies bei voller Reversibilität der elastischen Vor- gänge nicht anders zu erwarten ist, mit konstanter Amplitude Schwingungen aus- führen. Nun beobachtet man in Wirk- lichkeit eine Abnahme der Amplitude, die im allgemeinen viel größer ist, als der ein- zigen äußeren Kraft, dem Luftwiderstande, entsprechen würde. Man kann der Er- scheinung durch die Annahme einer inneren Reibung des festen Körpers Rechnung tragen, die man proportional der Deformations- geschwindigkeit, d. h. der zeitlichen Aende- rung der Deformationsgrößen voraussetzt. Man wird also das Hookesche Gesetz in der Weise zu ergänzen haben, daß man zu den Gliedern, die proportional den Deformations- größen sind, andere hinzufügt, die der zeit- lichen Aenderung der Dehnungen und Winkel- änderungen proportional sind. Setzen wir insbesondere für den Fall der Torsion *-¥(•+•* wo x die Reibungskonstante der Torsions- deformation genannt wird, so geht die obige Gleichung in d& . JPG dt2 + 1 #=0 dt 1 über. Die Lösung kann man schreiben: U "t • 2jrt T ' T ist offenbar die Dauer einer Schwingung; falls die Reibungskonstante x klein ist, so unterscheidet sich die # = #0e sin -=-, Schwingungszeit sehr wenig von demWerte T = =2*}/ / Dl JnG — , den man unter Weglassung des Reibungsgliedes erhält. Die Bedeutung von 1 ist ebenfalls ersichtlich. Das Verhältnis zweier nach- folgenden maximalen Amplituden (z. B. für t = g und t = -^g-J beträgt offenbar e~l d. h. A ist der negative Logarithmus des Verhältnisses zweier nacheinanderfolgender maximalen Ausschläge. Diese Größe wird das „logarithmische Dekrement" ge nannt und ist ein direktes Maß für die Dämp fung. für / Aus der Schwingungsgleichung folgt 1 - x JpG Dl ' Mit derselben Annäherung, wrie früher, wird 4jr2A = £. 190 Elastizität Falls daher k eine Materialkonstante sein soll, so muß das logarithmische Dekrement umgekehrt proportional der Schwingungs- zeit sein. Wir werden später sehen, daß man vom Standpunkte der Nachwirkungs- theorie aus zu der Folgerung gelangt, daß das logarithmische Dekrement unabhängig sei von der Schwingungsdauer. Nach den Beobachtungen trifft keine dieser Forderungen exakt zu; doch ist die zweite Forderung für die meisten Körper besser erfüllt. Nach der obigen Formel würde die Am- plitude in geometrischer Reihe abnehmen, d. h. das logarithmische Dekrement wäre unabhängig von der Amplitude. In der Wirk- lichkeit tritt fast immer eine Zunahme des logarithmischen Dekrements mit der Am- plitude auf, und zwar oft in sehr beträcht- lichem Maße. Große Schwingungen werden rascher gedämpft, als kleine. Auch die Ab- hängigkeit der Dämpfung von der Tem- peratur bildete den Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Im allgemeinen nimmt sie mit wachsender Temperatur stark zu und zwar weniger bei niedrigen Tempera- turen als zwischen 0 und 100°. So ist z. B. bei Aluminium die Dämpfung der Schwing- ungen bei 0° 8 mal, bei 100° 270 mal so groß wie bei der Temperatur der flüssigen Luft. Einige Metalle (Gold, Magnesium) zeigen bei ganz niedrigen Temperaturen wieder eine Zunahme der Dämpfung. 2. Verzögerte Deformation und Re- laxation. Während man bei dem perio- dischen Vorgange der gedämpften Schwing- ungen mit der, offenbar der Theorie der Flüssigkeiten entnommenen Vorstellung von einer inneren Reibung auskommt, sind die eigentlichen Nachwirkungserscheinungen in engerem Sinne durch eine solche Annahme nicht zu erklären. Man kann zwei sehr charakteristische Tatsachen hervorheben: die Tatsache der verzögerten Deformation unter konstanter Belastung und die sogenannte Relaxation der Spannung bei konstanter Deformation. Als verzögerte Deformation bezeichnet man die Erscheinung, daß sowohl bei Be- lastung als Entlastung die endgültige De- formation erst nach längerer Zeit er- reicht wird. Diese Erscheinung wurde zu- erst von W. Weber beobachtet und von Kohlrausch eingehend untersucht. Kohl- rausch untersuchte auch als erster die Erscheinung der Relaxation. Man versteht darunter folgende Tatsache: Dauert eine Deformation längere Zeit, so nimmt die zur Erhaltung derselben notwendige Kraft während der Belastungszeit ab. Die beiden Erscheinungen stehen offenbar in engem Zu- sammenhang. So ist die verzögerte (nach- trägliche) Deformation als eine Folge der Relaxation aufzufassen: nimmt nämlich die zu der Erhaltung der Deformation not- wendige Kraft zeitlich ab, so wird bei kon- stanter Kraftwirkung (z. B. Belastung durch ein angehängtes Gewicht) die überschüssige Kraft weitere Deformationen hervorrufen. Umgekehrt kann man die Relaxation als eine Folge der nachträglichen Deformation darstellen. Die grundlegende Frage ist naturgemäß die zeitliche Gesetzmäßigkeit beider Vor- gänge. Verschiedene Forscher haben die verschiedensten empirischen Formeln auf- gestellt, von denen jedoch keine allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen vermag. Die Annahme einer von der Geschwindigkeit der Deformation abhängigen Viskosität könnte zwar qualitativ die verzögerte De- formation erklären; der Relaxation kann sie aber nicht gerecht werden, weil bei kon- stanter Deformation die innere Reibung über- haupt Null wäre. Außerdem verlaufen die Nachwirkungserscheinungen viel zu lang- sam, um als eine Folge jener inneren Rei- bung erklärt werden zu können, die man aus den Beobachtungen über gedämpfte Schwingungen herleitet. Die Theorie mußte hier neue Bahnen suchen. Maxwell wollte alle Vorgänge, die scheinbar auf Viskosität deuten, bei Kör- pern von beliebigem Aggregatzustande auf die Relaxation zurückführen. Nach seiner Vorstellung ist die Grundtatsache die, daß sich jeder Körper der Deformation ak- kommodiert, falls diese längere Zeit be- steht; dies äußert sich in einer zeitlichen Abnahme der Spannung. Er setzte -- um zu einer annähernden Theorie zu gelangen — die Abnahme der Spannung in der Zeiteinheit proportional der jeweiligen Spannung und um- gekehrt proportional einer konstanten Zeit- größe T, die er Relaxationszeit nannte und die für die Substanz charakteristisch sein soll. Bei elastischen Medien soll T ganz groß sein (Stunden, Tage), bei Flüssigkeiten ganz klein (ein kleiner Bruch- teil einer Sekunde). Ist die Beziehung zwischen Spannung und Dehnung (z. B. bei longitudinalem Zug eines Stabes) ohne Be- rücksichtigung der Relaxation o = Ee, so wäre die zeitliche Aenderung der Spannung bei irgendeiner Aenderung der Deformation do p de dt " " dt ' Nun tritt infolge der Relaxation eine Ab- nahme der Spannung in der Zeiteinheit vom Betrage m hinzu, d. h. wir erhalten die Gleichung da y de o dT dT~ T" Elastizität 191 de Für konstante Deformation -jt =0 würde folgen da dt o T oder (ö0 der anfängliche Wert von o) t t o= Oo e d. h. eine exponentielle Abnahme der Span- nung mit der Zeit. Die Relaxationszeit kann als iene Zeit gedeutet werden, in der 1 die Spannung auf den y-^ fachen Wert des ursprünglichen Wertes heruntersinkt. Man ist zwar durch den einfachen Max- well sehen Ansatz nicht imstande, die ver- wickelten zeitlichen Gesetze der tatsäch- lichen Relaxation wiederzugeben, außer- dem liefert der Ansatz keine zwanglose Erklärung für die verzögerte Deformation (namentlich bei Entlastung), trotzdem ist es sehr beachtenswert, daß Maxwell gewisser- maßen der Dauer des Deformationszustandes einen Einfluß zuschrieb. Man wird zu dieser Auffassung gezwungen durch die Beobach- tungen über die Superponition der Nachwir- kung von Deformationen, die nacheinander in entgegengesetztem Sinne vorgenommen wur- den. Wird z. B. ein Stab zuerst nach rechts tordiert und längere Zeit in diesem Zustande gehalten, dann während einer kürzeren Zeit nach dem entgegengesetzten Sinne gedreht, so kehrt er nach der Entlastung zuerst von links nach rechts zurück; diese Bewegung wird aber immer langsamer, der Stab dreht sich sogar wieder um einen kleineren Be- trag nach links, und schließlich wieder zurück gegen die ursprüngliche Gleichgewichtslage. Man muß die Drehung nach links offen- bar als eine noch immer bestehende Nachwir- kung der langdauernden früheren Rechts- drehung deuten, die durch die rascher ab- klingende Nachwirkung der kurzen Links- drehung überdeckt wurde. Aehnlich kann man die Ueberlagerung der Nachwirkung mehrerer in verschiedenem Sinne vorange- gangener Deformationen beobachten. Man muß also schließen, daß der jeweilige Zu- stand von allen zeitlich vorangegangenen Zuständen, d. h. der ganzen „Vorgeschichte'' des Körpers, abhängig ist. Diese Auffas- sung hat ihren mathematischen Ausdruck zuerst in Boltzmanns Theorie der elasti- schen Nachwirkung gefunden. 3. Die Boltzmannsche Theorie der elastischen Nachwirkung. Soll der Ein- fluß der gesamten Vorgeschichte des Kör- pers berücksichtigt werden, so muß offenbar jede vorangehende Deformation mit ge- wissem Gewicht in Betracht kommen, wel- ches desto kleiner ist, je länger der betreffende Deformationszustand zeitlich zurückliegt. Wir wollen wieder den Fall der Torsion be- trachten, auf den sich ohnehin die meisten Beobachtungen beziehen. Ohne Nachwir- kung wäre das Drehmoment, welches einer Verdrehung des Stabes von der Länge 1 mit einem Winkel vom Betrage & entspricht, gleich M=^U, wo & offenbar die jeweilige Verdrehung zur Zeit t bedeutet. Hat aber die Deformation zur Zeit t = 0 bereits begonnen und ist die Verdrehung in einem beliebigen Zeitpunkt r zwischen 0 < x < t gleich ^-(t) gewesen, so berücksichtigt Boltzmann den Einfluß all dieser vorangegangenen Deformationen da- durch, daß er von dem Betrage G.#das Integral über sämtliche Deformationen während der Zeit von 0 bis t abzieht, wobei jede Defor- mation mit einer Größe multipliziert wird, welche von der verstrichenen Zeit t -- x abhängig ist, d. h. mit einer Funktion ip(t — t) von t — x. Dieses ip ist eine charak- teristische Funktion des Materials, welche sozusagen für die „Erinnerung" des Kör- pers kennzeichnend ist; sie drückt aus, wie stark der Einfluß eines Zustandes noch besteht, welcher eine gewisse Zeit t — r bereits zurückliegt. Das Drehmoment wird also mit Berücksichtigung der Nachwirkung M = i2 Gq- 1 l&(x)y)(t- x)dx Boltzmann hat nun gezeigt, daß dieser Ansatz geeignet ist, alle charakteristischen Erscheinungen der Nachwirkung darzustellen. Die Erinnerungsfunktion kann durch einen Vorgang experimentell bestimmt werden, und alsdann ist man imstande, auf die zeit- lichen Gesetze der übrigen Vorgänge zu schließen. Wir wollen nur die einfachsten Fälle be- trachten : a) Verzögerte Deformation. Die De- formation beginnt um t = 0. Von diesem Zeitpunkte an bis t = T sei die Verdrehung konstant und gleich &0. Zur Zeit t = T wird der Stab entlastet ; es fragt sich, wie geht die Detorsion zeitlich vor sich? Da nach t = T das Drehmoment verschwindet, so ist während der Entlastungszeit T M = Jr G# — -9-, o/yC* — x)dx = 0 oder «• = ~-G>« t)c!t. 192 Elastizität Nach längerer Zeit ist t — x nur sehr wenig verschieden von t, so daß man setzen kann 9 = ^ y(t), d. h. 9 proportional xp(t). Der Verlauf der Detorsion liefert also den Weg zur experi- mentellen Bestimmung der Funktion ip. b) Relaxation. Die Deformation be- ginne wieder bei t = 0. Von diesem Zeit- punkte an sei sie konstant, entsprechend einer Verdrehung &0. Der Anfangswert des Drehmoments sei M0; es fragt sich, nach welchem Gesetze das Drehmoment, welches zur Erhaltung der konstanten Verdrehung notwendig ist, abnimmt. Aus unserem Ansatz folgt m = G#b — ob / '< ip(t — T)dr oder, falls man die seit einem bestimmten Zustande verstrichene Zeit t — x mit co bezeichnet, o M #o-Jp |G+/V(ö>)dojj W(t) Differentiieren wir nach der Zeit, so ist die Abnahme der Spannung in der Zeiteinheit dM = »pJp dt : 1 Man hat also eine langsam aufhörende Re- oo laxation. Ist j ip(co)&co = Gy, so wird G— G' o der „endgültige Grenzwert" des Gleitmoduls und — — j &0 der Endwert des Mo- ments. Es ist besonders interessant, daß man durch den Boltz mann sehen Ansatz auch zu einer Theorie der gedämpften Schwin- gungen gelangt, die wir in Punkt VI i auf Grund der Vorstellung der inneren Reibung behandelt haben. Boltzmann gelangt zu dem Schlüsse, daß, falls man wahrschein- liche Annahmen für die Erinnerungsfunktion macht, das logarithmische Dekrement un- abhängig wird von der Schwingungsdauer. Dies trifft namentlich nach Beobachtungen von Streintz und Voigt bei vielen Kör- pern (z. B. Gußeisen, Cadmium) in der Tat zu; allerdings gibt es viele Körper, die ein entgegengesetztes Verhalten zeigen. Die Boltzmannsche Theorie wurde von Wiechert wesentlich erweitert, indem er durch Superposition mehrerer Exponential- glieder für die Erinnerungsfunktion zeigte, daß die Theorie den Versuchsresultaten sehr gut angepaßt werden kann. 4. Schlußbemerkungen. Die obige Dar- stellung der wichtigsten Nachwirkungser- scheinungen gibt ohne Zweifel nur ein etwas schematisiertes Bild der Vorgänge, und es gibt eine große Fülle von Tatsachen, die heute noch kaum vollständig systematisch zusammengefaßt werden können. Es wäre noch z. B. der Einfluß von wiederholten Belastungen zu erwähnen: die Tatsache der sogenannten elastischen Ermüdung. Sie besteht darin, daß durch langdauernde Hin- und Herschwingungen des Körpers die Dämpfung der Schwingungen zeitlich zu- nimmt: man sagt, der Körper wird er- müdet. Dieser Beobachtung steht gewisser- maßen die Beobachtung von Streintz gegenüber, daß wiederholte Schwingungen in vielen Fällen eine Abnahme des logarith- mischen Dekrements zur Folge haben, also gerade keine Ermüdung, sondern Akkommo- dation hervorrufen. Es hat sich aber gezeigt, daß die Akkommodation keine spezielle Folge der Belastungsänderung ist, sondern sie er- folgt immer, falls der Körper längere Zeit be- lastet wird. Andererseits ist es wahrschein- lich, daß die Ermüdung eigentlich schon zu jenen Vorgängen gehört, die die innere Konstitution des Körpers ändern und folglich in die Festigkeitslehre gehören (siehe den Artikel „F e s t i g k e i t"). Der Unterschied zwischen solchen Vorgängen und den Vorgängen der elastischen Nach- wirkung in engerem Sinne besteht darin, daß die ersteren die Eigenschaften des Körpers sozusagen in nicht umkehrbarer Weise ändern, während die Hysteresis und Nachwirkungserscheinungen, wenn sie auch irreversible Vorgänge sind, die Konstitution des Körpers eigentlich nicht beeinträchtigen, da ein früherer Zustand auf irgendeinem Umwege immer wieder zu erreichen ist. Wie auch aus dieser kurzen Darstellung erhellt, liefern die Boltzmannsche Theorie und die daran anschließenden Untersuchun- gen ohne Zweifel nur formale Ansätze zur Beschreibung sehr komplizierter molekularer Vorgänge. Eine Erklärung der Tatsachen ist vielleicht von der kinetischen Theorie des festen Körpers zu erwarten, wie die Viskosität von Gasen von der kinetischen Theorie aus eine zwanglose Erklärung fand. Nur liegen die Verhältnisse bei festen Kör- pern so viel komplizierter, daß es zunächst fraglich erscheint, ob wir in kurzer Zeit eine Einsicht in den komplizierten Mechanis- mus gewinnen werden. Literatur. I- Lehrbücher: C. L. Kavier, Jtesume des lecons sur l'application de la mecanique, S. Aufl., 1826, herausgeg. von St. Venant, Paris I864. — G. Lame, Lecons sur la theorie mathematique de l'elasticite des Elastizität — Elektrizität 193 corps solides, Paris 1852, 2. Avfl. 1866. — A. Clebsch, Theorie der Elastizität fester Körper, Leipzig 1862, französisch von St. Venant und Fl am an t, Paris 1888. — JF. Neumann, Vor- lesungen über die Theorie der Elastizität, Leipzig 1885. — 6. Kirchhoff, Vorlesungen über math. Physik: Mechanik, Leipzig 1876, 4. Aufl. 1897. — H. v. Heimholte, Vorlesungen über math. Physik, Bd. TL, Leipzig 1902. — Thomson und Ta.it, Treatise on natural philotsophy, Oxford JS67, neuester Abdruck 1896. — H. Poincare, Legons sur la theorie de l'elasticite, Paris 1891. — A. E. H. Love, A treatise on the mathe- ■matical theory of elasticity, Cambridge 1892/98, 2. Aufl. 1906, deutsch von A. Timpe, Leipzig 2907. — C. Bach, Elastizität und Festigkeit, Berlin 1890, 6. Avfl. 1911. II. Referate (Historisches) : W. Thomson, „Elasticity" in Encyclopaedia Britannica, 9. Aufl. 1S7S. — jF. Auerbach, Elastizität im Hand- buch der Physik, 1908. — C. II. Müller und A. Timpe, O. Tedone, O. Tedone und A. Timpe, Encyklopädie der math. Wissenschaften, IV, 23, 24, 25, 1907 bis 1908. — J. Todhnnter und K. JPearson, A history of the theory of elasticity and of the strength of materials, Cambridge 1S86 bis 1898. Th. v. Kar man. Elektrizität. Entstellung 1. Einleitender Abschnitt: a von Elektrizität bei Reibung ; + und - - Elektri zität; Gesetz von der Erhaltung der Elektrizität, b) Theorie der Fluida. c) Fernwirkung ; Nahewir- kung. 2. Elektrizität und Materie: a) Elek- trizität als Verknüpfung von Aether und Materie, b) Begriff und Einheit der Elektrizitätsmenge. Elektrotechnisches und praktisches Maß. 3. Ionen und Elektronen: a) Atomare Struktur von Elek- trizität und Materie. Elektrolytische Ionen. Elementarquantum der Elektrizität. b) Die spezifische Ladung eines Ions, c) Die Ionen in Gasen, d) Die elektrische Ladung der «-Strahl- teilchen, e) Kathodenstrahlen. Das Elektron. 4. Elektronentheorie der Materie: a) Elektroma- gnetischer Charakter der trägen Masse, b) Dielek- trische Polarisation, c) Einfluß der Elektronen auf optische Vorgänge in der Materie, d) Elektri- zitätsleitung, e) Abgabe freier Elektrizität bei Er- hitzung und Bestrahlung, f) Statische Verteilung der Elektrizität. Influenz-Elektrizität von Leitern und Isolatoren, g) Osmotische Theorie der Ionen und Elektronen. Berührungs-, Thermo-, Rei- bungs-Elektrizität1). 1. Einleitender Abschnitt. 1 a) Ent- stehung von Elektrizität bei Rei- bung; -f und — Elektrizität; Gesetz von der Erhaltung der Elektrizität. Der Name Elektrizität stammt von der im r) Dieser Artikel gibt eine allgemeine Einfüh- rung in das Verständnis der elektrischen Erschei- nungen, die ausführlich in den besonderen elek- trischen Artikeln behandelt werden. Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III Altertum bereits bekannten Eigentümlich- keit des Bernsteins {rjlexzgov), gerieben leichte Teilchen anzuziehen. Die Eigenschaft bei Reibung mit anderen Stoffen eine elek- trische Ladung anzunehmen, welcher jene anziehende Kraft zuzuschreiben ist, zeigen alle Substanzen. Das scheinbar ab- weichende, sogenannte anelektrische Ver- halten von Metallen und manchen anderen Körpern wurde von Gray 1727 dadurch erklärt, daß dieselben ein Leitungsvermögen für Elektrizität besitzen. Solche Körper, sogenannte Leiter, sind isoliert aufzustellen, wenn sie bei Reibung eine elektrische Ladung annehmen und behalten sollen. Durch Be- streichen eines auf isolierendem Fuß stehen- den Leiters, etwa einer Metallkugel, mit einem durch Reibung elektrisierten Isolator, kann durch Leitung Elektrizität auf ihn über- tragen werden. D uf ay machte 173-4 die Ent- deckung der beiden Elektrizitätsarten, der positiven und negativen Elektrizität. Mit gleichartiger Elektrizität geladene Körper stoßen sich ab, ungleichartig geladene ziehen sich an. Glas wird durch Reiben mit Seiden- zeug oder amalgambestrichenemLederpositiv, Hartgummi, Schellack durch Reiben mit Pelzwerk negativ elektrisch. Das Gesetz von der Erhaltung der Elektrizität sagt aus, daß bei jeder Erzeugung von Elek- trizität stets beide Arten von Elektrizität in gleicher Menge entstehen; im Falle der Erzeu- gung durch Reibung zeigen reibender und geriebener Körper immer Elektrizität ent- gegengesetzten Vorzeichens. Es findet dem- nach keine eigentliche Erzeugung von Elek- trizität, sondern nur eine Trennung entgegen- gesetzter Elektrizität bei dem Reibungsvor- gangstatt. Gleiche Quanten entgegengesetzter Elektrizität kompensieren sich und ergeben zusammen einen ungeladenen Zustand. ib) Theorie der Fluida. Die nahe- liegendste Hypothese über die Natur des elektrischen Zustandes ist die Annahme der Existenz zweier elektrischer Fluida, von denen ein unelektrischer Körper gleiche Mengen enthält. Bei jedem elektrisierenden Vorgang, wie z. B. bei der Reibung zweier verschiedener Körper, findet eine Trennung der Fluida durch Strömen derselben statt. Nicht wesentlich verschieden von dieser dualistischen Theorie ist die Annahme eines einzigen Fluidums, welche von Franklin vorgeschlagen wurde. Nach dieser uni- tarischen Theorie soll jeder Körper im neutralen Zustande ein gewisses Normal- quantum an Fluidum enthalten. Ueberschuß und Mangel an demselben soll die Erschei- nungen der Ladung mit entgegengesetztem Vorzeichen hervorrufen. ic) Fernwirkung und Nahewirkung. Dem elektrischen Fluidum war die besondere Eigentümlichkeit zuzuschreiben, nach außen 13 194 Elektrizität eine bewegende Kraft auszuüben. Die quan- titativen Untersuchungen Coulombs über die Größe dieser Kraft ergaben eine große formale Aelmüchkeit mit der Gravitations- wirkung der Massen. Wie diese Wirkung, so sah man darum auch die der Elektrizität als eine unvermittelteFern Wirkung, als eine ,, actio in distans" an, obwohl dem Entdecker der Gravitation selbst, Newton, das Un- befriedigende, das in der Annahme einer durch den einflußlosen Kaum erfolgenden Wirkung lag, nicht entgangen war. Eine der glänzend- sten Errungenschaften des menschlichen Forschergeistes war die von England aus- gehende Lossage von der Fernwirkungs- theorie. Faraday war der erste, welcher sich eine neue vollkommen andersartige Vor- stellung von dem Wesen der elektrischen Kraftwirkung bildete. Das Wesentliche an der Faraday sehen Anschauung im Gegen- satz zu der Annahme reiner Fernwirkung ist, daß dem zwischen den Ladungen be- findlichen Medium eine wichtige Rolle zu- erteilt wird. Auf dem Boden dieser Nahe- wir k u ngs t he orie stehend, machte Faraday eine große Reihe der glänzendsten Ent- deckungen. Trotzdem drang er mit ihr lange Zeit nicht durch, wohl hauptsächlich des- wegen, weil er mit seiner Theorie in einem völligen Gegensatz zu der Anschauung der größten Autoritäten auf dem Gebiete der Elektrizitätslehre sich befand, auch wohl, weil seine Abhandlungen in einer schwer verständlichen Ausdrucksweise geschrieben waren. Erst James Clerk Maxwell brachte Farad ays geniale Ideen in streng mathe- matische Form und verhalf ihnen zu glän- zendem Siege. 2. Elektrizität und Materie. 2a) Elek- trizität als Verknüpfung von Aether und Materie. Nach der Faraday-Max- wellschenAnschauungsweise ist eingeladener Körper von einem elektrischen Feld um- geben, dessen Träger das Vakuum, der leere Raum ist, dem man als physikalischem Ob- jekt auch den Namen Weltäther beigelegt hat. Bestehen eines elektrischen Feldes be- deutet, daß der Aether sich in einem beson- deren Spannungszustand befindet. Weil es keine Substanz gibt, in welcher ein elek- trisches Feld nicht existieren könnte, so hat man den Weltäther als jede Materie durch- dringend anzusehen. Cavendish und etwa 60 Jahre später Faraday entdeckten den Einfluß von Isolatoren auf die elektrischen Erscheinungen, der als eine Wirkung der Materie auf den elektrisch gespannten Aether aufzufassen ist. Wenn zwar auch ein elek- ; Feld in dem von wägbarer Materie freien, leeren Raum bestehen kann, so hat die Materie doch stets den wichtigen Anteil an den elektrischen Erscheinungen, daß diese letzteren stets nur mit ihrer Vermittelung wahrgenommen werden können, und daß ferner sich nur auf ihr der Sitz der feld- erregenden Ladung befindet. Das Vakuum ist nach allen unseren Erfahrungen niemals Träger elektrischer Ladungen. Nur mit greif- barer Materie kann Elektrizität verbunden sein. In der graphischen Darstellung des elektrischen Feldes durch Kraftlinien be- deutet dies, daß nur von ponderablen, mate- riellen Teilchen Kraftlinien ausgehen, nur an solchen sich freie Enden von Kraftlinien befinden können. Da die Materie nur im geladenen Zustand ein wahrnehmbares elektrisches Feld in ihrer Umgebung hervorruft, ferner ein elektrisches Feld erfahrungsgemäß auf materielle Körper nur dann eine bewegende Kraft ausübt, wenn diese geladen sind, so hat man die elek- trische Ladung als das Bindemittel zwischen Aether und Materie anzu- sehen. Die Faraday- Max wellsche Theorie hatte hervorragende Erfolge in der Aether- physik. Die Materie, insbesondere die leitende, spielte in ihr jedoch mehr die Rolle eines Störenfrieds. Der Leiter weigert sich, ein elektrisches Feld im Gleichgewicht in sich I zu beherbergen, der Isolator beeinflußt die | elektrischen Erscheinungen in einer Weise, | die formal durch die von Faraday einge- führte Dielektrizitätskonstante in der Theorie wiedergegeben wurde. Der Begriff Elektrizi- tät oder elektrische Ladung wurde, da das Hauptaugenmerk auf den Aether ge- richtet war, man kann fast sagen diskreditiert und durch den Ausdruck „freie Enden von Kraftlinien" ersetzt. Die Aethertheorie sagte nichts aus, und konnte nichts aussagen, überall wo ein spezieller Einfluß der Materie vorhanden war, wo es sich um elektrische Erscheinungen in wägbaren Kör- pern handelte (Einfluß von Isolator und Leiter auf die elektrischen und optischen Vorgänge, Elektrolyse, Thermoelektrizität u. a. m.). Hier mußten neue Hypothesen, an Fundamentalversuche anschließend, ein- greifen, die ein bestimmtes Bild von der Konstitution der Materie entwerfen. 2b) Begriff und Einheit der Elek- trizitätsmenge. Elektrostatisches und praktisches Maß. Mit Hilfe der Dreh- wage stellte Coulomb für die zwischen zwei Ladungen wirkende Kraft das nach ihm benannte Gesetz auf. Die Kraft, welche eine geladene Kugel auf eine außerhalb be- findliche Ladung ausübt, wird auf die Hälfte reduziert, wenn man der Kugel durch Be- rühren mit einer zweiten gleichen die Hälfte ihrer Ladung entzieht. Es ist darum die Kraft zwischen zwei geladenen Kugeln der Ladung jeder derselben proportional, außer- dem ist ferner die Kraft mit dem Quadrat Elektrizität 195 der Entfernung r der Kugelmittelpunkte ab- nehmend. ee Kraft = Konstans.-y. In diesem Coulnmbschen Gesetz ist die Ladung oder Elektrizitätsmenge e eine noch Undefinierte Größe. Eine bestimmte Festsetzung ihrer Einheit und eine mecha- nistische Definition erhält man, wenn man für die Konstante eine bestimmte Fest- setzung trifft. Die Grundlage des mecha- nischen, sogenannten elektrostatischen Maßsystems und eine mechanische De- finition für die Einheit der Elektnzitats- menge in diesem Maßsystem gewinnt man durch die willkürliche Maßnahme, für die Konstante die Zahl Eins zu setzen. Dann wird nämlich für e = e' = 1 und r = 1 auch Kraft = 1, d. h. Die Elektrizitätsmenge 1 elektro- statische (e. s.) Einheit stößt eine ihr gleiche in 1 cm Entfernung mit der Krafteinheit 1 Dyne ab. Die absolute Krafteinheit 1 Dyne ist ungefähr der Kraft gleich, mit welcher em Milligramm von der Erde angezogen wird. Die so definierte Einheit der Ladung und das auf ihr sich aufbauende elektrostatische Maßsystem sind praktisch nur mehr von unter dendstem Einfluß für die Erkenntnis der Beziehungen zwischen Elektrizität und Materie geworden. Die Tatsache, daß das Passieren einer bestimmten Elektrizitäts- menge durch einen Elektrolyten stets von einem ganz bestimmten Zersetzungseffekt begleitet ist, der in verschiedenen Elektro- lyten die Ausscheidung chemisch äquiva- lenter Mengen bedingt, führte zu der Clau- dius sehen Theorie der Ionenwanderung. Der Elektrizitätstransport geschieht nach ihr durch die Bewegung der positiv und negativ geladenen Ionen, in welche die gelösten Mole- küle gespalten sind. Die von Arrhenius aus- gebaute Dissoziationstheorie baut sich auf dem Grundgedanken auf, daß die Spaltung der Moleküle und Atome des Elektrolyten m Ionen unabhängig von Stromwirkungen bereits in der Lösung vor sich geht. Der Ausschei- dung eines Grammäquivalents eines Ions entspricht dem elektrolytischen Grundgesetz zufolge der Durchgang einer bestimmten, von der Natur des Ions unabhängigen Elektrizi- tätsmenge. Es ist die an einem Gramm- äquivalent (= Atomgewicht: Wertigkeit) haftende sogenannte Aequivalentladung. Die Aequivalentladung ist eine von der Natur der Substanz unabhängige sogenannte universelle Konstante und beträgt Coulomb. Diese Elektrizitätsmenge haftet geordneter* Bedeutung. In der technischen i als0 an den Ionen von z. B. 1 gr Wasserstoff, 16 ,, 63,6 107,9 g Silber, -y = 8 g Sauerstoff, -|- = 14 Praxis ist eine andere, wesentlich größere Einheit festgelegt und für die Definition der technischen "Einheit, des Coulomb, die von Faraday entdeckte Tatsache verwendet worden, daß bei der Elektrolyse von Metall- salzlösungen dem Durchgang einer bestimmten Elektrizitätsmenge durch die Zersetzungs- zelle immer die Ausscheidung einer ganz be- stimmten Menge eines Metalls entspricht. Ein Coulomb ist die Elektrizitätsmenge ge- nannt worden, welche aus einer Silbersalz- lösung 0,001118 g Silber ausscheidet, Es ist 1 Coulomb = 3 . 109 elektrostatischen Einheiten. Wird beim Strömen von Elektrizität die Menge 1 Coulomb in der Sekunde durch den Querschnitt des Leiters befördert, so fließt in diesem der Strom 1 Ampere (vgl. den Artikel „Elektrische Maßnormale"). 3. Ionen und Elektronen. 3a) Atomare Struktur von Elektrizität und Ma- terie. Elektrolytische Ionen. Ele- mentarquantum der Elektrizität. Die Fundamentalgesetze der Elektrolyse, an welche die neuen Hypothesen über die Kon- stitution von Elektrizität und Materie an- schlössen, sind auch von Faraday in einer Reihe glänzender Experimentaluntersuchun- gen festgestellt worden. Von Clausius, später insbesondere von Sv. Arrhenius, sowie von van t'Hoff und Nernst bis in alle Einzel- heiten theoretisch verfolgt, sind die elek- trolytischen Erscheinungen von entschei- 31,8 g Kupfer, -q-=4,67 g Stickstoff usw. Um die Elektrizitätsmenge zu erhalten welche an einem einzelnen einwertigen Ion haftet, hat man die Ladung 96 5-10 Coulomb nur zu dividieren durch die Anzahl von Ionen, die im Grammäquivalent enthalten sind. Ein Grammäquivalent Wasserstoff, d. i. ein Gramm nimmt nun bei 0° Celsius und dem Normaldruck von 760 mm Queck- silber ein Volumen von 10830 cem ein. Die Anzahl von Gasmoleküle 11, welche unter diesen Bedingungen in einem com enthalten und für alle Gase nach der Avogadro sehen Reo-el die gleiche ist, ist als die sogenannte Lo&schmidtsche Zahl angenähert be- kannt, sie beträgt N == 2,8.10». Jedes Wasserstoffmolekül enthält zwei Atome, welche positiv geladen ie ein Wasserstoftion bilden; es sind darum im Grammäquivalent Wasserstoff 2.10830. 2,8. 10» d.h. 60648 .10» Ionen enthalten. An einem Wasserstoffion 96540 haftet demnach die Ladung ß0648.1019 = 1,59. 10"19 Coulomb. Die gleiche Ladung haftet an jedem anderen einwertigen Ion, sowie an jeder Wertigkeit der mehrwertigen Ionen. Ein zweiwertiges Ion trägt demnach 13* 196 Elektrizität die doppelte, ein dreiwertiges die dreifache usw. Elektrizitätsmenge. Es ist bisher auf keine Weise gelungen, mit Sicherheit kleinere Elektrizitätsmengen als diese am einwertigen Ion haftende Ladung nachzuweisen. Gegenteilige Beobachtungen sind widerlegt worden und höchst wahr- scheinlich auf Fehler zurückzuführen. Da- gegen hat man auf mehreren ganz anderen Gebieten dieselbe kleinste Ladung feststellen können. Man hat darum diese Elektrizitäts- menge das Elementarquantum der Elek- trizität genannt und ist zu der Ansicht ge- langt, daß es kleinere Quanten von Elektrizi- tät überhaupt nicht gibt. Wie der Materie, so weist man also auch der Elektrizität eine atomare Struktur zu. Die Elementarquanten der Elektrizität haften im allgemeinen an den Atomen der Materie, immer eines an jeder chemischen Wertigkeit des Atoms. Als Mittelwert für das Elementarquantum der Elektrizität gilt augenblicklich der Wert 1,56. 10-19 Coulomb. 3b) Die spezifische Ladung eines Ions. So wird die mit der Masseneinheit des Ions verbundene Ladung, also der Quotient m aus Ladung'und Masse des Ions genannt. Sie hat unter allen chemischen Ionen für das des Wasserstoffs, weil es das leichteste ist, den größten Wert 96540 —^- — . Für Gramm das 108mal schwerere Silberion ist die spezifische Ladung 108mal kleiner. Sie ist der reziproke Wert der die Ladung 1 Cou- lomb tragenden Menge, welche man das elektrochemische Aequivalent nennt. 3c) Die Ionen in Gasen. Das Lei- tungsvermögen, welches Gase unter ge- wissen Bedingungen zeigen, wird, wie das der Elektrolyte, durch eine Dissoziation, eine Spaltung der Gasmoleküle in Ionen er- klärt. Kräftige elektrische Felder, Erhitzung, Röntgenstrahlen, die Strahlen radioaktiver Substanzen, ultraviolettes Licht u. a. m. sind imstande, Gase partiell zu ionisieren. Die Eigenschaft der Gasionen Kondensations- kerne für Wasserdampf zu bilden, ist von J. J. Thomson zu einer Bestimmung der an ihnen haftenden Elektrizitätsmenge ver- wandt worden. Bei Abkühlung einer mit Wasserdampf gesättigten, abgeschlossenen Gasmasse durch eine plötzliche Expansion tritt keine Nebelbildung ein, wenn das Gas staubfrei ist. Wenn Staubteilchen zugegen sind, findet aber Kondensation statt, derart daß sich um jedes Teilchen ein Nebelbläschen bildet. Wie Staubteilchen wirken auch die Ionen, die man in dem Gase erzeugt. Durch eine Messung der Ladung, die eine so her- gestellte Nebelwolke bei ihrem Niedersenken auf eine Metallplatte übertrug, kombiniert mit einer Zählung der in ihr enthaltenen Nebelbläschen, konnte Thomson die Ladung eines Bläschens, also die mit einem Ion ver- bundene Elektrizitätsmenge, direkt be- stimmen. Der von ihm gefundene Betrag 10— l9 Coulomb ist in der Größenordnung in guter Uebereinstimmung mit dem aus elek- trochemischen Messungen erhaltenen Wert des Elementarquantums. Die Methode ist von H. A. Wilson wesentlich dadurch ver- bessert worden, daß die schwierige Zählung I der Nebelbläschen (Wägung der gesamten Nebelmenge und Bestimmung der Masse eines Nebelteilchens aus der Fallgeschwindig- keit) vermieden und durch eine Beobachtung der Fallgeschwindigkeitsänderung in einem vertikalen elektrischen Feld ersetzt wurde. Weitere Messungen nach der Wilson sehen Methode sind in neuester Zeit von F. Ehren- haft und von R. A. Millikan ausgeführt worden. Den Angaben des ersteren, La- dungswerte gefunden zu haben, die kleiner als das Elementarquantum sind, wird von Millikan sowie von E. Regener entgegen- getreten. 3d) Die elektrische Ladung der a- Strahlteilchen. Die a- Strahlen radio- aktiver Substanzen sind als außerordentlich schnell bewegte positiv geladene Helium- atome erkannt worden, die bei den atomaren Umwandlungsprozessen von der aktiven Materie ausgeschleudert werden. Auch an ihnen ist es gelungen, die Größe der Ladung des Atoms festzustellen. Trifft ein a- Strahl- teilchen auf einen Zinkblendeschirm, so löst es auf diesem einen Lichtblitz aus. In der Nähe eines a-strahlenden radioaktiven Prä- parats zeigt ein solcher Schirm daher eine Flimmererscheinung. Von E. Regener wurde durch Zählen der Szintillationen die in der Zeiteinheit ausgesandte Zahl von ot-Teilchen eines Präparats bestimmt, gleich- zeitig an demselben Präparat im luftleeren Raum die von ihm emittierte Ladung er- mittelt. Die Kombination beider Messungen ergab als Ladung eines a-Teilchens den Be- trag von 3,2. 10~19 Coulomb. Nach einer anderen, elektrischen Methode wurde die Zählung von Rutherford und Geiger aus- geführt und für die Ladung der fast gleiche Wert 3,1.10-19 Coulomb gefunden. Das Heliumatom eines a- Strahls ist hiernach mit zwei Elementarquanten geladen, und für das Elementarquantum der Elektrizität ergibt sich als Mittel der beiden genannten Be- stimmungen der Wert 1,57. 10 ~19 Coulomb. 3e) Kathodenstrahlen. Das Elek- tron. Neues Licht für die Erkenntnis in den Beziehungen zwischen Elektrizität und Materie strahlte von der Vakuumröhre aus. Die von der negativen Elektrode einer in verdünntem Gase stattfindenden elektrischen Elektrizität 197 Entladung ausgehenden Kathodenstrahlen sind bereits seit geraumer Zeit durch ihre Eigenschaften, ganz insbesondere ihre ma- gnetische und elektrische Ablenkbarkeit, als sehr schnell bewegte, negativ geladene Teilchen erkannt worden. Die quantitative Bestimmung ihres Verhaltens im elektrischen und magnetischen Felde hat es gestattet, die spezifische Ladung - - der Teilchen recht ge- nau zu ermitteln. Sie hat im Mittel aus den neueren Messungen den Wert -'- = 1,75. 107 m , ist also rund 1800 mal größer als Gramm der größte am chemischen Atom, nämlich dem Wasserstoffatom, vorkommende Wert. Macht man für das Kathodenstrahlteilchen die naheliegendste Voraussetzung, daß es die Ladung eines einwertigen Ions, d. h. die einfache Elementarladung trägt, so folgt, daß seine Masse noch 1800 mal kleiner als diejenige des leichtesten chemischen Atoms, des Wasserstoffions, ist. Man hat diesen Teilchen, die in der Folge an vielen anderen Stehen wiedergefunden worden sind und einen ganz universellen Charakter haben, den Namen Elektronen gegeben. Elektronen werden als sogenannte ß- und (5-Strahlen bei vielen radioaktiven Prozessen von der Materie ausgesandt. Während sie als Kathodenstrahlen Geschwindigkeiten von im Mittel etwa x/5 Lichtgeschwindigkeit haben, kommen sie als ^-Strahlen fast diesem Werte selbst nahe. 4. Elektronentheorie der Materie. 4 a) Elektromagnetischer Charakter der trägen genauen W. Masse. Die sehr Kaufmannschen Messungen der spezi- fischen Ladung des Elektrons an verschieden schnellen /3-Strahlen ergaben das zunächst recht auffällige Resultat einer Abhängigkeit dieser Größe von der Geschwindigkeit des Elektrons. Da das Elementarquantum der Elektrizität als eine Naturkonstante ange- sehen werden muß, so folgte hieraus eine Veränderlichkeit, und zwar eine starke Zu- nahme der trägen Masse mit der Schnelligkeit der Bewegung. Die Theorie gab hierfür bald die Erklärung. Ein bewegtes geladenes Teilchen entspricht einem elektrischen Strom, und dieser repräsentiert wiederum einen gewissen mit der Geschwindigkeit zunehmen- den Betrag elektromagnetischer Energie. Damit ein geladenes Teilchen beschleunigt wird, ist daher eine Zufuhr von Energie not- wendig, ebenso wie Arbeit für eine Geschwin- digkeitsvermehrung eines Masseteilchens auf- gewendet werden muß. Darum erscheint die Trägheit eines Massenteilchens vergrößert, wenn es geladen ist, und zwar um einen elektromagnetische Betrag, den man als Trägheit oder Masse bezeichnet. Die theore- tische Berechnung dieser Größe auf Grundlage der Maxwellschen Theorie ergibt nun, daß dieselbe bis zu Geschwindigkeiten von der Größenordnung derjenigen der Kathoden- strahlen einen konstanten Wert besitzt, daß aber von dort an mit wachsenden Geschwin- digkeiten ihr Wert schnell zunimmt, um bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit selbst unendlich groß zu werden. Das ge- nauere Gesetz über die Art dieser Zunahme hängt ab von den Annahmen, die man über die Gestalt des bewegten Elektrons macht. Für die Annahme einer Kugelform des Elektrons (ursprüngliche Abrahamsche Theorie) ergibt sich eine etwas andere Ver- änderlichkeit der trägen Masse mit der Ge- schwindigkeit als bei der Annahme der Gestalt, welche die Relativitätstheorie für das bewegte Elektron vorschreibt. Ferner hat nach beiden Theorien die Trägheit eine ! verschiedene Veränderlichkeit, je nachdem die Beschleunigung in der Bewegungsrich- tung oder senkrecht zu derselben erfolgt. j Es ist darum eine longitudinale von einer transversalen Masse zu unterscheiden. Wenn auch die genaue Entscheidung dar- über, welche Form das bewegte Elektron hat, noch aussteht, und es genauesten Prä- zisionsmessungen noch vorbehalten bleiben muß, über die Relativitätstheorie ein defi- nitives Wort zu ermöglichen, so ist aus den vorhandenen Beobachtungen doch bereits Antwort auf folgende Frage von eminenter Wichtigkeit zu holen: Hat das Elektron über- haupt noch andere träge Masse oder ist seine gesamte Trägheit elektromagnetischen Ur- sprungs? Der nahe Anschluß der Beobach- tungen an die Theorie läßt kaum einen Zweifel mehr, daß das letztere der Fall ist. Wir haben mit allergrößter Wahrscheinlich- keit, man kann fast sagen mit Sicherheit, in den Elektronen diskrete Teilchen vor uns, deren gesamte Trägheit nur durch ihre Ladung veranlaßt wird. Ihre träge Masse ; ist eine rein durch die elektromagnetische Wirkung ihrer Elektrizität hervorgerufene Eigenschaft. Es ist kein großer Schritt mehr zu der weitreichenden Frage: Ist die Trägheit der Materie überhaupt eine rein elektroma- gnetische Erscheinung ? Eine Fülle von Tat- sachen spricht für die Bejahung dieser Frage. Ueberall, wo die Materie auf physikalische Erscheinungen von Einfluß ist, können wir die Wirkung der Elektronen bereits bemerken. Offenbar haben wir in diesen elementaren Gebilden die universellen Bausteine der Materie zu erblicken, und wir können die Identität von Elektrizität und Materie vorausahnen. Wenn wir also zuerst i be- hauptet haben, die Elektrizität sei notwendig an Materie gebunden, so geht die Elektronen- theorie der Materie einen großen Schritt 198 Elektrizität weiter und behauptet: Elektrizität ist Materie. Es besteht hiernach zwischen Aether und Materie nicht mehr ein funda- mentaler Unterschied, sondern die Materie ist Aether, freilich in einer ganz besonders modifizierten Form. Elektronen, die Bau- steine der Materie, sind singulare Punkte im elektrisch erregten Raum. Aufgabe der Forschung ist es festzustellen, wie sich die einzelnen chemischen Atome aus den Elek- tronen aufbauen. Dies ist zur Zeit noch ebenso unbekannt wie die eigentümliche Eigenschaft der Materie, die Gravitationskraft auszuüben. Nur eine Einführung besonderer neuer Hypo- thesen dürfte hier weitere Aufklärung ver- sprechen. Die nach außen ungeladen erscheinende Materie enthält außer den negativen Elek- tronen den gleichen Betrag positiver Ladung. Ueberschuß an Elektronen läßt sie in der Um- gebung als negativ geladen erscheinen, Mangel an solchen als positiv. Die interatomaren elek- trischen Felder sind es, die einer Beschleuni- gung widerstrebend die Trägheit d(_r Materie veranlassen. Ein positives chemisches Ion, so- genanntes Kation, z. B. ein Metallion, ist ein Atom, von welchem je nach seiner Wertig- keit ein, zwei, drei usw. Elektronen abge- spalten sind, ein negatives Ion wird durch ein Atom oder einen Atomkomplex gebildet, in dem ein oder mehrere Elektronen im Ueber- schuß enthalten sind. Das gleiche gilt von den Ionen leitender Gase. Positive Elementar- quanten in Freiheit als positive Elektronen sind bisher nicht beobachtet worden, sie sind stets ionenbildend an Atome oder Komplexe solcher gebunden. Dies gilt in gleicher Weise von den positiven Teilchen der Elektrolyse wie von denen, welche als Kanal-, Anoden- oder a- Strahlen auftreten. Messungen der spezifischen Ladung aus der Strahlenab- lenkung im elektrischen und magnetischen Feld haben die ersteren beiden Strahlen- arten als + geladene Gas- oder Metallatome, die a-Strahlen als -+- geladene Heliumatome erkennen lassen. 4b) Die dielektrische Polarisation. In den ungeladenen Atomen der Materie hat man die Elektronen und positiven Kerne in gewissen Gruppierungen Gleichgewichts- stellungen einnehmend zu denken. Jede Verschiebung derselben muß quasielastische elektrische Gegenkräfte hervorrufen. Wird ein wägbarer Körper einem elektrischen Feld ausgesetzt, so wirkt dieses so lange auf die geladenen Partikel verschiebend ein, bis die Gegenkraft der verschiebenden Kraft gleich geworden ist. Dies ist die Faraday- Maxwellsche Verschiebung oder Polarisa- im Dielektrikum (vgl. den Artikel „Dielektrizität"). 4c) Einfluß der Elektronen auf optische Vorgänge in der Materie. j Elektronen und positive Kerne sind, da sie J durch Kräfte in ihrer Gleichgewichtslage im Atom gehalten werden, schwingungsfähige Gebilde. Die Frequenz ihrer Eigenschwin- gungen hat die Größenordnung optischer Schwingungszahlen, und zwar ist die Frequenz der positiven Kerne diejenige von Wärme- strahlen, die Schwingungszahl der viel leich- teren Elektronen ist sehr viel größer, ent- spricht nämlich im allgemeinen den Fre- quenzen des sichtbaren und des ultravioletten Lichts. Sie ist in verschiedenen Stoffen ver- schieden groß, weil die Stärke der Bindung im Atom als von dessen Natur abhängig anzusehen ist. Die elektromagnetischen ! Kräfte in einem Lichtstrahl bringen die ge- ladenen Teilchen der Materie, in welcher [ der Strahl verläuft, zum Mitschwingen (vgl. den Artikel „Schwingungen, Erzwungene Schwingungen"). Die Folge hiervon ist eine Aenderung der Fortpflanzungsgeschwindig- keit und damit eine Brechung des Strahls, deren Stärke mit der Frequenz seiner Schwin- gungen veränderlich ist (Dispersion). Dieser I Einfluß der Materie ist von abnormer Stärke in den Resonanzgebieten, d.h. für Frequenzen 1 des Strahls, die mit einer Eigenfrequenz der Materie übereinstimmen (anomale Disper- sion und Absorption). Die schwingenden Teilchen werden als bewegte Ladungen, wie die Kathoden- und Kanalstrahlen, von einem Magnetfeld beeinflußt. Für einen Licht- strahl, der in Richtung der magnetischen Feldlinien verläuft, resultiert hieraus die von Faraday entdeckte Drehung der Polari- sation sebene, für einen senkrecht zum Feld gerichteten Strahl eine im allgemeinen allerdings kaum wahrnehmbare magne- tische Doppelbrechung der Materie. Auch diese beiden Erscheinungen sind mit der Wellenlänge des Lichtstrahls veränder- lich und nehmen einen anomalen Charakter in Resonanzgebieten an. Im Natriumdampf sind am Absorptionsstreifen Drehungen bis zu 270° und kräftige Doppelbrechung beob- achtet worden (Macalu so und Corbino, W. Voigt). Auf dem gleichen Einfluß eines Magnet- feldes auf die schwingenden Elektronen be- ruht das auch bereits von Faraday, mit den damaligen optischen Hilfsmitteln indessen vergeblich, aufgesuchte Lorentz-Zee- mansche Phänomen. Die experimen- telle Auffindung dieser Erscheinung durch Zeeman war deswegen für die Entwicke- lung'dei Elektronentheorie so hoch bedeutsam, weil hier zum ersten Male auf einem völlig neuen Wege eine quantitative Bestimmung e der spezifischen Ladung — des Licht emit- tierenden Teilchens gegeben wurde. Die Identität dieser Ladung an Vorzeichen und Elektrizität 199 Größe mit dem Kathodenstrahlwerte bewies, daß das Elektron das Zentrum der Licht- emission ist (vgl. den Artikel „Magneto- optik"). 4d) Elektrizitätsleitung. In Elek- trolyten ist die Elektrizitätsleitung nur durch die Wanderung von Ionen, d. h. von Atomen oder Atomkomplexen mit ange- lagerten oder abgespaltenen Elektronen, veranlaßt. Freie Elektronen kommen in ihnen nicht vor. Dasselbe gilt im allgemeinen von Gasen normaler und größerer Dichtig- keit. In verdünnten Gasen, mag die Dichte- erniedrigung durch Verminderung des Drucks (Vakuumröhren) oder Erhöhung der Tem- peratur (Flamme, heiße Gase) hervorgerufen werden, übernehmen freie Elektronen einen um so größeren Anteil der Gesamtleitimg, je dünner das Gas wird. In Edelgasen (Helium, Argon) ist dies bereits bei normaler Dichte in merkbarem Betrage der Fall, wie Bestimmungen der Teilchenbeweglichkeit ge- zeigt haben (vgl. den Artikel „Elektrizi- tätsleitung in Gasen"). In Metallen endlich hat man aller j Wahrscheinlichkeit nach reine Elektronen- leitung anzunehmen. In jedem Metall sind von einem je nach seiner Natur verschiedenen Bruchteil seiner Atome Elektronen als abge- spalten anzunehmen, die sich frei in den Zwischenräumen der festliegenden Atome und der mit der positiven Kestladung ver- sehenen Atomkerne bewegen. Die Zusam- menstöße, die die Elektronen bei ihrer ge- : richteten Bewegung mit den Atomen erleiden, bewirken den nach Art einer Reibung wirken- den Leitungswiderstand. Der entstehende Ueberschuß an ungerichteter Bewegung gibt sich als Stromwärme kund. An der regel- losen Wärmebewegung beteiligen sich die Atome ebensowohl als die freien Elektronen. Die( letzteren allein indessen vermitteln in- folge ihrer Bewegung den Wärmetransport durch Wärmeleitung. Deshalb sind Wärme- und Elektrizitätsleitung einander proportional: Gesetz von Wiedemann und Franz. Siehe auch den Artikel „Elektrizitätsleitung". 4e) Abgabe freier Elektrizität bei Erhitzung und Bestrahlung. Durch Erhitzung auf Weißglut, Bestrahlung mit Licht-, Kathoden-, wird die Materie Elektrizität durch Aussendung freier Elek- tronen in Form von mehr oder weniger schnellen Kathodenstrahlen angeregt. Es sind dies die glüh- und lichtelektrischen und damit verwandten Phänomene, die da- hin zu deuten sind, daß die Elektronen durch die genannten Agenzien in so lebhafte Bewegung geraten, daß ihr Verband zum Körper hinreichend gelockert wird. Aehn- dem explosiven Atom- Substanzen (vgl. die Artikel „Lichtelektrische Erschei- nungen" und „Glühelektrische Er- scheinungen"). 4f) Statische Verteilung der Elek- trizität. Influenzelektrizität von Leitern und Isolatoren. Wie die hydro- statischen Gesetze nicht dadurch geändert werden, daß man die Flüssigkeiten als aus Atomen und Molekülen aufgebaut ansieht, so ändert auch die elektronentheoretische Anschauung nichts an den aus der Vor- stellung eines Kanal- zur Röntgenstrahlen Abgabe Aussendung negativer Regeln liches geschieht bei zerfall radioaktiver Fluidums erhaltenen der Elektrostatik. Die Verteilung eines Ueberschusses oder Mangels von Elektronen muß auf einem Leiter unter dem Einfluß der gegenseitigen Abstoßungen derart sein, daß sich die gesamte überschüssige Elektrizität an der Leiteroberfläche ansammelt. Dies wurde zuerst vonFaraday in dem bekannten Käfigversuch experimentell bewiesen. Wird ein Leiter in ein elektrisches Feld gebracht, so tritt unter dem Einfluß desselben ein Strömen der Elektronen bezw. Ionen im Leiter ein, solange bis das elektrische Feld im Leiter verschwunden ist. Es findet also im Leiter in Richtung des ursprünglichen Feldes eine polare Trennung freier Elektrizi- tät statt, die auch auf das Feld außerhalb des Leiters verzerrend einwirkt. Auch auf Isolatoren, die in ein elektrisches Feld ein- geführt werden, wirkt dieses influenzierend ein. Während aber bei Leitern ein wirk- liches Strömen der geladenen Teilchen in denselben erfolgt, tritt im Dielektrikum nur eine interatomare Verschiebung des Ions und Elektrons ein. Die hierdurch bewirkte Polarisation der Materie, für welche die durch die Querschnittseinheit verschobene Elektrizitätsmenge ein Maß bildet, ist um so größer, je größer die Dielektrizitäts- konstante des Isolators ist. Ein großer Gehalt an geladenen Teilchen und eine kleine rücktreibende Direktionskraft derselben bewirken einen großen Wert dieser Material- konstante. An den Ein- und Austritts- stellen des elektrischen Feldes trägt der Isolator entgegengesetzte Flächenladungen. Während aber "beim Leiter die Trennung von + und — Elektrizität auf beliebig große Strecken stattfindet, erfolgt sie im Isolator nur auf atomare Distanzen. Bei Zerteilen des Leiters und Herausnahme der Stücke aus dem Felde erweisen sich darum die ein- zelnen Teile je nach ihrer vorherigen Lage -f oder — geladen, während im Gegensatz hierzu jedes Stück eines im Felde zerteilten und nachher aus dem Felde entfernten Iso- lators ungeladen ist (vgl. die Artikel „Elek- trisches Feld" und „Elektrische In- fluenz"). 4g) Osmotische Theorie der Ionen und Elektronen. Berührungs-, Rei- bungs-, Thermo-Elektrizität. Die An- 200 Elektrizität wendung der Vorstellungen der kinetischen Gastheorie auf die Moleküle und Ionen ge- löster Stoffe durch van t'Hoff und weiter- hin durch Nernst hat ungewöhnliche Erfolge in der Physik und Chemie der Lösungen gezeitigt. Wie die Moleküle eines Gases so üben auch die Moleküle und Ionen eines ge- lösten Stoffes infolge ihrer ungeordneten Wärmebewegung einen Druck aus, den man den osmotischen Druck nennt. Ebenso üben die kleinsten Teilchen eines festen Stoffes, der mit einem Lösungsmittel in Be- rührung ist, einen Druck aus, der sie zur Lö- sung treibt, und den man deshalb als Lö- sungsdruck oder Lösungstension be- zeichnet. Dieses Expansionsbestreben der materiellen Partikel ist es, welches die Lö- sung von Stoffen und das Streben nach Ver- dünnung in der sogenannten Diffusion her- vorruft, und der Umstand, daß an den hier- durch veranlaßten Bewegungen auch die ge- ladenen kleinsten Bestandteile der Materie, die Ionen, teilnehmen, bringt die eigentüm- liche Elektrizitätserregung hervor, die stets dann auftritt, wenn Lösungen verschiedener Konzentration oder Lösungen mit festen Körpern in Berührung sind. Die Erweiterung dieser Anschauungen auf die freien Elektronen in metallischen Leitern, d. h. die Annahme, daß auch den Elektronen ein osmotischer Druck zuzuschreiben ist, hat auch bereits auf dem Gebiete der elek- trischen Erscheinungen in Metallen be- merkenswerte Ergebnisse zu verzeichnen. Indessen gibt es hier zurzeit noch eine ganze Reihe von Dingen, die der Aufklärung große Schwierigkeiten in den Weg stellen. Hier mag nur kurz erwähnt werden, daß die Elektrizitätserregung, welche bei der Berüh- rung zweier Metalle eintritt, nach der ge- nannten Vorstellung durch den erstrebten Ausgleich der in verschiedenen Metallen ver- schieden großen Elektronendrucke hervor- gerufen wird. Der erstrebte Druckausgleich kann hierbei nur zu einem ganz kleinen Bruchteil erfolgen, weil durch das Ueber- treten der Elektronen aus dem einen Metall in das andere sogleich ein elektrisches Gegen- feld entsteht, welches einen weiteren Aus- gleich verhindert. Die Größe der sich so erklärenden kontaktelektromotori- schen Kraft zwischen zwei Metallen ist noch nicht direkt experimentell ermittelt worden. Eine auf den Oberflächen sich stets bildende dünne Wasserhaut setzt der Mes- sung große Schwierigkeiten entgegen, weil die Lösungstension der Metalle gegen die Wasser- schicht elektromotorische Kräfte von höherer Größenordnung (ca. 1 Volt gegen einige Hundertstel, die nach dem Elektroneneffekt zu erwarten sind) erzeugt. Die bisher ge- wöhnlich als Berührungsspannung oder VoltaeffektangegebenenZahlen entsprechen der Wassererregung. Es ist aber bereits fest- gestellt worden, daß diese Spannung sehr viel geringer wird, wenn die Metalloberflächen intensiv getrocknet werden. Indirekt ist die wahre Berührungsspannung der Messung zu- gänglich durch die Arbeit, welche ein durch die Berührungsstelle in der Richtung des Po- tentialgefälles hindurchgesandter elektrischer Strom leistet, und welche sich in der so- genannten Peltierwärme kundgibt. Der Abhängigkeit des Elektronendrucks von der Temperatur sind die thermoelektrischen Er- scheinungen zuzuschreiben (vgl. den Artikel „Thermoelektrizität"). Die Berührungs- spannung zwischen zwei Metallen steigt mit der Temperatur, und auch zwischen verschieden temperierten Stellen eines und desselben Me- talls besteht eine mit der Größe des Tempera- turgefälles wachsende Spannungsdifferenz. Auchdiesehat, wieLordKelvin zuerst gezeigt hat, bei Fließen eines Stromes längs eines Tem- peraturgefälles je nach der Stromrichtung eine Produktion oder Absorption von Wärme zur Folge, welche als der dem Peltierschen analoge Thomsoneffekt bekannt ist. Die Entstehung der Reibungselektri- zität ist jedenfalls auf die Berührungselek- trizität, sei es mit oder ohne Beteiligung der Wasserhaut, zurückzuführen. Die hohen, bis zur Funkenbildung führenden Spannungen, welche bei der Reibung zweier Isolatoren, etwa Glas und Seide, erreicht werden, er- klären sich durch das Auseinanderreißen der äußerst dünnen elektrischen Doppelschicht, die an der Berührungsfläche sich bildet. Wie bei dem Auseinanderziehen der Platten eines geladenen Kondensators steigt die Span- nungsdifferenz, und zwar hier so außerordent- lich stark, weil die Belegungen der Doppel- schicht zuerst molekularen Abstand haben. Die mannigfachen Einflüsse, die ein Magnet- feld auf die Strom- und Wärmeleitung in Metallen ausübt, bilden ein wichtiges Mate- rial zur Prüfung elektronentheoretischer An- schauungen, zeigen aber durch ihre vielfache Kompliziertheit an, daß die einfachen Vor- stellungen von der Rolle, welche die Elek- trizität in der Materie spielt, nicht überall ausreichen, sondern in vielen Fällen noch besonderer Modifikationen bedürfen. Das- selbe beweisen auch die oft komplizierteren Formen der optischen Erscheinungen in der Materie, wie z. B. des Zeemaneffekts, welche durch eine Annahme spezieller Koppelungen der kleinsten Teilchen ihre Erklärung zu finden scheinen. Literatur. G. Mie, Lehrbuch der Elektrizität und des Slagnetismus. Stuttgart 1910. — II. Starke, Experimentelle Elektrizitätslehre. 2. Aufl. Leipzig 1910. H. Starke. Elektrische Arbeit 201 Elektrische Arbeit. 1. Definition der elektrischen Arbeit. 2. Einheit der elektrischen Arbeit. 3. Meßmethoden für die elektrische Arbeit. Allgemeines. 4. Elektrolytische Zähler. 5. Pendelzähler. 6. Kollektormotorzähler. 7. Quecksilbermotorzähler. 8. Oszillierende Zähler. 9. Induktionszähler. 10. Strom- und Spannungs- wandler. i. Definition der elektrischen Arbeit. Unter elektrischer Arbeit hat man diejenige Größe zu verstehen, durch welche man den Energieinhalt irgendeines räumlich begrenz- ten Systems auf elektrischem Wege ver- größern oder verringern kann. Während sich also eine Energieangabe auf einen vorhandenen Zustand bezieht, wird durch eine Arbeitsangabe eine Zustandsänderung charakterisiert. Es erfolge die Zuführung der elektrischen Arbeit durch zwei Leitungen, in denen ein beliebiger elektrischer Strom fließt, während zwischen den Leitungen eine konstante Spannung E besteht; dann ist die in einem Zeitintervall zugeführte elektrische Arbeit definiert durch das Produkt aus der Span- nung E und der gesamten in diesem Zeitintervall zugeführten Elektrizitäts- menge Q. Ist auch die Stromstärke konstant, so ist die in der Zeit t zu- geführte Arbeit proportional Elt. Sind dagegen Spannung und Strom mit der Zeit veränderlich, so wird in dem kleinen Zeit- intervall dt die Arbeit eidt zugeführt und ti im Intervall von t0 bis tx die Arbeit /eidt. Darin ist e der Augenblickswert der Span- nung, i derjenige des Stromes (vgl. den Artikel „Elektrische Leistung"). 2. Einheit der elektrischen Arbeit. Die Einheit der elektrischen Arbeit wird dadurch festgelegt, daß man die Propor- tionalitätskonstante gleich 1 setzt, und die Leistung EI im elektromagnetischen Maßsystem mißt. Fließt ein Strom von 1 A bei 1 V Span- nungsabfall 1 Sek. lang, so ist die zugeführte Arbeit 1 Wattsekunde. In den meisten Fällen ist diese Einheit zu klein ; man benutzt daher häufiger 1 Watt- stunde = GO2 Wattsekunden, 1 Kilowatt- stunde = 1000 Wattstunden, 1 Megawatt- stunde = 1 Million Wattstunden. 3. Meßmethoden für die elektrische Arbeit. Zur Messung der elektrischen Arbeit bei Gleichstrom, ein- oder mehrphasigem Wechselstrom werden genau dieselben Schal- tungen angewandt, wie bei der Leistungs- messung (vgl. den Artikel „Elektrische Leistung"). Bleibt in einem Zeitintervall (*]— To) die zugeführte Leistung L unver- ändert, so erhält man die Arbeit, indem man die gemessene Leistung mit dem Zeit- intervall multipliziert A - Lfo-to) Schwankt der Wert der Leistung, so kann man z. B. durch ein Registrierinstru- ment den Verlauf der Leistungskurve auf- zeichnen. Die von t0 bis tx zugeführte Arbeit ist dann gleich dem Flächeninhalt, den die Leistungskurve ACB (Fig. 1), die Zeitachse und die begrenzenden Ordinaten in t0 und tx umschließen. Der Begriff der elektrischen Arbeit ist für die Praxis deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil nach diesen Einheiten die Abrechnung der elektrischen Zentralen mit ihren Abnehmern erfolgt. Natürlich kann in diesen Fällen die Messung nicht durch die Auswertung von Leistungsdiagrammen er- folgen, vielmehr ist dafür eine besondere Klasse von Apparaten entstanden, die Elek- trizitätszähler genannt werden. Die allgemeinen Anforderungen, die an diese Apparate gestellt werden, weichen wesentlich von denjenigen ab, die man sonst an physikalische Apparate zu stellen pflegt. Dies hat im großen und ganzen seinen Grund darin, daß die Zähler oft einer rauhen Be- handlung ausgesetzt sind. Möglichste Un- abhängigkeit von starken Schwankungen der Temperatur und der Feuchtigkeit, Un- empfindlichkeit gegen Kurzschlüsse, gegen Staub, Stöße und Erschütterungen sind der- artige Forderungen, die gestellt werden müssen. Weiter ist gute transportfähigkeit, Verschließ- barkeit und Plombierbarkeit zu verlangen. Schließlich ist eine der wichtigsten For- derungen, daß die beweglichen Teile des Zählers einer möglichst geringen Abnutzung ausgesetzt sind, so daß auch nach jahrelangem Gebrauch die Angaben des Apparates keine zu große Aenderung erfahren. Die Formel für die elektrische Arbeit enthält ebenso wie die für die elektrische Leistung das Produkt aus Strom und Spannung. Die „Wattstundenzähler" ent- halten daher, ebenso wie die Leistungszeiger zwei Stromkreise, von denen der eine — 202 Elektrische Arbeit wie ein Spannungsmesser geschaltet und Spannungskreis genannt — von der Betriebs- spannung beeinflußt wird, der andere — wie ein Strommesser geschaltet und Haupt- stromkreis genannt — vom Arbeitsstrom durchflössen wird. Die Schaltung erfolgt in der Kegel in der durch Figur 2 dargestellten Weise. Fig. 2. Zwischen A und B ist der Spannungskreis geschaltet; er besteht aus den Spannungs- spulen und einem größeren Zusatzwider- stand R. Die vom Arbeitsstrom durch- flossenen Hauptstromspulen Hx und H2, meist zwei an Zahl sind so angeordnet, daß sie, von den Abzweigpunkten A und B aus gesehen, auf der Seite des Verbrauchers liegen. Der Zähler mißt in dieser Lage die Arbeit im Verbrauchskreise zwischen den Punkten A und B; d. h. es wird die in den Hauptstrom- spulen verbrauchte Arbeit mit gemessen, dagegen diejenige im Spannungskreise nicht. Letztere wird also kostenlos von der Zentrale getragen; da der Spannungskreis dauernd angeschlossen ist, gleichgültig, ob der Ver- braucher elektrische Arbeit entnimmt oder nicht, so kann diese Arbeitsabgabe, nament- lich wenn es sich um geringe Energieabgabe in dem Verbrauchsstromkreis handelt, für die Zentrale einen merklichen Verlust be- deuten. Deswegen werden häufiger Zähler an- gewandt, die keinen Spannungskreis ent- halten; bei diesen ist vorausgesetzt, daß die Spannung konstant ist, was ja auch bei modernen Zentralen im Mittel mit genügender Genauigkeit zutrifft. Zähler ohne Spannungs- kreis messen also nur / Idt und werden daher 'J Amperestundenzählef genannt. Unter An- nahme einer konstanten Spannung, die auf dem Apparat angegeben sein muß, kann natürlich das Zählwerk so eingerichtet wer- den, daß es wiederum Wattstunden angibt. Diese Angaben gelten aber nur dann, wenn die Spannung E dauernd und unverändert den Wert hat, für welchen das Zählwerk eingerichtet ist. Arbeitet man mit einer davon abweichenden Spannung Ex, so muß man die Zählerangaben mit EX:E multipli- zieren, um den wahren Verbrauch zu er- halten. Kann man nicht nur die Spannung, sondern auch den Arbeitsstrom als konstant voraussetzen, d. h. ist die elektrische Leistung L dauernd konstant, so genügt es, die Zeit t zu messen, während welcher die Leistung abgegeben wird; die Arbeit ist dann Lt. Dementsprechend hat man sogenannte Zeit- zähler konstruiert, die da angewandt werden, wo durch einen Schalter stets dieselbe Be- lastung, z. B. eine ganz bestimmte Zahl von Lampen eingeschaltet wird. Die Zeitzähler sind im wesentlichen gewöhnliche Unruhe- uhren, die durch Betätigung des Schalters angestoßen oder angehalten werden. Natür- lich kann auch hier unter Annahme einer ganz bestimmten Leistung, die durch den Schalter im Zähler eingeschaltet wird, das Zifferblatt statt in Stunden und Minuten in Kilowattstunden geteilt sein. Die Prinzipien, die bei der Konstruktion von Zählern angewandt worden sind, sind I recht mannigfaltig ; im folgenden sollen nur diejenigen besprochen werden, die sich in praktisch ausgeführten Konstruktionen als lebensfähig erwiesen haben. Von den mannig- fachen, verschiedenartigen _ Ausführungs- formen, die diese Prinzipien bei den einzelnen Firmen erfahren haben, kann hier natürlich immer nur eine einzelne beschrieben werden. 4. Elektrolytische Zähler. Der elektro- lytische Zähler ist vom rein physikalischen Standpunkt aus der geborene Ampere- stundenzähler für Gleichstrom. Nach dem Faraday sehen Gesetz wird von einem Strom, der durch einen Elektrolyten fließt, an der Kathode Wasserstoff oder Metall ausge- schieden in einer Menge, die der durchge- flossenen Elektrizitätsmenge proportional ist. Der praktischen Ausführung eines auf diesem Gesetz beruhenden Zählers haben sich aber außerordentliche Schwierigkeiten entgegen- gestellt, und von den zahlreichen Kon- struktionen, die versucht sind, hat sich bis jetzt nur eine als lebensfähig erwiesen: die Stia-Zähler der Firma Schott & Gen. in Jena. In diesem Zähler wird als Elektrolyt eine Lösung von Jodquecksilber und Jod- kalium in Wasser benutzt; diese Lösung hat die wichtige Eigenschaft, daß ihre chemische Zusammensetzung auch in langen Zeiten keine Veränderung erfährt. Der Elektrolyt ist in einem allseitig zu- geschmolzenen Glasrohr G eingeschlossen (Fig. 3); oben besitzt das Glasrohr eine ring- förmige Erweiterung A, die mit dem als Anode dienenden Quecksilber angefüllt ist. Etwas unterhalb dieses Ringes ist die Kathode K Elektrische Arbeit 203 angeordnet, die aus einem schwach konisch geformten dünnen Iridiumblech besteht. Bei Stromdurchgang wird an der Kathode Quecksilber ausgeschieden, das abtropft und in ein zylindrisches Rohr G fällt. Das Rohr ist mit einer Teilung H versehen, an welcher Amperestunden (oder unter Voraussetzung konstanter Betriebsspannung Wattstunden) abgelesen werden. Das Anion ver- einigt sich mit dem in der ringförmi- gen Rinne befind- lichen Quecksilber und regeneriert den Elektrolyten. Zur Verringerung des Widerstandes sind Anode und Kathode dicht an- einander gerückt ; ihre ringförmige Form gewährleistet eine gleichmäßige Stromverteilung. Die Kathode liegt etwas tiefer als die iVnode, damit die bei der Elektro- lyse auftretenden Konzentrationsän- derungen des Elek- trolyten sich durch Strömung mög- lichst rasch aus- gleichen. Ein kleiner Zaun B aus vertikalen Glasstäben verhindert, daß das Quecksilber durch Erschütterungen in das Fallrohr geschleudert wird. Um das Niveau des Anodenquecksilbers, das bei der Elektrolyse aufgezehrt wird, in gleicher Höhe zu halten, ist ein Reservoir C ange- schlossen, ähnlich den Reservoiren an alten Oellampen. Nach einer gewissen Zeit ist auch das Quecksilber des Reservoirs C verbraucht; alles Quecksilber befindet sich in dem ge- teilten Fallrohr, und muß durch einen Re- visionsbeamten durch Kippen um eine hori- zontale Achse, die am oberen Ende des Zählergestelles angebracht ist, in das Reservoir zurückgeblacht werden. Durch den Elektrolyten kann man natur- gemäß nur einen verhältnismäßig kleinen Strom schicken (einige Zehntel Ampere). Für stärkere Ströme muß zur Zelle ein Nebenschlußwiderstand gelegt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Widerstand des Elektrolyten stark mit der Temperatur abnimmt; um diese Eigenschaft zu kompen- sieren, wird ihm ein Nickelwiderstand L vorgeschaltet, der seinen Widerstand bei Fig. 3. steigender Temperatur in entgegengesetztem Sinne ändert. Bei den für die Praxis bestimmten Zählern wird der Nebenschlußwiderstand so groß gewählt, daß das Fallrohr verhältnis- mäßig langsam volläuft, damit das Kippen im Jahre nur wenigemal erforderlich wird. Demgegenüber ist von der Firma Schott ein Zähler in den Handel gebracht, der vornehmlich für Laboratorien bestimmt ist- in demselben sind mehrere Elektroden parallel geschaltet, so daß einige Ampere direkt durch die Zersetzungszelle fließen können und das Fallrohr verhältnismäßig rasch volläuft, und auf diese Weise in kurzer Zeit eine ge- naue Messung ermöglicht wird. Der Hauptvorzug der Stiazähler besteht darin, daß bewegliche Teile, die der Ab- nutzung unterworfen sind, fehlen, und daß daher bei sachgemäßer Anwendung die Eichung keiner Aenderung mit der Zeit unterliegt. Die erste Eichung ist etwas mühsam und zeitraubend; zur Kontrolle der Richtigkeit wird es im allgemeinen ge- nügen, sich davon zu überzeugen, daß die Widerstände unverändert geblieben sind. Gefährlich werden starke Ueberlastung und heftige Kurzschlüsse durch den Zähler. Zwischen dem Widerstand S des Nebenschlusses, dem Widerstand r des die Zersetzungszelle enthaltenden abgezweigten Kreises und dem in Gramm ausgedrückten Quecksilberinhalt G des bis zum obersten Skalenteilstriche gefüllten Meßrohres besteht die Beziehung G = 10i)0-3,726^^für kWstzähler -k w . r i+; und G = 3,726 "ff für Astzähler. Darin bedeutet A die Zahl der Kilowattstunden. a die Zahl der Amperestunden, welche der oberste Skalenstrich angibt. E die Betriebsspannung, die bei kWstzählern auf dem Apparat vermerkt ist. 5. Pendelzähler. Die Pendelzähler ge- hören zu den ältesten Zählern, die konstruiert und in den Handel gebracht sind; sie sind von der Firma H. Aron in Charlottenburg zuerst in einer für die Praxis brauchbaren Form konstruiert und stetig vervollkommnet worden. Der Zähler in seiner einfachsten Form ist ein Amperestundenzähler für Gleich- strom; er besteht aus einer guten Pendeluhr (Regulator), an deren Pendel ein Dauermagnet mit vertikaler Achslage befestigt ist. Unter- halb des Magneten befindet sich eine Spule, durch welche der Arbeitsstrom fließt. Da- durch erfährt die Schwingungsdauer des Pendels je nach Lage der Stromrichtung 204 Elektrische Arbeit der Spule eine Beschleunigung oder Ver- zögerung; die Uhr wird um einen gewissen Betrag vor- oder nachgehen, aus dem auf die Zahl der Amperestunden geschlossen werden kann. Bei genauen Messungen ist es vorteilhafter, das Pendel zu beschleunigen als zu verzögern. Zur Eichung bestimmt man nach den üblichen Methoden die Schwin- gungsdauer des Pendels in Abhängigkeit von der Stromstärke, was mit großer Ge- nauigkeit ausgeführt werden kann. Die Zunahme der Zahl der Pendelschwingungen pro Minute (5n ist nicht genau proportional der Stromstärke in der Spule; sie gehorcht vielmehr dem Gesetz (5n= aJ — bJ2 Es müssen daher die Messungen für mehrere Stromstärken gemacht werden, um die Konstanten a und b berechnen zu können. Diese ursprüngliche Ausführungsform der Aronzähler ist für die Anforderungen, die heutzutage im praktischen Betriebe gestellt werden, gänzlich unzulänglich, kann aber im Laboratoriumunter Umständen bessere Dienste leisten, als die modernen für den Verkehr bestimmten Formen. Ersetzt man den Dauermagneten am Pendel durch eine Spule mit vertikaler Achse, die unter Vorschaltung eines ge- eigneten Widerstandes an die Betriebs- spannung angeschlossen wird, so bildet diese Spule in Verbindung mit der, parallel dazu, darunter liegenden Hauptstromspule ein Dynamometer und die Gangänderung der Uhr gibt nicht mein Amperestunden, sondern Wattstunden an. Aron führt einen derartigen Zähler aus, der als Kontroll- oder Eichapparat vielfach Verwendung findet. In diesem Apparate (Fig. 4) sind zwei der- artig ausgerüstete, einander gleiche Uhren nebeneinander aufgehängt. Die Spannungs- spulen der beiden Uhren sind hintereinander geschaltet, ebenso die beiden Hauptstrom- spulen. Während aber die Spannungsspulen die gleiche Windungsrichtung haben, sind die Windungsrichtungen der Hauptstrom- spulen einander entgegengerichtet. Setzt man konstante Spannung E voraus, so geht die eine Uhr vor um einen Betrag, der pro- portional aJ— bJ2 ist, die andere nach um einen Betrag, den man erhält, wenn man in der letzten Formel J durch — J ersetzt, d. h. — aJ— bJ2. Die beiden Uhren zeigen danach eine Gang- differenz gleich der Differenz dieser beiden Ausdrücke, d. i. 2aJ oder die Gangdifferenz der Uhren wird proportional der Stromstärke, das quadra- tische Glied ist verschwunden. Aendert sich auch die Spannung, so wird die Gang- differenz, wie leicht ersichtlich, proportional EJt; der Zähler ist ein Wattstundenzähler, dessen Konstante experimentell ermittelt werden muß. Sie gibt an, wieviel Watt- stunden 1 Minute Gangdifferenz entsprechen. Voraussetzung ist dabei, daß die strom- losen Zähler genau gleichen Gang haben. Dies muß an Ort und Stelle stets erst sorg- fältig geprüft werden, zumal die langen Pendel während des Transportes ausgehängt werden müssen. Da der Zähler auf dem dynamometrischen Prinzip beruht, ist er auch geeignet, die elektrische Arbeit eines Wechselstromes zu messen. Natürlich müssen die bei Wechsel- strommessungen mit Dynamometern auf- tretenden Fehlerquellen vermieden werden (s. den Artikel „Elektrische Leistung"). Es seien nun kurz diejenigen Abände- rungen des Apparates besprochen, die ge- troffen worden sind, um ihn für die heutige Praxis brauchbar zu machen. a) Es werden die beiden Zifferblätter Elektrische Arbeit 205 der Uhren weggelassen. Statt dessen läßt man das letzte Rad Ax der einen Uhr und das entsprechende A2 der anderen Uhr auf ein senkrecht dazu gestelltes Rad B arbei- ten, das als Planetenrad (Fig. 5) bezeichnet gleicher A2 mit wird. Drehen sich At und Geschwindigkeit in ent- gegengesetzter Richtung, so rollt B gleichmäßig auf beiden Rädern ab und die Achse des Rades verändert nicht ihre Lage. Wird jetzt aber Ax beschleunigt, A2 verzögert, so fängt sich die Achse von B an zu drehen mit einer Geschwin- digkeit, die der Differenz der Geschwindigkeiten von Ai und Bx proportional ist. Da nun für den Zähler nur die Differenz der Zeiger- stellung der beiden Uhr- werke in Frage kommt, so genügt es, die xVchse von B auf ein Zählwerk arbeiten zu lassen; das Zählwerk zeigt dann bei geeigneter Wahl der Raddurchmesser und Zahnzahlen, und geeigneter Teilung des Zifferblattes direkt Wattstunden oder Kilowattstunden an. ß) Die Uhren werden nicht mehr von Hand, sondern automatisch durch die zur Verfügung stellende Energiequelle aufgezogen. Da letztere dauernd angeschlossen ist, so können die Uhrwerke mit ganz kurzen Federn I Spannungsspulen umgedreht, so daß nun- mehr das beschleunigte Pendel verzögert, das verzögerte beschleunigt wird. Dadurch wird die Drehrichtung des Planetenrades, und damit des Zählwerks nochmals umge- dreht, so daß die durch die elektrodyna- l^m %<(^ Aufzug mit ganz gerüstet werden. Der der Minute etwa 4 mal. y) Die Langpendeluhren der Hand angestoßen werden erfolgt aus- in müssen mit Bleibt nun ein Pendel aus irgendeinem Grunde (z. B. infolge von einem Kurzschluß) stehen, so macht der Zähler ganz falsche Angaben. Des- wegen sind die neuen Zähler mit kurzen Pendeln ausgerüstet, die auch während des Transportes nicht ausgehängt zu werden brauchen. Das Echappement der Uhren ist derart ausgebildet, daß die Pendel von selbst in Schwingungen geraten, sobald die Aufzugsfedern gespannt werden. 6) Die Uhren müssen bei unbelastetem Zähler auf genau gleichen Gang reguliert sein; dies ist bei den kurzen Pendeln auf die Dauer noch viel weniger zu erreichen als bei den langen. Es ist deshalb eine Kompensationsvorrichtung vorgesehen, deren Wirksamkeit sich kurz folgendermaßen cha- rakterisieren läßt: in Abständen von je 10 Min. wird die Drehrichtung des Zählwerkes auf rein mechanischem Wege umgesteuert, so daß dadurch ein etwaiger Leerlauf rück- gängig gemacht wird. Damit nun nicht auch bei belastetem Zähler der Zeiger des Zähl- werks nur vor- und rückwärts geht, wird gleichzeitig die Stromrichtung in beiden Fi?. 5. mischen Kräfte hervorgerufenen Bewe- gungen des Zählwerks dauernd in derselben Richtung erfolgen; aber der auf rein mechanischen Ursachen beruhende Leerlauf nr Fig. 6. des Zählers ist beseitigt. Fig. 6 zeigt die Gesamtansicht eines Kurzpendelzählers, von dem die Schutzkappe abgenommen ist. 206 Elektrische Arbeit Der Aronzähler ist, wie schon erwähnt, sowohl für Gleichstrom als auch für Wechsel- strom brauchbar. Da aber die Bedingungen, die an ein einwandfreies Dynamometer für Wechselstrom zu stellen sind (s. elektrische Leistung), liier schwer zu erfüllen sind, so sollte es Regel sein, daß die für Wechselstrom bestimmten Zähler auch mit Wechselstrom geprüft werden müssen. Die häufig ausgesprochene Annahme, daß ein mit Gleichstrom geeichter Aronzähler auch bei Verwendung mit Wechselstrom unbedingt richtig zeigen müsse, ist irrig. Der Aronzähler ist vortrefflich geeignet, um auch die elektrische Arbeit in Drei- leiternetzen oder Drehstromsystemen zu messen. Gemäß den für diese Stromsysteme geltenden Formeln für die Leistungsmessung genügt es, je eine der Hauptstromspulen in die Außenleiter und die Spannungsspulen zwischen je einen Außenleiter und den Mittel- leiter zu legen. 6. Kollektormotorzähler. 6 a. Watt- stundenzähler. Diese Zähler beruhen auf dem dynamometrischen Prinzip und sind für Gleichstrom bestimmt. Sie können zwar auch mit Wechselstrom benutzt werden; tatsächlich kommt aber diese Verwendung heutzutage nicht mehr in Frage, weil man für Wechselstrom in den Induktionszählern (s. Abschnitt 9) zuverlässigere Apparate be- sitzt. Die Kollektorwattstundenzähler bestehen aus einem eisenlosen gebremsten Gleich- strommotor (Fig. 7). Die feststehenden Fig. 7. Feldwickelungen des Motors werden durch zwei Hauptspulen HH gebildet. Diese er- zeugen ein dem Hauptstrom proportionales magnetisches Feld. In dem Felde dreht sich ein eisenloser Anker A, der zusammen mit einem Vorschaltwiderstand RR den Spannungskreis des Zählers bildet. Anker und Hauptstromspulen bilden also ein Dy- namometer; die Tourenzahl des Ankers ist infolge von dem vorgeschalteten Widerstand so gering, daß die elektromotorische Gegen- kraft, welche im Anker durch seine Drehung im magnetischen Felde der Hauptstromspulen auftreten muß, gegen die Betriebsspannung E verschwindend klein ist. Daher ist der Spannungsstrom unabhängig von der Anker- geschwincligkeit proportional der Spannung E und das den Anker antreibende Dreh- moment proportional der Leistung ET. An der Ankerachse ist eine kreisrunde Kupfer- oder Aluminiumscheibe S befestigt, die sich zwischen den Polen eines feststehen- den Dauermagneten M dreht. Dadurch werden in der Scheibe Ströme induziert, die bremsend wirken; das Drehmoment der bremsenden Kräfte ist proportional der Ge- schwindigkeit der Scheibe. Die Bewegung des Ankers erfolgt mit einer konstanten Geschwindigkeit, wenn das bremsende Drehmoment gleich dem an- treibenden ist, d. h. wenn die Drehgeschwin- digkeit proportional der Leistung EI ist, oder die Zahl der Umdrehungen proportional der elektrischen Arbeit Elt. Man hat also noch an der Achse einen Tourenzähler anzu- bringen, der bei geeigneter Uebersetzung der Räder an einem Zifferblatt die Arbeit in Wst oder kWst anzeigt. Die in der Bremsscheibe bei Lauf des Ankers erzeugten Ströme sind von der Temperatur abhängig; denn nur die in der Scheibe erzeugte elektromotorische Kraft ist proportional der Geschwindigkeit-; da aber der Widerstand reiner Metalle mit steigender Temperatur um 0,4 % pro Grad wächst, so nehmen die durch Induktion erzeugten Ströme um denselben Betrag pro Grad Temperaturdifferenz ab und ent- sprechend der daraus sich ergebenden Ab- nahme des Bremsmomentes, würde die Ge- schwindigkeit um etwa 0,4 % pro Grad wach- sen. Um diesen Fehler zu kompensieren, wird der Vorschaltwiderstand RR nicht wie bei Spannungsmessern aus Manganin, son- dern aus Reinnickeldraht hergestellt, der ebenfalls einen großen Temperaturkoeffizienten des Widerstandes besitzt. Das hat zur Folge, daß bei konstanter Leistung der äußeren Belastung und steigender Tempe- ratur der Spannungsstrom abnimmt und damit auch das antreibende Drehmoment, ebenso wie vorher das bremsende. Es kann also auf diese Weise der Einfluß der Tem- peratur genügend kompensiert werden. In den bisherigen Betrachtungen ist auf einen wichtigen Faktor keine Rücksicht genommen, das ist die Reibung. Sie tritt auf als Luft- und Lagerreibung, ferner als Reibung der Bürsten am Kollektor und als Zählwerksreibung und fügt ein nicht zu vernachlässigendes bremsendes Drehmo- ment hinzu, welches die Proportionalität der Geschwindigkeit mit der Leistung stört. Elektrische Arbeit 207 Man kompensiert die Reibung, indem man in den Spanmingskreis eine feststehende Spule K (Fig. 7) einschaltet, welche die magne- tische Wirkung der Hauptstromspule ver- stärkt. Durch Nähern oder Entfernen dieser sogenannten Kompensationsspule kann die Größe des zusätzlichen Drehmomentes auf den gewünschten Betrag gebracht werden. Ist die Betriebsspannung konstant, so ist auch das zusätzliche Drehmoment unver- änderlich, während das Drehmoment der Reibung mit der Geschwindigkeit veränder- lich ist. Die Reibungskompensation ist daher nicht vollkommen und die Folge davon ist daß die Abweichungen des Zählers von der Richtigkeit sich etwas mit wachsender Hauptstromstärke ändern. Natürlich muß man darauf bedacht sein, schon durch die Konstruktion die Reibung möglichst gering zu machen; deshalb läßt man die Drehachse auf Steinen (Saphir) laufen oder legt zwischen Drehachse und Stein eine kleine Stahlkugel. Die Stahlspitze der Achse ist meist von einer kleinen Oel- kammer umgeben. Es kommt sehr auf gute Beschaffenheit des Steines an; um ihn und die Stahlspitze zu schonen, muß der Anker während des Transportes von dem Stein abgehoben werden. Hierfür ist eine be- sondere Arretiervorrichtung vorgesehen. Die Bürstenreibung wird dadurch ver- kleinert, daß man dem Kollektor einen kleinen Durchmesser gibt, bei modernen Konstruktionen 2 bis 3 mm. Das hat zur Folge, daß der Kollektor nur verhältnis- mäßig wenig Lamellen haben kann; dem- entsprechend muß die Wicklung des Ankers gewählt werden. Die Bürsten liegen leicht federnd an; zuweilen bestehen sie aus leichten federnden Metallstreifen, zuweilen wird eine leichte Spiralfeder aus Stahl hinzugefügt. Um dauernd einen zuverlässigen Kontakt an den Bürsten zu erzielen, werden in der Regel Lamellen und Bürsten aus Silber oder Gold hergestellt. Der Kollektor ist der empfindlichste Teil des Zählers, dessen Zustand am ehesten zu Störungen Veran- lassung gibt; am gefährlichsten ist ein Ein- fressen der Bürsten in die Lamellen und die Bildung wenn auch winziger Fünkchen am Kollektor. Manche Firmen versehen das Zählergehäuse mit einer kleinen Haube, die besonders abgenommen werden kann, und durch welche der Kollektor zugänglich wird. Durch vorsichtiges Putzen mit Pariser Rot kann ein angegriffener Kollektor meist wieder in einen tadelfreien Zustand gebracht werden. Auf sorgfältige Konstruktion des Zähl- werks ist sehr großer Wert zu legen. Klem- mungen müssen ausgeschlossen sein, weil sonst der Zähler dadurch bis zum Still- stand gebremst werden kann. Tritt eine Spannungssteigerung ein oder hängt der Apparat an einer Wand, die Erschütterungen ausgesetzt ist, so kann es vorkommen, daß die Kompensationsspule den Anker, auch wenn die Hauptstromspule stromlos ist, in Bewegung setzt, oder, wie man sagt, der Leerlauf eintritt. Um dies zu vermeiden, ist auf der Bremsscheibe ein aus Draht gebogenes eisernes Häkchen be- festigt, das von dem Dauermagneten an- gezogen wird und imstande ist, den Anker bei sehr langsamer Drehung in einer Lage festzuhalten. Kompensationsvorrichtung und Leerlauf hemmung pflegen so eingestellt zu werden, daß der Zähler bei mindestens 1 %. der Vollbelastung sicher anläuft, daß aber bei mäßigen Erschütterungen ein Leerlauf ausgeschlossen ist. Das Drehmoment der Reibung ist eine im Laufe der Zeit in der Regel allmählich zunehmende Grüße; es muß daher klein sein gegenüber dem antreibenden Dreh- moment, damit der Lauf des Zählers durch die wachsende Reibung nicht zu stark ver- ändert wird. Man kann im großen und ganzen sagen, daß das antreibende Drehmoment bei Vollbelastung nicht unter 6 g cm sinken sollte. Von den Fehlerquellen, denen Dynamo- meter ausgesetzt zu sein pflegen, kommt, da es sich um Gleichstrommessungen han- delt, nur die Wirkung fremder magnetischer Felder in Betracht. Es gibt Typen, bei denen, namentlich wenn es sich um Apparate für kleine Stromstärken handelt, schon das Erdfeld genügt, um je nach der Richtung, in welcher es wirkt, die Zählerangabe bei halber Last etwa um 1 % zu ändern. Man muß daher bei der Montage der Zähler sorgfältig auf die Umgebung achten. Fremde Starkstrom- leitungen, auch in der Nähe des Apparates befindliche eiserne Träger können die An- gaben des Apparates erheblich beeinflussen. Bei Zählern für große Stromstärken muß die Lage der Hauptstromzuleitungen für die Eichung genau vorgeschrieben sein. Von der Einstellung der Kompensations- spule und Leerlaufshemmung ist schon die Rede gewesen. Die Geschwindigkeit des Zählerankers bei Vollast wird dadurch auf den vorgeschrieben Wert gebracht, daß man die Pole des Dauermagneten der Ankerachse nähert oder von ihr entfernt. Das Nähern hat einen schnelleren Gang, das Entfernen eine Verlangsamung der Anker- geschwindigkeit zur Folge. 6b. Magnetmotorzähler. Magnet- motorzähler sind Amperestundenzähler für Gleichstrom. Der Anker des Motors dreht sich zwischen den Polen eines Dauerma- gneten. Seine Bürsten sind mit den Po- tentialklemmen eines Widerstandes verbun- 208 Elektrische Arbeit den, der in den Arbeitsstromkreis einge- schaltet ist. Der Anker ist in der ursprüng- lichen Form des Zählers nicht gebremst; sieht man zunächst auch von der Reibung ab, so wird seine Geschwindigkeit so lange gesteigert, bis die in ihm durch Induktion erzeugte gegenelektromotorische Kraft dem Potentialabfall am Widerstände gleich ist. Der Anker leistet dann keine Arbeit und läuft stromlos; seine Geschwindigkeit ist proportional dem Arbeitsstrom, seine Dreh- zahl proportional den verbrauchten Ampere- stunden. Diese Arbeitsweise erfährt eine Modifikation durch die nicht zu vernach- lässigende Reibung (Luft, Lager, Bürsten, Zählwerk), Durch die Reibung wird die Geschwindigkeit verringert, und zwar ist, da sie auf die Dauer nicht konstant erhalten werden kann, der Geschwindigkeitsnach- laß mit der Zeit veränderlich. Man ist daher genötigt, wiederum eine elektromagnetische Bremsung hinzuzufügen. Dadurch wird aber die Arbeitsweise des Zählers wesentlich verändert. Die indu- zierte gegenelektromotorische Kraft wird verhältnismäßig klein, und der Zähler ar- beitet nunmehr im wesentlichen ebenso wie der vorher unter 6 a beschriebene Watt- stundenzähler; nur mit dem Unterschied, daß bei den Magnetmotorzählern der Anker- strom dem Arbeitsstrom proportional ist, während der Spannungskreis ganz fehlt. Der wunde Punkt dieser Konstruktion liegt darin, daß der Ankerkreis einen verhält- nismäßig kleinen Widerstand besitzt, und daß die Spannung an seinen Polen in der Regel nur Bruchteile eines Volt beträgt. Dadurch machen sich Widerstandsänderungen am Kollektor viel stärker geltend als bei den Wattstundenzählern, bei denen der Ankerkreis durch eine hohe Spannung er- regtwird. Trotz sorgfältigster Konstruktionen kommt es daher häufiger vor, daß der Gang des Zählers durch Beschädigung des Kol- lektors unregelmäßig wird. Es sind zahlreiche Versuche gemacht worden, um den erwähnten Uebelstand zu beseitigen; dazu gehört in erster Linie eine von der AEG ausgeführte Konstruktion (Fig. 8), bei welcher die Bürsten BBt um eine horizontale Achse D drehbar angeordnet sind, so daß sie je nach Lage des so zustande kommenden Hebels an verschiedenen Stellen des Kollektors K anliegen. Um den Hebel in einer bestimmten Lage festzuhalten, trägt einer seiner Arme eine vor den Anker haltete Spule S, die sich im Streufeld Dauermagneten M befindet. Dadurch ^ird je nach Größe des Ankerstromes eine i?elnde Kraft auf die Spule ausgeübt und die Lage der Bürsten bestimmt. Um Reibung, die sich vornehmlich bei kleinen Lasten geltend macht, zu kompen- sieren, ist eine Einrichtung getroffen, die auf folgender Ueberlegung beruht: Dreht man bei einem normalen Gleichstrommotor die Bürsten aus ihrer normalen Lage heraus, so wird dadurch bei unveränderter Anker- spannung die Tourenzahl des Ankers erhöht. Bei dem Magnetmotorzähler der AEG wird dieselbe Erscheinung dadurch hervorgerufen, daß man die Bürsten ohne Drehung längs Fig. 8. der Ankerachse verschiebt, aber den Kol- lektorlamellen eine spiralige Form gibt. Bei sein* kleinen Strombelastungen stellen sich die Bürsten so ein, daß sie an die spiralig geformten Stellen des Kollektors gelangen, so daß dadurch die Ankergeschwindigkeit erhöht wird. 7. Quecksilbermotorzähler. Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß bei Motorzählern der Kollektor bei längerem Betrieb leicht die Veranlassung von er- heblichen Störungen werden kann. Daher sind die Bestrebungen verständlich, die Anwendung des Kollektors zu vermeiden. Ein Weg, dies zu erreichen, besteht darin, die Stromzuführung zum drehenden System durch Quecksilber zu bewirken. Der Anker eines solchen Zählers besteht aus einer Kupferscheibe, die in einer allseitig ge- schlossenen, mit Quecksilber gefüllten Dose schwimmt (Fig. 9). Die Scheibe ist emailliert; nur der Teil um den Mittelpunkt herum und der Rand der Scheibe sind von dem Emaillebelag freigelassen und amalgamiert, so daß hier der Elektrische Arbeit 209 Strom ein- und austreten kann. Dement- sprechend erfolgen die Stromzuführungen des Arbeitsstromes im Mittelpunkte K2 und an einer Stelle Kx des Randes der Dose. Symmetrisch zur Drehachse der Scheibe sind zwei Dauermagnete MM angebracht, deren Pole P^aPsPi die Dose so umfassen, daß sich die Scheibe zwischen den Polen hindurchbewegt. Die Pole PiP2 des einen also der Antriebsmagnet derjenige, der durch die Hilfsspule verstärkt wird, so erhält man dadurch ein mit der Stromstärke wachsendes passendes Zusatzmoment zur Kompensation der Reibung. Wegen des Auftriebes der schwimmenden Scheibe ist die Lagerreibung außerordentlich klein; die Zähler haben daher, namentlich, wenn die eben besprochene Kompensation Magnetes liegen in der Richtung der Ein- angebracht ist, die vorteilhafte Eigenschaft, daß sie schon bei sehr kleinen Stromstärken anlaufen. Ein weiterer Vorzug besteht darin, daß der Eigenverbrauch im Apparat sehr gering ist. Der Spannungsabfall im Zähler beträgt bei voller Stromstärke nur einige Zehntel Volt. Diesen Vorzügen steht ein Nachteil gegenüber, darin bestehend, daß zwar das antreibende Moment von der Temperatur nicht abhängig ist, wohl aber das Bremsmoment, und zwar aus denselben Gründen wie bei den Kollektorzählern. Da- her nimmt mit wachsender Temperatur die Tourenzahl des Ankers zu. Dies trifft aber nur für Zähler bis zu etwa 5 Ampere zu, bei denen der gesamte Arbeitsstrom die Scheibe durchfließt. Zähler für große Stromstärken erhalten einen Nebenschluß (s.Fig.9) aus Temperatur- koeffizientenfreiem Material. Bei den Zählern mit Nebenschluß nimmt daher auch das antreibende Drehmoment mit wach- sender Temperatur ab, und die Zählerangaben werden nahezu unabhängig von der Tem- peratur. Einige Schwierigkeiten beim Aufbau und Gebrauch bereitet das Quecksilber. Vor Fig. 9. tritts- und Austrittsstelle des Arbeitsstromes, so daß letzterer zwischen den Polen des Magnetes hindurchfließt. Hierdurch kommt j allem ist darauf zu achten, daß keinerlei ein die Stärke des Arbeitsstromes antreiben- des Drehmoment zustande. Andererseits erfährt die Scheibe bei der Bewegung, genau so, wie bei den vorher besprochenen Motor- zählern eine Bremsung durch die Wirbel- ströme, die durch beide Dauermagnete in- duziert werden. Die Umdrehungszahl ist daher proportional der Zahl der durch die Scheibe geflossenen Elektrizitätsmenge; der Zähler gehört zur Klasse der Amperestunden- zähler. Es ist noch die Flüssigkeitsreibung des Quecksilbers zu berücksichtigen. Macht man Arbeitsmoment und Bremsmoment sehr groß, so kann die Flüssigkeitsreibung vernach- lässigt werden. Besser ist es, sie zu kompen- sieren. Dies kann auf folgendem Wege ge- ! ist ein dynamo metrisch wirkender Zähler schehen. Man schickt den Arbeitsstrom I in den Handel gebracht worden, der wie Luftbläschen in die Dose eindringen und sich etwa unter die Scheibe setzen. Anderer- seits müssen Vorrichtungen vorhanden sein, um die Dose während des Transportes queck- silberdicht abzuschließen. Diese Vorrich- tungen werden meist so ausgeführt, daß man den Zähler von seinem Standort nicht abschrauben kann, ohne zuvor den Anker zu arretieren. Die Arretiervorrichtung schließt gleichzeitig durch eine Lederdichtung die Quecksilberdose. Quecksilbermotorzähler findet man vor- nehmlich in Gegenden mit feuchtem Klima, wo Kollektoren erfahrungsgemäß ganz be- sonders stark leiden. 8. Oszillierende Zähler. Von der AEG durch eine Hilfsspule V, welche so ge- schaltet ist, daß dadurch die Pole des einen Dauermagneten verstärkt, die des anderen um nahezu denselben Betrag geschwächt werden. Die Bremsung erfährt daher prak- tisch keine Aenderung, wohl aber das An- triebsmoment, da dies nur von einem der ein Motorwattstundenzähler aufgebaut ist, nur mit dem Unterschied, daß der Anker statt sich in einer Richtung zu drehen, zwi- schen zwei Anschlägen hin- und herpendelt. Auf diese Weise ist der Kollektor entbehrlich, die Stromzuführungen zum Anker erfolgen durch biegsame Bänder. Die Anschläge beiden Dauermagneten verursacht wird. Ist betätigen zwei Relais, durch welche die Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 14 210 Elektrische Arbeit Stromrichtung in der Ankerspule umgedreht wird. Die Schaltung geht aus Figur 10 her- vor. Die feststehenden Feldspulen F werden vom Betriebsstrom durchflössen. Der Span- nungskreis, beginnend am Pol Z , besteht aus der Hilfsspule H, welche wie beim ge- Fig. 10. wohnlichen Motorwattstundenzähler zur Kom- pensation der Reibung dient, den feststehen- den Relaismagneten \JiTJ2, zwischen denen zwei große Widerstände WjW2 liegen und dem Vorschaltwiderstand W; in + Z endet der Spannungskreis. Die oszillierende Spannungsspule D, auf welche die Hauptstromspulen F wirken, zweigt zwischen den Widerständen Wx und W2 durch biegsame Bänder ab. Das andere Ende der Spule D trägt einen Arm C3, der zwischen den Kontakten Cx und C2 hin und her pendelt. Gleichzeitig ist dasselbe Spulenende mit dem Anker CG der beiden Relais verbunden; C6 legt sich gegen die Kontakte C4 oder C5, die mit den Mitten der Relais verbunden sind. Der Widerstand von D ist erheblich kleiner, als der von W4 + V1 oder W2 + U2. Liegt also C6 an C4, so wird die untere Hälfte von Ux und Wx durch D überbrückt. Da U2 ganz, U4 nur halb erregt ist, so legt sich C6 um so fester an C4. Der Anker beginnt sich durch die Wechselwirkung zwischen F und D zu drehen, bis der Arm C3 an C2 schlägt und dadurch die Relaisspule U2 und den Widerstand W, kurz schließt. Die Folge davon ist, daß nunmehr V1 überwiegt und der Relaismagnet C6 nach C5 hinüberkippt. Ist dies geschehen, so ist dadurch gleich- zeitig Ux voll erregt und die Stromrichtung in D umgekehrt. Durch die Umkehr der auf den Anker wirkenden Kraftrichtung wird C3 von C2 abgehoben, und der Anker bewegt sich in entgegengesetzter Richtung, bis C3 an Cx stößt usf. Während beim gewöhnlichen Motorzähler die zu messende elektrische Arbeit der Zahl der Umdrehungen proportional ist, ist sie bei diesen Zählern der Zahl der Os- zillationen proportional. Das Zählwerk wird daher durch ein Rad angetrieben, welches durch einen am Relaisanker C6 sitzenden Haken bei jeder Pendelung um einen Zahn vorwärts geschoben wird. Diese Anordnung hat den weiteren Vor- teil, daß die zur Bewegung des Zählwerks erforderliche Arbeit nicht vom Zähleranker, sondern von den Relaismagneten aufge- bracht wird. Durch die Kontakte CiCadCg werden immer nur Teile des Spannungs- kreises kurz geschlossen, nie wird dabei ein Stromkreis vollständig ausgeschaltet. Dadurch wird erreicht, daß die Funken- bildung an den Kontakten möglichst klein gemacht wird. Auf die Ausbildung und Reinhaltung der Kontakte ist die größte Sorgfalt zu verwenden. 9. Induktionszähler. Induktionszähler sind Motorzähler, die nur zur Messung von Wechsel st romarbeit brauchbar sind. Sie sind dadurch ausgezeichnet, daß die im Anker fließenden Ströme durch gegen- seitige Induktion mit feststehenden Spulen zustande kommen; der Anker wird also bei Verwendung von Gleichstrom stromlos blei- ben, ein Drehmoment könnte in diesem Fall nicht auftreten. Der Vorteil gegenüber den Gleichstrommotorzählern besteht darin, daß der Anker keine Stromzuführungen nötig hat, daß also der empfindlichste Teil des Gleichstromzählers, der Kollektor, weg- fällt, daß der Anker keine besondere Wicke- lung braucht, sondern nur aus einer Metall- scheibe oder einem Metallzylinder besteht. Das hat wieder zur Folge, daß das Anker- gewicht sehr klein gemacht werden kann, so klein, daß eine Arretierung während des Transportes in der Regel entbehrlich ist. Die Lagerreibung wird infolge des geringen Ankergewichtes so herabgesetzt, daß sie als klein gegen die Luft- und Zählwerks- reibung angesehen werden kann. Diesen wesentlichen Vorzügen steht gegen- über, daß die Angaben von der Frequenz des Wechselstromes abhängig sein müssen, da sich die Stärke der induzierten Ströme im allgemeinen mit der Frequenz ändert. Sache des Konstrukteurs ist es, die Abmessungen und Wickelungsdaten so zu wählen, daß die Abhängigkeit der Zählerangaben von der Frequenz in gewissen Bereichen mög- lichst klein wird. Damit ist den Anforde- rungen, welche die Praxis stellt, vollständig Genüge getan. Denn in der Praxis wird fast ausschließlich mit konstanten oder nahezu konstanten Frequenzen gearbeitet. Die Apparate werden nun so konstruiert, daß sie bei der normalen Frequenz gegen die Elektrische Arbeit 211 unvermeidlichen Frequenzschwankungen von einigen Prozenten nahezu unempfindlich sind. Die Induktionszähler benutzen ausschließ- lich das von Ferraris entdeckte Drehfeld- prinzip (vgl. den Artikel „Elektrische Leistung"), und zwar in folgender Form. Eine drehbare Kupferscheibe wird von den magnetischen Feldern zweier Spulen oder zweier Spulensysteme durchsetzt, deren Achsen zur Kupferscheibe senkrecht stehen. Es seien die magnetischen Felder der beiden Spulensysteme Wechselfelder von der Stärke He und Hj (Fig. 11). Wird die Phasenver- schiebung zwischen den Wechselfeldern mit Fig. 11. e bezeichnet, so entsteht durch die mecha- nische Kraftwirkung der magnetischen Felder auf die in der Scheibe induzierten Ströme ein Drehmoment, das proportional HeHj sin e gesetzt werden kann. Man er- regt nun das eine Spulensystem durch die Betriebsspannung E, das andere durch den Betriebs- strom J, so daß die magnetischen Felder He,Hj der Spannung E und dem Strom J nahezu pro- portional sind. Während man es aber so einrichtet, daß Hj mit J nahezu in Phase ist, muß He gegen E in der Phase um 90° verschoben werden. Beträgt die Phasenverschiebung zwischen E und J cp Grad, so wird dadurch e = 90° - cp und das antreibende Drehmoment wird E J cos cp d. h. proportional der Leistung des Wechsel- stromes. Es wird wiederum zur Bremsung ein Dauermagnet angeordnet, zwischen dessen Polen sich die Scheibe dreht; d. h. die als Anker dienende Antriebsscheibe und die Bremsscheibe sind identisch. Bei Induktions- zählern pflegen aber die Felder He und Hj so stark zu sein, daß auch sie bei der Be- wegung der Scheibe eine Bremsung verur- sachen. Man muß also das Bremsmoment proportional v(a + bE2 + c J2) setzen, wo v die Geschwindigkeit der Scheibe, a, b, c, Konstanten bedeuten. Die Angaben des Zählers werden somit proportional E J cos cp a + bE2 + c J2 d. h. nicht streng proportional der Leistung des Wechselstromes. Um den störenden Einfluß der Glieder im Kenner möglichst zu verkleinern, muß die Bremsung des Dauer- magneten (a) überwiegen. Weiter ist es zweckmäßig, die Bremsung durch den Span- nungsmagneten (bE2) größer zu machen, als die durch den Strommagneten (cJ2), weil man es in der Praxis zwar mit einiger- maßen konstanten Spannungen, aber stark veränderlichen Werten des effektiven Stromes zu tun hat. Man pflegt daher die Haupt- stromspulen mit schlecht eisengeschlossenen Kernen zu bauen; damit kommt man auch der oben aufgestellten Forderung entgegen, daß Hj mit J nahezu phasengleich sein soll. Immerhin pflegt die Bremsung cUirch den Strommagneten so groß zu sein, daß die Induktionszähler eine etwas gekrümmte Eichkurve besitzen. Mit wachsender Strom- stärke pflegt der Induktionszähler größer und größer werdende negative Fehler auf- zuweisen. Es ist noch zu erörtern, wie es einzu- richten ist, daß das Feld um 90° in der Phase gegen die Spannung E verschoben ist. Es IW D M c ] S CK — E ->( 3 Fig. 12. sind dafür sehr viele und verschiedenartige Schaltungen angegeben worden. Sie sind fast alle wieder im praktischen Gebrauch verschwunden, bis auf eine von Belfield herrührende. Die Betriebsspannung wird durch eine Drosselspule D (Fig. 12) und einen Elektro- magneten M geschlossen, der an einer Stelle aufgeschnitten ist, Durch den Schlitz bewegt sich die Zählerscheibe S, d. h. im Luftraum des Schlitzes ist das Feld He. In der Nähe des Schlitzes ist ein aus wenigen Windungen bestehende sekundäre Wickelung W aufgebracht, die durch einen regulier- baren Widerstand R kurz geschlossen ist. Denken wir uns zunächst die sekundäre Wickelung geöffnet, so ist der Spannungs- 14* 212 Elektrische Arbeit ström Js gegen E in der Phase stark nach rückwärts verschoben. In der sekundären Wickelung wird eine EMK E2 induziert, welche gegen Js um 90° nach rückwärts verschoben ist und mit Js proportional ver- läuft. Wird jetzt die sekundäre Wickelung geschlossen, so hat die sekundäre induzierte EMK E2 (Fig. 13) den Widerstand r2 und die Selbstinduktion S2 des Sekundärkreises zu überwinden. Im Diagramm bilden also E2, J2r2 und J2wS2 ein rechtwinkeliges Dreieck." Da die sekundären Windungen nur ein sehr kurzes Stück des Eisenkernes be- decken und in der Nähe des Luftspaltes an- geordnet sind, so ist die Streuung der von J2 herrührenden Kraftlinien sehr groß; nur ein vernachlässigbar kleiner Bruchteil wird in die primäre Wickelung eintreten, d. h. das Diagramm des primären Kreises wird nur unwesentlich durch J2 geändert. Da- gegen wird der Luftspalt von der Eesul- tierenden der primären und der sekundären Felder durchsetzt. Das primäre Feld Fl5 welches größtenteils in Eisen verläuft, ist gegen den primären Strom Jx ein wenig nach rückwärts verschoben, das sekundäre Feld F2, welches vornehmlich in Luft verläuft, ist mit Jx als gleichphasig anzusehen. Beide setzen sich zum resultierenden Felde He zusammen. Wie man erkennt, ist He gegen das primäre Feld nach rückwärts verschoben. Durch Kegulieren von r 2 kann die Phase von I2 und damit von He gedreht werden. Es ist leicht einzusehen, daß es möglich ist, He auf E senkrecht zu stellen, und das ist die Bedingung, die das Spannungsfeld erfüllen muß. Die Regulierung durch den Widerstand r2 ist überaus einfach. Drehstromzähler der Induktionstype wer- den auf Grund der Formeln für die Leistungs- berechnung von Drehstromsystemen konstru- iert, Fig.14 (vgl. auch den Art.,, Elektrische Leistung"). Man läßt auf die Scheibe zwei einander gleich gebaute Magnetsysteme wirken, welche die Belfieldsche Schaltung besitzen. Die Hauptstromwickelungen werden in zwei der Hauptleitungen des Drehstrom- systems eingeschaltet, die Spannungsspulen zwischen je eine dieser Hauptleitungen und die dritte Hauptleitung. Dazu kommt natürlich der Bremsmagnet. Eine fehler- hafte Arbeitsweise des Zählers kann dadurch zustande kommen, daß Kraftlinien des einen Magnetsystems in das andere hineinstreuen. Es ist Aufgabe des Konstrukteurs, die An- ordnung und die Abmessungen so zu treffen, daß dieser Fehler, der sich nicht ganz ver- meiden läßt, auf ein möglichst geringes Maß beschränkt bleibt. Am vollkommensten gelingt es, wenn man an der Drehachse zwei Scheiben übereinander anordnet und auf jede der Scheiben nur 1 Magnetsystem wirken läßt. Freilich wird dieser Vorzug mit einer erheblichen Vermehrung des Anker- gewichtes erkauft. Noch schwieriger werden die Verhält- nisse, wenn man einen Zähler für ein Dreh- stromsystem mit Nulleiter bauen will. Hier sind nach den Formeln für die Leistungs- messung drei Systeme notwendig. Um die gegenseitige Beeinflussung der drei Sy- steme nach Möglichkeit zu vermeiden, stattet man den Anker mit zwei oder gar drei Scheiben aus. Kurz erwähnt sei, daß man Einphasen- zähler für induktionslose Last, Drehstrom- zähler für gleichbelastete Zweige der drei Zweige des Drehstromsystems und Vier- leiterzähler mit vereinfachten Schaltungen konstruiert hat. Diese Apparate sind nicht zu empfehlen, weil die Voraussetzungen, unter denen sie konstruiert sind, in den seltensten Fällen zutreffen. io. Strom- und Spannungswandler. Wir sahen, daß die Leistungsmessung von Wechselstromkreisen Schwierigkeiten berei- tet, wenn es sich um hohe Spannungen odei große Stromstärken handelt. Es sind hierfür die Meßwandler in die Meßtechnik eingeführt worden. Die Meßtransformatoren oder Meßwand- ler bestehen aus einem aus lamelliertem Eisen aufgebauten ringförmigen Körper, auf dem zwei elektrisch voneinander ge- trennte Kupferwickelungen angebracht sind, die man als primäre und sekundäre Wicke- lungen bezeichnet. Wir stellen uns zunächst der Einfachheit halber vor, daß die Wickelungen des Meß- wandlers einen vernachlässigbar kleinen Widerstand haben und daß auch sein Eisen bei der Ummagnetisierung keine Energie verzehrt. n1 sei die primäre, n2 die sekundäre Windungszahl, nx >n2. Es werde die Wechsel- spannung Ex an die primäre Wickelung ge- legt, so wird durch den in dieser Wickelung entstehenden Strom das Eisen einer im Takte der Spannung periodisch wechselnden Magnetisierung unterworfen. Wird mit Elektrische Arbeit 213 der Augenblickswert des magnetischen In- uktionsflusses bezeichnet, so wird durch diesen in der Wickelung eine elektromoto- rische Gegenkraft induziert, die gleich n ä(P dt ist. D. h. es ist: E, d

_C 0 — ■ ■r. - l— ' o,75 9 10 3 3 3 i 11 25 4,5 4,5 4,5 i,5 H 60 6 6 6 2,5 20 100 8 7 7 4 25 200 12 10 9 6 31 350 20 14 12 IO 43 600 20 16 10 75 1000 30 20 25 100 35 125 Die Auflagefläche muß 50 160 gleich der Ringfläche der 70 200 Unterlegscheibe (die den 95 240 doppelten Durchmesser 120 280 des Anschlußbolzens hat) 150 325 sein. 1S5 380 240 450 4. Steckvorrichtungen. Bequemer als mit Klemmen gestaltet sich der Anschluß > 'weglicher Leitungen an fest verlegte mit Fig. 19. federnder Messingstift mit Reibung einge- führt wird ; der Stecker ist mit der beweglichen Leitung verbunden. Die im Handel als In- stallationsmaterial erhältlichen Steckvor- richtungen sind zweipolig oder dreipolig und meist für die Stromstärken 6, 10, 20 und 30 Ampere abgestuft. Für 6 und 25 Ampere sind die Abmessungen vom VDE nor- malisiert. Sind die beiden Hülsen einer zweipoligen Dose — und entsprechend die Stifte des Steckers — von verschiedener Weite, so ist die Polarität unverwechselbar, was z. B. für den Anschluß von Nernst- lampen zweckmäßig ist. Die Dose ist meist aus Porzellan, der Stecker der geringeren Zerbrechlichkeit halber aus einem künstlichen Isoliermaterial hergestellt. Die zweipoligen Steckvorrichtungen für 6 und 10 Ampere geben auch bei niedriger Spannung guten Stromschluß und können unbedenklich in Meßschaltungen verwendet werden, wenn man von Zeit zu Zeit die geschlitzten Stecker zur Aufrechterhaltung der Federung mit einer Messerklinge aufspreizt. Für größere Stromstärken sind einpolige Steckvorrich- tungen des sichereren Stromschlusses halber vorzuziehen; oberhalb etwa 60 Ampere ist die Verwendung von Steckern wegen des verhältnismäßig geringen Kontaktdruckes bedenklich. An die Stecker werden als Leitungen meist schmiegsame Schnüre angeschlossen, die Enden dieser Litzendrähte müssen gut verlötet sein, einzeln herausstehende Dräht- chen geben Veranlassung zu Kurzschluß im Stecker. Zur Verbindung zweier mit Steckern ver- 230 Elektrische Hilfsapparate sehenen Leitungen ist ein isolierendes Zwi- schenstück mit zwei passenden Messing- hülsen (Fig. 19) bequem. 5. Ein- und Ausschalter. Zum Schalten schwacher Ströme ist der Taster Figur 20 Fig. 21. Fig. 20. geeignet, er besteht aus einer Blattfeder mit einem Platinstift, der beim Niederdrücken des Griffes auf einen zweiten Platinstift gepreßt wird; durch Umlegen eines Knacken kann die Feder dauernd niedergehalten werden. Ferner werden in der Schwachstrom- technik die in Figur 21 skiz- zierten Schalter verwandt, doch können an die Güte ! des Kontaktes keine hohen Anforderungen gestellt wer- den. Bei den älteren Hebel- schaltern einfachster Bauart ist häufig der Stromschluß an der Dreh- stelle des Schaltstückes unzuverlässig, da keine Federung für den Kontaktdruck vor- gesehen ist. Der moderne Hebelschalter Figur 22 (der als Massenfabrikat zu sehr niedrigem Preise hergestellt wird) besteht aus einem Schalt - messer, das zwi- schen zwei federn- den Lamellen, die durch Druck und Reibung einen guten Stromschluß gewährleisten, drehbar gelagert ist ; beim Ein- schalten schiebt es sich zwischen zwei andere federnde Lamellen. In der Regel sitzt der Handgriff nicht unmittelbar auf dem Messer, sondern an einem um den gleichen Dreh- punkt beweglichen Hebel, der mit dem Messer durch eine Feder verbunden ist. Beim Ausschalten bewegt sich zunächst nur der Hebel unter Anspannung der Feder, die dann das Messer plötzlich herausschnellt. Diese „Momentausschaltung" bewirkt ein schnelles Abreißen des sich beim Ausschalten bildenden Hebelschalher Fi" 22 Lichtbogens. Bei einigen Konstruktionen dienen der Momentausschaltung besondere Abreißkontakte. Im Laboratorium ist in manchen Fällen diese Momentausschaltung gewiß nicht notwendig, da sie aber für technische Schalter vom Verbände Deutscher Elektrotechniker vorgeschrieben ist, so wer- den Schalter ohne diese Einrichtung nur für besondere Zwecke (Ausschalter für Maschi- nenerregungen) und für große Stromstärken als Trennschalter, die nur unbelastet be- tätigt werden, hergestellt. Um mechanisch haltbar zu sein, sind die kleinsten Hebelschalter so bemessen, daß sie mit etwa 20 Ampere belastet werden können. Die Schalter werden 1-, 2-und3-polig hergestellt. Die sich reibenden Flächen des Schaltmessers müssen von Zeit zu Zeit mit einem Hauch Vaseline gefettet werden, sonst fressen sie sich ein und die Feder bricht; dem Stromschluß ist das Fetten nur günstig. Ist die von dem Schalter zu unterbrechende Energie so groß, daß beim Ausschalten ein kräftiger Lichtbogen entsteht, so muß der Schalter in senkrechter Lage befestigt werden, damit der Lichtbogen nach oben ausge- blasen wird. Beim Schalten größerer Energie- mengen muß der "Schalter kräftig eingelegt und "beim Ausschalten rasch herausgerissen werden, sonst entstehen Schmelzperlen, die den Stromschluß beeinträchtigen. In dieser Hinsicht schädlich ist namentlich ein probe- weises, nur kurz berührendes Schließen des Schalters. Schmelzperlen werden mit der Feile entfernt. Wird die auf dem Schaltmesser aufge- schlagene Nennstromstärke für eine längere Dauer erheblich überschritten, so ermattet durch die übermäßige Erwärmung (80 bis 100° C) die Federkraft der Lamellen un- wiederbringlich und ein Wachsen des Ueber- gangswiderstandes ist die Folge. Auf den Messern ist ferner noch die Nennspannung angegeben, bei welcher der Schalter benutzt werden kann, 250 oder 550 Volt. Allerdings kann man bei dieser Nennspannung nicht die Nennstromstärke, also die volle Leistung, bei Gleichstrom ausschalten, bei einpoligen Schaltern würde ein Lichtbogen stehen bleiben, bei zweipoligen Schaltern würden die beiden Lichtbogen zusammenschlagen und einen Kurzschluß der Energiequelle herbei- führen. Einige Firmen geben die ausschalt- bare Leistung auf kleinen, am Griff der Schalter befestigten Schildern an. Die zum Schalten von Lampen und Kleinmotoren üblichen Dosenschalter be- stehen aus Messingfedern, die an einer iso- lierenden ruckweise drehbaren Walze be- festigt sind, beim Einschalten legen sich die Federn gegen kleine Kontaktklötze. Vor der Verwendung dieser Dosenschalter in Meßschaltungen muß gewarnt werden, Elektrische Hilfsapparate 231 da bei dem geringen Kontakt druck der Ueber- gangswiderstand zu veränderlich ist. Wo es auf sehr gute Isolierung ankommt, bei elektrostatischen Versuchen und bei Hochspannung, verwendet man häufig als Schalter zwei Quecksilbernäpfe, in die ein Kupferbügel, den man an einer Hartgummi- oder Siegellackstange hält, eingetaucht wird. Die Quecksilbernäpfe sind Fingerhüte, in Paraffin eingegossen, oder auch nur Höh- lungen in einem Paraffinklotz, die Zufüh- rungsdrähte werden warm in das Paraffin eingedrückt und ragen in die Höhlungen hin- ein. Noch bessere Isolation ist gewährleistet, wenn jeder Napf einzeln auf einem Hart- gummisäulchen sitzt, das zur Verlängerung des Kriechweges mit Eindrehungen ver- sehen ist. Bewegliche Leiterteile, die, ohne in ihrer Bewegung wesentlich gehemmt zu werden, einen Stromschluß herbeiführen sollen, z. B. Uhrpendel, läßt man mit einem Platinstift eine Quecksilberfläche berühren oder eine Quecksilberkuppe durchschneiden. Mit einer Spitze aus dünnem Platinblech, die man gegen die hohe Kante senkrecht über einen ausgespannten Platindraht wegstreifen läßt, erzielt man einen guten, sehr kurz dauernden Stromschluß (Feußner). Wegen des Oeff- nungsfunkens können mit diesen Einrich- tungen nur schwache Ströme geschaltet werden, sind stärkere Ströme in dieser Weise zu schließen und zu öffnen, so muß ein Relais zwischengeschaltet werden. 6. Umschalter. 6a) Stromwender (Kommutator). Wenn der zu beobach- tende Vorgang, sei es seiner Natur nach, sei es durch störende Einflüsse von elektrischen oder magnetischen Kräften (Thermoströme, Erdfeld) von der Stromrichtung abhängig ist, so ist die Verwendung eines Apparates, der die schnelle und bequeme Umkehrung der Strom- richtung bewirkt, angebracht. Der einfachste Stromwender besteht aus vier Quecksilber- näpfen, Figur 23, in die zwei durch ein Isolier- stück gehaltene Kupferbügel eintauchen, links verbinden die Kupferbügel die Näpfe 1 mit 2 bezw. 3 mit 4. Beim Umkippen der Wippe nach der anderen Seite werden durch £ Fig. 24. O -O« 5 3 zwei andere Bügel die Näpfe 1 mit 3 bezw. 2 mit 4 verbunden. An das mittlere Näpfe- paar wird z. B. die Energiequelle, an das äußere Paar die Verbrauchsleitungen gelegt. Sehr verbreitet ist die Pohlsche Wippe mit 6 Quecksilbernäpfen, Figur 25, von Fig. 25. ö\ ■9_^ Fig. 23. die Polvertauschung geschieht durch Um- setzen der Bügel um 90°. Bei geeigneten Abmessungen ist dieser Stromwender auch für hohe Stromstärken verwendbar. Dem gleichen Zweck dient die Wippe mit 8 paar- weise verbundenen Quecksilbernäpfen nach Figur 24. Beim Herunterklappen der aus einem Isolierstück bestehenden Wippe nach denen je zwei äußere diagonal gegenüber- liegende miteinander verbunden sind. Die beiden durch ein Isolierstück verbundenen dreiarmigen Bügel stehen mit den mittleren Armen in den mittleren Näpfen und tauchen mit den äußeren Armen je nach der Lage der Wippe in die äußeren Näpfe rechts oder links. Die Stromwendung erfolgt durch Umlegen der Wippe. An die mittleren Näpfe ist z. B. die Energiequelle, an zwei äußere die Ver- brauchsleitung angeschlossen. Wünschens- wert ist bei den Wippen eine Stellfeder, die zum Ausschalten die Wippe in der Mittel- stellung festhält. Wenn das Quecksilber verschmutzt und amalgamhaltig ist, können bei schnellem Umlegen der Wippen die herausfahrenden Bügelenden aus den Näpfen Quecksilberfäden nachziehen, die noch nicht abgerissen sind, wenn die Bügel auf der anderen Seite bereits in die Näpfe eintauchen ; es entsteht dann ein Kurzschluß der Energiequelle, der unheilvoll werden kann für die zwischen der Energie- quelle und der Wippe liegenden Apparate (z. B. Präzisionsstrommesser, in denen der Strom nicht kommutiert werden darf). Es empfiehlt sich deshalb, etwa im Kreise vor- handene Baitestwiderstände zwischen Ener- giequelle und Wippe zu schalten. In sehr vielen Fällen wird die Queck- silberwippe besser durch einen Hebelum- schalter, Figur 26, ersetzt, bei dem wie bei der Pohlschen Wippe die diagonalliegenden äußeren Klemmen kreuzweise verbunden 232 Elektrische Hilfsapparate sind. Der Hebelumschalter ist in ähnlicher Weise gebaut wie der Ausschalter. Bei Induktorien findet man häufig zylindrische Strom- wender (Fig. 27), sie bestehen aus zwei halb ausgeschnittenen und entsprechend inein- ander greifenden Me- tallrohren, die auf einer drehbaren Walze von- einander isoliert be- festigt sind; jedes Me- tallrohr verbindet eine der äußeren Schleif- federn mit einer mitt- leren. Durch Drehen der Walze um 180° wird der Strom ge- wendet. Bisweilen sind auch nur zwei Halb- zylinder auf der Walze befestigt und mit den voneinander isolierten Achsenhälften ver- bunden. Die Stromzuführung zu den Achsen muß dann aber auch durch Schleif- federn erfolgen, durch die Achsenlager ist sie unzuverlässig. ist auch die Kombinationsmöglichkeit der Gruppen eine größere, was z. B. bei einer Batterie, die unter gleichmäßiger Belastung aller Zellen auf verschiedene Spannungen r-+- S9 1 f Fig. 27. 6b) Gruppenschalter. Sind zwei oder mehrere Gruppen von Energiequellen oder von Magnetspulen, Transformatorentwicke- lungen u. ä. bald in Keihe, bald neben- einander zuschalten, so ist es bequemer und zuverlässiger, diese Schalthandlung mit einer festen Einrichtung vorzunehmen. Figur 28 zeigt das Schema einer Keinen- und Nebenschlußschaltung von zwei Gruppen mit einem zweipoligen Hebelumschalter, Figur 29 die Umschaltung von drei Gruppen mit vier gekuppelten Umschaltern. Liegen die Hebel nach oben, so sind die Gruppen in Reihe geschaltet, durch Umschalten der Hebel nach unten kommen die Gruppen nebeneinander zu liegen. Für n- Gruppen sind 2(n — 1) Umschalthebel erforderlich, bei großer Gruppenzahl ist daher die Verwen- dung von Hebelschaltern sehr kostspielig; Quecksilbernäpfe sind vorzuziehen, bei diesen Fig. 29. geschaltet werden soll, wichtig ist. An eine Reihe Näpfe werden dann die positiven Pole aller Gruppen angelegt, an eine parallele Reihe Näpfe die negativen. Durch Einlegen von Kupferbügeln, die zweckmäßigerweise in der gewünschten Anordnung auf einer Isolier- platte befestigt sind, werden die Näpfe ver- bunden. Es empfiehlt sich, für jede Kombi- nation der Gruppen eine feste Anordnung der Bügel herzustellen, ein Irrtum beim Einlegen loser Bügel gefährdet die Batterie. Es sind auch Gruppenschalter für die Spulen von Meßinstrumenten sowohl, wie für Batterien nach dem bei der Regulierung von Straßenbahnmotoren üblichen Kontroller- system gebaut. Kontaktklötze auf einer Isolierwalze stellen zwischen Federn, die auf ihnen schleifen, die erforderlichen Verbin- dungen her. Bei einer Drehung der Walze gibt eine andere Anordnung der Kontakt- klötze eine andere Gruppenschaltung. Die dauernde Aufrechterhaltung eines zuver- lässigen Stromschlusses bei größeren Strom- stärken dürfte bei dieser gegen Staub empfind- lichen Anordnung schwierig sein. 6 c) Linien Wähler. Diese gestatten aus einer größeren Zahl von Leitungen wahl- weise eine Leitung mit einer anderen zu ver- binden. Der Hebelumschalter und die Pohlsche Wippe nach Herausnahme der Kreuzverbindungen gestatten ein Leitungs- paar abwechselnd mit zwei anderen Leitungs- paaren zu verbinden. Die Auswahl einer einzelnen aus einer größeren Zahl von Lei- tungen ist möglich bei einer Kurbel, die über eine Reihe von Kontaktstücken schleift; die Kurbeln werden auch doppelarmig für zwei- poligen Leitungsanschluß hergestellt; meist dienen sie dazu, um mit einem Spannungs- messer der Reihe nach bei einer größeren Zahl von Leitungen die Spannung oder — zur Strommessung — den Spannungsabfall an eingebauten Nebenschlußwiderständen zu messen. Die Stromzuführung zur Kurbel erfolgt entweder durch ein spiralig aufge- Elektrische Hilfsapparate 233 wickeltes Band, das die Bewegung nicht hindert, oder durch einen koaxialen King, auf dem die Kurbel mit einer Feder schleift. Eine große Freiheit in der Kombination von Leitungen läßt sich mit Steckvorrich- tungen erzielen. Den Nachteil dieser An- ordnung: das Gewirr sich kreuzender Schnüre vermeidet der Linienwähler aus ge- kreuzten Schienen. Eine Gruppe Leitungen ist an horizontale Schienen gelegt, eine andere Gruppe an vertikale Schienen. An den Kreuzungsstellen lassen sich die Schienen durch Stöpsel verschrauben und so kann jede Schiene der einen Gruppe mit jeder Schiene der anderen Gruppe verbunden werden. Um Kurzschlüsse zu vermeiden sind die beiden Schienengruppen auf verschie- denen Seiten der Marmortafel befestigt, die Tafel ist an den Kreuzungspunkten durch- bohrt. Siemens & Halske bauen für solche Linienwähler einen Stöpsel, der die durch- bohrten Schienen durch ein Rohrstück ver- bindet, durch Drehen des Griffes wird das Rohr von zwei Konussen aufgetrieben und in die Schienenbohrungen gepreßt. 7. Sicherungen. Um Leitungen und Ap- parate vor Zerstörung durch zu hohe Strom- stärken zu sichern, wird in die Leitung ein Draht oder Blech eingeschaltet, das beim Ueberschreiten einer gewissen Stromstärke unschädlich durchschmilzt. Bei Lichtan- lagen und anderen fertigen Installationen sind die Sicherungsdrähte in Porzellan- patronen, die mit feinem sehr trockenem Sand gefüllt sind, eingeschlossen ; die Pa- tronen sollen bei der Betätigung den Schmelz- draht geräuschlos durchschmelzen lassen und sind leicht gegen eine neue auszuwechseln. Die älteren Patronen aber können bei Kurz- schluß und sogar bei langsam steigender Ueberlastung hinter großen Energiequellen in ganz gefährlicher Weise explodieren, wie Versuche des Verbandes Deutscher Elektro- techniker zeigten. Der Grund lag an der geringen Widerstandsfähigkeit der Patronen gegen den hohen inneren Druck und an der ungenügenden Dichtung der Einführungs- stellen. Die neuen Patronen der D-Type, Fig. 30, sind sehr kräftige zylindrische Fig. 30. Porzellankörper, die sorgfältig gedichtet sind und auch einen Kurzschluß unter den schwer- sten Bedingungen gefahrlos unterbrechen. Beim Einsetzen des Stöpsels wird ein Kopf mit Edisongewinde darüber geschoben und im Sockel verschraubt. Die Stromzuführung erfolgt einerseits durch die Verschraubung des Kopfes zu der oberen Kontaktplatte der Patrone, andererseits durch ein Paßstück zu dem Kontaktzylinder am unteren Ende der Patrone. Das Loch in der Isolierbuchse des Paßstückes und der Durchmesser des Kon- taktzylinders der Patrone wachsen stufen- weise mit der Nennstromstärke der Siche- rung. Es wird dadurch verhindert, daß unbefugt eine zu starke Sicherung eingesetzt wird, denn das Paßstück läßt sich nur mit einem besonderen Schlüssel einschrauben. Die D-Patronen werden von den Siemens- Schuckertwerken, von der A.-E.-G. und von Voigt k Haeffner hergestellt und zwar bis zu 200 Ampere. Vor der Verwendung von reparierten Stöpseln muß wegen der Explo- sionsgefahr gewarnt werden, die Hersteller lassen sich in der Regel auf eine Reparatur nicht ein, da die sachgemäße Ausführung wenig billiger ist als die Neuanfertigung. In Versuchsleitungen und für höhere Stromstärken werden meist offene Siche- rungen (Fig. 31) benutzt, frei zwischen Klemmen ausgespannte Drähte von 6 bis 10 cm Länge. Zur Sicherung bei niedrigen Stromstärken nimmt man sehr dünne Drähte aus Widerstands- material, sonst Kupfer- oder Silber drahte. Siche- rungen aus Bleistreifen haben eine gewisse Träg- heit, was für Motoren z. B. erwünscht ist. Das Um- herspritzen glühender Me- tallteile bei Kurzschluß verhindert eine über die Sicherung gedeckte Papp- kappe. Zweipolige offene Sicherungen dürfen nicht wagerecht so angeordnet werden, daß ein Schmelz- draht oberhalb den anderen liegt, beim Abschmelzen des unteren Drahtes würde durch den entstehenden Lichtbogen ein ge- fährlicher Kurzschluß zwischen den Klemmen, an denen die Energiequelle liegt, entstehen. Literatur. Kohlrausch, Lehrbuch der praktischen Physik, Leipzig 1910. — Normalien des Verbandes Deutscher Elektrotechniker, Berlin 1911. — Hand- bücher der Elektrotechnik von Kittler, Heinice, Strecker. — ■ Preislisten der Firmen : Allgemeine Elektrizitätsgesellschaf t Berlin, Bergmann Elek- trizitätsgesellschajt Berlin, Dr P. Meyer, Berlin, Siemens & Halske und Siemens & Schuckert, Berlin, Voigt & Häffner, Frankfurt a. M. H. Schering. Q O Fig. 31. 234 Elektrische Influenz Elektrische Influenz. 1. Leiter im elektrischen Feld im Vakuum: a) Grundtatsachen, b) Allgemeine Begründung aus der Theorie der Elektrizität. c) Anwen- dungen: Elektrophor; Influenzmaschine. d) Lösung spezieller Fälle: Platten- und Kugel- kondensator, e) Methode der elektrischen Bilder. 2. Leiter im elektrischen Feld im homogenen Dielektrikum: a) Einfluß des Mediums auf die Erscheinung. Gleichungen der Elektrostatik im homogenen Medium, b) Lösung spezieller Pro- bleme. 3. Inhomogenes Dielektrikum (Nicht- leiter im elektrischen Felde): a) Herleitung der Erscheinungen aus der Theorie der Elektrizität. b) Lösung spezieller Fälle. 4. Energie und pon- dero motorische Kräfte im elektrischen Felde: a) Die elektrostatische Energie, b) Pondero- motorische Kräfte. i. Leiter im elektrischen Feld im Vakuum, ia) Grundtatsachen. Neben den direkten Methoden, isolierte Leiter zu elektrisieren (z. B. durch Kontakt zweier verschiedener Metalle, durch Reibung, durch Berührung mit schon geladenen Substanzen), gibt es noch eine mehr indirekte. Diese besteht darin, daß man den Leiter (isoliert oder nicht isoliert) in ein auf irgendeine Weise erzeugtes elektrisches Feld bringt. Dann treten auf dem Leiter Ladungserschei- nungen auf; die Ladungen nennt man im Gegensatz zu den durch die direkten Metho- den erzeugten „influenzierte" Ladungen, und die Gesamtheit dieser Erscheinungen bezeichnet man als die Leine von der „In- fluenzelektrizität". Wie wir im fol- genden sehen werden, ist dies überhaupt das allgemeine Problem der Elektrostatik. Wir beschränken uns zunächst auf die im Vakuum auftretenden Erscheinungen. Zunächst seien einige einfache Experimente besprochen, die die Erscheinung der Influenz vor Augen führen. In die Nähe eines elektrisch geladenen Metallkörpers (Konduktor) (er sei etwa positiv) werde ein zweiter Leiter B gebracht (Fig. 1); derselbe ist unelektrisch, wie daraus Fig. 1. hervorgeht, daß zwei an seinen Enden be- findliche Blattelektroskope b2 und b2 nicht ausschlagen. Wird nun dieser isolierte Körper B in das elektrische Feld gebracht, d. h. dem Körper A hinreichend genähert, so • schlagen beide Elektroskope aus, wie es die Figur zeigt. B nimmt also „durch Influenz" Ladungen an. Entfernt man B aus dem elektrischen Felde, so fallen b2 und b2 wieder zusammen, d. h. B ist wieder unelektrisch geworden. Dies gilt aber nur, wenn B stets isoliert gehalten wurde. Speziell sei der Leiter B aus 2 isolierten Stücken bestehend, B1 und B2, nach Figur 2. Fig. 2. Beide Teile seien unelektrisch und zu- nächst miteinander zur Berührung gebracht, so daß wir, wie vorhin, einen einzigen Metall- konduktor B haben. Sie werden in dieser Weise ins Feld gebracht, genau wie vorhin. Nachdem dann die beiden Elektroskope b2 und b2 eine Ladung auf dem jetzt noch einheitlichen Leiter B anzeigen, wird letzterer im Felde des Körpers A in seine beiden Teile getrennt. Entfernt man die beiden Hälften Bx und B2 nunmehr aus dem Felde, so er- weisen sich beide Stücke als geladen. Mit Hilfe einer Probekugel zeigt man leicht, daß Bj (d. h. der dem elektrisierten Körper A nähere Teil von B) negativ (d. h. un- gleichartig mit A), B2 (d. h. der von dem Körper A weiter entfernte Teil von B) posi- tiv (d. h. gleichartig) geladen ist. Endlich bringt man außerhalb des Feldes B} und B2 wieder zur Berührung, dann zeigen die Elektroskope bx und b2 durch ihr Zusammen- fallen an, daß B2 ebenso stark negativ, wie B2 positiv geladen war. Man kann sich also vorstellen, daß unter dem Einfluß der von A ausgehenden elek- B Fig. 3. frischen Kräfte die auf dem neutralen Körper B in gleicher Menge befindlichen (sich daher ausgleichenden) Mengen positiver und nega- tiver Elektrizität getrennt werden, so daß Elektrische Influenz 235 ungleich- die ungleichnamige angezogen, die gleich- namige abgestoßen wird (Fig. 3). Leitet man den Körper B, während er noch im Felde ist, zur Erde ab, so verschwin- det die abgestoßene gleichnamige Ladung, und es bleibt nur die angezogene namige zurück. Entfernt man nach dieser Manipula- tion B aus dem Felde, so behält es seine Ladung, die ungleichnamig mit der von A ist, bei. ib) Allgemeine Be- gründung aus der Theo- rie der Elektrizität. Wir wollen der Einfachheit halber annehmen, daß der das primäre elektrische Feld erzeugende Körper A mit der Ladung + e sehene Kugel sei. Ist allein im Vakuum vorhanden, so ist aus Symmetriegründen das Feld leicht angebbar: Die elektrische Kraft ist überall radial vom Kugel- zentrum fortgerichtet, und die Niveauflächen (die Flächen gleichen Potentials) sind dementsprechend kon- zentrische Kugelflächen (Fig. 4). Werden die Kraftlinien nach Faradays Vorschrift konstruiert, so gehen von A 4 7i e Kraftlinien aus. Es sei daran erinnert, daß negative Ladung in der Sprache Faradays gleichbe- deutend mit dem Einmünden oder Endigen einer bestimmten Kraftlinienzahl auf einem Körper ist. Die Kraftlinien stehen stets senkrecht auf den Niveauflächen. Da I die Oberfläche leitender Körper stets eine ! solche ist, so entspringen und endigen im Gleichgewichtszustande die Kraftlinien stets senkrecht auf den Leitern. Denken wir uns eine ver- diese Fig. 4. nun in das Feld von A den in Figur 4 schraf- fierten leitenden Körper B gebracht. Zwei Punkte a und ß mögen die Entfernungen rj und r2 vom Mittelpunkte von A haben. Dann Fig. 5. 236 Elektrische Influenz herrscht im Punkte a das Potential - im Punkte ß des Leiters B das Potential das von verschieden ist. Da aber im elek- trostatischen Zustande ein Leiter stets konstantes Potential hat, folgt hieraus, daß das ursprüngliche Feld nicht bestehen bleiben kann, sondern durch Einbetten eines Leiters B deformiert werden muß, und zwar in der Weise, daß die Oberfläche von B zur Niveau- fläche wird. Es müssen daher von B jetzt selbst Kraftlinien ausgehen, mit anderen Worten B erhält Ladungen, die man eben als „influenzierte" bezeichnet. In Figur 5 sind angenähert die Niveauflächen (aus- gezogen) und die Kraftlinien (gestrichelt) dargestellt. Man erkennt also, daß von den von A aus- gehenden Kraftlinien ein Teil in dem A zuge- wandten Teile von B endigt (d. h. es tritt dort eine negative Ladung auf), und daß in dem von A abgewendeten Teile von B eine gleich- große Anzahl von Kraftlinien wieder entspringt (es tritt eine gleichgroße positive Ladung auf). Ganz analog ist die Erklärung in kom- plizierteren Fällen, wo in ein beliebiges Feld beliebige Leiter eingebettet werden. Die lösende Aufgabe ist also die folgende: Anzahl elektrischer geometrischer Konfiguration, d. h. gegeben ein primäres elektrisches Feld, und eine Anzahl von Leitern, die in das pri- märe Feld eingebettet sind. Zu be- stimmen ist das nunmehr resultie- rende Feld. Das ist das allgemeine elek- trostatische Problem. Es gibt keine allge- meine Methode zu seiner Lösung, so daß nur wenige spezielle Fälle bisher haben be- wältigt werden können. Zur Lösung be- sitzen wir dieMaxwellschen Gleichungen der Elektrizität, die wir hier für den Fall der Elek- trostatik im Vakuum zu spezialisieren haben. Im folgenden sind die Grundlagen dieser Gleichungen kurz an gedeutet: Erfahrungsgemäß kann man — ebenso wie im Schwerefeld der Erde, — durch Herum- führen einer elektrischen Ladung auf ge- schlossener Kurve keine Arbeit aus dem elektrischen Felde gewinnen. Bezeichnet man durch Gs den Vektor der elektrischen Kraft, durch Gsx, ©v, (Sz seine Komponenten, so wird dies analvtisch ausgedrückt durch zu Gegeben eine Ladungen in gewisser die (1) Gleichungen : -^ = 0 ö(£z Ö(Sy dz ö©z dz ÖX 9(£x OK -^p = o öy Ferner sagt der Gau ß sehe Satz aus, daß der Kraftfluß /@n dfj durch eine geschlossene Oberfläche fi gleich der 47z-fachen Menge der eingeschlossenen Ladung ei ist. In Formel: (2) / ffn dfi = 47rei. Dabei ist, wie stets im folgenden, mit n die äußere Normale der Fläche bezeichnet. Nun kommt die Ladung im Vakuum im allgemeinen nicht räumlich verteilt vor. Wir werden deshalb die räumliche Dichte der Elektrizität q gleich Null annehmen, dann liefert (2) für räumliche Ladung: (3) Ö@x Ö@y öy + ^f + ö<£z = 0 öx öy öz und für Flächenladungen, die nur an Leiter- oberflächen sitzen können: (4) @n = 477;;/. Dabei ist die Flächendichte der Elek- trizität mit r] bezeichnet. Endlich ist im Innern der Leiter stets das elektrische Feld gleich Null, also: (5) (S = 0 (im Innern von Leitern). Die Gleichung (1) ist gleichbedeutend damit, daß die elektrischen Kraftkompo- nenten sich sämtlich aus einer Funktion cp, dem Potential, durch Differentiation ableiten lassen; also kann an Stelle von (1) auch treten: (6) @x = Damit wird der ö f ög, öx öx = 0, Ößy ö(£i dz Ö@x öy = 0, dz 0 und an Stelle der Gleichungen (2) bis (5) treten analoge, nur daß nach obigem an Stelle von © der Vektor © tritt; also: (23) (24) AnZei I ©ndfi = f N ö©x ö©v )a)^x + -57 ) b) ®n = A%r\ (an Leiteroberflächen) ( c) © = 0 (im Innern der Leiter). ö©y ö©v _ dz Ersetzt man in diesen Gleichungen © durch £(£, wo £ eine Konstante ist, so erhält man der Reihe nach: (25) /(Sndfi «2 6 la) Ö(?x , Ögy ößz - { b) (Sn = 4?r7]/£ (an Leiteroberflächen) (27) 6 = 0 (im Innern von Leitern). Diese Gleichungen zeigen deutlich — und das ist die Brücke zu dem oben entwickelten Stand- punkte der Fernewirkungstheorie — , daß hier die elektrischen Kräfte sich aus den freien La- düngen statt aus den wahren Ladungen e berechnen. Führt man noch den Begriff des Potentiales ein, so hat man an Stelle von (22), (26) und (27): ,«, ,,._£.*-_*«.__£ [entspricht Gleichung 22]. [entspricht Gleichung 26a]. öqp A-ni] — (g ist, von gleicher Richtung wie die Kraft- linien, aber von anderer Zahl. Denn nach (21) kommt auf e ©-Linien erst eine (S-Linie; aus der Elektrizitätsmenge e entspringen /1 ijj p 4 n e ©-Linien, aber nur - — Kraft-(g-) £ Linien. Im Vakuum werden beide identisch. Analytisch läßt sich dies folgendei maßen ausdrücken: Da die elektrische Kraft ein Poten- ial hat, so bleiben die Gleichurgen (1) bestehen: (30) (31) [entspricht Gleichung 26b]. qp = qpi = Const. [entspricht Gleichung 27]. Die obigen Gleichungsquadrupel (22) bis (27) oder (28) bis (31) bestimmen das elektrische Feld im homogenen Dielektrikum vollständig, was an einigen Beispielen gezeigt werden soll. 2b) Lösung spezieller Probleme. Als Beispiel wählen wir den Fall des Platten- kondensators, dessen Zwischenraum jetzt von einem Medium der D.K. e ausgefüllt sei. Nach den obigen Auseinandersetzungen bedürfen wir hier gar keiner Theorie mehr, sondern können die Gleichungen (13) und (14) hier übertragen, nur daß wir statt e g den Wert — , nämlich den der freien Ladungen £ benutzen. Also ergibt sich für die elektrische Kraft: (32) 4nc ex = Ts' für das Potential der ersten Platte: Elektrische Influenz 243 (33) cpx = 47red/eS also für das Verhältnis zwischen Ladung und Potential, d. h. die Kapazität: (34) C = — ^S Man erkennt daher, daß die Kapazität gegen den Fall des Vakuums im Verhält- nis e:l vergrößert worden ist. Das nämliche Resultat gilt für Kugel- und Zylinderkondensator. Daß bei den wirk- lichen Kondensatoren statt Luft Glas (D. K. ~ 6) oder Hartgummi (D. K. ~ 3) benutzt wird, erhöht also die Kapazität beträchtlich. Von Interesse, ist es noch, den in Ab- schnitt i e behandelten Fall zu betrachten, wo eine Ladung +e im Abstände a vor einer un- endlichgroßen leitenden Ebene angebracht ist. Dasselbe Problem betrachten wir jetzt, nur daß jetzt die Ladung nicht im Vakuum, sondern in einem Medium von der D. K. e sich befindet. Die Lösung ist sehr einfach, wenn man bedenkt, daß wir hier an Stelle der wahren die freie Ladung zu benutzen haben. Wir werden also an Stelle der Ladung + e im Dielektrikum e substituieren die Ladung + - - = + e' im Vakuum; deren £ e elektrisches Bild ist — - - = — e' hinter der £ Wand im Abstände a, so daß jetzt nur noch ein elementares Problem vorliegt, nämlich das resultierende Feld zweier fest gegebenen Ladungen zu berechnen. 3. Inhomogenes Dielektrikum (Ein- bettung von Nichtleitern). 3a) Ableitung der Erscheinungen aus der Theorie der Elektrostatik. In diesem allgemein- sten Falle liegen die Verhältnisse natürlich entsprechend komplizierter. Wir haben ein von irgendwelchen Ladungen herrührendes Feld im inhomogenen Dielektrikum, in das Leiter eingebettet sind. Die Inhomogeni- täten können entweder derart sein, daß die D.K. £ kontinuierlich variiert, oder daß sie sich an der Berührungsfläche verschie- dener Körper sprungweise ändert. Auch hier tritt wieder an Stelle von © offenbar ©, und an Stelle der Kraftlinien sind die Verschiebungslinien zu konstruieren. Aber die Sache liegt hier komplizierter wie früher insofern, als © zwar noch © proportional ist, aber der Propor- tionalitätsfaktor £ variiert jetzt im allgemeinen von Ort zu Ort; die An- zahl der ein Flächenstück durchsetzenden ©-Linien steht zur Zahl der dasselbe Flächenstück durchsetzenden ©-Linien an den verschiedenen Orten des Raumes nicht mehr in konstantem Verhältnis. Das bedingt, wie wir sehen werden, das Auf- treten freier Ladungen an den sämt- lichen Stellen, wo s variiert. Neh- men wir zunächst den Fall an, wir hätten es mit einer Trennungsfläche S zweier Medien der D.K. £x und £2 zu tun. Auf der Trennungsfläche befinden sich keine wahren Ladungen; also ist, da die ©-Linien nur in wahren Ladungen ent- springen oder endigen, die Zahl der aus dem Medium ex pro Flächeneinheit die Trennungsfläche S treffenden Linien gleich der Anzahl, die (hier nach der rechten Seite) ins zweite Medium £2 verläuft. Allerdings werden wir später sehen, daß die ©-Linien in der Fläche S einen scharfen Knick er- leiden, d. h. ähnlich wie die Lichtstrahlen gebrochen werden; aber links und rechts von der Trennungsfläche ist die Anzahl gleich. Ganz anders mit den ©-Linien, die für die freie Ladung charakteristisch sind, da sie ja in den freien Ladungen entspringen und endigen. Links von der Fläche S ist die © Anzahl der ©-Linien offenbar ©x = — , rechts © dagegen ©2 = — , d. h. ©j. 4= ©2. £2 Es endigen oder entstehen in der Trennungsfläche ©-Linien; dort treten also flächenhafte freie Ladun- gen auf, die man auch als „influen- zierte" bezeichnen kann. Das ist das Neue, daß sie jetzt auch da auftreten, wo gar keine wahre Ladung vorhanden ist, während sich im vorigen Abschnitt (homo- genes Medium) freie Ladungen nur dort fan- den, wo auch wahre vorhanden waren. Betrachten wir jetzt einen kleinen Würfel, I innerhalb dessen e stetig variiert ; man kann ! sich diesen in unendlich viele, unendlich dünne Schichten zerlegt denken, innerhalb deren die D. K. sich sprungweise um unend- lich wenig ändert. So erkennt man, daß innerhalb des Würfels ebenfalls ©-Linien endigen oder entspringen, d. h. daß überall, wo £ stetig variiert, räumlich verteilte freie Ladungen auftreten. Wir wollen jetzt di se qualitativen Be- trachtungen etwas exakter formulieren. Nach der Faraday sehen Vorschrift erhalten wir die Größe der dielektrischen Verschiebung an einer Stelle des Raumes, in dem wir dort senk- recht zur Richtung der ©-Linien eine Flächen- einheit konstruieren und die Anzahl der ©-Linien, die auf diese entfallen, zählen; liegt die Fläche nicht senkrecht zu ©, so hat man die Normalkomponente ©n zu bilden. In dem letzteren Falle befinden wir uns hier mit der Trennungsfläche S; die Nor- malkomponenten zu beiden Seiten sind respektive ©IU und ©n2. Und da keine wahren Ladungen auf S sitzen sollen, so müssen die beiden Normalkomponenten der dielektrischen Verschiebung gleich sein, also : 16* 244 Elektrische Influenz (35) ®ni = $n2, oder, wenn man ®=e@ setzt: (36) BiCn, = € 2(Sn2, Zu dieser Grenzbedingung tritt eine andere, die die tangentiellen Komponenten betrifft. Es exi- stiert auch im in- homogenen Felde ein Potential der elektrischen Kraft, d. h. die Arbeit, die geleistet werden muß, um eine Ein- heitsladung von einer Stelle (1) des Raumes an eine Stelle (2) desselben zu verschieben, hängt n u r von der Lage der Punkte (1) und (2) ab, nicht da- gegen von dem von (1) nach (2) gen nach (36) Etl = @t2 und nach (35) (än„ = — (Sni, so erhält man: Ct, . ©t, e2. tang ai = ^\ taug a2 = ^ — . also folgt schließlich das Brechungsgesetz (das ebenso für die ©-Linien gilt): (m tangai = ei ' ' tang a2 e2 Da die trigonometrische Tangente eines Winkels zwischen 0 und n zwischen 0 und + co variiert, ist ein analoges Phänomen wie das der Totalreflexion in der Optik ausgeschlossen. Was die übrigen Folgerungen man Wege, auf dem gelangt ist. Es sei nun in Figur 14a S wieder die Trennungsfläche der beiden Medien, auf der zwei Punkte (1) und (2) markiert seien. Wir wollen die Einheitsladung einmal im Medium ex auf einem Wege a von der Länge s, der sich der Trennungsfläche S anschmiegt, von (1) nach (2) führen, das zweitemal auf dem Wege b, der im Medium e2 längs der Trennungsfläche verläuft. Nennen wir die hier allein in Betracht kommenden tangen- tiellen Komponenten der elektrischen Kraft @ti und (£t2, so muß nach obigem die auf beiden Wegen geleistete Arbeit gleich sein: also , so daß wir analog Gleichung (24) haben : (38a) 0 (38b) wobei: (38c) /©ndfi = 4«ei, 2) = a© ist. Es ist aber wohl zu beachten, daß im folgenden s nicht als Konstante, sondern als Funktion der Raumkoordi- naten x y z zu betrachten ist, da das Elektrische Inüuenz 245 Medium in seinen Eigenschaften als variabel vorausgesetzt ist. Aus (35) folgt, da räumliche Ladungen wieder ausgeschlossen wer- den, analog (25): 0 und für Oberflächenladungen, die auch hier nur auf Leitern angenommen werden sollen: ( ®n = 4tt7j, oder (38e) ©n = 4jrrj Im Innern der Leiter endlich ist, wie immer, das elektrische Feld gleich Null, also: (38f) @ = 0 (im Innern von Leitern). Wir wollen die Konsequenzen dieser Gleichung untersuchen: (38a) spricht aus, daß die elektrische Kraft (5 aus einem Potential qp ableitbar ist, d. h. daß wie früher: j (39) &=_ g* ©y öfr öx' ®z ■^ist. öz wir derartig öy' Gleichung (38 d) wollen weiter behandeln, daß wir für 2) den Wert £Ö schreiben, wobei e als Funktion von xvz zu behandeln ist. Dann folgt: (40) £UX- ö@y ö®z + öy + öz + e. de . „ öe + ©y- ÖX öy + e2 ö©x ö©y 0. zöz Rechnet man den Ausdruck öz öx öy aus, so folgt dafür: + (41) öx öy Ö£ e^+^öy+e ÖSz öz Ö£ öz Da hier der Ausdruck -r- + = 4tio' ö®y + im allgemeinen nicht von Null verschieden sind. Diese Ladung kann man auch als „Influenzladung" betrachten, die an gewissen Stellen des Dielektrikums auftritt. Darin liegt die größere Komplikation gegen früher, da bisher nur auf Leitern solche Influenz- ladungen auftraten. Die Dichte dieser influenzierten Ladung ist im allgemeinen erst angebbar, wie aus (41) hervorgeht, wenn ©x Sy <£z, d. h. das gesuchte Feld, bereits bekannt sind. Darin beruht die besondere Schwierigkeit dieser Aufgabe. Das ist aber nichts anderes, als das oben bereits qualitativ erschlossene Resultat. Derartige influenzierte Ladungen treten natürlich auch dann auf, wenn das Medium sich sprungweise ändert, d. h. an der Be- rührungsfläche zweier verschiedener Dielek- trika. ö@z öx öy ' öz verschwindet, so hat die rechte Seite die Bedeutung einer 4jr-fachen räumlichen Ladungsdichte. Wir be- zeichnen sie daher mit 4 nq'. Da wir wahre räumliche Ladungen direkt ausge- schlossen haben, so kann es sich nur um freie Ladungen handeln, ähnlich wie vorhin. Aber doch mit einem Unterschiede. Denn in den früheren Fällen traten freie Ladun- gen nur dort auf, wo bereits wahre vorhanden waren ; die freie Ladung erhielt man ja durch Division der wahren mit e treten freie Ladungen auf, wo keine wahren vorhanden sind. Be- trachtet man den Wert von q' genauer, so sieht man, daß er dort auftritt, wo das Medium variiert, da nur dort öe öe öe ö"x' öy' öz' Hier dagegen gar Fig. 14 c Es sei in Figur 14c die Trennungsfläche zweier Dielektrika mit den D. K. e1 und e2. Wir legen eine geschlossene Fläche f so, daß sie zum Teil im ersten, zum Teil im zweiten Medium verläuft. Bezeichnen wir mit n die Normale der Trennungsfläche, die vom Medium 1 nach dem Medium 2 weist, so folgt durch Anwendung des Gau fi- schen Satzes (38b) leicht, da wahre Flächen- ladungen ausgeschlossen sind: (S>n)i=(3>n),= 0. Diese Gleichung bedeutet, daß auf der Trennungsfläche keine Verschiebungslinien (^-Linien) endigen oder entstehen; wir haben sie bereits oben in (35) gerade daraus ge- wonnen. Die Indizes 1 und 2 bedeuten dabei, daß ©n einmal im ersten, einmal im zweiten Medium an der Trennungsfläche zu bilden ist. Wenn wir für 2) seinen Wert einsetzen, so ist: (42) flGni — e2(£ni = 0. Rechnet man den Ausdruck ^iij— @n2 aus, so folgt (43) (f-Dl - ®n2 = ~ (er-si) = inr)', d. h. daß auf der Trennungsfläche Kraft- linien (©-Linien) endigen oder neu entstehen. Die Differenz ®ax — l£n2 gibt also die 246 Elektrische Influenz 4:7t fache Flächendichte an und ist daher in (43) durch 4.nr( bezeichnet. Es tritt also wieder, obwohl wahre Ladungen fehlen, an der Trennungsfläche, wo die D. K. sich sprungweise ändert, Influenzladung des Dielektrikums auf. Der Wert derselben ist gleichfalls erst bekannt, wenn die Aufgabe schon gelöst ist. Wir können also allgemein sagen, daß außer an Leitern auch an den Stellen des Dielektrikums In- fluenzladungen auftreten, an denen die D. K. — sei es stetig, sei es sprungweise — variabel ist. 3b) Lösung spezieller Fälle. Als Beispiel nehmen wir wieder den Fall des Plattenkondensators. Zwischen den Metall- platten befinde sich ein Dielektrikum von variabler D.K. Der Einfachheit halber nehmen wir an, daß dieselbe nur von x abhängig sei und setzen dafür etwa an: £ = £0 + CtX, wo a eine Konstante bedeutet. Wahre elek- trische positive Ladung e/S findet sich auf Platte 1; Influenzladung von demselben Betrage, aber umgekehrtem Vorzeichen auf der zweiten Platte. Ferner ist im Innern freie (influenzierte) räumliche Ladung öe vorhanden, da nach Voraussetzung -c— = a-f- 0 ist. Man erkennt ohne weiteres, da hier einfach ®x an Stelle von @x tritt, daß wir hier analog Gleichung (13) haben: $x = 4jze/S; Also : (44 (Jx = -=- = 07 : v Se b(e0 -f- ax) Für die Differenz der Potentiale der beiden Platten liefert die Theorie, da diese gleich der Arbeit ist, die geleistet werden muß, um die Einheitsladung von Platte 2 auf Platte 1 zu schaffen: 1 x=d a . X H r- » oz/oo öqp\ =Qj l , die walne Ladungsdichte, = 0. Da aber tritt das zweite Glied im Ausdruck der 1 de ponderomotorischen Kraft — g- (£ 2 -r— ... in Wirkung, da ja an der Oberfläche der Papier- schnitzel die D. K. variiert, also wenigstens eine der Größen — , — , — von Null ver- öx' öy' dz Elektrische Influenz — Elektrische Leistung 249 schieden ist. Dieses Beispiel zeigt die fun- damentale Bedeutung der oben gegebenen Ausdrücke für die ponderomotorische Kraft. Was die Berechnung der ponderomotori- schen Kräfte angeht, so ist zu bemerken, daß dieselben erst bekannt sind, wenn das elektrische Feld bekannt ist, d. h. wenn das elektrostatische Problem bereits gelöst ist. Hier liegt also dieselbe Schwierigkeit vor wie bei der Berechnung der freien Ladungen. Sind die Kräfte gefunden, so sind die Bewegungs- erscheinungen der Körper nach den Ge- setzen der Mechanik zu berechnen. Literatur, a) Zusammenfassende Werke: Abraham and Föppl, Theorie der Elektri- zität, 4. Aufl., Leipzig 1912. 2. Abschn. — E. Colin, Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900. Kap. L. — H. von Helmholtz, Vorlesungen über theoretische Physik, Leipzig 1907. Bd. 4. — Maxwell, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus. Deutsche Ausgabe, Berlin 188S. Bd. I, Teil 1, Kap. 1 bis 13. — Itiemann- Weber, Partielle Differentialgleichungen, Braun- schweig 19Ö0. Bd. T, Abschn. 15 und 16. — Schaefer, Einführung in die Maxwellsehe Theorie, Leipzig 1908. Kap. L. — b) Original- abhandlungen: W. Thomson, Papers on Elektrostatics and Magnetism. London I884. — H. Hertz, Ueber die Grundgleichungen der Elektrodynamik im ruhenden Körper, Weike, Leipzig 1892. Bd. IL, S. 208. — G. Green, Grelles Journal, Bd. 39, abgedr. in Ostwalds Klassiker, Bd. 39. — G. Kirehhoff, Gesammelte Abhandlungen. 1882. — F. Neumann, Werke, Leipzig 1912. Bd. JH. — C. Neumann, Theorie der Elektrizitäts- und Wärmeverteilung in einem Ringe. Halle I864. — E. Neumann, Grelles Journal, Bd. 110. — Poisson, Bull, soc. philomat. IS 2 4. C. Schaefer. Elektrische Leistung. 1. Definition der elektrischen Leistung. 2. Einheit der elektrischen Leistung. 3. Theorie der Leistungsberechnung: a) Gleichstrom, b) Wechselstrom, c) Stromsysteme. 4. Meß- methoden: a) Gleichstrom, b) Wechselstrom: Dynamometrische Methode und Konstruktion dynamometrischer Leistungsmesser. Elektro- metrische Methode. Drehfeldmeßgeräte: Drei- spannungsmesser-Dreistrommessermethode. 5. An- wendungen. 1. Definition der elektrischen Leistung. Unter Leistung versteht man in der Physik allgemein die einem System in der Zeitein- heit zugeführte Energie, oder den Quotienten aus der gesamten zugeführten Energie durch die Zeit, während welcher die Energieände- rung stattfand. Dabei ist vorausgesetzt, daß diese Aenderung zeitlich gleichmäßig erfolgt. Ist das nicht der Fall, so ändert sich auch die Leistung von Augenblick zu Augenblick, und man erhält ihren Augenblickswert, indem man die in einem Zeitelement dt zugeführte Energie dQ bestimmt und den Quotienten dQ/dt bildet. Diese allgemeinen Festsetzungen sind auch für die elektrische Leistung gültig. Die Form, durch welche man einem System elektrische Energie zuzuführen oder zu entnehmen pflegt, ist der elektrische Strom. Erfolgt die Zu- führung (bezw. Entnahme) nur an einer Stelle durch eine Hin- und eine Rückleitung in der Form von Gleichstrom bei kon- stanten Spannungen (stationärei Zustand), so ist die zugeführte Energie proportional dem Produkt aus der Spannung zwischen den Zu- führungen und der Elektrizitätsmenge, welche durch die Zuführungen fließt; die elektrische Leistung ist somit proportional dem Produkt aus Spannung und Stromstärke. Dieses Ge- setz gilt unabhängig davon, aus welcher Quelle die elektrische Energie stammt und in welcher Weise sie in dem System, dem sie zu- geführt wird, verzehrt wird; auch die Art, | wie sich der Strom im Innern des Systems verzweigt, ist hierfür gleichgültig. Sind Spannungen und Ströme veränder- lich, so erhält man den Augenblickswert der Leistung, indem man die zugehörigen Augen- blickswerte von Strom und Spannung mit- einander multipliziert. 2. Einheit der elektrischen Leistung. Die Einheit der elektrischen Leistung .ist das Watt (abgekürzt W). Man er- hält die Leistung eines elektrischen Stromes in Watt, indem man den in Ampere gemessenen Strom mit der in Volt gemessenen Spannung multipliziert, welche den Strom durch die Leitung treibt, d. h. ein Watt wird pro Se- kunde in einem Stromkreis verbraucht, in welchem bei 1 Volt Spannungsabfall ein Strom von 1 Ampere zustande kommt. 1 Neben dem Watt werden folgende Viel- fache als Einheiten gebraucht: 1 Kilowatt (abgekürzt kW)=100Ö Watt, 1 Megawatt (abgekürzt MW)=1 000000 Watt. Die Definitionen von Volt und Ampere beruhen zwar auf dem elektromagnetischen cgs-System, sie stimmen aber streng ge- nommen nicht genau mit den cgs-Einheiten überein, sondern sind durch Reichsgesetz vom 1. Juni 1898 in einer experimentell reprodu- zierbaren Weise praktisch so festgelegt, daß sie den cgs-Einheiten möglichst nahe kommen. Daher stimmt auch das aus Volt und Ampere definierte Watt streng genommen nicht genau mit der aus dem cgs-System abgeleiteten Einheit überein, sondern weicht davon um einen nicht genauer bekannten Betrag ab. Als Einheit der Leistung im cgs-System ist die Arbeit von 1 Erg anzusehen, wenn sie in 1 Sekunde vollbracht wird. Das Watt ist fast genau das 107 fache dieser Einheit. Neben dieser Einheit wird noch die Pferde- stärke (abgekürzt PS) gebraucht. Man ver- 250 Elektrische Leistung steht darunter die Leistung, die erforderlich ist, um ein Gewicht von 75 kg in 1 sk um 1 m zu heben. Daraus ergibt sich der Zusammen- hang 1 PS = 735 Watt. In neuerer Zeit ist man bestrebt, die Pferde- stärke als Einheit zu beseitigen; dies ist be- rechtigt, weil sie in das cgs-System nicht hineinpaßt und ihre Größe von der Erd- schwere g abhängig ist. Man will daher künftig auch mechanische Leistungen wie z. B. die Leistung von Motoren in Watt bezw. Kilowatt ausdrücken. 3. Theorie der Leistungsberechnung. 3a) Gleichstrom. Ein Leiter vom Wider- stand r Ohm ( g?) werde von einem Gleichstrom von J Ampere durchflössen; findet in dem Leiter keine Elektrolyse statt, hat der Strom keine mechanische Arbeit zu leisten und wird in ihm keine EMK induziert, so ist nach dem Oh mischen Gesetz wo fp1 und !— ist eine von vielen Fak- toren abhängige Größe, die keine einfache physikalische Bedeutung besitzt. Verschiebt man die Kurven von e und i gegeneinander, ohne ihre Form zu ändern, so läßt sich nachweisen, daß es» eine Lage gibt, in welcher M(ei) = o wird, die effektive Phasenverschiebung wird 90°. Dagegen ist, wenn die Kurvenformen von e und i verschieden sind, keine Lage der Kurven zueinander ausfindig zu machen, für welche M(ei) = EJ ist; vielmehr bleibt stets M(ei) < EJ Die effektive Phasenverschiebung erreicht also, wenn die Kurvenform der Spannung von der des Stromes abweicht, nie den Wert Null. Nur, wenn die Kurvenformen einander gleich sind, gibt es eine Lage von eund i zueinander, in der $=o ist. In der Praxis ist der letztere Fall leicht zu realisieren, indem man eine mehrwellige Spannung durch einen induktions- freien Widerstand schließt. 3c) Leistungsberechnung von Strom- systemen, a) Dreileitersystem für Gleichstrom. Das Dreileitersystem kann man sich dadurch entstanden denken, daß von zwei voneinander unabhängigen Stromkreisen x x x x x Fig. 4. der positive Pol des einen mit dem negativen Pol des andern vereinigt wird. Sind Ex und E2 (Fig. 4) die Spannungen der beiden Energie- quellen, Jx und J2 die Ströme, welche der Elektrische Leistung 253 einen bezw. der anderen Energiequelle ent- nommen werden, so fließt in der gemeinsamen Leitung die Differenz der Ströme J1—32. Die Leistung des gesamten Systems ist: L = EJi + E2J2 oder L=21(E1-E2)( Ji- J2)+| (Ex + E2)( Jj + J2) Bei Elektrizitätswerken, welche diese Schal- tung verwenden, pflegt nahezu Ex= E2 zu sein, so daß angenähert L = \ (Ex + E2) ( 31 + J2) wird. Das zweite Glied der vorhergehenden Gleichung zeigt, welcher Fehler bei der Mes- sung begangen wird. E^Ea ist die Span- nung zwischen den „Außenleitern". ß) Drehstrom. Beim Drehstromsystem werden in einer Energiequelle drei Wechsel- spannungen gleicher Größe erzeugt, die in der Phase um je 120° verschoben sind. Sie werden entweder in Form eines Dreiecks oder eines Sternes zusammengeschaltet. Seien Px P2 P3 (Fig. 5) die drei Pole eines Drehstromsystems, i^ia i3 die Augenblicks- werte der Ströme in den Leitungen, die von P,o von P2 hin und nach P3 zurück. Die Gesamt- leistung des Drehstromes wird also ähnlich wie beim Dreileitersystem für Gleichstrom MCeb.iO + Mf— eai2) Wie die Phasen der einzelnen Ströme und Spannungen liegen, erkennt man am besten, wenn man sich ein Diagramm zeichnet (die Länge der Linien ist den Effektivwerten der Ströme und Spannungen proportional, die Winkel zwischen den Linien gleich den Phasenverschiebungen). Liegen zwischen den Leitungen 12, 23, 31 gleich große induktions- freie Lasten Qa Qb Qc so fließen in den- selben drei Ströme ia ib ic von gleicher Größe die mit den sie erzeugenden Spannungen ea eb ec in Phase sind (Fig. 6). Die Ströme ix i2 i3 3 = — h Man kann also i3 als die Rückleitung der beiden Ströme ix und i2 auffassen, und die Gesamtleistung des gesamten Drehstrom- systems auffassen als zusammengelegt aus zwei einphasigen Wechselstromleitungen. Die Spannung eb zwischen Px und P3 treibt den Strom ix durch die Leitung von Px hin und nach P3 zurück; die Spannung ( — ea) zwischen PoiindP, treibt den Strom i«, durch die Leitung - >0?) Fig. 6. sind gleich der Differenz von je zwei Be- lastungsströmen ii=ib— 1< 13=1; "Ib Nach dem Ausdruck für die Leistung des Drehstromsystems sind die Mittelwerte eb i2 und (— ea)i2 zu bilden. Wie das Diagramm zeigt, schließt bei induktionsfreier Last jede dieser Spannungen mit dem zugehörigen Strom einen Winkel von 30° ein ^(eb,i1) = 30°, ^(-ea,i2)=30° Führt man also Effektivwerte ein, so wird L=Eb Lcos30+Ea J2cos30 =(EbJ1+EaJ2),|: und da die Effektivwerte der Spannungen sowohl wie der Ströme einander als gleich vorausgesetzt sind, so ist in einem voll- ständig symmetrischen und symmetrisch induktionsfrei belasteten Drehstromsystem die Leistung: L = E Jl/3 (E verkettete oder Dreieckspannung, J Linienstrom). Es mag noch der Fall betrachtet werden, 254 Elektrische Leistung wo die Belastung in den 3 Zweigen gleich- mäßig, aber induktiv ist, und zwar mögen die Ströme ia ib ic gegen die sie erzeugenden Spannungen um 60° nach rückwärts ver- schoben sein. ix i2 erhalten dann die in der Figur gestrichelt gezeichneten Lagen (Buch- staben eingeklammert). eb und (ix) schließen wiederum 30° ein; aber während bei induktionsfreier Last ix zeitlich vor eb lag, liegt es jetzt dahinter, (— ea) und (i2) schließen 90° ein, daher ist M(— eai2)=0 Bei behebiger Phasenverschiebung 99 wird die Formel für die Leistung: L = E J cos (30°— q>) + E J cos (30° + 99) = E JV3 cos cp. Durch zyklisches Vertauschen der Ströme und Spannungen in der Gleichung L=M(ebi1) -f M( — eai2) und durch Addieren von zwei oder drei der so entstehenden Gleichungen ge- langt man zu folgenden hin und wieder ge- brauchten Formeln für die Leistung eines Drehstromsystems : 2L=M(ec— ea)ia+M(e1— e3)eb 3L=M(eb— ec)i,+M(ec— ea)i2+M(ea— eb)i3 =M(eb— ec)(i,— i3)+M(ec— ea)(i2— i3) =M(i3— yea+MOj— i3)eb+M(i2— ij)ec y) Vierleitersystem. Das Drehstromsystem wird zum Vierleitersvstem, wenn man vom Sternpunkt P0 (Fig. 7) eines in Stern geschal- teten Drehstromgenerators ebenfalls eine Leitung ausgehen läßt; der Strom in diesem sogenannten „Nullleiter" sei i0 Die Augen- blickswerte der Ströme in den vier Leitungen müssen die Bedingung erfüllen: ii+i2+i3+io==0 Man kann also jede der Leitungen als Rück- leitung für die drei andern auffassen und auf diese Weise sich für die Leistungsberechnung das Vierleitersystem in drei Einphasensysteme zerlegt denken. Wird ic als Rückleitung an- gesehen, so wird die Leistung L=M(e1i1)+M(e2i2)+M(e3i3) Faßt man i3 als Rückleitung auf, so ist: L=M(ebi1)— M(eai2)— M(e3i„). Diese Ueberlegungen lassen erkennen, daß sich die Leistung eines Vierleitersystems stets aus der Summe von drei Mittelwerten zusammensetzen läßt In der Praxis werden häufig vereinfachte Formeln benutzt, die in der Regel voraus- setzen, daß die Summe der Augenblickswerte der drei Sternspannungen (e1+e2+e3)=0 ist. Diese Voraussetzung trifft in den seltensten Fällen genau zu. Es ist daher nicht zu em- pfehlen, mit diesen vereinfachten Formeln zu arbeiten 4. Meßmethoden. 4a) Gleichstrom. Zur Bestimmung der Leistung in einem Gleich- stromkreise mißt man mit den üblichen Span- nungs- und Strommessern die Spannung zwischen den beiden Zuführungspunkten und den gesamten in den Kreis hineinfließenden Strom; das Produkt aus Spannung und Strom ergibt die Leistung. Es empfiehlt sich nicht, hierfür besondere Leistungsmesser anzu- wenden. Beachtung erfordert der Eigenverbrauch der Apparate, der je nach der Schaltung ver- schieden in Rechnung zu setzen ist. Es be- deute (Fig. 8 und 9) Fig. 8. <*} Fig. 9. le die Leistung, welche im Spannungs- messer verbraucht wird li die Leistung, welche im Strommesser A verbraucht wird re den Widerstand des Spannungsmessers n „ ,, „ Strommessers E am Spannungsmesser abgelesene Spannung J am Strommesser abgelesenen Strom. Also: le = E2/re li=J2ri Dann ist die von der Energiequelle G abge- gebene Leistung bei Schaltung I EJ+le „ II EJ+h die an die Belastung abgegebene Leistung bei Schaltung I EJ — h II EJ-le Man wird zweckmäßig immer diejenige Schaltung wählen, bei welcher die Korrektion le beziehungsweise L die kleinere ist. Nen- Elektrische Leistung •':,; o» nenswerte Beträge erreicht die Korrektion nur bei der Messung kleinerer Leistungen. 4b) Wechselstrom, a) Dynamome- trische Methode. In den allermeisten Fällen empfiehlt es sich Wechselstromleistun- gen mit dem Dynamometer zu messen. Ein Dynamometer besteht aus einem festen und einem beweglichen Spulensystem, die von Strömen durchflössen eine mechanische Kraftwirkung aufeinander ausüben. Federn oder Gewichte halten dieser Kraft das Gleich- gewicht; an einer Skale wird eine der Kraft- wirkung proportionale Größe abgelesen. Fließen in den beiden Spulensystemen zwei Gleichströme i und j, so ist die Kraft und damit die Ablesung a an der Skale proportional dem Produkt dieser Ströme: ij = Ca Man nennt C die dynamometrische Kon- stante des Apparates; ihre Größe hängt von den Konstruktionsdaten, das heißt den ge- wählten Abmessungen, Wahl und Anord- nung der Federn beziehungsweise der Ge- wichte ab. Ersetzt man die beiden Gleichströme durch zwei Wechselströme \1 und \v welche beide dieselbe Frequenz haben, so ist die Kraftwirkung pulsierend ; ihr Augenblickswert ist proportional i1j1. Bei einigermaßen hohen Frequenzen vermag aber die bewegliche Spule den rasch wechselnden Impulsen nicht zu folgen und gemessen wird nur der zeitliche Mittelwert der Kraftwirkungen. Die Ablesung a an der Skale genügt also der Gleichung M(iih) = IiJilcosii, y == Ca Darin bedeutet C dieselbe dynamometrische Konstante, wie vorher. Ist C durch eine Gleich- strommessung bestimmt, so kann es ohne weiteres bei Wechselströmen zur Messung des zeitlichen Mittelwertes des Stromproduk- tes angewandt werden. Dies ist aber nur dann richtig, wenn nicht in der Nähe der Spulen ausgedehnte Metall- mengen vorkommen. Sind nämlich solche Me- tallmassen vorhanden, so werden in denselben durch die magnetischen Wechselfelder der Spulen Wirbelströme erzeugt, welche ebenfalls auf die bewegliche Spule mechanische Kräfte ausüben. Diese Kräfte treten aber bei der Bestimmung von C durch Gleichströme nicht auf. Es gilt daher bei der Konstruktion von Dynamometern als Regel, daß außerhalb der Stromleiter möglichst kein Metall, z. B. zur Be- festigung, als Grundplatte usw. verwandt wird. Ist die Anwendung von Metall nicht zu um- gehen, so muß durch einen besonderen Ver- such geprüft werden, ob es eine störende Wirkung ausübt. Zu empfehlen sind für diese Zwecke schlecht leitende Legierungen. Aber auch die Metallmassen des Strom- leiters selber werden von den magnetischen Feldern durchsetzt, so daß namentlich bei der Verwendung massiver Spulen für große Stromstärken durch die in denselben erzeugten Wirbelströme fehlerhafte Messungen entstehen können. Man kann diesen Fehler durch ge- eignete Unterteilung des Kupfers vermeiden; am vollkommensten geschieht das in der Weise, daß der Stromleiter aus dünnen iso- lierten Drähten zusammengeflochten wird. Das Zusammenflechten oder Zusammendrehen muß nach einem gewissen Plan erfolgen, so daß jeder Einzeldraht von dem magnetischen Felde in gleicher Weise beeinflußt wird. In vielen Fällen genügt aber auch eine verhält- nismäßig einfache Unterteilung. Das Dynamometer wird zum Leistungs- messer, indem man den Arbeitsstrom I (Fig. 10), welcher die zu messende Leistung vollbringt, durch das eine Spulensystem Sf fließen läßt (in der Regel das feste) ; das andere Spulensystem Sb (in der Regel das beweg- liche) erhält einen passenden Vorschaltwider- stand und wird wie ein Spannungsmesser zwischen den Punkten A und B an die Be- triebsspannung E angeschlossen. Wird zu- nächst einmal die Selbstinduktion dieser sogenannten Spannungsspule gegenüber dem Vorschaltwiderstand vernachlässigt, so ist, wenn r der Gesamtwiderstand des Spannungs- kreises ist (Spule + Vorschaltwiderstand),. J: = E/r und die Eichung ergibt: EIcos(-4E,I) = (Cr)a Die Ablesung a ist proportional der zu messenden Leistung; die Konstante des Ap- parates als Leistungsmesser ist Cr; sie wird also aus den dynamometrischen Konstanten durch Multiplikation mit dem Gesamtwider- stand des Spannungskreises gewonnen. Dabei ist aber bisher die Selbstinduk- tivität 1 der Spannungsspule vernachlässigt worden. Sie ist fast stets so gering gegenüber dem Widerstand des Spannungskreises, daß sie bei der Berechnung der Stärke des Span- nungsstromes vernachlässigt werden kann. Dagegen macht sich zuweilen die Phasen- verschiebung 6 bemerklich, welche der Span- nungsstrom gegen die Spannung erfährt. Ist der Betriebsstrom I gegen die Spannung E um den Winkel cp verzögert, so beträgt die Phasenverschiebung zwischen Betriebs- strom und Spannungsstrom nur cp — 0, und 256 Elektrische Leistung Leistungsmessers wird die Ablesung des proportional EJcos(99 — d) ö ist in der Regel sehr klein, so daß es meist genügt mit folgenden Formeln zu rechnen: <5 = tg — (co = 2tc X Frequenz) E Jcosq9 = Coc(l ± ötg rO J-0 ■Ol K) 6, (V o-1 u« rO- 0 Ud k> G, sec r 3 1-1 cmlg 2 i sec2 An diesen theoretischen Definitionen des Ohm, Ampere, Volt ist niemals etwas ge- ändert worden. Da sich indessen diese „absoluten" Maß- einheiten nur durch sogenannte absolute Messungen, die damals noch einen sehr geringen Genauigkeitsgrad erreicht hatten, verwirklichen ließen, so beschloß man 1884 auf dem Pariser Kongreß, das Ohm durch sein Verhältnis zu der viel genauer bestimm- baren Siemensschen Quecksilberein- heit (Widerstand einer Quecksilbersäule von 1 m Länge, 1 mm2 Querschnitt und von der Temperatur 0° C) zu definieren. Der Be- schluß, das „legale Ohm" gleich 1.06 Siemenseinheiten zu setzen, entsprach der damaligen experimentellen Kenntnis über das Verhältnis des absoluten Ohm zur Siemenseinheit und wurde, nachdem die Versuche erster Forscher für dieses Ver- hältnis genauere Zalüen geliefert hatten, auf dem internationalen Kongreß zu Clücago (1893) dahin umgeändert, daß 1 interna- tionales Ohm = 1,063 Siemenseinheiten sein solle. Ferner wurde in Chicago als internationales Ampere diejenige kon- stante Stromstärke festgesetzt, welche beim Durchgang durch eine wässerige Lösung von Silbernitrat in einer Sekunde 0,001118 g Silber niederschlägt. In Paris war man über die theoretische Definition des Ampere nicht hinausgegangen. Durch die Festsetzung von internatio- nalem Ohm und internationalem Am- pere sind sämtliche elektrischen Normal- maße völlig bestimmt. Z. B. ist das inter- nationale Volt durch das Ohmsche Gesetz als diejenige Spannungsdifferenz bestimmt, welche an den Enden eines Widerstandes von 1 internationalen Ohm herrscht, der von 1 internationalen Ampere durchflössen wird. Es ist also nicht etwa zulässig, außer den beiden Grundeinheiten internationales Ohm und internationales Ampere auch das internationale Volt durch die Spannung eines bestimmten Normalelements zu definieren, wie dies auf dem Kongreß zu Chicago 1893 geschehen war. Es hatte sich bald nach der Konferenz herausgestellt, daß die dort durch das Clarksche Element zahlenmäßig fest- gelegte Definition des Volt um etwa 0,1% von derjenigen abwich, welche sich aus dem Produkt internationales Ohm mal inter- nationales Ampere ergibt. Dieser Fehler der Chicagoer Konferenz wurde erst durch die internationalen Kon- ferenzen über elektrische Einheiten und Normale zu Berlin (Oktober 1905) und zu London (Oktober 1908) wieder völlig be- seitigt, indem man beschloß, als Grundein- heiten nur internationales Ohm und inter- nationales Ampere zahlenmäßig festzulegen. I An der Londoner Konferenz nahmen 46 Dele- gierte der folgenden 22 Länder und 4 eng- lischen Besitzungen teil: Vereinigte Staaten von Amerika, Belgien, Brasilien, Chile, Columbia, Dänemark und Schweden, Deutsch- land, Ecuador, England, Frankreich, Guate- mala, Italien, Japan, Mexiko, Niederlande, Paraguay, Oesterreich, Rußland, Spanien, Schweiz, Ungarn, Australien, Kanada, Indien und Kronkolonien. Es ist zu erwarten, daß auch die gesetz- lichen Bestimmungen dieser Länder, soweit dies noch nicht geschehen ist, den Beschlüssen der Londoner Konferenz folgen werden. Im Deutschen Reich sind bereits durch ein am 1. Juni 1898 erlassenes Gesetz nur Ohm und Ampere als Grundeinheiten festgelegt. Dem Beispiele Deutschlands sind Oesterreich (1900) und Belgien (1903) gefolgt, während die Ver- einigten Staaten von Amerika (1893), Eng- land (1894) und Frankreich (1896) in An- lehnung an die Chicagoer Beschlüsse auch das internationale Volt durch die elektro- motorische Kraft des Clarkelements de- finiert hatten. In diesen Ländern müssen ; demnach die gesetzlichen Bestimmungen nach den Londoner Beschlüssen (1908) ge- ändert werden. 2. Die elektrischen Maßnormale im Deutschen Reich. In Uebereinstimmung mit den internationalen Vereinbarungen be- 264 Elektrische Maßnormale stimmt das im Deutschen Reich am 1. Juni 1898 erlassene „Gesetz, betreffend die elek- trischen Maßeinheiten" folgendes: ,,§ 1. Die gesetzlichen Einheiten für elek- trische Messungen sind das Ohm, das Ampere und das Volt. § 2. Das Ohm ist die Einheit des elek- trischen Widerstandes. Es wird dargestellt durch den Widerstand einer Quecksilbersäule von der Temperatur des schmelzenden Eises, deren Länge bei durchweg gleichem, einem Quadratmillimeter gleich zu achtendem Querschnitt 106,3 cm und deren Masse 14,4521 g beträgt. § 3. Das Ampere ist die Einheit der elek- trischen Stromstärke. Es wird dargestellt durch den unveränderlichen elektrischen Strom, welcher bei dem Durchgange durch eine wässerige Lösung von Silbernitrat in einer Sekunde 0,001118 g Silber niederschlägt. § 4. Das Volt ist die Einheit der elektro- motorischen Kraft. Es wird dargestellt durch die elektromotorische Kraft, welche in einem Leiter, dessen Widerstand ein Ohm beträgt, einen elektrischen Strom von einem Ampere erzeugt." Es ist die Aufgabe der Physikalisch- Technischen Reichsanstalt, die oben definierten Einheiten für das Deutsche Reich praktisch zu verwirklichen und elektrische Meßgeräte, die ihr zur amtlichen Prüfung und Beglaubigung übergeben werden, in den gesetzlichen Einheiten zu prüfen. Deshalb bestimmt das Gesetz in ,,§ 7. Die Physikalisch-Technische Reichs- anstalt hat Quecksilbernormale des Ohm herzustellen und für deren Kontrolle und sichere Aufbewahrung an verschiedenen Orten zu sorgen." Die Quecksilbernormale werden darge- stellt durch Glasrohre von genau bekannter Länge und genau bekanntem Querschnitt, deren Enden in kugelförmige Gefäße ein- münden. Die Rohre werden im Vakuum mit destilliertem und elektrolytisch gereinigtem Quecksilber gefüllt. Der elektrische Wider- stand der Füllungen läßt sich dann der Defi- nition des internationalen Ohm entsprechend durch einfache Umrechnung in dieser Einheit ausdrücken. Der Ausbreitungswiderstand an jedem Ende wird dabei so gerechnet, als ob der Quecksilberzylinder um das 0,80- fache seines Radius länger wäre. Da die Herstellung und Ausmessung der Rohre mit großen Mühen verbunden ist, werden in der Reichsanstalt als Gebrauchsnormale eine Anzahl von Drahtwiderständen aus Man- ganin (Normalbüchsen von 1 internationalen Ohm) benutzt, die häufig untereinander und von Zeit zu Zeit mit den Quecksilbernor- malen verglichen werden. Auf diesen Nor- malbüchsen von 1 Ohm wird jährlich eine Widerstandsskala durch Vergleichsmessungen aufgebaut, die aus Büchsenwiderständen von 100 000 Ohm bis zu 0,0001 Ohm besteht. Es hat sich gezeigt, daß die Drahtnormalen aus Manganin eine große zeitliche Konstanz besitzen. Die Bedingungen, unter denen bei der Darstellung des internationalen Ampere die Abscheidung des Silbers stattzufinden hat, sind nach den Ausführungsbestimmungen des oben erwähnten Gesetzes (siehe Reichs- gesetzblatt 1901 Nr. 16) die folgenden: „Die Flüssigkeit soll eine Lösung von 20 bis 40 Gewichtsteilen reinen Silbernitrats in 100 Teilen chlorfreien destillierten Wassers sein; sie darf nur so lange benutzt werden, bis im ganzen 3 g Silber auf 100 ccm der Lösung elektrolytisch abgeschieden sind. Die Anode soll, soweit sie in die Flüssig- keit eintaucht, aus reinem Silber bestehen. Die Kathode soll aus Platin bestehen. Ueber- steigt die auf ihr abgeschiedene Menge Silber 0,1 g auf das Quadratzentimeter, so ist das Silber zu entfernen. Die Stromdichte soll an der Anode ein Fünftel, an der Kathode ein Fünfzigstel Ampere auf das Quadratzentimeter nicht überschreiten. Vor der Wägung ist die Kathode zunächst mit chlorfreiem destilliertem Wasser zu spülen, bis das Waschwasser bei dem Zusatz eines Tropfens Salzsäure keine Trübung zeigt, alsdann 10 Minuten lang mit destil- liertem Wasser von 70° bis 90° auszulaugen und schließlich mit destilliertem Wasser zu spülen. Das letzte Waschwasser darf kalt durch Salzsäure nicht getrübt werden. Die Kathode wird warm getrocknet, bis zur Wä- gung im Trockengefäß aufbewahrt, und nicht früher als 10 Minuten nach der Abkühlung gewogen." Die praktische Verwirklichung der Strom- einheit mittels des Silbervoltameters erfordert also einen erheblichen experimentellen Auf- wand und mannigfache Erfahrung. Es ist deshalb auch hier wünschenswert, Gebrauchs- normale zu besitzen, mittels deren eine Strommessung bequem und doch genau aus- geführt werden kann. Das beste Gebrauchs- normal hätte man in einem zeitlich unver- änderlichen Normalelement, dessen elektro- motorische Kraft durch silbervoltametrische Messungen in internationalen Volt geeicht worden ist. Den Bemühungen der Physi- kalisch-Technischen Reichsanstalt, des Na- tional Physical Laboratory in Teddington und des Bureau of Standards in Washington ist es gelungen, das Westonsche Normal- element mit stets gesättigter Cadmium- sulfatlösung so genau reproduzierbar und zeitlich konstant zu konstruieren, daß ein großer Stamm solcher Elemente, bei kon- stanter Temperatur aufbewahrt, ein ziem- lich konstantes Spannungsnormal darstellt, Elektrische Maßnormale — Elektrische Maßsysteme 265 welches nur selten an das Silbervoltameter angeschlossen zu werden braucht. Auf Grund der neueren Anschlußmessungen kann man für die in London 1908 international ange- nommene Form des Westonschen Normal- elements mit stets gesättigter Lösung die elektromotorische Kraft zu 1,0183 Volt bei 20° annehmen. Die übrigen elektrischen Einheiten für Elektrizitätsmenge, Leistung, Arbeit, Kapa- zität und Induktionskoeffizient werden durch die Ausführungsbestimmungen zum Gesetz vom 1. Juni 1898 und in Uebereinstimmung mit internationalen Vereinbarungen wie folgt definiert und bezeichnet: ,,Die Elektrizitätsmenge, welche bei einem Ampere in einer Sekunde durch den Quer- schnitt der Leitung fließt, heißt eine Am- peresekunde (Coulomb), die in einer Stunde hindurchfließende Elektrizitätsmenge heißt eine Amperestunde. Die Leistung eines Ampere in einem Leiter von einem Volt Endspannung heißt ein Watt. Die Arbeit von einem Watt während einer Stunde heißt eine Wattstunde. Die Kapazität eines Kondensators, wel- cher durch eine Amperesekunde auf ein Volt geladen wird, heißt ein Farad. Der Induktionskoeffizient eines Leiters, in welchem ein Volt induziert wird durch die gleichmäßige Aenderung der Strom- stärke um ein Ampere in der Sekunde, heißt ein Henry." Alle diese Einheiten lassen sich ihrer De- finition gemäß auf internationales Ohm, inter- nationales Ampere und Sekunde zurückführen. Die Messungen, durch welche dies geschieht, heißen auch „absolute" Messungen. Sie sind in der Regel mühsamer als relative Messungen, bei denen nur zwei gleichartige Größen ver- glichen werden. Es ist deshalb üblich, für solche Vergleiche Gebrauchsnormale her- zustellen, welche die Einheit selbst oder einen Teil oder ein Vielfaches derselben darstellen und nur von Zeit zu Zeit „absolut" gemessen zu werden brauchen. Für die Vielfachen und Teile der elek- trischen Einheiten gelten folgende Bezeich- nungen. Als Vorsätze vor dem Namen einer Einheit bedeuten: E. T. Z. 1910, S. 1303. — Weitere Literatur z. B. bei W. Jaeger und St, Lindeck, Zeitschr. f. Instrumentenkunde 1906, S. 15: lieber die Konstanz von Normalwiderständen aus Manganin. — E. Giebe, ebenda, 1909, S. 269 und 1911, S. 6: Normalkondensatoren und ihre absolute Messung; Präzisionsmessungen an Selbstinduk- tionsnormalen. E. Grüneisen. Klo Mega (Meg) Milli Mikro (Mi kr) das Tausendfache, das Millionfache, den tausendten Teil, den millionten Teil. Literatur. Reichsgesetzblatt 1898, S. 905 und 1901, Nr. 16. — Internationaler Entwurf für die staatlichen Laboratorien im Verbatim Report d. Intern. Konferenz London 1908 ; Bericht hierüber: W. Jaeger und St, Lindeck, E. T. Z. 1909, Heft 15. — Internationaler Wert der elektro- motorischen Kraft des Weston- Normalelements Elektrische Maßsysteme. 1. Zweck der Maßsysteme. 2. Mechanische Maßsysteme: a) Dimension. b)Diagramm. c) „Ab- solutes" und „technisches" Maß. 3. Die will- kürlichen Konstanten: a) Beziehungen zwischen elektrischen und mechanischen Größen, b) Be- ziehungen zwischen magnetischen und mecha- nischen Größen, c) Beziehungen zwischen elek- trischen und magnetischen Größen. 4. Die ge- bräuchlichen Maßsysteme: a) Absolute elektro- statische Einheiten für die elektrischen Größen, b) Absolute magnetostatische Einheiten für die magnetischen Größen, c) Absolute elektromagne- tische Einheiten für die elektrischen Größen, d) Kombinationen, e) „Praktisches" Maßsystem, f) „Absolute" cgs-Einheiten in „praktischem" Maß. 5. Mängel der gebräuchlichen Maßsysteme : a) Stellung des Faktors <&t. b) Stellung des Fak- tors c0. c) Größenordnung der Einheiten. i. Zweck der Maßsysteme. In den ersten Zeiten elektrischer Messungen benutzte man als Vergleichseinheiten willkürliche Etalons, die gerade vorhanden waren oder die sich leicht und zuverlässig herstellen ließen, z. B. die elektromotorische Kraft des Daniell- schen Elementes als Spannungseinheit oder den Widerstand des Sie mens sehen Queck- silbernormals (1860) als Widerstandseinheit. (Für die Lichtstärke hat man heute noch eine solche willkürliche Einheit: die Lichtstärke der Hefnerlampe.) Wenn man auf diese Weise für jede elektrische und jede magnetische Größe eine Zufallseinheit be- nutzen wollte, so würden die Formeln der Elektrizitätslehre mit einer großen Zahl von Proportionalitätsfaktoren belastet werden. Um dies zu vermeiden, verfuhr man nach dem Grundsatz, für möglichst wenige elektrische Größen die Einheiten willkürlich zu wählen und für die übrigen so, daß in den Gleichungen keine Proportionalitätsfaktoren auftreten, anders ausgedrückt: daß die Proportionalitätsfaktoren = 1 werden. Dann gelten z. B. die Gleichungen Widerstand x Strom = Spannung, Kapazität X Spannung = Ladung. Das war der erste Schritt zu einem Maß- system. Bei der Einführung der heute gelten- den Maßsysteme verfolgte man aber noch einen andern Zweck: Man wollte sich über- 266 Elektrische Maßsysteme haupt von willkürlichen elektrischen Ein- heiten freimachen und alle elektrischen und magnetischen Größen mechanisch definieren, also aus den Einheiten für Länge, Zeit, Kraft ableiten (Gauß 1833). Z. B. soUte als Einheit die Elektrizitätsmenge gelten, die auf eine gleich große im Abstand Eins mit der Kraft Eins wirkt. Dadurch hoffte man nicht nur die Formeln von willkürlichen Koeffizienten zu befreien und die numerische Rechnung bequem zu machen, sondern auch die größte Zuverlässigkeit und Genauigkeit in die Zahlenangaben über elektromagnetische Größen zu bringen. Diese Ansicht entsprach dem damaligen Stande der Meßkunst (1852). Man begann nun (British Association 1861) Etalons zu konstruieren, die den mechanisch definierten idealen Einheiten möglichst nahe kämen, und wo dies nicht möglich war, die Zahlen, die die Werte für irgendwelche will- kürlichen Etalons durch die idealen Einheiten ausdrücken, durch Messung möglichst genau zu finden. Dabei stellte sich heraus, daß es viel leichter ist, beständige und bequem reproduzierbare Etalons für die elektrischen Größen zu konstruieren, als die elektrischen Größen auf mechanische zurückzuführen. Deshalb hat man die ursprüngliche Absicht, die elektrischen Einheiten auf mechanische zurückzuführen, fallen lassen und zieht es gegenwärtig (seit 1884 und 1898) vor, die elektrischen Einheiten in Strenge rein elek- trisch zu definieren und darzustellen. Diese elektrisch definierten Einheiten sind aber so : gewählt, daß sie den ursprünglich ange- 1 strebten mechanisch definierten sehr nahe j kommen. Die Abweichungen liegen an der Grenze der heut erreichten Meßgenauigkeit, sind also zum Teil gar nicht mit Sicherheit angebbar. Aber selbst wenn sich solche Abweichungen angeben lassen, ändert man darum doch nicht die elektrische Definition der Einheit, ebensowenig, wie man nach jeder neuen Messung des Erdquadranten das Meter ändert oder nach jeder neuen Messung der Dichte des Wassers das Gramm. Für die gewöhnlichen Messungen und Rech- nungen können jene kleinen Abweichungen unberücksichtigt bleiben. Wo es aber einmal auf eine ungewöhnlich große Genauigkeit ankommt, muß beim Uebergang vom elek- trischen auf mechanisches Maß ein (sehr nahe bei 1 gelegener) Korrektionsfaktor einge- führt werden. Vom Standpunkt der Prä- zisionsmeßkunst beurteilt, haben sich also die sogenannten absoluten Maßsysteme über- lebt. Für den Theoretiker und für den prak- tischen Rechner bestehen aber ihre Vorteile ?rmindert fort — aber auch ihre Nach- teile. Die Aufgabe der Maßsysteme ist ich, für vorhandene Normale die Zahlen- mit beschränkter Genauigkeit so festzusetzen, daß die Formeln und die numerischen Rechnungen einfach und be- quem werden und daß die unvermeidlichen Konstanten den ihnen logisch zukommenden Platz erhalten. Der Kürze des Ausdrucks wegen werden wir im folgenden eine Redeweise benutzen, als ob es sich noch um eine eigentliche, d. h. streng genaue Zurückführung auf mecha- nisches Maß handelte. Selbstverständlich folgt aus dem Ge- sagten nicht, daß „absolute" Messungen nutzlos und überflüssig seien. Nur erscheint die Aufgabe in einem andern Gewände: Experimentell die Konstanten zu bestimmen, die in den Beziehungen zwischen mechanisch gemessenen mechanischen Größen, nach elek- trisch definierten Einheiten gemessenen elek- trischen Größen und nach magnetisch defi- nierten Einheiten gemessenen magnetischen Größen auftreten. 2. Mechanische Maßsysteme. 2a) Di- mension. Systematische Einheiten benutzt man schon in der Kinematik und in der Mechanik. Da die elektrischen und die ma- gnetischen Maßsysteme an sie anknüpfen, schicken wir über die mechanischen Ein- heiten das Nötige voraus. In der Kinematik sind die Einheiten, die man willkürlich wählt („Grundeinheiten"), die für Länge und Zeit. In der Mechanik kommt noch eine weitere hinzu. Als solche wählt man meist die für die Masse oder die für die Kraft. Alle übrigen Einheiten (die „abgeleiteten") entstehen durch gewisse Vor- schriften, z. B. : Als Einheit gilt die Ge- schwindigkeit, bei der in der Zeiteinheit ein Weg gleich der Längeneinheit zurückgelegt wird. Oder: Als Einheit gilt die Kraft, die der Masse Eins die Beschleunigung Eins er- teilt usw. Hält man an diesen Vorschriften fest und ändert die Grundeinheiten, so ändern sich auch die abgeleiteten Einheiten. Die Ausdrücke, die angeben, wieviel mal so groß eine abgeleitete Einheit wird, nennt man ihre Dimension (Fourier). Macht man die Längeneinheit L-mal so groß, die Zeiteinheit T-mal so groß und die Massen- einheit M-mal so groß, so wird z. B. die Leistungseinheit ML2/T3 = ML2T~3 mal so groß. Der Ausdruck ML2T~3 ist also die Dimension der Leistungseinheit oder kurz der Leistung L. Das drückt man gewöhnlich kurz so aus (Maxwell): [L] = ML2!1-3. 2b) Diagramm. Hat eine beliebige mechanische Größe X die Dimension [X] = MaLbTc, so folgt durch Logarithmieren log[X] = alogM+ blogL+ clogT. Diese Be- ziehung kann man benutzen, um sich durch ein Diagramm eine bequeme Uebersicht über das Größenverhältnis der verschiednen Ein- heiten zu verschaffen, indem man etwa log L Elektrische Maßsysteme 267 als Abszisse und logM als Ordinate aufträgt. Eine Veränderung der Zeiteinheit braucht nicht in Betracht gezogen zu werden, da fast in allen Maßsystemen dieselbe Zeiteinheit benutzt wird: die Se- kunde. Einheiten, die sich wie 1:10:100 verhalten, werden hierbei durch Strecken dargestellt, die sich wie k:(k + l):(k + 2) verhalten (k eine Kon- stante). Figur 1 zeigt ein solches Diagramm der mechanischen Ein- heiten. Jeder Größen- art entspricht eine gewisse Richtung oder Parallelenschar (Tangens des Nei- gungswinkels gegen die Abszissenachse = — b/a), jeder Größe („Einheit") eine be- stimmte Gerade, jedem Maßsystem ein bestimmter Punkt. Die Einheiten dieses Systems werden durch die Geraden darge- stellt, die durch diesen Punkt gehen. Der Abstand zweier paralleler Geraden ist ein Maß für den Logarithmus des Ver- hältnisses der beiden Größen, die durch diese Geraden dar- gestellt werden. An jede Gerade ist die durch sie darge- stellte Einheit ange- schrieben. 2c) „Absolutes" und „technisches" Maß. In der Physik werden als Grundein- heiten Gramm, Zenti- meter, Sekunde be- nutzt (Vorschlag der British Association 1869). Dieses soge- nannte cgs-System wird im Diagramm durch den Schnitt- punkt der horizonta- len Grammlinie mit der vertikalen Zenti- meterlinie dargestellt. Die zugehörige Kraft- einheit heißt „Dyn", die zugehörige Arbeitseinheit „Erg". Das Dyn ist ungefähr gleich der Kraft, mit der ein Milli- grammgewicht auf seine Unterlage drückt. Zei fein hei h = 1 Sekunde 268 Elektrische Maßsysteme Ein Maßsystem, das als dritte Grund- 1 große die Masse benutzt, wird ein „abso-J lutes" genannt. In der Bau- und Maschinen- technikbenutzt man ein Maßsystem, in dem als dritte Grundgröße die Kraft gilt („tech- nisches" Maßsystem). Im absoluten Maß hat die Kraft die Dimension [K] = MLT-2. Hat eine Größe im absoluten Maß die Di- mension MxLyTz, so ist daher ihre Dimen- sion im technischen Maß KxLy^xTz+2x. Ist umgekehrt die technische Dimension KULVTW, so ist die absolute Dimension ]yruLu+vTw-2U> Für einige Größen zeigt die folgende Tafel die Dimensionen in den beiden Maßsystemarten: Masse M KL^T2 Bewegungsgröße MLT * KT Kraft MLT-2 K Trägheitsmoment ML2 KLT2 Drehimpuls ML21]?-1 KLT Arbeit ML2T-2 KL Leistung ML2T^3 KLT-1 In dem technischen Maßsystem werden als Grundeinheiten benutzt: Sekunde, Meter und die Kraft, mit der ein Kilogrammgewicht l auf seine Unterlage drückt (Kraft-Kilo- gramm = kg*). Die zugehörige Masseneinheit kg*sek2/m ist die Masse, der die Kilogramm- kraft (nicht die Schwerkraft!) die Beschleu- nigung 1 m/sek2 erteilt. Das ist ungefähr die Masse von einem 10 kg-Gewicht oder von 10 Litern Wasser (genauer: 9,81). Das „tech- nische" m-kg*-sek-System läßt sich daher auch auffassen als ein „absolutes" m-9,81 kg-sek- System . 1 kg* sek2/m = 9,81 kg; 1 kg*m = 0,981. 108 Erg py 108 Erg; 75 kg*m/sek = 1 Pferdestärke; 100 kg*m/sek = l Poncelet; 102 kg*m/sek = 1 Kilowatt. Im Diagramm wird das technische Maßsystem durch einen Punkt dargestellt, der dicht unter dem Schnittpunkt der horizontalen 10-kg-Linie und der vertikalen Meterlinie liegt. In den Formeln, die für Kechnung nach „technischem" Maß eingerichtet sind, tritt die Erdbeschleunigung g = 9,81 m/sek2 ge- rade da auf, wo die Schwere nicht wirkt, und fehlt gerade dann, wenn sie wirkt. Z. B. ist in einem Schwungring vom Gewicht G und der Umfangsgeschwindigkeit v die kinetische Energie y2 Gv2/g aufgespeichert. Ein Kran, der eine Last vom Gewicht G auf die Höhe h hebt, leistet die Arbeit Gh. Die Größe g hat also bei Rechnungen nach tech- nischem Maß nicht den ihr logisch zukom- menden Platz. 3. Die willkürlichen Konstanten. 3a) Be- ziehungen zwischen elektrischen und mechanischen Größen. Bringen wir zwischen die Platten eines geladenen Platten- kondensators eine isoliert aufgehängte ge- ladene Kugel („Probekugel"), so wirkt auf diese eine Kraft E und zwar überall dieselbe (ho- mogenes Feld). Wir nennen E die Stärke des elektrischen Feldes zwischen den Platten Cvgl. den Artikel „Elektrisches Feld"). Wenn die Probekugel stärker geladen wird, wird auch die Kraft auf sie größer. Wir haben daher die Feldstärke nur in einer willkürlichen und noch unbekannten Einheit ermittelt. Nun ziehen sich aber auch die beiden Platten an und zwar mit einer Kraft, die wie das Quadrat der Feldstärke wächst, und außerdem mit der Plattengröße (-Fläche) f. Bezeichnen wir mit A\2 einen Proportionali- tätsfaktor, so haben wir also für die Kraft den Ausdruck K = ^E2f. messen, so finden wirz/ = Ist die Kraft K ge- 2K E2f Bringen wir zwischen die Platten verschiedene Flüssig- keiten (Petroleum, Oel usw.) und benutzen immer dieselbe Probekugel zur Bestimmung von E, so ergeben sich für A verschiedene Werte. Die Größe J ist also eine Material- konstante, die aber auch für den leeren Raum einen bestimmten Wert _/0 hat. Man nennt das Verhältnis e = _//_/0 die Dielektrizitäts- konstante des Materials (vgl. den Artikel ,.D i - elektrizität"). Wir wollen s die relative (nämlich auf Vakuum oder, was praktisch dasselbe ist, auf Luft bezogene) und A die absolute Dielektrizitätskonstante nennen. Schreiben wir aber umgekehrt für J0 den Zahlenwert vor, so folgt aus der Anziehungs- kraft der beiden Platten ein ganz bestimm- ter Wert für die Feldstärke E, nämlich J/l für die elektrische Feldstärke. Zugleich ist eine bestimmte Einheit für die Dielektrizitätskonstante festgesetzt. Die Dielektrizitätskonstante Eins hat nämlich ein (hypothetischer) Körper, dessen Dielek- trizitätskonstante _/0 mal so klein ist, wie die der Luft. Als eine Einheit der Dielektrizi- tätskonstante werden wir z. B. das Farad/cm kennen lernen. Dieses ist 1,131.1013 mal so groß, wie die Dielektrizitätskonstante der Luft. Folglich beträgt diese E also auch eine bestimmte Einheit 4, = 0,881. 10-13 Farad cm Hat man ein bestimmtes mechanisches Maßsystem zugrunde gelegt, so folgt daraus noch nicht eine bestimmte Einheit für die elektrische Feldstärke E, sondern nur für den Ausdruck E l/j = y 2K f dessen Dimension 1 _i _i M^L ^T ist. Machen wir die Einheit der Dielektrizitätskonstante D mal so groß, den Zahlenwert _/0 also Dmal so klein, so wird die Elektrische Maßsysteme 269 i i _, 1 Einheit der Feldstärke M-L ^T 'D ?mal so groß. Dies ist daher die Dimension von E. Ebenso müssen die Einheiten für die übrigen elektrischen Größen im allgemeinen aus vier Grundeinheiten abgeleitet werden. Die Größe ± Q = ± -iEf wird als die auf einer Platte angesammelte Elektrizitäts- menge bezeichnet, weil Q sich nicht ändert, solange die beiden Platten gegeneinander und gegen ihie Umgebung isoliert bleiben. Von der positiven zur negativen Platte ver- läuft ein „Verschiebungsfluß" W. Ver- binden wir je eine positive und eine negative Elektrizitätsmenge Eins durch v „Ver- schiebungslinien", so wird W = vQ. Die Dichte des Verschiebungsflusses, die so- genannte dielektrische Verschiebung ist W/i = D = v_/E. Macht man v n-mal so groß, so werden die Einheiten für W und D n-mal so klein. Wenn die beiden Platten beweglich an- geordnet werden, so werden sie sich wegen der Anziehung nähern. Sind die Platten isoliert, so bleiben bei der Bewegung Q und E konstant. War der ursprüngliche Abstand der Platten s, so leistet die Kraft K die Arbeit für Luft, dafür aber für die sogenannten ferro- magnetischen um so mehr. Man nennt ju = njn0 die Permeabilität des Stoffes. Wir wollen pi als relative, 71 als absolute Per- meabilität bezeichnen. Als eine Einheit der Permeabilität werden wir das Henry/cm kennen lernen. Es ist i 0,796. 108 mal so groß, wie die Permeabilität der Luft. Diese beträgt also _JT0 = 1,257. KT8 Henry/cm. HlU hat dieselbe Dimension, wie Elzf. Macht man die Einheit der Permeabilität P mal so groß, TI0 demnach P mal so klein, so wird die Einheit der magnetischen Feld- ii.i •ax-Tm-i-p-? A=KS: Al - (Es)2. Man nennt Jl/s = C b die Kapazität des Kondensators und Es = S die elektrische Spannung zwischen den Plat- ten. Hiermit Q = CS und A = .£ CS2 = \ QS. Hieraus ergeben sich leicht für die elek- trischen Größen folgende Dimensionen: 1 ? _i J M^L^T D2 1 3 _,_ 1 — 1 L & _2 J 1 1 _, _i stärke H M2L 2T P * mal so groß. Wir wollen ± ^ = ± nHf die magne- tische Menge auf einem Pol nennen. Von Pol zu Pol geht ein magnetischer Kraftfluß (Induktionsfluß) . Ziehen wir von jeder magnetischen Menge Eins aus k Kraftlinien, ! so wird $ = kD und die Kraftliniendichte (Induktion) | = B =*JIH. Macht man « k-mal so groß, so werden die Einheiten für # und B k-mal so klein. Für die magnetischen Größen gelten hier- nach folgende Dimensionen: Elektrizitätsmenge Q Verschiebungsfluß W Strom J Spannung S Kapazität C Widerstand R Induktivität L Induktionsfluß 0> Induktion B -l_4r. -i M7LT T p2k Magn. Feldstärke H ^T-Ip ^ — i M2L-T D * LD i. D L T iTVd-1 3b) Beziehungen zwischen magne- tischen und mechanischen Größen. Ganz ähnliche Beziehungen lassen sich für das magnetische Feld aufstellen. Denken wir uns zwei Hufeisenmagnete, die sich mit entgegengesetzten Polen nahe gegenüber- stehen. Mit einer Probenadel werde im Luft- raum zwischen den ebenen Stirnflächen der sich gegenüberstehenden Pole in willkür- lichem Maß die Feldstärke H gefunden. Die Anziehungskraft 2K der beiden Magnete wächst mit H2 und mit der Polfläche f. Be- zeichnen wir mit U/2 einen Proportionali- tätsfaktor, so können wir schreiben K = ^-H2f. u Die Größe U ist für die meisten Stoffe nicht sehr verschieden von dem Wert -TL 1 _t 3c) Beziehungen zwischen elek- trischen und magnetischen Größen. Wenn durch einen langen Draht ein Strom geschickt wird, so entsteht in seiner Um- gebung ein magnetisches Feld. Die Kraft- linien bilden Kreise um die Drahtachse (vgl. den Artikel „Magnetfeld" 5f 1). Es zeigt sich, daß die Arbeit, die nötig ist, um einen Magnetpol einmal um den Draht herum bis zum Ausgangspunkt zurückzuführen, für die verschiednen Unilaufswege stets gleich aus- fällt. Führen wir den Pol etwa auf einem Kreis mit dem Radius x herum und bezeich- nen die magnetische Feldstärke im Abstand x vom Draht mit H, so ist der Quotient aus der Arbeit A und der magnetischen Menge O des Poles A/Q = 2jrxH. Dieser Quotient ist dem umschlungenen Strom (der soge- nannten elektrischen Durchflutung des Weges) proportional, in diesem Fall also dem Strom J, der in dem Draht fließt. Auch in andern, weniger einfachen Fällen ist die Umführungs- arbeit immer dem umschlungenen Strom proportional und wird durch keine andern physikalischen Größen beeinflußt. Der für unsern einfachen Fall geltende Ausdruck -0 — -tt ist also eine Konstarrte, die auch in andern Fällen angibt, wieviel mal so groß 270 Elektrische Maßsysteme die Durchflutung ist als die Umlaufsarbeit des Einheitspoles. Als Dimension dieser Konstante finden wir L 3 _9 1 MTLTT -D? 1 1 L 2ttxH 1 i — i. mtltt P l Nun ist LT-1 die Dimension einer Ge- schwindigkeit. Das veranlaßt uns, indem wir mit c eine Geschwindigkeit bezeichnen, für die Konstante den Ausdruck cLJTI ein- zuführen. Bei einer Veränderung von j und JJ muß sich also c2 umgekehrt proportional zu dem Produkt AU ändern. Wir gelangen so zu der Gleichung c.2tzxE)/II = und speziell für Luft c0 . 27txHl/iT0 = J/M^. Nun sind die Ausdrücke HLnö und J/VA0 durch die Wahl des mechanischen Maß- systems völlig bestimmt. Wir erhalten daher für c0 immer dieselbe Geschwindigkeit, wie wir auch J0 und n0 wählen mögen. Und zwar ergibt die Beobachtung zusammengehöriger Werte von H und J c0 = 300 000 km/sek. Das ist aber die Geschwindigkeit des Lichtes i im leeren Kaum. Der Zahlenwert von c0 hängt davon ab, mit welcher Längeneinheit und Zeiteinheit die Geschwindigkeit c0 gemessen wird, folglich der Zahlenwert der Konstante "2^H = CoV^ von der Wahl der Längeneinheit, der Zeit- einheit und der Zahlenwerte J0 und JT0. Wenn sich der magnetische Fluß, der durch einen Drahtring hindurchgeht, ändert, so entsteht in dem Drahtring ein Strom J, der um so größer ist, je größer der Zuwachs d$ des Flusses 4>in einer bestimmten kurzen Zeit dt ist und je kleiner der Widerstand K des Drahtringes ist. Es ist also RJ pro- portional zu d$/dt (vgl. den Artikel „Ma- gnetfeldwirkungen" 2a). Für den Pro- portionalitätsfaktor erhalten wir folgende Dimension z/0, IJ0, v, x man in den gebräuchlichen Maß- systemen gewählt hat, und zeigen, wie man zu dieser Wahl geführt worden ist. 4a) Absolute elektrostatische Ein- heiten für die elektrischen Größen (Gauß). Befindet sich eine mit der Elektrizi- tätsmenge Q geladene, isolierte kleine Kugel im freien Raum, so gehen von ihr gleichmäßig nach allen Seiten hin elektrische Verschie- bungslinien aus, ähnlich wie die Licht- strahlen von einem leuchtenden Punkt. Der Verschiebungsfluß W = v.Q verteilt sich im Abstand r auf eine Kugelfläche vom Inhalt 47rr2. Daher ist die dielektrische Verschie- vO bung im Abstand r D trische Feldstärke E=^ = Anr* Q und die elek- vJ0 Anr2J0 Bringt man dorthin eine zweite kleine Kugel mit der Ladung Q', so wirkt auf sie eine mechanische Kraft K=EQ': 1 Q_Q' AnJ0 . " r2 ' (Coulombsches Gesetz). Um diese Be- d# RJdt M2Lyt PTk" 1 1 _i —1 1 -L — 1 LT DTP2k und setzen daher für ihn den Ausdruck xc'Vjn an, wo c' wiederum eine Geschwin- digkeit ist. Verfolgt man die Energieum- setzungen, so zeigt sich, daß c' = c sein muß. Da ferner ein Strom im positiven Sinn entsteht, wenn # abnimmt, so führen wir noch ein negatives Vorzeichen ein und erhalten Co.RJU=___. Die gebräuchlichen Maßsysteme. Wir wollen jetzt angeben, welche Werte für ziehung möglichst zu vereinfachen, hat man An^d0 = 1 gesetzt, also J0 = ~ = 0,0796 und J=~, An An und zwar unabhängig davon, welches mecha- nische Maßsystem zugrunde gelegt wird. Demnach ist J0 eine reine (unbenannte) Zahl. Es entsteht so das „absolute elektrostatische" Maßsystem. Um die für dieses gültigen Dimensionsformeln zu erhalten, braucht man nur in den früher angegebenen überall D zu streichen. Etwas schwankend ist der Brauch hin- sichtlich des Wertes von v. Maxwell setzt v = 1, Hertz dagegen v = An (neuerdings auch M. Abraham). 4b) Absolute magnetostatische Einheiten für die magnetischen Größen (Gauß). In ganz ähnlicher Weise läßt sich das Coulomb sehe Gesetz für zwei Magnetpole mit den Mengen £} und &' auf- stellen : 1 &&' K ~ Ä7znQ ' ir- Deshalb hat man no An 0,0796 und [X n = -£— gesetzt. Um die für dieses Maß- system passenden Dimensionen zu erhalten, braucht man nur in den angegebenen Dimen- sionsformeln überall das P zu streichen. Auf magnetischem Gebiet hat man wohl hierbei immer angenommen, daß von der Menge Eins An Kraftlinien ausgehen, also El ektrische Maßsysteme 271 k = An gesetzt, so daß xIJ0 = 1 und in Luft B = H wird. 4 c) Absolute elektromagnetische Einheiten für die elektrischen Grös- sen (Weber). Wie F. Neumann gezeigt hat, läßt sich die Gegeninduktivität L12 zweier Stromkreise s1? s2 darstellen durch -L'l 2 V4> J J cos(dsxds2) dSidSg, (Sl) (s,) worin r den Abstand der beiden Leiterstücke dsx und ds,, bedeutet. Diesem und ähnlichen Ausdrücken zuliebe hat man ein Maßsystem aufgestellt, für das An%*A0 = 1, folglich 1 , e \ = und A = wird. Da hierin 4ttc02 " 4ttc02 c0 eine ganz bestimmte Geschwindigkeit bedeutet und sich also der Zahlenwert von c0 bei einem Wechsel der Längeneinheit und der Zeiteinheit ändert, so hängt auch der Zahlenwert von A 0 von der Wahl der Längen- einheit und Zeiteinheit ab. A0 ist jetzt also eine benannte Zahl und zwar von der Dimen- sion L— 2T2. Daher erhält man die Dimensionen der elektrischen Größen in dem hierdurch entstehenden „elektromagnetischen" Maß- system, indem man in den früher angegebenen Dimensionen D durch L-2 T2 ersetzt. Das ergibt — i Elektrizitätsmenge Q Verschiebungsfluß W Strom J Spannung S Kapazität C Widerstand R Induktivität L Mißt man die Geschwindigkeit z. B. nach cm/sek, so wird der Zahlenwert von A0 i i i i M-LTn i i MTLTT 1 3 L-V LT"1 L An 1 4tz.9.102° 0,884.10" -22 sek2 4d) Kombinationen. Mißt man die elektrischen Größen elektrostatisch und die magnetischen magnetostatisch, so spricht man nach Helmholt z von einem Gau fi- schen Maßsystem. Für dieses ist o0VDÄ=|l= 2,388.10'^= 23880^. Mißt man dagegen die elektrischen Größen elektromagnetisch und die magnetischen magnetostatisch, so erhält man das elek- tromagnetische Maßsystem. Für dieses ist 1 nVÄJIn = JoJ-lo An 0,0796. Als mechanisches Maßsystem legt man in beiden Fällen gewöhnlich das cgs-System zugrunde. Die hierdurch entstehenden Einheiten sind aber gegenüber den prak- tisch vorkommenden Werten meist entweder ungeheuer groß oder ungeheuer klein. Das elektrostatische cgs-System hat eine brauch- bare Spannungseinheit, das elektromagne- tische eine brauchbare Stromeinheit. 4e) „Praktisches" Maßsystem. Vor- geschlagen 1869 von der British Association for the advancement of science, angenommen 1881 vom Elektrikerkongreß in Paris. — Wegen der unbequemen Größe oder Kleinheit der Ein- heiten in den oben besprochenen Systemen hat man für die Elektrotechnik ein anderes elektromagnetisches Maßsystem auf- gestellt, richtiger: einen Torso eines solchen. Es entsteht auf folgende Weise: Es sei n ein willkürlicher Exponent, und die Grundein- heiten seien 107~n Meter, 102n-n Gramm, 1 Sekunde: endlich sei ^0=t »? oder da c0 4ttc02 hier den Zahlenwert 30.10n hat, z/0 = 0,884. 10 -(n+o). Für n, JI0, x, v sind keine Werte festgesetzt worden. Die hierdurch be- stimmten Einheiten führen folgende Namen Trägheitsmoment Drehimpuls Arbeit Leistung Elektrizitätsmenge Strom Spannung Widerstand Induktivität Kapazität m'2kg Joulesekunde Joule Watt Coulomb Ampere Volt Ohm Henry Farad Das Millionfache wird durch das Präfix „Mega" angedeutet und der millionste Teil durch das Präfix „Mikro". Da das Farad gegen die praktisch vorkommenden Kapazi- täten viel zu groß ist, wird gewöhnlich das Mikrofarad benutzt. Auch das Coulomb ist eine außerordentlich große Elektrizitäts- menge. Zwei punktförmige Elektrizitäts- mengen von je 1 Coulomb würden nämlich noch in 1 km Abstand aufeinander mit einer Kraft von rund 1 Tonne wirken. Die mechanischen Maßsysteme, die mit diesem „praktischen" elektrischen Maß- system vereinbar sind, werden im Diagramm der mechanischen Einheiten durch die Punkte dargestellt, die auf der Watt-Linie liegen. Hierzu gehört nicht das cgs-System. Jedem solchen Punkt entspricht ein bestimmter Wert von n. Z. B. gibt n = 7 als Längen- einheit das Meter und als Masseneinheit das Kilogramm, oder n = 9 als Längeneinheit das Zentimeter und als Masseneinheit 10 Tonnen. Aus dem Diagramm ist ersichtlich daß 9,81 Joule = 1 kg*m oder 1 Joule = 0,102 kg*m = 0,23865 (15°-) Gramm-Kalorien oder 1 (15°-) Gramm-Kalorie = 4,189 Joule. 272 Elektrische Maßsysteme Genau sind die Zahlenwerte in dem Dia- gramm natürlich nicht erkennbar. Tatsächlich wird das „praktische" Maß- system nicht mehr mechanisch (durch 40) definiert, sondern als Grundeinheiten gelten das durch ein Quecksilbernormal definierte Ohm und das durch das Silbervoltameter de- finierte Ampere (vgl. den Artikel „Elek- trische Maßnormale"). Hiermit ergeben sich folgende Dimensionen: Elektrizitätsmenge Q Verschiebungsfluß W Spannung S Kapazität C Induktivität L —i JT JTn RJ RT Das mechanische Aequivalent des elektrisch definierten Joules ist sehr nahe 107 Erg. Die Abweichung läßt sich wohl heute noch nicht angeben. ^0 und no sind jetzt nicht mehr willkürlich wählbare Zahlen, sondern Messungsobjekte. Man setze c02^/ono = 1. Dann findet man H = -— - und weiter 40 2.TX aus K = ^0E2f und n0 aus K = ^7T0H2f und endlich c0 = lfl/40n?. G. Giorgi und G. Mie schlagen vor, zur Vervollständigung des „praktischen" Maß- systems n0 = 47r.l0-n und x = 1 zu setzen, so daß Col^o^o = 1 wird. Giorgi wählt n = 7, während Mie in seinem Lehrbuch n = 9 benutzt. Im „praktischen" Maß ist , 10-" Farad 0,884.10-" Farad 3Ö7r cm cm Um auch TI0 in „praktischem" Maß an- zugeben, nehmen wir c0240II0 = 1 an und finden U0 = -l-==^HenrZ = l,257.10-sl^?. 0 e084> 109 cm «n 4f) „Absolute" cgs-Einheiten in „praktischem" Maß. Man bekommt von der Größe der elektrischen cgs-Einheiten am besten eine Vorstellung, wenn man sie durch die heute schon allgemein geläufigen „prak- tischen" Einheiten ausdrückt. Die Werte sind in der folgenden Tabelle zusammen- gestellt. cgs-Einheit für elektrostatisch elektromagnetisch Strom J 0,333. 10-9 Coulomb 0,333. 10-9 Ampere 10 Coulomb 10 Ampere Spannung S Widerstand R Induktivität L Kapazität C 300 Volt 0,9. 1012 Ohm 0,9. 1012 Henry 1,111. 10-12 Farad oder 1,111. 10-6 Miki-ofarad 10-8 Volt 10-9 Ohm 10-9 Henry 109 Farad oder 1015 Mikrofarad 1 Erg=10-7 Joule = 1,02. 10-8 kg*m = 2,3865. 10-11(15°-)Kilogrammkalorie. Die absolute magnetostatische cgs-Einheit der magnetischen Feldstärke ist = 0,796 Amp/cm. 5. Mängel der gebräuchlichen Maß- systeme. 5a) Stellung des Faktors 4te (Heaviside). Wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich ist, sind die Werte von ^0 und n0 in den absoluten Maßsystemen so gewählt worden, daß der Faktor 4tt: in den Formeln nicht den ihm logisch zukommenden Platz erhält. Er sollte überall da auftreten, wo es sich um die Verteilung eines Flusses über eine Kugelfläche handelt. Bei Rechnungen nach „absolutem" Maß fehlt er gerade in diesen Fällen, erscheint aber dafür in an- dern ganz unerwartet, z. B. in Formeln, die sich auf einen Plattenkondensator oder auf den Luftspalt in einem magnetischen Kreis beziehen. Oliver Heaviside, der zuerst auf die unlogische Stellung des Faktors 4tt in den „absoluten" Maßsystemen hinge- wiesen hat, vergleicht die absoluten Maß- systeme mit einem geometrischen, in dem als Flächeneinheit nicht das Quadrat mit der Seite Eins gilt, sondern der Kreis mit dem Radius Eins. In einem solchen geometrischen Maßsystem würde die Zahl n in dem Aus- druck für den Flächeninhalt eines Kreises nicht vorkommen, dagegen in den Aus- drücken für die Flächeninhalte der Polygone. Heaviside nennt Maßsysteme, bei denen in den Werten für A0,no, v, x der Faktor in nicht vorkommt, rationale. Er hat auch in seinen Abhandlungen als erster rationales Maß benutzt. Seitdem findet es sich oft in theoretischen Abhandlungen, besonders in neuerer Zeit durch den Einfluß der „Enzyklo- pädie der mathematischen Wissenschaften". 5b) Stellung des Faktors c0 (Helm- hol tz). Im elektromagnetischen Maßsystem — auch das „praktische" ist ein solches — hat auch die Lichtgeschwindigkeit c0 nicht den ihr logisch zukommenden Platz. Ihr rechtmäßiger Platz ist dort, wo es sich um Beziehungen zwischen elektrischen und ma- gnetischen Größen handelt. Sie sollte daher Elektrische Maßsysteme 273 weder in der Elektrostatik, noch in der Magnetostatik auftreten. Dieser Forderung genügt das von Helmhol tz eingeführte und auch von Hertz benutzte Gaußsche Maßsystem. H. A. Lorentz hat in der „Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften" ein Heaviside - Gaußsches oder rationales eingeführt, das dem c0 i mäßigen Gaußsches Maßsystem sowohl dem 4n, wie Platz anweist, indem er -lo = no = v = x = 1. Behält man für die mechanischen das cgs-System bei, so hat man, neuen Einheiten durch die alten drücken, in den Dimensionen M = L = T = 1, D = P = k = recht- setzt Größen um die auszu- weiden. Das Resultat kann man dann wieder nach Belieben in andern Einheiten angeben. Damit ist aber noch nicht gewährleistet, daß auch die elektrischen und die magne- tischen Einheiten die wünschenswerte Grös- senordnung annehmen. Dies läßt sich wenigstens für die wichtigsten Einheiten dadurch erreichen, daß man die Einheiten für die Dielektrizitätskonstante und Permea- bilität groß gegen die Dielektrizitätskon- stante und die Permeabilität der Luft wählt, also für diese selbst kleine Zahlenwerte -^0 und no. Um das Heavisidesche und das Helmholtzsche Prinzip zu wahren, wird man für e1 = 1/40 und fil = ljn0 ganze 4tc und n=l (Maxwell) oder = -j~ Potenzen von 10 wählen. Wie bei den mechanischen Einheiten, so kann man sich auch hier durch ein Diagramm eine Ueber- sicht verschaffen. In Figur 2 ist loggj als (Hertz) Abszisse und log //j als Ordinate aufgetragen, j und unter Zugrundelegung des Meter- Tonnen- ^-i^'-c a ,„ A^* i7;«i,A;^nv. Sekunden-Svstems sind die entsprechenden sc Größenordnung der Einheiten. ^. , ., £.:J 0, c l ,. , T °, ; Til -, -ii & „T,„„;a„i„«, MoR Einheiten iur Strom, Spannung, magnetische In der Phys ik wirt lals mec hani sei es Maß- Induktion mid magneiLhe Feldstärke ange- system seit 1881 f gemein das cgs-System ^^ A | Diagramm ersieht benutzt und auch den elektrischen und! ,„ß _ ,:„ folgende * Festsetzun n zu schrieben man, daß geeignet 4, = 10-™ n0 Aus dem etwa die sind: 10-2, v — x 1, also 4=- 10 in n=JL. 100 ü & ~ S=- 22 o- 23 ^ 23 a- >i J3 s o a ►p a o a >< >< >< >< CO ^ o m co CO §-* CO Oi «5 o ■* rHO cc c^i tH OS co o] i—l OS magnetischen Einheiten zugrunde gelegt. Aber seine Einheiten sind zweifellos nicht nur für die Technik, sondern auch für die Physik zu winzig. Ein Blick auf das Dia- gramm der mechanischen Einheiten zeigt, daß der cgs-Punkt weit entfernt von dem Gebiet der praktisch gebräuchlichen Einheiten I Um die elektrischen Einheiten dieses liegt. Das Dyn ist ungefähr so groß, wie die Maßsystems durch die „praktischen" auszu- Milligrammkraft, und das Erg ist ungefähr | drücken, braucht man nur die Arbeit, die beim Heben eines Milligrammgewichts um 1 cm geleistet wird. Es sind also außerordent- lich kleine Einheiten. Für die Technik ist dieses Maßsystem daher gar nicht diskutabel. Sie braucht ein Maßsystem, in dem -die Leistungseinheit ungefähr so groß ist, wie das Kilowatt oder die Pferdestärke. Wie aus dem Diagramm der mechanischen Einheiten so- fort zu erkennen ist, sind hierzu vor allem als Grund- einheiten das Meter und die Tonne n masse geeignet. Die Leistungseinheit ist dann gerade 1 Kilowatt und die Krafteinheit 102 kg*. Eine solche Festsetzung hat nicht den Sinn, daß alle Längen in Metern und Tonnen angegeben werden VHI = 10'* 105 10 10 ^ Na S . \* \^ \ Bi=35 500 cgs Hi =2,82 Amp/cm Bi = 11 200 cgs Hi = 8,90 Amp/cm Bi = 3 550 cgs Hi = 28,2 Amp/cm Bi = 1 120 cgs Hi = 89 Amp/cm 10' 10' Bi = 355 io" Hi = 282 cgs Amp/cm Fh alle Massen in I sollen, sondern es handelt sich hier lediglich um eine bequeme Vor- M=10 schritt für Rechnungen nach den Lehren der , Mechanik. Nur beider Rechnung sollen alle Längen ffl die in Metern, alle Massen in Tonnen usw. eingesetzt, zusetzen Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 17— 2n i L = 10n-7, T=l, D = 10' .8— n früher angegebenen und findet 36jr Dimensionen ein- dann als Einheiten 18 274 Elektrische Maßsysteme — Elektrische Spannung 9,40 Coulomb; 9,40 Ampere; 106,3 Volt; 11,31 Ohm; 11,31 Henry; 0,0884 Farad. Um ferner die magnetischen Einheiten dieses Maßsj^stems durch die cgs-Einheiten auszudrücken, hat man M=10«, L = 102, T = l, P=~, k~ 47T Ajc in die Dimensionen einzusetzen. Man erhält als Einheit für die Feldstärke 35,45 (cgs) = 28,2 Amp/cm; für die Induktion 3 545 (cgs), für den Induktionsfluß 35,45. 106 (cgs); für die magnetische Spannung (= Feldstärke x Weg) 3 545 (cgs) = 2 820 Amp. Für den magnetischen „Widerstand" (= Spannung: Fluß) 10-4 (cgs). Für die Präzisionsmessung wäre dieses Maßsystem so zu definieren: Längeneinheit: 1 Meter; Zeiteinheit: 1 Sekunde; dem Ohm- Normal wird der Zahlenwert 0,0884 zuge- schrieben; als Einheit gilt der Strom, der in der Sekunde 10,51 Milligramm Silber nieder- schlägt; es ist cl^n = 300 m/sek zu setzen. R = 11,31, J = 9,40, T = 1, L = 10°~7. Literatur. L. Grunmach, Magnetische und elektrische Maßeinheiten. Stuttgart 1S95. — G. Mie, Elektrizität, und Magnetismus. Stuttgart 2910. — J. B. J. Fourier, Analytische Theorie der Wärmeleitung, Art. 157 bis 162. — E. Colin, Das elektromagnetische Feld. Leipzig 1900. — H. Heimholte, Wied. Ann. 17, S. 42, 1882. — G. Giorgi, L'Eletlricista. 1902. — O. Heaviside, The Electrician, 1882/83 und 27, 1891, S. 655 oder Electromagnetic Theory § 90. — H. A. Lorentz, Enzykl. math. Wiss. V, 13, Nr. 7, S. 83, 1904. — Weitere Lüeraturangaben in der Elektrotechnischen Zeitschrift, S. 4%® bis 440, 1904. F. Emde. Elektrische Schwingungen siehe den Artikel „Schwingungen, Elektrische Schwingunge n". Elektrische Spannung. 1. Definition des Begriffes Spannung. 2. Ein- teilung der Spannungen. 3. Einheiten der Span- nung. 4. Messung der Spannung: a) Das Kom- pensationsverfahren, cc) Kompensator nach Feußner. ß) Kompensator nach Raps, y) Kompensator nach Hausrath und Diessel- horst. 8) Meßbereiche der Kompensatoren und Messung höherer Spannungen mit ihrer Hilfe, b) Direkte Spannungsmessung nach dem Elektro - meterprinzip. a) Elektrostatische Elektrometer. ß) Das Kapillarelektrometer. c) Indirekte Messung von Spannungen aus Stromstärke und Widerstand, l. Definition des Begriffes Span- nung. Zu dem Begriff und der Definition der elektrischen Spannung gelangt man am besten, wenn man von der Grundlage aller elektrischen Erscheinungen, dem Elektron, ausgeht. Zerlegt man ein chemisches Atom durch geeignete Kräfte in seine elektrischen Be- standteile, so erhält man im einfachsten Falle einerseits das negative Elektron oder Elektrizitätsatom, andererseits den positiven Atomrest, der aus dem besteht, was man Materie nennt. Die Eigenschaften desElektrons sind in einem besonderen Artikel „Elek- tronen" ausführlich behandelt. Hier kommt nur die Erscheinung in Frage, daß sich Elek- tronen gegenseitig abstoßen, Elektronen und positive Atomreste gegenseitig anziehen. Die dabei auf tretenden Kräfte nehmen pro- portional dem Quadrate derEntfernung der auf- einander wirkenden Körper ab. Nur in un- mittelbarer Nähe der Elektronen gilt ein an- deres Gesetz. Man macht sich ein Bild von diesem Verhalten, indem man sagt, das Elek- tron sei von einem elektrischen Felde um- geben, dessen Intensität mit der Entfernung vom Elektron abnimmt und erst in unend- licher Entfernung Null wird. Die Stärke eines relativ zum Beobachter ruhenden elek- trischen Feldes setzt man der Stärke der elektrischen Ladung proportional, die es erzeugt. Soviel man bis jetzt weiß, sind die Felder aller Elektronen gleich, und auch die Felder aller einwertigen positiven Atom- reste haben dieselbe Feldintensität wie die der Elektronen. Nur schreibt man ihrem Felde die entgegengesetzte Richtung zu, um ihre entgegengesetzte Wirkung zu er- klären. Das elektrische Feld eines einzelnen Elektrons ist unmeßbar klein. Vereinigt man viele Elektronen auf einem kleinen Räume, so addieren sich ihre Felder und man erhält ein makroskopisches Feld, das in einem Abstände von dem Elektronen- haufen, der gegen dessen Abmessungen groß ist, ebenfalls proportional dem Quadrat der Entfernung vom Schwerpunkt des Haufens abnimmt. " Man kann die Stärke dieses Fel- des an einem gegebenen Punkte messen, indem man ein einzelnes Elektron an den Punkt bringt. Die Stärke des Feldes ist proportional der abstoßenden Kraft, die i es auf das Elektron ausübt, wobei ange- nommen ist, daß das Feld so stark ist, daß es durch das Feld des einzelnen Elektrons nicht merklich geändert wird. Bei der Ueberführung eines Elektrons von einem Punkte a eines elektrischen Feldes zu einem Punkte b, an dem das Feld stärker ist, muß Arbeit geleistet werden. Der Betrag dieser Arbeit ergibt sich, wenn man sich den Elektrische Spannung Üb Weg a b in so viele Teile zerlegt denkt, daß i sich die Feldstärke innerhalb eines Ab- \ Schnittes nicht merklich ändert, für jeden Abschnitt das Produkt aus seiner Länge a j und der Komponente der Feldstärke in der \ Richtung des Abschnittes bildet und alle Pro- dukte addiert. Solange sich das elektrische Feld zeitlich nicht ändert, ist die bei dem Uebergange von j a nach b zu leistende Arbeit von dem Wege, auf dem der Uebergang von a nach b ge- schieht, unabhängig. Es ist also auch eine ganz bestimmte Arbeit nötig, um ein Elek- tron aus der Unendlichkeit, in der das elek- trische Feld Null ist, bis zum Punkte a zu befördern. Umgekehrt kann das Elektron die gleiche Arbeit leisten, wenn es sich vom Punkte a bis in die Unendlichkeit bewegt. Um diese Arbeitsfälligkeit des elektrischen Feldes zu veranschaulichen, hat man eine neue Größe, das Potential des Feldes, ein- geführt und so definiert: Das Potential eines Punktes in einem elektrischen Felde ist gleich derjenigen Arbeit, die geleistet werden muß, um ein Elektron aus der Un- endlichkeit nach dem Punkte zu bringen. Ebenso ist die Potentialdifferenz zwischen zwei Punkten gleich der Arbeit, die aufgewandt werden muß, um ein Elektron von dem einen Punkte zum anderen zu bringen. Statt j Potentialdifferenz ist nun das bequeme Wort Spannung eingeführt worden. Danach ist ! also die Spannung, ebenso wie das Potential, die eine von zwei Größen, deren Produkt eine Arbeit oder eine Energie ergibt (die andere j Größe ist die Elektrizitätsmenge). Man kann also die Spannung als Energiefaktor bezeichnen. Ihr Gebiet ist der freie Raum in der Umgebung der Elektronen oder der ' positiven Atomreste. Um diese Fähigkeit ! des Raumes, die elektrische Spannung auf- zunehmen, zu kennzeichnen, nennt man ihn Dielektrikum und dehnt die Bezeichnung auch auf diejenigen Körper im Räume aus, in denen freibewegliche elektrische Ladungen nicht vorhanden sind und in denen sich in- folgedessen einmal vorhandene Spannungen nicht ausgleichen können. Kraftwirkungen Die bisher beschriebenen zwischen elektrischen Ladungen ergeben sich jedoch unverändert nur solange, als die La- dungen relativ zum Beobachter ruhen. Sobald sie relativ zu ihm in Bewegung sind, treten neue Erscheinungen auf, die den Betrag der Kräfte ändern. Bewegen sich zum Beispiel zwei La- dungen gleichen Vorzeichens mit gleicher Ge- schwindigkeit und einander parallel, so daß ihr Abstand voneinander konstant bleibt, so mißt der ruhende Beobachter eine geringere Ab- stoßungskraft zwischen ihnen, als wenn sie bei gleichem Abstände auch ruhten. Das kann bei der Spannungsmessung in Frage kommen. Man denke sich zwei Leiter, die beide auf die gleiche Spannung geladen sind und sich in einem be- stimmten Abstände voneinander befinden. Die Ladungen auf ihm sollen zunächst ruhen. Dann besteht zwischen den beiden Leitern eine be- stimmte Abstoßungskraft, die sich aus ihren Dimensionen und der Größe der Ladungen ergibt. Jetzt mögen an die Stelle der ruhenden bewegte Ladungen treten, wie man sie erhält, wenn man durch beide Leiter zwei Ströme gleicher Richtung fließen läßt, die so beschaffen sind, daß die Leiter stets dieselbe Ladung be- sitzen wie im Zustande der Ruhe. Dann ist die Abstoßungskraft zwischen den beiden Leitern geringer als vorher. Es ist als ob sich eine mit der Stärke der beiden Ströme, also der Ge- schwindigkeit der Ladungen zunehmende An- ziehungskraft über die ursprüngliche Abstoßungs- kraft gelagert hätte. Man macht sich von der Erscheinung ein Bild, indem man sagt: Gleichgerichtete elektrische Ströme ziehen einander mit einer Kraft an, die u. a. dem Produkt aus den beiden Strom- stärken proportional ist. Auch die Umkehrung gilt: Entgegengesetzte Ströme stoßen einander mit der gleichen Kraft ab. An diesen Erscheinungen folgt, daß man nur mit ruhenden Ladungen arbeiten darf, wenn man Spannungen mit Hilfe ihrer Anziehungs- oder Abstoßungskräfte messen will. Ferner § darf man von Potential und Spannung ' eines elektrischen Feldes nur so- lange reden, als das Feld zeitlich konstant ist. Aendert sich das Feld während der Ueberführung des Elektrons vom einen Punkt zum anderen, so ist die aufzuwendende Arbeit nicht mehr vom Wege unabhängig und die Begriffe Potential und Spannung ver- lieren ihren Sinn. Mit wechselnden elektrischen Feldern wird in der Technik sein: viel gearbeitet und dabei doch von elektrischer Spannung gesprochen. Das ist zulässig, da es sich in der. Technik stets um die Spannung zwischen zwei Punkten eines linearen Leiters (Drahtes, Kabels usw.) handelt. Durch diesen Leiter ist aber den Elektronen ein ganz bestimmter Weg von dem einen Punkte zum anderen vorgeschrieben und damit die für die Ueber- führung aufzuwendende Arbeit, also auch die Spannung, eindeutig definiert. Es darf aber nie vergessen werden, daß diese Spannung nur für eine ganz bestimmte Lage des die beiden Punkte verbindenden Leiters gilt und sich ändert, sobald die Lage des Leiters geändert wird. Mit dieser Einschränkung kann man auch von Spannungen, die durch wechselnde Felder erzeugt werden, von den sogenannten Wechselspannungen reden. 2. Einteilung der Spannungen. Es ergibt sich dann folgende Einteilung der in der Technik gebräuchlichen Spannungen nach ihrer Intensität und Richtung: 1. Gleichspannung von konstanter In- tensität und konstanter Richtung. 2. Periodisch schwankende Spannungen. 18* 276 Elektrische Spannung a) Wellenspannung von schwankender Intensität und konstanter Richtung. b) Wechselspannung von schwankender Intensität und Richtung. Unter einer periodischen Spannung ver- steht man eine sich zeitlich beliebig än- dernde Spannung, sobald sie die einschrän- kende Bedingung erfüllt, daß sie in allen um die gleiche Zeit, die „Periodendauer", auseinanderliegenden Augenblicken gleiche Werte besitzt. Unter den Wechselspannungen ist die ,, reine Wechselspannung" ausgezeichnet. Sie erfüllt die weitere Bedingung, daß innerhalb einer Periodendauer die gesamte Wirkung in einer bestimmten Spannungsrichtung gleich ist der gesamten Wirkung in der entgegen- gesetzten Spannungsrichtung. Die in einer Periode in einer bestimmten Richtung ins- gesamt ausgeübte Wirkung ist Null. Wie aus den im Artikel „Elektrischer Strom" ausführlich gebrachten Darlegungen her- vorgeht, läßt sich jede periodische Span- nung in eine Gleichspannung und eine reine Wechselspannung zerlegen. Die für die Technik wichtigsten Span- nungen sind die Gleichspannung und die reine Wechselspannung. Wellenspannungen besitzen geringe Bedeutung, verleiten aber leicht zu fehlerhaften Messungen. Die Gleichpannung ist durch eine einzige Größe, die Intensität vollkommen definiert. Nicht so die Wechselspannung. Zu ihrer vollständigen Bestimmung gehören: 1. die Intensität, 2. die Kurvenform, 3. die Anzahl Perioden in der Sekunde, kurz die „Fre- quenz", 4. die Phase, das ist der Schwin- gungszustand in einem gegebenen Zeit- punkte oder auch der Bruchteil einer Periode, um den die Spannung gegen eine andere gleicher Frequenz verschoben ist. Alle diese Größen müssen ermittelt werden, wenn eine Wechselspannung vollständig bekannt sein soll. Für die meisten Zwecke genügt es je- doch, die Intensität der Spannung zu ken- nen. Für andere Zwecke ist außerdem noch eine allgemeine Charakterisierung der Kurven- form erwünscht. Diese ergibt sich aus der Ermittelung des Scheitelfaktors und des Formfaktors (siehe den Artikel „Elek- trischer St r o m"). Daraus ergibt sich die folgende Einteilung der Messung von Wechselspannungen: 1. Messung der Intensität. 2. Messung des Scheitelfaktors und des Formfaktors. 3. Messung der Kurvenform. Bei der Definition der mittleren In- tensität einer Wechselspannung könnte man zunächst daran denken, diese als Mittel- wert aus sämtlichen Einzelwerten der Span- nung während einer Periode ohne Rücksicht auf das Vorzeichen zu definieren. Die so er- haltene Intensität nennt man die „mittlere Intensität" em. Sie hat nur geringe Bedeu- tung. Ein anderer Weg der Definition besteht darin, daß man sagt, als mittlere Intensität soll diejenige konstante Intensität (Gleichspannung) angesehen werden, die während der Zeitdauer einer Periode die- selbe Wirkung (Erwärmung, Kraftwirkung) hat, wie eine Periode der Wechselspannung. Nun ist die Energie, die durch eine Gleich- spannung eg in einem Widerstände r in e 2 Wärme verwandelt wird, gleich — . Um also die mittlere von einer Wechselspannung ew in dem gleichen Widerstände entwickelte Wärmemenge zu erhalten, muß aus sämt- e 2 liehen Augenblickswerten — das Mittel ge- nommen werden. Mathematisch schreibt man e 2 das Mittel aus n Einzelwerten r 1 n p 2 n 0 r Diese Wärmemenge soll gleich der durch die Gleichspannung entwickelten Wärmemenge sein. Es ist also oder eg2 r 1 11 p 2 n 0 r p 2 1 n __ y p 2 11 0 yl «, -^ew Das heißt, man erhält diesen auf gleicher Wirkung beruhenden Mittelwert einer Wech- selspannung, wenn man sämtliche Augen- blickswerte" in das Quadrat erhebt, daraus das Mittel nimmt und aus dem Mittel die Wurzel zieht. Man nennt den so erhaltenen Wert „Effektivwert der Spannung". Dieser Mittelwert besitzt in der Technik die größte Wichtigkeit. Er wird von allen Meßinstru- menten angegeben. 3. Die Einheiten der Spannung. Da das Maß die Grundlage der Messungen ist, dürfte es angebracht sein, vor der Besprechung der Spannungsmessungen die Einheiten der Spannung kurz zu behandeln. Als die Einheiten der Elektrizität fest- gelegt wurden, war das Elektron noch nicht entdeckt, und es bestand noch die Hoffnung, die elektromagnetischen Erscheinungen restlos mechanisch erklären zu können. Deshalb trug man kein Bedenken, die elektromagne- tischen Einheiten durch die mechanischen der Länge, Masse und Zeit zu definieren. Und zwar wurden zwei Maßsysteme, das elektrostatische und das elektrodynamische, Elektrische Spannung !77 aufgestellt, die durch die Lichtgeschwindig- recht zu keit miteinander verknüpft sind. Dem elektrostatischen Maßsystem wurde das Coulombsche Gesetz] bewegt sich Die selbst und hierdurch k = f £.£i zugrunde gelegt, nach dem sich zwei Elek- trizitätsmengen eund ex gleichen Vorzeichens, die um die Länge r voneinander entfernt sind, mit der Kraft k abstoßen, f ist ein Proportionalitätsfaktor, der verschwindet, wTenn alle Größen im gleichen Maßsysteme gemessen werden. Dieses Maßsystem ergab sich aus der Festsetzung: Die elektrostatische Einheit der Elektrizitätsmenge ist diejenige, welche eine ihr gleiche Menge aus der Ent- fernung 1 (cm) mit der Kraft 1 (Dyne) abstößt. Die elektrostatische Einheit der elek- trischen Feldstärke ist diejenige, in welcher auf die Elektrizitätsmenge 1 die Kraft 1 ausgeübt wird. Die Einheit des Potentiales ist dasjenige Potential, welches im Abstände 1 von der Elektrizitätsmenge 1 herrscht. Die Einheit der Potentialdifferenz oder der Spannung ist zwischen zwei Punkten vor- handen, wenn die Kraft 1 aufgewendet wer- den muß, um die Einheit der Elektrizitäts- menge von dem einen Punkte zum anderen zu bringen. Das elektrostatische Maßsystem wird nur in wenigen Gebieten der wissenschaft- lichen Elektrophysik benutzt. Ueberall, wo es sich um strömende Elek- trizität handelt, insbesondere in der Tech- nik, wird das elektromagnetische Maßsystem angewandt. Dieses geht von der Strom- stärke aus: Die Einheit des Stromes ist der- jenige Strom, dessen Längeneinheit aus der Entfernung 1 die Kraft 1 ausübt (näheres siehe im Artikel „Elektrischer Strom"). Die Einheit der Elektrizitätsmenge ist die vom Strom 1 in der Zeiteinheit durch einen Querschnitt der Leitung beförderte Menge. Die Einheit der Spannung ist zwischen zwei Punkten vorhanden, wenn die Arbeit 1 auf- gewendet werden muß, um die Elektrizität s- menge 1 vom einen Punkte zum anderen zu bringen. Das ist ganz dieselbe Definition wie im elektrostatischen Maßsysteme. iVber hier ist die Einheit der Elektrizitätsmenge 3.1010 mal so groß als im elektrostatischen Maß- systeme. Folglich ist die elektromagnetische | Einheit der Spannung gleich dem ,.„ " fachen der elektrostatischen. 3.1010 cm/sec aber ist die Größe der Lichtgeschwindigkeit. Eine andere gleichwertige Definition der Spannung ergibt sich aus dem Induktionsgesetze: In einem Magnetfelde von der Stärke 1 wird ein gerader, zur Feldrichtung senkrechter Leiter mit der Geschwindigkeit 1 cm/sec senk- ganz Kormal- sundern zur Feldrichtung in jedem Zenti- meter des Leiters induzierte elektromotorische Kraft ist gleich der Einheit der Spannung. Oder auch: Bei der Wechselbewegung von Magnetismus und Leiter wird in diesem die elektromotorische Kraft (Spannung) 1 induziert, wenn er in der Zeiteinheit eine Kraftlinie schneidet. Die so definierten elektromagnetischen Einheiten leiden an zwei schweren Mängeln. Sie lassen sich nur mit großer Mühe ver- wirklichen und die eine von ihnen ist unbrauchbar klein. Deshalb benutzt man sie nicht. Sondern geradeso, wie man als länge nicht den Erdquadranten, das Urmeter in Paris, das dem zehnmilliontcn Teile des Erdquadranten sehr nahe kommt, gesetzlich festlegte, so legte man auch die elektrischen Einheiten gesetzlich unabhängig vom elektromagnetischen Maßsysteme, aber doch derart fest, daß sie einem dekadischen Vielfachen der elektromagnetischen Ein- heiten möglichst nahekommen. Da die drei elektrischen Größen Stromstärke, Spannung, Widerstand durch das Ohmsche Gesetz verknüpft sind, durfte man nur zwei von ihnen unabhängig voneinander festlegen. Man entschied sich für die Festlegung von Strom und Widerstand. Daraus ergibt sich als Einheit der Spannung diejenige Spannung, die an den Enden eines Wider- standes 1 (1 Ohm) herrscht, wenn er von der Stromstärke 1 (1 Ampere) durchflössen wird. Diese Spannung heißt ein (gesetz- liches) Volt. Sie ist nahezu gleich dem 108-fachen der elektromagnetischen Einheit, mit diesen gesetzlichen Ein- Praxis noch nicht zufrieden, verlangt Einheiten, die sich unverändert aufbewahren lassen. Das ist beim Widerstände in hervorragendem Maße der Fall und auch auf dem Gebiete der Span- nung hat man eine Einheit, das Cadmium- normalelement, geschaffen, die große Kon- stanz zeigt, während die Aufbewahrung von Stromstärken ihrer Natur nach unmöglich ist. Außerdem ist das gesetzlich vorge- schriebenen Verfahren der Strombestim- mung für die Bedürfnisse der Praxis ganz unbrauchbar. Es läßt sich nur im Präzisions- laboratorium unter Aufwendung großer Sorg- falt durchführen. Daß man sich trotzdem für die gesetzliche Festlegung der Strom- stärke und nicht der Spannung entschied, hatte seinen Grund darin, daß die Theorie der Strommessung besser geklärt war als die der Spannungserzeugung durch Normalelemente. Inzwischen hat die Theorie der Cad- miumnormalelemente große Fortschritte ge- macht, so daß man das vorschriftsmäßig hergestellte Cadmiumnormalelement als zwar Aber auch heiten war die Die Praxis nicht gesetzliches, aber praktisches Span- 278 Elektrische Spannung nungsnormal benutzt. Nach den neuesten sorgfältigsten Messungen besitzt es eine elektromotorische Kraft von 1,0183 Volt bei 20° C. Die Vorschriften für die Zusam- mensetzung des Elementes wurden durch eine internationale Kommission in London 1910 festgelegt. Es existieren also folgende Einheiten der Spannung : 1. die elektrostatische Einheit gleich 300 Volt, 2. die elektromagnetische Einheit gleich 10-8 Volt, 3. die gesetzliche Einheit gleich 1,0000 Volt, 4. die praktische Einheit, das Cadmium- element gleich 1,0183 Volt bei 20° C. 4. Die Messung der Spannungen. 4a) Das Kompensationsverfahren. Bei den Spannungsmessungen unterscheidet man das direkte Verfahren, das aus den von der Spannung ausgeübten Kräften auf ihre Größe schließt, das indirekte, das die Größe des elektrischen Stromes ermittelt, der von der zu messenden Spannung in einem bekannten Widerstände erzeugt wird, und das Kompensationsverfahren, dessen Prinzip mit den besonderen Eigenschaften der Span- nung nichts zu tun hat, sondern zur Mes- sung jeder Größe geeignet ist. Es wird seit Urzeiten in der Wage angewandt und besteht darin, daß man eine in meßbarer Weise veränderliche Größe so lange ändert, bis ihre Wirkung der der zu messenden Größe genau gleich ist, so daß sich die Wirkungen, wenn sie gegeneinander gerichtet werden, genau aufheben. Das Instrument, welches die Gleichheit der Wirkungen anzeigt, muß der Art der zu messenden Größe angepaßt sein. Während es bei der Wage aus dem Hebel und Zeiger besteht, ist es bei der Spannungskompen- sation ein elektrisches Instrument, und zwar ein Strommesser hoher Empfindlich- keit, durch den die größere der beiden gegen- einander geschalteten Spannungen so lange Strom sendet, als die Spannungen noch nicht völlig gleich sind. Man kann also das Kom- pensationsverfahren sowohl den direkten Verfahren zuzählen, da die zu messende Spannung unmittelbar gegen eine bekannte wirkt, als auch den indirekten, da die Span- nungsgleichheit mit Hilfe des Stromes er- mittelt wird. Am besten aber behandelt man es als „Prinzip der Abgleichung" für sich. Da es von allen Meßverfahren bei weitem das genaueste ist, so möge es hier an erster Stelle beschrieben werden. Das einfachste Schema des Kompen- sationsverfahrens ist in Figur 1 dargestellt. Eine möglichst konstante elektromotorische Kraft E ist durch einen Schleifdraht s und einen Regulierwiderstand r geschlossen (Bat- teriekreis). Von dem Schleifkontakte a und dem festen Punkte b ist ein Stromkreis abgezweigt, der die zu messende Spannung (oder elektromotorische Kraft) e und ein Galvanometer g enthält (Galvanometer- kreis). Der von der Batterie E im Batterie- Fig. 1. Schema des Kornpensationsverfahrens. kreise erzeugte Strom wird mit Hilfe des Widerstandes r so eingerichtet, daß in jedem Zentimeter des Schleifdrahtes ein bestimmter bekannter Potentialabfall stattfindet, falls im Galvanometerkreise kein Strom fließt. Man kann also durch Verschieben des Schleifkontaktes a jede beliebige Spannung zwischen Null und der Gesamtspannung des Schleifdrahtes zwischen a und b legen. Man schaltet nun die Pole von e in dem Richtungssinne ein, daß die Spannung e der Spannung a b entgegenwirkt, und ver- schiebt a so lange, bis das Galvanometer g Stromlosigkeit anzeigt. Dann ist die Span- nung e gleich der unmittelbar aus der Länge der Strecke ab ablesbaren Spannung zwischen a und b. Der Schleifdraht ist für Präzisionsmessimgen viel zu ungenau. An seine Stelle treten zahlreiche Präzisions widerstände, die mit höchster Sorgfalt abgeglichen sind. Der Schleifkontakt wird durch Kurbelschalter ersetzt. Immerhin läßt sich aus dem Schema der Figur 1 ableiten, welche Be- dingungen erfüllt sein müssen, damit die Ein- richtung genau arbeitet. Da ist abgesehen von der selbstverständlichen Forderung, daß alle Widerstände den Wert wirklich haben, den sie repräsentieren, die wichtigste Bedingung die, daß der Strom im Batteriekreis konstant ist. Das setzt wiederum voraus, daß die Spannung der Batterie konstant ist und daß sich der Ge- samtwiderstand des Batteriekreises weder infolge von etwaiger Erwärmung noch infolge der Ein- stellung von a in wahrnehmbarem Betrage ändert. Die Konstanz der Batterie (meistens zwei Akkumulatoren) erreicht man dadurch, daß man sie so groß (z. B. 1 Ampere normale Entlade - Stromstärke) und den Strom im Batteriekreis so klein macht (z. B. 0,0001 Ampere), daß er die Batterie nur verschwindend belastet. Außer- dem hält man die Temperatur der Batterie möglichst konstant. Den Strom im Batterie- kreis sehr klein zu machen, hat den weiteren Vorteil, daß die Erwärmung des Kompensators Elektrische Spannung 279 durch diesen Strom unschädlich klein bleibt. Die Widerstände selbst sind dann für die höchste Genauigkeit hinreichend konstant. Eine Un- sicherheit wird jedoch durch die Uebergangs- widerstände in den Kurbelschaltern geschaffen. Diese Unsicherheit ist in Kompensatoren mit hohem Gesamtwiderstande (z. B. 15000 Ohm) belanglos und daß es keine Wechselspannungsquelle von auch nur annähernd so großer Konstanz gibt wie sie ein Akkumulator besitzt, und wie sie zum Konstanthalten des Stromes im Batterie- kreise nötig ist. a) Kompensator nach Feußner. Der erste Kompensator hohen Widerstandes wurde von Feußner angegeben. Die Mit solchen Apparaten lassen sich aber auch i u steh nd Fio.ur o enthält die Schaltung die größeren Spannungen bis herab zu neDenstenenae .Figur & entnait aie öcnaitung etwa 0,001 Volt messen. Sollen wesentlich i einer Anordnng aus 4 Dekaden von je kleinere Spannungen bis zu 0,0000001 Volt j 9 Widerstanden, Hunderten, Zehnern, Ei- oder 0,1 Mikrovolt kompensiert ä . . vnn°oo„'^loonoo0°f>00o(' h o0oo000o/i i<- werden, so muß der Gesamtwider stand des Kompensators klein sein, weil sonst der Strom im Galvano- meterkreis so klein wird, daß er das Galvanometer nicht mehr genügend beeinflußt. Deshalb gibt man den Kompensatoren, die so geringe Spannungen messen sollen, etwa 10 Ohm Gesamtwiderstand. Soll mm die Messung auf ein Zehntausendstel genau sein, so muß der Widerstand bis auf weniger als 0,001 Ohm konstant und bekannt sein. Das ist aber schon in der Nähe des Betrages, den Uebergangswiderstände von Kurbel- kontakten zu besitzen pflegen. Des- halb müssen in diesem Falle die Kurbeln im Hauptstromkreis selbst ganz ver mieden werden. <3>' iBo <100 °» x0,1 '<«°u Jt>o 0 0 °°°?flooooo"£ Fis Schema eines Kompensators nach Feußner. nern, Zehnteln, zusammen 999,9 Ohm. Zwischen den Kurbeln A und B liegt die Eine weitere Bedingung für richtiges Arbeiten Abzweigung zum Galvanometerkreise, des Kompensators ist die, daß die Spannung zwischen a und b lediglich durch den Strom des Batteriekreises erzeugt und nicht durch Das Wesentliche an dieser Schaltung sind die beiden mittleren Dekaden. Würden rgendwelche parasi ischen elektromotorischen diese ebenso eingerichtet sein wie die End- Kräfte beeinflußt wird, die in den Widerständen i dekaden, so wurde durch Drehen ihrer oder Kurbeln und den Verbindungen zwischen Kurbeln ein Teil ihres Widerstandes nicht a und b ihren Sitz haben. Derartige störende nur aus dem Galvanometerkreise, sondern Kräfte entstehen als Thermokräfte, wenn ver- \ auch aus dem Batteriekreise ausgeschaltet schiedene Metalle aneinandergrenzen und zwischen | werden, dessen Widerstand konstant bleiben den verschiedenen Grenzen Temperaturunter- solL Tjm dieses zu erreichen, sind die schiede bestehen Beules läßt sich nicht vermeiden. Dekaden nach dem Zwillingsprinzip ausge- Die Widerstände müssen aus Manganin sein, ,-, , , A11 Tir , ... , -° \ i *■ ■., J= um einen von der Temperatur- unabhängigen ! ^det. Alle : Widerstände sind doppelt vor- Wert zu besitzen, die Kurbeln aus Kupfer oder banden und jeder Widerstand, der oben Messing, um einen möglichst geringen Wider stand zu haben. Temperaturunterschiede ent- stehen durch die beim Drehen der Kurbeln ent- wickelte Reibungswärme. Da die Thermokräfte bei 1° C Temperaturunterschied mehrere Mikro- volt betragen, so folgt, daß sie bei Messungen von etwa einem Volt belanglos, bei Messungen von einem Mikrovolt dagegen von größter Be- deutung sind. Deshalb muß bei Kompensatoren geringen Widerstandes, die zur Messung so kleiner Spannungen dienen, die Entstehung von Tempe- raturunterschieden mit großer Sorgfalt unter- drückt und müssen außerdem die Thermokräfte durch eine besondere Schaltung an Stellen verlegt werden, an denen sie möglichst unschädlich sind. Theoretisch ist das Kompensationsverfahren zur Messung von Wechselspannungen ebenso geeignet wie zur Messung von Gleichspannungen. Praktisch dagegen scheitert die Messung von Wechselspannungen nach diesem Verfahren daran, daß sich Wechselspannungen nur vergleichen lassen, wenn sie von derselben Quelle stammen, ausgeschaltet wird, wird durch eine Doppel- kurbel unten in den Batteriekreis (und nur in diesen) wieder eingeschaltet. Daß man als mittlere Dekaden die beiden kleinsten ausgewählt hat, liegt darin begründet, daß dann die Zwillingswiderstände am wenig- sten genau abgeglichen zu sein brauchen, da sie dann am "wenigsten gegen den großen Gesamtwiderstand des Batteriekreises in Frage kommen. Natürlich werden die klein- sten beiden Dekaden nur elektrisch, der Schaltung nach, in die Mitte genommen. Die räumliche Anordnung der Dekaden ist so, daß die Einstellungen ihrem Stellenwerte nach aufeinanderfolgen. In Figur 2 sind 581,5 Ohm eingestellt. Meistens haben die Kompensationsapparate dieser Art 5 De- kaden, von denen die erste 14 Einheiten besitzt, so daß der Gesamtwiderstand 14 999,9 Ohm beträgt. Die Batterie besteht in der Regel aus zwei Akkumulatoren von 280 Elektrische Spannung rund 4 Volt Spannung. Der Strom im Bat- j rechnung der Widerstandsverb ältnisse mit viel weniger Widerständen auskommen. So enthält z. B. der in Figur 3 wiedergegebene Dekaden-Kompensator von Raps nur teriekreis wird mit Hilfe eines Vorschalt- widerstandes von etwa 25 000 Ohm auf 0,0001 Ampere eingestellt. Dazu schaltet man in den Galvanometerkreis ein Normal- 19 Widerstände von 100 und 19 von dement mit der elektromotorischen Kraft 1 Ohm, also zusammen 38, während der 1,0183 Volt, stellt die Kurbeln des Koni- Feußnersche insgesamt 54 Widerstände vier pensators auf 10 183 Ohm und verändert mit verschiedener Größen umfaßt. Hilfe des Vorschaltwiderstandes den Strom Der Hauptstrom durchfließt bei dem im Batteriekreise, bis das Galvanometer Kompensator von Raps nach Figur 3 Stromlosigkeit anzeigt. Dann ist der Strom hintereinander nur die Hunderter und Einer, im Batteriekreis genau 0,0001 Ampere, 10 000 Auf den Kontakten beider Dekaden schleifen Ohm des Kompensators entsprechen einem : Doppelkurbeln, deren Bürsten immer einen Volt und die Messung unbekannter Span- Widerstand überbrücken. An diesen beiden nungen, die an Stelle des Normalelementes Bürsten, also dem überbrückten Widerstände eingeschaltet werden, kann beginnen. Die parallel, liegen die beiden Nebenschluß- Kontrolle des Batteriestromes muß von Zeit dekaden, die ebenfalls aus Hundertern und zu Zeit wiederholt werden. Einern bestehen. Der Widerstand dieser Da Normalelementen unter keinen Um- Verzweigung für den Hauptstrom beträgt ständen Ströme von mehr als etwa 0,00005 90 oder 0,9 Ohm. Jede Einheit der Neben- Ampere entnommen werden dürfen, ist schlußdekaden bedeutet nur den zehnten in den Galvanometerkreis ein ausschaltbarer Teil ihres Wertes, eben weil sie im Neben- Vorschaltwiderstand mit den Stufen 100 000 ; schluß liegt. Somit sind also tatsächlich 10 000 ; 0 Ohm eingeschaltet, der das Normal- dem Werte nach auch hier Hunderter, dement schützt und erst ausgeschaltet Zehner, Einer, Zehntel vorhanden. Der wird, wenn die richtige Einstellung nahezu Gesamtwiderstand des Batteriekreises ist erreicht ist. konstant und beträgt 900 (9 Hunderter) ß) Kompensator nach Raps. Die | -f 90 (das überbrückte zehnte Hundert) + 9 (9 Einer) + 0,9 (der über- ^45ii; brückte zehnte Einer) = 999,9 Ohm. Die Abzwei- gung liegt an den Kurbeln der Nebenschlußdekaden. Zur Einstellung gibt man den Doppelkurbeln eine solche Stellung, daß der Kompensationswiderstand eben noch zu klein ist und stellt dann mit Hilfe der Kurbeln der Nebenschluß- dekaden auf genaue Kom- pensation ein. In der Figur 3 beträgt der Kom- pensationswiderstand 244,2 Ohm. Beide Kompensatoren, nächste Vereinfachung des Kompensators [ der nach Feußner sowohl wie der wurde von Raps angegeben. Das Wesent- nach Raps haben den Nachteil, daß der Widerstand des Galvanometer- kreises veränderlich ist. Infolgedessen ändert sich auch die Empfindlichkeit des % 0oOOa^ ; rfA°oUoO"-Q 6 5 43 ^ Einheiten vonlOOfl. o o// .o °> *34 5 61 0 Einheiten von 111 Fig. 3. Schema eines Kompensators nach K.aps. liehe an ihr ist das Prinzip des verzweigten Stromkreises. Es besteht darin, daß ein Widerstand, der verändert werden soll, nicht in einzelne ausschaltbare Teile zerlegt wird, I Galvanometers, und es besteht keine Pro- sondern statt dessen einen unterteilten portionalität zwischen seinem Ausschlag Nebenschlußwiderstand erhält. Der Vorteil und der Abweichung von der Kompensations- besteht darin, daß die einzelnen Teile des Stellung, so daß stets auf Stromlosigkeit Nebenschlußwiderstandes einen viel größeren | eingestellt werden muß. Es gewährt je- Widerstand erhalten als die Teile eines doch dieselben Vorteile wie bei der Wägung, direkt unterteilten Widerstandes, daß sie die letzten Dezimalen nicht durch völlige infolgedessen leichter abzugleichen sind, und Abgleichung, sondern mit Hilfe des Aus- die Uebergangswiderstände der Kurbeln sich Schlages des Anzeigeinstrumentes zu gewinnen, zu größeren Widerständen addieren und in- Die Bedingung dafür ist konstante Empfind- folgedessen weniger schädlich sind. lichkeit des Galvanometers und damit kon- Außerdem kann man bei geeigneter Be- stanter Widerstand des Galvanometerkreises. Elektrische Spannung 281 y) Konipensator nach Hausrath und Diesselhorst. Diese Bedingung ist bei den Kompensatoren mit kleinem Wider- stände zur Messung geringer Spannungen von Hausrath und von Diesselhorst nahezu erfüllt. Außerdem sind bei diesen Kompensatoren Kurbelkontakte im Meß- zweige, sowie störende Thermokräfte ver- mieden. Auch hier wird das Prinzip der Stromverzweigung benutzt, aber in anderer Weise als bei Eaps. Der Widerstand im Galvanometerkreis besteht, wie die schema- tische Figur 4 erkennen läßt, aus einem Mittel- teil von großem und zwei anschließenden Seitenstücken von kleinem Widerstände, die, ohne durch Kurbelkontakte unter- brochen zu sein, hintereinandergeschaltet sind. In der Figur 4 sind sie als Schleif- draht gezeichnet. In Wirklichkeit istder Fig. 4. Schaltung eines Kompensators nach Hausrath und Diesselhorst. hohe Widerstand eine Mitteldekade aus Einohmwiderständen, die beiden geringen Widerstände zwei Seitendekaden aus Zehn- teln. Der Hauptstrom tritt in der Mitte bei C ein und verzweigt sich nach beiden Seiten in zwei ungleiche Teile, die sich wie 10:1 verhalten. Dieses Verhältnis wird mit der erforderlichen großen Genauigkeit durch besondere, in den Batteriekreis eingeschaltete (in Figur 4 nicht eingetragene) Widerstände aufrecht erhalten. Verschiebt man die Kontakte A, B, C so, daß das Galvanometer stromlos wird, so ist die Spannung zwischen A und B gleich i (jrr Rx — . R2j, wenn Rx der Widerstand zwischen A und C, R2 der zwischen B und C ist. Die Widerstände links von C haben also die zehnfache Bedeu- tung wie die rechts von C. Demzufolge wird durch C die erste und zweite, durch A die dritte und B die vierte Dezimale eingestellt, Der Widerstand des Galvanometerkreises ändert sich dadurch, daß die Stelle, an der der Hauptkreis abzweigt, verschoben wird. Da aber der Widerstand des Hauptkreises groß ist im Vergleich zu dem Widerstände zwischen A und B, so ist die Aendernng des Galvanometerkreises gering. Es können also weitere Dezimalen aus den Galvano- meterausschlägen gewonnen werden. Da die Thermokräfte vorwiegend an den Kurbeln infolge der Reibungswärme auftreten, sind sie hier im Galvanometerkreise zugleich mit den Kurbeln vermieden. Außerdem wird der ganze Kompensator zur Erzielung mög- lichst gleichförmiger Temperatur mit Petro- leum gefüllt ö) Meßbereiche der Kompensato- ren und Messung höherer Spannungen mit ihrer Hilfe. Mit Hilfe dieser Kom- pensatoren lassen sich Spannungen bis 0,1 Volt, mit Hilfe der Anordnung von Feußner Spannungen bis zu einigen Volt durch direkte Einschaltung in den Galvanonieter- kreis messen. Zur Messung höherer Spannungen gibt es zwei Wege. Der eine besteht darin, daß die zu messende Spannung an Stelle der Hilfsbatterie eingeschaltet und der von ihr erzeugte Strom durch einen hohen, genau bekannten Vorschaltwiderstand mit Hilfe des Kompensators und eines Normalelementes auf einen runden Wert eingestellt wird. Dann gibt das Produkt aus Stromstärke und dem Gesamtwiderstande, des Batterie- kreises die gesuchte Spannung. Bequemer ist das zweite Verfahren, das einen Spannungsteiler verwendet. Dieser besteht aus einem großen Widerstände, der an mehreren Stellen Abzweigklemmen be- sitzt, etwa derart, daß der Gesamtwider- stand A bis D nach Figur 5 100 000 Ohm, der Widerstand A bis B 100 und der Wider- stand A bis C 1000 Ohm beträgt. Wird nun B o 10012. = VWVVWVWWVfA/WWWWVWWWW 1C00OA- 100000X1 A Fk 5. Schema eines Spannungsteilers. an AD (oder AC) die zu messende größere Spannung gelegt, so ist an AB genau der tausendste (oder der hundertste) Teil von ihr vorhanden, der sich bequem kompensieren läßt, und das Verhältnis wird auch durch die Kompensation nicht gestört, weil ja bei der Kompensation von der kompensierten Spannung kein Strom geliefert wird. Der Vorteil dieser Methode vor der ersten liegt darin, daß der Hauptstrom im Konipensator nicht neu eingestellt zu werden braucht. Beiden Methoden gemeinsam ist der Nachteil, daß das Prinzip der Kompen- ! sation verlassen ist. Denn bei beiden Me- i thoden wird die Spannung mit Hilfe des von ihr gelieferten Stromes ermittelt. Man kann also nach diesem Verfahren nie elektro- motorische Kräfte, sondern immer nur Span nungen messen. 282 Elektrische Spannung 4b) Direkte Spannungsmessung! nach dem Elektrometerprinzip. a) ! Elektrostatische Elektrometer. Wie eingangs erwähnt, ist das Kompensations- verfahren oder das Prinzip der Abgleichung nicht in den besonderen Eigenschaften der Spannung begründet, sondern ganz allge- mein anwendbar. Das eigentliche Spannungs- meßprinzip besteht darin, aus den von der Spannung ausgeübten Kräften auf ihre Größe zu schließen. Dieses Prinzip ist in den Elektrometern angewandt. Da diese jedoch zum größten Teile in dem Artikel „Elektrostatische Messungen" ausführ- lich behandelt sind, kann hier nur kurz auf sie eingegangen werden. Die Quadrantelektrometer bestehen aus vier leitenden Quadranten, die von- einander sorgfältig isoliert sind und eine geschlitzte Schachtel bilden. Je zwei gegen- überliegende Quadranten sind untereinander leitend verbunden. In der Schachtel schwingt die bisquitförmige Nadel, die zusammen mit einem Ablesespiegel an einem feinen leitend gemachten Faden aufgehängt ist. Legt man zwischen die beiden Quadrantenpaare eine Spannung, wobei das eine von ihnen geerdet ist, und an die Nadel eine konstante Hilfsspannung, so wird die Nadel mit dem Ablesespiegel durch die Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen ihr und den Quadranten um einen von der Größe der Spannungen abhängenden Winkel gedreht. Die Drehung wird durch einen auf den Spiegel geworfenen Lichtstrahl in vergrößer- tem Maße angezeigt. Ein anderes Verfahren besteht darin, auch die Nadel an Erde zu legen. Da die wirkenden Kräfte äußerst gering sind, so sind die Quadrantelektrometer sehr empfindliche Apparate, die eine sehr sorg- fältige Behandlung verlangen und erst nach einiger Uebung gemeistert werden. Andererseits läßt sich mit ihnen bei Inne- haltung der nötigen Vorsichtsmaßregeln eine große Genauigkeit erreichen. Die Eichung der Quadrantelektrometer wird mit dem Cadmiumnormalelement aus- geführt. Sie messen ebensogut Gleich- wie Wechselspannungen und geben im letzteren Falle die Effektivwerte. Zur Messung hoher Spannungen benutzt man das Prinzip des Elektroskopes. Zwei nebeneinander in einer abgeleiteten Metall- liülle herabhängende dünne Metallblättchen stoßen einander ab, wenn sie auf ein hohes Potential geladen werden. Die Größe der Abstoßung läßt sich an einer geeichten Skale ablesen. Das Verfahren ist roh. ß) Das Kapillarelektrometer. Wich- tig zu Messungen kleiner Spannungen bis zu einem Volt ist das Kapillarelektrometer nach Li pp mann. Da es in den Abschnitt über elektrostatische Messungen nicht aufgenom- men ist, möge es hier genauer beschrieben werden. Es kann nur zur Messung von Gleichspannungen benutzt werden. Die Grundlage des Kapillarelektrometers ergibt sich aus folgendem Versuche: Eine sehr große und eine sehr kleine, durch den Meniskus eines kapillaren Fadens gebildete Quecksilberoberfläche werden als Elektroden in verdünnte Schwefelsäure gebracht. Wer- den sie leitend miteinander verbunden, so stellt sich der Quecksilbermeniskus in der Kapillaren auf einen bestimmten Punkt ein. Legt man dann eine Spannung an die Elektroden, so ändert sich die Stellung des Quecksilbers der Spannung entsprechend, solange die angelegte Spannung unter einem Volt bleibt und der Meniskus die negative Elektrode (Kathode) ist. Dieses eigentümliche Verhalten des Me- niskus rührt daher, daß das Quecksilber in einer Kapillaren, die sich oben zu einem Keservoir voll Quecksilber erweitert, durch die Oberflächenspannung gegen die Schwer- kraft in die Höhe gehoben wird. Wird eine Spannung an die Zelle gelegt, so polarisieren sich ihre beiden Elektroden und zwar im umgekehrten Verhältnis ihrer Oberflächen- größe. Das heißt, es polarisiert sich prak- tisch nur der Meniskus in der Kapillaren. Die Polarisation besteht darin, daß von dem durch die Spannung negativ geladenen Quecksilber aus dem Elektrolyten positive Ionen angezogen werden und über seiner Oberfläche eine Schicht bilden, wie Figur 6 zeigt. Die entstandene elektrische Doppel- Fig. G. Elektrische Doppelschicht zwischen Quecksilber und ver- dünnter Schwefelsäure. -Hg rzr-_z-^,-- -Elektrolyt Schicht sucht die gekrümmte Fläche des Meniskus zu strecken, weil dann die ein- ander abstoßenden gleichen, dicht neben- einander liegenden Elektrizitätsteilchen am weitesten voneinander entfernt sind. Die Doppelschicht verringert also die Ober- flächenspannung des Quecksilbers und die Folge ist, daß der Meniskus sinkt. Die nebenstehende Figur 7 läßt den Zusammen- hang zwischen polarisierender Spannung und Oberflächenspannung erkennen. Die Figur zeigt, daß die Oberflächenspannung ein Maximum besitzt, wenn der Meniskus ka- thodisch mit 1,0 Volt polarisiert ist. Das bedeutet, daß gerade bei dieser Polarisation keine Doppelschicht vorhanden ist, daß sich also schon beim Eintauchen des Queck- Elektrische Spannung 283 Silbers in die Schwefelsäure eine Doppel- < 0,01 Volt einen Ausschlag von 3 bis 5 Skalen- schicht ausbildet, die einer anodischen Po larisation des Quecksilbers vom Betrage 1,0 Volt entspricht. Diese anodische Polari- sation wird durch das Anlegen der gleich- großen kathodischen Polarisation von einem Volt gerade aufge- hoben, so daß dann die maxi- male Oberflächenspannung vor- handen ist. Legt man also an die Zelle bis zu einem Volt steigende Spannungen, so steigt die Oberflächenspannung infolge der Schwächung der ursprünglich vorhandenen Doppelschicht und der Meniskus wandert in der Kapillaren in die Höhe. Für Laboratoriumsarbeiten gibt man dem Kapillarelektro- meter am besten die Form der Figur 8. Auf einem Grundbrett ist mit Hilfe eines federnden Metallstreifens ein dünnes Brett befestigt, das durch die Stell- teilen gibt. Um den "Stand der Queck- silberkuppe genau ablesen zu können, be- festigt man eine Lupe über der Skale. Da nach Figur 7 die Ausschläge des Elektro- Oberflächenspannunq +100 + 50 0 +0,5 'o 05 1.0 1.5 2.0 2.5 Volt Polarisierende Spannung -50 W//////////M '/////, Fig. 8. Kapillarelektrometer. schraube f nach Belieben geneigt werden kann, und auf dem das eigentliche Elektro- meter mht. Die Quecksilberelektrode mit großer Oberfläche befindet sich in dem Glaskölbchen b, die andere wird in d ge- füllt und endet in der mit b verbundenen Kapillaren c. Zur Stromzuleitung dienen Platindrähte. Die Kapillare c soll etwa 0,5 mm lichte Weite haben. Unter ihr liegt eine in halbe Millimeter geteilte Ableseskale. Um das Elektrometer benutzen zu können, schließt man es zunächst kurz, läßt dann einen Tropfen Quecksilber durch c nach b hinübergleiten und stellt darauf die Schraube so ein, daß sich die Grenze zwischen der Quecksilberkuppe und der Schwefelsäure in c am oberen Ende der Skale befindet. Je steiler dabei die Kapillare liegt, um so un- empfindlicher ist das Elektrometer, um so geschwinder aber die Einstellung. Die ge- wünschte Neigung läßt sich bei gegebener Einstellung der Quecksilberkuppe durch Verändern der Quecksilbermenge in d er- reichen. Die beste Neigung ist die, bei der Fig. 7. Kurve der Oberflächenspannung des in verdünnter Schwefelsäure polarisierten Quecksilbers nach Paschen. meters nur innerhalb enger Grenzen den an- gelegten Spannungen proportional sind, hat man die Wahl, das Elektrometer entweder mit einer besonderen durch Eichung gewonnenen Skale zu versehen, oder es nur als Nullinstrument zu benutzen. Letzteres ist die Regel. Zu beachten ist ferner, daß das Quecksilber in der Kapillaren unrein und unbeweglich wird, wenn es zur Anode gemacht wird. Ist dieses durch ein Versehen geschehen, so muß ein Tropfen Quecksilber nach b hinübergedrückt werden, damit eine reine neue Oberfläche entsteht. Zwischen den einzelnen Messungen eines Versuches soll es dauernd kurzgeschlossen sein, was sich leicht mit Hilfe eines geeigneten Schalters erreichen läßt. Für manche Arten von Untersuchungen eignet sich das Kapillarelektrometer wegen seiner großen elektrostatischen Kapazität nicht. Diese rührt daher, daß die Doppel- schicht zu ihrer Ausbildung beträchtliche Elektrizitätsmengen beansprucht. Ferner kommt es überall da nicht in Frage, wo eine hohe Isolation der spannungs- führenden Teile gegeneinander gefordert wird, wo also geringe Ladungen längere Zeit er- halten bleiben sollen. Denn das Kapillar- elektrometer wird von einem dauernden, wenn auch recht geringen Strome durch- flössen, sobald es an Spannung gelegt wird. Das rührt daher, daß die Doppelschicht durch Diffusionsprozesse dauernd geschwächt wird, so daß der Strom immer neue Ionen zu ihrer Aufrechterhaltimg herbeischaffen muß. Das Kapillarelektrometer bildet also den Uebergang zu den stromverbrauchenden Spannungsmeßinstrumenten, wenn auch sein Strom nicht zur Messung benutzt wird, sondern lediglich störend wirkt. 4c) Indirekte Messung von Span- nungen aus Stromstärke und Wider- stand. Für technische Messungen ist das Verfahren, eine Spannung durch den Strom zu messen, den sie in einem bekannten 284 Elektrische Spannung — Elektrischer Strom Widerstände erzeugt, das weitaus verbrei- tetste und wichtigste. Da jedoch die Mes- sung von Strömen in dem Artikel „Elek- trischer Strom" ausführlich behandelt ist, soll hier, um Wiederholungen zu ver- meiden, nur das Prinzip dieser Methode der Spannungsmessung behandelt und im übrigen auf den erwähnten Artikel ver- wiesen werden. Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein. Der von der zu messenden Spannung an das Meßinstrument gelieferte Strom muß so gering wie möglich sein, damit die Spannung nicht durch die Stromlieferung verändert wird (an Normalelemente dürfen Spannungsmes- ser dieser Art überhaupt nicht angeschlossen werden!), und der Widerstand des Span- nungsmessers muß konstant sein. Beide Bedingungen erfüllt man dadurch, daß man empfindliche Strommesser benutzt, denen man einen hohen konstanten Vorschalt- widerstand gibt. Da bei fast allen Strom- messern der Widerstand des messenden Systems selbst zwar nicht konstant, aber recht gering ist, so kommt die durch die Erwärmung des Instrumentes bedingte Aen- derung dieses Widerstandes gegenüber dem hohen Vorschaltwiderstande nicht in Frage. Sollen die Instrumente nur als Span- nungsmesser benutzt werden, so werden die Vorschaltwiderstande meistens gleich in das Instrument eingebaut. Sind die Apparate dagegen zur Messung von Spannungen und Strömen bestimmt, so erhalten sie separate Vorschaltwiderstande, die in besonderen Wi- derstandskästen untergebracht sind. Um Vertauschbarkeit zu ermöglichen, gibt man sämtlichen Strommessern bei gleicher Emp- findlichkeit auch gleiche innere Widerstände, so daß bei allen einem gegebenen Widerstände und Ausschlage die gleiche Spannung ent- spricht. So führt z. B. Siemens & Halske viele Apparate so aus, daß 1000 Ohm 3 Volt entsprechen. Hohe Wechselspannungen mißt man da- durch, daß man sie mit Hilfe eines Meßtrans- formators von genau bekanntem Ueber- setzungsverhältnisse verkleinert, und die kleinere Spannung nach einem der angegebe- nen Verfahren ermittelt. Bezüglich der Aufnahme und Analyse von Wechselspannungskurven muß auf den Artikel „Elektrischer Strom" verwiesen werden. Literatur. 1. Umfassende Werke: Heinkey Handbuch der Elektrotechnik. Leipzig 1908. — Abraham, Theorie der Elektrizität. Leipzig 1905. — Kittler, Allgemeine Elektrotechnik. 1909 und 1910. — Kohlrausch, Lehrbuch der Leipzig-Berlin 1910. — Winkelmann , Handbuch der Physik, Band IV. Leipzig 1905. Maxwell, Lehrbuch der Elektrizität und des: Jlugnetismus. Berlin 1S8S. — 2. Korn- pensations verfahren: Diesselhorst, Z. f. Instr., 1906, S. 173 und 297; 1908, S. 1. — Hausrath, daselbU, 1907, S. 309. — W. P. White, daselbst, 1907, 6'. 210. — 3. Kapillar - elektrometer: Palmaer, Z. f. phys. Chem. 59, 8. 187, 1907. G. Schulze. Elektrischer Strom. 1. Definition und Eigenschaften des elek- trischen Stromes. 2. Einteilung der Ströme nach Intensität und Richtung. 3. Einheiten des elektrischen Stromes. 4. Messung des elektrischen Stromes, a) Das Meßprinzip der Verzweigung, b) Meßverfahren, mit denen nur Gleichstrom gemessen werden kann. a) Elektrolytische Wirkung des Stromes; Silbervoltameter; Kupfer- voltameter; Quecksilbervoltameter; Wasser- oder Knallgas voltaineter. ß) Wirkung zwischen Strom und Magneten. 1. Stromleiter beweglich; Dreh- spulgalvanometer; ballistische Galvanometer; Saitengalvanometer ; Drehspulzeigerinstrumente. 2. Magnet beweglich; Nadelgalvanometer, Tan- gentenbussole, y) Drehung der Polarisationsebene des Lichtes durch den Strom, c) Meßverfahren, mit denen sowohl Gleichstrom als auch der Effektivwert von Wechselströmen gemessen werden kann, a) Indirekte Methode. Messung von Spannung und Widerstand, ß) Wirkung zwischen Strom und weichem Eisen. y) Wirkung zwischen Strom und Strom. Dynamometrische Strommesser; Stromwagen, d) Wärmewirkung des Stromes im durchströmten Leiter. 1. Ver- längerung des erwärmten Leiters; Hitzdraht- strommesser. 2. Temperaturerhöhung (gemessen mit Thermoelement). 3. Widerstandserhöhung. 4. Lichtstrahlung. f) Striktionswirkung des Stromes, d) Meßverfahren, mit denen nur der Ei 1 ektivw ert von Wechselströmen gemessen werden kann, a) Das Induktionsprinzip, ß) Das Reso- nanzprinzip, y) Das Telephonprinzip, e) Messung und Analyse der Kurvenform von Wechsel- strömen, a) Die punktförmige Kurvenaufnahme. ß) Die Momentaufnahme der vollständigen Kurven. 1. Mit Hilfe freier Elektronen; Braunsche Röhre; Glimmlichtoszillograph von Gehrcke. 2. Mit Hilfe beweglicher Massen- systeme; Nadeloszillograph; bifilare Oszillo- graphen ; Saitenoszillograph, y) Messung des Formfaktors. d) Analyse der Wechselstrom- kurven. 1. Definition und Eigenschaften des elektrischen Stromes. Als elektrischen Strom bezeichnet man die Bewegung elek- trischer Ladungen. Von den elektrischen Ladungen kennt man bisher drei Arten: Erstens die negativen Elektronen oder Atome der Elektrizität, zweitens die positiven Ionen, die durch Abspaltung von Elektronen von gewöhnlichen Atomen entstehen und aus dem zu bestehen scheinen, was man Materie nennt, drittens die negativen Ionen, be- stehend aus Atomen, die mit überschüssigen Elektronen beladen sind. Demgemäß lassen Elektrischer Strom sich drei Arten elektrischer Ströme unter- scheiden: Der Strom negativer Elektronen, der Strom positiver und der negativer Ionen. Die Elektronen besitzen eine, wenn auch äußerst kleine träge Masse. Also ist auch ein Elektronenstrom mit Massentransport verknüpft. Aber dieser Massentransport ist mit keiner meßbaren Veränderung der Massenverteilung verknüpft. Da alle Elek- tronen gleich sind und beim stationären Strome an die Stelle jedes wegströmenden Elektrons ein neues zuströmendes tritt, so ändert sich in dem Zustande des durch- strömten Stoffes nichts. Andererseits ist die Anhäufung der Elektronen an einer Stelle bis zu einer meßbaren Masse nicht möglich, weil die einander abstoßenden Kräfte der Elektronen viel zu groß sind. Der Elektronenstrom findet sich in reiner Form in den Metallen. Die positiven Ionen sind in ihnen praktisch unbeweglich, die Elektronen dagegen wenigstens zum Teil frei. Annähernd rein ist der Elektronenstrom ferner im Kathodenstrahl, der fast ausschließ- lich aus negativen, mit außerordentlicher Geschwindigkeit von der Kathode ab- fliegenden Elektronen besteht. Reiner Ionenstrom fließt in den Elektro- lyten und zwar bewegen sich in ihnen im allgemeinen sowohl positive als auch ne- gative Ionen in entgegengesetzten Rich- tungen mit Geschwindigkeiten, die nicht sehr voneinander abweichen. Doch kommen auch Elektrolyte vor, z. B. erhitztes Glas, in denen die negativen Ionen praktisch unbeweglich sind, und allein die positiven strömen. Elektrische Ströme in Gasen sind im allgemeinen aus Elektro nenströmen und Ionenströmen zusammengesetzt. Damit ein elektrischer Strom entstehen kann, müssen zweierlei Dinge vorhanden sein, nämlich bewegliche elektrische La- dungen und ein elektrisches Feld, das sie in Bewegung versetzt. Ist die Beweglichkeit der Ladungen begrenzt, etwa dadurch, daß sie elastisch an eine Ruhelage gebunden sind, so kann der Strom nur solange andauern, bis die dem herrschenden elektrischen Felde entsprechende elastische Verschiebung der Elektronen eingetreten ist. Man nennt derartige Ströme deshalb Verschiebungs- ströme. Sie sind besonders in denjenigen Körpern von Wichtigkeit, in denen fast ausschließlich solche elastisch gebundene Ladungen vorhanden sind, so daß ein merk- licher dauernder Strom überhaupt nicht zu- stande kommen kann. Derartige Körper heißen Dielektrika. Sind außer den elastisch gebundenen noch frei bewegliche Ladungen in vergleichbarer Menge enthalten, so werden die Verschiebungsströme von den Dauer- strömen der freien Ladungen überdeckt und entziehen sich der Beobachtung. Da der elektrische Strom die ihn ver- ursachende Spannung oder Verschiedenheit der Ladungskonzentration an verschiedenen Stellen auszugleichen sucht, so kann dauern- der Strom nur dann fließen, wenn eine Vor- richtung vorhanden ist, die die weggeführten Ladungen immer wieder ersetzt. Im anderen Falle entstellt nur ein kurzer, schnell auf Null abnehmender Stromstoß, ein „Entla- dungs- oder Ausgleichsstrom". Besteht zwischen zwei Punkten des Raumes eine Spannung, so verteilt sich der durch diese Spannung erzeugte Strom auf den gesamten, die beiden Punkte umgeben- den Raum derart, daß die relative Dichte des Stromes an den einzelnen Stellen des Raumes ausschließlich von der Leitfähigkeit des Raumes abhängt. Vollkommene Nichtleiter der Elektrizität gibt es nicht. Schon durch die Erschütterungen, die die Atome und Moleküle durch Wärme- und Lichtstrahlen erfahren, werden stets Elektronen auch aus dem festesten Verbände in Freiheit gesetzt, so daß sie der Wirkung eines elektrischen Feldes nachgeben und einen Strom bilden können. Doch sind im allgemeinen die Unter- schiede in den Leitfähigkeiten der besten und der schlechtesten Leiter so groß, daß man für den bequemen Sprachgebrauch zwischen Leitern und Nichtleitern (Isolatoren) unter- scheiden darf. Als das Wesen des elektrischen Stromes in Metallen noch ganz unbekannt war, suchte man es sich anschaulich zu machen, indem man den Strom mit einem Wasserstrome verglich, und es ist erstaunlich, wieviel Eigentümlichkeiten des elektrischen Stromes sich mit diesem Bilde anschaulich machen lassen. Noch weiter kommt man, wenn man alle drei Aggregatzustände des Wassers heranzieht. Als festes Eis gleicht das Wasser den Dielektriken, als flüssiges Wasser der Elektrizität in Metallen oder Elektrolyten, als Dampf den freien Elektronen im Vakuum, die dem Dampfstrahl gleich als Kathodenstrahl mit außerordentlicher Geschwindigkeit dahin- schieden. Durch Erhitzung; verwandelt man Dielektrika in Leiter, wie Eis in Wasser, durch weitere Erhitzung gewinnt man freie Elektronen aus den Leitern, wie Dampf aus Wasser. Neuerdings haben aber diese Bilder an Wert verloren, weil man in den Elektronen und Ionen ja ein unmittelbares Bild besitzt, das eine noch- malige Umdeutung zum mindesten überflüssig macht. Nur für einen Fall, über den viel Unklarheit herrscht, ist der Vergleich mit Wasser wertvoll. Das ist die Geschwindigkeit des elektrischen Stromes. Angenommen eine vollständig mit Wasser gefüllte Wasserleitung hätte 1400 m von ihrer Ausflußöffnung entfernt einen Hahn. Oeffnet man plötzlich den Hahn, so wird etwa nach einer Sekunde das Wasser aus der Ausfluß- öffnung herauszuströmen beginnen. Trotzdem wird niemand behaupten, die Geschwindigkeit 286 Elektrischer Strom Strömende Ladunsr des Wasserstromes sei 1400 m in der Sekunde. Vielmehr pflanzt sich mit dieser Geschwindigkeit lediglich der das Wasser in Bewegung setzende Druck durch die Leitung fort und die Geschwindig- keit des Wassers selbst hat nichts damit zu tun. Sie ist nur davon abhängig, wieweit der Hahn geöffnet wird, wie weit die Leitung und wie groß der Druck ist. Ganz dasselbe gilt nun für die Elektrizität. Schließt man mit einem Schalter einen sehr langen Stromkreis, so beginnt an einer 1000 m | vom Schalter entfernten Stelle der Strom schon J nach etwa V300000 Sekunde zu fließen. Aber . diese Zeit hat mit der Geschwindigkeit des j elektrischen Stromes gar nichts zu tun, sondern | ist ausschließlich durch die Geschwindigkeit von 300000 km/sec gegeben, mit der sich der ^elek- trische Druck" oder die Spannung fortpflanzt (streng genommen gilt diese Geschwindigkeit nur im Vakuum, in Leitern ist sie be- trächtlich geringer). Die Geschwindigkeit, mit der die Elektrizitätsteilchen fortschreiten, ist stets kleiner und zwar in den meisten Fällen ganz außerordentlich viel kleiner. Die folgende Tabelle I enthält die mittleren Geschwindigkeiten für einige charakteristische Fälle des elektrischen Stromes. Tabelle I. Mittlere Ge- schwindigkeit. Zentimeter in der Sekunde Essigsäureion in Wasser bei 18° C und einer treibenden Spannung von 1 Volt pro cm 0,00036 Wasserstoffion unter den gleichen Bedingungen 0,0032 Elektronen im Kupfer bei 1 Ampere pro qmm (nach der Drude sehen Theorie) etwa 2,5 Elektronen in einer Metallfaden- lampe etwa 2500 Positive Ionen in den Kanal- strahlen bis 1,8. 108 Langsame Kathodenstrahlen 1.108 Schnellste Kathodenstrahlen 1.1010 a-Strahlen radioaktiver Stoffe 2,0. 109 Schnellste /J-Strahlen radioaktiver Stoffe 2,9. 1010 Lichtgeschwindigkeit oder Fort- pflanzungsgeschwindigkeitelektri- scher Spannung im Vakuum 3,00. 1010 Eine zweite Unklarheit findet sich gelegentlich bezüglich der Bahn des elektrischen Stromes. Als Faraday und Maxwell die außerordentliche Wichtigkeit der Dielektrika und des leeren Raumes für alle elektrischen Erscheinungen bewiesen hatten, tauchte vielfach die Behauptung auf, die Elektrizität fließe eigentlich gar nicht ,,im Drahte", sondern im umgebenden Räume und der Draht sei nur eine Art Leitlinie für sie. Diese Meinung vermengtWahres mit Falschem. >ie Elektrizitätsteilchen, Elektronen oder Ionen, durchaus in dem Leiter. Aber jedes ist von einem Kraftfelde umgeben, in der Unendlichkeit verschwindet, und dieses Kraftfeld strömt mit ihnen mit eben die nur im Dielektrikum wahr- nehmbare Spannung vuid die elektromagnetischen Wirkungen. Aehnlich beschreibt ein Planet, wie Jupiter, seine bestimmte Bahn, aber sein Gravitationsfeld wandert mit und stört das ganze Planetensystem. Aber deshalb wird niemand sagen, der Jupiter wandere eigentlich in dem seine Bahn umgebenden leeren Räume. Also die Elektrizität fließt in den Leitern, die Spannung befindet sich im umgebenden Dielektrikum, aber sie fließt nicht, sondern ruht, so lange sie konstant ist. Andererseits ist es natürlich ebenso falsch zu sagen, die elektrische Energie ströme im Leiter, wie zu behaupten, sie ströme im Dielektrikum. Denn die Energie ist das Produkt aus dem Strome im Leiter und der Spannung im Dielek- trikum. Und man kann doch beim besten Willen dem Produkt aus einem an einer Stelle strömenden und dem an einer anderen Stelle ruhenden Agens nicht eine bestimmte Strömungsbahn zu- weisen. Ganz anders wird die Sachlage jedoch, sobald Strom und Spannung nicht mehr konstant sind, sondern schwingen. Dann breitet sich die elektrische Energie wirklich im Räume aus. 2. Einteilung der Ströme nach Inten- sität und Richtung. Bezüglich der Ein- teilung der elektrischen Ströme nach ihrer Intensität und Richtung in die drei Gruppen Gleichstrom, Wellenstrom und Wechselstrom sowie bezüglich der Bestimmungsstücke dieser Stromarten gilt ganz dasselbe wie bei der elektrischen Spannung, so daß der Kürze halber darauf verwiesen werden muß. Ehe jedoch auf die Messung dieser Größen ein- gegangen werden kann, ist ihre Grundlage, nämlich die Einheiten des elektrischen Stromes, kurz zu erörtern. 3. Die Einheiten des elektrischen Stromes. Bezüglich der Einheiten des elek- trischen Stromes liegen ganz dieselben Verhältnisse vor, wie bei der elektrischen Spannung. Es gibt eine elektrostatische, eine elektromagnetische, eine gesetzliche und eine praktische Einheit. Die elektrostatische oder mechanisch gemessene Einheit hat ein Strom, bei wel- chem in der Zeit eins die Elektrizitätsmenge eins durch den Querschnitt des Leiters fließt (3,33... 10-10 Ampere). Die Elektrizitäts- menge eins ist diejenige, die eine ihr gleiche im Abstände eins (cm) befindliche Elek- trizitätsmenge mit der Kraft eins (Dyne) abstößt. Die elektromagnetische Einheit hat der Strom, dessen Längeneinheit aus der Ent- fernung eins auf einen Magnetpol eins die transversale Kraft eins ausübt. Damit überall die Entfernung eins vorhanden ist, muß das wirkende Stromstück zu einem Kreisbogen vom Radius eins um den Magnet- pol gebogen sein (10 Ampere). Die Einheit des Magnetpoles ist ebenso wie die der elektrostatischen Elektrizitätsmenge aus der Abstoßung eines gleichen Poles definiert. Die gesetzliche Einheit der Stromstärke Elektrischer Strom 287 ist diejenige, welche bei gleichbleibender Stärke in der Sekunde unter den vom Bundes- rat festgesetzten Versuchsbedingungen 1,118 Milligramm Silber elektrolytisch nieder- schlägt (vgl. auch den Artikel „Elektrische Maßnormale"). Die gesetzliche Einheit der Stromstärke hat den Mangel, daß sie sich nicht auf- bewahren läßt und daß ihre Reproduktion große experimentelle Sorgfalt und Erfah- rung fordert. Deswegen wird sie nur selten und nur im Präzisionslaboratorium herge- stellt, um mit ihrer Hilfe Widerstandsnor- male und Normalelemente nach dem Ohm- schen Gesetze zu verknüpfen, die man dann umgekehrt zur praktischen Herstellung der Stromeinheit benutzt. Man kann also sagen: Die praktische Einheit des Stromes ist diejenige, die an einem Widerstände von 1,0183 Ohm die Spannung des Cadmiunmormalelementes er- zeugt. Die gesetzliche und die praktische Ein- Sie sind Teile der heit führen den Namen Ampere sehr nahezu gleich dem zehnten elektromagnetischen Einheit. Die Ein- führung einer besonderen gesetzlichen Ein- heit war ebenso wie bei der Spannung nötig, weil die Reproduktion der elektromagne- tischen Einheit zu schwierig und vor allem zu unsicher ist und weil es außerdem unzulässig ist, daß sich die Grundlage aller elektrischen Messungen mit jeder Neubestimmung ver- schiebt. Mindestens zwecklos war es jedoch, den zehnten Teil der elektromagnetischen Einheit statt der Einheit selbst als gesetz- liche Einheit festzulegen. Es rührt daher, daß größere Ströme erst wenig gebraucht wurden, als man das Ampere definierte. 4. Die Messung des elektrischen Stro- mes. Zur Messung des elektrischen Stromes lassen sich seine sämtlichen Wirkungen benutzen und die meisten von ihnen werden auch wirklich dazu benutzt. Man kann sie in drei Gruppen einteilen. Die der ersten Gruppe werden nur durch Gleichstrom, die der zweiten durch Gleich- und Wechsel- strom, die der dritten nur durch Wechsel- strom erzeugt. Ausschließlich Gleichstrom messen: 1. die elektrolytische Stromwirkung; 2. die Wirkung zwischen Strom und Magnet; 3. die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes durch den Strom. Gleichstrom und Wechselstrom messen: 1. die indirekte Methode der Messung der vom Strome an einem bekannten Widerstände erzeugten Spannung; 2. die Wirkung zwischen Strom und weichem Eisen ; 3. die Wirkung zwischen Strom und Strom (Dynamometer; Stromwagen); 4. die Wärmewirkung des Stromes, a) Drahtver- längerung, b) Thermoelektrische Wirkung, c) Widerstandserhöhung, d) Lichtstrahlung des erhitzten Stromleiters; 5. Striktions- wirkung des Stromes. Ausschließlich Wechselstrom messen: 1. das Induktionsprinzip; 2. das Prinzip der Resonanzschwingungen; 3. das Prinzip der erzwungenen Schwingungen (Telephon- prinzip). 4a) Das Meßprinzip der Verzwei- gung. Der Beschreibung der verschiedenen Strommeßverfahren ist ein allgemeines Meß- prinzip voranzustellen, das ähnlich dem für Spannungsmessungen wichtigen Kompensa- tionsprinzip mit den besonderen Eigen- schaften des Stromes nichts zu tun hat. Es ist das sog. Verzweigungsprinzip und be- steht darin, daß nicht der gesamte zu mes- sende Strom, sondern nur ein bekannter Teil von ihm durch das Meßinstrument geleitet wird. Stehen einem Strome mehrere Wege gleichzeitig zur Verfügung, so ver- teilt er sich im Verhältnis der Leitfähigkeiten, oder im u moekehrten Verhältnis der Wider- stände auf diese Wege. So verteilt sich der Strom J in Figur 1 auf den Weg AD den A i, D Fig. 1. Prinzip der Stromverzweigung. ,, Nebenschlußwiderstand" und den Weg i, R ABCD, den Meßkreis derart, daß ±= — wenn r der Widerstand des Nebenschlusses zwischen den Punkten A und D und R der gesamte Widerstand der Strecke ABCD ist. lEine Umformung der Gleichung ergibt ii -r-i2 _ J __ R+r ~i2~ r l* R + r Man wählt das Verhältnis von R_zu r 1 r R + r meistens so, dals — — einen dekadischen Wert (10, 100, 1000 usw.) erhält. Setzt man 1 T> l — z. B. r = 5- R, so wird '■ = 10. Setzt man r = -gg- K, so wird — ^T= 10° usw- Es darf jedoch nie vergessen werden, daß 288 Elektrischer Strom R der Widerstand des gesamten Kreises ABCD ist. Dieser Widerstand besteht aus: 1. dem Wider- stände der Zuleitungsschnüre AB und CD. Da er im allgemeinen gegen den Widerstand des Instrumentes nicht zu vernachlässigen ist, so zeigt das Instrument nur dann richtig, wenn es mit seinen zugehörigen Schnüren angeschlossen wird ; 2. dem Uebergangswiderstande an den Kontaktstellen B und C. Dieser muß durch sorgfältige Säuberung der Kontakte und festes Anziehen der Schrauben stets so gering wie möglich gemacht werden, so daß er zu vernach- lässigen ist; 3. dem Widerstände des Instrumentes selbst. Da die Strommessung nur solange richtig bleibt, als sich das Verhältnis R:r nicht ändert, so müssen sowohl R als auch r konstant, d. h. von der Temperatur unabhängig sein, da beide durch den Strom ganz verschieden stark erhitzt werden. Man erreicht das bei r, indem man den Neben- schlußwiderstand aus Manganin herstellt und bei R dadurch, daß man dem eigent- lichen messenden Systeme, dessen Wider- stand nicht konstant sein kann, weil es aus einem Materiale mit Temperaturkoeffizienten hergestellt werden muß (s. die verschiedenen Strommesser), einen hohen konstanten Vor- schaltwiderstand gibt, gegen den die Aende- rungen des niedrigen Widerstandes des Systems nicht in Frage kommen. Man kann dieses um so leichter erreichen, als ja R ein Vielfaches von r, also groß sein soll (vgl. auch Artikel „Elektrischer Widerstand"). Wenn nach dem Verzweigungsprinzip Wechsel- strom gemessen werden soll, müssen auch die Wechselstromwiderstände r' und R' in einem ge- gebenen Verhältnisse stehen. Am besten wird das dadurch erreicht, daß die den Widerstand erhöhende Selbstinduktion in beiden Kreisen so gering gemacht wird, daß ihr Einfluß vernach- lässigt werden kann, daß also die Wechselstrom- widerstände gleich den für Gleichstrom gültigen Widerständen bleiben. Das Instrument erhält durch seinen konstanten Gesamtwiderstand den Charakter eines Spannungsmessers, so daß man die beschriebene Strommessung vielfach als Zu- rückführung einer Strommessung auf eine Spannungsmessung bezeichnet. Mit Un- recht, denn wenn weiter nach dem Charakter der hier angewandten Spannungsmessung gefragt wird, so lautet die Antwort: Zurück- führung der Spannungsmessung auf eine Strommessung, eine Sachlage, die zu dem Satze geführt hat, (fast) jeder Strommesser ist ein Spannungsmesser (insofern er im Nebenschluß liegt) und jeder Spannungs- messer ist ein Strommesser (insofern der ihn durchfließende Strom den Ausschlag erzeugt). Eine indirekte Strommessung ist da- gegen die weiter unten beschriebene Kom- pensation der in einem Normalwiderstande erzeugten Spannung. Zur Messung starker Wechselströme wird statt der Stromver- zweigung die Stromtransformation benutzt. Ein sorgfältig konstruierter, von der Be- lastung möglichst unabhängiger „Meßtrans- formator" verwandelt den starken Strom in einen schwächeren, der dem Meßinstru- ment zugeführt wird. Aus dem von diesem angezeigten Werte und dem Uebersetzungs- verhältnis des Transformators ergibt sich die gesuchte Stromstärke. 4_b) Meßverfahren, mit denen nur Gleichstrom gemessen werden kann. a) Elektrolytische Wirkung des Stromes; Voltameter. Nach demFara- dayschen Gesetze ist die an den Elektroden eines Elektrolyten aufgelöste oder abge- schiedene Substanzmenge der durch den Elektrolyten gewanderten Elektrizitätsmenge proportional. Diejenige Gewichtsmenge eines Körpers, die durch die Einheit der Elektri- zität smenge abgeschieden wird, heißt das elektrochemische Aequivalent E des Körpers. Ermittelt man außer der abgeschiedenen Menge m eines Körpers von bekanntem elektrochemischen Aequivalente die Zeit t, in der die Abscheidung stattfand, so erhält man die mittlere oder bei konstanten Strom die Stromstärke i selbst aus der Gleichung: m t.E Darin, daß die Voltameter auch bei voll- ständig unregelmäßig schwankenden Gleich- strömen die mittlere Stromstärke richtig messen, liegt ihr großer Wert. In vielen Fällen ist eine einigermaßen genaue Messung derartiger Ströme nach anderen Meßme- thoden schlechterdings unmöglich. Doch haften dem Verfahren in den meisten Fällen so zahlreiche Fehlerquellen an, daß es trotz der ungeheueren Mannigfaltigkeit elektro- lytischer Kombinationen nur wenige gibt, die eine genaue Messung zulassen. Die hauptsächlichsten Fehlerquellen sind, daß sich rein chemische Vorgänge über die elektrolytischen lagern und daß die Ionen vieler Substanzen je nach unkontrollierbaren Umständen eine größere oder geringere An- '■ zahl von elektrischen Ladungseinheiten auf- nehmen, so daß der gleichen Substanzmenge bald eine größere, bald eine geringere Elek- trizitätsmenge entspricht. Silbervo Itamet er. Wohl das genaueste Verfahren ist die Erzeugung eines Silber- niederschlages aus einer Lösung von Silber- i nitrat im Silbervoltameter, weshalb dieses Verfahren ja auch zur Festlegung der ge- setzlichen Einheit des Stromes diente. Die Anode des Silbervoltameters ist reines Silber, der Elektrolyt eine Lösung neutralen Silber- nitrates, die Kathode ein Platintiegel, der i zugleich den Elektrolyten und die Anode Elektrischer Strom 289 aufnimmt. Unter der Anode hängt ein Glasschälchen, damit keine Teile von ihr in den Tiegel fallen können. Nachdem die Kathode durch sorgfältigstes längeres Waschen von den letzten Spuren des Elektrolyten befreit und im Trockenkasten bei 150° C ge- trocknet ist, wird sie mit ihrem Nieder- schlag gewogen und der Niederschlag aus der Differenz dieser Wägimg gegen die Wägung der reinen Kathode vor Beginn des Ver- suches bestimmt. Das elektrochemische Aequivalent des Silbers beträgt 1,118. Die Stromdichte soll an der Kathode unter 0,02 Amp/qcm, an der Anode unter 0,2 Amp/qcm bleiben. Die Temperatur hat keinen merk- baren Einfluß auf die abgeschiedene Menge. Dagegen kann in sauerstofffreier Umgebung (Vakuum), bei schwachem Ansäuern und bei wiederholtem Gebrauch derselben Lösung ein zu großer Niederschlag entstehen. Kupfervoltameter. Nicht ganz so genau wie das Silbervoltameter, aber wegen der billigeren Materialien besonders für größere Ströme geeignet ist das Kupfer- voltameter. Der Elektrolyt soll in bezug auf CuS04 und H2S04 normal sein, d. h. 250 g kristallisiertes Kupfersulfat und 100 g konzentrierte Schwefelsäure sollen mit so viel Wasser (Vorsicht!) versetzt werden, daß ein Liter Flüssigkeit entsteht. Ein Zusatz von 5% Alkohol wird empfohlen. Die Anoden, der Kathode die am besten zu beiden Seiten und in gleichem Abstände von ihr angebracht werden, bestehen aus reinem Kupfer. Die Kathode kann aus Kupfer oder auch aus Platin hergestellt sein. Sie soll vollständig in den Elektrolyten ein- tauchen. Gemessen wird die Gewichtszu- nahme der Kathode, die unmittelbar nach dem Ende des Versuches abgespült und dann rasch zwischen Fließpapier und unter der Luftpumpe im Exsikkator getrocknet wird. Das Kupfer wird zweiwertig niedergeschlagen. Sein elektrochemisches Aequivalent beträgt 0,3294. Die Stromdichte an der Kathode soll nicht größer als 0,04 Amp./qcm sein. Die Genauigkeit des Kupfervoltameters ist ein bis zwei Promille. Quecksilbervoltameter(Stiazähler). wird noch das Quecksilbervolta- meter unter dem Namen Stiazähler zur Messung von Elektrizitätsmengen und von Strömen verwandt Neuerdings Der Elektrolyt bestellt aus einer Lösung des komplexen Salzes K2HgJ4. Die Anode ist Quecksilber, die Kathode ein Platiniridiumblech. Elektroden und Elektrolyt sind in ein festzugeschmol- zenes Glasgefäß eingeschlossen, wie es die Figur 2 erkennen läßt, Das Quecksilber wird zweiwertig (elektrochemisches Aequi- valent 1,036) auf der Kathode niederge- schlagen und rinnt von ihr in eine Kapillare Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III Infolgedess Messung hinab, in der sein Stand abgelesen wird. hängt die Genauigkeit der von der Sorgfalt ab, mit der die Kapillare hergestellt und geeicht ist, Der elektrolytische Vorgang als solcher ist keinen merklichen Fehlern unterworfen. Bei den Schema eines Stiazählers. empfindlichsten Apparaten, den Laborato- riumstiazählern, durchfließt der gesamte zu messende Strom den Elektrolyten, bei den weniger empfindlichen liegt die elektroly- tische Zelle an einem Abzweigwiderstande, durch den der größte Teil des Stromes fließt. In diesem Falle wird der Temperaturkoeffi- zient der Zelle durch einen Vorschaltwider- stand mit entgegengesetztem Temperatur- koeffizienten kompensiert. Wasser- oder Knallgasvoltameter. Endlich ist noch das Wasser- oder Knall- gasvoltameter zu erwähnen. Reine 10- bis 20 prozentige Schwefelsäure wird zwischen blanken Platinelektroden zersetzt, wozu fast drei Volt nötig sind. Bei schwachen Strömen wird nur der entwickelte Wasserstoff, bei starken das Knallgas als Ganzes aufgefangen. Mit dicht aneinander stehenden Elektroden 19 290 Elektrischer Strom von etwa je 15 qcm wirksamer Oberfläche können Ströme bis 40 Ampere gemessen werden. Als Elektrolyt wird auch Phosphor- säure von 40% sowie der Billigkeit halber Aetznatronlösung zwischen Nickelelektroden empfohlen. In letzterem Falle ist jedoch Kohlensäure sorgfältig fernzuhalten. Die Genauigkeit soll bei sorgfältiger Behandlung einige Promille betragen. Der Vorzug des Wasservoltameters ist, daß das entwickelte Gasvolumen in einem geeichten Rohre abgelesen werden kann und keine Wägung nötig ist. Ein Nachteil liegt darin, daß das abgelesene Volumen auf die Temperatur 0° C, den Atmosphären druck 760 mm und auf trockenes Gas umgerechnet werden muß. Da das Quecksilbervoltameter von diesem Nachteil frei ist, während es den erwähnten Vorzug teilt, so dürfte es das Wasservolta- meter verdrängen. ß) Gleichstrommessung durch Wir- kung zwischen Strom und Magneten. Die Richtung, in der ein beweglicher Magnet durch einen Strom, oder ein stromdurch- flossener beweglicher Leiter von einem Magneten abgelenkt wird, ist nach der Ampere sehen Regel von der Richtung des Stromes abhängig. Ist der Strom ein Wech- selstrom, so suchen seine entgegengesetzten Stromstöße Ablenkungen nach entgegen- gesetzten Richtungen zu bewirken. Nur in dem Falle, daß die Trägheit des beweglichen Systems so gering ist, daß es den schnellen Schwankungen des Stromes zu folgen ver- mag, kann das System durch den Wechsel- strom in beträchtliche Bewegung und zwar in Schwingungen versetzt werden, in allen anderen Fällen bleibt es in Ruhe. Von dieser einen Ausnahme abgesehen, kann man also mit den Apparaten, die auf der Wechsel- wirkung zwischen Strom und Magneten beruhen, nur Gleichstrom (oder nur die Gleichstromkomponente eines nicht reinen Wechselstromes) messen. Auf der Ablenkung eines stromführenden Leiters durch manenten Magneten beruhen die Drehspul apparate und das Saitengalvanometer, auf der Ablenkung eines beweglichen Magneten durch den Strom die Nadelgalvanometer und die Tangentenbussole. 1. Stromleiter beweglich; Dreh- spulgalvanometer. Die empfindlichsten Drehspulapparate sind die Drehspulgalvano- meter. Die nebenstehende Figur 3 zeigt ein solches Galvanometer der Firma Siemens und Halske. Die einander nahe gegenüber- stehenden Pole eines starken permanenten Magneten enthalten eine zylindrische Bohrung, in der sich ein axialer Eisenzylinder von solchem Durchmesser befindet, daß nur ein beweglichen einen per- schmaler ringförmiger Spalt zwischen ihm und den Magnetpolen frei bleibt. In diesem von den magnetischen Kraftlinien sehr gleichmäßig durchströmten Spalte dreht sich um die Achse des Eisenzylinders die vom Meßstrom durchflossene, auf einen zierlichen Rahmen gewickelte Spule. Ihrer Ablenkung wirkt die Torsion des Fadens entgegen, an dem der Rahmen ist. Um die Torsionskraft des Fadens aufgehängt mog- Fig. 3. Drehspulgalvaiiometer von Siemens und Halske. liehst gering und damit die Empfindlichkeit des Instrumentes möglichst groß zu machen, wählt man den Faden so dünn wie irgend möglich. Die Grenze ist bei den Drehspul- galvanometern nicht durch die Tragfälligkeit des Fadens, sondern durch die Bedingung- gegeben, daß er noch genügend leiten muß, um dem Rahmen den Meßstrom zuführen zu können. Belastet man die Spule plötzlich mit einer bestimmten Stromstärke, so hat sie das Bestreben, über die der Strom- stärke entsprechende Einstellung zunächst hinauszuschwingen und sich erst nach vielen allmählich abnehmenden Schwingungen auf sie einzustellen. Die Schwingungen werden jedoch dadurch „gedämpft", daß durch die Bewegung der Spule und des Metallrahmens in dem starken Magnetfelde in ihnen Ströme induziert werden, die der Bewegung entgegen- wirken. Die Wirkung der in der Spule in- duzierten Ströme und damit die Dämpfung ist um so stärker, je geringer der gesamte Widerstand des Stromkreises ist, in dem das Galvanometer liegt. Schließt man das Elektrischer Strom 291 Galvanometer kurz, nachdem es ausge- schlagen ist, so wird die Dämpfung so stark, daß es ganz langsam in seine Ruhelage hinein „kriecht". Die günstigste Dämpfung ist diejenige, bei der die Einstellung gerade Fig. 4. Julius'sche Aufhängung, ohne Schwingungen und ohne Kriechen apeno- erreicht wird. Man nennt sie die dische Dämpfung. Die Folge der Aufhängung an einem dünnen Faden ist, daß die Instrumente in gebrauchs- fertigem Zustande nicht mehr transportierbar sind. Damit der Aufhängefaden nicht reißt, muß das bewegliche System vor dem Trans- port durch eine besondere Vorrichtung, die „Arretierung" angehoben und festgeklemmt werden. Ferner sind die Instrumente sehr empfindlich gegen Erschütterungen, so daß sie an einem erschütterungsfreien Platze auf- gestellt werden müssen. Ist dieser nicht zu beschaffen, so greift man zu der soge- nannten „Juliussehen Aufhängung" (Fig. 4), die Erschütterungen vom Galvanometer fernhält. Die an sich schon große Empfindlichkeit der Drehspulgalvanometer wird durch das Ableseverfahren noch beträchtlich erhöht, Zur Messung der Ausschläge wird nicht ein körperlicher, sondern gewissermaßen ein Licht- zeiger von 3 bis 4 m Länge benutzt, Der Aufhängefaden trägt oberhalb des beweg- lichen Syst eines einen kleinen Hohlspiegel. Ihm gegenüber in einem Abstände von 1,5 bis 2 m wird eine beleuchtete Skale aufge- stellt. Das Bild dieser Skale wird im Spiegel mit Hilfe eines unter der Skale aufgestellten Fernrohres beobachtet, Dreht "sich der Spiegel, so scheint die Skale vor dem Faden- kreuze des Fernrohres vorbeizuwandern und sehr geringe Drehungen des Spiegels be- wirken bei dem großen Abstände schon große Verschiebungen des Skalenbildes. Da langdauernde Fernrohrablesungen das Auge angreifen, benutzt man vielfach die etwas weniger genaue aber becpiemere ob- jektive Ablesung. Das Licht einer linien- förmigen Lichtquelle strahlt durch eine Linse auf den Galvanonieterspiegel, der es auf eine transparente Skale zurückwirft, so daß ein scharfes Bild der Lichtquelle auf ihr entsteht, Gröbere Galvanometer erhalten einen Zeiger, der über einer Skale spielt, Meistens weiden die Galvanometer zu Nullmethoden benutzt, d. h. sie zeigen an, wann in dem Stromkreise, in dem sie liegen, kein Strom mehr fließt, Will man sie zur direkten Messung von Strömen mit Hilfe des von diesen erzeugten Ausschlages benutzen, so muß man ihre u. a. von der Entfernung zwischen Spiegel und Skale ab- hängige Empfindlichkeit zuvor durch einen besonderen Versuch bestimmen. Ballistische Galvanometer. Eine be- sondere Art der Drehspulgalvanometer sind die ballistischen. Sie messen eigentlich nicht Ströme, sondern Elektrizitätsmengen, wie sie durch kurze Stromstöße transportiert werden. Der Stromstoß, der zu Ende sein muß, ehe sich die Spule merklich aus ihrer Ruhelage entfernt hat, erteilt ihr einen Ausschlag, der der Elektrizitätsmenge des Stromstoßes nahezu proportional ist. Da die Dämpfung des ballistischen Galvano- meters sehr gering ist, schwingt es nach dem ersten größten Ausschlage mit langsam klei- ner werdenden Schwingungen lange Zeit um seine Ruhelage. Aus der Abnahme der Ausschläge läßt sich die Dämpfung und mit ihrer Hilfe, sowie aus der Empfindlichkeit des Galvanometers die den Ausschlag ver- ursachende Elektrizitätsmenge berechnen. Saitengalvanometer. Ein anderes, auf der Ablenkung eines beweglichen Strom- leiters durch einen festen Magneten be- ruhendes Meßinstrument ist das Saiten- 19* 292 Elektrischer Strom galvanometer. An die Stelle der Spule ist bei ihm ein dünner leitender Faden quer durch ein starkes Magnetfeld gespannt. Die dem Strom proportionale Ausbiegung des Fadens wird mit einem Mikroskope abgelesen oder stark vergrößert auf einen Schirm proji- ziert. Bei schwacher Spannung eines Fadens von 10000 Ohm Widerstand sollen noch 10 -12 Ampere wahrnehmbar sein. Drehspulzeigerinstrumente. Die Verwendung der Galvanometer beschränkt sich fast ganz auf wissenschaftliche Unter- suchungen im Laboratorium. Für tech- nische Messungen benutzt man die Dreh- spulzeigerinstrumente, bei denen zugunsten einer robusteren Konstruktion und guter vallen spielt. Vor der Skale befindet sich zur Vermeidung des Fehlers schiefer Ab- lesung ein Spiegelstreifen. Man soll so ab- lesen, daß der Zeiger und sein Spiegelbild sich decken. Die nebenstehende Figur 5 läßt die einzelnen Teile eines Drehspulampere- meters der Firma Weston erkennen. Bei den Messungen müssen die Apparate vor der Einwirkung stärkerer äußerer Ma- gnetfelder geschützt werden. Insbesondere dürfen nie zwei Apparate unmittelbar neben- einandergesetzt werden, da sich dann ihre starken Magnete gegenseitig beträchtlich be- einflussen. Der Strom, der durch die bewegliche Spule fließt, ist stets sehr gering. Beispiels- Fig. 5. Drehspulamperemeter der Firma Weston. Transportfähigkeit auf höchste Empfind- lichkeit verzichtet ist. Immerhin sind die Drehspulzeigerapparate die empfindlichsten und genauesten aller Zeigerinstrumente. Die stromdurchflossene Spule ist bei ihnen unten auf einer Stahlspitze in einem Achatlager gelagert. Der Ablenkung der Spule durch den Strom wirken Federn entgegen und führen zu einer dem Strome proportionalen Einstellung, die schnell und aperiodisch er- reicht wird. Der Spulenrahmen trägt einen sehr leichten Zeiger aus Aluminiumrohr, der mit messerscharfer Schneide über einer sorg- fältig gezeichneten Skale mit gleichen Inter- weise bei Instrumenten der Firma Siemen. & Halske im Maximum 0,05 Amperes Zur Messung größerer Ströme benutzt man das auf S. 287 angegebene Verzweigungs- prinzip. Damit jeder Nebenschluß wider- stand mit jedem Strommesser benutzt werden kann, muß der Widerstand des Ampere- meterkreises aller Instrumente denselben Wert haben. Meistens wählt man den Wert 1,000 Ohm. 2. Magnet beweglich; Nadelgal- vanometer. Die Nadelgalvanometer, die auf der Ablenkung eines beweglichen Ma- gneten durch eine feste stromdurchflossene Elektrischer Strom 293 Spule beruhen, sind die empfindlichsten In- strumente, die es gibt. Die Empfindlichkeit läßt sich hier viel weiter treiben als bei den Drehspulgalvanometern, weil der Faden, der die äußerst winzigen Magnetnadeln und den Ablesespiegel trägt, keinen Strom zu leiten braucht und deshalb so dünn gemacht werden kann, als es die Tragfähigkeit er- laubt. Meistens ist es ein Kokon- oder ein Quarzfaden. Würde man nur eine Magnetnadel ver- wenden, so würde als Richtkraft außer der Torsion des Fadens der Erdmagnetismus wirken, dessen richtende Kraft viel größer ist als die des Fadens, so daß sich keine hohe Empfindlichkeit würde erreichen lassen. Man kombiniert deshalb entweder mehrere Nadeln von gleicher Stärke, aber entgegen- gesetzt gerichtetem Magnetismus, die auf verschiedenen Seiten der festen Spulen so angeordnet sind, daß der die Spulen durch- fließende Strom sie in gleichem Drehsinne, der Erdmagnetismus dagegen in entgegen- gesetztem Sinne abzulenken sucht. Damit verschwindet die Wirkung des letzteren. Man nennt das Verfahren Astasierung. Oder man schließt die Nadeln voll- kommen in ein mehrfaches Gehäuse weichen Eisens ein, das den Erdmagnetismus ab- schirmt, und erreicht dadurch noch den weiteren Vorteil, daß das Galvanometer von Störungen durch fremde Ströme und Ma- gnetfelder frei wird. Eine bekannte und gleichzeitig außerordentlich empfindliche Aus- führung dieser Art ist das Kugelpanzer- galvanometer von Dubois-Rubens (Fig. 6). Das Ableseverfahren ist bei den Nadel- galvanometern dasselbe wie bei den Gal- vanometern nach dem Drehspulprinzip. Um verschiedene Konstruktionen von Nadel- galvanometern miteinander vergleichen zu können, hat man eine ,, Normalempfindlichkeit" fest- gesetzt. Man nimmt als Norm an: Einen Draht- querschnitt, der einen Spulenwiderstand von einem Ohm ergibt, ein richtendes Magnetfeld, das der gegebenen Nadel eine einfache Schwingungsdauer von 5 Sekunden erteilt und einen Skalenabstand von 1000 mm. Der Ausschlag e0 mm, den der Strom 10-6 Ampere unter diesen Umständen geben würde, wenn der Ausschlag als der Strom- stärke proportional angenommen wird, heißt Normalempfindlichkeit des Instrumentes. Besitzt nun ein Instrument bei dem Wider- stände r Ohm, der Schwingungsdauer t Sekunden und dem Skalenabstande A die Empfindlichkeit e ^ „ . — , so ist seine Normalempfindlich- weiter, je kürzer die Nadel und je weiter die Spule ist. Tangentenbussole. Die Tangenten- bussole, die auf demselben Prinzipe beruht, wie die Nadelgalvanometer, ist durch diese längst überholt und fristet hauptsächlich in Sammlungen und konservativen Lehr- büchern ein stilles Dasein. Sie besteht aus einem frei drehbaren Magneten und einer oder •&© Fig. 6. Kugelpanzergalvanometer nach Dubois- Rubens. einigen 10—6 Ampere ' keit e0 = e. ö2 't2 1000 Proportionalität Die Grenze reicht A zwischen Ausschlag besteht nur für kleine Ausschläge allgemeinen ihn in weiterem Abstände umgeben- den Drahtwindungen. Die Windungsebene soll im magnetischen Meridiane stehen. Die ablenkende Kraft des Stromes und die richtende Kraft des Erdmagnetismus führen die Nadel zu einem Einstellungswinkel, dessen Tangens der Stromstärke proportional ist. y) Gleichstrommessung durch Dre- hung der Polarisationsebene des Lichtes. Als letzte Methode, nach der nur Gleichstrom gemessen werden kann, möge die Drehung der Polarisationsebene des Lichtes beim Durchgang durch eine im Magnetfelde des Stromes befindliche Flüssig- keit erwähnt werden. Am besten eignet sich Schwefelkohlenstoff. Die Methode ist nur für starke Ströme anwendbar, aber wegen ihrer Einfachheit zu empfehlen. 4c) Meßverfahren, mit denen sowohl Gleichströme als auch der Effektiv- wert von Wechselströmen gemessen werden kann. Sämtliche Apparate, die um so Effektivwerte (vgl. den Artikel „Elek- Strom und 294 Elektrischer Strom trische Spannung") von Wechselströmen messen, besitzen einen gemeinsamen Nach- teil, der in der Natur des Effektivwertes begründet liegt. Bei allen ist nämlich die Wirkung des Stromes oder der Ausschlag dem Quadrate des Stromes proportional. Sie erhalten also alle eine quadratisch geteilte Skale und sind in der Nähe des Nullpunktes ganz unempfindlich. a) Indirekte Methode. Messung von Spannung und Widerstand. Unter den zahlreichen Methoden, nach denen sich sowohl Gleich- als auch Wechselstrom und zwar dessen Effektivwert messen läßt, ist die indirekte Methode, den Strom durch die Spannung zu messen, die er in einein be- kannten Widerstände erzeugt, bei weitem die genaueste, wenn die Spannung durch Kompensation oder bei Wechselstrom elektro- metrisch gemessen wird. Der Grund liegt darin, daß die zu den Messungen benutzten Normal- widerstände (vgl. die Artikel „Elektrische Maßnormale" und „Elektrischer Wider- stand") außerordentlich konstant und genau bekannt sind und andererseits die erwähnten Spannungsmeßmethoden zu den besten Meß- methoden überhaupt zählen. Die Normal- widerstände gleicht man so genau wie mög- lich auf Zehnerpotenzen ab, so daß sich die Ströme aus den kompensierten Spannungen ohne Umrechnungsfaktoren ergeben. Bei Wechselstrom müssen die Normal- widerstände selbstinduktions- und kapazi- tätsfrei sein, wenn der mit Hilfe von Gleich- strom ermittelte Widerstandswert auch für den Wechselstrom gültig sein soll. Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, daß bei Wechselstrom die Spannung zwischen zwei Punkten nicht mehr unabhängig von dem Wege ist, auf dem sie dem Meßinstru- mente zugeführt wird. Deshalb ist die Abzweigung der Spannung vom Normal- widerstande zum Elektrometer so zu führen, daß in ihr keine zusätzlichen elektromo- torischen Kräfte erzeugt werden. Das heißt, der gesamte Stromkreis, in dem sich das Elektrometer befindet, muß selbstin- duktionsfrei sein. Die nebenstehende Figur 7 gibt an, wie das neuerdings erreicht wird. Der Normalwiderstand besteht aus einem geraden, vom Kühlwasser durchflossenen Manganinrohre. Au den Punkten A und B wird die Spannung abgenommen. Das in A abgenommene Potential wird durch das konzentrische Rohr bis nach C unmittelbar neben B zurückgeführt. Von C und B aus gehen die unmittelbar nebeneinanderliegen- den Leitungen zum Elektrometer. > Auf diese Weise ist der Elektrometerkreis fast vollkommen bifilar, also selbstinduktionsfrei gemacht. Bezüglich der Ausführung der Spannungs- messungen muß auf den Artikel „Elek- trische Spannung" verwiesen werden. ß) Wirkung zwischen Strom und weichem Eisen. Während sich die Wir- kung zwischen dem Strom und einem per- manenten Magneten nicht zur Messung von Wechselströmen verwenden läßt, kann die Wirkung zwischen Strom und weichem Jsolierter Ring — n'i A Manganinrohr Potential-^ klemmen"'"0. hl ^ mi Fig. 7. Selbstinduktions- und kapazitätsfreier Normalwid erstand . Eisen, da sie lediglich in einer Anziehung des Eisens durch das Magnetfeld des Stromes unabhängig von dessen Richtung besteht, zur Messung von Gleichstrom und von Wechselstrom benutzt werden. Die anziehende Kraft zwischen dem Eisen und einer vom Meßstrom durchflossenen Spule ist dem Produkt aus dem magnetischen Momente der Spule und dem des Weich- eisenstückchens proportional. Das magne- tische Moment der Spule ist der Stromstärke proportional, das des Weicheisenstückchens dagegen nicht, sondern nach einem kompli- zierten Gesetze von ihr abhängig. Die Folge ist, daß die Skale der auf diesem Prinzip beruhenden Apparate, der „Weicheisen"- oder auch „elektromagnetischen Apparate", durch eine empirische Eichung gewonnen werden muß. Ferner wirkt Wechselstrom wegen der Verluste durch Hysterese und Wirbelströme im Eisen anders als Gleich- strom und auch bei verschiedenen Perioden- zahlen verschieden. Die Instrumente müssen also für Wechselstrom eine besondere, nur für eine bestimmte Periodenzahl gültige Skale erhalten. Endlich geben sie für Gleich- strom überhaupt keine scharf definierten Werte, denn der Magnetismus des Eisen- stückchens ist infolge der Hystere größer, wenn ein bestimmter Strom durch Ver- ringern eines stärkeren, als wenn er durch Verstärken eines schwächeren eingestellt wird. Der einzige Vorzug dieser Apparate ist ihre Billigkeit. Sie werden deshalb nur an- gewandt, wo eine rohe Kenntnis des zu messenden Stromes genügt. y) Wirkung zwischen Strom und Strom. Viel wichtiger ist die Strommessung aus der Wirkung zwischen Strom und Strom oder die Wirkung des erst einen festen, dann einen beweglichen Leiter durchfließenden Elektrischer Strom 29r» Stromes auf sich selbst. Es leuchtet ein, daß diese Wirkung, solange magnetische Materialien ferngehalten werden, nur von der räumlichen Lage der Ströme zueinander abhängig ist und infolgedessen sehr konstant gemacht werden kann. In der Tat beruhen die besten der gleichzeitig Gleich- und Wech- selstrom messenden Apparate auf diesem Prinzipe. Man kann mit ihnen auch Wechsel- strom messen, weil die dem Produkte der beiden Ströme ix und i2 proportionale Wir- kung ihre Richtung ändert, wenn ix oder i2 sein" Vorzeichen ändert. Aendern also beide zugleich ihr Vorzeichen, wie es bei Wechsel- strom (ij und i3 zwei Stücke desselben Stromes) der Fall Ist, so ändert die Wirkung ihre Richtung nicht. Dynamometrische T Strommesser. Auf diesem Prinzip beruhen zwei Gruppen von Apparaten. Bei denen der ersten Gruppe wird die ablenkende Kraft der Ströme durch eine Feder aufgewogen und der Ausschlag durch einen Zeiger angegeben. Man nennt diese Appa- rate dynamometrische Strommesser. Das be- wegliche System ruht bei ihnen ebenso wie bei den Drehspulapparaten unten mit Stahlspitze auf einem Achatlager. Die Wirkung der Spulen aufeinander durch Eisen zu verstärken, ist aus den bei den Weich- eisenapparaten ausein- andergesetzten Gründen zu widerraten. Wenn die dynamome- trischen Strommesser zur Messung von Gleichstrom benutzt werden sollen, so ist zu berücksichtigen, daß sie vom magnetischen Erdfelde merklich beeinflußt werden, weil ihr eigenes, von der festen eisenlosen Spule erzeugtes Magnetfeld ver- hältnismäßig schwach ist. Sie zeigen deshalb für verschiedene Stromrichtungen im all- gemeinen verschieden. Man erhält die rich- tigen Werte, wenn man zwei Ablesungen mit entgegengesetzten Stromrichtungen macht und aus beiden das Mittel nimmt. In dieser Weise findet auch die Eichung der Dynamo- meter mit Gleichstrom statt, weil sie genauer und bequemer ist als eine Eichung mit Wechselstrom, und die mit Gleichstrom er- haltenen Werte auch für Wechselstrom nie- derer Frequenz richtig sind. Bei höheren Frequenzen sind besonders dann Abwei- chungen zu befürchten, wenn das Verzwei- gungsprinzip angewandt ist, weil der Neben- schlußwiderstand einen anderen Selbstin- duktionskoeffizienten besitzt als das In- strument und infolgedessen die Stromver- teilung zwischen beiden bei Wechselstrom anders wird als bei Gleichstrom. Die nebenstehende Figur 8 zeigt einen dynamometrischen Strommesser der Firma Siemens und Halske. Stromwagen. Die zweite Gruppe der auf der Wirkung zwischen Strom und Strom beruhenden Apparate sind die Stromwagen. Bei ihnen wird die Kraft zwischen den Strö- men nicht zur Erzeugung eines Ausschlages verwandt, sondern wie bei einer Wage durch Gewichte ausgeglichen, indem man die eine Spule an dem einen Arm eines Wagebalkens anbringt und den anderen Arm mit Ge- wichten belastet. Rayleigh, Helmholtz, Lord Kelvin haben derartige Stromwagen konstruiert. Bei der Stromwage nach Lord Kelvin Fig. 8. Dynamometrischer Strommesser. tragen beide Arme der Wage Spulen, die vom Strome in entgegengesetzten Rich- tungen durchflössen werden, um die Ein- wirkung des Erdmagnetismus zu beseitigen. Die Stromrichtung in den vier festen Spulen ist derart, daß diebeiden beweglichen Spulen im gleichen Drehsinne angezogen werden. Das entstehende, dem Quadrat des Stromes proportionale Drehmoment wird durch Ver- schiebung eines Laufgewichtes auf einer Skale balanziert und gemessen. Die Teilung ist direkt in Werten der Stromstärke aus- geführt. Die Stromwagen eignen sich be- sonders zur Messung großer Ströme und sind hauptsächlich in England beliebt. ö) Wärmewirkungen des Stromes im durchströmten Leiter. Die Wärnie- wirkung des Stromes wird in mannigfacher Weise zur Messung ausgenutzt. Da die Wärmewirkung des Stromes seinem Qua- drate proportional ist, so mißt man auch nach diesem Prinzip bei Wechselstrom Ef- 296 Elektrischer Strom fektivwerte. Der große Vorzug dieser Ver- fahren liegt darin, daß sie von fremden Strömen und Magnetfeldern nicht beein- flußt werden und daß sie fast ganz induk- tions- und kapazitätsfreie Konstruktionen zulassen, weil Spulen nicht vorkommen. 1. Verlängerung des erwärmten Leiters. Hitzdrahtstrommesser. Das technisch wichtigste Verfahren ist die Mes- sung der durch die Stromwärme bewirkten Verlängerung eines Drahtes, des sogenannten Hitzdrahtes. Bei den neuen von der Firma Hartmann & Braun hergestellten Hitzdrahtinstru- menten durchfließt und erhitzt der Strom einen dünnen, aus Platiniridium hergestellten Draht. Die durch die Erhitzung bewirkte Verlängerung des Drahtes wird in vergrö- ßertem Maße auf einen Zeiger übertragen. Der Uebelstand aller Effektivwerte messen- den Strommesser, die Unempfindlichkeit in der Nähe des Nullpunktes ist bei den Hitz- drahtinstrumenten durch einen geschickten Kunstgriff stark verringert. In die Ueber- tragung der Hitzdrahtverlängerung auf die Zeigerbewegung ist nämlich ein Exzenter ein- geschaltet, das bewirkt, daß die Hitzdraht- verlängerung bei kleinem Ausschlag stark, bei großem Ausschlag dagegen nur schwach vergrößert wird. Solange der Strom die Hitzdrahtapparate unverzweigt durchfließt, bleiben ihre Angaben auch für ziemlich hohe Frequenzen richtig. Ja sie lassen sich sogar zur Messung von Strömen der höchsten Frequenzen einrichten, wenn statt eines dickeren Hitzdrahtes zahlreiche sehr dünne einander parallel geschaltet werden. Die Empfindlichkeit der Hitzdraht- apparate würde sich durch den Einschluß des Hitzdrahtes in ein hohes Vakuum be- deutend steigern lassen. Die Schwierigkeit liegt in der Erhaltung des Vakuums. 2. Temperaturerhöhung des er- wärmten Leiters. Statt der Verlängerung eines Hitzdrahtes kann man auch seine dem Quadrate der Stromstärke annähernd proportionale Temperaturerhöhung mit Hilfe eines auf den Draht gelöteten Thermoele- mentes messen, das an ein Galvanometer angeschlossen wird und in diesem einen der Thermokraft proportionalen Ausschlag erzeugt. Die Lötstelle muß möglichst punkt- förmig sein, damit der zu messende Strom nicht in den Thermomeßkreis übergeht. Auch hier wird die Empfindlichkeit wesent- lich erhöht, wenn man den Hitzdraht mit dem Thermoelemente, das „Thermokreuz", in ein hochevakuiertes Gefäß einschließt. Eine weitere Erhöhung der Empfindlich- keit ergibt sich durch Reihenschaltung meh- rerer solcher Thermokreuze, wobei durch eine von Salomonson angegebene Brücken- schaltung nach Figur 9 wiederum dafür gesorgt wird, daß kein Strom in den Thermo- meßkreis gelangt. Mit drei Thermokreuzen in jedem Brückenzweige, die aus 15 // dicken und 12 mm langen Drähten im Vakuum be- stehen, erhält man nach Schering bei einem Meßstrome von 5 Milliampere eine Thermo- im w^. 1EEH 5ES 5=5 &* <& Fig. 9. Salomorison'sche Schaltung. kraft von 16 Millivolt, die in einem geeig- neten Zeigergalvanometer einen Ausschlag über die ganze Skale erzeugt. Der Wider- stand der Anordnung beträgt 100 Ohm. Die Schaltung ist nur brauchbar, wenn Materialien ohne Temperaturkoeffizienten wie Konstanten oder Manganin verwendet werden. Bei anderen Metallen ergeben sich infolge des Peltiereffektes beträchtliche Unter- schiede in den Angaben für Gleich- und Wechselstrom. Die Firma Guggenheimer stellt nach diesem Verfahren, doch ohne die Thermo- kreuze in ein Vakuum einzuschließen, tech- nische Strommesser her, die direkt Strom- stärken bis 1 Ampere bei einem maximalen Spannungsabfall von 0,225 Volt messen. Bei dem Thermogalvanometer von Duddell sind der vom Meßstrom durch- flossene Kreis und der Thermokreis vollständig voneinander getrennt. Der vom Meßstrom durchflossene Hitzdraht besteht aus einem 3 bis 4mm langen platzierten Quarzfaden, der seine Wärme auf ein Thermoelement aus Antimon -Wismut strahlen läßt. Das Thermo- element ist mit Silberdraht zu einer kleinen Schleife geschlossen, die zwischen starken Magnetpolen an einem Quarzfaden aufgehängt ist und einen Ablesespiegel über sich trägt. Widerstand und Empfindlichkeit betragen 4 Ohm und 10-* Volt oder 1000 Ohm und 10-e Ampere für einen Skalenteil Ausschlag bei normalem Spiegelablese verfahren. 3. Widerstandserhöhung des er- Elektrischer Strom 2« IT wärmten Leiters. Ferner dient die durch die Erwärmung des Hitzdrahtes bewirkte Widerstandserhöhung besonders zur Mes- sungschwacher Hochfrequenzströme. Figur 10 Fig. 10. Bolometerbrücke. zeigt die Anordnung, die aus einer doppelten Verzweigung, einer sogenannten Bolometer- brücke, besteht. Die Widerstände der durch einen konstanten Akkumulator gespeisten großen Wheatstoneschen Brücke sind so ab- geglichen, daß das Galvanometer stromlos ist. Der Meßstrom wird durch die kleine Verzweigung a, b, c, d geleitet, die so ab- geglichen ist, daß kein Strom in die große Brücke übergeht (am einfachsten durch a = b = c = d). Die Stromwärme erhöht den Widerstand der kleinen Verzweigung und das Galvanometer zeigt einen der Lei- stung des zu messenden Stromes propor- tionalen Ausschlag. Damit äußere Tem- peraturänderungen nicht stören, wird der rechte Zweig der großen Brücke dem linken vollständig gleich gemacht und beide in derselben wärmeisolierten Kasten einge- schlössen. Nimmt man als Widerstände a b c d Wollastondrähte im hohen Vakuum, so erreicht man sehr große Empfindlichkeiten. 4. Lichtstrahlung des erhitzten Leiters. Starke Ströme lassen sich auch durch die Glühtemperatur messen, in die sie einen geeigneten Leiter, z. B. ein dünnes Platinband, in definierter Umgebung ver- setzen. Die Glühtemperatur läßt sich photo- metrisch genau bestimmen. Die Eichung wird mit Gleichstrom bekannter Intensität vorgenommen. Ein Nachteil der Methode liegt darin, daß elektrisch geglühte Metalle zerstäuben und infolgedessen ihr Wider- stand langsam wächst, so daß eine öftere Wiederholung der Eichung nötig ist. e) Striktionswirkung des Stromes. Wenn ein Strom einen Leiter durchfließt, so entsteht infolge der Anziehung zwischen den einzelnen Stromfäden im Leiter ein nach seiner Achse gerichteter Druck, dessen Größe dem Quadrat der Stromstärke pro- portional ist. Ist der Leiter eine Flüssigkeit, so läßt sich die Größe des Druckes messen. Dieses Prinzip hat der Amerikaner Nor- thrup zur Konstruktion eines Strommessers für hohe Stromstärken benutzt. Die Figur 11 läßt die Anordnung eines Striktionselementes erkennen. Der Strom fließt von dem Kupfer- zylinder Ax durch die von dem Elfenbein- ring e begrenzte Quecksilberschicht z nach A2. Dann steigt das Quecksilber infolge des nach der Achse gerichteten Striktions- druckes in p2 an und sinkt in px. Unter Annahme gleicher Stromverteilung läßt sich die Druckwirkung und die Steighöhe be- rechnen. Für ein einzelnes Element ist sie gering, aber sie läßt sich leicht durch Hinter- einanderschaltung mehrerer Elemente und ; ,- Kupfer .Elfen- bein •:■'.: — — "Quecksilber Fig. 11. Schema eines Striktionselenientes nach Northrup. durch Ueberschichtung des Quecksilbers mit dem spezifischen viel leichteren Wasser stark vergrößern. So konstruierte Nor- thrup einen Strommesser für 2000 Ampere mit einer Steighöhe von 50 cm und dem äußerst geringen Energieverbrauch von 23 Watt. Die Instrumente können mit Gleichstrom geeicht werden und sind von der Kurven- form des Wechselstromes sowie von äußeren Feldern unabhängig. 4d) Meßverfahren, mit denen nur der Effektivwert von Wechselströmen gemessen werden kann, a) Das In- duktionsprinzip. Von den Verfahren, mit denen ausschließlich Wechselstrom oder die Wechselstromkomponente eines perio- dischen Stromes gemessen wird, kann nur das Induktionsprinzip zur Konstruktion von Zeigerapparaten benutzt werden. Die an- deren Verfahren eignen sich nur zu Null- methoden. Der Induktionsstrommesser ent- spricht einem Zweiphasenmotor. Ein um- laufendes Magnetfeld erzeugt in einem Anker Wechselströme, die von den Wechselströmen der festen Spulen angezogen werden und auf den Anker ein Drehmoment ausüben, das mit Hilfe einer Feder zu einer von der Stromstärke abhängigen Einstellung führt. Figur 12 zeigt das Schaltungsschema eines 298 Elektrischer Strom Induktionsstrommessers, Figur 13 die An- ordnung seiner Spulen. Der in das Instru- ment eintretende Strom verzweigt sich bei 1 in zwei Zweige, von denen der eine eine großeSelbstinduktionbei kleinem Widerstände, der andere eine geringe Selbstinduktion mit Vorschaltwiderstand enthält. Die Folge ist, daß die Ströme in den beiden Zweigen in der Phase gegeneinander verschoben sind. Durchfließen sie die festen Spulen des In- Fig. 12. Stromverzweigung in einem Induktions- strommesser. Fig. 13. Schema eines Strommessers nach dem Induktionsprinzip. strumentes in der in Figur 13 angegebenen Weise, so entsteht in dem aus einem Alu- miniumzylinder bestehenden Anker ein ma- gnetisches Drehfeld, das die oben angegebenen Wirkungen ausübt. Die genauere Theorie der Instrumente ist verwickelt. Ihr Haupt- mangel ist, daß sie auf einen ziemlich engen Bereich der Frequenz beschränkt sind. ß) Das Resonanzprinzip. Erteilt man einem schwingungsfähigen Systeme regelmäßige Stöße von einer Frequenz, die mit der Eigenfrequenz des Systemes nahe oder völlig zusammenfällt, so kann man das System durch sehr geringfügige Stöße zu starken Schwingungen anregen. Nach diesem Prinzip lassen sich verschiedene sehr empfindliche Nullinstrumente konstruieren. Denn mit Hilfe der Intensität der Schwin- gungen die Stärke des erregenden Stromes zu messen, ist unmöglich, weil sich die Empfindlichkeit der Systeme mit der Ge- nauigkeit, mit der die Resonanz erreicht ist, sehr stark ändert und es praktisch unmöglich ist, die Frequenz des zu messenden Stromes und auch die Eigenfrequenz des Systemes während des Versuches so konstant zu er- halten, wie es für diesen Zweck nötig wäre. Infolgedessen kann man nur auf Verschwin- den der Schwingungen, also Verschwinden des Stromes einstellen. Da die Schwingungen aber auch fast ganz aufhören, wenn die Resonanz verloren geht, so ist auf deren Erhaltung besonderer Wert zu legen. Ströme, deren Frequenz inkonstant ist, lassen sich nach diesem Prinzip nicht messen. Es eignen sich für das Resonanzprinzip die Wirkung zwischen Strom und Magneten und die Wirkung zwischen Strom und weichem Eisen. Die Wärmewirkung und die Strik- tionswirkung des Stromes sind zu träge, die Wirkung zwischen Strom und Strom für Nullmethoden zu unempfindlich. Dem Nadelgalvanometer ähnlich ist das Vibrationsgalvanometer nach Dubois-Rubens. Es benutzt die Torsionsschwingungen einer gespannten Saite, deren Eigenfrequenz sich durch Aenderung ihrer Länge, Dicke und Spannung in weiten Grenzen variieren läßt. In der Nähe von vier über Kreuz stehenden kleinen, mit Spulen versehenen Magnetpolen trägt die Saite Eisenstäbchen. Der Wechsel- strom wird so durch die Spulen geführt, daß die von dem Magnetpolen magnetisierten Eisenstäbchen zum Schwingen gebracht werden. Ueber den Eisenstäbchen trägt die Saite einen winzigen Spiegel, in dem das Bild einer Lichtlinie (beleuchteter Spalt, Faden einer Glühlampe usw.) mit einem Fernrohre beobachtet wird. Schwingt die Saite, so wird das Bild der hellen Linie zu einem Bande verbreitert. Eine andere, dem Drehspulgalvanometer nachgebildete Form ist das Vibrations- galvanometer von Duddell. Das bewegliche vom Strom durchflossene System wird durch eine bifilare Schleife aus flachem Kup- fer- oder Bronzeband gebildet, auf die ein kleiner Spiegel aufgekittet ist. Die Schleife liegt zwischen den zugeschärften Polen eines starken Elektromagneten. Die Eigen- frequenz läßt sich auch hier durch Aende- rung der Länge, Dicke und Spannung der Bänder in weiten Grenzen verändern. Beide Arten von Vibrationsgalvanometern besitzen eine große Empfindlichkeit. Das von Dudell hat den Vorzug geringer Selbst- induktion. y) Das Telephonprinzip. Endlich gehören noch die Telephone zu den In- strumenten, die ausschließlich durch Wech- selstrom beeinflußt werden. Ihre Anord- nung ist bekannt. Eine Eisenmembran ist vor den Polen eines hufeisenförmigen Ma- gneten eingespannt. Die Schenkel des Ma- gneten tragen die von Meßstrom durchflos- senen Spulen, die die Membran in Schwin- gungen versetzen. Der Unterschied der I Telephone gegen die Resonanzinstrumente Elektrischer Strom 299 lie«t darin, daß die Schwingungen der Tele- phonmembran erzwungene Schwingungen sind, die im allgemeinen von den Eigen- schwingungen der Membran weit entfernt sind. Deshalb fällt beim Telephon die müh- same Abstimmung auf Resonanz fort. Nach der Art der Benutzung unterscheidet man die bekannten Hörtelephone, bei denen auf das Verschwinden des Meßstromes aus dem Aufhören desTönens geschlossen wird, und das optische Telephon. Da das Telephon durch Dann ist alle möglichen Schwingungen zum Tönen gebracht wird und das menschliche Ohr für die höheren Töne besonders empfindlich ist, so wirken bei einem nicht sinusförmigen Wechselstrom vor allem die Oberschwin- gungen und man erhält bei der Messung von Erscheinungen, die von der Frequenz des Wechselstromes abhängen, mit dem Hör- telephon keine sauberen Ergebnisse. Bei dem optischen Telephon werden die Schwin- gungen der Membran durch einen Stift auf einen Spiegel übertragen, der an einer Feder befestigt ist, Die Beobachtung erfolgt in 58 k Jk COS 7k Jk sin yk cos k co t. so erhält man k=oo k=oo i = E 2(k sin k oj t + 230 + 2 23l k=o k=0 S80ist die Gleichstromkomponente des periodischen Stromes. In der Technik liegen meistens reine Wechsel- ströme vor, bei denen die negative und positive Hälfte einander spiegelbildlich gleich sind. 33o = 0 k stets ungerade Spiegelbildlich symmetrische Wechselströme ent- derselben Weise galvanometern. wie bei den Vibrations- halten nur ungerade Überschwingungen. In manchen Fällen genügt es, <\en allgemeinen Charakter der Kurve zu kennen. Dazu ver- helfen der Formfaktor und der Scheitelfaktor. Unter dem Formfaktor f versteht man das Verhältnis des Effektivwertes der Stromstärke zum arithmetischen Mittelwerte. Als Scheitel- faktor e wird das Verhältnis des Scheitelwertes (maximalen Augenblickswertes) zum effektiven definiert. Die folgende Tabelle gibt die Werte beider Faktoren für einige besondere Kurven- formen f 4e) venform Messung von und Analyse der Wechselströmen. K u r - Zur vollständigen Charakterisierung eines Wech- selstromes gehört die Kenntnis seiner Inten- sität, Kurvenform, Frequenz und Phase Im vorstehenden ist die Messung- Intensität behandelt. Im folgenden eine kurze TJebersicht über die Messung Kurvenform von Wechselströmen gegeben werden. Die allgemeinste Stromform ist der periodische Strom. Er erfüllt lediglich die Bedingung, daß er in allen um die gleiche Zeit t, die Periode, auseinander liegenden Augenblicken gleiche In- i,iii i,oo 6 i.4I4 i,732 1,00 Sinuskurve Gleichseitig dreieckige Kurve Rechteckige Kurve a) Punktförmige Kurvenaufnah- me. Unter den Apparaten, die zur Auf- nahme vonWechselst romkurven dienen, unter- scheidet man die älteren, bei denen die Kurve Punkt für Punkt aufgenommen wurde, von den neueren, die das vollständige Kurven- bild erscheinen lassen, so daß es direkt photo- graphiert werden kann. Der Grundgedanke der punktförmigen Kurvenaufnahme rührt von J 0 u b e r t her. Das Wesentliche ist ein Kontaktmacher, der in tensitätund Richtung Ä'"jX g$i£| jeder Periode nur einmal während eine^ehr der soll der Strom läßt sich in einen konstanten Gleichstrom „reinen" Wechsel- Gleichstromwirkungen beliebige und einen übergelagerten ström zerlegen. Der letztere ist dadurch gekenn zeichnet, daß er keine ausübt (Drehspulapparate, Elektrolyse Nach Fourier kann nun jeder periodische Strom aus einer Reihe sinusförmiger Schwingungen summiert gedacht werden, deren Perioden sich wie 1:2:3 bis Unendlich verhalten und in der Phase beliebig zueinander liegen können (vgl. den Artikel „Fo ur ier s che s Theorem"). Der mathematische Ausdruck dafür ist k=oo i = 2 Jk sin (k co t + yk) k=o worin co = 27rn, n die Frequenz, i ein Momentan- wertdes Stromes, Jn J2. ..Joodie Maximalwerte (Amplituden) der zu den Periodenzahlen 11t, 2nt...cont gehörenden Teilwellen, yu y2. die Phasenverschiebung der Teilwellen deutet. Entwickelt man die Winkelfunktionen setzt .yoo be- un (1 kurzen Zeit und stets in derselben Phase einen Kontakt herstellt. Mißt man die Stromstöße, die von der im Momente des Kontaktes herrschenden Spannung erzeugt werden, und geht man durch Verstellen des Kontaktmachers allmählich über die ganze Periode, so erhält man ein vollständiges Bild der Kurve. Die Nachteile der Methode sind, daß der Kontakt stets eine gewisse Dauer hat und nur den Mittelwert der während dieser Dauer herrschenden Spannungen liefert, so daß Feinheiten der Kurve verloren gehen, ferner daß die aufzunehmende Kurve und auch die Intensität des Stromes während der Dauer der Aufnahme, die nicht gering ist, konstant bleiben muß. Da die Methode durch die neueren Ver- fahren vollständig überholt ist, kann sie hier nicht weiter behandelt werden. ß) Momentaufnahme der voll- ständigen Kurve. 1. Mit Hilfe freier 800 Elektrischer Strom Elektronen. Die unmittelbar die ganze Kurve zeichnenden Apparate zerfallen wieder- um in zwei Gruppen. Die der einen be- nutzen Elektronen als schwingende Gebilde. Das hat den außerordentlichen Vorteil, daß die Elektronen bei ihrer verschwindend geringen Masse den schnellsten Aenderungen des Stromes vollkommen zu folgen ver- mögen und infolgedessen selbst die Hoch- frequenzströme der drahtlosen Telegraphie in allen Feinheiten wiedergeben. Die der anderen Gruppe beruhen auf der Ablenkung eines Lichtstrahles durch einen Spiegel, der von einem durch den Strom beeinflußten beweglichen System getragen wird. Sie genügen für die gewöhnlichen tech- nischen Frequenzen und sind in mancher Hinsicht einfacher im Gebrauch als die der ersten Gruppe. Bei allen diesen Apparaten wird ein leuchtender, photographisch wirksamer Fleck gleichzeitig in zwei zueinander senkrechten Richtungen, den Ordinaten und Abszissen der Kurve entsprechend, abgelenkt. Die eine Ablenkung (die Ordinaten) ist den Momentanwerten des aufzunehmenden Stro- mes, die andere (die Abszissen) der Zeit proportional. Brauns che Röhre. Der verbreitetste Apparat der ersten Gruppe ist die Braun sehe Röhre, die in Figur 14 schematisch wieder- gegeben ist. Sie benutzt als schwingendes System die in sehr verdünnten Gasen ent- stehenden Kathodenstrahlen, die sich so- wohl durch ein magnetisches als auch durch ein elektrisches senkrecht zu ihrer Bahn ver- laufendes Feld ablenken lassen. In Figur 14 -€ Jk l r 1 I L r D, D^V- Fig. 14. Braunsche Röhre. ist A die Anode, K die Kathode der Röhre, die am besten durch eine Influenzmaschine gespeist wird. Die von K ausgehenden Strahlen fallen auf die Diaphragmen J)1 und D2, die nur ein dünnes zylindrisches Strahlen- bündel hindurchlassen. Dieses fällt auf den mit Sidotblende (Zinksulfid) bestrichenen Schirm und erzeugt auf ihm einen hellen Lumineszenzfleck. Rechts von D2 wird eine Spule an die Röhre gebracht, deren Windungsebene der Röhrenachse parallel liegt. Der sie durchfließende Strom, dessen Kurvenform abgebildet werden soll, erzeugt in ihr ein proportional seiner Intensität schwingendes Magnetfeld, das auf der Rich- tung der Kathodenstrahlen senkrecht steht, und die Ordinatenbewegung des Lumines- zenzfleckes erzeugt. Die Abszissenbewegung kann man dadurch erhalten, daß man den schwingenden Fleck im gleichmäßig rotie- renden Spiegel betrachtet. Besser ist es jedoch, sie dadurch zu gewinnen, daß man das Kathodenbündel durch eine zweite Spule beeinflußt, deren Achse zu ihm und der ersten Spule senkrecht steht. Durch diese Spule sendet man einen Strom, der während jeder Periode proportional der Zeit von Null an bis zu einem maximalen Werte zunimmt, um bei Beginn jeder neuen Periode plötzlich wieder auf Null zu sinken. Alsdann er- scheint die vollständige Kurve des zu unter- suchenden Stromes objektiv auf dem Schirm S. Der proportional der Zeit zunehmende Hilfs- strom wird durch ein Widerstandsband er- zeugt, das auf dem Umfange einer synchron mit dem zu untersuchenden Strom rotierenden Scheibe eingelassen ist, und auf dem eine Bürste schleift. Für die Aufnahme von Spannungskurven ist es zweckmäßiger, nicht die magnetische, sondern die elektrostatische Ablenkbarkeit der Kathodenstrahlen zu benutzen. Man baut in die Röhren zwei einander dicht gegenüberstehende Metallplatten ein. Die zwischen ihnen hindurchfliegenden Elek- troden des Kathodenstrahles werden durch die an die Metallplatten gelegte, zu unter- suchende Spannung abgelenkt. Bei einer Größe der Metallplatten von 2x8 cm, 0,9 cm Abstand und geeignetem Druck geben 80 Volt 40 mm Ausschlag auf dem Schirme. Höhere Spannungen müssen mit Kondensatoren unterteilt werden. Außer- dem hängt die Größe des Ausschlages von der Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen ab, die man künstlich vergrößern oder ver- ringern kann. Glimmlichtoszillograph von Gehrke Der Glimmlichtoszillograph von Gehrke. beruht darauf , daß die Oberfläche des auf der Kathode bei Gasentladungen in hoch evakuierten Röhren entstehenden Glimmlichtes der Stromstärke proportional ist. Wird als Kathode ein Draht genommen, so erscheint das Glimmlicht als leuchtende Linie, deren Länge der Stromstärke ent- spricht. Da bei Wechselstrom beide Elek- troden abwechselnd Kathode werden, so werden beide aus geraden Drähten herge- stellt, die, wie Figur 15 zeigt, derart seitlich Fig. 15. Glimmlichtoszillograph von Gehrke. Elektrischer Strom 3lil versetzt sind, daß sie in bestimmter Rich- tung betrachtet eine fortlaufende gerade Linie bilden, auf der das Glimmlicht oszil- liert. Betrachtet man das Bild der Linie im rotierenden Spiegel, so sieht man das Bild der Kurve. Doch erscheint sie nicht als Linie, sondern die ganzen von der Kurve und der Nullinie umschlossenen Flächen leuchten und geben die Kurve als Begren- zung, Um die Intensität des Glimmlichtes zu erhöhen, nimmt man statt der Drähte breite Kickelbleche. Betrachtet man sie von der scharfen Kante her, so sieht man in eine beträchtliche Tiefe des Glimmlichtes hinein. Doch wird die größere Intensität auf Kosten der Empfindlichkeit erkauft, da infolge der vergrößerten Kathodenfläche größere Strom- stärken nötig sind, um die gleiche Länge des Glimmlichtes zu ei zielen, wie bei dünnen Drähten. Den großen Vorzügen dieses Os- zillographen, die in seiner Freiheit von Ka- pazität und Selbstinduktion, sowie seiner großen Empfindlichkeit bestehen, tut der Nachteil Abbruch, daß er erst oberhalb 300 Volt anspricht. Er gibt also Kurven, deren unterhalb 300 Volt liegende Teile in die Null- linie gesunken sind und ist infolgedessen nur für hohe Spannungen zu gebrauchen. 2. Kurvenaufnahme mit Hilfe be- weglicher Massensysteme. Der Er- finder der Oszillographen mit schwingendem, vom Strom beeinflußten Draht- oder Magnet- nadelsystem ist B 1 o n d e 1. Man unterscheidet ähnlich wie bei den Galvanometern Nadel- oszillographen, Spulen- oder besser Schleifen- oszillographen und Saitenoszillographen. Ihr Prinzip ist das gleiche wie das der ent- sprechenden Galvanometer. Ihr wesentlicher Unterschied gegen diese besteht darin, daß ihre Eigenfrequenz auf mehrere tausend Schwingungen in der Sekunde gebracht und ihre Dämpfung aperiodisch ist, so daß sie auch den höheren Oberschwingungen eines fünfzigperiodigen Wechselstromes noch gut zu folgen vermögen. Nadeloszillograph von Blondel. Bei den Blond eischen Nadeloszillographen ist ein 0,2 bis 0,3 mm dickes Eisenband zwischen den Polen eines kräftigen Magneten ausgespannt, der es quermagnetisiert, so daß es sich wie ein sehr breiter kurzer Magnet verhält. Der zu untersuchende Strom durch- fließt zwei vor und hinter dem Bande auf- gestellte Spulen, die es ablenken. Die der Ablenkung entgegenwirkende Richtkraft wird von dem starken konstanten Magnetfelde und von der Torsion des Bandes ausgeübt, Letztere läßt sich durch die Zugspannung des Bandes ändern. Die richtige Dämpfung wird dadurch er- zielt, daß das ganze System in ein geeignetes Oel (Vaselinöl, Rizinusöl oder Mischung bei- der) eingetaucht wird. In der Mitte trägt das Eisenband einen winzigen Spiegel, der einen schmalen auf ihn geworfenen, durch eine Zylinderlinse passend gerichteten Lichtstrahl auf eine zweite Zylinderlinse reflektiert. Letztere zieht ihn zu einem leuchtenden Punkt zu- sammen. Bei der Kleinheit des Oszillo- graphenspiegels muß die Lichtquelle so intensiv sein wie irgend möglich. Durch die Bewegungen des Oszillographenspiegels er- hält der leuchtende Fleck die der Strom- kurve entsprechenden Ordinatenbewegungen. Die Abzsissenbewegung wird ihm bei Blondel dadurch erteilt, daß er von einem zweiten großen Spiegel reflektiert wird, der durch einen Synchronmotor und ein Exzenter während anderthalb bis zweier Perioden proportional der Zeit in einer Richtung- gedreht . wird und dann schnell zurück- schnappt. Dieser Spiegel wirft den leuch- tenden Fleck auf eine Mattscheibe oder eine photographische Platte, auf der die Kurve dann direkt als leuchtende Linie aufgezeichnet wird. Blondel hat mit seinem Nadeloszillo- graphen Eigenfrequenzen von 50000 er- reicht. Ferner haben diese Oszillographen den Vorzug, daß sie eine schlechte Be- handlung vertragen. Dafür sind sie aber viel weniger empfindlich als die bifilaren Oszillo- graphen. Bei einer Eigenfrequenz von 6000 und einem Spulenwiderstand von 3 Ohm sind 0,3 Ampere erforderlieh, um brauch- bare Kurven zu erhalten. Außerdem werden die Kurven, besonders die Stromkurven, die durch Abzweigung von einem Nebenschluß- widerstand aufgenommen werden, durch die Selbstinduktion der ablenkenden Spulen leicht verzerrt. Bifilare Oszillographen. DievonDud- dell ausgebildeten bifilaren oder Schleifen- oszillographen sind dem Duddellschen Vi- brationsgalvanometer sehr ähnlich. Sie sind Vibrationsgalvanometer hoher Eigenfrequehz, die nicht Resonanzschwingungen, sondern bei geringerer Empfindlichkeit erzwungene, der Kurvenform des zu messenden Stromes proportionale Schwingungen ausführen. Der Strom durchfließt zwei schmale und sehr dünne unmittelbar nebeneinander zwischen den Polen eines kräftigen Elektro- magneten ausgespannte Bänder aus Phos- phorbronze mit aufgeklebtem winzigem Spiegel. Die Dämpfung und die Sichtbar. machung der Schwingungen erfolgt in den selben Weise wie bei den Nadeloszillographer- Die bifilaren Oszillographen haben den Vorteil, daß sie praktisch induktionslos sind und eine größere Empfindlichkeit besitzen als die Nadeloszillographen. Dafür reißen die Bänder andererseits sehr leicht bei 302 Elektrischer Strom Ueberlastimgen. Mit Aluminiumbändern von 10 bis 15 cm Länge erzielte Blondel Eigenfrequenzen von 10000 bis 15000 und eine Empfindlichkeit von 4 cm Ausschlag bei 0,05 bis 0,1 Ampere und 0,5 m Skalenab- stand. Durch die Firma Siemens & Halske sind die bifilaren Oszillographen glänzend durch- konstruiert. Die Figur 16 zeigt die von dieser Firma gebauten Oszillographen mit abgenommenem Gehäuse. Bei ihnen wird so scheint er bei ihrer Drehung nach Figur 17 für ein senkrechtblickendes Auge von links nach rechts zu wandern. Die Eigenfrequenz der Siemensschen Oszillographen ist normal 6000. 0,1 Ampere geben bei 0,5 m Skalenabstand 4 bis 5 cm Ausschlag. Bei der Frequenz 4000 ist die zehnfache Empfindlichkeit vorhanden. Saitenoszillograph. Der Saiten- oszillograph von Edelmann schließt sich an das Saitengalvanometer von Einthoven an. Fig. 16. Oszillograph von Siemens und Halske. die Abszissenbewegung durch Exzenter nur I Die Schenkel zweier übereinander stehender angewandt, wenn die Kurven stark vergrö- permanenter Magnete umschließen einen ßert projiziert werden sollen. Zum Photo- Messingklotz M (Fig. 18), der in einem ver- graphieren gibt man dem lichtempfindlichen tikalen doppelkeilförmigen Spalte zwei drei- Papier die Abszissenbewegung einfach da- durch, daß man es auf eine synchron ro- tierende zylindrische Trommel aufspannt, die vom leuchtenden Fleck getroffen wird. Sollen die Kurven subjektiv betrachtet werden, so läßt man den hellen Fleck auf eine Fläche fallen, deren Leitlinie einen Teil einer archimedischen Spirale bildet. Bei dieser ist die Länge des Radiusvektors dem Drehungswinkel proportional. Fällt also ein Lichtstrahl horizontal auf die Fläche, Blick- richtung Fig. 17. Archimedische Spirale zur Sichtbar- machung von Oszillographenschwingungen. Fig. 18. Saitenoszillograph von Edelmann. Elektrischer Strom — Elektrische Ventile 303 kantige Polschuhe trägt. Zwischen ihnen ist ein versilberter Quarzfaden isoliert aus- gespannt. Der zu untersuchende Strom versetzt den Faden in Schwingungen parallel zur Richtung der Gabelzinken. Mit Hilfe des Mikroskopes P kann die Ordinaten- bewegung des von einem Lichtstrahl punkt- förmig beleuchteten Fadens betrachtet wer- den. Zur Herstellung der Kurve wird das Bild des Fadens auf eine mit photogra- phischem Papier überzogene Trommel ge- worfen. Die Empfindlichkeit ist sehr groß. Ein versilberter Quarzfaden von 0,003 mm Dicke gibt bei 8.10-10 Ampere einen Milli- meter Ausschlag, eine Empfindlichkeit, die von keinem anderen Oszillographen auch nur annähernd erreicht wird. y) Messung des Formfaktors. Der Formfaktor einer Kurve läßt sich messen, wenn man einen Kontaktmacher so ein- richtet, daß er genau während einer halben Periode Kontakt macht. Man schaltet ihn in Serie mit einem Drehspulstrommesser, der dann die halbe mittlere Stromstärke an- gibt. Gleichzeitig mißt man die effektive Stromstärke und erhält als den Quotienten beider den Formfaktor. ö) Analyse von Wechselstromkur- ven. Zur Analyse gegebener Kurven, das heißt, zur zahlenmäßigen Feststellung der sie zusammensetzenden Sinusschwingungen gibt es zwei Wege, den experimentellen, auf dem man diese Größen direkt mißt und den analytischen, auf dem man sie aus den ge- zeichneten Kurven graphisch und rechnerisch ermittelt. Die eleganteste experimentelle Methode ist die Messung der Schwingungen durch Resonanz. Wenn an eine sinusförmige Spannung der Frequenz n eine Selbstinduk- tion L und eine Kapazität C in Serie ange- schlossen werden, so wird für ganz be- stimmte, zneinandergehörige Werte von n, C und L die Wirksamkeit der Selbstinduktion durch die der Kapazität aufgehoben und der Stromkreis verhält sich, als ob nur sein Oh nischer Widerstand R vorhanden wäre, so daß der Strom ein Maximum erreicht. Die Bedingung hierfür ist, wenn 2mi = co gesetzt wird, Leo2 Cw CO F LC Mit Hilfe dieser Beziehung kann man durch Verändern von L und C sämtliche Resonanzen und damit sämtliche Ober- schwingungen der Kurve finden und aus der Größe jedes Strommaximunis ihre Inten- sitäten bestimmen. Die graphische Analyse beruht in ihrer einfachsten Form auf der Ausmessung einer großen Anzahl von Ordinaten der zu unter- suchenden Kurve und der Berechnung der verschiedenen Glieder der Fourierschen Reihe aus den gemessenen Werten. Durch Kon- struktion besonderer Apparate, der Analysa- toren, die die Zerlegung der Kurve in ihre Einzelschwingungen auf mechanischem Wege ausführen, ist die Methode sehr verbessert worden. Literatur. Heirike, Handbuch der Elektro- technik. Leipzig 190S. — Abraham, Theorie der Elektrizität. Leipzig 1905. — Kittief, Allgemeine Elektrotechnik 1909 und 1910. — Kohl rausch, Lehrbuch der Physik. Leipzig und Berlin 1910. — Manuell, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus. Berlin 1883. — Orlich, Aufnahme und Analyse von Wechselstrom kurven. Braunschweig 1906. G. Schulze Elektrische Ventile. 1. Definition und Anwendung elektrischer Ventile. 2. Die Schaltungen der Ventile und die allgemeinen Eigentümlichkeiten der Gleichrich- tung von Wechselstrom. 3. Die Einteilung der Ventile nach den bei ihnen benutzten Grenzen: a) DieGrenze Metall — Metall. Ventilwirkung durch Thermokräfte. b) DieGrenze Metall — Gas: a) Ven- tilwirkung durch anormalen Kathodenfall, ß) Ven- tilwirkung durch normalen Kathodenfall, c) Die Grenze Metall — Elektrolyt, d) Die Grenze Gas — Elektrolyt. Elektrolytgleichrichter. 4. Ventile, deren Wirkungsweise noch nicht sicher erklärt ist. Detektoren. i. Definition und Anwendung elektri- scher Ventile. Ein elektrisches Ventil ist eine Vorrichtung, die dem elektrischen Strome in der einen Richtung einen anderen Widerstand (und zwar im allgemeinen einen Widerstand von anderer Größenordnung) bietet als in der entgegengesetzten Richtung, so daß das Ven- til bei gleichen Spannungen in der einen Richtung einen viel stärkeren Strom zuläßt als in der anderen. Ferner soll diese Eigen- schaft, die auch Unipolarität genannt wird, in der physikalischen Beschaffenheit des Ven- tiles ihre Ursache haben und nicht durch äußere Bewegungen hervorgerufen werden: Schalter, schwingende Kontaktfedern und rotierende Kollektoren gehören nicht zu den Ventilen. Die elektrischen Ventile finden eine zwei- fache Verwendung, die man als statische und dynamische kennzeichnen kann. Statisch werden sie verwendet, um die normale ge- wünschte Richtung eines Gleichstromes zu- zulassen,die entgegengesetzte zu unterdrücken. Lädt beispielsweise eine auf der Achse einer fahrenden Lokomotive sitzende Dynamo 304 Elektrische Yentilo eine Akkumulatorenbatterie für die Zugbe- leuchtung, so verhindert ein eingeschaltetes Ventil, daß sich die Akkumulatorenbatterie rückwärts durch die Dynamo kurzschluß- artig entlädt, während der Zug hält. Dynamisch dagegen benutzt man die Ventile, um Wechselstrom in Gleichstrom zu verwandeln. Dieses Anwendungsgebiet hat in den letzten Jahren sowohl bei der Gleich- richtung starker Ströme niederer Frequenz, als auch bei der Umwandlung äußerst ge- ringer Hochfrequenzströme in Gleichstrom eine große Wichtigkeit erlangt. 2. Die Schaltungen der Ventile und die allgemeinenEigentümlichkeitenderGleich- richtung. Im Interesse der Darstellung empfiehlt es sich, zunächst die Ventile als gegeben anzusehen und die bei ihrer Ver- wendung üblichen Schaltungen sowie die gemeinsamen Eigentümlichkeiten ihrer Wir- kungsweise vorweg zu behandeln. Dabei sollen die Ventile der Einfachheit halber als ideal angenommen werden, d. h. in der durchlässigen Richtung oder „Flußrich- tung" den Widerstand Null, in der undurch- lässigen Richtung oder „Sperrichtung" den Widerstand unendlich haben. Bei statischer Verwendung eines Ventils versteht sich die Schaltung von selbst. Das Ventil wird einfach in den Stromkreis ein- geschaltet, in dem nur eine Stromrichtung möglich sein soll. Bei dynamischer Verwendung oder Gleich- richtung'von Wechselströmen hat diese ein- fachste Schaltung den Nachteil, daß die eine Richtung des Wechselstromes einfach unter- drückt wird, die einzelnen gleichgerichteten Stromstöße also durch Pausen unterbrochen sind, die ebenso lang sind wie sie selbst. Des- halb wird diese Schaltung nur bei gelegent- licher Verwendung selbstgefertigter Ventile im Laboratorium benutzt, soweit es sich um Ströme niederer Frequenz handelt. Dagegen ist sie die Regel bei der Gleichrichtung der Hochfrequenzströme der Funkentelegraphie zu Meßzwecken. Die Ursachen hierfür liegen teils in dem eigentümlichen Verhalten, teils in der Inkonstanz der bei der Funkentelegraphie benutzten Ventile, die kompliziertere Schal- tungen nicht zuläßt. Zur Ausnutzung beider Richtungen des Wechselstromes müssen mehrere Ventile kombiniert werden. Bei der sogenannten Graetzschen Schaltung werden zum Gleichrichten von einphasigem Wechselstrome vier Ventile in der in Figur 1 angegebenen Weise miteinander verbunden. Die Ventile sind als Pfeile gezeichnet, deren Richtung die Flußrichtung angeben soll. Man überzeugt «ich leicht, daß in dem Gleichstromkreise der Strom stets in der eingezeichneten Richtung fließt. Zum Gleichrichten von Drehstrom sind in der Graetzschen Schaltung 6 Ventile erforderlich, die nach dem Schema der Figur 2 miteinander verbunden werden. Viel mehr als die Graetzsche Schaltung wird die Transformatorschaltung be- nutzt, die in Figur 3 für Einphasenstrom n Wechsels!' rom u Gleichstrom Fig. 1. Grätzsche Schaltung für einphasigen Wechselstrom. Drehst rom U t i +-?-* r H -»- Gleichstrom Fig. 2. Grätzsche Schaltung für Drehstrom. -Hr>— D MT I. U Gleichstrom ^AAAA/WWVWVW\AAAAA1 T i Wechselstrom U Fig. 3. Transformatorschaltung für einphasigen Wechselstrom. und in Figur 4 für Drehstrom wiedergegeben ist. T ist ein sogenannter Spar- oder Auto- transformator, an dessen Enden die Betriebs- Elektrische Ventile 305 Wechselspannung E hegt. Die im Verhältnis der Windungszahlen verkleinerte (oder ver- größerte) Spannung e wird zwei oder bei Drehstrom drei Ventilen zugeführt. Der den gleichgerichteten Strom führende Kreis liegt zwischen dem Mittelpunkte Mv der Ventile und dem Mittelpunkte MT des Spartrans- formators. Der Nachteil dieser Schaltung liegt darin, daß sie eines Transformators bedarf, ihr Vor- teil darin, daß sich das Verhältnis zwischen Wechsel- und Gleichspannung beliebig ein- stellen läßt und daß der Strom immer nur unendlich steht das wirkliche Ventil mit den Widertänden r und R gegenüber, in dem Verluste auftreten. Ist V die effektive einphasige Wechselspannung und r„ der Widerstand des Gleichstromverbrauchs- körpers, der mit dem Ventil an die Wechsel- spannung V angeschlossen ist, so fließt in der Flußrichtung der effektive Strom V r-f-r Drehsfrom Fig. 4. Transformatorschaltung für Drehstrom in der Sperrichtung der effektive Strom . V_ 1_R+r ' Demgemäß betragen die Verluste J2 r_L j2T? =v2 / r -4- — J.r+iK \(r+rg)2+(R+rg)* Sie erscheinen im Ventile im allgemeinen in Form von Wärme. Ein weiterer Verlust entstellt dadurch, daß in der Sperrrichtung der Strom i durch den Gleichstromverbrauchs- körper in der Zeit t eine Elektrizitätsmenge i.t in der der gewünschten entgegengesetzten Richtung hindurchführt. Die schädliche Wir- kung dieser Elektrizitätsmenge muß in der Flußrichtung durch die ebenso große Elek- trizitätsmenge J. 1 1 wieder aufgehoben werden. Dadurch entsteht im Verbrauchskörper in der Zeiteinheit insgesamt ein Verlust von dem Betrage V2.r R+re 1 r+rg ' R+rg Endlich wird noch ein Verlust dadurch bedingt, daß der gleichgerichtete Strom nicht konstant ist. Die folgenden Figuren 5 bis 7 geben die Kurvenform der gleichgerichteten Ströme wieder, wenn der Wechselstrom ein Ventil durchfließt, statt zwei wie bei der j sinusförmig ist. Figur 5 entsteht, wenn nur Graetzsehen Schaltung, so daß die Energie- ] die eine Stromrichtung ausgenutzt, die andere Verluste in der Ventilgruppe nur halb so j unterdrückt wird, Figur 6 wenn einphasiger Gleichstrom- komponente Fig. 5. Kurvenform eines mit Hilfe eines Ventiles gleichgerichteten Wechselstromes. groß sind. Diese beiden Vorzüge wiegen so schwer, daß technisch nur die Transformator- Wechselstrom, Figur 7 wenn Drehstrom unter schaltuno- benutzt wird I Ausnutzung beider Stromrichtungen gleich- Die Brauchbarkeit der Ventile hängt von gerichtet wird. Bezüglich ihrer Wirkung der Leichtigkeit ihrer Herstellung oder ihrem kann man sich alle drei Strome zusammen- gesetzt denken aus einem konstanten Gleich- Preise, von ihren Spannungs- und Strom- bereichen, ihrer Lebensdauer und vor allem von ihrem Nutzeffekte ab. Dem idealen ströme i , dessen Betrag gleich dem arith- metischen Mittel aus allen Momentanwerten Ventile mit den Widerständen Null und ist und einem darübergelageiten nicht mehr Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 20 306 Elektrische Ventile sinusförmigen Wechselstrome iw, der um die und um so mehr nähert sich die Stromform Grade ig als Nulllinie pulsiert. der eines konstanten Gleichstromes. Ganz das gleiche gilt für die gleichgerich- Die vorstehenden Betrachtungen können teten Spannungen e und ew. Als Nutz- leistung im Gleichstromverbrauchskörper kommt nur ig-eg in Frage, während iw.ew in ihm als Verlust auftritt. Da nun die Drosselspulen die Eigenschaft haben, Wech- selstrom ohne wesentlichen Energieverlust zu schwächen, so schaltet man in den Gleich- stromkreis zur Verkleinerung von iw und von iw.ew eine Drosselspule ein, wie sie in die Figuren 1 — 4 eingetragen und mit D be- im allgemeinen nur einen Ueberblick über die Eigentümlichkeit und den Ort der ver- schiedenen beim Gleichrichten von Wechsel- strom auftretenden Verluste geben. Eine genauere Berechnung der Verluste oder eine Charakterisierung der Ventile durch die Größen R und r ist in den meisten Fällen schon deshalb unmöglich, weil die meisten Ventile keine konstanten Widerstände be- sitzen. Statt dessen ist bei manchen in der Flußrichtung der Spannungsverlust im Ventile konstant. Aber auch bei konstantem R und Gleichstrom- r läßt sich kein allgemeiner komponente Nutzeffekt angeben, weil Fig. 6. Kurvenform eines mit Hilfe der Grätzschen oder der Transformatorschaltung gleichgerichteten Wechselstromes. Gleichstrom- komponente Fig. der Widerstand rg des Gleichstromverbrauchs- körpers in die Formeln eingeht, und die meisten Gleichstromverbrauchs- körper auch keinen kon- stanten Widerstand be- sitzen. Wird z. B. mit Hilfe eines Gleichrichters eine Akkumulatorenbatte- rie geladen, so dient fast die ganze verfügbare Span- nung zur Ueberwindung der nahezu konstanten elektromotorischen Gegen- kraft der Batterie. In- folgedessen pulsiert in diesem Falle die Spannung fast gar nicht. 3. Einteilung der Ventile nachdemPrinzip der Grenze. Die Defini- tion eines Ventiles, daß es für die beiden ent- gegengesetzten Strom- richtungen verschiedene Widerstände besitzt, ist nur der nächste Ausdruck der beobachteten Tat- sachen und bedarf einer weiteren Vertiefung. Um diese zu gewinnen, geht man am besten vom Mechanismus der Strom- leitung aus. In Metallen besteht der elektrische Strom nur au (negativen) Elektronen, in Gasen aus Elektronen und Ionen, zeichnet ist. Sie verwandelt die Kurven der i in Elektrolvten nur aus Ionen. In Figuren 6 und 7 in die der Figuren 8 und 9. letzterem Fälle besteht noch die Eigen 7. Kurvenform eines mit Hilfe der Grätzschen oder der Transformatorschaltung gleichgerichteten Drehstromes. Gleichstrom- — komponente - Fig. 8. Kurve der Fig. 6 nach Einschaltung einer Drosselspule. Gleichstrom- — komponente Fig. 9. Kurve der Fig. 7 nach Einschaltung einer Drosselspule. Je größer der Selbstinduktionskoeffizient der Drosselspule ist, um so mehr dämpft sie die. Pulsationen des gleichgerichteten Stromes tümlichkeit, daß die Elektronen niemals aus den Elektroden in den Elektro- lyten gelangen. Aus der metallischen Leitung Elektrische Ventile 307 strömen sie auf die Kathode des Elektro- lyten zu. Aus dieser könnten sie nur dann in den Elektrolyten einwandern, wenn die Kathode durch den Strom aufgelöst würde, was nicht der Fall ist. Deshalb können nega- tive Ionen im Elektrolyten immer nur durch Dissoziation eines in die Lösung gebrachten Salzes entstehen, während positive Ionen direkt aus der Anode in den Elektrolyten einwandern können. Auf Grund des Mechanismus der Strom- leitung ergibt sich nun die folgende Definition eines elektrischen Ventiles: Ein elektrisches Ventil ist eine Vorkehrung, die den Elektio- nen oder Ionen in der einen Richtung ein ge- ringeres Hindernis bietet als in der entgegen- gesetzten. Ein solches Hindernis ist in einem isotropen Körper nicht möglich. Das Charakteristikum eines Ventiles ist also die Grenze zwischen zwei Körpern, in denen sich die Ionen oder Elektronen in verschieden- artiger Weise bewegen, und es sind so viele Arten von Ventilen denkbar, wie es Grenzen gibt. Daraus ergibt sich ohne weiteres die Einteilung der Ventile nach den Grenzen, auf denen sie beruhen. Diese Grenzen sind: 1. Metall— Metall; 2. Gas— Gas; 3. Elektrolyt —Elektrolyt; 4. Metall— Gas; 5. Metall- Elektrolyt; 6) Gas— Elektrolyt. Die menschliche Unvollkommenheit fügt als siebente Gruppe die Ventile hinzu, deren Wirkungsweise befriedigend zu erklären noch nicht gelungen ist. Es sind insbesondere die Detektoren der Funkentelegraphie. 3a) Die Grenze Metall — Metall; Ven- tile durch Thermokräfte. Die ersteGrenze Metall— Metall läßt sich direkt nicht als Ventil benutzen, weil die an den einzelnen Grenzen auftretenden Wirkungen sich aufheben, so- bald die Metalle zu einem Stromkreise ge- schlossen werden und die Temperatur überall dieselbe ist. Befinden sich dagegen zwei Grenzen auf verschiedener Temperatur, so treten die bekannten Thermokräfte zwischen ihnen auf und liefern Gleichstrom. Die ver- schiedene Temperatur läßt sich leicht da- durch erreichen, daß man der einen Grenze einen großen, der anderen einen geringen Querschnitt gibt. Dann erwärmt der Wechsel- strom die Grenze geringen Querschnitts stärker als die andere. Man sieht jedoch, daß man hier von einem Gleichrichten des Wechselstromes nicht sprechen darf, da der Wechselstrom zunächst Wärme und diese erst Gleichstrom erzeugt. Irgendeine Beziehung zwischen Kurvenform des Gleichstromes und des Wechselstromes oder ein Unterschied zwischen Fluß- und Sperrichtung ist hier nicht vor- handen. Der Wechselstrom bleibt symme- trisch und lagert sich über den Thermostrom. Erst durch Verwendung von Kapazitäten und Drosselspulen läßt sich eine Trennung der beiden Ströme erzielen. Eine praktische Ver- wendung haben diese Ventile noch nicht ge- funden. Einige Autoren glauben, daß die Kristalldetektoren der Funkentelegraphie hierher gehören, andere widersprechen dem. 3b) Die Grenze Metall — Gas; Gas- entladungsventile. Die Grenzen Gas — Gas und Elektrolyt — Elektrolyt sind bisher weder theoretisch noch praktisch zur Konstruktion von Ventilen benutzt worden. Von größter Wichtigkeit ist dagegen die Grenze Metall — Gas. Um Elektronen aus einem kalten Metall in den umgebenden Gasraum zu befördern, sind außerordentlich hohe Spannungen er- forderlich. Die zum unmittelbaren Ab- spalten von Elektronen nötigen Spannungs- gefälle sind noch nicht sicher bekannt. Aber auch die Spannungsgefälle, die nötig sind, um die Elektronen indirekt, durch den soge- nannten Ionenstoß aus dem Metall zu be- freien, sind sehr beträchtlich. Damit Ionen- stoß eintreten kann, muß auf der freien Weglänge des positiven Ions mindestens dessen volle Ionisierungsspannung gegen das Kathodenmetall, der „normale Kathodenfall" vorhanden sein. Er schwankt von Metall zu Metall und beträgt im allgemeinen etwa 300 Volt. Da die freien Weglängen der positiven Ionen bei gewöhnlichem Druck sehr klein sind, so sind sehr hohe Spannungen erforder- lich, um mäßige Elektrodenabstände durch den Strom zu überbrücken. Sind z. B. die beiden Elektroden Kugeln von 1 cm Radius, die sich in einer Entfernung von 1 cm gegen- überstehen, so sind 31 200 Volt erforderlich, um die Entladung einzuleiten. Je geringer der Gasdruck wird, umso größer werden die freien Weglängen und um so geringer die zur Ueberbrückung einer gegebenen Entfernung nötige Spannung. Der normale Kathodenfall kann sich nur ausbilden, solange noch nicht die ganze Fläche der Kathode vom austretenden Strome bedeckt ist und sich über ihr inner- halb dei freien Weglänge des positiven Ions kein Hindernis befindet. a) Ventilwirkung durch anormalen Kathodenfall. Sind diese Bedingungennicht erfüllt, so entsteht der anormale Kathodenfall, der noch wesentlich größer ist als der normale. Darauf läßt sich ein Ventil gründen. Die eine Elektrode wird so gestaltet, daß an ihr der normale Kathodenfall vorhanden ist, die andere wird klein gemacht, oder besser noch eng mit der Glaswand umgeben, so daß sich an ihr schon bei sehr geringen Strömen der anormale Kathodenfall ausbildet. Liegt die gleichzurichtende Wechselspannung nur wenig oberhalb der Spannung, die zur Erzielung des normalen Kathodenfalles erforderlich ist, so geht in der Richtung, in der der anormale Kathodenfall auftritt, nur ein sehr geringer 20* 308 Elektrische Ventile Strom durch das Ventil. Aber auch in der Flußrichtimg ist der Spannungsverlust im Ventile sehr groß. Deshalb hat dieses Ventil keine praktische Bedeutung erlangt und wird nur gelegentlich im Laboratorium benutzt, um geringe Ströme sehr hoher Spannung gleichzurichten, wie sie zur Untersuchung der elektrischen Erscheinungen in Gasen gebraucht werden. Nach der Art der Aus- führung unterscheidet man das Spitzen- ventil, bei dem sich eine Spitze und eine Platte als Elektroden gegenüberstehen, das Trichterröhrenventil, bei dem sich die Glaswand um die eine Elektrode trichter- förmig verengt, und das Striktionsventil, bei dem sich zwischen zwei gleichen Elektro- den eine trennende Glaswand befindet, die eine nach der einen Elektrode gerichtete trichterförmige Oeffnung trägt. In dieser Oeffnung bildet sich eine sekundäre Kathode, eine sogenannte Striktionskathode aus, die in der einen Richtung normalen, in der anderen anormalen Kathodenfall zeigt. Die nebenste- henden Figuren 10—12 lassen die drei Arten dieser Ventile erkennen. Spitzenventil. Fig. 11. Trichterröhrenventil. Fig. 12. Striktionsventil. ß) Ventilwirkung durch normalen Kathodenfall. Wichtiger als diese Ventile, bei denen der normale Kathodenfall in der Flußrichtung herrscht, sind die, welche den normalen Kathodenfall für die Sperrichtung benutzen. Liegt die gleichzurichtende Wech- selspannung unterhalb der Spannung, die zur Erzielung des normalen Kathodenfalles erforderlich ist, so können keine Elektronen die kalte Metallelektrode verlassen. Der Strom in der Sperrichtung ist Null. Anderer- seits können die Elektronen ohne weiteres aus dem Gasraume in das Metall hineinströ- men. Der Spannungsverlust in der Fluß- richtung ist gering. Die Grenze kaltes Metall — Gas ist unterhalb des normalen Kathodenfalles ein sehr vollkommenes Ventil. Es handelt sich nur noch darum, die in der Flußrichtung auf die kalte Metallelektrode aus dem Gasraum strömenden Elektronen mit Hilfe einer zweiten Elektrode unter möglichst geringen Verlusten in den Gasraum hineinzubringen. Nach den hierzu benutzten Verfahren werden die Ventile dieser Gruppe benannt und eingeteilt. Bei den lichtelektrischen Ventilen werden die Elektronen aus geeigneten Metallen durch Lichtstrahlen herausgeschleudert. Bei den glühelektrischen Ventilen strahlen Elektroden aus geeignetem Mate- riale, die auf Weißglut erhitzt sind, Elek- tronen aus. Bei den Lichtbogenventilen wird die Temperatur des Lichtbogens der Elektronen- emission dienstbar gemacht. Die lichtelektrischen Ventile. Den lichtelektrischen Effekt, das ist, die freiwillige Ausstrahlung von Elektronen unter der Ein- wirkung von Lichtstrahlen, zeigen die Metalle um so stärker, je elektropositiver sie sind. Die Elektronen, die bei den stark elektro- positiven Metallen nur lose mit den Atomen verbunden sind, geraten durch den Einfluß des Lichtes in Resonanzschwingungen, die so stark werden, daß die Elektronen aus ihrem Atome und wenn dieses an der Ober- fläche liegt, aus dem Metall herausfliegen. Neuerdings haben Elster und G e i t e 1 be- sonders empfindliche photoelektrische Zellen hergestellt. Die innere Glaswand eines mit stark verdünntem Wasserstoff gefüllten Ge- fäßes wird mit einer Kaliumschicht überzogen und dann ein Glimmstrom hergestellt, so daß die Kaliumschicht mit einem farbigen hoch- empfindlichen Ueberzuge bedeckt wird. Nach der Herstellung des Ueberzuges wird der Wasserstoff aus dem Gefäße entfernt und statt dessen sehr verdünntes Helium oder Argon eingeleitet, da der Ueberzug in einer Wasser- stoffatmosphäre seine Empfindlichkeit mit der Zeit verliert. Bei diesen Zellen ist nicht nur keine äußere Spannung erforderlich, um die Elektronen dem Metalle zu entziehen, sondern die Elektronen erzeugen bei ihrem Austritt sogar selbst eine Spannung bis zu vier Volt. Stellt man also einer solchen lichtempfind- lichen Kaliumelektrode als zweite Elektrode ein Drahtnetz gegenüber, durch das das Licht hindurchströmen kann, so hat man ein recht vollkommenes Ventil, das als einzige Hilfskraft Licht braucht. Leider ist es nur für sehr geringe Ströme verwendbar, denn der Strom in der Flußrichtung kann unter keinen Umständen stärker werden, als der Menge der lichtelektrisch ausgestrahlten Elektrische Ventile 309 Elektronen entspricht. Deshalb ist auch dieses Ventil für die Starkstromtechnik nicht verwendbar Die gliihelektrischen Ventile. Weh- neltrohr, Vakuumventil, Flammen- ventil. Eine wesentlich stärkere Strombe- lastung vertragen die glühelektrischen Ven- tile. Das wichtigste von ihnen ist das nach seinem Erfinder genannte Wehneltventil- r o h r. Bei ihm dient als elektronenstrahlende Elektrode ein dünnes Platinblech, das mit den Oxyden der Erdalkalien bestrichen ist und auf etwa 1400° C erhitzt wird. Bei dieser Temperatur geben die erwähnten Oxyde schon bei ganz geringem Spannungsgefälle große Mengen von Elektronen ab. Die Er- hitzung des Platinbleches erfolgt durch einen besonderen Hilfsstromkreis, der durch eine Akkumulatorenbatterie oder einen kleinen Transformator gespeist wird. Die Anoden des Ventilrohres, also das eigentliche Ventil ist ein Stahlstab. Das Gefäß muß so weit wie möglich evakuiert sein, um den Elektronen einen hindernisfreien Weg zur Anode zu bieten. Sollen beide Stromrichtungen des Wechselstromes ausgenutzt werden, so kom- binieit man zwei Ventile, indem man zwei Anoden mit einer gemeinsamen Kathode in einem Gefäße vereinigt. Wehnelt beschreibt ein Ventilrohr, dessen Kathode aus einem Platinblech von 8 qcm Oberfläche und dessen Anoden aus 10 cm langen und 5 mm starken blanken Stahl- stäben bestanden. Das Ventilrohr läßt sich mit einer Stromstärke von 2 bis 3 Ampere pro Quadratzentimeter Kathode, also im ganzen mit etwa 20 Ampere belasten. Wird die zu- lässige Stromstärke überschritten, so tritt an der Kathode ein schnell mit der Strom- stärke wachsender Kathodenfall auf, weil dann die Erhitzung der Kathode allein nicht mehr die hinreichende Menge Elektronen liefern kann und die fehlenden durch Ionen- stoß gewonnen werden müssen. Die Ventil- wirkung ist sehr vollkommen, solange die Anode kalt bleibt. Die zur Erzeugung eines merklichen Stromes in der Sperrichtung er- forderliche Spannung beträgt viele Tausend Volt (genaueres siehe beim Quecksilberdampf- gleichrichter, bei dem ganz analoge Verhältnisse vorliegen). In der Flußrichtung verbraucht das Wehneltventilrohr annähernd unabhängig von der Stromstärke 18 bis 20 Volt. Sein Nutzeffekt ist also um so größer, je höher die gleichgerichtete Spannung ist, solange sie unterhalb des dem normalen Kathoden- fall entsprechenden Wertes bleibt. Unerläßliche Bedingung für gute Wirk- samkeit des Ventilesist die peinlichste Sauber- keit bei der Herstellung. Schon Spuren von Kohlenwasserstoffen bewirken eine Zersetzung der Oxyde und Bildung von Karbiden, die sich in Form schwarzer Niederschläge an den Glaswänden absetzen und dasPlatin angreifen. Auch bei sorgfältiger Behandlung bleibt die glühende Platinkathode ein sehr empfindlicher Teil des Ventilrohres. Glüht das Platinblech aus irgend einem Grunde an einer Stelle stärker als an den übrigen, so konzentriert sich der Elektronenstrom auf diese Stelle und erhitzt sie dadurch noch stärker. Die Folge ist eine weitere Konzentration des Stro- mes und so fort bis das Platinblech durch- gebrannt ist. Man hat deshalb versucht, höher schmelzende Metalle zu verwenden, ohne bisher rechte Erfolge damit zu erzielen. Insbesondere wird das wegen seines hohen Schmelzpunktes und seiner leichten Bearbeit- barkeit recht geeignet erscheinende Tantal infolge seiner Gier, sich bei hoher Temperatur mit fast allen Gasen zu verbinden, bald spröde und rissig. Der Vorzug des Wehneltventilrohres be- steht darin, daß es sich im Laboratorium ohne besondere Schwierigkeiten herstellen läßt und von den kleinsten bis zu relativ hohen Stromstärken in recht vollkommener Weise und mit hohemNutzeffekt gleichrichtet. Der Nachteil besteht in der Notwendigkeit des Hilfsstromkreises und der Empfindlich- keit der Platinkathode. Eine Abart der Wehneltventilrohre sind die zueist von Fleming beschriebenen und Vakuum ventile benannten Apparate. Sie bestehen aus einer elektrischen Kohleglüh- lampe mit zwei voneinander isolierten Kohle- fäden, deren einer ebenso wie die Wehnelt- kathode durch einen Hilfsstromkreis geglüht wird, während der andere kalt bleibt. Die Erscheinungen sind qualitativ ganz dieselben wie beim Wehneltventilrohr. Die für die glühelektrischen Erscheinungen erforderliche Temperatur läßt sich auch durch Erhitzen der Kathode in der Flamme, insbesondere im Bunsenbrenner erzielen (Fl am m en ve nt i le). Die störende ge- ringe Leitfähigkeit der Bunsenflamme läßt sich durch Einführung von Salzdämpfen z. B. von KBr leicht auf das Hundertfache ver- stärken. Träger des Stromes ist in der Flamme vorwiegend das negative Ion oder das Elektron , dessen Beweglichkeit zwanzig- mal so groß ist wie die des positiven Ions. Die Anode muß so angeordnet sein, daß sie von den Salzdämpfen nicht umspült wird, da sie sonst in der Sperrichtung als Kathode mit Hilfe der von den Salzdämpl'en gelieferten negativen Teilchen Strom liefern würde, und außerdem muß sie so dimensioniert sein, daß sie durch die Flamme nicht auf Glühtem- peratur erhitzt werden kann. Ordnet man sie außerhalb der Flamme an, so wird der Wider- stand zwischen ihr und der Flamme sehr groß. Die praktische Bedeutung der Flammen- ventile ist viel geringer als die des Wehnelt- und des Vakuumventils. 310 Elektrische Ventile Alle glühelektrischen Ventile lassen sich bis zu den höchsten Frequenzen hinauf zum Gleichrichten benutzen, da sie Elektronen- ventile sind und die träge Masse der Elektro- nen äußerst gering ist. Oder, weil elektrische Schwingungen nur durch Elektronenbewegun- gen hervorgerufen werden können, so müssen die Elektronen andererseits auch zur Umfor- mung solcher Schwingungen fähig sein. In der Hochfrequenztechnik verwendet man die Ventile nun last ausschließlich zum Gleich- richten von Meßströmen, weil es für Gleich- ströme viel empfindlichere und bequemere Meßapparate gibt als für Wechselströme. Für Meßzwecke, ganz besonders wenn Nullmetho- den in Frage kommen, ist es aber unerläßlich, daß zugleich mit dem Meßstrome auch die Spannung, die er verbraucht, Null wird. Das ist aber, wie erwähnt, bei den glühelektrischen Ventilen nicht der Fall. Bis zu sehr geringen Stromstärken hinunter beträgt der Spannungs- verlust konstant 18 bis 20 Volt. Man kann jedoch diesen Uebelstand stark verringern, wenn man mit dem Ventile eine Hilfsbatterie von fast 18 Volt in Serie schaltet. Dann ist die Batterie allein auch in der Flußrichtung nicht imstande, einen merklichen Strom durch das Ventil zu schicken, aber schon eine ge- ringe Spannungserhöhung durch den gleich- zurichtenden Meßstrom genügt, um einen kräftigen Gleichstrom zustande kommen zu lassen. Von Proportionalität zwischen Meßstrom und Gleichstrom ist allerdings in keinem Falle die Rede. Aber die Benutzung der glühelektrischen Ventile zur Messung der Größe des gleichzurichtenden Stromes nach der Ausschlagmethode ist schon deshalb nicht ausführbar, weil die Leitfähigkeit und der Spannungsverlust in den Ventilen viel zu sehr von dem kaum kontrollierbaren Glüh- zustande der Kathode abhängig ist. Lichtbogen ventile. Quecksilber- gl eichlichter. Das dritte Verfahren, die Elektronen in den Gasraum zu überführen, nämlich die Erhitzung der Kathode chnch einen Lichtbogen, ist das wirksamste. Bei der Temperatur des Lichtbogens liefert die Kathode beliebige Mengen von Elektronen bei einem Spannungsverluste, der je nach dem Material der Kathode zwischen 5 und 10 Volt schwankt. Der Lichtbogen selbst er- \ scheint allerdings auf den ersten Blick keiner i Ventilwirkung fähig, weil ja die Anode des Lichtbogens mindestens ebenso heiß wird wie die Kathode und eine aus dem Bogen heraus- gerückte Hilfsanode zwar kalt bleiben, aber auch einen sehr hohen Widerstand zur Folge haben würde. Trotzdem wirkt ein Lichtbogen, der aus einer Metall- und einer Kohleelektrode besteht, als Ventil, sobald er über 4 mm lang ist. Der Grund ist der, daß sich zwar die Metallelektrode auch auf der Lichtbogentem- peratur befindet, solange sie Anode ist, daß sie aber beim Aufhören des anodischen Strom- stoßes diese Temperatur durch Strahlung und Wärmeleitung mit außerordentlicher Geschwindigkeit verliert. Da der Strom im Lichtbogen aufhört, sobald die Spannung unter die Minimalspannung des Lichtbogens (10 bis 40 Volt) sinkt und erst wieder beginnen kann, wenn die Spannung diesen Betrag wieder erreicht hat, so entsteht bei jedem Stromwechsel eine kleine Pause. Und diese genügt, um die Metallanode soweit abzu- kühlen, daß sich kein Lichtbogen wieder bilden kann, wenn das Metall Kathode wird. Eingehende Versuche hierüber haben er- geben, daß der Lichtbogen nach einer Strom- unterbrechung von Vioooo Sekunde sich schon nicht wieder bilden kann, wenn die Kathode ein Metall ist. Die Kohle dagegen behält infolge ihrer sehr geringen Wärmeleitfähigkeit und vielleicht auch infolge lebhafter Verbren- nungsprozesse, die zur Wiederbildung des Lichtbogens erforderliche Temperatur über eine halbe Periode des Wechselstromes, falls deren Dauer nicht eine zwanzigstel Sekunde überschreitet. Außerdem kommt vielleicht noch hinzu, daß die Kohle bei der Abkühlung die Fähigkeit der Elektronenemission nicht so schnell verliert wie die Metalle. Bei einer Lichtbogenlänge von weniger als vier Millimetern wird die Abkühlung der Metall- elektrode durch die Bestrahlung von der nahen Kohleelektrode her soweit verzögert, daß auch in der Sperrichtung noch ein Lichtbogen zustande kommt. Auch bei diesem Ventile verbieten zu- nächst zahlreiche Mängel die technische Ver- wendung. Insbesondere ist der Spannungs- verlust in der Flußrichtung viel zu hoch und der starke Abbrand der Elektroden verlangt, abgesehen von den Kosten des Materiales, dauernde Ueberwachung und Wartung des Apparates. Und doch gelang es dem Ameri- kaner Cooper-Hewitt, ein Lichtbogenventil zu konstruieren, das allen Forderungen der Technik genügt und als einziges aller Ventile in großem Maße zum Gleichrichten ver- wendet wird, und zwar mit Hilfe einer An- ordnung, die das Lichtbogenventil zunächst auf den Kopf zu stellen scheint. Cooper- Hewitt verwandte nämlich als Anode Kohle und als Kathode Metall und zwar Quecksilber. Er gab also einerseits den Vorteil auf, daß die Kathode die Lichtbogentemperatur über eine halbe Periode behält, und mußte anderer- seits Vorkehrungen treffen, die das Erhitzen der Kohleanode auf Lichtbogentemperatur verhinderten. Das erreichte er. indem er die Elektroden in ein Glasgefäß einschloß, aus dem die Fremdgase mit äußerster Sorg- falt entfernt waren, so daß es nur von der Quecksilberkathode her Quecksilberdampf in großer Verdünnung enthielt. Durch diese Elektrische ATentile 311 Anordnung gewann er mehrere sehr wesent- liche Vorteile Zunächst tritt der Strom eines Vakuum- lichtbogens gleichmäßig verteilt in die ganze Anodenoberfläche ein, und erhitzt sie infolge- dessen bei genügend großer Anode nur wenig. Zweitens besitzt ionisierter Quecksilberdampf eine hervorragende Leitfähigkeit, so daß man die Anode ziemlich weit von der Kathode entfernen und sie vor ihrer Strahlung schützen kann, ohne einen wesentlichen Spannungs- verlust in der Gasstrecke zu bekommen. Endlich rinnt das Quecksilber, das infolge der hohen Temperatur der Kathode verdampft Drosselspule ist, nach seiner Kondensation an den Glaswän- schaltet wird Figuren die 6 und 7 enthalten schematisch entstehenden Kurvenformen des Gleichstromes. Da zeigt sich, daß bei Drehstrom die Bedingung, daß der Strom an der Kathode nie unter zwei Ampere sinken darf, bei genügender Stromstärke ohne weiteres erfüllt ist. Ein einmal in Betrieb gesetzter Drehstromgleichrichter ist ohne weiteres selbsttätig. Ein Einphasen- gleichrichter dagegen nicht, da bei ihm der Strom in jeder Periode zweimal auf den Wert Null sinkt. Doch lehrt ein Blick auf Figur 8, daß sich dem leicht abhelfen läßt, wenn eine in den Gleichstromkreis ge- Durch dieses einfache Mittel den einer Kühlkammer von selbst wieder zur Kathode zurück. Die Lebensdauer des Ven- tiles ist also fast unbeschränkt, und es bedarf keinerlei besonderen Wartung. Endlich läßt sich sogar sein einziger Mangel, daß es nicht selbsttätig ist, in vielen Fällen überwinden. An sich erfolgt das Erlöschen des Queck- silbervakuumlichtbogens noch leichter als das eines gewöhnlichen Lichtbogens. Da nämlich die zur Elektronenemission an der Kathode erforderliche Temperatur weit über dem Siedepunkte des Quecksilbers liegt, bewirkt sie eine äußerst turbulente Verdamp- fung. Die Folge davon ist, daß die Stelle, von der der Strom an der Kathode ausgeht, und an der allein die hohe Temperatur herrscht, der sogenannte Kathodenfleck von etwa 1 qram Größe, wild auf dem Quecksilber umhertanzt. Dadurch wird die Abkühlung dieses Fleckes durch Wärmeleitung und die Neigung des Lichtbogens, zu erlöschen, so sehr verstärkt, daß es nicht möglich ist, ihn unterhalb von zwei Ampere aufrecht zu er- halten. Eine kleine Verbesserung läßt sich dadurch erzielen, daß man eine bis nahe an die Oberfläche ragende Platinspitze im Queck- silber anbringt. Dann setzt sich der Lichtbogen an dieser Stelle fest und bleibt bis etwa 1 Ampere bestehen. Doch ist die Lebensdauer der Platin- spitze beschränkt. Um also einen Quecksilber- dampfgleichrichter selbsttätig zu machen, darf man den Strom an der Kathode, das ist den gleichgerichteten Strom, nie unter 2 Ampere sinken lassen. Nun verwendet man zur technischen Gleichrichtung von Wechselströmen aus- schließlich die Transformator- schaltung, indem man bei Ein- phasenstrom zwei, bei Dreh- strom drei Anoden mit ge- meinsamer Kathode zu einem Apparate kombiniert. Die läßt sich also auch der Einphasengleichrichter selbsttätig machen. Die Inbetriebsetzung des Quecksilber- gleichrichters oder die Herstellung der Licht- bogentemperatur an der Kathode erfolgt durch einen Oeffnungsfunken. Neben der Quecksilberkathode wird eine Hilfselektrode aus Quecksilber angeordnet, die mit einer der Anoden durch einen so bemessenen Wider- stand verbunden wird, daß höchstens ein Ampere zustande kommen kann. Durch Kippen des Gleichrichtergefäßes bringt man das Quecksilber der Kathode mit dem der Hilfselektrode in Berührung und unterbricht den entstandenen Strom durch Trennung der beiden Quecksilberkuppen wieder. Der Oeffnungsfunke leitet den Lichtbogen zwischen den Anoden und der Kathode ein. Figur 13 zeigt die jetzt übliche Form des Quecksilbergleichrichters. At A, sind die Anoden, die meist aus Graphitzylindern, ge- legentlich auch aus Eisenglocken bestehen. Das Eisen hat jedoch die unangenehme Eigenschaft, sehr leicht allmählich zu zer- stäuben und die Wände des Glasgefäßes mit einem häßlichen schwarzen Belage zu überziehen. K ist die Kathode, H die Hilfs- elektrode und M eine Kühlkammer zur Ab- Einphasen-Gleichrichter Fig. Drehstrom-Gleichrichter 13. 312 Elektrische Ventile leitimg der Wärme und Kondensation des verdampften Quecksilbers, Der Spannungsverlust im Gleichrichter verteilt sich zu etwa gleichen Teilen von je 5 Volt auf den Kathodenfall, den Anodenfall und den Verlust in der Gasstrecke. Die beiden ersten sind von der Stromstärke fast ganz unabhängig, der letzte nimmt mit steigender Stromstärke wenig ab, so daß der Gleich- richter im ganzen eine etwas fallende Cha- rakteristik besitzt und 15 bis 18 Volt verzehrt, wenn er mäßige Spannungen gleichrichten soll. Zum Gleichrichten von Hochspannung müssen die Seitenarme verlängert werden, so daß dann etwas über 20 Volt verbraucht werden. 0 1 23V567S9 Gleichsfrombelashm/j in. Ampere Fig. 14. Abhängigkeit des mittleren Rück- stromes verschiedener Quecksilbergleichrichter für einphasigen Wechselstrom von der Gleich- strombelastung bei 240 V Wechselspannung zwischen den Anoden. Die strenge Erfüllung der Bedingung des Metall — Gas-Ventiles, daß es kalt sein soll, würde beim Quecksilbergleichrichter zu un- I bequem großen Anoden führen. Man gibt ihnen deshalb im allgemeinen solche Ab- messungen, daß sie bei voller Belastung dunkel rotglühend werden. Auch bei dieser Temperatur ist der in der Sperrrichtung flie- ßende Strom sehr gering. G. Schulze maß seine Größe in Abhängigkeit von der Belastung des Gleichrichters und seineKurven- form, indem er durcheinen synchron mit dem gleichgerichteten Wechselstrom rotierenden Kontakt und einen zweiten als Ventil ge- schalteten Gleichrichter den starken Strom der Flußrichtung vom Meßkreise vollständig fernhielt. DieFiguren 14 und 15 sowie Tabelle! zeigen die wichtigsten Ergebnisse der Mess- ungen. Bei der Beurteilung des Nutzeffektes des Gleichrichters ist dieser Strom in der Sperrichtung vollständig zu vernachlässigen. Dagegen mahnt sein schnelles Ansteigen mit der Belastung zur Vorsicht bei Ueberlastungen, da besonders bei größeren Typen bald der kritische Punkt erreicht wird, wo dieser Strom die Anode selbst merklich erhitzt und dadurch sich selbst immer weiter verstärkt, bis der Gleichrichter in beiden Richtungen Fig. 15. Kurvenform des Rückstromes bei 240 V Wechselspannung zwischen den Anoden und den an- gegebenen Gleichstrom- belastungen. Kurze Type. 2600 '800 1600 2SO 1A200 10 60 HO 100 160 ISO" durchlässig wird, was besonders bei Batterie- ladimg leicht zur Zerstörung des Gleich- richters führt. Der Wirkungsgrad des Gleichrichters er- gibt sich aus dem Spannungsverlust von ! etwa 15 Volt in der Flußrichtung. Er beträgt j also bei einer mittleren Spannung von gleichgerichteten Elektrische Ventile 313 Tabelle I. Dimensionen der in den Figg. 14 und 15 angegebenen Gleichrichtertypen. Bezeichnung Normale Strom- stärke Anoden- material Gesamt- anoden- Oberfläche Länge der Seitenarme von der Achse des Gefäßes bis Mitte der Anode Kurze Type Mittlere Type Lange Type Hochspannungstype Eisentype 5 Amp. io Amp. Graphit- zylinder >) Eisenglocken n qcm )> 48 qcm 5,4 cm 7.8 ,, io,5 „ 20 „ M5 „ 15 Volt 50% 150 „ 90% 1500 „ 99% Eine obere Grenze für die Spannung existiert nicht, wohl aber eine untere für den Strom. Sobald der Strom auf etwa zwei Ampere sinkt, muß derGleichrichter erlöschen. Bei Batterieladung kann man diese Eigen- schaft zum automatischen Unterbrechens des Gleichrichters beim Ende der Ladung be- nutzen. Die Lebensdauer der Gleichrichter type für 10 Ampere Gleichstrom ist sehr groß. In der Reichsanstalt sind Gleichrichter seit über 13000 Stunden im Betriebe. Die Lebens- dauer der größeren Typen ist wesentlich geringer. Die folgenden Figuren 16 und 17 zeigen Kurven, die mit einem Oszillographen an Gleichrichtern der Westinghouse E.-G. für 10 Ampere aufgenommen sind, und bedürfen wohl nach dem Voraufgegangenen keiner weiteren Erläuterung. Der von Bela Schäfer I angegebene II Quecksilbergleichrichter für hohe Strom- stärken scheint sich noch im Versuchs- stadium zu befinden. ir in j Fig. 17. Oszillogramme eines Drehstromqueck- Fig. 16. Oszillogramme eines Einphasenqueck- silbergleichrichters ohne Drosselspule im Gleich- silbergleichnchters mit Drosselspule im Gleich- Stromkreise. e Spannung, i Strom, I eines Stromkreise, e Spannung, i Strom. I eines Zweiges (Ventiles), II des Gleichstromverbrauchs- Zweiges (Ventiles), II des Gleichst™ mver- körpers (Glühlampen), III des Gleichstromver- brauchskörpers (Glühlampen). brauchskörpers (Akkumulatorenbatterie). 314 Elektrische Ventile Für Laboratorien ist die Benutzung des Quecksilbergleichrichters als statisches Ventil und zum Gleichrichten schwacher Ströme wichtig. Da der Gleichrichter in diesem Falle nicht selbsttätig ist, stellt man mit einer Hilfs- batterie von etwa 40 Volt zwischen einer Anode und der Kathode des Gleichrichters einen Gleichstromlichtbogen von etwa 4 Ampere her, wobei außer dem erforderlichen Vorschaltwiderstande vorteilhaft noch eine Drosselspule in den Stromkreis geschaltet wird, um das Erlöschen des Lichtbogens zu erschweren. Den Lichtbogen durch Ver- größerung der Stromstärke stabiler zumachen, empfiehlt sich nicht, da bei größeren Strömen in der Gleichrichtung bisweilen Störungen eintreten. Die anderen Anoden bilden nun zusammen mit der Kathode die Ventile für die schwachen Ströme. Da sie jetzt kalt bleiben, ist, wie auch eine Extrapolation der Figur 14 auf geringe Stromstärken ergibt, der Strom in der Sperrichtung äußerst gering und die Gleichrichtung eine ebenso vollkommene wie beim Wehneltgleichrichter, mit dem der Apparat jetzt eine große Aehnlichkeit hat. Auch sein Spannungsverlust beträgt bei schwachen Strömen 18 bis 20 Volt. Er i hat aber vor dem Wehneltventil mit dem empfindlichen Platinblech den Vorzug unbe- ' dingter Betriebssicherheit. Auch bei der technischen Gleichrichtung | von Hochspannung wird man vielfach den j Hilfslichtbogen nicht entbehren können, da die Ströme bei Hochspannung vielfach nicht den Betrag von zwei Ampere erreichen. 3c) Die Grenze Metall — Elektrolyt. Die Grenze Metall — Elektrolyt gestattet eine außerordentliche Menge von Kombinationen. Ihre Ventilwirkung beruht darauf, daß jedes Anion oder Kation zu seiner dauernden Ab- scheidung an der Anode oder Kathode bei jeder Konzentration einer ganz bestimmten Spannung bedarf. Unterhalb dieser Spannung findet die Abscheidung nur in äußerst ge- ringen mit der Spannung steigenden Mengen statt, so daß nur geringe Stromstöße beim Einschalten der Spannung aber kein wesent- licher Dauerstrom möglich ist. Ein sehr ge- ringer Strom kommt allerdings auch unterhalb der Abscheidungsspannung dadurch zustande, daß die der angewandten Spannung ent- sprechenden abgeschiedenen Spuren durch Diffusion dauernd langsam wieder ver- schwinden. Die Verwendung der Metall-Elektrolyt- ventile wird durch zwei große Mängel sehr eingeschränkt. Erstens erheben sich die Abscheidungsspannungen, bis zu denen Ventil- wirkung möglich ist, kaum über ein Volt. Zweitens stellen sie sich, wie erwähnt, erst her, nachdem eine gewisse Strommenge geflossen ist und Spuren des betreffenden Ions abgeschieden hat. So belanglos diese Strommenge bei der statischen Verwendung der Ventile ist. so verderblich ist sie, wenn das Ventil zum Gleichrichten von Wechsel- strom benutzt werden soll. Bei fünfzig- periodigem Wechselstrom steht dem Strom jedesmal nur x/100 Sekunde zur Ab- scheidung und Wiederauflösung der Spu- ren zur Verfügung. Infolgedessen muß die Intensität des Stromes verhältnismäßig groß werden, damit die erforderliche Elektrizitäts- menge geliefert wird. Es besteht also in beiden Richtungen zunächst Durchlässig- keit. Verfolgt man die Frage rechnerisch, so zeigt sich ganz allgemein, daß bei normalem fünfzigperiodigem Wechselstrome und zu- lässigen Stromdichten überhaupt keine nen- nenswerte Gleichrichtung möglich ist, sobald elektrolytische Ionenreaktionen ins Spiel kommen. Hierbei ist gleiche Größe der beiden Elektroden vorausgesetzt. Bei starker Unsymmetrie der Elektroden ergeben sich andere Erscheinungen, die bei den Detektoren näher behandelt werden sollen, da sie nur bei diesen Anwendung gefunden haben. Trotz ihres geringen Spannungsbereiches hat die Ventilwirkung der Grenze Metall- Elektrolyt bei einer besonderen Schaltung der elektrolytischen Stiazähler eine inter- essante praktische Anwendung gefunden. Die Anode der Stiazähler besteht aus Queck- silber, die Kathode aus einem Platiniridium- blech und der Elektrolyt aus einer wässerigen Lösung von K2HgJ4. Diese Zelle üegt zusammen mit einem Vorschaltwiderstande, der ihren negativen Temperaturkoeffizienten kompensieren soll, an einem Nebenschluß- widerstande, durch den der größte Teil des zu messenden Stromes fließt. Bei einem mäßigen Strome entsteht in der Richtung vorn Quecksilber zum Platiniridium keine elektromotorische Gegenkraft, da an der Anode Quecksilber gelöst und an der Kathode die gleiche Menge Quecksilber abgeschieden wird. In der entgegengesetzten Richtung aber ist Stromdurchgang nur unter Jodab- scheidung an der Platiniridiumanode möglich, wozu eine Spannung von 0,6 Volt erforderlich ist. Bis zu dieser Spannung wirkt die Zelle wie ein recht vollkommenes statisches Ventil. Die Anwendung dieses Ventiles läßt Figur 18 erkennen. Zwei Ventile Yt und V2 sind mit entgegengesetzten Polen an den gemeinsamen Nebenschluß N angeschlossen. Letzterer ist so bemessen, daß der Spannungsverlust an ihm bei voller Belastung unter 0,6 Volt liegt. Infolgedessen kann in der Strom- richtung 1 nur durch die Zelle Vx, in der Stromrichtung 2 nur durch die Zelle V2 Strom fließen. Schaltet man also den Appa- rat in die Zuleitung einer Akkumulatoren- batterie, so zählt Vj nur die Ladestrommenge, Elektrische Ventile 315 V2 nur die Entladestrommenge, ohne daß irgendwelche Umschaltungen vorgenommen zu werden brauchen. Schaltet man jede der beiden Zellen mit einem trägen Relais in Serie, so gestattet die Anordnung als Steuerorgan eine mannig- fache Anwendung. 3d) Die Grenze Gas-Elektrolyt; Elektrolyt-Gleichrichter. Auf der Ven- tilwirkung der Grenze Gas-Elektrolyt dürften nach einer von G. Schulze aufge- stellten Theorie die sogenannten Elektrolyt- Gleichrichter beruhen. So hoch das Span- nungsgefälle ist, das man braucht, um Elek- EnHadung Ladung EnHadung Fig. 18. Schaltung der Batterie-Stiazähler. tronen durch Ionenstoß aus einer kalten Metallelektrode freizumachen, um so viel höher scheint, das Spannungsgefälle zu sein, das erforderlich ist, um Elektronen aus einer kalten Elektrolyt-Elektrode in den Gasraum zu überführen, besonders wenn der Abstand zwischen Anode und Kathode, oder die Dicke des Gasraumes so gering gemacht wird, daß die Elektrisierung durch Ionenstoß nicht mehr stattfinden kann. Trennt man also eine Elektrolyt-Elektrode und eine Metall- Elektrode durch einen sehr schmalen Gasraum, so entsteht ein Ventil, wenn auch kein sehr vollkommenes, weil auch in der Flußrichtung ein verhältnismäßig hoher Spannungsverlust eintritt. Diese An- ordnung, die künstlich herzustellen aus ver- schiedenen Gründen unmöglich ist, bildet sich nun selbsttätig bei der Formierung eines Ventilmetalls, wobei sich folgende Erscheinungen abspielen. Wenn man eine Zelle, die aus einem Ventilmetall als Anode, einem geeigneten Elektrolyten und einer beliebigen unlöslichen Kathode gebildet ist, mit konstantem Gleich- strom belastet, so sieht man zunächst wie bei einer gewöhnlichen Polarisationszelle nur Entwicklung von Sauerstoff an der Anode und von Wasserstoff an der Kathode. Legt man aber einen Spannungsmesser an die Zelle, so zeigt sich, daß die Spannung an ihr nicht wie an der gewöhnlichen Polarisa- tionszelle dauernd etwa 2 bis 3 Volt beträgt, sondern schnell steigt, während der Strom zu sinken sucht. Hat die Stromquelle nur eine mäßige elektromotorische Kraft von vielleicht 100 Volt, so hat man in dem Bestre- ben, den Strom aufrecht zu erhalten, bald den gesamten Vorschaltwiderstand ausge- schaltet, worauf der Strom bald bis auf verschwindend geringe Werte sinkt, wäh- rend an der Zelle die volle Spannung von 100 Volt liegt. Die Zelle ist bis 100 Volt ,. formiert". Hat man die Ventilanode vor der Formierung poliert, so erscheinen an ihr einige Zeit nach Beginn der Formierung schöne Interferenzfarben, die mit Violett beginnend bei genügend hoher Betriebs- spannung etwa dreimal das Spektrum durch- wandern, worauf sie verblassen und die sie verursachende poröse Oxydschicht als äußerst dünner weißlicher harter Ueberzug sichtbar wird. Die Spannung ist inzwischen auf mehrere Hundert Volt gestiegen. Die Ventil- anode ist jetzt von den in Figur 19 sche- matisch angegebenen Schichten bedeckt. Elekhrolyf Fig. 19. d' ist die gesamte entstandene poröse Oxyd- schicht. Sie besteht aus den folgenden Teilen: 1. a, der das Ventilmetall stets bedeckenden lückenlosen Oxydschicht, die dauernd vor- handen sein muß, weil alle Ventilmetalle große Verwandtschaft zum Sauerstoff be- sitzen. 2. ß, der durch den entwickelten Sauer- stoff gebildeten äußerst dünnen durch das Gerüst der porösen Oxydschicht gestützten Gasschicht. 'S. y, dem vom Elektrolyten erfüllten Teile der festen Oxydschicht. Er hat einen wesentlich höheren Widerstand als der Elek- trolyt, aber sein Widerstand kommt gegen den der Gasschicht nicht in Frage. Letzterer ist für eine formierte Zelle in der Richtung vom Metall zum Elektrolyten außerordentlich hoch, solange die Spannung an der Zelle unterhalb der Formierungsspannung liegt. Da die Gasschicht außerdem sehr dünn ist, 316 Elektrische Ventile so besitzt das System Metall-Gasschieht- Elektrolyt eine beträchtliche elektrostatische Kapazität, deren Dielektrikum eben die Gasschicht ist. Durch Messung dieser Kapa- zität würde man die Dicke der Gasschicht finden können, wenn ihre Dielektrizitäts- konstante bekannt wäre. Da das nicht der Fall ist, begnügt man sich mit der Bestim- mung der relativen Dicke der Gasschicht, die man erhält, wenn man die Dielektrizitäts- konstante gleich eins setzt. In derselben Weise kann man die Dicke d' der gesamten porösen Schicht ermitteln, wenn man sie sorgfältig trocknet und dann in die Zelle Quecksilber einfüllt, das in die Poren der Oxydschicht nicht eindringen kann, so daß die gesamte Oxydschicht als Dielektrikum zwischen dem Quecksilber einerseits und dem Ventilmetall andererseits wirkt. Die relative Dicke der festen Oxydschicht ist sehr viel größer als die der Gasschicht und bei gegebener Formierungsspannung je nach der Stromdichte, der Temperatur und der Dauer der Formierung in weiten Grenzen veränderlich. Die relative Dicke der Gas- schicht dagegen ist in wässerigen Lösungen bei jedem Ventilmetalle nur von der Spannung abhängig, bis zu welcher die Formierung durch- geführt worden ist und zwar ist sie dieser Spannung annähernd proportional. Die nachstehende Tabelle II enthält die Kapazität eines Quadratdezimeters sowie Tabelle II. Kapazität und relative Dirke der auf den Ventilmetallen Aluminium und Tantal durch die Formierung gebildeten wirksamen Schicht. Kapazität eines Quadratdezimeters Relative Dicke (s=l) der wirksamen Formierungs- wirksamer Schicht Schicht spannung 1 Aluminium Tantal Aluminium Tantal Volt Mikroforad Milliontel Millimeter 50 i4,5 20,6 6,11 4,3o 100 6,64 10,0 i3,3 8,80 150 4,25 6,50 20,8 13,6 250 2,40 3,i7 36,8 27,9 500 0,81 1.47 109 60,0 die relative Dicke der Gasschicht der beiden wichtigsten Ventilmetalle Aluminium und Tantal bei verschiedenen Formierungsspan- nungen in wässerigen Lösungen. In ge- schmolzenen Salzen und rauchender Schwe- felsäure zeigen sich andere Kapazitäten und Schichtdicken, über die sich noch keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ergeben haben. Eigentümliche Erscheinungen treten auf. wenn man die Spannung an der Zelle immer weiter zu erhöhen sucht Anfänglich steigt die Spannung bei konstantem Formierungs- strome mit konstanter Geschwindigkeit an, während bald die ganze Ventilanode in gleichmäßigem bleichen nur im Dunkeln sichtbaren Lichte zu leuchten beginnt. Plötzlich beginnen bei einer ganz bestimmten, nur von der Art des Elektrolyten abhängigen Spannung, der „Funkenspannung", zahllose feine Funken die Gasschicht zu durchschlagen, während die Spannung mit verminderter Geschwindigkeit weiter steigt, bis bei einer zweiten ebenfalls scharf definierten Span- nung, der ,. Maximalspannung", die Funken ein anderes Aussehen bekommen und das Steigen der Spannung fast vollständig auf- hört. Deshalb ist die Maximalspannung wichtig, denn bei ihrer Ueberschreitung wird die Ventil zelle auf alle Fälle durchlässig. Die Maximalspannung ist nur von der Konzentration des freien Anions des Elek- trolyten und nicht von seiner Gesamtkon- zentration abhängig und zwar steigt die Maximalspannung mit der Verdünnung im allgemeinen in der in Figur 20 angegebenen Weise. Um die Maximalspannungen verschie- dener Anionen miteinander vergleichen zu können, nimmt man die zu der Konzentration 0.05 normal (in bezug auf das Anion) gehörige Maximalspannung als spezifische Maximal- spannung an. Diese Hegt bei allen Anionen, die kein Metall enthalten, zwischen 440 und 500 Volt, während bei metallhaltigen Anionen die spezifische Maximalspannung im großen und ganzen um so niedriger liegt, je edler das Metall im Anion ist. Die niedrigste spezifische Maximalspannung ist die des Anions PtClR im Betrage von 27 Volt. Von der Temperatur ist die Maximalspannung unabhängig. Alle diese Erscheinungen sind jedoch nur dann störungsfrei ausgeprägt, wenn das Ventilmetall im Elektiolyten praktisch voll- ständig unlöslich ist (vollständige Ventil- wirkung). Je größer andererseits die Löslich- keit eines Ventilmetalles in einem Elektroly- ten ist, um so niedriger liegt unter sonst gleichen Umständen die Maximalspannung, um so größer bleibt der Reststrom, der nach Elektrische Ventile 317 vollendeter Formierung noch durch die Zehe fließt, und desto eher verschwindet die jj Gasschicht nach dem Ausschalten des Stromes wieder (unvollständige Ventilwir- kung). Da die Löslichkeit fast stets mit der Temperatur schnell zunimmt, so sind auch alle Ventilmetalle, die merkliche Löslichkeit V> Fig. 20. Zusammenhang zwischen Ionenkonzentration und Maximalspannung der elek- trolytischen Ventilanoden. Die Maximalspannung bei der Ionenkonzentration 10 U,W 1SL glClLll J. geSCLÄL. 0.Ö 02 0.V 0.6 0.3 1.8 normal besitzen, gegen Temperatursteigerung sehr empfindlich. Bisher ist nur die Richtung Ventilmetall- Elektrolyt, die Sperrichtung, behandelt wor- den. In der entgegengesetzten Richtung, der Flußrichtung, in der das Metall Kathode ist, besteht ein sehr viel geringerer Span- nungsverlust, weil eben das Metall freie Elektronen viel leichter abgibt als der Elek- trolyt. Nach dem Verhalten gegenüber der Flußrichtung lassen sich die Ventilmetalle scharf in zwei Gruppen trennen. Bei der ersten Gruppe werden die auf dem Ventilmetalle durch die Formierung gebildeten Schichten vom Strom der Fluß- richtung nicht verändert. Höchstens nimmt bei längerer Dauer der Flußrichtung die Dicke der Gasschicht etwas ab. Infolgedessen ist bei Wiederherstellung der Sperrichtung die Gasschicht von vornherein vorhanden und undurchlässig: Die Ventile der ersten Gruppe richten Wechselstrom bis zu den höchsten Frequenzen gleich. Bei der zweiten Gruppe dagegen wird in der Flußrichtung die durch die Formierung entstandene Oxydschicht zu Metall reduziert und dadurch die ganze Formierung wieder vernichtet. Die Ventile dieser zweiten Gruppe ver- mögen infolgedessen Wechselstrom nicht gleichzurichten, da sich die Neuformierung nicht innerhalb einer Periode vollziehen kann. Das sind in großen Zügen die Erscheinun- gen an den sogenannten Elektrolyt-Ven- tilen, die auf der Ventilwirkung der Grenze Gas — Elektrolyt beruhen. Im einzelnen er- gibt die Kombination der verschiedenen Ven- tilmetalle mit allen möglichen Elektrolyten eine unübersehbare Mannigfaltigkeit, aus der hier nur das Wichtigste herausgegriffen werden kann. Wenn man berücksichtigt, daß als hin- reichende Bedingung für diese Art von Ventilwirkung nur die anodische Bildung einer nichtleitenden, porösen, unlöslichen Schicht (es braucht durchaus keine Oxyd- schicht zu sein) unter gleichzeitiger Gas- entwicklung in den Poren der Schicht nötig ist und daß es nur vom Lösungsmittel ab- hängt, ob eine Metallverbindung unlöslich oder löslich ist, so leuchtet ein, daß sich für fast jedes Metall ein Lösungsmittel und ein Elektrolyt finden lassen wird, in denen es Ventilwirkung zeigt. Auch die Zugehörig- keit zu einer der beiden erwähnten Gruppen kann sich für ein Metall von einem Lösungs- mittel zum anderen ändern. Bisher wurden folgende Ventilwirkungen festgestellt: Tantal und Niob: vollständige dyna- mische Ventilwirkung in den wässerigen Lösungen aller Elektrolyte, in absoluter Schwefelsäure und in geschmolzenen Salzen mit Ausnahme der Halogene. Aluminium: vollständige dynamische Ventilwirkung in den wässerigen Lösungen der komplexen Cyansalze von Zink, Nickel, Eisen, Kobalt, ferner der Arseniate, Wolfra- mate, Molybdate sowie in rauchender Schwe- felsäure. Nahezu vollständige in den wässe- rigen Lösungen der Borate, Citrate und sauren Karbonate, sowie in den geschmol- zenen Salzen mit Ausnahme der Halogene. Unvollständige in den wässerigen Lösungen der Phosphate, Acetate und Sulfate. Keine Ventilwirkung in den wässerigen Lösungen der Halogene, der Nitrate und der Basen (Hydroxyde). Deshalb müssen diese Stoffe sorgfältig ferngehalten werden, wenn man die Ventilwirkung des Aluminiums störungsfrei haben will. Magnesium: unvollständige dyna- mische Ventilwirkung in konzentrierten Lö- sungen vonNa2C03, K2C03,Na2HP04+NH3, sowie in rauchender Schwefelsäure. 318 Elektrische Ventile Ventilwirkung unvollständige gel bürgern Wismut und Antimon: unvollständige statische Ventilwirkung (zweite Gruppe!) in den wässerigen Lösungen der meisten Elektrolyte mit Ausnahme der Nitrate, unvollständige dynamische in rauchender Schwefelsäure. Zink und Cadmium: statische Ventilwirkung in konzentrierteren Lösungen von K2C03, dynamische in rauchen- der Schwefelsäure. In der rauchenden Schwefelsäure zeigen außerdem unvollständige dynamische Ventil- wirkung die Metalle : Eisen, Nickel, Kobalt, Kupfer, Zinn (Blei). Damit ist also bereits bei 14 der häufigeren Metalle die elektrolytische Ventilwirkung fest- gestellt. Für die praktische Verwendung als Gleich- richter kommen nur A 1 u m i n i u m und allenfalls Tantal in Frage. Aber auch diese besitzen als Gleichrichter so zahlreiche Män- daß sie sich technisch nicht einzu- vermocht haben. Nur im Labora- torium, wenn es sich darum handelt, ge legentlieh ohne Rücksicht auf guten Nutz- effekt aus einer Wechselstromquelle Gleich- strom zu entnehmen, werden sie benutzt, weil sie billig und schnell zusammengestellt sind. Die Formierung läßt sich ebensogut mit Wechselstrom wie mit Gleichstrom aus- führen. Unter den Mängeln der Elektrolyt- Gleichrichter ist zunächst ihr geringer Nutz- effekt zu erwähnen. Er liegt darin begründet, daß auch in der Flußrichtung ein beträcht- licher Spannungsverlust vorhanden ist, der teils in der Gasschicht, teils in der vom Elek- trolyten erfüllten Oxydschicht stattfindet. Da die Oxydschicht während des Betriebes dauernd dicker wird, so steigt dieser zweite Teil des Verlustes dauernd an. Die folgenden Figuren 21 und 22, die an einem einzelnen Aluminium- und einem Tantalventile aufge- nommen worden sind, lassen den beträcht- lichen Spannungsverlust in der Flußrichtung gut erkennen. Der in der Sperrichtung sicht- baie, um eine Viertelwellenlänge gegen die Spannungskurve verschobene Strom beruht nicht auf mangelhafter Absperrung, sondern ist der Lade- und Entladestrom der in dieser Richtung wirksamen großen Kapazität der Gasschicht. Die starken Schwankungen oder Oberschwingungen dieses Stromes sind in der benutzten Wechselstromquelle vor- handen. Sie treten bei dem Kapazitätsstrome so stark hervor, weil Kapazitäten die Eigen- schaft haben, Oberschwingungen zu ver- stärken. Ein weiterer Mangel der Elektiolyt- Gleichrichter ist die im Betriebe auftretende, dem gleichgerichteten Strome proportionale Knallgasentwickelung, die einen beträcht- lichen Verbrauch an Wasser zur Folge hat, so daß die Ventile häufig nachgefüllt werden müssen. Schlechthin unmöglich aber wird die tech- nische Verwendung der elektrolytischen Ven- tile zum Gleichrichten durch den Umstand, daß sie stets nach kurzer Zeit unbrauchbar werden. Die zunehmenden Verluste bewirken eine zunehmende auf die Oxydschicht kon- zentrierte Erhitzung, die auf die Dauer stets die Oxydschicht löst und zerstört. Da die Zerstörung eine Verminderung des Wider- standes zur Folge hat, so konzentriert II Fig. 21. Ventilwirkung von Aluminium in wässeriger Lösung von Ammoniumborat. I Wechselspannung 90 Volt effektiv, II Wech- selspannung 300 Volt effektiv. Ventil infolge von Ueberschreitung der Maximalspannung in der Sperrichtung teilweise durchlässig. Fig. 22. Ventilwirkung von Tantal in wässe- riger Lösung von K2C03. Wechselspannung 80 Volt effektiv. Elektrische Ventile 319 sie sich bald auf einen Punkt, an dem dann schorfartige Anfressungen entstehen, die schließlich die Ventilwirkung vollständig vernichten. Peinlichste Reinheit aller be- nutzten Stoffe, insbesondere Verwendung absolut halogen- und nitratfreier Elektrolyte sowie möglichst energische Kühlung des Ventilmetalles vermögen die Zei Störung zu verzögern. Die Stromdichte in der Fluß- richtung seil 1 bis 2 Ampere pro Quadrat- dezimeter nicht überschreiten. Die Span- nungsgrenze liegt zwischen 100 und 200 Volt Wechselspannung. Zum Gleichrichten höherer Spannungen sind stark verdünnte und infolgedessen schlechtleitende Elektro- lyte erforderlich, in denen die Spannungs- verluste zu groß werden. Die geeignetsten Elektrolyte für Aluminium sind neutrale oder schwach saure Boratlösungen oder Zitronensäure. Auch saure Karbonate werden gelegentlich benutzt. Für Tantal sind die meisten Sauerstoffsalze brauchbar, Halogene aber auch durchaus zu vermeiden. Viel haltbarer und weniger gefährdet sind die elektrolytischen Ventile bei statischer Verwendung. Beispielsweise werden sie im Eisenbahnbetriebe benutzt, um zu verhindern, daß die von einer Lokomotivdynamo geladene Beleuchtungsbatterie sich rückwärts durch die Dynamo entlädt, wenn die Lokomotive nicht in Fahrt ist. 4. Ventile, deren Wirkungsweise noch nicht sicher erklärt ist. Detektoren. Damit sind die auf den verschiedenen Grenzen beruhenden Ventile erschöpft und es bleibt noch die Besprechung der Ventile übrig, bei denen die Ursachen ihrer Ventilwirkung noch unbekannt oder strittig sind. Es sind das im wesentlichen die Detektoren der Funkentelegraphie. Bei vielen von ihnen ist es zweifelhaft, ob sie überhaupt noch zu den Ventilen oder nicht vielmehr zu den relais- artigen Auslöse Vorrichtungen zu rechnen sind, die durch Hochfrequenzströme in einen Zu- stand versetzt werden, in dem sie für den von einer Batterie gelieferten Gleichstrom leichter durchlässig sind als zuvor. Für diese Detektoren wurde von Brandes eine rein formale, übrigens auf alle Ventile anwendbare Theorie aufgestellt. Brandes weist zunächst darauf hin, daß alle diese Gleichrichter-Detektoren dadurch charakteri- siert sind, daß sie sehr ungleich große Elek- troden besitzen, wie z. B. eine Spitze, die auf einer Platte ruht. Gibt man ihnen sym- metrische Elektroden, so zeigen sie keine Ventilwirkung. Wenn die Art der elektrischen Strömung in den beiden Elektroden verschieden ist, oder die positiven Ionen in ihnen eine andere Beweglichkeit haben als die negativen, so bewirkt die Unsymmetrie der Elektroden, daß die mit Gleichstrom aufgenommene Be- ziehung zwischen Strom und Spannung des Ventiles für die beiden entgegengesetzten Stromrichtungen nicht gleich ist. Vielmehr erhält man schematisch die umstehende Figur 23. Aus dieser Figur läßt sich nun folgendes direkt ersehen: 1. Belastet man das Ventil mit einer reinen Wechselspannung, die zwischen + ex und — ex verläuft, so ist der zu + ex gehörige Strom -f- G größer als der zu — ex gehörige Strom — il5 das heißt, es entsteht ein Gleich- strom im positiven Sinne. 2. Belastet mau das Ventil mit kon- stantem Gleichstrom iga und lagert über diesen die Wechselspannung ^ ex, so sind die durch diese Wechselspannung bedingten Stromänderungen ± G einander gleich. Eine Veränderung des Gleichstromes igj oder eine Ventilwirkung auf den Wechselstrom findet nicht statt. 3. Belastet man das Ventil mit dem größeren Gleichstrom ig2 und der überge- lagerten Wechselspannung ± ex, so ist der von ihr bedingte Strom ■ — G größer als der Strom -J- i1# Es resultiert also eine Schwächung des Stromes ig2 oder es findet eine Gleichrichtung des Wechselstromes im negativen Sinne statt. Das heißt durch zunehmende Belastung des Ventiles mit Gleichstrom läßt sich die ursprüngliche Ventilwirkung schwächen, ver- nichten und in ihr Gegenteil umkehren. Die Gleichrichterwirkung wird um so kräftiger, je stärker die Krümmung der Charakteristik an der dem eingestellten Gleichstrom ent- sprechenden Stelle ist. Das leuchtet ein. Hat man die größtmögliche Krümmung wie in Figur 24, so hat man eben das ideale verlustlose Ventil mit dem Widerstände unendlich in der Spenichtung und dem Wider- stände Null in der Flußrichtung. Das aus der Charakteristik abgeleitete Verhalten zeigen nun in der Tat die Kristall- detektoren, die man erhält, wenn man eine Spitze irgendeines Metalls auf einem Kristall eines geeigneten Minerals oder umgekehrt unter mäßigen Diuck aufliegen läßt. Die richtige Einstellung des Auflage druckes ist dabei sehr wichtig. Bei Erhöhung des Druckes über eine bestimmte Grenze verschwindet die Ventilwirkung vollständig. Besonders gut sollen folgende Kombina- tionen sein: 1. Tellur-Silicium; 2. Stahl- Silicium; 3. Stahl-Kohle; 4. Tellur-Alumi- nium; 5. Metall-Carborundum; 6. Zinkit- Chalkopyrit. Die folgende von Leimbach ermittelte Tabelle III möge zur Kennzeichnung des Verhaltens dieser Detektoren dienen. Sie bezieht sich auf die Kombination Tellur-Silicium. 320 Elektrische Ventile Tabelle III. Durch die Hoch- Hilfs- Gleichstrom frequenzschwin- spannung ig gungen ausgelös- ter Gleichstrom Volt Amp. Amp. o 0 — 80. 10-8 0,082 I. IO— 8 7S „ 0,615 5,8. „ 39 „ 0,820 10,5. „ + 2 „ 1,050 17,°- „ + 135 „ 2,10 84,°- ,, + 5040 „ 2,94 864,0. „ + 18240 „ Die Tabelle zeigt deutlich die Umkehrung des Sinnes der Gleichrichtung bei zuneh- mendem Hilfsstrome. Ferner zeigt sie, daß es sich hier um sehr geringe Ströme handelt. Deshalb ist bisher noch keine tech- nische Anwendung dieser Detektoren zum Gleichrichten größerer Ströme versucht wor- den. Auch würde ihr Wirkungsgrad dafür kaum genügen. Außer den Kristalldetektoren sind hier noch die Elektrolytdetektoren zu erwähnen, deren wichtigster die Schlömilchzelle ist. W. Schlö milch, nach dem die Zelle genannt ist, fand folgendes: Wenn man eine gewöhn- liche Polarisationszelle mit Elektroden aus Platin oder Gold in verdünnter Säure an eine Stromquelle anschließt, deren elektromoto- rische Kraft um einen geringen Betrag höher ist als die Gegenkraft der Zelle, so daß durch die Zelle ein dauernder Zersetzungsstrom Spannung 5 Irom Fig. 23. Flussnchl'ung Sperrrichhung Ficr. 24. Elektrische Ventile — Elektrischer Widerstand 321 fließt und sich eine zarte Gasentwicklung an den Elektroden einstellt, so zeigt ein in den Stromkreis eingeschalteter Stromanzeiger eine Verstärkung des Gleichstromes an, sobald die Zelle mit elektrischen Wellen bestrahlt wird. Die Ergebnisse werden sehr günstig, wenn die Anode eine mikroskopisch kleine Ober- fläche erhält, z. B. einen Durchmesser von 0,001 mm und eine Länge von 0,01 mm. Macht man die Anode zur Kathode, so ver- schwindet die Wirkung vollständig. Die Maximalempfindlichkeit ist nur bei einer ganz bestimmten Stärke der Gasentwicklung vorhanden. Jede Zelle hat deshalb eine kritische Hilfsspannung, auf die sie einge- stellt werden muß. Offenbar handelt es sich bei der Schlö- milchzelle nicht um eine eigentliche Gleich- richtung, sondern um einen Auslösevorgang, denn es kommt gar nicht zur Umkehrung der Stromrichtung und zur Ausnutzung der durch die verschiedenen Elektroden- größen bedingten Unipolarität. Von den Erklärungen der Wirkungsweise der Schlö- milchzelle scheint die von Nernst ange- gebene als die wahrscheinlichste. Die Uni- polarität wird nach Nernst dadurch ver- ursacht, daß die Umgebung der kleinen Anode sehr schnell an Sauerstoffionen ver- armt. Die Spannung muß in die Höhe gehen, bis OH- Ionen entladen werden, ja auch diese werden verarmen und vollständige Gasent- wickelung kann erst eintreten, wenn das Potential so hoch geworden ist, daß SO,- Ionen entladen werden. Die Verstärkung des Gleichstromes der Schlömilchzelle durch elektrische Wellen erklärt Nernst durch die Annahme, daß die durch die Polarisation an der kleinen Anode gebildeten, aus Gas bestehenden Uebergangsschichten von den elektrischen Wellen durchschlagen werden. Nach dem Durchschlagen wird der frühere Zustand in einer Zeit wiederhergestellt, die gegenüber dem Zwischenräume zwischen zwei Wellen- zügen kurz ist. Literatur« Zusammenfassende Arbeiten existieren nicht. Einige wichtigere Arbeiten, über Einzel- gebiete : J. Elster und H. Geitel, Weitere Untersuchungen an photoelektrischen Zellen mit gefärbten Kaliumkathoden. Phys. Zeitschr. S.609. 1911. — A. Wehnelt, Ein elektrisches Ventil- rohr. Ann. Phys. 19, S. 138. 1905. — J. A. Fleming, On the conversion of electric Oscilla- tions into continous currents by means of a Vacuum Valve. Proc. Roy. Soc. 74, S. 476. 1905. — H. Starke, lieber die un ipolare Leitung in Gasen. Verhandl. d. Deutsch, phys. Ges. 8. 377. 1903. — G. Schulze, Versuche an Quecksilbergleichrichtern. Elektrot. Zeitschr. 8. 295. 1909. — Derselbe, Betrag und Kurven- form des Rückstromes im Quecksilbergleichrichter. Elektrot. Zeitschr. S. 28. 1910. — Bela B. Schäfer, Ein neuer Quecksilber dampf gleich- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. richter für große Leistungen. Elektrot. Zeitschr. S. 2. 1911. — G. Schulze, lieber die elektrolytische Gleichrichtung von Wechselstrom. Zeitschr. f. Elektrochem. 25, S. 333. 1908. — Verselbe, Der Einfluß der Elektrolyte auf die ilaximalspannung der elektrolytischen Ventil- wirkung. Ann. Phys. 4, 34, S. 657. 1911. — H. Brandes, Ueber Abiveichungen vom ohmschen Gesetz, Gleichrichterwirkung und Wellenanzeiger der drahtlosen Telegraphie. Elektrot. Zeitschr. 8. 1015. 1906. — G. Leimbach, Leitvermögen von Kontaktdetektoren und ihre Gleichrichter- wirkung. Phys. Zeitschr. S. 229. 1911. — W. Schlömilch, Ein neuer Wellendetektor für draht- lose Telegraphie. Elektrot. Zeitschr. S. 959. 1903. G. Schulze. Elektrischer Widerstand. I. Widerstand als Abstraktum (= Resistanz). i. Definition und Einheit. 2. Abhängigkeit von Material, physikalischem Zustand und Form des Leiters, a) Abhängigkeit vom Material. 1. Metalle. 2. Elektrolyte. 3. Dielektrika. 4. Lei- tende Gase, b) Abhängigkeit von der Temperatur. c) Abhängigkeit vom Strom, d) Abhängigkeit von der Magnetisierung. e) Abhängigkeit von der Belichtung, f) Abhängigkeit von der Form. 3. Meßmethoden, a) Beschreibung der einzelnen Methoden. 1. Strom- und Spannungs- messung. 2. Strom- und Leistungsmessung. 3. Substitutionsmethode. 4. Wheatstone- Kirchhoffsche Brücke. 4a. Thomsonsche Doppelbrücke. 5. Differentialgalvanometer. 6. Siemens sehe Methode. 7. Direkt zeigende Widerstandsmesser. 8. Elektrolytische Wider- stände. 9. Absolute Methoden, b) Anwendungs- gebiet und Leistungsfähigkeit der gebräuchlichen Meßmethoden. 4. Anwendungen, a) Schwächung und Regulierung des Stromes oder der Spannung. 1. Durch Vorschaltwiderstand. 2. Durch Ab- zweigung, b) Energieverlust und Spannungs- abfall. 1. Bei der Erzeugung der Energie. 2. Bei der Fortleitung der Energie. 3. Bei den Um- setzungen der Energie, c) Erzeugung von Wärme durch den elektrischen Strom. 1. Zum Heizen. 2. Bei den Glühlampen. 3. Bei Messungen, a) Zu thermischen Messungen, ß) Zur Strommessung. cccc) Hitzdrahtinstrumente, ßß) Luftthermometer. yy) Thermoelemente und Thermogalvanometer. SS) Barretter. ss) Relais und Sicherungen. d) Messung und Nachweis anderweitiger phy- sikalischer Vorgänge durch Messung der durch sie bewirkten Widerstandsänderung. 1. Wider- standsthermometer. 2. Bolometer und Barretter. 3. Selenzellen. 4. Wismutspirale. 5. Mikrophon. IL Widerstand als Konkretem (= Rheostat). 1. Meßwiderstände, a) Anforderungen, b) Material, c) Ausführungsformen. 1. Widerstandskürper. a) Präzisionswiderstände, ß) Induktions- und Kapazitätsfreie Widerstände. 2. Zuleitungen und Schaltvorrichtungen, a) Einzelwiderstände. ß) Widerstandssätze, d) Belastbarkeit. 2. Re- gulier- und Belastungswiderstände (Ballast- widerstände), a) Anforderungen, b) Material, c) Belastbarkeit, d) Ausführungsformen. 1. Einzel- 21 322 Elektrischer Widerstand widerstände. 2. Regulierbare Widerstände. cc) Kur bei widerstände, ß) Schieberwiderstände, y) Flüssigkeitswiderstände. 3. Heizwiderstände. Der Ausdruck „elektrischer Widerstand" wird in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht: einmal als Abstraktum; man bezeichnet dann damit eine Eigenschaft eines Leiters: dann auch als Konkretum, als Bezeichnung des mit dieser Eigenschaft behafteten Leiters selbst. Zur Unterschei- dung dieser beiden Bedeutungen spricht man im ersten Falle wohl auch von „Resi- stanz", im zweiten von einem „Rheo- staten". I. Widerstand als Abstraktum (= Resistanz). 1. Definition und Einheit. Fließt durch einen irgendwie gestalteten Leiter ein elektrischer Strom J, so tritt zwischen der Einführungs- und der Ausführungsstelle des Stromes (den Klemmen des Leiters) eine Potentialdifferenz E auf. Die Erfahrung hat gezeigt, daß bei gleichen äußeren Um- ständen, insbesondere bei gleicher Tem- peratur des Leiters, diese Potentialdifferenz E proportional dem Strome J ist: E=J.W (1) (Ohmsches Gesetz, vgl. den Artikel „Elek- trizitätsleitung"). Der Proportionalitätsfaktor W heißt der elektrische Widerstand des Leiters. Die Bezeichnung „Widerstand" stammt ebenso wie der Ausdruck „Strom" aus der hydro- dynamischen Analogie: Fließt durch ein enges Rohr pro sec die Flüssigkeitsmenge J, so beobachtet man zwischen Eintritts- und Austrittsstelle eine Druckdifferenz E, die proportional J ist: E=JW (la) Der Proportionalitätsfaktor W gibt1 hier ein Maß für den Widerstand, den die Rei- bung im Rohre der Flüssigkeitsbewegung entgegensetzt. Nach dieser Definition ist also der elek- trische Widerstand eines Leiters gleich dem Quotienten aus seiner Klemmenspannung E dividiert durch den ihn durchfließenden Strom J. Im Einklänge hiermit stehen folgende Definitionen: Ein einen Leiter durchfließender Strom erzeugt in ihm in der Zeiteinheit eine Wärme- menge, die proportional dem Quadrate des Stromes ist: Q = J2W (2) (Joulesches Gesetz) oder mit Rücksicht auf (1): Q = E2/W (3) Die Proportionalitätsfaktoren W sind wieder gleich dem elektrischen Widerstände des Leiters, falls die Wärmemenge im Energie- maß (erg) gemessen wird. Daß diese beiden Definitionen (2) und (3) im Einklänge sind mit (1), folgt aus dem Energieprinzip, denn die erzeugte Wärmemenge muß gleich der in der Zeiteinheit geleisteten elektrischen Arbeit sein: Q = E.J1) Die Einheit des elektrischen Widerstandes ergibt sich demnach aus den Einheiten für Strom und Spannung: die Einheit des Widerstandes besitzt ein Leiter, in dem der Strom 1 die Potentialdifferenz 1 erzeugt. Die Dimension des elektrischen Wider- standes ist also [E]. [W] [J]' oder im elektromagnetischen Maßsystem: P]![m]^[t]-2 [11. LvvJm — , , — r.-i, im elektrostatischen Maßsystem: ro-HJEste-|3 Praktisch kommt nur das elektroma- gnetische Maßsystem in Betracht, die ab- solute elektromagnetische Einheit ist 1 cm/Sec (Dimension der Geschwindigkeit)2); die praktische Einheit ist das 109 fache hiervon und heißt ein Ohm (Sl oder gf): (4) (5) 1&=109C.G.S. 109 cm sec 1 C.G.S. = 10-9& 106 Sl = 1 Megohm. Die elektrostatische Einheit des e. W. hat die Dimension einer reziproken Geschwindigkeit; das Verhältnis beider Einheiten ist gleich dem Quadrate der Lichtgeschwindigkeit c: 1 elektrostat. Einheit = C 9.102 cm' 1 elektromagn. Einheit also : 1 elektrostat. Einheit = 9.1020.10-9 fl 1 C.G.S.st. = g.lO11^ Iß = 9 10-11 C.G.S.st. Die gesetzliche Einheit des Wider- x) Von diesen Definitionen ist die universellste die zweite; denn während die Gesetze (1) und (3) im allgemeinen nur bei konstantem Strom gelten, bleibt (2) auch bei beliebig schnell ver- änderlichen Strömen gültig. 2) Der Widerstand läßt sich auch als Geschwin- digkeit darstellen, z. B. ist er gleich der Geschwin- digkeit, mit der ein Leiter von 1 cm Länge im Magnetfelde 1 bewegt werden muß, damit in ihm der Strom 1 entsteht. Elektrischer Widerstand 323 Standes (vgl. den Artikel „Elektrische Maßnormale") ist ebenfalls das Ohm; sie ist aber wegen der Schwierigkeit der Mes- sung nicht nach dem absoluten Maßsystem definiert, sondern als Widerstand eines leicht reproduzierbaren Leiters: Das gesetzliche ,. internationale Ohm" ist gleich dem Widerstände einer Queck- silbersäule von 1063 mm Länge und 1 mm2 Querschnitt bei 0° C. Diese Säule wiegt 14,4521 g. Diese Einheit ist gewählt auf Grund der absoluten Messungen von Kohl- rausch, Dorn, Rowland, Rayleigh u. a. ; sie stimmt innerhalb der Genauigkeit dieser Messungen (0,03%) mit der absoluten C.G.S.-Einheit überein. Andere (veraltete) Widerstandseinheiten: Sieinenseinheit (S.E.): Widerstand einer Quecksilbersäule von 1 mm2 Querschnitt und 1000 mm Länge : lß = 1,063 S.E. 1 S.E. = 0,9407 Sl British Association Unit. (B.A.U.):^ 1 B.A.U. = 0,9866 &' lß = 1,013 B.A.U. Legales Ohm (Sl leg.): Widerstand einer Quecksilbersäule von 1060 mm Länge und 1 mm2 Querschnitt bei 0°: Iß leg. = 0,9972 Sl 1SI = 1,0028 Sl leg. Der reziproke Wert des Widerstandes heißt die „Leitfähigkeit" des Leiters; die praktische Einheit der Leitfähigkeit ist das reziproke Ohm (Sl— x oder auch „Mho" geschrieben). 2. Abhängigkeit des Widerstandes von Material, physikalischem Zustand und Form des Leiters. Bei linearen Leitern, d. h. Drähten konstanten Querschnittes, deren Länge 1 groß gegen den Querschnitt q ist, hat die Erfahrung gezeigt, daß der Widerstand W proportional 1 und umge- kehrt proportional q ist: W=q.a (6) Der Proportionalitätsfaktor o heißt spezi- fischer Widerstand; er ist nur von Material und physikalischem Zustande des Leiters abhängig. Er ist nach Gl. (6) de- finiert als der Widerstand eines Leiters von der Länge 1 und dem Querschnitt 1, d. h. eines Würfels von 1 cm Seitenlänge, in dem der Strom parallel einer Kante fließt. Er hat die Dimension: [o];=[w].[i] = P'l. F (?) seine Wert das ,. Einheit ist das |^cm. Der reziproke des spezifischen Widerstandes heißt (x) der betr. Substanz: 1 x = — o Leitvermögen'' 2a) Abhängigkeit des spezifischen Widerstandes vom Material. 1. Metalle. Bei Metallen hat mit wenigen Ausnahmen (Bi, Sb, Hg) o die Größenordnung IG-6 bis 10-6 Sl cm. Man gibt deshalb bei Metallen ge- wöhnlich den 10-4 fachen Betrag von o, d. h. den Widerstand eines Drahtes von 1 m Länge und 1 mm2 Querschnitt an, vgl. Tabelle I. Zusätze, auch schon geringe Ver- unreinigungen, vergrößern o beträchtlich. Außerdem ändert sich o mit der Struktur | des Metalls, vor allem mit der Härte: Häm- mern, Ziehen, Walzen, Aufwickeln, was die Härte vergrößert, vergrößert im all- gemeinen auch den Widerstand, während Ausglühen den Widerstand verringert. Bei Legierungen ist o vielfach größer als bei jeder der Komponenten. Aehnlich wie metallische Leiter verhält sich Gasretorten- kohle, nur ist hier o etwa 1000 mal größer. 2. Elektrolyte (Leiter II. Klasse). Bei elektrolytischen Leitern, d. h. solchen Leitern, die durch den Strom zersetzt werden (haupt- sächlich wässerige Lösungen), wird ge- wöhnlich das Leitvermögen x angegeben. Bei stark verdünnten wässerigen Lösungen (im allgemeinen unter x/100 normal) ist das Leitvermögen proportional der Konzentra- tion; bezogen auf gleichen Aequivalentgehalt hat es für alle Lösungen annähernd den gleichen Betrag, es ist nämlich ungefähr x = 0,1 Sl-1 cm -1 für 1/1 normale Lösungen. Bei größerer Konzentration wächst ^langsamer als die Konzentration und erreicht bei manchen Elektrolyten ein Maximum (z. B. Schwefel- säure, Zinksulfat). 3. Dielektrika. Als Dielektrika oder Isolatoren bezeichnet man im allgemeinen Stoffe, für die o > 1012 Sl cm = 106 Megohm. cm ist; hierher gehören Bernstein, Hartgummi (Ebonit), Glas, Glimmer, Holzkohle, Paraf- fin, Siegellack, Guttapercha, Oel. Jedoch ist der Begriff „Isolator" kein feststehender: z. B. pflegt man in der Technik auch Stoffe mit einem spezifischen Widerstand ö>106ßcm (trockenes Holz, Schiefer, Marmor, Vulkan- fibre) als Isolatoren zu bezeichnen. Stoffe, deren spezifischer Widerstand zwischen dem der Leiter und der Isolatoren liegt, nennt man Halbleiter (Holz, Papier, Stroh, reines Wasser, Alkohol). 4. Gasstrecken. Endlich spricht man von Widerstand auch bei solchen Leitern, bei denen das Ohmsche Gesetz nicht gilt, nämlich bei leitenden Gasstrecken (Lichtbogen, Funken, Geißlerröhren). Hier hat der Begriff Wider- stand rein formale Bedeutung. Er ist ent- weder nach Gl. (1) definiert als Quotient von Spannung und Stromstärke, oder auch 21* 324 Elektrischer Widerstand als Quotient von Spannungsänderung und zugehöriger Stromänderung: („Widerstand gegen Aenderungen"). Letz- tere Definition ist namentlich in der Theorie der ungedämpften elektrischen Schwingungen von Nutzen; der so definierte Widerstand kann auch (bei Leitern mit „fallender Cha- rakteristik") negative Beträge annehmen. 2b) Abhängigkeit des spezifischen Widerstandes von der Temperatur. Die Abhängigkeit des spezifischen Wider- standes von der Temperatur wird bei klei- neren Temperaturintervallen (bis ca. 100°) hinreichend genau dargestellt durch die Formel: Wt=W0(1+o[T-T0]) (8) worin W0und Wt die spezifischen Widerstände bei den Temperaturen T0 bezw. T bezeichnen. Als T0 wird meistens die Zimmertemperatur (18° C) gewählt. Die Konstante et heißt der Te mp er aturko effizient des Widerstandes. Bei reinen festen Metallen ist o positiv und hat ungefähr den Betrag 0,004 (gleich dem Ausdehnungskoeffizienten der Gase). Zusätze fremder Metalle verkleinern o; bei Legierungen kann a sehr klein, unter Umständen negativ werden. Bei reinen, flüssigen Metallen (Quecksilber, geschmol- zenem Zinn, Blei usw.) ist der Temperatur- koeffizient wesentlich kleiner, im Mittel etwa x/10 von dem der festen Metalle; bei Quecksilber beträgt er 0,00092. Beim Schmelzpunkt ändert sich nicht nur der Temperaturkoeffizient, sondern auch der spezifische Widerstand sprungweise, ebenso hat man bei Umwandlungspunkten (Eisen) eine sprunghafte Aenderung des Temperatur- koeffizienten beobachtet. Bei Leitern zweiter Klasse (Elektrolyten) und außer- dem bei Kohle ist a negativ; bei wässe- rigen Lösungen ist er ungefähr gleich — 0,02, also wesentlich größer als bei Metallen. Bei Isolatoren ist a ebenfalls negativ und erreicht unter Umständen sehr hohe Be- träge; z. B. sinkt bei imprägniertem Papier, wie es zur Kabelisolation verwandt wird, der Widerstand beim Erhitzen von 0° auf 30° auf etwa den hundertsten Teil. Die folgenden Tabellen I und II geben für die wichtigsten Stoffe spezifischen Widerstand und Temperaturkoeffizienten an. Bei größeren Temperaturintervallen ver- sagt Formel (8) ; man kann das auch so aus- drücken: a hängt von der Temperatur ab, und zwar nimmt bei reinen, festen Metallen n mit zunehmender Temperatur ab. Bis etwa 900° C läßt sich der Widerstand mit großer Annäherung für die meisten Metalle dar- stellen durch die Formel Tabelle I (nach Kohlrausch). Spezifischer Widerstand von Leitern bei 18°. 10*. 6 10*a Silber 0,016 + 4-° Kupfer 0,017 + 4,o Gold 0,023 + 4,° Aluminium 0,032 + 3,6 Iridium 0,053 + 4,i Rhodium 0,060 + 4,4 Zink 0,061 + 3,7 Cadmium 0,076 + 4,o Palladium 0,107 + 3,8 Platin, rein 0,108 + 3,9 ,, käufl. 0,14 2 bis 3 Nickel 0,08 bis 0 II bis 6 Eisen 0.09 bis 0 15 bis 6 Stahl 0,15 bis 0 5 — Blei 0,21 + 4 Antimon o,45 + 4,i Tantal 0,16 + 3 Wismut 1,2 + 4,2 Quecksilber 0,958 + 0.92 Konstantan o,49 —0,03 bis +0,05 Manganin 0,42 bis +0,03 Neusilber 0,16 bis 0 ,4° + 0,6 bis 4-0,23 Nickelin 0,42 + 0,23 Patentnickel o,33 +0,2 20 Pt, 80 Ag 0,20 + 0,33 10 Rh, 90 Pt 0,20 + i,7 Messing 0,07 bis 0 .09 Gaskohle etwa 50 ■ — 0,02 bis —0,8 Bestleitende Schwefel- säure (30%) 0 = i,35 —16 do. Zinksul- fatlösung (23,5%) 6 = 20,8 —26 Tabelle II (nach Uppenborn). Spezifischer Widerstand von Isolatoren bei Zimmertemperatur in Megohm . cm (nur Größenordnung). o. To 6 Hartgummi IO9 — -I010 Paraffin IO9 Guttapercha IO8 — -IO9 Fensterglas IO* Glimmer IO8 Holzkohle IO5 IO6 Preßspahn IO* Marmor ca. 500 Vulkanfibre ca. 50 Schiefer I — -IO Paraffin ol IO7 Benzin IO7 Benzol IO3 WT= W0(l + a[T-To]-b[T-T0]2). (9) Für reines Platin ist z. B. b = 0,00015 a Bei sehr tiefen Temperaturen nimmt a stark zu; neuere Messungen machen es wahr- Elektrischer Widerstand 325 scheinlieh, daß noch oberhalb des absoluten Nullpunktes (— 273°) der Widerstand 0 wird, das Leitvermögen also über alle Gren- zen wächst. 2c) Abhängigkeit vom Strom. Eine Abhängigkeit des Widerstandes W vom Strome J ist im allgemeinen nicht vorhanden, d. h. in dem Ühmschen Gesetz (Gl. 1) ist W eine wirk- liche Konstante. Es tritt aber wohl häufig eine indirekte Abhängigkeit des Widerstandes vom Strom auf, weil der Strom jeden von ihm durch- flossenen Leiter erwärmt und dadurch seinen Widerstand ändert. In solchen Fällen ist es zweckmäßig, die Abhängigkeit des Widerstandes vom Strom graphisch darzustellen, indem man die Kurve zeichnet, welche die Klemmen- spannung des Leiters als Funktion des Stromes darstellt (Charakteristik). Ist der Widerstand des Leiters unabhängig vom Strom (Temperatur- koeffizient a = 0), so ist die Charakteristik eine durch den Ursprung gehende Gerade, bei negati- vem a ist sie eine nach unten konkave, bei positivem a eine nach unten konvexe Kurve. Als Bespiel ist in Figur 1 die Charakteristik einer Metallfadenglühlampe (Kurve I) und einer Kohlenfadenglühlampe (Kurve II) gezeichnet. Die Steilheit der Charakteristik I hat zur Folge, daß bei einer Veränderung der Netzspannung E der Strom J sich nur wenig ändert, so daß die Aenderung der der Lampe zugeführten Energie E.J etwa proportional der Spannungsänderung ist; bei der Kohlenfadenlampe erzeugt hingegen dieselbe Spannungsänderung eine prozentual 2 bis 3 mal so große Stromänderung, also eine etwa 3 bis 4 mal so große Aenderung der Leistung; da die Temperatur des Glühfadens und damit seine Lichtstärke nur von der zugeführten Leistung abhängen, folgt, daß bei einer Schwankung der Netzspannung die Helligkeit der Kohlenfaden- lampe stärker schwanken muß als die einer Metallfadenlampe. Eine besonders steile, fast senkrecht ver- laufende Charakteristik besitzen Eisendrähte ; in ihnen ist der Strom innerhalb gewisser Grenzen praktisch unabhängig von der Spannung ; solche Eisendrahtwiderstände (in verdünntem Wasser- stoff) werden deshalb benutzt, um den Strom unabhängig von Spannungsschwankungen kon- stant zu halten. sondere Wismut, besitzen die Eigenschaft, ihren spezifischen Widerstand im Magnet- felde zu ändern; bei Wismut wächst der Widerstand mit zunehmendem Magnetfelde, anfangs beschleunigt, bei größerer Feld- stärke nahezu linear; bei etwa 20000 Gauß erreicht der Widerstand das Doppelte des Ausgangswertes. tung 2e) Abhängigkeit von der Beiich- Ein solcher Effekt ist nur bei sehr wenigen Stoffen, insbesondere einer be- stimmten Modifikation des Selens -- wahr- scheinlich einer Lösung von metallischem in kristallinischem Selen — bekannt; sein Widerstand sinkt im allgemeinen bei Be- lichtung. Das Wesen dieser Erscheinung ist noch nicht ganz aufgeklärt. af) Abhängigkeit von der Form. Allgemein läßt sich der Widerstand eines Leiters darstellen durch den Ausdruck W = F.a, (10) worin der Faktor o, der spezifische Wider- stand, wie oben auseinandergesetzt, nur vom Material und seinem physikalischen Zu- stand, der Faktor F nur von der geometrischen Form des Leiters abhängt. F ist also der Widerstand des betreffenden Leiters, wenn das Material den spezifischen Widerstand 1 hätte. Bei flüssigen Leitern ist F durch die Form des Gefäßes und der Elektroden be- stimmt; hier nennt man F „die Widerstands- kapazität" des Gefäßes. Für zylindrische Leiter war oben gezeigt, daß F=I q ist. Für die Berechnung des Widerstandes zusammengesetzter Leiter sind maßgebend die Sätze; Bei Hintereinanderschaltung (Serien- schaltung) addieren sich die Widerstände: W = 2"w (Ha) Bei Nebeneinanderschaltung (Parallel- schaltung) addieren sich die Leitfähigkeiten: W — 5 w (IIb) 2d) sehen Zustande Abhängigkeit vom magneti- Einige Metalle, insbe- z. B. ist der Widerstand von zwei parallel geschalteten Widerständen wx und w2: W * =-Jp-. (11c) 1/Wi + l/w2 wx + w2 Für kompliziertere Verzweigungen be- rechnet man den Gesamtwiderstand aus den Kirchhoffschen Kegeln (vgl. den Artikel „Elektrizitätsleitung"). " Für nicht zylindrische Leiter berechnet man im all- gemeinen den Widerstand, indem man rech- nerisch oder graphisch den Verlauf der Stromlinien und Aequipotentialflächen er- mittelt und aus ihnen Gesamtstrom, Gesamt- 326 Elektrischer Widerstand Spannung und daraus durch Division den Widerstand berechnet. Haben entweder die Aequipotentialflächen oder die Strom- linien konstanten Abstand, so wird die Be- rechnung einfacher, wenn man sich den Leiter längs der Aequipotentialflächen bezw. der Stromlinien aufgeschnitten denkt und den Gesamtwiderstand der in Serie bezw. parallel- geschalteteu Volumenelemente nach Formel (IIa) bezw. (IIb) berechnet. Allgemeiner Satz: Die Widerstände ähnlicher Körper aus gleichem Material verhalten sich umgekehrt wie die Längen. Widerstandskapazitäten verschie- dener Formen (zum Teil nach Winkel- manns Handbuch): 1. Abgestumpfter Kegel (Höhe 1, Radien R und r): F==7tRr 2 Kugelschale, radial durchflössen (Dicke d = R — r): F Lfl-I) JlA r " Ajt\r R/~4yrrR 3. Unendlicher Raum außerhalb einer Kugel als Elektrode: F 1 In R/r 1 2ti F = 47ZT 4. Unendlicher Raum außerhalb zweier gleicher Kugeln als Elektroden (Kugelab- stand a): 1(1 JL 27r\r~ a— r, 5. Unendlicher Raum außerhalb einer sehr dünnen Kreisscheibe als Elektrode: '-£ 6. Unendlicher Halbraum, mit einer in der Grenzebene liegenden Kreisscheibe als Elektrode: 4r 7. Unendlicher Halbraum, mit einem als Stromzuführung dienenden zylindrischen, senkrecht zur Grenzebene stehenden Draht vom Radius r und der Länge 1: F=r4d+0,8r) 8. Unendlicher Raum, außerhalb einer rechteckigen Platte als Elektrode (Seiten a und na; N= (1+ n)2- — \: 9a. Derselbe, tangential durchströmt: 1 2jz F 1 In R/r 10. Unendliche Scheibe, in die im Ab- stände a zwei Drähte vom Radius r ein- münden (Scheibendicke d klein gegen r): F 1 a+r 7id r F = n -f 1 + VN 27r;al/n "* n + 1 — VN In 9. Hohlzylinder, radial durchflössen (Länge 1): Bemerkungen zur vorstehenden Zusam- menstellung: Zu 1: Dient als Korrektionsformel bei zylindrischen Leitern; sie sagt aus, daß bei Abweichungen von der Zylinderform aus den Radien oder Querschnitten das geome- trische Mittel zu nehmen ist. Zu 3 bis 8: Mittels dieser Formeln be- rechnet sich der Uebergangswiderstand von Erdleitungsplatten (Telegraphen- und Blitz- ableiteranlagen). Zu 7: Das Zusatzglied, das nahezu den gleichen Betrag wie Nr. 6 hat, heißt Aus- breitungswiderstand. Namentlich wichtig bei Herstellung von Widerstandseinheiten aus Quecksilber. Zu 9: Die Formel stellt den inneren Widerstand der meisten galvanischen Ele- mente, sowie den Isolationswiderstand von Kabeln dar. Interessant ist namentlich bei letzterem, daß er nicht von der Dicke der Isolationsschicht, sondern nur vom Ver- hältnis der Radien abhängt, bei Kabeln von ähnlichem Querschnitt also den gleichen Betrag hat. 3. Meßmethoden. 3a) Beschreibung der einzelnen Methoden. 1. Strom- und Spannungsmessung. Die einfachste Methode ergibt sich aus der Definitions- gleichung (1): W=§ (1) Danach läßt sich der Widerstand durch gleichzeitige Messung von Strom und Spannung bestimmen. Schaltung nach Figur 2a: W ist der zu messende Wider- stand, A der Strommesser (Amperemeter), V der Spannungsmesser (Voltmeter), B die Stromquelle (Batterie). Zu beachten ist, daß die technischen Voltmeter Strom ver- E brauchen; dieser Strom -™- (Wv = Wider- stand des Voltmeters) ist vom gemessenen Strom abzuziehen: diese Korrektion ist nur dann klein, wenn W klein gegen Wv ist. Bei großem W schaltet man zweckmäßiger nach Figur 2b; hierbei ist als Korrektion der Widerstand des Strommessers vom ge- messenen Widerstände abzuziehen. Elektrischer Widerstand 327 Ist die Batteriespannung konstant und bekannt, so kann das Voltmeter wegfallen; die Skala des Amperemeters wird dann zweckmäßig in Ohmwerten geeicht (tech- nische Ohmmeter, Isolationsprüfer). Bei unbekannter, aber konstanter Bat- teriespannung kann man ebenfalls das Volt- meter entbehren, wenn man zum unbe- kannten Widerstände W noch einen be- kannten Widerstand W0 in Serie schaltet (Fig. 2c); wird ohne W0 (Schlüssel S ge- schlossen) der Strom J, mit W0 (S geöffnet) der Strom J' gemessen, so ist 2. Strom- und Leistungsmessung. Ebenso kann man die Definitionsgleichung (2) zur Messung benutzen: w- J2 (2a) rQT- w / A Fig. 2 a— d. W W0 J J' W ist darin gleich dem gesamten Wider- stände des Stromkreises, einschließlich Am- peremeter- und Batteriewiderstand W.\ und WB; also W = W — WA— WB. 3 Die Methode wird namentlich benutzt zur Messung von Batterie- und Strommesser- widerständen. Man kann auch umgekehrt das Ampen- meter weglassen und die Strommessung durch Messung der Spannung über einem bekannten Widerstände W0 ausführen (Fig. 2d ; durch den Umschalter U kann V ab- wechselnd an W und an W0 gelegt werden). Mit dieser Anordnung läßt sich eine sehr große Genauigkeit erreichen, falls man die Spannungen, statt mit dem Voltmeter, mit dem Kompensationsapparat mißt (vgl. den Artikel „Elektrische Spannung"). Danach läßt sich W durch Messung des Stromes und der erzeugten Wärme, oder, da nach dem Energieprinzip die erzeugte Wärmemenge gleich der ver- brauchten elektrischen Arbeit sein muß, durch Messung des Stromes und der Leistung bestimmen. Q wird entweder kalorimetrisch oder ■ — als elektrische Leistung — watt- metrisch bestimmt. Diese Me- thode hat den Vorzug , auch bei beliebig schnell veränder- lichen Strömen anwendbar zu sein. 3. Substitutionsmethode. Man legt den zu messenden Widerstand unter Zwischen- schaltung eines Strommessers an eine konstante Batterie, und liest den Strommesser ab. Dann ersetzt man den zu messenden Widerstand durch einen Satz bekannter Widerstände (Stöpsel- rheostat), und schaltet von diesem soviel Widerstand ein, bis der Strommesser wieder den gleichen Ausschlag zeigt. Dann ist der zu messende Widerstand gleich dem Betrage des ein- geschalteten Rheostatenwicler- standes. 4. Wheatstonesche Brücke. Stellt man eine Strom- verzweigung nach Figur 3 her (B ist die Stromquelle, G ein Galvano- meter, Rx bis R4 Widerstände), so fließt im Galvano- meter (Brücken- zweig) kein Strom, wenn die Relation besteht: Ri:R3 = R2:R4 (12) Fig. 3. Beweis: Bezeichnen wir die Ströme in den verschiedenen Zweigen mit Jx bis J4, so muß, falls im Galvanometer kein Strom fließt, «L = J2 und J3 = J4 sein. Ferner darf zwischen den Punkten a und b keine Potentialdifferenz bestehen, es muß also der Spannungsabfall im Zweige 1 gleich dem in 3 und im Zweige 2 gleich dem in 4 sein: J jrC]^ = J 3K3 328 Elektrischer Widerstand woraus man durch Division die obige Be- dingung (12) erhält. Da nach Figur 3 Galvanometer und Batterie an zwei symmetrischen Stellen ein- geschaltet sind, kann man die beiden mit- einander vertauschen; auch dann gilt bei Stromlosigkeit des Galvanometers Gl. (12). Unter Umständen kann man durch die Ver- tauschung die Empfindlichkeit der Ein- stellung erhöhen. Zur Messung wird Beziehung (12) in der Weise benutzt, daß man als R2, R3, Rj bekannte Widerstände, als Rx den zu mes- senden Widerstand nimmt, und nun die ersteren solange verändert, bis das Gal- Verhältnis R3:R4 ist dann gleich dem Ver- hältnis 13:14, wo 13 und 14 die Längen der durch den Schleifkontakt abgeteilten Stücke des Meßdrahtes sind (Kirch ho ff). Figur 4 zeigt eine gebräuchliche Ausführung eines Brücken- oder Gefälldrahtes (Coehn, Aus- führung von Ruhstrat). Der Draht ist auf einen Schieferzylinder in 10 oder 20 Windungen gewickelt, der Schleifkontakt sitzt an einem federnden Arm, der um die senk- rechte, auf dem Zylinder aufsitzende Spindel drehbar ist und bei Verdrehung durch ein Schraubengewinde gleichzeitig in der rich- tigen Weise gehoben oder gesenkt wird. Eine andere Ausführung ist die Kohl- rauschsche Walzenbrücke, bei der der Zy- linder mit dem Brückendraht drehbar ange- ordnet ist. Fig. 4. vanometer stromlos ist. Bei der praktischen Handhabung läßt man entweder R3 und R4 konstant, und verändert R2, der dann ein Widerstandssatz (Stöpselrheostat) sein muß (Wheatstone), oder man läßt R2 und die Sehr empfehlenswert sind fertige Brücken- schaltungen, wie sie von den Elektrizitäts- firmen in den Handel gebracht werden. Figur 5 zeigt eine solche mit gerade aus- gespanntem Kirchhof fschen Brückendraht nach Kohlrausch (Hart mann & Braun); durch die 5 Stöpsel können verschiedene Ver- gleichswiderstände R2 eingeschaltet werden. Figur 6 zeigt eine Präzisionsmeßbrücke von Siemens & Halske, bei der die Widerstände R3 und R4 konstant sind (durch die in der Mitte sichtbaren Stöpsel können verschie- dene Widerstände eingeschaltet werden), und die Abgleichung durch Veränderung ,des Widerstandes R2 (Kurbelrheostat, bestehend aus den 5 in der Peripherie angeordneten Fig. 5. Summe R3 + R4 konstant und verändert nur das Verhältnis der letzteren. R3 + R4 werden dann gebildet durch einen ausge- spannten oder auf einen Zylinder aufge- wickelten Draht von gleichförmigem Quer- schnitt, auf dem ein Schleifkontakt ver- schiebbar angeordnet ist, von dem aus die Leitung zum Galvanometer führt. Das Kurbeln) bewerkstelligt wird. 4a) Die Thomsonsche Doppelbrücke. Die Thomsonsche Doppelbrücke ist eine Abart der Wheatstoneschen Brücke und wird verwendet, wenn es sich um die Messung sehr kleiner Widerstände handelt. Bei solchen Widerständen ist unter Umständen der Widerstand der Zuführungskontakte Elektrischer Widerstand 329 von gleicher Größenordnung wie der gesuchte Widerstand. Hier mißt man daher die Spannung nicht an denselben Punkten, an denen der Strom zugeführt wird, sondern Fig. 6. an zwei anderen Stellen, den sogenannten Spannungsklemmen (Widerstände mit ge- trenntem Strom und Spannungsklemmen). Man verwendet nach Lord Kelvin (W. Thomson) die Schaltung Figur 7 (Be- zeichnungen wie in Figur 3). r2 und r, sind zwei weitere Widerstände. Sorgt man dafür, daß stets die Bedingung erfüllt ist: R-> r, , r, r. £-*.•«« i; R4 (13) J — f B 1 Ri R? Fig. 7. so gilt bei Stronilosigkeit des Galvanometers Gl. (12). Beweis: Der Strom in rl5 der bei Stronilosig- keit des Galvano meterzweiges gleich dem in r2 ist, sei i. die übrigen Ströme seien wie in 4 bezeichnet. Dann gilt: RiJ~i + r xi = R3J3 R2JX + r2i = R4J3 oder £i K3 '"2 R. RjJi = R3J3 — rxi = R3J3( 1 R.J, =- R4J3 — r,i = R4J 3 (l r) V. (Gl. 13) woraus, da Division Gl. (12) folgt Die Abgleichung durch Verändern von einer Schneide s auf oder, wenn R2 sich *(z. B. wenn R2 ein Präzisionswiderstand tiges Verändern von R3, R4, (13) erfüllt bleibt. Der Vorteil der Methode die einzige widerstände an den R3 R4 ist, durch Bedingung geschieht entweder R, (durch Verschieben einem geraden Draht), nicht verändern läßt genau abgeglichener ist) _ durch gleichzei- rv r2, so daß sich zu R ist der, daß Uebergangs- Spannungsklemmen s mitgemessenen L2> 3' den relativ großen Widerständen r R, addieren, denen gegenüber i' sie zu vernachlässigen sind. Auch für diese Methode sind fertige Schaltungen („Thom- sonmeßbrücken") im Handel. 5. Methode des Differentialgalva- nometers. Das Differentialgalvanometer (Becquerel) ist ein Galvanometer mit zwei gleichen Wickelungen. Zur Vergleichung gleicher Widerstände wird es in folgender Weise benutzt: Man schaltet entweder die beiden Widerstände unter Zwischenschal- tung je einer Galvanometerwicklung an die gleiche Batterie (Hauptschluß), oder schaltet die beiden Widerstände hintereinander aii j die Batterie, und legt zu jedem Widerstände einen Galvanometerzweig parallel (Neben- schluß). Geschaltet wird so, daß die beiden Wickelungen das Galvanometer im entgegen- gesetzten Sinne beeinflussen; die zu ver- gleichenden Widerstände sind gleich, wenn der Galvanonieterausschlag verschwindet (Nullmethode, ebenso wie 4 und 4a). Un- gleiche Widerstände kann man durch Ver- änderung des Widerstandes der Galvano- meterspulen vergleichen. Praktische Bedeutung hat nur die Neben- schlußmethode, weil sie die Uebergangs- widei stände zu eliminieren gestattet; daher ist die Methode besonders für kleine Wider- stände geeignet. 6. Siemenssche Methode (nur für sehr große Widerstände). Man entlädt durch den zu messenden Widerstand \VX einen Kondensator von bekannter Kapazität C und mißt dessen Potentialdifferenz V mit dem Elektrometer. Sinkt V in T Sekunden von V, auf V,, so ist der Widerstand des Entladungsweges T W = — C ' 2 j Ir-J- JmWww U^VWWW Jb w, w, FiEr. 9. Fig. 10 a,b. legt man entweder zwischen die Punkte a und b einen konstanten Widerstand, von dem man einen veränderlichen Teil mittels eines Schleifkontaktes oder einer Kurbel herausgreift (Fig. 10 a), oder, falls bei den verfügbaren Widerständen nur einer der Punkte a und b zugänglich ist, schaltet 332 Elektrischer Widerstand man zwischen a und c, sowie zwischen c und b je einen einfachen variablen Wider- stand (Fig. 10 b). Die Abzweigschaltungen Figur 10a und b haben vor der gewöhnlichen Schaltung Figur 8 den Vorteil, daß sie auch dann an- wendbar sind, wenn der Apparat W über- haupt keinen Strom verbraucht (den Wider- stand oo hat), z. B. beim Eichen von Elektro- metern. In diesem Fall berechnet sich die Spannung e an W in folgender Weise, wenn wir den Widerstand zwischen a — c mit Wl5 zwischen c — b mit W2 und den Batteriestrom mit J0 bezeichnen: Es ist also E = JoiW, + W2), e = J0W1? neren Widerstand" Wi. Das hat zur Folge: a) Die Klemmenspannung e des Gene- rators bleibt bei Belastung nicht gleich der elektromotorischen Kraft (E.M.K.) E, son- dern wird um den inneren Spannungsabfall ei= JWj verkleinert: e = E — JWi ; (16) wenn also, wie es vielfach der Fall ist, E unabhängig von J ist, ist die Charakte- ristik des Generators, d. h. die Kurve, welche e als Funktion von J darstellt, eine die Ordinatenachse bei der Ordinate e = E schneidende gerade Linie (Fig. 11), deren e = E W2 (15) Wi+ W2' also ist, wenn, wie in Figur 10 a, Wx + W2 konstant ist, e proportional mit Wr Von dieser Beziehung wird Gebrauch gemacht bei der Kompensationsmethode zur Messung von Potentialdifferenzen sowie bei den Kom- pensationsapparaten (vgl. den Artikel „Elek- trische Spannung"). Formel (15) gilt, wie gesagt, nur, wenn der Strom J in W gleich Null ist. Ist J von Null verschieden, so wird e kleiner (weil Wx durch Parallel- schaltung des endlichen Widerstandes W verkleinert wird). In diesem Falle findet man für e in Abhängigkeit von dem ge- brauchten Strome J: e F Wl I WlWa- (15a) e = E w^ Wt - J Wi + w>. (loa) d. h. die Anordnung (ohne den Leiter W) verhält sich so, als ob an den Klemmen ac W eine Batterie von der E.M.K. E w , -yy mit vorgeschaltetem Widerstände ^ 4^ (d. h. dem Widerstände, den die parallel- geschalteten Widerstände W1 und W2 be- sitzen) läge; graphisch stellt Gl. (15a) also auch eine gerade Linie nach Art der Wider- standslinie in Figur 9 dar. Ist der entnommene Strom J klein, so ist die Spannung an den Klemmen a c nahezu unabhängig von J. Man verwendet diese Schaltung deshalb auch, um Apparate mit einer konstanten Spannung zu betreiben (z. B. kleine Nebenschlußmotoren, die dann mit nahezu konstanter, von der Belastung unab- hängiger Umdrehungszahl laufen). 4b) Energieverlust und Spannungs- abfall bei der Erzeugung, Fortlei- tung und Umsetzung elektrischer Energie. 1. Bei der Erzeugung der Energie. Sämtliche Stromquellen oder Generatoren (Dynamomaschinen, Elemente) besitzen einen von Null verschiedenen „in- J ■e E \*M ^^^X J 0 Jh Fig. 11. Neigungswinkel cp gegen die Abszissenachse bestimmt ist durch tg

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Einerseits um die bei höherer Tempe- ratur eintretende Oxydation des Wider- standsmaterials zu vermeiden, um dem Widerstandselement Wärmekapazität (s. oben) zu geben, sind eine Reihe von Konstruktionen angegeben worden, bei denen der Leiter ganz in Iso- lationsmaterial eingebettet ist. Man bringt z. B. eine Widerstandsspirale in einem Metall- rohr unter, das dann mit Zement oder Chamotte ausgefüllt wird; oder der Wider- stand wird in Form eines im Zickzack hin und her geführten Bandes auf eine emaillierte Metallplatte gelegt und mit dieser zusammen mit einer zweiten Emailleschicht überzogen. Sehr geeignet als Belastungs- und Re- gulierwiderstände sind schließlich auch Glühlampen, sowie die weiter unten auf- geführten Heizwiderstände; von ihnen kommen hauptsächlich die Prometheus-, Silundum- und Kryptolwiderstände in Be- tracht. Von Widerständen für Spezialzwecke seien erwähnt: die oben angeführten Eisen- widerstände in verdünntem Wasserstoff, deren Widerstand so stark mit dem Strome zunimmt, daß innerhalb gewisser Grenzen der von ihnen aufgenommene Strom unab- hängig von der Klemmenspannung ist; sie werden zur Konstanthaltung des Stromes bei stark schwankender Spannuno; verwendet; ferner Widerstände von sehr hoher Ohmzahl (1 Megohm und höher); für diesen Zweck sind Graphitwiderstände im Gebrauch, sie werden hergestellt, indem man ein Tonrohr mit einem feinen Graphitüberzug versieht; die einfachste Form eines solchen Wider- standes ist ein Bleistiftstrich auf einer mat- tierten Glasplatte (Phillips); auch ein Tuschestrich auf Zeichenpapier (Au st) genügt für manche Zwecke. Man erzielt so Widerstände von 1 bis 20000 Megohm. 2. Regulierbare Widerstände. a) Kurbelrheostaten. Aus den vorbeschrie- benen Einzelwiderständen werden in der Weise, wie es bei den Meßwiderständen aus- einandergesetzt wurde, veränderliche Wider- stände zusammengesetzt. Praktisch kommt nur die Kurbelschaltung in Betracht, und zwar schaltet man normalerweise, genau wie bei den Meßwiderständen, die Einzel- widerstände in Serie und schließt die Ver- bindungsstellen an die Kurbelkontakte an; die eine Zuführungsklemme ist mit der Kurbel, die andere mit einem Ende der Widerstandsreihe verbunden, wie in Figur 19. Bisweilen wird das andere Ende der Wider- standsreihe zu einer dritten Klemme ge- führt, um die Abzweigschaltung Figur 10 a zu ermöglichen. Figur 23a zeigt einen solchen Widerstand. Gewöhnlich werden die Teil- widerstände (die Widerstandsstufen) nicht einander gleich gemacht, sondern so gewählt,, daß in dem Maße, wie der Strom bei all- mählicher Ausschaltung der Widerstände wächst, die Stufen kleiner werden, etwa so, daß jeder Stufe die gleiche prozentuale Stromänderung entspricht; gleichzeitig wer- den diese Stufen, dem höheren Strome ent- sprechend, aus Leitern von größerem Quer- schnitt gebildet. Ist die Spannung, die an dem Wider- stände auftritt, nahezu konstant, z. B. bei Vorschaltwiderständen für Bogenlampen oder Fig. 23 a. b. Belastungswiderständen für die Untersuchung vonDynamomaschinen, so ist es zweckmäßiger, die Abstufung durch Parallelschaltung gleicher Einzelwiderstände zu erzielen. Einen so eingerichteten Kurbelrheostaten zeigt Figur 23b; hierbei sind sämtliche Teilwider- stände mit einem Ende direkt an die eine Hauptklemme angeschlossen, die anderen Enden führen zu den federnden Kontakt- stücken, von denen eine beliebige Zahl mit- tels des halbkreisförmigen Messerkontaktes mit der anderen Hauptklemme verbunden werden kann. Diese Widerstände haben den Vorzug, daß bei Einstellung des kleinsten Widerstandswertes, also des größten Stromes und damit der größten Leistung im Wider- stände, sämtliche Teilwiderstände ausge- nutzt werden. Für die Regulierung sehr starker Ströme verwendet man statt der Kurbel eine Schalt- walze (Kontroller). Hierbei sind die Ver- bindungsstellen der einzelnen Widerstands- stufen sowie die Stromzui'ührungen zu Bürsten geführt, die auf verschieden langen, mit- einander verbundenen Segmenten einer dreh- baren Walze schleifen; durch Drehen der 346 Elektrischer Widerstand Walze" werden die Widerstände, ebenso wie bei einer Kurbel, sukzessive eingeschaltet. ß) Schieberwiderstände. Bei den oben beschriebenen Drahtwiderständen auf Porzellan, Schiefer oder Metallrohr ge- schieht die Stromzuführung häufig, anstatt durch das Ende des aufgewickelten Drahtes, durch einen zweiteiligen Metallring, der an irgendeiner Stelle auf die Wickelung auf- geklemmt wird. Man kann so verschiedene Widerstandsbeträge einstellen. Weiter aus- geführt ist dieser Gedanke bei den Schieber- widerständen, bei denen die Stromzuführung durch aufj der Drahtwickelung schleifende Federn bewirkt wird, die längs der Wickelung auf einer Stange ver- schiebbar sind; die Widerstände sind meist mit drei Klemmen (für Abzweigschaltung) ver- sehen. Diese Wider- stände ermöglichen eine äußerst feine, fast stetige Stromregulierung; sie werden namentlich als Laboratoriums wider- stände sehr viel wendet c zeigen einige Aus- führungsformen solcher Widerstände (Ruh- strat); Figur 24a stellt einen Schieferwiderstand, Figur 24 b einen Email- rohrwiderstand, der ver- tikal aufgestellt ist, um durch Kaminwirkung ver- Figur 24 a bis Fig. 24 a — c. gute Kühlung zu erzielen, dar; bei dem Widerstand Figur 24 c ist eine Draht spirale auf Schiefer gewickelt. y) Flüssigkeitswiderstände. Die Aufgabe, einen veränderlichen Widerstand herzustellen, läßt sich in einfacher Weise lösen, wenn man als Leiter eine Flüssigkeit verwendet (meist Kupfersulfatlösung mit Kupferelektroden, Soda- oder Pottasche- lösung mit Eisenelektroden). Die Verände- rung solcher Widerstände geschieht durch Veränderung der Elektrodenentfernung oder der Elektrodenfläche; bei Starkstromwider- ständen verwendet man fast stets das letztere Verfahren, indem man die Elektroden mehr oder weniger tief in die Flüssigkeit eintauchen läßt. Im Laboratorium sind Flüssigkeits- widerstände sehr wertvoll bei Arbeiten mit Hochspannung; man verwendet hierbei als Flüssigkeit eine Lösung von Jodkadmium in Amylalkohol, die einen sehr hohen spezi- fischen Widerstand (o = ca. 3. 10* Sl cm) besitzt; als Gefäß nimmt man gewöhnlich vertikale Glasröhren; verändert wird der Widerstand durch Veränderung der Ent- fernung der aus Kadmiummetall bestehenden Elektroden. Man kann so leicht Widerstände von mehreren Megohm herstellen. 3. Heizwiderstände. Heizwiderstände werden im wesentlichen gebraucht für elek- trische Heizkörper für Wohnräume und für Kochgefäße usw. Für den ersteren Zweck werden meist dieselben Widerstandselemente benutzt, wie die im vorigen Abschnitt (unter 2 dl) beschriebenen; insbesondere frei ausgespannte Spiralen, auf Rohre gewickelte Widerstände, Asbestgitter und die im Iso- liermaterial eingebetteten Widerstände. Für Kochgefäße, Plätteisen usw. sind nur Wider- stände geeignet, die bei gegebener Leistungs- aufnahme möglichst wenig Raum bean- spruchen; abgesehen von Spezialkonstruk- tionen werden hierzu Asbestgitterwider- stände und eingebettete Widerstände benutzt. Von Spezialanordnungen ist die verbreitetste das System „Prometheus"; hierbei sind als Heizwiderstände dünne Glimmerfolien ver- wendet, die auf chemischem Wege mit einem dünnen Platinüberzug versehen werden. Für Kochherde und Heizplatten, welche eine wesentlich höhere Temperatur erzeugen müssen, werden entweder eingebettete Wider- stände verwendet, oder man stellt die Wider- stände aus Silundum, einer Silicium-Kohlen- stoffverbindung her, die einen sehr hohen spezifischen Widerstand besitzt und Tem- peraturen bis 1800° ohne Veränderung aus- hält. Ein für verschiedene Heizzwecke sehr geeignetes Material ist das Kryptol, eine aus lose aufeinander geschichteten Graphit- körnern bestehende Masse, welche wegen der großen Uebergangswiderstände zwischen den Körnern einen hohen spezifischen Wider- stand besitzt. Die Stromzuführung geschieht durch Elektroden aus Kohle oder Graphit. Kryptol wird entweder in Form von Einzel- widerständen (Kryptolpatronen, d. h. mit Kryptol gefüllten Glasröhren verwendet, oder Elektrischer "Widerstand Elektrizitätsleitung 347 die Kryptolmasse wird in einem Kasten aus Isoliermaterial lose aufgeschüttet und die zu erwärmenden Gegenstände (z. B. Koch- flascheu, Abdampf schalen in chemischen Laboratorien) wie in ein Sandbad hinein- gestellt. Laboratoriumsöfen für hohe Tem- peraturen erhält man, indem man einen Tiegel mit Kryptolmasse umgibt. Literatur. Die betr. Kapitel in Winckelmanns Handbuch der Physik, 2. Avfl., Bd. IV, S. 232 bis 250 (Auerbach), S. 314 bis 383 (Grätz), >S'. 759 bis 761 (Cantov). Leipzig 1905. — Maxwell, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus, deutsch von Weinstein, Bd. I, 8. 433 bis 442, 485 bis 523. Berlin 1883. — Kohlrausch, Lehrbuch der praktischen Physik, 11. Aufl., Leipzig 1910. — Handbuch der Elektrotechnik (herausg. v. Heinke), Bd. XI, 2: Elektrothermische Einrichtungen und Verfahren (bearbeitet von Engelhardt). Leipzig 1908. — Uppenborn-Dettmar, Kalender für Elektrotechniker. München 1912. — H. Haus- rath und F. Krüger, lieber Meßbrücken, Widerstände und Kompensat io iish pparate nebst Zubehör, wie Nbrmalelemente und Telephone. Helios (Fachzeitschrift) 1909, S. 429ff. — K. Fischer, Technische Widerstände. Helios (Elektropraktiker) 1909, S. 229ff. - - Feussner und Lindeck, Die elektrischen Normaldraht- widerstände der Physikalisch-Technischen Reichs- anstalt, Zeitschr. f. Instr. 15, S. 394 und 425, 1895. — Jäger, Vergleichende Betrachtung über die Empfindlichkeit verschiedener Methoden der Widerstandsmessung. Zeitschr. f. Instr. 26, S. 69, 1906. — Derselbe, Ueber die Empfindlichkeit der Widerstandsthermometer. Zeitschr. f. Instr. 26, S. 278, 1906. H. Busch. Elektrizität siehe oben S, 193. Elektrizitätsleitung. l) 1. Elektrisches Feld im Innern von Leitern. Art der Elektrizitätsleitung. Leiter erster und zweiter Klasse. 2. Gesetz von Ohm. Charak- teristik von Leitern und Stromsystemen. Gesetze von Kirchhoff. Leitung von Gleichstrom und Wechselstrom. 3. Gesetz von Joule. 4. Leit- fähigkeit und Einfluß der Temperatur des Ag- *) Die Elektrizitätsleitung in Elektrolyten ist eingehend behandelt in den Artikeln „Elek- troly tische Leitfähigkeit" und „Ionen", die Elektrizitätsleitung in Gasen in den Artikeln ,,E 1 e k tr i zi t ä t s le itu ng in Gasen", „Kathoden strahlen", „Röntgenstrahlen", „Kanalstrahlen", „Anoden strahlen", „Spitzenentladung", „Glimmentladung", „Lichtelektrische Erscheinungen", „Glüh- elektrische Erscheinungen", „Lichtbogen- entladung" und „Funkenentladung". gregatzustandes, der Modifikation : a) bei Me- tallen, b) bei Legierungen, c) bei Halbleitern. d)bei festen Elektrolyten. 5. Beziehungen zu anderen Gebieten der Physik: a) Gesetz von Wiedemann und Franz. b) Photoeffekte, c) Einfluß des Druckes, d) Leitfähigkeit der Dielektrika und Endosmose. 6. Die phänomenologische Theorie der Leitung. 7. Die Elektronentheorien der Elektrizitätsleitung. Die Leitung der Elektrizität gibt uns Aufschluß über das Verhalten der Materie bei der Strömung von Elektrizität und lehrt daher vieles über die Struktur der Materie im ganzen wie in ihren kleinsten Teilen, den Atomen und den mit diesen mehr oder minder stark verbundenen Elek- tronen. Für den Praktiker ist die Leitung der Elektrizität in Metallen von größter Bedeutung; denn sie ist der Weg, Energie in großen Mengen am raschesten und mit geringstem Verlust auf weite Strecken fort- zuleiten. Kein anderer uns bekannter Vor- gang scheint dies Ziel mit gleicher Voll- kommenheit zu erreichen. 1. Das elektrische Feld in Leitern. Art der Elektrizitätsleitung. Leiter erster und zweiter Klasse. Wenn zwei Stellen eines Isolators, die verschieden elektrisch geladen sind, also eine Differenz des elek- trischen Potentials (der elektrischen Spannung, vgl. den Artikel „Elektrische Span- nung") besitzen, so kann diese Differenz beliebig lange bestehen. Erfolgt dagegen ein Ausgleich des elektrischen Feldes oder, was dasselbe ist, der Spannungsdifferenz, so nennt man die Substanz einen Leiter. Je rascher der Ausgleich vor sich geht, um so besser leitet die Materie. Die reinen Metalle, namentlich Kupfer, Silber und Gold sind die vorzüglichsten Leiter. Eine Span- nungsdifferenz von 1 Volt pro 1 cm kann sich in ihnen in weniger als 1/1000 Sek. bis auf einen kaum meßbaren Bruchteil des ursprünglichen Wertes verringern. Will man in den Leitern eine Spannungsdifferenz aufrecht erhalten, so muß man eine dauernde elektromotorische Kraft erzeugen, also von einer Stromquelle, z. B. einem galvanischen Elemente aus, zwei Drähte an die betreffen- den Stellen des Leiters anlegen. In dem Leiter findet dann ein ständiges Strömen von Elektrizität in dem Sinne statt, daß diese Strömung die Spannung herab- zumindern sich bemüht. Es fließt dann nach dem positiv geladenen Teil des Leiters negative Elektrizität und verschwin- det an dem negativ geladenen Teil. In Elek- trolyten fließt gleichzeitig noch positive Elek- trizität vom positiven nach dem negativen Pol. Früher, als man noch nicht sicher wußte, daß in festen metallischen Leitern nur die negative Elektrizität und in Ionen- leitern positive und negative frei beweglich 348 Elektrizitätsleitung sind, nahm man an, daß der Ausgleichungs- vorgang durch positive Elektrizitätsmengen erfolge. Diese würden also von dem posi- tiven Ende nach dem negativen Ende fließen, und man sagt daher noch jetzt nach all- gemeiner Uebereinkunft: der elektrische Strom fließt vom positiven nach dem negativen Pol. Für alle Berech- nungen ist es gleichgültig, welche Auffassung man zugrunde legt; man muß nur immer dieselbe Bezeichnung beibehalten. Die Strömung der Elektrizitätsmenge in Leitern kann mit chemischer Materie und ohne diese erfolgen. Die Leiter, bei denen die Elektrizität in kleinsten Quanten (Elektronen) frei von Materie strömt, nennt man Leiter erster Klasse. Das sind alle festen Elemente, insbesondere die Metalle und einige Klassen von einheit- lichen festen Verbindungen. E. Kiecke hat 1901 durch sehr exakte Messungen festgestellt, daß bei Metallen kein nennens- werter Transport von Materie durch den elektrischen Strom stattfindet. Dasselbe wurde später an metallisch leitenden Ver- bindungen wie Bleiglanz beobachtet. Für diese Substanzen gilt dann das Spannungs- gesetz von Volta. In wässerigen Lösungen z. B. von Salzen und in manchen festen Verbindungen wird, wie Ritter 1800 bei Stromdurchgang durch Wasser ent- deckte, vom Strom Materie mitgeführt. In diesen Leitern zweiter Klasse ist nach Berzelius (1819) die Elektrizität an Atome oder Atomgruppen (Jonen) ge- bunden. Der Ausgleich von Spannungsdiffe- renzen ist viel langsamer, die Leitung daher schlechter als in den Metallen. Die Leitfähig- keit ist etwa ein Milliontel von der in Metallen. Die zum positiven Pol, der Anode, wandernden negativ geladenen Ionen heißen nach Faraday (1833) Anionen, die zur negativ geladenen Kathode wandernden posi- tiven Ionen sind die Kationen. Die Metall- atome der Salze sind Kationen; denn sie geben leicht negative Elektrizität ab und bleiben daher positiv geladen zurück. Als Kathode und Anode dienen in der Regel Metalle (Platin, Kupfer, Silber). Die elektroly- tischen Leiter können also durch den Strom in zwei Teile getrennt werden; in einer Kupfer- sulfatlösung (CuS04) wandert das positiv geladene Kupfer (Cu) an die Kathode (Ent- deckung der Galvanoplastik durch Jakob i 1837), das negative geladene Schwefelsäureion (S04) an die Anode. Das Kupfersulfat ist also elektrisch in zwei Teile aufgelöst oder elek- y'siert worden. Man nennt die Leiter zweiter Klasse daher auch Elektrolyten, diesem Wege ist es gelungen, viele Substanzen zu zerlegen. So hat Davy 1807 aus feuchtem Aetzkali das Kalium- metall abscheiden können. Für den Strom- durchgang durch Elektrolyten hat M. Faraday 1833 aus Versuchen folgende Ge- setze ableiten können: 1. Durch denselben Strom werden in gleicher Zeit äcpüvalente Mengen einer Substanz abgeschieden (äqui- valente Menge gleich Atom- bezw. Mole- kulargewicht durch Valenz, also für Cu in CuSÖ4 = 63,2:2 = 31,6 oder für Silber in Silbernitrat, Ag in AgN03 = 107,6). Da ein Ampere in 1 sec 1,118 mg Ag abscheidet, so werden unter denselben Bedingungen 0,3294 mg Cu aus CuS04 frei. 2. Die in der Zeiteinheit abgeschiedene Menge eines Ions ist der Strom stärke proportional, unabhängig von der Form der Elektrode, der Potentialdifferenz im Elektrolyten und anderen Bedingungen. Gleichzeitig mit dem Transport der Ionen nach Kathode und Anode und durch ihn be- dingt tritt eine elektromotorische Gegen- kraft auf, die die angelegte Spannungs- differenz vermindert und daher den Widerstand scheinbar erhöht. Diese Gegenkraft oder Pola- risation ist jedoch kein hinreichendes Kenn- zeichen für elektrolytische Leitung. In schlechtleitenden metallischen Körpern kann eine Kombination von Peltierwärme und Thermokraft, die dort sehr erheblich ist, Polarisation vortäuschen. Um die Polari- sation zu vermeiden und damit den wahren Wert des Widerstandes zu finden, ver- wendet man einen Strom, der so rasch wechselt, daß die Produkte der Elektro- lyse nicht an der Kathode bezw. Anode aus- geschieden werden, sondern wegen ihrer ge ringen Menge noch in der umgebenden Lösung gelöst bleiben. Das ist der von F. Kohlrausch 1874 angegebene Weg, mit Telephon als Stromzeiger und In- duktorium als Wechselstromquelle Wider- stände von Elektrolyten genau zu messen. Die Theorie der elektrolytischen Leitung ist durch die Ueberlegungen und Beobach- tungen namentlich von Clausius und Hittorf entwickelt worden. Ihre Bezie- hungen zu anderen Gebieten der Physik und Chemie haben Hittorf 1853 und namentlich Sv. Arrhenius 1884 und van't Hoff 1886 klargestellt und damit die physikalische Chemie (vgl. den Artikel „Chemie") begründet. 2. Gesetz von Ohm. Charakteristik von Leitern und Stromsystemen. Gesetze von Kirchhoff. Leitung von Gleichstrom und Wechselstrom. Die Grundlage der Lehre vom elektrischen Strom bildet das von G. S. Ohm 1826 aus Experimenten abgeleitete Gesetz: Die elektromotorische Kraft E ist proportional dem Widerstand W und der Stromstärke J (E = JW). Hierbei kann die elektromotorische Kraft E an zwei Punkten eines Drahtes entnommen Elektrizitätsleitung 349 werden; man bezeichnet sie dann als Dif- ferenz des elektrischen Potentials, das also an den 2 Punkten verschiedene Werte hat. Die elektromotorische Kraft kann aber auch die Potentialdifferenz an beiden Polen einer stromliefernden Quelle (galvanisches Element, Dynamo usw.) sein, dann bezieht sich das i Gesetz von Ohm auf den geschlossenen Stromkreis. Man mißt die elektromotorische Kraft z. B. mit Voltmetern. Die Stromstärke i, die gar nicht oder nur langsam veränderlich (stationär) sein soll, wird den magnetischen j "Wirkungen, der Feldstärke H, die sie er- zeugt, proportional gesetzt; die exakte Be- ziehung hierfür ist durch das Gesetz von Biot und Savart gegeben. Man mißt die Strom- stärke mit Amperemeter. Der Widerstand w wird als unabhängig von Strom und Potential, als abhängig nur von der Beschaffenheit und dem Zustand der stromdurchflossenenMaterie, dem sogenannten spezifischen Widerstand W0, und von ihren Dimensionen, Länge 1 und Querschnitt q, angenommen: W = W0 (vgl. den Artikel „Elektrischer Wider- st a n d"). W0 wird so definiert, daß das Gesetz von Ohm ohne Proportionalitätsfaktor geschrieben werden kann. Es ist dann der Widerstand einer Quecksilbersäule von 1,063 m Länge, 1 qmm Querschnitt bei 0° gleich 1 Ohm. — Bis jetzt hat sich das Gesetz von Ohm in allen homogenen Metallen und Halbleitern bis zu den höchsten erreichbaren Potentialdifferenzen und Stromstärken, wie die Versuche von Chrystal nach Vorschlag von Cl. Maxwell 1874 sowie von Gaugain und von Clark zeigten, als richtig erwiesen; doch läßt die Elektronentheorie ebenso wie die Ionentheorie voraussehen (J. Stark, 1901), daß die Gültigkeit keine absolute sein kann. Auch die Definition des Wider- standes scheint nach den Beobachtungen von Patterson und von K. Baedeker für kleinste Schichtdicken unter 50 jujli zu versagen. In einigen inhomogenen Halb- leitern tritt, wie F. Braun 1874 gefunden hat, gleichzeitig mit dem Versagen des Ge- setzes von Ohm eine Abhängigkeit des Widerstandes von der Stromrichtung (uni- polare Leitung) auf. Zwischenschichten sind vermutlich die Ursachen dieses Verhaltens. Im technischen Maßsystem wird das Gesetz von Ohm so ausgesprochen: 1 Volt = 1 Ampere x 1 Ohm Also fließen durch einen Draht von 10 Ohm Widerstand, der einen Akkumulator von 2 Volt schließt, 0,2 Ampere Strom. Bezüglich der speziellen Meß- und Demonstrations- methoden der Gesetze sei auf die am Schluß unter allgemeiner Literatur Lehrbücher verwiesen. Das Gesetz von Ohm ist also charak- teristisch für elektrische Leitung in metallisch leitenden Substanzen und für Ionenleitung in festen Körpern und Flüssigkeiten. Die Charakteristik der elektrischen Leitfähigkeit ist eine Kurve in einem Koordinaten- system, dessen Abszisse die Stromstärke i, dessen Ordinate die Potentialdifferenz oder elektromotorische Kraft E an den 2 Punkten des zu untersuchenden Leiters sind. Für einen metallischen Leiter, der dem Gesetz von Ohm folgt, ist daher bei konstanter Temperatur die Charakteristik, welche W. Kaufmann 1900 und H. Th. Simon 1905 für das Studium der Elektrizitäts- leitung ausgearbeitet haben, eine gerade Linie, für den Lichtbogen dagegen eine Kurve (vgl. Fig. 1). Es sei noch hinzu- gefügt, daß das Gesetz von Ohm auch un- Charakteri ätik (Spannung)^ k ft E w ^ S* » Fig. 1. J (Strom) angegebenen abhängig von der Zeitdauer und dem Wechsel der Stromrichtung gilt. Die Versuche von E. Cohn (1884) zeigten, daß in Elektro- lyten selbst bis zu einer Wechselzahl von 25000 p. sec. das Gesetz von Ohm Giltigkeit besitzt. Scheinbare Ausnahmen sind durch das Auftreten der Polari- sation bei den Elektrolyten, durch die Selbst- induktion usw. erklärt. Daher muß in festen Körpern bei konstanter Temperatur die Charakteristik für Gleichstrom (sta- tische Ch.) wie für Wechselstrom (dyna- mische Ch.) eine gerade Linie sein. Abweichungen von dieser erlauben z. B. die Größe der elektrischen Polarisation oder der Selbstinduktion usw. zu berechnen. Als Folgerungen aus dem Gesetze von Ohm kann man die von G. Kirchhoff 1847 aufgestellten Sätze über die Verzweigung von Strömen betrachten. Sie gelten ganz streng wie das Gesetz von Ohm nur für stationären Strom und haben zur Voraus- setzung, daß sich an keiner Stelle Elektrizität anhäuft: 350 Elektrizitätsleitung 1. Die Summe der an einem Punkt an- kommenden Ströme ist gleich der Summe der abfließenden Ströme, oder die Summe aller Ströme ist = 0. In Figur 2 Punkt G : a = b + c und in A: e = b + 0. 2. Die Summe der Produkte von Strom- stärke JimdWiderstandWd.h. S J.W in einem Fig. 2. geschlossenen Stromkreis ist gleich der elektro- motorischen Kraft der Stromquellen ZK (galvanische Elemente usw.) in diesem Kreis. 3. Die Gesamtleitfähigkeit ist gleich der Summe der Einzelleitfähigkeiten. Hierbei kann die Leitfähigkeit als der reziproke Wert des Widerstandes definiert werden. Also: 1 . r-1 w ' w Machen wir hiervon eine Anwendung zur Ableitung der Formel für die Brücken- schaltung nach Wheatstone (1843), die zur Vergleichung und damit zur Bestim- mung von Widerständen dient. Falls das Galvanometer stromlos bleibt, so ist in A: e — b+0 = 0 in ß analog: c = d. Nach Satz2istimKreisABF:e.W1+d.W3 + 0=0 und im Kreis ABG : bW2+ cW4 + 0 = 0; denn JCE = 0, da keine Elemente in diesen Drahtkreisen eingeschaltet sind, also eW, _dW3 bW~2'~= cW4 und da e = b, c = d, so gilt Wi w3 w2 "W4' Alle oben erwähnten Gesetze gelten auch ohne weiteres für Wechselstrom, solange die Wechsel der Stromrichtung nicht zu rasch er- folgen (etwa mehr als 1000 p.sec). Bei schnelle- rem Hin- und Herschwingen des Stromes er- scheint der Widerstand größer als mit Gleichstrom gemessen, weil dann die Selbst- induktion (vgl. den Art. „Induktivität") eine der ursprünglichen entgegenwirkende elektromotorische Kraft erzeugt. Diese ist z. B. bei Tesla-Schwingungen (vgl. die Art. „Wechselströme" u. „Schwingungen, :trische Schwingungen") so groß, daß ein dicker Kupferdraht dem Stromdurchgang mehr Widerstand entgegensetzt als ein dünner Kohlenfaden. Ebenso gelten dann die Ge- setze von Kirchhoff nicht. Die Elektrizi- tätsmengen häufen sich an den Oberflächen der Drähte, die ähnlich wie Zylinderkonden- satoren wirken, an; diese Anhäufungen sind groß gegenüber den infolge der raschen Wech- sel nur kurze Zeitfließenden Strommensen. 3. Gesetz von Joule. Die Elektrizitäts- leitung in der Materie erfolgt nur unter Verlust von elektrischer Energie, die dabei teilweise in Wärme umgesetzt wird. Nach dem Prinzip von der Erhaltung der Energie ist die verlorene elektrische Energie gleich der gewonnenen Wärmemenge. P. Joule fand 1841, daß die vom Strom erzeugte Wärmemenge proportional dem Quadrat der Stromstärke i2 mal dem Widerstand w mal der Zeit t ist, während der ein Strom durch den Widerstand w fließt. Mißt man den Strom in Ampere, den Widerstand in Ohm, die Zeit in sec, die Wärmemenge q in g/cal, so ist q = 0,239. J2W.t. Exakte Bestimmungen der Größs 0.239 des elek- trischen Wärmeäquivalents haben Joule, Lenz, Qu. Icilius, H. F. Weber, Diete- rici vorgenommen. Dieselbe gilt, wie insbesondere Messungen von H. Jahn zeigen, auch für Elektrolyte. Würde keine Wärme durch Strahlung und Leitung verloren gehen, so könnte man einen Eisen- draht von 1 qmm Querschnitt mit einem Strom von 10 Ampere in 16 sec auf 1000° erhitzen. In Wirklichkeit wird der größte Teil der Wärme durch Leitung und Kon- vektionsströme der Luft sowie durch Strah- lung verloren gehen. Will man daher eine hohe Temperatur z. B. hohe Weißglut, bei der Licht ausgesandt wird, erreichen, ohne daß viel Wärme ungenutzt verloren geht, so wird der betreffende Draht, z. B. ein Kohlenfaden, in einen luftleeren Kaum (evakuierte Glasbirne einer Glühlampe) ge- bracht. Dies hat außerdem noch den Vor- zug, daß Oxydation durch Luftsauerstoff vermieden ist. Je dünner ein Draht, je kleiner also sein Querschnitt, desto größer ist der Widerstand, und desto größer ist also bei gleicher Stromstärke die Joule- wärme. Daher werden in den Metall- fadenlampen dünne Fäden verwandt. Der Verbrauch elektrischer Energie ist natürlich immer gleich dem Gewinn an Joulewärme. — Die Umsetzung elektrischer Energie in Wärme wird in der Praxis bei vielen Vorrichtungen verwandt. Sie dient andererseits auch in der Physik als ein wich- tiges Hilfsmittel kalorimetrischer Messungen, weil man auf diese Art leicht lokalisiert scharf begrenzte Energiemengen zuführen kann. Die Joulewärme liegt ferner den von W. Hankel 1848, Cardew, H. Hertz, Elektrizitätsleitung $51 H. Rubens konstruierten Hitzdrahtamper- metern zugrunde, mit dem man die Mittel- werte von i2 für intermittierenden Gleich- strom und für Wechselstrom messen kann. Die Joulewärme erhitzt einen Draht, der durch eine Feder gespannt ist, und dessen Verlängerung infolge der Temperatursteige- rung mit einer Rolle und Zeiger gemessen wird. Ferner dient die Joulewärme in einer Bolometeranordnung nach dem Vor- gang von Paalzow und H. Rubens zur Intensitätsmessung elektrischer "Wellen. Die Joulewärme bedingt ferner das von Hur- mucescu entdeckte Tönen der Drähte bei Wechselstrom und wahrscheinlich den von H. Th. Simon entdeckten sprechenden Lichtbogen. Die Joulewärme folgt in metallischen und elektrolytischen Leitern denselben Gesetzen. 4. Leitfähigkeit und Einfluß der Tem- peratur, des Aggregatzustandes, der Mo- difikation. 4a) Bei Metallen. Die Leit- fähigkeit ist der reziproke Wert des spezi- fischen Widerstandes. Man pflegt meist den letzteren, die Größe des absoluten Wider- standes, den ein Kubus von 1 ccm Raum- inhalt einer Substanz dem elektrischen Strom darbietet, als Maß für die Leitfähigkeit zu betrachten. Da 106,3 cm Quecksilber von 1 qmra bei 0° einen Widerstand von 1 Ohm besitzt, so ist dessen absoluter „der spezifischer - ■ ^ Widerstand = oder die absolute Leit- 104 [Ohm-1]. = 0,9407. 10-4 Ohm, fähigkeit - 1,063 . Die absolute elektromagnetische Leit- fähigkeit wird aus der obigen technischen Leitfähigkeit durch Division mit 109 er- halten, ist also l,063.10_o. Die Methoden zur Messung von Wider- ständen sind in dem Artikel „Elektrischer Widerstand" auseinandergesetzt. Man findet, daß derselbe Draht bei höherer Temperatur gemessen einen größeren Wider- stand besitzt, und es ergab sich, daß bei allen Metallen der Widerstand pro 1° C um etwas mehr als 7273 des Wertes W0 bei 0° zunimmt, ausgedrückt : Clausius hat 1858 dies so Der Widerstand der Metalle nimmt etwa proportional der absoluten Temperatur zu. Man kann also den Wider- stand Wt bei t° C durch folgende Formel ausdrücken Wt= = W0(l+at), worin a angenähert 9„q = 0,00367 oder ist. Bei genauen Messungen, Matthiesen und von Böse, H. F. Weber, Oberbeck und Bergmann, Dewar und Fleming, Jae- ger und Diesselhorst durchgeführt haben, etwas größer wie sie B e n 0 i t , stellte sich heraus, daß der Temperatur- koeffizient a des Widerstandes auch nicht konstant bleibt, sondern meist etwas mit steigender Temperatur abnimmt, und dem- gemäß wird Wt = W0 (1 + at - ßt>) geschrieben. Wir geben im folgenden für eine Anzahl von Metallen den Wert des Widerstandes bei 0° multipliziert mit 10* (er ist also z. B. für Kupfer nicht 0,015, sondern 0,0000015 Ohm pro 1 ccm). Das ist dann direkt (also 0,015) der Wert des Widerstandes von einem Kupferdraht von 1 m Länge und 1 qmm Querschnitt. Die Substanzen sind fest und fein kristallinisch. Silber Kupfer Gold Aluminium . . . Magnesium . . . Natrium Kalium Calcium Zink Platin Eisen Blei Antimon . . . . Wismut Quecksilber (fest) 39° 0,014 o,°i5 0,021 0,029 0,041 0,040 0,073 0,069 0,061 0,108 0,090 0,20 o,45 1,2 0.10 3,8 3,9 3,7 3,9 3,9 3,3 4,o 3,7 3,9 4,6 4,o 4,i 4,2 4,i Man hat namentlich in den letzten Jahren Versuche über den Gültigkeitsbereich des Gesetzes von Clausius bei hohen und tiefen Temperaturen angestellt. M. von Pirani hat 1910 das Tantalmetall, das allerdings vermutlich kolloidal oder sehr fein kristallinisch ist und das in Glühlampen verwandt wird, von —190 bis 1750° unter- sucht und fand folgende Werte für a: t a, io3 — 190° bis 0° 3,2 1 Die Beobachtungen 4- 20° bis 100° 2,9 über 1750" sind wegen 20° bis 380° 2,6 der schwierigen Tem- 380° bis 17 .Mi" 2,5 peraturbestimmung 1750° bis 2650° 2,3(?)J etwas weniger genau. Sehr eingehend wurde neuerdings im Laboratorium zu Leiden, das über Apparate zur Erzeugung sehr tiefer Temperaturen verfügt, von H. Kamerlingh Onnes und J. Clay die Leitfähigkeit einiger Schwer- metalle bis zu sehr tiefen Temperaturen, sogar —271,5°, also bis 1,6° an den absoluten Nullpunkt heran, verfolgt. Hier genügt die oben angegebene Formel Wt = W0 (1 + at—ßt2) nicht mehr, wie man leicht aus der folgenden Tabelle erkennt, in der der Widerstand bei 352 Elektrizitätsleitung Oo C (= + 273,1° absoluter Temperatur) = 1 gesetzt ist. T Platin Gold Quecksilber 273,1° 1 1 1 20,1° 0,0170 0,01602 0,05641 14,3 0,0136 0,01095 0,03369 4,3 0,0119 ' — 0,0021 2,3° 0,0119 0,000? 0,00003 1,5° 0,0119 — lei- und Cadmiumkristalle getrennt neben- einander. Das Leitvermögen setzt sich dann additiv aus dem der beiden Kom- lenten zusammen. a . *! + by.2 = *(a -f- b). Also hat eine Legierung von 30 Volum- prozenten Cadmium (Kj = 14,6. 104) mit 70 Volumprozenten Blei (K2 = 5,1. 104) den Wert n = ^^.1* - 6,2.10.. Der Temperaturkoeffizient des Widerstandes dieser Legierungen ist ebenfalls nach der obigen Mischungsregel aus dem für reine Metalle zu berechnen; er ist also nie sehr von + 0,004 verschieden (Beispiele: Cd — Zri; Cd— Pb; Cd— Sn; Sn— Pb; Zu— Sn). ß) Die beiden Komponenten bilden mit- einander isomorphe Mischkristalle (soge- nannte feste Lösung). Man sieht also in der Legierung nur eine Art Kristall. a) Falls dies für jedes Mengenverhält- nis der beiden Metalle zutrifft, wie z. B. bei Gold und Silber, so erhält man eine Kurve wie Figur 3. Hier ist nach oben als Ordi- 0 10 20 50 40 50 60 70 80 90 100 Proz. Silber Fig. 3. nate die Größe der Leitfähigkeit, nach rechts als Abszisse der Prozentgehalt an Silber aufgetragen. Charakteristisch ist, daß schon geringe Beimengungen von Gold zu reinem Silber oder von Silber zu reinem Gold eine sehr starke Leitfälhgkeitsab- nahme verursachen. Bei etwa gleichen Teilen hat diese Widerstandszunahme ein Maximum erreicht. Die Größe des Einflusses von Bei- mengungen läßt sich nicht berechnen, doch haben, wie z. B. Benedi cks 1902 für Stahl fand, gleichviel Atomprozente a bei kleine n Atomgewicht Zusätzen (Prozentgehalt p, AX(A2) so ist a = 100. Pi Ax 100— pi A2 die- selbe Wirkung. Wenn reines Eisen (A = 55,9) einen spezifischen Widerstand von 7,6. 10~6 be- sitzt, und 0,3 % Kohle beigemengt sind, so hat das 0,3 prozentige Kohlenstoffeisen (A = 12) einen Widerstand W0 - (7,6+ 5,9.a)10-6. 0\3 12 Hierin ist a = 100 = 1,4. Also 0^3 99,7 12 + 55,9 ist Wo = 15,8.10-6. Es würden dann 0,78 pro- zentiger Phosphor (A=31) dieselbe Wider- standszunahme bewirken, da Elektrizitätsleituni 353 a= 100. 0,78 ~3T 0,78 , 99,5 = 1,4. 31 + 55,9 Demgemäß ist die Wirkung abhängig von der Zahl der Atome der Beimengung ver- glichen mit der Atomzahl des reinen Metalles. Der Temperaturkoeffizient solcher Le- gierungen, mögen sie aus zwei oder mehreren Komponenten bestehen, ist auch bei hohen und ganz tiefen Temperaturen sehr klein. Man wird also praktisch, wenn der Wider- stand größer sein darf, der Energieverlust nicht in Betracht kommt, aber Konstanz des _ Widerstandes gewünscht wird, solche Legierungen verwenden. Daher werden die Meßwiderstände (Rheo- staten) aus derartigen Legierungen zusammen- gesetzt. Ferner werden zur Schwächung des Stromes, wenn der Energieverlust wieder ohne Belang ist, Legierungen dieser Art be- nutzt, weil ihr Widerstand viel höher ist als der von Metallen. Man sieht das aus folgender Tabelle: Zusammensetzung Gewichtsprozente w« Temperatur-Koeff. Konstantan Manganin Platinrhodium Zur Vergleichung: Kupfer 6oCu 4oNi 84Cu,i2Mn,4Ni ioRh.goPt 0,49.10 0,42. 10 0,20. 10 —4 0.015. 10 + 3.io-3 bis 5.io-5 + 3-I°~5 i,7.io_: 3.9.10 Angenähert gilt eine von Matthiesen gefundene, von Guertler bestätigte Regel: a.104 29. * 1+ a.104 Tim. hierin ist Km die nach der Mischungsregel berechnete Leitfähigkeit, also für Manganin, falls statt der Volumprozente Gewichts- prozente genommen werden, was keinen großen Fehler bedingt, ist xm = (84.64 + 12.11 + 4. 14,4). 104. 10--' = 56. 104, x=2,39.104, also die rechte Seite = 1,24 und demgemäß a = 1,2.10-4, gefunden 1 bis 0,3. 10~4. Einfacher als die oben erwähnten Be- ziehungen ist folgende von Matthiesen auf- gestellte häufig genügende Regel: Für jede Temperatur ist der beobachtete Widerstand wt weniger dem aus der Mischungsregel (vgl. b.«) berechneten Widerstand gleich dem- selben konstanten Wert (Wt — Wm = const.). Man sieht, daß die von Benedi cks ge- gegebene Fassung (vgl. oben) ein Spezial- fall ist, bei dem an Stelle des aus der Mi- schungsregel berechneten Widerstandes ein- fach derjenige des Eisens gesetzt wurde. Diese Regel hat J. Clay an Gold- und Silberlegierungen bis zu — 252° geprüft und bestätigt gefunden. Beispiele für diese Gruppe sind viele zur selben Vertikalreihe des periodischen Systems gehörigen Elemente. b) Wenn die Bildung isomorpher Misch- kristalle nur bis zu einer beschränkten Kon- zentration einer Komponente geht, so werden in der Legierung Mischkristalle der maximalen Konzentration entsprechend vorhanden sein und daneben entweder die andere Komponente Handwörterbuch der Naturwissanschaften. Band III. rein oder auch als Mischkristall. Ein Bei- spiel ist kohlenstoffreiches Eisen, mit z. B. 1% Beimengung; denn mehr als 0,27% können bei Temperaturen etwa unter 600° nicht in den Mischkristall Eisen — Kohle aufgenommen werden und scheiden sich in dem Kohleneisen von 0,27 % C als Graphit in einer Menge von 1 bis 0,27 = 0,73 % aus. Für diese Gemenge gilt dann die Mischungsregel und praktisch hat, wie die Rechnung ergibt, diese Menge freien Graphits keinen wesentlichen Einfluß. Beispiele für diese Gruppe sind u. a. manche Elemente, die sich in der elektrischen Spannungsreihe sehr nahe stehen. Einen komplizierten Fall stellt Fig. 4 dar. y) Die beiden Komponenten bilden eine oder mehrere che- 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Proz. Blei Blei-Tlialliumleeierung Fig. 4. 23 354 Elektrizitätsleitung mische Verbindungen mitein- ander. Diese entsprechen bestimmten Gewichts Verhältnissen der Komponente, wo- bei die atomaren Mengen (Prozentgehalt durch Atomgewicht) in einfachem rationalem Verhältnis stehen, z. B. 19 % Mg (A = 24,36) und 81% Pb (A=206,9), 19 81 206,9 24,36 -0,39 und 0,78:0,39 = 2:1 0,78 bezw. Diese binären Verbindungen haben einen erheblich größeren Widerstand als die beiden reinen Metalle, aus denen sie sich zusammensetzen. Ihr Temperaturkoeffizient des Widerstandes ist von der Größenord- nung wie bei Metallen; doch müssen Ueber- gänge zu den Halbleitern vorhanden sein. Dies kann aber elektrisch erst bei tiefen Temperaturen hervortreten. Ob chemische Verbindungen wie Selensilber, Tellursilber hierher zu den Legierungsverbindungen oder zu den Halbleitern zu rechnen sind, bleibt ungewiß. Hier seien folgende Beispiele für Widerstände von Metallverbindungen ver- glichen mit denen der reinen Metalle ge- geben: w0.10* a CdSb 5,oo 0,0046 CcLSb2 4,06 0,0012 Cu.,Zn 0,630 0,0016 Cu 0,015 0,0039 Zn 0,001 0,0037 Cd 0,076 0,0040 Sb 0,390 0,0040 Im allgemeinen läßt sich sagen, daß, ponenten ist, um so größer der Wider- stand der Verbindung wird. Verbindungen bilden z. B. Au— Sn, Cu— Sb, Cu— Zn, Cu— Sn (vgl. Fig. 5), also Elemente, die einen größeren Abstand in der Spannungsreihe, eine verschiedene Elektroaffinität besitzen. Werden die beiden Elemente nicht im Verhältnis ihrer Verbindungsgewichte zu- sammengeschmolzen, so entstellen neben den Kristallen der Verbindung entweder solche der einen Komponente (Fall I) oder Mischkristalle (Fall II). Die Abhängigkeit der Leitfähigkeit von dem Prozentgehalt der Komponenten kann dann sehr kom- pliziert werden (vgl. Fig. 5). 104 g:: } CujSn ^ ^_ Cusn Vi J Proz. Zinn je weniger elektropositiv eine der beiden Kom- 20 40 60 00 100 Kupfer-Zinnlegierung Fig. 5. Einfluß des Aggregatzustand es und der Modifikation bei Metallen und Legierungen. Im flüssigen Zustand leiten die Metalle ebenfalls die Elektrizität. Wenn ihr Volum als Flüssigkeit größer ist, was meist zutrifft, so zeigen sie eine Ver- größerung des Widerstandes, wenn das Volumen kleiner ist, eine Zunahme. Nur Antimon scheint eine Ausnahme zu bilden. Substanz Schmelzpunkt Widerstand Dichte Temperatur flüssig: fest flüssig: fest Koeff. flüssig Quecksilber - 38,8° 4,i 0,965 0,00090 Kalium 62,5 i,39 o,977 0,00424 Natrium 97,6 i,39 o,977 0,00333 Lithium 178 2,51 — 0,00273 Zinn 232 2,2 0,958 — Wismut 269 0,46 1,033 0,00037 Cadmium 321 1,96 o,955 — Blei 327 i,95 0,968 — Antimon 629 0,70 2.I016 1,8. io13 1,1. IO12 3.1011 Fälle, de chemisch etwa dem der Legie- rungen von Metallen entsprechen, elektrisch aber gerade das Entgegengesetzte, nämlich eine Widerstandsverminderung bedingen, hat K. Baedeker studiert. Er fand, daß bei Einwirkung von Jod auf festes Kupfer- jodür oder Silberjodid, also einer Art Legie- rung von Halbleitern, ein sehr viel besser leitendes Produkt entsteht So ist Jod praktisch ein Isolator, Kupferjodür leitet sehr schlecht W0> 1000 Sl, während das Jod-Kupferjodür bei 18° w0 = 0,01 & und bei 70° = 0,005 ß zeigt. Flüssige metallische Halbleiter sind bisher noch wenig untersucht, zu ihnen gehört nach den Beobachtungen von K Schilling geschmolzenes Antimonsulfid, das recht gut, und geschmolzenes Naphthalin das sehr wenig leitet. Es scheint die obige Formel auch bei ihnen die Abhängigkeit des Widerstandes von der Temperatur darzustellen. Die festen Halbleiter existieren meist in verschiedenen Modifikationen, die kri- stallographisch oft nur wenig voneinander verschieden sind, aber Unterschiede im Leitvermögen aufweisen. So leitet Kohlen- stoff als Graphit die Elektrizität bei ge- wöhnlicher Temperatur sehr gut (es scheint nach den neuesten Messungen von M. von Pirani zwei Graphitmodifikationen, eine metallische a und eine halbleitende ß zu geben), als Diamant sehr schlecht. Erst bei 1200° wird, wie C. Doelter fand, die Leit- fähigkeit des Diamantes erheblich. Graphit ß Diamant t w0 t w0 —185» 4,3 .io 950» 5,9. io5 — 66« 3,3 .io-' 1050 2,9. IO5 + 29° 2,8 . io~'! 1150 i,4.io* +105» 2,5 -io-' 1240 3,2. io3 +181» 2.25, IO_ Silicium hat, wie K. Schilling fand, 3 Modifikationen, a, ß und y. die drei Un- stetigkeiten oder Sprünge der Leitfähig- keit bewirken (vgl. Fig. 7). 4d) Bei festen Elektrolyten. Viele Salze besitzen auch im festen Zustand ein gut meßbares elektrolytisches Leitvermögen. E. Wiedemann, W. Kohlrausch, L.Graetz haben die Haloide der Schwermetalle unter- .n. p.cbcm 0.24 0,20 0,16 0,12 0,08 0,04 Vc(- r^w 1 1 1 ^.F^N 1 1 ■ ^ -200° +200° +400° Siliciummetall Fig. 7. *600° +800° sucht und einen starken Anstieg der Leit- fähigkeit mit der Temperatur gefunden. Im folgenden sei als Beispiel Cadmiumchlorid nach den Messungen von L. Graetz ange- führt. t Leitvermögen 370 0,0007 400 0,0013 430 0,0022 460 0,0036 490 0,0075 520 0,062 540 1,016 Inwieweit neben der elektrolytischen Lei- tung bei diesen und anderen Salzen noch geringe metallische Leitung statthat, läßt sich schwer sagen. Jedenfalls weist die vorhandene Polarisation auf Ionenleitung. Der Trans- port von Materie bei dem Stromdurchgang durch Glas ist von E. Warburg 1884 nachgewiesen worden. Man kann Natrium- metall aus Quecksilberamalgam mittels Strom durch Glas hindurch schicken, wenn man durch Erhitzen die Leitung des Glases verbessert. Auf diese Art kann reines Alkalimetall in abgeschlossene luftleere Vakuumröhren eingeführt werden. Neuer- dings haben F. Haber und St. Tolluczko andere feste Elektrolyten, Chlorbarium, Chlornatrium, untersucht und sie auch wie die Säure- oder Salzlösungen in einem Element als Zwischensubstanz zwischen zwei in der Spannungsreihe verschiedenen Metallen verwandt; man hat dann wirkliche „Trockenelemente". Bei manchen Halb- leitern bedingen Beimengungen und Ein- schlüsse bei tiefer Temperatur ein Vor- wiegen der elektrolytischen Leitung. War- burg, Tegetmeier und P. Curie haben im Quarz parallel zur c-Achse einen solchen Fall studiert. Elektrizitätsleitung 351 Von einheitliclien kristallisierten Sub- und H. Diesse hörst 190G zeigten, daß stanzen mit ausgesprochener Ionenleitung dieser Quotient etwa proportional der ab- sollen einige Zahlen für Korund (A1203) nach C. Doelter und für Baryt nach K. Schilling gegeben werden Baryt 726 713 907 963 1,5.10" 7.8. io4 1.9. io4 1,0. io4 Korund w„ 830 930 1080 1180 1230 2,0. ioD 5 -io4 1,5. 104 8 .io3 6 .io3 Angenähert lassen sich diese Widerstands- veränderungen bei Elektrolyten durch die Formel darstellen W=W„ e" Q RT' wie E. Rasch und W. Hinrichsen und C. Doelter gezeigt haben. Bei ganz hoher Temperatur über etwa 1100° scheint bei den Silikaten neben metal- lischer auch elektrolytische Leitung aufzu- treten; doch sind diese Fragen noch nicht Q sohlten Temperatur wächst, also sein Tem- peraturkoeffizient a nahe = 0,00367 ist. In folgender Tabelle ist für eine Anzahl guter und schlechter metallischer Leiter L bei 18° und a angegeben. Aluminium Kupfer . . Zink . . . Silber. . . Gold . . . Blei . . . Platin . . Eisen . . . Antimon . Wismut . . Konstanten Graphit . . Silicium . . Eisenoxyd . L.10-10 6,36 6,71 6,72 6,86 7,09 7,15 7,53 8,02 9,63 9,64 11,06 1 180 69 000 73000 4,37.10—' 3,95. io-3 3,85. 10-3 3,77- io-3 3,75. io-3 4,07. io-3 4,04. 10- 3 4,32. io-3 1,51.10- 2,39.10- J Wenn die Größe w kleiner als geklärt. etwa 10 000, also, da R nahe = = 2, Q <; 20 000 ist, so leitet der Körper meist metallisch, wenn Q > 20000 ist, meist elektrolytisch. Verschiedene Modifikationen besitzen ver- schiedenes Ionen-Leitvermögen (z. B. Jod- silber mit Umwandlung bei 139°, Queck- silberjodid bei 110°). Inwieweit die Gemenge von Oxyden, wie sie von W. N ernst 1899 in den von ihm erfundenen Glühstiften verwandt werden, elektrolytische oder metallische Leitung zei- gen, ist noch ungewiß; die Versuche von E. Böse 1902 deuten teilweise auf Elektro- lyse, neue Versuche des Verfassers auf vorwiegend metallische Leitung. Jedenfalls hat r'.er Reynolds nachgewiesen, daß manche Mischungen verschiedener Oxyde weit besser leiten, als sich nach der Mischungs- regel ergeben würde. 5. Beziehungen zu anderen Gebieten der Physik. 5a) Gesetz von Wiede- raann und Franz. Zwischen dem Leit- vermögen für Elektrizität und dem für Wärme bestehen nicht nur weitgehende mathematische Analogien in den phäno- menologischen Theorien (siehe unter 6), sondern auch tiefer begründete Ueberein- stimmungen. G. Wiedemann und R. Franz konnten 1853 aus Versuchen das Gesetz ableiten, daß der Quotient Wärme- leitimg durch Elektrizitätsleitung = L für eine bestimmte Temperatur bei den Me- tallen konstant ist. Die Beobachtungen von L. Lorenz 1882 und von W. Jäger Aus dieser Reihe folgt, daß bei schlechterer elektrischer Leitfähigkeit die Wärmeleitung sich weniger stark verringert. Dies hat J. Koenigsberger 1907 durch die auch bei den Metallen vorhandene Isolatorwärme- leitfähigkeit erklärt. Die Leitfähigkeit für Wärme, die elektrische Isolatoren wie Glas, Schwefel und z. B. sehr stark Diamant besitzen, erfolgt nicht durch den Mecha- nismus, der in Metallen die Elektrizitäts- leitung und den Hauptteil der Wärmeleitimg besorgt, sondern durch Teile, die frei von elektrischer Beeinflussung sind. Wenn man die Isolatorwärmeleitfähigkeit bestimmen und dann von der gesamten Wärmeleitfähigkeit abziehen würde, so könnte man das Gesetz von Wiedemann und Franz als allgemein gültig ansehen. Bei tiefen Temperaturen wird die Größe Lt ebenso wie die elektrische Leitfähigkeit nicht mehr durch die Formel Lt = L0 (1 + at) dargestellt; man muß vielmehr, wie die Messungen von Ch. Lees gezeigt haben, eine ähnliche Formel wie S. 351 angegeben verwenden. Außerdem tritt, da die metal- lische Wärmeleitfähigkeit mit sinkender Tem- peratur abnimmt, die Isolatorleitung dann stärker hervor. 5b) Photoeffekte. Auffallendes Licht verbessert bei einigen Substanzen das elek- trische Leitvermögen. Willoughby Smith entdeckte 1873 diese, Photoeffekt genannte, Erscheinung an sogenanntem kristallinischem Selen. Ein gut lichtempfindliches Präparat dieses Elementes erhält man, wie W. Siemens 1876 fand, durch Erhitzen von amorphem Selen auf 100°. Seitdem ist die Herstellungs- 358 Elektrizitätsleitung weise der Präparate von verschiedenen Firmen noch erheblich verbessert ; man sucht Präparate herzustellen, die bei Belichtung gleich erheblich besser leiten und bei Ver- dunkeln möglichst rasch wieder den ur- sprünglichen hohen Widerstandswert an- nehmen. Man schickt am besten den Strom senkrecht zu den Lichtstrahlen hindurch. Eine besonders interessante technische Ver- wendung findet diese Substanz bei der Fern- übermittelung von Zeichnungen, Photogra- phien durch die von A.Korn 1907 entdeckte Fernphotographie. Wir können auf die Apparatur nicht näher eingehen; wesentlich bei der Methode ist die Verwendung eines Selenzylinders, der, je nachdem durch eine helle oder dunkle Stelle der Photographie oder eigentlich des Kasterbildes Licht auf ihn ge- schickt wird, mehr oder weniger Licht em- pfängt und demgemäß mehr oder weniger gut leitet vgl. den Artikel „F e r n p h o t o- g r a p h i e". Zahlreiche Untersuchungen, insbesondere vonBidwell, Majorana, wur- den angestellt, um die Einzelheiten des merk- würdigen Vorganges zu klären. Die Unter- suchungen von R. Marc 1907 und von M. Sperling 1908 haben unsere Kenntnisse wesentlich erweitert. Das lichtempfind- liche Selen ist danach eine Mischung von schlecht leitendem und gut leitendem Selen, deren Mischungsverhältnis durch das Licht zugunsten der metallischen Modifikation ver- schoben wird. Ein sogenannter Schatten- effekt wurde aufgefunden. G. F. Jaeger entdeckte 1907 eine zweite Substanz mit ähnlichem Verhalten, Schwefel- antimon als Antimonglanz. Dessen Ver- halten wurde eingehend 1911 von Hilda von Martin studiert. Rotes Licht gibt die stärkste Widerstandsverminderung, Ultra- rot wirkt auch noch. Die Tatsachen weisen auf einen inneren photoelektrischen Effekt hin, ähnlich der von P. Lenard und F. Saeland an phosphoreszierenden Präparaten ent- deckten aktinodielektrischen Wirkung. Die Leitfähigkeitsverbesserung der Silberhaloide durch Licht hat 1888 Sv. Arrhenius entdeckt. Vermutlich löst das Licht einen chemischen Vorgang aus, der dann auf die Leitfähigkeit zurückwirkt und diese verbessert, wie H. Scholl fand. Dasselbe gilt nach den Beobachtungen von K. Baedeker und G. Rudert für Kupferjodür. 5c) Einfluß des Drucks. Der Wider- stand wird ferner noch durch einen all- seitigen hydrostatischen Druck beeinflußt, und zwar meist vergrößert, wie 0. Chwolson 1880 entdeckte. Im folgenden sind einige von Lisells und von Williams an Metallen und Legierungen, von Monten und von Beckmann an Halbleitern gemessene Werte der Aenderung des Widerstandes dW für 1 Atmosphäre dividiert durch den Wider- dW W stand w beim Druck 0 mitgeteilt. Quecksilber dW W — 32.10-6 Blei — 14,4.10-6 — 3,S.io-6 — 1,8.10-« — ■ 0,64.10—6 + 2,22.10—6 + i9,6.io—6 — ■ 1,0.10— 3 — 1.10-2 — 2,2.IO— 6 — 6,6. 10— 6 Silber Platin Manganin Pyrit (Eisendisulf id) .... Eisenglanz par. Axe .... Im allgemeinen ist die Aenderung um so stärker, je leichter der Körper zusammen- drückbar ist, je größer seine Kompressibi- lität ist. Doch läßt sich die Richtung der Aenderung nicht angeben. Temporäre Defor- mationen wie Dehnung und Torsion ver- kleinern, wie A. Mousson 1855 fand, meist die Leitfähigkeit. Für die Praxis von Bedeutung ist der von E. B. Rosa und H. D. Babcock 1907 entdeckte Einfluß der Feuchtigkeit auf die Schellackisolation. Diese quillt durch Auf- nahme von Wasser auf und dehnt den Wider- standsdraht. Hierdurch nimmt dessen Widerstand zu. Das Ziehen von Drähten, also eine dauernde Deformation, verursacht eine Ver- größerung des Widerstandes. G. Tammann hat 1911 eine Erklärung hierfür gegeben; beim Ziehen werden die einzelnen ungeordneten Kristalle durch Gleit- flächen in Lamellen zerlegt, die sich parallel anordnen, und die, wie es scheint, parallel zur Gleitfläche größeren elektrischen Wider- stand bieten. Beim Glühen wird der Vor- gang rückgängig gemacht. 5d) Elektrizitätsleitung in den Di- elektrika. Halbleiter, deren Leitvermögen sehr schlecht ist, zeigen in Flüssigkeiten zwischen zwei Kondensatorplatten eigentüm- liche Rotationsphänomene, die G. Quincke 1896 entdeckte. L. Heydweiller hat 1896 die Erklärung für diese Erscheinungen ge- geben; sie beruhen auf einer Leitung der Elektrizität in der Flüssigkeit und auf einer Abstoßung zwischen Platte und Kugel, durch die gleichartigen Elektrizitäten, die von den Kondensatorplatten auf die gegen- überstehenden Teile der Kugel geleitet worden sind. Je besser der feste Körper im Vergleich zur Flüssigkeit isoliert, um so rascher ist die Rotation. L. Graetz ge- lang es 1900 auch noch bei sehr schwach Elektrizitätsleitung 359 leitenden Flüssigkeiten, die durch Röntgen- strahlen ionisiert worden waren, die Rotation nachzuweisen. 5e) Elektrische Endosmose. Elek- trische Stromeffekte an der Grenze fest-flüssig. F. F. Reuß entdeckte 1809, daß, wenn man in einem Rohr mit Wasser einen Tonzylinder, ein Diaphragma, an- bringt und dann einen elektrischen Strom durclileitet, das Wasser, abgesehen von der elektrolytischen Zersetzung, bewegt wird und nach der Kathode wandert. Diese Erscheinung wird elektrische Endosmose ge- nannt, weil die Elektrizität gewissermaßen einen osmotischen Druck bewirkt. G. Wiedemann fand 1852, daß die Menge der in gleichen Zeiten durch den Tonzylinder geführten Flüssigkeit der Stromstärke pro- portional und unabhängig von der Ober- fläche und Dicke des Tonzylinders ist, G. Wiedemann und später C. Freund haben auch noch die Kraft, mit der die Flüssigkeit vom Strom durch das Dia- phragma getrieben wird, mittels der Druck- höhe gemessen, bis zu der sie empor- getrieben wird. G. Quincke hat 1861 die Ursache dieser Erscheinungen in dem Zu- sammenwirken der Flüssigkeit und der Wand der engen Oeffnungen gefunden. Quincke konnte in Kapillaren dieselben Erscheinungen beobachten. Die Erscheinungen treten auch in schlechtleitenclen Flüssigkeiten auf, an die dann hohe Spannungen angelegt werden müssen. Aus seinen Versuchen folgte, daß die Flüssigkeit um so mehr gegen die Kathode hingetrieben wurde und um so mehr empor- stieg, je größer die Oberfläche der Röhren- wandung im Vergleich zum Querschnitt und je stärker der Strom war. Quincke fand ferner, daß es Flüssigkeiten gibt, die im umgekehrten Sinne zur Anode fließen und daß dies von der Beschaffenheit der Röhren- wandung abhängt, G. Quincke hat auch die Umkehrung dieser Erscheinungen, die Strömungsströme, entdeckt. Wenn reines Wasser durch einen porösen Körper fließt, so entsteht eine Potentialdifferenz und da- durch ein elektrischer Strom. Die Potential- differenz ist proportional dem Druck, mit dem die Flüssigkeit durch das Diaphragma oder nach F. Zöllner durch eine Kapillare durch- gepreßt wird, und bei Röhren, wie E. Dorn fand, umgekehrt proportional dem Durch- messer, wenn die Geschwindigkeit der Flüs- sigkeit die gleiche bleibt. Weitere Ver- suche von E. Dorn und von J. Elster zeigten, daß ein freier Wasserstrahl solche elektrischen Kräfte nicht aufweist, und daß Reibung der Flüssigkeit an der Wandung die Ursache der Elektrizitätserzeugung ist. H. von Helmholtz hat dann die genaue mathematische Theorie der Erscheinungen durchgeführt, die von Dorn und Saxen geprüft und bestätigt wurde. Im Zusammenhang hiermit stehen Be- obachtungen von A. Coehn und von G. Bredig über die Mitführung von Kolloiden durch den Strom, die auch praktisch für die Klärung trüber Flüssigkeiten von Be- deutung sind. Sie leiten hinüber zu der Mitführung kleiner Teile durch den elek- trischen Strom, die Reuß und M. Fara- day entdeckt hatten. Die Geschwindig- keit der kleinen Teile ist proportional der Stromintensität und hängt von der Be- schaffenheit der Teile und der Flüssigkeit ab. Die von F. Braun entdeckte Elektro- stenolyse ist, wie A. Coehn ausführte, auf dieselben Ursachen wie die Endosmose zu- rückzuführen. Wenn ein Strom durch eine Metallsalzlösung in einer engen Glasspalte durchgeschickt wird, so scheidet sich an der Glaswand Metall ab. Hieraus haben sich eine Anzahl Ergebnisse ableiten lassen, deren Bedeutung hauptsächlich auf elektro- chemischem Gebiet liegt (vgl. den Artikel ,,Elek tr oo smo se"). 6. Phänomenologische Theorie der Leitung oder stationären Strömung. In dem Artikel „Dielektrizität der Kry- stalle" hat E. Riecke den Unterschied zwischen phänomenologischen und mole- kularen Theorien auseinandergesetzt. Die phänomenologische Theorie der zeitlich un- veränderlichen oder stationären Elektrizi- tätsströmung ist namentlich von G. Kirch- hoff, H. v. Helmholtz, Cl. Maxwell entwickelt worden; sie ruht auf wenigen ganz sicheren Voraussetzungen und findet ihre Anwendung ähnlich wie die Theorie der Wärmeleitung von Fourier wesentlich in der Lösung der geometrischen Probleme der Stromverteilung bezw. der Widerst ands- berechnung. Wir können auf die zu schwierigen Problemen der Funktionentheorie führenden Differentialgleichungen nur kurz eingehen. Durch Anwendung des Gesetzes von Ohm auf ein unendlich ldeines Raum- element des Leiters kommt man zu der so- genannten Gleichung von Laplace, daß die Summe der zweiten Differentialquotienten des Potentials der elektromotorischen Kraft nach den drei Richtungen im Raum gleich Null ist. Außerdem erhält man Randbedin- gungen für die ersten Differentialquotienten des Potentials nach der Normale senkrecht zur begrenzenden Fläche und für die Werte des Potentials zu beiden Seiten einer Grenzfläche. Die Theorie der Stromver- teilung in der Ebene ist die der analytischen Funktionen; daher sind eine große Zahl von praktisch wichtigen Problemen schon mathematisch behandelt. Dagegen kann die Verteilung von Strömen in einem räum- 360 Elektrizitätsleitung liehen Leiter nur in einzelnen Fällen be- rechnet werden. Der praktisch wichtige Fall des Aus- breitungswiderstandes unter verschiedenen Bedingungen ist genügend genau von Maxwell, Rayleigh und Kirchhoff stu- diert. Ferner sind die Gesamtwiderstände einer Anzahl einfacher Körper durch die mathematische Analyse ermittelt worden. 7. Die Elektronentheorien der Elek- trizitätsleitung. Wir können im folgenden nicht die gründliche mathematische Kennt- nisse erfordernden strengen Ableitungen der Formeln geben, sondern begnügen uns damit, dieselben, soweit möglich, zu veran- schaulichen. W. Weber hat 1862 die Hypothese aufge- stellt, daß positiv geladene kleinste Teile von einem Molekül zum anderen geschleudert wer- den und so die Elektrizitätsleitung vermitteln. W. Giese hat dann angenommen, daß wie in Elektrolyten, so in den Metallen die Elektrizität an Atome, also in Ionen, ge- bunden sei. Die Versuche von E. Riecke (vgl. S. 348) zeigten aber, daß diese An- nahme unhaltbar ist. Die eigentliche Elektronentheorie konnte erst entwickelt werden, nachdem durch die Forschungen von W. Crookes, Ph. Lenard, J. J. Thomson etwa 1898 das Vorhandensein von negativen Elektrizitätsmengen in be- stimmten kleinsten Mengen — Elementar- quanten oder Quanten, Elektronen (J. Stoney) — nachgewiesen war. Die Messungen von J. J. Thomson und H. A. Wilson haben dann zuerst direkt die elektrische Ladung dieses Elektrizitätsatoms gegeben, und die überraschenden Tatsachen der Radioaktivität (vgl. den Artikel „Radio- akt i v i t ä t") haben endgültig das Vor- handensein freier diskreter Elektronen oder Quanten negativer Elektrizität bewiesen. Die andere Grundlage der Elektronentheorie bilden die Prinzipien und Sätze der kine- tischen Gastheorie (vgl. den Artikel „Kine- tische Theorie der Materi e"). Die von K r ö n i g und C 1 a u s i u s be- gründete, von Maxwell und B 0 1 1 z - mann mit größter mathematischer Schärfe ausgebaute Theorie der Bewegungen (kine- tische Theorie) der freien Atome und Mole- küle, die ein Gas bilden, war einige Zeit, etwa von 1895 bis 1905, außer Mode ge- kommen, weil manche physikalisch-chemische Tatsachen sich kürzer und präziser durch einfache thermodynamisch-energetische Be- trachtungen ableiten ließen. Die Nützlich- keit der anschaulichen kinetischen Betrach- tungen und die Notwendigkeit, Diskonti- nuität in der Materie und in der Elektrizität anzunehmen, trat aber bald wieder klar hervor, namentlich als man die oben er- wähnten Tatsachen aus der Elektrizitäts- leitung in Gasen zu erklären suchte. Auch die Strahlungstheorie, wie M. Planck sie 1906 entwickelt hat, führte wieder zu statistischen oder Wahrscheinlichkeitsbe- trachtungen und zur Annahme eines Ele- mentarquantums der Elektrizität zurück. Dabei hat M. Planck die Grundannahmen für die Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen erheblich erweitert und die Theorie der sogenannten Energie quanten begründet. 1898 hat zuerst E. Riecke beide Theo- rien, Existenz freier Elektronen und kine- tische Gastheorie, vereinigt und die Eigen- schaft eines Gases theoretisch studiert, dessen kleinste Teile negative Elektrizitäts- atome oder Elektronen sind. Da aber ein derartiges Gas insgesamt eine gewaltige negative elektrische Ladung besitzt, so kann es nur gemischt mit positiven Elek- trizitätsladungen existieren. Diese letzteren können, wie alle Versuche gezeigt haben, nicht von den Atomen getrennt werden. Demgemäß können freie Elektronen bei geringer Geschwindigkeit und in dauerndem (stationären) Zustand nur mit und in Materie existieren. — Substanzen, in denen Elek- trizitätsmengen ohne Materie transportiert werden, sind, wie früher auseinandergesetzt, die Leiter; der Elektrizitätstransport er- folgt also durch Elektronen. Um dann dem Unterschied zwischen Isolatoren, Halblei- tern und Leitern Rechnung zu tragen, sind zwei Annahmen möglich: 1. Nur frei bewegliche Elektronen besorgen die Elektrizitätsleitung; ihre Zahl istver- schieden und bedingt hauptsächlich den Unter- schied in der Leitfähigkeit bei den verschie- denen Substanzen und Temperaturen. 2. Alle Elektronen können den elektrischen Strom leiten, nur ist ihre Beweglichkeit verschieden. - Die erste Annahme ist die der bisher ein- gehender mathematisch durchgebildeten Elek- tronentheorien. Die freien Elektronen kön- nen dem elektrischen Potentialgefälle auf mehr und minder kurze Strecken folgen und wandern wie die negativen Ionen nach der Anode. Hindernisse auf ihrem Weg sind die ruhenden Atome des festen Metalles. Diese letzteren haben, wie die Definition des festen Körpers verlangt, eine bestimmte Ruhelage, um die sie Schwingungen aus- führen können. Auf diese, soweit sie eben Elektronen verloren haben, positiv geladenen Atome stoßen die Elektronen und werden dann zum Teil festgehalten, zum Teil wieder zurückgeworfen oder mit Ablenkung (Scattering) durchgelassen. Die Strecke, auf der die Elektronen sich frei bewegen können, bezeichnet man als mittlere Weglänge 1. Auf dieser erfahren die Elektronen mit der Ladung c und der Masse m eine Beschleunigung b durch die Hlektrizitätsleitung 361 an den Leiter angelegte elektrische Poten- tialdifferenz, die pro 1 cm = X sei. Es ist mb = eX; die Geschwindigkeit c, die durch diese Beschleunigung entsteht, ist b t c= -5- im Mittel in der Zeit r, während der die Elektronen frei sind. Es sei dann v die Geschwindigkeit der Elektronen infolge der Wärmebewegung; diese ist nach allen Richtungen dieselbe, und ergibt, da sie sich gegenseitig aufhebt, keinen Strom. So gilt daher v = - oder x 1 1 Xe 1 t = - und c = v 2 m v Die Stromstärke des Stromes, der durch 1 qcm des Leiters hindurchgeht, ist die Elek- trizitätsmenge, welche in der Zeiteinheit durch 1 qcm des Leiters wandert. Wenn N-Elek- tronen mit der Ladung e in 1 ccm vor- handen sind, so ist Ne die gesamte Elek- trizitätsmenge in ccm, und wenn c ihre Ge- schwindigkeit in Richtung von X ist, so geht in 1 sec cNe durch 1 qcm hindurch. Die elektrische Leitfähigkeit des ccm x0 ist dem Widerstand W0 des ccm umgekehrt proportional. Nach dem Gesetz von Ohm, angewandt auf den Leiter von der Länge 1 cm und dem Querschnitt 1 qcm, ist E= J . W, 1 E also pro ist 1 cm = = X; W0 = -; ^0 J = Ne *0 = Ne.c ; X" Ne 1 Xe 1 ~~ X 2 m v ~ V2Ne2.l m.v Durch etwas schwierigere Betrachtungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, erhält man für die Wärmeleitfähig- keit k = 73 N.l.f.a, worin a eine Größe ist, die zu der Wärmebewegung der Elek- tronen in Beziehung steht. Man erhält dann für das Verhältnis Wärmeleitung : Elektrizitätsleitung k 4 m v2 L = - = 0 . a. x o e e P. Drude hat 1900 die Theorie von Riecke ausgebaut und vereinfacht und eine bestimmte Annahme über die Größe von a gemacht. Er setzt die in der Bewegung der Elektronen enthaltene Energie % m?;2 bei einer bestimmten Temperatur gleich der von Gasmolekülen gleich otT. Er kann daher auch a aus der kinetischen Gastheorie über- nehmen, deren Gleichungen a=2,02.10-16 a a ergeben. m ist für Elektronen nach den besten Werten der Kathodenstrahlen = 1,76. 107 in elektromagnetischen Einheiten, die Ladung e eines Elektrons nach den neuesten Beobachtungen und der Strah- lungstheorie = 1,565. 10-20 (elmagn.). Da i/2im;2=aT, so ist -=«/>!-) T. ist aber auch, wie M. Reinganum bemerkte, ohne Kenntnis absoluter molekularer Größen aus Daten bei der Elektrolyse genau zu ermitteln = 1,091.10* und -= 2,274. 108.T in elektromagnetischen Einheiten. P. Drude hat ferner auf derselben Grundlage noch die Theorie der Thermo- kraft, Peltierwärme, Thomsonwärme und der galvano magnetischen Effekte im An- schluß an Riecke durchgeführt. H. A. Lorentz hat die gastheoretischen Begriffe 1, noch schärfer gefaßt; er erhält für -- = x 8/9(|)2 T = 1,48.108.T. Setzt man T = 273° + 18°, so ist bei 18° -=6,47. 1010 nach X Drude, 4,31. 1010 bei Lorentz. Die ge- fundenen Zahlen für L sind (vgl. S. 357) von der Größe 7.1010, also ungefähr gleich dem von Drude theoretisch gefolgerten Zahlen- k wert. Ferner müssen die — proportional der absoluten Temperatur sein, also einen Tem- peraturkoeffizienten von y273= 3,67.10-3 haben, was ebenfalls zutrifft. Diese erstaunliche Uebereinstimmung zwi- schen Theorie und Beobachtung wird wohl mit Recht als Beweis für die Richtigkeit der theoretischen Annahmen betrachtet. Erst bei tiefer Temperatur wird, wie Ch. H. Lees fand, die Uebereinstimmung schlechter. Man kann das erklären, wenn man die von Kamerlingh Onnes für niedrige Tem- peraturen aufgestellte Widerstandsformel an- Das bedeutet, daß bei niedrigeren Tem- peraturen die Geschwindigkeit der Elek- tronen kleiner wäre als es der Gastheorie entspricht, und zwar verschieden in den einzelnen Metallen. Dann entgeht man auch gewissen Schwierigkeiten, die sonst der Verlauf der spezifischen Wärme bei niederen Temperaturen, wie ihn W. Nernst an Metallen fand, mit sich bringt. Doch ist die Frage, ob die Elektronen überhaupt einen Anteil an der spezifischen Wärme haben, noch strittig. Die zu hohen Werte von bei schlecht - x leitenden Metallen und namentlich bei Halb- leitern finden in der sogenannten Isolator- wärmeleitfähigkeit der Atome wohl eine be- friedigende Erklärung, namentlich nachdem für Diamant eine sehr hohe Isolatorwärme- leitfähigkeit festgestellt worden ist. Um jetzt die Größe der elektrischen Leit- nimmt; dann wird =nlT)"T(l — 1/2 362 Elektrizitätsleitimg fähigkeit allein zu berechnen, setzt man die oben angegebenen Werte für e, v, ein. Man entnimmt ferner ve der Elektronen mit der Masse me der Beziehung y2meVe2 = %niHVH2, wobei vh, nin sich auf das Molekül des Wasserstoffgas beziehen, bei 18° C ist unter dieser Annahme vh des Elek- trons = 1 . 107 . cm/sec. Die Zalü N der Elektronen im ccm ist zunächst unbe- stimmbar, und man erhält daher aus den sonst schon bekannten Daten (m und dem experimentell gemessenen Wert x nur N.l. Wir können aber, wie P. Drude und M. Reinganum zeigten, aus den optischen Beobachtungen von E. Hagen und H. Rubens über das Reflexionsver- mögen der Metalle in seiner Abhängigkeit von der Wellenlänge des auffallenden Lichtes und der Temperatur schließen, daß die mitt- lere Weglänge der Elektronen von der Größenordnung 1 . 10— 7 cm ist. Dann erhalten wir z. B. für Silber N = 5.1022, das ist, wie man beweisen kann, etwa 1/3 der Zahl der Atome, so daß also in einem Moment von 3 Elektronen 2 gerade von Atomen fest- gehalten werden, während 1 frei beweglich ist. Derselbe Wert 1/3 ergibt sich auch aus der Elek- tronentheorie des Halleffekts. Eine gewisse Schwierigkeit bei dieser Theorie ist die Tat- sache, daß die elektrische Leitfähigkeit da- nach umgekehrt proportional VT sein müßte, (denn v ist proportional IT), während sie angenähert umgekehrt proportional T ist. Man muß, um das zu erklären, die Weg- länge 1 umgekehrt proportional IT setzen. Im Rahmen der Theorie 1 muß man für die Halbleiter, wie J. Koenigsberger zeigte, annehmen, daß die Elektronenzahl mit steigender Temperatur zunimmt, daß also die Elektronen von den Atomen ab- dissoziieren oder, was dasselbe ist, in den metallisch leitenden Zustand übergehen. Man erhält dann theoretisch die S. 355 gegebene Formel für die Abhängigkeit des Wider- standes von der Temperatur, und Q bedeutet die Wärme, die bei der Wiedervereinigung von Elektron und positivem Ion entsteht. Für das Verhalten der Legierungen fehlt noch eine befriedigende Deutung. Die von C. Liebenow versuchte Erklärung bietet man- nigfache Schwierigkeiten. Andere Deu- tungen sind von R. Schenk gegeben und von A. L. Bernoulli geprüft worden. Eine Abänderung dieser Elektronentheorie erster Art ist die zweite Theorie von J. J. Thomson. Er nimmt eine Emission der Elektronen aus den Metallatomen an, einen Austausch der Elektronen von einem Atom zum anderen in bestimmter Richtung. Die Wärmebewegung, die in der ersten Theorie eine ungeordnete Elektronenbewegung be- dingt, hat nach dieser Anschauung eine ungeordnete Verteilung der Achsen (Ver- bindungslinie Atom — Elektron) des Duplets Atom— Elektron zur Folge. Die elektrische Kraft eines Stromes wirkt dann drehend auf das System Atom — Elektron und be- dingt dadurch eine vermehrte Elektronen- aussendung nach einer Richtung. Um aber die Formel für die Wärmeleitung und das Gesetz von Wiedemann und Franz abzuleiten, muß J. J. Thomson ebenfalls annehmen, daß die kinetische Ener- gie der ausgesandten Elektronen y2mv2 = aT wie bei Gasmolekülen ist. Daher ist kein prinzipieller Unterschied zwischen diesen und den früheren Annahmen vorhanden, und auch das Verhalten der Halbleiter, der Hall- effekt, würde sich in derselben Weise erklären. 2. Die zweite Annahme wäre, daß die Zahl der Elektronen bei den verschiedenen Substanzen und Temperaturen nahezu die- selbe ist, daß aber die Elektronen an die Atome mehr oder minder stark gebunden und daher verschieden leicht beweglich sind. Man kann dann eine Aussendung der Elektronen nach allen Richtungen hin oder nach bestimmten Vorzugsrichtungen und auf Flächen annehmen. Diese Emission könnte von der Natur der Substanz und der Temperatur abhängen und dabei die Eigen- energie der Elektronen recht klein oder den Atomen entliehen sein. Die Theorie der Atomwärme würde dadurch einfacher, aber es entstehen Schwierigkeiten bei der Er- klärung des Gesetzes von Wiedemann und Franz, und vor allem bei den flüssigen Metallen. Diese Theorie ist mathematisch noch nicht ausgearbeitet ; es fehlen auch noch Experimente, die zwischen den Annahmen 1 und 2 entscheiden könnten. Jedenfalls steht so viel fest, daß in festen Metallen und Halbleitern Elektronen allein, in flüssigen jedenfalls zum weitaus größten Teile die Träger der elektrischen Vorgänge sind, und zwar in der Zeit, in der sie sich von den Atomen losgelöst haben, und von einem Atom zum anderen wandern. Literatur. Werke allgemeinen Inhalts. Hier sind nur Werke in deutscher Sprache aufgeführt: G. Wiedemann, Elektrizität und 3Iagnetismus. Bd. 1. Braunschweig 1898. — L. Graetz, Elektrizität. — Handbuch der Physik, herausg. ?>. A. Winkelmann. Bd. IV. Leipzig 1905. Artikel von L. Graetz und F. Auer- bach. — Müller-Pouillet, lehrhuch der Physik, Braunschweig 1907 ff. Von W. Kauf- mann bearb. Abschnitt. — E. Hoppe, Ge- schichte der Elektrizität. leipzig IS84. — X. Baedeker, Die elektrischen Erscheinungen in mctalliscJien Leitern. Braunschweig 1911. — F. Kohlrausch und L. Holborn, Leitver- Elektrizitätslei tung 363 mögen der Elektrolyte, Leipzig 1S9S. — Elek- trische Meßmethoden, vgl. insbesondere F. Kohl- Tausch, Zehrbuch d. prakt. Physik. Leipzig 1909. — Elektrische Demonstrationsversuche, vgl. insbesondere R. Fricke, heran sg. v. O. Leh- mann, Physikalische Technik. Braunschiceig. — Von der speziellen Literatur sind nur die nach 1860 erschienenen Abhandlungen angeführt, die vor IS60 haben mehr historisches Interesse, und sind in den obengenannten Werken zitiert. — Zu Abschnitt 1: E. Rieche, Phys. Zt. 2, 639. 1901. — -F. Kohlrausch, Pogg. Annalen 159, 25S. 1876. — Derselbe, Pogg. Ann. Jubelb. 1874. S. 290. — Zu 2: F. Braun, Wied, Ann. 19, 340. 1883. — Derselbe, Pogg. Ann. 153, 556. 1874. — W. Kaufmann, Ann. Phys. 2, 158. 1900. — H. Th. Simon, Phys. Zt. 6, 297. 1905. — Patterson, Phil, Mag. (6) 4, 652. 1902.— J. C. Maxwell xind Crysta.ll, Report British Assoc. 1874. S. 36. — A. Gaugain, Ann, eh im, phys. (3) 63, 261. 1861. — E. Colin, Wied. Ann. 21, 646. lss.'f. - H. Clark, Journ. physique 1, 367. 1872. Drude Ann. 5, 793. 1901. — Paalzow and H. Rubens, 529. 1889. — H. Th. Simon, 233. 1898. — Clausius, Pogg. Ann. 104, 650. Benoit, C. R. 76, 342. 1872. — J. Stark, Zu 3: H. Wied. Ann. 37, Ann, Phys. 64 Zu 4: R. 1858. — R — A. Matthiesen und M. von Rose, Pogg. Ann, 115, 858. 1862. — J. Dewar und J.A. Fleming, Phil, Mag. (5) 3G, 271, 1893; 40, 303, 1895. — W. Jäger und 31, Diessel- horst, Abhdl. Phys. teehn, Reichsanstalt 3, 269. 1900. — M. von Pirani, Verh, Dt, Phys. Ges. 12, 301. 1910. — Zu 4 a : Kamerlingh Onnes und J. Clay, Com/m. Physic, Labor. Leiden JVr. 95, 1906 und weiter Mitteilungen von Kamer- lingh Onnes in den Communications. 1911 bis 1912. — W. Kernst, Süzber. K. Preuß. Ak. Wiss., 311. Berlin 1911. — J. Clay. Bericht: Jahrb. f. Radio. 8, 883. 1912. - - A. Bernini, Phys. Zt. 3, 241 u, 406, 1904; G, 74, 1905. — J. Hopkinson, Proc. R. Soc. London 45, 45~- 1889. — Le Chatelier, Journ. de Phys. (2) 10, 369. 1891. — Zu 4 b : A. Matthiesen und M. Holzmann, Pogg. Ann 110, 190. 1860. — A. Matthiesen und C. Voigt, Pogg. Ann. HG, 369, 1862; 122, 19, IS64. — Le Chatelier, Bericht: W. Guertler, Jahrb. f. Radioakt. 5, 17. 1908. — C. Benedicks, Zt. f. phys. Chem. 40, 545. 1902. — Kurnakow, Zt. f. anorg. Chem. 64, 156. 1909. — R. Haas. Wied. Ann. 52, 673. 1894- — A. Eucken und G. Gehlhoff, Verh. Dt, Phys. Ges. 14, 169. 1912. — C, H. Weber, Wied. Ann. 27, 145. 1886. — A. Larsen, Ann. Phys. 1, 123. 1900. — Zu 4c: W. Hittorf, Pogg. Ann. $4, 1. 1854. — A. Matthiesen, Pogg. Ann. 103, 42s. 1858. — H. Bäckström, Kgl. Vetenskap Akad. Stock- holm 1894- S. 545. — F. Streintz, Ann, Phys. 3, 1, 1900; 9, 854, 1902. — J. Guinchant, C. R. 134, 1224. 1902. — J. Koenigsberger und O. Reichenheim, Phys. Zt. 7, 570. 1906. — Bericht: J. Koenigsberger, Jahrb. f. Rad. 4, 15S. 1907. — F. Horton, Phil. 3fag. 11, 505. 1906. — K. Baedeker, Ann. Phys. 22, 749. 1907. — E. van Anbei, Phys. Zt. 4, 551. 1903. — J. Koenigsberger und K. Schilling, Ann, Phys. 32, 179. 1910. — C, Doelter, Süzber. K. K. Ak. Wien 119, 49. 1910. — Derselbe, Süzber. K. K. Ak. Wiss. Wien 120, 49. 1911. — 31. von Pirani und W. von Sie- mens, Zt. f. Elektrochem, 1909. 15, 969. — W. Dietrich, Diss. Göltingen 1909. — Zu 4d : E. Wiedetnann, Pogg. Ann. 154, 318. 1874- — W. Kohlrausch, Wird, Ann. 17, 642. 1882. — L. Graetz, Wied. Ann. 40, 18.1890. — B. Poincare, Ann. Chim. Phys. 21, 289. 1890. — E. Warburg, Wied, Ann. 21, 622. IS84. — E. Warburg und E. Tegetmeier, Wied, Ann, 32, 442. 1887. — E. Haber und St. Tollnczko, Zt. f. anorg. Chem, 41, 407. W04. — E. Rasch und W. Hinrichsen, Zt. f. Elektrochem, 14, 41. 1908. — W. Nernst, Zt. f. Elektrochem, 6, 41. 1899. — H. Reynolds, Inaug.Diss. Göttingen 1902. — E. Böse, Ann, Phys. 9, I64. 1902. — Zu 5a: G. Wiedeniann und R. Franz, Pogg. Ann, S9, 497. 1853. — H. Lorenz, Wied, Ann. 13, 422. 1882. W. Jacger und H. Diesselhorst, Abt. Phys. Techn. Reichsanst. 3, 282. 1900. — ,1. Koenigs- berger, Phys. Zt. 8, 237. 1907. — Ch. Lces, Phil, Trans. Roy. Soc. London 208, 440. 1908. — Zu 5b: W. Smith, Sill. Jour. 5, 301. 1873. — W. Siemens, Pogg. Ann. 159, 117. 1876. — A. Korn, Phys. Zt. 8, 118. 1907. — R. Marc, Die physik.-chem. Eigenschaften des Selens. Hamburg 1907. — 31. Sperling, Inaug. Diss. Göttingen 1908. — Cr. F. Jaeger, Zt. f. Kryst. 44, 45. 1907. — H. von Martin, Phys.' Zt. 12, 41. 1911. — Sv. Arrhenius, Ber. Wien. Akad. Wiss. 46, 831. 1888. ■ H. Scholl, Ann. Phys. 16, 193 und ',17. 1905. — G. Rudert, Ann, Phys. 31, 559. 1910. — K. Baedeker, 29, 556. 1909. - P. 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Methode des Wechselfeldes, d) Die Diffusion der Ionen, e) Die Rekombination der Ionen, f) Die Natur der Ionen in Gasen, g) Die direkte Messung der Ionenladung. 3. Feldent ladung. Selbständige Strömung: a) Nichtleuch- tende Feldentladung, b) Leuchtende Feldent- ladung, c) Glimmentladung, d) Funkenent- ladung, e) Bogenentladung. 4. Charakteristik und Stabilität. 1. Einleitender Abschnitt. Gase in normalem Zustand. Die Elektrizitäts- leitimg eines Gases in normalem Zustand ist sehr gering. Die ersten Versuche, ihre Existenz nachzuweisen, gehen auf Coulomb zurück. Coulomb konnte im Jahre 1785 zeigen, daß ein positiv oder negativ aufge- ladener Leiter, der von einem Gase umgeben ist, seine Ladung verliert. Dieser Verlust ließ sich nicht durch Unvollkommenheit der Isolation der Aufhängung erklären. Coulomb stellte die Hypothese auf, daß die Moleküle des Gases, die mit dem gela- denen Leiter in Kontakt kommen, sich gleich- namig aufladen; die Folge wäre, daß sie ab- gestoßen würden, so die Ladung zu den Wänden forttragen, und auf diese Weise den Elektrizitätsverlust bedingen. Der Coulombsche Nachweis der Elek- trizitätsleitung ist richtig; seine Erklärung ist es jedoch nicht. Denn wenn sie richtig wäre, müßte ein geladener Leiter, der in einem geschlossenen Gefäße, dessen Wände leitend mit der Erde verbunden sind, aufge- hängt ist, um so leichter seine Ladung ver- lieren, je geringer der Abstand zwischen Gefäßwand und Leiter ist. Dies wider- spricht dem tatsächlichen Verhalten. Geitel und Wilson zeigten nämlich, daß der Elektrizitätsverlust um so geringer ist, je kleiner das Gefäß ist, in wel- chem sich der geladene Leiter be- findet. Die richtige Erklärung dieser Erschei- nung, die schon im Jahre 1850 von Mateucci beobachtet war, aber keine Beachtung gefun- den hatte, sowie die der Elektrizitätsleitung der Gase im allgemeinen, ist erst ein volles Jahrhundert nach Coulomb erbracht worden. Erst als man nach Entdeckung der Kathoden-, Röntgen- und Radium- strahlen in diesen die Mittel gefunden hatte, die Leitfähigkeit der Gase durch Einwirkung von außen (ohne Temperatur- erhöhung) zu ändern, gelang es, das Wesen der Leitfähigkeit der Gase systematisch zu ergründen. Woher die Leitfähigkeit der Luft in ab- geschlossenen Gefäßen kommt, läßt sich für die ganze Leitfähigkeit nicht mit Sicher- heit angeben. Ein Teil derselben ist einer sehr durchdringenden äußeren Strahlung, die auf der Erde überall vorhanden ist, zu- zuschreiben. Rutherford und Cooke stellten fest, daß sich die Leitfähigkeit auf 70% ihres Originalwertes reduzierte, wenn Bleiumhüllungen von 5 cm Dicke das Luft- volumen umgaben, daß aber weitere Ver- mehrung der Dicke der Hülle keinen Ein- fluß auf die Leitfähigkeit mehr hatte. — Interessant, aber nicht aufgeklärt, ist die von Elster und Geitel festgestellte Tat- sache, daß ein völlig abgeschlossenes Luft- volumen seine Leitfähigkeit spontan ver- ändert, nach 4 Tagen etwa viermal so stark leitet, als nach seiner Abschließung, und schließlich einen konstanten Wert erreicht, der fünfmal so groß ist als der Anfangswert. 2. Die Aenderung der Leitfähigkeit der Gase durch Bestrahlung. Unselb- ständige Strömung. Die Kathodenstrahlen, die Röntgenstrahlen und die Strahlen der radioaktiven Stoffe sind imstande, die Leitfähigkeit der Gase zu steigern. Der Nachweis dieser Eigenschaft der Strahlung läßt sich etwa mit Hilfe einer Anordnung nach dem Schema der Figur 1 erbringen. A ist ein Bleikasten, der die Strahlen nur durch eine Oeffnung 0, die mit Aluminiumblech zugedeckt ist, hindurch läßt. Die Strahlen dringen von hier in den Glas- trichter T. Die in ihm befindliche Luft wird während der Bestrahlung oder kurz nachher auf ihr Leitvermögen untersucht, indem man sie aus dem bestrahlten Gefäß Elektrizität sleitung in Gasen 365 angezogen hinausbläst, und sie durch eine Röhrenlei- Gases vom negativen Leiter tung R in ein geladenes Elektroskop hinein- werden, und daß hierdurch die Aufladung streichen läßt. Durch diese Anordnung ist neutralisiert wird. Die mit dem Leiter gleich- ein direkter Einfluß der Strahlung auf das namig geladenen Teile können diesen Ent- R Fig. 1. Elektroskop vermieden, und es ist erreicht, I daß lediglich die in das Elektroskop hinein gepumpte Luft einen Einfluß auf dessen i Ladungszustand ausübt. So läßt sich leicht nachweisen, daß infolge der Bestrahlung die Luft leitend wird. 2a) Verlust der erworbenen Leit- fähigkeit. Mit derselben Anordnung läßt sich zeigen, daß auf verschiedene Weise der durch Strahlung leitend ge- wieder Dies tritt machten Luft die nommen werden kann. Leitfähigkeit ge- ein: 1. wenn die Luft ein elektrisches Feld passieren muß, etwa einen elektrisch aufge- ladenen Luftkondensator; 2. wenn die Luft durch enge Pfropfen von Glaswolle, die in das Rohr R gestopft sind, hindurchtreten muß, oder auf dem Wege zum Elektroskop gezwungen ist, durch Wasser hindurch zu perlen; 3. wenn der Weg der bestrahlten Luft sehr lang ist oder wenn eine beträchtliche Zeit zwischen Hindurchpumpen und Bestrahlung verstrichen ist. Aus 1 bis 3 folgt, daß die Leitfähigkeit einer Beimengung des Gases zuzuschreiben ist, die durch Filtration (2) oder Abwarten (3) oder durch ein elektrisches Feld (1) entfernt werden kann. — Nun hat aber das Gas als ganzes keine Ladung, denn ein un- geladener Körper lädt sich nicht auf, wenn er in Berührung mit dem leitenden Gase gebracht wird. Andererseits zeigt die Ein- wirkung des elektrischen Feldes auf das Gas, daß Ladungen im Gase vorhanden sind. Hieraus folgt: Die Leitfähigkeit des Gases muß bedingt sein durch elek- trisch des Gases, sein entgegengesetzt geladene Teile entgegengesetzte die jeweilig gleiche, aber Gesamtladungen tragen. Die Entladung eines aufgeladenen Leiters, etwa eines Elektroskops, hat man sich da- nach so vorzustellen, daß im Falle der nega- tiven Aufladung die positiven Teile des ladungsvorgang nicht aufhalten, weil sie an den Konduktor infolge seines abstoßenden Feldes nicht heran können. Man bezeichnet die geladenen Teile des Gases als „Ionen", das Gas nennt man „ionisiert". Diese Ausdrücke sind der Elektrolyse entlehnt; es soll aber hiermit nur zum Ausdruck gebracht werden, daß man es wie in der Elektrolyse mit geladenen Teilen zu tun hat, die im elek- trischen Felde zu „wandern" imstande sind. Ueber die Identität der Ionen selbst mit denen der Elektrolyse oder über die Gleich- artigkeit des Vorganges der Ionenbildung, der „Ionisation", soll hierdurch nichts ge- sagt sein. Da die Moleküle des Gases in fortge- setzter Bewegung sind, so müssen Zusammen- stöße sowohl der Moleküle untereinander, als auch der Moleküle mit den Ionen , als auch der Ladungen untereinander erfolgen. Hierdurch werden die Ionen sich all- mählich neutralisieren; zwei entgegengesetzt geladene Ionen, die zusammenstoßen, können einen neutralen Körper bilden, indem sie sich „rekombinieren" oder „wieder- vereinigen". Das Experiment 2 und 3 be- ruht offenbar zu einem Teil auf einer solchen „Rekombination"; zum anderen läßt es sich dadurch erklären, daß die Ionen an die geerdete Wand gelangen, und so_ infolge von ihre Ladung verlieren 2b) Der Strom im ionisierten Gase. Die Möglichkeit, dem Gase die Leitfähig- keit durch ein elektrisches Feld zu entziehen, die durch obiges Experiment 1 erwiesen ist, zeigt, daß ein solches Feld eine Strömung der Ionen im Gase bewirkt, durch welche die Ionen aus dem Gase heraus gezogen werden. Es wandern hierbei offenbar die+Ionen zur — Platte, die — Ionen zur -f-Platte des Kondensators. Untersucht man nun die Abhängigkeit der Strömung im Gase von der Stärke des elektrischen Feldes zwischen den Konden- .Diffusion an die geerdete Wand" 366 Elektrizitätsleitimg in Gasen satorplatten , indem man die elektrische Spannung zwischen den Platten, von geringen EMK. anfangend, steigert, und bei kon- stanter Bestrahlung den Stromwert, der zu jeder angelegten Spannung gehört, fest- stellt, so ergibt sich die in Fig. 2 darge- stellte Abhängigkeit der Strömung im Gase von der Spannung, die man ihrem Charakter nach in 3 Abschnitte zer- legen wird: I. Bei geringen Spannungen steigt der Strom direkt proportional der angelegten EMK, d. h. es gilt das Ohmsche Gesetz. IL Bei weiterer Steigerung hört die Propor- tionalität auf : der Strom wächst weniger schnell, als der Zunahme der Spannung entspricht, und wird schließlich konstant, d. h. er hört ganz auf zuzunehmen, trotz weiterer Steigerung der Spannung. III. Diese Unabhängigkeit von der Spannung ist jedoch an eine gewisse Grenze gebunden. Wird diese überschritten, so findet man von einer bestimmten EMK an einen sehr schnellen Anstieg des Stromes mit der Spannung. Dieser Anstieg erfolgt viel schneller als dem Ohmschen. Gesetz ent- spricht. Die Figur 2 zeigt den Verlauf der Strom- Stro E. M. K Fig. 2. Charakteristik. Man erkennt deutlich die 3 Stadien, die soeben beschrieben wurden. Man bezeichnet das Stadium II als das Stadium des „Sättigungsstromes" oder auch „Grenzstromes". Das Stadium III wird als das der „Feldentladung" oder der „selb- ständigen Strömung" oder der „Ionisation durch Stoß" bezeichnet. Das Ohmsche Gesetz in Flüssigkeiten oder in Gasen wird dadurch kinematisch er- klärt, daß man die Beschleunigung, die einem Ion durch die EMK. der Elektroden erteilt wird, durch die Reibung als vernichtet an- sieht, die das Ion durch den Zusammenstoß mit den neutralen Molekülen erleidet. Nur bei Vernichtung der Beschleunigung durch Reibungsarbeit ist eine direkte Proportiona- lität zwischen Strom und Spannung zu er- warten. Für diesen Fall ergibt sich die Be- wegung des Ions als lediglich bestimmt durch die Stärke des Feldes an der Stelle zwischen den Kondensatorplatten, an denen sich das Ion gerade befindet. Bewegt sich das Ion im Vakuum, so gilt das Ohmsche Gesetz nicht. In diesem Falle ist die Bewegung des Ions lediglich abhängig von der be- schleunigenden Kraft, die durch das Feld auf das Ion ausgeübt wird. Alsdann fliegt das Ion im Felde 0 mit der Geschwindigkeit weiter, zu der es durch das Feld beschleunigt wurde, während es im Falle der Gültigkeit des Ohmschen Gesetzes im Felde 0 die Ge- schwindigkeit 0 haben würde. a) Ionisation und Potentialvertei- lung im Stadium I. Aus der Gültigkeit des Ohmschen Gesetzes im Stadium I ist demnach zu schließen, daß die Geschwindig- keit des Ions der angelegten EMK propor- tional ist. Ist die Ladung eines Ions e und werden n Ionen pro Kubikzentimeter des Gases in der Sekunde erzeugt, ist ferner die Geschwindigkeit eines Ions im Felde von einem Volt/cm, die sogenannte „Beweglich- keit", gleich v, so ist der Strom J, der pro Quaclratzentimeter Elektrodenquerschnitt im Gase fließt: n.e.v.E J=-— -• Hier bedeutet E die Anzahl der Volt, 1 die Entfernung der Elektroden, und es ist nur eine Geschwindigkeit der Ionen angenommen. Sind Ionen von zweierlei Vorzeichen vor- handen, welche die Beweglichkeiten ux und u2 haben und die Ladung e tragen, so wird: _ n.e(u1+u2)E J - j Es ist hier also bei kleinen EMK. ausgedrückt, daß die Stromstärke der Kraft proportional ist. Ist der Querschnitt der Platten nicht 1 qcm, sondern F qcm groß, so wird der Strom bei gleichmäßiger Volumenionisation T _ n.e.F.O^-f u2)E J- -T- ß) Ionisation und Potentialver- teilung im Stadium II. Aus dem Vor- hergehenden ist klar, daß der Strom, der zwischen den Platten fließt, direkt abhängig ist von der Anzahl der Ionen, die an den Elektroden abgeschieden werden. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß nicht mehr Ionen in der Sekunde abgeschieden werden können, als in der Sekunde erzeugt wurden. Werden also durch die vorhandene EMK alle Ionen, Elektrizitätsleitung in Gasen 3(57 die im Gase sind, abgeschieden, so kann eine Steigerung der EMK. keine Steigerung des Stromes mehr bedingen. In diesem Falle ist „Sättigungs ström" vorhanden, und der Strom wird, wie Stadium II anzeigt, un- abhängig von der Spannung. Die Strömung selbst wird demnach ganz unabhängig von der Beweglichkeit der Ionen, d. h. von ihrer Geschwindigkeit im Gefälle 1. Lediglich eine Vergrößerung der Ionen- zahl kann, eine Vergrößerung des Stromes herbeiführen. Hieraus folgt ein auf den ersten Blick sehr paradox erscheinendes Verhalten des Sättigungsstromes im Falle der gleich- mäßigen Ionisation des ganzen Gasvolumens. Ist die Entfernung der Platten zunächst 1 und wird sie dann auf 1 vergrößert, so wird hierdurch das zwischen den Platten be- findliche Gasvolumen und hiermit die Zahl der Ionen zwischen den Platten direkt pro- portional mit dem Volumen des Gases zwischen den Platten vergrößert. Infolge- dessen wächst der Strom J nach der Gleichung: J = F.l.n.e. Die Stromstärke nimmt hier also zu, wenn man die Gasstrecke, die im Strom- kreise selbst den ,, Widerstand" bildet, ver- größert. Man sieht hieraus, daß man nicht von einem „Widerstand des Gases" in dem Sinne sprechen kann, wie dies sonst in der Elektrizitätsleitung geschieht. - - Die Be- stimmung des Sättigungsstromes in einem Gase ist von großer Wichtigkeit, wenn man die Stärke der Ionisation im Gase bestimmen will. Das Potential, welches nötig ist, um Sättigungsstrom zu erreichen, ist von der Natur des Gases, der Stärke der Ionisation, dem Gasdruck, der Plattengröße und der Plattenentfernung abhängig. Bei gegebener Strahlungsintensität nimmt die Sättigungsspannung schnell ab bei Erniedrigung des Gasdrucks. Es sind zwei Ursachen, die dieses Resultat herbeiführen. Erstens die Abnahme der Ionenzahl mit dem Druck, und zweitens die Steigerung der Ionengeschwindigkeit bei Abnahme des Drucks Hierdurch wird notwendig sehr viel schneller Sättigung erreicht, weil seltener Rekombi- nationen eintreten, und die Zeit, während der die Ionen sich zwischen den Platten be- finden, kürzer ist ; z. B. wird für eine gegebene Strahlungsintensität in Wasserstoff leichter Sättigung erreicht als in Luft, weil die Ionisa- tion geringer, die Geschwindigkeit außerdem größer ist. Andererseits erfordert Kohlen- säure eine größere Sättigungsspannung als Luft, da die Ionisation stärker und die Geschwindigkeit geringer als in Luft ist. Diese Resultate sind nur für den Fall zutreffend, daß eine gleichmäßige Ionisa- tion durch die Bestrahlung stattfindet. Ist dies nicht der Fall, und erfolgt nur in einer ganz dünnen Schicht an einer der Platten die Ionisierung, so wird sich bei Entfernung der Platten die Ionenzahl zwi- schen diesen nicht mehr ändern: Im Falle der Oberflächenionisation wird der Sättigungsstrom unabhängig von der Plattenentfernung. Hierbei ist alsdann noch die weitere Eigentümlichkeit zu erwähnen, daß der Strom nur von Ionen eines Vorzeichens ge- tragen werden kann und zwar des Vor- zeichens, das gleich dem der bestrahlten Platte ist. Die Potentialverteilung bei Sät- tigungsstrom. Dem Einsetzen des Sätti- gungsstromes geht eine Veränderung in der Verteilung der Feldstärke, gegenüber der- jenigen im Stadium I, parallel. Im Falle der Gültigkeit des Ohmschen Gesetzes ist das Feld zwischen den Platten nahezu gleich- förmig. Wenn aber Sättigungsstrom ein- setzt, so wächst der Potentialfall, falls die Ionenzahl nicht äußerst gering ist, in der direkten Nachbarschaft der Elektroden, wäh- rend er zwischen den Platten abnimmt. Die folgende Figur zwigt den Verlauf, wie er zuerst von Child und Zeleny beobachtet worden ist. 3 stellt den Potentialfall dar Figur in _ 50 Volt \ 4) Spannunq « H fT3 cn l 50 Volt >w Q_ V) a Q. -> Abstand von einer Platte Fig. 3. IS Falle von Volumionisation bei Sättigungs- strom. Die Kurve des Potentialverlaufs ist eine Wendepunkt-Kurve. Im Falle der Oberflächenionisation ist kein Wendepunkt vorhanden. y) Ionisation und Potentia lvertei- lung im Stadium III. Die Behandlung dieses letzten Stadiums wird Gegenstand des zweiten Teils der hier vorhegenden Darstellung 368 Elektrizitätsleitung in Grasen der Gasentladung sein. Hier sei nur bemerkt, daß, zur Erklärung der enormen Vermehrung der Ionen, die bei einem ganz bestimmten Potentialgefälle einzusetzen beginnt, man gezwungen ist, eine neue Hypothese über die Ionen-Erzeugung zu machen. J. J. Thom- son und Townsend zeigten zuerst, daß die hier auftretenden Erscheinungen sich er- klären lassen, wenn man annimmt, daß die Größe des im Stadium III erreichten Gefälles, die Ionen befähigt, dank der lebendigen Kraft, die sie in dem Gefälle erworben haben, neue Ionen zu bilden, wenn ein Zusammenstoß mit neutralen Molekülen erfolgt. 2c) Beweglichkeit und Wande- rungsgeschwindigkeit. Als Wanderungs- geschwindigkeit bezeichnet man den Weg, den die Ionen in der Zeitein- heit zurücklegen. Wirkt hierbei auf das Ion das Feld von 1 Volt/cm, so wird diese Größe die „Beweglichkeit" des Ions ge- nannt. Die Beweglichkeit der verschiedenen Gas- ionen ist eine sehr verschiedene; auch hängt sie von dem Zustand des Gases ab, in welchem sich das Ion bewegt. Sie ist in feuchten Gasen geringer als in trockenen; sie ist vom Druck und von der Temperatur abhängig. Im allgemeinen ist sie für das negative Ion größer als für das positive. Die Messung dieser Beweglichkeit kann auf verschiedene Weise erfolgen. Die Methoden, die hierzu dienen, lassen sich in direkte und in indirekte einteilen. Sie sind zum weitaus größten Teil J. J. Thomson und seinen Schülern zu danken. a) Verhältniszahl der Beweglich- keiten aus dem Potentialgefälle bei S ä 1 1 i g u n g s s t r o m . Es ist sehr beachtens- wert, daß im Falle der Volumenionisation sich das Verhältnis der Ionenbeweglichkeit direkt aus der Kurve des Potentialgefälles bei Sättigungsstrom entnehmen läßt. Wie dies heraus kommt, ist ohne die hier zu ver- meidenden Mittel der höheren, theoretischen Physik etwa durch folgende Ueberlegungen einzusehen: Wenn die Ionen in großer Menge durch die EMK. zu den Platten getrieben werden, so stauen sie sich an den Elektroden, und es bilden sich dort Anhäufungen, die an der positiven Platte ein negatives Polari- sationsgebiet, an der negativen ein positives erzeugen. Die Schichtdicke dieser Polari- sationsgebiete wird um so beträchtlicher sein, je schneller die Ionen zu den Platten getrieben werden, denn dadurch wird die Anzahl der Ionen, die nicht von der Elektrode sofort neutralisiert werden können, zunehmen. Dieses Anwachsen der Schichten kann aber nur so lange stattfinden, bis die Gebiete entgegen- gesetzten Vorzeichens zusammenstoßen. Da gleich viele Ionen jedes Vorzeichens vorhanden sind, und da jedes Ion die gleiche Ladung trägt, so wird die Verhältniszahl der sich ansammelnden Ionen, lediglich abhängig sein von dem Geschwindigkeitsverhältnis der beiden Ionenarten. Umgekehrt wird man aus dem Schichtdiekenverhältnis das Ver- hältnis der Geschwindigkeiten entnehmen können. Wird in der Weise, wie es Figur 3 zeigt, der Potentialfall zwischen den Platten bei Sättigungsstrom aufgenommen, so zeigt, wie ersichtlich, der Potentialverlauf eine Krümmung an, die in der Nähe der Platten ein Maximum hat. Nach einem bekannten Satze von Poisson läßt sich nun aus der Stärke und der Ausdehnung der Krümmung direkt die Menge oder Dichte der freien Elek- trizität an den Elektroden angeben: Es wird die Dichte gleich der Aenderung des Potentialfalles dividiert durch A.n. Die Figur 4 zeigt die auf diese Weise von Zeleny Dichte Electn Negative Platte Positive Platte < > Abstand von einer Platte Fig. 4. aus der Figur 3 erhaltene Schichtdicke und Mächtigkeit der freien Elektrizität im Falle der Potentialverteilung der Figur 3 an. Das Zusammenstoßen der Schichten entgegen- gesetzten Vorzeichens erfolgt nun, wie dies die Figur 3 zeigt, in einem Wendepunkt. Es werdensich demnach dieGeschwindigkeiten der beiden Ionen verhalten wie die Ab- stände des Wendepunktes von den Platten. Es wird ' U, 1—3 wo x die Entfernung des Wendepunktes von der positiven Platte bedeutet. Auf eine prinzipiell wichtige Eigenschaft der Potentialkurve ist hier noch hinzuweisen: Wie man aus Figur 2 ersieht, ist dieKrümmung der Kurve, ihrem Charakter als Wende- punktskurve entsprechend, an der negativen Platte konvex zur x- Achse, an der posi- tiven konkav. Wie wir sahen befindet sich an der konvexen Seite positive, an der konkaven freie negative Elektrizität. Man kann ganz allgemein aus dem Poten- tialgefälle, selbst bei dem sehr viel kom- plizierter hegenden Fall der Glimment- ladung, einen Schluß auf die Elektrizitäts- Elektrizitätsleitung in (lasen 369 Verteilung in der Röhre ziehen. Je nach- dem die Potentialkurve konkav oder konvex zur x-Achse verläuft, sind entweder wahre Ladungen positiven, respektive negativen Vorzeichens vorhanden oder es läßt sich ein Schluß über das Verhältnis von Ionisation und Rekombination ziehen. ß) Die Bestimmung der absoluten Größen der Beweglichkeit. Um die absoluten Beweglichkeiten zu erhalten, ist noch eine zweite Beziehung für ut und u2 erforderlich. Man erhält sie am einfachsten durch direkte Strommessung im Stadium I, das heißt durch Strommessung in dem Be- reich der E-J-Kurve, in dem das Ohmsche Gesetz gilt, also Proportionalität zwischen Kraft und Strom vorhanden ist. Alsdann ist: 2) J n(u1+u2)e.E wenn n die Anzahl der wandernden Ionen eines Vorzeichens, e die Ladung, 1 die Platten- entfernung ist. Um n.e zu bestimmen, verfährt man so. daß man unmittelbar nach der Bestrah- lung, bevor die Ionen Zeit haben, sich zu rekombinieren, eine so große EMK. an eine der Platten anlegt, daß alle Ionen eines Vor- zeichens, die durch die Bestrahlung frei ge- macht werden, gegen die gegenüberstehende isolierte Platte, welche die Ladung 0 hat, getrieben werden. Hierdurch erhält die isolierte Platte eine Ladung, die elektrometrisch ge- messen wird. Bei Kenntnis der Kapazität C des aufgeladenen Systems läßt sich n.e be- stimmen, denn es gilt die Gleichung: q=V.C = n.e also 2') J = V.C.E .(«i Aus Gleichung 1 und 2 läßt sich natürlich u, und u, einzeln bestimmen. 7) Direkte experimentelle Messung der 'Wanderungsgeschwindigkeiten. Luftstrommethode. Methode des Wechselfeldes. Die Methode der Messung, die im vorigen beschrieben wurde, ist keine direkte, da die Wan- derungsgeschwindigkeiten erst aus dem Zusammenhang von Poten- tialmessung und Strommessung erhalten wurden. Eine sehr in- teressante direkte Methode wurde zuerst von Zeleny eingeführt, und später von verschiedenen Forschern, zum Teil etwas modi- fiziert, verwendet. Die Methode ist eine Luftstrommethode, die in folgendem besteht: Durch zwei Metallnetze, die auf verschiedenem negative trometer getrieben. Luftstroms, welcher wirkt, stärker als ein Luftstrom von konstanter Stärke ge- blasen. Die eine Platte ist mit dem Elek- trometer, die andere mit einer veränderlichen Spannung verbunden. Ist im Schema der Figur 5 die Luft zwischen den Platten ionisiert, so wird das Ion durch das Gefälle zum Elek- Ist nun die Kraft des dem Gefälle entgegen- die Kraft, welche das elektrische Feld auf das Ion ausübt, so kann das Ion nicht zu der Platte, die mit dem Elektrometer verbunden ist, gelangen, weil es gegen die Stärke des Luftstroms nicht an kann. Um eine Aufladung zu erhalten, muß man also entweder den Luftstrom abschwä- chen, oder man muß das Feld verstärken. Kennt man Feldstärke und Luftgeschwindig- keit, so erhält man direkt die Geschwindig- keit des Ions. - - Ist der Luftstrom konstant und le2:t man einmal Volt an die Platte B, so Feldes, die notwendig ladung von A zu erhalten, im Falle + und — verschieden sein, wenn die Beweglichkeit der Ionen verschiedenen Vorzeichens ver- schieden ist. Ist V die Geschwindigkeit des Luftstroms, so ist im Falle, daß man eine Aufladung von gleichem absolutem Betrage erhält, ob mannun-f- oder — Spannung anlegt. das andere Mal — wird die Stärke des ist, um eine Auf- wo E die der Platte Aufladung also ist Eiu— V = Voltzahl A, E' die bedeutet ; negativer u. E'u2— V bei positiver Aufladung Voltzahl bei E' ~ E In diesem Falle erhält man also, ohne die absolute Geschwindigkeit des Luftstromes zu kennen, das Verhältnis der Wanderungs- geschwindigkeiten. Wenn man direkt die Stärke Stroms mißt, die gerade bewirkt, Ion mehr zur Platte gelangt, so des Luft- daß kein hat man it Y E Electromete >- M-i Luftstrom Potential gehalten werden, wird Fig. 5. Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 24 370 Elektrizitätsleituim' in Gasen Man erhält also direkt die absolute Größe der Wanderungsgeschwindigkeit. Methode des Wechselfeldes. Eine sehr genaue Methode, die Wanderungs- geschwindigkeit zu messen, die dann ange- wendet werden kann, wenn die Ionen nicht gleichförmig zwischen den Platten, sondern in unmittelbarer Nähe einer Platte (an der Oberfläche) erzeugt werden, rührt von Ru- therford her. Es wird hierbei eine bekannte EMK., die in der Sekunde eine ganz bestimmte Anzahl von Vorzeichenwechseln aufweist, die außerdem einen harmonischen Verlauf hat, d. h. sinusförmig verläuft, an die Platte B in der Figur 6 angelegt. eine Aufladung von A bei der Bestrahlung aufhört, so wird aus der Messung dieser Ent- fernung und der Kenntnis von a und p, die sich leicht bestimmen lassen, die Geschwin- digkeit des Ions erhalten zu: p.d2 u = 2a ^ .A „ß -> Erde Fig. 6. Wird etwa durch Bestrahlung mit ultra- violettem Licht negative Elektrizität an der Platte A frei, so kann das Elektrometer, das mit A verbunden ist, nur dann positiv ge- laden zurückbleiben, wenn der Abstand der Platten klein genug und die Kraft zwischen ihnen groß genug ist, um die von A kommenden Elektrizitätsträger hinreichend zu beschleunigen, um sie nach B gelangen zu lassen, bevor das beschleunigende Poten- tial bei B sich in ein verzögerndes umge- wandelt hat. Ist nämlich die EMK. während der Dauer einer halben Schwingung der Platte B nicht groß genug, um den negativen Elektrizitätsträgern die Geschwindigkeit zu erteilen, die zur Zurücklegung des Abstandes A bis B in der Zeit einer halben Schwing- ungsdauer erforderlich ist, so würden die von A kommenden Elektrizitätsträger wieder zu A zurückkehren, bevor sie B erreicht haben, da sie bei B in diesem Falle ein nega- tives, also ein abstoßendes Potential an- treffen würden. Man würde also keine Auf- ladung des, mit der bestrahlten Platte ver- bundenen Elektrometers erhalten können. Ist die Potentialdifferenz zwischen den Platten zur Zeit t = asin pt, wo a die maximale Amplitude des Wechselstroms, p seine Fre- quenz bezeichnet, so ist die Geschwindigkeit des Ions in diesem Felde = u . -,- sin pt, wo d der Abstand der Platten ist. Die größte Distanz, die das Ion von der Platte er- 2 u a reichen kann, ist dann = 4—. Wenn man p.d demnach, bei Aenderung der Plattenentfer- nung beobachtet, bei welchem Plattenabstand Diese Methode setzt voraus, daß ledig- lich an der Oberfläche A, und nicht in dem Raum zwischen den Platten, der Sitz der Ionenerzeugung ist. Um diese Ruther- fordsche Methode auch für den Fall der Volumenionisation zu verwenden, muß eine Modifikation der Methode eintreten. Man kann die Ionen in einem außerhalb des Raumes A bis B gelegenen Volumen erzeugen, und sie alsdann an die Innenseite einer netzförmigen Elektrode A durch Anlegung einer Hilfsspannung bringen. Auf diese Weise wurden von Franck und Pohl und von Franck Konstantenmessungen für eine Reihe von Gasionen ausgeführt. In folgender Tabelle sind die Wanderungsgeschwindig- keiten angegeben, die nach dieser oder einer der vorher beschriebenen Methoden erhalten wurden. u, u2 He 5,og 00 160 H, 6,74 7,95 N2 1,27 <^j 144 CO 1,10 1,14 02 1,36 1,80 Ar i,37 r^> 2IO CO., 0,76 0,8l N,0 0,82 0,90 NH, . o,74 0,80 In den chemisch trägen Gasen fallen die hohen Werte der negativen Ionen ins Auge, die von Franck erhalten wurden, als er gut gereinigte Gase untersuchte. Einen tieferen Einblick in den Zusammen- hang, der zwischen der Wanderungsgeschwin- diirkeit und der Natur des Ions besteht, er- hält man aus der Beziehung, die zwischen ihr und der Diffusionsgeschwindigkeit besteht. Dies wird aus dem folgenden Abschnitt her- vorgehen. 2d) Die Diffusion der Ionen. Wie bereits oben erwähnt, bezeichnet man als Dii'f usionskoeffizient D die Zahl, welche angibt, wieviel Ionen sich aus einem cm3 des Gases in der Zeiteinheit durch den Quer- schnitt von einem cm2 bewegen, wenn die Einheit der Kraft als Konzentrationsgefälle auf die Ionen wirkt. Die Widerstände, die das Ion bei der Bewegung unter der Einheit des Konzentrationsgefälles zu überwinden hat, sind bei gleichem Lösungsmittel genau die gleichen, wie sie es sind, wenn sich das Ion unter der Einheit des Potentialgefälles Elektrizitätsleitimg in Grasen 371 bewegL Während in letzterem Fall das elektrische Feld das Ion bewegt, ist es im Falle der Diffusion die Druckdifferenz. Hiernach ist es leicht einzusehen, daß zwischen der Geschwindigkeit eines Ions unter der Einheit des Potentialfalls, und dem Diffusionskoeffizienten eine nahe Beziehung bestehen muß. Wenn N die An- zahl der Moleküle eines Gases im ccm bei einem Drucke n ist, so ergibt sich, wenn e die Ladung eines Ions bezeichnet, für den Zusammenhang zwischen Diffusionskoeffi- zient D und Beweglichkeit u, die Gleichung ,^D.N.e n Es ist also u direkt proportional mit D, so daß die Kenntnis einer dieser Größen uns in den Stand setzt, die andere zu berechnen. Andererseits ist klar, daß man bei direkter Messung von D und u die Größe Ne, das ist die Ladung der Ionen in einem ccm des Gases bestimmen kann. Mißt man schließ- lich auch noch die Ladung e, die einem ein- zelnen Ion anhaftet, so liefert die Beziehung direkt die Anzahl der Moleküle in einem ccm Gas bei Atmosphärendruck, die soge- nannte Lohschmidt sehe Zalü, die aus ganz anderen Ueberlegungen zuerst aus der kinetischen Gastheorie erhalten wurde. Ihre Wiedergewinnung auf dem hier ange- gebenen Wege gehört zu den interessante- sten Resultaten der Methoden der Erfor- schung der Elektrizitätsentladung in Gasen. Auch ohne direkte Bestimmung des Wertes der Ladung e ergibt sich aus den Messungen der Diffusionsgeschwindigkeit ein für die Erforschung des Gebietes außerordentlich wichtiges Ergebnis: Wenn eine elektrische Kraft auf das ionisierte Gas wirkt, welche die Stärke 1 Volt hat, und der Druck gleich dem Atmosphären- druck oder 10 6 Dynen ist, so wird, da 1 Volt gleich Y300 ESE. ist N.e = 3.108u/D. Vergleicht man den Wert von N.e, den man so für die Ionen des Gases erhält, mit dem entsprechenden, bei der Elektrolyse des Wassers erhaltenen, so ergibt sich folgendes. Der Durchgang einer elektromagnetischen Einheit durch Wasser erzeugt in der Sek. 1,23 ccm H2 bei 15° C und Atmosphären- druck. Die Zahl der Atome in diesem Volumen ist 2,46. N und wenn die Ladung des Wasserstoffatoms in der Elektrolyse e ist, so ist 2,46. N.e = 3.1010E.S.E und N£ =1,22.1010E.S.E. Demnach ist e/e = 2,46. 1(T u/D. Setzt man die unter gleichen Bedingungen erhaltenen Werte von u und D ein, so ergibt sich das Verhältnis von e/e sehr nahe gleich 1. Hieraus folgt: Die Ladung der Gasionen ist die gleiche wie die der Ionen in der Elektrolyse, und ist die gleiche in allen Gasen. Die Beobachtungen über die Diffusion der Ionen wurden von Townsend nach folgender Methode angestellt. Townsend bestimmte die Diffusion der Ionen durch Röhrensätze verschiedener Länge; die hier- aus erhaltenen Diffusionsgrößen in Ab- hängigkeit von der Länge der Röhren ge- statten die Berechnung der Diffusions- koeffizienten. Das Prinzip der Messung be- steht darin, daß der Verlust der Ionenladung des Gases nach Passierimg der Röhren elek- trometrisch festgestellt wird. Dieser Ver- lust ist, auch in engen Röhren, nicht allein durch die Diffusion der Ionen an die Wände bedingt. Ein Teil desselben ist auf Kosten der Rekombinationen zu setzen. Diese Größe mußte getrennt ermittelt werden. In völliger Uebereinstimmung mit den Resultaten der Wanderungsgeschwindigkeits- messung erwies sich der Diffusionskoeffizient der Ionen unabhängig davon, ob die Ionen durch Röntgenstrahlen, durch Radiumstrahlen oder durch ultraviolettes Licht erzeugt waren. Folgende Tabelle gibt die Diffusionskoeffi- zienten für einige Gase wieder. Luft trocken D^C.,028 D2=o,o43 feucht 0,032 0,035 02 trocken 0,025 0,0396 feucht 0,0288 0,0358 C02 trocken 0,23 0,026 feucht 0,245 0,0255 H2 trocken 0,123 0,190 feucht 0,128 0,142 2e) Die Rekombination der Ionen. Auch die Rekombinationszahl der Ionen ist von verschiedenen Forschern, wie Town- send, Langevin und McClung direkt gemessen worden, und hat sich im Einklang mit den theoretischen Vorstellungen über ihr Zustandekommen ergeben. Die Zeit, die für dieselbe nötig ist, ist viel größer bei einer geringen vorhandenen Ionenmenge als bei einer großen Zahl vorhandener Ionen. Aus einigen Erscheinungen, wie z. B. der Tatsache, daß ein Sättigungsstrom viel schwerer zu erreichen ist, wenn die Ionisation durch a-Strahlen erzeugt wird, als im Falle der ß- oder y - Strahlenerzeugung , wollte Bragg schließen, daß die a-Strahlen eine geringere Ausgangsgeschwindigkeit für die negativen Träger bedingen, und deshalb letztere leicht wieder zum positiven Restatom zurückgezogen würden, woraus eine „Ini- tialrekombination" resultieren würde. Neuere Arbeiten machen sehr wahrscheinlich, daß die erwähnte Schwierigkeit bei a-Strahlen, Sätti- gungsstrom zu erreichen, auf der Eigentüm- 24* 372 Elektrizitätsleitung in Gasen lichkeit der a-Stralilen beruht, auf geradlinigen Bahnen sehr konzentrierte Ionisation zu erzeugen. Hierdurch sind die Ionen im Gase nicht gleichmäßig verteilt, sondern bilden quasi Ionen - konzentrierte Gassäulen im Gase. An diesen Stellen wird dann eine relativ schnelle Wiedervereinigung statt- finden. Diese Vorstellung ist sehr gestützt, vor allem durch Versuche von Moulin, der zeigte, daß der Sättigungsstrom bei einer Plattenorientierung, die senkrecht zu der Bahn der a-Teilchen ist, viel schneller eintritt, als bei einer, die parallel mit ihr geht. 2f) Die Natur der Ionen in Gasen. Entstehung und Größe. Aus der Tabelle der Wanderungsgeschwindigkeiten ist ersicht- lich, daß die Wanderungsgeschwindigkeit der verschiedenen Ionen verschieden ist. Es ist nun sehr wesentlich, daß sie sich unabhängig davon ergibt, durch welches Agens die Ionen erzeugt wurden. Die in einem Gase bei gleichem Druck und unter genau gleichen Be- dingungen entstandenen Ionen sind die glei- chen bei Erzeugung derselben durch Röntgen- strahlen, wie durch die verschiedenen Strah- lenarten des Radiums. Auch bei Erzeugung durch die Spitzenentladung, und bei Atmo- sphärendruck, sowie bei der durch ultra- violettes Licht, ergibt sich die Ionengeschwin- digkeit unabhängig von den erzeugenden Strahlen. Bei den negativen Ionen, die bei der Spitzenentladung und unter Umständen auch bei der Erzeugung durch ultraviolettes Licht im Volumen des Gases frei werden, er- hält man bei der Messung meist schwankende und zum Teil größere Werte als bei der Volumenionisation durch Röntgenstrahlen. Dies dürfte daher kommen, daß in jenen Fällen die Ionenerzeugung im Gasvolumen eine indirekte ist, indem erst durch die an den Wänden frei gemachten Elektronen das Gas ionisiert wird, und in die Messung selbst auch freie Elektronen, die nicht aus dem Gase, sondern von den Wänden stammen, eingehen. Eine direkte Erzeugung der Gasionen durch Bestrahlung mit ultra- violettem Licht ist nur bei sehr intensivem Licht von Lenard gefunden worden, und zwar entstanden hierbei sehr langsam wan- dernde Ionen, die aus einer Ansammlung einer großen Zahl von Molekeln bestanden, und mehr als feste Teilchen, an die sich ein Elektron ansetzte oder von denen es sich absonderte, anzusprechen sind, als wie als Gasionen im gewöhnlichen Sinne. Geringe Aenderungen im Zustand des Gases, vor allem Spuren von Feuchtigkeit, oder geringe Beimengungen eines zweiten Gases, können für die Messung der Wande- rungsgeschwindigkeiten, vor allem bei den negativen Ionen, sehr wesentlich werden. Es beruht dies, wenigstens zum Teil auf der Fähigkeit der Ionen, als Kerne der Konden- sation zu wirken, also z. B. Wassermoleküle auf der Oberfläche zu kondensieren. Diese Eigenschaft besitzen nach den hervorragen- den, namentlich für die Deutung der Luft- elektrizität fundamentalen Untersuchungen von C. T. R. Wilson die negativen Ionen in stärkerem Grade als die positiven. Der Vorgang der Ionisation eines Gases ist keineswegs völlig geklärt. Einige Auf- klärung erbrachte in dieser Hinsicht die Unter- suchung der Ionisation bei variablem Druck. Aendert sich der Druck, so müßte, falls das Ion sich nicht selbst ändert, die Wanderungs- geschwindigkeit umgekehrt proportional mit dem Druck wachsen. Dies ist annähernd, aber auch nur annähernd, für das positive Ion erfüllt. Es ist aber keineswegs für das negative Ion erfüllt. Die Wanderungs- geschwindigkeit des negativen Ions wächst viel schneller, als der Proportionalität bei Ab- nahme des Druckes entspricht. In sehr weit- evakuierten Röhren ist das negative Ion stets das Elektron, auch dann, wenn man bei Evakuierung mit einer Oelpumpe oder mit einer Quecksilberpumpe die Oel- respektive Hg-Dämpfe nicht fortschafft. Die Experi- mente von Langevin machen es bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich, daß bei jeder Ionisation in statu nascendi das nega- tive Ion das Elektron ist. Auch anderweitige Versuche an Flammen und die großen Wande- rungsgeschwindigkeiten in chemisch trägen Gasen sprechen dafür, daß das negative Ion in statu nascendi das Elektron ist und in diesem Zustande während eines beträchtlichen Teils seines Weges zwischen den Elektroden bleibt. Die Abweichung der Wanderungsgeschwin- digkeit von der Proportionalität mit ab- nehmendem Druck ist so leicht erklärbar, da bei geringem Druck das Ion länger diesen Status nascendi behält als bei höherem. Die Messung der Wanderungsgeschwindig- keit ergibt alsdann einen Mittelwert, der sich aus der Wanderungsgeschwindigkeit des Elektrons und der des Ions zusammen- setzt. In der Tat fand Langevin eine kontinuierliche Zunahme der Wanderungs- geschwindigkeit bis zur Elektronengeschwin- digkeit, wenn er den Druck kontinuierlich verringerte. Der Befund relativ zu starker Zunahme der Wanderungsgeschwindigkeit der posi- tiven Elektrizitätsträger ist zum Teil den Gasmolekülen, die das positive Ion auf seiner Wanderung begleiten, und bei niedrigem Druck sich leicht dissoziieren, zuzuschreiben. Durch die für die Diffusionsgeschwindigkeit erhaltenen Zahlen wird man nämlich mit Notwendigkeit dazu geführt, anzunehmen, daß ein positives Ion bei seiner Wanderung von Gasmolekülen umgeben ist, die seine Geschwindigkeit reduzieren. Vergleicht man Elektrizitätsleitung in Gasen 373 die Diffusionsgeschwindigkeiten der Ionen mit denen gewöhnlicher Gasmoleküle, so findet man, daß letztere viel größer sind. Nun aber ist der Diffusionskoeffizient eines Gases annähernd der Quadratwurzel aus den Mole- kulargewichten der diffundierenden Gase um- gekehrt proportional. Aus der Kleinheit des Diffusionskoeffizienten der Ionen muß man deshalb auf eine große Masse des wandernden Ions schließen. Das Kohlensäureion müßte danach etwa 30 mal so groß sein als das Kohlensäuremolekül. Es ist hierbei eine Frage weiterer Vertiefung, ob diese Ionen- größe erst eine Folge der Ladung des Ions ist oder nicht. Langevin hat mit Hilfe der Theorie nachgewiesen, daß das Vorhanden- sein einer Ladung die Stoßzahl vermehren muß, und ein Teil der Verringerung des Diffusionskoeffizienteu der Ionen gegenüber dem der Gase ist deshalb nicht der Zu- nahme der Masse, sondern dem der Stöße zuzuschreiben. Es ist aber sehr unwahr- scheinlich, daß auf diese Ursache die ganze Differenz zurückzuführen ist. Die Ver- ringerung der Diffusionskoeffizienten wird sowohl der vergrößerten Stoßzahl, wie der Bildung von Aggregaten, die das Ion mit- schleppen muß, zuzuschreiben sein. Es spricht manches dafür, daß die Zusammensetzung dieser Aggregate, di*» das Ion begleiten, auf der Wanderung sich ändert und in schnellem Wechsel begriffen ist, selbst also nicht eine unveränderliche Masse, sondern eine sich fortgesetzt neu formierende darstellt. Infolge der Belastung der Ionen auf ihrer Bahn spielt die ursprüng- liche Masse des Ions eine ganz untergeordnete Kolle. In der Tat wandern die schweren, positiven Restatome der radioaktiven Substanzen vom Atom- gewicht 200 in einem elektrischen Felde im Wasserstoff etwa mit der gleichen Geschwin- digkeit, wie die Wasserstoffionen. Auch die Messungen von Well i seh über Wanderungs- geschwindigkeiten in Dämpfen deuten darauf hin, daß die Wanderungsgeschwindigkeit der Ionen im wesentlichen durch das um- gebende Gas bestimmt ist, in dem das Ion wandert, und daß die verschiedenen Ionen sich mit ihrer Wanderungsgeschwindigkeit nach dem Ballast richten, den sie aus der Umgebung aufnehmen. Bei den negativen Ionen sind offenbar ähnliche Verhältnisse vorhanden. Das primär entstehende Elektron ist auf seiner Bahn zum Teil frei von Ansammlungen, zum Teil nicht. Die großen Wanderungsgeschwin- digkeiten in Flammengasen, die von H. A. Wilson, Marx und Moreau erhalten wurden, sind hierfür ein prägnantes Beispiel, indem sie Werte bis zu 1700 cm/sec erreichen, also Werte, die zwischen Ionen- und Elek- tronenbeweglichkeiten hegen. 2g) Die direkte Messung der Ionen- 1 a d u n g . Eine direkte Messung der Ionen- ladung wurde zuerst von J. J. Thomson ausgeführt. Thomson benutzte hierbei die bereits oben erwähnte, sehr wichtige Eigen- schaft der Ionen als Kerne der Kondensation in einem Gase zu wirken, das in gewissem Grade mit Wasserdampf übersättigt ist. Um die Ionen kondensiert sich das Wasser so., daß Tropfen entstehen. Namentlich durch die oben erwähnten Versuche von C. T. R. Wilson ist diese Erscheinung, die quali- tativ unter dem Namen des Versuchs des „Blauen Dampfstrahls" bekannt war, ein- gehend studiert worden. Wenn man nach- weisen kann, daß die Zahl der Nebeltröpfchen mit der Ionenzahl wächst, und zwar direkt proportional, so folgt daraus, daß jedes Ion ein Tröpfchen bildet. Um diesen Nachweis zu führen, wurde von J. J. Thomson das Gewicht des in Tropfenform abgeschiedenen Wassers und der Durchmesser des einzelnen Tropfens bestimmt. Ist diese Bestimmung durchgeführt, so hat man hiermit gleich- zeitig die Anzahl der Tropfen, die bei einer bestimmten Ionisation ausfallen. Die Stärke der Ionisation erhält man durch Messung des Stromes: dieser ergibt, wie oben gezeigt wurde, die Größe N.e, wenn die Wanderungs- geschwindigkeiten der Ionen und die Kon- stanten des Apparates bekannt sind. Die Kenntnis der Tropfenzahl N ermöglicht demnach die Bestimmung von e. Das Gewicht der niedergeschlagenen Wassermenge wurde auf indirektem Wege ermittelt. Es tritt bei gegebener adiabati- scher Expansion eine Abkühlung des Gases ein, welcher aber infolge der Kondensation des bei der Abkühlung übersättigten Wasser- I dampfes, eine geringe Erwärmung des Gases l folgt. Die Abkühlung ist bei gegebener An- fangstemperatur eindeutig berechenbar aus dem bekannten Expansionsgrad. Beobachtet wird die sich einstellende Endtemperatur, die höher hegt als die theoretische Expan- sionstemperatur, wegen der Erwärmung des Gases durch Kondensation des Wassers. Einer bestimmten Erwärmung entspricht aber eine bestimmte freiwerdende Wasser- menge q, die zur Sättigung des Dampfes bei niederer Temperatur notwendig war. So ergibt die Temperaturdifferenz des End- zustandes gegenüber der theoretischen Ex- pansionstemperatur die niedergeschlagene Wassermenge q. Um nun noch die Größe der Tropfen zu erhalten, wird eine Beobachtung der Fall- geschwindigkeit der Nebeltröpfchen angestellt, indem mit Hilfe eines Fernrohres beobachtet wird, um wie viel sich der Rand der ge- bildeten Wolke in einer Sekunde senkt. Aus dieser Beobachtung läßt sich dann die Größe der die Wolke bildenden Tröpfchen 374 Elektrizitätsleitung in Grasen berechnen. Dies geschieht nach einer Glei- chung, die erhalten wird, wenn man berück- sichtigt, daß die Reibung der Tröpfchen so groß ist, daß eine Beschleunigung nicht ein- tritt. Nimmt man Kugelgestalt der Tröpf- chen an, so wird i/3m3.%=27truQ. Hier ist r der Radius der Tröpfchen, u die beobachtete Fallgeschwindigkeit, g der be- kannte Reibungskoeffizient der Luft, g die bekannte Massenbeschleunigung. Es läßt sich also r berechnen. Aus der Niederschlagsmenge q und dem Radius der einzelnen fallenden Kugel erhält 4 man aus der Gleichung q=n. „ f?i die An- zahl der fallenden Tropfen, also nach obigem die Anzahl der Ionen, und schließlich, durch Division der erhaltenen Zahl n in die aus der Strommessung gewonnene Größe ne, die Ladung e. Diese Messung ist später von H. A. Wil- son, von Millikan und anderen nach ähn- lichen Methoden, die aber die thermodyna- mische Berechnung der Niederschlags- menge vermieden, bestimmt worden. Auch haben Meier und Regener die Bestimmung des e aus der Scintillation der a-Teilchen des Poloniums, verbunden mit einer Strom- messung durchgeführt, und Planck zeigte, wie man aus den Gesetzen der Strahlung zu ihr gelangt. Der Wert der Konstanten ist 4,69. 10-10 ESE. 3. Feldentladung. Selbständige Strö- mung. Wir haben bisher nur Stadium I und II der E-J- Kurve behandelt. Diese Stadien sind dadurch gekennzeichnet, daß die Ionen, die von der angelegten EMK. in Bewegung gesetzt werden, in ihrer Zahl nicht abhängig sind von der Stärke der angelegten EMK. Wir sahen bereits oben, daß dies im Stadium III der E-J-Kurve aufhört. Auch wurde oben bereits ausgeführt, daß man sich die starke Vermehrung der Ionen so erklärt, daß man annimmt, die Ionen seien imstande neue Ionen zu erzeugen, falls sie mit einer be- stimmten lebendigen Kraft, also mit einer infolge der angelegten Spannung erreichten, bestimmten Geschwindigkeit auf die Gas- moleküle auf treffen, Die Erscheinungen, die durch diese Ionisierung durch Stoß hervor- gerufen werden, sollen in diesem . Abschnitt nur ganz generell behandelt werden, weil sie wegen der Bedeutung, die ihnen zukommt, in besonderen Artikeln von anderer Seite beschrieben werden (s. unten). Man sieht leicht ein, daß die Hypothese der Ionisation durch Stoß es ermöglicht, den enormen Anstieg des Stromes zu erklären, der im Stadium III der E-J-Kurve bei ganz geringer Steigerung der angelegten EMK. erfolgen kann. Sobald ein Ion auf ein Mo- lekül des Gases trifft, entstehen 2 neue Ionen, diese werden sofort wieder vom elektrischen Gefälle ergriffen, erlangen hierdurch selbst Geschwindigkeiten, die hinreichen, um ihrer- seits als Erzeuger neuer Ionen durch Stoß in Wirkung zu treten. Eine solche Art der Vermehrung, die der Menge des jeweils Vor- handenen proportional ist, bezeichnet man als eine exponentielle. Aus ihr erklären sich die großen Stromstärken, die im Lichtbogen oder im elektrischen Funken erreicht werden können. Voraussetzung für die Bildung dieser Ströme ist natürlich, daß, schon bei Anlegung der geringen Spannungen, einige wenige Ionen da sind. Nun ist dies in der Tat der Fall, denn ein jedes Gas zeigt eine, wenn auch ge- ringe Leitfähigkeit, die nicht durch beson- dere Hilfsmittel erst erzeugt werden muß. Es ist, wie oben ausgeführt, sehr wahrschein- lich, daß diese zum Teil durch die radioaktive Strahlung der Erde erzeugt ist. Man findet, daß sie sich kurze Zeit nach ihrer Beseitigung spontan wieder gebildet hat. 3a) Nichtleuchtende Feldentla- dung. Der Mechanismus der Feldentla- dung in Geißlerschen Röhren oder bei der Funken- oder Bogenentladung ist durch die soeben auseinandergesetzte Ionenbildung allein noch nicht erklärbar. Die Erschei- nungen führen dazu, daß man den Ionen die Fähigkeit, neue zu bilden, nicht nur beim Auftreffen auf Gasmoleküle zuschreiben muß, sondern auch beim Auftreffen auf feste Körper. Hier zeigt das Experiment, daß beim Auftreffen der Ionen stets Elektronen von Metall emittiert werden und zwar so- wohl beim Auftreffen negativer wie positiver Ionen, vorausgesetzt, daß die Geschwindig- keit derselben diesen die erforderliche leben- dige Kraft liefert, die für eine Neubildung nötig ist. Die Angaben, wie groß der Potentialfall sein muß, den die Ionen durchfallen müssen, um die für Bildung neuer Ionen nötige Energie zu erhalten, stimmen nicht völlig überein. Die verschiedenen Experimentatoren er- hielten Werte zwischen 2 bis U Volt. Townsend hat die Ionisation durch Stoß eingehend, theoretisch und experimentell, für den Fall behandelt, daß sich das Gas zwischen 2 Platten befindet, die eine Poten- tialdifferenz hinreichender Stärke haben. Es sei die pro Sek. entstehende Ionenzahl = n0; Rekombinationen sollen nicht ein- treten. Ist dann das Feld zwischen den Platten gleichmäßig verteilt, und erzeugt jedes negative Ion auf seinem Wege a zur po- sitiven Platte a neue Ionen pro cm, und die positiven Ionen auf ihrem Wege zur nega- tiven Platte ß neue Ionen, so ergibt sich für die Gesamtzahl n der zwischen den Platten entstehenden Ionen der Ausdruck: Elektrizilätsleitung in Gasen 375 n n0(a— /8)e(«-*>a a~ ß.ei"— ^ Wird die Feldstärke bei Abstandsände- rung a aufrecht erhalten, so muß dieser Aus- druck die Anzahl der gebildeten Ionen, bei fehlenden Rekombinationen also den Strom, in Abhängigkeit vom Plattenabstand wieder- geben. Um die Formel quantitativ zu prüfen, werden die beiden Konstanten a und ß aus 2 Strommessungen bei verschiedenem Plattenabstand a, ermittelt, und es wird für die übrigen beobachteten Plattenabstände der Stromwert mit den so gewonnenen Kon- stanten nach dieser Formel berechnet und mit den gemessenen Stromwerten verglichen. Folgende Tabelle ist der Arbeit von Town- send entnommen und zeigt, daß hier Rech- nung und Beobachtung sehr gut mitein- ander übereinstimmen. Die Konstanten a und ß stehen im Verhältnis von rund 1:500. Das besagt, daß die negativen Ionen in weit höherem Maße die Eigenschaft der Ionisierung durch Stoß haben, als die positiven, da sie auf ihrem Wege 500 mal mehr Ionen erzeugen. Plattenabst. 2 6 io ii mm J beob. J ber. 2,86 2,87 24.2 373 24,6 380 2250 2150 3b) Leuchtende Feldentladung. In der Berechnung ist a = 5,25 und ß = 0,0141. Wie die Formel ersehen läßt, verschwindet der Nenner der Formel, wenn a = /?.e("-;?)a wird. Dann muß also der Strom im Gase 00 werden, weil die Ionenzahl n unendlich groß wird. Der Abstand, bei dem dies eintritt, ist gegeben durch k = \galß' a -ß. Townsend zeigte, daß bei dem so be- rechneten Plattenabstand A, der Strom enorm ansteigt und in eine leuchtende Entladung übergeht. Diese tritt als Glimmentladung (3 c), als Funkenentladung (3d) oder als Bogenentladung (3 e) auf. Dann hört gleich- zeitig die Homogenität des Feldes auf, und hiermit auch die Grundlage obiger Formel. 3 c) Glimmentladung (vgl. auch den Ar- tikel „Glimmentladung-'). Wenn die Ent- ladung eines hochgespannten Stromes durch ein verdünntes Gas geht, so beobachtet man die bekannten Leuchterscheinungen, die wegen ihrer Farbenpracht seit langem in weitesten Kreisen Beachtung ge- funden haben. Der Ver- lauf, den die Leuchterschei- nung längs eines solchen Entladungsrohres nimmt, ist keineswegs kontinuier- lich. Man findet, daß die Kathode mit einer dünnen leuchtenden Haut bedeckt ist, der „leuchtenden Ka- thodenschicht"; hinter dieser Schicht setzt das Leuchten auf einer kurzen Strecke aus. Diese Strecke wird als „dunkler Kathodenraum" bezeichnet. An ihn schließt sich ein zur Kathode konzentrischer Mantel bläulichen Lichtes, das „negative Glimmlicht" an. Nach der Anodenseite hin ist dieses negative Glimmlicht von einem relativ großen dunkeln Raum begrenzt. Dieser große dunkle Raum wird meistens als „Faradayseher Dunkelraum" bezeich- net, während der an der Kathode selbst befindliche „Crookesscher Dunkelraum" genannt wird. Hinter diesem Faraday- schen Dunkelraum beginnt eine bis zur Anode reichende, leuchtende Säule, die „Positive Säule" oder „Positives Licht" genannt wird. Dieses positive Licht ist unter Umständen von dunkeln Schichten durch- brochen, so daß es aus einzelnen hellen Scheiben besteht. Dann bezeichnet man es als „geschichtet" Diese Leuchterschei- ingen in Vakuumröhren sind sehr weit- gehend vom Vakuum und von der Zusammen- setzung des Gases abhängig. Die Figur zeigt die Verteilung des Leuchtens in einem typischen Falle geschichteter Glimmentladung. Die Entladung ist hier mit einer Hoch- spannungsbatterie von 1000 Volt erhalten, unter Vorschaltung eines Widerstandes. Die Elektrodenspannung betrug 650 Volt, der Gasdruck 1 mm Hg. Das Lumen des Rohres 3 cm und der Elektrodenabstand 18 cm. Auch diese Erscheinungen lassen sich mit Hilfe der Vorstellung der Stoßionisation erklären, wenn auch wegen ihrer Kompli- ziertheit in mehr qualitativer Weise. Die von der Kathode beschleunigten, negativen Ionen sind, wie wir im vorigen Abschnitte sahen, die Haupterzeuger neuer Ionen. Wenn sie einen Potentialfall von gewisser Größe durchlaufen haben, beginnt die Ionener- zeugung durch Stoß, und es entsteht an diesen Stellen eine beträchtliche Leitfähigkeit des Gases. Die Folge hiervon muß sein, daß die Feldverteilung zwischen Anode und Kathode aufhört homogen zu sein, so daß an den Stellen in einiger Entfernung von der Kathode, wo diese starke Leitfähigkeit sich ausbildet, das elektrische Gefälle ein viel geringeres sein wird als im Gase um die Kathode herum, wo keine Ionisation durch Stoß stattgefunden hat. Die Folge dieses geringeren Gefälles Fig. 7. 376 Elektrizitätsleitline; in Gasen an den Stellen großer Neubildung von Ionen im Gas wird sein, daß den an diesen Stellen gebildeten Ionen durch das am Entstehungs- : ort herrschende, schwache Feld, nicht die hinreichende Geschwindigkeit erteilt wird, um ihrerseits wieder eine so zahlreiche Nach- kommenschaft zu bilden wie ihre Erzeuger. Es wird also in weiterer Entfernung, von ; der Kathode aus gerechnet, die Leitfähigkeit des Gases wieder abnehmen, dadurch steigt dann wieder das Gefälle, und die wenigen Ionen, die dieses sich so ausbildende Gefälle durchlaufen, können nun wieder hinreichende Energie erwerben, um den Prozeß der Ionen- erzeugung durch Stoß und die Bildung einer neuen Schicht großer Leitfähigkeit, die j dann wieder geringen Potentialfall aufweist, zu übernehmen. Man sieht, daß man nur an- nehmen muß, daß die Stellen der maximalen Ionenbildung leuchten, um auf diese Weise sich eine Vorstellung bilden zu können, wie hier die Schichtung in der leuchtenden Ent- ladung in Geißler sehen Röhren zustande kommt. Diese Annahme des Zusammen- hangs von Ionenbildung und Leuchten ist auch in der Tat begründet, und es zeigt sich ferner, daß das Gefälle in der Entladungs- röhre so verläuft, wie es diesen Ueberlegungen entspricht: Die dunklen Stellen im Rohr weisen viel stärkeren Potentialfall auf als die leuchtenden. Der Potentialfall in dem ersten kurzen Crookesschen Dunkelraum ist viel stärker, als der in dem ausgedehnten Faradayschen. Die Ionen müssen deshalb im Crookesschen Dunkelraum eine geringere Strecke zurücklegen, um neue Ionen zu bilden, als im Faradayschen. An den Stellen maximalen Potentialgefälles ist auch maxi- male Ionenverarmung vorhanden. Um die Bildung der Ionen an der Kathode selbst zu erklären, hat J. J. Thomson die Hypothese aufgestellt, daß ihre Erzeugung durch die positiven Ionen erfolgt. Diese werden, infolge des starken Gefälles an der Kathode, zu dieser mit solcher Geschwindig- keit hingezogen werden, daß sie aus ihr neue negative Ionen heraustreiben. Im Gase selbst sind stets einige wenige Ionen auch im normalen Zustande vorhanden ; die Haupt- masse bildet sich aber erst dadurch, daß diese wenigen schon vorhandenen durch Beschleunigung in die Lage versetzt werden neue zu bilden. Nach dieser Vorstellung sind die Ionen in der Nähe der Kathode in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander. Die negativen erzeugen die Hauptmasse der positiven und diese werden wieder zu Er- zeugern der negativen Ionen respektive Elektronen, wenn sie auf die Kathode auf- treffen. Erst durch Einführung dieser Hypo- these wird es möglich, einen stationären Zu- stand im Gase zu erklären, denn wenn nicht ein Agens vorhanden wäre, das die Nachliefe- rung der negativen Ionen von der Kathode übernehmen würde, so müßte die Entladung aufhören, da der Raum zwischen den Elek- troden von der Kathode aus immer mehr und mehr von negativen Ionen durch Abwan- derung nach der Anode hin entblößt würde. Daß diese Hypothese in der Tat im wesent- lichen zutrifft, geht aus einem Experiment von Wehnelt hervor, das sich mit dieser Thomsonschen Hypothese deuten läßt und sie hierdurch gleichzeitig stützt. Wegen der Wichtigkeit für die Vorstellung des Me- chanismus der Gasentladung beschreibe ich es an dieser Stelle: Der positive lonenstrom, der auf die Kathode zueilt, läßt sich getrennt von den beschriebenen Gasentladungser- scheinungen sichtbar machen, wenn man die Kathode mit einem oder mehreren Löchern versieht. Dann geht der positive Strahl durch die Löcher hindurch und läßt sich hier getrennt untersuchen. Diese Strahlen nennt man „Kanalstrahlen". Ihre Ent- deckung verdankt man Go Idstein. Wenn man nun vor die Löcher der Kathode auf der Seite, die zwischen Anode und Kathode ge- legen ist, einen festen Körper im Crookes- schen Dunkelraum anbringt, so wirft dieser Fremdkörper einen Schatten, und zwar nach zwei Seiten: Es wird nämlich durch ihn nicht nur der Kanalstrahl jenseits der Anoden- seite der Kathode vernichtet, sondern gleich- zeitig verschwindet auch der Kathoden- strahl, der von dem beschatteten Teil der Kathode, vor Einschiebung des Hinder- nisses in den Dunkelraum, ausging. Die Erklärung dieses Experimentes ist offenbar darin zu finden, daß durch das Hindernis der positive Ionenstrom abgeschnitten ist und hierdurch eine Neubildung von Elek- tronen an der Kathode verhindert wird. Es verschwindet also nicht nur der Kanal- strahl, sondern auch der Kathodenstrahl. Das Leuchten, das an der Oberfläche der Kathode beobachtet wird, die sogenannte „Leuchtende Kathodenschicht" ist wahr- scheinlich als der Sitz der Elektronen- erzeugung an der Kathodenoberfläche auf- zufassen. Die Beobachtung zeigt, daß es bei sehr viel geringeren Spannungen möglich ist, einen relativ kräftigen Strom durch ein Gas zu treiben, wenn der Druck im Gase ein nied- rigerer ist, als bei Atmosphärendruck. Das Elektron hat bei niederem Druck eine viel größere freie Weglänge als bei höherem, d. h. es durchläuft eine größere Strecke, ohne auf ein Molekül des Gases zu stoßen. Nach dem Vorigen ist die Folge hier- ' von, daß der dunkle Raum ausgedehnter sein wird bei niedrigem Druck als bei hohem, ; denn die Ausdehnung des Dunkelraumes zeigt ja direkt die Stelle des Zusammenstoßens i der Ionen respektive Elektronen mit den Elektrizitätsleitung in Grasen 377 Gasmolekülen an. Ist dieser Dunkelraum kurz wie bei hohem Druck, so können die Ionen auf der Strecke nicht die hinreichende lebendige Kraft erreichen, und man muß in- folgedessen größere EMK. anwenden, um die Ionisation durch Stoß zu erreichen. Der Crookessche Dunkelraum gibt also ein direktes Maß für die nach obigem zu ver- stehende, effektive, freie Weglänge der nega- tiven Ionen im Gase. Für alle Gasentla- dungserscheinungen, die von der Ionisa- tion durch Stoß abhängen, ist deshalb auch die freie Weglänge des Gases eine Fundamental- konstante. Da diese umgekehrt proportional mit dem Druck wächst, so ergibt sich auch für alle Gasentladungserscheinungen eine weitgehend analoge funktionelle Abhängig- keit zwischen Gasdruck und Stromerzeugung. Bei Aenderung des Druckes muß das Poten- tial geändert werden, um den Stromwert zu erreichen, der der Erzeugung der Ionen durch Stoß entspricht. Für das Potential, das nötig ist, um das Stadium III der Gasent- ladungskurve zu erreichen, gilt bei Gas- entladungserscheinungen allgemein ein Gesetz von dem Charakter Hier bedeutet X die freie Weglänge, die in obigem Sinne zu verstehen ist, der sich nicht genau mit dem der Gastheorie deckt, d eine Apparatkonstante, z. B. bei der Fun- kenentladung die Entfernung der Elek- troden. Für dieses Gebiet der Ionisation durch Stoß ist das Gesetz auch zuerst in seiner vollen Allgemeinheit erkannt und von Paaschen bewiesen worden. Man nennt es deshalb auch Paasch ensches Gesetz. 3d) Funkenentladung ^vgl. den Artikel „Funken entlad ung"). Die Erschei- nungen der Funkenentladung sind denen der Glimmentladung durchaus analog. Man kann direkt zeigen, daß die Funkenent- ladung bei geringer Stromstärke nichts ande- res ist, als eine Glimmentladung, die diskon- tinuierlich erfolgt. Wenn man eine Leidener Flasche mittlerer Größe durch eine Funken- strecke entlädt, so kann man an der Leucht- erscheinung eine positive Säule, einen Fa- Fig. 8. radayschen Dunkelraum und negatives Licht in analoger Anordnung wie bei der Glimmentladung in Vakuumröhren unterscheiden. Auch sonst haben alle wesentlichen Beobachtungen in einem der Ge- biete ihr Analogon im anderen. So gibt es ein berühmtes Experiment von Hittorf, welches zeigt, daß in dem Falle, daß die Gas- entladung zwischen zwei Elektroden übergehen soll, die einander bis auf eine sein* geringe Entfernung genähert sind, die Entladung diesen Weg nur nimmt, wenn ihr kein längerer Weg zur Verfügung steht. In der Figur 8 ist die Entfernung der beiden Elektroden nur 1 mm, die Gasröhre, die den zweiten Weg darstellt, der der Entladung zur Ver- fügung steht, ist 33/4 m lang. Trotzdem geht die Entladung den langen Weg. Das Ana- logon hierzu in der Funkenentladung ist durch die Anordnung von Carr in der Fig. 9 gegeben. Zwei Messingplatten werden durch Ebonit auseinandergehalten. Verändert man die Plattenentfernung, so Fig. 9. zeigt sjeli ein starkes Anwachsen des Funkenpotentials mit abnehmendem Ab- stand. Wenn eine gewisse untere Grenze des Plattenabstandes erreicht ist, geht der Strom leichter bei großer Entfernung zwischen den Platten über, als bei sehr geringer, er bevorzugt also den wei- teren Weg. Der Funke geht dann auch in der Tat, wenn er einsetzt, nicht auf dem kürzesten Wege, sondern diagonal durch den Zwischenraum der Platten der Figur 9. Die Platten sind in Ebonit einge- bettet und Luftschächte zum Entweichen der Luft gelassen. 3e) Bogenentladung (vgl. den Artikel „Bogenentladung"). Bei der Funken- entladung ist ein hohes Potential an den Elektroden erforderlich und der Strom, der in der Sekunde erhalten wird, ist ein sehr geringer und nur während geringer Bruch- teile einer Sekunde beträchtlich. Wird nun eine Elektrode so heiß, daß sie zu ver- dampfen beginnt, so setzt Bogenentladung ein. Dann wird die Stromstärke sehr be- trächtlich und die Spannung an den Elek- troden nimmt dauernd geringe Werte an. Die Bedingungen, die erforderlich sind, um eine Bogenentladung aufrecht zu erhalten, sind die, daß dem einen Pol immer hinrei- chende Energie zugeführt werden muß, um ihn glühend zu erhalten. Diese Arbeit muß 378 Elektrizitätsleitung in Grasen hier ebenfalls durch die Ionen geleistet werden. Sie müssen weniger mit großer Ge- schwindigkeit als in großer Zahl auf die Elektrode treffen. Die Nachlieferung der Ionen, die für den stationären Zustand er- forderlich ist. erfolgt dann nicht nur durch die Neubildung durch Stoß, sondern zum Teil durch das Glühen selbst. Denn es ist nachgewiesen worden, daß jeder glü- hende Körper sehr beträchtliche Elek- tronenmengen emittiert und daß diese Emis- sion in hohem Grade mit steigender Tempe- ratur wächst. Auch diese Bedingungen kann man in gewissem Grade formulieren und so die experimentellen Ergebnisse mit den theo- retischen Vorstellungen qualitativ-quantitativ vergleichen. 4. Charakteristik und Stabilität. Zum Schlüsse dieses einleitenden Kapitels möge noch auf eine andere Art der rechnerischen Betrachtungsweise hingewiesen werden, die in gewissem Grade unabhängig von der atomistischen Ionenhypothese ist, die hier ausschließlich Verwendung fand. Wenn man in der Art, wie das in der Elektrotechnik üblich ist, die an dem Entladungsgefäß lie- gende Klemmenspannung als Funktion der Stromstärke aufträgt, so erhält man als Kurvengleichung 1) E = f(J). Diese Beziehung bezeichnet man als die Charakteristik der Gasstrecke. Nun wird die Gasentladung durch eine Stromquelle hervorgerufen, die eine bestimmte EMK. E0 besitzt und unter Einschaltung eines Vorschaltwiderstandes W an die Klemmen der Entladungsröhre angelegt wird. Es wird deshalb achse einen Winkel einschließt, der be- stimmt ist, durch die Beziehung o\ j. E0 — E 3) tg.a = -^— . Nach Gleichung 2 ist aber die rechte Seite dieser Gleichung gleich W, dem Vor- schaltwiderstand. Aus der Charakteristik kann man dann ersehen, daß, wenn man bei einer gegebenen EMK. mit großem Vorschalt- widerstand beginnend, denselben immer klei- ner und kleiner macht, man aus dem Gebiet der Glimmentladung zu einem Punkte kommt, an dem eine minimale Aenderung des Vor- schaltwiderstandes sofort eine sehr beträcht- liche Aenderung des Stromes mit sich bringt, (W=o) Entladunqspoten = tial (W = o) Strom ""^Fhfiker Fig. 10. 2) E0— J.W=E=f(J). Wenn man demnach die Charakteristik einer Gasstrecke für eine vorgegebene Spannung E0 aufgenommen hat, indem man den Vorschaltwiderstand und hiermit den Strom veränderte und bei jeder Veränderung den zu einem bestimmten J-Wert zugehörigen Klemmenspannungswert E als Kurvenpunkt festlegte, so kann man aus dieser spe- ziellen Charakteristik auch für jede andere Betriebsspannung E0' die Größe des Vor- schaltwiderstandes angeben, die zur Er- reichung epies bestimmten Stromwertes er- forderlich ist. In der Figur 10 stelle die Kurve eine expe- rimentell erhaltene Charakteristik dar. Auf der Ordinate werde die Betriebsspannung E0 abgetragen. Verbindet man den so fest- gelegten Ordinatenpunkt mit dem Punkte der Charakteristik, der dem vorgeschrie- benen Werte des zu erreichenden Strom wertes entspricht, so ist ersichtlich, daß diese Verbindungsgerade mit der Abszissen- indem unter Uebergang von Funken- in Bogenentladung der Strom sofort einen sehr starken Anstieg erleidet. Einen solchen Zustand, bei dem eine minimale Verände- rung zu einem ganz andersartigen Zustand führen kann, der alsdann nur durch große Veränderung wieder rückgängig gemacht werden kann, bezeichnet man als labil. Man kann hieraus für jede gegebene Charakteristik entnehmen, bei welcher EMK. und bei welchem zugehörigen Vor- schaltwiderstand die Entladung stabil bleibt, und wann sie labil zu werden beginnt. Es ist dies von der Neigung der Verbindungs- graden abghängig, bei der diese zur Tangente der Charakteristik wird. Man kann die Labilität dieses Ueberganges leicht dadurch sichtbar machen, daß man zeigt, daß nach Eintritt der Bogenentladung, ein Zurück- gehen auf den Wert des Vorschaltwiderstandes, der vor Einsetzen des Bogens noch Glimm- entladung ergab, jetzt die Bogenentladung bestehen läßt. Es ist also ein neuer stabiler Zustand eingetreten. Diese Betrachtungen, die zuerst von W. Kaufmann in die Be- handlung der Gasentladungserscheinungen eingeführt wurden, sind in einzelnen Zweigen des Gebietes sehr fruchtbar gewesen und haben namentlich für die komplizierten Elektrizitätsleitung' in • lasen - - Elektrizitätsproduktion 379 Erscheinungen, die im Wechselstrom-Licht- bogen auftreten, sehr wertvolle Aufklärung erbracht, die hier vor allem H. Th. Simon zu verdanken ist. Literatur. J. J. Thomson, Conduction of Electricity through gases. Cambrige. Deutsch : Elektrizitätsdurchgang in Gasen. Leipzig 1907. — J. Stark) Bearbeitung des Gebietes in Winkel- manns Handbuch. 2. Aufl. — J. S. Toivnsend, Bearbeitung des Gebietes in Marx'' Handbuch der Radiophysik [unter der Presse/. — Die zitierten englischen Originalarbeiten sind im Philosophical Magazine erschienen. Die deutschen in der Physikalischen Zeitschrift oder in den Annalen der Physik. JE. Marx. Elektrizitätsproduktion. 1. Einführung: a) Die Elektrizitätsproduk- tion als allgemeine Eigenschaft der lebendigen Substanz. b) Geschichte der Elektrizitätspro- duktion, c) Methoden zur Untersuchung der Elektrizitätsproduktion, dj Demarkationsstrom und Aktionsstrom, e) Beziehung zwischen Elek- trizitätsproduktion und Lebensvorgang. 2. Tieri- •sche Elektrizität: a) Elektrizitätsproduktion der Muskeln: a) Quergestreifte Muskeln, ß) Glatte Muskeln, y) Herzmuskel, b) Elektrische Organe, c) Nervensystem: a) Zentralnervensystem, ß) Nerven, d) Ströme an den Augen, e) Drüsen- ströme. 3. Elektrizitätsproduktion bei Pflanzen: a) Stengel, Blätter, Blüten, Drüsen, Keimlinge. b) Elektrizitätsproduktion bei Reizbewegungen. 4. Theorie der Elektrizitätsproduktion: a) Rei- bungselektrizität, b) Galvanische Elektrizität: cc) Demarkationsstrom und die Aktionsströme. ß) Theorie der Produktion galvanischer Elek- trizität. i. Einführung, ia) Elektrizitäts- produktion als allgemeine Ei- genschaft der lebenden Sub- stanz. Jeder Lebensvorgang ist mit einer Elektrizitätsproduktion verbunden ; mögen wir den sich kontrahierenden Muskel, den die Er- regung leitenden Nerven, die sezernierende Drüsenzelle untersuchen oder mögen wir die strommessenden Instrumente an Pflan- zenzellen anlegen, immer sehen wir den Lebensvorgang von einer Elektrizitätspro- duktion begleitet. ib) Geschichte der Elektrizitäts- produktion. Die Kenntnis von der weiten Verbreitung elektrischer Vorgänge in der belebten Natur verdanken wir der großen Zahl von Untersuchungen, die etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Anfang ge- nommen haben und die insbesondere mit dem Namen Emil Du Bois Reymonds und seiner Schüler verknüpft sind. Du Bois Reymond hat die wichtigsten Methoden für die Untersuchung tierischer Elektrizität geschaffen, er hat mit ihnen eine Reihe grund- legender Untersuchungen ausgeführt und seine Erfahrungen in dem bekannten Werke „Untersuchungen über tierische Elektrizität" niedergelegt. Schon seit langer Zeit waren die merk- würdigen Wirkungen jener Fische bekannt, welche wir heute elektrische Fische nennen, aber erst im 18. Jahrhundert wurde man auf die Aehnlichkeit dieser Fischschläge mit elektrischen Entladungen aufmerksam. Diese manifesten Erscheinungen tierischer Elek- trizität waren es jedoch nicht, von welchen die Untersuchungen über Elektrizitätspro- duktion ihren Ausgang nahmen, es war viel- mehr Galvanis Beobachtung der Zuckungen enthäuteter Froschschenkel, die er mit kupfernen Haken an das eiserne Geländer seines Balkons gehängt hatte. Galvani meinte, .daß diese Zuckungen durch Elektrizi- tät hervorgerufen würden, welche in den Froschschenkeln entstünde. Volta, welcher diese Versuche Galvanis aufnahm und bestätigte, führte dagegen die Zuckungen auf Ströme zurück, welche durch die Be- rührung der beiden verschiedenen Metalle mit dem feuchten Muskel Zustandekommen. Es entwickelte sich ein lebhafter Streit zwischen Galvani und Volta und ihren Anhängern und aus diesem Streit ging eine Reihe für die Naturwissenschaft höchst be- deutsamer Erkenntnisse hervor. Bei seinen weiteren Versuchen fand Galvani Zuckungen der Froschschenkel ohne die Beteiligung von Metallen; er legte durch diese Beobachtung die Grundlage zu unseren Kenntnissen von der tierischen Elektrizität und den galvanischen Strömen. Um den weiteren Ausbau dieser Erfahrungen haben sich Ritter, Nobili, Matteucci, Alexander v. Humboldt, Du Bois Reymond, Hermann, Hering, Biedermann große Verdienste erworben. Du Bois-Reymond und L. Hermann stehen jedoch mit ihren Leistungen an der Spitze. Ersterer hat, wie schon oben er- wähnt, die experimentellen Grundlagen ge- schaffen und durch seine weitangelegten Untersuchungen die Aufmerksamkeit der Na- turforscher seiner Zeit auf dieses interessante Gebiet hingelenkt. Letzterer hat durch seine zielbewußten Versuche die erste Grundlage für das Verständnis der elektrischen Erschei- nungen im Tier- und Pflanzenreich ge- schaffen. ic) Methoden zur Untersuchung der Elektrizitätsproduktion. Die Metho- den zur Untersuchung der Elektrizitätsproduk- tion haben sich erst allmählich zu der Em- pfindlichkeit entwickelt, die sie heute besitzen. Aber auch heute noch wird vielfach zur De- monstration der Grundtatsachen das physio- logische Rheoskop verwendet, das ist ein frisches Nervmuskelpräparat des Frosches. Du Bois-Reymond baute sich für seine 380 Elektrizitätsproduktion Untersuchungen den windungsreichen Multi- plikator. Der Multiplikator besteht im Prinzip aus einem aufgehängten Magneten, um den in zahlreichen Windungen ein dünner, iso- lierter Kupferdraht geführt ist. Geht ein Strom durch den Draht, so wird die Magnetnadel nach der Amp er eschen Regel abgelenkt. Auf dem Prinzip des Multiplikators beruhen die verschiedenen Spiegelgalvanometer, bei welchen ein Spiegelchen mit der Magnet- nadel verbunden ist und es ermöglicht, die Ausschläge auch photographisch zu registrie- ren. Die Spiegelgalvanometer können eine große Empfindlichkeit besitzen. Sie gestatten auch genaue Messungen der elektromoto- rischen Kräfte vorzunehmen, aber sie haben den Nachteil, periodisch zu schwingen und nach einem Ausschlag nur langsam ihre Ruhelage zu erreichen. Auf einem anderen Konstruk- tionsprinzip beruhen das Kapillarelektrometer und das Saitengalvanometer. Das Kapillar- elektrometer nach Lippmann besteht aus einer mit Quecksilber gefüllten Glaskapillare, die in einem mit verdünnter Schwefelsäure gefüllten Trog eintaucht. Wird durch dieses System ein Strom geschickt, so findet inner- halb der Kapillare, an der Grenzfläche zwi- schen Quecksilber und Schwefelsäure eine Polarisation statt, die mit einer Veränderung der Oberflächenspannung verbunden ist. Der Quecksilberfaden rückt in der Kapillare vor oder zieht sich zurück, je nach der Richtung des durchgehenden Stromes. Die Bewegungen matische Figur 1 zeigt, zwischen den Polen eines starken Elektromagneten E ausgespannt. Geht ein Strom durch die Saite, so wird sie senkrecht zu den magnetischen Kraftlinien abgelenkt. Die Ausschläge könnten mikro- skopisch beobachtet oder photographisch auf- gezeichnet werden. Figur 2 zeigt die photo- Fig. 1. Schema des Saitengalvanometers, S Saite, E Elektromagnet, M Mikroskop. des Quecksilbermeniskus werden mit einem Mikroskop beobachtet oder können photo- graphisch aufgenommen werden. Das Kapil- larelektrometer gibt, obwohl es ziemlich rasch reagieren kann, bei schnell verlaufenden Stromstößen nicht genau den zeitlichen Ver- lauf derselben wieder; doch lassen sich die Kurven leicht auf ihre wahren Werte redu- zieren. Eine große Empfindlichkeit und Flinkheit der Reaktion besitzt das von Eint- hoven erfundene Saitengalvanometer. Ein feiner Platinfaden oder ein versilberter Quarzfaden, die Saite S, ist, wie die sche- Fig. 2. Verlauf des Aktionsstromes vom Nerven. graphisch aufgenommene Saitenbewegung, die durch eine elektrische Schwankung im Froschnerven hervorgerufen wurde. Die Saitenbewegungen geben bei nicht zu schnellen Stromschwankungen den Verlauf derselben getreu wieder. Die Handhabung des Appa- rates ist eine so einfache und seine Vorzüge sind so einleuchtend, daß er sich in kurzer Zeit nicht nur seinen Platz in der physio- logischen Methodik erobert, sondern auch das Studium der elektrischen Vorgänge neu belebt hat. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Unter- suchung der Elektrizitätsproduktion sind die unpolarisierbaren Elektroden. Eine ein- fache Modifikation derselben ist in Figur 3 Fig. Unpolarisierbare Pinselelektroden. wiedergegeben. Die Pinselelektrode, die wir in der Abbildung sehen, besteht aus einem Glasröhrchen, das an einem Ende durch einen mit physiologischer Kochsalzlösung geknete- ten Ton pfropfen abgeschlossen und mit Elektrizitätsproduktion 381 gegeben wor- gesättigter Zinksulfatlösung gefüllt ist. In die Zinksulfatlösung taucht ein amalgamierter Zinkstab hinein, durch den die Ableitung des Stromes erfolgt. In den Tonpfropf ist ein mit physiologischer Kochsalzlösung (0,6 bis 0,9%) getränkter Pinsel gesteckt, der die Verbindung mit der lebendigen Substanz herstellt. Würden Metallelektroden verwen- det werden, so könnte es zwischen den Elek- troden und dem feuchten Leiter des Nerven zu einerPolarisation kommen, welche schwache Ströme der lebendigen Substanz verdecken würde. Eine umfassende Zusammenstellung der elektrophysiologischen Methodik ist von Garten im Tigerstedtschen Handbuch der physiologischen Methodik den. id) Demarkationsstrom und Ak- tionsstrom. Legen wir ein paar unpolari- sierbare Elektroden an einen Muskel, so läßt sich ein schwacher Strom, der Ruhe- strom, ableiten. Diese Beobachtung hat zu dem Schluß verleitet, daß in jeder lebendigen Substanz schon von vornherein ein Strom vorhanden sei (Präexistenztheorie). Her- mann hat jedoch durch seine Untersuchungen den Nachweis erbracht, daß möglichst scho- nend präparierte Muskeln keinen Strom aufweisen, daß aber ein Strom sofort auftritt, wenn der Muskel an einer Stelle verletzt wird. Wird ein Muskel cpier durchschnitten und dieser Querschnitt mit einer unverletzten Stelle seines Längsschnittes verbunden, wie die Figur 3 zeigt, so verhält sich die ge- schädigte Stelle negativ zur ungeschädigten, d. h. der Strom fließt außerhalb des Muskels vom Längsschnitt zum Querschnitt. Her- mann hat ferner gezeigt, daß jede wie immer geartete Schädigung einer Muskel- stelle (Abkühlung, Narkose, Aetzung, Ver- Fig. 4. Verlauf des Ruhestromes des Muskels. brennung) dieselbe negativ gegenüber den ungeschädigten Muskelstellen macht. Her- mann hat in Erkenntnis dieser Verhältnisse diesen Strom als Demarkationsstrom be- zeichnet. Der Demarkationsstrom zeigt uns an, daß die geschädigte Stelle chemisch verschieden ist von den ungeschädigten Stellen des Muskels. Eine chemische Ver- schiedenheit tritt auch auf, wenn ein Teil des Muskels in Erregung versetzt worden ist. Jede erregte Stelle verhält sich negativ gegen- über den unerregten Stellen. Figur 4 zeigt das elektrische Verhalten des ruhenden Mus- kels. Reizen wir nun den Muskel an einem Ende mit Hilfe der Reizelektroden R. so be- ginnt der Muskel sich an der Reizstelle zu kontrahieren und eine Kontraktionswelle läuft über den ganzen Muskel ab (vgl. den Artikel „Muskeln, allgemeine Physiologie der Fig 5. Verlauf des Aktionsstromes im Muskel. G Galvanometer. R Reizelektroden. Muskeln"). Läuft die Kontraktionswelle über Ableitungsstelle A, so wird diese Stelle negativ und das strommessende Instrument zeigt einen kurzdauernden Rückgang des Demarkationsstromes, eine negative Schwan- kung auf. Diese negative Schwankung wird, da sie die Aktion des Muskels begleitet, auch als Aktionsstrom bezeichnet. Wir können den Aktionsstrom auch von zwei unverletzten Stellen des Muskels ableiten, wie dies Figur 6 zeigt. Dann bekommen Fig. 6. Ableitung des zweiphasischen Aktions- stromes. wir, wenn die beiden Ableitungsstellen ge- nügend weit voneinander entfernt sind, einen komplizierteren Verlauf des Aktionsstromes. Kommt die Kontraktionswelle zur Ablei- tungsstelle A, so wird diese negativ im Ver- hältnis zur Ableitungsstelle B. Schreitet dann die Kontraktionswelle zur Ableitungs- stelle B vor, dann wird diese negativ gegenüber Aund es erfolgt eine Schwankung in entgegen- gesetztem Sinne. Wir erhalten einen zwei- phasischen Aktionsstrom. Die Figur 7 zeigt uns den Verlauf eines einphasischen (oben) und eines zweiphasischen Aktionsstromes. ie) Beziehungen zwischen Elektri- zitätsproduktion und Lebensvor- ga rig. Die Erkenntnis der weiten Verbreitung 382 Elektrizitätsproduktion der elektrischen Vorgänge in der belebten Natur hat anfänglich zu falschen Hoffnungen verleitet. Man dachte sich das Leben selbst als elektrischen Vorgang. So glaubte man das Problem der Nervenleitung gelöst zu haben. Der Nerv sollte wie ein metallischer Leiter der Ausbreitung der elektrischen Er- regung dienen usf. Heute wissen wir, daß die Fig. 7. Einphasiseher (oben) und zweiphasischer Aktionsstrom. Die Hebung der unteren Linie zeigt den Moment der Reizung an. Elektrizitätsproduktion bloß ein Ausdruck des Lebensvorganges ist, nicht der Lebens- vorgang selbst. Das Studium der Elektrizi- tätsproduktion hat es nichtsdestoweniger er- möglicht, tiefer in den Mechanismus vieler Lebensvorgänge einzudringen. Die im Energie- und Stoffwechsel verbrauchten Energien wer- den nur zum Teil in thermische Energie verwandelt, ein Teil kommt in elektrischer, ein anderer kann, wie bei den Muskeln in mechanischer, oder bei den Pflanzen in osmotischer Energie zum Ausdruck kommen. Die Mengen einer bestimmten Energie, welche bei einem Lebensvorgang frei werden, hängen von der Art der lebendigen Substanz ab. Die geringen Energiemengen, welche im Stoffwechsel der Nerven verbraucht werden, äußern sich in Form elektrischer Energie, die Produktion thermischer Energie hat sich nicht nachweisen lassen. Beim Muskel wird ein großer Teil der ihm zugeführten Energie in mechanische Energie verwandelt, bei den elektrischen Organen wird der Hauptteil der Energie in Form elektrischer Energie frei. Wenn also die Menge elektrischer Energie auch nicht ein genauer Ausdruck der Intensität der Lebensvorgänge ist, so gestattet sie doch bei der einzelnen Form lebendiger Substanz einen Einblick in die Intensität der Vorgänge bei verschiedenen Zuständen. Bei höherer Temperatur nimmt die elektromotorische Kraft der Aktionsströme zu, bei Temperaturerniedrigung oder Er- müdung nimmt sie ab und läßt, da auch die anderen Energieäußerungen Aenderungen im gleichen Sinne durchmachen, erkennen, daß die Elektrizitätsproduktion enge mit dem Lebensvorgang verbunden ist. Die Aktionsströme gewähren einen Ein- blick in die Geschwindigkeit der einzelnen Phasen des Lebensvorganges. Wir unter- scheiden zwei Phasen des Aktionsstromes. Der aufsteigende Schenkel entspricht den durch den Reiz gesteigerten energieliefernden Prozessen, der absteigende Schenkel ent- spricht der Restitution der vor der Reizung bestehenden Verhältnisse, er umfaßt den Wiederersatz des verbrauchten Materials und die Wegschaffung der nicht mehr verwert- baren und giftigen Stoffwechselprodukte. Das Studium des zeitlichen Verlaufes des Aktions- stromes und seiner Veränderungen gibt Auf- schluß über die Veränderungen dieser beiden Phasen des Stoffwechsels. Der aufsteigende Schenkel gibt uns Aufschluß über die Reak- tionsgeschwindigkeit der lebendigen Sub- stanz. Nerven mit einer großen Fortpflan- zungsgeschwindigkeit der Erregung zeigen eine außerordentlich kurze Dauer des auf- steigenden Teiles des Aktionsstromes. Bei Verlangsamung der Fortpflanzungsgeschwin- digkeit durch Narkose oder Abkühlung nimmt auch die Dauer des aufsteigenden Schenkels zu. Die Betrachtung des absteigenden Schenkels zeigt uns, daß er in der Regel lang- samer verläuft als der aufsteigende und daß er bei lähmender Beeinflussung, z. B. durch Narkose oder Abkühlung, eine weit stärkere Verlängerung erfährt als der aufsteigende Schenkel. Die Restitution wird stärker gelähmt als die energieliefernden Vorgänge. Die Folge davon ist, daß z. B. beim Nerven durch Narkose oder Abkühlung die Ermüd- barkeit gesteigert ist. Figur 8 gibt schema- Fig. 8. Aktionsstrom der Nerven vor und während der Narkose. tisch die Veränderung des Aktionsstromes des Nerven durch Narkose wieder, ebenso verhalten sich die Aktionsströme verschieden schnellleitender Nerven. Das Studium der Aktionsströme ist auch deswegen von Bedeutung, weil sie den genaue- sten Aufschluß über die zeitlichen Verhält- nisse der Lebensvorgänge ermöglichen. Mit dem Beginn der Lebensvorgänge lassen sich auch die elektrischen Vorgänge nachweisen. Wir können an einem Muskel die Ent- Elektrizitätsproduktion 383 wicklung der elektrischen, mechanischen und thermischen Begleiterscheinungen des Lebensvorganges nach Reizung beobachten. Nach kurzer Latenzzeit tritt der Aktionsstrom auf, dann folgt die Verküizung und erst nach unverhältnismäßig längerer Zeit wird auch die thermische Energie wahrnehmbar, und doch muß die thermische Energie Aus- druck des gleichen Lebensvorganges sein, wie die Produktion elektrischer Energie. Es braucht nur längere Zeit bis die beim Erregungsvorgang produzierte Wärme zu den temperaturmessenden Instrumenten ge- leitet wird. Dasselbe Verhältnis besteht auch zwischen elektrischer und mechanischer Ener- gie. Es braucht länger bis die Trägheit der Muskelelemente überwunden ist. Die Figur 9 gibt uns über das zeitliche Verhältnis zwischen der Produktion mechanischer und elektrischer Energie des Muskels Aufschluß. Die oberste Kurve gibt die Zeit an, sie ist mit einer Zungenpfeife von 276 Doppelschwingungen in der Sekunde geschrieben. Die zweite Kurve ist der einphasische Aktionsstrom des Muskels. Die unterste Kurve gibt den Ver- lauf der Zuckung wieder. Fig. 9. ström Zeitliches Verhältnis zwischen Aktions- und Kontraktion des Muskels. Nach v. Brücke. Aber noch in anderer Beziehung er- scheint das Studium der Elektrizitätspro- duktion von Bedeutung. Es ermöglicht bei vielen Formen lebendiger Substanz die direkte Untersuchung der Lebensvorgänge, während bisher vielfach nur indirekte Unter- suchungsmöglichkeiten vorhanden waren. •Die Vorgänge im Nerven mußten früher aus den Veränderungen in der Reaktion ihrer Erfolgsorgane erschlossen werden, während wir mit Hilfe der Aktionsstrüme die Vor- gänge im Nerven direkt untersuchen können. Wir sind ferner imstande die Aktionsströme vom intakten menschlichen Körper abzuleiten und so die Lebensvorgänge des Herzens und der Muskeln am unverletzten Organismus zu studieren. Die Reihe dieser Beispiele ließe sich noch wesentlich verlängern. 2. Tierische Elektrizität. 2a) Elektri- zitätsproduktion der Muskeln. a) Quergestreifte Muskeln (vgl. den Artikel „Mus kein"). Wie wir oben gehört haben, lassen quergestreifte Muskeln keinen oder nur einen geringen Strom erkennen, wenn man von zwei unverletzten Stellen des Muskels zu einem Galvanometer ableitet. Wird dagegen eine verletzte und eine | unverletzte Stelle des Muskels mit dem strommessenden Instrument verbunden, so zeigt dasselbe einen starken Strom an, der außerhalb des Muskels vom Längsschnitt zum Querschnitt läuft. Die elektromotorische Kraft dieses Demarkations- oder Ruhestromes hängt von der Art und dem Zustand des Muskels ab, sie kann Werte von 0,04 Volt J erreichen. Der Demarkationsstrom entwickelt ! sich rasch nach der Verletzung des Muskels, erreicht bald sein Maximum, um dann wieder abzunehmen. Legt man einen neuen Quer- schnitt an, so kehrt der Demarkationsstrom : mit erneuter Kraft wieder. Es geht daraus hervor, daß das Absinken des Demarkations- stromes mit Veränderungen am Querschnitt 1 des Muskels zusammenhängt. Der Absterbe- | prozeß, der an der verletzten Stelle rasch ein- i setzt und die zu dem Strom Anlaß gebende Differenz im chemischen Geschehen bewirkt, schreitet längs der Fasern fort, dadurch leiten wir den Strom von noch nicht vollkommen totem Gewebe ab, die Differenz zwischen den beiden Ableitungsstellen wird dadurch nur gering. Der Demarkationsstrom des Muskels kann stark sein, daß der Muskel durch Schlie- seines eigenen Demarkationsstromes erregt werden kann. Es gelingt auch durch den Demarkationsstrom eines Muskels einen anderen zu erregen (sekundäre Zuckung). Etwas anders liegen die Verhältnisse bei einem Muskel, bei welchem der Schnitt schräge zur Längsachse der Fasern angelegt wird. An einem schrägdurchschnittenen Mus- kel kann man Ströme nachweisen, welche außerhalb des Muskels von der stumpfen zur scharfen Kante hinfließen. Dieser Strom wird als Neigungs ström bezeichnet. Die Kenntnis des Neigungsstromes ist deshalb wichtig, weil bei gefiederten Muskeln der Querschnitt häufig schräg ist. So entspricht, wie schon Du Bois-Reymond hervor- gehoben hat, der natürliche Querschnitt des Wadenmuskels bei Ableitung vom Längs- schnitt zur Achillessehne einem schrägen Querschnitt und das dadurch bedingte Auftreten dieser Ströme kompliziert das Bild des Stromverlaufes bei Ableitung an ver- schiedenen Stellen des Muskels. Wenn wir von zwei Längsschnittstellen so ßung 384 Elektrizitätsproduktion des Muskels ableiten, so verhält sich immer I kann aber nur dann der Fall sein, wenn der jene Ableitungsstelle negativ, welche näher J Querschnitt nicht ganz abgetötet ist. Ist er aber abgetötet, dann kann die elektro- motorische Kraft des Aktionsstromes niemals größer sein als die des Demarkationsstroms. Die elektromotorische Kraft des Aktions- stromes kann so groß sein, daß durch ihn ein zweiter Muskel oder ein Nerv erregt werden kann. In Erkenntnis dieser Tatsache mußte es merkwürdig erscheinen, daß ein tätiger Muskel innerhalb des Organismus niemals die benachbarten Muskeln und Nerven in zum natürlichen, bezw. künstlichen Quer- schnitt liegt. Da die Stärke des Demarkationsstromes vom Verhältnis des Längs- und Querschnittes abhängt, von dem abgeleitet wird, ist es verständlich, daß bei Schädigung der Ab- leitungsstelle am Längsschnitt eine Vermin- derung des Demarkationsstromes eintritt. Wie die Untersuchungen von Biedermann gezeigt haben, nimmt bei der Narkose des Längsschnittes der Demarkationsstrom zwar j Erregung versetzt. Offenbar bilden die um ab, er verschwindet jedoch nicht vollständig, | liegenden Gewebe so gute Nebenschließungen, obwohl die Erregbarkeit des Muskels voll- kommen geschwunden sein kann. Diese Beob- achtungspricht dafür, daß durch diese Narkose nicht alle Lebensvorgänge zum Stillstand gebracht wurden. Dafür würde auch die Wiedererholbarkeit des narkotisierten Muskels sprechen. Es wurde schon oben darauf hingewiesen, daß auch die erregte Stelle eines Muskels sich gegenüber den ruhenden Stellen negativ verhält. Da die Erregungswelle schnell über den quergestreiften Muskel abläuft, so er daß die Aktionsströme wesentlich an Wirk- samkeit einbüßen. Der zeitliche Verlauf des Aktionsstromes ist abhängig von der Art und dem Zustand des untersuchten Muskels. Flinker reagie- rende Muskeln oder Muskeln bei höherer Temperatur zeigen einen rascheren Verlauf des Aktionsstromes. Nach Garten dauert der aufsteigende Schenkel des Aktionsstromes beim Schneidermuskel des Frosches 2/10?0 Se- kunden. Der absteigende Schenkel nimmt etwa die fünffache Zeit in Anspruch. Bei halten wir einen kurz dauernden Strom in Verlangsamung der Erregungsvorgänge wird dem Moment, in dem die Erregungswelle der Verlauf beider Teile des Aktionsstromes die Ableitungsstelle am Längsschnitt pas- verlangsamt, jedoch der absteigende Schenkel siert. Ist ein Demarkationsstrom vorhanden, des Aktionsstromes wesentlich mehr. Diese so wird er durch den Strom, der bei der Er- auffallende Verlangsamung des absteigenden regung entsteht, geschwächt; wir sprechen Schenkels des Aktionsstromes wird^ als nega- daher von einer negativen Schwankung des tive Nachwirkung bezeichnet. Bei vielen Demarkationsstromes oder kurz von einem Muskeln nimmt beim Durchlaufen der Er- Aktionsstrom (siehe Fig. 7). Es liegen An- regungswelle über den Muskel die Intensität gaben vor, daß unter Umständen der Aktions- der Erregungswelle ab. Dieses Verhalten wird ström eine größere elektromotorische Kraft deutlich, wenn wir den Aktionsstrom von erreicht als der Demarkationsstrom. Dies zwei Längsschnittstellen eines parallelfase- rigen Muskels ableiten. Wir sehen dann, wie dies Kurve 10 zeigt, bei Reizung des Muskels an einem Ende, daß die elektromotorische Kraft an der Ableitungs- stelle, die weiter von der Reizstelle entfernt liegt, geringer ist. Wir bezeichnen dieses Ab- nehmen der Intensität der Erregungswelle bei der Erregungsleitung als Dekrement. Aus den Kurven ersehen wir ferner, daß das Maxi- mum der elektromotori- schen Kraft, an der Ab- leitungsstelle, welche der Reizstelle näher liegt, schneller erreicht wird. Wir müssen aus dieser Verlangsamung des auf- steigenden Schenkels Fig 10. Muskels. Veränderung des Aktionsstroms beim Durchlaufen eines Die Kurve b ist von einer Stelle abgeleitet, welche von der Reizstelle weiter entfernt ist. Nach Garten. Elektrizitätspi'oduktion 3sr> schließen, daß Intensität der Dekrement der keit ein hergeht. Bei Reizung stauten Strom neben dem Dekrement der Erregungswelle auch ein Fortpflanzungsgeschwindig- des Muskels mit einem kon- treten häufig, wie Figur 11 Fig. 11. Rhythmische Aktionsströme des Frosch- muskels bei direkter Reizung mit dem kon- stanten Strom. Nach Dittler und Ticho- mirow. zeigt, rhythmische Aktionsströme auf(Bu cha- nan, Garten). Die Frequenz dieser rhythmischen Aktionsströme ist gleichfalls von der Art und dem Zustand des gereizten Muskels abhängig. Beim Froschmuskel hat Buchanan Frequenzen von 50 bis 100 Wellen in der Sekunde beobachtet. Beim Kaninchenmuskel sollen sogar Frequenzen von 250 Wellen in der Sekunde erreicht wer- nach Aufladung von Polarisationszellen rhythmische Entladungen auftreten, die in mehrfacher Hinsicht mit den rhythmischen Aktionsströmen übereinstimmen. Wenn wir einen konstanten Strom durch einen Muskel hindurchschicken, so treten uns bei Schließung und Oeffnung des Stromes gesetzmäßige Erregungserscheinungen ent- gegen. Dieselben haben im Artikel ,,M u s k e 1 n , allgemeine Physiologie der Muskeln" bei Behandlung der polaren Erregungsgesetze eine eingehende Erörterung erfahren. Ein- und Austrittsstelle des Stromes werden bei Schließung und Oeffnung des Stromes elek- tromotorisch wirksam. Die Gesamtheit dieser Erscheinungen bezeichnen wir als Elektrotonus. Nach Schließung des Stromes läßt sich an der Kathode ein Strom nach- weisen, der vom unverletzten Längsschnitt zu der Kathode fließt, an der Anode dagegen fließt der Strom von der Anode weg. Wir sprechen von einem negativ-kathodischen und positiv-anodischen Strom. Ersterer ist mit einer Verkürzung an der Kathode, letzterer mit einer Erregbarkeitsherabsetzung bezw., wenn der Muskel kontrahiert war, mit einer Erschlaffung an der Anode verbunden. Nach Oeffnung des konstanten Stromes erhalten wir an der Kathode einen Strom, der von der Kathode zum unverletzten Längsschnitt, an der Anode zur Anode fließt. Wir sprechen in diesem Falle von einem positiv-kathodischen und einem negativ-anodischen Nachstrom. den. Bei den träge reagierenden Muskeln des Dem Auftreten des positiv-kathodischen Nach- Zwerchfelles sind Frequenzen von 30 Wellen stroms entspricht eine Erregbarkeitsherab- in der Sekunde beobachtet worden. Khytli- luex woiueu. ruiyui- , setzung des Muskels, die, falls der Muskel kon- Aktionsströme werden auch bei +rnWH- mar mit einer Erschlaffung des Mus- mische willkürlichen Innervation des Muskels bei Reizung des Muskelnerven mit dem und kon- stanten träniert war kels an der Kathode einhergeht. Der negativ anodische Nachstrom ist dagegen von einer Kontraktion an der Anode begleitet. Dem negativ-kathodischen und dem negativ-ano- dischen Nachstrom entsprechen nach Hering die Schließungserregung an der Kathode und die Oeffnungserregung an der Anode. ß) Glatte Muskeln (vgl. den Artikel „Muskeln"). Die glatte Muskulatur ist aus kurzen Muskelzellen zusammengesetzt. Bei ihnen kann die Erregungsleitung von Muskelzelle zu Muskelzelle erfolgen. Es ist aber mehr als wahrscheinlich, (laß am un- verletzten Tier die Erregungsleitung über einen glatten Muskel nur durch die Ver- mittlung des Nervensystems erfolgt. Die Er- regungsleitung ist aber am isolierten Muskel so ausgebildet, daß ein glatter Muskel bei die rhythmischen Aktionsströme eines mensch- Reizung sich wie eine einzige große Muskel- lichen Muskels bei willkürlicher Innervation, j faser kontrahiert. Die Kontraktion beginnt Die rhythmischen Aktionsströme des direkt an der Reizstelle und pflanzt sich wellen- gereizten Muskels stellen eine weit verbreitete i förmig über den ganzen Muskel fort, Wenn Form der Reizbeantwortung vor, sie scheinen, wir von einer unverletzten zu einer verletzten wie Fröhlich hervorgehoben hat, in naher Stelle eines Muskels ableiten, erhalten wir Beziehung zu Polarisationsvorgängen an der ! einen Demarkationsstrom. Die elektro- lebendigen Substanz zu stehen. "Wir sehen motorische Kraft dieses Demarkationsstromes Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. ^5 Fig. 12. Rhythmische menschlichen vation. Die Aktionsströme des Muskels bei willkürlicher Inner- untere Kurve gibt die Zeit in \ls Sekunden. Nach Piper. 386 Elektrizitätsproduktion ist jedoch weit geringer als bei den quer- gestreiften Muskeln. Die Demarkations- ströme zeigen ferner die Eigenschaft sehr schnell zu verschwinden und bei der An- legung einer neuen Verletzung in ursprüng- licher Strärke wiederzukehren. Dies hängt mit der Zusammensetzung der glatten Muskeln aus kurzen Muskelfasern zusammen. Diese sterben bei Verletzung rasch ab und das Absterben schreitet nicht fort, wie bei den langen Fasern der quergestreiften Muskeln. Wir leiten also eigentlich von zwei unverletz- ten Stellen des Muskels ab. Die geringe elektro- motorische Kraft der Demarkationsströme ist zum Teil wenigstens auf die tonische Verkürzung zurückzuführen, in welche viele glatte Muskeln nach der Trennung vom Tierkörper verfallen. Eine andauernde tonische Verkürzung finden wir bei den quergestreiften Muskeln nur bei Innervation vom Zentralnervensystem aus oder bei ab- normen Zuständen z. B. bei der Vergiftung mit dem Alkoloid Veratrin. Der Tonus glatter Muskeln entspricht, wie wir heute mit Bestimmtheit sagen können, gleichfalls einem Erregungszustand. Von einem tonisch erregten Muskel müssen wir einen kleineren Demarkationsstrom erhalten als von einem er- schlafften Muskel. Dem entsprechend sehen wir eine Zunahme des Demarkationsstromes, wenn wir den tonisch kontrahierten Muskel z. B durch Erwärmung zur Erschlaffung bringen oder unter möglichster Fernhaltung von Beizen warten, bis der Tonus verschwindet. Bei den glatten Muskeln treten uns zwei Erscheinungen entgegen, die wir als positive Schwankung und positive Nachschwankung des Demarkationsstromes bezeichnen. Haben wir einen tonisch kontrahierten Muskel vor uns, der nur einen geringen Demarkations- strom aufweist, und bringen wir den Muskel durch Beizung eines den Tonus hemmenden Nerven zur Erschlaffung, so sehen wir wäh- rend der Beizung den Demarkationsstrom zunehmen, es tritt eine positive Schwankung des Demarkationsstromes ein. Nach Aufhören der Beizung kehrt der Demarkationsstrom zur anfänglichen Größe zurück. Bei anderen Muskeln tritt uns die gleiche Erscheinung in etwas anderer Form entgegen. Beizen wir z. B. die glatten Muskeln des Froschmagens oder dei Harnblase, welche sich in tonischer Verkürzung befinden, so erhalten wir bei jedem Beiz eine Verkürzung des Muskels, die aber von einer zunehmenden Erschlaffung gefolgt ist. Jeder Verkürzung entspricht eine negative Schwankung des Demarkations- stromes, der Abnahme des Tonus dagegen entspricht eine Zunahme des Demarkations- stromes. Nach Beendigung der Beizung kann der Demarkationsstrom noch weiter zunehmen, um erst allmählich zum anfäng- lichen Wert abzusinken. Wir bezeichnen diese Erscheinung als positive Nachschwan- kung. Eine solche positive Schwankung bezw. Nachschwankung läßt sich auch an den quergestreiften Muskeln beobachten, wenn ihr durch das Zentralnervensystem ver- mittelter Tonus gehemmt wird. Bhyhtmische Aktionsströme lassen sich auch, wie v. Brücke gezeigt hat, an den glatten Muskelfasern des Betraktor Penis nachweisen. Ich habe an verschiedenen Stellen besonders darauf aufmerksam gemacht, daß die rhyth- mische Beizbeantwortung besonders leicht an lebendigen Systemen mit geringer Beaktions- geschwindigkeit hervortritt. Wir müßten also erwarten, daß sich rhythmische Erregungs- wellen insbesondere leicht an glatten Muskeln nachweisen lassen. Der Betraktor Penis zeigt in der Tat nur eine Fortpflanzungsgeschwindig- keit der Erregungswelle, die nach v. Brücke zwischen 0,9 und 7 mm in der Sekunde schwankt. Der aufsteigende Schenkel des Ak- tionsstromes dauert 0,5 bis 4 Sekunden. Wenn wir auch erwarten müssen, daß alle trag re- agierenden Muskeln Beize mit rhythmischen Erregungswellen beantworten, so ist damit noch nicht gesagt, daß wir die rhythmischen Aktionsströme bei jedem glatten Muskel auch nachweisen können. Nur zu leicht könnten die rhythmischen Erregungswellen in ungeord- neter Weise an verschiedenen Stellen des Mus- kels ablaufen und dadurch ein Hervortreten der einzelnen Aktionsströme unmöglich machen. y) Herzmuskel (vgl. den Artikel „Mus- keln"). Die Elektrizitätsproduktion des Herz- muskels hat in letzter Zeit an Interesse ge- wonnen, da sie zur Diagnose von Herzkrank- heiten verwendet werden kann. Die Methode ist jetzt so vereinfacht, daß man schon nach wenigen Minuten das fertige Kardioelektro- photogramm des Untersuchten erhalten kann. Es ist sogar möglich, das Galvano- meter durch elektrische Leitung mit mehreren Kliniken zu verbinden und so die Herztätig- keit eines meilenweit entfernten Kranken zu registrieren (Telelektrokardiogramm). Die Ableitung des Elektrokardiogramms vom Menschen wird dadurch begünstigt, daß das Herz nach links von der Mittelebene des Körpers liegt und seine Längsachse schräg zur Längsachse des Körpers steht. Die Herz- ströme verteilen sich infolgedessen nicht in allen Teilen des Körpers in gleicher Weise und es bestehen Unterschiede der Ableitung vom rechten zum linken Arm oder vom rechten Arm zum linken Fuß (vgl. die Figur 13). Soll der Strom von beiden Armen abgeleitet werden, so taucht die zu unter- suchende Person ihre Arme in zwei isolierte, mit Kochsalzlösung gefüllte Wannen und entspannt dann die Muskeln. Die Ableitung der Ströme zum Galvanometer geschieht durch Metallelektroden, welche in die Koch- salzlösung der Wannen eintauchen. Elektrizitätsproduktion 387 Ein solches Elektrokardiogramm ist Figur 14 wiedergegeben. Es sei aber gleich erwähnt, Fig. 13. Verteilung der vom Herzen ausgehen- den Ströme im Körper. Nach Nikolai. sich aus einem s-förmig gekrümmten Muskel- schlauch, bei dem die Kontraktionswellen von den Eintrittsstellen des Blutes zu den Austrittstellen, zur Aorta verlaufen. Auch über Entstellung der Zacken Q und S kann man nur Annahmen äußern. Wenn wir bedenken, daß das sich entwickelnde Herz einen Muskelschlauch vorstellt, der von einer Schichte Längs- und Ringmuskeln gebildet wird, die beim Ablaufen der Kon- traktionswellen über den Herzmuskeln in antagonistische Beziehungen treten, so kön- nen wir die Zacken Q und S auf die verschie- dene Beteiligung der Längs- und Ringmuskeln bei der Kontraktion des Herzen zurück- führen. Hier wird uns vielleicht die elektro- physiologische Untersuchung verschiedener peristaltischer Bewegungen, die ja der Bewe- gung des Herzmuskels am nächsten stehen, Aufschluß geben können. Auch der Herzmuskel weist rhythmische Aktionsströme auf. Nach den vergleichenden Untersuchungen von P. Hof mann liegen jeder Herzkontraktion einzelner niederer Tiere rhythmische Aktionsströme zugrunde. Die Figur 15 zeigt uns ein derartiges Elektro- kardiogramm von einem Krebs. wir eine Stelle des' Herzens, so von dieser und einer von Verletzen läßt sich bei unverletzten nachweisen. 2b) Elektrische Ableitung Stelle ein Demarkationsstrom Organe. Wie die X ■ *•***, 9 ^ . .. i i «a**«**!'**^ fr ■ (jpwffffi iwi jHHt Fig. 14. Elektrokardiogramm vom Menschen. Nach Einthoven. daß das Elektrokardiogramm eines gesunden Menschen auch anders aussehen kann, — es gibt nach Einthoven kein Normalelektro- kardiogramm — und daß die Deutung ein- zelner Zacken noch nicht sicher ist. Die Zacke P entspricht der Vorhofskontraktion, die Zacke R der Kontraktion der Kammer- muskeln. In der Zeit zwischen P und R findet die Uebertragung der Erregung durch das His-Tavarasche Uebergangsbündel vom Vorhof zur Kammer statt. Ueber die Deutung der Zacke T besteht noch keine Einigkeit. Die Untersuchungen machen es wahrschein- lich, daß die Zacke T dadurch zustande kommt, daß die Erregungswellen der Herz- kammern erst von der Basis zur Spitze, und dann von der Spitze zur Aorta ver- laufen. Das menschliche Herz entwickelt Fig 15. Elektrokardiogramm vom Limuhis. Die unterste Kurve gibt die Kontraktion des Herzmuskels wieder. Nach P. Ho ff mann. Untersuchungen von Babucbin und Engel- mann gezeigt haben, stehen die elektrischen 25* 388 Elektrizitätsproduktion (Torpedo occidentalis) im at- lantischen Ozean, Torpedo mar- morata und occellata im Mittel- meer, der Zitterwels (Malopte- rurus electricus) in den Flüssen Nordafrikas, Raja im Mittelmeer, Mormyrus im Nil. Angaben soll es Schnecken geben, Schläge austeilen 16, Figuren Fig. 16. Elektrisches Nach Organ von Torpedo F r i t s c h. marmorata. Nach neueren in Kleinasien die elektrische können. Die 17 und 18 gewähren Einblick in den Bau der elek- trischen Organe. Die Erkenntnis, daß die elektrischen Organe in so naher Beziehung zu den Muskeln stehen, hat sie ihrer Sonderstellung beraubt, die sie bis dahin eingenom- men hatten. * Insbesondere bei jenen elektrischen Organen, die nur schwache Schläge erteilen können und die aus diesem Grunde früher fälschlich als pseudoelektrische be- zeichnet worden sind, erfolgt die Umwandlung der kontraktilen Muskelfasern in Substanz der elektrischen Organe erst im post- embryonalen Leben. Die stark elektrischen Organe machen diese Umwandlung schon in einem früheren Entwickelungsstadium durch. Nur das elektrische Organ des Zitterwels scheint sich nicht einer Muskelanlage, sondern Zellen der Haut zu bilden, bildet eine Verdickung der Haut und bedeckt fast den ganzen Fischkörper. Es unterscheidet sich, wie wir unten hören werden, von den aus aus Es Fig. 17. Querschnitt durch das elektrische Organ von Torpedo ocellata. Nach Fritsch. Organe entwickelungsgeschichtlich den Mus- keln sehr nahe. Die Anatomie der elektrischen Organe ist besonders durch Ballowitz, Fritsch und Bilharz untersucht worden. Die Physiologie der elektrischen Organe ist in der Elektro physiologie von Bieder- mann und in dem Kapitel Elektrizitäts- produktion von Garten im Handbuch der vergleichenden Physiologie in umfassender Weise dargestellt worden. Elektrische Organe besitzen der Zitteraal (Gymnotus electricus), der in den Flüssen Südamerikas vorkommt, der Zitterrochen anderen elektrischen Organen durch die Richtung, in der sich der Strom entlädt. Das Verhältnis der Organgröße zur Tier- größe ist bei den verschiedenen elektrischen Fischen verschieden. Nach Du Bois-Rey- mond beträgt dieses Verhältnis bei den stärksten elektrischen Fischen 1:2,66. Die Entladungsstärke ist in erster Linie abhängig von der Größe des Organs, sie ist natürlich auch abhängig von der Entladungsstärke jedes einzelnen Organteils. Die elektrischen Organe sind, wie die Fi- guren 16 und 17 zeigen, aus einzelnen Säulen Elektrizitätsproduktion 389 Fig. 18. Elektrische Platte von Raja. n Nervenschicht, m um- gewandelte Muskelfasern, a Alveolarschicht. Nach Ewart. und diese wieder aus ein- zelnen Platten aufgebaut oder sie bestehen nur aus Platten. Jede einzelne Platte trägt auf der einen Seite die Nerven- ausbreitung, die übrige Plattensubstanz ent- wickelt sich aus der Muskelanlage und läßt, wie z. B. bei den Platten von Raja und Mormyrus (Fig. 18), noch eine Querstreifung erkennen. Die ganze Platte ist von einer Scheide umgeben, dem Elektrolemm. Die einzel- nen Platten sind durch Gallertschichten vonein- ander getrennt. Die Zahl der Platten, die beim Wachstum des Tieres keine Vermehrung erfährt, kann beim Zitteraal 6000 bis 8000 betragen. Die Ganglien- zellen, welche die elek- trischen Organe in- nervieren, liegen beim Zitteraal in verschie- denen Abschnitten des Rückenmarks. Von ihnen gehen 350 Nerven | würde demnach eine elektromotorische Kraft zu den elektrischen Platten. Beim Zitterrochen von 0,048 Volt haben. Diese elektromoto- liegen die Ganglienzellen in einem eigenen ner- rische Kraft hält sich innerhalb der Grenzen vösen Organ, dem elektrischen Lappen, der der Aktionsströme eines quergestreiften Mus- dem verlängerten Mark anliegt und 4 Nerven- kels. Die großen elektromotorischen Kräfte stamme aussendet. Das elektrische Organ elektrischer Organe kommen nur durch des Zitterwelses wird auf jeder Seite nur die große Zahl der Platten, ihre gleich- von einer einzigen Nervenfaser versorgt, zeitige Erregung und günstige Anordnung die von einer großen Ganglienzelle kommt, zustande. Auffallend ist die lange Zeit, die Sie liegt im oberen Abschnitte des Rücken- zwischen Reizmoment und Beginn der Ent- marks und ist bei geeigneter Schnittfüh- ladung vergeht. Die Latenzzeit kann 3/1000 rung schon mit freiem Auge wahrnehmbar, bis 4/iooo Sekunden betragen. Bemerkens- Der Nerv teilt sich in zahllose Fasern, die wert ist ferner die geringe Reizbarkeit der zu den einzelnen Platten hinziehen. Die J elektrischen Organe durch den elektrischen Nerven verlieren, bevor sie an die Platte Strom. herantreten, ihre Markscheide. Bei Ab- Die Richtung der Schläge geht, wie tötung einer Stelle des Organs lassen sich'Paccini festgestellt hat, außerhalb der starke Demarkationsströme beobachten, die Platte von dem muskulären Teil zur Nerven- aber rasch verschwinden. Die Aktionsströme : endausbreitung. Nur beim Zitterwels geht des gereizten Organs können große Spannun- der Strom in umgekehrter Richtung, gen erreichen, beim Zitteraal selbst über | Auch am elektrischen Organ tritt uns 400 Volt. D'Arsonval konnte mit dem die rhythmische Reizbeantwortung entgegen, Schlag vom Torpedo ein Glühlämpchen von d. h. jeder einzelne Schlag läßt sich in 4 Volt zum hellen Aufleuchten bringen, eine schnelle Folge von Aktionsströmen Gotch und Burch haben an einem Achtel auflösen. Beim Zitterwels beträgt die Dauer des Organ es vom Zitterwels eine elektro- jeder einzelnen Stromwelle bei einer Tempe- motorische Kraft von 25 Volt festgestellt. , raturvon35°Celsius 1,1 bis 1,3 a(o=7iooo See). Man kann daher für die Entladung des Bei 15° haben sie eine Dauer von 8 o. Audi ganzen Organes 200 Volt annehmen. Der das vom Zentralnervensystem getrennte Or- von Gotch und Burch benützte Organteil gan läßt bei Reizung rhythmische Ent- enthielt an 530 Platten. Die einzelne Platte ladung erkennen. Beim unverletzten Tier 390 Elektrizitätsproduktion wird der Rhythmus durch die Erregungen bestimmt, die vom Zentralnervensystem kommen. Garten hat am Zitterwels den experimentellen Nachweis dieser Tatsache erbracht. Garten erhielt bei Abkühlung des Zentralnervensystems eine Verlang- samung des Rhythmus, während der Rhythmus bei Abkühlung des elektri- schen Organs unverändert blieb. Nach vielen Entladungen, manchmal über 1000, tritt Ermüdung ein. Das ermüdete Organ reagiert, wie Röhmann gezeigt hat, sauer. Das entnervte elektrische Organ zeigt keine elektrischen Entladungen. Die Un- fähigkeit zur Entladung tritt ein nach Ent- artung der Nerven oder nach Lähmung der Nervenenden durch starke Curaredosen. Auch bei der Ermüdung schwindet, wie Garten gezeigt hat, gleichzeitig mit der indirekten Erregbarkeit vom Nerven aus die direkte. Ist die Erregbarkeit des Organs geschwunden, dann ist es auch nicht mehr möglich, durch Verletzung einer Stelle einen Demarkations- strom hervorzurufen. Nach Gotch stellt eben das Nervenendorgan mit der Platte das elektrisch Wirksame vor. Auch beim Muskel müssen wir an der Uebergangsstelle vom Nerv zum Muskel eine besonders differenzierte Substanz annehmen. Sie ist als reizaufneh- mende bezw. als rezeptive Substanz bezeich- net worden. An ihr spielen sich alle jene Vorgänge ab, die früher dem Nervenend- organ zugeschrieben worden sind (vgl. die allgemeine Physiologie der Muskeln im Ar- tikel „Muskeln"). 2c) Nervensystem. a) Zentral- nervensystem. Es ist möglich, auch vom Zentralnervensystem Demarkations- und Aktionsströme abzuleiten; doch sind die Deutungen der Ströme wegen des kom- plizierten Baues des Nervensystems schwierig. Vor allem ist es schwer zu entscheiden, ob der Strom auf die Vorgänge in den intra- zentralen Nervenfasern oder in den Ganglien- zellen zurückzuführen ist. Wird zum Bei- spiel eine Stelle des Großhirns verletzt, so verhält sie sich gegenüber einer ungeschädig- ten Großhirnstelle negativ. Wird von einer unverletzten Stelle abgeleitet und dann die- selbe reflektorisch in Erregung versetzt, so erhält man einen Aktionsstrom (Gotch und Horsley). Die Schwierigkeit, die Resultate zu deuten, ist der Grund dafür, daß nur wenige Unter- suchungen über die Elektrizitätsproduktion des Zentralnervensystems ausgeführt worden sind. Zum Studium der Zentrenfunktion hat man sich fast ausschließlich indirekter Methoden bedient, d. h. man hat die Tätigkeit der innervierten Nerven und Mus- keln beoabchtet. ß) Die Nerven. Ueber die Elektrizi- tätsproduktion der Nerven besitzen wh eine Fülle von Erfahrungen. Zwischen der Elektrizitätsproduktion markhaltiger und markloser Nerven bestehen keine wesent- lichen Unterschiede (vgl. Physiologie des Nervensystems im Artikel „Nerven- system"). Auch die Nerven weisen einen Demarka- tionsstrom auf, wenn man von einer unver- letzten Stelle zum Querschnitt ableitet. Jede verletzte oder auf andere Weise ge- schädigte Nervenstelle verhält sich negativ gegenüber den unverletzten Stellen. Die Demarkationsströme sind bei den Nerven der kaltblütigen Tiere stärker als bei den Warmblütern, sie sind bei den marklosen Nerven stärker als bei den markhaltigen. Am markhaltigen Nervus vagus des Hundes beträgt die elektromotorische Kraft des Demarkationsstromes nur 0,004 bis 0,006 Volt. Am Beinnerven des Frosches kann sie 0,02 Volt betragen. Am marklosen Hummer- nerven worden elektromotorische Kräfte von 0,042 bh 0,048 eines D an i eil -Ele- mentes beobachtet. Die geringere elektro- motorische Kraft der Warmblüternerven mag mit dem Umstand zusammenhängen, daß sie entsprechend ihrer starken Ab- hängigkeit von der Blutversorgung einen intensiven Ruhestoffwechsel aufweisen, der bewirkt, daß die Differenz im chemischen Geschehen zwischen Längs- und Quer- schnitt nicht groß ist. Die geringe Differenz zwischen Längs- und Querschnitt könnte auch dadurch veranlaßt sein, daß der vom Tierkörper getrennte Warmblüternerv durch Sauerstoffmangel geschädigt ist. Mit dem Demarkationsstrom hängt enge der Axialstrom zusammen. Leitet man von zwei Querschnitten eines Nerven ab, so kann man einen Strom, den Axialstrom beob- achten. Nach Weiß ist der Axialstrom zurück- zuführen auf die größere Menge an Binde- gewebe an dem einen Querschnitt. Legen wir an dem Beinnerven des Frosches zwei Quer- schnitte an, so ist jener Querschnitt, der gegen das Rückenmark liegt, der dickere und bindegewebsreichere. Er ist elektro- motorisch weniger wirksam, offenbar weil das Bindegewebe als Nebenschließung wirkt und nur weniger Strom nach außen wirk- sam wird. Mit der elektromotorischen Kraft der Aktionsströme verhält es sich so wie mit den Demarkationsströmen. An den marklosen Nerven lassen sich in der Regel stärkere Aktionsströme nachweisen. Garten konnte an zwei aneinandergelegten Beinnerven vom Kaninchen Aktionsströme von 0,0015 eines Daniellelementes messen. Zwei Beiunerven vom Frosch gaben Aktionsströme von 0,004 Daniell. Interessant sind die Beziehungen des zeitlichen Verlaufs der Aktionsströme zur Elektrizitätsproduktion 391 Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung ierlicher Erregungsvorgang geleitet werden im Nerven. Bei schnell leitenden Nerven kann. Die Untersuchungen zur allgemeinen erreicht der Aktionsstrom viel rascher sein Physiologie der Nerven haben jedoch gezeigt Maximum. Der Aktionsstrom des Warm blüternerven kann schon nach 0,0055 o sein Maximum erreichen, während der Ak- tionsstrom des marklosen Teichmuschelnerven dazu l/s Sekunde braucht (Garten). daß im Nerven nur Erregungswellen sich fort- pfanzen und niemals ein kontinuierlicher Erregungsvorgang geleitet wird. Wir müssen demnach annehmen, daß die rhythmische Natur der Erregungen der Sinnesnerven nicht Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Er- nachweisbar ist, weil die Impulse zu schwach sind oder so ungeordnet von den Sinnes- organen ausgehen, daß die einzelnen Phasen der Aktionsströme miteinander interferieren und daher nicht hervortreten können. Nach einer Reizung, insbesondere regung im Warmblüternerven kann Werte bis zu 120 m in der Sekunde erreichen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung beim Muschelnerven beträgt nur 10 mm in der Sekunde. Werden die Lebensvorgänge eines Nerven z. B. durch Abkühlung oder nach einer längerdauernden, schließt sich, Narkose verlangsamt, dann wird die Fort- wie E. Hering gezeigt hat, an die ne- pflanzungsgeschwindigkeit der Erregung ver- gative Schwankung des Demarkations- langsamt, und die Aktionsströme brauchen Stromes eine positive Schwankung, die zur Erreichung ihres Maximums längere positive Nachschwankung, an. Figur 20 Zeit. zeigt eine solche positive Nachschwankung. Bei Reizung der Nerven mit dem konstan- Die positive Nachschwankung läßt sich ten Strom treten rhythmische Aktionsströme nur schwer am Warmblüternerven nach- auf, die beim Warmblüternerven eine Frequenz von nahezu 1000 Aktionsströmen in der Sekunde erreichen können. Figur 19 zeigt eine solche Kurve, die bei Reizung eines Froschnerven mit dem kon- stanten Strom erhalten wurde. Rhythmisch sind die Aktions- ströme auch bei willkürlicher Innervation, doch werden diese Rhythmen durch Impulse erzeugt, die den Nerven von ihren Gang- lienzellen zugehen. Dittler hat vom Zwerchfellnerven bei natür- licher Innervation 30 bis 120 Aktionsstromwellen in der Sekunde Fig. 19. Rhythmische, negative Schwankung eines Kalt- Die froschnerven bei Reizung mit dem konstanten Strom. Erhebung der untersten Linie bezeichnet den Reizmoment. Nach Garten. Fig. 20. Positive Nachschwankung des Nervenstromes. Die Senkung der breiten Linie zeigt das Aufhören der Reizung, die zweite Linie von oben die Ruhelage der Saite vor Beginn der Reizung an. Nach Garten. ableiten können. Es ist jedoch bisher nicht gelungen die rhythmische Natur der Erregung in den sensiblen Nerven nachzuweisen. Bei Reizung des Auges durch Licht, des Gehör- organes durch Schall, bei mechanischer Reizung der Haut, bei Aufblähung der Lunge lassen sich von den sensiblen Nerven dieser Organe andauernde Ströme ableiten, die vielfach zur Annahme verleitet haben, daß durch die sensiblen Nerven ein kontinu- weisen. Beim Kaltblüternerven tritt sie schon nach kurzdauernden faradischen Rei- zungen hervor. Am marklosen Riechnerven des Hechtes konnte sie Hering schon nach einer kurzdauernden mechanischen Reizung beobachten. Bei wiederholten faradischen Reizungen des Froschnerven nimmt die positive Nachschwankung erst zu, um dann wieder abzunehmen. Schließlich folgt der I faradischen Reizung keine Nachschwankung 392 Elektrizitätsproduktion mehr. Wie Garten gezeigt hat, spielt sich der Vorgang, welcher der positiven Nach- schwankung zugrunde liegt, am Längsschnitt des Nerven ab. Bei Abkühlung der Ableitungs- stelle am Längsschnitt verschwindet die positive Nachschwankung, ohne daß die Aktionsströme eine wesentliche Verände- rung aufweisen. Dasselbe findet statt bei Sauerstoffmangel des Nerven, wie Zeliony gezeigt hat. Aus Nerven des Sommer- frosches konnte Zeliony durch Sauerstoff- zufuhr zu der Ableitungsstelle am Längs- schnitt eine Zunahme der positiven Nach- schwankung herbeiführen. Die positive Nachschwankung ist deshalb von Bedeutung, weil sie uns Aufschluß geben kann über das, was in der lebendigen Sub- stanz nach einem Reiz vor sich geht. Die positive Nachschwankung könnte im Sinne Herings Ausdruck einer autonomen auf- steigenden Aenderung der lebendigen Sub- stanz sein, und man könnte sich vorstellen, daß sie vielleicht in Zusammenhang steht mit der Massenzunahme jeder lebendigen Substanz nach häufiger Reizung, daß also eine Beziehung besteht zwischen positiver Nachschwankung und Arbeitshypertrophie. Aber es wäre noch eine andere Deutung möglich, auf die ich in Uebereinstimmung mit Crem er aufmerksam machen möchte. Sie steht in Beziehung zu den positiven Nach- schwankungen, die wir nach Reizung tonisch kontrahierter Muskeln beobachten können. Man könnte sich vorstellen, daß der Längs- schnitt des Nerven sich schon vor der Rei- zung in einer schwachen Erregung befindet, die aufrecht erhalten wird durch schwache Reize, die sich von keiner lebendigen Sub- stanz vollständig fernhalten lassen und die um so besser wirken, je höher die Erregbar- keit ist. Ein schwacher Erregungsvorgang im Nerven hat einen geringeren Demarka- tionsstrom zur Folge. Durch eine faradi- sche Reizung setzen wir die Erregbarkeit des Nerven für die schwachen Reize herab. Man vergleiche das im Artikel „Nerven- system" (allgemeine Physiologie des Nerven- systems) über relative Ermüdung Gesagte. Nach Aufhören der Reizung befindet sich der Nerv in einem geringeren Erregungszustand als vor der Reizung und das kommt in einer Zu- nahme des Demarkationsstromes, der positiven Nachschwankung zum Ausdruck. In dem Maße als die anfängliche Erregbarkeit wieder- kehrt, stellt sich die Wirksamkeit der schwa- chen Reize wieder her ; der Demarkations- strom nimmt wieder ab. Der Verlauf der positiven Nachschwankung entspricht voll- kommen der Restitution der Erregbarkeit nach einer Reizung. Die Erregbarkeit kehrt zuerst rascher, dann immer langsamer zur anfänglichen Höhe zurück. Bei Durchströmung eines Nerven mit dem konstanten Strom zeigen sich bei Schließung und Oeffnung an der Ein- und Austrittsstelle des Stromes Zustandsände- rungen, die wir als Elektrotonus bezeichnen (vgl. allgemeine Physiologie des Nervensystems im Artikel „Nervensystem"). Die kom- plizierten Erscheinungen im elektrischen Ver- halten des Nerven während des Elektrotonus sind besonders von Du Bois-Reymond, Hermann, Bernstein, Pflüger, Hering undBiedermann untersucht worden. Einige umfassende Darstellungen dieses Forschungs- gebietes, die keineswegs leicht zu verstehen sind, finden sich in dem Werke Du Bois- Reymonds über tierische Elektrizität, im Buche Pflügers über den Elektrotonus und in Biedermanns Elektrophysiologie. Bei den nach Schließung und Oeffnung des elektrischen Stromes auftretenden Schwan- kungen des Demarkationsstromes sind 3 Kom- ponenten beteiligt: 1. die Aktionsströme, die bei der Schließung von der Kathode, bei der Oeffnung von der Anode ausgehen und in Form von rhythmischen Aktionsströmen zum Ausdruck kommen können, 2. die Stromschleifen, die von den Zuleitungsstellen | des konstanten Stromes auf die Ableitungs- stellen zum strommessenden Instrument übergreifen können (physikalischer Elektro- tonus), 3. die elektrotonischen Ströme (phy- siologischer Elektrotonus). Wird ein markhaltiger Nerv von einem konstanten Strom durchflössen, so wird nicht nur die Eintrittsstelle positiv zu den anderen Nervenstellen, sondern die ganze außerhalb der Anode liegende Nerven- strecke wird in abnehmender Stärke positiv. Die außerhalb der Kathode liegende Strecke wird negativ. Bei der Oeffnung des konstan- ten Stromes finden, entsprechend dem po- laren Erregungsgesetz, die gegensinnigen Aenderungen an Anode und Kathode, wenn auch in weit schwächerem Grade statt. Die Ausbreitung der elektrotonischen Veränderungen erfolgt nicht plötzlich über die ganze Nervenstrecke, sondern mit einer Geschwindigkeit, die etwas geringer ist als die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Er- regungswelle. Durch die weite und schnelle Ausbreitung der elektrotonischen Ver- änderungen unterscheidet sich der mark- haltige Nerv vom marklosen Nerven und vom Muskel. Bei diesen bleibt der Elektrotonus mehr oder weniger auf die Ein- und Aus- trittsstelle des konstanten Stromes be- schränkt. Die Bedingung für die Ausbreitung des Elektrotonus liegt in der Markscheide des Nerven. Durch eine Polarisation, welche zwischen Markscheide und Achsenzylinder stattfindet, kann ein so großer Widerstand entstehen, daß der Strom einen weiteren Weg einschlägt und jetzt längere Nervenstrecken in den Zustand des Elektrotonus versetzt. Elektrizitätsproduktion 393 Dadurch daß zuerst eine Polarisation er- folgen muß, bevor der benachbarte Teil des Nerven in den Zustand des Elektro- tonus versetzt wird, wird die endliche Ausbrei- tungsgeschwindigkeit des Elektrotonus ver- ständlich. 2d) Ströme an den Augen. Schon Du Bois-Reymond hat darauf hinge- wiesen, daß sich von isolierten Augen elektri- sche Ströme ableiten lassen, aber erst spätere Untersuchungen haben sich mit den Strömen beschäftigt, welche bei Be- lichtung und Verdunklung der Augen auftreten. Leiten wir von der Hornhaut zum hin- teren Augenpol ab, so erhalten wir einen Strom, welcher im äußeren Kreis von der Hornhaut zum hinteren Augenpol fließt. An der isolierten Netzhaut des Wirbel- halten worden war, die untere Kurve ist von einem dunkeladaptierten Auge aufgenommen. Der Belichtung folgt eine kurzdauernde Ab- schwächung des Demarkationsstromes, die von einer stärkeren Zunahme des Demar- kationsstromes gefolgt ist, sie geht beim helladaptierten Auge wieder zurück, beim dunkeladaptierten Auge weist sie nach kurzdauernder Abnahme eine neuer- liche Zunahme, die sekundäre Erhebung, auf. Der Verdunklung folgt beim helladap- tierten Auge eine starke, beim Dunkelauge eine schwächere Verdunklungsschwankung, dann wird die anfängliche Stärke des Demar- kationsstromes allmählich wieder erreicht. Der Verlauf dieser Belichtungs- und Ver- dunklungsschwankung scheint, wie die Un- tersuchungen von v. Brücke und Garten ergeben haben, in großen Zügen für alle tierauges läuft der Strom im äußeren Kreise Wirbeltieraugen der gleiche zu sein. von der Nervenfaserschicht zur Stäbchen- 1 Die Belichtungsschwankungen lassen sich schicht. Wir müssen daher schließen, daß schon bei so kurzen Belichtungszeiten und so dieser Strom auch die Richtung des Stromes j niedriger Lichtintensität nachweisen, daß des ganzen Auges bestimmt. Sämtliche ! die Empfindlichkeit unserer Netzhaut gegen- über Licht nahezu erreicht wird. Die Emp- findlichkeit wird auch bei Wirbeltieraugen zeigen gleiehgerich- einen teten Strom, bei den Tintenschnecken geht der Strom, wie Piper gezeigt hat, vom hinteren Augenpol zur Hornhaut. Das gleiche gilt für das Auge des Hummers (Dewar und M'Hendrik). Die histologische Untersuchung dieser Augen zeigt, daß die Stäbchenschicht gegen das Innere des Auges gelegen ist, während bei den Wirbeltier- augen die Nervenfasersehicht der Netzhaut nach innen liegt. Als Sitz besonderer chemischer Umsetzung verhält sich che Stäbchenschicht negativ zur Nervenfaserschicht. Wird nun die Stäbchenschicht durch einen Licht - reiz in stärkere Erregung versetzt, so erhalten wir als Ausdruck dieser Erregung keine negative Schwan- kung des bestehen- den Stromes, son- dern eine Verstär- kung, eine positive Schwankung. Figur 21 zeigt die Schwankungen des Demarkations- stromes eines Froschauges bei Belichtung und Verdunklung. Die obere Kurve stammt von einem Auge, das vor dem Versuch längere Zeit im Hellen ge- Augen gesteigert, tung längere worden sind. Augen der sie bei den ausgeschnittenen wenn sie vor der Belich- Zeit im Dunkeln gehalten Diese Steigerung ist bei den Tagvögel nur gering, während Nachtvögeln das 100 fache be- tragen ^ kann. Die Latenzzeiten, die zwi- schen dem Moment der Belichtung und dem Beginn der elektrischen Schwankung vergehen, sind bei verschiedenen Tieren verschieden. Bei der Eule beträgt nach Garten die Latenzzeit 0,03 Sekunden, beim Frosch 0,09 Sekunden. Dauer der Belichtung <- Pos'tive Eintrittsschwankung Negative Vorschwankung ">- Positive Eintrittsschwankung Negative Vorschwankung Verdunklungsschwan- V erdunk lungs seh wan- Irung Fig. 21. Schwankungen des Augenstromes bei Belichtung und Verdunk- lung. Die obere Kurve stammt von einem helladaptierten Auge, die untere von einem dunkeladaptierten Auge. Nach Garten. 394 Elektrizitätsproduktion Bei intermittierender Lichtreizung ver- mag die Netzhaut bis zu einer gewissen Frequenz mit getrennten Aktionsströmen zu reagieren. Die Versehmelzungsfrequenz beträgt nach Piper für das Froschauge 15 Keize pro Sekunde, bei den Tagvögeln etwa 40 Reize. Daraus ist zu ersehen, daß die Verschmelzung intermittierender Er- regung, welche innerhalb dieser Reizfrequenz auch beim menschlichen Sehen stattfindet, schon in der Netzhaut vor sich geht. Bei Betrachtung des komplizierten Ver- laufes des Netzhautstromes bei den Wirbel- tieren kommt man von selbst zu der An- schauung, daß die verschiedenen Phasen mit ihrem Wendepunkt auf mehrere Teilströme zurückzuführen sind, welche in verschiedene Elemente der Netzhaut (Stäbchen, Zapfen, Ganglienzellen) zu lokalisieren sind. Für diese Annahme würde auch die Beobachtung Pipers sprechen, daß am Auge der Tinten- schnecken, bei welchem von den Teilen der Retina nur die Stäbchen im Augapfel ent- halten sind, bei Belichtung nur einfache Schwankungen auftreten. 2e) Drüsenströ nie. Schon Du Bois- Reymond hat die Ströme, welche sich von der Haut ableiten lassen, beobachtet. Es ist jedoch nicht die Haut das elektro- motorisch Wirksame, sondern die in der Haut eingelagerten Drüsen (Schleim-, Schweißdrüsen usf.). Es haben sich auch von bloßgelegten Drüsen, z. B. den Speicheldrüsen, Ströme ableiten lassen. Eben- so konnte man Ströme von der drüsenreichen Magen- und Darmschleimhaut erhalten. Die tätigen Drüsenzellen verhalten sich ent- sprechend der Hermannschen Alterations- theorie negativ zu den übrigen Teilen der Drüsen oder der Haut. An der Haut hat der Strom eine einsteigende Richtung, er ver- läuft im äußeren Stromkreis von der Haut- oberfläche zur Innenseite der Haut. Die Stärke des Stromes ist von dem Zustande und dem Grade der Tätigkeit des Drüsen- gewebes abhängig. Wird die Haut stark geschädigt, wird sie narkotisiert oder erstickt, so wird der Strom schwächer oder er ver- ! schwindet. Wird die Sekretionstätigkeit der Drüsen gesteigert, so nimmt der Strom an Stärke zu. — Bei Kaltblütern wurden Haut- 1 ströme von 0,05 Volt Spannung gemessen. Es ist möglich, durch verschiedene Be- [ einflussungen die Richtung des Demarka- tionsstromes umzukehren. Man kann z. B. den einsteigenden Strom einer Froschhaut in einen aussteigenden verwandeln, wenn j man die Haut längere Zeit in einer physiolo- gischen Kochsalzlösung von 0° einlegt. Bei direkter Reizung der Drüsen oder bei Reizung ihrer Nerven kann man in der Regel eine Verstärkung, aber auch eine Ab- schwächung des Demarkationsstromes er- halten. Dies hängt von dem Tätigkeits- ' grad der Drüsen ab. Sind sie nur wenig- erregt , dann ist der einsteigende Strom schwach und bei Reizung erfolgt eine Zu- nahme, bei starkem einsteigendem Strom erfolgt bei Reizung häufig eine Abnahme desselben. Die Richtung der Stromschwankung hängt ferner von der Stärke der Reizung ab. Bei schwachen Reizen kann man eine Schwächung, bei starken Reizen eine Zu- nahme, bei mittleren Reizstärken ein rhyth- misches Schwanken des Demarkationsstro- mes beobachten. Gifte, wie das Pilocarpin, erregen die peripheren Enden der Drüsen- nerven und sind mit einer Verstärkung des Demarkationsstromes verbunden. Atropin lähmt die Drüsennerven, die direkte Erreg- barkeit der Drüsen bleibt jedoch erhalten, der Demarkationsstrom nimmt ab. 3. Elektrizitätsproduktion bei Pflanzen 3a) Stengel. Blätter. Blüten. Drü- sen. Keimlinge. Die Ströme, welche sich am Pflanzenkörper nachweisen lassen, wur- den zuerst von Hermann und Burdon- Sandersen in eingehender Weise unter- sucht. Unsere Kenntnisse von der Elektri- zitätsproduktion bei Pflanzen haben ins- besondere in der Elektro physiologie von Biedermann eine eingehende Darstellung erfahren. Wird ein Pflanzenstengel durchschnitten, so verhält sich der Querschnitt zu den un- verletzten Stellen negativ, doch nimmt der Demarkationsstrom aus demselben Grunde wie bei den glatten Muskeln und den elektri- schen Organen rasch ab. An Pilzstielen wur- den von Hermann Ströme beobachtet, welche eine elektromotorische Kraft von 0,05 eines Daniellelementes erreichten. Man kann auch von unverletzten Pflanzen Ströme ab- leiten, wenn zwei verschiedene Punkte der Pflanze mit dem strommessenden Instrument verbunden werden. Bei Ableitung von der Blattfläche und einer Blattrippe verhält sich erstere negativ zur letzteren. Bei Ab- leitung von der Ober- zur Unterseite kann der Strom einmal in einer, das anderemal in Die entgegengesetzter Richtung fließen. Richtung hängt vom Zustande des Blattes ab. Bei Belichtung des Blattes wird die Blattfläche stärker negativ im Verhältnis zur Blattrippe oder dem Stengel. Als stark elektromotorisch wirksam er- weisen sich alle Pflanzenteile, in welchen starke chemische Umsetzungen stattfinden, die Pflanzendrüsen, die Blüten, die wachsen- den Teile, die Keimlinge. Figur 22 zeigt den Verlauf der Ströme bei Ableitung von verschiedenen Stellen des Keimlingskörpers. 3b) Elektrizitätsproduktion bei Reizbewegungen. Von Aktionsströmen können wir eigentlich nur bei Pflanzen Elektrizitätsproduktion 395 sprechen, welche Reizung mit Bewegungen beantworten. Die Aktionsströme, welche die Reizbewegung von Dionaea muscipola undMimosa pudica begleiten, oder besser gesagt, den Reizbewegungen vorausgehen, sind von Burdon-Sanderson eingehend untersucht worden. Das Dionaeablatt kann längst der Mittel- rippe zusammenklappen. Diese Bewegung wird durch mechanische Reizung der Sinnes- haare ausgelöst, welche an der Innenfläche des Blattes stehen. Der Mechanismus kann zum Fangen von Insekten dienen. Reizen die- selben ein Sinneshaar, so pflanzt sich die Erregung durch reizleitende Parenchym- zellen zu den Bewegungszellen fort. Die- selben befinden sich an der Oberseite der Mittehippe. Ihrem Druck wirken Zellen an der Unterseite der Mittelrippe entgegen. Bei Reizung nimmt der Druck in den Be- wegungszellen ab, der Druck der Gegenzellen überwiegt, das Blatt schließt sich. Ein ähnlicher Mechanismus befindet sich auch an den Mimosenblättern. Die Richtung und Stärke der Aktions- ströme hängt vom Zustande des Blattes und der Art der Ableitung ab. Es können auch doppelsinnige Schwankungen vorkom- Fig. 22. Stroinverlauf an einem Keimling. Nach Müller-Hettlingen. men. Der Aktionsstrom tritt früher als die Reizbewegung ein. In einzelnen Fällen konnten Aktionsströme ohne Reizbewegungen beobachtet werden. Aktionsströme treten auch auf, wenn das Blatt durch Fixierung ver- hindert ist, eine Reizbewegung auszuführen. 4. Die Theorie der Elektrizitäts- produktion. 4a) Reibungselektrizität. Unter den an lebenden Körpern nachweis- baren elektrischen Erscheinungen sind zu- nächst jene zu nennen, welche statischer Natur sind. Beim Reiben der Haut, Nägel, Haare oder Federn können elektrische Spannungen von 1000 und mehr Volt entstehen. Sie haben vielfach zu erregten Diskussionen Anlaß gegeben. Vergleiche z. B. die Dis- kussion über die Bedeutung der Finger- spitze als Elektrizitäts quelle. Die Erregung im negativen 4b) Galvanische Elektrizität, a) Der Demarkationsstrom und die Ak- tionsströme. Für das Verständnis der Erscheinungen galvanischer Elektrizität an Tier- und Pflanzenzellen sind die Ausfüh- rungen Hermanns von grundlegender Be- deutung geworden. Dadurch, daß er nach- wies, daß jede erregte oder geschädigte Stelle sich negativ gegenüber den weniger erregten oder nicht geschädigten verhält, kam in das Gewirr einander widersprechender Analysen Ordnung. Es könnte den Anschein haben, daß zwischen dem Demarkationsstrom eines Ner- ven und einer Drüse ein Unterschied besteht. Beim Nerven erhalten wir einen Demarka- tionsstrom erst, wenn wir ihn an einer Stelle verletzen und von dieser zu einer unver- letzten Stelle ableiten Nerven äußert sich in einer Schwankung des Demarkationsstromes. Der Demarkationsstrom einer Drüse läßt sich nachweisen, wenn wir das tätige Drüsen- gewebe und die Ausführungsgänge der Drüse mit dem strommessenden Instrument ver- binden. Eine Reizung der Drüse hat eine Verstärkung des Demarkationsstromes zur Folge. So wie der Nerv verhielten sich der quergestreifte Muskel, der Herzmuskel, die elektrischen Organe, viele glatte Muskeln, wie die Drüsenzelle verhalten sich die tonisch kontrahierten glatten Muskeln, die Augen und die Pflanzen, also jene Formen lebendiger Substanz, welche schon durch Reize, die auf Nerven, Muskeln und elektrische Organe keine wahrnehmbare Wirkung haben, wesentlich er- regtwerden. Wir können demnach verschiedene Formen von Aktionsströmen unterscheiden, welche bei Reizung eines Organes auftreten. 1. Eine Abschwächung des Demarka- tionsstromes. 2. Verstärkung des Demarkationsstromes. 3. Doppelsinnige Schwankungen des De- markationsstromes, erst Abschwächung und dann Verstärkung oder erst Verstärkung und dann Abschwächung. 4. Nachwirkungen, welche in einer die Reizung überdauernden Verstärkung oder Abschwächung des Demarkationsstromes zum Ausdruck kommen. 5. Mehrsinnige Schwankungen des De- markationsstromes. Die unter 3 angeführten doppelsinnigen Schwankungen werden verständlich, wenn wir uns das Verhalten eines glatten Muskels bei Reizung seines Nerven veranschaulichen. Ist er tonisch kontrahiert, so erhalten wir bei schwacher Nervenreizung eine Anfangs- kontraktion, die noch während der Reizung von einer weitgehenden Erschlaffung des Muskels gefolgt ist. Es ist dies eine Hem- mung, welcher eine kurzdauernde Erregung vorausgeht. Der elektrische Ausdruck dieses 396 Elektrizitätsproduktion — ■ Elektrochemie Verhaltens ist eine doppelsinnige Schwan- kung. Die Richtung dieser Schwankung ist davon abhängig, ob wir vom Längsschnitt zum Querschnitt des Muskels oder vom Längs- schnitt zu einem indifferenten Punkt ableiten. Im ersteren Fall werden wir zuerst eine Ab- nahme, dann eine Zunahme des Demarka- tionsstromes, im letzteren Fall zuerst eine Zunahme, dann eine Abnahme des Demar- kationsstromes eintreten sehen. Es ist klar, daß bei fehlender Berücksichtigung dieser keineswegs unübersichtlichen Verhältnisse ein Gewirr von Angaben entstehen muß, durch das durchzukommen unmöglich ist. Aehnlich verhält es sich mit den Nachwirkun- gen der Reizungen. Wenn wir bei Reizung eines tonisch kontrahierten glatten Mus- kels eine Zunahme der Kontraktion erhalten, welche die Reizung überdauert, so werden wir bei Ableitung vom Längsschnitt zum Quer- schnitt Abnahme des Demarkationsstromes bekommen, bei Ableitung vom Längsschnitt zu einem indifferenten Punkt eine Zunahme des Demarkationsstromes. Es kommt in erster Linie darauf an, daß Klarheit herrscht über die Entstehungsbedingungen des De- markationsstromes. Die vielfach übliche Be- zeichnung positive und negative Schwankung" ist häufig nur geeignet, falsche Vorstellungen zu erwecken. Die mehrsinnigen Schwankungen, wie sie z. B. bei Belichtung des Auges auftreten, kommen wohl durch Beteiligung mehrerer Netzhautelemente bei der Entstehung der Schwankungen zustande. Wir können ganz ähnliche mehrsinnige Schwankungen bei reflektorischer Erregung eines Skelett- muskels beobachten; bei diesen Schwankun- gen kann kein Zweifel sein, daß die Wende- punkte in den Kurven durch Erregung neuer Reflexwege im Rückenmark zustande kommen. Auch für das Verständnis der komplizierten elektrischen Schwankungen im Elektrotonus bieten die Hermannschen Grundanschauungen den Schlüssel. ß) Theorie der Produktion galva- nischer Elektritziät. Die Elektrizitäts- produktion einer lebendigen Substanz steht in naher Beziehung zur Wirkung elektrischer Reize. Bei elektrischer Reizung kennen wir die erste Phase der Reizwirkung und eine der letzten Phasen, den elektrischen Ausdruck des Erregungsvorganges. Nach Nernst beruht die erste Phase der Reizwirkung auf einer Polarisation an einer semipermeablen Mem- bran. Die Bedingungen für das Bestehen einer solchen und für das Auftreten von ionenverschiebungen an derselben sind an jeder Form lebendiger Substanz vorhanden. Auch die Elektrizitätsproduktion als letzte Phase des Erregungsvorganges kann auf nichts anderem beruhen, als auf einer Ionen- verschiebung, denn nur bei solchen kann ein galvanischer Strom auftreten. Ueber die Zwischenglieder des Erregungsvorganges, die zwischen primärer Reizwirkung und dem Auf- treten des Aktionsstromes liegen, insbe- sondere über die Beteiligung der Ionenver- schiebung am Stoff- und Energiewechsel der lebendigen Substanz läßt sich noch nichts Bestimmtes aussagen. Wir wissen nur, daß die Lebensvorgänge in engster Abhängigkeit von der Anwesenheit der Elektrolyten stehen, daß selbst für die Wirkung der Fermente die Anwesenheit von Salzen unbedingt not- wendig ist. Literatur. E. Du Bois - JReymond, Unter- suchungen über tierische Elektrizität. Berlin I84S. — ITr. Biedermann, Elektrojjhysiologie. Jena 1895. — A. Waller, Tierische Elektrizität. Leipzig 1899. — S. Garten, Die Produktion von Elektrizität. Im Handbuch der vergleichenden Physiologie. Jena 1911. — E. Pflüger, Elektro- tonus. Berlin 1859. — L. Hermann, Hand- buch der Physiologie I. 1879. — E. Hering, Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz. Lotos. Bd. 9. 1SSS. — M. Cremer, Die allgemeine Physiologie der Nerven. Nagels Handbuch der Physiologie. 1909. — W. Einthoven, Weiteres über das Elektrokardio- gramm. Pflügers Archiv. Bd. 122. 1908. — F. W. Fröhlich, Ueber die rhythmische Natur der Lebensvorgänge. Zeitschrift für allgemeine Physiologie. Bd. 13. 1911. — W. Nernst, Zur Theorie des elektrischen Reizes. Pflügers Archiv. Bd. 122. 1908. — H. Piper, Verlauf und Theorie des Netzhautstromes. Physiologisches Zentralblatt. Bd. 24. 1911. F. W. Fröhlich. Elektrochemie. 1. Galvani. 2. Volta und die Kontakttheorie. Leiter erster und zweiter Klasse. Spannungsreihe. Spannungsgesetz. 4. Voltasche Säule. Hinterein- ander- und Nebeneinanderschaltung. 5. Ritter. Davy. 6. Grotthuß. 7. Simon. Gewinnung von Na- trium. 8. Elektrochemischer Dualismus. 9. Ohm und sein Gesetz. Fechner. Uebergangswiderstand. Polarisation. 10. Faraday und sein Gesetz. 11. Ionen. Kationen. Anionen. Elektrolyte. Elektrolyse. Elektroden. Kathode. Anode. Jacoby. Galvanoplastik. Elektroplattierung oder Galvanostegie. Clausius und seine Leitungs- theorie. 12. Hittorf. Wanderung der Ionen, Kohlrausch. Leitfähigkeit der Elektrolyte. van't Hoff. Osmotische Theorie der Lösungen Arrhenius. Elektrolytische Dissoziationstheorie. 13. Dissoziationsgrad. 14. Chemische Theorie der galvanischen Kette. 15. Ostwald. Massenwirkungs- gesetz. Nernst und seine osmotische Theorie des galvanischen Elementes. Helmholtz. Elektro- lytische Lösungstension. 16. Konzentrationskette. Flüssigkeitskette. Klemmspannung. Innerer Widerstand. Aeußerer Widerstand. Badspannung. Elektrische Grenzkräfte. 17. Einzelspannun \ Normalelektrode. Elektrolvtische Potentiale. Elektrochemie 397 Spannungsreihe. 18. EMK und chemisches Gleich- gewicht. Vorbedingung für die Entstehung eines elektrischen Stromes. 19. Oxydati ons- und Reduktionserscheinungen. 20. Polarisation. Polarisationsstrom. Zersetzungswert. Le Blanc. 21. Ueberspannung. 22. Elektrolyse gemischter Lösungen. Elektroanalyse. 23. Stromdichte. Pri- märe und sekundäre Elektrolyse. Elektrosynthese. 24 Zwitterelemente. Elektrische Zerstäubung. 25. Passivität, 26. Keir. 27. Wetzlar. Fechner. 28. Schönbein. Faraday. Oxydtheorie. Müller und Königsberger. Wertigkeitstheorie. Reaktions- geschwindigkeitstheorie. Katalytische Einflüsse. Förster. 29. Verschiebung der Wertigkeit, 30. Ventilzellen. 31. Elektrolyse ohne Elektroden. Elektrothermische Prozesse. Elektrische Oefen. 32. Namen der bedeutendsten Forscher. i. Galvani. Unter Elektrochemie versteht man die Lehre von dem Zusammenhang chemischer und elektrischer Erscheinungen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde bereits bekannt, daß „Elektrizität" auch chemische Wirkungen hervorbringen könne; aus gewissen Metalloxyden, zwischen denen man den durch eine Elektrisiermaschine erzeugten elektrischen Funken überspringen ließ, konnten die entsprechenden Metalle abgeschieden werden. Auch wußte man, daß Luft beim Durchschlagen von Funken sich braun färbte und bei Berührung mit "Wasser ihr Volum verkleinerte. Ein eingehenderes Studium elektrochemischer Vor- gänge war erst möglich, nachdem eine neue Elektrizitätsquelle entdeckt worden war, die größere Elektrizitätsmengen als die Elektrisiermaschine in der Zeiteinheit hergab. Eine solche lieferte die Entdeckung Gal vanis im Jahre 1791. Dieser hatte, nachdem er an Froschpräparaten durch Induktion hervor- gebrachte Zuckungen beobachtet hatte, durch weiteres Experimentieren gefunden, daß un- abhängig von Elektrizitätsströmungen in der Umgebung stets ein Zucken des Präparates eintrat, wenn er dieses, das einen Draht im Rückenmark trug, auf eine eiserne Scheibe legte und den Draht mit dieser in Berührung brachte. Er glaubte allerdings noch, daß der tierische Organismus als solcher die Quelle der elektrischen Energie sei und verglich ihn mit einer Leidener Flasche: Muskel und Nerv stellten die beiden Belegungen vor, der metallene Schließungsbogen bewerk- stelligte die Entladung. 2. Volta und die Kontakttheorie. Erst Volt a stellte die Verhältnisse richtig dar. Er hatte nämlich gefunden, daß nur dann starke Zuckungen auftraten, wenn der Schlie- ßungsbogen von zwei oder mehreren Metallen gebildet war, während bei der Leidener Flasche die Art des metallenen Schließungs- bogens keine Rolle spielt, und kam schließ- lich zur Erkenntnis, daß stets ein elektrischer Strom entstand, wenn zwei Metalle und eine Flüssigkeit zu einem Stromkreis vereinigt waren. Die Annahme einer „tierischen" Elektrizität wurde fallen gelassen; das Frosch- präparat stellte keine Elektrizitätsquelle, sondern lediglich ein empfindliches Elektro- skop dar. Die Frage nach dem Sitz der elektrischen Erregung beantwortete Volta dahin, daß er an der Berührungsstelle der beiden Metalle zu suchen sei, und schuf damit eine An- schauungsweise, die sogenannte Kontakt- theorie, die viele Jahrzehnte hindurch, wenn auch nicht unangefochten, herrschend blieb. 3. Leiter erster und zweiter Klasse. Spannungsreihe. Spannungsgesetz. Volta bezeichnete die metallenen Leiter, ferner Kolde und einige natürliche Verbindungen als Leiter erster Klasse, die Flüssig- keiten als Leiter zweiter Klasse. Wir haben diesen Unterschied im wesentlichen beibehalten und definieren Leiter erster Klasse als solche, die den elektrischen Strom ohne nachweisbare Bewegung ponderabler Materie leiten, während bei den Leitern zweiter Klasse die Leitung stets mit einer solchen Bewegung verknüpft ist (vgl. auch den Artikel „Elektrizitätsleitung"). Für erstere stellte er die Spannungsreihe auf, indem er sie derartig anordnete, daß bei Verbindung zweier Glieder miteinander und einem Leiter zweiter Klasse zu einem Strom- kreis der Strom stets von dem in der Reihe höher stehenden Gliede durch die Flüssig- keit zu dem in der Reihe niedriger stehenden Gliede ging. Der Strom war um so stärker, je weiter die Glieder voneinander entfernt waren. Wenige Jahre später gab derselbe Forscher das Spannungsgesetz (1801), wo- nach zwischen zwei Metallen, gleichgültig, ob sie sich direkt berühren oder nicht, stets die gleiche Spannung besteht. Es folgt daraus die Unmöglichkeit, einen elektrischen Strom lediglich durch die gegenseitige Berührung von Metallen hervorzubringen, weil die Summe sämtlicher Spannungen in einem solchen Stromkreise gleich Null ist. Für Leiter zweiter Klasse galt nach Volta das Spannungsgesetz nicht, und an der Beruh- rungssteÜe zweier Leiter von verschiedener Klasse sollte nahezu die Spannung Null herrschen. Gemäß dieser Anschauung floß z. B. bei dem galvanischen Element Zink Silber Leitende Flüssigkeit der elektrische Strom mit nahezu der zwi- schen Zink und Silber bestehenden Spannung durch den Stromkreis. 4.VoltascheSäule. Hintereinander- und Nebeneinanderschaltung. Volta verdanken wir auch die Konstruktion der „Säule", die nichts weiter als eine Reihe hintereinander- 398 Elektrochemie geschalteter galvanischer Elemente (s. den Artikel „Galvanische Kette n") darstellt. In der ursprünglichen Anordnung waren abwechselnd eine Silberplatte, eine mit Salzlösung getränkte Scheibe Pappe, eine Zinkplatte, eine Silberplatte usf. auf- einander gelegt. Dadurch wurde eine Span- nungserhöhung (allerdings auch eine Wider- standserhöhung) erzielt, die proportional der Anzahl der hintereinandergeschalteten Elemente war. Durch Nebeneinander- schalten von zwei oder mehreren Elementen oder, was auf das gleiche herauskommt, durch eine Vergrößerung des Querschnitts der Metall- und Flüssigkeitsschichten in einem einzigen Element, kann, wie schon Volta wußte, keine Spannimgserhöhung, wohl aber eine Widerstandsverminderung erzielt weiden. 5. Ritter und Davy. Bald nach Auf- stellung der Spannungsreihe sprach Ritter (1798) den wichtigen Satz aus, daß die Metalle in der Ordnung in der Spannungs- reihe aufeinander folgten, in der sie sich aus ihren Salzlösungen zu verdrängen im- stande wären. Wir können in ihm den Anfang der wissenschaftlichen Elektrochemie er- blicken. Volta selbst hat, obwohl er viel mit seiner Säule experimentierte, nichts von ihrer Fähigkeit erwähnt, das Wasser zu zersetzen; diese Entdeckung verkündeten Ritter und Davy, indem sie angaben, daß an dem mit dem negativen Pol der Säule verbundenen Draht Wasserstoff, an dem anderen Sauerstoff auftrat, und daß die Wasserstoff entwickelnde Seite der Flüssigkeit alkalisch, die andere sauer wurde. Nur in dem Falle blieb letztere neutral, daß an Stelle der Sauerstoffentwickelung Metallauflösung trat. 6. Grotthuß. Die Tatsache, daß bei der elektrolytischen Wasserzersetzimg Wasserstoff und Sauerstoff räumlich getrennt von- einander auftraten, machte den Forschern viel Kopfzerbrechen; man wußte bereits, daß Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht, und es dünkte plausibler, daß beide räumlich beieinander erschienen. Eine für die nächsten Jahrzehnte befriedigende Erklärung gab von Grotthuß (1805). Nach ihm bestanden die Wassermolekeln aus einem positiv geladenen Wasserstoffatom und einem negativ geladenen Sauerstoffatom, wenn sie sich zwischen den beiden unangreifbaren Polen der Säule befanden, und ordneten sich derart, daß ihre positive Seite dem negativen Pol und die negative dem positiven Pol zugekehrt wurde. Bei genügender Ladung Pole konnte das am negativen Pol befindliche Wasserstoffatom aus dem Molekel- verbande herausgerissen werden, seine La- dung mit der entsprechenden negativen des Drahtendes neutralisieren und als unelek- trischer gasförmiger Wasserstoff entweichen. Das gleiche geschah mit dem Sauerstoffatom am positiven Pol. Das am negativen Pol übrig gebliebene Wasserstoffatom kam nun j in eine begünstigte Lage zu dem Sauerstoff- atom einer Nachbarmolekel und verband sich mit diesem. Dadurch wurde ein anderes Wasserstoffatom frei, das nun mit dem Sauerstoffatom einer anderen Wassermolekel in Verbindung trat usf. Durch solche wiederholte Zersetzung und Bildung, die sich zwischen den beiden Polen sowohl vom negativen wie auch mutandis mutatis vom positiven Pol aus abspielte, fand das oben übrig gebliebene Wasserstoff- und Sauerstoffatom wieder Unterkunft im Mo- lekelverbande. Alle Molekeln führten sodann eine Drehung aus, damit wiederum ihre positive Seite dem negativen Pol und um- gekehrt zugewandt wurde, und die Elektro- lyse konnte weitergehen. 7. Simon. Gewinnung von Natrium. Bei der Elektrolyse von reinem Wasser trat saure und alkalische Reaktion nicht auf, wie Simon und Davy nachwiesen; für ihr Erscheinen war ein Salzgehalt des Wassers notwendig. Der zuletzt genannte Forscher zeigte auch, daß der elektrische Strom bei der Einwirkung auf geschmolzenes Aetzalkali an der Kathode Alkalimetall ab- schied, und legte damit den Grund für die heute fabrikmäßig betriebene Gewinnung von Natrium. 8. Elektrochemischer Dualismus. Die Beobachtung, daß bei allen elektrolytischen Vorgängen und auch in der Säule selbst ein polarer Gegensatz bestand, veranlaßten Davy und Berzelius zur Aufstellung ihrer Theorie des elektrochemischen Dualis- mus, wonach jede Verbindung aus einem vorwiegend positiv und einem vorwiegend negativ sich verhaltenden Bestandteil zu- sammengesetzt sein sollte. Die Theorie leistete in systematischer Hinsicht bedeutendes, wenn sie sich auch bald, besonders als die organische Chemie in den Vordergrund zu treten begann, als zu einseitig erwies. 9. Ohm und sein Gesetz. Fechner. Uebergangswiderstand. Polarisation. Für die weitere Entwickelung der Elektrochemie waren indirekt die Arbeiten von Ohm wichtig, der das nach ihm benannte Gesetz (1825) auffand, nach dem die Stromstärke proportional der Spannung und umgekehrt proportional dem Widerstand ist. Denn erst die Aufstellung dieses Gesetzes ermög- lichte die späteren Forschungen auf dem Gebiet des Widerstandes der Lösungen bezw. des reziproken Wertes: der Leitfähigkeit (s. den Artikel „Elektrizitätsleitung). Bemerkt sei an dieser Stelle, daß kurze Elektrochemie 399 Zeit darauf von Fechner noch ein weiterer Widerstandsbegriff, der des Uebergangs- widerstandes eingeführt wurde, der an den Uebergängen von Leitern erster und zweiter Klasse vorhanden sein sollte. Dieser Uebergangswiderstand hat wiederholt eine Rolle gespielt, ist aber jetzt aufgegeben. Er kann entweder durch die Bildung schlecht leitender Ueberzüge bezw. durch die Ent- stehung isolierender Gasschichten oder durch Aenderuug der an jenen Uebergangsstellen auftretenden Potentialsprünge vorgetäuscht werden. Letztere mit dem Namen der Polarisation bezeichnete Erscheinung war schon von Ritter beobachtet und ist seitdem vielfach untersucht worden; wir kommen darauf noch zurück. 10. Faraday und sein Gesetz. In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre veröffent- lichte Faraday seine wichtigsten elektro- chemischen Untersuchungen. Aus ihnen ergab sich einmal, daß zwischen der durch einen Stromkreis gesandten Elektrizitäts- menge und der durch sie hervorgerufenen chemischen und magnetischen Wirkung Pro- portionalität bestand; und ferner, daß die durch gleiche Elektrizitätsmengen an den Polen ausgeschiedenen Stoffmengen, un- abhängig von den äußeren Bedingungen, im Verhältnis ihrer chemischen Aequivalent- gewichte zueinander stehen. Den Inhalt dieser Sätze bezeichnet man gewöhnlich als das Faradaysche Gesetz. Es kann natürlich nur solange gültig sein, als es sich um Leiter zweiter Klasse handelt. Umgekehrt kann man seine Gültigkeit oder Ungültigkeit als Kriterium betrachten, ob man es mit Leitern zweiter oder erster Klasse zu tun hat. ii. Ionen. Kationen. Anionen. Elektro- lyte. Elektrolyse. Elektroden. Kathode. Anode. Jacoby. Galvanoplastik. Elektro- plattierung oder Galvanostegie. Clausius und seine Leitungstheorie. Von Faraday stammt auch unsere heute gebräuchliche Nomenklatur. Die sich unter dem Einfluß des Stromes zu den Polen bewegenden ponderablen Teilchen nannte er Ionen (vgl. den Artikel „Ionen"), und zwar die in der Richtung der positiven Elektrizität wandernden Kationen, die anderen An- ionen. Die Leiter zweiter Klasse nannte er Elektrolyte, den Vorgang selbst Elek- trolyse. Die Berührungsstellen von Leitern erster und zweiter Klasse, an denen der Strom aus- und eintrat, hieß er Elektroden. Der Ort, zu dem die Kationen wanderten, bekam den Namen Kathode, der, zu dem die Anionen gingen, den Namen Anode. Die Beobachtung, daß das an der Kathode im Daniellelement (vgl. den Artikel ,, Gal- vanische Ketten") ausgeschiedene Kupfer sich allen Unebenheiten anpaßte, führte M. Jacoby Ende der dreißiger Jahre zur Entdeckung der Galvanoplastik, nach- dem vereinzelte Beobachtungen in dieser Hinsicht schon am Anfang des Jahrhunderts gemacht worden waren. Dieser Zweig der Elektrochemie hat sich bekanntlich zu einer weit verbreiteten Technik ausgewachsen, in der leitende oder leitend gemachte Körper mit den verschiedensten Metallen oder auch mit Legierungen überzogen werden. Man hat hier zwei Abteilungen zu unterscheiden: die eigentliche Galvanoplastik, bei der die Metallniederschläge von ihrer Unterlage getrennt eine Nachbildung derselben vor- stellen, und die Elektroplattierung oder Galvanostegie, bei der es sich um die Bildung eines schützenden bezw. das Objekt veredelnden Ueberzuges handelt, der unter Umständen recht dünn ist und stets mit der Unterlage innig verbunden sein soll. Spezielles darüber findet man bei den einzelnen Metallen. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahr- i hunderts begann man ernstlich die Unzu- länglichkeit der Grotthußschen Theorie zu empfinden. Nach ihr durfte eine Zer- setzung der Molekeln und damit eine Leitung erst eintreten, wenn die Ladung der Elek- troden eine solche Stärke erreicht hatte, daß die entgegengesetzt geladenen Teilchen des Elektrolyten aus dem Molekelverbande getrennt werden konnten. Tatsächlich fand man aber, daß unter geeigneten Versuchs- bedingungen, nämlich bei Vermeidung der Polarisation, wie z. B. bei der Anordnung Silber/Silbernitratlösung/Silber, bereits bei Anlegung einer minimalen Spannung Leitung eintrat, und das Ohmsche Gesetz für das reine Phänomen der elektrolytischen Leitung von der Spannung Null an gültig war. Daraus ergab sich eigentlich der Schluß, daß die Ionen unverbunden in der Flüssig- keit vorhanden waren. Clausius scheute sich aber, ihn auszusprechen und stellte folgende Leitungstheorie auf, die sich der Annahmen der kinetischen Gastheorie bediente. Die positiven und negativen Teilchen einer Molekel befänden sich in einem Schwingungszustande; würden die Schwingungen sehr lebhaft, so käme mitunter etwa das positive Teilchen der einen Molekel zu dem negativen einer anderen in eine be- günstigtere Lage und diese beiden blieben ge- dann zusammen. Die dadurch frei wordenen Teilchen würden wieder bald zu anderen entgegengesetzt geladenen in be- sonders begünstigte Lage kommen usf., so daß auf diese Weise ein Austausch zwischen den positiven und negativen Teilchen der verschiedenen Molekeln stattfände. Wirkte nun auf die Flüssigkeitsteilchen eine elek- trische Kraft, so würde der Austausch und das Hin- und Herschwingen der geladenen 400 Elektrochemie Teilchen nicht mehr regellos wie bisher vor sich gehen, sondern solche Zerlegungen, bei denen die Teilmolekeln in ihren Be- wegungen zugleich der "Richtung der elek- trischen Kraft folgten, würden erleichtert und daher häufiger stattfinden. Insgesamt resultierte daraus eine überschüssige Be- wegung der geladenen Teilchen zu den entgegengesetzt geladenen Elektroden und diese stellte eben den galvanischen Strom in der Flüssigkeit vor. 12. Hittorf. Wanderung der Ionen. Kohlrausch. Leitfähigkeit der Elektro- lyte. van't Hoff. Osmotische Theorie der Lösungen. Arrhenius. Elektrolytische Dissoziationstheorie. Zur gleichen Zeit begann Hittorf seine Arbeiten über die Wanderung der Ionen (vgl. den Artikel „Ionen") und 1 bis 2 Jahrzehnte später Fr. Kohlrausch seine Untersuchungen über die Leitfähigkeit der Elektrolyte (vgl. den Artikel „Elektrolytische Leitfähig- keit"). Nachdem dann J. H. van't Hoff noch 1887 seine osmotische Theorie der Lösungen (vgl. die Artikel „Osmotische Theorie" und „Lösungen") aufgestellt hatte, die die Bestimmung des Molekular- gewichtes der gelösten Stoffe und damit einen Einblick in die Konstitution gestattete, konnte S. Arrhenius in demselben Jahr auf dieser Grundlage seine Theorie der freien Ionen, die sogenannte elektrolytische Disso- ziationstheorie aufstellen. Er wies in seiner Arbeit „Ueber die Dissoziation der in Wasser gelösten Stoffe", Z. f. physik. Chem. i, 631, 1887 darauf hin, daß nur diejenigen Lösungen, welche einen zu großen osmotischen Druck zeigten, den galvanischen Strom leiteten und zwar um so besser, je größer die Abweichungen vom normalen, d. h. dem nach dem Formelgewicht zu erwartenden Druck waren. Die anderen Lösungen leiteten so gut wie gar nicht. Zur Erklärung nahm er an, daß die die Leitung bewirkenden gelösten Stoffe zum Teil gespalten seien, und nur die Spaltungs- produkte die Leitung vollführten; er schrieb ihnen elektrische Ladungen zu und nannte sie Ionen. Auch verfehlte er nicht darauf hinzuweisen, wie durchsichtig eine Reihe anderer physikalischer und chemischer Tat- sachen im Lichte der Annahme freier Ionen würde (vgl. die Artikel „Chemische Ana- lyse" und „Dissoziation. Elektrolyti- sche Dissoziation"). 13. Dissoziationsgrad. In einer Lösung von Chlornatrium befinden sich nach der elektrolytischen Dissoziationstheorie neben undissoziierten Molekeln NaCl (eventuell auch 'olymolekeln) die Ionen Na+ und Cl-, wenn wir von Komplexionen absehen. Unter dem Dissoziationsgrad versteht man die An- zahl der gespaltenen Molekeln dividiert durch die gesamte bei fehlender Dissoziation vorhandene Molekelzahl. Diesen Dissoziations- grad y kann man einmal aus Messungen des osmotischen Druckes berechnen, wenn man die Anzahl Ionen kennt, in die eine Molekel sich spaltet, und den „normalen", d. h. den bei fehlender Dissoziation auftretenden Druck, was beides der Fall ist. Sodann kann y aus Leitfähigkeitsmessungen (vgl. den Artikel „Elektrolytische Leitfähig- keit") berechnet werden. Die nach beiden Methoden erhaltenen Werte stimmten ge- nügend überein, was natürlich wesentlich zur Stütze der Theorie beitrug. 14. Chemische Theorie der galvanischen Kette. Inzwischen war die Kontakttheorie Voltas von vielen Forschern verlassen worden und an ihre Stelle die chemische Theorie der galvanischen Kette ge- treten. Die chemischen Reaktionen, die zwischen Metall und Flüssigkeit eintreten und die früher als nebensächlich angesehen wurden, mußten nach dem Gesetz der Er- haltung der Energie als Ursache für die Erzeugung des Stromes betrachtet werden, und als hauptsächlichsten Sitz der Spannung mußte man sich entschließen, die Be- rührungsstellen von Metall und Flüssigkeit anzusehen. Ob allerdings die Spannung an der Berührungsstelle zweier Metalle gleich Null ist, erscheint auch heutzutage noch fraglich, wahrscheinlich dürfte sie einen kleinen Wert besitzen. In betreff der Frage, inwieweit die chemi- sche Energie der im Element sich abspielenden Vorgänge quantitativ in elektrische Energie übergeht, sei auf den Artikel „Galvanische Ketten" verwiesen. 15. Ostwald. Massenwirkungsgesetz. Nernst und seine osmotische Theorie des galvanischen Elementes. Helmholtz. Elektrolytische Lösungstension. Auf Grundlage der Theorien von van't Hoff und Arrhenius konnte W. Ostwald (Z. f. physik. Chem. 2, 270, 1888) zeigen, daß in vielen Fällen das Massenwirkungsgesetz auch Gültigkeit behält, wenn einzelne der reagierenden Bestandteile Ionen sind (vgl. die Artikel „Ionen" und „Chemisches Gleich- gewicht"). Ein Jahr später gab W. Nernst seine osmotische Theorie des galvani- schen Elementes (Z. f. physik. Chem. 4, 129, 1889), die den Zusammenhang zwischen elektromotorischer Kraft (EMK) und osmotischem Druck aufdeckte, nachdem schon H. Helmholtz früher gezeigt hatte, wie man die EMK gewisser galvanischer Ketten aus anderen physikalischen Daten, nämlich den Dampfspannungen der Lösungen und den Hittorfschen Ueberführungszahlen, be- rechnen kann. Er führte auch den anschau- Elektrochemie 401 liehen Begriff sungstension' der „elektrischen Lö- ein. Sie hat den Charakter eines Druckes und bezeichnet die Fähigkeit gewisser Stoffe, namentlich der Metalle, in Gestalt von Ionen in Lösung zu gehen. Ihr entgegen wirkt der osmotische Druck der zugehörigen Ionen, der sie unter Um- ständen gerade kompensieren kann. Es kann also die elektrolytische Lösungstension durch den gleich großen entgegenwirkenden osmotischen Druck ausgedrückt werden. Ist sie größer als der entgegenwirkende osmotische Druck, so gehen neue Ionen in Lösung, und es entsteht ein Potentialsprung, indem das Metall negativ, die Lösung positiv geladen wird. Ist sie kleiner, so gehen um- gekehrt Metallionen aus der Lösung heraus und schlagen sich auf das Metall nieder, indem sie dieses positiv laden, während durch die übrig gebliebenen negativen Ionen die Lösung negativ elektrisch wird. Bei Stoffen, die negative Ionen liefern, z. B. Jod, herrscht vollkommene Analogie. Ist der osmotische Druck der Jodionen größer als die elektro- lytische Lösungstension, so werden Jodionen in den Zustand des gewöhnlichen Jods übergehen, und die „Jodelektrode" wird negativ elektrisch; im anderen Fall ladet sie sich positiv elektrisch. Die quantitative Beziehung zwischen EMK und osmotischem Druck wird durch die RT P Formel E = — ^ In -geliefert, wo E die EMK, neF p& R die Gaskonstante, F = 96540 Coulomb, ne die Wertigkeit der Metallionen, T die absolute Temperatur, P die elektrolytische Lösungstension und p den osmotischen Druck der Metallionen bedeuten (s. den Artikel „Potential, Elektrochemisches Potential"). 16. Konzentrationskette. Flüssigkeits- kette. Klemmspannung. Innerer Wider- stand. Aeußerer Widerstand. Badspan- nung. Elektrische Grenzkräfte. Der Wert des Einzelpotentials wird uns nicht ge- liefert, da P unbekannt ist. Dagegen gestattet uns die Formel, wenn wir sie auf beide Elektroden einer Konzentrations- kette, z. B. Silber/konzentriertere Silbersalz- lösung / verdünntere Silbersalzlösung / Silber anwenden (es gibt noch andere Arten von Konzentrationsketten), die Berechnung der EMK dieser Kette, da dann P herausfällt. BT r> Es gilt E = ^gr In — , wo p den osmotischen Druck der Silberionen in der ersten, der zweiten Lösung bedeuten. ist hierbei nicht die an der der beiden Lösungen auftretende Potential differenz berücksichtigt, die infolge der Ver- losung auftreten keistketten die Formel Fall gilt E' = Auch für derartige Flüssig- hat uns wiederum Nernst geliefert. Im vorliegenden lk-lARTlnp Pi Kations wo L und L lk+U F die Wanderungsgeschwindigkeit des und Anions, p und px die osmotischen Drucke der beiden Lösungen bedeuten. Der Wert für E' erreicht selten die Größe von einigen Hundertstel Volt. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die im Vorhergehenden besprochenen Gesetzmäßigkeiten nur bei verdünnten Lö- sungen anzutreffen sind (vgl. den Artikel „Galvanische Ketten"). Bei allen Messsungen der EMK eines galvanischen Elementes erhalten wir stets die Summe von mindestens zwei Potential- sprüngen. Eingeschaltet sei hier, daß man von der EMK eines Elementes die Klemm- spannung zu unterscheiden hat, unter der man die Spannung verstellt, die das lediglich durch einen äußeren Widerstand geschlossene Element zwischen den beiden Polen zeigt. EMK und Klemmspannung verhalten sich zueinander, wie der gesamte Widerstand des Stromkreises, der sich aus dem Wider- stand des Elementes selbst, dem sogenannten inneren Widerstand, und dem Widerstand des Schließungskreises, dem äu ß er enWid er- stand, zusammensetzt, zu dem äußeren Widerstand. Unter Badspannung schließ- lich versteht man die Spannung zwischen zwie in ein ,Bad' d. h. einen Elektrolyten tauchenden Elektroden. Sie setzt sich bei Stromdurchgang , der durch eine äußere EMK veranlaßt zu denken ist, zusammen aus den beiden an den Elektroden auftreten- den Potentialsprüngen, zu denen sich, falls das Bad aus verschiedenen Schichten besteht, noch die an diesen Grenzflächen vorhandenen Potentialsprünge, die elektrischen Grenz- kräfte, kommen, und dem Potentialabfall, der nach dem 0 hinsehen Gesetz infolge des Widerstandes des Bades sich einstellt. 17. Einzelspannung. Normalelektrode. Elektrolytische Potentiale. Spannungs- reihe. Nach dieser Abschweifung kehren wir zu der Frage zurück, die wir stellen wollten: können wir nicht den Wert einer Einzelspannung erfahren? Wenn wir den Wert der oben besprochenen elektro- lvtischen Lösungstensionen für die einzelnen Metalle kennen würden, so könnten wir es; wir kennen sie aber nicht, wir können sie nur umgekehrt aus jenen berechnen. Ein Weg ergibt sich aus der Möglichkeit ein solches Element herzustellen, bei dem die Spannung an der einen Elektrode gleich Null ist, dann ist offenbar die gesamte am Element ge- schiedenen Wanderungsgeschwindigkeiten des j messene Spannung gleich der an der anderen positiven und negativen Ions der Silbersalz- Elektrode. In der Tat ist nun die Auffindung Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. ^o Pi m Allerdings Berührungsstelle 402 Elektrochemie einer solchen Elektrode (z. B. Quecksilber- Tropfelektrode) geglückt — wenigstens liegt eine große Wahrscheinlichkeit für eine solche Annahme vor — , und wir sind somit auch zur Kenntnis der Einzelspannung, die z. B. ein Metall gegenüber seiner Lösung zeigt, gelangt. Da aber diesen absoluten Werten noch ge- wisse Unsicherheiten anhaften, so nimmt man die Zählung der Einzelpotentiale in der Weise vor, daß man willkürlich den Potential- sprung einer gut definierten, konstanten und leicht reproduzierbaren Elektrode, einer sogenannten Normalelektrode, z. B. der Wasserstoff elektro de bei Atmosphärendruck, bespült von einer an H'-Ionen einfach normalen Säurelösimg, gleich Null setzt. Die EMK einer Kette zusammengesetzt aus dieser Elektrode und der zu untersuchenden gibt dann direkt (bis auf die kleine Potential- differenz an der Berührungsstelle der beiden Flüssigkeiten) das Einzelpotential an. Man hat es für viele Metalle und andere Elemente bestimmt, in dem man als Lösung eine solche nahm, die das zugehörige Ion in einfach normaler Konzentration enthielt; diese Werte bezeichnet man als elektro- lytische Potentiale. Ordnet man sie in eine Keihe, so erhält man die Spannungsreihe, an deren einem Ende die unedlen Metalle stehen, welche eine hohe elektrolytische Lösungstension haben, während das andere Ende die edlen Metalle mit niedriger Tension bilden (vgl. auch den Artikel „Potential, Elektro- chemisches Potential"). Auch für Oxydations- und Reduktions- mittel lassen sich unter Benutzung unangreif- barer Elektroden Einzelspannungen angeben, die ein Maß für die Stärke ihrer oxydierenden oder reduzierenden Kraft sind. 18. EMK und chemisches Gleichgewicht. Vorbedingung für die Entstehung eines elektrischen Stromes. Bemerkt sei, daß sich die EMK eines umkehrbar arbeitenden Elementes aus der chemischen Gleich- gewichtskonstanten der im Element sich abspielenden chemischen Reaktion berechnen läßt (van 'tHoff 1886). Dies gilt nicht für den einzelnen Potentialsprung, da sich eine chemische Reaktion stets aus (mindestens) zwei Vorgängen, einem Oxydations- und Re- duktionsvorgang, zusammensetzt, von denen der eine sich an der einen, der andere an der anderen Elektrode abspielt. In einem jeden Element müssen diese beiden Vorgänge stets räumlich getrennt eintreten, es ist dies eine not- wendige Vorbedingung für die Entsteh- ung eines elektrischen Stromes. Spielen sie sich an gleicher Stelle ab, so bekommt man keinen Strom. Bei der Betätigung des Daniel] dementes wird Zink gelöst und Kupfer niedergeschlagen. Es findet dieselbe che- mische Reaktion statt wie beim Eintauchen eines Zinkstabes in eine Kupfersulfatlösung (oder eine Lösung der beiden gemischten Sulfate). In diesem Falle geht am Zink sowohl der Oxydationsvorgang, nämlich die Auflösung des Zinks, als auch der Reduktionsvorgang, nämlich die Ausfällung des Kupfers vor sich, die Elektrizitäten haben die Möglichkeit sich dort auszugleichen, und damit geht eben die Möglichkeit ver- loren, den Ausgleich an anderen Stellen eintreten zu lassen, d. h. einen elektrischen Strom zu bekommen. Eine chemische Reaktion zweier Körper aufeinander ist, allgemein gesprochen, nur dann elektrisch verwertbar, wenn einmal dabei Elektrizitäts- mengen entstehen oder verschwinden, d. h. Ionen ihre Ladung ändern, und sodann die beiden Stoffe räumlich getrennt die Um- wandlung erleiden können. 19. Oxydations- und Reduktionserschei- nungen. Es erübrigt noch, für elektrische Vorgänge Oxydations- und Reduktions- erscheinungen zu definieren. Man kann sagen, ein Stoff wird oxydiert, wenn er seine positive Ladung vermehrt (oder eine positive aufnimmt) oder seine negative vermindert, und er wird reduziert, wenn er seine negative Ladung vermehrt oder seine positive vermindert. Es handelt sich also nur um einen Wechsel der Ionenladungen; eine Mitwirkung des Sauerstoffs braucht nicht vorzuliegen. 20. Polarisation. Polarisationsstrom. Zersetzungswert. Le Blanc. Wir wenden uns jetzt zu der Erörterung der Erschei- nungen, die bei Stromdurchgang an angreif- baren und unangreifbaren Elektroden ein- treten. Da ist zunächst zu bemerken, daß bei allen Elektrolysen in mehr oder minder hohem Maße eine elektromotorische Gegen- kraft auftritt, indem der an jeder Elektrode vorhandene Potentialsprung eine Erhöhung erfährt. Diese Aenderung bezeichnet man mit dem Namen Polarisation. Besonders deutlich tritt sie an unangreifbaren Elek- troden ein. Nehmen wir zwei in Salzsäure tauchende Platinelektroden, zwischen denen im Ruhezustande die Spannung Null herrscht, und leiten einen Strom hindurch, so erleidet die EMK des elektrolysierenden Stromes eine deutliche Schwächung. Unterbrechen wir den Primärstrom und verbinden die beiden Elektroden unter Einschaltung eines Galvano- meters, so wird von diesem ein dem Primär- strom entgegengerichteter Strom angezeigt, der schnell schwächer und schwächer wird, und Polarisationsstrom heißt«. Stellt man obigen Versuch in der Weise an, daß man an die beiden Elektroden eine nach Willkür zu regelnde EMK legt, so beobachten wir an dem Galvanometer schon bei der geringsten eingeschalteten EMK einen Strom- stoß, der aber bald aufhört; die Nadel des Elektrochemie 403 Galvanometers geht in die Nullstellung. Bei Vergrößerung der EMK wiederholt sich das Spiel, bis von einer bestimmten EMK an die Nadel nicht mehr in die Nullstellung zurückgeht, sondern ein dauernder Strom erhalten bleibt. Man bezeichnet diesen Wert der EMK als den Zersetzungswert (nach Le Blanc 1891). 21. Ueberspannung. Allerdings so ideal, wie hier geschildert, vollzieht sich der Versuch nicht infolge sekundärer Störungen ins- besondere durch Diffusion, wodurch die an den Elektroden ausgeschiedenen Produkte, Chlor und Wasserstoff, von den Elektroden fort- geführt werden. Diese letzteren sind nämlich neben den Konzentrationsänderungen der in der Flüssigkeit befindlichen Ionen, von denen wir hier absehen wollen, die Ursache für die Entstehung der Polarisation infolge ihres Bestrebens in den Ionenzustand zurück- zukehren. Mit steigender zugeschalteter EMK wächst ihre Konzentration, doch nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie nur so lange, bis die maximale Arbeit, welche bei ihrer Vereinigung zu Salzsäure von der benutzten Konzentration erhalten werden kann, gleich der aufgewendeten elektrischen Energie ist. Dann ist die EMK der Polarisation gleich der eingeschalteten EMK, und der Galvanometerzeiger steht auf Null. Die Konzentration der ausgeschiedenen Stoffe kann aber nicht bis ins unendliche wachsen, sondern nur bis zu einem durch die äußeren Umstände bedingten Maximum. Ist dies erreicht, so kann die darüber hinaus zugeschaltete EMK nicht mehr kompensiert werden und ein dauernder Strom tritt ein. Die gleichen Ueberlegungen gelten, wenn an der Kathode an Stelle von Wasserstoff ein Metall ausgeschieden wird. Um dies zu verstehen, muß man berücksichtigen, daß die Konzentration des ausgeschiedenen Metalls ebenfalls allmählich steigt und erst bei gewisser angelegter EMK, derZersetzungs- spannung, die Konzentration des massiven Metalls erreicht. Ist dieser Punkt erreicht, so ist der Potentialsprung an der Kathode genau so groß wie der, den das massive Metall, in die gleiche Lösung getaucht, frei- willig zeigt. Ist der ausgeschiedene Stoff gasförmig, so liegen die Verhältnisse komplizierter. Wasserstoff von Atmosphärendruck z. B. hat zwar mit platinierten Platin- oder Palla- dium-Elektroden gegen eine Lösung, die an H+-Ionen einfach normal ist, einen bestimm- ten Potentialsprung. Eine solche Elektrode ist einer Metallelektrode völlig vergleichbar. Zersetzen wir aber eine an H+-Ionen ein- fach normale Säure in der oben geschilderten Weise mit nicht platinierten Platinkathoden oder Kathoden aus anderem Metall und messen bei dem Zersetzungspunkt den Po- i tentialsprung, so ist er größer als der der obigen i umkehrbaren Wasserstoffelektrode. DieDiffe- renz bezeichnet man als Ueberspannung, I sie hängt mit Uebersättigungserscheinungen zusammen und ist abhängig von der Natur des sich ausscheidenden Gases und des als unangreifbare Elektrode dienenden Metalls. 22. Elektrolyse gemischter Lösungen. Elektroanalyse. Bei der Elektrolyse ge- mischter Lösungen geschieht die Leitung- natürlich durch sämtliche in der Lösung vor- handene Ionen; an den Elektroden geht aber immer der Vorgang vor sich, der am leich- testen geschehen kann. Da nun die Zer- setzungswerte verschieden groß sind, so wird sich zunächst das Metall mit dem geringsten Zersetzungswert ausscheiden. Diese Tatsache ist wichtig für die Elektro- analyse (vgl. den Artikel „Chemische Ana- lyse"), die man hiernach mit abgestufter EMK ausführen kann, wofern nur die Zer- setzungswerte bei gleicher Ionenkonzentra- tion weit genug auseinanderliegen. Denn es ist zu berücksichtigen, daß mit fortschreiten- der Ausfällung, also mit fallender Ionen- konzentration, der Zersetzungswert steigt. Durch passende Anordnung werden nach Ausfällung des einen Metalls nur unwägbare Spuren des anderen mit ausgefällt sein und das letztere Metall kann dann erst bei gesteigerter Spannung ausgefällt werden. 23. Stromdichte. Primäre und sekun- däre Elektrolyse. Elektrosynthese. Früher nahm man an, daß alle Ionen, die durch Leitung an die Elektrode geführt werden, auch ausgeschieden werden, z. B. in einer gemischten Kalium-, Cadmium-, Kupfer-, Silbersalzlösung, welcher Säure zugesetzt ist, gleichzeitig an der Kathode K+, Cd++, H+, Cu + +, Ag+, falls die Spannung genügend hoch ist. Das ausgeschiedene Kalium sollte dann den Wasserstoff aus dem Wasser, das Cadmium aus dem Cadmium- salz, das Kupfer aus dem Kupfersalz, das Silber aus dem Silbersalz fällen, der Wasser- stoff wiederum Cadmium, Kupfer, Silber, das ausgeschiedene Cadmium Kupfer und Silber und das Kupfer Silber. Das End- produkt ist tatsächlich bei nicht zu hoher Strom dichte, d. h. Stromstärke pro Einheit der Elektrodenoberfläche lediglich Silber. Dieses sollte nach der alten An- schauung, wie ersichtlich, der Hauptsache nach durch Ausfällung, also sekundär ent- standen sein, während es nach der neueren als primär direkt durch den Strom aus- geschieden angenommen wird. Man spricht demgemäß von primärer und sekundärer Elektrolyse. Solange die Konzentration der in Frage kommenden Ionen an der Elektrode groß genug ist, liegt kein Grund zur Annahme einer sekun- dären Reaktion bei der einfachen Aus- 26* 404 Elektrochemie Scheidung vor. In manchen Fällen treten sekundäre Keaktionen ein durch Einwirkung der ausgeschiedenen Molekeln aufeinander oder auf andere an der Elektrode befindliche Produkte. So reagieren die bei der Elektro- lyse von essigsaurer Natriumlösung an der Anode ausgeschiedenen Radikale aufeinander: 2CH3COO^C2H6+2C02. Man kann auf solche Weise Elektrosynthesen ausführen, bei denen übrigens auch die abgestuften Potentiale eine Rolle spielen. Daneben sind katalytische Einflüsse wirksam (s. den Artikel „Synthese"). 24. Zwitterelemente. Elektrische Zer- stäubung. Auf Seite 401 haben wir von Stoffen gesprochen, die, wie die Metalle, positive Ionen liefern und von solchen, die, wie Jod, negative Ionen bilden. Man kann die Frage auf werfen, ob es Elemente gibt, die sowohl positive wie negative Ionen bilden können. In der Tat gibt es solche Zwitterelemente. Das prägnanteste Bei- spiel ist das Tellur. Stellen wir uns eine völlig symmetrische Anordnung in der Weise her, daß wir zwei Tellurelektroden in Kali- lauge von beliebiger Konzentration tauchen, und leiten wir einen Strom hindurch, so bemerken wir an keiner der Elektroden eine Gasentwickelung. Beide Elektroden gehen in Lösung, die Anode unter Bildung einer farblosen Lösung von tellurigsaurem Kalium, die Kathode unter Bildung einer roten Lösung von Tellurkalium, die bei Gegenwart von Luft graues metallisches Tellur ausscheidet. Andere Elemente wie Antimon, Arsen, Selen, Jod zeigen unter bestimmten Um- ständen ebenfalls die Fähigkeit, anodisch und kathodisch in Lösung zu gehen. Bei der anodischen Auflösung der Metalle haben wir die Vorstellung entwickelt, daß sie primär als Ionen in Lösung gehen. Es erscheint aber auch die Annahme als grund- sätzlich zulässig, daß das negative Ion der Lösung entladen wird und die entladene Molekel chemisch außerordentlich schnell auf das Metall reagiert. Die quantitativen Beziehungen würden die gleichen bleiben. Bei Anwendung hoher Spannungen tritt namentlich in schlechten Elektrolyten bei Metallelektroden übrigens noch eine andere Erscheinung auf: die der elektrischen Zerstäubung. Man kann auf diese Weise kolloide Metalllösungen herstellen (vgl. auch den Artikel ,,Kat hodenstrahlen"). 25. Passivität. Wir kommen nun zu der Besprechung der auffälligen Erschei- nungen, die man neuerdings beim Studium der einfachen Kombinationen Met all/Met all- salzlösung/Metall bei Stromdurchgang gefun- den hat. Man mußte erwarten, daß hier bei genügender Ionenkonzentration keine Polari- sation auftreten würde. Tatsächlich trat aber eine solche in vielen Fällen sowohl anodisch wie kathodisch ein. Wie läßt sich diese nun erklären? Man könnte daran danken, daß dem Ladungswechsel selbst, den wir als unendlich schnell annehmen, sich wechselnde Hindernisse in den Weg stellten; dann würde man aber ein neues hypothetisches Element einführen und die ganze chemische Theorie der Polarisation fallen lassen. Wir wollen uns also zunächst nach anderen Erklärungsmöglichkeiten um- sehen. Einen Fingerzeig dabei bietet die Beobachtung, daß Spuren von schwefel- saurem Strychnin, Brucin oder Gelatine, die den Verlauf gewisser chemischer Reak- tionen verzögern, auch hier vielfach und zwar an beiden Elektroden gleichzeitig po- larisationserhöhend wirken. Es wird dadurch wahrscheinlich gemacht, daß es sich hier ebenfalls um einen chemischen Vorgang handelt, der durch seine Verlangsamung die Polarisation erhöht, und es drängt sich, wenn wir zunächst die Anode ins Auge fassen, die vorhin angedeutete Auffassung der sekun- dären anodischen Auflösung eines Metalls uns auf. Das ausgeschiedene Radikal oder Element vermag nicht schnell genug mit dem Metall zu reagieren; seine Konzen- tration an der Elektrode und damit der Potentialsprung steigt an. Aber auch bei Annahme der primären Ladungsaufnahme findet eine chemische Reaktion an der Anode statt. Wir brauchen nur daran zu denken, daß die Ionen zum weitaus größten Teil nach manchen Anzeichen nicht frei, sondern mit verschiedenen Wassermolekeln zu Kom- plexionen verbunden sind. Infolgedessen ist die Konzentration der freien Ionen, auf die es allein ankommt, trotz genügender Salzkonzentration stets gering, und es wird, wenn die neu gebildeten Ionen nicht äußerst schnell in die Hydratverbindung eintreten, eine Konzentrationserhöhung derselben und damit eine Polarisation einsetzen. An der Kathode wird es umgekehrt infolge der zu geringen Aufspaltungsgeschwin- diekeit zu einer Konzentrationsverminderung und daher gleichfalls zu einer Polarisation kommen. Insbesondere das gleichzeitige Auftreten der Polarisation an Kathode und Anode findet durch diese Annahme be- friedigende Erklärung, denn es handelt sich um dieselbe Reaktion: Ionenhydrat ^ Ion-f- Wasser, die sich in der einen oder anderen Richtung abspielt und jede katalytische Beeinflussung muß die Geschwindigkeit der Reaktion in gleichem Verhältnis ändern. Neben dieser Ursache kann für die katho- dische Polarisation auch noch Uebersättigung in Betracht kommen, die dadurch hervor- gerufen wird, daß das entladene Metallion zunächst im gelösten Zustande bleibt und nicht schnell genug als festes Metall sich ausscheidet. Diese soeben besprochenen Versuche leiten Elektrochemie 405 uns nun über zu einer Gruppe von Er- scheinungen, die scheinbar nichts mit ihnen zu tun haben, tatsächlich aber eng damit verknüpft sind, nämlich zu denen der Passivität. 26. Keir. Die ersten hierher gehörigen Beobachtungen sind bereits Ende des 18. Jahr- hunderts von J. Keir gemacht worden, sie sind also ebenso alt wie der Galvanismus selbst. Er beschreibt sie folgendermaßen (die Zitate sind aus Ostwald, Elektrochemie, entnommen): „Ich digerierte ein Stück fein Silber in reiner farbloser Salpetersäure, und während der Auflösung, noch ehe die Sättigung vollendet war, goß ich einen Teil der Flüssigkeit in ein Weinglas auf reine und frisch geschabte Stücke von Eisendraht, und bemerkte einen plötzlichen und reich- lichen Niederschlag von Silber. Der Nieder- schlag war anfangs schwarz, nahm aber dann die Gestalt des Silbers an, und war fünf- bis sechsmal größer im Durchmesser, als das Stückchen Eisendraht, den er umgab. Die Wirkung der Säure auf das Eisen hielt eine Weile an, worauf sie aufhörte: das Silber löste sich wieder auf, die Flüssigkeit wurde klar, und das Eisen lag ruhig und glänzend in der Flüssigkeit am Boden des Gefäßes, wo es mehrere Wochen lang blieb, ohne daß es die mindeste Veränderung erlitt oder einen Niederschlag des Silbers bewirkte." Keir wies weiterhin nach, daß nicht eine Veränderung der Lösung, sondern des Eisens vor sich gegangen war. Dieselbe Lösung erwies sich nämlich gegen frisches Eisen wieder aktiv; auch gegenüber dem alten Stück Eisen wurde sie wirksam, wenn dieses unter der Lösung gekratzt wurde. Ja, hierzu genügte das Hereinbringen eines frischen Eisenstückes (und, wie man hinzufügen muß, seine Berührung mit dem alten). 27. Wetzlar. Fechner. Nahezu 40 Jahre dauerte es, bis diesen Erscheinungen von Wetzlar und Fechner weiter nachgegangen wurde. Diese Forscher wurden bereits auf die elektrochemischen Unterschiede zwischen dem aktiven und nicht aktiven Eisen auf- merksam. Speziell Fechner stellte elek- trische Messungen an und zeigte, daß bei der Kombination von Eisen mit Silber zu einem Element, sich das Eisen solange elektrisch positiv zeigte, als es die Fähigkeit besaß, sich freiwillig aufzulösen und chemisch zu reagieren. Hörte die chemische Reaktion auf, so wurde es negativ elektrisch. 28. Schönbein. Faraday. Oxydtheorie. Müller und Königsberger. Wertigkeits- theorie. Reaktionsgeschwindigkeits- theorie. Katalytische Einflüsse. Förster. Im Jahre 1836 nahm dann Schönbein die Untersuchungen auf, variierte sie mannig- fach und zeigte vor allem, daß der nicht aktive Zustand beim Eisen auch dadurch hervorgerufen werden kann, daß man dieses zur Anode in wässerigen Lösungen von Sauerstoffsäuren macht. Schon verdünnte Lösungen genügen. Er prägte den Ausdruck „passiv" für diesen Zustand, der fortan bei- behalten wurde. Faraday äußerte sich zu diesen Er- scheinungen und stellte folgende Ansicht auf: „Ich habe durchaus den Eindruck, daß die Oberfläche des Eisens oxydiert ist, oder daß die Oberflächenschicht des Metalls sich in einem Verhältnis zum Sauerstoff des Elektrolyts befindet, welches einer Oxy- dation äquivalent ist. Da diese Schicht ihre Verwandtschaft zum Sauerstoff be- friedigt hat, und unter den vorhandenen Umständen nicht von der Säure aufgelöst wird, so tritt weder eine Erneuerung der Oberfläche, noch ein Wiederbeginn der Anziehung der sukzessiven Teile des Eisens auf die Elemente der sukzessiven Anteile des Elektrolyts ein, und deshalb findet auch nicht die sukzessive chemische Wirkung statt, durch welche der elektrische Strom (welcher bestimmt ist, sowohl was seine 1 Entstehung, als seine Wirkung anlangt) fortgesetzt werden kann." Diese Oxydtheorie ist, wenn auch in mancherlei Variation, bis in die Neuzeit hinein von einer großen Anzahl von Forschern festgehalten worden, ohne daß aber ein ent- scheidender Beweis für ihre Richtigkeit beigebracht werden konnte. Im Gegenteil, der Versuch z. B., optisch eine Aenderung des Reflexionsvermögens bei passivem Eisen gegenüber aktivem nachzuweisen, schlug fehl, wiewohl die Methode so empfindlich war, daß das Auftreten von Schichten von molekularer Dicke (0,8 (jl/i) noch hätte nachgewiesen werden können (W. J. Müller und Königsberger 1907). Eine andere Theorie, die sogenannte Wertigkeitstheorie, hat nur wenige An- hänger gefunden. Wir brauchen, da sie heute wohl allgemein verlassen ist, nicht weiter auf sie einzugehen, sondern wenden uns zu der Reaktionsgeschwindigkeits- theorie (Le Blanc 1900), die zurzeit die meisten Anhäneer hat. Auf ihrer Grund- lage wollen wir die Erscheinungen der Passivität, die, wie man im letzten Jahrzehnt gefunden hat, außerordentlich verbreitet ist, in kurzen Zügen darstellen. Daß in einer ganzen Anzahl von Fällen ein Metall bei anodischem Angriff durch die Bildung einer Oxydhaut oder allgemeiner gesprochen einer schützenden Decke vor weiterem Angriff bewahrt bleibt, lehrt der Augenschein. Blei ist z. B. als Anode bei nicht zu geringer Stromdichte in Natrium- chromatlösung unlöslich und bedeckt sich mit einer sichtbaren Schicht von Chromat bezw. Superoxyd, an der sich bei weiterer 406 Elektrochemie Elektrolyse Sauerstoff entwickelt. Analoge Erscheinungen treten stets auf, wenn der Elektrolyt lediglich aus einem Salz besteht, dessen Anion mit dem Anodenmetall eine schwerlösliche Verbindung bildet. Sehr bemerkenswert ist, daß glatte Auf- lösung des Anodenmetall es erfolgt, wenn man zu dem vorher gekennzeichneten Elektro- lyten einen zweiten im Ueberschuß setzt, dessen Anion mit dem Anodenmetall eine leicht lösliche Verbindung gibt. Setzt man etwa zu obiger Lösung von Natriumchromat Natriumchlorat im Ueberschuß, so geht das Blei anodisch glatt in Lösung, und es ent- steht quantitativ ein schöner Niederschlag, der von der blank bleibenden Elektrode abrollt. Dieses Verhalten hat gelegentlich in der Technik zur Darstellung schwer löslicher Verbindungen Anwendung gefunden, und es wird dadurch hervorgerufen, daß sich in der gemischten Lösung infolge des Mit- wirkens *les überschüssigen Chlorationen eine von Chromationen freie Flüssigkeits- schicht unmittelbar an der Elektrode bald nach Beginn der Elektrolyse ausbildet, die das Entstehen des Niederschlages un- mittelbar an der Elektrode und damit ein Haften desselben verhindert. Nur bei Beginn der Elektrolyse kann sich in dem kleinen Zeitmoment, der zur Ausbildung jener von Chromationen freien Schicht benötigt wird, direkt an der Anode Bleichromat bilden, doch ist dieser Niederschlag kein Schutz, denn eine dichte, für Ionen undurchlässige Schicht entsteht nur dann, wenn sie dauernd geflickt werden kann. Die Erwartung liegt nun nahe, daß in allen Fällen, in denen die Passivität durch die Bildung eines Niederschlages hervor- gerufen wird, sich analoge Erscheinungen hervorrufen lassen. Nickel ist bei der anodi- schen Behandlung in Kaliumsulfatlösung passiv; setzt man Chlornatrium hinzu, so findet wohl eine Auflösung von Nickel statt, es wird aber kein von der Elektrode ab- rollender Niederschlag sichtbar. Diese Beobachtungen legten schon den Gedanken nahe, daß nicht alle Fälle der Passivität dadurch zu erklären sind, daß das ursprünglich aktive Metall durch einen schützenden Ueberzug passiv wird, sondern daß hier noch andere Ursachen mitspielen. Und da bringen uns nun die vorher mit- geteilten Polarisationsmessungen an Metallen, die in die zugehörigen Metallsalzlösungen tauchen, weitere Klärung. Wir haben gesehen, daß sie am einfachsten durch mangelnde chemische Reaktionsgeschwindigkeit, insbe- sondere durch mangelnde Bildungs- und Aufspaltungsgeschwindigkeit von Ionen- hydraten zu erklären sind; gibt man dies zu, so lassen sich auch die Passivitätsphänomene, die nicht durch einen Niederschlag hervor- gerufen werden, in analoger Weise deuten. Bei den passiven Metallen erfolgt die Ionen- hydration so langsam (eine gewisse Auf- lösung findet stets statt), daß die Kon- zentration der freien Ionen und damit der Potentialsprung an der Elektrode in kurzer Zeit so hoch ansteigt, daß Ausscheidung des negativen Radikals bezw. von Sauerstoff erfolgen kann. Qualitativ bieten diese Erscheinungen gegenüber den früher ge- schilderten Versuchen nichts Neues und sind, nur quantitativ insofern bemerkenswert, als die chemische Polarisation so stark geworden ist, daß die ausgeschiedenen Radi- kale bezw. ihre Zersetzungsprodukte sichtbar werden. Wir werden von diesem Standpunkte aus unter Passivitätserscheinungen alle zu verstehen haben, bei denen chemische Polari- sation auftritt, und wir sehen, daß die Passivität nicht Ausnahme, sondern Regel I ist, und daß sie nicht an sauerstoffhaltige Anionen gebunden ist, wie man annahm, sondern auch bei Chloriden auftritt, ebenso 1 in anderen Lösungsmitteln, und vor allem j auch an der Kathode. Ueber ihre Abhängig- keit von verschiedenen Faktoren sind wir freilich noch wenig unterrichtet. Die große Mannigfaltigkeit und geringe Reproduzier- i barkeit der Erscheinungen rührt von den (wechselnden und schwer faßbaren kata- !ly tischen Einflüssen her. Nach den Unter- suchungen von F. Förster und seiner Mitarbeiter aktiviert Wasserstoffbeladung ! und passiviert Sauerstoffbeladimg. 29. Verschiebung der Wertigkeit. Für | die eigenartige Verschiebung der Wertig- keit, die bei der Auflösung mancher Metalle zutage tritt, wird man vielfach — es gibt auch Fälle, die anders zu erklären sind — dieselben Gründe anführen können. Ein besonders auffälliges Beispiel bietet das Chrom (Hittorf 1898), Bleibt es einige Zeit an der Luft liegen oder wird es Anode z. B. in Schwefelsäurelösung, so hat es nahezu ganz die Fähigkeit verloren, zweiwertig in Lösung zu gehen; durch Erwärmen in ver- dünnter Salzsäure erhält es sie wieder. In diesem letzteren Zustand verhält es sich wie ein unedles Metall, etwa wie Zink, löst sich freiwillig auf und liefert Arbeit, während es im passiven Zustand haupt- sächlich sechswertige Ionen liefert und sich elektromotorisch wie ein edles Metall ver- hält. Wir können auf diese Weise unedle in edle Metalle verwandeln, indem sich, wenn wir bei der primären Ionenbildung der Metalle bleiben, die Hydratations- geschwindigkeiten der beiden verschieden- wertigen Ionen verschieben. Würden beide zu gering, so müßte sich Sauerstoff ent- wickeln. Mit steigender Temperatur beobachtet man ausnahmslos eine abnehmende Passivie- Elektrochemie 407 rung, also, wie sonst stets, eine Steigerung der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit. 30. Ventilzellen. Ein Spezialfall liegt vor, wenn an den Elektroden feste oder gasförmige Schichten entstehen, die für die Ionen unpassierbar sind, wie bei den Ventil- zellen, welche die Umwandlung von Wechsel- strom in Gleichstrom gestatten. Verwendet man z. B. Aluminium als Anode in einer Lösung von Alkaliphosphat oder von Alkali- salzen der Fettsäuren und irgendein anderes passendes Metall als Kathode, so wird der Durchgang eines gleichgerichteten Stromes selbst von mehreren Hundert Volt Spannung so gut wie ganz verhindert. Nimmt man Wechselstrom, so können die Stromstöße in der einen Richtung den Elektrolyten nicht passieren, in der anderen gehen sie aber durch ihn hindurch, weil dann, da die Mög- lichkeit des Ausflickens feldt, eine Zerstörung der Schicht außerordentlich schnell herbei- geführt wird. Die Isolation ist nicht so be- 1 ständig, daß sie eine dauernde Ausbesserung entbehren könnte; wäre sie es, so würde sie sich eben zur Umwandlung von Wechsel- strom in Gleichstrom nicht eignen. 31. Elektrolyse ohne Elektroden. In den Ventilzellen findet eine Entladung der Ionen nicht mehr unmittelbar an der Elektrode, sondern an der isolierenden Schicht statt, und das negative Elektron wandert allein durch die Schicht. Die gleiche Erscheinung tritt ein, wenn wir die eine Elektrode innerhalb, die andere oberhalb des Elektrolyten anordnen: wir bemerken dann bei genügendem Potentialgefälle an der Flüssigkeitsoberfläche eine Ausscheidung des > positiven bezw. negativen Bestandteils und man spricht von einer Elektrolyse ohne Elektrode. Die chemische - Polarisation spielt bei diesen Elektrolysen nur eine unter- geordnete Rolle. Natürlich können auch Uebergänge auftreten. 32. Elektrothermische Prozesse. Elek- trische Oefen. Aus vorstehender gedrängter Darstellung unseres elektrochemischen Wis- sens kann man entnehmen, wie vielseitig die Probleme sind, welche dieses Wissen- schaftsgebiet umfaßt. Neben den Vorgängen in wässeriger Lösung, die ja die größte Wichtigkeit haben, beginnt man jetzt auch den Vorgängen in anderen Lösungsmitteln, in Schmelzen und im Gasraum lebhaftes Interesse zuzuwenden. Schließlich können wir die ganze Chemie als Elektrochemie bezeichnen, wenn wir an die radioaktiven (vgl. den Artikel „Radioaktivität") Er- scheinungen denken und an die Hypothesen über den Aufbau der Atome aus positiv und negativ geladenen Teilchen. Die Entwickelung der wissenschaftlichen Elektrochemie ist auch der Technik zugute gekommen. So werden, um nur einige Beispiele zu nennen, in großem Maßstabe elektrochemisch dargestellt: Chlor, Chlorate, Perchlorate, Persulfate, Bleichlaugen, Na- trium, Aluminium. Ferner werden viele Metalle elektrolytisch raffiniert und Chrom- oxydsalzlösungen zu Chromsäure regeneriert. Neben diesen elektrochemischen spielen die elektrothermischen Prozesse eine große Rolle, bei denen die elektrische Energie ausschließlich oder in der Hauptsache zur Erzeugung hoher Temperatur dient, wie bei der Calciumkarbiddarstellung, die in elektrischenOefen vorgenommen wird, mit welchem Namen man Anordnungen be- zeichnet, in denen elektrische Energie in Wärme umgewandelt wird. Einen Wider- standsofen erhält man, indem man die beiden Enden eines Stromkreises, in dem eine genügend starke Elektrizitäts quelle vor- handen ist, isoliert durch zwei gegenüber- liegende Wandungen des Ofens führt und sie im Innern durch einen Stab aus wider- standsfähigem Material, etwa Kohle, ver- bindet, der einen im Verhältnis zum anderen Teil des Stromkreises hohen elektrischen Widerstand besitzt. Ersetzt man den inneren Widerstand durch einen Lichtbogen, so erhält man einen Lichtbogenofen. Bei einem Induktionsofen stellt der Ofen den Sekundärkreis vor. Ein solcher Ofen hat den Vorzug, keinerlei Elektroden zur Stromzuführung zu bedürfen. Durch Erzeugung von Hochspannungs- flammen, die sich durch hohe Temperatur auszeichnen, kann die Luft zum Teil ver- brannt, d. h. in Stickoxyd bezw. Stickstoff- dioxyd übergeführt werden. 33. Namen der bedeutendsten Forscher. Es erübrigt noch, die Namen der be- deutendsten Forscher auf unserem Gebiet in dem letzten Viertel] ahrhundert zu nennen, soweit sie nicht schon besonders erwähnt worden sind: Abegg, Bredig, Coehn, Haber, Lorenz, Luther, Noyes, Waiden. Literatur. B. Altrens, Handbuch der Elektro- chemie 2. Aufl. Stuttgart 1903. — S. Arrhenius, Lehrbuch der Elektrochemie. Uebersetzt von Euler. Leipzig 1901. — H. Danneel, Elektro- chemie, Sammlung Göschen, 2. Aufl. 1911. — P. Ferchland , Grundriß der reinen und ange- wandten Elektrochemie. Halle a. S. 1903. — F. Förster, Elektrochemie wässeriger Lösungen. Leipzig 1905. — F. Haber, Grundriß der technischen Elektrochemie auf theoretischer Grund- lage. München 1898. ■— H. Jahn, Grundriß der Elektrochemie. 2. Aufl. Wien 1905. — M. Le Blanc, Lehrbuch der Elektrochemie 5. Aufl. Leipzig 1911. — W. Lob, Die Elektrochemie der organischenVerbindungen. 3. Aufl. Halle a. S. 1905. — R. Lüjtke, Grundzüge der wissen- schaftlichen Elektrochemie auf experimenteller Basis. 5. Aufl. Bearbeitet von Böse. Berlin 1907. — W. Ostwald, Elektrochemie, ihre 408 Elektrochemie — Elektrodynamik Geschichte und Lehre. Leipzig 1896. — Ferner : Monographien über angewandte Elektrochemie. Herausgegeben von V. Engelhardt. Halle a. S. 1902. — In bezug auf den Abschnitt „Passivi- tät" sei speziell verwiesen auf Abhandlung 2 und S der Deutschen Bunsen Gesellschaft von F. Förster (1909) und M. Le Blanc (1910), sowie auf den Artikel „Passivität der Metalle" von E. Grave im Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 1911. M. Le Blanc. Elektrodynamik. 1, Fernkräfte und Nahewirkung. 2. Gesetz von Coulomb, elektrostatisches und magne- tisches Feld, Potential. 3. Oersted, Biot und Savart, elektromagnetisches Strommaß, magne- tisches Feld elektrischer Ströme, Vektorpotential. 4. Amperes Grundgesetz, elektrodynamische Apparate, elektrodynamische Stromeinheit, elektrodynamisches Potential. 5. Grundgesetz von W. Weber, Verhältnis der elektromagne- tischen zur elektrostatischen Stromeinheit. 6. Maxwells Theorie: a) Bedeutung und Grund- lagen, b) Mathematische Formulierung, die Hauptgleichungen für ruhende isotrope homogene Medien, c) Folgerungen aus den Maxwellschen Gleichungen (Fortpflanzungsgeschwindigkeit elek- tromagnetischer Störungen , Poyntingscher Energiefluß, ponderomotorische Kräfte und Maxwellsche Spannungen). 7. Die Hertzschen Gleichungen für bewegte Körper. 8. Die Lorentz- sche Theorie. 9. Das Relativitätsprinzip in der Elektrodynamik. i. Fernkräfte und Nahewirkung. Die ältere Elektrodynamik steht vollständig auf dem Boden des Kraftbegriffs, wie ihn die Newtonsche Schule für die Gravitation ent- wickelt hatte, also der unvermittelten Fern- ; kraft, die der mathematischen Behandlung j um so leichter zugänglich war, als sie j nicht durch irgendeinen Zwischenmechanis- mus die Aufmerksamkeit von den beobacht- baren Kraftwirkungen ablenkte. Die Ueber- tragung jenes Kraftbegriffs auf elektrische Phänomene geschah durch Coulomb; und mehr als ein halbes Jahrhundert bleibt dann diese Auffassung die alleinherrschende. Charakterisiert ist diese Periode besonders durch die Entwickelung der Potentialtheo- rie; damit steht im Zusammenhang die Auffassung der in einem System von ge- ladenen oder stromdurchflossenen Körpern, Magneten usw. angehäuften Energie als einer potentiellen, die in jenen Körpern selbst ihren Sitz hat. Die elektrodynamischen Gesetze dieser Periode sind Elementar- gesetze, d. h. sie stellen die Wirkung von Stromelementen und auf Stromelemente dar; die Wirkungen selbst sind unvermittelte und jedes Element verhält sich so, als seien die übrigen nicht vorhanden. Der erste, der sich von dieser Vorstellung bewußt lossagte, war Faraday. Ihm, der so durchaus Physiker und gar nicht Mathe- matiker war, genügte die abstrakte Newton- sche Kraft nicht; ihm waren die Kraft- linien nicht nur geometrische Kurven, son- dern physikalische Gebilde, die den Raum zwischen den elektrischen usw. Körpern er- füllen und den in ihm enthaltenen Stoff, Materie und Aether, in einen besonderen Spannungszustand bringen, der die Kraft- wirkungen vermittelt. Damit war die zeitlos sich ausbreitende Kraft der älteren Elektro- dynamik verworfen und ersetzt durch eine Wirkung, die von Punkt zu Punkt fort- schreitet. Faraday selbst war nicht im- stande, seine Vorstellungen mathematisch zu formulieren; das geschah durch Maxwell, dessen Gleichungssystem die neuere Elektro- dynamik einleitet. Hier sind nun die pon- deromotorischen Kräfte bestimmt durch die lokalen Zustandsgrößen, nämlich die Feld- stärken im raumerfüllenden Medium; die Fernwirkungen sind ersetzt durch die Feld- wirkungen. Gleichzeitig haben die auf- einander ponderomotorisch wirkenden Kör- per aufgehört, Sitz der Energie zu sein; dieser ist vielmehr nunmehr zu suchen in dem Raum zwischen den Körpern, der das elektrische und magnetische Feld und den ihm entsprechenden Spannungszustand ent- hält. In neuester Zeit scheint die Entwickelung eine Auffassung zu bevorzugen, die den Raum zwischen den ponderablen Körpern, soweit er nicht vom elektromagnetischen Feld erfüllt ist, als wirklich leer betrachtet, die also einen stoffartigen raumerfüllenden Aether leugnet. Immerhin bleiben auch dann die elektrodynamischen Wirkungen noch Nahewirkungen, die von Punkt zu Punkt fortschreiten und deren Energie ihren Sitz im ganzen elektromagnetischen Feld hat. 2. Gesetz von Coulomb, elektrostati- sches und magnetisches Feld, Potential. Das Gesetz, nach dem ruhende Elektrizi- täten, anziehend und abstoßend, aufein- ander wirken, fand Coulomb 1785; seine mit der Drehwage angestellten Versuche, bei denen sowohl der Abstand r der auf- einander wirkenden geladenen Metallkugeln, als auch (durch Berührung mit ungeladenen Kugeln) deren Ladungen ex und e2 variiert wurden, lieferten lineare Abhängigkeit der abstoßenden Kraft F von den Ladungs- mengen und das Gesetz vom umgekehrten Entfernungsquadrat. Wählt man für die Einheit der Elektrizitätsmenge diejenige, die im leeren Raum auf eine gleich große, im Abstand 1 cm befindliche die Kraft von einer Dyne ausübt (elektrostatisches Maß- system), so wird hiernach im leeren Raum Elektrodynamik 409 ete lc2 F = Die Versuche von Faraday ließen er- kennen, daß bei unveränderten Ladungs- mengen die Kraft F von der Natur des den Raum zwischen den geladenen Körpern er- füllenden Mediums (Dielektrikum) abhängt; F ergibt sich im allgemeinen kleiner als im leeren Raum, nämlich nur als das 1/e- fache, wo e die Dielektrizitätskonstante des Mediums ist. Folglich wird allgemein so ist die gegenseitige Kraft, falls zwischen ihnen sich der leere Raum befindet K = mjin2 1 exe. F = In dem Raum nun in der Umgebung elek- trisch geladener Körper erfährt demnach ein elektrisch geladenes Kügelchen Kraft- antriebe; er stellt ein elektrostatisches Feld dar, dessen „Feldstärke" oder „elektrische Kraft" (S an jeder Stelle durch den Kraft- antrieb auszudrücken ist, der auf eine dort befindliche Einheitsladung ausgeübt werden würde. Eine tatsächlich an jener Stelle be- findliche Ladung e erfährt dann die Kraft F = eß; man erkennt also, daß die La- dung ex im Abstand r die Feldstärke hervor- 1 P ruft ©=.-—, falls der ganze Raum die Di- e r2 elektrizitätskonstante s besitzt. Die Feldstärke © eines elektrostatischen Feldes läßt sich nun stets durch ein (skalares) elektrostatisches Potential (p ausdrücken, derart, daß z. B. die Komponente der elek- trischen Kraft in der X-Richtung wird g„ = ?-. Für dieses Potential ergibt sich Als Einheit der magnetischen Menge (Einheitspol) wird somit diejenige zu defi- nieren sein, die im leeren Raum auf die gleich große im Abstände 1 cm die Kraft 1 Dyne ausübt (magnetisches Maßsystem, Gauß 1841). Auch hier ist, falls der Raum zwischen den aufeinander wirkenden Polen mit Materie erfüllt ist, die Kraft im allgemeinen kleiner als im leeren Raum, nämlich das --fache, wo ju die Permeabilität des Zwischen- mediums. Folglich ist allgemein K = 1 nijii^ ~fl r2 zu der Wert cp = / — -, wo das Integral erstrecken ist über alle Raumelemente dS, in welchen die elektrische Dichte g besteht und die vom betrachteten Aufpunkt die Entfernung r besitzen; hierbei ist voraus- gesetzt, daß der ganze Raum erfüllt ist mit einer Substanz der Dielektrizitätskon- stante £. Man überzeugt sich leicht, daß die an- geschriebenen Gleichungen das Coulomb sehe Gesetz enthalten. Denn nach ihnen ist die Kraft, die von der Ladung e2 auf die La- dung ex ausgeübt wird, F = e^, während die Feldstärke am Orte von ex sich ergibt zu «i = - -?- = -i-trT-)' da/dse = e*; Ausführung der Differentiation liefert ®x = -ef- , so daß F = - -^~ in Ueber- einstimmung mit obigem. Dieselben Beziehungen wie für die Kräfte zwischen Elektrizitätsmengen gelten für die- jenigen zwischen Magnetpolen. Sind deren Stärken (magnetische Mengen) m1 und m2, und die analog der elektrischen definierte magnetische Kraft oder Feldstärke § läßt sich, soweit sie von magnetischen Mengen herrührt, ausdrücken durch ein skalares Po- tential von der Form i /»dS* *—& — wo x die Dichte der freien magnetischen Menge bedeutet. 3. Oersted, Biot und Savart, elektro- magnetisches Strommaß, magnetisches Feld elektrischer Ströme, Vektorpotential. Im Jahre 1820 entdeckte Oersted die Ab- lenkung der Magnetnadel durch den elek- trischen Strom; noch im selben Jahre ge- lang es Biot und Savart, quantitative Untersuchungen über die Wirkung eines (praktisch) unendlich langen stromdurchflos- jsenen Drahtes auf eine Magnetnadel zur '< Ableitung eines Elementargesetzes auszu- I nutzen, nach welchem die Wirkung eines Stromelementes auf einen Magnetpol (bei gegebener Pol- und Stromstärke) umgekehrt proportional ist dem Quadrat des Abstandes r i des Pols vom Stromelement ds und propor- I tional dessen Länge sowie dem Sinus des Winkels zwischen r und ds, daß also diese Wirkung, soweit die geometrischen Verhält- nisse in Betracht kommen, dargestellt wird , sin (ds, r) durch den Ausdruck - -^ ds. Diese Wirkung steht senkrecht auf der Ebene (ds, r), und zwar wird ihr Sinn als eine auf den Nordpol der Magnetnadel ausgeübte Kraft (magnetische Feldstärke) durch die bekannte, von Ampere gefundene Schwim- 1 merregel angegeben: Denkt man sich im | Stromelement schwimmend, so daß der positive Strom beim Kopf austritt, und schaut die Magnetnadel an, so wird deren Nordpol nach links getrieben. Aus dem genannten Elementargesetz er- 410 Elektrodynamik rechtsgängigen gibt sich die von Biot und Savart experi- mentell festgestellte Tatsache, daß die Direk- tionskraft, welche ein vertikaler, unendlich langer Strom auf eine in horizontaler Ebene schwingende kleine Magnetnadel ausübt, um- gekehrt proportional dem Abstand der Nadel vom Draht ist; ferner ergibt sich aus ihm, daß die magnetische Feldstärke, die ein Kreisstrom vom Radius R in seinem Mittelpunkt erzeugt, da hier r = R = const. und ^4 (ds, r) = const. = 90° ist, proportional -r,9 = -t5- wird. Diese magnetische Feld- R2 R stärke steht senkrecht auf der Ebene des Kreises und ist dem Umlaufssinn des posi- tiven Stroms so zugeordnet, wie die Ver Schiebungsrichtung einer Schraube ihrem Drehsinn. Die Integration des Elementargesetzes von Biot und Savart liefert also den Ein- fluß, den die Konfiguration irgendeines linearen Stromes auf die magnetische Feld- stärke in einem beliebigen Punkt ausübt. Da nun die magnetische Feldstärke bereits definiert ist, so kann man das Gesetz von Biot und Savart zur Festlegung eines Maßes für die Stromstärke benutzen. Man wird also diejenige Stromstärke die n-fache nennen, die an irgendeinem Punkt das n-fache Feld erzeugt wie der Strom 1; und weiter diejenige Stromstärke 1, welche, ein Drahtstück von 1 cm Länge durchfließend, in dem (großen) senkrecht zur Richtung des Drahtstückes aufgetragenen Abstand r das magnetische Feld 2 entwickelt; oder welche, einen Drahtkreis vom Halbmesser R durch- fließend, in dessen Mittelpunkt diemagnetische Kraft -5- erzeugt. Die so definierte Strom- einheit ist die „elektromagnetische" (W. Weber, 1842); die praktische Stromeinheit 1 Ampere ist der zehnte Teil jener. Unter Benutzung der so definierten Stromstärke kann man somit das magnetische Feld quantitativ berechnen, das irgendein geschlossener Strom i erzeugt. Die Addition ids der unendlich kleinen Beträge —^ sin (ds, r) hat natürlich, da es sich um Kräfte handelt, nach dem Parallelogrammgesetz, also vek- toriell zu erfolgen; daher läßt sich die Feldstärke am bequemsten in der Schreib- weise der Vektorrechnung (vgl. den Ar- tikel „Physikalische Größen") Stellung der Feldstärke durch eine besondere Funktion, nämlich einen Vektor % mit den Komponenten fax nr . (*äy _ . /*dz 91, -/J wo dx, dy, dz die Komponenten des Ele- mentes dg sind und die Integrale über den ganzen Stromweg zu erstrecken sind. Dann werden die Komponenten der magnetischen Feldstärke am betrachteten Punkt $x = öy dz > & §2 ö3ty _ö2tx öz ö9tx o%z ~öx~ öx öy oder in vektorieller Schreibweise: «.= 1/ ds § = rot 2t. ang eben : § = i / —^ [dg r], wo das Integral über den geschlossenen Stromweg s zu nehmen ist.1) Wichtig ist ferner die Dar- 1) Hiernach läßt sich z. B. berechnen, daß ein Strom i, der eine ebene Fläche f umkreist, Diese Funktion heißt das Vektorpoten • tial des linearen geschlossenen Stroms. Endlich läßt sich die magnetische Kraft des durch ein beliebiges Stromsystem er- zeugten Magnetfeldes mit den erzeugenden Stromstärken in eine dritte Beziehung brin- gen, der besondere Bedeutung zukommt. Denkt man sich um einen geraden Strom- leiter mit der Stromstärke i einen mit dem Leiter konzentrischen Kreis gelegt, dessen Ebene auf der Strombahn senkrecht steht, so herrscht an allen Stellen dieses Kreises 2i die tangentiale Feldstärke H = - — , wenn r ' r den Radius des Kreises bedeutet. Es wirkt also auf den Magnetpol 1 überall diese 2i Kraft — , so daß der Einheitspol beim ein- maligen Durchlaufen des Kreises die Arbeit 2i 2m = 4:m leistet. Diese Arbeit, also die Größe /ödl, genommen über den ganzen Kreis 1, heißt das Linienintegral der magne- tischen Kraft für diesen geschlossenen Weg. Dieser Arbeitsbetrag wird nun nicht anders, wenn die Bahn, für die das Linienintegral /'§idl gebildet wird (§[ ist dann die Kom- ponente von & m der Richtung dl), eine behebige, den Strom einmal umschlingende geschlossene Kurve ist. Ja, für den ganz allgemeinen Fall, daß das Magnetfeld durch beliebig verteilte, gerad- oder krummlinige, lineare oder körperliche Ströme hervor- gerufen wird, behält das Linienintegral der magnetischen Kraft, erstreckt über eine geschlossene Bahn, den wenn i die gesamte Stromstärke behebige 4m, Betrag be- in seiner entfernteren Umgebung dasselbe ma- gnetische Feld hervorruft wie ein Magnet vom Moment M = if, dessen magnetische Achse auf f senkrecht steht. Elektrodynamik 411 deutet, welche eine beliebige, von der ge- I schlossenen Kurve umrandete Fläche durch- setzt. Als Reaktion der vom Stromelement i ds j auf den Magnetpol m ausgeübten Kraft | greift an ds eine Kraft vom selben Betrag mlg sin (ds, r) an, die ebenfalls auf der Ebene (ds, r) senkrecht steht, aber die ent- gegengestezte Richtung hat wie jene. Nun erzeugt der Magnetpol am Ort des Strom- elements die radial gerichtete Feldstärke §=™, falls der ganze Raum die Permea- bilität 1 besitzt: es läßt sich deshalb für diesen Fall die Wirkung auf das Stromelement darstellen durch den Ausdruck §ids sin (§ds). Da es nach der Feldwirkungstheorie gleich- gültig ist, wodurch das Feld § hervorgerufen wird, so muß auf das im Magnetfeld be- findliche Stromelement stets eine Kraft ausgeübt werden, die senkrecht steht auf der durch das Element und die an seinem Ort herrschende Feldrichtung gelegte Ebene, und deren Sinn (wenn zunächst der Winkel (§ds) ein rechter ist) durch die „Linkehand- regel" gegeben ist: hält man die 3 ersten Finger der linken Hand so, daß sie ein rechtwinkeliges Koordinatensystem bilden, und weist der Mittelfinger in die Richtung des Stromes, der Zeigefinger in die Richtung der magnetischen Feldstärke, so gibt der Daumen den Sinn der am Element an- greifenden Kraft an. Ist der Winkel ($ds) ein anderer, so wird der Sinn der Kraft durch dieselbe Regel angegeben, wenn man sich das Stromelement auf die in der Ebene (§ds) liegende, zu § senkrechte Richtung projiziert denkt. tionärer, geschlossener Stromkreise aufein- ander zu berechnen. 4. Amperes Grundgesetz, elektrodyna- mische Apparate, elektrodynamische Stromeinheit, elektrodynamisches Po- tential. Ampere (1822) geht von der Anschauung aus, daß die Wirkungen von geschlossenen Stromkreisen durch Integra- tion der Elementarwirkungen, die je 2 Strom- elemente anziehend oder abstoßend auf- einander ausüben, darstellbar sein müsse; erscheint uns auch heute diese Auffassung dem Wesen des Vorganges nicht angemessen, so muß doch betont werden, daß das Am- peresche Gesetz für stationäre Stromkreise tatsächlich zu richtigen Resultaten führt. An die Spitze seiner Betrachtungen stellt Ampere die der damaligen Physik nahe- hegende Annahme, daß zwei Stromelemente mit einer in die Verbindungslinie der beiden Elemente fallenden Kraft aufeinander wirken, die proportional ist den Längen dst und ds2 der Elemente, den in ihnen fließenden Strömen ixund i2,und umgekehrt proportional irgendeiner noch unbekannten Potenz der Entfernung beider Elemente. Dazu tritt dann noch der Einfluß, den die Richtung beider Elemente gegeneinander auf die Kraftwir- kung ausübt. Aus einigen (zum Teil aller- dings im Sinne der Am per eschen Deutung ■ wenig beweiskräftigen) experimentellen Tat- sachen gelingt es Ampere, die in der all- gemeinen Formel zunächst noch vorkom- menden Unbekannten zahlenmäßig zu er- mitteln, und so entstehen schließlich die folgenden äquivalenten Formen des Am- pere sehen Elementargesetzes für die Wir- kung zweier Stromelemente aufeinander f — _ 1i1adsids2 (C0S e_3/2 C0S^1 cos &.z) Besitzt der Raum, in dem sich Strom- element und Magnetpol befinden, die Per- meabilität ja, so wird die Wirkung des Elements auf den Pol (wenigstens für den hier stets angenommenen einfachsten Fall, daß der ganze Raum dasselbe fi aufweist) nicht geändert, weil die durch den Strom hervorgerufene Feldstärke unabhängig von der Permeabilität ist. Folglich muß auch, bei gegebener Polstärke m, die auf ds aus- geübte Kraft von ju unabhängig sein; da aber der Pol m am Ort des Elements all- gemein das Feld § =- m- erzeugt, seine Pol- stärke also für gegebenes § um so größer sein muß, je größer ju ist, so muß für den allgemeinen Fall der Ausdruck für die Kraftwirkung lauten: /t$i ds sin ($ds). Das Biot-Savartsche Gesetz, ergänzt durch die zuletzt besprochene Umkehrung, liefert uns bereits das Mittel, die elektro- dvnamische Wirkung zweier linearer, sta- _ _ i1i2ds1ds2 ^in&^ sing,3 eog g_i/t cos frj = + cos &.2) i1i2ds1ds2 ö /_1_ ör ~ \fx~ ös^2 \fr ösi Hierin bedeuten 9X und #2 die Winkel (dsxr) und (ds2r), e den Winkel (dsxds2) und rj den Winkel zwischen den Ebenen (ds^) und (ds2r), ein negatives f bedeutet Anziehung, positives Abstoßung. Aus diesem Gesetz leitet Ampere die Wirkung ab, die ein geschlossener Strom- kreis auf ein Stromelement ausübt, Diese Wirkung läßt sich besonders einfach dar- stellen durch Einführung eines Vektors %, den Ampere Direktrix nennt (und der nichts anderes ist als die magnetische Feld- stärke, die der vom [elektromagnetisch ge- messen!] Strom 1 durchflossene geschlossene I Stromkreis am Ort des Stromelements er- zeugt). Die Wirkung auf das Stromelement 412 Elektrodynamik ergibt sich dann als senkrecht stehend so- wohl auf der Direktrix als dem Element und hat den Betrag F= y2 iii2ds23) sin (dsa$); also wenn man gemäß dem eben Gesagten (vgl. auch das weiter unten über die elektrodyna- mische Stromeinheit Gesagte) — L 2) = § = der vom geschlossenen Strom am Ort des Elements erzeugten Feldstärke setzt: V2 ds2§sin (ds2ip). Das ist aber der- selbe Ausdruck, den die Umkehrung des Biot-Savartschen Gesetzes (nach Ein- führung der elektrodynamisch gemessenen Stromstärke) für den Raum von der Per- meabilität 1 liefert. Durch weitere Integration ergeben sich die (der Beobachtung allein zugänglichen) Kräfte, mit denen geschlossene Stromkreise aufeinander wirken. Dabei lassen sich die bekannten elektrodynamischen Grunderschei- nungen leicht errechnen: daß zwei parallele Kreisströme einander anziehen oder ab- stoßen, wenn sie im gleichen oder entgegen- gesetzten Sinn von Strom durchflössen werden; daß gekreuzte Kreisströme sich derart einander parallel zu stellen suchen, daß die Stromrichtung in beiden gleich- sinnig wird, usw. Diese und andere Wir- kungen lassen sich mit Apparaten unter- suchen, die einen Teil eines Stromkreises beweglich machen. Solche Apparate wurden zuerst von Ampere konstruiert, später vielfach modifiziert. Zu quantitativen Untersuchungen wurden Elektrodynamo- meter (s. unten) und endlich elektodynamische Stromwagen, die auf der am Wagebalken erfolgenden Messung von Kräften und Dreh- momenten beruhen (älteste von Cazin und fast gleichzeitig von Joule 1864, zu exakten absoluten Messungen geeignete nach An- gaben von Helmholtz von Kahle 1896 konstruiert), mehrfach benutzt. Eine quantitative Prüfung des Ampere- schen Gesetzes hat zuerst W. Weber vor- genommen. Er bediente sich des von ihm für diesen Zweck konstruierten Elektro- dynamometers, bestehend aus 2 Spulen, einer festen und einer mit bifilarer Auf- hängung um eine vertikale Achse dreh- baren. Die Ebene der einen Spule geht durch die Mitte der anderen und steht senkrecht auf deren Ebene; je nachdem, ob die erstere oder die letztere die bewegliche ist (I. und II. Hauptlage), wirkt auf diese ein vermittels der bifilaren Aufhängung meßbares Dreh- moment, das sich aus dem Amperesehen Gesetz zu * ' J 2 bezw. x/2 * ' * 2 berechnet (f1 und f2 die Spulenflächen), falls der Ab- stand R der Spulen voneinander gegen die Spulendimensionen sehr groß ist. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, dann werden die Formeln komplizierter. Weber fand bei seinen Messungen Drehmomente, die mit den aus dem Ampereschen Gesetz berechneten gut übereinstimmten. Läßt man beide Spulen vom selben Strom i durchfließen, so wirkt in der ersten Lage auf die bewegliche Spule ein Dreh- moment vom Betrag i :fxf2 mißt man dieses & *2 R3 l Drehmoment in g.cm, so gelangt man für die Stromstärke zu der „Ampereschen elek- trodynamischen Einheit"; mißt man es aber in Einheiten des cgs-Systems, also in Dynen.cm, so erhält man die „absolute elektrodynamische Stromeinheit", welche, die Fläche von 1 cm2 umkreisend, seitens eines eben solchen aus dem großen Abstand R in der ersten Lage wirkenden Kreisstromes das Drehmoment ^ Dynen.cm erfährt. Da ein solcher Kreisstrom in die Ferne wie ein Magnet wirkt, dessen Moment M gleich dem Produkt aus Fläche f und der elektromagnetisch gemessenen Strom- stärke i ist, und da ein Magnet vom Moment M, auf einen anderen vom Moment M2 aus 2M M erster Hauptlage das Drehmoment * 2 ausübt, so wird das Drehmoment der festen 9j2 fif2 K:! auf die bewegliche Spule durch wiedergegeben, wenn die in beiden Spulen fließende Stromstärke i im elektromagneti- schen Maß gemessen ist. Sind nun die Stromstärken, einmal elektrodynamisch (id), das anderemal elektromagnetisch (im) ge- messen, tatsächlich dieselben, also auch die Drehmomente, so ergibt sich id2 = 2ira2, oder id = l/2im; d. h. wird ein Strom im elektrodynami- schen Maß gemessen, so fällt die Maßzahl l'2 mal so groß aus als wenn er im elektro- magnetischen Maß gemessen wird; folglich ist die elektromagnetische Einheit der Strom- stärke das j/2-fache der elektrodynamischen. Von Interesse sind noch die von Ampere aus seinem Grundgesetz berechneten Wir- kungen von Solenoiden auf Stromelemente und aufeinander. Unter einem Solenoid versteht Ampere eine Reihe dicht anein- ander geschichteter sehr kleiner Kreisströme, deren Ebenen senkrecht zu der ihre Mittel- punkte verbindenden Linie stehen. Be- sitzt der Anfang des Solenoids vom Strom- element den Abstand r, während das Ende sich ins Unendliche erstreckt, ist die überall konstante und im selben Sinn umlaufende Stromstärke der Kreisströme ix, die im Element i2 (beide elektromagnetisch ge- messen), ist die Fläche der Kreisströme Elektrodynamik 413 überall f und kommen deren n auf die Längeneinheit, dann ist die auf ds ausge- übte, auf der Ebene (ds, r) senkrecht stehende Kraft ijnfiads sin (ds, r). Man erkennt also, daß der im Endlichen liegende Solenoidpol ganz dieselbe Wirkung ausübt wie eine an seinem Ort befindliche magnetische Menge ixiif (nordmagnetisch, wenn vom Ende aus gesehen die Kreis- ströme entgegen dem Uhrzeigersinn fließen), daß er also ein radiales Magnetfeld erzeugt, dessen Stärke im Abstand r den Betrag ^~- besitzt. Liegt auch der zweite Pol im Endlichen, so wirkt er wie die entgegengesetzte magnetische Menge vom gleichen Betrag; hiernach sind die erzeugten Felder und die auftretenden Kraftwirkungen leicht zu be- rechnen. Die wechselseitigen elektrodynamischen Wirkungen zweier geschlossener Stromkreise 1 und 2, wie sie z. B. aus dem Ampere- schen Grundgesetz berechnet werden kön- nen, haben natürlich zur Folge, daß mit irgendwelchen Konfigurationsänderungen die- ser beiden Stromsysteme iYrbeitsleistung ver- bunden ist. Wir verdanken F. Neu mann (1845) den wichtigen Nachweis, daß diese Arbeitsbeträge darstellbar sind durch die Abnahme einer von der gegenseitigen Lage beider Stromkreise abhängigen Funktion 4>, der demnach die Bedeutung eines Potentials zukommt (Neumanns elektrodynami- sches Potential). Für lineare stationäre Stromkreise, in denen also die (elektroma- gnetisch gemessen!) Stromstärken ix und i2 auch trotz den bei der Bewegung auftreten- den Induktionswirkungen merklich konstant bleiben (z. B. dadurch, daß die Stromkreise mit hoher elektromotorischer Kraft und großem Widerstand ausgerüstet sind), lautet diese Funktion lassen sich auch die Arbeiten darstellen, welche bei der Deformation eines Strom- kreises die von seinen verschiedenen Ele- menten aufeinander ausgeübten elektrodyna- mischen Kräfte ausüben. Dieses „elektro- dynamische Selbstpotential" muß den Wert haben $s Hf cos (ds ds') dsds' (da bei der Integralbildung alle Elementen- kombinationen derselben Stromkurve zwei- mal berücksichtigt wurden, ist der Faktor y2 vor dem Integralzeichen notwendig). $s stellt dann diejenige Arbeit dar, die in dem System in Form mechanischer Energie an- gehäuft ist. Nach der Feldwirkungstheorie ist aber der Energieinhalt des Systems durch die Energie des von ihm erzeugten magne- tischen Feldes gegeben, und diese ist y2 Li2, wo L der Selbstinduktionskoeffizient des Stromkreises ist. Somit ergibt sich L = // cos (dsds') dsds' <1> d slt/ s. cos (dSids^ ds xds 2. Das Doppelintegral ist also zu erstrecken über jede mögliche Kombination von Leiter- elementen einerseits des Stromkreises 1, andererseits des Kreises 2. Für irgendeine Kelativlage der beiden Stromkreise zueinander stellt # die Arbeit dar, die aufzuwenden ist, damit die beiden Stromkreise entgegen den elektrodynamischen Kräften aus unendlichem Abstand in die betreffende Lage gebracht werden; und die Verschiebung der beiden Stromkreise aus der Relativlage a in die Relativlage b liefert seitens der elektro- dynamischen Kräfte die Arbeit #a ■ — $b, gleichgültig, auf welchem Weg diese Ver- schiebung erfolgt. Durch einen analogen Potentialausdruck Betont sei, daß bei dieser letzten Integral- bildung (und ebenso der für $s) der Strom- weg nicht mehr als linear betrachtet werden darf; dann kämen ja unendlich viele Ele- mentenpaare dsds' vor, für die das zuge- hörige r unendlich klein ist, so daß deren Einfluß das Doppelintegral stets unendlich groß machen würde; in der Tat wäre der Selbstinduktionskoeffizient eines Stromlei- ters, der bei unendlich kleinem Querschnitt einen endlichen Strom führte, unendlich groß. Man hat sich deshalb den Stromleiter in unendlich dünne Röhren zerlegt, d. h. den Strom als einen räumlichen zu denken; ist nun j die Stromdichte, dl und dX' Ele- mente von irgendwelchen dieser Strom- röhren mit den Querschnitten dq und dq', so wird $s==_i/2 rrÜ^icos (dA(U')' gleich dem \\n- fachen der- ! es nach der Maxwellschen Theorie der Ver- jenigen Maßzahl, die dieses Feld in demjiier cphiphnTio-sstrnrne zu erwarten ist. Die zu benutzenden System angibt: §' = i^n § Drückt man ferner alle Ströme i in unserem durch h = , modifizierten elektrostatischen 4jt Maßsystem aus, beachtet also, daß die so Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III unmittelbare magnetische Wirkung der Ver- schiebungsströme in einem Isolator hat zu- erst Röntgen festgestellt; er ließ um eine vertikale Achse eine runde Ebonitplatte rotieren, über welcher eine feste, an Erde 27 418 Elektrodynamik gelegte Metallplatte lag, während unter ihr zwei durch einen Schlitz getrennte Metall- platten sich befanden, deren eine positiv, die andere negativ geladen werden konnten. Wenn nun die Ebonitscheibe rotierte, so traten die Teile, die die Schlitze passierten, aus einem aufwärts gerichteten in ein ab- wärts gerichtetes elektrostatisches Feld, wur- den also hier umpolarisiert oder erfuhren Aenderungen des Vektors 3). Diese nach Maxwell vertikalen Strömen äquivalenten Schwankungen von 3) mußten über der oberen Metallplatte, in der Rotationsachse, ein magnetisches Feld erzeugen, das mit einer empfindlichen astasierten Magnet- nadel gemäß der Erwartung wirklich fest- gestellt werden konnte. Später hat ins- besondere Eichenwald die Röntgenschen Versuche wiederholt, und die magnetische Wirkung des Verschiebungsstroms nicht nur dem Sinne nach, sondern auch zahlenmäßig übereinstimmend gefunden mit der Wir- kung des äquivalenten Leitungsstroms, wie er nach Maxwell zu berechnen ist. Es darf deshalb die Maxwellsche Annahme, soweit es sich um die magnetisierende Wir- kung desjenigen Teils der Verschiebungs- ströme handelt, der von Aenderungen des elektrischen Feldes im materiellen Dielektri- kum herrührt, als durch direkte Versuche bestätigt gelten; ob aber auch im freien Aether magnetisierend wirkende Verschie- bungsströme möglich sind, bleibt hierbei un- entschieden. Die zweite Hauptgleichung vonMax- well, das Gegenstück und Komplement der ersten, ist nichts anderes als eine Verallge- meinerung des Faradayschen Induktions- gesetzes. Faraday war es schon gelungen, die Erscheinungen der elektrischen Induk- tion auszudrücken durch das Verhalten der magnetischen Kraftlinien, die dem induzie- renden Stromkreis oder Magneten angehören. Diese magnetischen Kraftlinien, d. h. die Kurven, welche an jeder Stelle des Feldes die Richtung der dort herrschenden magne- 1 tischen Kraft angeben, besagen in der Faradayschen Auffassung weit mehr als j nur diese geometrische Beziehung; ihre Dichte, d.h. die Zahl, welche die senkrecht zu ihnen stehende Fläche von 1 qcm durchsetzt, gibt die Stärke der magnetischen Kraft an der betreffenden Stelle an, sobald die Ein- heitskraftlinie in geeigneter Weise definiert ist. Ja, die Vorstellung Faradays, daß die Kraftlinien kontinuierliche Existenz hät- ten, daß sie also nicht plötzlich in Gebieten entstehen könnten, in denen vorher keine vorhanden waren, drückt klar aus, daß den Kraftlinien die physikalische Bedeutung eines besonderen Zustandes im Raum zukommt, | der sich bei Aenderung des induzierenden Stroms usw. mit endlicher Geschwindigkeit im Raum ausbreitet. Im induzierten Strom- kreis tritt nun nach Faraday nur dann eine elektromotorische Kraft durch Induktion auf, wenn entweder seine Drähte durch die Kraftlinien des Magnetfeldes hindurchbewegt werden oder wenn die Kraftlinien gezwungen sind, durch die Drähte hindurchzugehen, ; sei es durch Bewegung des induzierenden i Systems oder durch Aenderung seines Magnet- feldes infolge von Stromänderung oder dgl. Es ist also stets das Schneiden der Kraft- linien, das in den Drähten des induzierten Stromkreises elektromotorische Kräfte her- vorruft; und das Grundgesetz lautet (in der von Maxwell gegebenen strengen Form): „Die in der ganzen Ausdehnung eines Leiters zu einer bestimmten Zeit wirkende elektro- motorische Kraft wird durch das Verhältnis, in dem die von ihm eingefaßten magnetischen Kraftlinien in der Zeiteinheit an Zahl gerade abnehmen, gemessen". Ersichtlich gilt dieses Gesetz zunächst [ nur für geschlossene Leiterbahnen, in denen also gewöhnliche Leitungsströme fließen kön- nen; Maxwell erweitert seine Gültigkeit auf jede beliebige geschlossene Kurve, gleich- viel, ob diese ganz oder teilweise in Leitern oder Isolatoren verläuft. Es ist daher jede Aenderung des magnetischen Kraftflusses durch irgendeine Fläche, d. i. der Gesamtzahl von Kraftlinien, die diese Fläche durch- setzen, stets begleitet von einem Induktions- ■ ström längs der Randkurve der Fläche; dieser Strom kann je nach Umständen Leitungs- strom oder Verschiebungsstrom oder beides | zusammen sein. Und da ein Verschiebungs- strom identisch ist mit dem Auftreten bezw. der Aenderung des elektrischen Feldes an der betreffenden Stelle, so muß hiernach jede Aenderung in der Verteilung der magne- tischen Kraft gleichzeitige Aenderungen der elektrischen Kraft zur Folge haben. Die elektromotorische Kraft für eine ge- schlossene Kurve, d. i. die Arbeit, welche die Elektrizitätsmenge 1 beim einmaligen Durchlaufen der Kurve leistet, ist identisch mit dem Linienintegral der elektrischen Kraft über die ganze Kurve, also gleich /@i dl, wo ©i die in die Richtung des Kurven- elements dl fallende Komponente von © be- deutet. Andererseits ist der gesamte, die Fläche durchsetzende magnetische Kraft- fluß gleich JJpndff, falls das Medium, in dem sich o befindet, die Permeabilität ju, = 1 besitzt (leerer Raum). Ist aber der Raum mit einem Medium von anderer Permeabilität erfüllt, so ist der gesamte Kraftfluß nicht durch den Vektor § bestimmt, sondern durch einen anderen Vektor, die magnetische Induktion 33, die mit § durch die Beziehung verknüpft ist : 33 = ju§ (wobei allerdings im allgemeinen n keineswegs konstant, son- dern, besonders bei stark magnetisierbaren Elektrodynamik L19 Medien, von £ abhängt). Folglich wird der Kraftfluß gleich/ 93„do = l/t&da, und die in der Zeiteinheit geschehende Abnahme dieses Kraftflusses, die ja gemäß dem Faraday-j sehen Induktionsgesetz die elektromotorische Kraft bestimmt, gleich _^tJ»nda=- lt MJ fcda. ; Wegen der erforderlichen Umrechnung dieser elektromotorischen Kraft in das hier verwendete Maßsystem ist der gefun- dene Ausdruck noch mit ■ zu multiplizieren; c so entsteht denn f (&dl= — ^ |z f $nda. (U. Haupt- V l c öt d ° gleichung). Um die Analogie der physikalischen Vor- gänge, die den beiden Hauptgleichungen entsprechen, deutlicher hervortreten zu las- sen, sei darauf hingewiesen, daß man die Aenderung des Kraftflusses durch o hin- durch, d. h. die Aenderung der magnetischen Kraft in o, sich herbeigeführt denken kann durch die Bewegung einer im Raum ver- teilten freien nordmagnetischen Menge in ähnlicher Weise, wie oben die Aenderung der elektrischen Feldstärke mit der Be- wegung im Raum verteilter freier Elektrizität in Beziehung gebracht wurde. Die Aende- rung des magnetischen Kraftflusses durch o entspricht also dem dielektrischen Verschie- bungsstrom; und ebenso wie dieser durch die Dielektrizitätskonstante beeinflußt wird, so muß der magnetische Verschiebungsstrom von der magnetischen Permeabilität ab- hängen. Völlig analog würden die den beiden Hauptgleichungen entsprechenden Vorgänge dann sein, wenn es außer den magnetischen Verschiebungsströmen auch magnetische Lei- tungsströme gäbe; das würde zur Vorausset- zung haben, daß sich überhaupt nord- und südmagnetische Mengen trennen lassen. Dies ist bekanntlich nicht der Fall, denn jedes magnetisierte Raumelement besitzt stets so- wohl seinen Nord- wie seinen Südpol. Für den Fall elektrischer Leiter sind daher die Hauptgleichungen nicht symmetrisch; doch werden sie das, wenn es sich um Vorgänge in Isolatoren handelt; dann nehmen die Glei- chungen die Form an f gehängtes Stäbchen aus leitender oder stark dielektrischer Substanz der Wirkung eines durch den Raum bewegten Magnetfeldes aus- gesetzt würde; das Stäbchen müßte sich dann in der Richtung des vom bewegten Magnetfeld hervorgerufenen elektrischenFelds einstellen, würde also das Gegenstück sein zu der durch die dielektrischen Verschie- bungsströme abgelenkten Magnetnadel. Indes versprechen solche Versuche wegen ganz be- deutender experimenteller Schwierigkeiten keinen Erfolg; wohl aber liegt ein Experiment vor, das auf einem etwas indirekten Wege die Existenz des vermuteten elektrischen Feldes dartut. Wilson ließ einen Hart- gummihohlzylinder, der innen und außen mit Stanniol beklebt war, in einem kräf- tigen Magnetfeld, dessen Richtung der Zy- linderachse parallel war, rotieren: war die eine Belegung des Zylinders mit Erde, die andere mit einem Elektrometer verbunden, so zeigte letzteres eine Aufladung des Hart- gummikondensators in dem durch die Max- wellsehe Vorstellung bedingten Sinne an. Es tritt also jedenfalls in dem durch das Magnetfeld hindurchbewegten Dielektrikum eine Polarisierung auf, die die Folge ist eines hier wirksamen elektrischen Feldes. Im übrigen wird auf den Wilson scheu Versuch weiter unten noch zurückzukommen sein. Die beiden Hauptgleichungen in der bis- her hingeschriebenen Form sind noch keine Nahewirkungsgleichungen ; sie stellen ja z.B. das Verhalten des Vektors §1 längs der ge- schlossenen Kurve 1 durch das Verhalten ! der Größen in und Sn in der ganzen von 1 begrenzten Fläche o von endlicher Aus- dehnung dar. Doch sind nun die gewünschten Feldgleichungen aus den angeschriebenen leicht zu erhalten, wenn o selbst unendlich ; klein gewählt wird. Es sei z. B. in einem Rechtsschrauben- koordinatensystem, d. i. einem solchen, in dem die Rechtsdrehung aus der positiven X- Richtung in die positive Y-Richtung einem Fortschreiten der Schraube in der positiven Z-Richtung entspricht, in dem also in der untenstehenden Figur die letztere nach vorn weist, o gleich der Fläche dxdy. Bildet man nun für einen im Sinne der positiven Z- Achse rechtsgängigen Umlauf das Linien- integral der magnetischen Kraft, so wird dieses und /* ®i dl §nda. C Ötf/ 6 Es liegt nahe, die Forderung der Max- ferner ist wellschen Theorie, daß magnetische Ver- schiebungsströme elektrische Felder her- vorrufen müssen, durch direkte Versuche zu prüfen. Das könnte prinzipiell in der Weise j z. B. geschehen, daß ein leicht drehbar auf- öt , j ] $i dl = d§j dv — d&xdx; | indö = izdxdv t/ 6 ö$z öt dxdy. 420 Elektrodynamik Somit wird gemäß der ersten Hauptgleichung und nach Division durch dxdy beiderseits ÖX dt I % %U% H\ *%x+^ % ■fix ^> &— >x Fig. 1. Aehnlich entstehen zwei weitere Gleichungen für die durch die X- und Y-Ströme hervor- gerufenen magnetischen Kräfte, die mit der angeschriebenen zusammen den Inhalt der ersten Hauptgleichung zum Ausdruck brin- gen. Drei analoge Gleichungen entsprechen der zweiten Hauptgleichung, so daß die Be- ziehungen zwischen elektrischen und magne- tischen Kräften dargestellt werden durch die Gleichungssysteme ö§z d§. und öy c I Tz 'öj?y öx ö(£\ ÖZ Ö@z öx" Ö®x dy C -CT — öz Ö&z dx, öS»., öy ö@z öy ö©x ÖZ ö©y öx = i.x+ e i.v + e öe-x = t*+ e - öt ö(£y\ öt ' ö(£v. öt = /« = /« ö£x öt ö§y öt Ö&, öt oder kürzer in der Schreibweise der Vektor- rechnung öj? öt" ö® c rot § = i + e -rr, c rot © /* Diese Gleichungen drücken nun das räum- liche Verhalten der magnetischen Feld- stärke in nächster Umgebung eines Punktes durch das zeitliche Verhalten der elek- trischen Feldstärke in diesem Punkt selbst (sowie durch die hier vorhandene Dichte des Leitungsstroms), im d das räumliche Ver- halten der elektrischen Feldstärke und nächster Umgebung durch das zeitliche Ver- halten der magnetischen Feldstärke im Punkt selbst aus, sind also Nahewirkungs- gesetze. Bemerkt sei, daß die Gleichungen bei Max- well selbst wesentlich andere Form haben; dort werden die Kräfte erst durch skalare und Vektorpotentiale ausgedrückt, in denen man, wie Hertz bemerkt, noch Rudimente der älteren Fernwirkungsauffassung erken- nen muß. Als erster hat Heaviside (1888) die Feldstärke in jedem Punkt des Raums durch Zustände der benachbarten Punkte ausgedrückt; ihm folgte Hertz (1890); beide gelangten zu Gleichungen von im wesentlichen der wiedergegebenen Form. Seitdem verwenden alle Autoren diese Hea- viside-Hertzsche Form. Unterschiede be- stehen nur noch hinsichtlich konstanter Zahlenfaktoren infolge der Wahl verschie- dener Maßsysteme. Das hier benutzte be- dingt eben, daß sowohl rot § wie rot (S nur mit dem Faktor c multipliziert erschei- nen; bei Verwendung des gewöhnlichen elek- trostatischen und magnetischen Maßsystems (h = k = 1) ist rot |> mit dem Faktor - — , rot S mit dem Faktor c zu multiplizieren. 6c) Folgerungen aus den Maxwell- schen Gleichungen (Fortpflanzungs- geschwindigkeit elektromagnetischer Störungen, Poyntingscher Energie- fluß, ponderomotorische Kräfte und Maxwellsche Spannungen). Finden die Aenderungen der elektrischen und magne- tischen Größen sehr langsam statt, dann herrscht in jedem Augenblick an jedem Punkt des umgebenden Raumes praktisch das- jenige elektrische und magnetische Feld, welches dauernd herrschen würde, wenn der augenblickliche Wert der maßgebenden Ströme usw. unverändert bliebe (quasistationäre Systeme); alsdann liefert die alte Elektro- dvnamik die völlige Lösung. Sind aber die * und «S öt öt lassen sich die Beziehungen zwischen den Größen |>, £• und i nur durch die Maxwell- schen Gleichungen darstellen; und diese sagen ja aus, daß die räumlich-zeitliche Aenderung der elektrischen Kraft eine räum- lich-zeitliche Aenderung der magnetischen Kraft bedingt und umgekehrt, daß also eine beliebige Aenderung eines bestehenden Zu- standes als elektromagnetische Störung in die Umgebung hinein fortschreiten muß. Für die Geschwindigkeit, mit der sich eine solche Störung ausbreitet, liefern die Glei- Werte hinreichend groß, dann chungen den Wert es ist also für den freien Aether, in dem ja e = ju = 1 ist, Elektrodynamik 421 die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines elek- trischen oder magnetischen Zustands (die ja beide nur vereint vorkommen können) gleich dem Verhältnis der elektromagneti- schen und der elektrostatischen Stromeinheit. Da nun Maxwell insbesondere die Licht- bewegung als einen elektromagnetischen Vor- gang auffaßt, so erklären die Hauptglei- chungen die schon vor Maxwell bekannte fundamentale Tatsache, daß jenes Ver- hältnis mit der Lichtgeschwindigkeit im Aether übereinstimmt. Findet die Aus- breitung nicht im Aether, sondern in einem Isolator mit der Dielektrizitäts-Konstante e statt (/« ist in Isolatoren stets sehr nahe = 1), so ergibt die obige Bezeichnung für den Brechungsexponenten elektromagneti- scher Wellen die „Maxwellsche Beziehung" n2 = £, die allerdings keineswegs immer durch die Erfahrung bestätigt wird, es auch nicht kann, da ja diese Beziehung nicht die Abhängigkeit des Brechungsexponenten von der "Wellenlänge enthält, also nicht die Dispersion zur Darstellung bringt. In dieser Hinsicht hat die einfache Theorie von Maxwell naturgemäß Erweiterungen er- fahren müssen. Sehr wichtig sind die Energieverhältnisse des elektromagnetischen Feldes. Um im Medium von der Dielektrizitätskonstante e das elektrostatische Feld vom Betrag (5 herzustellen, ist pro Volumeinheit eine Arbeit e(£2 aufzuwenden von der Größe 9 ; man gelangt LI zu diesem Ausdruck, wenn man die oben beschriebene Verschiebung einer fiktiven Ladung, die das Feld © erzeugt, betrachtet, Nach der Vorstellung Maxwells ist nun die bei diesem Vorgang geleistete Arbeit im Dielektrikum (als Spannung im Aether und elastische Verrückung der gebundenen Elasti- zitäten des Isolators) aufgespeichert, so daß dessen Volumeinheit die elektrische Energie f©2 e® Feld von einem Energiestrom durchzogen werden; dieser Energiestrom steht allent- halben senkrecht sowohl auf der elektrischen als auch auf der magnetischen Kraft und ist darzustellen durch einen Vektor ©, der, in vektorieller Schreibweise, gegeben ist durch © = ß$] Die in der Zeiteinheit durch ein Flächen- element dö strömenden Energieist dann gleich ©n dö, wenn ©n die Komponente des Vektors © in der Richtung der Flächennormale be- deutet. Der von Poynting (1884) einge- führte Vektor © heißt Energiefluß oder Strahl vektor (letztere Bezeichnung knüpft an das Fortschreiten der Energie einer Lichtwelle Strahls an) in der Richtung des Licht- Der Sinn von © ist derart, daß die Vektoren (£, §, © in der genannten Reihenfolge ein Rechtsschraubensystem bil- den. Die Poyntingsche Vorstellung von der Energieströmung im elektromagnetischen enthält. Analog ist eine magnetische Ener- gie vorhanden," die pro Volumeinheit den Betrag besitzt !*&_ m 2 _ 2 • Somit ist im Raumelement dS die gesamte elektromagnetische Energie 2-(£(£2 + //§2) dS = i((EB + &») dS enthalten. Wird nun dieses Integral er- streckt über einen Raum S, in dem sich keine Energiequellen befinden, dann kann sich dessen Energieinhalt offenbar nur da- durch ändern, daß Energie durch seine Oberfläche hindurchströmt. Es muß des- halb das nichtstatische elektromagnetische Feld" hat die älteren Vorstellungen von der Energieübertragung in bedeutendem Maße modifiziert. Ein gerader stromdurchflossener Draht entwickelt in seiner Umgebung ein elektrisches Feld parallel zur Drahtachse und ein magnetisches Feld, das in konzen- trischen Kreisen um den Draht verläuft. Folglich steht S überall auf der Drahtober- fläche senkrecht und ist nach außen gerich- tet, wenn der Draht (infolge von Induktions- wirkungen) Stromquelle ist, dagegen nach innen, wenn elektrisches Feld und Strom gleichgerichtet sind. Im ersten Fall strömt also die Energie aus dem Drahtinnern in den Außenraum, im letzten aus dem Außen- raum in das Drahtinnere, wo sie in Joulesche Wärme usw. umgewandelt wird. In der Stromquelle (das eben Gesagte gilt z. B. auch für ein galvanisches Element) strömt also die Energie aus der Leitungsbahn heraus, gleitet dicht an den Leitern (nur hier sind @ und £ beträchtlich) entlang zu den Verbrauchsapparaten, wo sie wieder in die Leitungsbahn hineinströmt, um dort in andere Energieformen umgesetzt zu werden. Fließt in einem Leiter Wechselst nun. so strömt die Energie seines magnetischen Feldes abwechselnd von ihm weg in die weitere Umgebung und wieder zu ihm zurück. Ist die In ihm entwickelte Joulesche Wärme zu vernachlässigen und wird die Energie nicht anderweitig (z. B. in einem Trans- formator) abgefangen, so wird die gesamte Energiemenge, welche in einer Halbperiode die Leitoberfläche verließ, in der nächsten Halbperiode wieder zurückgegeben, voraus- gesetzt, daß die Frequenz des Wechselstroms niedrig ist. Anders bei hoher Wechselzahl; dann können sozusagen die vom Leiter ent- 422 Elektrodynamik wickelten elektrischen und magnetischen Kraftlinien nicht schnell genug zurückge- zogen werden, es schnürt sich deshalb ein Teil von ihnen ab von denjenigen, die zum Leiter zurückkehren, und dieser abgeschnürte Teil, natürlich behaftet mit einem ent- sprechenden Energiebetrag, wandert als freie vom Leiter gänzlich losgelöste elektro- magnetische Schwingung in den Raum hinaus. Da diese abgetrennte freie Strahlung sehr schnell mit zunehmender Schwingungs- zahl wächst, so hat man sie erst nachweisen können, als es gelungen war, Frequenzen von mehreren Hundert Millionen in der Sekunde zu erzeugen (Hertz' freie „Strah- len elektrischer Kraft", 1888). Schließlich sind noch die ponderomoto- rischen Kräfte, die an der im elektromagne- tischen Feld befindlichen Materie angreifen, einer besonderen Betrachtung zu unter- ziehen. Man kann diese Kräfte, zunächst für langsame Veränderungen (quasistationäre Vorgänge) sowie für ruhende oder langsam bewegte Körper, welch letztere hier ja stets vorausgesetzt sind, aus der alten Fern- wirkungstheorie, also dem Coulomb sehen Gesetz, sowie dem Gesetz von Biot und Savart und dessen Umkehrung, berechnen; man kann sie auch ermitteln aus der Aende- rung der elektromagnetischen Energie des Feldes, die mit einer kleinen Verrückung des Körpers verbunden ist. Aber in beiden Arten der Berechnung kommt nicht das Wesen der Nahewirkung, die doch die Maxwellsche Theorie charakterisiert, zum Ausdruck. Anknüpfend an Vorstellungen von Faraday, hat nun Maxwell selbst eine Auffassung mathematisch formuliert, die diese Forderung erfüllt. Es wird an- genommen, daß das Medium des elektro- magnetischen Feldes sich in einem Zwangs- zustand befindet, d. h. von Spannungen durch- zogen ist, die auf die einzelnen Teile der Oberfläche eines Raumelements Kräfte (ähn- lich den elastischen) ausüben, deren Resul- tierende die auf das Raumelement wirkende ponderomotorische Kraft darstellt. Die Spannungen werden nun so bestimmt, daß die resultierende Kraft mit der z. B. aus den Fernwirkungsgesetzen berechneten über- einstimmt. Dabei ergibt sich, daß die pon- deromotorischen Kräfte elektrostatischer Her- kunft darstellbar sind durch einen Spannungs- zustand, der besteht aus einem Zug in der Richtung der Feldstärke (£ (also in der Rich- tung der elektrostatischen Kraftlinien) von der Größe - (S2 pro Flächeneinheit (also von Li der Größe der elektrostatischen Energie- dichte des Felds an der betreffenden Stelle) s-owie einem Druck senkrecht zu den Kraft- linien vom gleichen Betrage. Enthält nun das betreffende Raumelement keine freie Elektrizität, dann ist die Verteilung der Feldstärke derart, daß alle an seiner Ober- fläche angreifenden Zug- und Druckkräfte sich einander das Gleichgewicht halten, so daß die resultierende ponderomotorische Kraft Null ist; ist aber freie Elektrizität vorhanden, dann ist @ an den verschiedenen Stellen der Oberfläche des Rauinelementes in solcher Weise verschieden, daß die Resul- tante aller Zug- und Druckkräfte in der Tat identisch wird mit der z. B. aus dem Cou- | lombschen Gesetz berechneten ponderomoto- rischen Kraft. Für die ponderomotorischen Kräfte magnetischer und elektromagnetischer bezw. elektrodynamischer Herkunft ergibt sich in ähnlicher Weise die Darstellung durch einen Spannungszustand, der aber hier im allgemeinen ziemlich verwickelt ist; für den Fall schwach magnetisierbarer Me- dien besteht er aus einem Zug in der Rich- tung der magnetischen Kraftlinien vom Betrag 4 £>2 und einem ebenso großen Druck senkrecht zu den Kraftlinien; ist also das Raumelement z. B. vom Strom durch- flössen, dann verhält sich £ (gemäß der ! I. Hauptgleichung) derart, daß die auf seine Oberfläche wirkenden Zug- und Druckkräfte : sich nicht das Gleichgewicht halten, sondern ; eine Resultierende liefern, die mit der aus der Umkehrung des Gesetzes von Biot und Savart berechneten Kraft übereinstimmt. Daß übrigens dieser Spannungszustand im elektromagnetischen Feld mit gewöhnlichen elastischen Spannungen nichts zu tun haben kann, ist wohl ohne weiteres klar; in Luft z. B., in der ja ein elektrostatisches oder magnetisches Feld sehr wohl bestehen kann, sind nur allseitige elastische Druckkräfte, keine Zugkräfte möglich. Die genannten Max well sehen Span- nungen stellen in dem einfachsten Fall. in dem keine oder nur langsame Be- wegungen und keine oder nur langsame' Aenderungen der Feldgrößen vorkommen, die ponderomotorischen Kräfte unzweifelhaft vollkommen richtig dar; Schwierigkeiten I entstehen aber, wenn die Bewegungen und Aenderungen schnell geschehen. Nur der letztere Fall sei hier besprochen.; ^rund zu- seien also beträchtlich. Dann fließt auch im Isolator ein elektrischer und ebenso ein magnetischer Verschiebungsstrom, des- halb sind © und £ räumlich nicht so ver- teilt, daß die an einem Raumelement des Isolators angreifenden Zug- und Druck- kräfte sich aufheben, sondern es wirkt, auch wenn keine freien elektrischen und magnetischen Ladungen vorhanden sind, auf die'Volumeinheit eine Kraft, die den Betrag Elektrodynamik 42. hat -g Ter-, worin © der Poyntingsche Strahlvektor ist; diese Kraft wird als Strah- lungsdruck bezeichnet und ist experimentell festgestellt worden (Lebe de w, 1900). Diese Kraft wirkt also auch in der Größe — =- — t- c ot auf den freien Aether, sobald in diesem schnelle elektromagnetische Vorgänge ge- schehen; dadurch müßten Bewegungen des Aethers eintreten, von denen nie etwas be- merkt worden ist. Prinzipiell wichtig ist ferner, daß hiernach das Gesetz der Gleich- heit von Wirkung und Gegenwirkung, welches die aus den Maxwellschen Spannungen abgeleiteten Kräfte für das ganze System Materie + Aether befolgen, eben deswegen für die Materie allein nicht mehr gilt. 7. Die Hertzschen Gleichungen für bewegte Körper. Schon Maxwell hat seine Theorie auf bewegte Medien angewandt; in ausführlicher Weise ist dies dann von Hertz (1900) geschehen. Die Schwierig- keit, um die es sich hier handelt, besteht in der Frage, ob der Aether als Träger der ; Feldkräfte sich mit der Materie bewegt oder ob er ruht. Hertz meint zwar, daß die Bewegung des Aethers von der- jenigen der Materie unabhängig zu sein scheine; um aber die hierdurch geforderte Komplikation, die durch die Einführung mindestens je zweier Richtungsgrößen fin- den elektrischen und den magnetischen Zu- stand an jeder Stelle entstehen würde, zu vei meiden, macht er die Annahme, daß dem raumerfüllenden Mittel in jedem Punkt eine einzige Geschwindigkeit tu beizumessen sei, die dann sowohl diejenige der Materie als auch diejenige des Aethers ist. Dann bewegen sich mit der Materie auch die ihren elektrischen und magnetischen Zustand be- dingenden Kraftlinien; und die ganze zeit- liche Aenderung der Feldgrößen an irgend- einer Stelle des Raumes setzt sich zusammen aus der durch diese Bewegung der Kraft- linien bedingten und derjenigen, die auch im Ruhezustand geschehen würde. Das führt schließlich zu den folgenden Feld- gleichungen, die der Kürze halber nur in vektorieller Schreibweise wiedergegeben wer- den mögen: c rot

forttrans- portiert wird, und rot [®tu] ein von Röntgen zuerst beobachteter und deshalb „Röntgen- strom" genannter Effekt, der herrührt von der Bewegung der im elektrisch polari- sierten Medium anzunehmenden „fingierten Ladungen", daher als fingierter Konvek- tionsstrom zu bezeichnen ist. Alle diese Komponenten des elektrischen Gesamtstroms üben magnetisierende Wirkungen aus, die ebenso zu berechnen sind, wie die des ge- wöhnlichen Leitungsstroms aus dem Gesetz von Biot und Savart. Die zweite Gleichung sagt das Analoge aus bezüglich des magne- tischen Gesamtstroms, der sich zusammen- setzt aus dem magnetischen Verschiebungs- ström und dem dem Röntgen ström ent- öt h sprechenden fingierten magnetischen Kon- vektionsstrom rot [SBw]; hier fehlt der Lei- tungsstrom und der wahre Konvektionsstrom, weil es wahren Magnetismus nicht gibt. Man hat versucht, die magnetische Wir- kung von Konvektions- und Röntgenstrom und die elektromotorische Wirkung des fin- gierten magnetischen Konvektionsstroms durch direkte Experimente nachzuweisen. Ein magnetisches Feld des Konvektions- stroms hat zuerst Rowland festgestellt; auf dem von ihm eingeschlagenen Wege (Ro- tieren geladener Metallscheiben) hat insbe- sondere Eichenwald die quantitative Ueber- einstimmung dieser magnetischen Wirkung mit derjenigen des äquivalenten Leitungs- stroms (i = gtv) dargetan. Auch den magne- tischen Effekt des zuerst von Röntgen beobachteten fingierten Konvektionsstroms (eine Platte aus Hartgummi o. dgl. rotiert zwischen feststehenden Metallplatten, die auf verschiedenes Potential gebracht sind, also in der Hartgummiplatte eine dielek- trischePolarisation hervorrufen), hat Eichen- wald mit der Theorie in guter Ueberein- stimmung befunden. Die elektromotorische Wirkung des magnetischen Röntgenstroms hängt aufs engste zusammen mit der schon lange bekannten Erscheinung der unipolaren Induktion, die dem Röntgeneffekt durchaus analog wäre, wenn letzterer mit permanent polarisierten Dielektricis angestellt werden könnte. Was die ponderomotorischen Kräfte an- langt, so sind diese, ähnlich wie bei Maxwell, aus einem System von Spannungen zu be- 424 Elektrodynamik rechnen, die aber hier andere Werte haben, wie bei Maxwell; übrigens kommen die Unterschiede mir bei permanent magneti- sierbaren Körpern zur Geltung. Wie bei Maxwell werden auch hier auf den Aether selbst ponderomotorische Kräfte ausgeübt, sobald der Poyntingsche Strahlvektor nicht konstant ist, also strenggenommen in allen nicht stationären Feldern; da aber der Aether als beweglich vorausgesetzt ist, so müssen diese Kräfte ihn in Strömung setzen. Auf diesen Umstand hat Hertz selbst zuerst aufmerksam gemacht und ihm wenig innere Wahrscheinlichkeit zugeschrieben. Ernster als diese Bedenken sprechen die Resultate neuerer Versuche gegen die Max- well-Hertzsche Theorie in bewegten Me- dien. Hertz selbst waren (1890) noch keine rein elektrodynamischen Versuche bekannt, die mit seiner Auffassung unvereinbar ge- wesen wären; inzwischen aber sind zwei Experimente, von Eichenwald und von Wilson, bekannt geworden, die auf Grund der Hertzschen Theorie unverständlich sind. Eichenwald (1903) ließ einen geladenen Kondensator mit Belegungen und Dielek- trikum um die Plattennormale rotieren und schloß aus der magnetischen Wirkung auf einen Röntge nstrom von der Dichte (e— 1) (£tt>, während nach der Hertzschen Theorie e(£tt> zu erwarten ist. Wilson (1904, s. o.) fand, daß ein Kondensator mit Dielektrikum, der in einem kräftigen Magnetfeld derart bewegt wurde, daß die Plattennormale senkrecht zu den Kraftlinien stand und daß senkrecht zu beiden die Bewegung erfolgte, eine Flächenladung aufwies von der Dichte (e — l)Jpft>, während nach der Hertzschen Theorie £§tt> hätte gefunden werden müssen. Beide rein elektrodynamischen Erfahrungen (und dazu einige optische, vgl. den Artikel „Lichtfortpflanzung in bewegten Me- dien") lehren, daß die Vorstellung vom mit- bewegten Aether mit den beobachteten Tat- sachen im Widerspruch steht. Colin (1902) hat deshalb die Annahme gemacht, daß der Aether stets ruht; sein Gleichungssystem erklärt dann in der Tat alle bekannten Versuche; doch leistet das- selbe auch die modifizierte Lorentzsche Theorie, die zudem die atomistische Struktur der Elektrizität einführt und dadurch im- stande ist, auch für eine Reihe optischer Phänomene (Dispersion und Absorption) mathematische Ansätze zu liefern. 8. Theorie von Lorentz. Die Maxwell- sehe Theorie ist gewissermaßen eine makro- skopische; sie formuliert ganz neue Grund- prinzipien, wendet diese aber in einer sum- marischen Weise an, die nicht die Mittel an die Hand gibt, von den elektromagnetischen Vorgängen in der Materie ein klares und detailliertes Bild zu entwerfen. Die Weiter- entwickelung der Theorie mußte daher in dem von der wahrnehmbaren Materie ein- genommenen Raum differenzieren den nicht weiter analysierbaren Aether und dasjenige Materielle, das die elektrischen und magne- tischen Verschiebungen im Aether zu be- einflussen vermag. Dies letztere konnten nur ruhende oder bewegte elektrische La- dungen sein; über deren Struktur mußten also bestimmte Annahmen gemacht werden. Dies sind die Gesichtspunkte, die die Elek- tronentheorie von H. A. L o r e n t z (1895) leiten. Die elektrische Ladung wird atomistisch j konstituiert gedacht ; diese Auffassung ist ja durch zahlreiche Tatsachen (Elektrolyse, Kathoden- und Becquerel- Strahlen usw.) und durch die Erfolge der hierauf fußenden Theorie der elektrischen und Wärmeleitfähig- keit in den Metallen usw. wohl begründet. Die elektrischen Atome sollen, ohne Rück- sicht darauf, ob sie mit gewöhnlicher Materie behaftet sind oder nicht, „Elektronen" heißen; sie, und nur sie, vermögen elektro- magnetische Felder zu erregen und durch solche Felder beeinflußt zu werden. Die Elektronen, denen ein sehr kleines, aber endliches Volumen zukommt, befinden sich im Aether; die Materie kommt nur insoweit in Betracht, als sie Elektronen enthält und ihre Bestandteile Kräfte auf die Elektronen auszuüben vermögen. Von den Elektronen gibt es 3 Arten: Leitungselektronen, Polari- sationselektroden, die durch quasielastische Kräfte an bestimmte Stellen der Materie gebunden sind, und Magnetisierungselek- tronen, die vermöge ihrer Bewegung um Rotationsachsen magnetische Felder im Aether zu erzeugen bezw. zu beeinflussen vermögen. I Der Aether mit seinen unveränderlichen Eigenschaften durchdringt alles, nicht nur die Zwischenräume zwischen den Elektronen, sondern auch diese selbst. Seine Teile sind gegeneinander nicht bewegbar, er ist also starr und insofern ruhend; durch ihn hindurch bewegen sich die Elektronen, sei 1 es infolge der Translation der Materie oder vermöge der Geschwindigkeit, die sie gegen diese haben. Alle elektrodynamischen Wir- : kungen gehen von Elektronen aus und wirken \ nur auf solche : mit anderen Worten, nur die ruhenden oder bewegten Elektronen üben Kräfte aufeinander aus. Man erkennt, daß diese ganze Auffassung sich den Vor- stellungen der Web er sehen Theorie nähert; | indes sind es hier die den Maxwellschen ' Gleichungen gehorchenden Feldkräfte im Aether, die die Kraftwirkungen vermitteln. Die dielektrische Verschiebung X (von ' Lorentz „elektrische Erregung" genannt) J setzt sich zusammen aus 2 Teilen, der Feld- stärke ß im Aether und der Polarisation ty, Elektrodynamik 425 die aus den Verschiebungen der Polarisations- Elektronen in der Materie resultiert und die durch das elektrische Moment der Volum- einheit gemessen wird, also ® = (£ + *>#. Auf Grund gewisser Annahmen läßt sich «ß = -)](£ setzen und der für hinreichend lang- same Aenderungen konstante Faktor r\ durch eine dreikoustantige Formel ausdrücken. Ebenso läßt sich dann die „Dielektrizitäts- 2) konstante" ~ = s = 1 + r\ angeben; dies würde der dispersionslosen Dielektrizitäts- konstanten der Max well sehen Theorie ent- sprechen. Für schnell veränderliche Feld- kräfte wird aber r\ und damit e abhängig von der Aenderungsgeschwindigkeit, woraus sich Abhängigkeit des Brechungsexponenten von der Schwingungszahl ergibt. Weit weniger befriedigend vermag die Elektronen- theorie die magnetischen Eigenschaften der Materie, besonders den Ferromagnetismus zu erklären: erst ganz neuerdings sind hier in Sonderfällen Ansätze gelungen, die den Messungsergebnissen zu entsprechen scheinen (Langevin, Weiß, Gans). Das Medium, in dem sich die elektroma- gnetischen Vorgänge abspielen und für welches daher die Feldgleichungen anzusetzen sind, ist in der Lorentzschen Theorie nur der ruhende Aether. Die beiden Hauptglei- chungen unterscheiden sich für den Fall ruhender Medien nicht von den Maxwell- schen ; nur für bewegte Medien treten Aende- rungen ein, und zwar beziehen sich diese auf die Komponenten des Gesamtstroms in der ersten Hauptgleichung. Ist to die Ge- schwindigkeit der Materie, u die Geschwin- digkeit der einzelnen Elektronen in dieser, also ü = tu + u die absolute Geschwindig- keit der Elektronen, so ist die Dichte des Gesamtstroms wo po der Mittelwert ist der Produkte aus den räumlichen Ladungsdichten der be- wegten Elektronen und ihren Geschwindig- keiten b. Dieser Betrag pu enthält die fol- genden Anteile: denjenigen der Leitungs- elektronen = t, denjenigen der Konvektion etwaiger Ladungen q = q'xo, denjenigen Dieser Gesamtstrom ist identisch mit demjenigen der Hertz sehen Theorie, bis auf den Röntgen ström, der bei Hertz den Betrag rot [®tt>], hier aber den Betrag- rot [$to] hat; der Unterschied rührt daher, daß bei Hertz wegen der Mitbewegung des Aethers die ganze dielektrische Verschiebung %, bei Lorentz aber nur die an die Materie geknüpfte Polarisation $ mit transportiert wird. Die Loren tzsche Theorie liefert daher richtig das Resultat des oben erwähnten Versuchs von Eichenwald, der mit der Hertz sehen Theorie im Widerspruch stand. Aehnlich ergibt sich die Erklärung des früher beschriebenen Wilsonschen Ver- suchs. Da sich mit dem Isolator nur dessen Polarisation mitbewegt, so muß die Auf- ladung der Kondensatorplatten gegenüber der Hertzschen Theorie hier kleiner er- scheinen im Verhältnis %=±=- • das 3) e e aber ist das Resultat, das der Wilson sehe Versuch ergeben hat. Durch Einführung der Komponenten des Gesamtstroms erhalten die Lorentzschen Feldgleichungen für bewegte (und schwach magnetisierbare) Medien die Form öS) c rot § =: — + i + g'to + rot rjßto], dt c rot (S - Im ruhenden die sammen aus Einheitsladung djB dt' Körper setzt sich die ausgeübte Kraft auf zu- cher der elektrischen Feldstärke © Iu931, der die Wirkung des c auf den Strom darstellt, wel- äquivalent ist der bewegten Ladung und dem Anteil Magnetfeldes von der Geschwindigkeit u. Im Körper wird also diese Kraft bewegten ©+ -[»»]=© + = /(£•' = (e — 1)(5' in bewegten Körpern bestimmt ; daher wird hier £— 1 © = g + (£— 1) g' = £© + [»»]. Dem analog ist Was schließlich die durch das elektro- 420 Elektrodynamik magnetische Feld übertragenen pondero- motorischen Kräfte anlangt, so lassen sie sich ausdrücken als Summe von 2 Anteilen. Deren erster ist ein System von Spannungen, das vollständig übereinstimmt mit dem der Maxwellschen Spannungen; allerdings sind im Sinne der Loren tz sehen Theorie diese Spannungen nur als fiktive aufzufassen, da sie ja, gemäß der Grundvorstellung, durch Zustände im Aether bedingt sind, der aber, als ein in sich starres Gebilde, auf keine Kräfte reagieren kann. Dazu kommt der An- 1 d<5 teil r — -. Wie schon früher betont wurde, c2 öt ergibt sich aus dem System der Maxwell- scheu Spannungen, daß auf die Volumein- heit des freien Aethers die Kraft -I j- --■ c2 öt ausgeübt wird, wenn die Feldgrößen ß und § sich zeitlich ändern. In der Lorentzschen Theorie wird also diese Kraft gerade durch den erwähnten zweiten Anteil kompensiert, so daß nun in der Tat der Aether selbst niemals Kräften unterworfen ist. In der bisher besprochenen Form erklärt die Lorentzsche Theorie alle Erscheinungen, welche an langsam bewegten Körpern, d. h. solange tv so klein gegen c ist, daß Größen mit w2/c2 vernachlässigbar sind, beobachtet werden. Anders wird es, wenn tv bezw. die Meßgenauigkeit so groß sind, daß auch Glieder mit w2/c2 berücksichtigt werden müs- sen. Der Prüfung bietet sich die Erdbe- wegung dar, die nach der Lorentzschen Theorie auf eine Anzahl von Erscheinungen einen meßbaren Einfluß zweiter Ordnung haben müßte, der aber in den Versuchen nicht festzustellen war. Der wichtigste dieser Versuche ist der Interferenzversuch von Michelson (vgl. die Artikel „Lichtinter- ferenz" und „Lichtfortpflanzung"), dessen Genauigkeit sich soweit hat treiben lassen, daß 1 % der nach der Lorentzschen Theorie zu erwartenden Streifenverschiebung hätte beobachtet werden müssen, während sich keine Spur einer solchen zeigte. Von anderen Versuchen sei der von Trouton und Noble erwähnt : ein mit der Erde bewegter geladener Kondensator sollte nach Lorentz in dem von ihm selbst erzeugten Magnetfeld ein Drehmoment von der Ordnung (tu/c)2 er- fahren, das aber, bis auf die Meßgenauigkeit von 5 % des erwarteten Effektes, nicht ge- funden wurde. In diesen Fällen ist Ueberein- stimmung zwischen Theorie und Experi- ment zu erzielen, wenn man mit Fitzgerald und Lorentz annimmt, daß alle Körper bei der Bewegung ihre Dimensionen, und zwar nur in Richtung ihrer Geschwindigkeit, ändern im Verhältnis (1 — tp2/2c2). In der Tat stehen alle beobachteten Erscheinungen mit der so erweiterten Theorie in Einklang. o. Das Relativitätsprinzip in der Elek- trodynamik. Obwohl die durch die er- wähnte Kontraktionshypothese erweiterte Lorentzsche Theorie alle bisher beobach- teten Erscheinungen befriedigend erklärt, ist doch die Einführung jener Hypothese wenig- befriedigend, da sie eben nur einen Wider- spruch zwischen Theorie und Experiment beseitigen soll, im übrigen aber nicht tiefer begründet erscheint. Eine solche Begründung bezw. die Zurückführung auf ein allgemeines Prinzip ist von Einstein (1905) gegeben wor- den. Dieses Einsteinsche „Relativitäts- prinzip" besagt: „Die Gesetze, nach denen sich die Zustände in physikalischen Syste- men ändern, sind unabhängig davon, auf welches von zwei relativ zueinander in gleichförmiger Translationsbewegung befind- lichen Koordinatensystemen diese Zustands- änderungen bezogen werden." D. h. trans- formiert man beim Uebergang von einem Bezugssystem zu einem anderen die Ko- ordinaten in der geeigneten Weise, dann wird derselbe physikalische Vorgang in beiden Systemen durch dieselbe Gleichung ausgedrückt; somit ist kein System vor dem anderen bevorzugt, es gibt unendlich viele gleichberechtigte, in denen keinerlei Mes- sungen irgendwelche Unterschiede ergeben können. Es läßt sich durch keine Messung in einem materiellen System feststellen, ob dieses System ruht oder ob es sich mit beliebiger gleichförmiger Geschwindigkeit be- wegt. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß die Erdbewegung keinen Einfluß auf den Verlauf der von uns beobachteten elektro- dynamischen Erscheinungen haben kann. Betrachtet man als physikalischen Vor- gang die Ausbreitung des Lichts von einer punktförmigen Lichtquelle im leeren Raum, das eine Mal im System xyz, das relativ zur Lichtquelle ruhen soll, das andere Mal in einem gegen die Lichtquelle bewegten System x'y'z', dann erkennt man, daß eine konstante Lichtfortpflanzungsgeschwindig- keit c nach allen Richtungen durch bloße Abänderung der x'y'z' gegenüber den xyz nicht zu erzielen ist. Vielmehr ist es erforder- lich, auch die Zeit t' im bewegten System anders zu wählen als im ruhenden System, damit x2 + y2 + z2 — c2 t2 = x'2 -f- y'2 + z'2 — c2t'2 (Gleichung der sich mit der- selben Geschwindigkeit c ausbreitenden Ku- gelwelle) erfüllt sei. Hieraus ergeben sich, falls w die Relativgeschwindigkeit des be- wegten Systems gegen das ruhende parallel der X-Achse ist, ist die Transformations- gleichungen x' = ß(x— tot), y' = y, z' = z, vr» 1 t' = //(t — -- x) mit ß=j= =■• ' ■ c2 ^ Vi— w2/02 Elektrodynamik 42< Diese Gleichungen, die schon von Lorentz benutzt worden sind, werden als Lorentz- transformationen bezeichnet; aus ihnen folgt die Lorentzsche Kontraktion in der Rich- tung der Bewegung. Die Anwendung des genannten Prinzips auf die Elektrodynamik stellt also die For- derung, Feldgleichungen zu finden, die gegen die Lorentztransformationen invariant sind und, bezogen auf das relativ zur Materie ruhende System, mit den Max well sehen Gleichungen identisch werden. Solche Glei- chungen hat Minkowski angegeben: sie lauten, in gewöhnliche Vektorschreibweise übertragen : 'X c rot £> _4-t+eto|orot« = - dt l [»£] - £(£ + l [»»]), » - l [»<£] = />{$?- I io®]) (to,(g+ -[»»]) I = ^|®+-[h,58] Diese Gleichungen gelten mit derselben Genauigkeit wie das Relativitätsprinzip; für genügend kleine Werte von ro/c und für nicht magnetisierbare Körper (// = 1) gehen sie in die angeschriebenen Lorentzschen Gleichungen über. Die ponderomotorische Kraft, zu der Minkowski gelangt, wird, spezialisiert auf einen ruhenden, isotropen, homogenen Kör- per im Magnetfeld, von Null verschieden, wenn dieser Körper im Magnetfeld von einem Leitungsstrom durchflössen wird; sie wird aber Null, wenn der äquivalente Verschiebungsstrom vorhanden ist (Ein- stein und Laub): es besteht also in dieser Hinsicht ein prinzipieller Unterschied zwischen Leitungs- und Verschiebungsstrom, ein Um- stand, der mit der sonstigen grundsätzlichen Gleichheit dieser beiden Komponenten des Gesamtstroms wenig harmoniert. Außerdem genügt die Minkowski sehe Kraft dem Impulssatz nicht, d. h. die Summe aus der mechanischen und der elektromagnetischen Bewegungsgröße ist für ein abgeschlossenes System nicht konstant. Indem Abraham von der Inipulsgleichung und der Poynting- schen Energiegleichung ausging, konnte er die ponderomotorische Kraft aus einer Reihe von Spannungsgrößen ableiten, die zum Teil mit den gewöhnlichen Max well sehen Spannungen identisch sind, zum Teil zu- sammenhängen mit den Komponenten des Poyntingsehen Strahlvektors, und aus denen durch eine verwickelte Differentialoperation die Komponenten der ponderomotorischen Kraft erhalten werden können. Diese ge- nügen nun sowohl dem Relativitätsprinzip als auch dem Impulssatz. Nicht unerwähnt bleibe, daß die Ein- st einsehe Form der Relativitätstheorie manchen Gegner gefunden hat. Insbesondere wird die Aenderung im Gang der Uhren und die Kontraktion starrer Körper als allzugroße Schwierigkeit empfunden. Es scheint, daß auch ohne diese eine Theorie physikalischer Vorgänge, die die Nichterkenn- barkeit der absoluten Bewegung ergibt, ge- funden werden kann. Die Relativitätstheorie hat die alte Frage nach einem stoffartigen Träger der Licht- bewegung, dem „Aether", von neuem auf- gerollt. Wenn von diesem Stoff durch keinerlei Experimente festzustellen ist, ob er ruht oder sich in beliebiger gleichförmiger Bewegung befindet, dann erscheint die Aetherhypothese unnötig; vielmehr treten dann die elektromagnetischen Felder als selbständige Gebilde auf, während der nicht von Strahlung durchsetzte, von ponderabler Materie freie Raum wirklich leer ist (Ein- stein). Hiernach ist die Energie etwas für sich Existierendes, sie wird von Lichtquellen emittiert und besitzt Masse und Individuali- tät (Planck's Energieelement), verhält sich also nun ihrerseits stoffartig. Literatur. L e h r b ü c h e r u n d s u s a m m e n - f as sende Darstellungen: P. Di •« de, Physik des Aethers, Stuttgart 1S9.}. — A. Wiiihelmann, Handbuch der Physik, .'■ Aufl., Bd. V (1908): Elektrodynamik (K. Waitz), In- duktion (Derselbe), Die Theorien der elektrischen Erscheinungen (L. Graetz). — Ency k 1 op ä d i e der mathem. Wissenschaften, Bd. V, -' (1904): Standpunkt der Fernwirkung (Heiß und Sommerfeld) , Maxioells elektromagnetische Theorie (H. A. Lorentz). Elektronentheorie (Derselbe). — Abraham und I'öppl, Theorie der Elektrizität. .'B>h., 4. bezw. 2 Aufl., Leipzig 1912 und 1908. — G. Mie, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus, Stuttgart 1910. Einzelwerke und gesammelte Ab- h a n d 1 11 n g e n : C. Xeumann, Du elektrischen Kräfte. 2 Bde., Leipzig 1873 und 1878. — C. Maxwell, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus (deutsche Uebersetzung von B. Weinstein), 2 Bde., Berlin 1888. — H. Hertz, Gesammelte Werke, S. Aufl., besonders Bd. II, Leipzig 1894. — H. A. Lorentz, Versuch einer Theorii der elektrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern, 428 Elektrodynamik — Elektrokapillarität Leipzig 1906. — M. Laue, Bas Rclativitäts- ! prinzip, Braunschweig 1911. Neuere Abhandlungen: Röntgen, Berl. Ber. 195, 1SS5. — Eichenwald, Phys. Z. 2, 703, 1901; Ann. d. Phys. 11, 1, 1903; Phys. Z. 4, 308, 1903; Ann. d. Phys. 13, 919, WO4. — Wilson, Proc. Boy. Soc. 73, 490, 1904. — Michelson und Morley, SM. Journ. 34, 333, 1887. — Trouton und Noble, Proc. Boy. Soc. 72, 132, 1903. — Cohn, Ann. d. Phys. 7, 29, 1902. — H. A. Lorentz, Proc. Amsterdam 6, 809, 1904. — Einstein, Ann. d. Phys. ij, 891, 1905; Phys. Z. 10, 185 und SL9, 1909. — H. Minkowski, Gott. Nachr. 53, 1908; Phys. Z. 10, 104, 1909. — W. Ritz, Ann. chim. phys. 13, 145, 1908; Phys. Z. 903, 1908. — Abraham, Rend. Circ. Mal. di Palermo 30, 1910; Beibl. 34, 1253, 1910. H. Scholl. Elektrokapillarität. 1. Einleitung. Definition und Bedeutung der elektrokapillaren Erscheinungen. 2. Meß- methoden. 3. Theorie der Elektro kapillarkurve: a^ Theorie von Lippmann und Helmholtz; b) Theorie von Warburg-Meyer; c) Theorie von Nernst. 4. Theorie der Tropfelektroden: a) Theorie von Helmholtz; b) Theorie von I Nernst. 5. Experimentelle Bestätigungen der Theorien von Lippmann-Helmholtz-Nernst: a) an reinem Quecksilber; b) an Amalgamen. 6. Abweichungen von der Theorie: a) der Elektro kapillarkurve; b) der Tropfelektroden. 7. Theorie der Abweichungen von F. Krüger. 8. Gestalt der Elektrokapillarkurve. 9. Folge- rungen in bezug auf die Lage des absoluten Nullpunktes der Potentialdifferenz Metall- Lösung: a) aus den Bestimmungen des Maximums der Oberflächenspannung und der Tropfelektrodenpotentiale; b) aus Messungen an Tropfelektroden nach der Nernstschen Nullmethode; c) aus Möllers Messungen des Randwinkels an einer Wasserstoffblase auf festen Metallen; d) aus Krouchkolls Messungen der Dehnungsströme; e) aus Strömungsströmen, den Strömen durch fallende Teilchen, der Wan- derung kolloidaler Metalle im elektrischen Felde, f ) aus der radioaktiven Methode von G. v. Hevesy. 10. Elektro kapillare Bewegungserscheinungen; Kapillartelephon. 11. Kapillarelektrische Er- scheinungen an Quecksilber in nichtwässerigen Lösungsmitteln und an der Grenze zweier Lösungsmittel. 12. Kapillarelektrische Er- scheinungen an geschmolzenen Metallen unter geschmolzenen Salzen. 1. Einleitung. Definition und Bedeu- tung der elektrokapillaren Erscheinungen. Unter Elektrokapillarität versteht man die Beeinflussung der Oberflächenspannung durch elektrische Beladung. Eine solche Beeinflus- sung ergibt sich aus der elektrostatischen Abstoßung der elektrischen Ladung und ist in manchen Fällen leicht zu beobachten: So sucht sich eine elektrisch geladene Seifen- blaseauszudehnen, eingeladenes Quecksilber- tröpfchen zeigt eine Verkleinerung der Ober- flächenspannung usw. Diese Effekte sind je- doch nur klein, da sich große Flächendichteii der elektrischen Ladung nicht erzielen lassen. Viel stärker sind die Wirkungen, die aus der elektrischen Ladung der natürlichen Doppelschichten sich ergeben, welche an der Grenze zweier Phasen normalerweise stets vorhanden sind und deren Flächendichteii außerordentlich viel größer sind, wie die durch elektrostatische Aufladung zu erhaltenden. Die Abhängigkeit der Oberflächenspannung solcher Grenzflächen von der Flächendichte oder der Potentialdifferenz an denselben bildet den eigentlichen Inhalt der Erscheinungen, welche man unter dem Namen der Elektro- kapillarität zusammenfaßt; ihr Interesse besteht darin, daß sie für die Grenzfläche zweier Flüssigkeiten zu den wenigen gut meßbaren Eigenschaften gehören, die ein- gehendere Schlüsse auf die elektrischen und allgemein physikalisch-chemischen Zustände solcher Grenzflächen gestatten. Die natürliche Potentialdifferenz einer Flüssigkeit gegen einen Gasraum können wir nicht oder nur schwer beeinflussen, die elek- trokapillaren Eigenschaften dieser Grenz- flächen kommen daher nicht in Betracht. Die vorliegenden Untersuchungen beschrän- ken sich vielmehr naturgemäß auf die elektrokapillaren Eigenschaften der Grenz- fläche zweier Flüssigkeiten, da wir nur diese durch elektrische Polarisation in ihrer Po- tentialdifferenz beeinflussen können: die Abhängigkeit der Oberflächenspannung der Grenzfläche zweier Flüssigkeiten von der polarisierenden Spannung und die daraus folgenden Schlüsse bilden daher den Haupt- inhalt der Lehre von der Elektrokapillarität. Auch hier ist eine weitere Einschränkung insofern zu machen, als bei der weit über- wiegenden Anzahl aller Untersuchungen die eine Flüssigkeit das Quecksilber bildet; das ist damit begründet, daß die Theorie der Potentialdifferenzen zwischen einem Metall und einer Flüssigkeit weitgehend entwickelt ist, während über die Berührungspoten- tialdifferenzen an der Grenze zweier ver- schiedener Flüssigkeiten oder Lösungsmittel im allgemeinen noch wenig bekannt ist. Das weitgehende Interesse, das in der großen Anzahl der Arbeiten über Elektrokapillarität zutage tritt, ist aber vor allem begründet in der durch die theoretische Deutung der Elektrokapillarkurve des Quecksilbers, welche die Abhängigkeit der Oberflächen- spannung von der polarisierenden elek- tromotorischen Kraft darstellt, eventuell gegebenen Möglichkeit, den Punkt des Verschwindens der Potentialdifferenz zwi- schen Quecksilber und dem Elektrolyten, Elektrokapillarität 420 den sogenannten absoluten Nullpunkt der Potentialdifferenz zu bestimmen, der nach der Nernstschen Theorie der elektrolyti- schen Wirksamkeit der Ionen definiert* ist durch die Gleichheit der Lösungstension P des Metalls und des osmo- tischen Druckes p der Ionen. 2. Meßmethoden. Zur experimentellen Be- stimmung der Ober- flächenspannung an der Grenzfläche Quecksilber- Elektrolyt dient die in Figur 1 skizzierte Anord- nung. Eine in eine feine Spitze auslaufende Ka- pillare A ist mit Queck- silber gefüllt, dessen Ge- wicht von der Ober- flächenspannung ge- tragen wird: sie taucht in ein mit dem zu unter- suchenden Elektrolyten gefülltes Gefäß B. dessen Boden mit Quecksilber von einer im Ver- gleich zu der kleinen Quecksilberkuppe in der Kapillarenspitze großen Oberfläche bedeckt ist. Das Quecksilber in der Ka- pillare wird mit dem negativen, die große Qiiecksilberfläche auf dem Boden mit dem positiven Pol einer Elektrizitätsquelle ver- bunden, die variable Spannungen abzu- nehmen gestattet, also mit irgendeiner Po- tentiometeranordnung oder einem Gefäll- draht, Widerstandskasten oder ähnlichem. Die Stellung des Meniskus in der Ka- pillare wird mit einem Mikroskop beob- oberfläche unverändert bleibt. Infolge der so veränderten Spannung an dem Menis- kus nimmt die Oberflächenspannung der Grenzfläche Quecksilber-Elektrolyt zii, der Fig. achtet. Als Elektrolyt mag z. B. verdünnte Schwefelsäure dienen. Legt man nun, von Null anfangend, höhere und höhere Span- nungen an die Quecksilberelektroden, so wird der kleine Quecksilbermeniskus in der Kapillare polarisiert, während die Potentialdifferenz an der großen Quecksilber- ig, l. Meniskus steigt daher in der Kapillare höher. Mit zunehmender Spannung steigt der Meniskus weiter, erreicht ein Maximum, um dann wieder zu sinken. Das Ende der Kurven wird durch eintretende Wasser- zersetzung bedingt. Trägt, man die Ober- flächenspannung des Quecksilbers als Or- dinate und die polarisierende Spannung als Abszisse auf, so erhält man etwa eine Kurve, wie sie in Figur 2 wiedergegeben ist und die einer Parabel ähnlich ist: der aufsteigende Ast ist jedoch fast stetssteiler als der fallende. Nä- heres über die Kurvenform soll später gesagt werden. Man beobachtet jedoch für genauere Messungen nicht so. daß man den Ausschlag selbst mißt, sondern man erhöht durch ein verstellbares Quecksilberniveau den auf der Quecksilbersäule lastenden Druck soweit, daß der Meniskus bei jeder polarisierenden Spannung auf derselben Stelle steht und mißt den jeweils dazu erforderlichen Druck, der der Oberflächenspannung proportional ist. Man nennt ein derartiges Instrument Kapillarelektrometer. Bei geeigneter Anord- nung sehr feiner Kapillare gewähr- leistet es einen ziemlich hohen Grad von Genauigkeit und gestattet bis Vioooo Volt abzulesen. Fig. 3 zeigt die Ausführungs- form eines Kapillarelektrometers in der ver- tikalen Form (Lippmann), Fig. 4 ein solches in der horizontalen Form (Ostwald). Letz- tere ist besonders leichtund billig herzustellen, und wird daher häufig; als Nullinstrument zur Messung elektromotorischer Kräfte 430 Elektrokapillarität usw. benutzt. Seine Kapazität ist jedoch imVergleich zu der der elektrostatischen Elek- trometer recht groß, so daß es für alle Zwecke nicht geeignet ist. Wichtig ist, daß die beiden Elektroden des Kapillarelektro- BEliiiini|iiiiiiniig iiin'TygQigg ^ Wgfllllllil iiwmi Fig. 3. meters im unbenutzten Zustande stets kurzgeschlossen sind, um bestehende Poten- tialdifferenzen auszugleichen. Außer nach dieser Kapillarmethode ist die Oberflächen- spannung Quecksilber-Lösung noch ge- messen nach einer dynamischen Methode, nämlich mittels Wägung der Tropfen; sie Fig. 4. ist weniger bequem, liefert aber ebenfalls gute und mit der ersten Methode überein- stimmende Resultate. Ferner ist auch die Methode der schwingenden Strahlen zur Messung der Oberflächenspannung und zwar von sehr verdünnten Amalgamen benutzt worden. Auch aus dem Krümmungsradius eines Quecksilbertropfens in einer Lösung läßt sich (König) das Maximum der Oberflächen- spannung bestimmen. 3. Theorie der Elektrokapillarität. 3a) Theorie von Lippman und Helm- holtz. Die erste bahnbrechende Aufklärung sowohl in experimenteller wie in theo- retischer Hinsicht brachte eine Arbeit von G. Li pp mann. Lippmann faßte die po- larisierbare Quecksilberelektrode wie einen Kondensator auf und den polarisierenden Strom als einen Ladungsstrom, dessen gesamte Elektrizitätsmenge sich als negative und positive Belegung der Doppelschicht an der Grenzfläche Quecksilber - Elektrolyt auf- lagert. Mit Hilfe eines thermodynamischen Kreisprozesses leitete er eine Beziehung zwischen der Oberflächenspannung y und der polarisierenden Spannung E ab, welche lautet ÖE = ~ £' worin s die elektrische Flächendichte der Doppelschicht pro Flächeneinheit bedeutet. Daraus folgt bekanntlich, daß y ein Maxi- mum ist für e = 0, d. h. also dann, wenn die Flächendichte der Doppelschicht, also auch die Potentialdifferenz an der Grenze Queck- silber - Elektrolyt selbst gleich Null ist. Helmholtz erweiterte die Theorie und gab vor allem eine anschauliche Deutung der Er- scheinung. Beim Maximum der Oberflächen- spannung, wo also nach der Theorie die Be- ladung Null ist, herrscht die natürliche unbeeinflußte Oberflächenspannung Queck- silber-Elektrolyt, vor und hinter dem Maxi- mum ist das Quecksilber positiv respektive negativ geladen und die elektrostatische Ab- stoßung der Belegung vermindert die Ober- flächenspannung. Jedenfalls war nach diesen Theorien in der Bestimmung der polarisierenden Spannung, die zur Erreichung des Maxi- mums der Oberflächenspannung erforderlich ist, ein Mittel ge- sehen, um den Nullpunkt der Potentialdifferenz Quecksilber- Elektrolyt, den sogenannten ab- soluten Nullpunkt der Potential- differenz zu bestimmen. 3b) Theorie von War- burg-Meyer. Eine wesentlich andere Theorie hat später Warburg gegeben. Er wies vor allem darauf hin, daß die elektromotorische Kraft der Elektrokapillarität 431 Polarisation die einer Konzentrationskette sei, daß der polarisierende Strom zum weitaus größten Teil dazu diene, die Konzentration des Quecksilbersalzes, welches sich unter Mitwirkung des Luftsauerstoffes in dem Elektrolyten an der Quecksilberelektrode stets bildet, an der Elektrode zu verändern, also ein dem gegenüber sogenannter Leitungsstrom sei, der Anteil, welcher zum Auf- laden der Doppelschicht dient, der Ladungs- strom verschwindend sei, indem die Dicke der Doppelschicht als relativ groß, die Flä- chendichte also als klein betrachtet wurde. Diese Konzentrationsänderungen des Queck- silbersalzes an der Elektrode, welche kaum eine Aenderung in den Eigenschaften des Elektrolyten bedingen, führen für sich noch nicht zu Aenderungen der Kapillarität der Grenzfläche. Diese ergaben sich für War- burg daraus, daß er auf Grund thermo- dynamischer Betrachtungen von Gibbs eine Kondensation des Quecksilbersalzes an der Elektrode, also eine größere Dichte desselben an dieser als in der Lösung an- nahm. Die Tendenz des Salzes, sich auf dem Quecksilber zu kondensieren, führt zu einer Abnahme der Oberflächenspannung, um so stärker, je größer die Verdichtung ist Die Anwendung der Thermodynamik er gibt das Resultat öE~ _ a worin r die Oberflächendichte des Salzes, a dessen elektrochemisches Aequivalent bedeutet. y erreicht seinen größten Wert also für r= 0. Ueber r ist bei dieser Ablei- tung die Annahme gemacht, daß sie nur durch den polarisierenden Strom schnell geändert wird und nur sehr langsam sich mit der Lö- sung ins Gleichgewicht setzt. Diese Theorie macht gar keine Aussage über die Lage des absoluten Nullpunktes der Potentialdifferenz, sie führt ohne beson- dere Annahmen nicht zu einer Deutung des absteigenden Astes der Elektrokapillar- kurve. Eine Ergänzung der Warburgschen Theorie in dieser Richtung gab G. Meyer, indem er den absteigenden Ast durch Amal- gambildung zu erklären suchte. Hiergegen ist jedoch einmal einzuwenden, daß die Amalgame der hier besonders in Frage kom- menden Alkalimetalle, also wenn man z. B. Na 2SO „-Lösung als Elektrolyt benutzt, wegen der außerordentlich großen Lösungs- tension der letzteren bei den gewöhnlich angewandten Spannungen nur überaus ver- dünnt sein können, so daß ihre Oberflächen- spannung von der des Quecksilbers kaum verschieden sein wird. Tatsächlich findet man denn auch, wie Gouy zuerst feststellte und neuerdings Christiansen durch besondere Messungen bestätigte, daß die unteren (am stärksten kathodisch polarisierten) Teile des absteigenden Astes in den Lösungen von Salzen mit den verschiedensten Kationen, welche die Amalgame bilden müßten, inner- halb der Messungsfehler zusammenfallen. Wäre also der absteigende Ast durch Amalgambildung zu erklären, so ist nicht einzusehen, warum die verschiedensten Amal- game die gleiche Kurve ergeben sollten. Bei Anwendung von Säuren als Elektrolyte müßte sich ferner ein Wasserstoffamalgam bilden, das aber chemisch nicht bekannt ist. Wesentlich neu und zutreffend ist an der Warburgschen Theorie der Hinweis, daß der polarisierende Strom primär Konzen- trationsänderungen an der Elektrode bewirkt, sonst aber gibt sie auf verschiedene Fragen keine befriedigende Antwort. 3c) Theorie von Nernst. Wesentlich verändert wurden die Vorstellungen über die Vorgänge in der Grenzschicht Metall- Elektrolyt durch die Nernst sehe Theorie der Lösungstension. Nach ihr ist bekanntlich die Potentialdifferenz Metall-Elektrolyt eine Funktion der Ionenkonzentra- tion. Diese kann sowohl durch Elektrolyse wie rein chemisch durch Ausfällen geändert, werden. Durch Zusetzen von Elektrolyten, welche die Ionenkonzentration durch Aus- fällen mehr und mehr verringern, muß man wenigstens angenähert die ver- schiedenen Teile der Elektrokapillarkurve erhalten, was Nemst durch den Versuch bestätigt fand. Ist die Ionenkonzentration gegeben, so stellt sich nach Nernst die ihr entsprechende Potentialdifferenz und damit also auch die ihr entsprechende Doppelschicht mit der zugehörigen elektrischen Flächen- dichte momentan von selbst ein: Ionen- konzentration, Potentialdifferenz undFlächen- dichte sind stets im Gleichgewicht. Hier- nach ist die primäre Wirkung einer Pola- risation der Elektrode eine Konzentrations- änderung, wie dies auch Warburg annahm; die entsprechende Aenderung der Potential- differenz und Flächendichte erfolgt von selbst. Der Grund der Verringerung der Oberflächen- spannung diesseits und jenseits des Maxi- mums ist nach der Nernst sehen Theorie natürlich ganz ebenso wie bei der von Helm- holtz, die elektrostatische gegenseitige Ab- stoßung der geladenen Oberflächenschichten. Aber der Mechanismus der Ausbildung der Potentialdifferenz ist ein anderer, vor allem ist wesentlich, daß nach Lippmann-Helm- holtz sich die Flächendichte nur unendlich langsam von selbst ins Gleichgewicht mit der Lösung setzt, daß sie daher nur durch den polarisierenden Strom geändert werden kann, während, wie erwähnt, nach Nernst sich die zu einer bestimmten Konzentration, sei sie durch Polarisation oder chemisch oder sonstwie herbeigeführt, stets die zugehörige AOO 4o.s ElektrokapiUarität Potentialdifferenz und Flächendichte mo- mentan von selbst einstellt. 4. Theorie der Tropfelektroden. 4a) Theorie von Helmholtz. Schon Helmholtz hatte aus seiner Theorie noch einen weiteren Schluß gezogen, nämlich, daß die Ladungsdichte e, die ja nach seiner Anschauung nur unendlich langsam mit der Lösung sich ins Gleichgewicht setzt, sich bei steter Vergrößerung der Oberfläche mehr und mehr verringern und schließlich der Null nähern müsse, daß also ein tropfende Elek- 1 trode die Potentialdifferenz Null gegen die Lösung annehmen müsse. Auf Veranlassung von Helmholtz konnte dann König zeigen, daß in der Tat ein Kapillarelektrometer, dessen Quecksilbermeniskus mit einer Tropfelektrode in derselben Lösung leitend verbunden, also auf dasselbe Potential ge- bracht war, den dem Maximum der Ober- flächenspannung entsprechenden Wert zeigte. Von der so sich ergebenden Möglichkeit, mittels Tropfelektroden den absoluten Null- punkt der Potentialdifferenz Quecksilber- Elektrolyt zu bestimmen, hat dann besonders Ostwald in weiterem Umfang Gebrauch gemacht. 4b) Theorie von N ernst. Da nach der Nernstschen Theorie der sion sich die Potentialdifferenz Elektrolyt stets momentan herstellt, so könnte es auf den scheinen, als wenn nach ihr elektrode dieselbe Potentialdifferenz die Lösung besitzen müsse wie eine ruhende. Eine nähere Betrachtung zeigt indes, daß dies nicht zutrifft, daß vielmehr auch nach der Nernstschen Theorie eine Tropf elektrode eine Potentialdifferenz annehmen muß, die dem absoluten Nullpunkt unter günstigen Umständen wenigstens nahekommt. Der Mechanismus der Tropfelektrodenwirksam- keit ist nach dieser Theorie jedoch ein völlig anderer. Die Aenderung der Potentialdifferenz ergibt sich nach ihr daraus, daß zur Ausbil- dung der Doppelschicht, welche der jeweiligen Potentialdifferenz entspricht, Ionen der Lö- sung entzogen werden. Dadurch wird die Lösung in der Nähe der Tropfelektrode z. B. in einer Merkurosulfat enthaltenden Schwefelsäurelösung allmählich immer ver- dünnter werden, ein Vorgang, der sich lange fortsetzen müßte, bis die der Tropfelektrode so verdünnt geworden ist, daß sich keine Doppelschicht mehr bildet, bis also die Tropfelektrode keine Potential- differenz gegen die Lösung mehr zeigt. Freilich werden Diffusion und Konvektion die durch die Tropfelektrodenwirkung fortge- nommenen Ionen zum Teil ergänzen, doch lassen sich diese störenden Wirkungen durch geeignete Anordnungen sehr klein machen. Dort, wo die Wiedervereinigung der Queek- nach der Konzen- Lösungsten- Quecksilber- von selbst ersten Blick eine Tropf- so- Lösung an silbertropfen stattfindet, muß Theorie natürlich umgekehrt eine trationsvermehrung stattfinden. 5. Experimentelle Bestätigungen der Theorie von Lippmann-Helmholtz-Nernst. 5a) An reinem Quecksilber. Die Lipp- mann-Helmholtzsche Theorie, respektive die NernstscheModifikation derselben wurde zunächst in mannigfacher Hinsicht gut be- stätigt: Das Maximum der Oberflächen- spannung war in einer großen Zahl von Lö- sungen sehr nahe gleich groß; die Differenz der Spannungen, welche das Quecksilber in verschiedenen Elektrolyten zum Maximum der Oberflächenspannung polarisiert, er wies sich gleich der elektromotorischen Kraft einer aus Quecksilber elektro den in diesen Lösungen gebildeten Kette: die Tropf- elektrode zeigte dasselbe Potential wie eine zum Maximum der Oberflächenspannung po- larisierte Elektrode, wenigstens wenn der von Paschen, der sich um die Tropfelektroden- messungen besonders verdient gemacht hat, angewandte Kunstgriff beachtet wurde, den Berührungspunkt der tropfenden Elek- trode mit dem Elektrolyten durch Verlegung ihres Zerreissungspunktes in die Flüssigkeits- oberfläche zur Herabsetzung der schädlichen Wirkung der Diffusion möglichst klein zu machen. Die speziellere Nernstsche Theorie der Tropfelektroden wurde von Palmaer mittels der in Figur 5 skizzierten Anordnung schlagend bestätigt, der nach- wies, daß die Lösung in der Nähe der Tropfelektrode ver- dünnter, und dort, wo die Tropfen sich wieder vereinigen, konzentrierter wird. Die Folgerung, daß in einer Lösung, in welcher der osmotische Druck der Ionen kleiner ist als die Lösungstension des Quecksilbers, umgekehrt die Tropfelektrode selbst positiver als das ruhende Quecksilber ist entsprechend der jetzt an jener stattfindenden Konzen- trationsvermehrung, hatte be- reits Paschen in konzen- trierter Cyankaliumlösung be- stätigt gefunden. Quecksilber- ionen sind in der Nähe der Quecksilberelektroden auch in den reinen Säure- und Alkalimetall- salzlösungen stets vorhanden, da sie sich, wie bereits War bürg zeigte, unter Mitwir- kung des Luftsauerstoffs durch Auflösen des Quecksilbers schnell bilden. In mancher Hinsicht definierter sind natürlich die Ver- hältnisse, wenn von vornherein etwas Queck- silbersalz, z. B. Merkurosulfat zu Schwefel- säure, zugesetzt wird ~ JLBl Ein größerer Zusatz Elektrokapillarität 433 an Quecksilberionen ändert jedoch die Er- 1 In den Komplexsalzlösungen von KCNS, scheinungen insofern, als die notwendige KJ und Na2S verhält sich also das Queck- Voraussetzung derselben, die leichte Pola-isilber durchaus anormal; wie die letzte Ko- risierbarkeit der Quecksilberelektrode, dann lumne zeigt, sind die Differenzen der elektro- nicht mehr zutrifft; dies stört einerseits die motorischen Kräfte der Elemente und der einwandfreie Reproduzierung der Elektro- Differenz der Einzelpotentialdifferenzen, die kapillarkurven, da die polarisierenden Ströme sich aus dem Maximum der Oberflächenspan- leicht zu stark werden, vor allem aber dienung ergeben, sehr beträchtlich, während Wirksamkeit der Tropfelektroden. Das ist sie gleich Null sein sollten. Ferner hat das z. B. in einer konzentrierten Merkuronitrat- Maximum der Oberflächenspannung selbst in diesen Lösungen nicht den normalen Wert, den es in den gewöhnlichen Lösungen zeigt, sondern ist um so mehr erniedrigt, je stärker komplex das betreffende, die Lösung bildende Salz ist. Man übersieht diese Verhältnisse am besten, wenn man, wie das Gouy getan hat, die Elektrokapillarkurven der verschiedenen Salzlösungen so übereinander zeichnet, daß sie auf die gleiche Po- tentialdifferenz des Quecksilbers gegen die Lösung bezogen sind ; verhielte sich dann alles normal, so müßten die Maxima alle an der- selben Stelle liegen und gleich hoch sein. Wie bereits erwähnt und die folgende Figur 6 deutlich zeigt, ist dies bei den Komplexsalz- lösungen nun keineswegs_der Fall. Das lösung in so hohem Maße der Fall, daß die Tropfelektrode fast überhaupt keine Poten- tialdifferenz gegen die ruhende Elektrode mehr zeigt, da infolge der hohen Quecksilber- ionenkonzentration durch Diffusion und Kon- vektion die durch die Doppelschichtenbildung an den Tropfen fortgeführte Ionenmenge leicht und völlig ersetzt wird. 5b) Experimentelle Bestätigungen der Theorien von Lippmann-Helm- holtz-Nernst an Amalgamen. Da wir kein zweites bei gewöhnlicher Temperatur flüssiges Metall besitzen, so war die überaus wünschenswerte Kontrolle der Bestimmung des absoluten Nullpunktes an anderen Metallen nicht ausführbar Bekanntlich aber zeigen schon sehr verdünnte Amalgame die Potentiale der reinen Metalle; an solchen Amalgamen von Wasser nicht zersetzenden, aber unedler als Quecksilber sich verhalten- den Metallen war daher durch Bestimmung des Maximums der Oberflächenspannung eine Prüfung möglich, die auch, wie Rothmund zeigte, an Amalgamen von Kupfer, Wismut und Blei eine gute Bestätigung ergab. 6. Abweichungen von der Theorie. 6a) Abweichungen von der Theorie der Elektrokapillarkurve. In den Lösungen der typischen Salze und Säuren zeigt sich also die Lippmann-Helmholtz- Nernstsche Theorie gut bestätigt: dagegen fanden zuerst Rothmund und später G. Meyer erhebliche Abweichungen, als sie Komplexsalzlösungen untersuchten. Die Differenz der Spannungen e2 und e2, welche Quecksilber in zwei verschiedenen Lösungen mit natürlich auch verschiedener Quecksilber- ionenkonzentration zum Maximum der Ober- flächenspannung polarisieren, sollte theore- tisch gleich der elektromotorischen Kraft E des galvanischen Elementes sein, das aus Quecksilberelektroden in diesen beiden Lösungen gebildet ist. Dies fand sich nun, wie die folgende Tabelle zeigt, durchaus nicht mehr bestätigt, wenn die eine der die eines Komplexsalzes war: Fig. Maximum in diesen Lösungen ist stark er niedrigt und nach der kathodischen Seite hin verschoben. Die Versuche sind an- gestellt in einer zehnprozentigen K2C03- Lösung, der an der (Kapillare) je nur KCNS, Na2S zugesetzt Lösung an der großen unverändert blieb. Die kleinen Elektrode 1% KCl, KBr, war, während die Elektrode (Anode) Rb- und Cs-Salze Lösungen Galvanische Elemente Hg Hp Hg KCl) KCNS | KClfKJ | KCl|Na.S | Hg Hg He — 0,028 0,156 0,148 0,122 0,561 0,284 0,365 0.390 0,983 Handwörterbuch der Naturwissenschaften. 0.146 0,226 0,416 Band III verhalten sich ebenso, maßgebend ist also nur das komplexbildende Anion. Auffallend ist zunächst das völlige Zusammenfallen des unteren Teiles des abfallenden Zweiges der Kurven bei starker kathodischer Polari- sation, das, wie schon erwähnt, durch- aus gegen die Amalgamtheorie von G. Meyer spricht. Die Abweichungen vom normalen Kurvenverlauf zeigen sich erst in der Nähe des Maximums, und um so früher, je stärker komplex das die Lösung bildende Salz ist. In den Lösungen der tv- 28 434 Elektrokapillarität pischen Salze und Säuren fallen die Kurven von der kathodischen Seite an gerechnet bis über das Maximum hinaus sehr angenähert zusammen. Es kann hiernach keinem Zweifel unterhegen, daß nicht immer beim Maximum der Oberflächenspannung die Potentialdifferenz Null herrscht; nimmt man, was das plausibelste ist, an, daß in den Lö- sungen der typischen Salze und Säuren, in denen die Oberflächenspannung beim Ma- ximum dieselbe ist und bei denen sich aus der Differenz der zur Hervorbringung des Maximums der Oberflächenspannung er- forderlichen Potentiale die elektromotorische Kraft der betreffenden Kette richtig berechnen läßt, wirklich der Theorie entsprechend beim Maximum die Potentialdifferenz Null herrscht, so ist das Quecksilber beim Ma- ximum der Oberflächenspannung in den Lösungen von KONS, KJ und Na2S in zu- nehmendem Grade negativ geladen. 6b) Abweichungen von der Theorie der Tropfelektroden. Ganz analoge Abweichungen von der Theorie zeigen auch die Tropfelektroden in den Lösungen kom- plexer Salze. Da nach der Theorie an einer Tropfelektrode in jeder Lösung stets die Potentialdifferenz Null gegen die Lösung herrschen sollte, sollten zwei Tropfelektroden in zwei verschiedenen Lösungen keine, oder höchstens jene kleinen Potentialdiffe- renzen gegeneinander zeigen, welche an der Berührungstelle zweier verschiedener Salz- lösungen bestehen und die, nach der Nernst- schen Theorie exakt berechenbar, meistens nur wenige Hunderstel Volt betragen. Un- tersuchen wir aber eine Tropfelektrode in einer Komplexsalzlösung, so zeigt sie gegen eine solche in einer normalen Lösung eine Potentialdifferenz bis zu mehreren Zehntel Volt, die also weit die möglicherweise an den Berührungsstellen der beiden Lösungen vorhandenen Potentialdifferenzen über- schreitet. Die Potentialdifferenzen solcher Tropfelektroden in den genannten Lösungen sind unter e3 in die vorige Tabelle mit auf- genommen. Diese starken Abweichungen liegen nicht etwa in dem Sinne, daß die Tropf- elektroden in den Komplexsalzlösungen wegen zu geringer Polarisierbarkeit infolge starker Diffusion, etwa wie in dem oben erwähnten Falle der Merkuronitratlösung, nicht völlig entladen würden, sondern vielmehr im ent- gegengesetzten Sinne: sie sind negativ geladen gegen die Tropfelektroden in den normalen Lösungen. Am auffallendsten aber ist, daß diese Potentialdifferenzen der Tropfelektroden in den Komplexsalzlösungen gegen die in den normalen Lösungen fastgenau dieselben Werte haben, wie die Abweichung der Differenz der Einzelpotentiale, aus dem Maximum der Oberflächenspannung bestimmt, von der elektromotorischen Kraft der zugehörigen galvanischen Kette, wie der Vergleich der dritten Kolumne für e3 mit der fünften für E — (ex — e2) in voriger Tabelle deutlich zeigt. Dies bedeutet mit anderen Worten, daß eine Tropfelektrode stets diejenige Potential- differenz gegen die Lösung besitzt, welche beim Maximum der Oberflächenspannung des Quecksilbers in derselben Lösung herrscht. Das weist deutlich darauf hin, daß der Grund für das abweichende Verhalten der Elektro- kapillarkurven einerseits und der Tropf- elektroden andererseits in den Komplexsalz- lösungen derselbe sein muß und gibt somit ein Regulativ für die Aufstellung von Theorien, welche diese Anomalien erklären wollen. 7. Theorie der Abweichungen von F. Krüger. Nernst wies bereits in seinem Referat über Berührungselektrizität darauf hin, daß diese Abweichungen mit der rein elektrischen Doppelschichtentheorie im Widerspruch ständen. Später vermuteten er und auch andere, daß mehr chemische Wirkungen der die Doppelschicht bildenden, in verschiedenen Elektrolyten verschie- denen Ionen die Oberflächenspannung be- einflussen könnten. Dieser Einfluß müßte jedoch beim absoluten Nullpunkt, wo die Doppelschicht verschwindet, fortfallen, die Oberflächenspannung müßte also in diesem Punkte in allen Elektrolyten gleich sein oder die Elektrokapillarkurven müßten sich in diesem Punkte schneiden, was nicht der Fall ist. Diese Schwierigkeiten, welche sich aus den Beobachtungen an Komplexsalzlösungen ergaben, existieren natürlich nicht für die Warburgsche Theorie, da sie keinerlei Aussage über die Lage des absoluten Null- punktes der Potentialdifferenz macht. Sie gibt jedoch keineswegs ein sehr befriedigen- des Bild der Erscheinungen, da die große Reihe der oben erwähnten und mit der Doppelschichtentheorie in Einklang stehender Gesetzmäßigkeiten nach ihr als rein zu- fällig, wenn nicht als auffällig sich erweisen, und für sie ja außerdem die Schwierigkeit der Erklärung des absteigenden Astes der Elektrokapillarkurve besteht. Nun haben allerdings die eingehenden und zahlreichen Messungen von Gouy ge- zeigt, daß Zusätze besonders von organi- schen Substanzen die Oberflächenspannung der Grenzfläche Quecksilber-Lösung beein- flussen können und sowohl das Maximum derselben zu erniedrigen wie auch in selteneren Fällen zu erhöhen und auch zu verschieben vermögen, überhaupt die Form der Elektro- kapillarkurve wesentlich zu beeinflussen imstande sind. Allein es ist durchaus un- wahrscheinlich, daß derartige direkte, wie man sie vielleicht nennen könnte, Beein- flussungen der Oberflächenspannung in dem besonders interessierenden Falle der Elektrokapil 1 arität 435 Komplexsalzlösungen vorliegen. Es ist nämlich nicht einzusehen, wie durch eine der- artige Wirkung auch eine Beeinflussung der Tropfelektrodenwirksamkeit, die mit der Oberflächenspannung selbst nur wenig zu- sammenhängt, resultieren sollte, und noch weniger, wie die erwähnte durchgehende Uebereinstimmung der Abweichungen bei den Tropfelektroden und bei der Ober- flächenspannung herauskommen sollte. Diese letztere auffallende Gesetzmäßigkeit ergibt sich nun aber in einfacher Weise aus einer von F. Krüger zur Erklärung der Anomalien in den Komplexsalzlösungen aufgestellten Theorie, welche in gewissem Sinne eine Vereinigung der unter Berück- sichtigung der Nernst sehen Theorie der Lösungstension veränderten Lippmann- Helmholtzschen und der ein wenig modi- fizierten Warburgschen Theorie darstellt. Verschiedene Gründe, besonders die nähere Betrachtung der Tropfelektrodenwirkung machen nämlich in der Tat die Gibbs- Warburgsche Annahme einer größeren Dichte des Salzes auf der Elektrodenober- fläche wahrscheinlich; diese führt, wie be- reits oben ausgeführt, zu einer Verminderung der Oberflächenspannung. Nur wird im Gegensatz zu Warburg angenommen, daß die Kondensation des Salzes auf der Queck- silberoberfläche momentan erfolgt. Beide Wirkungen, die elektrische und die Konden- sationswirkung superponieren sich und es ergibt sich so an Stelle der Lippmannschen Gleichung die erweiterte )y öE = — e — F(%— l)c.<5x, worin x den der Kondensation Rechnung tragenden Verteilungskoeffizienten des Quecksilbersalzes in der Grenzschicht, <5x die Dicke der Kondensationsschicht, F die mit einem Gramm-Aequivalent wandernde Elek- trizitätsmenge und c die Quecksilberionen- konzentration in der Nähe der Quecksilber- oberfläche in der Kapillare bedeutet. Danach ist also das Maximum der Oberflächenspan- öy nung vorhanden oder— ~- = 0, nicht wenn ö lli 6=0 ist, sondern wenn e= — F(x — 1)- c<5x, wenn die elektrische Flächendichte mit umgekehrtem Zeichen der Kondensations- dichte gleich ist. Das heißt, das Maximum der Oberflächenspannung ist vorhanden, wenn bei Dehnung der Oberfläche keine Kon- zentrationsveränderung an der Elektrode auftritt, wenn bei der Dehnung die Kon- zentrationsverminderung infolge der Kon- densation gerade kompensiert wird durch die Konzentrationsvermelirung infolge der Doppelschichtenausbildung; eine Vermeh- rung infolge der letzteren kann aber, wie oben erwähnt, nur jenseits des absoluten Nullpunktes eintreten, wo der osmotische Druck der Ionen p kleiner ist als die Lösungs- tension P des Quecksilbers. Das Maximum der Oberflächenspannung liegt also nicht genau beim Nullpunkt der Potentialdifferenz, sondern mehr oder weniger jenseits desselben nach der kathodischen Seite zu; wie weit jenseits, wird davon abhängen, wie groß die in der betreffenden Lösung kondensierte Quecksilbersalzmenge ist. Es läßt sich auch plausibel machen, obschon dieser Punkt noch einer tieferen Klärung bedarf, daß die Kon- densation und damit die Abweichungen mit zunehmender Komplexität des Salzes zu- nehmen. Daß das Maximum, das nun nicht mehr bei dem Nullpunkt der Potential- differenz liegt, erniedrigt sein muß, ist ja ohne weiteres klar. Das wesentlichste Er- gebnis dieser Theorie aber ist die Erklä- rung dafür, daß die Tropfelektroden das- selbe Potential annehmen wie die zum Maximum der Oberflächenspannung polari- sierten Elektroden : denn nach ihr wird dann keine Konzentrationsänderung an einer Tropfelektrode mehr auftreten, wenn die Konzentrationsverminderung durch Kondensation kompensiert wird durch die Konzentrationsvermehrung durch die Doppelschichtenbildung jenseits des abso- luten Nullpunktes. Das ist aber ersicht- lich dieselbe Bedingung, die für das Maxi- mum der Oberflächenspannung gefunden war; die Tropf elektrode nimmt daher stets das Potential des Maximums der Ober- flächenspannung an, zeigt daher wie dieses in den Lösungen der am stärksten komplexen Salze die stärksten Abweichungen. Durch hinreichend starke kathodische Polarisation wird auch in den Lösungen der stärksten Komplexsalze der Einfluß der Kondensation auf die Oberflächenspannung verschwindend klein gegenüber der elektrostatischen Wir- kung der Doppelschicht; da diese letztere für alle Elektrolyte gleich ist, so fallen in diesem Gebiete alle Kurven zusammen. In den verdünnten Lösungen der typischen Salze und Säuren ist dies der Fall auch noch beim Maximum der Oberflächenspannung, hier fehlt noch der störende Einfluß der Kon- densation, daher auch die gleiche Höhe des Maximums. Es erscheint daher der ur- sprünglich, besonders von Ostwald, ver- teidigte Schluß als zulässig, daß in diesen Lösungen beim Maximum der Oberflächen- spannung tatsächlich der absolute Nullpunkt der Potentialdifferenz Quecksilber-Elektrolyt liegt. Das Hauptresultat dieser Theorie der Abweichungen, nämlich die Erklärung der Uebereinstimmung der Abweichungen in den Elektrokapillarkurven und bei den Tropf- elektroden erscheint wesentlich an die An- nahme gebunden, daß die Anomalien durch Kondensation des Salzes bedingt sind, nicht 28* 436 Elektrokapillarität aber durch eine direkte chemische Beein- flussung der Oberflächenspannung; eine solche dürfte vielmehr die Uebereinstimmung der Abweichungen notwendig zerstören. 8. Gestalt der Elektrokapillarkurve. Eine Integration der Li pp mann sehen dy Gleichung r-gr = — s ist nur möglich, wenn man den Zusammenhang zwischen der Po- tentialdifferenz E und der Flächendichte e kennt. Indem Lippmann die Elektrode einfach wie einen Kondensator auffaßte, setzte er C = ^ , worin C die Kapazität be- C „, deutet und erhielt so y=j>max. ö ' also als Gestalt der Elektrokapillarkurve die Parabel, die symmetrisch zu dem durch das Maximum gehenden Wert liegt. Die neue- ren Untersuchungen über Polarisations- kapazität lassen diesen einfachen Zusammen- hang zunächst kaum erwarten, die Polari- sierbarkeit einer Elektrode ist danach ein komplizierterer Vorgang, wie oben bereits angedeutet; die primäre Wirkung des po- larisierenden Stromes besteht darin, daß eine Konzentrationsänderung an der Elektrode eintritt, welcher die zu der damit verbundenen Aenderung der Poten- tialdifferenz gehörige Aenderung der Flächen- dichte der Doppelschicht von selbst nach- folgt. Diese entzieht aber, wie bereits oben auseinandergesetzt, Ionen der Lösung, die also auch durch den polarisierenden Strom ergänzt werden müssen; dieser zerfällt also in einen Leitungsstrom, der die Konzentra- tionsänderungen bewirkt, und einen Ladungs- strom zur Ausbildung der Doppelschicht. Jedenfalls ist die Kapazität durch beide Anteile bedingt. Wie eine nähere Rechnung zeigt, kommt aber der erstere Anteil für die Aenderung der Oberflächenspannung nicht in Betracht, ein Resultat, das vorauszu- sehen war, da die Konzentrationsänderung an und für sich in den normalen Lösungen noch keine Aenderung der Oberflächen- spannung herbeiführen wird. Für diese ist vielmehr ausschließlich der Ladungsstrom und also die Doppelschichtenkapazität aus- schlaggebend, was formal durchaus der ur- sprünglichen Lippmannschen Theorie und physikalisch natürlich der ein- fachen Helmholtzschen Deutung der Be- einflussung der Oberflächenspannung durch die elektrostatische Abstoßung entspricht. Durch die Untersuchungen über Polarisa- tionskapazität ist die Existenz dieser Doppel- schichtenkapazität direkt erwiesen; da wir ihre Größe auch als im wesentlichen unabhängig von der vorhandenen Potentialdifferenz an- sehen können, so wäre also auch im Sinne der neueren Theorie als Gestalt der Elektro- kapillarkurve die Parabel zu erwarten. Die experimentellen Ergebnisse schienen jedoch diesei Schlußfolgerung zu widersprechen, denn die bisherigen Messungen gaben in keinem Falle eine hinreichende Annäherung der Kurve an die Form der Parabel, wenn sie sichihrauch in den Lösungen der typischen Salzen und Säuren einigermaßen nähern. Es ist jedoch F. Krüger und H. Krumreich neuer- dings gelungen, in Merkuronitrat einen Elek- trolyten zu finden, der den Idealfall der Parabel mit einer Annäherung von wenigen Prozent im ganzen Verlauf der Kurve wiedergibt; in diesem Falle kann man also die Doppelschichtenkapazität mit erheblicher Sicherheit berechnen, die sich nach der Lippmannschen Gleichung zu etwa 26 Mikrofarad ergibt. In allen übrigen Lö- sungen weicht die Gestalt der Elektroka- pillarkurve von der Parabel ab, am wenig- sten in den Lösungen der typischen Salze und Säuren und um so stärker, je komplexer die Salze der Lösungen sind. In diesen Lösungen anorganischer Salze fällt stets der ansteigende Ast (der am schwächsten katho- disch polarisierte) steiler ab, als der ab- steigende, mit zunehmender Komplexität der Salze in steigendem Maße. Ferner ist in diesen Lösungen das Maximum um so mehr gegenüber dem in den normalen Lö- sungen erniedrigt, je komplexer die Salze sind; nur bei einigen wenigen Salzen finden sich schwache Erhöhungen. Die Lösungen der organischen Stoffe, von denen Gouy viele untersucht hat, verhalten sich abwei- chend und zeigen sehr mannigfaltige Kurven, hier spielen vermutlich direkte chemische Beeinflussungen eine Rolle; Tropfelektroden sind in diesen Lösungen noch kaum unter- sucht, weshalb hier nicht näher auf diese Kurven eingegangen werden soll. In den Lösungen der anorganischen Salze sind da- gegen nach dem obigen die Abweichungen von der reinen Parabelgestalt im wesent- lichen durch die die Oberflächenspannung er- niedrigende Kondensation der Quecksilber- salze auf der Quecksilberoberfläche zurückzu- führen. Daß, wie schon erwähnt, die stark kathodisch polarisierten Teile des absteigen- den Astes in allen Lösungen anorganischer Salze sich zur Deckung bringen lassen, ist leicht zu verstehen, da in diesem Teil die Quecksilberionenkonzentration und damit die Kondensation des Salzes so gering ist, daß ihr Einfluß gegenüber dem der Doppel- schichtenbildung völlig zurücktritt, so daß dieser Teil der Kurve also ein Stück der idealen Parabel repräsentiert. Durch die Tatsache, daß wenigstens in einem Falle, in Merkuronitratlösung die Parabelgestalt der Elektrokapillarkurve realisiert ist, ent- fallen alle die Theorien, welche, wie z. B. die von van Laar, die gewöhnlichen Ab- Elektrokapillarität 437 weichungen von der Parabelform nicht in sekundären Ursachen wie eben der Konden- sation des Quecksilbersalzes, sondern in einer prinzipiellen Vernachlässigung der Lipp- mann -Helm holt z sehen Formulierung suchen. Der polarisierende Reststrom ist nur in recht weiten Kapillaren und in recht konzentrierten Quecksilbersalzlösungen so groß, daß das Produkt Stromstärke mal Widerstand neben der polarisierenden Span- nung merklich wird und eine scheinbare Entstellung der Elektrokapillarkurve bewirkt. 9. Folgerungen in bezug auf die Lage des absoluten Nullpunktes der Potential- differenz Metall - Lösung. 9a) B e - j Stimmungen des Maximums der Oberflächenspannung und der Tropf- elektrodenpotentiale. Aus dem Verlauf der Elektro kapillar kurven einerseits und dem Verhalten der Tropfelektroden anderer- seits ergeben sich hiernach folgende Schlüsse in bezug auf die Lage des absoluten Null- punktes. Wie immer man die Anomalien auch deuten will, jedenfalls scheint aus den Elektrokapillarkurven mit Sicherheit her- vorzugehen , daß sich über die reine Er- scheinung der elektrostatischen Wirkung der Doppelschicht, abgesehen von dem Ideal- falle in der Merkuronitratlösung, im allge- meinen eine Störung superponiert, zuneh- mend mit der Konzentration und stärker bei den komplexen Salzen, und es fragt sich nur, ob auch in verdünnter H,S04 oder HCl diese Störung noch beim Maximum der Ober- flächenspannung vorhanden ist, oder, auf dem ansteigenden Aste schon vorher ver- schwindend klein werdend, nicht bis dort heran reicht. Diese Frage ist nun mit größter Wahrscheinlichkeit zu bejahen, da einmal das Maximum in diesen Lösungen nahezu genau denselben Wert besitzt, die Kurven also vom absteigenden Ast an gerechnet bis über das Maximum hinaus zusammen- fallen, ferner die Differenz der zur Erreichung des Maximums erforderlichen Spannungen gleich der elektromotorischen Kraft der Kette aus diesen Lösungen ist, und Tropf- elektroden in diesen Lösungen keine oder nur die geringen Potentialdifferenzen gegen- einander zeigen, welche den kleinen Potential- differenzen an der Berührungsstelle der Lö- sungen entsprechen. Ferner sprechen die mit den verdünnten Amalgamen einiger Me- talle aufgenommenen Elektrokapillarkurven, wie bereits erwähnt, mit Entschiedenheit für diese Annahme. Somit ist der in ver- dünnten Lösungen nicht komplexer Säuren und Salze aus den Elektrokapillarkurven oder mittels Tropfelektroden bestimmte absolute Nullpunkt der Potentialdifferenz innerhalb der Grenzen der Meßgenauigkeit, d. h. etwa t?^ Volt, als der richtige anzu- 100 sehen; die aus den Elektrokapillarkurven erhaltenen Werte sind jedoch als die ge- naueren zu betrachten, da die Tropfelektroden nur bei sehr genauer Einstellung völlig ent- laden werden. Der Wert dieses sogenannten absoluten Potentials beträgt für eine Queck- silberelektrode bei 18° in normaler KC1- Lösung — 0,56 Volt, in einer Y10 normalen KCl- Lösung — 0,612 Volt, 9b) Messungen an Tropfelektro- den nach der Nernstschen Null- methode. Die prinzipielle Gefahr, daß die Tropf elektroden infolge des Einflusses der Diffusion und Konvektion leicht nicht völlig entladen werden und damit einen falschen Wert für den absoluten Nullpunkt ergeben, läßt sich nach einem Vorschlag von N ernst, den zuerst Amelung und später eingehender Palmaer realisiert hat, dadurch umgehen, daß man durch allmähliches Verdünnen diejenige Lösung aufsucht, in denen die Tropfelektrode keine Potentialdifferenz gegen die ruhende mehr zeigt, also eine Art Nullmethode anwendet, Nach der ur- sprünglichen, einfachen Theorie sollte dann natürlich in dieser Lösung der osmotische Druck p der Ionen gleich der Lösungstension P des Quecksilbers sein, womit also der absolute Nullpunkt bestimmt wäre. Palmaer glaubte nach dieser Methode in KCN- und H2S-Lösungen den absoluten Nullpunkt ein- wandfrei zu — 0,574 Volt für die jq normal KCl-Elektrode bestimmen zu können; aber schon die Versuche von Amelung zeigten und besonders deutheb später solche von Smith und Moss, daß auch durch diese Methode in den jeweiligen Lösungen stets dieselben | Werte erhalten werden, welche sich aus dem Maximum der Oberflächenspannung und | mittels der gewöhnlichen Tropfelektrode \ ergeben, daß also diese Nullmethode keine Vorteile gegenüber den anderen bietet. Daraus geht mit Sicherheit hervor, daß für 1 die Abweichungen der Tropfelektrode, wie schon oben hervorgehoben, unvollständige Entladung durch Diffusion nicht der Grund sein kann, wogegen ja auch schon der Sinn | der Abweichungen spricht. Nach der oben geschilderten Theorie der Anomalien ist ■ das Versagen dieser Nullmethode ohne weiteres zu verstehen, denn nach ihr hört ja die Wirksamkeit der Tropfelektrode bei derjenigen Konzentration auf, in welcher die Konzentrationsverminderung durch Kon- densation gerade kompensiert wird durch die Konzentrationsvermehrung durch die Doppelschichtenbildung, so daß die Null- methode ganz denselben Wert ergeben muß wie die gewöhnliche Tropfelektrodenmethode und die .Anwendung der Elektrokapillar- kurven. 9c)H.G. Möllers Messungen des Rand- 438 Elektrokapillarität winkeis an einer Wasserstoffblase auf festen Metallen. Die Annahme, daß der aus dem Maximum der Oberflächen- spannung des Quecksilbers in normalen Lösungen bestimmte absolute Nullpunkt der Ver- richtige sei, wird noch gestützt durch suche von H.G. Möller, der den Randwinkel zwischen einer auf Quecksilber oder anderen festen Metallen ruhenden Wasserstoffblase und einer Elektrolytlösung maß. Er zeigte zunächst beim Quecksilber, daß dieser Rand- winkel a (s. Fig. 7) bei demselben Poten- Fig. 7. tial einen maximalen Wert zeigt wie die ; Oberflächenspannung Quecksilber-Elektrolyt. | Dann nahm er auch die Randwinkel- und Polarisationskurven bei den Metallen Nickel, Kupfer und Silber in 0,1 normaler Schwefel- säure auf; aus dem Maximum des Rand- winkels ergaben sich dann in allen drei Fällen Werte für den absoluten Nullpunkt der Po- tentialdifferenz, die mit dem aus der Ober- flächenspannung des Quecksilbers bestimm- ten und für diese Metalle umgerechneten, recht gut übereinstimmen. Die Messungen geben also eine gute Bestätigung für die Richtigkeit des Li ppmann- Heimholt z- schen Nullpunktes, wenn es auch höchst wünschenswert erscheint, daß diese Ver- suche wiederholt und erweitert werden möchten. 9tl) Krouchkolls Messungen über Dehnungsströme. DieseMethode ist eben- falls dadurch ausgezeichnet, daß sie auch Mes- sungen an festen Metallen gestattet, deren Oberflächenspannung wir sonst nicht direkt bestimmen können. Es gibt nämlich Effekte, die ohne die Messung der Ober- Fig. 8. flächenspannung einen Schluß auf das Vorzeichen der Ladung an der Grenzfläche Metall-Lösung und also auch auf deren Nullpunkt gestatten. Derartige Erschei- nungen sind von Krouchkoll aufgefunden und näher untersucht Worden; sie bestehen vor allem in der Beobachtung, daß beim Dehnen einer festen Grenzfläche, z. B. eines Drahtes, eine Ladungs- und also auch Po- tentialänderung des gedehnten Metalls gegenüber einem ungedehnten in der- selben Lösung eintritt. Die Erklärung be- steht darin, daß, ähnlich wie bei der Bildung eines Quecksilbertropfens, eine frische Grenz- fläche gebildet wird, an der die Doppel- schichtenausbildung und somit Konzen- trations- und Potentialdifferenzänderungen eintreten. Polarisiert man den gedehnten Draht, so wird bei einer bestimmten Polari- sation kein Dehnungsstrom mehr auftreten, bei noch stärkerer Polarisation kehrt sich das Vor- zeichen des Dehnungsstromes um. Bei Queck- silber, dessen Meniskus vergrößert und ver kleinert wurde, hatte bereits Pellat diese Ströme, ihre Umkehrung und denselben Nullpunkt wie bei den Tropfelektroden er- halten. Die Versuchsanordnung Krouch- kolls, der Silber-, Kupfer- und Bleidrähte untersuchte, zeigt die Figur 8: ein ge- spannter Draht wird durch einen Hebel gedehnt, der Draht wird mit Hilfe einer größeren unpolarisierbaren Elektrode pola- risiert und die Dehnungsströme gegen eine dritte Bezugselektrode gemessen. So ließ sich in der Tat eine Umkehr des Dehnungs- stromes feststellen, leider aber sorgte Krouch- koll nicht für eine definierte Ionenkonzentra- tion, sodaß seine Messungen keinen quantita- tiven Schluß auf die Lage des absoluten Nullpunktes gestatten; qualitativ scheinen seine Versuche jedoch mit dem Li ppmann - Helmholtzschen Nullpunkt durchaus in Uebereinstimmung zu stehen. Jedenfalls liegt hier eine Methode vor, deren gute Ver- wendbarkeit zur Bestimmung des absoluten Nullpunktes kaum zweifelhaft zu sein scheint. 9e) Strömungsströme, Ströme durch fallende Teilchen, Wanderung kolloidaler Metalle im elektrischen Felde. Für die Bestimmung des absoluten Nullpunktes an der Grenze fester Metalle und Lösungen kommen schließlich noch die Erscheinungen der so- genannten Strömungsströme, der Ströme durch fallende Teilchen und der Wanderung suspen- dierter, respektive kolloidaler Metalle in Frage. Strömungs- ströme erhält man, wenn man eine Flüssigkeit durch eine Kapillare, in unserem Falle also z. B. aus Silber strömen läßt ; es Elektrokapillarität 439 zeigen dann die auf beiden Seiten der Kapillare angebrachten Elektroden Potentialdifferen- zen gegeneinander. Als Vorrichtung zur Messung der Ströme durch fallende Teilchen dient einfach ein mit der betreffenden Flüssigkeit gefülltes Glasrohr, in dessen Achse man die Metallteilchen fallen läßt und an dem an seitlichen Ansätzen in verschiedenen Distanzen Elektroden angebracht sind, die beim Fallen der Teilchen in der Röhre Po- j tentialdifferenzen anzeigen. Wanderung derin einer möglichst wenig leitenden Flüsisgkeit i suspendierten Teilchen erfolgt zwischen Elektroden, an welche eine hinreichend hohe Potentialdifferenz gelegt ist. Alle drei Arten von Erscheinungen hängen ab von der Doppelschicht, welche an der Grenze Metall- Lösung existiert und es lassen sich auch hier durch" geeignete Zusätze diese Potential- differenzen beeinflussen und Umkehrungen des Vorzeichens der genannten Erscheinungen beobachten. Die bisherigen Resultate sind jedoch noch wenig durchsichtig und eindeutig, offenbar überlagern sich mancherlei sekun- däre Effekte, die einen irgendwie sicheren Schluß auf die Lage des absoluten Null- punktes noch nicht gestatten. 9I') Radioaktive Methode von G. v. Hevesy. Einerecht interessante Methode zur Bestimmung des Potentialsprunges Metall — Elektrolyt hat G. v. Hevesy angegeben. Bereits v. Lerch hatte darauf aufmerksam gemacht, daß für die Zusammensetzung des bei der Elektrolyse ausgeschiedenen radioaktiven Niederschlages der Poten- tialsprung Metall— Elektrolyt maßgeblich sei. v. Hevesy untersuchte nun das Verhältnis, in dem sich zwei radioaktive Substanzen, z. B. ActB, ActC, ferner ThB und ThC oder RaB und RaC z. B. auf einem Kupfer- oder Silberblech ausscheiden, an dem durch Zusatz von Kupfer- resp. Silberionen zur Lösung ein definierter Potentialsprung her- gestellt war; bei den edleren Potentialen scheidet sich z. B. reines ActC aus, bei den unedleren Potentialen dagegen wesentlich das ActB. Das Potential, bei dem sich ActB und ActC in demselben Verhältnis ausscheiden, wie sie in der Lösung vorhanden sind, entspricht nun sehr nahe dem Werte des absoluten Nullpunktes der Potentialdifferenz, wie er sich aus den elektrokapillaren Metho- den ergibt. Wesentlich ist hier, daß die minimalen Mengen ausgeschiedener radio- aktiver Stoffe den Potentialsprung nicht be- einflussen. Wenn auch der Mechanismus des Prozesses noch einiger Aufklärung bedarf, so sprechen doch diese Beobachtungen eben- falls für den richtigen Wert des angenomme- nen Nullpunktes. 10. Elektrokapillare Bewegungser- scheinungen; Kapillartelephon. Die durch Anlegen größerer Spannungen eintretende Aenderung der Oberflächenspannung des Quecksilbers kann bei geeigneter Anordnung zu mancherlei Bewegungserscheinungen Anlaß geben, die besonders Christiansen untersucht hat. Sehr hübsch läßt sich dies demonstrieren in einer etwa ft mm weiten Glasröhre von 20 bis 30 cm Länge, die z. B. mit verdünnter Schwefelsäure gefüllt ist, und in deren seitliche Ansätze zwei Platin • elektroden eintauchen, wie dies die Figur 9 veranschaulicht: In der Röhre liegt ein sie nicht ganz aus- füllender Quecksilbertropfen. Wird nun an Fig. 9. die Elektroden eine Spannung von ca. 30 Volt gelegt, so bewegt sich der Quecksilber- tropfen in rollender" Weise mit erheblicher Geschwindigkeit dem negativen Pole zu; der vorher runde Tropfen wird dabei ei- förmig, sein spitzes Ende dem positiven Pol zukehrend. Wird der Strom kommutiert, so läuft auch der Tropfen nach der entgegen- gesetzten Seite. Bei Steigerung der Spannung bildet sich am Tropfen ein ringförmiger Wulst, bis bei weiterer Steigerung sich ein kleiner Tropfen vom größeren trennt. Die Erscheinungen erklären sich leicht, wenn man bedenkt, daß die Oberflächenspannung des Tropfens auf der einen Seite vergrößert, auf der anderen verkleinert ist, so daß er nicht im Gleichgewicht sein kann. Aus ana- logen Gründen werden fallende Quecksilber- tropfen in einer Lösung, durch die senkrecht zur Fallrichtung ein elektrischer Strom fließt, seitwärts abgelenkt. Als hübscher Demonstra- tionsversuch derartiger Bewegungserscheinun- gen ist aber vor allem die unter der Bezeich- nung „Quecksilberherz" bekannte Erschei- nung zu erwähnen. Der Versuch wird in der Weise angestellt, daß auf eine größere Uhr- schale ein Quecksilbertropfen von ca. 2 bis 3 cm Durchmesser gebracht und mit verdünn- ter Schwefelsäure, der wenige Tropfen von Kaliumbichromatlösung zugesetzt sind, Übergossen wird. Eine Eisennadel, am einfachsten eine gewöhnliche Stopfnadel, wird nun so in die Lösung gebracht, daß ihre Spitze das Quecksilber am Rande eben berührt. Der Tropfen zuckt zusammen, da er durch das gebildete Element Eisen- Queck- silber kathodisch polarisiert wird, und die Verbindung Eisen- Quecksilber wird unter- brochen. Damit ist aber die kathodische Polarisation beseitigt, zumal das Kalium- bichromat depolarisierend wirkt, der Tropfen 440 Elektrokapiliarität nimmt daher seine ursprüngliche Gestalt wieder an, so daß die Eisenspitze wieder in das Quecksilber eintaucht. Jetzt wiederholt sich das Spiel und der ganze Tropfen gerät schließlich in sternförmige Zuckungen, deren Bewegung an ein pulsierendes Herz erinnert und die wohl eine halbe Stunde lang anhalten können. Derartige periodische Be- wegungserscheinungen können auch ohne Zu- hilfenahme eines zweiten Metalls auftreten, wenn man nämlich einen Quecksilbertropfen unter Säurelösung einseitig mit etwas Ka- liumbichromat in Berührung bringt; der Tropfen bewegt sich zuerst auf das Kalium- bichromat zu. entfernt sich dann und oszilliert so unregelmäßig hin und her. Hier wird der Tropfen auf der Seite, wo er mit dem Kahum- bichromat in Berührung kommt, oxydiert und seine Potentialdifferenz geändert, so daß sich dort seine Oberflächenspannung verringert. In der Säure wird die Oxydation wieder auf- gehoben und der Bewegungssinn kehrt sich um. Es ist bereits oben das zu diesen Erschei- nungen gewissermaßen reziproke Phänomen erwähnt, daß man in einem Kapillarelektro- meter einen Strom erhält, wenn man die Oberfläche des Meniskus durch Er- schüttern dehnt oder verkleinert. Diese Tatsache hat zuerst Breguet zur Kon- struktion eines sogenannten Kapillartele- phons benutzt, das später von verschiedenen anderen verbessert und durchkonstruiert ist. Eine von dem Physiologen Loven herrührende Konstruktion gibt die Figur 10 Fig. 10. wieder. Das Wesentliche des Apparates ist ein kleines, lx/2 bis 2 cm langes, in der Mitte verengtes Glasrohr aus sehr dünnem Glase mit Quecksilberfüllung, die an der Ein- schnürung durch einen Tropfen verdünnter Schwefelsäure unterbrochen ist. Platin- drähte an beiden mit Siegellack verkitteten Enden vermitteln den Kontakt. Im fertigen Röhrchen darf keine Spur von Luft zurück- bleiben. Dieses Röhrchen ist mittels eines feinen, leichten, hölzernen „Galgens" senk- recht auf einer dünnen Holzmembran be- festigt. Das Ganze befindet sich in einer hölzernen Kapsel mit Schalltrichter; außen sind Klemmschrauben angebracht, die mit den beiden Platindrähten in leitender Ver- bindung stehen. Zwei solche Vorrichtungen, miteinander verbunden, sollen als Geber und Hörer gut funktionieren. Die Wirkungsweise dieser Anordnung sowohl als Geber wie als Hörer ist nach dem oben Gesagten leicht ver- ständlich. Die Wiedergabe der Sprache ist vortrefflich, eher freier von Nebengeräuschen als das elektromagnetische Telephon; an Lautstärke resp. Empfindlichkeit steht es letzterem jedoch sehr stark nach. Boruttau verbesserte den Effekt des Gebers durch Hintereinanderschaltung mehrerer Kapillar- röhrchen, von denen die beiden stärkeren äußeren die Beine des Galgens ersetzen. Näheres findet man in dem unten zitierten zusammenfassenden Bericht von Boruttau. Die Verschiebung des Quecksilbermeniskus in der Kapillare bei Einschaltung einer Po- tentialdifferenz hat übrigens schon L i p p- m a n n zur Konstruktion eines Motors be- nutzt, indem er zur Verstärkung der Wir- kung e;n ganzes Bündel von Kapillaren verwandte. Die Ausführung einer solchen Elektrokapillarmotors findet sich im Deut- schen Museum in München. ii. Kapillarelektrische Erscheinungen an Quecksilber in nichtwässerigen Lö- sungsmitteln und an der Grenze zweier Lösungsmittel. Die hier geschilderten kapillarelektrischen Erscheinungen an der Grenzfläche Quecksilber-Lösung beziehen sich ausschließlich auf wässerige Lösungen. Von kapillarelektrischen Untersuchungen an Quecksilber in anderen Lösungsmitteln liegen nur sehr wenige vor, die noch keine bemerkens- werten Resultate gezeitigt haben; sofern man aus dem Maximum der Oberflächenspan- nung oder den Tropfelektroden auf den ab- soluten Nullpunkt mit Sicherheit schließen darf, würden derartige Untersuchungen die Abhängigkeit der Lösungstension vom Lö- sungsmittel zu messen gestatten, worüber bisher kaum irgendwie Zuverlässiges be- kannt ist. Nur einige wenige Versuche liegen bisher vor über die Aenderung der Potentialdiffe- renz und der Oberflächenspannung, an der Grenzfläche zweier verschiedener Lösungs- mittel; Krouchkoll stellte Messungen mit einem Kapillarelektrometer an, das Elettrokapillarität — Elektrolytische Leitfähigkeit 441 aus Aethyläther, mit Urannitrat gesättigt, und einer ebenfalls mit Urannitrat gesättigten wässerigen Lösung bestand; es ließ sich bei Anwendung von etwa 28 Volt hier auch eine Elektrokapillarkurve mit einem Maximum beobachten, ebenso in einem System Schwefel- kohlenstoff-angesäuertes Wasser. Neuerdings sind noch von v. Lerch ähnliche Versuche mit der Steighöhenmethode an der Grenzfläche Wasser-Benzol bei Gegenwart einer Reihe anorganischer und organischer Säuren, Al- kalien und Salze angestellt worden. Nähere Aufschlüsse über die an derartigen Grenz- flächen existierenden Potentialdifferenzen haben sich bisher jedoch nicht erzielen lassen. 12. Kapillarelektrische Erscheinungen an geschmolzenen Metallen unter ge- schmolzenen Salzen. Schließlich liegen noch einige Untersuchungen über kapillarelek- trische Systeme vor, die aus einem flüssigen, resp. geschmolzenen Metall undgeschmolzenen Salzen aufgebaut sind. Als Metalle sind dabei außer Quecksilber verwandt vor allem ge- schmolzenes Blei und Zinn, als geschmol- zene Salze, respektive Gemische solcher KCl, KCl — KJ, NaJ — NaCL NaJ, LiCl — KCl, LiN03 — KN03 und andere. Eingeschmol- zenes Metall unter seinen geschmolzenen Ha- logensalzen ist dabei unpolarisierbar und gibt daher keine Elektrokapillarkurve. Sonst aber existiert kein prinzipieller Unterschied zwischen dem kapillarelektrischen Phänomen im Schmelzfluß und dem in wässerigen Elek- trolyten und man erhält auch hier parabel- ähnliche Elektrokapillarkurven ; nur muß die Konzentration des Elektrodenmetalls in der Schmelze sehr klein sein, damit eine Verarmung desselben durch kathodische Polarisation eintritt. Literatur. Gt'älz, lieber die Bewegungserschei- nungen an kapillaren Quecksilberelektroden. Dissertation. Breslau 1879. — G. Lippmann, Ann. ehem. phys. (5), 5, 494, 1875. — W. Nernst, Referat über Berührungselektrizität. Beilage zu Wird. Ann. 58, 1896, Heft S. — F. Krüger, Ueber die Theorien der Elektro- kapillarität und der Tropfelektroden. Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik, II. Bd., Heft, 1, 1904. — Palmaer, Zeilschr. für physik. Chem. 59, 187, 1907. — H. Freundlich, Kapillarchemie. Leipzig 1909. — G. v. Hrvesy, Radioaktive Methoden in der Elektrochemie. Physik. Zeitschrift 13, 715, 1912. — Boruttau, Zur Geschichte, Konstruktion und Wirkungsweise des Kiipillartelephons. ■■Physikal. Zeitschrift J, 229, 1906. — G. v. Hevesy, Das kapillarelektrische Phänomen im Schmelzfluß. Zeilschr. f. phys. Chem. 74, 44S, 1910. F. Krüger, Elektrolytische Leitfähigkeit. 1. Begriff und Methode der Messung der elek- trolytischen Leitfähigkeit. 2. Aequivalent-Leit- vermügen. 3. Mechanismus der elektrolytischen Leitfähigkeit: a) Bestimmung der Ueberführungs- zahlen (Hittorf), b) Unabhängige Wanderung der Ionen (Kohlrausch), c) Dissoziationsgrad (Arrhenius). 4. Die Wanderungsgeschwindigkeit in absolutem Maß. 1. Begriff und Methode der Messung der elektrolytischen Leitfähigkeit (vgl. auch die Artikel „Elektrizitätsleitung"' und „Elektrischer Widerstan d"). Ersetzt man in einem Stromkreise, dessen Stromquelle ein Akkumulator sein mag, ein Stück metallischen Leiters durch einen Elek- trolyten selbst von sehr viel größerem Quer- schnitt, etwa durch verdünnte Schwefelsäure zwischen Platinelektroden, so erkennt man an einem eingeschalteten Galvanometer ein erhebliches Sinken der Stromstärke. Daß der Grund dafür nicht allein in einer Vergröße- rung des Leitungswiderstandes zu suchen ist, sondern auch in dem Vorgange an den Elektroden, wird sofort kenntlich, wenn man die Platinanode, an welcher sich der Sauer- stoff entwickelt, durch eine Kupferanode ersetzt. Es wird dann anodisch nicht Sauer- stoff entwickelt, sondern Kupfer aufgelöst und der Strom steigt an. Gelangt sodann das entstehende Kupfersulfat an die Kathode, wodurch an die Stelle der Wasserstoffent- wickelung Kupferabseheidung tritt, so ent- steht ein abermaliger Stromanstieg. Um nun zur Kenntnis des Leitungswiderstandes des Elektrolyten zu gelangen, muß man sich von dem Elektrodenvorgange und der dadurch herbeigeführten Polarisation der Elektroden, welche als Gegenkraft wirkt und dadurch den Widerstand scheinbar vergrößert, frei machen. Dies kann geschehen, indem man die Flüssigkeitssäule von vornherein in den Kreis einschaltet und nur den Abstand der Elektroden ändert. Die Anzahl Ohm, die an dem gleichzeitig eingeschalteten Rheostaten aus- oder ein- geschaltet werden müssen, um die Verlänge- rung oder Verkürzung der Flüssigkeitssäule zu kompensieren, gibt dann den Widerstand der ein- oder ausgeschalteten Flüssigkeit. Um eine Vorstellung von den Größen zu geben, sei erwähnt, daß die bestleitenden Elektrolyte etwa 10 000 mal schlechter leiten als eine Quecksilbersäule von gleichen Dimen- sionen. Man hat versucht den Einfluß der Polari- sation durch öfteren Wechsel der Strom- richtung während des Versuches zu elimi- nieren. F. Kohlrausch hat diesen Zweck in vollkommener Weise dadurch erreicht, daß er durch die Flüssigkeit einen rasch intermittierenden und dabei die Richtung wechselnden Strom sandte. Ein solcher 442 Elektrolytische Leitfähigkeit Wechselstrom wird durch einen Induktions- apparat erhalten. Infolge des fortwährenden Polwechsels wird jede Polarisation durch die darauffolgende entgegengesetzte aufgehoben. Die Messung der Stromstärke ist in diesem Falle nicht mittels eines gewöhnlichen Gal- vanometers möglich, wohl aber mittels des Elektrodynamometers. Für genauere Messungen verwendet man allgemein die Anordnung der Wheatstone- schen Brücke (vgl. den Artikel „Elektrizi- tätsleitung") in der handlichen Form, welche ihr durch F. Kohlrausch gegeben worden ist. Die Abwesenheit des Stromes im Brückenzweig wird mit Hilfe eines Tele- phons konstatiert. Die durch den einzelnen Stromstoß erfolgende Polarisation der Elek- troden ist um so geringer, auf eine je größere Fläche die Wirkung des Stromstoßes sich verteilt. Man fördert also die beabsichtigte Wirkung des Wechselstromes, d. i. die Ver- meidung der Polarisation durch Vergrößerung der Elektroden. Diese gelingt, ohne die Dimensionen der Gefäße und damit die benötigten Flüssigkeitsquantitäten unbequem anwachsen zu lassen, indem man die Platin- elektroden elektrolytisch mit Platinschwarz — fein verteiltem Platin — überzieht. Man ist übereingekommen, das Leit- vermögen auf dasjenige eines Körpers zu beziehen, von welchem 1 cm-Würfel den Widerstand von 1 Ohm hat. Dieser Ein- heitskörper wird etwa dargestellt durch bestleitende (30 prozentige) Schwefelsäure von Blutwärme. Man würde also x, das Leitvermögen eines Zentimeterwürfels oder das spezifische Leitvermögen der Elektrolyte, sofort erhalten, wenn man den Widerstand w in einem Zentimeterwürfelgefäß messen würde, von dem zwei gegenüberstehende Seiten die platinierten Platinelektroden wären, dann wäre: x = -. Hat man ein anderes w zylindrisches Gefäß, etwa ein Glasrohr, wel- ches, eng anschließend an die Glaswand, zwei kreisförmige Elektroden von f qcm Ober- fläche in dem Abstände von 1 cm trägt, so ist das spezifische Leitvermögen 1 1 z. B. n-KCl gelangt, so bedarf es zur Leit- fähigkeitsbestimmung anderer Lösungen nicht mehr solcher Gefäße, deren Form die Aus- messung gestattet. Man bestimmt dann die „Widerstandskapazität" der Gefäße, d. h. denjenigen Widerstand C, welchen der Ein- heitskörper (von dem 1 cm-Würfel 1 Ohm Widerstand hat) darin zeigen würde. Dazu benutzt man auf den Einheitskörper bereits bezogene Eichflüssigkeiten. Als solche eignen sich Lösungen, die unschwer mit gleichem Leitvermögen zu reproduzieren sind und leicht ungeändert aufbewahrt werden können. Außer den angeführten KCl-Lösungen verwendet man gern Elektrolyte in Konzentrationen, bei welchen ihre Leitfähigkeit ein Maximum hat, so daß die durch Verdunstung usw. ent- ; stehenden kleinen Gehaltsänderungen das ; Leitvermögen nicht merklich beeinflussen. Daraus, daß es auf die genaue Konzentra- tion nicht ankommt, entsteht zugleich der Vorteil, daß diese Flüssigkeiten leicht her- gestellt werden können, z.B. genügend genau nach dem mit einer Mohrschen Wage oder einem Aräometer bestimmten spezifischen Gewicht. Solche Lösungen sind: 1. Maximal-Schwefelsaure: 30 Gew.-Proz. H2S04; spez. Gew. bei 18° = 1,223; *]fi0 = 0,7398. 2. Maximal-Magnesiumsulfat: 17,4 Gew.- Proz. MgS04; spez. Gew. bei 18° = 1,190; *18o = 0,04922. Keiner Wägung oder aräometrischen Mes- X — IT« — > I W wobei w wieder der gemessene Widerstand in Ohm ist. Man findet so z. B. bei der Tem- peratur von 18° für eine Normal-KCl-Lösung, d. i. eine solche, welche ein Molekulargewicht in Grammen (74,60 g KCl) im Liter enthält: *.s° = 0,09822, für eine Zehntelnormal-KCl-Lösuns: (7,460 g KCl im Liter): ^=0,01119. Ist man auf diese Weise einmal zur Kennt- nis des Leitvermögens irgendeiner Lösung, sung bedürfen: 3. Gesättigte Chlornatriumlösung: ^,s0 = 0,2161. 4. Gesättigte Gipslösung: ^18o=0,001891. Zur Herstellung von schlecht leitenden Lösungen, wie der zuletzt genannten, ist reines „Leitfähigkeitswasser" erforderlich, welches erhalten wird, indem man Wasser durch mehr- fache Destillation zuerst von den schwerflüch- : tigen Salzen, nach Zusatz von Kalkwasser von Kohlensäure und wieder nach Zusatz von etwas Schwefelsäure oder Phosphorsäure von Ammoniak reinigt. Geringe Mengen sind bequem dadurch zu erhalten, daß man Wasser ausfrieren läßt bis auf einen geringen Rest, in welchem die löslichen Bestandteile verbleiben und der fortzugießen ist. Für die Auswahl unter den genannten Eichflüssig- keiten ist maßgebend, daß der Widerstand eine bequem meßbare Größe erhält, zwischen 50 und 2000 Ohm; man nimmt für große Kapazitäten gut leitende und für kleine schlecht leitende Flüssigkeiten. Zeigt eine der genannten Lösungen von der Leitfähigkeit x im Widerstandsgefäß den Widerstand w, so würde der Einheitskörper zeigen C=^.w. Mißt man den Widerstand wx irgendeiner anderen Lösung in dem Gefäß Elektrolytische Leitfühigb >i t 44:J von der bekannten Widerstandskapazität C, so ergibt sich deren spezifische Leit- C fähigkeit xx = — . Figur 1 und 2 zeigen zwei wx von den zahlreichen Formen für Widerstands- gefäße. 2. Aequivalent-Leitvermögen. Die spe- zifische Leitfähigkeit wächst, wie die Zahlen für n-KCl und 0,1 n-KCl andeuten, mit dem Gehalt der Lösung. Um verschiedene Elek- Fig. 1. Fig. 2. trolyte miteinander zu vergleichen, wählt man chemisch gleichwertige Lösungen, d. h. Lösungen, die eine gleiche Anzahl von Gramm äquivalenten (nicht Molekülen) enthalten. Ein Grammäquivalent ist das For- melgewicht in Grammen, dividiert durch die Anzahl elektrochemischer Aequivalente, die zu seiner vollständigen elektrolytischen Zer- legung erforderlich wären, also: valentleitvermögen 39,15+35,45 = 74,60 g KCl und entsprechend HCl, y2 H2S04, i/2 BaCl2, % MgS04 usw. (vgl. auch den Artikel „Aequivalent"). Man bezeichnet mit 77 die Aequivalent- konzentration einer Lösung, d. h. die Anzahl Grammäquivalente des gelösten Stoffes im Kubikzentimeter der Lösung. Dividiert man x durch ??, so erhält man das Leitvermögen eines Grammäquivalents oder das Aequi- v, ' n ' Das spezifische Leitvermögen steigt im allgemeinen mit zunehmender Konzentra- tion an, und zwar um so weniger, je mehr die Konzentration wächst. Bei Elektrolyten, die höhere Konzentrationen zulassen, über- schreitet v, ein Maximum, was unmittelbar aus der früher erwähnten Tatsache ver- ständlich wird, daß die reinen Komponenten auch gut leitender Mischungen nur schlechte Leiter sind. Zur Demonstration des Maximums schaltet man in den Stromkreis eines Induk- toriums ein lautsprechendes Telephon und reines Wasser zwischen Platinplatten. Das Telephon spricht kaum an, ebensowenig, wenn man an die Stelle des Wassers reine | Essigsäure bringt. Fügt man aber Wasser zur Essigsäure oder Essigsäure zum Wasser, so wächst die im Telephongeräusch kennt- liche Leitfähigkeit der Lösung. Die folgende Tabelle gibt die Werte von % für einige vielbenutzte Lösungen nach Kohlrausch. Spezifisc hes Leitvermögen wässerigei • Lösungen bei 1£ °. C 0} W N M CO 0 O 0 0 0 0 ffi tsi c u 0 W 0 O cä O O ö O < c5 CO 0 CdS 0 CO Ol H 0 O cä 5 0,0690 0,0672 0,0643 0,0483 O.0683 0,0256 0,0191 0,0189 0,0146 0,3948 0,2085 0,001 23 0,1969 10 o,i359 0,I2II 0,1141 0,0727 0,II28 0,047b 0,0321 0,0320 0,0247 0,6302 0,3915 0,001 53 0,3124 15 0,2020 O.1642 0,1505 — — 0,0683 0,0415 0,0421 0,0325 o,7453 o,5432 0,001 62 0,3463 20 0,2677 0,1957 0,1728 0,0912 0,1402 0,0872 0,0468 — 0,0388 0,7615 0,0527 0,001 61 0,3270 25 — 0,2135 0,1781 — — 0,1058 0.0480 — 0,0430 0,7225 0,7171 0,001 52 0,2717 30 — 0,1658 0,0926 0,T OÖI 0,1239 0,0444 ■ — 0,0436 0,0020 0,7388 0,001 40 0,2022 40 — — 0,0845 — 0,1505 — — — 0,5152 0,6800 0,001 08 0,1164 50 — — - — 0,0640 — 0,1856 — — — — 0,5405 0,000 74 — Während das spezifische Leitvermögen, als das Leitvermögen eines Kubikzentimeters Lösung, wenigstens in verdünnten Lösungen mit zunehmender Konzentration ansteigt, steigt umgekehrt das Aequivalentleitver- mögen, d. h. das Leitvermögen eines Gramm äquivalentes gelöster Substanz, in je mehr Lösungsmittel es gelöst ist, also mit zuneh- mender V er d ü n n u n g. Tabellen über das Aequivalent-Leitver- mögen finden sich in dem unten genannten Werke von Kohl r a u s c h und H 0 1 b 0 r n , eine Auswahl der wichtigeren auch bei Coehn in Müller-Pouillets Lehrbuch der Physik. 3. Mechanismus der elektrolytischen Leitfähigkeit. Dem allmählichen Anwachsen der Aequivalentleitfähigkeit mit steigender Verdünnung vermochte man keine Inter- 444; Elektrolytische Leitfähigkeit pretation zu geben, welche der experimen- tellen Prüfung zugänglich gewesen wäre. Wohl aber gelang in der Deutung des kon- stanten Maximalwertes gut leitender Lösun- gen ein für die Theorie der Elektrolyse wesent- licher Fortschritt (F. Kohl rausch). Findet nämlich jedes Ion bei seiner Wanderung einen ihm eigentümlichen Widerstand (der auf seine Reibung an dem Lösungsmittel zurück- führbar ist), so würde der Gesamtwiderstand des Elektrolyten durch die Summe dieser Widerstände seiner Ionen bestimmt sein. Betrachten wir nicht die Widerstände, son- dern die Aequivalentleitfähigkeit A und nennen 1k und U die entsprechenden Leit- fähigkeiten oder „Beweglichkeiten" des Kat- ions und des Allions, so ist bei ausreichender Verdünnung: A = K (1k+U), wo K ein Pro- portionalitätsfaktor ist, der von der Einheit abhängt, in welcher wir die Geschwindig- keit messen. K wird 1, wenn wir die Beweg- lichkeiten 1k und U in demselben Maße messen wie A, d. h. in „reziproken Ohm". Die Gleichung lautet dann: j=1k+1a- Um die Einzelwerte 1k und U zu ermitteln, bedarf es einer zweiten Beziehung zwischen den beiden Unbekannten. Diese wird geliefert durch die Messung der Ueb erfüll rungs- zahlen. 3a) Bestimmung der Ueberführungs- zahlen. Die Beobachtungstatsache, von der wir ausgehen, ist die Konzentrations- änderung, welche man während der Elektro- lyse von den Elektroden her sich in das Innere des Elektrolyten ausbreiten sieht. Die Demonstration dieser Erscheinung geschieht am besten und ungestört von Gas- entwickelung durch Projektion eines kleinen planparallelen Troges, der mit verdünnter und mit Schwefelsäure angesäuerter Kupfer- sulfatlösung gefüllt ist und in welchem als Elektroden zwei L-förmig gebogene Kupfer- drähte eintauchen. Bei Stromschluß durch einen Akkumulator bemerkt man sofort an der Kathode Aufsteigen einer verdünnten, an der Anode Herabsinken einer konzen- trierten Lösung. Wird mit Hilfe eines Kom- mutators die Stromrichtung umgekehrt, so sieht man nach wenigen Augenblicken auch die Konzentrationsänderungen sich vertauschen. Diese Konzentrationsänderungen sind von Hittorf (1853) zurückgeführt worden auf die Bewegungen der entgegengesetzt gela- denen Bestandteile des Elektrolyten. Daß unabhängig von den Zersetzungsvorgängen an den Elektroden solche Bewegungen im Innern des Elektrolyten stattfinden, ist aus folgendem Versuche zu ersehen. In ein U-Rohr mit Hähnen (Fig. 3) bringt man eine ver- dünnte Lösung des tiefblauen ammonia- kalischen Kupfersulfats, welches mit einigen Tropfen des in Ammoniak tiefroten Phenol- phtaleins versetzt ist. Die Hähne werden so- dann geschlossen, die geraden Schenkel ausgespült und mit verdünnter Ammoniak- lösung gleich hoch gefüllt. Bei geöffneten Hähnen wird dann mit zwei Platindrähten Fig. 3. als Elektroden Strom hindurchgeleitet: man sieht dann aus der violetten Lösung in die farblose Lösung an der Kathodenseite die tiefblaue, an der Anodenseite die tiefrote herauswandern. Die in einem einheitlichen Elektrolyten wie Kupfersulfat an den Elektroden sich beim Stromdurchgange herstellenden Konzentra- tionsdirferenzen sind also zurückzuführen auf die kombinierte Wirkung des nach dem Faradayschen Gesetz (vgl. den Artikel „Elek- trochemie") stattfindenden Elektroden- vorganges und die gegeneinander erfolgende Wanderung von Kation und Anion innerhalb des Elektrolyten. Da der erste Effekt aus der Kenntnis der durch den Elektrolyten ge- gangenen Strommenge sich ergibt, so ist aus den eingetretenen Konzentrationsände- rungen an Anode und Kathode ein Ur- teil zu gewinnen über das Verhältnis der Wanderungsgeschwindigkeiten, mit wel- chem Anion und Kation sich gegeneinander bewegen. Eine anschauliche Vorstellung davon ergibt das folgende Schema (ent- nommen aus Coehn, Elektrochemie, in Müller-Pouillets Lehrbuch der Physik IV). Aus steifem Koordinatenpapier sind drei Streifen geschnitten, wie sie die Figur 4 zeigt. Der breitere erhält die quer eingeschnittenen zur Hervorhebung geschwärzten Bänder, unter welchen die zwei schmaleren Streifen verschiebbar sind. Auf diesen sind von 5 zu 5 mm + - und — Zeichen (Kationen und Aiiionen) angebracht, welche zur Erleichte- rung der Ablesungen nach beiden Seiten hin nummeriert sind, und die in der Ruhelage, d. h. vor und nach jedem Versuch, sich immer untereinander befinden sollen. Der Weg von einer Ruhelage zur anderen beträgt also hier für jedes entgegengesetzt wandernde Anion- und Kationpaar in Summe 5 mm oder ein Elektrolytische Leitfähigkeit 445 Vielfaches davon. Sobald aber die Summe der entgegengesetzt gerichteten Bewegungen 5 mm beträgt, ist immer, wie der Versuch am Schema zeigt, ein Kation und ein Anion an 3U'-2U zurückgelegt werden und betrachten wieder den Endzustand, nachdem in Summa 10 Wegeinheiten, d. i. 10x5 mm zurückgelegt sind. Die 10 Wegeinheiten verteilen sich also ?6 25 24 23. £2 äjl : 20~7 19 18 1^ ■ IB 1 15 " ■ l^"~"ipXt2 l.t 10 9 8" ""> 6 5 "4 "5 " ~ »a IS -14- 15 i.e i7 ip 13 »ü i l-;2S-r23- ItO } -24 ysiizsft f::t t ,?~,4-,5 5 16— 17— 18-19:-20-:21- fsssä mm C21--23- n ?i 2} 2.2 20 19 18 -»jr;:lp:-1p .8 -.4—lb— lt:il2-- 13-. ^mut^jijitijjMiijiupuii; rttttti 2 ;nit>.i|iLiy::^..T..T.iii:.T::.w«r ■f x + - f~ ■■fT~N C 26 gl 2!4 23 22 : 21 20 19 Tl8 17 -16 15I4 1^T2 U 10 2---^— 1—^-4— -^—7 — 4— i— 10— /lv !£-- 13 - 14-15— 16 - 17—18 ■ i + | + f * t + +: + ~f t-J-:t..T.:-tl_-£-l 27 26 Z5 24 2*3 2? - 2,'l : ._ ,.._1__jr^rE: *-■¥ + ;S — -4 p — li ## 12-13— I4--I5- 1 b : 1B 14. 13 l'2. l'l 10 a ■■.■■!..- 1- es } Fig. 4. den Enden frei geworden, d. h. an der Kathode oder Anode abgeschieden. Wir lassen nun so viel Strom hindurch- gehen, daß in Summa 10 Wegeinheiten, d. i. 10x5 mm zurückgelegt sind und zwar sollen diese auf Kation und Anion sich gleichmäßig verteilen, so daß also der Kationstreifen um 5x5 mm nach links, der Anionstreifen um ebensoviel nach rechts zu verschieben ist. Dann sind zehn Kationen und zehn Anionen an den Elektroden entladen und fallen aus dem Schema der Paare, welches allein den Zustand in der Lösung versinnbildlicht, heraus. Vor der Elektrolyse waren in der Mittel- schicht drei und an jeder Seite zwölf Paare. Sind zehn Kationen an der Kathode aus- geschieden, so würden an der Kathodenseite nur noch 12 — 10 = 2 Kationen vorhanden sein können. Nun sind durch Wanderung %.10=5 hinzugekommen. Es müssen also vorhanden sein 2+5=7 Kationen. Anionen sind von derselben Seite auch 5 fortgewan- dert, so daß 12 — 5 = 7 geblieben sind, somit ebensoviele wie Kationen, also 5 Moleküle. Die entsprechende Betrachtung gilt, da Kation und Anion gleich schnell wandern sollen, für die Anodenseite. Die Figur 4b gibt die Verhältnisse wieder und zeigt zu- gleich, daß die Mittelschicht unverändert geblieben sein muß, da 5 Ionen von jeder Gattung hinein- und herausgewandert sind. Jetzt nehmen wir den Fall, daß die Wegeinheit vom Kation und Anion in un- gleichen Teilstrecken, etwa im Verhältnis so, daß . 10 = 6 davon vom Kation zurück- gelegt werden (der obere Streifen des Modells ist um 6x5 mm nach links zu verschieben) 9 und .10=4 vom Anion (der untere Streifen 5 ist um 4x5 mm nach rechts zu bewegen). Wie- der sind also 10 Kationen und 10 Anionen an den Elektroden abgeschieden. Der mitt- lere Teil der Lösung ist wieder unverändert geblieben, denn durch jede seiner Grenzen sind von beiden Ionengattungen ebensoviele eingetreten wie ausgetreten. Die äußeren Lösungen aber haben jetzt verschiedene Konzentrations ander ungen erfahren. Beide enthielten vorher je 12 Moleküle. Nun sind an der Kathodenseite (links) 10 Kat- ionen entladen. Es wären also noch 12 — 10 =2 vorhanden. Hinzugewandert sind aber r .10=6, also sind jetzt vorhanden 2+6=8, Gleichzeitig sind aber (da ja nach unserer Annahme die Kationen nur einen Teil, nämlich 3/5 der Gesamtwanderung aus- führten) auch Anionen von der Kathoden- seite fortgewandert und zwar -^.10 = 4. Es sind also am Ende links nur noch vor- handen 12—4=8 Anionen. Ebenso viele Kationen aber hatten wir dort festgestellt, ! d. h. es sind von den ursprünglichen 12 Mol. noch 8 vorhanden, wie auch die Figur 3 c zeigt. An der Anodenseite (rechts) sind 10 446 Elektrolytische Leitfähigkeit Anionen entladen. Es wären ohne Zuwande- rung nur noch 12 — 10=2 vorhanden. Es 2 sind aber ^.10=4 hinzugewandert, also 2+4=6 Anionen vorhanden. sind Kationen von der Anodenseite fortge- wandert und zwar = .10=6; es sind also noch vorhanden 12 — 6=6 Kationen. Statt der ursprünglichen 12 Mol. sind also an der Gleichzeitig | Anodenseite noch 6 Mol. vorhanden. Das Gesamtresultat stellt sich also so dar: Kathodenseite Vorher vorhanden 12 Kationen u. 12 Anionen Abgeschieden — 10 Kationen Hinzugewandert +6 Kationen Fortgewandert — 4 Anionen Nachher vorhanden 8 Kationen 8 Anionen Konzentrationsänderung (Verlust) 12 — 8 = 4 Mol. Anodenseite 12 Kationen u. 12 Anionen — 10 Anionen + 4 Anionen —6 Kationen 6 Kationen 6 Anionen 12 — 6 = 6 Mol. Das Schema erlaubt, alle gefundenen Verhältnisse darzustellen. Man nimmt dabei praktisch die abgeschiedene Menge so groß, daß keine Bruchteile von Ionen auftreten. Bei der Salzsäure (Wanderungs- geschwindigkeit des Wasserstoffs zu der des Chlors wie 5:1) läßt man also 6 Mol. zersetzt werden (oberer Streifen 5x5 mm nach links, unterer Streifen 1x5 mm nach rechts) und hat dann: Kathodenseite Vorher vorhanden 12 Wasserstoff u. 12 Chlor Abgeschieden — -6 Wasserstoff Hinzugewandert + 5 Wasserstoff Fortgewandert — 1 Chlor Nachher vorhanden 11 Wasserstoff 11 Chlor Konzentrationsänderung (Verlust) 12 — 11 = 1 Mol. Anodenseite 12 Wasserstoff u. 5 Wasserstoff 7 Wasserstoff 12 Chlor - 6 Chlor - 1 Chlor 7 Chlor 12 — 7 = 5 Mol. Indem wir mit Hittorf gleiche oder ver- schiedene Wanderungsgeschwindigkeit von Kation und Anion annahmen, gelangten wird zu der Erkenntnis, daß in jedem Falle eine Konzentrationsänderung an den Elek- troden auftreten muß, daß aus der Gleichheit dieser Konzentrationsänderung an Kathode und Anode auf gleiche Wanderungsgeschwin- digkeit zu schließen ist und daß aus der Ver- schiedenheit der Konzentrationsänderung das Verhältnis der Wanderungsgeschwindigkeiten sich erkennen läßt nach der aus dem vorigen unmittelbar hervortretenden Beziehung: Verlust an der Kathodenseite Verlust an der Anodenseite Wanderungsgeschwindigkeit des Anions Wanderungsgeschwindigkeit des Kations' Die Zielseite des schneller wandernden Ions zeigt also die geringere Konzentra- tionsänderung, da ja hier die an der Elek- trode ausgeschiedenen Ionen durch Zuwan- derung schneller ergänzt werden. Der Elektrizitätstransport durch einen Elektrolyten teilt sich also zwischen den beiden Ionen nach Maßgabe ihrer Wande- rungsgeschwindigkeit. Schicken wir durch einen Elektrolyten 1 F (= 96 540 Coul.), d. i. diejenige Elektrizitätsmenge, welche lGramm- Aequivalent - - z. B. 1+35,5 = 36,5 g HCl — zersetzt und ist n der Bruchteil von 1 F, den dabei das Anion durch die Lösung transportiert, so entfällt der zu transportie- rende Rest, d. i. 1 — n, auf das Kation. Dieses Verhältnis, welches nach dem vorher Ausge- führten identisch sein muß mit dem Verhältnis der Wanderungsgeschwindigkeiten (das wir 1a :1k nennen wollen) ist experimentell be- stimmbar aus dem Verhältnis der Konzen- trationsänderungen : 1a Verlust an der Kathodenseite n -n Verlust an der Anodenseite. Hittorf nennt n und 1 — n die Ueber- führuiigszahlen des Anions und des Kations. Die Werte n und 1 — n stellen so die relativen Wanderungsgeschwindigkeiten dar, d. h. die Wanderungsgeschwindigkeiten jedes Ions im Verhältnis zur Summe der Wanderungsge- schwindigkeiten beider Ionen. Das Prinzip der Hittorfschen Apparate zur Bestimmung der Ueberführungszahlen gibt das oben besprochene Schema wieder: die Lösung muß in drei Teile zerlegbar sein, deren mittlerer nach dem Versuch als unver- ändert zu erweisen ist. Man erkennt, daß der in Figur 3 abgebildete einfache Apparat diesem Prinzip entspricht und daß man z. B. Elektrolytische Leitfähigkeit 447 durch Elektrolyse von Salzsäure das Ver- hältnis der Wanderungsgeschwindigkeiten 1k :U, von Wasserstoff zu Chlor bestimmen kann. 3b) Unabhängige Wanderung der Ionen. Durch die Bestimmung der Ueber- führungszahlen erhält man die gesuchte zweite Beziehung, welche erforderlich war, um die Einzelwerte von 1k und U zu be- stimmen. Man hat (1) oder: n 1a 1k 1a -n n ; 1-n = (Hittorf) 1k 1k+1a' 1k+1a (2) 1k+1a = ^ (Kohlransch) woraus : (3) U=nj ; 1K = (1— n)J iKohlrauscli). So fand sich z. B. für KCl der Wert von A für unendlich verdünnte Lösungen (in welchen also ein Grammäquivalent KCl in einer so großen Wassermenge gelöst ist, daß durch weitere Verdünnung valentleitfähigkeit nicht wird) ^oo=129,9. versuche hatten ergeben die Aequi- mehr geändert Hittorfs Ueberführungs- Woraus n =0,503 und 1— n =0,497. 1K = 0,497.130,10 = 64,7 und 1A = 0,503.138,10 = 65,3. Die Gleichung (2) spricht das Gesetz von der unabhängigen Wanderung der Ionen aus. Denn sind einmal auf dem angegebenen Wege die Einzelwerte 1k und U für verschiedene Ionen festgestellt, so muß aus diesen durch Addition irgend zweier Werte 1k und U sich die Aequivalentleitfähigkeit einer Lösung vorhersagen lassen, welche den aus den be- treffenden Ionen bestehenden Elektrolyten in weitgehender Verdünnung enthält. Man stellt das additive Verhalten einer Eigen- schaft in einem Schema von der Art des folgenden dar, welches zeigt, daß die Diffe- renzen der verschiedenen Horizontalreihen sind und ebenso der Vertikalreihen: gleich Tl K Na Li ' Differenz J03 Cl NO, F 131-47 127,75 112,5 98,49 130,10 126,50 ui,35 77,42 108,99 io5,33 90,15 67,36 98,88 95,i8 ( 31,52 bis 31,61 } 3,60 bis 3,72 i 15,15 bis 15,2 Dliierenz ■ ■- 1,2 bis i,37 21,07 b is 21,21 10,06 bis 10,15 Man sieht aus der Tabelle, mit welcher Natriumverbindungen und die ^00 der vier Genauigkeit die experimentell gefundenen j Chloride T1C1, KCl, NaCl, LiCl ebenso von Werte sich der Forderung der Additivität den entsprechenden Nitraten, fügen: die ^00 der vier aufgeführten Kalium- Aus Ueberführungszahl und Leitfähigkeit Verbindungen KJ03, KCl, KN03, KF stehen hat Kohlransch in der angegebenen Weise in gleichem Abstände von den entsprechenden die folgenden Werte berechnet. Ionenbeweglichkeit im Wasser bei 18°. Kationen Cs 68 Rb 68 K 64,7 Na 43,6 Li 33,4 NH4 64 Ag 54,0 Tl 66,0 H 318 VzBa 55,5 %Sr 51,7 y2Ca 51,8 1 zMg 46,0 y2Zn 46,7 y2cd 47,5 YzCxx 47,3 %Pb 61,3 Anionen J 66,4 Br 67,6 Cl 65,4 SCN 56,6 F 4"-" N03 61,8 J03 33,9 Br03 46 C103 55,o J04 48 CIO 64 "II 174 CH02 47 CaH502 .... 35 C3H50a .... 31 '...in, 68,4 '.n-n, .... 72 y2 c.,< »4 .... 63 Die Tabelle der von Kohlrausch ge- 1 die Aequivalentleitfähigkeit ^00 durch Addi- fundenen Werte für 1k und 1A setzt uns in tion der betreffenden 1K und 1A unmittelbar den Stand, für alle Neutralsalze und für die anzugeben, gut leitenden (starken) Säuren und Basen Die Bestimmung des Dissoziationsgrades 448 Elektrolytische Leitfähigkeit auf Grund der Leitfähigkeit ist im Artikel „Dissoziation" (elektrolytische Disso- ziation) behandelt. 4. Die absoluten Wanderungsgeschwin- digkeiten. Die bisher gebrauchten Werte für dieWanderungsgeschwindigkeiten 1k und U entbehren der Anschaulichkeit. Sie sind aus- gedrückt in „Leitfähigkeitseinheiten", d. h. — da die Einheit der Leitfähigkeit ein Körper war, von dem 1 ccm-Würfel den Widerstand 1 Ohm hatte — in „reziproken Ohm". Um ein anschauliches Bild dieser Ge- schwindigkeiten zu erhalten, drücken wir sie in dem üblichen Geschwindigkeitsmaß aus und fragen, wieviel Zentimeter in der Sekunde Kation und Anion unter dem Antrieb einer bestimmten Kraft, als die wir die Potential- differenz von 1 Volt pro Zentimeter fest- setzen wollen, zurücklegen. Eine normale, d. h. ein Grammäquivalent im Liter haltende Salzsäutelösung von 18° bilde eine Flüssigkeitssäule von 1 qcm Quer- schnitt, wie die Figur 5 andeutet. Durch zwei die Potentialdifferenz von 1 Volt liegen, so wäre der Strom nach dem Ohmschen Gesetz: J = 1 1/0,3834 = 0,3834 Amp. i Fig. 5. Flächen A und B im Abstände von 1 cm denken wir uns einen Kubikzentimeterwürfel herausgeschnitten. Da im Liter 1 g-Aequi- valent HCl sich befindet, sind im Kubik- zentimeter 0,001 g-Aequivalent vorhanden. Wir nehmen an, daß bei dieser Ver- dünnung der Wert ^00, als die Leitfähigkeit eines Grammäquivalents, bereits erreicht ist. Die Leitfähigkeit des Kubikzentimeter- würfels wäre also: 0,001^oo=0,001 (1h+1ci) =0,001 (318+ 65,44) =0,318+0,0654 = 0,3834. d. h. der Widerstand des Kubikzentimeter- 1 würfeis wäre 0,3834 Ohm. Würde also an den Ebenen A und B gerade und der davon auf den Wasserstoff entfallende Anteil 0,318 Amp. An einem Grammäquivalent Wasserstoff haftet, wie wir gesehen haben, die Elektrizi- tätsmenge von 96 540 Amp. -Sek. (Coulomb); an der hier im Kubikzentimeter befindlichen Menge also 0.001.96 540=96,54 Amp.-Sek. Würde diese Elektrizitätsmenge vom Wasser- stoff in einer Sekunde transportiert werden, so würde das eine Stromstärke bewirken von 96,54 Amp. Nun haben wir aber festgestellt, daß bei einer Potentialdifferenz von 1 Volt an den Enden desKubikzentimeterwürfels derWasser- stoff nicht diese, sondern eine weit kleinere Stromstärke bewirkt, nämlich 0,318 Amp. Er braucht also, um 96,54 Amp.-Sek. hin- durch zu transportieren, nicht eine Sekunde, sondern eine entsprechend längere Zeit, nämlich: 0,318 96,54 x *_JM* =303,58 Sek. In dieser Zeit werden alle Wasserstoff- ionen, die anfangs in der Ebene A waren, in die Ebene B gelangt sein, d. h. sie brauchen unter dem Antrieb von 1 Volt pro Zentimeter 303,58 Sekunden, um sich um 1 cm zu ver- schieben. Ihr Weg in der Sekunde oder ihre Geschwindigkeit ist also: U = unoiür = 0,003 294 cm/sec. 303,58 ' Allgemein ist also die Wanderungsge- schwindigkeit in Zentimetern pro Sekunde in einem Felde von 1 Volt/cm gleich der Wanderungsgeschwindigkeit in reziproken Ohm, dividiert durch 96540; für Wasserstoff 1 R1 8 U = -96T4Ö = W54CT = °'003 294 cm/sec- Für Chlor also: V = ci 65,44 = 0,000 677. 96 540 96 540 Es mögen die Werte für einige Kationen (U) und Änionen (VI folgen: Uk ÜNa Uli Uh cm/sec 0,000 669 0,000 450 0,000 346 0,003 2Q4 cm/sec Vci = 0,000 077 Vno3 = 0,000 640 Voh = 0,001 802 Die absolute Wanderungsgeschwindigkeit läßt sich leicht in einem einfachen Versuch messen und demonstrieren. Man kann sich dazu des in Figur 2 abgebildeten Apparates bedienen. In die Biegung des U-Rohres bringt man eine 0,003 n-Lösung von Kalium- permanganat, in die geraden Schenkel dar- über eine 0,003 n-Lösung von Kaliumnitrat Elektrolytische Leitfähigkeit - - Elektromotorische Kräfte 449 und in diese Platindrähte als Elektroden. Da die Leitfähigkeit der beiden Lösungen gleich ist, so findet auf der Strecke zwsichen den beiden Elektroden pro Zentimeter der gleiche Potentialabfall statt. Hat man die Spannung von 70 Volt angelegt, so verteilen sich, da etwa 2 Volt auf die Polarisation an den Elektroden zu nehmen sind, 68 Volt auf die gesamte Strecke, die IG cm betragen möge: pro Zentimeter also herrscht ein 68 Potentialgefälle von ^ = 4,2 Volt. Im Strom sieht man das gefärbte Mn04-Ion zur posi- tiven Elektrode wandern: es sinkt die ge- färbte Grenze an der Kathoden- und steigt an der Anodenseite. In 5 Minuten (= 300 Sekunden) mögen sich die Grenzen um 1,6 cm gegeneinander verschoben haben; jede Grenzfläche wäre also bei dem Potential- gefälle von 4,2 Volt pro Zentimeter um 0,8 cm gewandert. Bei einem Potentialgefälle von 1 Volt pro Zentimeter wäre also das Mn04- Ion bei Zimmertemperatur gewandert in einer Sekunde um 305^ = °'00063 cm- Ab egg und Steele haben gezeigt, daß die Methode nicht auf gefärbte Ionen zu beschränken ist. Auch bei ungefärbten Ionen kann die sich verschiebende Grenze durch die verschiedene Lichtbrechung scharf er- kennbar gemacht werden. Literatur. W. Hittorf, lieber die Wanderungen der Ionen. 1858 bis 1859. Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften. Nr. 21 u. Nr. 28. — F. Kohlrausch und L. Holborn, Das Leit- vermögen der Elektrolyt^. Leipzig 1898. — W. Ostwald, Lehrbuch der allgemeinen Chemie. Bd. II, 2. Avfl. Leipzig 1893. — W. Nernst, Theoretische Chemie. 6. Avfl. Stuttgart 1909. — M. Le Blatte, Lehrbuch der Elektrochemie. 4. Aufl. Leipzig 1906. — A. Coehn, Elektro- chemie. In Müller- Pouillets Lehrbuch der P/n/sik IV. 10. Aufl. Braunschweig 1909. A. Coehn. Elektromotorische Kräfte. 1. Der Begriff elektromotorische Kraft(EMK). 2. Die Energieträger der heutigen Physik: a) Weltäther: a) Elektrische und magnetische Eorm der Aetherenergie. ß) Die Erregung der Aetherenergie. 7) Strahlende Aetherenergie. b) Elektrizität: cc) Potentielle Energie der Elek- trizität. /?) Kinetische Energie der Elektrizität. 7) Die magnetischen Aeußerungen bewegter Elek- tronen. <5) Ausstrahlung elektromagnetischer Wellen, c) Materie: cc) Potentielle Energie der Materie, ß) Kinetische Energie der Materie, y) Be- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III Ziehungen zwischen Materie und Elektrizität. 3. Die Energieformen. 4. Der Mechanismus der Elektromotorischen Kräfte: a) EMKK auf Rech- nung von Wärmeenergie: a) Spannungsabfall in stromdurchflossenen Leitern, ß) Thomsoneffekt, y) Peltiereffekt. d) Thermoelemente, b) EMKK auf Rechnung von chemischer Energie, c) EMKK auf Rechnung von mechanischer Energie, d) EMKK auf Rechnung von strahlender Aetherenergie. 5. Gleich- und Wechsel-EMKK. 6. Reversible und irreversible EMKK. 1. Der Begriff elektromotorische Kraft. Alle Vorgänge in der Natur sind, vom Stand- punkte der heutigen Physik gesehen, Wand- lungen der Form oder des Ortes von Energie oder Arbeitsfähigkeit. Die Erfahrung lehrt uns, Energie stets an einem „Energie- träger" haftend zu denken, der, um Energie aufzunehmen oder abzugeben, einem Zwange oder, wie der wissenschaftliche Ausdruck lautet, einer „Kraft" unterworfen werden muß. Kraft erscheint daher als Vermittlerin jedesNaturvorganges, und jederNaturvorgang als Wirkung oder Aeußerung einer Kraft. Die elektrischen Vorgänge nun sind solche Form- oder Orts Veränderungen von Energie, die durch Vermittlung des elek- trischen Energieträgers, der Elektrizität, zustande kommen. Der Zwang, der imstande ist, auf ihn Arbeitsfähigkeit (elektrische Energie) zu übertragen oder sie ihm zu ent- ziehen, heißt elektrische Kraft. Die An- ordnungen, in denen solche elektrischen Kräfte tätig sind, heißen elektrische Ma- schinen. Die Tätigkeit, die sie aus- üben, besteht darin, der Elektri- zität, die durch sie hindurchgeführt wird, einen Gewinn oder Verlust v onEnergie zu erteilen, oder, wie man kurz sagt, eine elektromotorische Kraft (EMK) auf sie auszuüben. Da erfahrungsgemäß die Energieänderung,, die eine elektrische Maschine der Elektrizität erteilt, der beteiligten Elektrizitätsmenge proportional ist, so wählt man die von der Maschine an der Einheit der Elektrizitäts- menge hervorgebrachte Energieänderimg als Maß der EMK. Wirkt sie so, daß ein Gewinn an elektrischer Arbeitsfähigkeit resul- tiert, so nennt man den Apparat speziell einen „Generator" elektrischer Energie, und spricht von seiner EMK schlechthin; wirkt sie so, daß eine Einbuße an elektrischer Energie resultiert, einen „Verbraucher" und spricht von seiner „Gegen-EMK". Nimmt man als Einheit der Elektrizitätsmenge dasCoulomb und als Einheit der Arbeit das Joule = 107 Erg (vgl. den Artikel „Elektrische Lei- stung"), so erhält man als Einheit der elek- tromotorischen Kraft diejenige, die einem Coulomb eine Energieänderung von einem Joule erteilt. Diese Einheit heißt 1 Volt. Ein Generator von E Volt EMK erteilt also Q Cou- 29 450 Elektromotorische Kräfte lomb, die ihn passieren, einen Arbeitszuwachs von EQ Joule. Passieren J Coulomb/sec den Generator, d. h. fließt ein elektrischer Strom von J Ampere durch ihn, so werden in dem Generator EJ Joule/sec = JE Watt entwickelt, oder die „Leistung" des Ge- EJ nerators ist E J Watt = i=q~- PS. Em Ver- braucher von — E Volt Gegen-EMK ent- zieht entsprechend einem Strome von J Amp., der ihn durchfließt, EJ Watt, seine Leis- tung ist — EJ Watt. Wir können zusammen- fassen: Das Produkt aus EMK und Strom- stärke mißt der Größe und dem Vorzeichen nach die in einer elektrischen Maschine umgesetzte elektrische Energie. Es folgt aus dem Energieprinzip, daß ein Generator elektrischer Energie stets ein Verbraucher irgendeiner anderen Energie- form sein muß, und ein Verbraucher elek- trischer Energie stets ein Generator irgend- einer anderen Energieform. Oder: EMKK und Gegen-EMKK können in den elektrischen Maschinen stets nur entstehen durch Wechsel- wirkungen zwischen dem elektrischen Energie- träger und den anderen Energieträgern, die es gibt. So verlangt die Frage nach der Natur der elektromotorischen Kräfte zuvor die Be- antwortung der Frage: Welche Energie- träger gibt es außer dem elektrischen, und wie können sie mit dem elektrischen Energie- träger in Wechselwirkung treten? 2. Die Energieträger der heutigen Physik. Die alte Physik brauchte, um die Naturvorgänge beschreiben zu können, eine ganze Anzahl von Energieträgern, d. h. um es zu wiederholen, von Stoffen, die man mit Arbeitsfähigkeit beladen, und mit deren Hilfe man Form- und Ortsveränderungen der Energie vor sich gehend denken kann. Die moderne Physik hat die Zahl der Energie- träger auf 3 beschränkt, Weltäther, Elek- trizität, greifbare Materie. 2a) Weltäther. „Weltäther" ist der physikalische Ausdruck für den sogenannten „leeren Raum". Man hebt durch diese Be- zeichnung die erfahrungsmäßig auch an dem von Materie freien Räume vorhandene Fähig- keit heraus, Energieträger sein zu können (vgl. übrigens den Artikel „Weltäther"). a) Elektrische und magnetische Form der Aetherenergie. — Der Welt- äther kann Energie in zwei Formen aufnehmen: als elektrostatische und als magnetische Feldenergie, indem er in den elektrischen oder magne- tischen Zwangszustand versetzt wird (vgl. die Artikel „Elektrisches Feld" und „Magnetfeld"). Zwischen beiden be- stehen folgende eigenartige von Maxwell erkannte Beziehungen : I. Aendert sich die Stärke des elektrischen Zwanges, so besteht alsbald ein um die Richtung der Aen- derung wirbeiförmig angeordneter magnetischer Zwang, dessen Stärke der Aenderungsgeschwindigkeit proportional ist. Aus dieser Beziehung folgt der für manche Anwendungen geeignetere Satz: Aendert sich der „elektrische Fluß" (Feldstärke x Flächeninhalt) durch eine Fläche, so ist längs des Randes der Fläche eine magnetomoto- rische Kraft (Liniensumme der magnetischen Kraft) wirksam, die der Aenderungsge- schwindigkeit des Flusses proportional ist. Die Figur 1 veranschaulicht das und legt die Richtung des magnetischen Zwanges £ fest für den Fall, daß ein von vorn" nach hinten gerichteter elektrischer Zwang g in seiner Stärke vergrößert wird.1) Abnahme eines so gerichteten Zwanges ist gleich- bedeutend mit Zunahme eines Zwanges ent- gegengesetzter Richtung. IL Aendert sich die Stärke des magnetischen Zwanges, so besteht alsbald ein um die Richtung der Aenderungwirbelförmig angeordneter elektrischer Zwang, dessen Stärke der Aenderungsgeschwindigkeit proportional ist. Daraus folgt wie oben: Aendert sich der „magnetische Fluß" durch eine Fläche, so ist längs des Randes der Fläche eine elektromotorische Kraft wirksam, die der Aenderungsgeschwindigkeit des Flusses pro- portional ist, Die .zu Figur 1 analoge Figur 2 veranschaulicht wieder diese Be- ziehung und legt die Richtungen fest. $ *v Fig. 1. 4 Fig. ß) Die „Erregung der Aether energie". Wird irgendwo im Aether x) Im Gegensatz zu der üblichen historischen Festsetzung wird in diesem Artikel die Richtung des elektrischen Zwanges durch die Richtung festgelegt, in der ein Elektron getrieben wird. Ebenso die Richtung eines elektrischen Stromes- durch die Richtung in der sich die Elek- tronen bewegen. Elektromotorische Kräfte -451 (Fig. 3 bei 0) ein elektrischer Zwang ©j erregt, so entsteht nach I (Fig. 1) un- mittelbar darauf der Wirbel §x §x magne- tischen Zwanges. Das Entstehen dieses magnetischen Zwanges muß nach II (Fig. 2) das Entstehen von Wirbeln ©2 (52 elektrischen Zwanges zur Folge haben, die mit dem Ringe ^ §x verkettet sind und insgesamt einen Wirbelring mit der Achse §x ^ bilden. Fig. 3. Das Entstehen der elektrischen Wirbel d2 ist nun wieder von Wirbeln §2 magnetischen Zwanges begleitet, diese erzeugen die Wir- bel 63, diese wieder äp4 usw., bis das ganze Feld ergriffen ist, und sich eine Gleichgewichts- verteilung des elektrischen Zwanges herge- stellt hat. Figur 3 läßt nun deutlich Folgen- des erkennen: jeder entstehende neue Wirbel @ übt, durch Vermittelung der Wirbel £, dort, wo er sich mit dem vorhergehenden berührt, eine Gegenkraft auf diesen aus; die Verstärkung der Wirbel (S3 z. B. bedeutet gegen der die Wirbel Verstärkung einen Widerstand von ©2, Verstärkung ™ Widerstand gegen das Entstehen des Zwanges @! bei 0. Durch die Wirbel 62 summieren sich bei 0 die Gegenkräfte der ganzen Wirbel- kette schwindet: Dann wird die Reaktion des Feldes zur Aktion, durch deren Vermittlung die aufgespeicherte Feldenergie in andere Energieformen verwandelt werden kann. Wenn bei 0 ein magnetischer Zwang ent- steht oder verschwindet, bildet sich nach dem- selben elektromagnetischen Mechanismus ein magnetischer Zwangszustand im Aether aus. Das geschieht durch Arbeitsleistung gegen eineanaloge magnetische Reaktion des Aethers, und die aufgewendete Arbeit findet sich als magnetische Feldenergie im Aether aufgespeichert. y) Strahlende Aetherenergie. Bei diesen Prozessen wird, wie man sieht, Energie von der Erregungsstelle 0 aus in den Aether hinausgeschoben. Daß solche Energie- schiebung immer stattfinden muß, wenn an irgendeiner Aetherstelle gleichzeitig entstehender elektrischer Fluß und senkrecht zu seiner Rich- tungentstehender magnetischer Fluß zusammentreffen, läßt sich aus den Be- ziehungen I und II auch direkt erkennen (s. Fig. 4). Würde in 0 nur entstehender VS&. Wfff \\\\\ r/W Strahlrichtung Fig. 4. (£<> einen elektrischer Zwang zu einer Reaktion resultierenden des Aethers Gegenkraft, der Reaktion des Aethers gegen die ihm zugemutete Vergrößerung seines elektrischen Zwangszustandes. Die Ueberwindung dieser Reaktion macht erst die Ausbildung des Feldes möglich. Da- bei leistet die felderregende Kraft gegen diese Reaktion eine Arbeit. Und sie ist es, die sich nachher als elektrostatische Energie im Zwangsfelde des Aethers aufgespeichert findet. Der umgekehrte Vorgang tritt ein, wenn ein elektrischer Vorgang Zwangszustand ver- ©! wirken, so würde, wie Figur 1 zeigte, ein entsprechend ge- richteter elektrischer Zwang bei A und B vorhanden sein. Ist gleichzeitig bei 0 senk- recht zur Richtung von Q1 entstehender mag- netischer Zwang §a vorhanden, so läßt er nach Figur 2 bei A und B einen elektrischen Zwang ©2 entstehen, der bei A den dort vorhandenen Zwang Gi^ aufhebt, während er denselben bei B verstärkt. Sx wird also von 0 nach B hingeschoben. Mit §x ist es ganz ebenso, kurz, der ganze bei 0 ursprünglich vorhandene Zustand schreitet — und zwar mit Lichtgeschwindigkeit senkrecht zur Ebene Q1 £>x fort, die Richtung dieses Fortschr 29* legt Figur 5 452 Elektromotorische Kräfte die Strahlrichtung - relativ zu den Eich- tungen von % und Q1 noch einmal fest. Das gleichzeitige Vorhandensein von entstehen- dem elektrischem und magnetischem Zwang senkrecht zueinander bedeutet mit anderen t Stralilriclitung Fig. Worten das Vorhandensein einer Kraft, die auf den in der Strahlrichtung liegenden Aether elektromagnetische Energie überträgt. Wir wollen sie den elektromagnetischen Strah- lungsdruck nennen. Die pro Flächen- einheit übertragene Strahlungsenergie ist dem Produkt ©!.&! proportional (Poyntingscher Satz). Sowohl der entstehende elektrische, wie der entstehende magnetische Zwang übt die in Figur 3 veranschaulichte Gegen- kraft auf den Aether aus. Beide setzen sich, wie Figur 4 zeigt, analog dem Strahlungs- druck auf der Front, zu einem Strahlungs- gegendruck auf der Rückseite des Impulses zusammen. Das Erregen solcher fortschreiten- den elektromagnetischen Strahlung im Aether verlangt, daß man jenen Strahlungsgegen- druck durch äußere Kraft überwindet. Das erfordert wieder Arbeitsaufwand, die auf- gewendete Arbeit wird als elektro- magnetische Strahlungsenergie mit Lichtgeschwindigkeit durch den Aether fortgetragen. 2b) Elektrizität. Als ein für allemal vorhandene Träger der elektrischen Er- scheinungen nimmt die heutige Physik „Atome der Elektrizität", die Elektronen, an. Sie sind Ziel- und Haftpunkte eines radial symmetrischen elek- trischen Zwanges im Weltäther, der sich mit dem Quadrate des Ab- s tan des von ihnen verliert (siehe Fig. 6 die ausgezogenen Linien; vgl. auch den Artikel „Elektron"). Man kann eine elastische Analogie zu ihnen denken in dem Zwangsgebilde, das in einer großen Gallerte- masse durch Einbetten einer kleinen un- elastischen Kugel entstände; oder auch da- durch in entgegengesetzter Art, daß man eine kleine Gallertekugel entfernte, und die sich Wie innere Kugelbegrenzung der Gallerte auf einen Punkt zusammenziehen ließe. bei diesem Modell gibt es auch im Weltäther solche Zwangsgebilde zweierlei Art, posi- tiven und negativen Vorzeichens, die positive und negative Elektrizität. Indessen hat man bisher nur negative Elektronen wirklich beobachtet, während der entsprechende positive Zwangszustand stets an greifbarer Materie haftend gefunden wird. Daß man das ohne Annahme eines besonderen positiven Elektrizitätsatoms erklären kann, wird weiter unten besprochen werden. Wie es möglich sein kann, daß sich solche Zustände, wie es Elektronen sind, dauernd im Aether erhalten können, darüber fehlt bisher allerdings jede Vorstellung. a) Potentielle Energie derElektrizi- tät. Genau wie die elastische Masse der erwähnten Gallerte den elastischen Zwangs- zustand nur ungern erduldet und sich ihm nach Möglichkeit zu entziehen sucht, ist dies mit dem Aether in bezug auf den elek- trischen Zwang der Fall. Darum versteht man sogleich, daß die Elektronen sich gegen- seitig abstoßen müssen. Denn zwei Elek- Fig. 6. tronen an dieselbe Raumstelle bringen heißt, dem Aether einen doppelt so großen Zwang zumuten, als er schon von einem einzigen Elektron erdulden muß. Solange eine äußere Gewalt eine Annäherung nicht er- zwingt, werden darum die Elektronen sich so weit voneinander zu entfernen suchen, als es irgend geht. Das seits, daß man Arbeit wenn man Elektronen und daß in einem Komplex von zu- sammengedrängten Elektronen po- tentielle Energie oder Arbeitsfähig- keit steckt, die man wieder gewinnen kann, wenn man die Elektronen ihren Abstand vergrößern läßt. Man drückt die eben anschaulich ge- machten Beziehungen auch so aus: Durch die Nachbarschaft von Elektronen besitzt jede Raumstelle ein elektrisches Potential, dasselbe Pe Einheiten, so wird bedeutet anderer- aufwenden muß, zusammenpfercht, Beträgt Elektromotorische Kräfte 40:1 die Arbeit von PP Arbeitseinheiten erfordert, um ein Coulomb Elektronen aus unendlich großer Entfernung an die Stelle zu bringen. Bringt man eine Elektrizitätsmenge von Q Coulomb an die Stelle, so erfordert das einen Arbeitsaufwand von PQ Arbeits- einheiten, die als potentielle Energie an ihr aufgespeichert und wieder verfügbar werden, wenn die Elektrizitcätsmenge Q von der betreffenden Raumstelle aus in sehr weite Entfernung zurückgeschafft wird. Was es be- deutet, wenn man sagt, zwischen zwei Raum- steilen 1 und 2 herrsche eine Potential- differenz von P-, — P2 Einheiten, ist hieraus ohne weiteres klar. Als Einheit der Potential- differenz wird wieder das Volt benutzt. ß) Kinetische Energie der Elek- trizität. Die Elektronen können im Räume wandern, d. h. die betreffende Zwangs- anordnung des Aethers kann von Ort zu Ort fortschreitend übertragen werden. Da sich der Aetherzwang, wie wir sahen, nicht augenblicklich, sondern mit Lichtgeschwin- digkeit ausbreitet, so muß die Symmetrie- anordnung des zu einem Elektron gehörenden Aetherzwanges gestört werden, sobald man dem Elektron eine Geschwindigkeits- änderung zumutet. Figur 6 gibt mit den gestrichelten Linien schematisch davon eine Anschauung : Die vom Zentrum weiter abstehenden Aethergebiete werden erst ihrem Abstand entsprechend später von der Bewegung ergriffen. Ist schließlich der ganze Wirkungskreis des Elektrons von seiner Wanderung ergriffen, so zeigt das be- wegte Elektron eine Anordnung, wie sie in Figur 7 gestrichelt angedeutet ist, das Elektron erscheint „deformiert". Die Notwendigkeit und Art dieser De- formation läßt sich in folgender Weise er- kennen: Die Bewegung des Elektrons oder, mit anderen Worten, die Verschiebung des das Elektron bildenden elektrischen Zwanges im Aether muß durch den elektromagne- tischen Mechanismus erfolgen, wie er im vorigen Abschnitt beschrieben ist: Auf der Vorderseite des bewegten Elektrons wächst der nach vorne gerichtete elektrische Zwang, auf der Rückseite nimmt der nach hinten gerichtete ab. Nach der Grund- beziehung I entstehen also sowohl vor dem bewegten Elektron wie hinter ihm Wirbel magnetischer Kraft, wie das in Figur 8 Fig. 8. angedeutet ist. Nach dem Poyntingschen Satze herrscht also ein Strahlungsdruck, der, wie man sich mit Hilfe von Figur 5 leicht überlegt, vor dem Elektron elektromagne- tische Energie von der Bewegungsachse weg nach außen, hinter ihm von außen auf die Bewegungsachse zu schiebt. Bei der Bewegung des Elektrons muß aber die zum Elektron gehörige Ehiergie gleichmäßig vorwärts geschoben werden, d. h. die Energie muß aus jeder um das Elektron geschlagenen Kugel nach vorne vorquellen, von hintenher entsprechend einsinken. Eine solche Enereieverschiebune; kann, wie eine genaue Energieverschiebung kann, zeigt, nur stattfinden, Figur Rechnung 7 des gestrichelt bewegten wenn sich die in angedeutete Deformation Elektrons hergestellt hat. Natürlich kann das nicht ohne Arbeitsleistung geschehen; es ist also ein Arbeitsaufwand nötig, um einem Elektron Geschwindigkeit zu erteilen. Wenn ein Elektron Geschwindigkeit angenommen hat, trägt es die zu seiner „Deformation" aufgewendete Arbeit als kinetische Energie mit sich, um sie wieder abzugeben, wenn man ihm die Geschwindigkeit wieder entzieht. Dabei nimmt das Elektron dann wieder seine alte Gestalt an. y) Die magnetischen Aeußerun- gen bewegter Elektronen. Nach Figur 8 ist ein bewegtes Elektron von Wirbeln magnetischen Zwanges begleitet. Bewegen sich zwei Elektronen einander parallel, so hebt 454 Elektromotorische Kräfte zwischen ihnen der mit dem einen wandernde magnetische Zwang den mit dem anderen wandernden auf (Fig. 9). fim die dor Parallol- bewegungentspre^hende-Ene-rgieverschie-bnng sicherzustellen, müssen sich die beiden Elek- tronen wieder geeignet deformieren, etwa so, wie^es in der Figur 9 gestrichelt angedeutet ist. Das xiat zur Folge, daß sich die beiden be- Richtung 3 zu- m > wegten Elektronen nicht so stark abstoßen, wie sie es ruhend bei gleichem Abstände tun. Oder: Infolge der Bewegung lagert sich eine magnetische Anziehung über die elektrostatische Abstoßung, die um so größer ist, je größer die Geschwindigkeit der bewegten Elek- tronen ist. Dies ist die Elementarwirkung, welche den Anzieh ungs- und Abstoßungs- k/äften elektrischer Ströme zugrunde liegt Es — wird — unten — darauf -zurückgekommen^ Eine weitere für spätere Erörterungen wichtige Elementarwirkung wird auf ein in ei- nem Magnetfelde senkrecht zu seiner Richtung bewegtes Elektron ausgeübt. Man erkennt sie folgendermaßen: Die fein gestrichelten Linien in Figur 10 sollen ein homogenes Magnetfeld §F von der Richtung 1 bezeichnen. Senkrecht zur Ebene des Papiers fliege ein Elektron, das, wie wir sahen, von Wirbeln magnetischer Kraft §e begleitet ist, wie sie die Figur 10 andeutet. Man erkennt, daß der magnetische Zwang $qf des Feldes durch den des Elektrons §e bei B vermindert, bei A verstärkt wird, so daß eine Zwangsverteilung resultiert, wie sie durch die stark gestrichelten Linien angedeutet ist. Sie entsteht vor dem bewegten Elektron und verschwindet hinter ihm. Nimmt man den entstehenden elektri- schen Zwang dazu, so zeigt die Anwendung des Poyntingschen Satzes (Fig. 5), daß eine Energieschiebung in der stände kommen muß, d. h. daß das Elektron eine zu seiner Bewegungsrichtung und der Richtung des Magnetfeldes senkrechte Beschleunigung erfährt. Es muß also eine entsprechende Ablenkung von seiner Bahn erleiden. Man kann leicht erkennen, daß die Beschleunigung in der Richtung 3 um so größer sein wird, je stärker das Feld §p und je größer die $E bestimmende Geschwindigkeit des Elektrons ist. 6) Ausstrahlung elektromagne- tischer Wellen. Wird ein Elektron be- schleunigt, so wird seine der schließlichen Ge- schwindigkeit entsprechend deformierte Gleichgewichtsform nicht sofort erreicht, es tritt vielmehr folgendes ein : die von ihm aus- gehenden Kraftlinien werden in unmittelbarer Fig. 10. Nähe des Haftpunktes so deformiert, wie Figur 6 gestrichelt übertrieben zeigt. Das hat, wie die genaue Rechnung zeigt, zur Folge, daß die zur Formänderung des Elektrons im Sinne der Figur 7 nötige Energieschiebung auf Grund des Poyntingschen Satzes sichergestellt wird. Bei einer entsprechenden Verzögerung des Elektrons kehrt sich das Vorzeichen der Energiewanderung um und die alte Form des Elektrons stellt sich so wieder her. Findet eine ungleichförmige Beschleu- nigung, also eine zu- oder abnehmende Be- schleunigung des Elektrons statt, so wird die Felddeformation derart, daß zu der eben genannten eine Energieschiebung äquatorial zur Bewegungsrichtung erfolgt oder mit anderen Worten, daß ein elektromagnetischer Strahlungsimpuls ausgelöst wird, mit dem sich ein gewisser Betrag von Strahlungs- energie auf Nimmerwiederkehr von dem Elektron entfernt. Auf Nimmerwiederkehr; denn das Abstoßen dieses Impulses erfolgt, wie die Rechnung ergibt, obwohl es sich nicht mehr leicht anschaulich machen läßt, immer, gleichviel ob es sich um eine Ver- Elektromotorische Kräfte 455 größerung oder Verkleinerung einer Be- schleunigung handelt. Die bei einer Ver- größerung abgestoßene Energie kehrt daher nicht wieder zurück wenn man später die Vergrößerung der Beschleunigung durch eine entspreohende Verkleinerung rückgängig macht, sondern es löst sich auch hierbei wieder ein gleicher Impuls ab; lediglich die Richtung der magnetischen und elek- trischen Kräfte erscheint umgekehrt, wo- durch die Strahlrichtung nicht verändert wird (vgl. Fig. 5). Die einmal abgestoßenen Impulse stellen nun selbständige, im Aether existierende Energiegebilde dar. Der weg- wandernde Impuls übt dabei, wie früher gezeigt, den Strahlungsgegen- druck aus, dessen Ueberwindung notwendig ist, um die Strahlungs- arbeit zu leisten. Die Bedingungen für die Entstehung des Strahlungsimpulses werden um so günstiger, und es wird um so mehr Energie in dem Strahlungsimpuls fortgetragen, je größer die Beschleunigungs- änderung ist. Die periodische Ausstrahlung, die in dieser Weise als elektromagnetische Welle von einem hin und her schwingenden Elektron ausgeht, ist das, was wir in einem bestimmten Wellenlängenbereich als Licht empfinden (s. den Artikel „strahlende Aetheren e r gi e"), in einem Bereiche größerer Wellenlängen als strahlende Wärme (vgl. den Artikel „Infrarot"), und was wir im Bereiche sehr großer Wellenlänge in der drahtlosen Telegraphie benutzen (vgl. den Artikel „Elektrische Schwingungen"). 2C) Materie. Auch sie denken wir, wie die Elektrizität, atomistisch aufgebaut, aus ein für allemal vorhandenen unendlich kleinen Bausteinen, den Atomen (vgl. den Artikel „Materie"). a) Potentielle Energie der Materie. Auch die Atome sind Haft- und Zielpunkte eines Zwangszustandes im Aether, in dessen Wesen uns allerdings bisher eine tiefere Einsieht fehlt. Man ist hier noch auf dem Standpunkte, den man auch bei der Elek- trizität vor Faraday und Maxwell hatte, und muß sich einstweilen damit begnügen, von Atom zu Atom wirkende „Fernkräfte" einzuführen, einer künftigen Entwickelung vorbehaltend, den sie vermittelnden Aether- mechanismus aufzudecken. Diese von den Atomen ausgehenden, auf andere Atome an- ziehend wirkenden Fernkräfte bestimmen den Zusammentritt von Atomen zu Molekü- len, von Molekülen zu Körpern. Sie äußern sich weiter in der Gravitation der Massen aufeinander. In allen diesen Fällen erfordert es, im Gegensatz zu den Elektronen, der Arbeitsleistung eines äußeren Zwanges, wenn man die Atome voneinander trennen will, bezogen Diese an ihr aufgewendete erlangte während umgekehrt Arbeit verfüg- bar wird, wenn sie sich einander nähern. Anders gesprochen: Jede Raum- stelle in der Nähe greifbarer Materie besitzt ein materielles Potential von — Pm Ein- heiten, d. h. es wird die Arbeit von Pm Arbeitseinheiten erfordert, um die Massen- einheit von dieser Stelle aus in die Unend- lichkeit zu bringen. Eine Masse von m Einheiten besitzt also in der Unendlichkeit auf einen Punkt vom Potential Pm eine potentielle Energie von — Pmm Arbeitseinheiten, die verfügbar werden, wenn sie aus der Unendlichkeit an den Bezugs- punkt gebracht wird. ß) Kinetische Energie der Materie. Um der Materie Geschwindigkeit zu er- teilen, ist ebenfalls ein Arbeitsaufwand nötig, unter Ueberwindung ihres durch die Masse m gemessenen „Trägheitswider- standes.' Arbeit trägt sie durch die Geschwindigkeit als ki ne ti s che Energie mit sich fort. Entzieht man ihr ihre Geschwindigkeit, so wird diese Energie wieder verfügbar. Die kinetische Energie der Materie erweist sich dem halben Produkt aus Masse und Geschwindigkeits- quadrat proportional. Die Uebertragung dieser Beziehung auf das Elektron führt zu dem Begriff „Masse des Elektrons". Sie muß sich von der Geschwindigkeit ab- hängig zeigen, sobald die kinetische Energie des Elektrons schneller als das Quadrat der Ge- schwindigkeit wächst. Eine solche komplizier- tere Abhängigkeit ist in der Tat beobachtet worden (vgl. den Artikel „Elektronen"). y) Beziehungen zwischen der Materie und der Elektrizität. Wie wir die Elektronen als Aetherge bilde annahmen, so kommt man heute aus mancherlei Gründen mehr und mehr dazu , die Atome als Elektronengebilde anzusehen. Namentlich die Erscheinungen der Spektro- skopie zwingen uns, die Atome als stabile Anordnungen von mehr oder weniger zahl- reichen Elektronen, gewissermaßen als kleine Weltsysteme aus Elektronen, zu denken. Wenn die beteiligten Elektronen um ihre Gleichgewichtslage im Atom Schwingungen ausführen, sendet das Atom nach dem S. 451 beschriebenen Mechanismus ein cha- rakteristisches Licht aus. Da die Bewegung eines Elektrons im Aether nach Abschnitt 2 b nichts anderes ist, als ein Sichfortschieben eines Aether- zustandes, so erscheint auch die Bewegung der Materie in dieser Weltanschauung als ein Sichfortschieben eines allerdings äußerst komplizierten Aetherzustandes. Dabei würden also die wandernden Körper gewissermaßen 456 Elektromotorische Kräfte in jedem Augenblick in Aether zerfallen und gleichzeitig an der benachbarten Raumstelle neu aufgebaut. Wenn dem Atom Elektronen seines normalen Bestandes gewaltsam entzogen werden, wird es, als sogenanntes positives Atomion, zur Haftstelle des positiven elek- trischen Zwangszustandes ; es erscheint positiv elektrisch geladen. Ebenso bilden sich positive Molekülionen. Auch negative Atom- und Molekülionen können entstehen, indem neutrale Atome oder Moleküle mit Elektronen beladen werden können. So ist das Auftreten des positiven elektrischen Zwangszustandes (ge- kennzeichnet durch einen negativen Wert des Potentials) lediglich der Ausdruck eines Mangels von Elektronen; er ist gewissermaßen eine Störung in dem kleinen Weltsystem, welches wir Atom nennen. Diese Anschauung führt sofort zu der Erklärung des Erfahrungssatzes, daß beim Entstehen irgendeiner Elektrizitäts- menge stets die gleichgroße entgegen- gesetzter Art auftritt (Satz von der Er- haltung der Elektrizität). Und die Kraft- wirkungen, die zwischen all den genannten elektrisch geladenen Gebilden bestehen müssen, erklären folgerichtig alle die Er- scheinungen, wie sie die Erfahrung an elektrisierten Körpern wirklich zeigt: gleich- namig elektrisierte Körper stoßen sich ab, ungleichnamig elektrisierte ziehen sich an. So erkennen wir: Die an Materie haften- den Elektrizitäten bieten durch ihre Beziehung zum Aether die Hand- haben, um einen Energieaustausch zwischen dem Aether und der Materie zu vermitteln. 3. Energieformen. Wenn wir die ma- gnetische Feldenergie, weil sie stets mit Bewegung von Elektrizität verbunden er- scheint, als die kinetische Energie des Aethers, und die elektrostatische Feldenergie als die potentielle Energie des Aethers be- zeichnen, so können wir als Ergebnis des vorigen Abschnittes aussprechen, daß jeder der drei Energieträger in zwei Formen, potentiell und kinetisch, Energie aufnehmen kann. Dabei besteht für alle drei die gleiche Arbeits- beziehung zwischen den beiden Formen, daß stets die eine in demselben Be- trage entsteht, als die andere ver- schwindet: Das Energieprinzip für jede Welt, in der nur ein Energieträger ins Spiel kommt. Dieses einfache Schema mit seinen 6 Energieformen reicht in der Tat aus, das Wechselspiel der physikalischen Erschei- nungen logisch zu umfassen. Wir können diese 6 Energieformen die „rationellen Energie- formen der Physik" nennen. Die praktische Physik unterscheidet indessen auf Grund der Sinnesempfindungen, die uns von den Naturvorgängen Kenntnis geben, in anderer Weise. Sie spricht von mechanischer Energie, Wärmeenergie, chemischer Energie, Licht- energie, elektrischer Energie. Das Verhältnis dieser praktischen Energie- formen zu den 6 rationellen Formen ist folgendes: Mechanische Energie ist kinetische oder potentielle Energie der Materie, wie sie sich grobsinnlich durch unseren Tastsinn offen- bart; gewissermaßen die makroskopische Dar- stellung der Energie der Materie. Ihre mikro- skopischen Darstellungen sind die Wärme- energie und die chemische Energie. Die che- mische Energie (vgl. den Artikel „Chemische Energie") ist nämlich die Arbeitsfähigkeit, die den Körpern durch die Anordnung ihrer Atome im Molekül innewohnt. Die Wärmeenergie ist die Arbeitsfähigkeit, die die Körper durch die Bewegung ihrer kleinsten Teilchen haben (vgl. den Artikel „Kinetische Theorie der Materie"). In beiden Fällen reichen unsere Sinne nicht aus, die Anordnung und Bewegung der klein- sten Teilchen im einzelnen wahrzunehmen; sondern es stellt sich ihnen immer nur das Zusammenwirken unzähliger solcher Teilchen in einheitlich charakterisierten Gesamtempfindungen dar. Lichtenergie im weitesten Sinne ist strahlende Aetherenergie, deren Wesen im Abschnitt 2 genau charak- terisiert ist. Ebenso ist das Wesen der elektrischen Energie dort klargelegt. Man faßt als elektrische Energie die beiden durch die Elektronen vermittelten Formen der Aetherenergie zusammen, wie die beiden Formen der Energie der Materie durch das Wort mechanische Energie. Es gibt üb- rigens auch auf dem Gebiete der greifbaren Materie die der strahlenden Aetherenergie entsprechende Form; die Schallenergie ist ein Beispiel. Doch pflegt man sie nicht als be- sondere Form hervorzuheben. Unsere Aufgabe ist jetzt, zu zeigen, wie die vier ersten Energieformen in elektrische Energie verwandelt werden können, d. h. wie durch mechanische, chemische, Wärme- und Lichtvorgänge EMKK entwickelt und in elektrischen Maschinen zur Energieum- setzung ausgenutzt werden können. Das soll aus didaktischen Gründen in folgender Reihenfolge geschehen: EMKK, die tätis: sind auf Rechnung a) von Wärmeenergie, b) von chemischer Energie, c) von mechanischer Energie, d) von strahlender Aetherenergie. Jede dieser EMKK kann als Generator- kraft wie als Verbraucherkraft (Gegen-EMK) Elektromotorische Kraft« \ 457 tätig sein. So können wir über die Energie- träger beteiligt ist, folgende systematische prozesse, an denen der elektrische Energie- 1 Uebersicht geben: A. Generatoren: In ihnen sind EMKK tätig auf Kosten von B. Verbraucher: In ihnen sind Gegen-EMKK tätig zum Gewinn von Thomsoneffekt Peltiereffekt Thermoelemente a) Wärmeenergie. Spannungsabfall in stromdurchflossenen Leitern Thomsoneffekt Peltiereffekt Thermoelemente. Elektrolytische Abscheidung Galvanische Elemente Akkumulatoren bei der Entladung b) Chemischer Energie. Elektrolytische Zersetzung Akkumulatoren bei der Ladung. c) Mechanischer Energie. Elektrophor Influenzmaschine als Generator Dynamogeneratoren Telephonempfänger Konzentrationsketten. Elektrophor Influenzmaschine als Motor Dynamomotoren Telegraphenapparat Telephonhörer Elektrolytische Polarisation trationsänderung. durch Konzen- Lichtabsorption Empfänger für drahtlose Telegraphie Transformator (Sekundärseite) 4. Der Mechanismus der elektro- motorischen Kräfte. 4a) Auf Rechnung von Wärmeenergie tätige EMKK a) Spannungsabfall in stromdurch- flossenen Leitern. Die praktisch be- deutsamste auf Rechnung von Wärmeenergie tätige EMK tritt bei der Elektri- zitätsleitung auf und bewirkt als Gegen- EMK, daß dabei stets der wandern- den Elektrizität Energie entzogen und in Wärme (Joulesche Wärme) verwandelt wird. Bei metallischen und flüssigen Leitern ist die Gegen-EMK der Stromstärke i proportional = — iw. Zwischen zwei Aequipotentialflächen eines Leiters von der Potentialdifferenz e bildet sich also ein solcher Strom, daß stets e — iw= 0 oder e = iw ist (Ohmsches Ge- setz). — w ist die der Stromstärke 1 ent- sprechende Gegen-EMK und wird Leitungs- widerstand genannt (vgl. Näheres in den Artikeln „Elektrizitätsleitung" und „Elektrischer Widerstand"). Für zylindrische Leiter ist w = y„ - - (1 Länge, q Querschnitt, Für d) Strahlender Aetherenergie. Lichterregimg gasförmige Leiter x spezifischer Widerstand). ist die Gegen-EMK Sender für drahtlose Telegraphie Transformator (Primärseite). eine kompliziertere, durch sehr verschieden- artige physikalische Umstände bestimmte Funktion "der Stromstärke (vgl. den Artikel „Elektrizitätsleitung in Gasen"). Der Mechanismus dieser Gegen-EMK ist folgender: Die Leiter sind Körper, zwischen deren Molekülen sich entweder Elektronen oder Ionen frei bewegen können. In den Metallen sind es freie, aus dem Molekül- verbande ausgeschwärmte Elektronen, die den Elektrizitätstransport vermitteln, in den flüssigen Leitern (Elektrolyten) sind es durch Dissoziation der neutralen Moleküle unter dem Einflüsse des Lösungsmittels entstandene Ionen, in den gasförmigen Leitern sind es Ionen, die durch erzwungene Dissoziation der Gasmoleküle entstehen (Näheres siehe im Artikel „Elek- trizitätsleitung"). Wird nun in dem zwischen den Molekülen des Leiters vor- handenen Aether der elektrische Zwangs- zustand erregt, so fangen die in ihm schwimmenden Elektronen oder Ionen an in entsprechenden Richtungen zu wandern und wandeln dabei ihre potentielle Energie in kinetische um, bis sie mit einem Atom oder Molekül zusammenstoßen und ihm ±r>* Elektromotorische Kräfte ihre kinetische Energie nach den Stoß- gesetzen übertragen. Dies immerzu, so daß fortwährend im ganzen Leitungsgebiete Verwandlung von potentieller Energie der Elektronen in kinetische Energie der Mole- küle, d. h. in Wärme stattfindet. Die mathe- matische Diskussion des Vorgangs zeigt, daß die so — gewissermaßen durch Reibung der Elektrizität an der Materie — hervor- gebrachte Gegen-EMK in der Tat der Stromstärke proportional sein muß. ß) Thomsoneffekt. Erwärmt man einen Leiter an einer Stelle, während man eine andere Stelle durch Kühlen auf tiefer Tem- peratur hält, so wird zwischen diesen beiden Stellen eine EMK wirksam, die von der kalten zu der warmen Stelle ge- richtet ist. Die umherschweifenden Elek- tronen oder Ionen müssen nämlich stets mit dem Leiter im Wärmegleichgewicht stehen, d. h. sie müssen dieselbe mittlere kinetische Energie haben, wie die neutralen Moleküle des Leiters. Sie verhalten sich in den Zwischenräumen zwischen denselben genau wie die Moleküle eines in einem Lösungs- mittel aufgelösten Stoffes und üben durch die Zusammenstöße mit den Molekülen einen dem osmotischen Druck analogen „elektrosmo- tischen Druck" aus. Wird die Temperatur des Leiters an einer Stelle erhöht, so wächst auch der elektrosmotische Druck und die Elektronen strömen solange in der Richtung des Wärmestromes, bis der durch die Elektro- nenanhäufung an der kalten Stelle auftretende elektrische Gegendruck dem elektrosmoti- schen Drucküberschuß das Gleichgewicht hält. Die zur kalten Stelle gedrängten Elektronen erhalten so auf Kosten von kineti- scher Energie der Moleküle potentielle Energie, kurz es entsteht durch den Wärmestrom eine dem Wärmestrom entgegengerichtete EMK. Sie muß sich darin äußern, daß ein elektrischer Strom in einem solchen Leiter eine größere oder kleinere Wärmeentwicke- lung ergibt, als der Joule sehen Wärme entspricht, je nachdem er seine Elektronen mit dem oder gegen den Wärmestrom führt; je nachdem also jene EMK als Verbraucher- oder Generatorkraft ausgenutzt wird. Das ist aber gerade das, was im sogenannten Thom- soneffekt beobachtet wird. Das elektrische Feld, welches den Strom treibt, wird in dem einen Falle von jener EMK geschwächt, im anderen Falle verstärkt, so daß die bewegten Elektronen oder Ionen zwischen zwei Zusammenstößen mit Molekülen ent- weder weniger oder mehr kinetische Energie aufnehmen, als sie es tun, wenn das Tempe- raturgefälle fehlt. y) Peltiereffekt. Bringt man zwei ver- schiedene Leiter 1 und 2 (Fig. 11) in Be- rührung, so muß von dem Leiter 1, in dem die Elektronen oder Ionen den größeren elektrosmotischen Druck haben sollen, Elektrizität in den Leiter 2 gedrückt werden. So wirkt analog wie beim Thomsoneffekt, so- wohl bei A wie bei B, eine EMK im Sinne der Pfeile von 2 nach 1. Schickt man einen Strom im Sinne der gefiederten Pfeile, so wird das ihn treibende Feld Fig. 11. bei B geschwächt, bei A verstärkt. In- folgedessen erfahren bei B die passierenden Elektronen zwischen zwei Zusammenstößen eine kleinere Beschleunigung, bei A eine größere als in einem homogenen Leiter; um unter diesen Umständen die mittlere kine- tische Energie der Moleküle und Elektronen gleich zu halten, muß also bei B kinetische Energie von den Molekülen auf die Elektronen, bei A von den Elektronen auf die Moleküle übergehen, d. h. bei B tritt Abkühlung, bei A Erwärmung auf. Das ist es, was beim Peltier- effekt beobachtet wird. ö) Thermoelemente. Was wir unter y gefunden haben, ist, etwas anders ausge- drückt: durch den • Elektronenstrom wird Wärme von B weggenommen und nach A auf höhere Temperatur überführt. Das ist ein Vorgang, der nach dem zweiten Haupt- satz der Wärmelehre nur erzwungen werden kann, dem sich also eine Kraft widersetzt. Daher ist zu schließen, daß mit dem Ein- treten einer Temperaturdifferenz zwischen A und B eine EMK in dem Kreise auf- tritt, die sich dem Elektronenstrom in der Richtung der gefiederten Pfeile widersetzt. Heizt man also A von außen und kühlt B ab, so ist in der Kombination unserer zwei Leiter ein Strom im entgegengesetzten Sinne der gefiederten Pfeile zu erwarten. Das tritt in der Tat bei den sogenannten Thermoelementen ein. Der Mechanismus ist der: Mit der Temperatur nimmt der elek- trosmotische Druck in 2 schneller zu wie in 1, so daß die EMKK bei A und B mit zunehmen- der Temperatur kleiner werden. Wird A auf höhere Temperatur erhitzt wie B, so heben sich die EMKK bei A und B nicht mehr auf, sondern es bleibt ein Ueberschuß im ge- nannten Sinne, der den Thermostrom be- wirkt. Man erkennt, daß Thomsoneffekt, Peltiereffekt, Thermokraft stets kombiniert auftreten müssen, und daß sie im Grunde Elektromotorische Kräfte 459 nur verschiedene Aeußerungen ein und des- selben molekularen Mechanismus sind (Näheres s. im Artikel „Thermoelektri- zität"). Es sei noch darauf hingewiesen, daß die sogenannten glühelektrischen Erscheinungen (vgl. den Artikel „Glühelektrische Er- scheinungen") gestatten, die Thermo- EMKK mit Metallen ohne direkte Berührung zu erreichen. Bei Glühtemperatur wird nämlich der elektrosmotische Druck der Elektronen so groß, daß die Elektronen durch die Oberfläche hinausgetrieben und so EMKK gebildet werden. 4b) EMKK auf Rechnung von, chemischer Energie. Ist bei dem durch Figur 11 veranschaulichten Versuche Leiter 2 ein Metall, 1 eine wässerige Lösung eines seiner Salze, also ein Elektrolyt, so treten außer der EMK des Thomsoneffektes noch andere weit größere bei A und B auf. In Figur 11 sei z. B. 2 Kupfer, 1 eine Kupfersulfatlösung. Wenn man einen Strom zirkulieren läßt, der die Elektronen in der Richtung der gefiederten Pfeile treibt, so tritt bei A eine Auflösung von Kupfer ein, bei B eine Abscheidung, oder anders ausgedrückt, es wird gewisser- maßen chemische Energie durch die Elek- tronen von B nach A transportiert. Denn Auflösung von Kupfer bedeutet nach Ab- schnitt 4 Verbrauch, Abscheidung Gewinn von chemischer Energie. Als Tauschenergie kommt lediglich die von der Elektrizität mitgeführte Energie in Betracht. Darum muß der Elektrizität bei A Energie ent- zogen, bei B Energie erteilt worden sein; oder bei A muß auf Rechnung chemischer Energie eine Verbraucher-, bei B eine Generator -EMK tätig sein. Um sie zu erklären, führte Nernst den frucht- baren Begriff des elektrolytischen Druckes („Lösungstension") ein: Wie Zucker in Be- rührung mit Wasser einen Lösuiigsdruck entwickelt, der so lange Zuckermoleküle in Lösung treibt, bis der osmotische Druck der Zuckermoleküle in der Lösung dem Lösungsdruck gleich ist, so wirft in- folge der Lösungstension ein Metall positive Metallionen in die Lösung. Die an der Oberfläche zurückbleibenden Elektronen suchen die hinausgetriebenen positiven Ionen zurück- zuholen: wenn die Lösungstension ebenso- viele positive Ionen in der Sekunde aus dem Metalle hinaus wirft, wie die zurückgebliebenen Elektronen zurückholen, so besteht Gleich- gewicht. An der Grenzfläche sind dann im Innern des Metalles Elektronen, in der Lösung positive Ionen zusammengedrängt: wir haben eine sogenannte elektrische Doppel- schicht, Zwischen den Belegungen der- selben herrscht natürlich ein starkes elektri- sches Feld, welches ein hineingeratendes Elektron vom Metall in die Lösung wirft und ihm dabei entsprechende Energie erteilt. Umgekehrt erfordert es Arbeitsaufwand, ein Elektron von der Lösung ins Metall zu bringen. Kurz wir haben die EMK, wie wir sie zur Erklärung der Elektrolyse für notwendig erkannt haben. Denn wird ein Strom in der Kombination erregt, der die Elektronen in der Richtung des gefiederten Pfeiles führt, so tritt folgendes ein: Der Elektronenseite der Doppelschicht ! bei B strömen aus dem Metallinnern Elek- tronen zu, so daß das Gleichgewicht der Doppelschicht gestört wird, und in das Metall mehr positive Ionen zurückgeholt werden, als durch die Lösungstension austreten. Die zurückgeholten neutralisieren sich mit den überschüssigen Elektronen, und es schlägt sich Kupfer nieder. Durch Dissoziation von neutralen Molekülen wird immer wieder für neue Ionen in der durch den Prozeß ver- armten Grenzschicht der Lösung gesorgt. Bei B wandern umgekehrt von der Elektro- nenseite der Doppelschicht Elektronen in das Metallinnere, der positiven Seite strömen negative Ionen zu. Hier findet also eine Gleichgewichtsstörung im umgekehrten Sinne statt: Die Lösungstension wirft mehr positive Ionen in die Lösung, als von ihr zurückkommen, das Kupfer löst sich auf. Auch hier wird der Ueberschuß an positiven und negativen Ionen in der Grenzschicht durch Neutralisation ausgeglichen. Da nun die Lösungstension bei verschiedenen Me- tallen verschieden groß ist, bei den edlen Metallen klein, bei den unedlen groß, so ist auch die „Stärke" der entsprechenden Doppelschichten bei den ersteren klein, bei den letzteren groß. Machen wir also den Ver- such mit zwei Metallen, so wie in Figur 12 angedeutet, wo 2 z. B. Kupfer, 3 Zink, 1 ver- dünnte Schwefelsäure sei, so wird bei A im Sinne des Pfeiles eine kleine, bei B eine große EMK wirksam sein, es bleibt im ganzen ein Ueberschuß, welcher dauernd Elek- tronen in Richtung des gefiederten Pfeiles treibt. Dabei muß sich bei B Zink auf- lösen, bei A Kupfer niederschlagen. Dies ist das Schema eines galvanischen Ele- mentes, speziell des Danielischen Elemen- tes. Auf Nebenerscheinungen, die praktisch 460 Elektromotorische Kräfte dieses einfache Schema komplizieren, auch auf den Zusammenhang zwischen der von dem Element gelieferten elektrischen und der bei den betreffenden chemischen Pro- zessen freiwerdenden Energie kann hier nicht eingegangen werden. Darüber wird ein- gehend in dem Artikel „Galvanische Ketten" gesprochen. Nur darauf sei hingewiesen, daß häufig die Elektroden- oberflächen beim Stromdurchgange durch sekundäre chemische Prozesse so ver- ändert werden, daß sich Stoffe mit anderen Lösungstensionen an ihnen bilden. Macht man z. B. den Versuch (Fig. 11) mit Blei bei 2 und verdünnter Schwefelsäure bei 1, so wird an der Grenzfläche, von der die Elek- tronen in dem Blei durch den Strom wegge- führt werden (der Anode), Bleisuperoxyd gebildet, während die Kathode unverändert bleibt. Bleisuperoxyd hat im Verhältnis zum Blei eine sehr große Lösungstension, darum wird durch die Bildung des Bleisuperoxyds eine Gegen-EMK in dem Kreise geweckt. durch deren Ueberwindung die den Strom erregende EMK die chemische Arbeit des Bleisuperoxydbildens leistet. Läßt man die den Strom erregende EMK zu wirken aufhören, so wird jetzt die Kombination Bleisuperoxyd-Blei als Element arbeiten und einen dem ,,Ladungs"-Strom entgegenge- setzten „Entladungsstrom" durch den Kreis treiben, wobei sich das Bleisuperoxyd all- mählich wieder in Blei verwandelt. So wird die ursprünglich aufgewendete elek- trische Energie wieder zurückgewonnen. Dieser Versuch ist die Grundlage für die sogenannten Akkumulatoren, die Aufspeiche- rungselemente für elektrische Energie (Näheres siehe in den Artikeln „Elektro- chemie" und „Galvanische Ketten"). So fruchtbar nun auch der Begriff Lösungstension sich für die theoretische Be- herrschung der galvanischen Elemente und der Elektrochemie überhaupt erwiesen hat, so ist doch zu sagen, daß er uns den Mechanis- mus der betreffenden Prozesse nicht weiter aufklärt. Wie das Hinauswerfen positiver Ionen aus den Metallen zustande kommt, darüber hat man sich bisher noch keine be- friedigenden Vorstellungen machen können. Wenn wir annehmen, daß primär die neu- tralen Metallmoleküle in Lösung gehen, daß sie dann wie Elektrolyte im Lösungsmittel dissoziiert werden, und daß nun der in der Lösung größere elektrosmotische Druck der Elektronen die bei der Dissoziation ent- standenen in das Metall zurücktreibt, so haben wir den Vorgang wenigstens auf andere uns bekannte zurückgeführt. Doch harren hier noch viele Fragen einer zuver- lässigen Beantwortung. 4c) Elektromotorische Kräfte auf Rechnung von mechanischer Energie. Das Wesen der EMK-Erzeugung bestellt prin- zipiell immer darin, daß Elektronen durch geeignete Wechselwirkungen mit den beiden anderen Energieträgern entgegen ihren Ab- stoßungskräften zusammengepfercht werden. Bei den chemischen EMKK geschah dieses Zusammenpferchen dadurch, daß die positiven Ionenbestandteile der Metallmoleküle gewalt- sam von ihren Elektronen entfernt und in die Lösung gebracht wurden; hier kommen sie also gleich primär mit potentieller Energie in Aktion. Bei den Thermo-EMKK geschah es durch Stöße von Seiten der Moleküle auf die Elektronen; hier treten also die Elek- tronen primär mit kinetischer Energie in Aktion, und es geht erst sekundär ihre kinetische Energie in potentielle über. Ge- waltsame Trennung der beiden elektrischen Bestandteile von Molekülen oder Atomen einerseits, Stöße auf die Elektronen von Seiten der Moleküle und Atome andererseits sind auch die beiden Mittel, durch die es gelingt, EMKK auf Rechnung von mechani- scher Energie zu erzeugen. Nur treten die beiden Vorgänge hier nicht in molekularer Unordnung, sondern in makroskopischer Ordnung zusammengefaßt in Erscheinung. Die entsprechenden beiden Wege sind folgende: a) Es seien 1 und 2 in Fig. 13 zwei Metall- platten, die durch eine möglichst dünne 2U. ■■-. ..- IL JM W in» (im W M ED Fig. 13. Isolationsschicht voneinander getrennt sind. Durch Verbindung derselben mit den beiden Polen irgendeiner EMK, z. B. eines gal- vanischen Elementes E, seien seine Elek- tronen z. B. von 1 nach 2 getrieben, so daß die beiden Platten nach Aufhebung der Verbindung mit dem Element eine elektri- sche Doppelschicht repräsentieren. Die auf 2 liegenden Elektronen üben dabei aufein- ander nur kleine Abstoßungskräfte aus, weil der von ihnen ausgehende negative Aetherzwang durch die auf Platte 1 befind- lichen positiven Ionen kompensiert wird; die von den Elektronen auf 2 ausgehenden Kraftlinien sind gewissermaßen durch die benachbarten positiven Atomionen gefesselt. Natürlich ziehen sich deshalb die beiden Flächenladungen von 1 und 2 mit beträcht- licher Kraft an. Da die Leiteroberfläche den Elektronen und Ionen den Austritt nicht ge- stattet, so muß sich die Anziehungskraft zwischen den Elektrizitäten als mechanische Elektromotorische K räfte 4G1 Kraft zwischen den beiden Platten äußern. Und wenn man ihr entgegen die Platten trennt, so trägt man mit der Platte 2 die auf ihr befindlichen Elektronen unter mecha- nischer Arbeitsleistung weg. Da dabei die Fesseln ihrer Kraftlinien gelöst werden, ent- wickeln sie jetzt frei ihr elektrisches Zwangs- feld im Aether, und damit treten die ab- stoßenden Kräfte aufeinander vollwertig in Erscheinung, es wird eine EMK gebildet. Kurz gesagt: EMKK, welche eine Um- wandlung mechanischer Energie in elektrische gestatten, entstehen da- durch, daß man elektrische Doppel- schichten mechanisch auseinander reißt. An Stelle der Metallplatte 1 kann man auch eine Platte aus einem geeigneten Nichtleiter verwenden, die durch Reibung elektrisiert ist (Fig. 14) Diese Anordnung Erde /[ 2[ Fig. 14. ist der sogenannte Elektrophor. Die Platte 1 ist dann selbst Träger der EMK, welche die Doppelschicht an der Be- rührungsfläche erzeugt, indem sie die Elektronen in der Platte 2 anzieht oder ab- stößt, und die hilfselektromotorische Kraft E ist überflüssig. Man muß dann die Platte 2, während sie in Berührung mit dem Nicht- leiter ist, zur Erde ableiten, um die auf der oberen Fläche von 2 entstehende entgegen- gesetzte Ladung abzuleiten. Hebt man dann 2 von 1 ab, so entsteht wieder die EMK, die man durch Berührung einem isolierten Kon- duktor mitteilt. Nun läßt sich der Vorgang immer in der gleichen Weise wiederholen, während sich die dem Konduktor mitgeteilte EMK betätigt. Die sogenannten Influenz- maschinen sind Anordnungen, die diese ganzen Vorgänge, z. B. durch Rotation gewisser Teile relativ zu anderen feststehenden, dauernd in rascher Folge wiederholen oder kontinuier- lich wirkend gestalten. Die nähere Ausführung dieser Maschinen siehe im Artikel „Elektrische Influenz". Diese Maschinen können auch, allerdings nur mit einem ge- ringen Wirkungsgrade, als Motore arbeiten, d. h: unter Ausnutzung ihrer EMK als Verbraucherkraft für zugeführte elektrische Energie. Auch die EMK, die bei der sogenannten Reibungselektrizität entsteht, sowie die- jenige, die bei dem Hindurchleiten von nichtleitenden Flüssigkeiten durch Kapillaren auftritt, wird einem solchen mechanischen Auseinanderreißen von elektrischen Doppel- schichten verdankt. Nur ist bisher nicht auf- geklärt, durch welche Kräfte diese Doppel- schichten an der Trennungsfläche zweier Nichtleiter geschaffen werden. Ebenso ge- hört die EMK der sogenannten Kon- zentrationsketten hierher, die sich als po- larisierende Gegen-EMK in einem strom- durchflossenen Elektrolyten bildet, indem sich infolge der verschiedenen Wanderungs- geschwindigkeit der positiven und negativen Ionen ein Konzentrationsgefälle in dem Elektrolyten herstellt (Näheres hierüber s. in dem Artikel „Elektrolytische Leitfähigkeit"). ß) Aus Abschnitt 2 wissen wir, daß ein in einem Magnetfeld senkrecht zu den Induk- tionslinien bewegtes Elektron eine Be- schleunigung senkrecht zur Bewegungs- richtung und zur Feldrichtung erfährt, wie es in Figur 15, dargestellt ist. Beschleunigungsrichtung Es sei nun ab in Bewegungs- richtung des Elektrons Magnetfeld Fig. 15. Figur 16 ein Leiter, z. B. ein Kupferdraht, der so von einem Strome durchflössen sei, daß die Elektronen in der Richtung 2 wandern. Dann folgt nach Figur 15, daß alle wandernden Elektronen durch das Magnetfeld in der Kraftrichtung Elektronen- strom Magnetfeld Fig. 16. 462 Elektromotorische Kräfte Richtung 3 beschleunigt werden müssen. Sie nehmen kinetische Energie auf und über- tragen sie bei den Zusammenstößen mit den Kupfermolekülen auf die Gesamtmasse des Kupferdrahtes, der so einen Kraft- antrieb in der Richtung 3 erfährt. Die Erfahrung zeigt, daß diese Kraft K der Stromstärke J, der magnetischen Induktion B und der Drahtlänge 1 proportional ist, es gilt bei geeigneter Wahl der Maßein- heiten K=BJ1 (vgl. den Artikel „Magnet- feldwirkungen"). Man lasse die Kraft K gegen ein an den Draht gehängtes Gewicht P arbeiten, und den Draht mit dem Gewicht in der Zeit t um die Strecke s heben, so wird eine mechanische JBls Leistung von gewonnen. Sie kann nur dem Strome J entzogen sein; längs diesem muß also bei der Bewegung des Drahtes im Magnetfeld eine Gegen-EMK E wirksam werden, und es muß JBls JE sein, oder E= — . Da -r- die Zahl der in der Zeiteinheit von dem Drahte geschnittenen Induktionslinien ist, so ist mit dieser Glei- chung das Faradaysche Induktionsgesetz ausgesprochen; E heißt die EMK der Induktion. Sie wirkt bei dem geschilderten Versuche als Verbraucherkraft dem fließen- den Strome entgegen. Würde man umgekehrt die Kraft P gegen K arbeiten lassen, also den Draht a b mit dem Gewicht P um S sinken lassen, so würde die EMK der Induk- tion auf Kosten mechanischer Energie als Generatorkraft wirken und den Strom J ver- stärken. Die EMK der Induktion läßt sich leicht direkt nachweisen und in ihrem Wesen erkennen. Der Kupferdraht a b liege (siehe Fig. 17) in der Richtung 3 und werde in der Richtung 2 sich selbst parallel bewegt. Nun müssen nach Figur 15 alle freien Elektronen Beschleunigung in Richtung 3 erfahren und an dem Ende b zusammengedrängt werden. Ist b mit a leitend verbunden, so entsteht unter dem Einfluß der so entstandenen EMK ein In- duktionsstrom. Die Energie, die erträgt, wird auf Kosten der Kraft K gewonnen, welche die in Bewegung gesetzten Elektronen nach Figur 16 auf den Leiter hervorbringen. Sie ist nach Figur 15 der Richtung 2 entgegen- gesetzt. Man hat hiermit die sogenannte Lenzsche Regel, die besagt: Der induzierte Stromträger erfährt vom induzierenden Magnetfelde eine Kraftwirkung, die sich stets der induzierenden Bewegung entgegen- stemmt. In der Ueberwindung dieser Gegen- kraft liegt das Wesen der Energieumwand- lung, die durch den Induktionsvorgang er- möglicht wird. Macht man sich klar, daß ein Magnetfeld stets nur durch bewegte Elektrizität erzeugt werden kann, und daß dauernde Elektrizitäts- bewegung nur in einer geschlossenen Bahn EMK der Induktion Magnetfeld- richtung a .^ Bewegungs- richtung Fig. 17. denkbar ist, so erkennt man den mit Figur 16 beschriebenen Versuch als Ausschnitt aus dem Falle, daß zwei Stromschleifen mit ihren Ebenen parallel und mit gleichgerichteter Strömung einander gegenüber gestellt sind. Sie suchen sich in ein und die- selbe Ebene zu bringen, d. h. sie ziehen sich an. Auseinanderziehen entgegen ihrer an- ziehenden Kraft muß stromschwächende, also Gegen- EMKK in den Stromschleifen zur Folge haben, Annäherung stromver- stärkende. In beiden ' Kreisen muß das gleiche passieren, da die Bewegung relativ ist. Bei Einführung eines besonderen magne- tischen Energieträgers, wie ihn die alte Physik brauchte und wie man ihn auch heute noch als Hilfsvorstellung benutzt, wird eine Stromschleife identisch mit einer magneti- schen Doppelschicht, d. h. einer von der Stromschleife eingefaßten, sonst behebig gelegten Fläche, die auf der einen Seite mit positivem, auf der anderen mit nega- tivem Magnetismus belegt ist. Unsere beiden sich gegenüberstehenden Strom- schleifen können dann als zwei, sich mit der Fläche der kleineren Schleife berührende Doppelschichten dargestellt werden, die an der beiden gemeinsamen Fläche zu einer einzigen Doppelschicht größerer Stärke zu- sammenfließen. Entfernen der Strom- schleifen voneinander kann so als Zerreißen, Nähern als Aufbauen einer magnetischen Elektromotorische Kräfte 463 Doppelschicht angesehen werden. So ent- stehen hier die EMKK durch mecha- nisches Zerreißen oder Aufbauen von magnetischen Doppelschichten genau so, wie sie im früheren Falle durch mechanisches Zerreißen oder Aufbauen von elektrischen Doppelschichten zustande kamen. DieEMK der Induktion ist es, die in den Dynamogeneratoren zur Erzeugung elek- trischer Energie aus mechanischer, in den Elektromotoren als Verbraucherkraft zur Gewinnung mechanischer Energie aus elek- trischer ausgenutzt wird. Diese Maschinen sind Anordnungen, die den in Figur 17 dargestellten Vorgang durch Rotation des einen Maschinenteils (des Ankers) gegen einen anderen (Feldmagnet) zu einem kon- tinuierlichen gestalten. Dynamomaschinen und Influenzmaschinen stehen, wie man rückschauend erkennt, in demselben Ver- hältnis, wie die Thermoelemente und die galvanischen Elemente. Die EMK der Induktion findet auch sonst vielfache Anwendung zur Umformung von mechanischer Energie in elektrische und umgekehrt. Bei den Telegraphenappa- raten z. B. ist es die durch die Bewegung des „Ankers" induzierte EMK, welche als Gegenkraft dem zur Zeichengebung ent- sandten Stromstöße die zum Anziehen des Ankers nötige Energie entnimmt. Eben- so ist es bei den elektrischen Hausklingeln und den polarisierten Telephonweckern. Beim Telephon wirkt die durch die Mem- branbewegung induzierte EMK entweder als Generatorkraft im Gebertelephon oder als Verbraucherkraft im Empfangstelephon, um die Schallenergie in elektrische oder die elektrische in Schallenergie zu verwandeln. Auch die Einstellung der elektromagneti- schen Meßinstrumente erfolgt unter Aus- nutzung der EMK der Induktion. 4d) Elektromotorische Kräfte auf Rechnung von strahlender Aether- energie. Das Wesen dieser EMKK ist schon Abschnitt 2 erörtert worden: Ein elektro- magnetischer Impuls ist, wie dort gezeigt, im Grunde nichts anderes, als eine durch den Aether fortwandernde EMK. Trifft der Impuls auf Elektronen, so setzt die mit ihm wandernde EMK sie in Bewegung; sie wirkt als Generatorkraft auf sie und wandelt die Aetherenergie des Impulses in kinetische Energie der Elektronen um. Trifft er auf Ionen, so geht die primär übertragene elektrische Energie sogleich in kinetische Energie des materiellen Trägers der elektri- schen Ladung über, d. h. in Wärme. Das wird auch sekundär mit der auf die Elektronen übertragenen Energie der Fall sein, wenn diese, wie in den Metallen, alsbald mit Molekülen zusammenprallen müssen. Am wichtigsten ist der Fall, daß ein periodischer Impuls, also eine elektromagnetische Welle auf Elektronen stößt, z. B. beim Auftreffen auf eine Metall- fläche. Dann werden die freien Elektronen an der Oberfläche von der Welle hin und her gerissen, nehmen ihr alle Energie ab und senden durch die eingeleitete Hin- und Her- schwingung selber wieder eine Welle in den Raum zurück; die Metalloberfläche erscheint als Spiegel, der die elektromagnetische Welle zurückwirft, soweit nicht durch Zusammen- stöße mit Molekülen Absorption erfolgt, d. h. Umwandlung in Wärmeenergie. Durch Nicht- leiter, in denen keine freien Elektronen vor- handen sind, dringt die Welle, ohne Energie abzugeben, hindurch (vgl. übrigens die Artikel „Lichtbrechung" und „Lichtdisper- sion"); es sei denn, daß ihre Schwingungszahl von derselben Größenordnung wird, wie die der Schwingungen, welche die am Aufbau des Atoms beteiligten Elektronen oder die am Aufbau des Moleküls beteiligten Ionen um ihre Gleichgewichtsanordnung machen können. In diesem Falle wird die auftreffende Welle diese Schwingungen anregen und Energie an das Molekül abgeben; am meisten im Falle der Resonanz, d. h. bei Ueberein- stimmung beider Schwingungszahlen (Ab- sorptionsstreifen oder -Ihnen im Spektrum). Es kann vorkommen, daß auf diese Weise so große Schwingungen im Molekül auftreten, daß es zertrümmert wird und eine andere chemische Anordnung: gewinnt (photo- chemische Prozesse). Auch beim Auf treffen auf Leiter kann das Resonanzphänomen eine große Rolle spielen und eine erheblich größere Energieabsorption bewirken wie sonst. Die auf einem Leiter befindlichen Elektronen besitzen nämlich, wie imArtikel „Elektrische Schwingungen-' genauer ausgeführt wird, die Fähigkeit, elektrische Eigenschwingungen auszuführen. Stimmt die auftreffende Welle mit der Schwingungszahl einer solchen Eigenschwin- gung überein, so setzt sie die Elektronen des Leiters inlebhafte Resonanzschwingungen, wobei dann durch die Zusammenstöße mit den Molekülen die absorbierte Energie als- bald in Wärme verwandelt wird. Die Emp- fangsantennen der drahtlosen Telegraphie sind solche schwingungsfähigen Systeme, in welchen die durch die zugestrahlten EMKK erregten und durch Resonanz möglichst groß gemachten elektrischen Ströme zu einer beob- achtbaren Arbeitsleistung gebracht werden. Daß zum Vorwärtsschieben eines elektro- magnetischen Impulses eine von dem Impulse rückwärts ausgeübte GegenEMK überwunden werden muß, ist ebenfalls schon Abschnitt 2 auseinandergesetzt worden. Man kann das dort Entwickelte kurz so ausdrücken: Vor seiner 464 Elektromotorische Kräfte Front betätigt ein fortschreitender elektro- magnetischer Impuls eine Generator-EMK, hinter seiner Front eine Verbraucher-EMK. Mit Hilfe der letzteren entnimmt er dem hinter der Front liegenden Energieträger Energie, mit Hilfe der ersteren überträgt er dieselbe auf den vor ihr liegenden Energie- träger. So wie er mit Hilfe der ersteren Energie auf vor ihm liegende Elektronen oder Ionen übertragen kann, so entnimmt er mit Hilfe der letzteren seine Energie solchen Elektronen oder Ionen, die eine Aenderung ihrer Beschleunigung erfahren. Bringt man durch irgendeinen Prozeß die Elektronen im Atom oder die Ionen im Molekül zum Schwingen um ihre Gleich- gewichtsanordnung, so geht also eine Lichtstrahlung von ihnen aus, und das Spek- trum dieser Strahlung zeigt, daß in der Tat charakteristische Eigenschwingungen auftreten (Näheres s. im Artikel „Spektro- skopie"). Beschleunigt man die Elektronen eines Leitersystems, so entstehen seine elek- trischen Eigenschwingungen und das System strahlt entsprechende elektrische Schwin- gungen in den Aether hinaus. Die Sende- apparaturen der drahtlosen Telegraphie mit ihren Antennen sind solche Leitersysteme, in denen durch Erregung der Eigenschwin- gung die Gegen-EMK der Aetherstrahlung in besonders wirksamer Weise überwunden und eine möglichst kräftige Ausstrahlung von elektromagnetischen Wellen längs der Erdoberfläche erreicht wird (Näheres s. im Artikel „Elektrische Schwingungen"). 5. Gleich- und wechselelektromoto- rische Kräfte. Die auf Rechnung von Wärmeenergie und chemischer Energie tätigen elektromotorischen Kräfte wirken ihrem Wesen nach stets in dem glei- chen Sinne, sie sind gleichelektro- motorische Kräfte. Im Gegensatz dazu sind die auf Rechnung von mechanischer und von strahlender Aetherenergie tätigen EMKK ihrem Wesen nachWechsel-EMKK. Denn es muß im ersten Falle stets zwischen einem Auseinanderreißen und einem Wieder- zusammenführen der elektrischen und magnetischen Doppelschichten abgewechselt werden; im zweiten Falle kann die Aende- rung des Aetherzwanges, welche die EMK bedingt, auch nicht unbegrenzt in dem einen oder anderen Sinne erfolgen; es muß zwischen zunehmender und abnehmender Beschleuni- gung der Elektronen abgewechselt werden. Man kann indessen jede Gleich-EMK durch periodisch arbeitende Kommutatoren als Wechsel-EMK arbeiten lassen. Die Pe- riode der entstehenden Wechsel-EMK ist dann durch die Periode der Kommutation bestimmt. Ebenso kann man Wechsel- EMKK mit Hilfe solcher Kommutatoren als Gleich-EMKK arbeiten lassen, nur muß alsdann gesorgt sein, daß die Kom- mutation mit derselben Periode er- folgt, die die Wechsel-EMK besitzt, daß sie synchron mit ihr ist. Ein Beispiel für eine Umwandlung einer Gleich-EMK in eine Wechsel-EMK ist das Mikrophon (vgl. den Artikel „Tele- phonie"). Es vollzieht die Kommutation einer Gleich-EMK in eine Wechsel-EMK, deren Kurvenform der Kurvenform der Schallschwingungen entspricht, welche die Mikrophonmembran macht. Entsprechend diesen Schallschwingungen schwankt der Widerstand des Mikrophons auf und ab, und die kommutierende Kraft des Mikro- phons liegt eben in diesen Widerstands- schwankungen. Ein weiteres interessantes Beispiel von Umwandlung einer Gleich-EMK in eine Wechsel-EMK findet sich beim selbsttönenden Lichtbogen von Duddell (vgl. den Artikel„Lichtbo genentlad ung"). Ein Beispiel für die Umwandlung von Wechsel-EMK in Gleich-EMK bietet der Kommutator der Gleichstromdynamo- maschinen. Für den erforderlichen Syn- chronismus der Kommutation und der Wechsel-EMK ist hierbei dadurch gesorgt, daß der Kommutator auf der Welle der Dynamomaschine angebracht ist und syn- chron mit dem Anker rotiert (vgl. den Artikel „Dynamomaschinen"). Wirkt eine Gleich-EMK in einem Leiter- kreise, so treibt sie die Elektrizität dauernd in demselben Sinn durch ihn hindurch, sie erzeugt einen Gleichstrom, welcher : die von der EMK erteilte Energie mit sich [fortführt. Wirkt eine Wechsel-EMK, so | treibt sie die Elektrizität mit der Periode ihres Wechsels hin und her, sie erzeugt einen Wechselstrom, der ebenfalls im- stande ist, Energie zu transportieren (vgl. den Artikel „Wechselstrom"). Um einem Gleichstrome seine Energie zu ent- ziehen, muß ihm in der Verbraucher- maschine eine Gleich-EMK als Gegenkraft in den Weg gestellt werden, wie z. B. in einem Gleichstromelektromotor. Um einemWechsel- strome seine Energie zu entziehen, muß ihm eine Wechsel-EMK in den Weg gestellt werden, die folgende Bedingungen erfüllen muß: a) sie muß synchron mit dem pen- delnden Wechselstrome wechseln; b) sie muß stets Gegen-EMK sein, also in solcher „Phase" wechseln, daß sie positive Rich- tung hat, wenn der Strom negative, und umgekehrt. Einige von den EMKK, die wir kennen gelernt haben, erfüllen ganz auto- matisch diese Bedingungen, z. B. die Gegen- EMK, welche ein Wechselstrom durch den Widerstand eines Leiters erfährt. Sie ist ja durch — iw bestimmt, wechselt also mit I i ihr Vorzeichen. Daher ist die Wärme- Elektromotorische Kräfte 465 von und entwickelung eines Stromes in einem Leiter der Richtung des Stromes unabhängig geschieht ebenso durch Wechselstrom, wie durchGleichstrom. Auch die Gegen-EMK, welche beim Ausstrahlen von elektromagne- tischen Wellen in dem strahlenden Leiter tätig ist (vgl. den vorigen Abschnitt), ist von dieser Art. Man kann sie deshalb wieder durch eine Beziehung -iws ausdrücken und nennt dann ws " den „Strahlungs- widerstand" des Leiters. Bei anderen EMKK müssen die Bedingungen a und b erst künstlich erfüllt werden, z. B. bei den Wechselstromsynchron- motoren, die aber den einmal hergestellten, den Bedingungen a und b entsprechenden Zustand automatisch festhalten (vgl. den Ar- tikel „Dynamomaschinen"). Bei EMKK, die ihrer Natur nach Gleich-EMKK sind, müssen durch synchrone Kommutation die Bedingungen a und b sichergestellt werden. Ein Beispiel hierfür bietet das Laden einer Akkumulatorenbatterie mit Wechselstrom unter Vermittlung eines syn- chronen Kommutators. Es gibt derartige Apparate, in denen der Wechselstrom selbst automatisch die synchrone Kommutation bewirkt (vgl. Quecksilbergleichrichter im Artikel „Elektrische Ventile"). 6. Reversible und irreversible elektro- motorische Kräfte. An den EMKK lassen sich im Sinne ihrer im vorigen Abschnitt behandelten Arbeitsbeziehung zu einem Wechselstrom folgende Typen unter- scheiden : 6 a) Der Typ einer EMK, die auf ein Elektron gemäß seiner Lage im Räume wirkt. Dieser Typ wird also durch die Raumkoordinaten xyz des Elektrons be- stimmt, Hierher gehört die durch die soge- nannte Kapazität zum Ausdruck kommende EMK, die das elektrische Feld eines elek- trischen Systems bei einer Lagenänderung eines Elektrons betätigt, z. B. ein geladener Kondensator (vgl. 2b, a). Ferner gehören hierher die elektrischen Doppelschichten che- mischen oder thermischen Ursprungs, die den galvanischen Elementen und Thermoelemen- ten zugrunde liegen (vgl. 4a, d; 4 b) gehört auch die beim Zerreißen elektrischer und magnetischer Doppelschich- ten in Tätigkeit tretende EMK (vgl. 4 c, a u. ß). 6 b) Der Typ einer EMK, die auf ein Elektron gemäß seiner Geschwindigkeit wirkt. Dieser Typ hängt also von den dx dy dz Geschwindigkeitskomponenten ^ ^ ^ Elektrons ab. Hierher gehört die Ver- braucher-EMK des Leitungswiderstandes (vgl. 4a, a). Auch die Generator-EMK, die ein Leiter mit fallender Charakteristik, z. B. ein Gleichstromlichtbogen beim Durchgange Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III eines Wechselstromes entwickelt (vgl. den Artikel „Lichtbogenentladung"). 6 c) Der Typ einer EMK, die auf ein Elektron gemäß seiner Beschleunigung wirkt. Dieser Typ hängt von den Be- d2x d2y dH dt2 dt2 des Hierher und Bilden des schleunigungskomponenten Elektrons ab. Hierher gehört die durch die sogenannte Selbstinduktion zum Ausdruck kommende EMK, die das Magnetfeld eines Stromkreises bei einer Geschwindigkeitsände- rung eines Elektrons betätigt (vgl. 2 b, ß). 6d) Der Typ einer EMK, die auf ein Elektron gemäß der Aenderung seiner Beschleunigung wirkt. Dieser Typ d3x d3y d3z hängt von den Komponenten ^ -r^ -rr^ des Elektrons ab. Hierher gehört die Ver- braucher-EMK, welche durch die Reaktion eines elektromagnetischen Strahlungsimpulses auf das strahlende Elektron ausgeübt wird (vgl. 4cl). " Wird ein zu einem Wechselstrome ge- höriges Elektron solchen EMKK ausgesetzt, so ergibt sich ein prinzipiell verschiedenes Verhalten, je nachdem die Type b und d oder die Type a und c in Frage kommen. Die Type* a und c können an einem vom Wechselstrome hin und her gezerrten Elektron keine dauernde Arbeitleisten; was ihm auf dem Hinwege an Arbeit mitgeteilt wird, gibt es auf dem Rückwege wieder ab. Denn im Falle a kommt es durch den Rückweg wieder in die gleiche Lage; im Falle c er- fährt es auf dem Rückweg eine Verzögerung, welche die Beschleunigung auf dem Hin- wege wieder aufhebt; die Arbeitsbilanz eines Hin- und Herganges, einer Periode, ist Null. Die Type b und d dagegen setzen beim Hingang des Elektrons Arbeit von dem- selben Vorzeichen um wie beim Rückgang, so daß hier die Arbeitsbilanz einer Periode einen endlichen positiven oder negativen Betrag ergibt. Mit diesen Typen wird also eine dauernde Energieumset- zung durch Wechselstrom ermöglicht. Wir nennen die EMKK der beiden Type a und c umkehrbare (reversible), die der Type b und d nichtumkehrbare oder irreversible. Damit soll bezeichnet werden, daß die Arbeitsumsetzungen, welche die einen leisten, sogenannte reversible Arbeits- prozesse sind", die, welche die anderen leisten, irreversible. Einen reversiblen Arbeits- prozeß hat ein Energieträger dann erfahren, wenn er so in die Anfangsbedingungen des Prozesses zurückversetzt werden kann, daß keine Spur des stattgefundenen Vor- ganges in der Welt zurückbleibt. Einen Energieträger in die Anfangsbedingungen des Prozesses zurückversetzen heißt ihn die alte Zeit und an den alten, 30 in 466 Elektromotorische Kräfte - - Elektronen Ort zurückbringen. Dazu ist aber, mathematisch gesprochen, das Vorzeichen der Bewegung des Energieträgers und das Vorzeichen der Zeit umzukehren. Wenn nun die auf den Energieträger wirkende Kraft in Raum und Zeit so bestimmt ist, daß sie ihr Vorzeichen beibehält, wenn das Vorzeichen der Bewegung und der Zeit umgekehrt wird, so ist sie eine rever- sible; denn sie geht bei dieser Umkehr aus einer Verbraucherkraft in eine Generator- kraft über, und umgekehrt. Kehrt sie da,- gegen dabei das Vorzeichen um, so ist sie eine irreversible, denn sie bleibt dann Ver- braucherkraft, wenn sie es vorher war, und Generatorkraft, wenn sie es vorher war. Eine Vorzeichenumkehr muß bei allen Kräften auftreten, die durch eine ungeradzahlige Zeitableitung der Raumkoordinaten des Energieträgers (z. B. -TT, ~rr3j bestimmt sind, da bei ihnen Zähler und Nenner gleichzeitig ihr Vorzeichen umkehren. Darum sind z. B. unsere Type b und d irreversible EMKK. Bei allen Kräften dagegen, die durch eine geradzahlige Zeit- ableitung der Raumkoordinaten des / d2x\ Energieträgers (z. B. -. I bestimmt sind, wird das Vorzeichen bei der Umkehr des Pro- zesses nicht geändert. Sie sind daher re- versible Kräfte, z. B. Typ c unserer EMKK, sowie auch Typ a, da seine Unabhängigkeit von der Zeit als nullte, also geradzahlige Zeitableitung gerechnet werden kann. Literatur. G. Mie, Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus. Stuttgart 1910. — H. BarkJiausen, Das Problem der Schwingungs- erzeugung. Leipzig 1907. — M. Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes. Leipzig 1909. IL Th. Simon. Elektronen. 1. Begriff des Elektrons. 2. Die Abspaltung von Elektronen aus den Atomen. 3. Es gibt nur oine Art von Elektronen. 4. Die Elektrizitäts- leitung in Metallen. 5. Die Liehtemission der Atome. 6. Die Abhängigkeit der trägen Masse von der Geschwindigkeit. 7. Das Wesen der Elektronen und der Materie überhaupt. i. Begriff des Elektrons. Es ist eine bekannte Tatsache, daß die materiellen .Partikelchen, die von der modernen Natur- forschung „Atome" genannt werden, keines- wegs das sind, was man in der Philosophie als Atome bezeichnen würde, nämlich letzte, einfache und unteilbare Elementarteilchen der Materie. Die physkalischen Atome sind zusammengesetzt und haben eine kompli- zierte innere Struktur, was sich beispiels- weise daran zeigt, daß sie eigentümliche Schwingungen ausführen können und da- durch Licht emittieren. Da das Licht aus elektromagnetischen Wellen besteht, so läßt sich von vornherein schon sagen, daß die beweglichen Teile, die im Innern des Atomes die Schwingungen ausführen, elektrisch ge- laden sein müssen. In neuerer Zeit ist es nun in der Tat gelungen, aus den Atomen kleine Partikelchen abzuspalten, die mit dem Restatom nur ziemlich locker verbunden zu sein scheinen, und die nach allem, was wir bisher von ihnen wissen, einheitliche unteilbare Elementar- teilchen, also „Atome" im philosophischen Sinn des Wortes sind. Außerdem ist ihr Wesen dadurch charakterisiert, daß sie in unveränderlicher Weise durch eine elektrische Ladung mit dem Weltäther verkettet sind. Wegen dieser Wesenseigentümlichkeit nennt man sie E 1 e k t r o n e n. Wir können demnach definieren: Elektronen sind einfache unteil- bare materielle Elementarpartikel- chen, die in den Atomen als nie fehlende Bestandteile leicht beweg- lich vorhanden sind, sich durch ge- eignete Mittel von den Atomen ab- spalten lassen, und die eine unver- änderliche elektrische Ladung haben. 2. Die'* Abspaltung von Elektronen aus Atomen. Bei den folgenden Vorgängen treten Elektronen aus den Atomen aus: 1. bei der Glimmentladung, 2. bei Weißglut, 3. bei chemischen Prozessen, 4. beim Auf- treffen von Licht oder von Röntgenstrahlen auf absorbierende Körper, 5. bei den radio- aktiven Prozessen. Zuerst hat man das Auftreten von Elek- tronen, die aus den Atomen isoliert sind, bei Glimmentladungen wahrgenommen. Glimmentladungen bekommt man am schön- sten und reinsten in Gasen von sehr niedrigem Druck. In einer weiten Glasröhre, die mit einem sehr verdünnten Gas gefüllt ist und an ihren beiden zugeschmolzenen Enden je eine Metallelektrode hat, einer sogenannten Geißlerschen Röhre, sehen wir, wenn eine Entladung hindurchgeht, zunächst zwei leuch- tende Abschnitte: Die negative Elektrode, die Kathode, ist rings von einem bläulichen Lichtnebel, dem negativen Glimmlicht, um- geben; von der positiven Elektrode, der Anode, aus erstreckt sich nach der Kathode hin ein langes Lichtband, die positive Licht- säule. Zwischen diesen beiden Lichtbereichen ist ein breiter, dunkler Zwischenraum, der äußere oder Faradaysche Dunkelraum. Wenn man den Abstand der beiden Elek- troden bei sonst gleich bleibenden Verhält- Elektronen 467 nissen mehr und mehr verkleinert, so ver- kürzt sich die positive Lichtsäule, während das negative Glimmlicht unverändert bleibt. Man kann sehr leicht eine Entladung be- kommen, die bei fehlender positiver Licht- säule nur das Kathodenglimmlicht zeigt, wenn man mit der Anode bis in den äußeren Dunkelraum oder bis in das Glimmlicht hinein vorrückt. Es kann also eine Glimm- entladung geben, die nur aus den Vorgängen besteht, die das negative Glimmlicht anzeigt, und es gibt keine Glimmentladung ohne sie, diese Vorgänge sind das Wesentliche an ihr. Genauere Untersuchungen des negativen Glimmlichtes, die zuerst von Hittorf aus- geführt worden sind, haben gezeigt, daß es hervorgerufen wird durch eine eigentümliche Strahlung, die die Kathode aussendet und die man deswegen Kathodenstrahlung nennt. Das Gas in der Geiß ler sehen Röhre absorbiert diese Strahlung, und die Ab- sorption ist mit einer Lichterregung ver- bunden. Daß es sich in der Tat so verhält, läßt sich z. B. erkennen, wenn man dicht vor der Kathode irgendeinen festen Gegen- stand anbringt. Dieser wirft dann einen deutlichen, scharf begrenzten Schatten, in welchem das Gas nicht zum Leuchten erregt wird. Das wäre nicht möglich, wenn nicht die das Leuchten erregende Wirkung strahlenartig von der Kathode ausginge. Die Kathodenstrahlen bringen, nebenbei bemerkt, das Gas nicht allein zum Leuchten, sondern, wie durch zahlreiche Untersuchungen bewiesen ist, ionisieren sie es auch, sie machen es also zu einem elektrischen Leiter, durch den der Entladungsstrom gehen kann, sie sind deswegen sozusagen der Ursprung der Glimmentladung. Wenn man das Gas aus der Röhre weiter auspumpt, so werden die Kathodenstrahlen in dem dünneren Gas weniger absorbiert, das Glimmlicht wird schwächer. Wenn das Gas so dünn ist, daß Kathodenstrahlen bis an die Glas- wandung der Röhre kommen, so bemerkt man, daß das von ihnen getroffene Glas grünlich leuchtet, fluoresziert. Es gelingt mit einer guten modernen Luftpumpe leicht, die Verdünnung des Gases so weit zu treiben, daß die Absorption der Kathodenstrahlen in dem Gas äußerst gering ist. Man sieht dann das von ihnen getroffene Glas der Rohrwandung sehr hell leuchten, während das Glimmlicht im Gase ganz schwach ist. Schließt man den Querschnitt des Rohres vor der Kathode mit einer Scheibe, die eine kleine Oeffnung hat, so tritt durch die Oeffnung nur ein schmales Bündel von Kathodenstrahlen, das man an dem kleinen Lichtfleck erkennen kann, der auf dem Glase dort erscheint, wo das Kathoden- strahlenbündel auftrifft. Mit einem derartigen dünnen Kathodenstrahlenbündel kann man nun eine Reihe von Experimenten anstellen, die über die Natur der Kathodenstrahlen vollständig Aufschluß geben. Bringt man einen Magneten in die Nähe des Kathoden- strahlenbündels, so verschiebt sich der leuchtende Fleck auf der Glaswand. Die Kathodenstrahlen biegen sich also im magne- tischen Feld von ihrer ursprünglichen Rich- tung ab, für die Größe und Richtung der Ablenkung hat man sehr einfache quanti- tative Gesetzmäßigkeiten experimentell fest- stellen können. Auch in einem elektrischen Feld werden die Kathodenstrahlen abgelenkt, nach anderen Gesetzen, wie im magnetischen Feld, nach Gesetzen, die ebenfalls quanti- tativ experimentell ermittelt sind. Diese Ablenkungsgesetze stimmen genau mit denen überein, die ein Strom von negativ ge- ladenen Teilchen, der in der Richtung des Kathodenstrahlenbündels mit großer Ge- schwindigkeit dahinschießt, nach den Ge- setzen des Elektromagnetismus zeigen müßte. In der Tat läßt sich auch leicht nachweisen, daß ein Kathodenstrahlenbündel einem Kör- per, auf den es auftrifft, andauernd eine negative Ladung zuführt, und daß diese Aufladung sofort unterbleibt, wenn man die Kathodenstrahlen etwa mit Hilfe eines Ma- gneten von dem Körper weglenkt, ohne sonst etwas an der Glimmentladung zu ändern. Durch quantitative Untersuchungen ist festgestellt worden, daß sich verschiedene Kathodenstrahlen nur durch die Schnellig- keit, mit der die negativ geladenen Teilchen in ihnen dahinfliegen, unterscheiden, daß aber diese Teilchen selber stets die gleichen sind, aus welchem Metall auch die Kathode besteht, die sie ausschleudert, und mit was für einem Gas auch die Entladungsröhre gefüllt ist. Die Kathodenstrahlenteilchen sind also Partikelchen, die sich aus allen Stoffen loslösen können, sie müssen demnach Bestandteile von allen chemischen Atomen sein. Durch Messung der magnetischen und der elektrischen Ablenkung an einem und demselben Kathodenstrahl kann man das Verhältnis aus der elektrischen Ladung zu der trägen Masse eines Teilchens finden. Die ablenkende Kraft ist nämlich im elek- trischen Feld das Produkt aus der Feldstärke mal der Ladung des Teilchens, im magne- tischen Feld das Produkt aus der Feldstärke mal der Ladung und der Geschwindigkeit des Teilchens. Der Ablenkungskraft hält die Zentrifugalkraft des fliegenden Teilchens, dessen Bahn durch die ablenkende Kraft gekrümmt wird, das Gleichgewicht und diese ist gleich dem Produkt der trägen Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit dividiert durch den Krümmungsradius der Bahn. Mißt man nun die Stärke des ablenken- 30* 468 Elektronen den elektrischen Feldes, ebenso die des ablenkenden magnetischen Feldes, ferner die Ablenkungen des Kathodenstrahls aus seiner geraden Bahn in den beiden Experi- menten, woraus sich beidemal der Krüm- mungsradius der Bahn während der Ab- lenkung berechnen läßt, so stehen in den beiden Gleichungen „Ablenkende Kraft gleich Zentrifugalkraft" als Unbekannte nur noch die Ladung des Teilchens, seine Geschwin- digkeit und seine träge Masse. Eliminiert man aus den beiden Gleichungen die Ge- schwindigkeit, so bekommt man eine einzige Gleichung, die die beiden anderen Unbe- kannten enthält, und zwar nur in Form des Quotienten „Ladung dividiert durch g träge Masse": — , den man somit quanti- tativ ermitteln kann. Es sind nun zahl- reiche Messungen angestellt worden, die im allgemeinen gut übereinstimmende Werte für e/m gegeben haben, ein deutlicher Beweis für die einheitliche Natur aller Kathoden- strahlpartikelchen. Es hat sich ergeben: e h nr- *no Coulomb -= 1,75.108 -7, . m Gramm Bedenken wir nun weiter, daß es nach den Gesetzen der Elektrolyse nur elek- trische Ladungen gibt, die ganzzahlige Multipla eines bestimmten Elementarquan- tums der elektrischen Ladung sind, eines Quantums, das sich durch neuere Messungen zu 1,56. 10-19 Coulomb ergeben hat (vgl. Bd. VI, S. 768). Es darf aus Gründen, die hier nicht erörtert werden können, als sicher gelten, daß die kleinen elektrisch geladenen Teilchen in den Kathodenstrahlen die Ladung [ von 1 Elementarquantum haben, ihre träge Mas.se beträgt demnach: 0,891. 10~27 g. Diese träge Masse ist außerordentlich viel kleiner als die eines Wasserstoffatoms, des kleinsten der chemischen Atome. Denn aus den Gesetzen der Elektrolyse ist bekannt, daß das Verhältnis eines Elementar quantums zur Masse eines Wasserstoff atoms den Wert hat: e 96540 Coulomb _ Coulomb M" T7K)8"Gramm = U'y°7'-lu "Gramm Man sieht hieraus, daß das Verhältnis der trägen Masse eines Kathodenstrahlpartikel- chens zu der eines Wasserstoffatoms beträgt: 0,9577. 10» _ J_ 1,75. 108 ~ "VW^< - lg30. Die Partikelchen, die die Ka- thodenstrahlen bilden, sind außer- ordentlich klein im Vergleich zu den chemischen Atomen, sie kommen als abtrennbare Bestandteile in allen chemischen Atomen vor und zeigen überall dieselbe Beschaffenheit, sie führen stets eine elektrische La- 1 -= M düng von negativem Vorzeichen und von der Größe 1 Elementarquantum. Die Kathoden strahlpartikelchen sind also Elektronen. Die Glimmentladung ist aber keines- wegs der einzige Vorgang, bei welchem Elektronen aus den Atomen abgespalten werden. In der Nähe weißglühender Körper wird die Luft elektrisch leitend. Eine genauere Untersuchung hat ergeben, daß dies davon herrührt, daß weißglühende Körper an die Luft positiv und negativ geladene Teilchen — Ionen — abgeben. In einem sehr verdünnten Gas liefern sie meistens nur negativ geladene Teilchen und diese erweisen sich als vollkommen iden- tisch mit den Partikelchen, aus denen die Kathodenstrahlen bestehen, es sind ganz dieselben negativ geladenen Elektronen, von denen soeben schon die Rede war. Am besten kann man das Austreten dieser Elek- tronen bei Gluthitze beobachten, wenn man, nach Wehnelt, auf einem dünnen Platin- blechstreifen einen Fleck von Caleiumoxyd macht und den Blechstreifen durch einen hindurchgeleiteten elektrischen Strom zur Glut erhitzt. Befindet sich der Blechstreifen in einen! evakuierten Raum, so sendet der Oxydfleck bei Gluthitze eine große Menge von Elektronen aus, denen man beliebige Geschwindigkeiten erteilen kann, wenn man den glühenden Blechstreifen auf mehr oder weniger hohe negative Potentiale auflädt. Nimmt man ein niedriges Potential, so er- fahren die Elektronen nur eine kleine ab- stoßende Kraft und es gehen von dem Oxydfleck sehr langsame Kathodenstrahlen aus, es gelingt leicht, sie auf diese Weise so langsam zu bekommen, wie sie bei Glimm- entladungen niemals auftreten können. An- dererseits kann man im äußerst hohen Va- kuum, wo überhaupt keine Glimmentladung mehr zustande zu bringen ist, durch An- legen sehr hoher negativer Potentiale an die glühende Wehneltkathode Elek- tronenstrahlen von viel größeren Geschwin- digkeiten hervorbringen, als sie bei Glimm- entladungen vorkommen. Diese Möglich- keit, den Geschwindigkeitsbereich der Elek- tronenstrahlen beliebig weit nach beiden Seiten hin auszudehnen, macht die Wehnelt- kathode zu einem wichtigen Hilfsapparat bei vielen Messungen. Jedenfalls haben alle Messungen erwiesen, daß die von dem glühenden Oxydfleck ausgehenden Elek- tronen genau dieselben sind wie die von der Kathode in einer Glimmentladung. Auf der elektronenlösenden Wirkung der Gluthitze beruht übrigens die zweite Art elektrischer Entladung in Gasen, die es noch außer der Glimmentladung gibt, nämlich die Lichtbogenentladung. Diese Ent- Elektronen 469 Iadungsform ist dadurch charakterisiert, daß bei ihr die Kathode an der Stelle, wo die Strombahn im Gase, der Lichtbogen, ansetzt, durch elektrisch zugeführte Energie in Glut kommt. Die glühende Stelle der Kathode sendet reichlich Elektronen aus, und diese ionisieren das Gas so stark, daß es ein vorzüglicher Leiter wird, durch den außer- ordentlich starke Ströme bei ziemlich geringer Spannung hindurchgehen. In der Glimm- entladung, d. h. der Entladung mit kalter Elektrode, muß an Stelle der Glut ein anderes Agens wirksam sein, das aus der Kathode die Elektronen frei macht, wir werden dies Agens, die sogenannten Kanalstrahlen, im folgenden auch noch zu erwähnen haben. Die dritte Gruppe von Vorgängen, bei denen Elektronen frei werden, sind die chemischen Prozesse. Es ist schon fast so lange, als man überhaupt mit Elektrizität experimentiert, bekannt, daß Flammen lei- tend sind, und man kann nach allem, was von der Leitfähigkeit der Flammen bekannt ist, mit ziemlicher Bestimmtheit sagen, daß diese Leitfähigkeit dadurch zustande kommt, daß sich von den miteinander rea- gierenden Atomen Elektronen ablösen. Ent- scheidendere Versuche haben kürzlich Fr. Haber und G. Just angestellt (über die Aussendung von Elektronenstrahlen bei che- mischen Reaktionen, Ann. d. Physik, Bd. 36, S. 308, 1911). Wenn sie eine ganz frische Oberfläche der flüssigen Legierung Kalium- Natrium mit Gasen in Berührung brachten, die mit der Legierung chemisch reagierten, wie Sauerstoff, Phosgen, Brom, so lösten sich von ihr negativ geladene Partikelchen ab, während bei Berührung mit indifferenten Gasen, wie Wasserstoff oder Stickstoff, nichts derartiges eintrat. Bei genauerer Unter- suchung erwiesen sich die negativen Teilchen, die bei chemischen Reaktionen aus dem Metall austraten, als identisch mit den schon anderweit bekannten Elektronen. Viertens ist der von H. Hertz entdeckte und besonders von Hallwachs genauer untersuchte lichtelektrische Effekt zu nennen. Läßt man Lichtstrahlen, am besten vio- lette und ultraviolette Strahlen, auf einen absorbierenden Körper, beispielsweise eine Metallplatte, auftreffen, so lösen sich von ihm negativ geladene Teilchen ab. Diese Teilchen sind, wie zuerst Lenard nachgewiesen hat. vollkommen identisch mit den als Kathoden- strahlpartikelchen auftretenden Elektronen. Aehnlich wie die Lichtstrahlen wirken auch Röntgenstrahlen, die einen Körper treffen. Fünftens endlich fliegen bei den radio- aktiven Zerfallserscheinungen ge- ladene Teilchen mit kolossalen Geschwindig- keiten aus den zerfallenden Atomen heraus und bilden so korpuskulare Strahlungen, ähnlich der von uns schon erwähnten Katho- denstrahlung. Man unterscheidet zwei total verschiedene Arten von korpuskularer Strah- lung, die die radioaktiven Körper aussenden, nämlich die a- Strahlung und die ^-Strahlung. Die a-Strahlung besteht aus positiv geladenen Teilchen, und zwai sind diese Teilchen Heliumatome, deren jedes mit zwei posi- tiven Elementarquanten geladen ist. Die ß- Strahlung besteht dagegen aus negativen Partikelchen, und zwar haben sich diese als vollkommen identisch mit den schon be- kannten Elektronen erwiesen. Die /^-Strahlen unterscheiden sich allerdings in einer Hin- sicht von den Kathodenstrahlen, ihre Par- tikelchen haben eine noch sehr viel größere Geschwindigkeit als die Kathodenstrahl- partikelchen. Die Geschwindigkeit der ß- Strahl-Teilchen liegt oft gar nicht mehr viel unterhalb der Lichtgeschwindigkeit 300000 km/sec, die, wie wir noch sehen werden, die oberste Grenze der überhaupt möglichen Geschwindigkeiten materieller Körper ist. Die großen Geschwindigkeiten der /j-Strahl-Teilchen haben für den weiteren Fortschritt unserer wissenschaftlichen Er- kenntnis sehr große Wichtigkeit erlangt, da es sonst noch niemals möglich gewesen ist, Körper zu beobachten, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. 3. Es gibt nur eine Art von Elektronen. In allen Fällen, die soeben besprochen wor- den sind, haben die auftretenden Elektronen stets genau dieselbe Beschaffenheit. Man hat sich öfters die Frage gestellt, ob es nicht zum mindesten zwei Arten von Elektronen geben müsse, nämlich positiv geladene und negativ geladene, es ist indessen niemals gelungen, Elektronen mit positiver Ladung zu finden. Bei der Glimmentladung ist es stets die Kathode, an der die eigentümliche Elektronenstrahlung auftritt, die als der Ursprung der ganzen Entladungserseheinung aufzufassen ist. Es tritt allerdings an der Kathode auch noch eine zweite Strahlenart auf, die aus schnell fliegenden positiv ge- ladenen Partikelchen besteht und die der Beobachtung nur deswegen meistens entgeht, weil sie den Kathodenstrahlen entgegen- gesetzt, also nach der Kathode hin gerichtet ist. Ordnet man hinter der Kathode noch einen evakuierten Raum an, der von dem Entladungsraum getrennt ist und nur durch eine enge Bohrung in der Kathode mit ihm kommuniziert, so beobachtet man, daß von dem Entladungsraum her durch die Bohrung hindurch in den Hilfsraum ein strahlenartiges Gebilde tritt, das ähnlich wie die Kathodenstrahlen an der Luminis- zenz des von ihm getroffenen Gases zu er- kennen ist. Diese Strahlung wurde von Goldstein entdeckt und von ihm wegen 470 Elektronen der Eigentümlichkeit, daß sie die Kathode durch einen „Kanal" passiert, als Kanal- strahlung bezeichnet. Später hat W. Wien durch Versuche, die den mit Kathoden- strahlen angestellten Versuchen ganz analog sind, nachgewiesen, daß die Kanalstrahlen von schnell fliegenden positiv geladenen Teilchen gebildet werden. Indem W. Wien auch an den Kanalstrahlen die Größe e/m bestimmte, konnte er ferner nachweisen, daß die Kanalstrahlteilchen nicht etwa Elektronen sind, sondern einfach die positiv geladenen Atome des Gases, in welchem die Entladung vor sich geht. Wie wir gesehen haben, entstehen in dem vom negativen Glimmlicht erfüllten Kaum durch die Wir- kung der Kathodenstrahlen Gasionen. Die positiven Ionen werden nun durch das elektrische Feld mit großer Geschwindigkeit zur Kathode hingetrieben, stürzen eventuell, wenn diese ein Loch hat, hindurch und bilden so den Kanalstrahl. Die Kanalstrahlen werden von dem Gasinhalt der Köhre noch stärker absorbiert als die Kathodenstrahlen, sie erregen dabei im Gase ein Glimmlicht, das anders gefärbt ist als das Kathoden - Strahlenglimmlicht, und zugleich ionisieren sie das Gas. Treffen Kanalstrahlen auf eine Metallfläche auf, so lösen sie von ihr Elek- tronen ab. Demnach sind bei der Glimm- lichtentladung die Kanaistrahlen, die mit großer Wucht auf die Kathode auftreffen, das Agens, das die für die Kathodenstrahlen notwendigen Elektronen aus der Kathode frei macht. Da umgekehrt die für die Ent- stehung der Kanalstrahlen notwendigen Ionen erst von den Kathodenstrahlen im Gase hervorgebracht werden, so sind Ka- thodenstrahlen und Kanaistrahlen zwei Vor- gänge, die sich andauernd gegenseitig in Gang halten, von denen der eine nicht ohne den anderen sein kann, Eine wichtige Entdeckung hat J. Stark bei der spektroskopischen Untersuchung des Kanalstrahlenglimmlichts gemacht. Läßt man das Licht in der Kichtung des Kanal- strahls in das Spektroskop eintreten, so sieht man außer den gewöhnlichen Spektral- linien, die dem Gas eigentümlich sind, auch noch verschobene Spektrallinien, die einem Licht von ein wenig kürzerer Schwingungs- dauer entsprechen. Nach dem sogenannten Doppler sehen Prinzip haben nun Wellen, die ein schnell vorwärtsfliegender Körper ausstrahlt, in der Richtung, nach der sich der Körper hinbewegt, eine etwas kürzere Schwingungsdauer, in der entgegengesetzten Richtung eine etwas längere Schwingungs- dauer, wie die Eigenschwingung des Körpers. Die Aenderung der Schwingungsdauer wächst mit der Geschwindigkeit des Körpers und läßt sich leicht aus ihr berechnen. Man muß hieraus schließen, daß die verschobenen Spektrallinien des Kanalstrahlenlichtes von Atomen ausgesandt werden, die sich in der Richtung der Kanalstrahlen bewegen. Mißt man die Größe der Verschiebung, d. h. die Aenderung der Schwingungsdauer infolge der Bewegung, so findet man, daß die Geschwindigkeit der bewegten strahlen- den Atome dieselbe ist, die sich nach anderen Methoden als Geschwindigkeit der Kanal- strahlenpartikelchen ergibt. Aus der Stark- schen Beobachtung folgt also, daß die Kanalstrahlenpartikelchen selber Licht emittieren. Sie stehen damit in schroffem Gegensatz zu den Kathodenstrablpartikel- chen, die an sich immer ganz lichtlos sind und nur das Gas, das die Strahlen absorbiert, zum Leuchten erregen. Eine weitere Eigentümlichkeit der Kanal- strahlenpartikelchen ist, daß sie imstande sind ihre Ladung zu verlieren, ja sogar bisweilen eine negative Ladung anzunehmen. Es ist von W. Wien nachgewiesen worden, daß ein großer Teil der Partikelchen, die in einem Kanalstrahlenbündel durch den Raum eilen, die also vor der Kathode alle positiv geladen waren, ungeladen ist, ferner daß die ungeladenen Teilchen später auf ihrem Wege oft wieder Ladungen bekommen. Etwas Analoges kommt bei den Kathodenstrahlen niemals vor. Atome können ihre Ladung verlieren, ungeladene Elektronen gibt es nicht. An diesen charakteristischen Unter- schieden erkennen wir deutlich, daß im Vergleich mit den kompliziert ge- bauten Atomen das Elektron ein einheitliches, einfaches Partikelchen sein muß, das weder Lichtschwin- gungen machen kann, noch seine Ladung ändern kann. Wir haben vorhin gesehen, daß ein glühen- der Körper Elektronen emittiert. In manchen Fällen kann er aber auch positive Ionen aussenden, besonders wenn er leicht ver- dampft. Gehrcke und Reichenheim haben beobachtet, daß eine Elektrode, die aus einem leichtverdampfbaren Salz eines Alkalimetalls hergestellt ist, beim Erhitzen im Vakuum eine Menge positiver Ionen ab- gibt. Lädt man sie auf ein hohes positives Potential, so geht ein starkes Strahlenbündel positiv geladener Partikelchen von ihr aus. Man bezeichnet diesesPhänomen alsAnoden- strahlung. Die Anodenstrahlen bestehen aus schnell fliegenden, positiv geladenen Atomen des in dem erhitzten Salz vorhan- denen Alkalimetalls, sie leuchten hell in dem für das Metall charakteristischen Licht, und man bemerkt an diesem den Doppler- effekt. Ueberhaupt unterscheiden sich die Anodenstrahlen in keiner Weise von Kanal- strahlen aus dem betreffenden Metalldampf. Elektronen 471 Endlich haben wir noch bei den radio- aktiven Prozessen das Auftreten von Strahlen positiv geladener Partikelchen erwähnt, die sogenannten a-Strahlen. Wie wir gesehen haben, bestehen diese ans Heliuniatomen, es zeigt sich also wiederum, daß es keine positiven Elektronen gibt. Es gibt nur eine einzige Art von Elektronen, diese tragen stets ein negatives elektrisches Elementarquantii m. Ueber den Aufbau der Atome ergibt sich nun ohne weiteres die folgende Vorstellung: Ein Atom besteht aus einem, im Vergleich zu einem Elektron großen Körper, der an und für sich positiv elektrisch ist, dessen Ladung aber durch eine Anzahl von Elektronen, die mit ihm leicht beweglich ver- bunden sind, im allgemeinen gerade kompensiert wird. Wird von dem Atom ein Elektron weggenommen, so bekommt es dadurch eine positive Ladung von 1 Elementarquantum, wird ihm ein Elektron hinzugefügt, so bekommt es eine negative La- dung von 1 Elementarquantum, die Ladungen eines Atoms müssen des- wegen stets ganzzahlige Multipla von positiven oder negativen Ele- mentarquanten sein. 4. Die Elektrizitätsleitung in Metallen. Ein Leiter ist ein Körper, in welchem Ionen, d. h. geladene Partikelchen, frei beweglich in sehr großer Zahl vorhanden sind. Wenn nun in dem Leiter ein elektrisches Feld vor- handen ist, so geben die freibeweglichen Ionen der auf sie wirkenden Kraft nach, die positiven wandern in der positiven Richtung der Feldlinien, die negativen um- gekehrt, und diese Ionenwanderung ist der Vorgang, den man als „elektrischen Strom" bezeichnet. Diese einzig mögliche Theorie der Elek- trizitätsleitung läßt sich bei der Klasse von Leitern, die man Elektrolyte nennt, ohne weiteres an der Erfahrung prüfen. Geht nämlich durch einen Elektrolyten ein Strom, so treten an den beiden Elektroden chemische Veränderungen ein, die im letzten Grunde davon herrühren, daß ein Bestand- teil des Elektrolyten, den man das Anion nennt, an der Kathode teilweise verschwindet und an der Anode im gleichen Maß hervor- tritt, ein anderer, das Kation, umgekehrt an der Anode verschwindet und an der Kathode neu erscheint. Hier haben wir also die beiden wandernden Substanzen deutlich vor uns, und die Theorie der elek- trolytischen Leitung basiert nun auf der Annahme, daß der Elektrolyt schon in der Lösung in die beiden Bestandteile Anion und Kation dissoziiert ist und daß die frei um- herschwimmenden Partikelchen des ersteren negative Ladungen, die des anderen positive Ladungen tragen, in der Weise, daß sich im ganzen die Ladungen nach außen hin kompensieren. Aus den von Faraday entdeckten Gesetzen der Elektrolyse geht weiter hervor, daß die Ladung eines ein- zelnen Partikels immer entweder ein Ele- mentarquantum oder ein ganzzahliges Mul- tiplum davon ist. So einfach es nach dieser Theorie war, das Wesen der elektrolytischen Leitung zu verstehen, so groß war die Schwierigkeit, die die metallischen Leiter vor der Ent- deckung der Elektronen dem Verständnis entgegenstellten. Die metallischen Leiter bilden die andere große Gruppe leitender Körper, sie sind im Gegensatz zu den Elek- trolyten scharf dadurch charakterisiert, daß der elektrische Strom in ihnen auch da, wo zwei verschiedene Metalle aneinander- grenzen, nicht die geringste Spur einer che- mischen Aenderung hervorbringt. Es ist ohne weiteres klar, daß die Partikelchen, die in einem metallischen Leiter die La- dungen übertragen, nicht aus Stoffen bestehen können, die speziell diesem Leiter angehören, anderen aber nicht. Denn, wäre dies der Fall, so müßten beispielsweise beim Ueber- gange eines Stromes von Silber nach Kupfer die Silberkationen in das Kupfer ein- dringen und die Kupferanionen in das Silber; es müßten sich also in der Grenz- schicht die beiden Metalle merkbar ver- ändern. Da das nun nicht der Fall ist, so folgt, daß die Partikelchen, die in den metallischen Leitern die Ladungen über- tragen, einen universellen Charakter haben, daß sie in all den verschiedenen Stoffen dieselben sind. In früheren Zeiten sah man sich zu der Annahme eines imponderablen elektrischen Fluidums gedrängt, das in den metallischen Leitern, wie eine materielle Flüssigkeit strömen kann. Heute kann es keinem Zweifel unterliegen, daß -dieses früher so mysteriöse Fluidum aus den uns wohl- bekannten Elektronen besteht. Denn die Elektronen sind geladene Partikelchen, die ein gemeinsamer Bestandteil aller Stoffe sind, und zwar sind sie, so viel wir wissen, die einzigen Partikelchen, denen dieser universelle Charakter zukommt. Somit bekommen wir von einem me- tallischen Leiter das Bild, daß sich in seinem Innern, ohne daß irgendeine der in Ab- schnitt 2 besprochenen Wirkungen nötig ist, ganz spontan Elektronen von den Atomen ablösen. Da nun jedenfalls die Elektronen sehr klein im Vergleich zu den Atomen sind, so erfüllen sie die Poren des festen Gerüstes, das die ungeladenen Atome 472 Elektronen und die positiv geladenen Restatome des metallischen Leiters bilden, in ähnlicher Weise, wie ein Gas die kleinen Poren in einem Stück trockenen Tons erfüllt, Poren, die immerhin im Vergleich zu den Gasmole- külen noch groß sind. Das negativ elek- trische „Elektronengas" diffundiert unter dem Einfluß eines elektrischen Feldes in der dem Feld entgegengesetzten Richtung durch das poröse Gerüst der Atome und bildet so den elektrischen Strom. Wieweit es möglich ist, nach dieser Theorie die besonderen Gesetze der metallischen Leitung, sowie die thermoelektrischen Span- nungen zwischen zwei Metallen zu erklären, kann man in den Artikeln, die speziell über diese Dinge handeln, nachlesen (vgl. die Artikel „Elektrizitätsleitung", „Ther- moelektrizität"). 5. Die Lichtemission der Atome. In allen Körpern, die nicht zu den metallischen Leitern gehören, sind die Elektronen in den Atomen gebunden und können nur durch die in Abschnitt 2 beschriebenen Mittel in verhältnismäßig geringer Anzahl aus ihnen frei gemacht werden. Sie sind aber keineswegs starr an die Atome ge- fesselt, sondern wir müssen uns vorstellen, daß sie aus ihrer Gleichgewichtslage heraus- gebracht werden können und dann hin und her pendeln, wie wenn eine elastische Kraft sie in die Gleichgewichtslage zurückzutreiben suchte. Wenn elektrische Ladungen schnell hin und her bewegt werden, so strahlen elektrische Wellen von ihnen in den Raum aus. Die Wellen, die von den im Atom schwingenden Elektronen emittiert werden, sind das vom Atom ausge- sandte Licht. Das Licht, das von ein- zelnen Atomen ausgeht, besteht aus einer Anzahl reiner Sinuswellen ; es gibt im Spek- troskop ein Linienspektrum, d. h. ein Spektrum, das aus einer Reihe scharfer Linien besteht, jede Linie entspricht einer ganz bestimmten Schwingungszahl. Jedem Atom kommt ein charakteristisches Spek- trum zu, dessen Linien sich in gewissen regelmäßigen Serien ordnen lassen. Wir sehen daraus, daß in dem Atom elektrische Oszillatoren vorhanden sind, die regelmäßige, lang andauernde, rein periodische Schwin- gungen ausführen. Diese Oszillatoren sind nach unserer Theorie die Elektronen. Ob ein Elektron verschiedene Schwingungen aus- führen kann, den verschiedenen Schwingungs- zahlen des Atomspektrums entsprechend, oder ob das Licht einer anderen Spektral- linie immer von einem anderen Elektron ausgeht, darüber wissen wir nichts. Daß es aber jedenfalls schwingende Elektronen in den Atomen sind, die das Licht hervorbringen, wird mit ziemlich großer Sicherheit be- wiesen durch dasZeemansche Phänomen. Bringt man eine Lichtquelle, die ein Linienspektrum hat, in ein starkes Magnet- feld hinein, so beobachtet man, daß das Feld die Atomschwingungen in gesetz- mäßiger Weise beeinflußt. Jede der rein periodischen Schwingungen wird durch ver- zögernde und beschleunigende Kräfte des magnetischen Feldes in mehrere Schwin- gungen von nur äußerst wenig differierenden Schwingungszahlen zerlegt. Mit einem sehr scharf zerlegenden Spektroskop beobachtet man daher, wie Zeeman entdeckt hat, Aufspaltung jeder einzelnen Spektral- durch das magnetische Feld in mehrere dicht beieinander liegende „Kompo- Diese Komponenten sind außer- bestimmter Weise polarisiert. Man eine linie sehr nenten" dem in kann das Zeem ansehe Phänomen theo retisch vorhersagen, wenn man annimmt, daß das Licht von einem elektrisch gela- denen Teilchen ausgeht, das einfach nach den Pendelgesetzen um seine Gleichgewichts- lage oszilliert. Unter dieser einfachen An- nahme ergibt die Theorie, daß das Licht, das senkrecht zu den Linien des magne- tischen Feldes ausstrahlt, in drei linear polarisierte Komponenten zerlegt werden muß, dagegen das Licht, das in der Richtung der Feldlinien etwa durch eine Längs- bohrung der Polschuhe austritt, in zwei einander entgegengesetzt zirkular-polarisierte Komponenten. Diese ganz einfache Form des Zeemanschen Phänomens beobachtet man tatsächlich an den Schwingungen eines Atoms, nämlich des Heliumatoms. Das Spektrum des Heliums zeigt eine große Anzahl von Linien, und jede dieser Linien wird im magnetischen Felde genau in der Weise zerspalten, wie es die einfache Theorie angibt. Es ist deswegen höchst interessant, das Zeemansche Phänomen an den Heliumlinien mit der Theorie auch quantitativ zu vergleichen. Nach der Theorie 1 ist es möglich, aus dem Rotationssinn der zirkulär polarisierten Komponenten des parallel zu den Feldlinien ausgestrahlten Lichtes das Vorzeichen der Ladung der im Atom schwingenden Partikelchen zu mittein und ferner aus der Differenz Wellenlängen der beiden Komponenten, durch eine bekannte magnetische Feld- stärke hervorgebracht wird, das Verhältnis e/m der Ladung zu der trägen Masse der schwingenden Teilchen zu berechnen. Rotationssinn der Zirkularpolarisation gibt, daß die schwingenden Teilchen ! Atom negativ geladen sind, die Größe des Zeemaneffektes ergibt für e/m den Wert 1,77. 108 Coulomb/Gramm. Hieraus darf man den Schluß ziehen, daß im Heliumatom die lichter- regenden Teilchen nichts anderes sind als Elektronen, die nach dem er- der die Der er- im Elektronen 473 Pendelgesetz, jedes unabhängig von den übrigen, um ihre Gleichgewichts- lagen schwingen, und zwar Elek- tronen, die vollkommen identisch sind, mit den schon anderweit be- kannten Elektronen. Die eben besprochene einfache Form zeigt das Zeemansche Phänomen aller- dings nur bei dem Heliumatom. Alle an- deren Atome zeigen kompliziertere Erschei- nungen, wenn man sie einem starken Magnet- feldaussetzt, währendsieschwingen. Man kann eine größere Zahl von Typen des Zeeman- schen Phänomens unterscheiden, die außer- ordentlichinteressanteGesetzmäßigkeiten auf- weisen. Alle stimmen im Rotationssinn des zirkularpolarisierten Lichtes, das parallel zu den Kraftlinien austritt, überein, außerdem ist die Größenordnung des Effektes überall die gleiche. Man schließt hieraus, daß die Lichtschwingungen der Linienspektra der Atome zwar immer von den uns bekannten Elektronen ausgehen, aber im allgemeinen nicht von ein- zelnen Elektronen, die nach dem Pendelgesetz schwingen, sondern von mehreren durch uns noch unbe- kannte Kraftwirkungen miteinander verkoppelten Elektronen. Es verdient übrigens besondere Be- achtung, daß man in dem Licht, das leuch- tende Gase in Geißlerschen Röhren, im Lichtbogen oder in einer durch ein Metall- salz gefärbten Bunsenflamme zeigen, keines- wegs bloß Linienspektren beobachtet. Es gibt noch eine zweite Art von Spektren, die allerdings nicht dem einzelnen Atom, sondern dem ganzen Molekül des leuchten- den Dampfes oder Gases zukommen, das sind die Bandenspektra. ' Man sieht hier an Stelle der scharfen Linien, breitere Banden, die im allgemeinen an der einen Seite, der sogenannte Kante scharf begrenzt sind, auf der anderen Seite dagegen all- mählich ins Dunkle verlaufen. Die Ban- den zeigen im magnetischen Feld keine Spur vom Zeemanschen Phä- nomen, sie können also nicht von schwingenden Elektronen herrühren. Wie sie aber zustande kommen, darüber wissen wir bisher noch gar nichts, nur so viel ist sicher daraus zu sehen, daß sich im Innern der Atome noch manche uns ganz unbekannte und rätselhafte Vorgänge ab- spielen. Feste und flüssige Körper geben bei Glut- kontinuierliche Spektren. Wie weit die ein- zelnen Bestandteile ihres Lichtes auf Elek- tronenschwingungen oder auf andere uns noch unbekannte Vorgänge zurückzuführen sind, läßt sich bei dem völligen Mangel einer Struktur des Spektrums natürlich nicht sagen. 6. Die Abhängigkeit der trägen Masse von der Geschwindigkeit. Wie schon oben erwähnt wurde, haben die ß-Strahlen dadurch eine ganz besondere Bedeutung für uns, weil wir in ihnen Partikelchen haben, die mit Geschwindigkeiten fliegen, wie sie sonst niemals bei irgendwelchen materiellen Körpern vorkommen. Theoretische Er- wägungen, über die wir im folgenden noch berichten werden, hatten es nahe gelegt, zu untersuchen, ob bei den enormen Ge- schwindigkeiten der Elektronen in den /^-Strahlen noch das Gesetz von der Kon- stanz der trägen Masse gilt, das bis vor kurzem als eines der fundamentalen Natur- gesetze betrachtet wurde. Kaufmann führte diese Untersuchung mit großer Sorg- falt durch. Er benutzte dieselbe Methode, die schon bei den Kathodenstrahlpartikelchen ausgearbeitet war (vgl. 2), nämlich Messung der Ablenkung der Strahlen in einem elek- trischen und in einem magnetischen Felde von bekannter Stärke. Wie wir in 2 gesehen haben, liefern diese Messungen zwei Glei- chungen für die Unbekannten: Ladung e, träge Masse m, Geschwindigkeit v. Die beiden ersten kommen aber nur als Quotient e/m vor, man kann deswegen aus den beiden Gleichungen die Größe e/m und die Größe v gesondert berechnen. In der untenstehen- den Tabelle sind die zugehörigen Werte v und e/m zusammengestellt, die sich aus einer Reihe Kaufmannscher geben. Ich muß dabei aber hervorheben, daß ich mir an den von Kaufmann gemessenen Werten eine Korrektur anzubringen. Eine Diskus- sion der Kaufmanns chen Resultate ergibt nämlich (vgl. M. Planck, Berichte der Deutschen Physikalischen Gesellschaft 5, S. 301, 1907), daß in den Messungen trotz aller aufgewandten Sorgfalt noch ein syste- matischer Fehler stecken muß, der vielleicht darin besteht, daß für die elektrische Feld- stärke ein zu großer Wert gerechnet ist, jedenfalls ein Fehler, der das Resultat in dieser Richtung beeinflußt. Die Zahlen in der folgenden Tabelle sind aus den Kauf- mannschen Zahlen dadurch gewonnen, daß die elektrische Feldstärke um 1014% kleiner angenommen worden ist, als Kaufmann an- gibt. Die beiden ersten Kolonnen enthalten die aus den Messungen nach dieser Kor- rektur gefundenen Werte v und e/m, wobei statt der in cm/sec gerechneten Geschwin- digkeit v der Wert ß = v: 3.1010 eingesetzt ist, der sich ergibt, wenn man die Lichtge- schwindigkeit (3.1010 cm/sec) als Einheit nimmt. Die letzte Kolonne gestattet den Ver- gleich von e/m mit der Formel 1,75. 108. yi — ß2, die, wie man sieht, den Verlauf von e/m ziemlich genau wiedergibt, und die zugleich zeigt, daß sich die Werte e/m für Messungen er- nachdrücklich erlaubt habe. 474 Elektronen kleines ß an den durch die Messungen an Kathodenstrahlen gefundenen Wert 1,75. 108 gut anschließen. Würde man die Kauf- mannschen Messungen ohne die von mir vorgenommene Korrektur benutzen, so würde an dem Verlauf der Größe e/m als Funktion von ß nur wenig geändert, aber der Anschluß für kleines ß an 1,75. 108 wäre weniger gut. Kaufmanns Messungen von e/m an ß-Strahlen. ß = v.B.101 e m 10-8 1,75. k7! — /52 0,926 0,861 0,807 o,756 0,699 0,646 0,603 0,569 o,533 0,67 0,89 1,04 1,18 1,26 i,33 1,40 i,45 1,50 0,66 0,89 1,02 1,15 1,26 i,33 1,40 i,45 1,48 Aus dieser Tabelle sieht man zweierlei: Erstens, die Geschwindigkeit auch der alier- schnellsten /?-Strahl-Partikelchen ist doch immer noch etwas kleiner als die Licht- geschwindigkeit; zweitens, sobald sich die Geschwindigkeit eines Teilchens der Licht- geschwindigkeit nähert, sinkt das Verhält- nis e/m sehr stark; wenn die Formel 1,75 . 108 . rl-ß2 auch für eine beliebig große An- näherung an die Lichtgeschwindigkeit gültig bleibt, so muß e/m schließlich beliebig nahe zu Null heruntergehen. Wir haben uns nun zu fragen, ob sich in e/m der Zähler oder der Nenner oder gar beide mit der Geschwindig- keit ändern. Die Landung e des Teilchens zeigt sich daran, daß radial von ihm nach allen Seiten elektrische Feldlinien ausgehen. Sobald sich die Ladung änderte, müßte sich auch die Anzahl der Feldlinien ändern. Die Gesetze, nach denen sich ein elektrisches Feld ändern kann, sind nun aber genau bekannt, diese Gesetze beherrschen all die mannigfaltigen elektromagnetischen Er- scheinungen, auch die Lichtwellen usw.; ihre Konsequenzen sind also außerordentlich oft und genau nachgeprüft und wir können nichts von ihnen aufgeben, wenn wir nicht behaupten wollen, daß ein großer Teil all unserer experimentellen Erfahrungen aufi groben Irrtümern und verkehrten Beobach- tungen beruhe. Nun sind aber diese Gesetze, die wir demnach unbedingt als Basis unserer weiteren Forschungen annehmen müssen, ganz unvereinbar mit einer Veränderlichkeit der von einem geladenen Körper ausgehenden Feldlinien bei Bewegungen. Es ist also ganz unmöglich, anzunehmen, daß sich der Zähler e mit der Geschwindigkeit des Elektrons ändert. Da sich e/m ändert, so folgt hieraus, daß die träge Masse m nicht konstant ist, daß sie vielmehr eine Funktion der Geschwindigkeit ist, die mit wach- sender Geschwindigkeit mehr und mehr zunimmt und schließlich, wenn die Geschwindigkeit dem Grenzwert 3.1010 cm/sec nahe kommt, über alle Grenzen hinaus wächst. Dieses Verhalten der trägen Masse macht es, wie man s;eht, unmöglich, daß die Ge- schwindigkeit den Wert 3.10'° je erreicht, weil beim Näherkommen an diesen Wert der Trägheitswiderstand der Partikeln gegen die beschleunigende Kraft schließlich un- endlich groß wird. 7. Das Wesen der Elektronen und der Materie überhaupt. Wenn man sich die in 3 beschriebene Struktur der Atome etwas genauer durchdenkt, so findet man, daß die Elektronentheorie die Behauptung in sich schließt: „es existiert keine Materie ohne elektrische Ladung". Elektrische Ladung ist also wenigstens zum Teil das Wesen der Materie selbst. Andererseits ist „elektrische Ladung" nur das Wort für „Ausgangsstelle eines elektrischen Feldes". Es gibt bekannt- lich zwei Arten solcher Ausgangsstellen, nämlich positive Ladungen, aus denen die Feldlinien (in dem Sinn, wie wir gewohnt sind zu rechnen) heraustreten, und negative Ladungen, in die die Feldlinien hineinlaufen. Im reinen Aether gibt es solche Ausgangs- stellen elektrischer Felder nicht. Sie kommen nur als Elektronen und als positive Rest- atome vor, sie bilden also die Elementar- teilchen der Materie. Wir können danach die Elementarteilchen der Materie im wesentlichen als die Knotenstellen der elektrischen Felder im Aether auffassen Warum die Ladungen nur in diesen engbegrenzten Knotenstellen zu- sammengedrängt vorkommen, warum sie sich nicht der Expansionskraft der elek- trischen Felder folgend über möglichst weite Bereiche ausbreiten, läßt sich nicht genau sagen. Es muß jedenfalls noch besondere mit den Ladungen verbundene Kräfte geben, die sie zusammenhalten, und die ich die „Kohäsionskräfte" der Knotenstellen nennen möchte, obwohl wir noch nichts Näheres von ihnen wissen. Die Expansionskraft des Feldes und die Kohäsionskraft der Knoten- stelle zusammen machen erst die Existenz der räumlich begrenzten und undurch- dringlichen materiellen Elementarteilchen möglich. Wenn aus irgendeiner Ursache auf einer Seite des Elementarteilchens die Ladungen aus dem Bereich hervortreten, so muß die Kohäsionskraft bewirken, daß Elektronen 47 5 zugleich auf der anderen Seite die Grenze der Ladung sich in den ursprünglichen Bereich hineinzieht, so daß das von der Ladung erfüllte Volumen im ganzen wieder umgeändert bleibt. In dieser Weise können sich die Knotenstellen durch den Aether hindurchbewegen, ohne sich sonst zu ändern. Der Weltäther selber ist seiner Natur nach absolut unbeweglich und voll- kommen durchdringlich für die Atome und Elektronen. Diese wichtige Grundannahme der modernen Elektronen- theorie ist nur verständlich, wenn man ein- gesehen hat, daß in der soeben geschilderten Weise die Elementarteilchen der Materie weiter nichts sind als Stellen singulären Verhaltens im Aether selber: Knotenstellen der elektrischen Felder. Nach dieser Auffassung ist also die Be- wegung der Materie ein Vorgang der Aether- physik und zwar hauptsächlich ein elektro- magnetischer Vorgang. Die Bewegung be- steht im wesentlichen darin, daß sich die Kraftfelder im Aether mitsamt den Knotenstellen, die zu ihnen gehören, umlagern und verschieben. Die Ursache für das Ent- stehen einer Bewegung ist stets die, daß die Gleichgewichtsbedingungen der Aetherfelder nicht erfüllt sind. Die Energie der Bewe- gung eines Elektrons oder eines Atoms ist nichts anderes als die Energie gewisser Vor- gänge im Aether, die die Verschiebung der Knotenstellen begleiten und die nicht da wären, wenn die Knotenstellen ruhten. Wenn beispielsweise ein Elektron durch den Raum vorrückt, so muß sein ganzes elek- trisches Feld mitgehen, Nun kann aber, wie ans der Elektrizitätslehre bekannt ist, , ein elektrisches Feld im Aether nicht anders von einer Stelle zu einer anderen übertragen werden, als daß ein magnetischer Zustand im Aether eintritt, der die Uebertragung besorgt. Ein bewegtes Elektron muß des- wegen stets noch von einem magnetischen Feld umgeben sein. Die Linien dieses Feldes bilden Kreisringe um das dahinfliegende Elektron herum, seine Stärke ist an jeder Stelle proportional mit dem Produkt aus der übertragenen elektrischen Feldstärke und der Geschwindigkeit der Uebertrag>mg. Da weiter die Energie des magnetischen Feldes an jeder Stelle mit dem Quadrat seiner Feld- stärke proportional ist, so involviert das j magnetische Feld, das bei einer Bewegung des Elektrons zu dem elektrischen Feld hinzu- treten muß, im ganzen eine Energiemenge, die mit dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional ist. Man sieht ein, das dies sehr wohl die Energie sein könnte, die wir gewohnt sind als Bewegungsenergie zu be- zeichnen, denn diese wachs! tatsächlich wie das Quadrat der Geschwindigkeit. Nun ist aber die eben angestellte Ueberlegung noch in einer Hinsicht unvollkommen. Da sich nicht nur das elektrische, sondern auch das magnetische Feld mit dem Elektron zu- sammen fortbewegt, so muß noch eine Wir- kung vorhanden sein, die das magnetische Feld überträgt. Das geschieht nun nach der Lehre von Elektromagnetismus durch ein elektrisches Feld, das nicht völlig im Gleich- gewicht ist. Bei einem bewegten Elektron müssen sich also die elektrischen Feldlinien ein wenig aus der Gleichgewichtslage, die sie beim ruhenden Elektron haben, heraus verschieben, in der Weise, daß sie gerade imstande sind , das magnetische Feld zu übertragen. In dieser Weise übertragen sich dann elektrisches und magnetisches Feld gegenseitig durch den Raum gerade mit der Geschwindigkeit des Elektrons. Nun hat aber die Veränderung des elektrischen Feldes eine kleine Energieaufnahme zur Folge, außerdem wird dadurch bewirkt, daß das magnetische Feld nicht in der einfachen Weise, wie es bei einem unveränderlichenelek- trischen Feld wäre, überall proportional mit der Geschwindigkeit zunimmt, beides zu- sammen hat das Resultat, daß die Bewe- gungsenergie des Elektrons, soweit sie in dem elektromagnetischen Felde steckt, nicht ganz genau proportional mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunimmt. Mit anderen Worten die Trägheit des Elektrons, d. h. der Faktor der mit y2 v2 multipliziert die Bewegungsenergie ergibt, kann nicht ganz konstant sein. Es läßt sich zeigen, daß die Abweichung von der Konstanz erst bei Geschwindigkeiten merkbar werden kann, die nicht mehr weit unter der Lichtgeschwin- digkeit liegen, daß die Trägheit aber bei diesen großen Geschwindigkeiten rapide wächst und schließlich über alle Grenzen hinausgeht, wenn man der Lichtgeschwin- digkeit näher kommt. Diese Konsequenz der Theorie war es, die Kaufmann zuerst experimentell ge- prüft und, wie wir in 6. gesehen haben, tat- sächlich bestätigt gefunden hat. Man hat nun lange Zeit aus den Kauf mann sehen Versuchen die Folgerung ziehen wollen, daß die Trägheitswirkung des Elektrons rein in seinem elektromagnetischen Felde steckte. Abraham entwickelte die Theorie eines Elektrons, das eine starre, elektrisch ge- ladene Kugel bildete und bei der Bewegung nur eine Energiezufuhr zu seinem elektro- magnetischen Feld in der eben beschriebenen Weise nötig hatte. Er wies nach, daß man bei einem sehr schnell bewegten Elektron streng unterscheiden müsse zwischen dem Trägheitswiderstand, den es einer Be- schleunigung in seiner eigenen Bewegungs- richtung entgegensetzt, und dem Trägheits- widerstand gegen eine Ablenkung aus seiner Bewegungsrichtung, ohne daß dabei der 476 Elektronen \ absolute Wert der Geschwindigkeit geändert wird. Man unterscheidet danach die lon- gitudinale Trägheit und die transver- sale Trägheit des schnell bewegten Elek- trons. Die Kaufmann sehen Messungen ergeben offenbar die zweite von diesen Größen. Vergleicht man die Kaufmann- scheu Werte, mit denen, die die Abraham- sche Theorie für die transversale Trägheit liefert, so findet man auch wirklich eine ungefähre Uebereinstimmung. Die Theorie des starren Elektrons ist aber nicht in Einklang mit der oben geschilderten Vorstellung, daß sich das Elektron durch das Gleichgewicht zwischen Expansions- kraft des Feldes und Kohäsionskraft der Knotenstelle herstellt. Um ein schnell be- wegtes Elektron ordnen sich, wie wir schon gesehen haben, die elektrischen Feldlinien etwas anders an, wie um ein ruhendes. Und zwar geschieht das in der Weise, daß das Feld in der Gegend der beiden Pole des Elektrons, wenn man die Richtung der Be- wegung als seine Achse nimmt, schwächer wird, in der Aequatorialzone dagegen etwas stärker. Man sollte also erwarten, daß das Elektron sich bei der Bewegung aus einer Kugel in ein abgeplattetes Ellipsoid ver- wandelte, entsprechend den veränderten Zugkräften, die sein elektrisches Feld auf die Ladungen ausübt. Wie weit diese Ab- plattung geht, könnte man natürlich nur angeben, wenn man etwas über die Art wüßte, wie sich die Kohäsionskräfte der Knotenstelle bei der Bewegung verhalten. Obwohl man nun noch gar nichts Näheres über diese Kräfte weiß, so hat man doch allen Grund anzunehmen, daß sie ein Prinzip befolgen, das, wie es scheint, eine ganz uni- ■ verseile Bedeutung hat, nämlich das Re- "|Iativitätsj)rjnzip. Man kann dieses etwa folgendermaßen formulieren: W i r k u n g e Alle durch derartige beherrscht, daß des Aethers sind Gesetzmäßigkeiten die Beobachtungen an einem mit konstanter gleichge- richteter Geschwindigkeit fortbe- wegten materiellen System, die ein mitbewegter Beobachter macht, mathematisch genau übereinstim- men mit Beobachtungen, die man an einem aus denselben Elementarpar- tikelchen zusammengesetzten System machen würde, wenn es absolut ruhte und mit ihm der Beobachter. Aus diesem Prinzip läßt sich durch ein Schlußverfahren, das an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden kann, der Beweis führen, daß die Form, die das bewegte Elek- tron bei Gleichgewicht der elektrischen Expansionskraft mit der Kohäsionskraft der Knotenstelle annimmt, die eines abge- platteten Ellipsoids ist. Und zwar entsteht dies Ellipsoid aus der Kugelform des ruhenden Elektrons in der Weise, daß sich seine Achse in der Bewegungsrichtung im Verhältnis il-ß2 (ß = v:3.1010) zusammenzieht, wäh- rend seine Dimensionen in der Aequatorial- ebene ungeändert bleiben. Ferner läßt sich nun zeigen, wie es zuerst H. A. Lorentz getan hat, daß die trans- versale Trägheit eines Elektrons darzu- stellen ist durch die Formel: mt = m0 n-ß* die longitudinale Trägheit durch die Formel: 1 mi = m0. n-ß 2\3" m0 bedeutet hier beide Male die Trägheit bei sehr kleinen Geschwin- digkeiten (ß unendlich klein). Es ist von Interesse zu sehen, daß die Kaufmannschen Messungen, wenigstens nach der von mir vorgenommenen Korrektur mit der Formel für mt ganz genau übereinstimmen. Immer- hin darf man diese Uebereinstimmung nicht als beweisend ansehen, so lange der Fehler, der den Kaufmannschen Messungen noch anzuhaften scheint, nicht durch neue Ex- perimente eliminiert ist. Sehr spricht für die Richtigkeit der Lorentzschen Formeln noch der Umstand, daß neuere Untersuchungen an schnell bewegten Elek- tronen von Buch er er und von Hupka nach zwei ganz verschiedenen Methoden eine gute Uebereinstimmung mit der Rela- tivitätstheorie ergeben haben. Die Formeln von Lorentz sind dadurch ausgezeichnet, daß sie sich aus der Relativitätstheorie herleiten lassen, ohne daß man eine besondere Annahme darüber macht, ob die Trägheit nur auf elek- tromagnetischen Wirkungen beruht oder ob noch irgendwelche andere Wirkungen, die beispielsweise mit den Kohäsions- kräften der Knotenstellen zusammenhängen könnten, mit dazu kommen. Die Lorentz- schen Formeln müssen nach der Relativi- tätstheorie auch ohne weiteres für die materiellen Atome gültig sein, ganz gleich- gültig, in welcher Weise sie aus den Elemen- tarteilchen aufgebaut sind. So schön es einer- seits für die Relativitätstheorie ist, daß sie derartige allgemein geltende Folgerungen liefert, so bedauerlich ist es auf der anderen Seite, daß man aus den Messungen der Elek- tronenträgheit nicht die geringsten Schlüsse auf den inneren Bau der Elektronen, auf die Art ihrer Kohäsionskräfte, ja nicht ein- mal auf ihre Form und ihre Größe ziehen kann. Literatur. Siehe die Literatur in den Artikeln Glimmentladung , Kathodenstrahlen , Glühelek- trische Erscheinungen, Lichtelektrische Erschei- Elektronen - Elektrooptik 477 nungen, Röntgenstrahlen, Radioaktivität, Elek- trizitätsleitung , Thermoelektrizität, Spektroskopie, Magnetooptik, Physikalische Prinzipien. — Ein zusammenfassendes Werk über die theoretische Seite des Gegenstandes mit den nötigen, mathe- matischen Entwickehingen ist: H. A. Lorentz, The Theory of Electrons. Leipzig 1909. G. Mie. Elektrooptik. 1. Vorbemerkungen: a) Elektrische Felder. b) Nichtleiter und Leiter im elektrischen Feld. c) Allgemeine Charakteristik der elektrooptischen Effekte, d) Beobachtungsmethoden, e) Direkte und indirekte Wirkungen. 2. Elektrooptische Effekte an isotropen Körpern: a) Erste Beob- achtungen an Flüssigkeiten; das Fundamental- gesetz der elektrischen Doppelbrechung. b) Relative Bestimmungen, c) Beobachtungen an festen Körpern, d) Beobachtungen über abso- lute Geschwindigkeitsänderungen, e) Beobach- tungen über die Trägheit elektrooptiscner Effekte. 3. Elektrooptische Effekte an Kristallen. 4. Theo- retische Ueberlegungen : a) Allgemeine Gesichts- punkte, b) Spezielle Hypothesen. i. Vorbemerkungen, ia) Elektrische Felder. Wie die Magnetooptik (vgl. den Artikel „Magnetooptik", Bd. VI, S. 702), so beschäftigt sich auch die Elektrooptik mit Veränderungen der optischen Eigenschaften der Körper infolge der Einwirkung eines von außen auf das Innere der Körper wirkenden Agens, dort eines magnetischen, hier eines elektrischen Feldes. Ein solches Feld besteht in derUmgebung jeder elektrischen Ladung und wird anschau- lich gemacht durch seine Kraftlinien, d. h. durch Kurven, deren Richtung an jeder Stelle mit der Richtung der dort auf eine eingebrachte kleine positive La- dung wirkenden Kraft zusammenfällt. Im einfachsten Falle entgegengesetzt gleicher Punktladungen gehen die Kraftlinien des Feldes sämtlich von der positiven Ladung aus und endigen in der negativen. Dieser Fall ist in Annäherung realisiert durch zwei kugelförmige Konduktoren einer Elektrisiermaschine oder eines Funkenin- duktors, wenn ihre Entfernung groß ist gegen ihren Radius. Bei gleicher Steigerang der Ladungen beider Kugeln wächst die Feldstärke pro- portional mit den Ladungen. Einer Ver- größerung der Feldstärke auf diesem Wege ist eine Grenze durch den Umstand gesetzt, daß bei einem gewissen Betrag der Feld- stärke die „Elektrische Festigkeit" des Zwischenmediums zwischen den Konduktoren nicht mehr ausreicht, um der Anziehung zwischen den beiderseitigen Ladungen ent- gegenzuwirken, und daß dann eine Ver- einigung derselben durch eine Funken- entladung eintritt. Die elektrische Festigkeit ist je nach der Art des Mediums, in dem sich die Konduktoren befinden, verschieden. Feste und flüssige Nichtleiter haben größere Festig- keit als Gase. Das Feld in der Umgebung zweier entgegengesetzt geladenen Kugelkonduk- toren ist inhomogen, d. h., Größe und Richtung der Feldstärke wechselt von Ort zu Ort. Man erhält Felder von nahezu kon- stanter Größe und Richtung zwischen zwei einander parallelen plattenförmigen Kon- duktoren mit entgegengesetzten Ladungen, und zwar ist die Homogenität um so voll- kommener, je geringer die Entfernung der beiden Platten im Vergleich zu ihrer Größe ist. Außerhalb des bezeichneten Ge- bietes sind die Felder wieder inhomogen und beträchtlich schwächer als innerhalb. Ein solches Plattenpaar wird als Konden- sator bezeichnet. Die Feldstärke, welche ein einmal aufge- ladenes Leitersystem, z. B. ein Kondensator, liefert, ist im allgemeinen wegen der La- dungsverluste durch Leitung zeitlich ver- änderlich. Um sie konstant zu erhalten, muß die Ladung etwa durch geeignetes Arbeiten einer Influenzmaschine oder aber durch An- legen einer konstanten Spannung, wie sie eine Akkumulatorenbatterie oder eine dyna- moelektrische Maschine liefert — konstant er- halten werden. Ist die Spannung (oder Potentialdifferenz) v zwischen den beiden Kondensatorplatten gegeben, so bestimmt sich die Feldstärke im Zwischenraum durch den Quotienten v/a, unter a den Abstand der Platten verstanden. ib) Nichtleiter und Leiter im elek- trischen Felde. Um einen Körper einem elektrischen Felde auszusetzen, bringt man ihn einfach in dasselbe. Es fließen dann, wenn er ein Nichtleiter ist, die Kraft- linien durch ihn hindurch, allerdings nicht ohne Aenderung, sondern in einer von Form und Natur des Körpers abhängigen Defor- mation. Letztere entsteht dadurch, daß der eingebrachte Körper durch Influenz elektri- siert wird und demgemäß selbst Ladungen annimmt, von denen ein Feld ausgeht. In- folge hiervon ist die Feldstärke im Innern des eingebrachten Nichtleiters im allge- meinen stets kleiner, als sie an der bezüglichen Stelle vor Einbringung des Körpers war. Eine Ausnahme bildet ein Kondensator, an den eine konstante Spannung angelegt ist, und eine den Innenraum ausfüllende Platte aus einem Nichtleiter. Hier behält : die Feldstärke den früheren Wert v/a bei, weil die auf der eingelegten Platte ent- stehenden Ladungen in ihrer Wirkung durch 478 Elektrooptik auf den Kondensator nachströmende La- dungen kompensiert werden. Innerhalb leitender Körper können statische elektrische Felder überhaupt nicht bestehen. Bringt man dergleichen Körper in ein elektrisches Feld, so entstehen auf ihrer Oberfläche inflnenzierte Ladungen, deren Feld im Innern des Leiters die Wirkung der ursprünglich das Feld erregenden gerade kompensiert. Die Kraftlinien des Feldes endigen dabei in diesen auf der Oberfläche influenzierten Ladungen und vermögen nicht ins Innere des Leiters einzudringen. Variable Felder, wie sie in elektromagne- tischen Wellen herrschen, pflanzen sich aller- dings auch in Leiter hinein fort, aber im all- gemeinen nur in sehr verringerter Stärke. ic) Allgemeine Charakteristik der elektrooptischen Effekte. Im Gebiete der Magnetooptik sind nach Bd. VI, S. 703fg. Wirkungen der Magnetfelder sowohl auf Emissions- als auf Absorptions- oder Fortpflanzungs erscheinungen bekannt , und erstere geben ein wichtiges Hilfsmittel für das Verständnis und die theoretische Be- herrschung der letzteren. Im Gebiete der Eletrooptik sind Wirkungen der ersten Art bisher noch nicht entdeckt, und dadurch fehlt in demselben auch ein so einfacher leitender Grundgedanke, wie er in der Magnetooptik durch den sogenannten Zeeman-Effekt an die Hand gegeben wurde. Dieser Effekt stellte sich nach Bd. VI, S. 703 am deutlichsten bei ge- wissen feinen Linien in Emissionsspektren dar, die in mehrere Komponenten zerlegt werden, wenn auf die emittierende Lichtquelle ein Magnetfeld wirkt. Beobachtungen ana- loger Art mit elektrischen statt mit magne- tischen Feldern scheitern deshalb, weil emittierende Lichtquellen der Regel nach Leiter der Elektrizität sind, und weil (wie oben gesagt) es unmöglich ist, im Innern von Leitern statische elektrische Felder zu erzeugen. Versuche mit Wechselfeldern, die bis zu einem gewissen Grade in Leiter eindringen, sind zwar gemacht worden, haben aber bisher zu bestimmten Ergebnissen nicht geführt. Alle erfolgreichen Beobachtungen auf elektrooptischem Gebiete beziehen sich bisher auf die Veränderung des Verhaltens der Körper gegenüber in ihnen fortschreiten- den Lichtwellen durch das elektrische Feld und zwar, noch spezieller, fast nur auf die Ver- änderung der Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der Wellen; über Veränderung der Absorption durch das Feld liegen nur erst ganz vereinzelte Wahrnehmungen vor. Da nun nach moderner Auffassung, wie Bd. VI, S. 707fg. erörtert, die Gesetze der Fortpflan- zungsgeschwindigkeit resp. der Dispersion durch die Absorptionen innerhalb der Körper bedingt werden, so fehlt für die theoretische Deutung der elektrooptischen Erscheinungen ein sehr wesentliches Hilfsmittel, das sich in der Magnetooptik fruchtbar erwiesen hat. Die an isotropen Körpern durch- Beobachtungen, welche sich in geführten erster Linie auf flüssige und feste Körper, I in geringem Umfange auch auf Gase und Dämpfe beziehen, haben übereinstimmend er- geben, daß diese Körper in einem elektrischen Felde das optische Verhalten einachsiger Kristalle annehmen, deren Achse in die Rich- 1 tung der elektrischen Kraftlinien fällt, cl. h., im allgemeinen zerlegt sich eine einfallende Welle in zwei normal zueinander polari- sierte von verschiedenen Fortpflanzunus.- sjeschwindiakeiten. Die Differenz der beiden Geschwindigkeiten muß nach Symmetrie gleich Null sein für Wellen, die parallel den Kraft- linien fortschreiten (in welcher Richtung Beobachtungen unbequem sind), sie nimmt mit der Neigung der Fortpflanzungsrichtung gegen die Kraftlinien zu und erreicht ein Maximum in der dazu normalen Richtung, in der der Regel nach beobachtet wird. Dieser Verlauf der Differenz der beiden ■ Geschwindigkeiten oder der Doppelbrechung entsteht in der Weise, daß die eine der beiden Wellen, die in einer Ebene durch die Richtung der Feldstärke polarisiert ist, eine | von der Fortpflanzungsrichtung unabhängige Geschwindigkeit besitzt, die andere, normal zur Feldstärke polarisierte, eine von der Rich- tung abhängige. Die erstere Welle nennt man die ordentliche, die zweite die außer- ordentliche. Es mag erinnert werden, daß mit der Ge- schwindigkeit co einer Lichtwelle in einem Körper der Brechungsindex n des letz- teren zusammenhängt gemäß der Formel n=c/co, unter c die Geschwindigkeit im Va- kuum verstanden. Komplizierter stellen sich die elektro- optischen Effekte bei Kristallen dar, welche schon von Natur doppelbrechend sind; hier gibt die Wirkung des Feldes Aenderungen der ursprünglichen Doppelbrechung, die je nach der Orientierung des Kristalles gegen das Feld verschieden sind. Außerdem treten bei Kristallen von gewissen Symmetrien singulare Effekte auf, die sich von den bei isotropen Körpern beobachteten wesentlich unterscheiden. id) Beobachtungsmethoden. Eine Doppelbrechung kann man nachweisen, in- dem man den bezüglichen Körper zwischen gekreuzten Polarisatoren beobachtet. Ist er einfach * brechend (optisch isotrop), so er- scheint er dabei in jeder Position dunkel; ist er doppelbrechend (optisch äolotrop), so hellt er sich in bestimmten Positionen auf. Die Aufhellung ist für eine kristallinische Platte dann am intensivsten, wenn die Polari- sationsebenen der beiden in der Platte fort- Elektrooptik 47!) schreitenden Wellen die Winkel zwischen den bezüglichen Ebenen der Polarisatoren halbieren. Wenn man nach Synimetrifi- rücksichten (wie z. B. im vorliegenden Falle) die Lage der Polarisationsebenen für die zn erwartende Doppelbrechung im voraus angeben kann, orientiert man für deren Nachweis passend die Polarisatoren von vorn- herein in der genannten vorteilhaftesten Weise. Um die Doppelbrechung zu messen, wendet man eine Vorrichtung an, die selbst Verzögerungen von in meßbarer Weise ver- änderlicher Größe hervorzubringen vermag, z. B. einen Keil aus einem doppelbrechenden Kristall, der, in den Lichtweg gebracht, zwei normal zueinander polarisierte Wellen mit gegenseitigen Verzögerungen liefert, die mit dem Abstand von der Keilkante pro- portional sind. Mit einer solchen Vorrich- tung kann man die unbekannte Doppel- brechung aufheben, kompensieren (daher der Name Kompensator), und da man die kompensierende Verzögerung kennt, durch sie die kompensierte, ihr entgegengesetzt gleiche messen. Auch die Aenderung der Geschwindig- keiten der einzelnen Wellen durch das Feld (auf deren Differenz nach obigem die Doppel- brechung beruht) sind der Messung zugäng- lich. Man läßt hierzu passend eine Licht- welle zum Teil durch den im Felde befindlichen, der Untersuchung zu unterwerfenden Körper gehen, zum Teil durch einen gleichen, außerhalb des Feldes befindlichen, und bringt beide Teile zur Interferenz (vgl. den Ar- tikel „Interferenz des Lichtes"). Bei geeigneter Anordnung erhält man dann ein System heller und dunkler Streifen, die ihren Ort ändern, wenn die Lichtge- schwindigkeit sich in einem der bezw. beiden Körpern ändert, die sich also verschieben, wenn das Feld erregt oder ausgeschaltet wird. Indem man das zur Interferenz kommende Licht durch einen Nicol gehen läßt, kann man die parallel und die normal zum Feld schwingende Komponente je für sich der Untersuchung unterwerfen. ie) Direkte und indirekte Wir- Die Deutung der Beobachtungen über elektrooptische Vorgänge wird durch einen Umstand kompliziert, der in der Magnetooptik ganz außer Betracht bleiben kann. Nach S. 470 entstehen auf einem jeden in ein elektrisches Feld gebrachten Körper Ladungen, und diese üben aufeinander Kräfte aus. Ein einfacher Fall ist der einer Platte in einem Kondensator, über den S. 470 gesprochen ist. Bei ihr liegen die Ladungen nur auf den beiden Grundflächen, sie haben entgegengesetztes Vorzeichen und gleiche 'Größe. Sie ziehen einander an und wirken somit auf die Platte im Sinne eines auf deren Grundflächen ausgeübten normalen kungen Druckes, der sich nicht ändert, wenn die Ladungen ihr Vorzeichen wechseln. Ein solcher mechanisch ausgeübter Druck macht nun gleichfalls die beobachtete Platte doppelt- brechend und zwar optisch einachsig mit der Achse parallel den Kraftlinien des Feldes. Diese Wirkung, die also auch im Felde auf- tritt, kann man kaum als eine spezifisch elektrooptische bezeichnen, denn das Feld bewirkt dabei zunächst eine Druckkraft, und erst diese wirkt optisch; allenfalls kann man sie als einen indirekten elektro- op tischen Effekt bezeichnen. Käme die ganze Wirkung des Feldes auf diese Weise zustande, so hätte die ganze Erscheinung relativ geringes Interesse. Es ist daher die Entscheidung von Wichtigkeit, ob die Beobachtungen sich vollständig durch die genannten Drucke (wie man wohl sagt ,, durch Elektrostriktion") erklären. Die Frage vereinfacht sich beträchtlich im Falle von Flüssigkeiten, die in das Feld gebracht werden. Hier entstehen durch Feldwirkung nicht derartige Einzeldrucke in einer bestimmten Richtung, sondern es entsteht eine allseitig gleiche Kompression, die keine Doppelbrechung, sondern nur eine für alle Richtungen in gleicher Weise ge- änderte Geschwindigkeit ergibt. Daraus folgt, daß, wenn Flüssigkeiten im elektrischen Felde doppeltbrechend werden, dieser Effekt nicht durch mechanischen Druck vermittelt (indirekt) ist, sondern notwendig eine eigen- artige (direkte) elektrooptische Wirkung darstellt. 2. Elektrooptische Effekte an isotropen Körpern. 2a) Erste Beobachtungen an Flüssigkeiten. Das Fundamental- gesetz der elektrischen Doppel- Eine elektrische Doppelbrechung Flüssigkeiten ist von J. Kerr (1875) entdeckt und auch lange Zeit hindurch zum Gegenstand der Untersuchung gemacht worden. Die ursprünglich benutzte Anord- nung war die, daß in eine Flüssigkeitszelle die kugelförmigen Konduktoren einer Elek- trisiermaschine oder eines Funkeninduktors einige brechung in eingetaucht und einander bis auf Millimeter genähert wurden. Licht einer Lampe durchsetzte die Flüssigkeit senkrecht zur Verbindungslinie der Konduktoren und wurde durch vor und hinter der Zelle auf- gestellte Nicols, deren Polarisationsebenen um +45° gegen die bezügliche Verbindungs- linie geneigt waren, ausgelöscht. Bei Er- regung des Feldes trat zwischen den Kon- duktoren eine Aufhellung ein, die auf eine elektrisch erregte Doppelbrechung hinwies. Die ersten Untersuchungen hatten wesent- lich qualitativen Charakter; sie betrafen die Fragen, welche Flüssigkeiten überhaupt die Doppelbrechung aufweisen, und welchen Sinn, sowie welche Größenordnung dieselbe 480 Elektrooptik bei jeder einzelnen besitzt. In bezug auf den Sinn der Doppelbrechung sei erwähnt, daß man bei einachsigen Kristallen eine positive und eine negative Doppelbrechung unter- scheidet, je nachdem die ordentliche oder die außerordentliche Welle in denselben die größere Geschwindigkeit besitzt. Die Beobachtungen Kerrs ergaben, daß beide Arten der elektrischen Doppelbrechung in sehr verschiedenen Stärken bei Flüssigkeiten auftreten, und daß bezüglich des Sinnes und der Größe eine unverkennbare Beziehung zur chemischen Konstitution stattfindet. Die oben geschilderte, von Kerr zuerst benutzte Anordnung hat den Uebelstand, daß sie mit einem inhomogenen Feld operiert und demnach zu eigentlichen quan- titativen Bestimmungen nicht brauchbar ist. Kerr selbst hat sich später der Einrichtung bedient, den Zwischenraum zwischen zwei Kondensatorplatten mit der zu untersuchen- den Flüssigkeit zu erfüllen und Licht parallel den Platten hindurchzuschicken. Hierbei kann man die Einrichtung so treffen, daß der Lichtstrahl die Flüssigkeit in einem merklich homogenen elektrischen Felde durchsetzt. Durch Beobachtungen, welche in dieser Weise angestellt wurden, gelangte Kerr zu dem Grundgesetz der elektrischen Doppel- brechung, dahin gehend, daß die Verzögerung A zwischen den beiden in dem Körper fortschreitenden Wellen proportional ist mit dem Quadrat der Spannungsdifferenz v zwischen den Kondensatorplatten, indirekt mit dem Quadrat von deren Abstand a, direkt der Länge 1 des im Felde in dem Körper zurückgelegten Weges. Man kann also schreiben A = Bl v2/a2 = Bl E2 wobei v/a=E die zwischen den Kondensator- platten herrschende Feldstärke bezeichnet, und B die Kerrsche Konstante genannt wird. Da, wie hier nicht zu beweisen, die Ver- zögerung A sich durch die Brechungsindizes nj und n2 der beiden in dem Körper fort- gepflanzten Wellen, den Lichtweg 1 und die Wellenlänge X des benutzten Lichtes aus- drückt gemäß A =(n1-n2)l/2, so kann man die letzte Formel auch schreiben nx— n2=Bffi2, dadurch tritt die Rolle der Brechungsindizes an der Erscheinung klar hervor. Bestimmungen der Kerr konstante B liegen in großer Menge vor, namentlich für diejenige Flüssigkeit, mit der Kerr zuerst operierte, und die sich durch eine im reinen, staubfreien Zustande gute Isolation gegen Elektrizität empfiehlt, — Schwefelkohlen- stoff. Die nicht sehr gute Übereinstimmung der von verschiedenen Beobachtern erhal- 1 tenen Resultate beweist die Schwierigkeit, welche die Messung so geringer Doppel- brechungen bietet. Drückt man E in soge^ nannten absoluten Einheiten aus, so findet sich für Na-Licht B etwa = 3.10-7. 2b) Relative Bestimmungen. Bei Flüssigkeiten mit merklicher elektrischer Leitfähigkeit werden derartige Bestim- mungen dadurch noch weiter erschwert, daß spurenweise elektrische Ströme Temperatur- änderungen und damit Schlierenbildung in i der Flüssigkeit bewirken. Man wendet in diesen Fällen statt statischer elektrischer | Felder Wechselfelder an, die bei hinreichend schnellem Wechsel diese Ströme nicht zur j Ausbildung gelangen lassen. Für die ent- sprechende Doppelbrechung ist dann der Mittelwert von E2 maßgebend. Da dieser aber aus den Daten des elektrischen Appa- rates schwer zu berechnen ist, so benutzt man vorteilhaft zu seiner Bestimmung eben die elektrische Doppelbrechung, die durch i das bezügliche Feld in einer gut isolierenden Flüssigkeit entsteht, deren Kerr konstante auf statischem Wege also bestimmbar ist, oder, anders ausgedrückt, man beobachtet das Verhältnis der Kerr konstante der unter- suchten Flüssigkeit zu derjenigen der Normal- substanz. Auf diese Weise sind die bei weitem meisten Messungen über elektrische Doppelbrechung ausgeführt worden. Für diese Normalflüssigkeit wird gern Schwefel- kohlenstoff benutzt. Des Co u dr es (1893) hat eine Methode angegeben, wobei die elektrische Doppel- brechung in der untersuchten Substanz direkt dadurch gemessen wird, daß man sie mit einer meßbar veränderlichen elektrischen Doppel- brechung in einer Normalsubstanz kompen- siert (s. S. 472). Nach dieser Methode sind von W. Schmidt (1901) und neuerdings I von Leiser und Lippmann (1911) sehr I viele Flüssigkeiten untersucht worden, zum ' Teil zur weiteren Aufklärung der Beziehungen ; der elektrischen Doppelbrechung zu der chemischen Konstitution, über die sich inter- essante Erkenntnisse haben gewinnen lassen. Im Laufe der Zeit sind die optischen Hilfsmittel derart an Empfindlichkeit ge- steigert worden, daß Leiser (1911) sogar an einer Reihe von Dämpfen die elektrische Doppelbrechung hat nachweisen können; sie fand sich bei ihnen proportional mit dem Druck. Die Gase Sauerstoff, Stickstoff, Stickoxyd, Kohlenoxyd ließen auch bei zwei Atmosphären Druck eine Doppel- brechung im elektrischen Felde nicht er- kennen. Ob merkwürdige Beobachtungen von Zeeman (1912) über elektrische Doppel- Elektrooptik 481 brechung in Salmiaknebel den vorste- 1 Tat sind auch die von den genannten For- hend besprochenen Erscheinungen direkt zu- j schern erhaltenen Resultate nicht sehr zuordnen sind oder zum Teil auf Beugung sicher. beruhen, ist noch nicht zu entscheiden. Die ersten zuverlässigen Resultate erhielt Was die Abhängigkeit der elektrischen Aeckerlein (1906) bei Anwendung von Doppelbrechung von der Farbe angeht, so Wechselfeldern mit sehr schnellen Wechseln haben die Beobachtungen an merklich und einer Lichtquelle, die immer nur im durchsichtigen Flüssigkeiten übereinstim- Moment stärksten Feldes in Aktion trat, mend das Resultat ergeben, daß die Doppel- ' Er fand bei Nitrobenzol und -toluol, zwei brechung von dem roten nach dem violetten Flüssigkeiten mit besonders großer Doppel- Ende des Spektrums hin zunimmt. 'brechung, daß die senkrecht zu den Kraft- 2 c) Beobachtungen an festen linien des Feldes polarisierten Schwingungen Körpern. Beobachtungen über elektrische durch das Feld verzögert, die ihnen parallel Doppelbrechung in isotropen festen Körpern polarisierten um etwa den halben Betrag sind bereits sehr frühzeitig angestellt, — die , beschleunigt waren. ersten Kerrschen Versuche (1875) bezogen Dieses Ergebnis enthält noch eine sekun- sich auf dergleichen, insbesondere auf Glas, däre Wirkung in sich, denn wenn auch eine Aber es ist einigermaßen zweifelhaft, ob die Flüssigkeit in einem Felde keinen einsei- bei ihnen wahrgenommenen Doppelbrechun- tigen Druck erfährt, so kommt doch ein gen nicht zum größten Teil auf Spannungen allseitiger zustande, und dieser bewirkt zwar keine Doppelbrechung, aber doch eine Veränderung der Lichtgeschwindigkeit und somit des Brechungsindex. Das geschilderte Resultat, dem nach dem im Eingang dieses Abschnittes Gesagten eine große theoretische Bedeutung zukommen würde, ist also nicht völlig sicher gestellt. 2e) Beobachtungen über die Träg- heit elektro optischer Effekte. Eine ähnliche Bedeutung besitzt die Entscheidung der Frage, ob die elektro optischen Effekte augenblicklich bei Erregung des Fel- des eintreten und augenblicklich mit dessen Aufhebung verschwinden, oder ob in beiden Hinsichten Verzögerungen statt- finden. Die vorliegenden Beobachtungen be- ziehen sich auf den letzten Teil der Frage und benutzen die Methode, den das Feld er- zeugenden Kondensator in einem Funken zu entladen, der seinerseits als Lichtquelle für die Beobachtung des elektro optischen Effektes dient. Indem man das von ihm ausgehende Licht auf längerem oder kür- infolge von Temperaturänderungen be- ruhten. Die Verhältnisse wurden auch nur zum Teil geklärt, als Kerr bei festen Körpern gleichfalls zu der Benutzung homogener elektrischer Felder, d. h. zwischen Konden- satorplatten eingelegter Glasplatten über- ging, da bei festen Körpern die elektrische Doppelbrechung jederzeit einen sekundären, a,uf Elektrostriktion beruhenden Anteil ent- hält, Kerr hat versucht, sich über diesen Anteil klar zu werden; in größerem Umfang hat dies Tauern (1910) durchgeführt. Hier- bei hat sich gezeigt, daß die sekundäre Wirkung sehr beträchtlich ist, gelegentlich im entgegengesetzten Sinne stattfindet, wie die primäre, und letztere fast zu verdecken vermag. 2d) Beobachtungen über absolute Geschwindigkeitsänderungen im Feld. Die Beobachtungen über elektrische Doppelbrechung betreffen eine Erscheinung, welche die Differenz zweier elementarer Wirkungen des Feldes darstellt; denn nach S. 478 entsteht die elektrische Doppel- zerem Umwege in den zwischen den Kon- brechung dadurch, daß die parallel und die densatorplatten befindlichen Körper leitet, normal zum Felde stattfindenden Schwin- kann man die Beobachtung in längeren oder gungen verschiedene Fortpflanzungsgeschwin- kürzeren Zeiträumen nach dem Verschwinden digkeiten annehmen. Man erhält einen des Feldes anstellen, insbesondere feststellen, tieferen Einblick in den Vorgang, wenn man wie lange Zeit nach dem Verschwinden des diese Einzelgeschwindigkeiten (oder die ihnen Feldes auch die elektrische Doppelbrechung entsprechenden Brechungsindizes) für sich verschwindet. Diese schöne von Abraham untersucht. und Lemoine (1899) erdachte und erstmalig Diese Aufgabe, die zuerst Quincke (1883) angewandte Methode, die meßbare Verzöge- •und Kerr (1894) in Angriff genommen haben, rungen von äußerster Kleinheit hervorzubrin- bietet noch erheblich größere Schwierig- gen gestattet, ist indessen in Wirklichkeit keiten, als die Messung der Doppelbrechung; nicht so direkt entscheidend, als vorstehend selbst wenn man sich auf die Untersuchung dargestellt, einmal, weil das Feld selbst nicht, von Flüssigkeiten beschränkt, die durch mit Bildung des Funkens augenblicklich bloße Temperaturänderung nicht doppelt- 1 verschwindet, sondern in Schwingungen all- brechend wirken, entstehen hier Fehler- mählich, wenngleich sehr schnell, abklingt, quellen durch Stromwärme, da die absoluten sodann, weil die Lichtemission des Funkens Geschwindigkeiten oder Brechungsindizes ähnlich kompliziert verläuft, sich stark mit der Temperatur ändern. In der Daher bedurfte es der Verbindung vontheo- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 31 482 Elektrooptik retischer Ueberlegung bezüglich dieser Vor- gänge mit der Beobachtung, die von James (1904) und von Baetge (1907) durchgeführt ist, um die geschilderte Methode vollständig auszunutzen. Das Resultat dieser Unter- suchungen ging dahin, daß die Messungen mit einem völligen Zusammenfallen des Verschwindens der Doppelbrechung mit dem Verschwinden des Feldes vereinbar sind, und jedenfalls 10~ 8 Sekunden nach der Entladung der Kondensatorplatten eine Doppelbrechung nicht mehr vorhanden ist. 3. Elektrooptische Effekte an azen- trischen Kristallen. Die bisher dargestellten Untersuchungen bezogen sich ausschließlich auf isotrope Körper. Erscheinungen von wesentlich verschiedenem Charakter sind bei einer Reihe von Kristallen beobachtet, deren Form kein Symmetriezentrum besitzt, derart, daß nicht jedem Formelement ein gleichartiges gegenüberliegt. Das reguläre Tetraeder bietet das einfachste Beipsiel einer derartigen Kristallform. An Kristallen dieser Symmetrie hatten P. und J. Curie (1882) * bei Einwirkung eines Feldes Deformationen entdeckt, die sich nicht (wie die an isotropen Körpern nach S. 479 auftretenden) auf Drucke zu- rückführen lassen, die durch Wechselwir- kungen zwischen elektrischen Ladungen ent- stehen, sondern ganz anderen Charakter haben. Eine Platte aus einem solchen Kristall in einen Kondensator eingelegt wird bei einer Ladung des Kondensators, also bei einer Richtung des Feldes komprimiert, bei der entgegengesetzten aber dilatiert. Es lag nahe, zu vermuten, daß in der Platte eine elektrische Doppelbrechung resp., wenn eine natürliche Doppelbrechung vorhanden war, eine Aenderung dieser entstehen möchte, die bei einer Umkehrung der Feldrichtung gleichfalls ihren Sinn änderte. Beobachtungen, die Röntgen und Kun dt (1883) unabhängig von einander angestellt haben, bestätigten diese Erwartung. Es gilt demgemäß hier für die elektrische Doppelbrechung (falls keine natürliche vorliegt) statt der Kerr sehen Formel von S. 480 die andere A = B'IE, welche die Umkehrung von A mit dem Vorzeichen von E ausdrückt. Auch hier entsteht nun die Frage, ob der beobachtete elektrooptische Effekt rein sekundär ist, nämlich nur auf jener eigen- artigen Elektrostriktion beruht, oder ob er eine direkte optische Wirkung des elek- trischen Feldes enthält. Die Beantwortung dieser Frage ist sehr viel schwieriger, als die der analogen bei isotropen Körpern, weil die bezügliche Elektrostriktion zu klein ist, um direkt messend verfolgt zu werden, und daher aus anderen Beobachtungen auf ziem- lichen Umwegen geschlossen werden muß, sodann, weil auch die optische Wirkung einer Spannung bei Kristallen sehr komplizierten Gesetzen folgt. Pockels hat (1894) in einer umfänglichen theoretischen und experimen- tellen Untersuchung für einige azentrische Kristalle (insbesondere Natriumchlorat und Quarz) den Nachweis erbracht, daß bei derartigen Körpern das elektrische Feld nicht nur durch Vermittelung der Elektrostriktion, sondern auch direkt die optischen Eigen- schaften beeinflußt. 4. Theoretische Ueberlegungen. 4a) All- gemeine Gesichtspunkte. Um die Versuche einer Erklärung und quanti- tativen Theorie der elektro optischen Effekte zu verstehen, hat man sich der Grundlagen der modernen theoretischen Optik zu erinnern, wie sie in dem Artikel über Magnetooptik skizziert sind. Hiernach besteht eine Licht- welle im leeren Raum ausschließlich in Schwingungen elektrischer und magnetischer Kraft, die von einer Licht quelle, d. h. von den in ihr schwingenden Elektrizitäten aus sich fortpflanzen. Tritt eine solche Welle in einen Körper ein, so findet sie dort Elektronen, d. h. elektrische Atome, die an dieponderabeln Moleküle gebunden sind und dort infolge der auf sie wirkenden Kräfte (wie ein Pendel) Eigenschwingungen auszuführen vermögen. Die Lichtwelle mit den in ihr stattfinden- den Schwingungen elektrischer Kraft setzt diese Elektronen in Bewegung, und zwar um so energischer, je näher die Schwingungs- frequenz der Lichtwelle der Eigenfrequenz der Elektronen liegt; die Elektronenschwin- gungen aber unterliegen dämpfenden Kräften um so stärker, je energischer sie selbst ge- schehen. So werden in der Lichtwelle die- jenigen Frequenzen am stärksten absorbiert, die der Eigenfrequenz der Elektronen am nächsten liegen; fällt weißes Licht ein und wird das aus dem Körper austretende Licht spektral zerlegt, so zeigt sich an der Stelle des Spektrums, welche der Eigenfrequenz entspricht, ein Absorptionsstreifen. Dieser Absorptionsvorgang ist zugleich die Ursache der Veränderlichkeit der Fort- pflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes in dem ponderabeln Körper, die man gewöhnlich in der Farbenabhängigkeit des Brechungsindex ausdrückt, und deren Verlauf in der Um- gebung eines Absorptionsstreifens auf S. 708 im Bd. VI geschildert wird. Nach dem Gesagten wird auch eine elek- trische Doppelbrechung in letzter Instanz auf einer Veränderung der Absorptions- verhältnisse der Körper im elektrischen Feld 1 beruhen müssen, derart, daß die parallel und , die normal zum Feld stattfindenden Schwin- gungen verschiedenartige Absorptionen er- halten. Es ist in dem Artikel über Magneto- Elektrooptik — Elektrostatische Messungen 483 optik auseinandergesetzt worden, daß man die Veränderungen der Absorptionen imMagnet - feld entweder direkt oder aber indirekt durch Untersuchung der ihnen entsprechenden Emissionen hat beobachten können, und daß dadurch ein wichtiges Hilfsmittel für die Deutung der meisten magnetooptischen Effekte gegeben worden ist. Derartige Beobachtungen fehlen, wie schon S. 471 be- merkt, bislang im Gebiete der Elektrooptik und damit fehlt auch ein «ähnlich klarer Ein- blick in den Mechanismus des Vorganges, wie wir ihn im Gebiete der Magnetooptik besitzen. 4b) Spezielle Hypothesen. Zwei ver- schiedene Vorstellungen sind theoretisch verfolgt worden. Die ältere (Voigt 1901) knüpft direkt an die Vorstellungen an, die sich in der Magnetooptik fruchtbar erwiesen haben, und denkt durch das elektrische Feld die Gleichgewichtslage der Elektronen im Molekül verschoben. Die mathematische Verfolgung dieses Gedankens ergibt, daß hierdurch auch die Eigenfrequenzen der Elektronen geändert werden können, und zwar für die Schwingungen parallel zu dem äußeren elektrischen Feld um einen anderen Betrag, als für diejenigen normal zum Felde. Diese Theorie, die für Kristalle ebenso an- wendbar ist, wie für isotrope Körper, führt also wesentlich auf eine Verschiebung der Absorptionsstreifen als Ursache der elektro- optischen Effekte. Die neuere Vorstellung (Langevin 1910) geht dahin, daß die Moleküle der Körper von Natur aeolotrop resp. kristallinisch sind und sich bei Einwirkung eines elektrischen (oder magnetischen) Feldes mit einer aus- gezeichneten Richtung dem Felde parallel zu stellen suchen, aber wegen der Wärme- bewegung nicht zu einer Gleichgewichtslage in dieser Orientierung gelangen, sondern nur zu einer von der regellosen Verteilung je nach der Stärke des Feldes mehr oder weniger abweichenden. Die kristallinischen Moleküle würden bei einer ganz geordneten Orientierung einen Kristall darstellen mit drei Hauptspektren, deren jedes seine eigenen Absorptionsstreifen besitzt. Das Medium außerhalb des Feldes muß dann wegen der regellosen Orientierung der Moleküle alle drei Gattungen von Ab- sorptionen (in beiläufig auf ein Drittel ver- ringerter Stärke) gleichzeitig besitzen. Bei Einwirkung des Feldes wird eine bestimmte Gattung von Orientierungen bevorzugt, und die diesen entsprechenden Absorptionen wer- den sonach gegenüber den übrigen verstärkt werden. Die zweite Theorie führt somit im Gegensatz zu der ersten die elektrooptischen Effekte im wesentlichen auf eine Verände- rung der relativen Intensität der Absorp- tionsstreifen ohne Verschiebung zurück. Sie hat einen bemerkenswerten Erfolg zu verzeichnen, indem sie die Beobachtungen Aeckerleins über die Beträge der abso- luten Verzögerungen von S. 474 erklärt. Diese Beobachtungen beziehen sich auf Flüssigkeiten, und man hat hier von vorn- herein keine Veranlassung, gegen die Grund- annahme der Orientierung der Moleküle im Felde Bedenken zu erheben. Anders liegt die Sache bei festen Körpern, insbesondere bei Kristallen, wo elektrooptische Effekte unter Umständen beobachtet sind, unter denen Drehungen der Moleküle nach den Symmetrieverhältnissen ausgeschlossen sind. Hier muß also wohl ein anderer Vorgang wirksam werden. Literatur. E. Neculcea, Le Phenomene de Kerr. Scientia JYo. 16. Paris 1902. — W. Voigt, Magneto- und Elektrooptik. Leipzig 1908. Tl. Voigt. Elektroosmose siehe den Artikel,, Strömungsströme' Elektrostatische Messungen. 1. Allgemeines. 2. Elektrostatische Meßin- strumente: a) Prinzip und allgemeine Einrich- tung der Elektrometer, b) Die einzelnen Instru- mente: 1) Absolute Elektrometer. 2) Schachtel- elektrometer: a) Quadrantelektrometer, ß) Zylin- der-Quadrantelektrometer. y) Binantenelektro- meter. 3) Elektrometer mit empirischer Skala: cc) Elektrostatische Voltmeter. ß) Blättchen- und Saitenelektrometer. 3. Messung von Po- tentialdifferenzen: a) Potentialdifferenzen zwi- schen Leitern, b) Luitpotentiale. 4. Messung von Elektrizitätsmengen. 5. Messung von Kapa- zitäten: a) Vergleichung durch Ladungsteilung, b) Vergleichung durch Gegenstellen. c) Ver- gleichung in der Brücke. 6. Messung von Di- elektrizitätskonstanten: a) Bestimmung mit dem Kondensator. b) Bestimmung durch Kraft- wirkungen. i. Allgemeines. Die elektrostatischen Messungen beschäftigen sich mit der quan- titativen Untersuchung der Größen, welche das elektrische Feld (vgl. den Artikel „Elektrisches Fei d") ruhender Elek- trizitätsmengen bestimmen; insbesondere mit der Messung der Potentialdifferenz, der Elektrizitätsmenge, der Kapazität und der Dielektrizitätskonstanten. Und zwar be- dient man sich dabei einer besonderen Art von Meßinstrumenten, der Elektrometer, welche auf der Tatsache beruhen, daß elektrisch geladene Körper mechanische Kräfte aufeinander ausüben. 31* 484 Elektrostatische Messungen 2. Elektrostatische Meßinstrumente. 2a) Prinzip und allgemeine Einrich- tung der Elektrometer. Im allgemeinen Falle ist die Anordnung eines Elektrometers die folgende (Fig. 1). Ll5 L2, L3 sind drei Erde Fig. 1. isolierte Metallkörper, die bis auf kleine, zur Beobachtung nötige Glasfenster voll- kommen von einem Metallmantel L0 um- geben sind. Das Zwischenmedium ist in der Regel Luft. Die zur Befestigung der Metallkörper innerhalb der Hülle nötigen Isolatoren mögen einen verhältnismäßig kleinen Baum des Zwischenmediums ein- nehmen. L0 wird stets in leitender Ver- bindung mit der Erde gehalten, hat also deren Potential, das, weil für uns nur Potential- differenzen Bedeutung haben, willkürlich gleich Null gesetzt wird. Den Leitern L1? L2, L3 seien die Potentialdifferenzen (Gleich- spannungen) vl5 v2, v3 gegen L0, mithin gegen Erde, erteilt. Dann befinden sich auf den Oberflächen von L1? L2, L3 und auf der Innenfläche von L0 die Ladungen: ex = KnVl + K12v2 + K13v3 v e2 = K21Vi + K22v2 + K23v3 \ ^ e3 = K31vx+ K32v2 + K33v3 | ' * > e0 = Ko^! + K02v2+ K03v3,' während auf der Außenfläche von L0 die Ladung gleich Null ist. In den Gleichungen (1) heißen KX1, K22, K33 die Kapazitäten von L1? L2, L3 im Leitersystem. Sind z. B. alle Leiter bis auf Li geerdet, ist also v, = v3 = 0, so wird e1= Kuvx. Wird, wie wir es im folgenden tun wollen, die Potentialdifferenz vx in Volt, die Ka- pazität KX1 in Farad angegeben, so erhält man die Elektrizitätsmenge ex in Coulomb. Die Kn, K22, K33 sind stets positive Größen. Die K01, K02, K03, K12. . . heißen In- duktionskoeffizienten der Leiter gegen- I einander. Sie werden ebenfalls in Farad i angegeben, sind aber im Gegensatz zu den I Kapazitäten stets negative Größen. Es ist immer K„ß = Kfo 2) Die Werte der Kapazitäten und In- duktionskoeffizienten sind durch die geometri- sche Lage der Leiter zueinander bestimmt. Aendert man diese, so ändern sich auch die Werte der K und damit bei konstant gehaltenen Spannungen v die auf den Leitern befindlichen Elektrizitätsmengen e. Wir wenden uns jetzt den mechanischen Kräften zu, welche zwischen den auf be- stimmten Potentialen befindlichen Leitern wirken. Das Grundgesetz für die Wirkung ist das Coulombsche Gesetz, welches besagt, daß zwei in ein homogenes Dielektrikum in der Entfernung r cm voneinander ein- gebettete, punktförmige Elektrizitätsmengen et und e2 aufeinander wirken mit einer Kraft, die proportional ist e^ und indirekt pro- portional r2, also mit einer Kraft k = c^\ e,e lc2 3) Die in der Proportionalitätskonstanten enthaltene Größe e nennt man die Dielektrizitätskonstante des die Elektrizitäts- mengen umgebenden isotropen Isolators. Für Luft ist mit meist genügender Annäherung e = 1 (S. 498). Wählt man, wie wir es getan haben, als Einheit für die Elektrizitäts- menge die „Amperesekunde" oder das „Coulomb", so ist c = 3.109 zu setzen, wenn man k in Dynen erhalten will. Ein positiver Wert für k bedeutet nach der Formel eine abstoßende Kraft zwischen Elektrizitätsmengen gleichen Vorzeichens, ein negativer Wert für k eine anziehende Kraft zwischen Elektrizitätsmengen ent- gegengesetzten Vorzeichens. Das Coulombsche Gesetz gilt für die Wechselwirkung zwischen zwei punkt- förmigen Elektrizitätsmengen. Bei den elektrostatischen Meßinstrumenten handelt es sich aber stets um Elektrizitätsmengen, die auf mehr oder weniger ausgedehnten Leitern verteilt sind. Dann besteht die Gleichung (3) zwischen je zwei unendlich kleinen Teilchen, in welche man sich die Ladung auf den Leitern zerlegt denken kann, und es ist Aufgabe der theoretischen Elektro- statik, die ponderomotorischen Kräfte zwi- schen den geladenen Leitern zu berechnen. Dies gelingt nur bei den sogenannten absoluten Elektrometern. Bei diesen Instrumenten wird in jedem Falle durch den Beobachter eine den elektrostatischen Kräften entgegenwirkende mechanische Kraft Elektrostatische Messungen 485 so abgeglichen, daß der bewegliche Leiter in eine ganz bestimmte Lage zu den festen Leitern kommt. Für diese eine Lage ist bei den absoluten Elektrometern, die also als Nullinstrumente anzusehen sind, die mathematische Beziehung zwischen Poten- tialdifferenz und ponderomotorischer Kraft zwischen den Leitern bekannt. Alle übrigen Elektrometer sind in erster Linie Ausschlagsinstrumente. Die durch das Anlegen bestimmter Potentiale an die Leiter auftretenden ponderomotorischen Kräfte zwischen diesen bewirken eine Ablenkung des beweglichen Leiters (z. B. L3 in Fig. 1) aus der Ruhelage, bis bestimmte der Ab- lenkung entgegenwirkende mechanische Kräfte (z. B. die Torsion eines Drahtes) ein Gleich- gewicht herbeiführen. Von diesen Instrumenten sind diejenigen als besonders vollkommen hervorzuheben, bei denen es gelungen ist, durch bestimmte Anordnung der Leiter zu erreichen, daß wenigstens für kleine Ablenkungen des be- weglichen Leiters eine einfache mathematische Beziehung zwischen Potentialen und Ablen- kungen besteht, die in der Regel zwei experimentell bestimmbare Konstante be- sitzt. Es sind dies die Quadrant- und Binanten-Elektrometer, die wir zu- sammenfassend als Schachtelelektro- meter bezeichnen wollen. Für alle übrigen Elektrometer besteht eine solche strenggültige Beziehung nicht. Sie sind Instrumente mit empirischer Skala, die durch Eichen auf Potential- differenzen Punkt für Punkt ermittelt werden muß. Ganz einfache Instrumente der letzten Art, die keine Skala besitzen und nur an- zeigen, ob Potentialdifferenzen gegen Erde vorhanden sind oder nicht, und die außerdem das Vorzeichen des Potentials zu bestimmen gestatten, nennt man Elektro skope. Bevor wir zur Besprechung der einzelnen Elektrometer übergehen, wollen wir zwei allen Elektrometern gemeinsame Teile be- sprechen, die Schutzhüllen und die festen Isolatoren, die die einzelnen Leiter von- einander trennen. Die Schutzhülle L0 (Fig. 1), die die Leiter L1? L2, L3 vollkommen umgibt, ist aus zwei Gründen nötig. Erstens schützt sie den beweglichen Teil L3 des Elektrometers vor Luftströmungen. Dies ist, zumal bei In- strumenten, die die Messung kleiner Poten- tiale gestatten, deshalb nötig, weil die L3 ablenkenden Kräfte außerordentlich klein sind. Hochempfindliche Instrumente um- gibt man außerdem, um Strahlungs- und Temperatureinflüsse genügend fernzuhalten, mit einem außen mit Stanniol beklebten Pappgehäuse, das nur die zur Ablesung nötigen Ausschnitte besitzt. Zweitens hindert die bis auf kleine Fenster geschlossene Metallhülle störende Influenzwirkungen von und nach außen. Je empfindlicher die Elektro- meter und je höher die Spannungen in der Nähe befindlicher Leiter sind, um so mehr muß sich der Schutzmantel einer allseitig geschlossenen Metallhülle nähern. Handelt es sich nicht um die Messung von konstant gehaltenen Potentialen, sondern von abgetrennten Elektrizitätsmengen, so müssen auch, wenn Fehler durch Influen- zierung ausgeschlossen sein sollen, die Zu- leitungen zum Elektrometer durch geerdete Metallhüllen geschützt werden. Die festen, die einzelnen Leiter der Elektro- meter voneinander trennenden Isolatoren, von denen in erster Linie Bernstein, Schellack, Hartgummi, Quarzglas in Frage kommen, müssen so angeordnet werden, daß etwaige allmählich auf dieselben übergehenden La- dungen nicht auf den beweglichen Leiter L3 wirken können. Eine nach dieser Richtung fehlerhafte Konstruktion wird daran erkannt, daß das Elektrometer beim Anlegen kon- stanter Potentialdifferenzen statt eines kon- stanten Ausschlags einen mit der Zeit all- mählich veränderlichen Ausschlag zeigt. Solange man mit konstant gehaltenen Potentialdifferenzen arbeitet, ist eine be- sonders hohe Isolation der einzelnen Leiter nicht erforderlich. Größte Sorgfalt ist aber darauf zu verwenden, wenn man mit ab- getrennten Elektrizitätsmengen zu tun hat. Durch Feuchtigkeit bedingte Oberflächen- leitung auf den Isolatoren, wird dann zweck- mäßig durch Einführen von metallischem Natrium in das Elektrometergehäuse be- seitigt. Auch die durch die Ionisation der Luft bedingten Ladungsverluste sind even- tuell zu \ berücksichtigen. Im folgenden betrachten wir zunächst die Elektrometer als Instrumente zur Mes- sung von konstant gehaltenen Potential- differenzen. 2b) Die einzelnen Instrumente. 1) Absolute Elektrometer. Steht eine ebene Metallplatte von der Grundfläche f qcm in Luft einer ebensolchen von größerer Grundfläche im Abstand a cm parallel gegenüber, und werden die beiden Platten auf den Potentialen Vx und V2 Volt gehalten, so wird die kleinere Platte von der größeren mit einer Kraft k = 1_ 1 /Vl-V2\2 8:7t a2 fw5) <■*-> ■ ■ • 4> angezogen. Diese Formel gilt mit genügender Genauigkeit nur dann, wenn a gegen die Ausdehnung von f verschwindend klein ist. Ergänzt man jedoch nach dem Vorgange von W. Thomson (Lord Kelvin) die kleinere 486 Elektrostatische Messungen Platte durch einen in derselben Ebene liegenden und auf demselben Potential befindlichen Schutzring, durch welchen die Platte gerade ohne Reibung hindurchgeht, etwa zur Größe der anderen Platte, so gilt die Formel für erheblich größere Werte von a. Sind speziell die Platten kreisförmig (Fig. 2), I ""k^ ' : .1 Fig. 2. so darf nach Thomson ohne Schaden für r die Gültigkeit der Formel a bis zu ~- wachsen, wenn außerdem r höchstens zji R ist. Dabei ist nach Maxwell nicht einfach f = r27t zu setzen, sondern f = TT r2 + r ii (r'-r) r'+r 1+4,5-A- 5) Bei der Kirchhoff sehen Wage (Fig. 3) sind die Platten horizontal gestellt. Das -U L, Fig. 3. geerdete L3 bildet die eine_ Schale einer gleicharmigen Wage und liegt, wenn der Wagezeiger auf Null steht, in einer Ebene mit dem Schutzring L2, der mit dem ge- erdeten Gehäuse L0 leitend verbunden ist. Ein Anschlag der anderen Wageschale b verhindert, daß sich L3 der vom Gehäuse isolierten Platte L1 über diese Lage hinaus nähert. Der Isolator ist in Figur 3, wie auch später, durch Punktierung gekennzeich- net. Die Messung geschieht in folgender Weise. Während Lx mit L0 leitend verbunden ist, wird die Wage durch Auflegen von Ge- wichten auf b so abgeglichen, daß sie gerade nicht mehr umkippt. Dann legt man zwischen Lt und L0 die zu messende Spannung V. Muß man dann p g auf die Schale b legen, damit die Wage gerade umzukippen beginnt, so erhält man aus Gleichung (4), wenn man Vx— V2 = V (Volt) und k = 981 p (Dynen) setzt, die gesuchte Spannung in Volt V = 300a 1 /981p8jr 1 ' 6) Dies Instrument ist geeignet, Potential- differenzen von 1000 Volt an aufwärts zu messen. Bei sehr hohen Werten der Spannung zeigen sich jedoch Mängel. Einmal muß man dann, um den Ueberschlag von Funken zu vermeiden, L3 und Lx in großem Abstände voneinander anordnen und erhält große Dimensionen des Apparates und verhältnis- mäßig kleine anziehende Kräfte; sodann wirken bei hohen Spannungen durch stille Entladung bedingte Luftströmungen störend auf die Messung ein. Beide Uebelstände hat man in neuester Zeit dadurch beseitigt, daß man statt Luft von Atmosphärendruck Elektrostatische Messungen 487 Luft von etwa 10 Atmosphären als Zwischen- medium verwendet. Ein von Tschernyscheff angegebenes Instrument ist in Figur 4 skizziert. Lx ist gegen das geerdete Gehäuse L0 sorgfältig isoliert. L2 und L3 sind mit L0 leitend ver- bunden. Die Druckluft tritt von oben in das genügend widerstandsfähige Gehäuse ein. Die rechte Wageschale besteht nach dem Vorgange von Cremieu aus einer strom- durchflossenen Spule m, die von einer von demselben Strome (Intensität I) durch- flossenen Spule n angezogen wird, und zwar mit einer I2 proportionalen Kraft k. Es ist also: k = CP. Die Proportionalitätskonstante C wird durch Auflegen von Gewichtsstücken auf L3 bei allseitiger Erdung bestimmt, so daß man bei gemessenem Strom I die Kraft k in Dynen kennt, welche Gleichgewicht an der Wage herstellt. Für V gilt dann Formel (6), wenn man noch die rechte Seite durch Vl,005 dividiert. Es hat dies seinen Grund in der höheren Dielektrizitätskonstanten der Luft bei einem Druck von 10 Atmosphären (S. 498). Die Nullage der Wage wird durch Beobachtung des Spiegels s durch das Glas- fenster F hindurch mit Fernrohr und Skala beurteilt. Bei einem Abstand von nur 2 cm zwischen Lj und L3 kann man mit Potentialdifferenzen bis 180000 Volt arbei- ten, ohne daß die erwähnten Störungen merklich werden. Eine Schwierigkeit beim Gebrauch der absoluten Elektrometer bestellt darin, den Abstand a zwischen den Platten Lt und L3 genügend genau zu messen, besonders wenn a Fig. 5. verhältnismäßig klein ist. Sie läßt sich bei einem von W. Thomson konstruierten absoluten Elektrometer umgehen. Dies Instrument, das in seinen wesentlichen Teilen in Figur 5 skizziert ist, unterscheidet sich zunächst von der Kirchhoff sehen Wage dadurch, daß L3 nicht die Schale einer Hebelwage, sondern einer Federwage bildet, deren Aufhängepunkt mittels einer im Ge- häuse laufenden Mikrometerschraube stets so eingestellt wird, daß die unteren Flächen von L3 und L2 eine Ebene bilden. Ein an L3 befestigter Zeiger und eine mit L2 fest- verbundene Marke, die in Figur 5 fortgelassen sind, erleichtern dies. Ist die Einstellung bei allseitiger Erdung gemacht, so muß, wenn bei sonstiger Erdung L1 auf das Potential V gebracht wird, wegen der Verlängerung der Federn durch die Anziehung zwischen Lx und L3, ihr Aufhängepunkt um einen be- stimmten Betrag gehoben werden, um L3 wieder in die richtige Lage zu bringen. Ist die Federwage zuvor bei allseitiger Erdung durch Auflegen von bekannten Gewichten auf L3 in Dynen geeicht, so erhält man V nach Formel (6). Um nun die Schwierigkeit, a genau zu messen, zu umgehen, wird nach W. Tho mson folgendermaßen verfahren. L2 und L3 werden dauernd mit der inneren Belegung Li einer Leidener Flasche verbunden. Li wird auf einem konstanten, nicht zu kleinen Potential V gehalten, während die äußere Belegung L0 geerdet ist. Bei geerdetem hx und bei einem beliebigen Abstand desselben von L3 sei die zur Erzielung der Nullstellung notwendige Kraft k= 981. p Dynen. Wird dann Lx auf das zu messende Potential V gebracht, und hat man L1 um eine Strecke 1 zu verschieben, um L3 wieder in die Null- stellung zu bringen, so ist V=l v f ' 7) In dieser Formel kommt der Abstand a nicht mein- vor, sondern nur die sehr genau meßbare Verschiebung 1. V braucht man ebenfalls nicht zu kennen, sondern nur dafür zu sorgen, daß es während der beiden Ein- stellungen konstant bleibt, was W. Thomson mit einem sehr empfindlichen Hilfselektro- meter kontrolliert. Die mit absoluten Elektrometern er- reichbare Genauigkeit der Potentialmessung beträgt rund 1%. Alle elektrostatischen Instrumente, bei denen die anziehende Kraft zwischen den Elektroden dem Quadrat der Potential- differenz proportional ist, messen ohne weiteres auch die Effektivwerte von Wechsel- spannungen. Das gilt also auch für die ab- soluten Elektrometer. Ihre große Bedeutung 488 Elektrostatische Messungen für die Elektrotechnik liegt darin, daß man sehr hohe Wechselspannungen bisher nur mit ihrer Hilfe messen kann. 2) Schachtelelektrometer, a) Qua- drantelektrometer. Beschreibung. Der wesentliche Teil dieses von W. Thomson angegebenen Instruments ist in Figur 6 schematisch dar- Fig. 6. gestellt. Vier vom Gehäuse (in Fig. 6 nicht gezeichnet) und gegeneinander isolierte Quadranten sind so zusammengesetzt, daß sie, von den Schlitzen abgesehen, eine runde Schachtel bilden. Je zwei gegenüberliegende Quadranten sind durch Drähte leitend mit- einander verbunden und an außen am Gehäuse gelegene isolierte Klemmen geführt. Die beiden Quadrantenpaare, die im folgenden mit Qx und Q2 bezeichnet werden, ent- sprechen den Leitern Lx und L2 in Figur 1, das Gehäuse G dem Leiter L0. Der beweg- liche, L3 entsprechende Leiter besteht aus einer bisquitförmigen Nadel N aus dünnem Aluminiumblech und einem diese in der Mitte und senkrecht zu ihrer Fläche durchsetzenden Aluminiumdraht, der oben den Ablese- spiegel s und unten die Dämpferscheibe D trägt. Das ganze System ist mittels eines dünnen leitenden Fadens, am besten eines Platindrahtes, an einem vom Gehäuse iso- lierten Torsionskopf so aufgehängt, daß die Nadel innerhalb der Schachtel nahe horizontal liegt und bei Torsion des Aufhängedrahtes in einer horizontalen Ebene schwingt. Die Dämpferscheibe D, eine rechteckige dünne Aluminiumplatte, befindet sich in einem vom Gehäuse isolierten und mit ihr auf gleichem Potential befindlichen Dämpfer- kasten, der mit verstellbaren Querwänden versehen ist. Diese Töplersche Luft- dämpfung ermöglicht bei geeigneten Ab- messungen ein aperiodisches Dämpfen des beweglichen Systems, wobei die Fein- regulierung durch Verstellen der Querwände erfolgt. _ Weniger gut als Luftdämpfungen, die auch in anderen Formen verwandt werden, sind Flüssigkeitsdämpfungen und elektro- magnetische Dämpfungen. Bei hochempfind- lichen Quadrantelektrometern genügt zur Dämpfung des beweglichen Systems die Luftreibung der Nadel. Ein bequemes und sicheres Arbeiten mit einem Quadrantelektrometer ist gewähr- leistet, wenn bestimmte Feinverstellungen an ihm möglich sind. Dazu ist nötig, daß das Gehäuse auf drei im gleichseitigen Drei- eck angeordneten Stellschrauben und die Quadrantenschachtel auf ebensolchen, in der Grundplatte des Gehäuses laufenden Schrauben ruht. Ferner muß der Torsions- kopf so konstruiert sein, daß die Nadel gegenüber den Quadranten vertikal und horizontal beliebig verstellt werden kann. Das gleiche gilt von dem Kasten der Däm- pfung in bezug auf die Dämpferscheibe. Orientierung. Die Grundplatten des Gehäuses und der Quadrantenschachtel und die Fläche der Nadel werden möglichst horizontal gestellt. Der Torsionskopf wird so gedreht, daß, bei allseitiger Erdung des Elektrometers, die Längsachse der Nadel senkrecht unterhalb eines Schlitzes der oberen Grundfläche der Schachtel liegt. Fernrohr und Skala werden zum Spiegel s so gestellt, daß das Fadenkreuz des Fern- rohres etwa mit der Mitte der Skala zusammen- fällt. Es wird ferner dafür gesorgt, daß die Drehachse der Aufhängung sowohl zur Schachtel wie zum Dämpferkasten symme- trisch steht. Es hat gewisse Vorteile, wenn man die Nadel möglichst genau in die Mitte der Quadrantenschachtel stellt. Wären nun Nadel und Quadrantenflächen absolut eben, und wären dieKontaktpotential- differenzen der Metalle gleich Null, so dürfte das bewegliche System nicht aus der Kuhelage gebracht werden, wenn man bei sonst geerdeten Elektrometerteilen an die Nadel eine hohe Spannung (etwa 150 Volt) legt. Die Erfahrung hat gezeigt, daß diese Bedingung niemals genau zu erfüllen ist. Infolgedessen tritt im beschriebenen Falle stets ein mehr oder weniger großer Ausschlag der Nadel ein. Für die folgenden Betrach- Elektrostatische Messungen 489 tungen wird nur vorausgesetzt, daß dieser Ausschlag ein kleiner Bruchteil des durch die Länge der Skala begrenzten Ausschlages ist, damit diese genügend ausgenutzt werden kann. Sind die bestehenden Unsymmetrieen nicht zu erheblich, so genügt eine geringe seitliche Verschiebung der Aufhängung gegen die Schachtel in einer auszuprobierenden Richtung, um dieser Forderung zu genügen. Allgemeine Elektrometergleichung. Legt man jetzt zwischen Qx und das ge- erdete Gehäuse G die Potentialdifferenz Vi, zwischen Q2 und G die Potentialdifferenz V2 und zwischen N und G die Potential- differenz V0 und ist a die beobachtete, auf Winkel reduzierte Ablenkung der Nadel in Skalenteilen, so ist nach Orlich die allgemeine Elektrometergleichung: Da = a0V02 + a^2 + a2V22 + b0V1V2+b1V0V1+b2V0V2 + c0V0 +c1V1 +c2V2. . . 7) Darin sind die a, b, c Konstante, zwischen denen mit großer Annäherung die Beziehung gilt: immer das darüber stehende Glied der Gleichung (7a) gehört: Stellung des Um- schalters a0V02 *iVx2 b1V0V1 c0Vo CxV, I II II II + + — + — = Da, = II + + + — — = Da3 — — + + — — + = D«3 II = + + + + + = Dff4 a, dio -b, 8) Rechnet man die Ausschläge a nach rechts von der Nullage der Skala positiv, nach links negativ und bildet man z = 2 («i— «2+ a3— Oi). so erhält man die Gleichung (l+2IV02)z = -2b1V0V1. . . 10) Bei dieser Art zu kommutieren werden gleichzeitig die Kontaktpotentialdifferenzen zwischen Qx und G, Q2 und G, N und G D unterscheidet sich in der Regel nicht erheblich von 1. Genau ist: D = 1 + 2tV02 + «(Vi2 + V22) + eV0(V1+V2)+®V1V2, . 9) wo % 93, (5, 2) gegen 1 sehr kleine Kon- stante sind. Schaltungen. Es sind hauptsächlich drei verschiedene Schaltungen des Quadrant- elektrometers gebräuchlich, die Quadrant- schaltung, die Nadelschaltung und die Doppelschaltung. Die beiden ersten benutzen eine Hilfsspannung, die dritte nicht. In der Quadrantschaltung befindet sich N auf hohem Potential V0, Q2 ist ge- erdet, Qx auf einem gegen V0 kleinem Po- tential Vi, so daß es in Formel (9) gegen V0 vernachlässigt werden kann. Dann erhalten wir die folgenden vereinfachten Gleichungen: Da=aaV02+a1V12+b1V0V1 + ^0+0^ 7a) D = 1+21V02. .."... 9a) Die 6 Konstanten der Formeln lassen sich durch Kommutieren von V0 und Vx auf zwei, nämlich bx und 3t, verringern. Eine dazu geeignete Schaltung ist in Figur 7 skizziert. An den Umschaltern I und II können sowohl je zwei untereinander (ausge- zogene Lage) als auch je zwei nebeneinander (gestrichelte Lage) liegende Quecksilbernäpfe leitend miteinander verbunden werden. Da- durch wird an N das Potential + V0 bezw. — V0, an Qi das Potential — Vx bezw. -f- Vj gelegt. Kommutiert man der Reihe nach beide Schalter, so erhält man folgendes Schema, in welchem zu jedem Vorzeichen -fWVo-äl- +W Fig. 7. Fig. 8. eliminiert. Sie sind aus diesem Grunde in der Elektrometerformel nicht besonders eingesetzt. Arbeitet man stets mit derselben Hilfs- spannung V0, so erhält man die Elektrometer- konstante /l+2lV„2\Vi (j-~[ 2bi.V„/ z5 wenn man z bei einem bekannten Vx be- obachtet. Findet man dann beim Anlegen eines unbekannten Potentials Vt' an Qx den Aus- schlag Zi, so ist Vi/ = C.z/. Um das Elektrometer für beliebige Hilfs- spannungen V0 zu eichen, genügt es, die Ausschläge z und %' bei einem bekannten V, und zwei bekannten Werten V0 und V0' der Hilfsspannung zu beobachten. Dann gelten die beiden Gleichungen 490 Elektrostatische Messungen (l+SlV02)z = -2b1V0V1 (l+8lV0'a)z'=--2b1Vo'V1) aus denen die Elektrometerkonstanten b1 und 9t berechenbar sind. Findet man dann bei einer beliebigen bekannten Hilfsspannung V0" beim Anlegen eines unbekannten Po- tentials Vy an Qi den Ausschlag z", so ist: Die Empfindlichkeit des Elektro- meters ist nach Gleichung (10) proportional ^ * ?r 0 ; denn ie größer diese Zahl wird, 1 + 9t V02 um so größer ist bei gegebenem Vx der Ausschlag z. Die Konstante 9( kann nun positiv, negativ oder Null sein. Wie der Referent gezeigt hat, ist es bei einem geeignet kon- struierten Quadrantelektrometer stets mög- lich, 91 durch Justieren zu Null zu machen. Hier genüge die Angabe, daß dazu nötig ist, der Quadrantenschachtel mit Hilfe der sie tragenden Sclirauben (S. 488) bestimmte Neigungen gegen die Ebene der Nadel zu erteilen. Ist 9t = 0, so ist die Empfindlichkeit einfach proportional 2b1V„, d. h. sie wird, wenn man V0 auf den n- fachen Betrag bringt, n-mal so groß. Ist 9t negativ, so ist die Emp- findlichkeit bei n- fächern V0 mehr als n-mal so groß, ist 9t positiv weniger als n-mal so groß. Interessant ist, daß im Falle eines positiven 9t die Empfindlichkeit ein Maximum besitzt, wenn V0 = I / -~ wird. Steigert man die Hilfsspannung V0 über diesen Wert hinaus, so wird die Empfindlichkeit des Instruments in der Quadrantschaltung nicht mehr größer, sondern wieder kleiner. Je nach der Dicke des Platinfadens, der Höhe der Schachtel und der Größe der Längsachse der Nadel ist die Empfind- lichkeit eines Quadrantelektrometers in weiten Grenzen verschieden. Die empfind- lichsten Instrumente geben in der Quadrant- schaltung noch für 0,00001 Volt einen merklichen Ausschlag. Zur Messung ver- hältnismäßig großer Spannungen ist diese Schaltung naturgemäß ungeeignet. Das Quadrantelektrometer in der Qua- drantschaltung, dessen Konstanten bx und 9t durch Eichung mit Gleichspannungen be- stimmt sind, findet eine wichtige Anwendung bei Leistungsmessungen an Wechselströmen. Betreffs näherer Angaben sei auf den Ar- tikel „Elektrische Leistung" verwiesen. Bei der Nadelschaltung werden Qt und Q2 auf entgegengesetzt gleiche Potentiale -f P und — P gegen Erde gebracht, während sich zwischen N und G eine gegen P kleine Potentialdifferenz V„ befindet. Spezialisiert man die allgemeine Elektrometergleichung auf diesen Fall und kommutiert man Schalter I und II (Fig. 8) wie bei der Quadrant- Fig. 9. Schaltung, so erhält man die Gleichung [1+ (293 - $)P2]z = 2(-bx+ b2)V0P, 11) die der Gleichung (10) vollkommen analog gebaut ist und deshalb in ganz ähnlicher Weise benutzt werden kann. Für (233 — - ®) gelten die oben für 9t gemachten Angaben. Die erreichbare Empfindlichkeit ist dieselbe wie in der Quadrantschaltung. Die Nadel- schaltung hat weniger für die Messung von Potentialen als für die Messung abgegrenzter Elektrizitätsmengen Bedeutung. Der Grund dafür ist, daß die Nadel leichter hoch isoliert werden kann und kleinere Kapazität besitzt als ein' Quadrantenpaar. Bei der Doppelschaltung liegen die Nadel und ein Quadrantenpaar am geerdeten Gehäuse, während sich das andere Quadranten- paar auf einem Potential V befindet. In diesem Falle erhält die allgemeine Elektro- metergleichung die Form Da = a^2 + a2V22 + b0V1V2 + c1V1+c2V2 7b) D = l+ 93 V2 9b) Man kommutiert in diesem Falle (Fig. 9) nach folgenden Schema Stellung des Kom- mutators III II a^2 a2V22 b0VxV2 ClVx c2V2 = II + + 0 0 0 0 + + 0 0 0 0 — 0 + o 0 + 0 — = Da2 = T)(yt Elektrostatische Messungen 491 Bildet man jetzt z ai — a2+a3+a4 2 so erhält man die Elektrometergleichung (1 + 33V2)z = (a2— ai)V2. ... 12) 33 kann positiv, negativ oder gleich Null sein. Das letztere ist wieder durch Justieren des Elektrometers zu erreichen. Ist 33 gleich Null, so wird die Elektro- meterkonstante (a2— ax) durch Beobachten von z bei einem bekannten V bestimmt. Wird für ein unbekanntes V der Ausschlag z' abgelesen, so ist y a2 — a^ Ist 33 von Null verschieden, so werden (a?— aj)und 33 aus Ablenkungsbeobachtungen bei zwei verschiedenen V berechnet. Wird dann für ein unbekanntes V der Aus- schlag z" gefunden, so ist V'= l ax— 33z" Quadrantelektrometer in der Doppel- schaltung erlauben Spannungen von einigen Hundert Volt bei unempfindlichen Apparaten, bis hinab zu y2 Volt bei äußerst empfind- lichen Apparaten, genau zu messen. Legt man statt einer Gleichspannung eine Wechselspannung an das Elektrometer in Doppelschaltung, so geben die obigen Formeln mit den durch Gleichstromeichung bestimmten Konstanten ohne weiteres den Effektivwert der Wechselspannung. Dabei genügt es, allein den Schalter II zu kom- mutieren. Es ist dies wohl die genauste Methode der Messung effektiver Wechsel- spannungen (vgl. S. 487). Falls man bei Messungen mit dem Quadrantelektrometer in der geschilderten Weise kommutiert, kann man, solange der Ausschlag z genügend groß ist, Potential- differenzen auf rund y2 °/oo genau messen. Die Genauigkeit wird erheblich geringer, wenn man auf das Kommutieren verzichtet und mit einseitigem Ausschlag arbeitet. Dazu ist man z. B. beim Messen abge- grenzter Elektrizitätsmengen gezwungen. Dann verringert man die Zahl der Kon- stanten in der allgemeinen Elektrometer- formel durch Annahme gewisser Symmetrie- verhältnisse am Elektrometer, die man nach von Hallwachs gegebenen Vorschriften durch Justieren des Elektrometers herzu- stellen sucht. Hall wachs justiert so, daß bei geerdetem Qx und Q2 die infolge der Kontaktpotentialdifferenzen auftretenden Ausschläge entgegengesetzt gleich werden, wenn die Nadel hintereinander auf entgegen- gesetzt gleiche, hohe Potentiale + V0 und — V0 gebracht wird. Bei sehr empfindlichen Elektrometern gelingt das sehr schwer und nur für verhältnismäßig kurze Zeit, so daß das Justieren häufig wiederholt werden muß. ß) ZylinderquadranteLektrometer. Bei diesen Instrumenten bilden die vier Quadranten nicht eine Schachtel, sondern den Mantel eines Kreiszylinders. Die Nadel besteht aus zwei starr verbundenen Mantel- teilen eines konzentrischen Zylinders. Figur 10 Fig. 10. zeigt einen horizontalen Schnitt durch den wesentlichen Teil des Instrumentes, dessen Theorie und Behandlung dem gewöhnlichen Quadrantelektrometer analog ist. y) Binantenelektrometer. Statt aus zwei Quadrantenpaaren wird die Schachtel aus zwei Kreisbinanten gebildet. Die Nadel setzt sich aus zwei isolierten Binanten zusammen, die sich zu einem Kreis ergänzen. Sie wird bei allseitiger Erdung so gestellt, daß die beiden Schlitze senkrecht zueinander stehen. Für kleine Ausschläge hat dann das Instrument eine ähnliche Theorie und erfordert ähnliche Behandlung wie das Quadrant- elektrometer. Ein brauchbares Spiegel- Binantenelektrometer hat Dolezalek kon- struiert. 3) Elektrometer mit empirischer Skala, a) Elektrostatische Voltmeter. Alle diese Instrumente haben eine empirische Skala, an welcher direkt Volt abgelesen werden können. Wir besprechen erstens einige Zeiger- instrumente, die den Schachtelelektrometern in Doppelschaltung ähnlich sind. Der prin- zipielle Unterschied zwischen Zeigerinstru- menten und Spiegelinstrumenten liegt darin, daß man statt mit sehr kleinen mit großen Ablenkungen der Nadel arbeitet. Die Em- pfindlichkeit ist deshalb wesentlich geringer. Da ferner die obigen Elektrometerformeln nur für kleine Ablenkungen gelten, haben die Zeigerinstrumente eine empirische Skala. Das empfindlichste Instrument dieser Art ist das Zeiger-Binantenelektro- meter von Dolezalek. Die hohe Empfind- lichkeit ist durch Verwendung einer sehr niedrigen Schachtel und eines sehr dünnen Platinfadens erreicht. In der Doppelschaltung 492 Elektrostatische Messungen liegen Nj. und Bx (Fig. 11) am geerdeten Gehäuse. Das zu messende Potential wird gleichzeitig an N2 und B2 gelegt. In der Nullage des Instruments steht die Nadel wie in Figur 11. Die Ablenkung erfolgt in der Eichtung des Pfeils. Die ausnutz- bare Skala beträgt etwa 100°. Der Aus- schlag in Graden ist angenähert dem Quadrat der Spannung proportional. Das Instrument gestattet Potentialdifferenzen von 20 bis 50 Volt zu messen. Es besitzt keine besondere Dämpfungseinrichtung, da bei der niedrigen Schachtel die Luftdämpfung genügt, welche ^Zeiger Fig. 11. Fig. 12. die Nadel erfährt. Das Elektrometer kann auch in einer der Quadrantschaltung analogen Schaltung benutzt werden. Es hat dann eine entsprechend höhere Empfindlichkeit und einen der zu messenden Spannung angenähert proportionalen Ausschlag. Beim Multicellularvoltmeter von W. Thomson sind mehrere Quadranten- schachteln übereinander angeordnet. Die Nadeln sind alle auf eine an einem Drahte aufgehängte Achse gesetzt und dauernd mit dem Gehäuse verbunden. Das eine Qua- drantenpaar, das in der Doppelschaltung mit dem Gehäuse verbunden werden müßte (S. 490), ist ganz weggelassen. Die zu messende Spannung wird zwischen das bestehenbleibende Quadrantenpaar Q und das Gehäuse gelegt. Die Nadel, welche in der Nullage die in Figur 12 angedeutete Lage gegen Q hat, wird in Richtung des Pfeils abgelenkt. Ein langer Aluminiumzeiger spielt über der in Volt geeichten, sehr ungleichmäßigen Skala von etwa 50° Ausdehnung. Die empfindlichsten dieser z. B. von White (Glasgow) gelieferten Instrumente gestatten Spannungen von 40 bis 160 Volt, die un- empfindlichsten von 700 bis 1300 Volt zu messen dämpfung. Beim vertikalen elektrostatischen Voltmeter von W. Thomson ist das eine Quadrantenpaar Q einer einfachen Schachtel vertikal gestellt (Fig. 13). Die Nadel N ist in Schneiden gelagert und mit dem Gehäuse verbunden. Die Gewichtchen C Sie besitzen eine Flüssigkeits- werden bei an G liegendem Q so eingestellt, daß der Zeiger auf dem Nullstrich der Skala einsteht. Die zu messende Spannung wird zwischen Q und G gelegt. Je nach der Größe der Gewichte, die unten an der Nadel an- gehängt werden, mißt das Instrument 200 bis 4000 Volt im kleinsten und 1000 bis 20000 o (\ n\ $ %', £ [ ' Sb G '- c Fig. 13. Volt im größten Meßbereich. Bei noch höheren Spannungen treten bei diesem Instrument Störungen durch stille Ent- ladung auf. Die Dämpfung wird mittels einer primitiven Vorrichtung von Hand bewirkt. Wir besprechen zweitens ein Zeiger- instrument, das ähnlich wie die absoluten Elektrometer angeordnet ist, die elektro- statische Wage von W. Thomson (Fig.14). Die zu messende Spannung wird zwischen Lx und G gelegt, mit dem L3 leitend ver- Fig. 14. Elektrostatische Messungen 493 bunden ist. Die Gewichte N haben denselben 7weck wie die Gewichte C in Figur 13. Die Empfindlichkeit hängt von der Größe des an H hängenden Gewichtes ab. Die Meßbereiche sind 5000 bis 50000 Volt und 10000 bis 100000 Volt. Die Dämpfung wird ähnlich wie beim vorigen Apparat bewirkt. Daß man ein solches Instrument durch Verwendung von Druckluft bis etwa 200000 Volt brauchbar machen kann, ist bereits auf S. 487 erwähnt, Elektrometer dieser Art mit Oel als 7wischenmedium, wie sie von Jona und Grau angegeben sind, sind nur für Wechsel- spannungen zu benutzen und weniger zu- verlässig als Instrumente mit Druckluft als Zwischenmedium. Die erwähnten elektrostatischen Volt- meter, die zusammen einen großen Meß- bereich umspannen, haben, abgesehen vom Binantenelektrometer in der der Quadrant- schaltung analogen Schaltung, sämtlich die aus Gold- oder Aluminiumfolie trägt. Die Metallplatte a schützt die Blättchen vor der Einwirkung von etwa auf i befindlichen La- dungen (S. 485). Die mit dem Gehäuse leitend verbundenen Backen e werden zu- sammengeschoben, wenn das Instrument transportiert werden soll. Bei mit dem ge- erdeten Gehäuse verbundenen Stab m liegen die Blättchen dicht an demselben an. Wird ein Potential an m gelegt, so werden sie abgestoßen. Durch die Lupe 1 sieht man die Ränder der Blättchen gleichzeitig mit der am Spiegel s reflektierten Skala k, die in Volt geeicht wird. Das Instrument mißt Potentiale von 50 bis 200 Volt. Ihm ähnlich und für Potentiale von 500 bis 10000 Volt geeignet ist das Elektro- meter von Braun (Fig. 16). Die Blättchen sind durch eine um eine horizontale Achse spielende leichte Aluminiumnadel ersetzt, deren unteres Ende sich vor einer auf gleichem Potential befindlichen Metallskala bewegt, die in Volt geeicht wird. 14) K' bedeutet die Kapazität der auf Spannung befindlichen Teile des Elektrometers nebst Zuleitungen, die durch eine geerdete Hülle zu schützen sind. Da K' sich etwas mit dem Ausschlag des Elektrometers ändert, muß es streng genommen für jeden Ausschlag besonders bestimmt werden (S. 497). Benutzen wir ein Elektrometer mit Hilfspotential, so tritt eine weitere Kom- plikation ein. Mit Berücksichtigung der Formeln (1) auf S. 484 ist z. B. für ein Quadrantelektrometer in Nadelschal- tung die auf der Nadel befindliche Elek- trizitätsmenge, falls das vom Elektrometer gemessene Nadelpotential v3 ist, und vx = + P und v2 = — P die Hilfspotentiale der Qua- drantenpaare sind, e3 = (K13 - - K^P + K33V3 = Sv3. 15) Die gesuchte Elektrizitätsmenge ist also e=(K13-K23)P+(K + K33)v3 = (K+S)v3. 15 a) Verwendet man zur Messung von e ein Quadrantelektrometer in Quadrant- schaltung, so ist, wenn v3 = P das Hilfs- potential der Nadel und vx das vom Elektro- meter gemessene Potential des nicht ge- erdeten Quadrantenpaares ist, die auf diesem befindliche Ladung: e1= ....KllVl+K13P= S'Vl 16) e =(K+K11)v1+K13P = (K+SOv,. 16a) S und S' wollen wir mit Harms als scheinbare Elektro met er kapazitäten für die betreffenden Meßanordnungen be- zeichnen. Sie müssen, wenn man die Messung von e auf eine Messung von v zurückführen will, von Fall zu Fall bestimmt werden Fig. 20. trizitätsmenge, wenn dieser im Augenblick des Abreißens als kugelförmig angesehen wird, er = vr jr* r 6 R" Die Tropfen fallen in den Far ad ay sehen Eimer A und führen ihm so bekannte Elek- trizitätsmengen zu, die bestimmte Ausschläge des Elektrometers veranlassen. Die Geschwin- digkeit des Austropfens wird durch Heben und Senken des Gefäßes G reguliert. Viel genauere Resultate als die eben beschriebene gibt eine andere Anordnung von Harms (Fig. 21). An die Stelle des Tropf apparates tritt ein Kondensator, für welchen der Induktionskoeffizient Ki 11 Fig. 21. Elektrostatische Messungen 497 zwischen Hülle I und II bekannt sein muß, und der dauernd mit dem Elektrometer verbunden bleibt. III und D sind geerdete Schutzhüllen. Man legt nun, während I nebst den daran hängenden Leitern (I + z+ y) geerdet ist, an II ein bekanntes Potential v. Hebt man dann die Erdung an (I + z + y) auf und erdet II, so befindet sich auf (I + z + y), unabhängig von der Größe der Kapa- zität von z und y, die Elektrizitätsmenge e= Ki ii. v, für welche das Elektrometer einen be- stimmten Ausschlag zeigt. Wenn man v entsprechend wählt^ kann man so beliebige bekannte Elektrizitätsmengen auf (I + z + y) bringen. Die Anordnungen in Figur 20 und 21 sind für luftelektrische Zerstreuungs- messungen geeignet. Ueber die Messung von großen Elektrizitäts- mengen mittels des ballistischen Galvano- meters vgl. den Artikel „Elektrischer Strom". 5. Messung von Kapazitäten. Ueber die Berechnung von Kapazitäten aus den Abmessungen der Leiter, über absolute Kapazitätsmessung usw. vgl. den Artikel „Kapazität". Wir beschränken uns hier auf die Me- thoden zur Vergleichung von Ka- pazitäten, bei welchen Elektrometer als Meßinstrumente benutzt werden. Wollen wir Kapazitäten in Farad messen, so muß uns eine in diesem Maß bekannte Vergleichs- kapazität zur Verfügung stehen. 5a) Vergleichung durch Ladungs- teilung. Nach dieser Methode kann man die Kapazität eines Elektrometers in be- quemer und genauer Weise z. B. mittels der in Figur 21 gegebenen Anordnung von Harms bestimmen, wenn der Induktions- koeffizient Ki 11 in Farad bekannt ist (S. 496). Man lädt I + z + y mit einer bekannten Elektrizitätsmenge e=Km.v Coulomb. Zeigt dann das Elektrometer vx Volt an, so ist die Gesamtkapazität Ki + z + ; = — Farad. Um weiter die Kapazität Ky des Elektro- meters zu bestimmen, wird jetzt, während II geerdet bleibt, der Kontakt bei P, der leicht lösbar sei, aufgehoben, am besten durch Drehen des Kondensators (I, II, III) um eine vertikale Achse. Dabei gehen die Blatt clien des Elektrometers, wegen der etwas geänderten Lage ungeschützter Leiter gegeneinander, ein wenig zusammen. Der Kondensator wird so weit gedreht, bis der Ausschlag der Blättchen konstant wird. Er entspreche dem Potential v2 Volt, Das Elektrometer wird entladen und durch Drehung des Kondensators der Kontakt bei P wieder hergestellt. Zeigt dann das Elektrometer das Potential v3 Volt an, so ist die Kapazität des Elektrometers: K K l + z + y v3 Farad. Bei einem Elektrometer ohne Hilfs- spannung, wie es in Figur 21 angenommen ist, ist K), die wahre Kapazität, bei einem Elektrometer mit Hilfsspannung die scheinbare Kapazität des Elektro- meters (S. 496). Nachdem so die Kapazität des Elektro- meters Ky bestimmt ist, vergleicht man die (nicht zu kleinen) Kapazitäten zweier be- liebiger, durch eine geerdete Hülle geschützter Leiter in folgender Weise. Leiter I und das Elektrometer werden auf das Potential v geladen. Der vorher altgeleitete Leiter II wird zugeschaltet. Sinkt dann das Potential auf v', so ist: K11 _v — v' Kl+ Ky' ~^' Sind Ki und Kn sehr klein, so tritt beim Zuschalten von Leiter II die oben erwähnte Störung ein und ist entsprechend zu berücksichtigen. Die Isolation muß bei dieser Methode sehr hoch sein. 5b) Vergleichung durch Gegenstellen. Leiter I und II werden (Fig. 22) durch gal- N Erde ^Ht#- Erde 0> ^_J Erde Fig. 22. vanische Elemente, die mittels des Schalters A angelegt werden, auf Potentiale +vx und — v2 gegen Erde gebracht, Der Schalter A wird "entfernt, und es werden mittels des Schalters B die Leiter I und II untereinander und z. B. mit der vorher abgeleiteten Nadel N eines Quadrantelektrometers in Nadel- schaltung verbunden. Sind + vx und — v2 so abgeglichen, daß die Nadel keinen Ausschlag zeigt, so ist Ki^ = V2 Kn Vi Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 32 498 Elektrostatische Messungen Die grobe Einstellung von +v, und — v2 geschieht durch die Wahl der Anzahl von Elementen rechts und links von der Erd- leitung, die Feineinstellung durch Verschieben des Kontakts C auf einem Schleifdraht von hohem Widerstände, durch den z. B. zwei hintereinandergeschaltete Elemente ge- schlossen sind. 5c) Vergleichung in der Brücke. Die Methode ist der vorigen ähnlich. Der große Widerstand wx + w2 (Fig. 23) Erde ■I»- W'l Fig. 23. liegt an den Polen einer Batterie, die gleich- zeitig mit je einer Belegung der Konden- satoren I und II verbunden sind. Die anderen Belegungen von I und II sind miteinander verbunden. Man schiebt den Erdkontakt so, daß beim Verbinden von A mit der vorher abgeleiteten Nadel des Elektrometers kein Ausschlag erfolgt. Dann ist Ki - = w_2 K11 wx' Vor dem Anlegen der Batterie sind alle Teile zu entladen. Bei den Methoden b) und c) kommt die Kapazität des Elektrometers nicht in Be- tracht. 6. Messung von Dielektrizitätskon- stanten. 6a) Bestimmung mit dem Kondensator. Die Messung beruht auf dem Satz, daß die Kapazität K8 eines Kondensators, der einen isotropen Isolator mit der Dielektrizitätskonstanten e als Zwischen- medium besitzt, emal so groß ist als die Kapazität Kx desselben Kondensators, wenn er Luft als Zwischenmedium besitzt. Voraus- gesetzt ist, daß alle elektrischen Kraftlinien durch das Dielektrikum laufen. Wissenschaftlich gilt statt der Luft das Vakuum als Einheit; dann hat Luft bei Atmosphärendruck die Dielektrizitätskon- stante e = 1,0006. Durch Multiplikation mit dieser Zahl werden also die gemessenen Dilelektriztätskonstanten auf das Vakuum bezogen. Der Unterschied ist für flüssige und feste Körper praktisch gleichgültig, aber bei den Angaben für Gase sorgfältig zu beachten. Die Messung einer Dielektrizitätskon- stanten läßt sich also auf zwei Kapazitäts- messungen zurückführen. Die oben be- schriebenen Methoden der Kapazitätsver- gleichung lassen sich für diesen Zweck nur verwenden, wenn man es mit einem so gut wie vollkommen isolierenden Dielektrikum zu tun hat. Bei Flüssigkeiten bestimmt man nach 5b) oder c) die Kapazität z. B. eines Zylinder- kondensators, dessen äußere Belegung ge- erdet wird, einmal wenn er mit Luft, das andere Mal, wenn er mit der betreffenden isolierenden Flüssigkeit gefüllt ist. Ist die Kapazität im ersten Falle Kx, im zweiten K£, so ist K, Bei Gasen, deren Dielektrizitätskon- stante e gegen das Vakuum nach demselben Prinzip gemessen wird, sind bei den Kapazi täts - messungen wegen der geringen Abweichung des e von 1 sehr empfindliche Nullmet ho den erforderlich, auf die wir hier nicht eingehen. Bei festen Körpern ist zu beachten, daß die Kondensatorplatten, z. B. des Kohlrauschschen Kondensators, den eben- falls in Plattenform gegebenen festen Körper nicht berühren dürfen, weil sonst Störungen durch Ladungen auf der Oberfläche der dielektrischen Platte auftreten. Sind alle Platten einander parallel, ist ferner a der Plattenabstand des Kondensators (klein gegen den Radius!) und d die Dicke der dielektrischen Platte, die weit größer sein muß als die Kondensatorplatten, so ist, falls K-l die Kapazität des Kondensators mit Luft, KE die Kapazität bei eingeschobener Platte bedeutet 1 - _ a K£-K, e d K£ ' Statt den Abstand a direkt zu messen, kann man nach Einschieben des Dielektri- kums den Plattenabstand des Kondensators um einen Betrag ö so ändern, daß die Kapazität wieder die frühere ist. Dann ist: d £ = d=* Hierbei wird gleichzeitig die Kapazität der Zuleitungen, die sonst zu berücksichtigen ist, eliminiert. 6b) Bestimmung durch Kraftwir- kungen. Die Messung beruht auf dem Satz, daß auf konstanter Potentialdifferenz ge- haltene Leiter sich anziehen mit einer Kraft, die ceteris paribus der Dielektrizitätskon- stanten des Zwischenmediums proportional ist, Silow hat z. B. ein Quadrantelektrometer in Doppelschaltung benutzt, dessen Ausschlag für eine konstante Potentialdifferenz er bei Füllung mit Luft bezw. mit isolierender Flüssigkeit bestimmte. Bei Spuren von Elektrostatische Messungen — Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik usw.) 490 Leitfähigkeit der Flüssigkeit stört die Polari- sation. Man mißt dann bei einer konstant gehaltenen Wechselspannung. Betreffs der zahlreichen weiteren Me- thoden zur Messung der Dielektrizitäts- konstanten, speziell bei schlecht isolierenden und bei leitenden Dielektriken, auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden soll, vergleiche man den Artikel „Dielektrizi- 14t". eiche Literatur manns Hand- bis zum Jahre r Physik (1908) Kohlvauschs (1910) bis zum A rbeiten der in der Physi- Zeilschrift für einer Geschichte der Linnaea, Bd. 33, (186fr ii min fischen Botanik", -65), S. 583 — 588. W. Ruhland. Literatur. Die ziemlich umfangr ■ist zusammengestellt in Winkel buch der Physik Bd. IV (1905) 1902, in Chwolsons Lehrbuch de Bd. IV bis zum Jahre 1907, in Lehrbuch der Praktischen Physik Jahre 1909. Die einschlägigen letzte?! Jahre sind fast sämtlich kaiischen Zeitschrift und in der Instrumcntcnkiindc zu finden. H. Schnitze. Endlicher Stephan Ladislaus. Er wurde am 24. Juni 1805 in Preßburg ge- boren, studierte zunächst Theologie, verließ dieses Studium aber wieder und wurde 1828 Skriptor an der k. k. Hofbibliothek in Wien und 1836 Kustos der botanischen Ableitung des k. k. Hofnaturalienkabinetts. Im Jahre 1840 promo- vierte er und übernahm im selben Jahre die ordentliche Professur der Botanik und die Direktion des Botanischen Gartens der Wiener Universität. Trotz 'eines sehr geringen Gehaltes legte er aus seinem Privatvermögen eine umfang- reiche Bibliothek und ein Herbar an, die er dem Staate schenkte. Weitere Vermehrung dieser Sammlungen, sowie die Herausgabe eigener und fremder Werke auf seine Kosten führten zu seinem finanziellen Ruin, der ihn veranlaßte, am 28. März 1849 seinem Leben durch Blausäure ein Ende zu machen. — Unter seinen Schriften seien eine Flora von Preßburg (1830), die „Genera plantarum seeundum ordinem naturalem dis- positarum" (Wien, mit Suppl. I, 1836 bis 1840; Suppl. II bis V, 1842 bis 1850) und das „En- chiridion botanicum, exhibens classes et or- dines plantarum, accedit nomenclator generum et officinalium vel usualium indicatio" (Leipzig und Wien 1841) genannt. Er setzte hierin vor allem die Betrebungen Jussieus, Gärtners, De Candolles und Robert Browns fort, in einem natürlichen System die stufenweisen Ver- wandtschaften darzustellen. Die Charakteristik der Familien und Gattungen ist ausgezeichnet, in der Haupteinteilung seines Systems war er wenig glücklich. — Er hat sich auch auf anderen Gebieten schriftstellerisch betätigt, z. B. durch Veröffentlichung einer chinesischen Grammatik, von Schriften zur ungarischen Rechtsgeschichte Literatur. Augsburger allgemeine Zeitung 1849, Beilage Nr. 129. — A. Kanitz, „Versuch Energetik der Organismen. Allgemeine Energetik der Organismen. 1. Definition. 2. Der erste Hauptsatz. 3. Der zweite Hauptsatz. 4. Die Energieformen, die für die Organismen eine Rolle spielen. 5. Die Energie- zufuhr. 6. Die Energieumwandlungen: a) Pro- duktion chemischer Energie. b) Produktion elektrischer Energie, c) Produktion strahlender Energie, d) Produktion mechanischer Energie, e) Produktion von Wärme. 7. Die Energieabgabe. i. Definition. Die Energetik der Or- ganismen ist die Lehre von den Wandelungen der Energie in lebenden Körpern. Unter Energie versteht man das Vermögen eines Körpers oder Systems, Arbeit zu leisten. Die Energie, die ein Körper enthält, wird gemessen durch eine Arbeitsgröße (Meter- kilogramm) und kann bezeichnet werden als seine Arbeitsfähigkeit. Die Arbeitsfähig- keit der Organismen erfährt beständige Aenderungen, es herrscht in ihnen, sie leben, niemals Gleichgewicht, und beruhen diese Aenderungen auf Energiezu- fuhr und Energieabgabe. Die Aufgabe der allgemeinen Energetik der Organismen besteht darin, die Wege zu verfolgen, auf denen den Organismen En- ergie zugeführt wird, die Wandelungen zu ' beschreiben, die die Energie in den Organis- men erfährt und die Art und Weise darzu- stellen, wie die Energie von den Organismen abgegeben wird. 2. Der erste Hauptsatz. Die axioma- tische Grundlage jeder Energetik im Gebiete des Unbelebten ist der erste Hauptsatz der ', mechanischen Wärmetheorie, der Satz von der Erhaltung der Energie ; und es fragt sich zunächst, ob es ohne weiteres gerecht- fertigt ist, an eine Energetik der Organismen mit der Voraussetzung heranzutreten, daß auch für sie dieser Satz uneingeschränkte Geltung habe. Bei der fundamentalen Be- deutung, die das Prinzip der Erhaltung der solange zwar Energie für unser ganzes naturwissenschaft- liches Denken hat, wäre es sicher berechtigt, seine Gültigkeit für das Gebiet der belebten Körper zu postulieren und auf dieser Grundlage zu bauen, bis ein Gegenbeweis erbracht, oder auch nur wahrscheinlich gemacht wäre, daß dies Grundprinzip auf Organismen keine Anwendung finden könne. Ein Einwand würde nur von vitalistischer Seite gemacht werden, und brauchte solange in einer ernsthaften Diskussion keine Berück- sichtigung zu finden, bis eine greifbare De- finition der hypothetischen „Lebenskraft" 32* Jj&%j!/e85. 500 Energetik der Organismen (Aligemeine Energetik der Organismen) gegeben worden wäre, die eine Prüfung der praktischen Konsequenzen einer solchen Anschauung ermöglichen würde. Bei der vorwiegend unphilosophischen, rein em- pirischen, Richtung der heutigen Natur- wissenschaft muß es aber als ein günstiger Umstand betrachtet werden, daß auch der experimentelle Nachweis der Gültigkeit des ersten Hauptsatzes an lebenden Objekten, und zwar gerade am Menschen und an Säuge- tieren mit einer Genauigkeit erbracht worden ist, wie wir sie bei biologischen Fragen nur selten zu erreichen vermögen. Alle Energie, die dem Organismus durch die Nahrung zu- geführt wird, wird als äußere meßbare Arbeit oder als Wärme (größtenteils) abgegeben. Die Bilanz, durch welche die Gültigkeit des ersten Hauptsatzes für die lebenden Systeme nachgewiesen werden soll, muß also durch Vergleich der Stoffzufuhr und Stoffabgabe feststellen, wie groß der Brennwert (Energie- gehalt) der Stoffe ist, die im Körper zur Oxydation gelangen. Dieser berechnete Wert muß verglichen werden mit der direkt ge- messenen Wärmemenge, welche der Körper abgibt. Wird äußere Arbeit geleistet, so muß auch diese gemessen und in Wärme umgerechnet werden. In äußerst mühevollen und gründlichen Untersuchungen hat zunächst Rubner für den Hund nachgewiesen, daß sich bei einer solchen Bilanz in der Tat die Gültigkeit des ersten Hauptsatzes nachweisen läßt und Atwater hat in noch ausgedehnteren Ver- suchsreihen denselben Beweis für den Men- schen erbracht. Bei dem großen allgemeinen Interesse, das diese Zahlen beanspruchen, mögen die Resultate etwas näher mitgeteilt werden. Die Versuche beziehen sich zunächst auf ruhende Menschen bei gewöhnlicher Kost. In zwölf Versuchen, die 41 Versuchstage umfaßten, betrag die durchschnittliche Netto- einnahme (potentielle Energie der im Körper oxydierten Stoffe) 2246 Kai, die Netto- ausgabe 2246 Kai, es bestand also völlige Uebereinstimmung. In zehn Versuchen mit 26 Versuchstagen mit besonders zusammen- gesetzter Kost betrag die durchschnittliche Einnahme 2290 Kai, die Ausgabe 2305 Kai, die Abweichung der beiden Werte also + 0,7%. Die weiteren Versuche, in denen Arbeit geleistet wurde, ergaben folgende Resultate: Ein- Aus- nahme gäbe bei gewöhnlicher Kost Kai Kai 20 Versuche, 65 Versuchstage 3748 3745 Unterschied— 0,1% bei besonderer Kost 3 Versuche, 10 Versuchstage 3719 3702 Unterschied— 0,5% Faßt man alle 45 Versuchsserien mit 143 Versuchstagen zusammen, so betragen Ein- nahmen wie Ausgaben pro Tag im Durch- schnitt 3481 Kai, der Unterschied ist ge- ringer wie 1 Kai. Die größten Abweichungen zwischen Einnahme und Ausgabe, die stets nur bei kurzdauernden Versuchen beobachtet wur- den, betrugen + 2,1% und — 1,1%. Daß es sich bei diesen Abweichungen um un- systematische Fehler handelt, dafür spricht ihre etwa gleich häufige Abweichung in positivem und negativem Sinne. 3. Der zweite Hauptsatz. Die Mög- lichkeit der Umwandlung verschiedener Energieformen ineinander wird in der unbelebten Natur begrenzt durch eine ein- schränkende Bedingung, die als der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, oder der Satz von der Zunahme der Entropie bezeichnet wird. Die Frage, ob auch dieser Satz für belebte Körper unbedingte Geltung hat, läßt sich nicht mit dem Hinweise auf seine axiomatische Sicherheit erledigen, wie wir es für den ersten Hauptsatz bei Mangel experimenteller Erfahrungen hätten tun können, sondern würde einer besonderen Prüfung bedürfen und eine solche liegt zur Zeit nicht vor. Man kann den Entropiesatz nach Boltzmann als einen Wahrschein- lichkeitssatz betrachten, und ihm die Form geben, daß man sagt, die Energieumwand- lungen gehen stets in der Richtung vor sich, daß aus unwahrscheinlicheren Energieformen die wahrscheinlicheren entstehen. Die „wahrscheinlichste" Form der Energie ist in der Wärme — der ungeordneten Bewegung der Massenteile eines Körpers - gegeben, während jede geordnete Bewegung (Strahlung, Massenbewegung) unwahrschein- licher ist und so geht bei jeder Umwandlung in irgendeine Energieform stets ein Teil in Wärme über und kann nicht mehr zurück- gewonnen werden, die Energie wird, wie man sagt, zerstreut, sie wird vom Stand- punkte der Möglichkeit weiterer Energie- umwandlung entwertet. Eine Wärmemaschine ist nur möglich, wenn ein Temperaturgefälle vorhanden ist, wobei der Energieaustausch in der Weise erfolgt, daß die Wärmeenergie von dem wärmeren zum kälteren Körper fließt. Der maximale Nutzeffekt, den eine solche Ma- schine erreichen kann, ist abhängig von der Differenz der absoluten Temperaturen der beiden Körper, zwischen denen der Energie- austausch erfolat, und ist für den Fall eines >r "p Kreisprozesses -1™—3, wenn Tx und T2 die Temperaturen der beiden Körper, vom ab- soluten Nullpunkt (— 273° C) aus gerechnet, bedeuten. Dieser maximale Nutzeffekt, der theore- tisch in einem Kreisprozeß erreicht werden Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) 501 kann, ist innerhalb eines Organismus nie- mals zu erzielen, denn die Bedingungen des Kreisprozesses erfordern auf bestimmte Strecken eine adiabatische, auf andere eine isotherme Zustandsänderung, die Bedingungen aber, unter denen die Energieumwandlungen innerhalb der Organismen erfolgen, sind meist dauernd diejenigen der Isothermie. Bei allen absolut kleinen Organismen, dem ganzen Heer der Protisten, den Rotatorien, Copelaten, Copepoden usw. ist der Wärme- austausch mit dem umgebenden Medium ein so vollständiger, daß die Bedingung der Isothermie, der Temperaturkonstanz, wäh- rend des ganzen Prozesses in so vollkom- mener Weise gewährleistet ist, wie sie im Ex- periment kaum realisiert werden kann. Andererseits ist innerhalb der höchsten Klassen des Tierreichs, bei Säugetieren und Vögel ein Zustand durch physiologische Mechanismen geschaffen, den wir als Homoio- thermie bezeichnen, d. h. die Temperatur dieser Tiere schwankt nur innerhalb so enger Grenzen, und in jedem Zeitmoment ist der Temperaturausgleich zwischen den einzelnen lebenden Teilen des Körpers ein so voll- kommener, daß wir auch hier von Isothermie sprechen können. Die Körpertemperatur der absolut größeren Pflanzen und wirbel- losen Tiere sowie der Fische, Amphibien und Reptilien schwankt zwar entsprechend der Außentemperatur innerhalb weiter Grenzen, aber auch bei ihnen kommt es nur höchst selten zu einer raschen und nennenswerten Aenderung der Temperatur einzelner Teil- systeme während eines rasch ablaufenden physiologischen Prozesses, so daß auch die Vorgänge in ihnen mit ziemlicher Annäherung als isotherm verlaufend betrachtet werden können. Nirgends finden wir' dagegen bei Organismen Vorgänge, die mit einiger An- näherung als adiabatisch verlaufend be- trachtet werden könnten, d. h. bei denen durch die Grenzen des Systems, in dem sich die Energieumwandlung vollzieht, während der Dauer des Vorganges keine nennens- werten Energiemengen hindurchträten. Wenn wir nun auch keinen experimen- tellen Nachweis dafür haben, daß der Entro- piesatz bei Organismen uneingeschränkte Geltung hat, so liegen andererseits ebenso- wenig Erfahrungen vor, die dafür sprächen, daß innerhalb der Organismen bestimmte Arten der Energieumwandlung, die in dei belebten Natur unwahrscheinlich sind, durch geeignete Mechanismen zu „wahrschein- lichen" Vorgängen gemacht würden, so daß wir bis auf weiteres keinen Grund haben, an der Allgemeingültigkeit des zweiten Hauptsatzes in der belebten Natur zu zwei- feln. • Wir werden also im folgenden immer annehmen, daß eine Vermehrung der Entro- pie, wie sie bei allen Energieumwandelungen innerhalb der Organismen erfolgt, ebenso zu einer Zerstreuung und Entwertung der Energie führt, wie dies in der unbelebten Natur der Fall ist. 4. Die Energieformen, die für die Or- ganismen eine Rolle spielen. Von allen uns bekannten Energieformen spielt, soviel wir wissen, nur eine keine nachweisbare Rolle in der Energetik der Organismen: die ma- gnetische Energie. Es sind keinerlei Tat- ; Sachen bekannt, die auf eine Wirkung der Zufuhr magnetischer Energie zu einem lebenden System schließen ließen, und kein Organismus produziert „Magnetismus" oder ist imstande anderen Körpern magnetische Eigenschaften mitzuteilen. Dagegen spielen alle anderen Energieformen, die die Energetik des Unbelebten kennt, auch bei den Lebe- wesen eine Rolle. Um welche Energieformen es sich dabei handelt, mag eine kleine Ueber- sicht zeigen. A. Mechanische Energiearten : 1. Volumenenergie 2. Flächenenergie 3. Distanzenergie 4. Bewegungsenergie. B. Nichtmechanische Energiearten : 5. Wärme 6. Elektrische Energie 7. Strahlende Energie 8. Chemische Energie. 5. Die Energiezufuhr. Energie kann den Organismen auf verschiedene Weise zugeführt werden, zu einer Vermehrung ihrer Arbeitsfähigkeit kommt es aber nur bei Zufuhr von Licht, von chemischer Energie und - unter bestimmten Bedingungen von mechanischer Energie. Betrachten wir systematisch die Erfolge, die die Zufuhr der verschiedenen Alten der Energie in bezug auf den Zuwachs an freier Energie einer- seits, an Entropie andererseits bei den Organismen hat, so werden wir finden, daß in den meisten Fällen die freie Energie keine Vermehrung erfährt, sondern nur die Entropie. Wir beginnen mit der Betrachtung der Zufuhr strahlender Energie, und zwar mit i den Strahlen großer Wellenlänge, wie s e 1 die strahlende Wärme darstellt. Es war 1 nur ein Fall bekannt, in dem es schien, J als ob die Zufuhr strahlender Wärme (ultra- | roter Strahlung) zu einer Vermehrung der 'freien Energie eines Systems führte: der Fall der Purpurbakterien, die im Ultrarot Kohlensäure zu assimilieren, d. h. Zucker aus Kohlensäure zu bilden, imstande sein 1 sollten. Die genauere Untersuchung zeigte aber, daß eine derartige Wirkung nicht be- | steht (Molisch), so daß wir heute sagen ; müssen, strahlende Wärme ist nicht im- stande die freie Energie eines lebenden i Systems zu vermehren. Trotzdem übt strah- 502 Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) lende Wärme physiologische Wirkungen aus, in dem sie z. B. die Wärmesinnesorgane der menschlichen Haut reizt. Hierbei wird aber nur die Entropie, nicht die freie Energie des isothermen Systems vermehrt, die Wärme- strahlen wirken verändernd auf die Ge- schwindigkeit des Ablaufs der Prozesse in den Sinneszellen, aber die Arbeitsfähigkeit dieser Elemente wird dadurch nicht eihöht. Man muß sich stets gegenwärtig halten, daß in den physikalisch scharf definierten Be- griffen der Arbeit, der Arbeitsfähigkeit, der Energie, die Zeit nicht enthalten ist. Ob ein Meterkilogramm in einer Sekunde oder einer Stunde geleistet wird: die Arbeit ist dieselbe, was sich ändert, ist nur der „Ef- fekt", die Arbeit pro Zeiteinheit, und nur j diese ändert sich bei Zufuhr strahlender Wärme zu den Sinneselementen, während die Arbeitsfähigkeit bezw. die freie Energie keine Aenderung erfährt. Wir müssen bei allen Arten der Energie- zufuhr diesen Unterschied machen: die zugeführte Energie kann entweder dazu dienen, Arbeit zu leisten, und dadurch den Energiegehalt, die Arbeitsfähigkeit, des Or- ganismus zu vermehren, oder sie kann zur Beschleunigung (oder Verlangsamung) von Prozessen dienen und hierbei erfolgt keine Vermehrung oder Verminderung der Energie. Sehr klar lassen sich diese Verhältnisse zeigen, wenn wir die Zufuhr von Lichtenergie zu den lebenden Systemen betrachten. Strahlende Energie, deren Wellenlänge zwischen 740 juju und 420 fipt liegt, d. h. die dem für unser Auge sichtbaren Teil des Spektrum angehört, vermag in bestimmten lebenden Systemen Arbeit zu leisten und dadurch die Energie des Organismen zu vermehren. Die Or- ganismen, an denen wir diesen Vorgang am \ besten beobachten können, sind die grünen Pflanzen. Die Arbeit, welche das Licht leistet, be- steht darin, daß es die Vereinigung von j Kohlensäure (C02) und Wasser (H20) zu Zucker (Ci2H6012) bewirkt, die nur mit Energieaufwand möglich ist. Bei diesem Prozeß werden unter Aufwand einer Arbeit, die 673,74 Kai oder 288370 mkg äquivalent ist, aus 264 g Kohlensäure und 108 g Wasser gebildet: 180 g Zucker (1 g Molekül) und 192 g Sauerstoff nach der Formel 6C02+6H20:+673,74Kal = C6H1206+l2 0. 264 g 108 g 180 g 192 g Wahrscheinlich verläuft dieser Prozeß in zwei Schritten, von denen nur der erste unter Energiezufuhr abläuft, während der zweite ohne solche erfolgt. Der erste Schritt ist die Bildung von Formaldehyd (CH20) aus Kohlensäure und Wasser nach der Formel: CO 2+ H20 + H2,29 Kal= CH20+ 02 30 g 32 g 44g 18 g Der zweite Prozeß, die Kondensation von 6 Mol. Formaldehyd zu 1 Mol Zucker hat von energetischem Standpunkte aus für uns kein Interesse. Dieser photochemische Prozeß ist re- versibel, auf seiner Umkehrung, bei der unter Oxydation von Zucker zu Kohlen- säure und Wasser Energie gewonnen wird, beruht die Möglichkeit des Lebens auf der Erde in der Form, in der wir es zur Zeit beobachten. Es ist aber nur ein kleiner Bruchteil der gesamten sichtbaren Strahlung, der in diesem reversiblen Prozeß verbraucht wird, d. h. dessen Aequivalent zu einer Vermehrung der Arbeitsfähigkeit der Organismen führt. Die Schätzungen über die Größe dieses Anteils liegen zwischen 1 und 5% der Strahlungsintensität der Sonne, so daß mehr als 95 % der zugeführten Lichtes auch in den grünen Pflanzen nicht zur Ver- mehrung der Energie ausgenutzt werden. Dieser Anteil geht zum Teil durch die grünen Blätter hindurch, zum Teil erleidet er die ge- wöhnliche Absorption, die das Licht in allen Körpern in mehr oder weniger hohem Maße trifft und wird hierbei in Wärme umge- wandelt. Dieser Teil des Prozesses der Lichtzufuhr ist irreversibel und führt zu keiner Zunahme der freien Energie der Organismen, sondern nur zu einer Zunahme der Entropie nach dem allgemeinen Satze, daß der nicht umkehrbare Teil eines Pro- zesses mit einer Vermehrung der Entropie für die arbeitende Substanz verbunden ist. Die Vermehrung der Energie der Orga- nismen durch die Strahlung des sichtbaren Spektrums ist so wichtig, daß wir noch kurz auf die Frage eingehen müssen, welche Organismen das Vermögen haben auf diesem Wege ihre Arbeitsfähigkeit zu vermehren. In erster Linie sind alle diejenigen zu nennen, welche den Farbstoff der grünen Blätter, das Chlorophyll enthalten, von den Ein- zelligen (Flagellaten), Algen angefangen bis zu den höchsten Formen der dikotylen Ge- wächse. Außer dem Chlorophyll kennen wir aber noch eine Reihe anderer Farbstoffe, in deren Gegenwart der Prozeß des Energie- gewinns unter Belichtung vor sich geht, und die als , Chromophylle bezeichnet werden, so den Farbstoff der blaugrünen Algen, der Rotalgen und Braunalgen sowie der Tange. Die Fähigkeit, Lichtenergie zur Ver- mehrung der Arbeitsfähigkeit zu verwenden, fehlt allen Bakterien und Pilzen und, wie wir heute noch behaupten müssen, allen Tieren, denn die anscheinende Fälligkeit einer Anzahl von Tieren, Kohlensäure wie die Pflan- zen zu zerlegen, beruht nur auf einer Symbiose (s. den Artikel „Symbiose") von Algen mit Tieren und die Angaben, daß auch Insekten die Fähigkeit der Kohlensäureassimilation hätten, konnten nicht bestätigt werden. Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) r.i}:; Betrachten wir nun die Vorgänge, welche stattfinden, wenn das Licht andere lebende Systeme trifft, als diejenigen, welche einen Chromophyllapparat besitzen, so liegen die energetischen Verhältnisse ganz anders. So weit das Licht als solches überhaupt nach- weisbare Wirkungen ausübt (also abgesehen von der einfachen Erwärmung durch Licht- absorption) handelt es sich nur um Be- schleunigungen von Prozessen, die auch ohne Lichteinfuhr, wenn auch anders, lang- samer, ablaufen. Alle diese Prozesse sind nicht umkehrbar, und vermehren daher nur die Entropie, nicht die Energie der lebenden Systeme. Für den kurzwelligen Teil des Spektrums, das Ultraviolett, endlich sind nur Wirkungen dieser zweiten Art bekannt, kein Organismus ist bisher aufgefunden worden, der ultra- violette Strahlung in einem reversiblen Prozeß auszunutzen vermöchte. Ebenso kurz können wir uns fassen in- bezug auf die Elektrizität und die Wärme. Die zahlreichen Reizwirkungen, die diese beiden Faktoren in Organismen auslösen, führen nie zur Vermehrung der Arbeitsfähig- keit, d. h. es wird der Gehalt der Organismen an freier Energie bei Zufuhr von Elektrizität und Wärme nicht vermehrt. Von den nicht mechanischen Arten der Energie bleibt jetzt nur noch die chemische Energie übrig, und ihre Zufuhr spielt für die Organismen die größte Rolle. Der Kreislauf der Energie, der mit der Synthese des Zuckers aus Kohlensäure und Wasser beginnt, vollzieht sich fast ausschließ- lich in der Art, daß in Form chemischer Ener- gie die Zufuhr zu den einzelnen Organismen erfolgt, und auch abgesehen von den Pro- dukten der reversiblen Lichtwirkungen in den grünen Pflanzen wird einzelnen Or- ganismengruppen chemische Energie zuge- führt. Wir bezeichnen Stoffe, die den Energie- gehalt der Organismen vermehren, als Nähr- stoffeundinderLehrevom Stoffwechsels, den Artikel „Stoffwechsel") wird im einzelnen gezeigt, welche Stoffe geeignet sind, eine solche Vermehrung der Energie zu bewirken. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die Ver- mehrung des Energiegehaltes eines Organis- mus, der Stoffe aufnimmt, durch die Ver- brennungswärme des aufgenommenen Stoffes gemessen werden kann, vorausgesetzt, daß der Organismus imstande ist, den zuge- führten Stoff vollständig zu oxydieren. So erfährt z. B. ein Organismus bei Zufuhr von 1 g der folgenden Stoffe eine Energie- zunahme, die in Kai (Wärmeeinheiten) bezw. Meterkilogramm (Arbeitseinheiten) ausge- drückt, folgende Werte erreicht. Zucker 3,74 Kai. = 1590 mkg Stärke 4,18 Kai. == 1780 mkg Legumin 5,79 Kai. = 2460 mkg Tierfett 9,50 Kai. = 4050 mkg Sumpfgas 13,20 Kai. = 5620 mkg Das an letzter Stelle angeführte Sumpfgas bedeutet freilich nur für ganz bestimmte Organismen (Bakterien) eine Vermehrung des Energiegehaltes, und ebenso sind die folgenden Stoffe nur für einzelne oder einige 'wenige Organismen als Energiequellen ver- wertbar, doch zeigt die Möglichkeit der Verwendung solcher Verbindungen gut das Prinzip der Energiezufuhr durch chemische Verbindungen, die eine hohe Arbeitsfähig- keit, d. h. in diesem Falle Oxydationsfähig- keit, besitzen, z. B. : • Wasserstoff 0,68 Kai. = 290 mkg Ammoniak 0,98 Kai. = 418 mkg Schwefel 2,16 Kai. = 920 mkg Es muß zur Gewinnung dieser Energie- menge der Wasserstoff zu Wasser, das Am- moniak zu Salpetersäure, der Schwefel zu Schwefelsäure oxydiert werden. Auf die Frage, inwieweit durch Zufuhr mechanischer Energie die Arbeitsfähigkeit lebender Systeme vermehrt werden kann, können wir nur eine mangelhafte Antwort geben. Es ist nur ein typischer Fall bekannt, , in dem die Bewegungsenergie, die von außen zugeführt wird, zu einer Vermehrung der Arbeitsfähigkeit von Organismen führt, der 1 Fall des Segelfluges der Vögel. Es sind zwei durchaus verschiedene Arten des Segelfluges bekannt (Lanchester). Die einfachste Art ist diejenige, die Vögel (und auch Schmetterlinge) in aufsteigenden Luft- strömen ausüben. Der aufsteigende Strom, der nicht selten Geschwindigkeiten von 1 bis 2 m/sec erreicht, erteilt den im Gleitfluge dahinschwebenden Tieren dauernd eine Be- schleunigung, die derjenigen der Erdschwere entgegengesetzt gerichtet ist. Die Kraft, 1 die hierbei wirkt, ist gleich der Masse des Vogels mal der Beschleunigung, die Arbeit, ' welche der Wind leistetest gleich dem Gewicht des Vogels mal der Strecke, die er gehoben wird, und der Energiegehalt des Tieres wird um diesen letzten Wert vermehrt. Wenn z. B. ein Kondor von 30 kg Gewicht durch aufsteigende Luftströme um 1000 m gehoben wird, so erfährt sein Energiegehalt, seine Arbeitsfähigkeit, einen Zuwachs von 30000 mkg. Sollte der Kondor durch Ver- brennung von Körperstoffen diese Energie aufbringen, so müßte er solche im Brennwert von 700 Kai umsetzen. Da aber der Nutz- effekt seiner Muskelmaschine nur etwa 1/s ist (s. unten), würde er sogar 2100 Kai auf- wenden müssen, d. h. etwa 490 g Körper- stoffe verbrennen müssen, um nur die Hebe- arbeit zu leisten, die ihm der aufsteigende Luftstrom erspart. Die zweite Art des Segelfluges, der so- genannte „dynamische Segelflug" wird dort 504 Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) ausgeführt, wo keine aufsteigenden Luft- ströme vorkommen, und beruht auf einer Ausnutzung der Pulsationen des Windes, der Geschwindigkeitsänderungen , die jeder Wind innerhalb kurzer Zeiträume zeigt, und die im allgemeinen um so bedeutender sind, je höher die mittlere Windgeschwindig- keit ist. Beide Arten des Segelfluges spielen praktisch als Energiequellen für die betreffen- den Tiere eine höchst bedeutsame Rolle, während in einer Gesamtbilanz der Energie- mengen, die lebenden Organismen zugeführt und von ihnen umgewandelt werden, dieser Posten verschwindend klein ist, gegenüber der Energiezufuhr durch Licht. Immerhin beanspruchen sie ein gewisses Interesse als Beispiele, wie der Energiegehalt eines Or- ganismus vermehrt werden kann. Die Er- kenntnisse dieser Möglichkeit der Ausnutzung der „inneren Arbeit" des Windes und der aufsteigenden Luftströme durch die Vögel (und Schmetterlinge) legt die Frage nahe, ob nicht auch entsprechende Bewegungen des Wassers, Turbulenzbewegungen einerseits, aufsteigende Wasserströme andererseits, für Wassertiere als Energiequelle dienen könnten. Dies ist in der Tat für viele planktonisch lebende Wassertiere der Fall, was besonderes auffällig bei solchen Formen ist, denen Be- wegungsorgane fehlen, und die trotzdem in bestimmten Wasserschichten schweben, doch ist Genaueres hierüber nicht bekannt. Auch bei manchen Fischen, die wie Forellen, Lachse, Schmerlen an bestimmten Stellen unterhalb von Wasserfällen im Wasser stehen, ist an die Analogie mit den im Winde stehen- den Vögeln zu denken, und ist die Frage dis- kutierbar, ob hier etwa eine Ausnutzung- turbulenter Bewegungen oder Gegenströ- mungen den Tieren es ermöglicht in einem sonst reißenden Wasser mit minimaler Mus- kelleistung sich zu erhalten; doch ist nichts Po- sitives über eine derartige Ausnutzung der Bewegungsenergie des Wassers bekannt. 6. Die Energieumwandlungen Wie die Lehre von der Energieeinfuhr zeigt, erfolgt eine Vermehrung der Arbeitsfähigkeit der Organismen durch Zufuhr von Licht, das zur Bildung von Zucker verwendet wird und durch Aufnahme von Stoffen (Nährstoffen), die chemische Energie enthalten. In beiden Fällen ist dem Organismus als Ausgangs- material für die weiteren Umwandlungen chemische Energie gegeben und die Lehre von den Energieumwandlungen in Orga- nismen ist generell die Lehre von der Um- wandelung chemischer Energie in andere Energieformen Aus dem Rahmen dieser Aufgabe fällt nur das Schicksal des Energiezuwachses heraus, den die Tiere durch Ausnutzung der Bewegungsenergie des Mediums, z. B im Segelfluge, gewinnen. Seine Umwandlung zu verfolgen ist sehr einfach: Die potentielle Energie, die das Tier dadurch gewinnt, daß es gehoben wird, gibt es beständig wieder aus, indem es sie beim Gleiten durch die Luft in kinetische Energie umwandelt. Der Nutzeffekt ist bei dieser Umwandlung 100%: den ganzen Energiezuwachs, den der Vogel durch Hebung erfahren hat, gibt er im Gleitfluge ab. Wenn wir die verschiedenen Prozesse be- trachten, in denen chemische Energie in andere Energieformen umgewandelt wird, so können wir nirgends so weit in das innere Getriebe derselben eindringen, daß wir den Mechanismus des Vorganges darzustellen vermöchten, vielmehr wird es sich um eine mehr äußerliche Beschreibung der Um- wandelungsarten handeln. Von besonderem theoretischem Interesse ist dabei der Wert für den Nutzeffekt der Energieumwandelung, d. h. die Angabe über den prozentualen An- teil der umgesetzten Gesamtenergie, der nicht in Wärme umgewandelt wird, d. h. der nicht zur Vermehrung der Entropie benutzt wird. 6a) Produktion chemischer En- ergie. Die chemische Energie der Nahrung wird in allen Organismen in zweierlei Art um- gewandelt; es werden einmal die Körper- stoffe aus ihnen aufgebaut, und zwar so- wohl diejenigen, die den dauernden Bestand der Organismen bilden, wie auch jene, die als Sekrete abgegeben werden und außerhalb der Organismen Leistungen vollbringen, und andererseits werden die Nahrungsstoffe im so- genannten Betriebsstoifwechsel (s. den Artikel „Stoffwechsel, allgemeine Physiolo- gie") gespalten oder oxydiert und geben so ihre Energie ab. Vom Standpunkte der allgemeinen Energetik interessiert uns hierbei vor allem die Frage, welchen Aufwand von Energie ein Orga- nismus braucht, um einen bestimmten Körper- oder Sekretstoff zu produzieren. Es wird sich darum handeln das Verhältnis der Stoff- mengen, die im Betriebsstoffwechsel um- gesetzt werden, zu jenen zu ermitteln, die als Anwachs, als Vermehrung der Körpersub- stanzen, zur Beobachtung kommen. Tangl hat die Energiemenge, die hierbei im Betriebs- stoifwechsel umgesetzt wird, als „Entwicke- lungsarbeit" bezeichnet, doch ist es nicht ohne Bedenken, den ganzen Umsatz im Betriebsstoifwechsel als für den Aufbau der Körperstoffe verausgabt anzusehen. Als Einheit der aufgebauten Körperstoffe dürfen wir in diesem Zusammenhange nicht die Masseneinheit wählen, sondern diejenige Menge, deren Brennwert (Energiegehalt) eine bestimmte Größe repräsentiert, z. B. 1 Kai. = 427 mkg. Der geringste Energieaufwand zur Pro- duktion dieser Menge Körperstofte ist in Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) 505 den Fällen nötig, in denen arteigene Stoffe zum Aufbau der Körperstoffe verwandt werden, also z. B. bei der Entwickelung des Hühnchens im Ei, bei der Metamorphose der Fliegenpuppe zum Imago usw. In diesen Fällen erscheint bei einem Gesamtumsatz von 1,56 bezw. 1,528 Kai. schon 1 Kai. in den aufgebauten Körperstoffen, der Nutzeffekt des Prozesses beträgt also 64 bis 66%. Wird artfremde aber gut ausnutzbare Nah- rung verwendet, so ist der Nutzeffekt stets kleiner als r)0%, wie dies für eine Reihe von Pilzen, Hefen und Bakterien ermittelt ist. Bei weniger geeigneter Nahrung wird der Nutzeffekt geringer. Für einen Schimmelpilz (Aspergillus) beträgt er z. B. auf Zucker 48%, auf Glycerin dagegen nur 19,8%. der Umbau des Glycerins zu Körperstoffen er- fordert einen viel größeren Energieaufwand als jener des Zuckers. 6b) Produktion elektrischer En- ergie. Die Produktion nachweisbarer elek- trischer Potentialdifferenzen ist etwas un- gemein verbreitetes im Organismenreich. Man kann ganz allgemein sagen, daß eine Stelle, die sich in gesteigerter Tätigkeit be- findet negativ gegen die Stellen relativer Ruhe wird, d. h. gegen die Stellen, an denen nur der Grundumsatz abläuft. Ueber diese — methodisch ganz außerordentlich wich- tigen — Verhältnisse, wird an anderer Stelle berichtet (vgl. den Artikel „Elektrizitäts- produktion"). Hier handelt es sich darum, ob wir uns eine Vorstellung darüber machen können, wie diese Umwandelung chemischer Energie in elektrische erfolgt und welchen Anteil an den gesamten Energieumwandelungen in den Organismen die Elektrizitätsproduktion nimmt. Um mit der letzteren Frage zu be- ginnen, so fehlen uns zahlenmäßige Angaben hierüber völlig, aber wir können mit Sicher- heit sagen, daß es nur ein äußerst geringer Bruchteil des Gesamtumsatzes ist, der in Form elektrischer Energie auftritt. Selbst bei den elektrischen Organen der elektrischen Fische (Zitteraal, Zitterwels, Zitterrochen), bei denen die Elektrizitätsproduktion zu einem so auffälligen Phänomen wird, dürfte ein Vergleich der pro Zeiteinheit umgesetzten Stoff menge mit der gleichzeitig produzierten Elektrizität einen ungemein geringen Nutz- effekt für diese Art der Energieumwandlung ergeben. Wenn wir den Vorgang der Elektrizitäts- produktion m den elektrischen Organen, in denen sie so besonders handgreiflich hervor- tritt, etwas näher verfolgen, um einen Ein- blick in den Mechanismus der Energieum- wandelung zu erhalten, so ist zunächst zu konstatieren, daß die Elektrizitätsproduktion ungemein rasch zu ihrem Maximum ansteigt, das sie 2 bis 3 o (1 o = 7iogo Sekunde) nach dem Beginn erreicht. Diese Zeit des An- stieges der Produktion ist in hohem Maße von der Temperatur abhängig, so daß wenn der Anstieg bei 35° in 1,2 o beendet ist, er bei 20° schon 4,0 o erfordert. Es entspricht das einer Beschleunigung um das 2,2fachefür je 10°, oder, wie man sagt, der Faktor Q10 ist für diesen Prozeß = 2,2, ein Wert, der ganz denjenigen entspricht, die van't Hoff für die Beschleunigung chemischer Prozesse durch Temperatursteigerung fand. Unterhalb 20° wird der Faktor allerdings wesentlich größer. Wenn wir hieraus den Schluß ziehen, daß chemische Umsetzungen für die Produktion der elektrischen Energie eine wesentliche Be- dingung sind, so müssen wir erwarten, daß diese Umsetzungen, die exotherm verlaufen, zu einer Erwärmung der elektrischen Or- gane führen. Es ist nun für die Theorie der Energieumwandelung bei der Elektrizitäts- produktion von fundamentaler Bedeutung, daß Bernstein und Tschermak durchaus nicht in allen Fällen am tätigen elektrischen Organ eine solche Erwärmung nachweisen konnten. Bald trat eine gewisse Erwärmung ein, bald eine sichere Abkühlung, die bis zu 0,00044° C betrug. Wir müssen hieraus den Schluß ziehen, daß der Prozeß der Elektrizitätsproduktion ein endothermer ist, daß er mit Abkühlung vor sich geht, und daß wir in der manifesten Temperaturänderung des Organes nur die algebraische Summe aus der Erwärmung in- folge des gesteigerten Betriebswechsels und der Abkühlung beobachten, die bei der Elek- trizitätsproduktion selbst erfolgt. Eine derartige Abkühlung ist charakteristisch für sogenannte Konzentrationsketten, und wir dürfen uns dementsprechend die Vor- stellung machen, daß durch die chemischen Umsetzungen im Betriebsstoffwechsel eine Konzentrationskette geschaffen wird, deren Elektrizitätsproduktion wir dann beobachten. Ein weiter ins einzelne gehendes Bild der Energieuniwandelungen bei der Elektrizitäts- produktion können wir zur Zeit nicht ent- werfen. 6c) Die Produktion strahlender En- ergie. Noch weniger können wir über den Mechanismus der Produktion strahlender Energie bei den Umsetzungen in Organismen sagen, kennen wir doch auch für die leuch- tenden Reaktionen, die in der unbelebten Natur vorkommen, durchaus nicht die Be- dingungen, die bei ihnen die Emission von Licht ermöglichen. Das Tatsächliche über Lichtproduktion bei Organismen ist an an- derem Orte mitgeteilt (s. den Artikel „Li cht - Produktion durch Organismen"). Es sind anscheinend stets Oxydationen, die mit der Emission von Licht verbunden sind und so interessant dies Phänomen dem Biologen ist, so kann die Produktion leuchtender Strahlen 506 Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) in einer allgemeinen Energetik der Organismen nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen, da es — das läßt sich schon ohne nähere Unter- suchungen sagen — nur ein ganz minimaler Teil der bei den leuchtenden Reaktionen um- gesetzten Gesamtenergie ist, der als Licht erscheint. 6d) Die Produktion mechanischer Energie. Von allen Umwandelungen che- mischer Energie in andere Energiearten ist diejenige in die verschiedenen Formen mecha- nischer Energie am häufigsten untersucht worden. Die Produktion von Volumenenergie tritt am auffälligsten in den Erscheinungen des Turgors der Pflanzenzellen hervor, der durch die osmotische Leistung der im Zell- saft gelösten Stoffe zustande kommt. Formale Bedingung für das Zustande- kommen des Turgors ist die Undurchlässigkeit der Plasmahaut für diejenigen Stoffe, welche den osmotischen Druck erzeugen. Die Her- stellung dieser Undurchlässigkeit ist ein Werk des Baustoffwechsels der lebendigen Substanz. Die Stoffe, welche osmotisch wirk- sam sind, können anorganische Salze oder organische Verbindungen sein. So werden z. B. 41% des osmotischen Druckes in den Zellen des Sproßgipfels der Sonnenblume (Helianthus tuberosus) durch salpetersaures Kalium erzeugt. Bei der Zuckerrübe erhält der Rohrzucker, bei der Küchenzwiebel der Traubenzucker mehr als die Hälfte des os- motischen Druckes, bei den Blattstielen von Rhabarber (Rheum) die Oxalsäure 62% des Gesamtdruckes. Die Leistung der Zellen besteht darin, diese osmotisch wirksamen Stoffe, die ent- weder als solche von außen aufgenommen oder in der Zelle synthetisch erzeugt worden sind, in die Flüssigkeitstropfen (Vakuolen) auszuscheiden, in denen sie gelöst ihre os- motischen Wirkungen entfalten. Wie groß die Menge chemischer Energie ist, die auf- gewendet werden muß, um eine bestimmte Menge osmotisch wirksamer Stoffe in den Raum der Vakuolen hineinzubringen, ist unbekannt. Der osmotische Energiegehalt der Zellen ist ein relativ sehr bedeutender. Die Vo- lumenenergie (osmotische Energie) wird ge- messen durch das Produkt von Druck und Volumen. Die Höhe des osmotischen Druckes beträgt bei Landpflanzen 5 bis 11 Atmo- sphären (1 Atm. = 1 kg pro cm2), was der osmotischen Leistung einer Kalisalpeter- lösung von 1,5 bis 3,0% entspricht. Bei den Meerpflanzen ist der Druck um 12 bis 13 Atmosphären höher, die Druckdifferenz gegenüber dem umgebenden Medium ist infolgedessen annähernd dieselbe. Unge- wöhnlich hohe Drucke können manche Pilze erzeugen, die noch in Lösungen von 38% Natriumnitrat wachsen können, was einem Druck von 157 Atm. entspricht. Die Umwandelung chemischer Energie in Distanzenergie tritt uns in jenen Fällen in besonders handgreiflicher Weise entgegen, wo die Organismen Gebilde mit besonderen elastischen Eigenschaften produzieren. Solche festen, elastischen Bestandteile finden sich überall in lebenden Systemen und ihre Gegenwart ermöglicht es der flüssigen leben- digen Substanz alle möglichen Formen anzu- nehmen, die von der des Tropfens weit ab- weichen. Da wir über den Energieaufwand, den die Bildung einer elastischen Faser, einer Fischbeinspange, einer elastischen Zellhaut erfordert, nicht das geringste wissen, so könnten wir nur die elastischen Eigenschaften der hieranfhin untersuchten elastischen Struk- turen aufzählen, was für die Lehre von den Energieumwandelungen aber völlig uninteres sant wäre und daher vermieden sei. Am deutlichsten tritt die Umwandelung chemischer Energie in mechanische zutage, wenn Organismen aktive Bewegungen aus- führen, wenn sie äußere Arbeit leisten, die ja stets in der Weise geleistet wird, daß die Bewegungsmechanismen gegen einen äußeren Widerstand wirken. Aus den oben erwähnten Versuchen zur Bestätigung des ersten Hauptsatzes der mechanischen Wärmetheorie war schon der Unterschied in der Größe des Umsatzes bei ruhenden und (leicht) arbeitenden Menschen zu ersehen, denn während die ersteren im Gesamtdurchschnitt pro Tag 2275 Kai ver- brauchten, setzen die arbeitenden Versuchs- personen 3723 Kai. pro Tag um. In noch feinerer Weise läßt sich die Steigerung des Umsatzes bei Muskelarbeit demonstrieren, wenn man nach den Methoden von Zuntz in kurzdauernden Versuchen den Sauer- stoffverbrauch oder die Kohlensäureproduk- tion eines Menschen bei völliger Muskelruhe und bei bestimmten Bewegungen vergleicht. So scheidet z. B. bei völliger („vorsätzlicher") Muskelruhe ein Mensch 20,7 g Kohlensäure in der Stunde aus, bei gewöhnlicher Bettruhe schon 24,8 g und bei sogenannter „Zimmer- ruhe" bei der ruhiges Sitzen mit leichter Beschäftigung (Lesen, Schreiben, An- und Ausziehen usw.) ohne eigentliche Arbeits- leistung abwechselt, sogar 33,1 g, d. h. 50 bis 60% mehr, als im Grundumsatz. Lang- sames Heben und Senken eines unbelasteten Armes, 2 bis 3 mal in der Minute steigert den Sauerstoffverbrauch um 10 bis 20%. Hier sehen wir in der allerdeutlichsten Weise, wie die chemische Energie der Nahrung in die Bewegungsenergie umgesetzt wird und wir können in quantitativ durchgeführten Versuchen auch angeben, mit welchem Nutz- effekt diese Umwandelung erfolgt. Läßt man die Versuchsperson, bezw. das Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) 507 Versuchstier einerseits auf ebener, anderer- seits auf leicht geneigter Bahn gehen, so besteht die Arbeit, welche geleistet wird, — im ersten Fade nur in der Bewegung der Glieder zum Gange, im zweiten Falle außer- dem in einer Hebung des Körpers um einen bestimmten, meßbaren Betrag. Ermittelt man in beiden Fällen durch Bestimmung des Sauerstoffverbrauchs und der Kohlensäure- produktion den Energieumsatz, so gibt die Differenz beider Werte diejenige Energie- menge, welche erforderlich war, um die Hebe- arbeit zu leisten, woraus sich ohne weiteres der Energieumsatz berechnen läßt, der nötig ist, um die Hebearbeit von 1 mkg zu leisten. In dieser Weise wurden z. B. folgende Werte gewonnen: Tierart arbeitendes Gewicht kg Energieverbrauch für 1 mkg Steigarbeit mker Hund . Pferd . Mensch 26,9 456,8 76,0 3,10 2,91 2,80 Es wird also bei allen drei untersuchten Tieren etwa dreimal soviel Energie umge- setzt,- als in der Steigarbeit in nutzbarer Form zur Verwendung kommt, und man pflegt zu sagen, der Wirkungsgrad oder Nutzeffekt der Muskelmaschine beträgt ca. 33% (32,3 bis 35,7%). Diesen Wert des Nutzeffektes der Muskel- maschine, der für die theoretischen Vor- stellungen über die Art der Energieum- wandelungen im Muskel wichtig ist, kann man auch auf andere Weise bestimmen. Läßt man einen aus dem Körper herausgeschnit- tenen Muskel Arbeit von meßbarer Größe leisten, und bestimmt gleichzeitig die ge- bildete Wärmemenge, so ergibt sich gleich- falls der Anteil der Gesamtenergie, der als Bewegungsenergie erscheint. In solchen Versuchen kann der Wirkungsgrad auf 57% steigen, d. h. nur 0,43 der umgesetzten Gesamtenergie erscheinen als Wärme, 0,57 als nach außen geleistete Arbeit. Diese Tatsache schließt sogleich einen denkbaren Fall der Umwandlung chemischer Energie in mechanische aus: die Umwand- lung auf dem Wege über die Wärme. Für diese Art der Umwandlung, wie sie in unseren Dampfmaschinen und Explosionsmotoren er- folgt, ist der Wirkungsgrad um so größer, je höher die auftretenden Temperaturdifferenzen sind (s. S. 500). Der Wirkungsgrad, den man z. B. bei einem umkehrbaren Kreisprozeß (Carnot) erhalten kann, wenn die Temperatur- differenz 100° beträgt, ist nur 0,268 der umgesetzten Gesamtenergie. Die Temperatur- erhöhung tätiger Muskeln beträgt aber nur Tausendstel eines Grades, und so ist ohne weiteres klar, daß bei dem erwähnten hohen Wirkungsgrad, der Muskel nicht nach dem Prinzip einer Wärmemaschine arbeiten kann. Ein weiteres Moment, das die Energieum- wandlungen im Muskel charakterisiert, ist der Temperaturkoeffizient der einzelnen Prozesse, die in ihm ablaufen. Die che- mischen Prozesse, die in seinem Stoffwechsel ablaufen, haben einen positiven Temperatur- koeffizienten, der — wie für chemische Reak- tionen gewöhnlich — für 10° etwa 2 bis 3 beträgt. Dagegen ist es von höchstem In- teresse, daß die Kraft, mit welcher die Verkürzung im Muskel angestrebt wird, einen negativen Temperaturkoeffizienten hat. Die Spannung, die derselbe Muskel bei ver- schiedenen Temperaturen erzeugt, beträgt z. B. bei 0° 375 g\T, bei 18° 205 g/lv 10 0,2518. Da die chemischen Prozesse im Muskel alle einen positiven Temperaturkoeffizienten haben, so wird der negative Koeffizient des physikalischen Prozesses der Umwandelung chemischer in mechanische Energie vielfach verdeckt. Von den Energieformen, die für die Umwandlungen in der Muskelmaschine in Betracht kommen, Oberflächenenergie und Volumenenergie, hat nun die erstere einen negativen Temperaturkoeffizienten, so daß wir ihrer Beteiligung an den Energie- umwandelungen im Muskel eine wesentliche Rolle zusprechen müssen. In einer allge- meinen Energetik müssen wir uns mit diesen Andeutungen über das Prinzip der Energie- umwandlungen im Muskel begnügen, da die genauere Analyse des vitalen Geschehens im kontrahierten Muskel in das Gebiet der Muskelphysiologie gehört (s. den Artikel „Muskeln, allgemeine Physiologie"). Die Flimmerbewegung und amöboide Bewegung geben keine neuen Gesichtspunkte für die Lehre von der Umwandlung che- mischer Energie in Bewegung, und auch auf die Bewegungen durch Turgorschwankungen, wie sie bei Pflanzen vielfach vorkommen und sehr eingehend analysiert sind, können wir hier nicht näher eingehen. 6e) Produktion von Wärme. Wärme entsteht bei allen chemischen Umsetzungen, welche im Betriebsstoffwechsel der Organis- men ablaufen, als Nebenprodukt. Für die große Mehrzahl der Tiere und Pflanzen ist die Produktion dieser Energieform funk- tionell bedeutungslos, nur bei Säugetieren und Vögeln gewinnt sie eine lebenswichtige Bedeutung. Arbeit leistet diese Energieform innerhalb der Organismen nicht, wenigstens kennen wir keinen Mechanismus, den wir als Wärmemaschine ansprechen dürfen (Näheres über Wärmeproduktion bei Tieren siehe im Artikel „Wärmehaushalt der Organis- men"). 508 Energetik der Organismen (Allgemeine Energetik der Organismen) — Energielehre 7. Die Energieabgabe. Die Lehre von der Energieabgabe der Organismen gehört wesentlich in das Gebiet der speziellen Energetik. In den nach außen entleerten Sekreten wird chemische Energie abgegeben. Elektrische Energie geben nur die wenigen elektrischen Tiere — eine Anzahl Selachier, Teleostier und anscheinend eine Lungen- schnecke (Daudebardia) - - nach außen ab, bei allen anderen Organismen gleichen sich die entstehenden Potentialdifferenzen inner- halb der Organismen aus. Für die Abgabe strahlender Energie ist - soweit es sich um die Strahlen des sicht- baren Spektrums handelt die Durch- sichtigkeit der Gewebe eine notwendige Be- dingung und in den Leuchtorganen haben wir eine Reihe von Mechanismen, die diese Abgabe nach außen begünstigen. Dunkle Wärmestrahlen gibt jeder Körper ab, der wärmer ist, als seine Umgebung. Die Lehre von der Abgabe mechanischer Energie nach außen würde wesentlich auf eine Darstellung der Bewegungsmechanismen herauslaufen (vgl. hierüber den Artikel „Be- wegung, spezielle Physiologie"). Die Wärmeabgabe, die ja für den Haushalt des Warmblüterkörpers von hoher Bedeutung ist, erfolgt teils durch Strahlung, teils durch Lei- tung und teils durch Wasserverdunstung, die durch die Konvektionsströme der Luft stark erhöht werden kann, doch haben alle diese Dinge nur ein spezielles, vor allem hygie- nisches Interesse. Literatur. W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie. Bd. 2. Leipzig 1901—1904. — Rubner, Ge- setze des Energieverbrauchs bei der Ernährung. Leipzig 1902. — W. O. Atwater, Nette Ver- suche über Stoff- und Kraftwechsel im mensch- lichen Körper. In: Ergebnisse der Physiologie. Bd. 3. 190^. S. 497 — 622. — Adolf Magnus- Levy, Physiologie des Stoffwechsels im Handbuch der Pathologie des Stoffwechsels. Bd. 1. Berlin 1906. — Bernstein und Tschermatc, Unter- suchungen zur Thermodynamik bioelektrischer Ströme. Pflügers Arch. Bd. 112. 1906. S. 489 bis 521. — M. V. Frey, Allgemeine Physiologie der quergestreiften Muskeln. Nagel' s Handbuch der Physiologie des diensehen. Bd. 4. 1907. — K. Molisch, Purpurbakterien. Jena 1907. — F. Tnngl, Beiträge, zur Energetik der Onto- genese I—V. Pflügers Arch.' Bd. 93 — 121. 1903 — 1908. — J. Bernstein, Zur Thermo- dynamik der Musheikontraktion I. — Pflügers Arch. Bd. 122. 1908. S.129 — 185. — M. Verworn, Allgemeine Physiologie. V. Aufl. Jena 1909. — S. Garten, Elektrizitätsproduktion in Winter- stein's Handbuch der vergleichenden Physiologie. Jena 1910. — Lanehester, Akrodynamik. Deutsche Ausgabe. Bd. 1, 1909. Bd. 2, 1911. — A. Pütter, Vergleichende Physiologie. Jena 1911. A. Pütter. Energielehre. 1. Der Energiebegriff: a) Mechanische Energie: a) Grundlegende Prinzipien, ß) Eigenenergie und erster Hauptsatz. Kreisprozeß. 7) Kinetische und potentielle Energie. b) Wärmeenergie. Wärmeäquivalent. Robert Mayers Ansatz. c) Elektrische Energie. Strahlende Energie. Energiequantum. Wanderung der Energie. d) Andere Energieformen. Energiehaushalt der Erde. 2. Der Entropiebegriff: a) Isotherme, Adiabate und Entropie der Gase, b) Prinzipe von Carnot, Thomson. Umkehrbarkeit. c) Entropiezunahme. Zweiter Hauptsatz. d) Kollektive Energie, Zerstreuung und Ent- wertung der Energie. Unordnung. Wahrschein- lichkeit und Entropie. 3. Die Gleichartigkeit der Energieformen: a) Intensität und Extensität. ' b) Freie Energie, c) Abschluß. Als Energielehre oder unter dem von Rankine herrührenden Namen Energetik faßt man alle Betrachtungsweisen der theo- retischen Naturwissenschaft zusammen, die jeden Naturvorgang als Umformung der Energie ansehen. Ein Vorgang wird also energetisch betrachtet, wenn die Aufmerk- samkeit darauf gerichtet wird, daß während seines Verlaufs eine gewisse Leistungsfähig- keit ihre Form wandelt, ohne ihren Betrag zu ändern. — In ihrer weiteren Entwickelung stellt sich die Energetik die Aufgabe, zu zeigen, daß überhaupt alles, was wir an einem Vorgang quantitativ festzustellen ver- mögen, also alles, was Gegenstand der theoretischen Naturforschung sein kann, Energien mformung ist. — Und in ihrer vor- geschrittensten Entwickelungsstufe behaup- tet die Energetik dasselbe vom Geschehen überhaupt und erhebt den Anspruch, mehr zu sein als eine Art der Naturbetrachtung, nicht nur die einzig berechtigte Auffassung der Natur, sondern geradezu die einzig be- rechtigte Auffassung der Welt. 1. Der Energiebegriff. ia) Mecha- nische Energie. a) Grundlegende Prinzipien. Geschichtlich nahmen diese hochzielenden Ideen ihren festen Ausgangs- punkt von dem alten Satze, der als goldene Regel der Mechanik bezeichnet wird: Bei keiner rein mechanischen Vorrichtung kann im ganzen Arbeit gewonnen oder verloren werden, wenn unter Arbeit einer Kraft K nach einem Wege s das Produkt des Weges in die nach ihm genommene Kraftkomponente K.cos (K,s) verstanden wird: K.s.cos(K,s). So kann bei einer sogenannten einfachen Maschine, bei der nur zwei Kräfte in Betracht kommen, die als Kraft und Last unterschieden werden, wohl die Last weit größer sein, als die zu ihrer Ueberwin- dung erforderte Kraft, dafür ist dann aber der Weg der Last in dem Maße kleiner, als der der Kraft, daß die beiderseitigen Arbeiten Energielehre 509 sich tilgen oder die Kraft soviel Arbeit leistet, als die Last verbraucht. Daß sich die goldene Regel in der geschicht- lichen Entwickelung der Mechanik zu einem die theoretische Mechanik beherrschenden Prinzip vertieft hat, dem Prinzip der virtuellen Ge- schwindigkeiten oder besser der virtuellen Arbeiten, sei hier nur beiläufig erwähnt. Seine grundsätzliche Bedeutung liegt darin, daß es für jede mögliche, d. h. jede mit den Be- dingungen eines beliebig verwickelten Systems zu vereinbarende Bewegung gilt. Diese Eigen- schaft besitzen ihrem Ausgangspunkte gemäß auch die Sätze der Energielehre. Der Umstand, daß die goldene Regel schon der Erschütterungen wegen nicht streng, sondern nur um so genauer be- stätigt werden kann, je sorgfältiger diese vermieden werden, und daß sie sich nur be- stätigen läßt, wenn die Arbeiten der in jeder Maschine wirksamen Widerstände ge- hörig in Rechnung gestellt werden, verrät, daß sie ihre Ueberzeugungskraft einem tiefer liegenden Satze verdankt. In der Tat würde jede Abweichung irgendeiner Vorrichtung von der goldenen Regel die Folge haben, daß unbegrenzte Arbeits- fähigkeit erzeugt oder vernichtet werden könnte — man brauchte ja nur den von der goldenen Regel abweichenden Vorgang wie- derholt in dem einen oder in dem entgegen- gesetzten Sinne auszuführen, nachdem er durch Leergang rückgängig gemacht wurde. Der Grundsatz: kein „In der möglich, Natur dessen ist Ge- Vorgang samtwirkung Arbeitsleistung oder Ar- beitsverbrauch wräre" wird als Per- p etu um-mobile-Prin zip bezeichnet, weil seine Ablehnung gleichbedeutend mit der Behauptung wäre, es könnte eine Maschine gebaut werden, die sich trotz der unver- meidlichen Widerstände, ohne daß ihr von außen Arbeit zugeführt würde, also von selbst, in dauerndem Betriebe erhielte. Das Perpetuum-mobile-Prinzip wäre z. B. erschüttert gewesen, wenn sich nach der Ent- deckung der auffälligen Wirkungen, die radioaktive Stoffe auf ihre Umgebung aus- üben, nicht der Gegenwert gefunden hätte: diese Stoffe wirken, während sie sich innerlich umwandeln und dadurch ebenso wie eine ablaufende Uhr an weiterer Lei- stungsfähigkeit verlieren. Mit den Begriffen Kraft und Arbeit ist aufs Innigste der der Uebertragung ver- bunden: eine Kraft kann immer nur von einem Körper auf einen anderen aus- geübt werden, der eine leistet, der andere empfängt Arbeit. Die Galilei-Newton- sche Mechanik bringt diese Seite des Kraft- begriffes im Wechsehvirkungsprinzip zum Ausdruck, für die energetische Behandlung der BewTegungserscheinungen dagegen ist kennzeichnend, daß sie das in der Kraft- wirkung Uebertragene einheitlich erfaßt, nicht dualistisch durch Aktion und Reaktion darstellt, ß) Eigenenergie und erster Haupt- satz. Die bisherige Gedankenentwickelung findet nämlich einen zweckmäßigen Ausdruck, wenn man sich folgender Begriffsbildungen bedient: 1. Eine Vorrichtung, die gegen jede Arbeitsaufnahme und -abgäbe gesichert ist, soll ein abgeschlossenes System heißen. Innerhalb eines solchen sind Arbeitsaufnahmen und -abgaben möglich, nämlich zwischen seinen Bestandteilen, die ja selbst wieder Systeme sind, aber im allgemeinen nicht abgeschlossene. 2. Die algebraische Summe aller seit einem willkürlich, aber unveränderlich ge- wählten Zeitpunkte einem beliebigen System zugeführten Arbeitsbeträge soll Arbeits- fähigkeit oder Eigenenergie dieses Systems heißen. Die goldene Regel und das Wechselwir- kungsprinzip finden mit Hilfe dieser Be- griffe ihren einheitlichen Ausdruck in den einfachen Sätzen: „Die Eigenenergie eines abgeschlossenen Systems ist unveränderlich. Die Zunahme der Eigenenergie eines Systems gleicht der algebraischen Summe der gleichzeitig zu- gegangenen Arbeit." Leider haftet dem Begriffe der Eigenenergie der Mangel einer Unbestimmtheit an. Es war willkürlich, von welchem Zeitpunkt an man die einem Körper zugegangenen Arbeitsbeträge algebraisch summiert; ändert man diesen Zeit- punkt, so ändert man im allgemeinen die Zahl, die als Eigenenergie bezeichnet werden soll; es ist also nicht die Eigenenergie selbst definiert, sondern nur ihre Aenderung. Spricht man von der Eigenenergie, die einem Körper in einem gegebenen Zustande zukommt, so benutzt man eine nicht durch die Natur allein gegebene Zahl, vielmehr enthält diese Zahl eine von uns in die Beschreibung der Erscheinungen hineingetragene Willkür, genau wie die Angabe der Höhe eines Erdorts; erst der Unterschied der Eigenenergien eines Körpers in zweien seiner Zustände ist eine willkürfreie, die Natur allein wiedergebende Zahl, genau wie der Höhenunterschied zweier Erdorte. Nun findet das Perpetuum-mobile-Prin- zip seinen zweckmäßigsten Ausdruck in dem als Erster Hauptsatz der Ener- getik bezeichneten Satze: „Wie verschieden auch bei verschiedenen Uebergängen aus dem einen in den anderen Zustand eines Systems die einzelnen Arbeitsbeträge aus- fallen ' mögen, die dem System zugehen oder entzogen werden, die algebraische Summe aller auf dem einen Uebergang auf- tretenden Arbeitszugänge ist gleich der auf jedem anderen". Oder kürzer: „Die zwischen zwei Zuständen eines Systems mögliche Energieänderung ist durch diese 510 Energie! ehre Zustände allein völlig bestimmt." Oder: „Die Eigenenergie eines Systems in einem gegebenen Zustand ist durch diesen allein völlig bestimmt." Oder: „Die Eigen- energie ist eine Zustandsfunktion". Während z. B. das Schlagwerk einer Uhr Energie an die Umgebung abliefert, ändert sich der innere Zustand der Uhr dergestalt, daß der in ihr aufgespeicherte Energie- vorrat von Zeit zu Zeit neuer Energiezufuhr durch Aufziehen der Uhr bedarf, um zu neuer Abgabe befähigt zu werden. Die Eigen- energie eines Systems ist dem Kapital eines Unternehmens vergleichbar, das sich durch Ausgaben erschöpfen würde, wenn ihm nicht neue Werte zugingen; in jedem Augen- blicke lassen sich die mannigfaltigen Energie- formen zu einer Energiebilanz zusammen- fassen, wie die Kapitalwerte zu einer Ge- schäftsbilanz bei jeder Inventur. Die dem ersten Hauptsatz nicht selten gegebene Form „Die Energie der Welt ist konstant" bringt in überschwänglicher Weise die Meinung zum Ausdruck, daß ein System um so mehr als abgeschlossen betrachtet werden kann, je größer es ist. Führt man ein System aus einem Anfangs- zustande durch irgendeine Reihe von Zu- ständen wieder in den Anfangszustand zu- rück, so sagt man, daß das System einen Kreisprozeß ausgeführt habe. Daß er keine Energieänderung hinterläßt, wie sehr auch während der einzelnen Teile des Kreis- prozesses sich die Energie geändert haben möge, geht aus dem Gesagten genugsam hervor. v) Kinetische und potentielle Ener- gie. Solange der Kreisprozeß noch nicht ge- schlossen, das System noch nicht in seinen anfänglichen Zustand zurückgekehrt ist, spricht sich in der Aenderung der Eigen- energie die Zustandsänderung aus. Der einfachste Fall ist der, daß lediglich zur Aenderung des Geschwindigkeitszustan- des Arbeit nötig wird. Für diesen Fall weist die Mechanik nach, daß alle Arbeits- aufnahme als Zunahme der kinetischen Energie, Bewegungsenergie oder Wucht des Systems erscheint, wenn als kinetische Energie einer fortschreitend be- wegten Masse das halbe Produkt aus der Masse m und dem Geschwindigkeitsquadrat v2 verstanden wird: ^.m.v2. Beispielsweise ist die Eigenenergie eines mit 500 m/sec fliegenden Geschosses von 15 Gramm Masse gleich ^.lö.öMO8 Erg. Aendert sich während eines Vorgangs die kinetische Energie des betrachteten Systems, so läßt sich diese Aenderung in Glieder d(i .m.x'2) = mx'.dx' zerlegen, wobei x' die Geschwindig- keitskomponente nach einer festen Richtung x darstellt. Jeden solchen Elementarzuwachs kann man wieder in Arbeit vom Betrage mx'.dx'= mx".dx verwandeln und als solche dem System entziehen. Die Forderung, daß keine Aenderung des Systems möglich sein darf, deren Gesamt- ergebnis Gewinn oder Verlust mechanischer Ar- beit wäre, führt dann auf die Differentialglei- chungen der Mechanik. Auch wenn außer für die Geschwindig- keitsänderung noch zur Aenderung der Lage eines Körpers Arbeit erforderlich ist, gelingt es, durch einen Kunstgriff der theo- retischen Mechanik, diese Arbeit als Aende- rung einer Eigenenergie aufzufassen, sobald nur feststeht, daß gleichviel Arbeit erforder- lich ist, auf welchem Wege immer die Lagen- änderung vollzogen wird, daß also diese Arbeit nur von Anfangs- und Endlage, nicht vom Ueberführungswege abhängt. In diesem Falle, der übrigens erfahrungsgemäß immer dann eintritt, wenn die in Betracht kommenden Arbeitsleistungen ohne Wärme- änderungen verlaufen, kann man nämlich die Lageänderung als Zustandsänderung des Raumgebietes ansehen, durch das sich der Körper bewegt, und die erforderliche Arbeits- leistung als Aenderung der Eigenenergie dieses Raumgebietes. Um z. B. ein 15 Gramm schweres Geschoß auf irgendeine Weise in eine 10 m höhere Lage zu bringen, bedarf es einer Arbeit von 15.981.103 Erg, und es hindert nichts, zu sagen, daß die Eigen- energie des Raumgebietes, in dem die Hebung vollzogen wurde, um diesen Betrag zuge- nommen hat. Statt der Bezeichnung Ge- biet der Bewegung des Körpers, Gebiet der auf ihn wirkenden Kräfte, hat sich in wenig glücklicher Uebersetzung des englischen Na- mens die Bezeichnung Feld der Kraft- wirkung eingebürgert So nennt man dann jene Zustandsfunktion des Raumgebietes die Eigenenergie des Feldes oder die potentielle Energie des Körpers, auch die Eigenenergie seiner Lage Mathematisch wird die potentielle Energie durch eine Funktion der Lage, der Koordinaten allein, dargestellt, deren vollständiges Differential die während der Lagenänderung eingetretene gesamte Arbeitsabgabe des Körpers oder Arbeits- zunahme des Feldes darstellt. Die Summe der kinetischen und der potentiellen Energie des Körpers läßt sich nun als Eigenenergie eines aus Feld und Körper bestehenden geschlossenen Systems ansehen und ändert sich als solche überhaupt nicht. Beispielsweise kann man, anstatt sich die Eigenenergie eines in 10 m Höhe mit 500 m/sec dahinfliegenden Geschosses von 15 g Masse durch die Arbeitsleistungen der Schwerkraft beim Heben und Senken ver- ändert zu denken, auch das Geschoß mit seinem Felde, nämlich dem Felde der irdi- schen Schwerkraft, zu einem geschlossenen System vereinigt vorstellen, das^ .15.152.108 +15.981.103 Erg Gesamtenergie unveränder- lich besitzt, so daß während der Bewegung nur die kinetische auf Kosten der potentiellen Energielehre 511 Energie sich ändern kann und umgekehrt oder die Eigenenergie des Geschosses auf Kosten der des Feldes und umgekehrt. Die Bildung eines solchen geschlossenen Systems ist aber unzulässig, wenn die vom Luftwiderstande herrührenden Energieände- rungen in Betracht gezogen werden müssen; denn diese fallen auf verschiedenen Wegen trotz gleicher Höhenänderung sehr ver- schieden aus und sind auch mit Wärme- änderungen verknüpft. Der Satz der Mechanik von der Erhaltung der mechanischen Energie, nämlich der Satz, daß, so lange nur rein mechanische Aenderungen in Betracht kommen, die Summe aus kine- tischer und potentieller Energie unver- ändert bleibt, ist hiernach nur eine Einzel- folgerung aus den Grundlagen der Energetik und darf nicht, wie es häufig geschieht, als ihr Aus- gangspunkt angesehen werden. Ueber die physikaliche Natur der zu- nächst nur als Rechnungsgröße auftretenden Lagenenergie haben sich zwei Vorstellungs- weisen ausgebildet, die der Fern- und die der Nahe Wirkungen. Soweit es sich um Arbeitsleistungen der allgemeinen Gravi- tation, insbesondere der irdischen Schwere, handelt, hat sich bisher nur die erstere allgemein durchführbar erwiesen, während die Idee der Nahewirkungen, derzufolge die potentielle Energie auf Spannungen von der Art der elastischen Spannungen beruht, sich in allen anderen Fällen, vorzüglich bei Behandlung der durch elektrische und ma- gnetische Kräfte geleisteten Arbeiten, so bewährt hat, daß man geradezu die potentielle Energie vielfach als Spannungsenergie bezeichnet. ib) Wärmeenergie. Wärmeäqui- valent. Robert Mayers Ansatz. Die Entwickelung der Energetik begann erst mit der Frage, ob die bei Bewegungsänderungen, z. B. bei der Reibung, auftretenden Wärme- änderungen in einer quantitativ bestimmten Beziehung zu ersteren stehen. Erst diese Frage- stellung hat dazu geführt, die in der vor- liegenden Darstellung vorangeschickten ener- getischen Grundbegriffe zu entwickeln, und findet mit Hilfe derselben eine genaue Ant- wort, nämlich diese: In den Energiegesetzen kann mechanische Arbeit, also auch kinetische und potentielle Energie, durch Wärme er- setzt werden, und zwar sind 427 technische Meterkilogramme gleichwertig mit einer großen (Kilogramm-) Kalorie oder 419. 105 Erg gleichwertig mit einer kleinen Kalorie (Grammkalorie). Es empfiehlt sich deshalb, den Ausdruck Arbeit nicht nur für mechanische Arbeit anzuwenden, sondern auch die Wärme nach Erg zu messen und die so gemessene Wärme Arbeit zu nennen; denn dann gelten die Energiesätze wörtlich, auch wenn Wärme- änderungen auftreten. Die Zahl 419. 105 erscheint dann als das Wertverhältnis zwi- schen den Einheiten Erg und kleine Kalorie, genau so wie etwa 0,8 das Wertverhältnis der Einheiten Frank und Mark mißt. Wo mechanische Energie als solche verschwindet, und sich in Wärme umwandelt oder umge- kehrt, tritt eine kleine Kalorie an Stelle von 419. 105 Erg, wie beim Geldwechseln Markstücke an Stelle der Frankstücke treten. In der Eigenenergie eines Körpers sind die Zugänge von Wärme und mechanischer Arbeit, durch die sie angesammelt ist, nicht mehr zu unterscheiden, ebenso wie es bei der Bemessung eines Vermögens nicht auf die Art der Zugänge ankommt, sondern auf dessen rechnerischen Gesamtwert. Um die Zahl 427 technische Kilogramm- meter pro große Kalorie, das mechanische Wärmeäquivalent, festzustellen, bedurfte es einer langen Reihe von Experimental- untersuchungen. Zunächst war überhaupt die Tatsache festzustellen, daß während des Einflusses der Reibung oder anderer. Widerstände, oder während des Stoßes, also während mechanische Arbeit verschwindet, Wärme entsteht, was ja mit der alten Auffassung, daß die Wärme ein Stoff sei, schwer vereinbar ist. Der erste, der einen dahin zielenden Versuch durchführte, war Graf Rumford, der 1798 als Leiter der Arbeiten im Münchner Zeughaus nachwies, daß man die beim Kanonenbohren entstehende Wärme benutzen könne, um Wasser im Kanonen- lauf bis zum Sieden zu bringen (ein stumpfer Bohrer, der auf dem Boden des Kanonenlaufs saß, wurde von Pferden um- gedreht). Auch hat Davy 1798 nachgewiesen, daß beim Reiben trockener, vor äußerer Wärmezufuhr geschützter Eisstücke Wärme entsteht, die das Schmelzen des Eises be- wirkt. Aber zu einer Feststellung der quan- titativen Beziehung zwischen der verschwun- denen mechanischen Arbeit und der ent- wickelten Wärme ist man damals noch nicht vorgedrungen, hauptsächlich wohl, weil das Interesse zunächst nur auf die Bekämpfung der Stofftheorie der Wärme gerichtet war. Zur Feststellung des Wärmeäquivalentes gelangte zuerst der Heilbrunner Arzt Robert Mayer 1842 auf folgendem Wege. Mayer wußte, wie aus seinen Briefen hervorgeht, aus Experimentaluntersuchungen anderer, daß wenn ein Gas zusammengedrückt wird, es sich erwärmt, und nahm an, daß bei vollkommenen Gasen die so gewonnene Wärme der aufgewendeten Arbeit gleich- wertig ist, oder daß nach ihrer Abgabe, d. h. nach Wiederherstellung der usprüng- lichen Temperatur, das Gas auch die ur- sprüngliche Eigenenergie enthält: mit an- deren Worten, er nahm an, daß eine Gas- 512 Energielehre menge bei gleicher Temperatur dieselbe Eigen- energie besitzt, gleichgültig, unter welchem Drucke sie steht. Diese Annahme R. Mayers ist später — worauf an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll — von Joule experimentell nachgeprüft und bei angenähert vollkommenen Gasen angenähert bestätigt worden (vgl. S. 521). Wenn nun ein Gramm eines vollkommenen Gases, das den Druck p, das Volum v und die aus der Zustandsgieichung (1) p.v=R.6> folgende absolute Temperatur <-) besitzt, (R bezeichnet eine Konstante des Gases), durch Wärmezuführung in einen anderen Zustand übergeführt wird, bei dem Druck, Volum und Temperatur um dp, dv, d& ver- mehrt sind, so wird die eingetretene Aende- rung seiner Eigenenergie nach jener An- nahme durch die Temperaturänderimg d<-> allein bestimmt sein. Erfolgt die Temperatur- änderung bei konstantem Volum, so wird Cy.d^die eingetretene Energieänderung sein, wenn unter cv die spezifische Wärme des Gases bei konstantem Volum verstanden wird. Erfolgt aber dieselbe Temperatur- erhöhung bei konstantem Druck, so be- darf es allerdings größerer Wärme cp.d(-J, wenn cp die spezifische Wärme bei kon- stantem Drucke darstellt; für diesen Mehr- betrag ist aber vom Gase mechanische Arbeit geleistet worden. Wächst das Volum vom anfänglichen Betrage v um dv unter dem Drucke p, so ist p.dv die vom Gase abge- gebene, — p.dv die von ihm aufgenommene Arbeit, gemessen nach Erg, und wenn das mechanische Wärmeäquivalent mit $ be- zeichnet wird, beträgt letztere — p.dv:^ Kalorien. Nach dem Energiegesetze ist cv.d® = Cp.d0 — ^r.p.dv, denn beide Seiten dieser Gleichung stellen die nach Kalorien gemessene Aenderung der Eigenenergie beim Uebergang aus dem beiden Aenderungswegen gemeinsamen ur- sprünglichen in den beiden gemeinsamen Endzustand dar. Da bei konstantem Druck p das Volum um dv = d@ P größer wird, wenn die Temperatur um de steigt, so folgt Rj cvd@ = cp.d0 — ^,d& 3 = R oder <2> " cP-ev Für atmosphärische Luft ergibt sich nach Gleichung (1) aus den in ihrem Normalzustand gültigen Zahlen R = 760.13,596:1,293.273 = 29,3 m:°C, und wegen cp = 0,2375 Cal/kg, cv = 0,1684 Cal/kg folgt 3=424 Kilogrammeter pro Kalorie, während Mayer 1842 mittels der damals bekannten Zahlenwerte eine erheblich kleinere Zahl fand. Später ist das Wärmeäquivalent als eine der wichtigsten physikalischen Konstanten sehr häufig und auf sehr verschiedenen Wegen bestimmt worden. In hervor- ragender Weise hat vor allem Joule Jahr- zehnte hindurch seine reichen Mittel für diese Arbeiten verwendet. Bei Umwandlung der gewöhnlich als Wärme im Schließungs- bogen erscheinenden Stromenergie in mecha- nische Arbeit mittels eines Magnetelektro- motors fand er im Jahre 1843 jene Konstante gleich 460, die Reibung des Wassers in engen Röhren führte auf 422, die Verdichtung und Verdünnung der Luft auf 436, aber verbesserte Wiederholungen dieser Versuche und neue Versuchsreihen über die Reibung eines Schaufelrades in Wasser, in Walratöl und besonders in Quecksilber, sowie Versuche über die Reibung von Gußeisen auf Gußeisen führten ihn 1850 dazu, den Mittelwert 423,5 als besten Wert des Wärmeäquivalents aufzustellen. Wir übergehen die mannig- fachen Versuchsreihen der folgenden Jahr- zehnte, unter denen besonders die ausge- dehnten, in großem Maßstab ausgeführten Stoßversuche des Elsässers Hirn hervor- ragen, und wenden uns sogleich zu den auf höchste Präzision Anspruch machenden neueren Messungen. x\us Reibungsversuchen einerseits, wie sie Joule 1878, Rowland 1890, später Miculescu, sowie Reynolds und Moorby durchführten, andererseits aus Versuchen über Umwandlung elektrischer Arbeit in Wärme, wie sie Joule zuletzt 1867, dann Griffith 1893, Schuster und Gannon 1895, Calendar und Barnes 1902, Dieterici 1905 veröffentlichten, folgt nach der Zusammenstellung von Graetz als derzeit bester Wert 418,61. 105 Erg/cal. wenn das Wasserstoffthermometer und die 15°-Kalorie zugrunde gelegt werden. Das bedeutet in technischem Maße 426,62 Kilo- grammeter pro Kalorie in Berlin, 426,82 in München. Zu einem recht beachtenswerten Grade der Vollkommenheit haben sich auch die^ Vor- lesungsversuche zur Bestimmung des Wärme- äquivalents entwickelt. Bei dem Apparate von Puluj wird die Reibung, die ein um eine vertikale Achse gedrehtes kleines Quecksilberkalorimeter durch Bremsen erfährt, dadurch gemessen, daß der bremsende Hohlkörper an einem Hebel sitzt, der durch einen von einem Gewicht gespannten Faden in einer bestimmten Stellung erhalten wird. Slotteund Grimsehl haben auf ähnlichem Wege Apparate konstruiert, während Ayrton Energielehre 513 und Haycraft elektrische Arbeit in Wärme I nische Arbeit entwickelt werden, deren Be- umsetzen und dabei den durchströmten Manganin- trag J.dV ist, wenn mit — J.V das elektro- draht gleich als Rührer des Wasserkalorimeters magnetische Potential zwischen Strom und ausgebildet haben. ' Magnet bezeichnet wird. Da aber die Eigen- Die erste Ermittelung des Wärme- energie des aus Strom und Magnet bestehen- äquivalents ist übrigens bei Robert Mayer den Systems ungeändert bleibt, so ge- nur ein Baustein seines Gedankenwerkes, schieht alles auf Kosten des Energiezuganges allerdings ein sehr wesentlicher; was Robert aus dem Element; es muß daher bei Be- Mayer im Grunde beschäftigte, war doch wegung des Magneten die Stromstärke J der Aufbau des ganzen Ideenkreises, geändert werden, und zwar in dem Maße, daß den wir heute als Energetik bezeichnen und 3. J.^.dt = $. J2Wdt + J.dV dessen Grundzüge wir im Vorangehenden schon Aus dieser, die elektromagnetischen Er- kennen gelernt haben. In die Wissenschaft fahrungen zum Ausdruck bringenden Glei- eingebürgert hat sich dieser Ideenkreis chung folgt sogleich freilich nicht durch Robert Mayer, dessen Veröffentlichungen vielmehr lange unbe- achtet blieben. Neben Joules experimen- tellen Arbeiten gebührt vor allem der 1847 erschienenen Jugendarbeit von Hermann von Helmholtz das Verdienst, auf die neue Betrachtungsweise der Naturvorgänge, t- IfV.1 dV J~WT 3" dt (1) das ist das Induktionsgesetz bei magnetischer Induktion. Wirken zwei Ströme, die durch die In- dizes 1 und 2 unterschieden werden mögen, zu der Helmholtz selbständig gelangt aufeinander, so lauten die Gesetze, nach war, hingelenkt zu haben, aber auch ihm denen sich infolge der wechselseitigen elek- war auf diesem Gebiete kein schneller Er- trischen Induktion ihre Stromstarken regeln folg beschieden, weil es sich eben bei der Ausbreitung der Energielehre nicht allein um Anerkennung von neuen Tatsachen, sondern vielmehr um Anpassung an eine neue Betrachtungsweise der Natur handelt, JtWx-^r J,Wo = zl2- 1 d(J_2V) 3 dt 1 d(JxV) dt n-tmi.l-&ut7 • c+„i,i„„^ wobei V den allein von der gegenseitigen ic) Elektrische Energie. Strahlende Stromleiter abhängigen Induktions- Energie. Es wird kaum eine Anwendung der Grundgedanken geben, bei der so ein- koeffizienten bedeutet. Multipliziert man die erste dieser Gleichungen mit SJidt, fach klar hervortritt, ^was die_ Energ^elehje | die zweite mit g ^^ undVhrt eigentlich will, als Robert Mayers Theorie ^_iV?J . - , des Elektrophors. Daß durch Heben des Elektrophordeckels, also durch die mecha- nische Arbeit der Muskelkraft, die zur lieber dE=3 . A i Jidt+S^ o J2dt-S J^W^t (2) — sJa2W2dt— JiJodV. windung der elektrischen Anziehung zwischen Dem Energiegesetze ist also genügt, wenn Kuchen und Deckel erforderlich ist, die E = — J^V als Eigenenergie des Systems elektrische Arbeit entsteht, deren Erzeugung beider Ströme angesehen wird, der aus den der Zweck des Apparates ist — , das ist j chemischen Kräften der galvanischen Ele- eine der ersten und tiefsten Anwendungen mente im Zeitelemente dt die in den beiden des May ersehen Gedankenkreises gewesen. \ ersten Gliedern dargestellten Energiebeträge Helmholtz ist es durch ♦ energetische zugehen, während die in den beiden folgenden Betrachtungen gelungen, die Beziehung auf- ; Gliedern dargestellte Joulesche Wärme ab- zuklären, durch welche die bei den In- gegeben wird, ebenso wie die im letzten duktionserscheinungen hervortretende Glied angegebene mechanische Arbeit, die Stromerzeugung aus mechanischer Arbeit infolge der elektrodynamischen Kräfte beide mit der elektromagnetischen Erzeugung me- Ströme aufeinander leisten, chanischer Arbeit durch Ströme verknüpft Die elektrischen und magnetischen Er- ist Entwickelt ein galvanisches Element scheinungen bieten eines der wichtigsten die elektromotorische Kraft J und sendet Beispiele für die Anwendung des Begriffes die Stromstärke J durch den Widerstand W, der potentiellen Energie als der Energie so erzeugt es nach dem Joul eschen Gesetze des Feldes; ja, bei der Beschreibung der in dem Zeitelement dt die Wärme J2.W.dt elektrischen und magnetischen Erscheinungen = J.z/.dt. Es würde also den in ihm sich ist geradezu der Begriff Feld erst entstanden abspielenden chemischen Prozessen in der und hat zu der Idee des Maxwellschen Zeit dt die Zunahme J.^/.dt seiner Eigen- Aethers geführt, eines hypothetischen Stoffes, energie verdanken, wenn es diese nicht in dessen Spannungen diese potentielle Ener- wieder als Wärme abgeben müßte. Wenn gie beruht. sich nun im Felde des Schließungsbogens Die Ausbreitung der Energie durch den ein Magnet bewegt, so muß in der Zeit dt Aether, also die Strahlung, die wir als wegen der elektromagnetischen Kräfte mecha- Wärme und Licht empfinden, erfolgt nach Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. oo 514 Energielehre elektromagnetischen Gesetzen, die seit Max- well und Hertz Gegenstand der theoreti- schen Forschung sind. Unmittelbar auf elektromagnetischem Wege wird strahlende Energie erzeugt und aufgenommen beim Telegraphieren ohne Draht. Zum Gegenstand energetischer Untersuchungen wurde die Strahlung, indem zunächst der Gesamt- betrag der von einer Energiequelle, vor allem von der Sonne auf eine gegebene Fläche ausgestrahlten Energie ermittelt wurde; dann wurde die Verteilung dieser Energie auf die verschiedenen Wellenlängen, die Verteilung im Spektrum, untersucht und von Lummer das Strahlungsgesetz experimentell fest- gestellt. Schließlich hat Planck in einer Reihe theoretischer Arbeiten die Emission und Absorption, überhaupt die Energie der Strahlung aufgeklärt, indem er zeigte, nach welchen Gesetzen sie von schwingungs- fähigen Gebilden, Resonatoren, wie wir sie uns in den kleinsten Teilen oder Volum- elementen der Körper vorhanden denken, hervorgerufen wird und andererseits wieder in solche übergeht. Er ist dabei zu der Annahme genötigt worden, daß die Energie nicht in beliebig , kleine Beträge verteilt ist, sondern einem Resonator, dessen Eigenschwingung die Schwingungszahl v besitzt, nur in kleinsten Teilbeträgen h.v zu- oder entgehen kann, wo- bei die universelle Konstante h = 6,548 . 10 -'-7 erg.sec ist. Man kann diese unter Voraus- setzung einer gegebenen Schwingungsform nicht weiter zerlegbare Energiemenge das Energiequantum der betreffenden Schwin- gungszahl nennen. Der hierdurch angeregten Annahme, daß man sich die Energie als eine atomistisch konstituierte Substanz denken müsse, bedarf es nicht, um die tatsächlichen Beziehungen zu beschreiben. Die Ausbreitung der Energie im elektro- magnetischen Felde hat wohl auch vor- zugsweise die Anregung dazu gegeben, sich die Energie wie einen Stoff zu denken, der den Raum durchwandert, so daß jedem Teile des gesamten Energievorrates der Natur jederzeit ein bestimmter Ort zu- kommt. So bequem sich diese Vorstellungs- weise den Vorgängen der Strömung und Strahlung anpaßt, wie allen Kraftwirkungen, die sich durch Druck fortpflanzen, so wenig angemessen erscheint sie der Fortpflanzung einer Wirkung durch Zug. Die Energie z. B., die von der Welle eines Motors auf die einer Arbeitsmaschine durch einen Riemen übertragen wird, pflanzt sich entgegen der Bewegung des gespannten Riementeiles fort. Auch scheint in diesem Gedanken von der Wanderung und der Lokalisation der Energie ein beachtenswerter Vorzug der Energie-Idee preisgegeben zu werden, nämlich der, daß die Energielehre eine Beschreibung der Erscheinungen ohne die Beengung der gewöhnlichen Substanzvorstellungen er- möglicht: die Energie an sich ist, wie an keine bestimmte Form, auch nicht an be- stimmten Ort oder bestimmte Zeit ge- bunden. id) Andere Energieformen. *7 Ener- giehaushalt der Erde. Ein Anwendungs- gebiet der Energetik, das für ihre Entwicke- lung von entscheidender Bedeutung geworden ist, kann hier nur berührt werden, die Energieentwickelung bei chemischen Vor- gängen. Sie wird gemessen, indem man die bei einer chemischen Umsetzung entwickelte Wärme in einem Kalorimeter auffängt, bevor sie sich zerstreut; dabei muß entweder dafür Sorge getragen werden, daß während der Reaktion keine andere Energieform entsteht als Wärme, oder es muß die ander- weit entwickelte Energie in Rechnung ge- stellt werden. Soll die Energie nur in Wärme- form Zustandekommen, so muß man die Reaktion in einem geschlossenen Gefäße sich vollziehen lassen, der kalorimetrischen Bombe. Findet dagegen die Reaktion in einem offenen Gefäß, etwa unter dem Atmo- sphärendruck statt, der p Dynen auf den qcm betragen möge, so muß die mechanische Arbeit der sich entwickelnden Gase in Rechnung gestellt werden, nämlich bei Ent- wickelung von v ccm Gas die Arbeit p . v Aus chemischen Gründen ist es üblich, die Reaktionswärme tunlichst für das Mol anzugeben, d. i. für so viel Gramm der sich bildenden Substanz, als deren Molekular- gewicht anzeigt. Beispielsweise bedeutet die thermochemische Gleichung C + 20 ==C02 + 97600 cal, daß bei der vollständigen Verbrennung von 12 g amorphen Kohlenstoffs 97 600 Gramm- kalorien, alsQ für 1 g rund 8 Kilogramm- kalorien entstehen. Die bei konstantem Volum beobachtete Reaktionswärme, die auch Wärmetönung genannt wird, mißt offenbar den Unter- schied zwischen den Eigenenergien der Reaktionsprodukte und denen der Aus- gangsstoffe, so daß man sich geradezu in obiger Formel unter den chemischen Zeichen die Eigenenergien der bezeichneten Stoffe vorstellen darf. Sie sagt dann aus, daß die Eigenenergie der elementaren Be- standteile um 97 600 cal größer ist als die von 44 g Kohlendioxyd. Ist die Wärme- tönung, wie in diesem Beispiel, positiv, so heißt die Reaktion exotherm, weil sie Energie, zumeist in Wärmeform, nach außen abliefert, andernfalls endotherm. Ganz flüchtig kann hier nur auf die Energiemessungen physiologischer Vor- Energielehre .-)!:-> gänge bei Tieren und Pflanzen hingewiesen werden, nur das sei betont, daß gerade beim Studium der Lebensvorgänge der Wert eines von jeder besonderen Vorstellung über die Natur des Vorganges unabhängigen Begriffes, wie die Energie es ist, auffällig hervortritt (vgl. den Artikel „Energetik der Organismen"). Wie die Energielehre den Blick philo- sophierend auf das Ganze lenkt, daß er, statt am einzelnen haften zu bleiben, erkenne, wie eins in dem anderen webt und lebt, möge noch durch einen Hinweis auf den Energie- haushalt der irdischen Vorgänge hervor- gehoben werden. Daß alle Energie des irdischen Geschehens im wesentlichen von dem kleinen Teile der gesamten Sonnen- strahlung stammt, den die Erde ihrer Stellung im Weltenraume nach abzufangen vermag, ist bereits von den ersten Begrün- dern der Energielehre betont worden, und vor allem erschien ihnen die Einsicht ener- getisch bedeutsam, daß nicht etwa die je- weilig zugestrahlte Energie sogleich ver- wendet und wieder fortgestrahlt, sondern auf mannigfache Weise für spätere Verwen- dung aufgespeichert, in potentielle Energie umgewandelt, der Eigenenergie des Erd- ganzen einverleibt wird. So entstammt die Energie unserer Wasserfälle und Ströme auf- gestapelten Energievorräten, und das Leben und Verwesen der Pflanze, die Arbeit des Mus- kels, wie die geistige Tätigkeit erscheint uns als ein dauerndes Aufspeichern, Umsetzen, Ent- laden der Energie. Zeitlich am ausgedehn- testen ist die Aufspeicherung leicht umsetz- barer Energie durchgeführt in den Stein- kohlenschätzen der Erdrinde, in denen sich die vom Pflanzenleben einstiger geologischer Epochen der Sonne abgewonnene Energie für die Technik unserer Tage erhalten hat. Das Schicksal aller irdischen Energie aber, soweit sie nicht der Eigenenergie des Erd- ganzen einverleibt ist, ist die Ausstrahlung in den Weltenraum. 2. Der Entropiebegriff. 2a) Isotherme, Adiabate und Entropie der Gase. Die schnelle Entwickelung der Dampfmaschine mit ihren großen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen mußte das Interesse der l Physiker auf die Vorgänge richten, die bei Gasen und Dämpfen mit Umwandlung von Wärme in mechanische Arbeit verknüpft sind. Wie Robert Mayer 1842 durch Nach- denken über diese Verknüpfung zur ersten quantitativen Feststellung des Wärmeäqui- valents und damit zur wesentlichen Be- gründung der Energieanschauungen gelangt i ist, so glückte es Sadi Carnot schon 1824, aus derselben Quelle Folgerungen abzuleiten, die in ihrer späteren Entwickelung durch Clausius zum Entropiebegriff führten. Bedenken wir zunächst, daß nach der Zustandsgieichung (1 b Gleichung (1)) der vollkommenen Gase p.v = R. <-> alle Zustände inneren Gleichgewichts einer Gasmasse von 1 Gramm, denen gleiche Temperatur zukommt, auch gleiches Produkt p.v zeigen müssen. Fig. 1. Sie lassen sich also im Koordinatensysteme (p, v) graphisch darstellen durch die Punkte einer gleichseitigen Hyperbel, die deshalb als Isotherme des vollkommenen Gases bezeichnet wird. Sie ist nach R. Mayers Annahme (1 b) zugleich die Linie konstanter Eigenenergie des Gases. Schreitet das Gas aus einem Zustande dieser Linie in den benachbarten, so leistet es die mecha- nische Arbeit p.dv und nimmt ebensoviel Wärme auf; der schraffierte Flächenstreifen in der Figur stellt diesen Betrag dar. Geht also das Gas aus einem durch den Punkt A nach Druck (A'A) und Volum (OA') dargestellten Zustande in einen durch Punkt B dargestellten Zustand gleicher Temperatur und gleicher Eigenenergie über, so gibt die Fläche A'B'BA die bei der angegebenen Aenderung ab- gegebene mechanische Arbeit und aufge- nommene Wärme an. Ueberlegen wir nun weiter, in welche Zustände ein Gas aus einem gegebenen An- fangszustande übergeführt werden kann, ohne daß ihm Wärme entzogen oder zu- geführt wird. Nach dem eben Be- merkten muß sich hierbei die Temperatur ändern. Erhöht sie sich um dw, so wächst die Eigenenergie um cv.dw; denn wenn das Volum sich nicht ändert, findet überhaupt kein Zugang mechanischer Arbeit, sondern nur Wärmezugang im angegebenen Be- trage statt; ändert sich aber auch das Volum, so ändert sich doch nicht der Energie- betrag, er hängt ja nach dem ersten Haupt- satz nicht von der Art des Uebergangs ab. Nun kann aber, wenn kein Wärmezu- oder -abgang stattfindet, die ganze Zunahme der Eigenenergie nur durch Zugang mecha- 33* 516 Energielehre nischer Arbeit zustandegekommen sein. Da- her folgt cv.d@= — ^.p.dv. Nach den Gleichungen 1 b (1) und (2) läßt sich dafür setzen: oder cv.d@ d© Cp Cv .0.dv -(x-1) dv wobei x = cp : cv als Verhältnis der spezi- fischen Wärmen eingeführt wurde. Die Integration dieser Differentialgleichung führt zu dem Ergebnis, daß 0.V*—1 konstant, oder unter Berücksichtigung der Zustands- gieichung pv=Rr^, daß pv* konstant bleiben muß bei allen Gleichgewichtszu- ständen des Gases, die ohne Wärmezu- oder -abgang ineinander übergeführt werden können. Die Gesamtheit aller solchen Gleich- gewichtszustände nennt man eine Adia- bate; sie wird graphisch durch eine Kurve P A Fig. dargestellt, die stärker zur v-Achse abfällt, als die Isotherme, auf der das Produkt p.v konstant ist, weil x größer als 1, bei den meisten Gasen 1,40 bis 1,41 ist. Denkt man sich durch jeden Punkt, der durch p und v gegeben ist und somit einen Gleichgewichtszustand des Gases vorstellt, die Isotherme gelegt, sowie die Adiabate, so wird die Ebene der bildlichen Darstellung mit 2 Kurvenscharen überzogen. Die auf allen Punkten einer solchen Kurve kon- stanten Zahlenwerte pv = R.<9, bezw. p.v*, wachsen von Kurve zu Kurve, wenn man in der Bildebene nach außen fortschreitet. 0 -v Fig. 3. Nach diesen Vorbereitungen stellen wir uns mit Sadi Ca r not eine Maschine vor, in der 1 Gramm eines vollkommenen Gases teils isotherm, teils adiabatisch aus dem Gleichgewichtszustände pl5 vx, 6>x, der (Fig. 4) durch den Punkt Pj dargestellt sein möge, in den Gleichgewichtszustand p2, v2, 6>2, durch P2 dargestellt, übergeführt wird. Um dies zu bewerkstelligen, lege man durch Px die Isotherme, durch P2 die Adiabate, die sich inP' schneiden mögen, d. h. auf einen Zustand des Uebergangs aus der isothermen in die adiabatische Aenderung hinführen, für den p', v', <-/ die Bestimmungsstücke sein mögen. Offenbai ist 6/=01,p1Vj = pV,p8va* = p V«, dal) er Energielehre 517 prozeß, der den Zustand Px über P' in P2 überführt und über P" in den Anfangszustand zurückkehrt, der für die Thermodynamik grundlegende Carnotsche Kreisprozeß, bewirkt, daß die zugegangene Wärme Q'1,2 teils in Arbeit Q'ii2 — ( — Q"2,i) umgeformt, teils als Wärme ( — Q'Vi) abgegeben wird. Durchläuft das Gas die Gleichgewichtszu- stände von Pa bis P", dann von P" nach P2, also in umgekehrter Folge, als sie soeben betrachtet wurde, so bedarf es nach dem Energiegesetze, da bei Umkehrung der Folge alle Arbeitsleistungen, wie alle Aende- rungen der Wärme und der Energie ent- gegengesetzt gleiche Werte annehmen, der Wärmezufuhr Q"i,2=+8-©2Cvlg Pivi*' Die auf dem gesamten Wege P^Tg erforderliche Wärme Q'x,2 ist gleich der auf PjP' allein erforderlichen, wird also durch die unter der Hyperbel PXP' liegende Fläche gemessen, die zu v' V' /* fdv v' Q'j,8= / p.dv=E.@J — =B.Ö!.lg- Vi R0! Der Vergleich dieser auf dem Wege P^'To benötigten Wärmezufuhr mit der oben als Q'i,-> berechneten, auf dem Wege PjP'Pg erforderlichen, zeigt, daß oder daß der Quotient der zugeführten Wärme und der Temperatur der Zuführung auf den beiden von Px nach P2 führenden Wegen denselben Wert besitzt. Für den Carnotschen Kreisprozeß aber besteht die Gleichung Q'1.2 , Q\i 0, = 0. (1) nun mit Clausius eine v. = — tIi p2-v K— 1 ° Pi-V^ gefunden wird. Bedenkt man, daß x=cp:Cv und daß nach der Gleichung lb (2) so fotet R — 3(cp Cv)> Q'l,2 = S-©l" lK P2.v8* Pl-V' Nun kann man aber auch vom Zustande P2 nach Pj gelangen, indem man zunächst Zustände auf der Isotherme von P2, dann solche auf der Adiabate von Px durchläuft, wobei P" als Uebergangspunkt erscheint. Die dafür erforderliche Wärmemenge ergibt sich aus der eben angestellten Betrachtung, wenn nur überall 1 mit 2 vertauscht wird. Sie ist also eine negative Zahl, wenn Q'1.2 eine posi- tive ist, wie im Falle der Figur. Der Kreis- 0X Führt man Funktion ein S = 3.cv.lgpv'+C, (2) die für jeden Gaszustand p, v, <-) insoweit bestimmt ist, daß nur eine Konstante C willkürlich bleibt, so kann man sagen, daß jeder der beiden von irgendeinem Gleich- gewichtszustande P1 nach irgendeinem an- deren P2 führenden aus einer Isotherme und einer Adiabate bestehenden Wege eine Wärmezufuhr Qlj2 erfordert, die zwar nicht etwa wie die gesamte Energiezufuhr unab- hängig ist vom eingeschlagenen Wege, aber die Eigenschaft hat, daß der Quotient ^-Si-S» (3) vom Wege unabhängig ist. In dieser Form verträgt der Satz eine wichtige Erweiterung auf beliebige Ueber- gangswege. Führt man nämlich das Gas aus Pj nach P2 über auf einem ganz be- liebigen aus lauter Adiabaten und Iso- thermen zusammengesetzten Wege, so wird für jede einzelne Isotherme und die darauf folgende Adiabate, also auch für die Summe aller gelten 2 _— S2 — Sl5 (4) 518 Energielehre A P 0 >v Fig. 5. aulgenommenen wobei iille vom Körper Wärmemengen positive, alle abgegebenen negative Beiträge zur Summe Z liefern. Da nun bei hinreichender Verkleinerung der adiabatischen und isothermen Schritte P 0 >v Fig. 6. schließlich jeder Uebergang wie PXP4 in Fig. 5, AB in Fig. 6, als ein aus solchen Schritten bestehender aufgefaßt werden darf, wenn er nur aus einer Folge von lauter Gleichgewichts- zuständen besteht, so gilt die Gleichung (4) all- gemein: jene durch die zur Aenderung er- forderlichen Wärmemengen und ihre Zugangs- temperaturen bestimmte Summe ist eine Zustandsfunktion. Die Funktion S ist von Clausius als Entropie bezeichnet worden, und Gleichung (2) stellt die Entropie eines Gramms eines vollkommenen Gases dar. Die Entropie ist neben der Energie die wichtigste Funktion, zu der die Energetik geführt hat. Ihr Wert ist bei verschiedenen Körpern verschieden, wie der der Eigen- energie; wie die Zunahme der Eigenenergie immer die Summe aller Arbeitszugänge dar- stellt, so gleicht die Zunahme der Entropie der Summe aller Quotienten aus Wärme- zugang und Temperatur des Wärmezugangs, gebildet für eine beliebige Folge von Gleich- gewichtszuständen, die. durchlaufen werden müssen, um den Anfangs- in den Endzustand überzuführen. 2b) Prinzipe von Carnot, Thomson. Umkehrbarkeit. Um zu zeigen, daß diese im Vorangehenden nur für vollkommene Gase bewiesenen Eigenschaften für be- liebige Stoffe gelten, ist eine Erkenntnis nötig, die im wesentlichen von Sadi Carnot den Naturvorgängen gleichsam abgelauscht und in ihrer Tragweite erkannt worden ist, das Carnotsche Prinzip: „In der Natur ist kein Vorgang möglich, dessen Gesamtwirkung Wärmeübergang von niederer zu höherer Temperatur wäre'". In jeder Dampfmaschine wird Wärme von hoher Temperatur dem Kessel ent- nommen, mittels des Dampfes im Zylinder in mechanische Arbeit verwandelt, und soweit sie nicht dazu verwendet wird, dem Kondensator zugeführt, der durch Kühl- wasser auf niederer Temperatur gehalten ist. Den abgekühlten und kondensierten Dampf kann man wieder mit einem geringen Arbeitsaufwand dem Kessel zuführen, so daß der Dampf beliebig oft einen Kreis- prozeß durchläuft und immer wieder auf seine ursprüngliche Eigenenergie zurück- kommt, während jeder Arbeitsperiode Wärme in mechanische Arbeit umwandelnd und von höherer zu niederer Temperatur über- führend. Dieser Kreisprozeß der Dampf- maschine läßt sich, soweit er uns hier inter- essiert, durch das Schema darstellen : Wärme von Wärme von hoher Temp. niederer Temp. Kessel — >- Zvlinder — >- Kondensator l y mechanische Arbeit Energielehre 519 Eine Maschine zur Kälteerzeugung oder Kältedampfmaschine kann durch dasselbe Schema versinnlicht werden, nur sind die Pfeile sämtlich umzukehren; ihr Dampf verbraucht mechanische Arbeit, um einem Kühlraum Wärme zu entziehen und diese bei hoher Temperatur abzuliefern. Nun lehrt schon die Tatsache der Wärme- leitung durch feste Körper, daß der Ueber- gang der Wärme von hoher zu niederer Temperatur, also im Sinne der Pfeile, in der Natur möglich ist, wenn keine mecha- nische Arbeit abgegeben wird, wenn nichts weiter geschieht, als Wärmeübergang; der umgekehrte Uebergang kommt aber ohne gleichzeitige Arbeitsleistung in der Natur nicht vor: das ist, was das Carnotsche Prinzip hervorheben will. Läßt man nun irgendeinen Körper, etwa den Wasserdampf in der Dampfmaschine, einen Kreisprozeß ausführen, während dessen bei hoher Temperatur <-)x einer Wärmequelle (Kessel) ein positiver oder negativer Wärme- betrag Qx vom Körper aufgenommen, bei niederer Temperatur 6>2 eines Wasserspeichers (Kondensator) aber Q2 aufgenommen oder, was dasselbe ist, — Q2 abgegeben wird, so muß nach dem Energiegesetze die mechanische Arbeit A= Qi-1- Q2 abgeliefert werden. Diese werden, um mittels eines Gases durch eine Reihe von Qi , Qa_QS , Q% Jl_l ©i ®a ©i ©2 V©i ©2 und unter Berücksichtigung der Gleichung (1) und der Voraussetzung, daß &{>&%, ergibt sich Qi ,Qi @] @2 < I) (2) möge verwendet vollkommenen lauter Gleich- gewichtszuständen die Wärme Q'2 von der Temperatur <9a in Wärme Q\ von der Tem- peratur <->1 überzuführen, so daß A=Q'1+Q'2 also Qi— Qi'+ Q2-Q'2=o. Bei diesem vollkommenen Gase wird dann aber auch nach 2 a Gleichung (1) die Be- ziehung bestehen O'i (1) Q's ©i ii. Das schließlich Gesamtergebnis daß die ©2 beider Prozesse wäre Wärmequelle höherer Temperatur die Wärmemenge Qx— Q\ ab- gegeben und der Wärmespeicher niederer Temperatur <9a die Wärmemenge Q2— Q/2 erhalten hätte. Nach Carnots Prinzip darf Qx — Q'1 = — (Q2— Q'2) nicht negativ sein, also Qi>Q'i, Q2< Q'2- Denn wäre z. B. Q2— Q'2 positiv, so hieße das ja, bei der niederen Temperatur sei Wärme aufgenommen und auf höhere über- führt worden. Setzt man, unter p eine Zahl verstehend, die positiv oder Null ist, Qi=Q'i+p,' Q2=QV- p. so folgt für jeden Kreisprozeß, bei dem nur zwei Temperaturen für die Wärmeaufnahme oder -abgäbe in Betracht kommen. Da aber jeder beliebige Prozeß mittels des an Figur 6 besprochenen Verfahrens in solche einfache Prozesse zerlegt werden kann so gilt für jeden Kreisprozeß *§<0 (3) Den Quotienten Q:^ bezeichnete Clausius als Aequivalenzwert der Verwand- lung der Wärme Q aus Arbeit. Wenn ein solcher Kreisprozeß u mkehrbar ist, d. h. wenn der arbeitende Körper alle im Kreisprozesse durchlaufenen Zustände auch in umgekehrter Folge durchlaufen kann, z. B. an jeden der benötigten Wärme- speicher, aus dem er im Kreisprozeß Wärme empfing, jetzt ebensoviel Wärme abgibt, so würde wegen der Vorzeichenänderungen für den umgekehrten Verlauf die Bezie- hung S— >o © u gelten, die mit der vorigen nur dann nicht im Widerspruch steht, wenn das Gleichheits- zeichen allein gilt. Daraus schließt man, daß für alle um- kehrbare]! Kreisprozesse die Gleichung £ Q =0 (4) u © gilt, dagegen für nichtumkehrbare Kreis- prozesse nur behauptet werden kann, daß Die oben (2 a) betrachteten Kreispro- zesse des vollkommenen Gases sind umkehr- bare Kreisprozesse, weil sie aus einer Folge von lauter Gleichgewichtszuständen bestehen. Freilich sind diese aus Gleichgewichtszu- ständen bestehenden Prozesse nur theore- tische Grenzvorstellungen: man kann alle wirklich während eines Prozesses in der Natur vorkommenden Aenderungen mehr und mehr verlangsamt denken, die sie bedingende Gleichgewichtsstörung sehr gering sich vor- stellen, aber völlig verschwinden kann die Gleichgewichtsstörung nie, ohne daß die Aenderung aufhörte, Aenderung zu sein. Es wird also bei wirklichen Prozessen immer nur angenähert das Gleichheitszeichen in obigen Ansätzen zutreffen, tatsächlich 520 Energielehre ist immer £(Q:@) von Null verschieden, in nahe umkehrbaren Vorgängen sehr wenig, aber die Behauptung gilt, daß der Betrag immer nur negativ sein kann. An Stelle des Car not sehen Prinzips, auf dem die vorangehenden Darlegungen aufgebaut sind, benutzte William Thom- son, der spätere Lord Kelvin, 1852 einen Satz, dessen Inhalt man in den Worten wiedergeben kann: „In der Natur ist kein Vorgang möglich, dessen Gesamtwirkung Aufnahme von Wärme aus einer Wärme- quelle von unveränderlicher Temperatur und Abgabe der äquivalenten mechanischen Arbeit wäre." Dieses Thomsonsche Prinzip ist gleichwertig mit dem Car not sehen. Denn gäbe es einen Vorgang, der entgegen dem Thomsonschen Prinzip nach dem Schema < — Wärme y mechanische Arbeit Wärme einer unveränderlichen Temperatur lediglich in Arbeit umwandelte, so könnte man die so gewonnene Arbeit benutzen, um die Wärme jener Wärmequelle auf höhere Temperatur zu bringen nach dem Schema mechanische Arbeit Wärme höherer I Wärme niederer gefolgerten Sätze durch neue Tatsachen er- schüttert würde. 2c) Entropiezunahme. Zweiter Hauptsatz. Gleichgültig, auf welchem umkehrbaren Wege man irgendeinen be- stimmten Gleichgewichtszustand 1 eines be- liebigen Körpers in einen anderen bestimmten Gleichgewichtszustand 2 überführt, die Summe aller zugegangenen Wärmebeträge, jeder dividiert durch die Absoluttemperatur 1 der Wärmequelle, aus der er stammt, muß sich immer vom gleichen Betrage ergeben: 2—-= S2 — Sj. im, •>) & (1) Temperatur <- Temperatur Vorgänge wäre Nach Ausführung beider nichts geschehen, als Wärme von niederer auf höhere Temperatur gebracht worden, was nach dem Car not sehen Prinzip in der Natur ausgeschlossen ist Ostwald hat eine Vorrichtung, die unbegrenzt Wärme in Arbeit verwandeln könnte, ohne daß sonst etwas geschähe, ohne daß insbesondere die Temperatur ge- ändert würde, ein Perpetuum mobile zweiter Art genannt; Thomsons Prin- zip ist demnach als Prinzip von der Unmöglich- keit eines Perpetuum mobile zweiter Art zu bezeichnen. Ein solches wäre z. B. vor- handen, wenn man einen Teil des gewaltigen Wärmegehaltes des Meeres benutzen könnte, um daraus mechanische Arbeit herzustellen, ohne daß irgendeine andere Veränderung einträte. Wie die Unmöglichkeit des ge- wöhnlichen Perpetuum mobile, des Per- petuum mobile erster Art, zur Begründung des ersten Hauptsatzes der Energetik, des Energiesatzes, dient, so wird durch die Un- möglichkeit des Perpetuum mobile zweiter Art der zweite Hauptsatz der Energetik, der Entropiesatz, begründet. Die Bedeutung der Perpetuum mobile- Sätze liegt vor allem darin, daß sie die unge- heure Tragweite kennzeichnen, die es haben würde, wenn einer der aus ihnen logisch Denn ergäbe sie sich auf einem dieser Ueber- gänge größer oder kleiner, etwa S2— Sa + F, so schließe man diesen Uebergang durch die Umkehrung eines anderen, auf der sie — (S2— Si) ist, zum umkehrbaren Kreis- prozeß. Die in Rede stehende Summe würde sich für letzteren zu (S2- Sx + F) - (S2— Si)=+F ergeben, muß aber nach 2 b Gleichung (4) Null sein. Man darf also eine Zustandsfunktion S einführen, deren Aenderung von Zustand zu Zustand unabhängig vom Uebergang ist, nämlich auf jedem umkehrbaren Uebergang im gleichen Betrage 2(Q:<9) ge- funden wird. Willkürlich bleibt freilich — ganz wie bei der als Energie eingeführten Zustandsfunktion — der Wert von S für einen der Zustände, nur die Aenderung ist definiert. Diese Zustandsfunktion S heißt die Entropie des Körpers. Neuerdings hat Nernst mit Erfolg die An- nahme durchgeführt, daß die Entropie jedes festen oder flüssigen Stoffes im absoluten Null- punkt der Temperatur Null sei. Durch diese Annahme wird die Willkür in der Wahl der Entropiekonstanten beseitigt. Führt aber ein nicht umkehrbarer Pro- zeß den Gleichgewichtszustand 1 in den Gleichgewichtszustand 2 über, so wird die für diesen gebildete Summe S(Q:ö) von S2— Sx abweichen können. Ist sie z. B. S2— Si+F, so kann man zwar wieder den Uebergang durch die Umkehrung eines anderen, umkehrbaren, auf der sie — (S2— SD ist, zum Kreisprozeß schließen, und für diesen ist die Summe +F; aber dieser Kreisprozeß ist nicht mehr umkehrbar, weil einer seiner Teile es nicht ist; man kann also nicht be- haupten, daß F Null sei, nur positiv kann es nach 2 b Gleichung (5) nicht sein. Für beliebige Uebergänge von 1 nach 2 gilt dem- nach S-I^s^-Si. (2) (1,2) & l 1 W Hier ist es zweckmäßig, in der Bezeichnung der Absoluttemperaturen & daran zu er- Energielehre 521 imiern, daß diese nichts mit dem arbeiten- den, Wärme aufnehmenden und abgebenden Körper zu tun haben, sondern die Tempera- turen der Wärmequellen oder Wärme- speicher vorstellen, aus denen er Wärme erhält und an die er Wärme abgibt, ohne daß die Temperatur des Speichers sich än- dert. Schreibt man (-ja für die Temperatur jedes außerhalb des wirkenden Körpers vorhandenen, während des Prozesses vor- übergehend mit ihm in Wärmeaustausch tretenden Wärmespeichers, so erscheint obige Formel so: (2a) zR< -Sa (1,2) ®a = Finden innerhalb des betrachteten Systems Wärmeübergänge statt, so denke man sich jeden durch Vermittelung von außerhalb des Systems befindlichen Wärme- speichern ausgeführt, um auch für diesen Fall die vorstehende Betrachtungsweise an- zuwenden. Die Temperaturen <-> des den betrach- teten Prozeß ausführenden Körpers werden nun keineswegs mit den Temperaturen der Wärmespeicher von unveränderlicher Tem- peratur 0a übereinstimmen, die er jeweilig berührt; bei Wärmelieferung vom Speicher an den Körper wird vielmehr 0a ><9, bei Wärmeabgabe vom Körper an den Speicher <-)>(-) z.. Vor allem aber ist der Fall möglich, daß sich von einer Temperatur des Körpers zeitweilig gar nicht reden läßt, nämlich wenn er sich nicht in einem Zustande des Gleich- gewichts befindet. Man kann nur von Temperatur eines Körpers oder Körperteils reden, dessen innere Zustände so wenig schwanken, daß er mit einem temperatur- messenden Instrumente für .kurze Zeit in ein hinreichend genau aufrecht erhaltenes Temperaturgleichgewicht treten kann. Nur annähern kann man sich dem Falle, daß während des ganzen Prozesses (1,2) aus- schließlich Gleichgewichtszustände durch- laufen werden und infolgedessen die Eigen- temperatur des Körpers der der Wärme- Nur in diesem Falle, dem Prozesse, wird <9a durch man erhält die Gleichung Speicher gleicht, umkehrbaren (■> ersetzbar und (la) Q @ — S2— Sx. (1,2 Erweitert man das betrachtete System, j nötigenfalls durch Einbeziehung der für den Vorgang erforderlichen Wärmespeicher in das System, zu einem abgeschlossenen j System, das nun keine Wärmezu- und -ab- gänge mehr erleidet, so wird für jede Aende- rung (3) S.-S^O sein: die Entropie eines abgeschlos- senen Systems kann nie abnehmen. Verliert z. B. ein Teil eines abgeschlossenen Systems die Wärmemenge Q bei der Temperatur 9 und nimmt sie ein anderer Teil bei der niedrigeren Temperatur (-)' auf, so erleidet das System die Entropieänderung die wegen <-)><-/ eine positive Größe ist. Als ein zweites Beispiel diene der S. 512 erwähnte Joule sehe Versuch. Dehnt sich ein Gramm eines vollkommenen Gases vom Volum v aus, indem es in ein Vakuum vom Volum v eindringt, so hat es schließlich das Volum 2v; nach Herstellung des Gleichgewichtszustandes hat es dem Jouleschen Versuche zufolge wieder die ursprüngliche Temperatur, zeigt also nach der Zustandsgieichung einen Druck, der halb so groß ist als der ursprüngliche p. Nach Gleichung 2a (2) ist hier S8 — Sj = 3cv lg y P-(2v)* — 3cv lgpv* und mit Rücksicht auf Gleichung ib (2) findet man durch eine einfache Umrechnung S2-S1=R.lg2, d. i. einen positiven Wert. Die in der Ungleichung (3) ausgesprochene Eigenschaft jedes abgeschlossenen Systems hat Clausius entdeckt: „Die Naturvor- gänge verlaufen in dem Sinne, daß in jedem abgeschlossenen System die Entropie steigt, wenn sie sich überhaupt ändert. Sie strebt immer höheren Werten zu." Zu der berühmten Uebertreibung: „Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu" führt die Annahme, daß ein System um so mehr als ein abgeschlossenes zu betrachten ist, je größer es ist. Hat ein System die Freiheit, in mehrere Gleichgewichtszustände übergehen zu kön- nen, so wird es tatsächlich in den über- gehen, dessen Entropie am größten ist. Diese Folgerung hat Horst mann 1869 auf die Untersuchung chemischer Vorgänge angewendet, und Planck hat 1879 die Entiopie geradezu als Maß der Vorliebe der Natur bezeichnet. Die in den Abschnitten 2 b und 2c ent- wickelten allgemeinen Sätze werden als die Entropiegesetze, auch in ihrer Ge- samtheit als Zweiter Hauptsatz der Energetik bezeichnet. Cm zu einer genauen mathematischen Fassung, auf die es bei derartigen Untersuchungei) schließlich allein ankommt, zu gelangen, bezeichne man jeden hinreichend kleinen Zugang an mechanischer Arbeit, den ein System erleidet, mit a, einen jeden hinreichend kleinen Wänne- zugang mit q. Dann gibt es zufolge des Ersten Hauptsatzes oder Energiesatzes für jedes System eine Zustandsfunktion E, deren Differen- tial dE die Eigenschaft hat dE=q + a. (4) Zufolge des Zweiten Hauptsatzes oder Entropie- 522 Energielehre gesetzes gibt es ferner eine Zustandsfunktion S, deren Differential die Eigenschaft zukommt q^0a.dS, (5) wobei (ja die Absoluttemperatur des Wärme- speichers ist, aus dem q stammt, oder an den es abgegeben wird. Beide Hauptsätze ergeben also die Beziehung (6) dE<0a.dS+a, die nur bei umkehrbaren Aenderungen zu der Gleichung wird (7) dE=0.dS + a. Sollte ein System gleichzeitig verschiedene Wärme- oder Arbeitszugänge oder -Verluste er- fahren, so denke man sich diese zeitlich ge- trennt und wenn innerhalb des Systems zwischen seinen Teilen Uebertragungen von Wärme und Arbeit stattfinden, denke man sich diese einzeln durch Vermittelung außerhalb des Systems be- findlicher Wärmespeicher ausgeführt. Dann gelten vorstehende mathematische Beziehungen für jeden Einzelvorgang und die Gesamtänderung unterliegt denselben Gleichheits- und Ungleich- heitsbeziehungen wie ihre sämtlichen Teile. Am ertragreichsten haben sich die mathe- matischen Folgerungen erwiesen, die Willard Gibbs aus dem Energie- und dem Entropie- gesetz in ihrer Anwendung auf abgeschlossene Systeme gezogen hat. Bei jeder Aenderung eines abgeschlossenen Systems ist (8) dE=0, dS>0. Kennt man nun Energie E und Entropie S als Funktionen der Bestimmungsstücke, die nötig sind, um jeden beliebigen Gleichgewichtszustand des abgeschlossenen Systems zu kennzeichnen, so kann man auch angeben, bei welchen Aende- rungen, die man versuchsweise an den Be- stimmungsstücken vornimmt, ohne die Vor- schriften zu verletzen, denen diese genügen müssen (virtuelle Aenderungen), das Gleich- gewicht erhalten bleibt. Offenbar sind alle Aenderungen, die bewirken, daß gleichzeitig dE=0 und dS<0 oder auch die, mittels Wärmezuführung vor- stellbaren, die bewirken, daß gleichzeitig dEX) und dS=0 wird, nicht zu verwirklichen, die vorstehenden Be- ziehungen sind also Bedingungen für die Erhaltung des bestehenden Gleichgewichtszustandes. Weil dieser auch bei dE = 0, dS=0 erhalten bleibt, lassen sich die Gibbsschen Gleichgewichts- bedingungen des abgeschlossenen Systems so formulieren: (9) oder dSlO bei dE = 0 dE>0 bei dS = 0. In dem besonderen Falle, daß Wärmevorgänge im System ausgeschlossen sind, also dS=0 ist, können die Gibbsschen Bedingungen das alte Prinzip der virtuellen Arbeit ersetzen (vgl. i a), dessen Verallgemeinerung sie gewissermaßen darstellen. Gibbs hat von ihnen vorzugsweise zur Untersuchung chemischer Vorgänge Ge- brauch gemacht. Was am Ende vom Energie- und Entropie- gesetz geleistet wird, dürfte sich folgender- maßen als Anschauungsweise über das bei den Naturvorgängen Wesentliche aussprechen lassen. Bei jeder Veränderung, die ein System erleidet, ist auf dreierlei Dinge zu achten: 1. dem System gehen Wärmebeträge aus Wärmespeichern gegebener Temperatur zu, oder werden von ihm an solche abgeliefert. 2. Dem System gehen andere Arbeitsbeträge aus Arbeitsspeichern zu oder werden von ihm an solche abgeliefert. 3. Das System verändert seinen inneren Zustand. Um diesen energetisch zu kennzeichnen, bedarf es zweier Funktionen der diesen Zustand bestimmen- den Größen, nämlich der Eigenenergie und der Entropie, die nur für Gleichgewichts- zustände des Systems angebbar ist, weil sich nur diese umkehrbar erreichen lassen. Wie ihre Aenderungen mit den unter 1. und 2. bezeichneten Aenderungen im Zusammen- hang stehen, das sprechen Energie- und Entropiegesetz aus. 2d) Kollektive Energie. Zerstreu- ung und Entwertung der Energie. Unordnung. Wahrscheinlichkeit und Entropie. In dem Vorangehenden ist genug- sam hervorgehoben worden, wie das Auftreten des Ungleichheitszeichens bei nichtumkehr- baren Prozessen darin begründet ist, daß wir bei diesen Prozessen genötigt sind, wesent- liche Bestimmungsstücke derselben, nämlich die Temperaturen, außerhalb des den Prozeß ausführenden Systems zu messen, an den Wärmespeichern, mit denen es in Wärme- austausch tritt. Nun ist aber bei stürmisch verlaufenden Vorgängen nicht allein die Mes- sung der Temperatur im System selbst ausgeschlossen; wie die Temperatur läßt sich auch der Druck eines Gases im all- gemeinen nicht bestimmen, wenn es sich in heftigen inneren Bewegungen befindet; ebenso kann unmittelbar nach dem Stoße eines Körpers durch einen anderen von einer einheitlichen Geschwindigkeit des gestoßenen Körpers nicht die Rede sein. Derartige Fälle kann man dahin zusam- menfassen, daß man sagt, die betreffende Energieform trete als kollektive Energie- form auf. Die Einzelbestandteile einer solchen kollektiven Energieform — z. B. die Tem- peraturen und Drucke einzelner Gebiete in einem stürmisch bewegten Gase oder die Geschwindigkeiten der einzelnen Teile eines soeben gestoßenen Körpers — kann man allenfalls theoretisch, aber nicht praktisch auseinanderhalten und beschränkt sich des- halb darauf, sie durch ihre Mittelwerte, ihre mittleren Abweichungen vom Mittel- werte und andere Angaben der Kollektiv- maßlehre zu beschreiben. In allen Fällen kollektiver Energie entziehen sich Teile der dem Körper zugegangenen, aus Quellen oder Energielehre 523 Speichern mechanischer Arbeit stammenden und dort gemessenen Arbeit der Messung am Körper selbst. Die meßbare durch Dimensionen und andere Messungsergebnisse am Körper darstellbare Eigenenergie ist kleiner als die gesamte, durch Messungen an den Quellen dargestellte Arbeit, weil ein Teil dieser Arbeit an die Umgebung ab- geliefert worden ist, bevor der Körper in einen Gleichgewichtszustand kommt oder doch diesem so nahe kommt, daß Messungen an ihm ausgeführt werden können. Nun ist allerdings dieser der Messung am Körper entgangene Teil vorwiegend, aber doch kei- neswegs ausschließlich als Wärme an die Umgebung übergegangen, das Auftreten des Ungleichheitszeichens ist also nicht an die Energieform der Wärme gebunden, für die es zuerst von Clausius bemerkt worden ist, sondern eine Eigenschaft, zu der jede Energieform führt, wenn sie kollektiv wird. Den Gleichgewichtszustand stören, heißt ja nichts anderes , als die einzelnen Gebiete des Körpers in voneinander abweichende physikalische Zustände versetzen, und nur um so weniger er Gleichgewichtszustände verläßt, schützt der Körper seine Eigen- energie vor kollektivem Zerfall. Das Bedeutsame dieser Tatsache ist nun, daß der kollektive Zerfall im ganzen nicht rückgängig gemacht werden kann, weil die Entropie nach Formel 2 c (3) nie abnimmt, wenn neue Wärmezufuhr ausge- schlossen ist. So führen denn die Natur- vorgänge zur Zerstreuung oder Dissi- pation der Energie und zu ihrer Ent- wertung. Mechanische Arbeit kann in Wärme umgewandelt werden, nicht aber kann, — wie das Thomsonsche Prinzip be- sagt, diese Wärme vollständig in Arbeit zurückverwandelt werden. Wärme höherer Temperatur kann wohl auf niedrigere über- gehen, aber — dem Carnotschen Prinzip gemäß — ist es ausgeschlossen, den umge- kehrten Uebergang auszuführen, ohne mecha- nische Arbeit zu benutzen, die dabei in Wärme umgewandelt wird und dadurch zum Ansteigen des Entropievorrats bei- trägt. Wärme von niedrigerer Temperatur oder größerer Entropie hat also eine geringere Verwendbarkeit auf dem großen Markte der Energie, als der die Natur uns erscheint, weil sie in geringerem Maße verwandelbar ist, als der gleiche Wärmebetrag höherer Temperatur. Ebenso ist Wärme überhaupt im Wirtschaftsleben der Natur wertloser als mechanische Arbeit. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß, wenn hier von „Wert" der Energie die Kede ist, darunter nicht der Arbeitswert, der Energiebetrag, zu verstehen ist — der ändert sich nach dem ersten Hauptsatz nicht — , sondern der Aequi valenzwert (vgl. 2 b) der Verwandlung, das Maß der Verwandlungsfähigkeit, Der Naturverlauf ist in dieser Hinsicht mit dem Umwechseln von großem Gelde in kleines zu vergleichen, mit der durch die natürliche Mannigfaltig- keit unserer Bedürfnisse gebotenen Zer- splitterung unseres Einkommens. Hier stehen wir vor der so oft erörterten weittragenden kosmologischen Folgerung der Energetik: Im Laufe des Naturgeschehens, im Zeitverlaufe geht alle Energie mehr und mehr in Wärme form über und in Wärme von immer geringerer Temperatur, die Verteilung der Energie auf die verschiedenen Energieformen schreitet immer im Sinne der Entwertung fort. Daß man den zeit- lichen Ablauf der Ereignisse wohl im Vor- stellungsvermögen umkehren kann, aber nicht in der Wirklichkeit, daß ■ — wie oft gesagt wurde — das Kind nicht in den Mutterleib zurückkehrt, diese durch den Zeitablauf erfaßte Eindeutigkeit im Ver- laufe der Naturereignisse, wurzelt im En- tropiegesetze. Da diese Zerstreuung und Entwertung der Energie auf dem Umstände beruht, daß der bei jedem Verlassen eines einheit- lichen Gleichgewichtszustandes im System eintretende kollektive Zerfall der Energie im ganzen nicht rückgängig gemacht werden kann, so ergibt sich die Möglichkeit, die Eindeutigkeit des Naturverlaufs durch Be- trachtungen über das Wesentliche der kol- lektiven Unordnung verständlich zu machen. Daß 1000 in wirrer Unordnung durcheinander fliegende Kugeln sämtlich eine ruhende Kugel stoßen, und die Energie vollständig auf diese übertragen, ist gewiß viel unwahrscheinlicher, als der umge- kehrte Vorgang, daß eine bewegte Kugel, in einen Haufen von 1000 ruhenden stoßend, diesen ihre Energie abgibt und sie in wirre Unordnung versetzt. Die Herstellung irgend- einer bestimmten Ordnung ist unwahr- scheinlicher als ihre Störung, weil die Ord- nung einzigartig ist, der Störungen aber viele möglich sind. So erscheint das Bild der Unordnung, das bei der. Störung eines Gleichgewichtszustandes ohnedies an die Hand gegeben ist, als erwünschtes Hilfs- mittel, das Anwachsen der Entropie ver- ständlich zu machen. Die Entropie eines Systems ist das Maß seiner Unordnung. Unter verschiedenen Zuständen eines Systems hat der wahrscheinlichere die größere En- tropie. Geradezu genötigt zu dieser Auffas- sung ist die mechanische Weltansicht. Da nämlich rein mechanisch verlaufende Vor- gänge stets umkehrbar sind, also ohne Entropieänderung verlaufen, so fehlt es der mechanischen Naturauffassung, die auch in .024 Energielehre der Wärme nur Bewegungsenergie sieht, zunächst an einem Mittel, die Eigenart der Wärmeübergänge, die in der Entropiever- mehrung hervortritt, zu begreifen. Es hilft auch nicht, der Wärme als mechanischer Energie der Bewegung unwahrnehmbar kleiner Teile andere Eigenschaften beizu- legen als der mechanischen Energie gröberer Gebilde; denn geordnete Bewegungen klei- ner Teile, wie wir sie in den Energie über- tragenden Schwingungen kennen, zeigen keine Entropievermehrung, solange nicht durch Dämpfung Wärmeentwickelung ein- tritt. Nur jene Wahrscheinlichkeits- erwägungen können hier die mechanische Auffassung retten. Sie muß sich die Wärme als Energie ungeordneter Bewegung vor- stellen, so daß es zwar theoretisch möglich wäre, einmal eine Vermehrung der Un- ordnung rückgängig zu machen, aber stets unwahrscheinlicher als weitere Vermehrung der Unordnung. Für den Fall, daß die Körper ato mistisch aus kleinen diskreten Teilen bestehend gedacht werden, hat Boltzmann diese kinetische Hypothese der mechanischen Wärmetheorie am weitesten durchgeführt. Jeder der hypothetischen Kollektiv- zustände eines Gases kann nämlich auf sehr verschiedene Weise verwirklicht werden, in- dem z. B. der Bewegungszustand einer durch die Nummer 1 unterschiedenen Molekel mit derselben Berechtigung auch der mit 2 oder mit 3 bezeichneten zukommen kann usw. Durch die Anzahl der Anordnungen aller Teile, die hiernach einen und denselben Kollektivzustand ergeben, wird dessen Wahr- scheinlichkeit bestimmt. Die Entropie eines Zustandes erweist sich proportional dem Logarithmus der Wahrscheinlichkeit dieses Zustandes. 3. Die Gleichartigkeit der Energie- formen. 3a) Intensität und Extensität. Wie der Wärme nach dem Carnot sehen Prinzip ein Bestreben zukommt, von höherer zu niederer Temperatur überzugehen, so besitzt jede Energieform ein entsprechendes Bestreben als charakteristische Eigen- schaft. Das haben wohl zuerst Zeuner 1866 und Mach 1871 bemerkt. Volumenergie z. B. hat das Bestreben, von höherem zu niederem Drucke überzugehen. Diese Aenderung • ■ etwa die Ausdehnung eines vollkommenen Gases - kann nämlich ein- treten, ohne daß etwas weiteres geschieht, als Bildung von kollektiver Energie, die sich wegen der Zerstreuung der Energie als Wärme auf die Umgebung ausbreitet und bald der Betrachtung entzieht, von selbst uns entgeht. Soll dagegen umgekehrt ein Gas von niederem Drucke sich ausdehnen, und dabei eine Gasmenge von höherem Drucke zusammengepreßt werden, so ist dazu Auf- wand anderweiter Energie nötig, z. B. Auf- wand von Wärme, der sich ohne besondere Einrichtungen nicht vollzieht. Nur weil die Zerstreuung der Energie ohne unser Zutun „von selbst" verläuft, besitzen die Energieformen solches einseitige Bestreben. Heißt pa der Druck eines Speichers der Volumenergie, z. B. der Atmosphäre, v das Volum eines Arbeitskörpers, so ist die Volum- arbeit, die letzterer aus dem Speicher be- zieht — pa.dv, so daß er bei positivem dv, also bei Volumvergrößerung, Arbeit an den Speicher abliefert. Dieser Ausdruck steht in vollster Analogie zu um- kehrbar die Volumzunahme dv aufzuerlegen; auf unseren Fall angewendet, erscheint als Schmelz- sowie als Verdampfungswärme Q, wenn Av die dabei nötige Volumänderung eines Gramms bezeichnet, der Betrag Diese wichtige Gleichung ist von Cla- peyron schon 1834 gefunden worden. Sie zeigt z. B., daß, weil Wasser beim Schmelzen Wärme Q aufnimmt, aber sein spezifisches Volum v vermindert, die Temperatur & des Schmelzens mit wachsendem Druck p sinken, nämlich öP-öö negativ sein muß, und setzt überhaupt das Gesetz der Ab- hängigkeit zwischen Druck und Temperatur der Aggregatsänderung in Beziehung zu der Volumänderung Av und der Aggregats- wärme Q. Wichtiger aber ist, daß die Clapeyron- sche Gleichungihrer energetischen Begründung gemäß eine sehr allgemeine Gültigkeit, auch für äußerlich ganz anders erscheinende Vorgänge hat. Wie für jede Aggregatsände- rung gilt sie z. B. auch für jeden Uebergang in eine „allotrope" Modifikation, für Dissoziationen undfür chemischeAende- rungen überhaupt, wenn sie nur isotherm und umkehrbar erfolgen. Aber noch mehr: es kann auch an Stelle der Volumenergie eine andere treten, ohne daß die vorgetragene Schlußweise hinfällig wird. Setzen wir statt der Volumenergie die Energie der elek- trischen Strömung, so gelangen wir z. B. zu einem durch die Erfahrung be- stätigten Satze über die Vorgänge in der galvanischen Zelle. Während durch ein galvanisches Element von der elektromotorischen Kraft A eine Elektrizitätsmenge von e Coulomb hin- durchgeht, ändert es seine Eigenenergie, da der Vorgang umkehrbar verläuft, um den Betrag: dE= (-jdS-A.de (vgl. i c, wo nur de durch das gleichbedeu- tende J.dt ersetzt ist). Wir formen wie oben um: d(E—ö.S) = — Sd@-J.de Q (ii als die Wärme, die bei isothermer umkehr- barer Arbeit der galvanischen Zelle während der Entladung von de Coulomb zugeführt werden muß. Während der Entladung von 1 Coulomb bedarf es also der Wärmezu- fuhr um das galvanische Element vor Tempera- turänderung zu bewahren. So gibt z. B. das Clark -Element, dessen elektromoto- rische Kraft A =1,4328—0,00119 (0—15) gesetzt werden darf, so lange die Temperatur § nahe bei 15° C liegt, bei dieser Temperatur 24 % seiner elektromotorischen Kraft in Wärmeform an die Umgebung ab, wenn es isotherm arbeitet, denn Q_0.M__288 _ 0 00119)— 0 239 A'~ A Ö0""l,4328( u-uuliJJ- u^y- Der chemische Prozeß im Element liefert also 124 % der elektrisch verwerteten Ener- gie. 3c) Abschluß. Daß die Energetik solche Untersuchungen durchzuführen ver- mag, ohne besondere Annahmen über die innere Struktur der Vorgänge zu machen, die untersucht werden, ja, ohne sich auf Vorgänge einer bestimmten Art zu be- schränken, ist besonders charakteristisch für die energetische Methode. Selbstver- ständlich bedarf sie der Nachprüfung durch die Erfahrung, um sicher zu sein, daß sie die zur Beschreibung eines Vorgangs in Betracht gezogenen Energieformen hinrei- chend vollständig ausgewählt und die Be- dingungen, denen ihre Intensitäten und Extensitäten unterworfen sind, hinreichend genau eingeführt hat. Daß jedes ihrer für eine Energieform gültigen Ergebnisse auch auf jede andere übertragbar ist, oder besser, daß man die Natur in einer Weise be- trachten kann, die äußerlich höchst ver- schiedene Vorgänge als gleichartig erscheinen läßt, gibt der Energetik einen Zug der Syn- these, den in solcher Allgemeinheit keine andere Betrachtungsweise besitzt. Die ana- lysierende Atomistik ist in diesem Sinne ihr methodischer Gegensatz Indessen ist nicht etwa in sachlicher Beziehung ein Gegensatz vorhanden, vielmehr hat auch die Atomistik ebenso wie jede andere ana- lysierende Methode ihre Gebilde so zu kon- struieren, daß den Gesetzen der Energie und Entropie genügt wird. In einem anderen Sinne steht allerdings Energiclelire — Enteropneusta 527 die Energetik seit ihren ersten Spuren polar dem Atomismus, aber nicht nur diesem gegenüber; sie ist im Gegensatz gegen jede Ansicht, die eine Erklärung der Natur- vorgänge darin sucht, daß sie alle auf Be- wegung, oder etwa alle auf Elektrizität zurückführt, die in allen quantitativen Be- ziehungen qualitative Gleichartig- keit sucht. Nicht etwa, daß nicht auch die Energielehre Einheitlichkeit anstrebe; aber für sie ist die Einheitlichkeit vor- handen, ohne stoffliche Gleichartigkeit, die Formen wechseln, ihr quantitativer Inhalt bleibt. Literatur. Die geschichtliche Entwicklung und zusammenfassende Darstellung der Energetik geben: G. Helm, Die Lehre von der Energie. \ Leipzig 1887. — Derselbe, Die Energetik nach \ ihrer geschichtlichen Entwickelung. Leipzig 1S9S. — M. Planck. Das Prinzip der Erhaltung der Energie. Leipzig 1887. 2. Aufl. 1908. — E. Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Prag 1872. Zweiter Abdruck Leipzig 1909. — W. Ostwald, Lehrbuch der eiligem. Chemie. 2. Aufl. 1891 u. f. — Derselbe, Die Energie. Leipzig 1908. Die Originalarbeilen der Begründer der Energetik sind am leichtesten zugänglich durch die Abdrücke in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften: Nr. 37 S. Carnot, 99 Clausius, 1 und 124 Helmholte, 101 Kirchhoff, 1S7 Horstmann. ISO B. Mayer. — Ferner: TT'. Thomson, Math, and physical papers. Cambridge 1882. — «7. W. Glbbs, Thermodynamische Studien. Uebersetzt von Ostwald. Leipzig 1892. Systematische Darstellungen einzelner Gebiete : M. Planck, Vorlesungen über Thermodynamik. 3. Aufl. Leipzig 1911. — Derselbe, Vorlesungen über die Theorie der Wärmestrahlung. Leipzig 1906. — G. Zeuner, Technische Thermodynamik. Leipzig 1905. — C. Neumann, Vorlesungen über die mechanische Theorie der Wärme. Leipzig 1875. — G, Helm, Grundzüge der mathe- matischen Chemie. Leipzig 1894- — W. Nernst, Theoretische Chemie. 6. Aufl. Stuttgart 1909. Ein allgemeines System der Energetik ent- wickelt P. Duhem, Traitc d'cnergctique ou de thermodynamique generale. Paris 1911. — Die Darstellung der gesamten Physik wird auf die Energielehre gegründet bei H. Ebert, Lehrbuch der Physik. Band 1. Leipzig 1912. — Unter den für die Schule bestimmten Physikbüchern ist L. Dressel, Elementaies Lehrbuch der Physik. Freiburg i. Br. 1905, grundsätzlich auf die Energielehre gestellt, doch führen selbstverständ- lich die neueren Lehrbücher sämtlich in sie ein. — lieber alle Einzelheiten vgl. Winkelmann, Handbuch der Physik. 6 Bände. Leipzig 1905 bis 1909. G. Helm. Enhydros mit wässeriger Flüssigkeit erfüllte Achat- mandeln (vgl. den Artikel „Schmuck- steine"). Enteropneusta. 1. Uebersicht der Organisation. 2. Beson- dere Ausbildung einzelner Teile: a) Kiemen, b) Darmkanal; Leberregion; Darmpforten; Ne- bendarm, c) Grenzmembran und Skelett, d) Mesenterien. e) Muskulatur; Lateralsepten; Perihämal- und Peripharyngealräume. f) Pfor- ten, g) Nervensystem und Sinnesorgane, h) Blut- gefäßsystem; Glomeruli. i) Exkretionsorgane. k) Geschlechtsorgane. 3. Ontogenie. 4. Biologie. 5. Systematik und Phylogenie. i. Uebersicht der Organisation. Die Enteropneusten sind im Meeresboden graben- de Tiere von wurmähnlicher Körpergestalt, von wenigen Zentimetern bis zu 1 m Länge und darüber (Balanoglossus gigas 2,5 m). Nachdem durch Eschscholtz 1827 eine Form aus dem Stillen Ozean als Ptycho- dera flava namhaft gemacht und 1829 durch Delle Chiaje von der Küste Italiens eine andere als Balanoglossus clavigerus beschrieben war, wurde die Aufmerksamkeit 1866 durch A. Kowalevski auf diese Tiere gelenkt, der außer der letzterwähnten eine kleine Art im Golf von Neapel (Balano- glossus minutus) aufgefunden und beide zum ersten Male etwas eingehender unter- sucht hatte. Daraus ergab sich, daß die Balanoglossen insofern eine sehr eigenartige und von allen übrigen „Würmern" weit ent- fernte Organisation besitzen, als ihr vorderer Darmabschnitt mit Kiemen ausgestattet ist, was 1870 Gegen baur veranlaßte, sie als Enteropneusti zu bezeichnen. Für das Aeußere (Fig. 1) ist neben einer in der Gestalt sich deutlich aussprechenden bilateralen Symmetrie besonders die Aus- bildung von 3 aufeinanderfolgenden Körper- abschnitten charakteristisch, nämlich 1. einem etwa einer Eichelfrucht ähnlichen Kopfteil (Rüssel. Eichel), 2. einem kurzen, an- nähernd zylindrischen Kragen und 3. einem langen Rumpf, der seinerseits mehrere Ab- schnitte von wechselnder Länge unterscheiden läßt. Der erste birgt in sich die Kiemen, deren spaltförmige Oeffnungen an seiner dorsalen Seite in paariger Anordnung zutage treten (Kiemenregion). Darauf folgt ein Abschnitt, an dessen dorsaler Seite zahlreiche Paare von Geschlechtsdrüsen ausmünden (Genital- region), die sich aber mehr oder weniger weit auch in die vorhergehende hinein er- strecken. Der hieran sich anschließende Ab- 528 Enteropneusta K- schnitt ist bei vielen Enteropneusten äußer- lich durch paarige hervortretende Leber- blindsäcke als Leberregion gekennzeichnet. Endlich folgt ein aller dieser Organe ent- behrender Hinterkörper. Kiemen- und Ge- mtalregion können auch als Thorax zu- sammengefaßt werden. Am vorderen Ende des Kragens befindet sich als eine weite, nicht verschließbare Oeffnung der Mund, überlagert von der Eichel, die durch einen stielartig engen kurzen „Hals" von dessen dorsaler Seite ausgeht. Die E — f :! Basis der Eichel wird von einer trichterförmigen Ver- längerung des Kragens immer eine Strecke weit mit um- faßt. Am Ende des Hinter- leibes liegt der After. Der den Körper vom Munde zum After durchziehende Darm- kanal ist ein gerades, nicht oder kaum geschlängeltes Rohr von, soweit nicht besondere Teile eine Gestaltveränderung bedingen, annähernd zylin- drischer Form. Die Haut besteht überall aus einem hohen Wimper- epithel, das an den meisten Stellen reich an Drüsenzellen ist. Diese sondern im Leben ein starkes schleimiges Sekret ab, das das Tier einhüllt und auch gegen den Meeresboden, in dem es lebt, abschließt, so daß es dort förmlich in einer Schleimröhre liegt, aus der es auf- und absteigt und aus deren einer Oeffnung es seine Exkremente auswirft. Legt man ein lebendes Tier auf den Boden, so gräbt es sich darin in kurzer Zeit ganz ein, und zwar mit der Eichel voran, der darauf Kragen und Rumpf folgen. Besonders lebhafte, an die Darmperistal- tik erinnernde Bewegungen führen dabei Eichel und Kragen aus, die sicher wesentlich den Lokomotionsapparat bilden. Verständlich werden diese Be- (Kow.). Aus wegungen erst, wenn man das Claus- Verhalten der in den verschie- Grobben. denen Körperabschnitten be- Af After; Bg Endlichen Hohlräume und lemtal- ihrer Außenwandungen kennen rKiemenfeld-r ?elernt hat Ein solcher be- E Eichel- K lmdet sich in der Eichel und Kragen; L ferner je ein Paar im Kragen Leber. und im Rumpfe. Von diesen -4f Fig. 1. Glos- sobalanus minutus Cölomen sind also in der Eichel eins und je zwei im Kragen und im Rumpf vorhanden, alle durch geschlossene Scheidewände von- einander getrennt. Davon stehen das Eichel- cölom und die Kragencölome mit der Außen- welt in offener Verbindung durch kurze Kanäle, sogenannte Pforten (Eichel- und Kragenpforten), die erstere an der dorsalen Seite des Eichelhalses, die letzteren am Hinten ande des Kragens gelegen. Meistens ist nur eine Eichelpforte vorhanden, bei ge- wissen Enteropneusten aber ein Paar, die beide mit dem einen Eichelcölom in Ver- bindung stehen, während jedes Kragen- cölom immer eine eigene Kragenpforte be- sitzt. Durch diese Pforten wird Wasser in das Innere der Cölome aufgenommen und diese und mit ihnen zugleich der ganze be- treffende Körperabschnitt geschwellt. Die Rumpfcölome besitzen solche Pforten nicht, sondern sind ganz nach außen abgeschlossen. Alle Cölome aber besitzen in ihrer Außenwand Lm Fig. 2. Eichel, Kragen und vorderster Teil der Kiemenregion von Glossobalanus minutus (Kow.), sagittal halbiert. Aus Claus- Grobben. D Eicheldarm, durch ein ventrales Eichel- septum an der Eichelwand befestigt; Dg Rückengefäßstamm, sich zwischen den Perihämalkanälen bis an die Eichel fort- setzend und dort mit dem zentralen Blutraum zwischen Herzblase und Eicheldarm sich ver- einigend; ventral gehen von Dg Aeste an den Kiemendarm ab; E Eichel; G Glomerulus; H Herzblase oder Perikard; Kd Kiemendarm; Lm Kante der Längsmuskelblätter der Eichel ; Mh Höhle des Kragendarms; Nd Kragenmark, sich in den Rumpf als Rückennervenstamm fort- setzend; Nv Bauchnervenstamm; Oe Oesophagus; P Porus der Eichelpforte ; Sk Eichelskelett; Vg Bauchgefäßstamm, aus dem Kragen die rück- führenden Gefäße der Eichel aufnehmend. Enteropneusta 529 Nun befindet, sich überall zwischen diesen aneinander angrenzenden Organen, also zwischen Darm und Innenwand des Cöloms, zwischen Außenwand des Cöloms und dem und der Rumpf ebenfalls Hautepithel und endlich dorsal und ventral Ringfasern (die fehlen zwischen den beiderseitigen Cölomen eine weiche Substanz, die eine ganz dünne Grenzschicht, eine Grenzmembran, da- zwischen bildet. Die Blutgefäße sind nichts anderes als Spalten innerhalb dieser Grenz- membran, die an verschiedenen Stellen in bestimmter Ausbildung auftreten, teils längs, teils quer oder in anderer Richtung verlaufen und schließlich untereinander sammenhängen, so ein System von und weiteren, stets ringsum von Grenz membran umschlossenen Kanälen bildend. Eine solche ist in dem ganzen Körper der Enteropneusten zwischen allen aneinander angrenzenden Organen vorhanden, also z. B. da. wo die Darmkiementaschen auf- treten, zwischen diesen und der Innenwand des Darm- sich vom ein Blind- flachgedrückten einen davor gelegenen sehr stark entwickelte Muskulatur, das Eiehel- cölom zu äußerst eine schwache Lage von Ringfasern und starke innere Längsfasern, die Kragencölome komplizierter angeordnete Muskeln (s, unten) schwache äußere können) und eine stets kräftige Längs- muskulatur, wozu bei gewissen Entero- pneusten sich noch innere Muskelfasern ge- sellen (s. unten). Die Cölommuskelmassen der Eichel und des Kragens führen die oben erwähnten Bewegungen dieser Körperteile aus und bewirken dadurch die Lokomotion, während der Rumpf wesentlich nur nach- gezogen wird. Auch die Eichel entbehrt kanales nicht gänzlich, indem Mundhöhlenepithel des Kragens sack abzweigt, der sich durch den Eichel- hals hindurch mehr oder weniger weit in die Eichel hinein vorstülpt, deshalb Eichel- darm genannt. Er sondert sich in einen stielartigen Halsabschnitt, viel mächtigeren und meistens sehr dickwandigen Körper, der ventralwärts ein Divertikel abgehen läßt und sich nach vorn zu allmählich verjüngt, um bei gewissen Formen, ehe er blind ge- schlossen endigt, in einen fadenförmig dünnen Fortsatz, den Wurmfortsatz, aus- zugehen. Dieser ganze Eicheldarm liegt in einer tiefen Nische der nach hinten ge- wandten, nahezu muskelfreien Wand des Eichelcöloms, füllt aber diese nicht allein aus. Vielmehr nimmt diese dorsal vom Körper des Eicheldarms noch ein Gebilde auf, das ähnlich einem Celom einen Hohl- raum, zellige Auskleidung und einen gewissen zelligen Inhalt, besonders in seiner Wand Muskelfasern besitzt, aber nie durch eine Pforte sich nach außen öffnet, sondern immer rings geschlossen ist (Herzblase oder Perieard, s. u.). Vom Körper des Eicheldarms bleibt diese Blase immer durch einen Spalt getrennt, dessen dorsoventraler Durchmesser um so höher wird, je mehr sich die ihm anliegende Wand der Blase in deren Innenraum hinein vorwölbt. Dieser Spalt ist von einer farblosen und nur wenige Zellen enthaltenden Blutflüssig- keit erfüllt und stellt in gewisser Beziehung das Zentrum des Blutgefäßsystems dar, zu dessen Verständnis zunächst eine Be- zu- engeren nv Fig Cölompaare der Grenzmembran sprechung der Begrenzung sämtlicher kurz aufgeführten Organe gegeneinander erforder- lich ist, was am besten an der Hand eines Querschnittes durch den Hinterleib (Fig. 3) geschieht. Ein solcher zeigt uns in der Mitte den Darmkanal, umgeben von den beiden ihn bogenförmig von rechts und links umfassenden Rumpfcölomen ; nach außen werden diese umschlossen vom Hautepithel. Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 3. Querschnitt der Abdominalregion von Glossobalanus minutus (Kow.). epw Deck- wulst; nd Rücken-, nv Bauch- Nervenstanim ; wf Wimperfurche. Aus Spengel. Cöloms. Dementsprechend finden wir auch zwischen dem Eicheldarm und ihm angelagerten Herzblase, und der in ihr enthaltene Hohlraum ist beson- erweiterbar (zentraler Blutraum). Rumpfe sind derartige besonders weite Länge vor- dorsaler und ein ventraler, zwei Hauptlängsgefäßstämme Rücken- und ein hinteren Ende des durch ein Ringgefäß in der zwischen den Kragen- und den Rumpfcölomen zusammen. In sehr eigentümlicher Weise kommt die Verbindung dieser Rumpfgefäßstämme mit dem zentralen Blutraume der Eichel zu- stande. Bei allen Enteropneusten ent- senden zu diesem Behufe die Rumpfcölome 34 des sie der hier ders Im Spalten in der die nach trennenden handen, woraus ergeben, gefäß. hängen Scheidewand ein sich ein Am diese Bauch- Kragens 530 Enteropneusta von ihrem vorderen dorsalen Ende, dort, wo sie den Rückengefäßstamm zwischen sich fassen, je einen ziemlich schmalen Fort- satz durch den Kragen hindurch, und zwar dem Darm desKragens dicht anliegend, also zwischen dem Kragendarm und den Kragen- cölomen, gegen die Eichel zu, meistens deren hintere Grenze, nämlich die ihre Organe von denen des Kragens trennende Grenzmembran, erreichend, bei gewissen Formen aber nur in beschränkterer Aus- dehnung (bei Protobalanus sogar nahezu fehlend). Zwischen diesen Perihämal- k a n ä 1 e n verlängert sich der Rücke ngefäß- stamm in den ersteren Fällen bis an den zentralen Blutraum und geht in diesen über. Endigen aber (wie in der Gattung Harrimania) die Perihämalkanäle in größerem Abstände von der Eichel, so führt der Gefäßstamm zunächst in einen blut- haltigen Spalt der Grenzmembran zwischen den Kragencölomen und dem Kragendarm, den jene nun unmittelbar berühren, und erst dieser setzt sich dann in den zentralen Blutraum fort. Regelmäßig kommuniziert der ventrale Rumpfgefäßstamm derartig indirekt mit dem zentralen Blutraum, daß sich bogen- förmig vei laufende Gefäße, die in der Grenz- membran zwischen Kragendarm und Cölom gelegen sind, schräg von diesem nach vorn bis zu jenem ziehen. Außer diesen Hauptgefäßstämmen und ihren Verbindungen treten andere, vor allem unter dem Hautepithel, unter dem Darmepithel, in den Grenzmembranen zwischen den Gonaden und den Rumpf- cölomen reichlich entwickelte Gefäßnetze auf (Einzelheiten siehe unten), besonders aber ein als Glomerulus bezeichneter Komplex blutführender Spalten zwischen dem Eichelcölom und der Herzblase bzw. dem Eicheldarm. Wahrscheinlich strömt das Blut in den Hauptstämmen folgendermaßen. Durch den Rückenstamm aus dem Rumpfe in den zentralen Blutraum getrieben, fließt es durch die beiden bogenförmigen Schlingen von der Eichel durch den Kragen hindurch zum Vorderende des Bauchstammes des Rumpfes, der seinerseits das Blut durch querver- laufende Gefäße an Darm und Hautepithel weitergibt, durch die es wieder in den Rücken- stamm zurückgelangt. Wie der Rückengefäßstamm sich bis an die Eichel, der Bauchgefäßstamm aber nur bis an den Kragen erstreckt, so gilt das auch von den Hauptstämmen des Nerven- systems. Dieses gehört, wenn wir zu- nächst von dem Auftreten an gewissen Stellen des Darmkanales absehen, ganz und gar dem Hautepithel an. Zwischen dessen indifferenten oder drüsigen Zellen finden sich Nervenzellen, die ihre Fortsätze an den Grund des Epithels senden, wo sie eine Faserschicht bilden. Besonders reich sind Zellen und Fasern nahe der dorsalen und der ventralen Mittellinie entwickelt, wo da- durch die ganze Länge des Rumpfes durch- KP Jfff. m | /£ Vg Jfy Fig. 4. Querschnitt durch die Kiemenregion von Balanoglossus apertus Spgl. links ein Kiemenseptum, rechts eine Kiemenzunge treffend. Aus Claus-Grobben. Dg Rücken- gefäßstamm, von ihm ein Gefäß in die Kiemenzunge abgehend ; G Gonade, deren Porus an der medialen Seite der Genitalpleure sichtbar ist; Kd Kiemendarm; Kp Kiemen porus; Ks Kiemenseptum, in der eine Kiemenskelettzinke mit quer durchschnittenen Synaptikeln und nach außen davon die Wand der Kiementasche zu sehen ist; Lm Längsmuskulatur; Nd Rücken-, Nv Bauch-Nervenstamm; Oe Oesophagus; Vg Bauchgefäßstamm. ziehende Nervenstämme, ein Rücken- und ein Bauchs ta mm, entstehen, die beide am Hinterrande des Kragens durch bogen- förmige Züge ineinander übergehen, die durchaus die gleichen Beziehungen zum Hautepithel bewahren. Während aber der Bauchstamm hier endigt, reicht der Rücken- stamm bis zur Eichel, um sich schließlich in das nervöse Hautepithel dieser fortzu- setzen. Auf dieser durch den Kragen führen- den Strecke aber gibt er seine bisherige Be- ziehung zum Hautepithel auf, indem er sich von diesem als ein selbständiger kräftiger, von Nervenzellen und -fasern gebildeter Strang abtiennt und der dorsalen Fläche der Perihämalkanäle auflagert, die er un- gefähr bedeckt und auf der er sich bis zur Vorderwand des Kragens begibt, wo er sich wieder mit dem Hautepithel verbindet. Dieser der Länge nach durch das Innere des Kragens, nämlich zwischen den Peri- hämalkanälen und den Kragencölomen, ver- laufende Abschnitt des dorsalen Nerven- stammes heißt das Kragenmark. Zur Ausbildung von höheren Sinnes- Enteropneusta 531 Organen (Augen, statischen Organen) kommt es bei keinem Enteropneusten. Sensorische Funktionen von nicht näher bekannter Natur dürfen nur für gewisse Epithelzellen der Haut, wohl hauptsächlich an der Eichel- basis, angenommen werden. Alle bis jetzt bekannten Enteropneusten sind getrennten Geschlechts. Ihre Gonaden scheinen nach dem bisher darüber Fest- gestellten im vorderen Teile des Rumpfes auf der dorsalen Seite rechts und links inner- halb der Grenzmembran zwischen Haut- epithel und Cölom aufzutreten und erst später eine Verbindung mit ersterem einzu- gehen, wobei an der oder den Verschmelzungs- stellen je eine Ausmündung entstellt (Genital- porus). Indem sie bedeutend an Größe zu- nehmen, drängen sie die Cölomwand vor sich her, so daß sie schließlich in eine tiefe Nische dieser und damit scheinbar in das Cölom hinein zu liegen kommen. 2. Besondere Ausbildung einzelner Teile. 2a) Kiemen. Wohl kein Organ ist für die Enteropneusten so charakteristisch wie diejenigen, nach denen die Gruppe ihren Namen erhalten hat, nämlich die Kiemen. Diese sind in sehr wechselnder Zahl auf- tretende paarige taschenförmige Aussackun- gen des dorsalen Teiles des Darmkanales der vordersten Rumpfregion, die sich durch je einen engen spalti'örmigen, meistens kurzen, nur in der Gattung Ptychodera über den größeren Teil der Kiementasche sich erstreckenden Kiemenporus nach außen öffnen. Von diesen kann man, soweit sich nicht (bei vielen Ptychoderiden) seitliche, von Gonaden ausgefüllte Körperfalten (Pleuren, Genitalflügel) medialwärts über sie hinüber krümmen, jederseits eine Längs- reihe erkennen. Nach hinten zu rücken die Poren immer näher aneinander heran, ent- sprechend der Tatsache, daß die Kiemen- taschen selbst gegen das Hinterende der Kie- menregion an Größe und Entwickelungshöhe abnehmen, weil dort beständig weitere in Entstehung begriffen sind. Während jede Kiementasche in der ge- schilderten Weise sich nach außen durch einen Porus öffnet, wird ihre Verbindung mit dem Innern des Darmkanales durch einen U-förmigen Spalt hergestellt, indem von dem dorsomedialen Rande jeder Tasche ein als Zunge bezeichneter handschuh- fingerförmiger Fortsatz ausgeht, der sich in die innere Oeffnung legt und ihr die eigen- tümliche Gestalt gibt. In den Gattungen Protobalanus, Harrimania, Dolicho- g 1 o s s u s (Saccoglossus), Wi 1 1 e y a, Stereobaianus und Glandiceps liegt die Zunge frei in der inneren Oeffnung. wohingegen sie bei Schizocardium, Spengelia und den Ptychoderiden durch zahlreiche feine Querbrücken (Synap- tikel), die durch den U-förmigen Spalt hindurchgehen, befestigt sind. Entsprechend der Wölbung der Außenwand des mit den Kiementaschen besetzten Teiles des Darmes sind sowohl die inneren Oeffnungen der Kiementaschen als auch die Zungen mehr oder weniger bogenförmig gekrümmt. Die einzelnen Kiementaschen folgen äußerst dicht aufeinander, so daß die Wand der nächstfolgenden in einer gewissen Aus- dehnung die voraufgehende berührt. Soweit dies der Fall ist, werden sie getrennt durch eine verdickte Grenzmembran (Fig. 5), die cop W t*'.»'i, '''»•'' ",'*'<" - j" V" ^ WSe** Fig. 5. Querschnitt durch zwei Kiemen von Harrimania kupfferi (v. W.-S.). cöp Rumpf- cölom; dh Höhle der Kiemenzunge kd; ks Kiemenseptum; kt Kiemen tasche; sp Kiemen- spalte. Aus Spengel. sich an der Außenwand des U-förmigen Spaltes bis nahe an den bogenförmigen Abschluß erstreckt, hier aber auf eine kurze Strecke wieder dünn wie gewöhnlich wird. An dem dorsalen Ende der Kiementasche aber zieht sich diese Verdickung im Bogen auch in den Hohlraum der Zunge jederseits hinein, als die Grenzmembran zwischen dem Epithel dieser und dem in sie hineindringen- den Fortsatz des Cöloms. Auch diese Ver- dickungen hören nahe den Ende der Zunge auf. Die Folge des geschilderten Verhaltens der verdickten Grenzmembran ist das Auf- treten von ziemlich festen Gebilden von der Gestalt dreizinkiger Gabeln: die Mittel- zinke liegt immer in der Scheidewand zwischen je zwei Kiementaschen und spaltet 34* 532 Enteropneusta sich an ihrem ventralen Ende in zwei ge- bogene auseinanderweichende Zipfel, wäh- rend je eine Seitenzinke unter der Hinter- wand einer und unter der Vorderwand der nächstfolgenden Kiemenzunge gelagert ist. Wo Synaptikel vorhanden sind, werden auch diese von einer durch verdickte Grenz- membran gebildeten Achse gestützt, die von einer Zinke zur anderen geht. Soweit die Zinken reichen, sind die Kiementaschen wie die Zungen von einem stark bewimperten hohen Epithel be- kleidet, das offenbar dazu dient, einen Wasserstrom aus dem Darm durch die Kiementaschen nach außen zu unterhalten; der Rücken der Zungen und die Kanten der Scheidewände der Kiementaschen sind von einem meist ebenfalls hohen, gewöhnlich drüsenhaltigen Epithel bekleidet, der Boden der Zungen aber und das Innere der übrigen Kiementaschen von einem niederen Epithel mit jedenfalls nur schwach ausgebildeten Wimpern. Bei einigen Balanoglossus- Arten gehen von den Kiementaschen lange Blindsäcke aus, die sich zwischen der Längs- muskulatur des Rumpfes und dem nicht von Kiementaschen besetzten Teile des j Darmes der Kiemenregion weit herabsenken. Ob diese Kiemen tatsächlich im Dienste der Respiration stehen oder ob nicht vielmehr die Haut, unter der immer reich entwickelte Gefäßnetze vorhanden sind - - weit stärkere jedenfalls, als man sie in der Wandung der Kiementaschen findet, soweit diese von niedrigem Epithel ausgekleidet sind — , diese iVufgabe übernimmt, ist nach den bisherigen Kenntnissen nicht sicher zu entscheiden. 2b) Darmkanal; Leberregion; Darmpforten; Nebendarm. Für den vordersten Abschnitt des Darmkanales des Rumpfes ist die Sonderung in den von den Kiementaschen besetzten dorsalen und den derselben entbehrenden ventralen soge- nannten Oesophagus überall sehr charakte- ristisch. Beide stehen oft nur durch einen engen Spalt miteinander in Zusammenhang. Nahrung findet man nur im ventralen, während der dorsale in der Regel nur reines Wasser enthält. Aber bei den meisten Enteropneusten erstreckt sich diese Sonde- rung in einen dorsalen und einen ventralen Abschnitt auch noch eine wechselnde Strecke weit in den auf die Kiemenregion folgenden Körperabschnitt hinein, indem der dorsale Teil auch hier noch zunächst als sogenannter postbranchialer Darm eine von dem ventralen deutlich abgesetzte ziemlich enge und tiefe Rinne darstellt, die von einem hohen, an Drüsenzellen reichen Epithel aus- gekleidet ist Erst nachdem diese Rinne aufgehört hat, treten im Darmkanal sehr einfache Ver- hältnisse ein, indem das Lumen mehr oder weniger kreisförmig oder oval auf dem Querschnitt wird, allerdings modifiziert durch oft in sehr regelmäßiger Weise aufein- ander folgende schräg gestellte Falten und Einbuchtungen. Sehen wir zunächst ab von einigen Kom- plikationen, die bei gewissen Gattungen in diesem Abschnitt auftreten, so finden wir die ersten erheblichen Veränderungen in dem etwa durch das Aufhören der Gonaden gekennzeichneten Körperteil. Hier wird das Darmepithel sehr hoch zylindrisch, und in ihm treten grünliche bis bräunliche Tröpfchen auf. Es beginnt die Leber- region. Bei Harrimania und Dolicho- glossus kann man in ihr von einer leichten seitlichen Schlängelung des Darmkanales reden, die aber immer sehr gering bleibt, so daß dieser nicht viel länger als das Hautrohr wird. Immerhin zeigt sich darin sehr deut- lich die Wirkung einer Vermehrung der Leberzellen, und zwar namentlich im dor- salen Teil. Stärker aber ist diese bei S c h i z o - cardium und den Ptychoderidae. Hier schieben sich die Leberzellen vorzugsweise dorsal zusammen und rücken dort rechts und links in tiefe Blindsäcke hinein, die sich, das Hautepithel vor sich vorwölbend, weit über die Körperoberfläche hervordrängen als äußerlich sichtbar werdende Leber- säckchen (Fig. 6), welche die Leber- region dieser Tiere zu einem sehr ausge- prägten Körperabschnitt machen (Fig. 1). Die vordersten sind im Leben bräunlich, die nv Fig. 6. Querschnitt der Leberregion von Glossobalanus minutus (Kow). 1 Leber- sackchen; Im Längsmuskulatur; nd Rücken-, nv Bauch- Nervenstamm; vi lateraler Gefäß- stamm; wf Wimperfurche. Aus Spengel. Enteropneusta 533 mittleren mehr oder weniger gallengrün, während die hinteren, die auch nach und nach an Größe abnehmen, allmählich farblos werden. Außer den Lebersäckchen kennzeichnet die Leberregion der Ptychoderiden noch ein Paar von longitudinalen Epithelstreifen der Darmwandung — bei Glossobalanus minutus nur der rechte ausgebildet — , die mit starken Wimpern besetzt sind und dadurch eine Wimperrinne darstellen, daß lateral davon das Epithel sich zu einem diese oft mehr oder weniger bedeckenden Längswulst verdickt (Fig. 3, 6). Da diese Wimperrinnen sich hart am lateralen Rande der Lebersäckchen befinden, ja manchmal sich etwas in diese hineinziehen, darf man wohl annehmen, daß sie dazu dienen, die ver- daulichen Bestandteile der aufgenommenen jNTahrungsmassen, die immer zum großen Teil aus anorganischen Bodenbestandteilen (Sand, Korallenkalk, Schlamm usw.) be- stehen, in die Lebersäckchen hineinzu- führen, so daß sie dort verdaut und resor- biert werden können. Dem letzteren Vor- gang dürfte das auf den Lebersäckchen immer vorhandene reiche Gefäßnetz dienen. Wimperrinne und Deckwulst verstreichen allmählich nach hinten zu im Bereiche der Abdominalregion, in deren hinterstem, als Schwanz bezeichneten Abschnitt sie immer fehlen. Im hintersten Teil der Abdominal- region erstreckt sich bei den Ptychoderiden das Darmepithel der ventralen Seite als ein dünner, schmaler, solider Kiel — gelegentlich mehrfach unterbrochen — , der an seinem ventralen Ende bisweilen stabförmig verdickt ist, bis dicht an die Haut (von Willey Pygochord genannt). Sehr eigentümliche Einrichtungen, deren physiologische Bedeutung einstweilen noch völlig dunkel ist, treffen wir bei den meisten Gattungen — nie bei Ptycho- deridae — im Bereiche des Darmkanal es der Genitalregion. Hier kommen zunächst kurze Kanäle in Betracht, durch die der Darm mit der Haut in Verbindung steht und sich auf der dorsalen Körperseite nach außen öffnet, sogenannte Darm pf orten. Sie treten entweder nur an einer Stelle auf (Harrimaniidae und Spengelia) und sind dann paarig, oder an zwei durch einen mehr oder weniger langen Zwischenraum voneinander getrennten: dann sind die vorderen unpaarig, die hinteren paarig. Gegen das Darmlumen sind sie etwas trichter- förmig erweitert und oft durch eine ring- förmige Verdickung der Grenzmembran be- ständig offen gehalten, während sich nahe an ihrer äußeren, immer engen Oeffnung ein Schließmuskel finden kann. Ihre Zahl ist erheblichen, wohl auch individuellen Schwankungen unterworfen. Die unpaarigen finden sich teils rechts, teils links, meist überwiegend auf einer Seite. Bei einigen Glandiceps -Arten wird der Darmkanal der hinteren Körperregion von einem langen, engen Neben darin begleitet, der dorsal vom Hauptdarm hinzieht. Fig der Sp. lumen; n v 7. Querschnitt aus dem vorderen Teil Lebeiregion von Glandiceps eximius bL, mit paarigen Darmpforten (ip). i Darm- nd Rücken-, nv Bauch-Nervenstamm. Aus Spengel. Auf weitere besondere Ausbildungen der Darmwand (Epithelzotten, Epithelwülste usw. mit großem Reich tum an Drüsen- zellen usw.) in dieser Region kann hier nicht näher eingegangen werden. Endlich bleibt noch das an die Mund- öffnung sich anschließende, den Kragendarm auskleidende Epithel zu besprechen (Fig. 2). Das der vorderen trichterförmigen Fort- setzung gleicht mehr oder weniger dem äußeren Hautepithel, geht aber ohne scharfe : Grenze in das des hinteren Teiles über, wo : es an Drüsenzellen arm oder nur nahe seiner Oberfläche von solchen durchsetzt ist. Etwa auf der Grenze befindet sich die mehr oder weniger spaltförmige Ausmündung des Eichel- darmhalses. 2c) Grenzmembran und Skelett. Mehr Aufmerksamkeit als das Epithel ver- [ langt hier die Grenzmembran zwischen jenem und dem Kragencölom. Die beiden Ecken der Eicheldarmmündung sieht man sich in je eine Furche fortsetzen (Fig. 2), die I jederseits bogenförmig ventralwärts und nach hinten zieht, meist bis nahe dem hinteren Kragenende, bei den Ptychoderiden etwa in der Kragenmitte endigend. Längs jeder dieser Rinnen zeigt die Grenzmembran eine auf dem Querschnitt ovale Verdickung, j d. h. jede von diesen stellt einen gebogenen Schenkel dar, der sich gegen die Eichel- 534 Enteropneusta darmmündung erstreckt. Sie dürften un- zweifelhaft dazu dienen, das Kragenlumen und damit den Mund stets geöffnet zu halten. Nachdem sie sich berührt haben, ver- schmelzen sie miteinander zu einem un- paarigen Körper, der sich als eine bedeutende Verdickung der Grenzmembran zwischen dem Eicheldarmhalse und dem Hautepithel des Eichelhalses darstellt und dessen wechselnde Form — bald breiter, bald schmäler, median oft mit einer kiel- oder kammförmigen Er- höhung versehen — von derjenigen der be- grenzenden Organe und dem Grade, in dem sich beide an der Absonderung der Grenz- membransubstanz beteiligen, abhängt. So entsteht ein relativ sehr fester Skelett- körper, das Eichelskelett, der sich nach vorn zu unter dem ventralen Divertikel des Eicheldarmkörpers plattenaitig verbreitert, um aber von da aus sich nach den Kändern stark zuzuschärfen und endlich wieder in die gewöhnliche dünne Grenzmembran der Eichelhaut überzugehen. Mehr oder weniger pflegt dieses Skelett I durch Anlagerung von weiteren Grenz- membranmassen, die seitens der angrenzen- den Cölome, namentlich der vorderen Enden der Kragencölome, hinzutreten und er- hebliche Mengen von Zellen und Muskel- fasern in sich einschließen — daher eine ge- wisse Aehnlichkeit ihres Gewebes mit Knorpel, „chondroide Substanz" — , verstärkt zu werden, manchmal in so hohem Grade, daß das ursprüngliche Skelett nur noch als ein fast davon umhüllter Kern erscheint. Da der Hals der Eichel fast immer sehr dünn ist, erhält die als Lokomotionsorgan so wichtige Eichel durch die Anwesenheit des Skeletts an ihrem Grunde eine wesentlich erhöhte Festigkeit. Bei dem Eingraben in den Boden mag auch der kielförmigen Er- hebung des Skelettkörpers (Zahn) eine Be- deutung als auseinandertreibender Keil zu- kommen. Ob die Bedeutung des Eicheldarmes sich wesentlich in ihrem Anteil an der Ab- sonderung des Skeletts einerseits und der Begrenzung des zentralen Blutraumes, der zwischen seinem Körper und der Herzblase gelegen ist, andererseits erschöpft, oder welche Funktionen ihm außerdem noch zukommen mögen, etwa die einer axialen Stütze der Eichelbasis, kann zurzeit kaum beurteilt werden. Auf letzteres weist immerhin die Existenz eines langen Wurmfortsatzes hin. Sicher dürfte das Gewebe des Eicheldarm- körpers fast immer eine gewisse Starrheit haben; denn sein Lumen ist mehr oder weniger — auch im Bereiche des Wurm- reduziert, seine Wandung durch eine eigentümliche blasige Beschaffen- heit ihrer Zellen sehr verdickt, so daß auf Schnitten eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Gewebe der Chorda dorsalis (Notochord) der Wirbeltiere entsteht, was Veranlassung gegeben hat, in dem Eicheldarm eine solche zu erblicken (s. unten). 2d) Mesenterien. Dadurch, daß im Kragen und im Rumpf zwei Paare von Cö- lomen vorhanden sind, erklärt sich in beiden Körperabschnitten die Anwesenheit eines dorsalen und eines ventralen Mesenteriums. Diese erfahren aber vielfache Reduktionen, so daß die beiderseitigen Cölome auf ver- schieden großen Strecken miteinander in Verbindung treten. Der Zustand im Kragen ist in dieser Beziehung, zum Teil auch in- dividuell, so wechselnd, daß hier die Her- vorhebung der Tatsache genügen muß, daß in der über den Ursprung der Eichel hinausgehen- den Verlängerung nach vorn die Mesenterien stets fehlen. Im Rumpfe bleibt das ventrale Mesenterium immer ganz niedrig und wird in seiner vollen Breite vom Bauchgefäß- stamm eingenommen. Auf der dorsalen Seite erlangt es dagegen oft eine viel bedeutendere Breite als der Rückengefäßstamm, kann aber bis auf diesen völlig schwinden. Trotz der Anwesenheit nur eines Cöloms in der Eichel kommt es aber auch hier zur Ausbildung eines dorsalen und eines ventra- len Mesenteriums von allerdings oft geringer Ausdehnung, indem offenbar bei dem Vor- wachsen des Eicheldarms die Hinterwand des Cöloms in eine dorsoventrale Falte ge- legt wird, die die Mesenterien liefert. Das ventrale Mesenterium erlangt namentlich bei denjenigen Formen, die einen Wurm- fortsatz des Eicheldarms besitzen, eine sehr beträchtliche Länge, während es bei dem Mangel eines solchen immer sehr kurz ist. Das dorsale ist, da seinen Platz die Herz- blase einnimmt, immer nur kurz oder fehlt vor dieser meistens ganz. 2e) Muskulatur; Perihämal- und Peripharyngealräume. Die geschilderten Verhältnisse der Mesenterien haben einen leicht verständlichen Einfluß auf die Musku- latur, über deren allgemeine Anordnung in den Außenwänden der Cölome oben die Haupttatsachen angegeben sind. An Einzel- heiten sei folgendes erwähnt. Die Längsmuskulatur der Eichel ist sehr mächtig entwickelt. Ihre Fasern entspringen am Eichelgrunde an der äußeren Grenz- membran und heften sich in den verschieden- sten Höhen der Außenwand ebenso wieder an bis fast hinauf zur Eichelspitze. Bei einigen Dolichoglossus-( Saccoglossus-) Arten kommen sie dabei auf Querschnitten in Kreisen zu liegen, während man ge- wöhnlich keine bestimmte Anordnung er- kennt. Dagegen macht sich bei Ptychoderi- den oftmals ein Zerfall der Längsmuskel- Enteropneusta 535 masse in radiäre Blätter bemerklich. In der Achse der Eichel bleibt immer ein Ge- biet von verschiedener Ausdehnung frei von Längsmuskelfasern und wird von einem mehr oder weniger dichten Bindegewebe eingenommen, das nach hinten ebenfalls aufhört und einem Hohlraum Platz macht, in den Eicheldarm, Glomeruli usw. hinein- ragen, von der dünnen, meist epithelialen Wand des Eichelcöloms bedeckt (Fig. 2). Dann und wann treten außer den Längs- muskelfasern noch gelegentlich kräftige, dorsoventrale Fasern zu beiden Seiten der erwähnten Mesenterien auf. Dagegen ist es fraglich, ob wirklich radiäre Fasern vor- handen sind und die Existenz solcher nicht nur durch den oft bogenförmigen Verlauf der Längsmuskelfasern vorgetäuscht wird. In der ventralen Wand der Herzblase ist besonders Quermuskulatur kräftig ent- wickelt, die durch ihre Kontraktion eine Ab- flachung dieser Wand und damit eine Aus- treibung des Blutes aus dem zentralen Blut- raum bewirkt. Von den beiden übrigen Körperabschnitten hat der Kumpf die einfachste Muskulatur. Die innere dünne, bei Harrimaniiden fehlende Ringmuskelschicht umfaßt immer den ganzen Körper, indem ihre Fasern zwischen der Haut und den Gefäßstämmen quer von einer Seite zur anderen ziehen. Die sehr viel stärkere Längsmuskulatur, die nach innen von jener liegt, kommt aber stets gesondert dem rechten und dem linken Cölom zu, indem ihre Schicht dorsal wie ventral gegen das Mesenterium hin sich ver- liert. Die Stärke der Längsmuskelschicht ist gewissen regelmäßigen Schwankungen unterworfen. So ist sie bei den Ptychoderiden, die Pleuren oder GenitalTlügel besitzen, immer an deren medialer Seite sehr dünn, an der lateralen dick. Vor allem aber ist bei vielen Enteropneusten auf der dorsalen Seite des Thorax jederseits ein schmaler Streifen ganz muskelfrei, wodurch eine „Submedianlinie" markiert wird. In dieser liegen die Genitalporen und bei vielen Gattungen auch die Kiemenporen, während diese bei den Ptychoderiden medial von den Genitalporen die Längsmuskulatur derartig durchbrechen, daß zwischen je zwei Poren ein Längsmuskelbündel aus seinem longitudinalen Verlauf lateralwärts ab- gelenkt wird. Eine weitere Modifikation der Längs- muskulatur steht bei den Ptychoderiden in Zusammenhang mit der Ausbildung einer eigentümlichen Scheidewand, die das Late- ralseptum genannt wird und auf diese Familie beschränkt ist. Dieses beginnt in wechselndem Abstand vom Vorderende der Kiemenregion als eine dünne Membran, die von der Submedianlinie zu einer weiter medialwärts gelegenen Linie ausgespannt ist, zwischen jener und den Kiemenporen (s. Fig. 3). Je weiter nach hinten, um so mehr ; nähert sich die letztere Linie den Kiemenporen, [ um hinter deren letztem von der Haut ab und an den Dannkanal überzutreten, sodaß nunmehr das Lateralseptum als eine schräge, durch das Rumpfcölom gespannte Scheide- wand erscheint, die den Darmkanal mit der Submedianlinie verbindet. Vor der Leber- region endigt es mit freiem hinteren Rande. Soweit es vorhanden ist, scheidet es demnach das Rumpfcölom jederseits in eine größere seitliche und ventrale Haupt- und eine kleinere mediale Dorsalkammer, die sich beide am Hinterrand des Septums wieder miteinander vereinigen. Da sich am vorderen Ende der laterale Ansatz in der Submedian- linie mit dem medialen vereinigt, so geht daraus hervor, daß die Dorsalkammer vorn blind geschlossen ist. Sie ragt verschieden weit gegen das Vorderende des Rumpfes hin. Für die Muskulatur aber hat das geschilderte Verhalten die Folge, daß diese, indem der Dorsalkammer eine eigene, durch das Lateral- septum abgetrennte Längsmuskulatur zu- kommt, auf der dorsalen Seite in einem der ersteren angehörigen medialen Teil und einen lateralen zerfällt. Die Beziehungen des Lateralseptums zu den Gonaden werden bei diesen besprochen werden. Die Muskulatur der Innenwand der Rumpfcölome ist nur eine schwache Darm- muscularis, die teils nur als Ring-, teils als Ring- und Längsmuskulatur ausgebildet ist und auf die Kiementaschen wie auf die Lebersäckchen sich erstreckt. Besonderes Interesse nimmt die Musku- latur im Bereiche der Mesenterien in An- spruch, in welchen ja die Gefäßstämme ent- halten sind, in deren Umfang allein sie aus- gebildet ist. Hier tritt sie nämlich in Ge- stalt von Dorsoventralfasern auf, die sich bogenförmig an jede Seite des Gefäßstammes anlegen und so für diese eine sie ringförmig [ umfassende Muskulatur liefern, die einzige, die diesen, soviel bekannt, eigen ist. Gegen : die Cölomhöhle liegen darauf hohe, locker geordnete Zellen, während das übrige Peri- toneum aus niedrigen, an der Innenseite der Längsmuskulatur sogar ganz platten und von dem die Muskelfasern zusammenhalten- den Bindegewebe nicht deutlich zu trennen- den Zellen besteht; nur im Bereiche der [ muskelfreien Submedianlinie und auch wohl auf dem Darm sind sie hier und da etwas höher. Zu der besprochenen Muskulatur kommt bei Schizocardium, Glandiceps und ; Spengelia, denen die äußere Ringmusku- latur fehlt, noch nach innen von der Längs- 536 Enteropneusta muskulatur eine kräftige sogenannte innere i der Innen- zur Außenwand und dabei mehr Ringmuskulatur, deren Fasern aber nicht I oder wenigei von vorn nach hinten oder um- den ganzen Rumpf umfassen, sondern auf | gekehrt verlaufen (Radiärfasern). Wie man der rechten und linken Seite gesondert sind. ; sieht, ist diese Muskelanordnung in hervor- Auf ihre komplizierte und gewisse Ver- schiedenheiten aufweisende Anheftungs- weise kann hier nicht eingegangen werden. Die Muskulatur des Kragens ist un- gemein kompliziert; sie besteht einerseits aus den Fasern der Kragencölome selbst, andererseits aus solchen, die Fortsetzungen der Rumpfcölome in den Kragen angehören. Von letzteren sind außer den bereits er- wähnten Perihämalkanälen bei den Ptycho- deriden zwei ganz flache, mantelartig die ven- tralen und seitlichen Teile des Kragen- darmes umfassende Fortsetzungen vorhanden, nv Fig. 8. Querschnitt der Genitalregion von Glossobalanus mi- nutus (Kow.). gf Genitalwulst; gl lateraler, gm medialer Gonaden- ast; gp Genitalporus ; Im Längsmuskulatur ; nd Rücken-, nv Bauch- Nervenstamm; sei Lateralseptum. Aus Spengel. die mit einer Muskulatur ausgestattet sind und als P e r i p h a r y n g e a 1 r ä u m e bezeichnet werden. Sie ergänzen gewisse Teile der inneren Kragenmuskulatur zu einer Ringmuskelschicht. Die Hauptbestand- teile der Muskulatur der Kragencölome sind Längsfasern, die vom hinteren Ende des Kragens entspringen, jederseits nach vorn zum Eichelhals konvergieren und sich dabei an den Schenkeln und weiterhin am Körper des Eichelskeletts anheften, Rück- zieher der Eichel darstellend. Andererseits entspringen vom Eichelhals, und zwar aus dem dort vorhandenen chondroiden Ge- j viduen einporiger Arten auf, wobei die webe, zahlreiche Fasern, die unter der i akzessorische Pforte mehr oder weniger vorderen inneren Fläche des freien Kragen- rudimentär bleiben kann und oft nicht in abschnittes fächerförmig zu dessen Rande Verbindung mit dem Eichelcölom tritt, ausstrahlen. Dazu kommen hier Ring- Andererseits kann auch eine unpaarige fasern. Das ganze Innere der Kragencölome Pforte nicht nur links vom Eicheldarm, endlich ist von Fasern durchzogen, die von sondern auch rechts davon mit dem Cölom ragendem Maße dazu geeignet, der grabenden Tätigkeit des Kragens zu dienen, wobei einerseits der freie, den Mund — mit der Eichel — umschließende Kragenteil in Be- wegung versetzt, andererseits die Dicke des Kragens beständigem Wechsel unterworfen wird. Die Höhle des Kragens ist gioßenteils von einem lockeren Bindegewebe erfüllt, in dem bisweilen regelmäßige Hohlräume frei bleiben, außerdem meist solche zu beiden Seiten der Mesenterien, soweit diese erhalten bleiben. 21) Pforten. Im An- schluß an die Cölome seien einige Einzelheiten in bezug auf die Pforten erwähnt. Die Eichelpforte — oder, wo deren zwei vorhanden sind, beide — ist immer ein zylindrischer Kanal, der von einem ziemlich hohen Wimperepithel ausgekleidet ist. Der äußere Porus ist meist länglich, von wechseln- der Ausdehnung, oft nicht median gelegen, sondern nach links ver- schoben. Die innere Oeffnung, die ins Eichel- cölom führt, ist meistens sehr eng, und das sich daran anfügende Gewebe des letzteren, in dem vielfach ein Ringmuskel auftritt, pflegt unregel- mäßig gitterartig zu sein, wodurch das Eindringen größerer fester Teile mit dem der Schwellung der Eichel dienenden Wasser, das durch den Porus aufgenommen wird, verhindert wird. Wo zwei Pforten vorhanden sind, liegt die eine rechts, die andere links, beide gewöhn- lich sehr nahe aneinander. Ein solches Auf- treten doppelter Eiehelpforten findet sich nicht nur als ständige Einrichtung bei den Harrimania-Arten oder bei einzelnen Arten anderer Gattungen (Ptychodera flava, Glossobalanus hedleyi), sondern tritt gelegentlich auch bei einzelnen Indi- Euteropneusta 537 kommunizieren oder sich dessen blindge- schlossenem Ende nähern. Die Kragenpforten (Fig. 9) haben stets eine reicher ausgebildete Gestalt, indem sie nicht zylindrisch sind, viel- mehr ihre epitheliale wim- pernde Auskleidung längs der dorsalen Wand mit einer leistenförmigen Ver- dickung oder einer Falte versehen ist, so daß der Querschnitt des Lumens nicht kreisrund oder oval, sondern hufeisenförmig er- scheint. Gegen die innere Oeffnung sind die Pforten nicht verengt, sondern wei- ten sich etwas trichter- förmig aus, und dabei ist die eine Lippe des Trichters oft länger als die entgegen- gesetzte. Ihr Epithel schärft sich schließlich zu und geht in die dünne peritoneale Aus- kleidung des Kragencöloms über, das die Außenfläche der Pforte über- zieht. Die äußere Oeffnung oder der Kra- ge npo r us liegt nicht im Hautepithel des hinteren Kragenrandes, sondern in der vorderen Wand der ersten Kiementasche, so daß die Zu- und Abfuhr von Wasser durch deren Porus vermittelt wird. Die von Wille y behauptete Existenz von Rumpf pf orten, die mit dem Innern der Perihämalkanäle kommunizieren und deren Porus ebenfalls in der ersten Kiemen- tasche, und zwar in deren medialer Ecke, liegen soll, haben andere Beobachter nicht bestätigen können. 2g) Nervensystem und Sinnes- organe. Vom Nervensystem bedarf nur das Kragenmark noch einer eingehen- deren Darstellung. Es ist ein meist auf dem Querschnitt deutlich abgeplatteter Strang, bestehend aus einer dorsalen von Zellen und einer ventralen von Fasern einge- nommenen Masse. Wie weit die ersteren — abgesehen von spärlichen Zellen unzweifel- haft drüsiger Natur — Nerven- oder Glia- und Stützzellen sind, ist unentschieden. Ein unzweifelhaft nervöser Charakter kommt nur wenigen sehr großen Ganglienzellen zu, die je einen starken Fortsatz in die Faser- schicht entsenden. Sie sind bei den meisten Enteropneusten und zwar vorwiegend im hinteren Teil des Kragenmarks nachge- wiesen worden, dagegen nicht im zelligen Teil des Rücken- oder Bauchstammes oder des Nervenringes. Im Zellenteil des Kragenmarks liegen entweder sehr zahlreiche, kleine, oft un- regelmäßig 2-estaltete sogenannte Mark höhlen, viele hintereinander und auch auf einem Querschnitt mehrere nebeneinander, davon meist je eine ganz seitlich, oder es findet sich - - gelegentlich außer jenen — Fig. 9. Längsdurchschnitt durch eine Kragenpforte und ihre Umgebung von Harrimania kupfferi (v. W.-S.). oua Kragen-, cöp Rumpf eölom; kt erste Kiementasche; sep Kragen-Rumpf - Septum; tr Kragenpforte. Aus Spengel. oft ansehnliche Bauchmark der aber meist vom nur bei gewissen Enden offen ist. gestaltete eine einzige weitere, Ach senhöhle, die das Länge nach durchzieht, und hinten geschlossen, Ptychoderiden an beiden Solche Neuroporen finden sich dann am Grunde von flacheren oder tieferen, nament- lich am hinteren Ende des Kragens oft sehr tiefen Einsenkungen des Hautepithels. Daß diese sogenannten Vorhöhlen nicht zum Kragenmark gehören, geht daraus hervor, daß sie in jeder Hinsicht den Charakter der anstoßenden Haut tragen, also die vordere den des Eichelhalses auf der ventralen. der Vorderwand des Kragens auf der dor- salen Seite, die hintere auf der ventralen Seite den des Rumpfes, mit median ge- lagertem Rückennervenstamm, der sich hier mit den von beiden Seiten kommenden Bogen des Nervenringes verbindet, und auf der dorsalen den der angrenzenden Hinter- wand des Kragens. Bei den Ptychoderiden setzt sich die Zellenmasse des"' Kragens an verschiedenen Stellen durch dickere oder dünnere, bald solide, bald von einem engen Hohlraum durchzogene, bisweilen äußerlieh von einer Nervenfaserschicht bekleidete Zellenstränge, sogenannte Wurzeln (Fig. 2), die in sein wechselnder, gelegentlich bis zu 17 an- steigender Zahl "(Glossobalanus rufi- collis) vorhanden sein können, mit der Rückenhaut des Kragens in Verbindung. Sind sie hohl, so kann der Kanal bis ins Kragenepithel reichen, durchbohrt dieses aber nie. Nach innen zu pflegt er mit einer Markhöhle oder der Achseiihöhle in Ver- 538 Enteropneusta bindung zu stehen. Die physiologische sowohl wie die morphologische Bedeutung dieser Gebilde, die bei anderen Enteropneu- stenfamilien nicht vorkommen, ist gänzlich unbekannt. Es scheinen bis zur Haut ver- längerte Teile eines bei sehr jungen Pty- choderiden vorhandenen fortlaufenden dorsalen Kieles des Kragenmarks zu sein, der sich ähnlich auch bei erwachsenen Dolichoglossus-( Saccoglossus - ) Arten findet. Als ein fragliches Sinnesorgan wird nur bei Stereobaianus canadensis eine Grube des Hautepithels an der dem Munde zugekehrten Fläche der Eichel in der Lite- ratur erwähnt. Sie liegt der ventralen Seite des Eicheldarmkörpers dicht an. Nach- forschungen nach einem an der Eichel- spitze gelegenen Sinnesorgan, wo bei der Larve ein Augenpaar vorhanden ist, haben zu keinem Resultat geführt. 2I1) Blutgefäßsystem; Glomeruli. Die oben gegebene Darstellung des Blut- gefäßsy stems sei durch Erwähnung einiger Längsstämme ergänzt, die sich außer dem Rücken- und Bauchgefäßstamm finden. Solche sind namentlich im Thorax in den Submedianlinien verbreitet als Gefäße, die in Beziehung zu dem Gefäßnetz in der Wand der Gonaden treten. Im Bereiche des Post- branchialdarmes gehen sie auf diesen über und sind vielfach noch als zwei Stämme durch die Leberregion (s. Fig. 6, vi) hindurch nahe der Darmwand zu verfolgen. Einzelheiten können hier nicht wohl besprochen werden. Zum Gefäßsystem muß auch noch der Glomerulus der Eichel gezählt werden. Er besteht, wie erwähnt, aus reich entwickelten, netzartig untereinander verbundenen, blut- führenden Falten der Grenzmembran zwischen dem Eichelcölom und dem Eichel- darm bezw. der Herzblase, deren Vorder- fläche mehr oder weniger von dem als Ganzes ungefähr hufeisenförmig gestalteten Glo- merulus bedeckt wird. In den Netzmaschen liegen locker angeordnete Zellen, an den Kanten, unter denen die Gefäßspalten er- weitert zu sein pflegen, ein höheres, oftmals zylindrisches Epithel. Die Glomerulus- gefäße stehen einerseits in Verbindung mit dem zentralen Blutraum, andererseits geht von ihnen jederseits ein starkes Gefäß aus, das sich in den oben erwähnten Gefäßbogen fortsetzt, der zum Bauchgefäßstamm führt. Die Folge dieser Anordnung ist, daß jeden- falls der größte Teil des Blutes, der durch den dorsalen Gefäßstamm zugeführt wird, die Blutbahnen des Glomerulus passieren muß, ehe es wieder zum Rumpfe zurückkehrt, eine Tatsache, die für die Auffassung der Funktion des Glomerulus von Bedeutung ist. 21) Exkretions organe. Die Ent- scheidung darüber hängt mit der Beant- wortung der Frage nach der Existenz von Exkretionsorganen zusammen. Als Nephridien hat man geglaubt die Eichel- und Kragenpforten ansehen zu können, die ja als röhrenförmige mit dem Cölom in Verbindung stehende Organe eine gewisse Aehnlichkeit mit Metanephridien besitzen. Dabei übersieht man allerdings, daß gerade der größte und mit mächtig entwickelten vegetativen Organen ausgestattete Ab- schnitt des Körpers, der Rumpf, in dem man zunächst Nephridien erwarten sollte, obwohl seine Cölome von denen der Eichel und des Kragens vollständig getrennt sind, sicher solcher entbehrt. Ferner fehlt es den Pforten, und zwar der Eichelpforte gänzlich und den Kragenpforten in hohem Maße, an der Ausstattung mit Blutgefäßen, wie man sie bei dem Mangel eines typischen exkretorischen Epithels in diesen Kanälen wohl zu erwarten berechtigt sein würde. Daß Solenocyten, wie an den Nephridien vieler Polychäten, nicht vorhanden sind, darf um so mehr als Tatsache gelten, als Versuche, sie an diesen Stellen aufzufinden, nichts Derartiges zutage gefördert haben. Machen diese Erwägungen die nephridiale Natur der Pforten wenig wahrscheinlich, so werden wir durch das oben in bezug auf die Einschaltung des Glomerulus in das Blutgefäßsystem Bemerkte zu der Vermutung geführt, daß eben in diesem eine Ab- sonderung von Harnstoffen aus dem von allen Körperteilen zusammenströmenden Blut stattfinden könnte, und diese Annahme wird dadurch gestützt, daß man in den den Glomerulus bedeckenden Epithelien Vacuolen und farbige Einschlüsse antrifft, die wohl kaum anders denn als dort abgeschiedene Exkrete gedeutet werden können. Und wenn wir berechtigt sind, den Glomerulus in diesem Sinne aufzufassen, so dürfte auch die besondere Beschaffenheit der den Kragen durchziehenden Gefäßbogen, die nämlich stets eine mehr oder weniger reiche Netz- oder Plexusbildung aufweisen — wozu noch die Bildung dichter Gefäßnetze unter dem Darm- wie unter dem Hautepithel des Kragens kommen — , auf eine gleiche Be- deutung dieser Teile schließen lassen. Mit- hin werden wir wohl annehmen müssen, daß die Exkretstoffe aus den genannten Gefäßnetzen in die Cölomilüssigkeit von Eichel und Kragen gelangen bezw. in das zum Zwecke der Schwellung in diese auf- genommene Wasser und bei dessen Ent- leerung nach außen abgeführt werden. Da- nach also würden die Pforten, die eben nur den Cölomen der beiden vorderen Körper- abschnitte zukommen, zwar eine gewisse Rolle bei der Exkretion spielen, aber nicht selbst als Exkretionsorgane oder Nephri- dien, sondern nur neben ihrer primären Auf- Enteropneusta 539 Endlich eingehen- gabe der Wassereinführimg zu lokomotori- schen Zwecken sozusagen als Harnleiter fungieren. 2k) Geschlechtsorgane, bedürfen noch die Gonaden einer den Schilderung. Die männlichen und die weiblichen Gonaden sind nur an ihren Pro- dukten zu unterscheiden, durch die manchmal schon an dem lebenden Tiere eine ver- schiedene Farbe bedingt wird, aber wesent- nd Fig. 10. Querschnitt der Kiemenregion von Harrimania kupfferi (v. W.-S.). cöp Rumpf- cölom; gl laterale, gm mediale Gonade; kd Kiemenzunge; kh Kiemendarm; kp Kiemen- porus; ks Kiemenseptum; nd Rücken-, nv Bauch - Nervenstamm : ö Oesophagus. Aus Spengel. talporen. Endlich sind in gewissen Fällen die einzelnen Gonaden mit meh- reren Ausführungsöffnungen versehen, in- dem zu denen in der Submedianlinie noch akzessorische Genitalporen kommen. Bei den mit einem Lateralseptum ausgestatteten Ptychoderiden findet in dessen Bereiche immer eine Verästelung der Gonaden derartig statt, daß ein Ast in die Haupt-, der andere in die Dorsalkammer des Cöloms zu liegen kommt, während das Septum zwischen ihnen entspringt (Fig. 8). 3. Ontogenie. Beobachtungen über die Ontogenie liegen bis jetzt nur für wenige gleichartig gebaut Ovarien und Säcke. lieh geordnet, oder verästelte düngen von den Eiern Spermien und deren Bil- dungszellen eingenommen werden, während im Innern ein enges Lumen bleibt, das in den des kurzen Aus- und ganz gleich an- Hoden sind einfache deren dicke Wan- und 1 Enteropneusten vor, nämlich für 2 Dolicho- glossus-(Saccoglossus-) Arten (Ba tes 0 n und Davis) und von Balanoglossus clavigerus (Heider), von denen erstere relativ große, letzterer sehr kleine Eizellen besitzt. Dementsprechend entwickelt sich aus letzteren die als Tornaria bekannte pelagische, durch den Besitz einer kompli- ziert angeordneten Wimperschnur an Echino- dermenlarven erinnernde Larve (Fig. 11), während aus ersteren eine Larvenform von nur kurz dauernder schwimmender Lebens- weise ohne solche Wimperschnur hervor- geht. Beide Larvenformen sind aber mit einem präanalen Ringe von starken Wimper- haaren und an ihrem Scheitelpole mit einem Schopf langer Wimperhaare ausgestattet. Die Embryonalentwickelung verläuft insofern übereinstimmend, als durch totale, wesent- lich äquale Furchung eine Blastula entsteht i und aus dieser eine Gastrula hervorgeht. j deren Blastoporus zum After wird. Noch ehe der Vorderdarm als eine in der ventralen Medianlinie mittels des Mundes durch- führungsganges übergeht. 13-r r f Bei den meisten Ente- ropneusten bilden die Go- naden eine lange, lateral von den Kiementaschen gelegene und sich weiter in die Genitalregion fort- setzende Reihe, während bei manchen (Fig. 10) außerdem Gonaden in der Kiemen- region noch medial von den Kiemenporen vor- handen sind. Ferner können außer den in der Submedianlinie ausmünden- den noch lateral davon ge- legene vorhanden sein mit eigenen sekundären Geni- 1 l * M U — 16 Fig. 11. Tornaria vom Rücken 1 Scheitelplatte; 3 Herzblase; 5 7 After; 9 präannaler Wimperring; 11 Liehelporus; cölom; 18 Oesophagus; 19 Magen. Die übrigen Zahlen bezeichnen Wimperschnurteile und die durch sie begrenzten Oberfläche. Aus Lang. (B) und von Kragencölom; (C). Seite Rumpfcülom; 12 Eichel- Felder der )40 Enteropneusta brechende Aussackung gebildet ist, sondern sich die am Grunde der Archenteronein- stülpung gelegenen Zellen als eine gegen den Scheitel gerichtete Aussackung ab, nehmen unregelmäßige Gestalt an und formieren einen Sack, der sich einerseits an den Scheitel- ektoblast, andererseits mit einem dorsal- wärts gekehrten Fortsatz nahe der dorsalen Medianlinie an den Ektoblast anlegt und dort einen Porus gewinnt, dagegen vom Archenteron sich abtrennt: so ist das Eichel- cölom mit seinem Porus gebildet. Inzwischen sondert sich der Archenteronsack in einen scheitelwärts gewandten mehr oder weniger kugelförmigen Mitteldarm und einen bis zum After reichenden Enddarm. Damit ist das wiederholt pclagisch angetroffene jüngste Tornariastadium erreicht, in dem im Ekto- blast die Differenzierung der Wimperschnur- zellen von den übrigen sieh vollzogen hat. Ueber die Entstehung des mittleren und hinteren Cölompaares gehen die Angaben noch erheblich auseinander. Hei der sah die Bildung von einem Cölompaare in Ge- stalt von zwei kleinen Aussackungen aus dem Enddarm, was auch mit Spengels Beobachtungen übereinstimmt, der dann aus diesem Paare sich ein vorderes Paar von Bläschen als Anlagen der Kragencölome abgliedern läßt, während nach Bateso n beide Paare sich unabhängig voneinander aus der Urdarmwand ausstülpen, nach Davis aber beide Fortsetzungen der nach hinten gerichteten Bänder des Eichelcöloms sein sollen. Bei einer Tornaria von den Bahamas endlich sollen beide Paare durch Zusammen- treten von Mesenchymzellen, also ohne Beteiligung des Endoblastes, entstehen (Morgan). Daß wirklich so verschiedene Bildungsweisen vorkommen sollten, erscheint wenig wahrscheinlich. Tornarien sind in einer erheblichen An- zahl von Formen bekannt, die hauptsäch- lich nach Verschiedenheiten in der An- ordnung der Wimperschnüre unterschieden werden. Von keiner aber hat bisher die Artzugehörigkeit nachgewiesen werden können. Nur soviel ist wahrscheinlich, daß wenigstens die meisten Larven von Ptycho- deriden sein werden. Harrimania mit ihren gewaltigen Eizellen wird unzweifelhaft eine Form sein, deren Entwickelungsweise noch mehr vereinfacht sein dürfte als die von Dolichoglossus (Saccoglossus) und vielleicht nicht einmal ein freischwimmen- des Larvenstadium liefert. Aus der Organogenese seien folgende Punkte hervorgehoben. Bei ganz wenigen Tornariaexemplaren kam bisher die Bil- dung des Eicheldarmes zur Beobachtung, der als ein nahe der Mundöffnung ausmünden- des Epithelsäckchen vorhanden war (Mor- gan), von dem es aber fraglich geblieben ist, welchem Keimblatte es entstammt. Die Kiementaschen entstehen als paarige Aussackungen des endoblastischen Vorder- darmes, und zwar tritt bei den meisten Tornarien kurz vor der Metamorphose nur ein Paar auf, bei anderen schon 2 bis 3 Paare dahinter, die bei den übrigen später ent- stehen. Es sind anfangs zylindrische Säcke, die bald einen äußeren Porus erhalten und kurz darauf eine Zunge. Im Laufe des Wachstums findet in wesentlich der gleichen Weise eine beständige Neubildung von Kiementaschen hinter den vorhandenen statt. Die Nervenstränge bilden sich kurz vor der Metamorphose als Differenzierungen des Ektoblastes. Mit dieser ist eine Ver- senkung des auf den Kragen fallenden Teiles des dorsalen Nervenstammes in die Tiefe verbunden, die sich entweder in der Form einer Abspaltung oder einer Kinnenbildung vollzieht: so sondert sich das Kragenmark von dem übrigen dorsalen Nervenstrang. Ueber die Anlage der Herzblase gehen die Ansichten auseinander: nach Spengel ent- steht diese als eine kleine Wucherung des Ektoblastes zur rechten Seite des Eichel- porus, nach Morgan durch Zusammen- treten von Mesenchymzellen an dieser Stelle. Bei der Tornaria führt die Blase schon von einer geringen Größe an regelmäßige herz- artige Pulsationen aus, weshalb sie als Herz beschrieben worden ist. Wie der eigentüm- liche Komplex der Organe am Eichelgrunde (der Eicheldarm ventral, nur durch den zen- tralen Blutraum von der Herzblase getrennt, die weit entfernt von jenem an der dor- salen Seite entstanden ist) zustande kommt, ist noch nicht aufgeklärt: mit der Meta- morphose muß jedenfalls eine gegenseitige Verschiebung dieser Organe erfolgen, durch die jener Komplex in eine tiefe Nische des Eichelcöloms zu liegen kommt und nun von dessen Hinterwand bekleidet wird, ferner eine Verlagerung des Oesophagus der Tor- naria nach hinten, so daß die Kiemen- taschen hinter den Kragencölomen die Haut im vorderen Teile der von den Rumpfcölomen eingenommenen Region durchbrechen. Die Metamorphose der frei umher- schwimmenden Tornaria in das am Boden kriechende Tier geht im Laufe weniger Stunden vonstatten und ist mit einer auf- fallenden Verkleinerung verbunden, die in erster Linie durch den vollständigen Schwund der das Blastocöl erfüllenden nahezu wässe- rigen Gallerte bedingt ist. Damit geht nicht nur eine gänzliche Auflösung der Wimperschnur sowohl als auch des prä- analen Wimperringes Hand in Hand, son- dern auch ein Zerfall bestimmter Gebiete des Hautepithels der Tornaria, während die Enteropneusta 541 Ueber die Biologie der erhaltenen Teile sich zusammenschließen und gleichzeitig zu einem Zylinderepithel werden, in dem zahlreiche Drüsenzellen auftreten. Auch die zwei Augenflecke, die bei allen Tornarien auf einer Scheitelver- dickung angebracht sind, gehen bald ganz zugrunde. Indem die Mundöffnung sich vertieft, grenzt sich die davor gelegene Partie des Larvenkörpers als Eichel ab, während die Sonderung des Kragens von dem anfangs noch kurzen Rumpf zunächst wenig deutlich ist, mit der Streckung des letzteren aber zunimmt. Sehr bald beginnt das wurm- förmig gewordene Tierchen sich in den Boden einzugraben. 4. Biologie. Enteropneusten ist wenig bekannt. Für Balanoglossus clavigerus ist nach Be- obachtungen an der Küste der Adria (Stiasny 1910) festgestellt, daß seine in den Sand des Meeres gegrabenen Gänge, die sich bis zu 32 bis 3/4m Tiefe erstrecken, durch 2 Oeffnungen mit der Oberfläche in Verbin- dung stehen. Durch die eine derselben wird der Sand, der den Darm passiert hat. in charakteristisch gestalteten Knäueln aus- gestoßen, während dem anderen das Kopf- ende zugewandt ist. Wie andere Sand- fresser dürften die Enteropneusten aus den organischen Beimengungen des Quarz- oder Kalksandes, mit dem sie ihren Darmkanal anfüllen, ihre Nahrung ziehen. Einem Verständnis entzieht sich bis jetzt die Be- obachtung, daß gewisse Glandiceps -Arten zu Zeiten in gewaltigen Schwärmen im Oberflächenwasser schwimmend angetroffen werden, Ikeda 1908, nahe der Küste von Japan, angeblich regelmäßig in warmen Sommernächten, August und September: eine andere Art bei Surabaja, Java (April bis Juni). — Für Balanoglossus clavigerus ist beobachtet, daß die Eier zu Hunderten in schleimigen Laichklumpen von etwa Nußgröße an einem Ende der Wohnröhre abgelegt werden. Einige Harrimania- Arten erzeugen sehr große Eier, die in noch höherem Grade „abgekürzte" Entwicklung haben dürften als die Dolichoglossus- Arten, deren Ontogenie verfolgt ist (s. oben). Für mehrere Ptychoderiden-Arten ist ausgedehnte Reerenerationsfähigkeit Synaptikel vorhanden. meistens Ringmuskulatur vor- eine nachgewiesen worden, dankder Eichel, Kragen und Kiemenregion ersetzt werden können. 5. Systematik und Phylogenie. Die bisher bekannten Enteropneusten können in folgende 3 Familien eingeteilt werden, deren Hauptmerkmale angegeben sind. I. Ptychoderidae. Eicheldarm ohne Wurmfortsatz. Eichelskelettschenkel bis zur Mitte des Kragens reichend. Kragenwurzeln vorhanden. Rumpf: Aeußere handen. Lateralsepten vorhanden. Genitalpleuren vorhanden. Lebersäckchen meistens vorhanden. Keine Darmpforten vorhanden. Dahin die Gattungen Ptychodera Eschsch., Balanoglossus D. Ch. und Glossobalanus Spgl. IL Spengeliidae Willey (Glandi- cipitidae Spgl.). Eicheldarm mit Wurmfortsatz. Eichelskelettschenkel bis ans Hinter- ende des Kragens reichend. Keine Kragenwurzeln vorhanden. Rumpf: Synaptikel vorhanden (Sckizo- cardium, Spengelia) oder fehlend (Glan- diceps). Ringmuskulatur nach innen von der Längsmuskulatur. Keine Lateralsepten vorhanden. Keine Genitalpleuren vorhanden. Lebersäckchen vorhanden (Sehizo- cardium, Spengelia) oder fehlend (Glan- diceps). Darmpforten vorhanden (paarige und unpaarige: Schizocardium, Glandiceps; nur unpaarige: Spengelia). Dahin die Gattungen Schizocardium Spgl., Spengelia Willey und Glandi- ceps Spgl. (Die Zugehörigkeit von Willeya Punn. ist zweifelhaft.) III. Harrimaniidae Spgl. (vorläufig!). Eicheldarm ohne Wurmfortsatz. Eichelskelettschenkel bis ans Hinter- ende des Kragens reichend. Keine Kragenwurzeln vorhanden. Rumpf: Synaptikel nicht vorhanden. Ringmuskulatur nicht vorhanden. Keine Lateralsepten vorhanden. Keine Genitalpleuren vorhanden. Keine Lebersäckchen vorhanden. Darmpforten vorhanden oder fehlend, (nur unpaarige: Dolichoglossus), (Harri- mania, Protobalanus?, Stereobala- lanus?). Dahin die Gattungen Harri mania Ritter, Protobalanus Caull. et Mesn., Dolichoglossus Spgl. (Saccoglossus Schimk.) und Stereobaianus Spgl. Das meiste scheint dafür zu sprechen, daß die einfachsten Harrimaniidae und unter ihnen wieder Protobalanus die primitivsten, dagegen die Ptychoderidae die höchst- stehenden Formen sind. Die Entscheidung darüber ist von großer Bedeutung für ge- wisse phylogenetische Fragen. Es besteht nämlich eine auffallende Aehnlichkeit zwi- schen den Kiemen (Kiemenbogen, Kiemen- zungen, 3 zinkige Skelettgabeln, Synaptikel) von Enteropneusten und denen des Amphi- 542 Enteropneusta — Entwickeluiigsmeckanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere oxus, die von mancher Seite geradezu als ein Beweis für die Verwandtschaft jener mit den Chordaten angesehen wird, obwohl mancherlei auch dafür spricht, daß die Aehn- lichkeit auf Konvergenz beruht. Im Zu- sammenhang damit wird der Eicheldarm der Enteropneusten als eine auf den Kopf beschränkte Chorda dorsalis (Notochord) gedeutet (Hemichordata). Für die An- nahme, daß der von den Kiemen nicht um- faßte ventrale Teil des Darmkanals der Kiemenregion dem Endostyl (Thyreoidea) der Chordaten entspreche, fehlt jede Stütze. Die Deutung des Kragenmarks und des dorsalen Nervenstammes als Gehirn und Rückenmark stößt auf die Schwierigkeit, daß daneben ein durch einen Nervenring mit dem Kragenmark verbundener Bauch- nervenstamm vorhanden ist. Auf andere Organe kann der Vergleich überhaupt nicht ausgedehnt werden. Andererseits stützt sich die Annahme einer Verwandtschaft mit Echinodermen auf eine, durch die Anordnung der Wimperschnur bedingte Aehnlichkeit der Tornaria mit Echinodermenlarven, denen jedoch der präanale Wimperring fehlt, und auf die Entstehung der Cölome aus dem Archenteron. Indem man glaubt, sowohl den Enteropneusten als auch den Echinodermen 3 Paare von Cölomen zuerkennen zu müssen, ist man zur Annahme einer trimeren Stammform gekommen, an die sich auch andere Tiere anschließen sollen, und hat so versucht, Verwandt- schaftsbeziehungen zu diesen zu verfolgen. Wenn endlich eine gewisse Uebereinstimmung der Tornaria mit der Trochophora sich als nicht bedeutungslos herausstellen sollte, so werden Beziehungen zu den Anneliden und anderen Trochozoen angenommen werden können. Einstweilen bleibt die Phylogenie der Enteropneusten sehr unsicher. Literatur. Anatomie : Spengel, Die Enlero- pne unten, in: Fauna und Flora des Golfs von Neapel, Monographie 18, 1893. — Willey, Enteropneusta from the South Pacific, in: Willey s Zoological Results, Cambridge 1899. — Ontogenie: Ba teson, in : Quart. Jo um . n> irrosc. Soc, Vol. 24, 25, 26, 1884 bis 1886. — Davis, in: Univ. California Pnbl. Zool., Vol. 4, 1908. (Dolie.hoylossus). — Heider, in : Zool. Am., Vol. 34, 1909. (Balanoglossus). Metamorphose der Tornaria: Spengel 1893. — Morgan, in: Journ. Morphol., Vol. 5 und 9, 1891 und. I894. — Systematik : Spengel 1893 und in: Zoolo- gisches Jahrbuch, Vol. 15, Systematik, 1901. ,T. W. Spengel. Entwickelunasmechanik oder Ent- wickelungsphysiologie der Tiere und der Pflanzen. A. Entwickelungsmechanik oder Ent- wickelungsphysiologie der Tiere. I. Gebietsbegrenzung und Aufgabe der Ent- wickelungsmechanik oder Entwickelungsphysio- logie. II. Die Geschichte der Eßtwickelungs- mechanikoder Entwickelungsphysiologie. 111. Das Determinationsproblem oder die Frage nach der Verteilung der Entwickeluiigspotenzen im Em- bryo. A. Deskriptiver Teil. 1. Die Beziehung zwischen Medianebene und erster Furche. 2. Sind die Hauptrichtungen des Embryos schon am un- befruchteten Ei zu erkennen? 3. Die Bestim- mung der Medianebene durch die Eintritts- stelle des Spermatozoons. 4. Die Mosaikfurchmig tierischer Eier. 5. Sind die Orte der Keim- blätter- und Organbildung schon am unge- furchten Ei zu erkennen? 6. Die Bedeutung der R'ifung für die Verteilung der organbildenden Eibezirke. 7. Das Prinzip der organ bildenden Keimbezirke (His) und die Begriffe: prospektive Bedeutung und prospektive Potenz (Driesch). B. Experimenteller Teil. Bv Die Trennung der Blastomeren und ihre Folgen. 1. Ueber die künst- liche Hervorrufung halber Embryonen nach Zer- störung einer der beiden ersten Furchungs- kugeln, sowie über die Nachentwickelung (Post- generation) der fehlenden Körperhälfte. 2. Die Versuche an Echinodermen. 3. Experimente an anderen Formen mit gleichem Ergebnis wie bei den Echinodermen. 4. Experimente mit ähnlichem Ergebnis wie am Froschei. 5. Ver- söhnung der scheinbar einander widersprechen- den Tatsachen. B2. Die Potenzen der Organ- zellen. 1. Die Versuche von Driesch an Echino- dermenlarven. 2. Der Gültigkeitsbereich der ermittelten Tatsachen. B?. Die Widerlegung der Hypothese der qualitativ ungleichen Kern- teilung als Ursache der Beschränkung der Po- tenzen. 1. Die Roux-Weismannsche Hypo- these von der qualitativ ungleichen Kernteilung. 2. Die Widerlegung der Möglichkeit, daß qualitativ ungleiche Kernteilung die erste Ursache der Differenzierung ist. durch den Nachweis der Gleichgültigkeit des Furchungsmodus für den Entwickelungsablauf. 3. Die Widerlegung der- selben Möglichkeit durch die Druckversuche von Driesch. 4. Plasmaverschiedenheiten als Ur- sachen von Differenzierungen und von Be- schränkung der Potenzen. B4. Das Verschmelzen von 2 Ganzkeimen zu einem einheitlichen Groß- keim. 1. Das Verschmelzen von Eiern. 2. Die Verschmelzung von Keimen auf frühen Ent- wickelungsstadien. B5. Präformation und Epi- genese. B6. Das harmonisch-äquipotentielle System und die Autonomie der Lebensyoigänge. 1. Der Echinidenurdarm als harmonisch-äqui- potentielles System und die Definition des letz- teren. 2. Aufzählung anderer harmonisch - äquipotentieller Systeme. 3. Nähere Analyse des Geschehens ' an harmonisch-äquipoten- tiellen Systemen. 4. Drieschs erster Be- weis der Autonomie der Lebensvorgänge. 5. Drieschs zweiter Beweis der Autonomie der Lebensvorgänge aus der Existenz von äqui- potentiellen Systemen mit komplexen Po- Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 543 tenzen. 6. Die Kritik des Drieschschen Stand- punktes. IV. Die äußeren Faktoren der tieri- schen Entwickelung. A. Die notwendigen äußeren Faktoren. 1. Der Einfluß der Schwerkraft. 2. Der Einfluß des Kontaktes. 3. Der Einfluß des Lichtes. 4. Der Einfluß der Temperatur. 5. Der Einfluß dtr Wasserzufuhr. 6. Der Ein- fluß von Sauerstoff. 7. Die zur Entwickelung notwendigen anorganischen Stoffe. B. An- regende äußere Faktoren. C. Abändernde äußere Faktoren. 1. Der Zweck der Abänderung des Entwickelungsverlaufs durch abnorme äußere Faktoren. 2. Der Einfluß der Zentrifugalkraft auf die Teilung und Entwickelung tierischer Eier. 3. Der Einfluß abnormer anorganischer Stoffkombinationen. 4. Der Einfluß der Kon- zentration des umgebenden Mediums auf die Ausgestaltung \on Artenria. 5. Kurzer Hinweis auf die für die Formenumwandlungs- und Ver- erbungslehre bedeutungsvollen Abänderungen. V. Die inneren Faktoren der tierischen Ent- wickelung. A. Die in der Eiorganisation ge- gebenen lokalisierenden Differenzierungsfaktoren. B. Die Bedeutung der Richtungsreize für die Loknlisation von Bildungsprozessen. 1. Das Problem. 2. Experimentell in Angriff genommene Fälle. C. Gestaltliche Beeinflussung der Organe und Organteile untereinander. 1. Termino- logisches. 2. Formative Reize, welche den Ort der Organanlage bestimmen. 3. Formative Reize, welche die Qualität der Organanlage be- stimmen. 4. Formative Reize, welche Ort und Qualität der Organanlage bestimmen. 5. Die Beeinflussung der Regenerations- prozesse durch das Nervensystem. D. Funk- tionelle Anpassung und Ontogenese. 1. Auf- zählung einiger funktioneller Strukturen. 2. Die Rouxsche Erklärung der Entstehung funktioneller Strukturen. 3. Ist die Rouxsche kausale Ableitung der Entstehung der funk- tionellen Strukturen imstande, die Ausbildung der letzteren während der Ontogenese zu er- klären ? 4. Zwei andere Erklärungsweisen für gewisse Arten von funktionellen Strukturen. 5. Einige andere Fälle der Beeinflussung der Gestaltung durch die Inanspruchnahme. E. Die Theorie der formatrven Reize und das Problem der anfänglichen Selbstdifferenzierung der Or- gane und ihrer späteren Abhängigkeit von anderen. 1. Auseinandersetzung der Theorie. 2. Die Kritik der Theorie der formativen Reize. 3. Aufzählung einiger Fälle von Selbstdiffe- renzierung. 4. Versuche einer einheitlichen Auffassung des ganzen Tatsachenmaterials. F. Die inneren Komponenten der Organ- bildungen. 1. Die physiologischen Kompo- nenten. 2. Die physikalischen Komponenten. I. Gebietsbegrenzung und Aufgabe der Entwickelungsmechanik oder Entwicke- lungsphysiologie. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich in der zoologischen Forschung ein Umschwung vollzogen, der weit tiefgreifender ist, als der, welcher durch das Erscheinen der Darwin- schen Werke hervorgerufen worden ist. Vor und nach Darwin blieb nämlich merk- würdigerweise — merkwürdigerweise des- halb, weil die Schriften Darwins auch in Kichtung hätten anregend wirken Forschungs weise ganz die- die verglich anderer können - - die selbe. Man beschrieb die verschiedenen tierischen Formen, verglich sie unterein- ander und ordnete sie nach dem Grade ihrer größeren oder geringeren Aehnlichkeit in ein System, das den größeren oder geringeren [ Verwandtschaftsgrad der einzelnen Tier- ; formen wiedergeben sollte. Nur die Aus- legung der durch einfache Beschreibung ' und Vergleich ung gefundenen Tatsachen wurde nach Darwin eine andere, und Hin- durch sie unterscheidet sich ein Cu vi er von einem Gegenbaur. Von den achtziger Jah- ren des verflossenen Jahrhunderts an wurde aber die Forschungsweise in der Morpho- logie der Tiere allmählich eine andere, was sich rein äußerlich durch das Einführen des Experimentes in die morphologische Metho- dik zu erkennen gibt. Allein das Experiment erhebt eine Wissenschaft einer rein be- schreibenden gegenüber noch auf keine andere Stufe, denn auch ein Experiment kann, wie sich Roux ausdrückt, noch rein „beschreibend" sein. Beispiele für solche rein beschreibenden Experimente liefern z. B. jene Untersuchungen von Harrison und Braus, die sich auf die Herkunft der Seiten- linie bei Kaulquappen, auf die Herkunft der Schwannschen Scheidezellen und auf das Auswachsen der Nervenfasern beziehen, und bei denen die Transplantationsmethode resp. ! der operative Eingriff angewendet wurde. Auch das physiologische Experiment ist in jenen Fällen rein beschreibend, wo es weiter nichts als die Funktion eines Organes er- mitteln soll. Die experimentelle Physiologie steht also trotz des Experimentes zum großen Teil auf keiner anderen Stufe als die einfache beschreibende Morphologie. Will sie mehr bedeuten, so darf sie nicht bei der Feststel- lung der Funktion der verschiedenen Organe ein- der ab- die z e 1 n e n normale hängig Faktoren, Ablauf ist, zu stehen bleiben, sondern muß sie die von denen der Funktion eruieren und Gesetze des Wirkens dieser Faktoren zu ermitteln suchen. Ganz entsprechend wird die experimentelle Morphologie erst dann über die reine Beschreibung empor- gehoben, wenn sie sich identisch mit der modernen kausalanalytischen Behandlung morphologischer Probleme erklärt, wie sie zuerst in bewußter Weise von Wilhelm Roux auf die ontogenetische Entwickelung der Tiere angewandt worden ist. Derselbe führte für diese neue morphologische Kau- sal- und Gesetzeswissenschaft den Namen „Entwickelungsmechanik" ein. Um den Unterschied zwischen deskriptiver und kausal-analytischer Forschung noch ein- mal recht klar zu machen und die Ziele der Entwickelungsmechanik deutlich hervortreten .',44 Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere zu lassen, mag im Anschluß an Roux (Vor- träge und Aufsätze über die Entwickelungs- mechanik der Organismen, Heft I, S. 23, 1905) der Fall einer Bleikugel und einer Vogelfeder nach der einfachen beschreibenden und nach der kausalanalytischen Methode betrachtet werden. Läßt man gleichzeitig aus einer gewissen Höhe eine Bleikugel und eine Vogel- feder zur Erde herabfallen, so sieht man, daß die Bleikugel in gerader Richtung herab- fällt und den Erdboden rascher erreicht als die Feder, welche außerdem nicht gerade, sondern im Zickzack fällt. Eine Physik, welche sich auf die Beschreibung der Vor- gänge beschränken wollte, würde also sagen : eine Bleikugel fällt rascher und in einer anderen Bahn zur Erde als eine Feder. Die kausalanalytische Forschung zergliedert da- gegen das Geschehen und zeigt, daß beim Fallen in der Luft zweierlei Faktoren be- teiligt sind, die Schwere und der Widerstand der Luft. Denn durch das Experiment, welches den letzteren der beiden Faktoren ausschaltete, wurde gezeigt, daß im luft- leeren Baum alle Körper gleich rasch und in gerader Richtung fallen. Die rationelle Physik ist aber mit dieser kausalen Feststellung auch noch nicht zu- frieden, sondern sucht weiter die Gesetze zu ermitteln, nach welchen die Naturfaktoren wirken. Durch Messung der Fallstrecken und der Fallzeiten gelangte sie so zur Kenntnis der Fallgesetze. Ganz analog hat die Entwickelungs- mechanik die Aufgabe, das Material, welches die einfache deskriptive Forschung liefert, kausalanalytisch zu zergliedern, d. h. die einzelnen Faktoren, welche bei einem mor- phologischen Geschehen eine Rolle spielen, aufzufinden und die Gesetze ihres Wirkens festzustellen. Wie nun weiter die Kenntnis der anor- ganischen Naturfaktoren und der Gesetze ihres Wirkens die Forscher in den Stand gesetzt hat, diese Faktoren zu praktischen Zwecken zu verwerten, so wird auch die Kenntnis der Faktoren, welche an einem morphologischen Geschehen beteiligt sind, und das Wissen um die Gesetze ihres Wirkens die Menschen dahin bringen, dieses Ge- schehen nach ihrem Wunsche zu leiten. Die Beherrschung des organischen Gestaltungs- geschehens ist also das Endziel der Entwicke- lungsmechanik der Organismen. Aber nicht nur auf die ontogenetische Entstehung der Formen , sondern auch auf die postembryonale Erhaltung der- selben, hat sich die kausalanalytische Be- trachtungsweise zu erstrecken. Auch dieses Gebiet kann man noch zur Entwickelungs- mechanik rechnen, wenn man das Wort ,,Ent- j Wickelung" ganz weit faßt und es nicht nur auf das embryonale, sondern auch auf das ganze postembryonale Leben bis zum Tode an- wendet. Die moderne kausalanalytische Morpho- logie unterscheidet sich also von der deskrip- tiven Zoologie nicht nur durch die Ver- wendung des Experimentes, sondern vor allem durch die Fragestellung. Obwohl nach dem vorigen das Experi- ment nicht das einzige Charakteristikum der modernen rationellen Morphologie ist, so ist es trotzdem für eine kausalanalytische Betrachtungsweise der Formen unentbehr- lich. Denn mag die deskriptive Forschung noch so oft beobachtet haben, daß ein be- stimmtes Organ im normalen Verlaufe der Entwickelung immer aus einem bestimmten Eibezirk mit bestimmten Plasmaeinschlüssen hervorgeht, so ist damit doch noch kein not- wendiger Kausalzusammenhang zwischen der Organbildung und den sichtbaren Plasma- differenzierungen ermittelt, und ebensowenig darf man von der Aufdeckung eines Kausal- zusammenhanges sprechen, wenn die Be- schreibung immer das Aufeinanderfolgen eines Bildungsprozesses auf einen bestimmten anderen feststellt, also z. B. konstatiert, daß sich die Linse immer erst dann bildet, wenn sich die primäre Augenblase ans Ektoderm angelagert hat. Deskription ist nicht im- stande das Post hoc von dem Propter hoc zu unterscheiden, sie kann ohne experimen- tellen Eingriff nicht die zu einem Geschehen notwendigen Faktoren, geschweige die Gesetze ermitteln, nach denen die letzteren wirksam sind. Nur Regeln des Geschehens kann sie feststellen, wie Roux richtig be- merkt, So klar und deutlich nun aber auch die Aufgabe und das Endziel der neuen bio- logischen Disziplin feststeht, so wenig einig ist man sich über den Namen, welchen man der neuen Wissenschaft geben soll. Der Name Entwickelungsmechanik, welchen sie von ihrem Begründer erhalten hat, hat sich nämlich keiner allgemeinen Anerkennung zu erfreuen, wohl deshalb, weil man bei dem Worte „Mechanik" vermuten könnte, es solle Aufgabe der neuen Forschungsrichtung sein, das organische Entwickelungsgeschehen ganz in Mechanik aufzulösen, was zum min- desten eine dogmatische Voreingenommen- heit bedeuten würde. Roux hat aber diesem Vorwurf jeden Grund und Boden durch den Hinweis entzogen, daß er bei Bildung des Taufnamens seiner neuen Wissenschaft das Wort Mechanik gar nicht in dem engen Sinne der Physik, sondern in jenem weiten ge- braucht habe, den auch Kant damit verbindet, und der zur Mechanik ein jedes der Kausalität unterstehendes Geschehen rechnet. Diese Verteidigung Rouxs hat aber trotzdem die Einbürgerung neuer Namen nicht verhindern können. Von diesen ist Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere nm die Bezeichnung Entwickelungsphysio- logie am verbreitetsten. Sie kommt zuerst bei Gustav Wolff vor und wurde von Driesch mit Vorliebe angewandt, während Jacques Loeb seine Bestrebungen als physiologische Morphologie bezeichnete, obwohl dieselben in ihren Zielen und Wegen ganz mit Rouxs Forschungsrichtung iden- tisch sind. Auch die indifferenten Namen: experimentelle Entwickelungsge- schichte, experimentelle Morpho- logie, experimentelle Zoologie sind vielfach für das gleiche Forschungsgebiet in Gebrauch. II. Die Geschichte der Entwickelungs- mechanik oder Entwickelungsphysiologie. Die Anfänge der experimentellen Mor- phologie reichen in das 18. Jahrhundert zurück und knüpfen sich vornehmlich an die Namen: Trembley, Reaumur, Bonnet und Spallanzani. Aber so wichtig und zahlreich auch die Resultate waren, welche diese vier Forscher über das Formen- regulationsvermögen vieler Tiere zutage ge- fördert haben, kann man sie doch nicht als die Begründer der Entwickelungsmechanik in dem oben definierten Sinne bezeich- nen. Auch His, Goette und Rauber sind nur als Vorläufer und, im Gegensatz zu den Forschern des 18. Jahrhunderts, sogar nur in theoretischer Hinsicht zu bezeichnen. Das Verdienst, die Entwickelungsmechanik nicht nur theoretisch begründet, sondern auch durch planvolle Experimente zuerst in Angriff genommen zu haben, gebührt vielmehr Wilhelm Roux, dessen „Beiträge zur Entwickelungsmechanik des Embryo" (1884 bis 1888) Marksteine in der biologischen Wissenschaft bedeuten. Ah Roux schloß sich mit seinen „entwickelungsmechanischen Studien" 1891 Hans Driesch an, ging aber bald auf ganz selbständigen Wegen weiter. Durch Driesch wurden zuerst E. B. Wilson und dann T.H. Morgan während ihres Aufent- haltes an der zoologischen Station zu Neapel der neuen Forschungsrichtung zugeführt. So gelangte die Entwickelungsmechanik nach Amerika, wo aber außerdem noch ein an- derer, ganz selbständiger Forscher seine Samenkörner auszustreuen begann, Jacques Loeb. Derselbe kam von Julius Sachs her, dessen großer Einfluß auf Loeb in den „Untersuchungen zur phvsiologischen Mor- phologie der Tiere" (Würzburg 1891 und 1892) deutlich zu erkennen ist. Die moderne, kausal-analytische Forschungsrichtung in der Morphologie hat somit zwei ver- schiedene Wurzeln. Die eine kommt von Roux, die andere von den großen Botanikern Sachs und Pfeffer, her, denn auch der letztere hat neben dem ersteren einen großen Einfluß auf die entwickelungsmechanischen Forscher, unter diesen namentlich auf Herbst, ausgeübt. Das erste System der Entwickelungsmechanik hat im Jahre 1899 Driesch in den „Ergebnissen der Anatomie und Entwicklungsgeschichte" und die erste lehrbuchmäßige Bearbeitung 1902 Karl Heider in dem Lehrbuch der Entwicke- lungsgeschichte von Korscheit und Heider geliefert. III. Das Determinationsproblem oder die Frage nach der Verteilung der Entwicke- lungspotenzen im Embryo. Wilhelm Roux begann seine entwicke- lungsmechanischen Untersuchungen mit der Inangriffnahme der Frage nach der Zeit der Schicksalsbestimmung der einzelnen Zellen zu bestimmten Teilen des Embryos. Es ist das eine Vorfrage, die zunächst die Auf- lösung des Entwickelungsgeschehens in ein- zelne Faktoren beiseite läßt, dagegen nach der Verteilung der Entwicklungsfähigkeiten, der Entwickelungspotenzen, in den Zellen des Embryos fragt. Auf das Zweizellenstadium des gefurchten Eies angewandt lautet die Frage: Sind die beiden Zellen in bezug auf ihre Entwicklungsfähigkeiten noch gleich, sind sie noch äquipotentiell unterein- ander, oder sind sie bereits zu bestimmten Teilen des Embryos determiniert, sind also ihre Entwickelungspotenzen schon beschränk- ter als die des ganzen Eies ? Wir sehen zu nächst zu, was die deskriptive Forschung uns auf diese Frage antworten kann. A. Deskriptiver Teil. i. Die Beziehung zwischen Medianebene und erster Furche. Wir beginnen mit dem einfachsten Fall, den auch Roux zuerst ins Auge faßte, mit der Zeit der Bestimmung der Hauptrichtungen des Froschembryos. Roux gelangte hierbei zu dem Ergebnis, daß nach Ausschluß aller störenden Neben- einwirkungen die erste Furche des Froscheies mit der Medianebene des Embryos zusammen- fällt. Zu demselben Resultate kam, unab- hängig von und ungefähr gleichzeitig mit Roux, Pflüger, und schließlich stellte es sich heraus, daß drei Jahrzehnte vorher schon Newport bei seinen in Vergessenheit geratenen Untersuchungen über die Be- fruchtung und Entwicklung des Amphibien- eies das gleiche Ergebnis erhalten hatte. Neuerdings wurde dann der Rouxsche Befund für den typischen Fall auch noch von Brächet bestätigt. Im typischen Fall fällt die erste Furche außerdem mit der Symmetrieebene des Eies zusammen d. h. sie geht nach Roux bei Rana esculenta durch den höchsten Punkt der hellen und den tiefsten der dunklen Hemisphäre des mit seiner primären Eiachse nach der Befruchtung schief stehenden Eies hindurch. Bei Rana Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 35 546 Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere fusca erscheint dagegen nach der Befruch- tung an der einen Seite des Eies ein graues halbmondförmiges Feld, durch dessen höch- sten Punkt im typischen Falle sowohl die Symmetrieebene des Eies wie die erste Furche und die spätere Mediane des Embryos hin- durchgeht. Zur Kopfseite des Embryos wird die Seite des Eies, wo die helle Rinde resp. der graue Halbmond am weitesten nach oben reicht, während die Schwanzseite der tief- sten Stelle der dunklen Rinde entspricht. Die zweite Furche trennt demnach vorn und hinten oder, präziser ausgedrückt, vorn oben und hinten unten, denn der virtuelle Embryo reicht, wie beistehende Figur 1 Schw-t^t Fig. 1. Virtuelle Lage des Embryos im Ei von Rana lusca. Schematisiert. Nach Roux. K Kopfseite, Schw Schwanzseite, grHm grauer Halbmond. zeigt, auf der Seite mit dem grauen Feld weiter nach dem oberen Teil des Eies als auf der anderen. Anders liegen dagegen die Verhältnisse, wenn störende Nebeneinflüsse auf die Stellung der Furchungsebenen ein- wirken, wie das z. B. der Fall ist, wenn die Froscheier mit stark geneigter Eiachse auf die Glasplatte, auf welcher die Markierung des Verlaufs der ersten Furche angebracht wird, aufgesetzt und in dieser Stellung in Zwangslage durch ungenügendes Quellen- lassen der Gallerthülle gehalten werden. In solchen Fällen steht nämlich — wie Born zuerst fand und auch von Roux beobachtet wurde — die erste Furche meist senkrecht zur Medianebene, welche dann erst mit der zweiten Furche zusammenfällt. Roux spricht infolgedessen hier von einem Ana- chronismus der Furchung. Beiden Tritonen ist bis jetzt das Heraus- schälen des typischen Falles nicht gelungen. Nach Jordan steht bei Triton cristatus die erste Furche annähernd senkrecht zur Medianebene, während Spemann bei Triton taeniatus die Medianebene des Embryos in etwa 2/3 bis 3/4 der Fälle mit der zweiten, in y4 bis y3 dagegen mit der ersten Furche zusammenfallen sah. Es ist möglich, daß auch hier das letztere Verhalten das typische ist, daß aber die Einschnürungsmethode, welche seit O.Hertwig bei den Tritonen zur Eruierung des Schicksals der Furchungs- zellen verwandt wird, eine Verlagerung der Symmetrieebene zur Folge hat. Für die Ascidien haben van Beneden und Julin das Zusammenfallen der ersten Furche mit der Medianebene des Embryos bereits 1884 festgestellt. Bei den Ctenophoren entspricht die erste Furche der Magenebene, die zweite der Tentakelebene. Für die Echiniden hat Boveri das Zusammenfallen der ersten Furche mit der Medianebene der Larve aus der Existenz partiell-thelykaryotischer Keime abgeleitet, welche aus Eiern hervorgehen, bei denen die Kopulation von väterlichem und mütter- lichem Kernanteil erst in einer Zelle des Zweizellenstadiums vor sich geht, so daß also die eine Zelle rein mütterliches, die andere dagegen mütterliches und väterliches Kernmaterial aufweist. Auch die Herbst - sehen Befunde an partiell-thelykaryotischen Bastardlarven sprechen hierfür. Driesch dagegen sah bei seinen Versuchen, wo die Eier schon vom ungefurchten Zustande an oder auch erst nach der ersten Teilung der Wirkung von verdünntem Seewasser ausge- setzt worden waren, die erste Furche oral von aboral trennen und erst die zweite mit der Medianebene der Larve zusammenfallen. Boveri identifiziert seine Befunde mit dem typischen Falle und meint, daß durch die Einwirkung des verdünnten Seewassers, welche in einer Trennung oder Auseinander- zerrung ohne völlige Trennung der Furchungs- zellen sich äußert, eine Verdrehung der Symmetrieebene stattgefunden hat. Ist hiernach die Möglichkeit vorhanden, die Befunde an Seeigeln ebenso wie die der Tritonen noch in Uebereinstimmung mit denen bei den Fröschen zu bringen, so hat aber in anderen Fällen die erste Furche sicher nichts mit der Medianebene des Embryos zu tun. Das ist z. B. beim Ei von Ascaris mega- locephala der Fall, dessen erste Furche nach Boveri der dritten äquatorialen Furche anderer Eier entspricht und eine ganz andere Bedeutung als die Scheidung des Materials für die rechte und linke Körperhälfte hat, wie wir weiter unten sehen werden. 2. Sind die Hauptrichtungen des Embryos schon am unbefruchteten Ei zu erkennen? Wir gehen einen Schritt weiter und fragen, ob man nicht sogar schon am unbefruchteten Ei die Hauptrichtungen des Embryos wahrnehmen könne? Bei manchen Eiern ist dies in der Tat der Fall. So zeigt nach Cerfontaine bereits die Oocyte I von Amphioxus eine deutliche bilaterale Symmetrie vor dem Eintritt eines Spermatozoons. Dasselbe gilt von dem Ei der Cephalopoden, wie beistehende Abbil- dung (Fig. 2) lehrt. Der spitzere Eipol be- zeichnet dorsal, der stumpfere ventral; die Entwickelungsmeehanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 547 Seite, auf welcher der Bildungsdotter weiter ventralwärts reicht, bezeichnet vorn, die entgegengesetzte hinten. Auch das unbe- fruchtete Insektenei läßt die Hauptrich- tungen des Embryos bereits deutlich er- kennen. Andere unbefruchtete Eier weisen dagegen nur eine ungleichpolige Achse auf, wie dies z. B. bei den Eiern von Strongylo- centrotus lividus nach Boveri und auch beim Froschei der Fall ist. Bei dem letzteren erscheint die zweite ungleichpolige Achse, d. Fig. 2. Medianer Längsschnitt durch das Ei von Loligo pealii. Nach Watase. Aus Korscheit und Heider. d dorsal, v ventral, vo vorn, h hinten. wie wir noch näher sehen werden, nach dem Eintritt des Spermatozoons in das Ei, während beim Seeigelei auch nach der Be- fruchtung nichts von einer bilateralen Sym- metrie zu entdecken ist. Natürlich ist damit keineswegs gesagt, daß eine solche auf dem betreffenden Stadium noch nicht vorhanden ist, ja es ist sogar möglich, daß auch die Eier, welche vor der Befruchtung nur eine ungleich- polige Achse erkennen lassen, trotzdem in ihrem intimeren Bau bereits bilateral sind. Es ist am zweckmäßigsten, wenn wir im Anschluß an diese Erwägungen einmal das rein deskriptive Gebiet verlassen und uns gleich an dieser Stelle Experimenten zu- wenden, welche die Frage zu entscheiden suchten, ob bei den Eiern, an welchen man vor der Befruchtung nur eine ungleichpolige Achse erkennt, die bilaterale Symmetrie etwa durch die Eintrittstelle des Spermato- zoons bestimmt wird. 3. Die Bestimmung der Median- ebene durch die Eintrittsstelle des Spermatozoons. Roux führte zur Ent- scheidung der aufgeworfenen Frage lokali- sierte Befruchtung am Froschei aus, wobei er am besten folgendermaßen verfuhr. Er legte an die unbefruchteten Eier dünne Seidenfäden an, welche bis über den Ei- äquator hinaufreichten, über dem gewöhnlich die Samenfäden in das Ei eindringen. Unten wurde nun an den Faden ein Tropfen Samen- flüssigkeit gebracht, welche infolgedessen nur in dem Meridian des Fadens bis über den Aequator hinaufgelangen konnte. Die Folge war, daß bei 90 bis 95% der Eier die erste Furche und mit ihr die Medianebene des Embryos ganz oder fast ganz mit dem Befruchtungsmeridian zusammenfiel. Roux gelang es außerdem, nachzuweisen, daß die Eintrittstelle des Spermatozoons zur ventro- kaudalen Seite des Embryos wird. Die Tatsachen wurden für den typischen Fall auch von Brächet bestätigt, während bei störenden Nebenwirkungen im atypischen Fall, die Dotterbestandteile sich nicht sym- metrisch um die Eintrittsstelle des Sper- matozoons anordnen. Das zeigen die schon erwähnten Born sehen Befunde an Eiern, die mit ihrer primären Eiachse sehr geneigt auf die Glasplatte aufgesetzt und in dieser Zwangslage erhalten worden waren. Die Medianebene fiel bei diesen Eiern mit dem Strömungsmeridian zusammen, d. h. mit jenem Meridian, der durch den höchsten Punkt des absinkenden weißen und den tiefsten des aufsteigenden braunen Dotters hindurchging. In diesen Meridian fiel bei 2/3 der Eier zugleich die zweite Furchungs- ebene. Es ist also hier die durch die Schwer- kraft hervorgerufene Strömungsrichtung der verschieden schweren Eisubstanzen, welche die Dotterelemente symmetrisch um sich ordnet. Im typischen Falle aber bestimmt — wie gesagt — die Eintrittsstelle des Samen- fadens die Medianebene des Embryos. Wenn aber nun Doppelbefruchtung statt- findet, wie wird dann die Medianebene des Embryos bestimmt? Herlant hat die Ant- wort darauf gegeben, daß die Symmetrie- ebene genau zwischen den beiden Eintritts- stellen der Samenfäden hindurchgeht, mögen dieselben einander ganz nahe oder an ent- gegengesetzten Punkten der Eioberfläche liegen. Im Gegensatz zur typischen Ent- wickelung des monospermen Eies existiert bei den dispermen Eiern kein konstantes Zu- sammenfallen von Symmetriebene und erster Furche. Bei den trispermen Eiern fehlte aber auch die constante Beziehung der Sym- metrieebene zu den Eintrittsstellen der Spermatozoen, und ganz dasselbe gilt nach den Untersuchungen von Brächet von den polyspermen Eiern mit noch mehr als drei Samenfäden. Trotz des Fehlens einer Be- ziehung zwischen Sameneintrittsstellen und Medianebene erhalten aber die tri- und poly- spermen Eier von Rana fusca doch einen bilateralen Bau, der sich in dem Auftreten des grauen halbmondförmigen Feldes an der einen Seite des Eies zu erkennen gibt. Spricht schon das für die alte Ansicht von Oscar Schultze, daß dem Froschei von Haus aus ein bilateraler Bau zukommt, so 35* 54S Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere wird das letztere durch die Beobachtungen von Brächet bewiesen, welche derselbe an Eiern machte, die nach der Methode von Bataillon durch Anstich zur Parthenogenese angeregt worden waren. Bei diesen erscheint nämlich — und zwar ganz unabhängig von dem Anstichmeridian — ebenfalls nach ein paar Stunden der graue Halbmond an der einen Seite des Eies, genau so wie bei den befruchteten Kontrolleiern. Die Froscheier haben demnach einen primären bilateralen Bau, der zwar anfangs noch labil ist und bei Mono- oder Dispermie von den Spermatozoen noch umgeordnet und in dieser Neuordnung fixiert werden kann, der aber bei partheno- genetischer Entwickelung in seiner Ur- sprünglichkeit erhalten bleibt. Diese Schlußfolgerung Brachets stimmt ganz mit der Ansicht überein, welche sich schon vorher Driesch über die Bilaterali- tätsfrage beim Seeigelei gebildet hatte. Boveri sah zwar in einer Anzahl von Eiern die erste Furche durch die Eintrittsstelle des Samenfadens gehen, so daß also auch hier die Medianebene der Larve durch den Befruchtungsmeridian gehen würde, wenn die erste Furche mit der Medianebene zu- sammenfällt, doch kann es sich auch hier nur um eine Drehung einer bereits vorhan- denen bilateralen Struktur handeln, da die parthenogenetischen Eier auch bilateralen Larven den Ursprung geben, und die künst- lichen Mittel, welche die Parthenogenese herbeiführen, allseitig auf die Eier einwirken. 4. Die Mosaikfurchung tierischer Eier. Es lassen sich aber nicht nur die Haupt- richtungen des künftigen Tieres in bestimmten Furchen des geteilten Eies erkennen, sondern es ist sogar den minutiösen Untersuchungen der deskriptiven Zoologen gelungen, einzelne Organe und einzelne Keimblätter ihrem Ur- sprung nach auf bestimmte Furchungszellen zurückzuführen. In diesen Fällen repräsen- tieren die Furchungsstadien sozusagen ein Mosaik von Anlagen, woraus sich die Berech- tigung des Ausdruckes Mosaikfurchung er- gibt. Wir wollen auf die drei klassischen Beispiele für Mosaikfurchung etwas näher eingehen, da wir ihre Kenntnis für das Ver- ständnis des folgenden brauchen. 4a) Die Mosaikfurchung des Stron- gylocentrotus-Eies nach Boveri. Boveri hat am Ei von Strongylocen- trotus lividus einen roten Ring auf- V y" <& te&ta Fig. 3 A — E. Furchung des Strongylocentrotus-Eies bis zum 16-Zellenstadium. Nach Boveri. Aus Korscheit und Heider. Fig. 3 F Pluteus von Strongylocentrotus lividus. a After, ast Analarmstütze, ost Oralarmstütze, schb Scheitelbalken, m Mund, vd Vorderdarm, (rechts und links von diesem die beiden Cölom- säcke, der linke enthält die Wassergefäßanlage), md Mitteldarm, ed Enddarm, pz Pigmentzellen, skb Skelettbildner, wr Wimperring. Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 549 gefunden, welcher in den typischen Fällen mit seinem Durchmesser senkrecht auf der primären Eiachse steht und sich auf der einen Eihemisphäre ungefähr vom Aecpiator an bis nahe an den Pol heran erstreckt, an dem er eine kleine Kalotte freiläßt. Das Ei wird auf diese Weise in drei Regionen geteilt: eine pigmentfreie Halb- kugel, eine pigmentierte Zone und eine pig- mentfreie polare Kalotte (Fig. 3A). Die ersten beiden Furchen gehen durch die pri- märe Eiachse und teilen das Ei in vier gleich große und gleich beschaffene Zellen, da jede einen Teil der drei Eiregionen zuerteilt erhält (Fig. 3B u. C). Die dritte äquatoriale Teilung trennt dann die pigmentfreien Hälften der vier Zellen von den anderen Hälften mit dem roten Ring und der hellen Kalotte ab (Fi g. 3 D). Die vier hellen Zellen des einen Poles teilen sich beim nächsten Teilungsschritt in acht gleiche Zellen, die zusammen einen Ring bilden, während sich die Zellen mit der roten Zone ungleich teilen, indem der größere pig- mentierte Teil die kleinere helle Kalotte ab- schnürt. Von diesen acht Zellen bilden die vier Makromeren und die vier Mikromeren je einen Ring für sich; so daß das 16-Zellen- stadium in seitlicher Ansicht den Anblick von Figur 3E gewährt. Indem nun Boveri den roten Ring der Makromeren als Weg- weiser benutzte, gelang es ihm, das Schicksal der drei Zellenkränze des 16-Zellenstadiums durch das Blastula- und Gastrulastadium hindurch bis zum Pluteus zu verfolgen. Als allgemeines Ergebnis stellte sich dabei heraus, daß der Mikromerenpol dem vegetativen Pole des Keimes entspricht, was bereits vorher Driesch aus dem Verhalten der isolierten Zellen des 8-Zellenstadiums abgeleitet hatte. Tm Speziellen ergab sich dann weiter, daß aus den Mikromeren des 16-Zellenstadiums das primäre Mesenchym, welches die Skelett- VU<; kn>-' Fig. 4 A— F. Furchung bis zum 16-Zellenstadium und Trochophora von Nereis limbata. Nach E.°B. Wilson. A, ß, D u. E vom animalen Pol, C und F im Profil, F aus 2 Figuren Wilsons kombiniert und schematisiert. Die Oelkugeln sind in D und E fortgelassen, rk Richtungs- körperchen, dunkel schraffiert, a Augenfleck, bs Borstensäcke, kn Kopfniere, Im Längsmuskeln, m Mund, mb Mesodermbänder, np Neuralplatte, oe Oelkugeln, par Paratroch, pr Pro totroch, schp Scheitelplatte, st Stomodäum, stk Stirnkörper. 550 Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere bildner liefert, hervorgeht, daß aus den Makromeren größtenteils Entoderm nebst Cölom- und Wassergefäßanlage, und aus den 8 animalen Zellen Ektoderm und seine Derivate entstehen. Man kann also bei den Seeigeln nicht nur bestimmte Keimblätter, sondern sogar bestimmte Organe auf be- stimmte Furchungszellen des 16-Zellen- stadiums zurückzuführen. 4b) Die Mosaikfurchung des Nereis- Eies nach Wilson. Zu demselben Re- sultat war lange vorher auch schon E. B. Wilson am Annelidenei gelangt. Das an Oel- kugeln reiche Ei teilt sich zunächst in zwei Zellen von ungleicher Größe AB und CD (Fig. 4A), von denen sich die erstere bei der Vierteilung in ungefähr gleich große, die letztere dagegen in ungleich große Zellen teilt, und zwar so, daß die Zelle D größer aus- fällt als C. Die zweite Furchungsebene fällt nach Wilsons Ermittelung hier mit der Medianebene des Embryos zusammen, doch ist das nur annähernd richtig, da die zweite. Furchungsebene, wie Fig. 4B zeigt, nicht gerade, sondern wegen der starken Abplat- tung der Zellen gegeneinander gebrochen verläuft. Figur 4C läßt erkennen, daß die Oelkugeln im vegetativen Teile der vier Zellen liegen. Der animale Pol ist kenntlich an der Lage der Richtungskörperchen, welche in der Abbildung ebenfalls zu sehen sind. Bei der 8-Teilung schnürt nun jede der vier Zellen nach dem animalen Pole zu in dexiotroper Richtung eine ölkugelfreie Mikromere ab, so daß die zu jeder Makromere (z. B. 1A) gehörige Mikromere (z. B. la) nach rechts verschoben ist (Fig. 4D). Im Gegensatz zu diesem ersten Mikromeren- quartett erfolgt bei dem nächsten Teilungs- schritt die Abschnürung des zweiten in läotroper Richtung, so daß jetzt die zu jeder Makromere (z. B. 2A) gehörige Mikro- mere (z. B. 2 a) nach links hin verlagert ist. Von den Zellen dieses zweiten Quartetts zeichnet sich die von 1 D abgeschnürte Zelle 2d durch besondere Größe aus, sie wird auch wegen ihrer Bedeutung für den Aufbau des Larvenkörpers als erster Somatoblast bezeichnet. Die Zellen des ersten Mikro- merenquartettes teilen sich inäqual in die den animalen Pol bildenden Zellen la1, lb1, lc1 und ld1 und die die Zwischenräume zwischen diesen einnehmenden Zellen la2, lb2, lc2 und ld2. Zwischen diesen letzteren liegen dann wieder die Zellen des zweiten Mikromerenquartettes 2 a, 2b, 2 c und 2d, so daß ein außerordentlich regelmäßiges Furchungsbild (Fig. 4E) zustande kommt. Die verschiedenen Körperpartien, Keim- blätter und Organanlagen der in Figur 4F dargestellten Larve lassen sich nun alle auf bestimmte Zellen des in Figur 4E abge- bildeten 16-Zellenstadiums zurückführen: Die vier Zellen des animalen Poles, la1, lb1, lc1 und ld1, liefern nämlich die Scheitel- platte der Larve (schp), die Cerebralganglien des Tieres, am Prototroch gelegene Zellen drüsigen Charakters, welche von Wilson als Kopfniere (kn) bezeichnet werden, und die allgemeine Körperbedeckung der oberen Hemisphäre der Trochophora. Die Zellen la2, lb2, lc2 und ld2 liefern den Prototroch (pr) d. h. den Wimperkranz, welcher die Larve vor dem Munde umgürtet. Von dem zweiten Mikromerenquartett liefert die Zelle 2d, der sogenannte erste Somatoblast, die Neuralplatte d. h. die Anlage des Bauch- markes (np), die Borstensäcke (bs), das Ektoderm der postoralen ventralen und seitlichen Körperpartien und jenes der mitt- leren dorsalen Rumpfregion, während aus den kleineren Zellen 2 a, 2 b und 2 c das Stomodäum (st), das zirkumorale Ekto- derm und jenes der seitlichen dorsalen Rumpf- regionen hervorgehen. Von den Makromeren beteiligen sich alle vier an dem Aufbau des Darmkanales. Die Zelle 2D liefert außerdem aber die Mesodermbänder (mb) und die Ge- schlechtszellen. Das Entoderm besteht bei Nereis auf dem abgebildeten Stadium immer noch aus nur 4 großen, Oeltropfen enthaltenden Zellen. 4c) Die Mosaikfurchung des Eies von Ascaris megalocephala. Als letztes klassisches Beispiel der Mosaikfurchung sei der Beginn der Entwickelung des Eies vom Pferdespulwurm nach den Untersuchungen Boveris geschildert: Die erste Furche teilt das Ei in zwei Zellen, welche gewöhnlich in bezug auf Größe und Dottergehalt verschieden ausfallen, wie das z. B. bei dem in Figur 5A abgebildeten Ei der Fall war. Die Zelle AB ist hier dotter- ärmer und größer als die Zelle P,. Erstere liefert nur Ektoderm, während die Zelle Px in der Folge noch Ektoderm, das gesamte Ento- und Mesoderm und die Urgeschlechts- zelle aus sich hervorgehen läßt. Die erste Furche entspricht nicht der Medianebene des Embryos und ist nicht als meridionale, sondern als äquatoriale zu bezeichnen, da sie die primäre Eiachse senkrecht schneidet. Eine weitere Differenzierung ist auf dem 4-Zellen- stadium eingetreten. Während sich nämlich der primäre Ektoblast (AB) in die beiden gleichwertigen Zellen A und B geteilt hat, ist die andere (Px) dabei, sich in die beiden ungleichwertigen Zellen P2 und EMSt zu zerschnüren. Die Zelle P2, welche in Figur 5B an der Spitze des ungefähr pyramiden- förmigen Stadiums liegt, liefert in Zukunft nur noch einen Teil des Ektoderms und die Urgeschlechtszelle, während die andere das gesamte Ento- und Mesoderm und außerdem das Stomodäum aus sich hervorgehen läßt. Die Zelle P2 gleitet nunmehr von der Spitze Entwickelungsmechanik oder Eritwickelungsphysiologie der Tiere 551 der Pyramide herab und lagert sieh zwi- schen die Tochterzelle B des primären Ekto- blasten und die Zelle EMSt hinein, so daß das in Figur 5C dar- gestellte Bild entsteht. Jetzt sind die Haupt - richtungen des Em- bryos deutlich zu er- kennen: Die herab- geglittene Zelle P2 be- zeichnet das Hinter- ende, die gegenüber- liegende Ektoderm- zelle A das Vorder- ende, beide Ektoderm- zellen A und B zu- sammen dorsal und P2 und EMSt ventral. Die Ebene, welche durch den größten Durchmesser aller vier Zellen geht, ist die Medianebene. Bei dem nächsten Teilungs- schritt teilen sich die Zellen A und B in eine rechte und linke Zelle, die Zelle P2 sich die beiden Zellen aber zum zweiten schnürt nach oben hin den sekundären Teilungsschritt anschicken (Fig. 6), dann teilt Ektoblasten C ab, welcher die sogenannten sich nur die Zelle Px wieder mit den beiden 4,o IO 2O0 = 3,9 12 22^* = 3,3 15 —25° = 2,6 16 — 260 = 2,6 !7,5— 27,5° = 2,2 20 300 = i,7 Q _ kx + 10 II) igel a) Berechnung von Q10 für See- und Froschkeime. Nach Peter ist Q10 für die Entwickelung von Sphaer- echinus = 2,15 i. M., für die Entwickelung von Echinus = 2,13 i. M., für die Ent- y) Q10 ist Iur verschiedene Stadien verschieden groß. Peter fand: Sphaerechinus, Furchung: Q10 = 2,29 ,, spätere Stadien: Q10 = 2,03 Echinus, Furchung: Q10 = 2,30 ,, spätere Stadien: Q1Q = 2,23 Rana, Furchung: Q10 = 2,23 „ spätere Stadien: Q10 = 3,34 ö) Die Uebereinstimmung des Be- schleunigungsgrades tierischer Pro- 'zesse mit dem Beschleunigungsgrad I chemischer Reaktionen durch Tem- | peratursteigerung. Für die meisten chemischen Reaktionen ist Q10 bekanntlich = 2 bis 3, d. h. es wird die Reaktionsge- | schwindigkeit bei Erhöhung der Temperatur um 10° verdoppelt bis verdreifacht. Sehen wir zunächst von den großen Werten ab, die Q10 bei niederen Temperaturen bei der Furchungsgeschwindigkeit des Arbaciaeies aufweist, so ergibt sich eine eklatante Ueber- einstimmung zwischen den Werten für Q10 auf chemischem und entwickelungsgeschicht- 600 Entwickeliingsmechanik oder Entwickelttagsphysiologie der Tiere lichem Gebiete. Man kann daraus schließen, daß bei den morphologischen Verände- rungen während der Entwickelung chemische Prozesse beteiligt sind. Daß die Entwicke- lung sich nur aus chemischen Prozessen zusammensetzt, das geht jedoch aus den vorliegenden Daten nicht hervor. Vor einer solchen Schlußfolgerung müssen uns besonders auch die hohen Werte für Q10 bei niederen Temperaturen für die Furchungs- geschwindigkeit des Arbaciaeies warnen. Da Loeb fand, daß Q10 für die Oxydations- geschwindigkeit im Arbaciaei bei niederen Temperaturen nicht derartig hohe Werte wie für die Furchungsgeschwindigkeit an- nimmt, so ist der einfachste Schluß aus dem Loeb sehen Befunde wohl der, daß au den Entwickelungsprozessen, abgesehen von chemischen Vorgängen, noch andere beteiligt sind, für die ganz andere Tempe- raturkoeffizienten gelten. Allerdings muß auch beachtet werden, daß Q10 bei che- mischen Reaktionen bei niederen und höheren Temperaturen ebenfalls recht verschiedene Werte aufweisen kann. Was für chemische Prozesse, abgesehen von Oxydationen, bei der Entwickelung der Tiere eine Rolle spielen, darüber weiß man bis jetzt noch so gut wie nichts. Die Fur- chung ist zwar durch das auffällige Ge- schehnis der Vermehrung der Kernbestand- teile auf Kosten des Protoplasmas charak- terisiert, doch findet nicht etwa während der Furchung eine Synthese von Nucleinsäure statt. Masin g fand wenigstens in unge- furchten Eiern und späten Furchungsstadien von Seeigeln dieselbe Menge Nucleinsäure. 5. Der Einfluß der Wasserzufuhr. Ein gewisser Wassergehalt ist eine unbedingte Notwendigkeit für die Organismen. Sinkt derselbe unter ein Minimum, so hören die Lebenstätigkeiten entweder gänzlich und für immer auf oder sie werden latent und können wieder in vollständige Aktion treten, wenn für neue Wasserzufuhr gesorgt wird, wie man das bei Protozoen, Räder- tierchen, Tardigraden und gewissen Nema- toden (Tylenc hu s devastatrixundStron- gylus rufescens), sowie bei den Eiern niederer Krebse, den Statoblasten von Bryozoen und den Gemmulis der Süßwasser- schwämme beobachtet hat. Ein gewisses Quantum Wasser ist also eine ganz allge- meine Entwickelungs- und Lebensbedingung. Von einem bestimmten bedeutenderen Quan- tum an als das ist, welches für die allge- meinen Lebenserscheinungen notwendig ist, spielt nun aber das Wasser noch eine ganz spezielle Rolle, nämlich bei der Volumen- zunahme tierischer Keime während der Entwickelung, beim Wachstum derselben, wie man auch sagen kann, wenn man sich der Definition Davenports von Wachs- tum als Volumenzunahme anschließt. 5a) Die Bedeutung der Wasser- zufuhr für das Wachstum. Die grund- legenden Untersuchungen stammen von Da- venport her. Derselbe stellte exakte Wägungen an Froschembryonen an und zeigte damit, daß bei denselben die Vo- lumenzunahme anfangs ausschließlich durch Wasseraufnahme erfolgt, wie aus folgender Tabelle hervorgeht: Datum Tage nach dem Aus- schlüpfen Durchschnittl. Totalgewicht Gewücht der Trocken- substanz Gewicht des Wassers % Wasser 2. Mai 1 1,83 mg 0,80 mg 1,03 mg 56% 3- „ 2 2,00 „ 0,83 „ 1,17 ,, 59% 6. ;, 5 3,43 ,, 0,80 ,, 2,63 ,, 77% 8- „ 7 5,05 ,, o,54 ,, 4,5i „ 89% TO. „ 9 10,40 ,, °,72 ,, 9,68 „ 93% 15- „ J4 23,52 „ 1,16 ,, 22,36 ,, 96% 10. Juni 41 101,0 ,, 9,9 „ 9i,i „ 90% 23- Juli 84 1989,9 „ 247,9 „ 1742,0 ,, 88% Man sieht aus dieser Tabelle, daß das Totalgewicht der Larven bis zum 9. Tage nach dem Ausschlüpfen, und das Gewicht, des Wassers ganz bedeutend zugenommen haben, ohne daß eine Vermehrung der Trocken- substanz eingetreten wäre. Eher kann man bei letzterer von einer geringfügigen Ab- nahme sprechen. Erst am 15. Mai wurde eine kleine Vermehrung der Trockensubstanz konstatiert, ein Beweis, daß jetzt die Larven zu fressen begonnen hatten. Der Prozent- gehalt an Wasser hat zu dieser Zeit den Höhepunkt erreicht (96 %). Von nun ab sieht man ihn wieder wegen Zunahme des Trockensubstanzgewichtes sinken, während das Gewicht des Wassers in den Larven weiter zunimmt, Daraus ergibt sich also, daß die Volumenzunahme der Froschlarven in der ersten Zeit nach dem Ausschlüpfen ausschließlich, später aber noch zum größten Teile durch aufgenommenes Wasser her- vorgerufen wird. Davenport hat die Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 601 letzte Kolumne obenstellender Tabelle auch graphisch dargestellt und folgende Kurve erhalten : UU"'o 90% 60% 70% DU 70 Tage 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Fig 50. Kurve des prozentualen Wasser- gehaltes der Froschlarven vom 1. bis 84. Tage nach dem Ausschlüpfen. Nach Davenport. Aus Korscheit und Heider. Diese Wassergehaltskurve ist nun inter- essanterweise, worauf ebenfalls Daven- port aufmerksam gemacht hat, ganz außer- ordentlich jener ähnlich, welche vor langer Zeit G. Kraus für den Wassergehalt der ersten 5 Internodien, von dem Scheitel an gerechnet, von Warmhauspflanzen von Hete- rocentron roseum Hook, et Arm. kon- struiert hat, wie ein Vergleich der beiden Figuren 50 und 51 ohne weiteres erkennen läßt. 90% 80% 70% n in rv vi Fig. 51. Kurve des prozentualen Wassergehaltes in 5, von der Spitze (I) an aufeinanderfolgenden Internodien von Warmhauspflanzen von He- terocentron roseum Hook, et Arm. Nach Kraus. Aus Davenport. Aus Korschelt und Heider. Diese wichtigen Befunde Davenports wurden durch die ausgedehnten Unter- suchungen Schapers vollkommen bestä- tigt und durch eine Menge von Einzelheiten erweitert. Von diesen letzteren sei nur er- wähnt, daß während der Verwandlung der prozentuale Wassergehalt von 90,13 % auf 88,19 % und der absolute von 5324 auf 2540 mg sinkt. Nach der Verwandlung nimmt dann der prozentuale Wassergehalt immer weiter allmählich ab, während der absolute immer mehr steigt, so daß bei von ca. letztere Jahren der erstere 205460 mg dagegen gelangt das Wasser in Die Antwort auf diese Frage einem Frosch 76,40%, der betrug. 5 b) Wie die Keime? scheint sehr einfach zu sein. Man braucht nur anzunehmen, daß bei den chemischen Prozessen, die im Verlaufe der Entwickelung stattfinden, osmotisch wirksame Substanzen gebildet werden, und daß die Oberflächen der Keime halbdurchlässige Membranen re- präsentieren, dann hat man sofort einen Grund für das Eindringen von Wasser in die Keime. So einfach liegen nun aber die Verhältnisse, zum mindesten in vielen Fällen, sicher nicht. Das haben die Unter- suchungen von Back man und Runnström über den osmotischen Druck von Eiern und Larvenstadien der Frösche sowie jene von Bialaszewicz über den osmotischen Druck desselben Materials und über den von Eiern und Embryonalstadien des Huhnes deutlich bewiesen. a) Die Untersuchungen über den osmotischen Druck in den Eiern und Larvenstadien der Backman und Runnström folgende Resultate- Fertige Ovarialeier Ungefurchte, befruchtete Eier Embryonen, 5 Tage alt Frösche, erhielten - 0,48° - 0,045° -0,23° Kaulquappen, 20 bis 25 Tage alt — 0,405° Serum des metamorphosierten Frosches —0,465° Gallerthüllen —0,015° Wasser des Tümpels, aus dem die Eier geholt wurden .... — 0,06° Die beiden schwedischen Forscher haben also die wichtige Entdeckung gemacht, daß der osmotische Druck in den Frosch- eiern nach der Befruchtung abnimmt, und zwar so stark, daß er in den befruchteten ungefurchten Eiern nur l/in vom osmotischen Druck des Ovarialeies und des Serums vom ausgewachsenen Frosch beträgt. Er stimmt dagegen mit dem osmotischen Druck des Mediums überein, in dem sich die Eier ent- wickeln. Die Tabelle zeigt weiter, daß der osmotische Druck im Laufe der Ent- wickelung wieder zunimmt, so daß er bei i Embryonen von 5 Tagen bereits wieder | die Hälfte vom osmotischen Druck des I ausgewachsenen Tieres repräsentiert. Um die anfängliche Verminderung und ' die später wieder einsetzende Vermehrung des osmotischen Druckes in den Frosch- eiern und -keimen zu erklären, haben die beiden Forscher die Vermutung ausgespro- chen, daß die Folge der Befruchtung eine Zustandsänderung der Kolloide des Eies 602 Entwictelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere mit Adsorption der Kristalloide ist. Indem nun die letzteren im Verlaufe der Entwicke- lung allmählich wieder entbunden werden, kommt die Wiederzunahme des osmotischen Druckes zustande, an der sich auch noch osmotisch wirksame Substanzen be- teiligen können, welche aus der Zersetzung von Dottermaterial entstanden sind. Die von Backman und Runnström gefundenen Tatsachen wurden vonBialasze- wicz bestätigt und ergänzt, der dagegen dem eben geschilderten Erklärungsversuch ; der Ab- und Zunahme des osmotischen Druckes während der Entwickelung nicht beistimmt. ß) Die Untersuchungen über den osmotischen Druck in den Eiern und Embryonalstadien des Huhnes. Sehr interessante Resultate hat die neue Arbeit von Bialaszewicz in bezug auf den osmotischen Druck in Eiern und Em- bryonen des Huhnes ergeben, der ebenso wie in den Untersuchungen von Backman i und Runnström durch Messung der Ge- ' frierpunktserniedrigung festgestellt wurde. Der polnische Forscher stellte zunächst auch für das Huhn die Tatsache fest, daß der osmotische Druck im Dotter des Eies während der Anfangsstadien der Entwicke- lung zunächst abnimmt, so daß derselbe im gelegten Ei bedeutend geringer als im Ovarialei ist. Die Abnahme des osmotischen Druckes hält sogar noch während der ersten Bebrütungstage an, nimmt aber vom sechsten Bruttage an beständig wieder zu, so daß er nach 18 Tagen bereits wieder den Wert A = 0,601° erreicht hat und nur noch wenig vom osmotischen Druck im Dotter der ausgewachsenen Eizelle (A = 0,613°) ab- weicht. Höchst merkwürdig ist nun, daß das äußere Milieu der Hühnerembryonen, die Amnionflüssigkeit, während der An- fangsstadien der Entwickelung einen größeren osmotischen Druck besitzt als der Embryo, der aber trotzdem während dieser Zeit Wasser aus seiner Umgebung aufnimmt. In den Mittelstadien der Entwickelung wird zwar die Amnionflüssigkeit isotonisch mit den Säften des Embryos, aber auch das genügt natürlich noch nicht, um die Zunahme an Wasser durch Osmose zu er- klären. Erst in den Enc1 Stadien der Embryo- nalentwickelung ist das äußere Milieu der Embryonen hypotonisch. Bialaszewicz hält die Annahme, daß es sich bei der Wasser- aufnahme der Hühnerembryonen um Quel- lungswasser handelt, das nach Wolf gang Ostwald bei dem Wachstum durch Wasser- aufnahme der Amphibienkeime eine ziem- lich bedeutende Rolle spielt, für weniger wahrscheinlich als die Vermutung, daß die Keimepithelien keine semipermeabelen Mem- branen sind, sondern beim Transport von Wasser aus der anfangs hypertonischen Amnionflüssigkeit in den Keim oder von osmotisch aktiven Substanzen aus dem- selben in die erstere Arbeit leisten. Mag nun Ostwald oder Biataszewicz Recht haben, richtig ist jedenfalls der Vergleich der in der hypertonischen Amnionflüssigkeit befindlichen Hühnerembryonen mit den Te- leostiern des Meerwassers, deren Blut auch einen geringeren osmotischen Druck auf- weist als das umgebende Medium, die aber trotzdem darin wachsen. 6. Der Einfluß von Sauerstoff. 6a) Die Notwendigkeit des Sauerstoffes für die Entwickelung. Daß das Hühnerei zu seiner Entwickelung des Sauerstoffes bedarf, auch wenn noch kein Blut vorhanden ist, ist schon seit Schwann bekannt; der Nachweis aber, daß Sauerstoff schon für die Furchimg unentbehrlich ist, stammt erst aus neuerer Zeit. Wird aus Kulturen von Seeigeleiern aller auspumpbarer Sauer- stoff entfernt, so tritt nach J. Loeb keine Furchung ein. Auch Versuche mit Eiern von Ctenolabrus ergaben demselben Forscher das gleiche Resultat, ja selbst die Eier der Ascariden, welche sich nach Bunge mehrere Tage lang im O-freien Medium bewegen können, bedürfen zu ihrer Ent- wickelung des Sauerstoffes, wie Halley fand und Samassa bestätigte. Sonder- barerweise sah aber J. Loeb die Eier von Fundulus sich in einer Wasserstoff atom- sphäre 12 bis 15 Stunden lang furchen, und konnten Samassa und nach ihm Godlewski jun. auch bei Rana tem- poraria im O-freien Medium die Furchung bis zur Bildung von Keimblasen mit ver- schieden großen Zellen vor sich gehen sehen. Natürlich beweisen diese beiden letzteren Befunde nur, daß zur Ermöglichung der Furchung von Fundulus und Rana keine O-Zufuhr von außen notwendig ist, da in den dotterreichen Eiern und ihren Hüllen noch genügend 0 vorhanden gewesen sein kann, der den Ablauf der Furchung bis zu einem gewissen Punkte gestattete. 6b) Kann die Entwickelung durch Sauerstoffentzug zeitweilig unter- brochen werden? Die Frage hat ebenso wie die entsprechende im Kapitel über die Wärme (S. 599) vor allen Dingen praktisches Interesse, und in der Tat hat Halley bei Ascaris megalocephala die Sauerstoff- entziehung zur Sistierung der Entwickelung verwendet. Samassa bewahrte die Eier desselben Spulwurmes 45 Tage in N, 50 Tage in C02 und 66 Tage in N20 auf, ohne daß dadurch ihre Weiterentwickelung aufgehoben worden wäre. Nach Schwann sind Hühner- eier noch nach 24-stündigem Aufenthalt Entwickelungsmechanit oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 603 in einer H-Atmosphäre zur Weiterentwicke- lung fähig, nach 30-stündiger Bebrütung in H-Gas dagegen nicht mehr. Die Unter- brechungsmöglichkeit der Entwickelung nimmt nach Untersuchungen von J. Loeb an Fundulu seiern und Embryonen mit fortschreitender Entwickelung ab. 6c) Der Unterschied im Sauer- stoffverbrauch zwischen unbefruch- teten und befruchteten Eiern wurde von 0. Warburg bei Seeigeln nachgewiesen. Derselbe stellte nämlich fest, daß die be- fruchteten Eier sechsmal so viel Sauerstoff verbrauchen als die unbefruchteten, und daß eine ähnliche Steigerung der Oxydations- prozesse auch an unbefruchteten Eiern durch solche Mittel herbeigeführt werden kann, die Parthenogenese zur Folge haben. Dringen bei der Befruchtung mehrere Spermatozoen in das Ei ein, so addieren sich die Wirkungen derselben nach War- burgs Untersuchungen nicht, vielmehr ist der Sauerstoffverbrauch der polyspermen Eier nur ganz unwesentlich höher als der monospermer. 6d) Sind Entwickelung und Oxy- dation unter allen Umständen mit- einander verkettet? Das ist eine Frage, deren Lösung wir ebenfalls 0. War bürg verdanken. Da Sauerstoff zur Entwickelung notwendig ist, und die Oxydationsprozesse in der Eizelle durch die Befruchtung so sehr gesteigert werden, so liegt es eigentlich nahe, an eine strenge Parallelität der beiden Erscheinungsreihen zu denken. Trotzdem existiert dieselbe nicht, wie verschiedene Versuchsreihen Warburgs, von denen wir drei schildern wollen, beweisen. War bürg gelang es nämlich, durch geringe Mengen von Phenylurethan (ca. 1/2ooo"n) die Entwickelung der Eier von Strongylo- centrotus so zu hemmen, daß nach 130 Minuten zwar Kernveränderungen, aber noch keine Furchung eingetreten war, wäh- rend nach derselben Zeit im normalen See- wasser bereits 4 Zellen gebildet worden waren. Trotz dieser Entwickelungshem- mung war aber die Atmung der Eier kaum herabgesetzt. In Ammoniakseewasser (50 ccm Seewasser + 2 ccm l/io-rj NH3) findet keine Furchung befruchteter Eier statt, obwohl die Eier in demselben sogar noch um 10 % intensiver atmen als in normalem See- wasser, und in Wasser mit Au-, Ag- oder Cu-Zusatz in der Konzentration 10-5-n blieb die Furchung befruchteter Eier von Strongylocentrotus entweder ganz aus oder war zum mindesten stark verlangsamt, obwohl die Atmung bis um 63 % gesteigert sein konnte. Man kann auf Grund dieser Experimentalresultate also mit Warburg sagen: ,,Die sichtbaren Veränderungen im' sich entwickelnden Ei sind keine Bedingung für die Aenderung der Oxydationen nach der Befruchtung. Da andererseits nach der Loeb 'sehen Entdeckung die Oxydations- prozesse eine Bedingung für die sichtbaren Veränderungen sind, so sind diejonigen chemischen Prozesse, als deren Maß man den Sauerstoffverbrauch betrachten darf, den morphologischen Prozessen übergeordnet." 6e) Das Wachsen des Sauerstoff- verbrauchesmitfortschreitenderEnt- wickelung. Nach den Untersuchungen von 0. Warburg steigt bereits während der Furchung der Seeigeleier der Sauerstoff- verbrauch langsam . an, und zwar stellte er den letzteren für das 2-Zellenstadium von Strongylocentrotus auf 0,438 ccm, für das 64-Zellenstadium auf 0,612 ccm fest. Die Zunahme des Sauerstoffverbrauches stimmt also nicht entfernt mit der Zunahme der Kerne überein. Als Ursache für die Steigerung des 0 -Verbrauches macht er das Anwachsen der Oberfläche der Keime verantwortlich. Auch schon vor Warburg war die Zunahme der Atmungsintensität mit fortschreitender Entwickelung konsta- tiert worden. So von Godlewski jun. bei der Entwickelung des Froscheies, bei dem auch Bataillon zu gleichem Ergeb- [ nisse gekommen ist. Indem derselbe näm- lich die Froscheier in verdünntes Baryt- I wasser, welches noch nicht schädlich wirkte, brachte, konnte er an der Menge des aus- gefallenen BaC03 die Zunahme der aus- I geschiedenen Kohlensäure mit fortschrei- tender Entwickelung deutlich nachweisen. Weiteres über den embryonalen Gaswechsel ist in_ dem Artikel „Atmung" nachzu- lesen. 6f) Kann die Entwickelung in reinem Sauerstoff beschleunigt wer- den? Pott fand, daß die Entwickelung der Hühnerembryonen in reinem Sauer- stoffgas in den ersten beiden Wochen weder beschleunigt noch verzögert ist. Zu dem- selben negativen Kesultat gelangte J. Loeb bei den Eiern von Ctenolabrus, ja, Samassa stellte bei Ascaris megalo- cephala in reinem Sauerstoff sogar eine Verzögerung und in 0 unter 2V4 Atm. Druck eine sofortige Sistierung der Ent- wickelung und den Tod der Eier nach läng- stens 11 Tagen fest, während Luft unter diesem Druck nicht irgendwie alterierend auf den Entwich elungsverlauf einwirkt. 6g) Hat die Lage des Keimes zur Sauerstoffquelle einen Einfluß auf die Lokalisation von Bildungspro- zessen? a) Negatives Resultat Rouxs an Froschkeimen. Roux aspirierte zur Entscheidung der aufgeworfenen Frage Froscheier in eine Glasröhre und sah dann 604 Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere zu, ob die Einfluß auf hat. einseitige den Sauerstoffzufuhr Entstehunffsort ganen einen von Or- Das Resultat war negativ. ß) Positives Resultat von J. Loeb bei der Regeneration des Tubularia- köp fchen s. Steckt man ein herausge- schnittenes Stammstück von Tubularia mit einem Ende in den Sand, so bildet nur das eine frei ins Wasser ragende ein neues Köpf- chen, während beide Enden Köpfchen pro- duzieren würden, wenn beide von Meer- wasser umspült würden. Daß es nicht der Kontakt ist, welcher die Köpfchenbildung von ganz bestimmter chemischer Zusammen- setzung leben und sich entwickeln. Ist diese bestimmte Stoffkombination wirklich für die Entwickelung und Lebenserhaltung der Meertiere notwendig, oder genügt es, wenn den Tieren eine Salzlösung von demselben osmotischen Druck, wie ihn das Meerwasser aufweist, zur Verfügung steht? Systema- tische Untersuchungen über diese Frage waren vor den Arbeiten Herbsts haupt noch nicht angestellt worden Pouchet und Chabrv und etwas über- Nur J. Loeb hatten das die ersteren Kalium- oder den Kalk des entfernen resp versucht und so erhaltenen später Thema kurz gestreift; hatten mittels Natriumoxalates Meerwassers zu . zu vermindern die Wirkung des kalkarmen See- Entwickelung A Fig. 52. A Kleine, dickwandige, trübe Blastula aus einer K-freien Kultur. B Normale Blastula aus derselben Mischung mit K. Die Larven in der letzteren wurden in der Folge zu normalen Pluteis, während die in der K-freien Lösung als kränkliche, trübe Blastulae abstarben. Nach Herbst. unterdrückt, geht aus einem Experiment hervor, bei dem das Stammstück in die Spitze einer Pipette hineingesteckt und die Pipette in den Sand gestellt wurde, so daß eine Schnittfläche frei ins Wasser ragte, während die andere zwar auch ins Wasser ragte, aber nur in die innerhalb der Pi- pettenröhre abgeschlossene kleine Menge, wo die Sauerstoffversorgung natürlich schlechter als außerhalb war. Nur das frei in das Wasser ragende Ende produzierte ein neues Köpfchen. 6h) Hat die einseitige Sauerstoff- zufuhr einen Einfluß auf das Wan- dern von Zellen innerhalb des sich entwickelnden Organismus? Die posi- tive Beantwortung dieser Frage hat einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit für sich, doch liegen bis jetzt noch keine einwandfreien Experimente vor, welche ihr Aussprechen rechtfertigen würden. 7. Die zur Entwickelung notwendigen anorganischen Stoffe. Die Frage, welche anorganischen Stoffe für die normale Ent- wickelung der Tiere notwendig sind, hat Herbst auf die Weise zu lösen versucht, daß er die Seetiere in den Kreis seiner Be- trachtungen zog, welche in einem Medium wassers auf die der Seeigellarven studiert, wäh rend J. Loeb bei seinen Regene- rationsversuchen mit Tubularia mesembryanthemum fest- stellte, „daß Kalium in der Lösung in geringer Menge not- wendig enthalten sein muß, wenn Regeneration des Polypen stattfinden soll, daß aber zur Bildung normaler Polypen und für ein normales Wachstum auch Magnesium erforderlich ist. Diese beiden Substanzen neben NaCl (das möglicherweise ersetz- bar ist) sind aber für Regeneration und Wachstum der Tubularia ausreichend". 7a) Die Resultate Herbsts über die zur Entwickelung und Lebens- erhaltung notwendigen anorganischen Stoffe, a) Die zur Entwickelung not- wendigen anorganischen Stoffe. Wie Herbst in seiner ersten Arbeit von 1897 mitteilt, hat er die Notwendigkeit bestimmter Stoffkombinationen für die normale Ent- wickelung der Seeigellarven auf zweierlei verschiedene Arten und Weisen Einmal nämlich verfuhr er so, daß er festgestellt. zu- A Fig. 53 A und B. Zwei Gastrulae von Sphaer- echinus granularis aus Mg-freiem Seewasser. Nach Herbst. Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 605 Lösung von Chlornatrium er parallel damit nächst nur eine allein nahm und daß andere Kulturen ansetzte, welche neben NaCl noch eines oder auch mehrere der im Meerwasser vorhandenen Salze enthielten, und daß er mit dieser Kombination solange fortfuhr, bis er eine Mischung vorfand, in der sich die Larven normal entwickelten. Zwei- tens aber — und das tat er bei der größten Mehrzahl seiner Experimente prüfte er die Unentbehrlichkeit eines Stoffes auf die Weise, daß er zu den künstlichen See- wassermischungen alle Stoffe bis auf den Fig. 54. In Zellen sich auflösende Blastiila von Echinus microtuberculatus aus Seewasser ohne Ca. Nach Herbst. Menge von MgCl2 und im zweiten für das Chlorid das ameisensaure Salz des Natriums genommen wurde. Das Gesamtresultat der Herbstschen Untersuchungen war, daß er die Kationen Na, K, Mg und Ca und die Anionen Cl, S04< HC03 sowie einen ganz geringfügigenUeber- schuß der OH-lonen über die H- Ionen als notwendig für den nor- malen Verlauf der Seeigelentwicke- lung erkannte. Für die hauptsächlichsten Resultate liefern beistehende Figuren 52 bis 57 das bildliche Beweismaterial. In Figur 52 A ist eine Sphaerechinus- blastula aus K-freiem Seewasser dargestellt. Dieselbe ist kleiner als eine Blastula aus derselben Seewassermischung mit K-Zusatz (Figur 52B). weist ein trübes Gewebe- aussehen auf und besitzt nicht die vakuolige Beschaffenheit ihrer Wandung wie eine normale Blastula aus der Kontrollkultur. Während sich nun die Keime in der letz- teren Zucht zu normalen Pluteis weiter entwickelten, stellten die trüben Blastulae ihre Entwickelung ein und starben nach ein paar Tagen ab. Noch früher macht sich der Einfluß des K-Mangels bei den Eiern von Echinus microtuberculatus gel- tend, die meist bereits schon während der Furchuno; absterben. Der Vergleich der zufügte welchen er hin untersuchen wollte, seinen Versuchen alle quellen ins Auge gefaßt allen Dingen auch auf seine Notwendigkeit Herbst hat bei möglichen Fehler- und natürlich vor darauf geachtet, daß die Mischungen, welche er auf ihre Wirkung hin prüfte, nicht etwa derartig in bezug auf ihren osmotischen Druck differierten, daß diese Differenz allein für die verschiedene Wirkung auf die sich entwickelnden Eier hätte verantwortlich gemacht werden kön- nen. Besondere Schwierigkeiten bereitete es, einen geeigneten Ersatz für NaCl zur Fig. 55. Gastrula mit kurzem Urdarm und abnorm gelagerten Kalknadeln ausS04- freiem Seewasser. Nach Herbst. Prüfung der Notwendigkeit von Natrium und einen solchen für Cl zur Entschleierung der Notwendigkeit dieses Jons zu schaffen, doch glückten schließlich die Versuche, als im ersteren Falle für NaCl eine isotonische beiden F i g u r e n 53 A und B mit dem Figur 57 dargestellten Pluteus läßt klar die Notwendigkeit des Magnesiums für den vollständigen normalen Entwicke- lungsablauf erkennen; und Figur 54 zeigt deutlich, daß es ohne Vorhandensein von Ca im umgebenden Medium nicht zur Bil- dung geschlossener Larven kommen kann. Die Notwendigkeit des S04-Ions ergibt sich aus einem Vergleich von Figur 55 mit Figur 57; und'die Unentbehrlichkeit einer bestimmten Hydroxylionen - Konzentration kann man aus den Figuren 56 A a bis d einerseits und aus den Figuren 56Bund56C andererseits erkennen. Die Figuren 56 A a bis d repräsentieren vier Keime aus der Zucht ohne genügende OH-Ionenkonzentra- tion und lehren^ daß die Eier sich der letzteren gegenüber außerordentlich ver- schieden verhalten. Solche individuelle Ver- schiedenheiten kommen zwar auch in anderen Lösungen vor, die nicht alle notwendigen Stoffe enthalten, nirgends individuelle Verschiedenheit wie in den Mischungen, die nicht die richtige Hydroxylionenkonzen- tration aufweisen. Die in den'Figuren 56B und 56 C dargestellten Larven stammen aus derselben Seewassermischung mit OH-Zusatz, und zwar wurde Figur 56 B zu derselben Zeit gezeichnet wie die stehen gebliebenen Furchungsstadien und die krüppeligen Bla- stulae aus der OH-ärmeren Zucht. Die Not- anorgamschen tritt aber diese so sehr hervor G06 Entwickelungsmechanlk xler Entwickelungsphysiologie der Tiere ' B Fig. 56 Aa bis d. Keime aus künstlichem See- wasser ohne genügenden OH- Ionengehalt. Bund C Larven aus derselben Mischimg mit KOH- Znsatz. Znsammensetzung der Mischung: 3% NaCl, 0,08 % KCl, 0,66% MgS04, 0,13 % CaCl, und Tricalciumphosphat und Ferrum phosphoricum oxydulatum, soviel sich in der Flüssigkeit nach ca. 40 St. löste. Die Kultur mit KOH-Zusatz erhielt zu 20 ccm 6 Tropfen i^prozentiger KUH-Lösung, was für manche Eier schon zu hoch gegriffen war. Aa bis d und B zu derselben Zeit, C drei Tage später gezeichnet bei gleicher Vergrößerung. Noch Herbst. wendigkeit der Carbonate resp. Bicarbonate endlich geht aus dem Vergleich von Figur 56C mit Figur 57 hervor, von denen die in der letzteren abgebildete Larve aus künst- lichem Seewasser mit Ca(HC03)2 stammt und Figur 56 C dar- ein vollständiges Gegensatz zu der im gestellten Pluteuslarve aufweist. Skelett Der größte Teil der Herbst sehen Ex- perimente erstreckt sich auf die Entwickelung der Seeigeleier, doch hat er auch mit an- deren Tieren eine Keine von Versuchen an- gestellt, die ähnliche Resultate ergaben. Dazu gehören zunächst die Eier der Seesterne. Von Cölenteraten hat er gelegentlich Planulae von Cotylorhiza benutzt und außerdem die Loebschen Angaben über die zur Re- paration der Tubulariaköpfchen notwendigen anorganischen Stoffe dahin ergänzt, daß er den normalen Verlauf derselben auch noch von dem Vorhandensein von Ca und S04 ab- hängig sein ließ. Die Herbst sehen Re- sultate werden in ihrer Gesamtheit wahr- scheinlich auf alle jene Tiere zu übertragen sein, welche im Inneren ihres Körpers den- selben Salzgehalt wie das Meerwasser auf- weisen. Ob dagegen alle von Herbst gefundenen Stoffe auch zur Entwickelung jener Meertiere notwendig sind, deren inneres Medium einen geringeren Gehalt an an- organischen Salzen besitzt als das Meerwasser, bedarf noch weiterer Untersuchungen. ß) Notwendigkeit einer bestimm- ten Stoffkombination zur Lebens- erhaltung ausgebildeter Larven und Fig. 57. Normaler Pluteus von Sphaer- echinus granularis aus künstlichem Seewasser mit allen notwendigen Stoffen zum Vergleich mit den Fig. 52 bis 56. Nach Herbst. Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 607 Tiere. Es ist bekannt, daß viele wirbellose Tiere des Meeres auf gewissen Larvenstadien längere Zeit verharren. Deshalb erhebt sich die weitere Frage, ob zur Lebenserhaltung dieser Larven ebenfalls die eben aufgezählten anorganischen Stoffe notwendig sind, oder ob dazu ein mit dem Meerwasser isotonisches Medium genügt. Herbst hat an Pluteis von Seeigeln und Bipinnarien von See- sternen gezeigt, daß ersteres der Fall ist. Ja selbst für die Lebenserhaltung ausgebil- deter Formen anderer Meertiere (Medusen, Polycladen, Ascidien und Acranier) konnte er die Notwendigkeit einer bestimm- ten Stoffkombination nachweisen. y) Die Bestätigung der Herbst- schen Resultate durch J. Loeb. Die von Herbst bei der Entwickelung von Echinodermenlarven gefundenen Tatsachen sind im Laufe der Jahre an denselben Ob- jekten von Loeb vollständig bestätigt worden. Dieses sei ganz besonders deswegen betont, weil manche geneigt sind, aus dem verschiedenen Wortlaut, den Loeb seinen Resultaten gibt, eine Verschiedenheit in den Resultaten Loebs und Herbsts herauszulesen. Loeb sagt nämlich: „Eine reine NaCl-Lösung ist für die Seeigeleier giftig. Dieselbe muß durch Zusatz anderer Stoffe (K, Mg, Ca) entgiftet werden." Herbst sagt: „Zur normalen Entwickelung der See- igeleier genügt NaCl allein nicht, sondern es müssen dazu noch bestimmte andere Stoffe hinzugefügt werden, und es kann auch NaCl nicht durch einen anderen Stoff ersetzt werden." Die Notwendigkeit einer be- stimmten Stoffkombination für den normalen Entwickelungsablauf der Echinideneier ist also von Loeb nur mit anderen Worten ausgedrückt worden als von Herbst. Loeb, der schon früher unabhängig von Herbst gefunden hatte, daß die Entwickelung des Seeigels, Arbacia, durch OH-Zusatz zum Meerwasser beschleunigt werden kann, hat auch die Angabe von Herbst über die Not- wendigkeit eines geringfügigen Ueberschusses der Hydroxylionen über die Wasserstoff- ionen bestätigt und berechnet, daß die Hydroxylionenkonzentration für die Ent- wickelung von Strongylocentrotus purpuratus = oder > 10 6n sein muß und bis 4.10-4n steigen darf. Aehnliche Resultate erhielt auch War bürg bei Stron- gylocentrotus lividus, bei 10~ 8n OH keine Furchung, bei 10~6 normale Furchung und bei 10_ 3 wieder keine Furchung. ö) Ueber das Vorkommen noch anderer als der namhaft gemachten notwendigen Stoffe in wirbellosen Tieren. In manchen Seetieren kommen interessanterweise Stoffe vor, die nur in minimalen, ja minimalsten Mengen im Meerwasser enthalten sind oder enthalten sein können. An erster Stelle ist hier die Kieselsäure zu nennen, welche als Skelett- substanz bei vielen Spongien und Radio- larien eine große Rolle spielt. Nach den Untersuchungen von Bütschli gehört ferner das Strontium hierher, welches als Sulfat das Skelett der Acantharien bildet. Im Spongingerüst von Hornschwämmen und in dem Achsenskelett vonGorgonia Cavo- linii kommt nach Drechsel Jod vor, während im Skelett anderer Anthozoen auch reichlich Brom gefunden worden ist (Mörner). In den Nierenkonkrementen von Pinna squamosa fand Krukenberg Man- gan auf, welches auch im Blute dieses Tieres vorkommt; im Blut von Cephalopoden und Krebsen kommt bekanntlich Kupfer vor; am allermerkwürdigsten ist aber wohl der Nachweis von Vanadium in dem Chromogen der Blutkörperchen von Ascidien durch Henze. Obgleich diese Stoffe ebenfalls als notwendig für die betreffenden Tiere zu be- zeichnen sein dürften, so ist es doch -- zum mindesten für die Mehrzahl der aufgeführten Stoffe — am wahrscheinlichsten, daß die- selben nicht etwa wie die anderen unent- behrlichen Stoffe im umgebenden Medium gelöst vorhanden sein müssen, sondern daß sie mit der Nahrung in die Tiere hinein- gelangen. 7b) Vergleich der Herbstschen mit der Ringer-Lockeschen Lösung. Die von Herbst gefundenen anorganischen Stoffe kommen auch in der Ringer-Locke- schen Lösung vor und zwar, was NaCl, KCl und CaCl 2 anbetrifft, auch in ungefähr dem- selben Verhältnis, worauf J. Loeb auf- merksam gemacht jat. Neuerdings ist diese Aehnlichkeit noch größer geworden, da Tyrode nachgewiesen hat, daß die Rin- noch besser wirkt, wenn gersche Lösung sie auch einen Zusatz von MgCl2 aufweist. Abgesehen von dem Konzentrationsunter- schied unterscheidet sich also die Ringer- sche Lösung von der Herbstschen nur noch durch das Fehlen der Sulfate in ihr. Da die Ringer sehe Lösung in dem Gehalt an anorganischen Stoffen auch mit dem Blut- serum übereinstimmt, so hat man auch ge- sagt, die Landtiere trügen noch in ihren Adern verdünntes Seewasser mit sich herum. Das stimmt jedoch nur in bezug auf die relativen Konzentrationen der drei Salze NaCl, KCl und CaCl,, in bezug auf die Magnesiumsalze und Sulfate aber nicht. 7c) Die Vertretbarkeit der not- wendigen anorganischen Stoffe durch andere ähnlicher chemischer Natur. Von den Kationen kann nur K bis zu einem gewissen, ziemlich hohen Grade durch Rb oder Cs ersetzt werden. In Lösungen, welche an Stelle von KCl RbCl oder CsCl enthalten, können nämlich Pluteuslarven entstehen, 608 Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere welche sich von normalen nur durch die rudimentäre Beschaffenheit oder das gänz- liche Fehlen des Skelettes unterscheiden. Bei schwachen äquimolekularen Dosen wirkt Cs besser als Rb und Rb besser als K, bei höheren Dosen wirkt dagegen K günstiger als die beiden anderen Kationen. Es liegen demnach Optimum und Maximum für Rb und Cs tiefer als für K. Hierzu kommt noch, daß das Optimum für die verschiedenen Prozesse auf verschiedener Höhe liegt, so daß z. B. das Optimum für Skelettbildung bereits überschritten sein kann, wenn es für das Wachstum der Larven und das gesunde Aussehen ihrer Gewebe noch nicht erreicht ist. Kalzium kann nicht durch Sr oder Ba vertreten werden, und zwar auch nicht, wenn an Stelle der Sulfate Thiosulfate zur Ver- wendung kommen, so daß genügend Sr- oder Ba-Ionen in den Lösungen vorhanden sind. In Seewasser, welches an Stelle von Cl Br enthält, können sich Seeigeleier in gün- stigen Fällen bis zu Pluteuslarven entwickeln, die allerdings etwas dürftig ausgebildet er- scheinen. Durch Jod ist Chlor nicht zu ersetzen. Die Sulfate können in ziemlich hohem Maße durch Tinosulfate ersetzt werden, denn in Seewasser mit Thiosulfaten an Stelle von Sulfaten können Pluteuslarven entstehen, die sich von normalen nur durch unvollständige Skelettbildung, kurze Fort- sätze, geringere Größe und spärlichere Pig- mentierung unterscheiden. Dithionsaure Salze sind dagegen unbrauchbar, ebenso Selenate und Tellurate. Herbst, von dem diese Versuche über Vertretbarkeit herrühren, hat beim Studium der Vertretbarkeit der Sulfate auch noch nachgewiesen, daß freie S04-Ionen in der Lösung vorhanden sein müssen, da äthyl- schwefelsaure Salze, die keine S04-Ionen ab- spalten, die Sulfate nicht ersetzen können. 7d) Die Rolle der notwendigen anorganischen Stoffe bei der Ent- wicklung der Echinodermenlarven nach Herbst's Untersuchungen. a) Leistungen, die allen notwen- digen anorganischen Stoffen gemein- sam sind. Fügt man zu einer Mischung, welche irgendeinen notwendigen Aschebe- standteil nicht enthält, den fehlenden Stoff in steigenden Dosen zu, so konstatiert man bis zu einer bestimmten Konzentration erstens eine Beschleunigung der Entwicke- lung und zweitens ein Größerwerden der Larven. Das gilt nicht nur für die notwen- digen Kationen, sondern auch für die An- ionen. Außerdem ist allen notwendigen anorganischen Stoffen gemeinsam, daß ihre Anwesenheit im umgebenden Medium auch für die Lebenserhaltung ausgebildeter Larven- formen unentbehrlich ist. ß) Unterscheidung von Stoffen, die von Anfang an, und solchen, die erst später, nach dem Blastula- stadium, notwendig sind. Von Anfang an müssen in dem Medium vorhanden sein: Na, K, Ca, Cl und eine bestimmte Hydr- oxylionenkonzentration. Erst später sind dagegen Mg, S04 und HC03 notwendig. y) Spezielle Leistungen einiger notwendiger anorganischer Stoffe während der Entwicklung. Kalium. Die Größe der Larven wird zwar, wie oben angegeben wurde, durch alle not- wendigen anorganischen Stoffe beeinflußt, doch kommt dem Kalium beim Wachstum der Larven eine besondere Bedeutung zu, wie z. B. die beiden Figuren 52 A und B, die wir oben betrachtet haben, deutlich zu erkennen geben. Da das Wachs- tum der Larven auf diesen Stadien durch Wasseraufnahme zustande kommt, so hat also das Kalium irgend etwas damit zu tun. Das trübe Aussehen der Sphaerechinus- keime aus K-freien Mischungen rührt wohl auch von einem zu geringen Wassergehalt der Gewebe her. Die Seeigellarven wimpern im K-freien Medium nicht. Auch die Sperma- tozoen der Echiniden verlieren darin ihre Beweglichkeit, so daß die Befruchtung der Eier in Seewasser ohne K verhindert wird. Kalzium. Die wichtigste Rolle, welche Kalzium bei der Entwickelung zu spielen hat, ist die, die Furchungszellen zusammenzu- halten, Im Ca-freien Medium furchen sich die befruchteten Eier zwar, aber es bleiben die Furchungszellen nicht beieinander liegen, wie die beistehenden Figuren 58 A bis C für die Zwei- und D und E für die Viertei- lung und ihr Vergleich mit normalen Zwei- und Vierstadien (F und G) zeigen. Bringt man die isolierten Furchungszellen in kalk- haltiges Wasser zurück, so bleiben die Zellen bei den weiteren Teilungen beieinander liegen, und man erhält auf diese Weise aus einem Ei 2, 4, 8 usw. Larven, je nachdem man die Ueberführung in kalkhaltiges Wasser nach der 1., 2., 3. usw. Teilung vornimmt, wie bereits im Kapitel über das Determinations- problem erwähnt wurde. Aber es gehen nicht nur die Zellen jener Eier auseinander, welche sich von Anfang an in dem Ca-freien Medium befinden, sondern auch die jener Keime, welche sich in gewöhnlichem Seewasser zu entwickeln begonnen haben. Das gilt nicht nur für Furchungsstadien, sondern auch für Blastulae, Gastrulae und Plutei, sowie für die Epithelien ausgebildeter Tiere, während z. B. Muskeln nicht zum Zerfallen in ihre einzelnen Bestandteile durch Ca-freies Wasser zu bringen sind. Figur 54 stellt z. B. den Zerfall einer Echinus-Blastula in Ca- freiem Medium dar. Dieser Zerfall ist ein reversibler Prozeß. Bringt man nämlich Entwickelungsmechanik oder Entwickelungsphysiologie der Tiere 609 «inen aufgelockerten Keim mit abgerundeten Zellen aus dem kalkfreien in kalkhaltiges Seewasser zurück, so findet wieder ein Zu- sammenschluß der abgerundeten Zellen, so weit sie sich noch punktuell berühren, statt, während ganz isolierte Zellen nicht wieder mit in den Verband aufgenommen werden. Schuld an dem Auseinandergehen ist eine Veränderung der hellen Oberflächenschicht der Furchungs- und Larven- stadien, der Verbindungsmembran in der Sprechweise Herbsts, wozu aber noch eine Beeinflus- sung der Oberflächenspannung der Zellen selbst durch das Fehlen resp. das Vorhandensein des Kal- ziums kommt. Betont sei üb- rigens noch, daß das Ausein- andergehen von Furchungs- und Gewebezellen nichts mit dem maulbeerartigen Zerfall der Keime beim Absterben infolge schädigender Einwirkungen zu tun hat, denn die Eier furchen sich in dem Ca-freien Medium trotz des Auseinanderweichens der Zellen ruhig weiter, ja differen- zieren sich darin zu Wimperzellen, und es treten aus Larven, die man aus normalem in Ca-freies Seewasser bringt, bereits Zellen aus, wenn dieselben noch äußerst munter im Gefäß herum- schwimmen. Magnesium. Obwohl Magne- sium seine Hauptrollen erst auf späteren Stadien der Entwicke- lung zu spielen hat, so ist seine Anwesenheit im umgebenden Me- dium doch auch für die. Befruch- tung notwendig, die nach ziemlich kurzem Aufenthalt der Ge- schlechtsprodukte in Wasser ohne Mg nicht mehr erfolgreich ausgeführt werden kann. Das liegt hauptsächlich an den Eiern, die aber ihre Fähigkeit, befruchtet zu werden, wiedererlangen, wenn der Aufenthalt im Mg-freien Me- dium nicht zu lange dauerte. Sind die Eier aber schon in befruchtetem Zustand in die Mischung ohne Mg gebracht worden, so stellt sich heraus, daß dann die normale Ausbilduno; des Darmes und des Skelettes nicht möglich ist. Hierbei spielt also Mg irgendwelche Rollen. Endlich sei betont, daß bei Seesternen (Asterias glacialis) Kalzium allein nicht zum Zusammenhalt der Zellen genügt, sondern daß dazu auch Magnesium notwendig ist. Das Hydroxylion. Ein richtiger Hydroxylionen ^',;^W 1 1 > J vi i. ik ' 11 ^ ^ WIM Vi , < Wi SEI 1. r . r Wim 1 m PH SS ^ Jtf 7^1 ■Eb-aMT-MV —LI ^i^Wj Fig. 8. Conchophyllum maximum auf Schatten- bäumen einer Kaffeeplantage in Menado. abgebildeten Conchophyllum maximum dagegen wird stets nur ein Blatt jedes Paares ausgebildet, das riesige Größe er- reicht und sich quer über den ganzen Stamm legt, die Basis abwärts gekehrt. So sind Stamm und Haftwurzeln unter dem Schutze des schildkrötartigen sukkulenten Blattes geborgen, das an den geschützten Hohlraum sehr wenig Transpirationswasser wird, während das bei Stamm herablaufende Wasser Regengüssen zum abgeben am Teil unter die Blattränder gesogen und hier fest- gehalten werden kann. Auf diese Weise vermag die Pflanze in Menado, wo sie hei- misch ist, im stärksten Sonnenbrande gut fortzukommen und sich massenhaft zu ver- breiten. Ganz ähnliche Existenzbedingungen sind für den interessanten Farn Polypodium imbricatum zu erwähnen, das auf den Bergen Amboinas lebt (Fig. 9). Nur ist es hier der gegliederte ausgehöhlte breite Stamm, der die Funktion, einen Hohlraum für den Fig. 9. Polypodium imbricatum. Wurzelschutz zu bilden, ausübt und an seinen Rändern rings das Regenwasser unter den Rand in den Hohlraum eintreten läßt, während auf dem breiten Rücken des dick- fleischigen Stammes die großen Fiederblätter stehen. Hier wären auch die vielgenannten stammsukkulenten Myrmecodia und Hydno- phytum zu erwähnen, die mit inneren Tran- spirationshohlräumen versehen sind. Nach- dem ihr Bewohntsein von Ameisenkolonien als eine für ihr Leben nicht notwendige Zufälligkeit nachgewiesen war, ist die Be- deutung des labyrinthischen Hohlraum- systems als Transpirationsraum mit mög- lichster Wasserersparnis und als für Wasser- aufnahme in die Höhlung bei starken Regen- güssen geeignetes Organ erkannt worden. 5d) Nestepiphyten. Einen besonderen Typus von Epiphyten bilden diejenigen Formen, die auf irgendeine Weise sich auf ihrem Standorte einen künstlichen Boden Epiphyten G79 bereiten, der durch die Menge fallenden Laubes usw. stetig eine Fülle von humus- bildenden Stoffen zugeführt erhält und Ge- wächse von bedeutenden Ansprüchen an Nahrungsmaterial zu erhalten imstande ist. Als einfachste Ausgangsform derartiger Epi- phyten, die als ,,Nestepiphyten" be- zeichnet sein mögen, ist das mächtige Asple- nium Nidus anzusehen. Figur 10 führt Fig. 10. Asplenium Nidus. einen Ficusstamm des Buitenzorger Gartens vor, dessen Zweige eine Menge dieser großen Farnpflanzen beherbergen; die Wedel sind äußerst kräftig gebaut und stehen rings in geschlossenem Kreise. Naturgemäß sammelt sich in diesen umfangreichen Trichtern eine Masse von abfallendem Laub, Aesten usw. an. die stetig vom Regenwasser feucht ge- halten, einem schnellen Zersetzungsprozeß unterliegt und der durch die Astwinkel und eigene Wurzelbildung festhaftenden Epi- phytenpflanze hinreichende Nährstoffe für eine stets mächtiger werdende Entwickelung liefert. In den künstlichen Boden hinein werden alsdann die Nährwurzeln der Pflanze ausschließlich entsandt. Während nun bei diesen großen Nest- farnen, deren Dimensionen, wie Junghuhn schildert, dem Tiger ein Versteck gewähren, von wo aus er seine Opfer unversehens über- fallen kann, die grünen Assimilationswedel selbst das Nest bilden, in dem der Humus sich ansammelt, besitzen andere Farne dimorphe Wedel, deren eine, sehr festgebaute, als Nische nblätter bezeichnete Form ihren Chlorophyllgehalt bald verliert und als aufragende Nische dem am Stamm herab- geschwemmten Humus Halt gewährt, so daß sich zwischen dem Stamm des Stützbaumes und dem Nischenblatt ein künstlicher Boden ansammelt, der von der Pflanze ausgenutzt werden kann. Die zweite Wedelform, der sowohl die Assimilationsarbeit wie auch die Sporangienbildung zufällt, wird dann viel- fach in hängender Weise angeordnet sein, wie bei zahlreichen Platyceriumarten, von denen Figur 11 in Platycerium grande Fig. 11. Platycerium grande. ein anschauliches Beispiel vorführt. Ueber- gänge vom Typus des Nestfarnes zu dem des Nischenblattfarnes stellen dar das gewaltige Polypodium Heracleum mit über 1% m langen Wedeln, die aus einem sich kreis- förmig einrollenden Stamm entspringen, fer- ner das Polypodium Meyerianum mit am Grunde nischenartig verbreiterten, aber sonst einförmigen Wedeln, denen sich zahl- reiche andere anreihen ließen. Eine der häufigsten Formen von Nischenblattfarnen, im ganzen malayischen Archipel verbreitet, 680 Epiphyten ist das heterophylle Polypodium querci- folium, nach der Form seiner sich alsbald bräunenden Nischenblätter so genannt. Einen Ueberblick über den Aufbau der Pflanze gibt die Figur 12, die ein vom senkrechten Hauptstamm auf einen horizontalen Seiten- Fig. 12. Polypodium quercifolium. ast übergehendes Exemplar des Farnes zeigt. Die nischenartig abstehenden ,,Eichen"blätter sind am älteren Stück des Rhizomes am vertikalen Stamm zu erkennen, während sie am horizontalen Aste durch die großen gefiederten Assimilationswedel verdeckt wer- den. Dieses Polypodium quercifolium erreicht nun in alten Exemplaren eine außer- ordentliche Ueppigkeit und überzieht ganze Baumstämme von unten bis oben hin, geht auch auf die Aeste über. Ein besonders schönes Exemplar stellt die Figur 13 dar. Ein mächtiger Stamm von Canarium com- mune in Ternate ist über und über mit dem Polypodium bedeckt, dessen Assimi- lationsblätter allein sichtbar sind. Ganz ähnlich wie Polypodium quercifolium verhält sich Polypodium rigidulum, nur ist die Pflanze in allen Teilen zierlicher und ist mir niemals in so großen Exemplaren begegnet. In anderer Orchideen sich Fig. 13. Polypodium quercifolium auf einem Canariumstamme in Ternate. Weise haben einige große die Gelegenheit geschaffen, einen künstlichen Boden aus herabfallenden Humusbestandteilen zu bilden. Grammato- phyllum speciosum z.B., eine mächtige Orchidee, die in Java heimisch ist, ent- sendet, nach erster Festheftung auf der Stützpflanze alsbald eine Menge von Wurzeln, die jedoch rings um die Anheftungsstelle herum nach außen und aufwärts wachsen. Sie verflechten sich dicht unter starker Nebenwurzelbildung, doch Haupt- wie Neben- wurzeln stellen nach einiger Zeit, wenn sie 10 bis 20 cm (die Nebenwurzeln 2 bis 3 cm) Länge erreicht haben, ihr Wachstum ein. werden steif, verholzt und ihre Spitzen wandeln sich in Dornen um. Ein solches Nest von emporgespreizten, tragfesten Wur- zeln vermag ebenfalls eine Menge von Humus aufzustapeln, der dann von neu hervor- sprossenden Nährwurzeln durchwachsen und zum Vorteil der Pflanze ausgenutzt wird. Ein besonders mächtiges Exemplar von Grammatophyllum sah ich in Buitenzorg einen dicken Stamm von Canarium mit seinem humussammelnden Nest rings um- wachsen, das sicherlich mehrere Zentner Gewicht besitzen mochte. ein relativ bescheidenes dessen Sprosse immerhin erreichten. Se) Bromeliaceen -Epiphyten. Mehrfach sahen wir im vorhergehenden, daß der Rosettenwuchs der Pflanzen von den Epiphyten für ihre Bedürfnisse in ver- schiedener Weise ausgenutzt wird. Eine der weitestgehenden Modifikationen, die Ro- settenpflanzen für epiphytisches Leben ge- schickt machen, ist mit den Bromeliaceen vor sich gegangen, die typische Rosetten- pflanzen (Fig. 15 und 15a) und dabei die vielseitigsten, zum Teil anspruchslosesten Figur 14 stellt Pflänzchen vor, über 1 m Länge Epiphyten 681 aller Epiphyten sind. Bromeliaeeen sind auf Amerika beschränkt. Wo man aber auch tropisch feuchten Wald in Amerika betritt, drängt sich die überwiegende Rolle der Bromeliaeeen im Epiphytenbilde auf. Die Struktur der großen rosettig wachsen- den Bromeliaeeen, wie Vr i e s e a , B i 1 b e r g i a, Nidularium u. a. ist hart, dickwandig, Fig. 14. Grammatophyllum speeiosurn mit Nestwurzeln. typisch xerophil. Im Grunde der Rosetten aber, deren Blätter dicht aneinander- schheßen, wie Fig. 15 a zeigt, über dem Vegetationspunkte, ist im normalen Leben stets flüssiges Wasser in mehr oder minder großer Menge enthalten, es ist das hinein- gelangte Regenwasser, das den Becher der Rosette im ganzen Lebensverlauf mindestens feucht erhält. Die Wurzeln der epiphytischen Bromeliaeeen sind zu bloßen Haftorganen reduziert : als Aufnahmeorgan für die flüssige Nahrung fungiert das Blatt. Die Blattober- seite, soweit sie dem Trichter angehört, ist bedeckt mit Haarschuppen, die mit einem Stiel tief in das Blatt eingelassen, im trocke- nen Zustande mit einem rings weit aus- greifenden Rande dem Blatt dicht ange- schmiegt sind und, da ihre Oberseite mit starker Cuticula überzogen ist, als vorzüg- licher Transpirationsschutz dienen. Bei Be- netzung aber hebt sich das Haar und man erkennt, daß der Haarschild auf der Unter- seite sehr dünnwandige Zellen besitzt, die das unter den Haarrand tretende Wasser auf- saugen und durch den mit ebenfalls dünnen Zellwänden gegen das Blattinnere abge- Fig. 15. Bromeliaceenrosetten auf den verschiedenen Stämmen. Fig. 15a. Nidularium Innocentii. Cisternen-Epiphyt. Nach Schimper. 682 Epiphyten ^ schlossenen Stiel ins Blatt hinein passieren lassen. Die Figuren 16 und 17 werden diese Verhältnisse verdeutlichen, jedenfalls tritt ja in Figur 17 die Differenz in der Wanddicke von Oberflächen- und Innenzellen der Schuppe her- vor, während Figur 16 die große Zahl der Zellen, die für den Vorgang in Betracht kommen, und ihre Verbin- dung mit dem zentral eingesenk- ten Stiel veran- schaulichen. Somit ist es verständlich, daß diese soge- nannten Zister- nen epiphyten, die stets Wasser in ihren Trichtern an den natürlichen Standorten führen, sich mit Hilfe ihrer Blätter allein mit Nährlösung versorgen und ihr Wurzel- ) Fig. 16. Haarschuppen von V r i e s e a. Vergrößerung 340. Nach S c h i m p e r. Fig. 17. Tillandsia usneoides. Schuppen- haar. Vergrößerung 375. Nach Schimper. System lediglich als Haftorgan ausbilden, die Leitungsbahnen also erheblich reduzieren können. Von diesen Zisternenepiphyten leiten sich nun weiter modifizierte Typen ab, die hauptsächlich der Bromeliaceengattung Til- landsia angehören. Es sind teils rosettige zierliche Pflänzchen von grauer Farbe, die jedoch des Wasserreservoirs entbehren und dafür auf ihrer ganzen Oberfläche mit solchen sogenannten Blasebalghaarschuppen bedeckt sind. Dadurch sind sie imstande, außer- ordentlichen Graden' von Lufttrockenheit, die anderen Epiphyten längst verderblich geworden wären, zu widerstehen und bei jedem Regen, bei jedem Taufall mit Hilfe ihrer gesamten Oberfläche Wasser aufzu- nehmen. Da sie stets an den exponierten Stellen der Aeste und Zweige sitzen und in viele feine Spitzen auslaufen (Fig. 18), wird eine gewisse Wärmeausstrahlung von ihnen ausgehen und bei Annäherung der Wasserdampftension an den Taupunkt, die Kondensation gerade an der Oberfläche dieser Tillandsien am ersten und leichtesten stattfinden, die jede Spur von Wasser sofort in ihr Gewebe einsaugen und es in einer Art von Wassergeweben aufspeichern. So findet man derart ausgerüstete streng xerophile Epiphyten auch an Orten, die jedes epiphytische Leben ausschließen zu müssen scheinen, wie an den großen Kakteen- stämmen der den glühenden Sonnenstrahlen ausgesetzten Hochebene von Tehuacan in Mexiko und anderen ähnlichen Orten. ras Fig. 18. Tillandsia stricta var. Schlumbergeri, ein ausgesprochen xerophiler und licht- bedürftiger Epiphyt Südbrasiliens. % natürlicher Größe. Nach Schimper. Epiphyten 683 von geschieht Eine weitere Mo- difikation führt von diesen noch immer rosettig gebauten Pflanzen zn dem eigen- artigsten Epiphyten Amerikas, zu der be- kannten Tillandsia u sneo ides (Fig. 19 und 20). Die Pflanze entbehrt der Wurzeln vollkommen. Sie be- steht aus einem langen zweizeilig beblätterten Sproßsystem, das zahlreiche Seiten- sprosse treibt und sich durch Umwinden des Stützastes fest- hält. Die Blätter und Achsen sind völlig mit den Schuppenhaaren be- deckt und die Pflanze führt zerstreute Wasserzellen im Ge- webe, die als Speicher dienen. Die Aufnahme Tau oder Regen ebenso wie bei Tillandsia stricta. Diese Til- landsia usneoides stellt eine der eigen- artigsten Pflanzenge- stalten dar, sie blüht selten und ihre Ver- geht wohl mit Hilfe vom Winde oder von Vögeln abgerissener Zweige vonstatten. In Mexiko reicht sie von der Küste bis aufs Hochplateau, von Florida an be- gleitet sie den ganzen Golf, indem sie über- all an den großen Taxodien lange Schweife und Guir- landen bildet tu eil gleicht ersten der Bartflechte Gebirgsbäume, Usnea, von der sie ihren Namen herleitet. Auch sonst kennt man ja, um durch den Gegensatz die Sachlage zu klären, lang herabhängende Epiphyten, aber die Bedingungen des Auf- tretensunddieHäufig- mehrung gänzlich Habi- sie am langen unserer Fig. 19. Fragment eines Sprosses von Til- landsia usneoides. In natürlicher Größe. Nach Schimper. Fig. 20. Zweig von Tillandsia us- neoides. x/ä na" türlicher Größe. Nach Schimper. Fig. 21. Habitus eines mit Tillandsia us- neoides-Schweifen besetzten Baumes im Tal des Grijalva. Chiapas. 684 Epiphyten keit des Vorkommens sind so völlig ver- schieden, daß darauf besonders hingewiesen werden muß. So stellt die Figur 22 lang herabhängende epiphytische Lycopodien dar, die ebenfalls schweifbildend auftreten möchten. Doch sind sie trotz der Klein- heit ihrer Blätter auf das innerste, feuchteste Gebiet tropischer Waldungen beschränkt, sie würden niemals an Orten, wo die Tillandsia wächst, existieren können. Das wesentliche für die Tillandsia sind eben die ausgezeichneten Schutzmittel gegen Ver- dunstung, wie die beschriebenen großen Schuppenhaare allein sie wirksam darstellen können. 6. Hemiepiphyten. Hemiepiphyten sind nun derartige Gewächse, die nur zu einer gewissen Zeit ihresLebens epiphytischeLebens- weise besitzen. Zahlreiche Ficusarten, wie Ficsu bengalensis im tropischen Asien, gelangen mit ihren Samen auf hohe Bäume, wo Vögel die fleischigen Früchte verzehren, die harten Samen aber vom Schnabel abgewetzt haben. Gelangen sie hier zur Keimung, so sind sie vorerst auf die vorhandenen Nahrungsstoffe angewiesen, und es ist ja verschiedentlich dar- gelegt worden, daß daraufhin nur ein be- scheidener Lebenshaushalt begründet werden kann. Nun haben aber diese Ficusarten die Fähigkeit, ihre Wurzeln relativ stattlich auszubilden und diese wachsen, nachdem für die Befestigung des Keimlings das nötige geschehen ist, am Stamm des Stützbaumes entlang, abwärts. Meist werden mehrere der- artige Wurzeln ausgesandt und wo sie beim Abwärtswachsen einander begegnen, treten sie in Verbindung und bilden einen Ring, der den Stamm umspannt. Bei der spär- lichen Ernährung mag es lange dauern, bis die Wurzeln eine größere Strecke zurücklegen können, sie verzweigen sich mehrfach, bilden wieder Verbindungen und so findet der Stützbaum sich bald von einem förmlichen Netzwerk umgeben. eine oder die andere Ficuswurzel an den Erdboden und dringt in ihn ein. Damit ist die epiphytische Lebenszeit des hoch oben gekeimten Pflänzchens zu Ende und es steht ihm reiche Nahrungszufuhr vom Boden aus zur Verfügung. Das merkt man bald am starken Wachstum der Pflanze, die den Stamm umspannenden Ringe schließen sich fester, oft zu einer förmlichen Röhre zusammen. Die Krone geht mächtig in die Höhe und nimmt dem Wirtsbaume mehr und mehr Licht weg. Ist nun der Wirt ein dikotyler, selbst in die Dicke wachsender Baum, so wird er vom Ficus daran gehindert, der ihn mit seinem Wurzelnetz fest umklammert Endlich gelangt dann Fig. 22. Lycopodium Phlegmaria. c natürliche Größe. Nach Schimper. Epiphyten 685 hält. So von Luft und Lieht abgeschlossen, geht der Wirt schließlich zugrunde und die Ficuspflanze nimmt jetzt vollständig von dem Raum Besitz. Bei dem genannten Ficus bengalensis senken sich aus den weit überladenden Seitenästen Wurzeln abwärts, die, nachdem sie den Boden erreicht haben, zu weiteren Stützen werden. So nimmt der Ficusbaum bald mehr und mehr Boden- oberfläche in Anspruch, die Stützen umgeben den ursprünglichen erdrosselten Wirtsbaum, an dessen Stelle das primäre Wurzelrohr des Keimlings steht, in immer weiterem Umkreis und schließlich ist aus dem kleinen epiphytischen Keimling ein ganzer Wald hervorgegangen, dessen Bäume alle unter- einander zusammenhängen. Bei dem in Figur 23 gewählten Beispiel ist der Wirtsbaum eine Monokotyle, eine Palme Fig. 23. Llanoslandschaft mit Copernicia tectorum, letztere zum Teil von epiphytischem Ficus befallen. Venezuela. Nach C. Sachs. Aus Schimper. die nicht erheblich in die Dicke wächst. In- folgedessen stellen sich üble Folgen für den Wirt erst dann ein, wenn der Keimling, dessen Art unbestimmt bleibt, ihn über- wuchert und vom Lichte abschließt, sodaß er seiner Assimilations- und Ernährungs- der vorliegende Zustand seiner größeren Durchsichtigkeit halber gut zur "Demon- stration. Eine zweite Form der Hemiepiphyten geht von Wurzelkletterern aus. Wurzel- kletternd ist z. B. unser Efeu. Daß aus dem Efeu niemals ein Epiphyt werden kann, liegt in unserem viel zu trockenen Klima und in der Organisation der Pflanze be- gründet. Er behält dauernd seinen der Stütze anliegenden, sich nach und nach ver- dickenden Stamm, der die Verbindung mit dem Boden aufrecht erhält. Anders bei einigen tropischen Wurzel- kletterern. Zahlreiche großblättrige Ara- ceen beginnen ihr Leben als Wurzelkletterer, wie Figur 24 eine solche Aracee an einem möglichkeit beraubt wird. So eignet sich Fig. 24. Junge wurzelkletternde Aracee. Stützbaum emporkletternd darstellt. Die Blätter sind zunächst ziemlich klein. Beim Höherklettern nehmen sie bereits an Größe zu und stellen sich gegen das von vorn kommende Licht besser ein. So kann es eine Reihe von Jahren fortgehen. Früher oder später aber stirbt der Araceenstamm, der nicht wie unser Efeu in die Dicke zu 686 Epiphyten wachsen befähigt ist, ab, und die Araceen- pflanze ist des weiteren auf epiphytisches Leben angewiesen. Das wird ja durch die lange Wegstrecke, die die Pflanze am Wirts- stamm entlang zurückgelegt hat, und die zahlreichen dort ausgesandten Haft- und Nährwurzeln möglich sein, doch fällt die Ernährung- dürftiger aus als bisher. Da ist denn vielfach zu beobachten, daß der- artig hoch in den Baumkronen sitzende Araceen-Epiphyten lange Wurzeln direkt zum Boden hinabsenden, die wie Taue eine Verbindung der Epiphytenpflanze mit dem Boden neu herstellen. Figur 25 zeigt einen Fig. 25. Wurzeltaue von epiphytischen Araceen, die in der Krone sitzen. Cafetal Trionfo, Chiapas. reich mit Epiphyten und mit kletternden Araceen beladenen Baumstamm im mexi- kanischen Urwald. Hoch in der Krone sitzen weitere, nicht mehr sichtbare epi- phytisch gewordene Araceen und zahlreich gehen Taue von ihnen senkrecht zum Erd- boden hinab, die zur Ernährung der Mutter- pflanzen dienen sollen. Sie haben den Boden bereits erreicht, wie an der straffen Spannung zu erkennen ist, die erst nach ihrer Be- festigung im Boden einzutreten pflegt. Ob, dieser Uebergang häufig vorkommt, ist zunächst schwer zu sagen. Es schien mir der Fall zu sein bei dem ebenfalls des Dicken- wachstums entbehrenden Sarcinanthus utilis, einer Carludo vicacee, die im mexi- kanischen Regenwalde in Chiapas sehr häufig auftritt, doch ließ sich bestimmtes darüber nicht in Erfahrung bringen. Nachdem so die epiphytische Vegetation eingehender besprochen ist, wäre noch die Frage zu erörtern, welche Eigenschaften sind nötig, damit eine Pflanze zum epi- phytischen Leben gelangt, denn es geht aus der Besprechung klar hervor, daß viele Familien häufig unter den Epiphyten ver- treten sind, andere fehlen. Da ist denn her- vorzuheben, daß es wesentlich auf die Mög- lichkeit für die Samen ankommt, in die Baumkrone, oder an dem Stamm hinauf zu gelangen und dort zu haften, denn das ist offenbar die notwendige Vorbedingung für ein solches Leben, dessen Bedingungen selbst ja bereits vorher angegeben sind. 7. Beschaffenheit der Samen und Früchte von Epiphyten. Ueberlegt man sich die verschiedenen Möglichkeiten eines Transportes von Samen oder Sporen in die Höhe der Baumkronen oder der Stämme, so ist einmal der Wind, zweitens die Mit- hilfe von Vögeln, eventuell auch Affen in Betracht zu ziehen. Durch den Wind können nur relativ leichte Samen befördert werden, durch Tiere dagegen finden nur derartige Früchte, die als Nahrung benutzbar sind, ein weiteres Fortkommen. Bei allen Pteridophyten, die so massen- haft epiphytisch auftreten, ist die Leichtig- keit ihrer Sporen der Emporführung durch Wind günstig. Ebenso finden die Orchideen mit ihren winzigen, aber in ungezählter Menge auftretenden Samen auf dieselbe Weise ihre Verbreitung, ohne daß beson- dere Flugorgane ausgebildet würden. Auch werden die Bromeliaceen, Asclepiadaceen, einige Gesneriaceen und Bignoniaceen dem Winde ihr epiphytisches Vorkommen zu danken haben; sie sind mit Flughaaren oder anderen Flugorganen ausgerüstet, die gleich- zeitig die nach oben gelangten Samen nach einem Regenfalle an den Aesten festlegen, und ein Wiederherabfallen hindern. Dagegen besitzen die Araceen-, die ja zum Teil auch als Wurzelkletterer zur epi- phytischen Lebensweise gelangen können, die Ficusarten, Cactaceen, Melastomaceen, Vacciniaceen, Solanaceen, Rubiaceen und ein anderer Teil der Gesneriaceen, um nur die wichtigsten zu nennen, fleischige Früchte, die von Vögeln verzehrt werden, wobei die Samen in den Exkrementen oder durch Ab- Epiphyten - - Erdbeben 687 wetzen der Schnäbel auf die Bau mäste ge- langen und dort heimisch werden können. Damit wäre also gleichzeitig ein Ver- zeichnis derjenigen Familien gegeben, die nach der Beschaffenheit ihrer Früchte und Samen in erster Linie für epiphytische Lebens- weise ihrer Angehörigen in Betracht kom- men. Vollständigeres darüber wolle man in der Literatur nachsehen. Literatur. Grundlegend ist A. F. II". Schimper, Die epiphytische Vegetation Amerikas. Botan. Mitteil, aus den Tropen 2. Jena 1888. — Der- selbe, Pflanzengeographie auf physiologischer Grundlage. Jena 1898. (Hier die seit 1888 er- schienenen Ergänzungen und Bearbeitungen anderer Autoren). — Außerdem K. Goebel, Organographie der Pflanzen. Jena 1898. Dann Rekapitulation der Biologie der epipliytischen Moose. — G. Karsten, Biologie der Pflanzen. Im Lehrbuch der Biologie von M. Nußbaum, G. Karsten , M. Weber. Leipzig 1911. — H. Mlehe , Javanische Studien II. Unter- suchungen über die javanische Myrmecodia. Abh. d. Königl. Sachs. Akad. d. Wiss.j Math.- Natiimciss. Klasse, XXXII, Nr. 4- Leipzig 1911. G. Kai'sten. Erdalkalimetalle ist der Sammelname für die Metalle Beryl- lium, Magnesium, Calcium, Strontium und Barium (vgl. die Artikel „Beryllium- gruppe" und „Chemische Elemente"). Erdbeben. 1. Definitionen. 2. Erscheinungsformen: a) Art der Bodenbewegung. b) Wirkungen. c) Schallerscheinungen. d) Lichterscheinungen, ej Zahl und Dauer der Erdstöße. 3. Stärke: a) fntensitätsskalen. b) Lokale Einflüsse. 4. Schüttergebiet: a) Isoseisten und Untergrund, b) Einfluß der Herdtiefe. c) Homoseisten. 5. Epizentrum. 6. Seismometer: a) Allgemeines, b) Seismometertypen. c) Registrierung. d) Theorie der Seismometer. 7. Seismogramme: a) Phasen. b) Typen von Seismogrammen. 8. Seismische Wellen: a) Erdwellen, b) Ober- flüchenwellen. c) Wege der Wellen. 9. Bestim- mung von Hypozentrum und Epizentrum: a) Ilerdtiefe. b) Epizentrum (makroseismische und mikroseismische Methoden). 10. Seismische Geographie : a) Seismische Gebiete. b) Pene- seismische Gebiete. c) Aseismische Gebiete, j 11. Entstehungsursachen der Erdbeben: a) Ex- plosionsbeben, b) Einsturzbeben. c) Disloka- tionsbeben oder tektonische Beben, d) Krypto- vulkanische Beben, e) Nachbeben und Sehwarm- beben, f) Relaisbeben, g) Extratellurische Aus- lösung von Beben, h) Seebeben. i. Definitionen. Unter einemErdbeben (griechisch seismos) versteht man Erschütte- rungen der Erdrinde, die in mehr oder minder großer Tiefe der Erdrinde ihren Ausgang nehmen und durch natürliche (nicht künst- liche) Vorgänge hervorgerufen werden. Liegt das Schüttergebiet, in dem das Beben vom Menschen gefühlt wurde, auf dem festen Lande, so redet man schlechthin von einem Erdbeben, dagegen von einem Seebeben, wenn es sich auf die ozeanischen Wasser- massen beschränkt. Den unterirdischen Erregungsort (Fig. I) Modell Veraiischaulichuno; wichtigsten seismologischen Begriffe. der seismischen Energie nennt man den Bebenherd oder das Hypozentrum. Da- gegen wird das Gebiet der Erdoberfläche, das man, im Vergleich mit den übrigen Teilen des Schüttergebietes, als den oberflächlichen Ausgangsort des Bebens aufzufassen hat, als Epizentrum bezeichnet. Im Epizentral- gebiet ist die Stärke der Erschütterung durchweg am größten. Epizentrum liegen mit großer Annäherung auf radius. Die Beben bezeichnet man dort, wo sie körperlich gefühlt werden, als Makroseis- men, dort aber, wo sie bloß instrumcntell zur Aufzeichnung gelangen, als Mikroseismen. Die Fortleitunsj der am Hypozentrum Hypozentrum und mehr oder minder dem gleichen Erd- ausa,elösten seismischen Energie clurch den Erdkörper und schiebt durch dessen Oberfläche Elastizitätswellen. längs ge- Erdbeben In der Erdbebenforschung oder Seis- mologie beschäftigt sich die geologisch- geographische Richtung vorwiegend mit denjenigen Eigenschaften, die man mit den menschlichen Sinnen wahrnimmt, wohingegen die Arbeiten der physikalisch- mathematischen Richtung auf den instru- mentellen Registrierungen der seismischen Wellen basieren. 2. Erscheinungsformen. 2a) Art der Bodenbewegung. Die Art der Bodenbewegung bei den Erdbeben wird je nach den Umständen verschieden emp- funden. Unmittelbar über dem Hypo- zentrum, also in der Nähe des Epizentrums, wiegt die vertikale Komponente der Bewe- gung vor. Für das menschliche Gefühl macht sich die Erschütterung hier als ein von unten nach oben wirkender Stoß bemerkbar. Mit zunehmender Entfernung vom Epi- zentrum tritt die Bewegung in der Verti- kalen immer mehr zurück, bis schließlich nur noch eine Wellenbewegung in ausge- sprochen horizontaler Richtung empfunden wird. 2b) Wirkungen. Die Wirkungen der Erdbeben äußern sich in leichteren Fällen nur in Erschütterungen und Bewegungen von Hausgeräten und sonstigen kleinen Gegenständen; stärkere Beben haben aber Beschädigungen der Gebäude und sogar Ver- änderungen der Bodengestalt im Gefolge. Im allgemeinen kann man die Beob- achtung machen, daß sich die Erdbeben in den Oberflächenschichten stärker bemerkbar machen als in der Tiefe, z. B. in Bergwerks- schächten; mitunter wird allerdings auch das Umgekehrte berichtet. Für die Menschen von größter Tragweite sind die Bautenbeschädigungen; denn abgesehen von dem materiellen Schaden, den die zusammenbrechenden Häuser und die zerstörten Mobilien bedingen, sind die Verluste an Menschenleben und die Ver- letzungen fast ausschließlich auf den Einsturz von Häusern zurückzuführen. Zu den rasch vorübergehenden Verände- rungen des Bodens, die lediglich die Ober- flächenschicht in Mitleidenschaft ziehen, ge- hören Sprünge, Risse, Spalten, die in den mannigfachsten Richtungen verlaufen, manch- mal sich schneiden und dadurch das Gelände in Schollen zerlegen. Meistens schließen sie sich schon bald von selbst wieder. Reichen die Spalten tiefer, bis in das Grundwasser, so werden Quellen und kleinere Wasser- läufe beeinflußt. Eine häufig vorkommende Bildung sind trichterförmige Rundlöcher. Werden aus ihnen oder aus Spalten bei stär- keren Erdbeben schlammige oder sandige Massen ausgeworfen, so bilden diese decken- förmige Ergüsse oder Kegel, die oben kleine Krater besitzen. Bei tiefer gehenden Umge- I staltungen der Erdoberfläche entstehen Klüfte, die bei größerer Ausdehnung in die Länge, Breite und Tiefe zu richtigen Ver- werfungen werden und mit vertikalen und horizontalen Verschiebungen verknüpft sein können; allerdings sind solche bisher nur auf Inseln (Japan) oder in küstennahen Gebieten (Alaska, Kalifornien) beobachtet worden. Massenbewegungen, wie Erdrutsche, Berg- schlipfe und Bodensenkungen treten bei Erdbeben besonders dann auf, wenn der Boden sich aus lockerem oder von Wasser durchtränktem Material zusammensetzt; gehen feste Felsmassen zu Tal, was auch nicht selten beobachtet whd, so redet man von einem Felssturz. Besonders interessant sind auch die Bewegungen, in die Wassermassen bei Erdbeben geraten. In Seen und Flüssen wallt das Wasser wie bei Sturm, und Wellen schlagen an das Ufer, wie wenn ein Dampfer vorüberführe. Auch kann fließendes Wasser aufgestaut werden. Speziell bei den Seebeben ist der feste Erdboden dem Bück entzogen. Aber auch der Wasserspiegel gerät sehr oft, selbst bei schweren Beben, sichtbar nicht in Un- ruhe. Nur die Insassen von Schiffen, die sich im Schüttergebiet befinden, haben das Gefühl, als sei das Schiff aufgelaufen oder auf ein Riff oder Wrack gestoßen. In selte- neren Fällen wallt und brodelt das Wasser auf eng begrenzter Fläche auf, vergleichbar kochendem Wasser: mitunter schießen auch einzelne hohe Wellen oder Wassersäulen empor. In einem einzigen Falle konnte beob- achtet werden, wie sich die völlig glatte See für die Dauer einiger Sekunden in ihrer ganzen Masse, ohne die geringsten Brecher, aufwölbte und dann wieder glatt wurde wie zuvor. Am großartigsten und folgenschwersten sind aber die sogenannten Erdbeben flut- wellen, die meist bei küstennahen Beben auftreten. Ob sich dabei das Meerwasser zuerst vom Ufer zurückzieht oder ob zuerst ein Ansteigen des Wassers erfolgt, ist noch nicht festgestellt. 2c) Schallerscheinungen. Unter den Erscheinungen, die im Gefolge von Erdbeben aufzutreten pflegen, sind am wichtigsten die Schallphänomene. Am häufigsten gehen diese sogenannten Erdbebengeräusche der Haupterschütterung unmittelbar voraus, manchmal treten sie aber auch gleichzeitig mit ihr auf oder folgen ihr gar nach. Ihre Art wird sehr verschieden angegeben, als Brausen, Pfeifen, Heulen, Rollen, Donnern, Krachen, Brüllen usw., jedoch lassen sie sich als langgezogene und kurz abgebrochene zu- sammenfassen. Sie kommen in gleicherweise bei Erd- wie bei Seebeben vor. Die Stärke des Schalles, für deren Schätzung Knett und Erdbeben 689 D a vis on besondere Skalen aufgestellt haben, mitunter um stärkere gruppieren; in einem steht zu derjenigen der Erschütterung in solchen Falle spricht man von einem Erd- keiner Beziehung; denn schwache Beben bebenschwarm. können mit sehr lautem Getöse verbunden sein und umgekehrt. In manchen Gegenden werden sogar unterirdische Geräusche ver- 3. Stärke. 3a) Intensitätsskalen. Die Bestimmung der Bebenstärke (seismi- sche Intensität), die jedem Ort im Schütter- nommen, ohne daß dabei Bodenerschütte- gebiete zukommt, wird derart vorgenom rungen zu fühlen sind. Diese sogenannten men, daß man die in die Erscheinung ge- Bodenknalle führen in den verschiedenen tre tene 11 Bebenwirkungen an der Hand von Ländern besondere Namen. Ueber die sogenannten Intensitätsskalen gegenein- Natur der seismischen Schallerscheinungen ander abwägt. ist man sich noch nicht im klaren; nur soviel Die Unsicherheit, die durch die Verwen- ist gewiß, daß sie im Felsgerüste der Erde , düng der Intensitätsskalen bedingt wird, legt ihren Ursprung nehmen und in die freie ! den Gedanken nahe, die Bebenstärke durch die nungen Luft übertreten. 2d) Licht- oder Fe ue re r s che i- Licht- oder Feuererscheinungen werden gleichfalls häufig gelegentlich von Erdbeben gemeldet. Es steht aber noch nicht fest, ob es sich dabei nicht etwa um zufällig gleichzeitige Blitze oder Meteor- Sachlage nicht wahrscheinlich, daß im erforder- fälle oder gar bloß um Sinnestäuschung beben Umfange eine derartige Methode in ab- Grüße der entsprechenden maximalen Boden- beschleunigung (s. S. 698), so wie sie uns einfache Instrumente angeben, auszudrücken. Vorschläge nach dieser Richtung hin sind bereits mehrfach gemacht worden, und neuerdings hat B. Galitzin eingehender zu dieser Frage Stel- lung genommen. Jedoch ist es nach der ganzen handelt. Allerdings könnte man auch an noch ungeklärte elektrische Vorgänge denken. 2e) Zahl und Dauer der Erd- stöße. In manchen Fällen besteht das Erd sehbarer Zeit zur Anwendung gelangt. •Bis vor wenigen Jahren noch waren in den verschiedenen Ländern eine Reihe von- einander stark abweichender Intensitäts- beben nur in einem einzigen Stoß von kurzer fk?Jen in Gebrauch Ueber die Brauchbar- Dauer. Häufig tritt aber eine Reihe von keit der einzelnen ist mancherlei geschrieben worden. Tatsächlich muß man an eine wirk- Bodenbewegungen verschiedener Stärke in . kürzeren oder längeren Zwischenräumen auf. llch brauchbare Skala lediglich die Anforde- Bisweilen gehen schwache Stöße voraus, rung einer entsprechenden Anzahl von Skalen- dann folgt der Hauptstoß, und das Ende teden stellen 10 bis 12 Grade erscheinen am der Erschütterung bilden wieder allmäh- geeignetsten; daneben sind die übrigen Merk- lich schwächer werdende Schwingungen, male, auf die sich die Bevorzugung der einen Die seismische Störung kann aber auch gleich oderT ailderen S 3 flolasse mit rtorar/er/bedecHung Torf (alter Seeboden) / Verwerfung Geologisches Fig. 3. Einfluß der Gesteinsbeschaf fenheit auf die Bebenwirkungen Profil durch das Oberschwäbische Molasseland und Kurve der zugehörigen Beschleunigungswerte für das Erdbeben vom 16. November 1911. Nach Lais und Sieberg. gleicher Bebenstärke. Im allgemeinen nimmt das pleistoseiste Gebiet, das ist das Ge- biet mit den stärksten sichtbaren Beben- wirkungen, in dem auch das Epizentrum zu suchen ist, innerhalb des gesamten Schütter- gebietes eine mehr oder minder zentrale Lage ein. Daran schleißen sich, folgeweise an Stärke abnehmend, die übrigen isoseisten Zonen. 4a) Isoseisten und Untergrund. In den älteren und selbst noch vielen neueren Iso- seistenkarten begegnet man mehr oder minder regelmäßigen kreisähnlichen oder ellipti- sehen Isoseisten. Derartige Isoseisten kom- men aber, vorausgesetzt, daß man dem Beob- achtungsmaterial keinen Zwang antut, nur dann zum Voi schein, wenn man bloß über einige wenige, verhältnismäßig weit ausein- ' ander Je mehr liegende Beobachtungsorte verfügt. sich aber das Material häuft daß die Erdrinde sowohl an der Oberfläche als auch in größeren Tiefen nichts weniger als ein homogenes Medium ist. Zeigt doch schon ein Blick auf eine geologische Karte, daß oft innerhalb ganz kleiner Gebiete Ge- steinsmaterialien der verschiedensten Art und Struktur miteinander wechsellagern. Zudem muß man sich die Möglichkeit des Wirkens besonderer geologischer oder tekto- nischer Umstände vor Augen halten, die oft aus dem oberflächlichen Aufbau gar nicht oder nur andeutungsweise erkannt werden können. Dieser stete Wechsel in den Unter- grundverhältnissen muß die Fortleitung der seismischen Energie notwendigerweise be- einflussen, und die Erfahrung liefert die schlagendsten Beweise dafür. Höchst bedeutungsvolle theoretische Grund- lagen für die Beurteilung des Einflusses der Gesteinsbeschaffenheit auf die Fortleitung 44* 692 Erdbeben der seismischen Energie bieten vor allem eine Keine von neueren experimentellen Unter- suchungen, die mit Rücksicht speziell auf die Erdbeben von Japanern (Nagaoka, Ku- sakabe) begonnen und von anderen (Adams, Coker) fortgeführt worden sind. Sie ergeben, daß der Elastizitätsmodul der Gesteine und damit die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elastischer Wellen im allgemeinen um so größer ist, einer je älteren geologischen Formation die Gesteine angehören. Dies steht natürlich mit der bereits erwähnten Tatsache in Zusammenhang, daß die sedi- mentären Ablagerungen der älteren geolo- gischen Epochen fast durchweg härter und kompakter, also verbandsfester sind, als solche, die jüngeren Formationen angehören. Auch erweisen sich nasse Gesteine bedeutend elastischer als trockene. Ferner ist schon seit langem bekannt, daß quer zum Schicht- streichen die Fortpflanzung seismischer Ener- gie weniger schnell erfolgt als in der Streich- richtung. Wenn man dies alles in Erwägung zieht, dann ergibt sich ohne weiteres die Erklärung für eine Reihe von wichtigen, durch zahlreiche Beobachtungen erhärtete Erfahrungstatsachen über die Fortpflanzung der Erdbeben. So können die Eintrittszeiten eines Erd- stoßes an benachbarten Orten verschieden sein, ohne daß ein Fehler in der Zeitbeob- achtung vorzuliegen braucht. An Orten, die auf einer Scholle alten Gesteins liegen, ist die Zahl der gefühlten Erdbeben eine größere als an Stationen auf einer mäch- tigen Lage von jungem und weniger festem Gesteinsmaterial. Die Richtung, aus der die seismische Bewegung eintrifft, kann von der Lage des Epizentrums ganz unabhängig sein, natürlich vorausgesetzt, daß das Epizen- trum nicht zu nahe beim Beobachtungsort liegt; in solchen Fällen wird jeder Erdstoß sich aus der gleichen, bestimmten Richtung her bemerkbar machen. Die auf eine alte Scholle auftreffenden Erdbebenwellen werden in ihr besser weitergeleitet, so daß sie nun ihr folgen; deshalb verspüren die dahinter gelegenen Orte die Bewegung bedeutend schwächer oder gar nicht, so daß selbst im Schwemmlande errichtete Gebäude unversehrt bleiben können; sogenannter seismischer Schatten. Den Einfluß von Bodeneinschnit- ten und Dislokationen, die ebenfalls seis- mischen Schatten werfen können, haben wir bereits kennen gelernt. Ein interessantes Beispiel für das Gesagte bieten neuere Untersuchungen von R. Lais über das seismische Verhalten des Kaiserstuhl- gebirges in Baden (Fig. 4). Die „seismischen Linien" dieses Gebietes, die hier allerdings keine Isoseisten, sondern ein Ausdruck für Anzahl und Intensität der Erschütterungen (vgl. S. 705) während des Zeitraums 1880 bis 1910 sind, zeigen nämlich die weitestgehenden Analogien mit dem geologischen Aufbau. So gibt die Kurve 40 die stark dämpfende Wirkung von mächtigen Schottermassen zu erkennen, die den festen vulkanischen und sedimentären Gesteinen auf- liegen, von denen die Kaiserstuhlbeben den Aus- gang nehmen. Sie schmiegt sich recht enge dem Rande des aus der Ebene herausragenden Gebirges an und zeigt dort, wo dies nicht der Fall ist, also im Nordosten (zusammen mit Kurve 20), im Süden und im Südwesten, die Wirksamkeit von Erd- bebenbrücken an; letztere sind Massen kom- pakter Gesteine, die in nur geringer Tiefe unter den Diluvialschottern der Rheinebene verborgen liegen und die Erschütterungen zu dem benach- barten Schwarzwald, dem Tuniberg und den Hügeln von Breisach hinüberleiten. Damit be- stätigen die Erdbebenerscheinungen das Vor- handensein unterirdischer Verbindungen, auf das aus geologischen und erdmagnetischen Er- scheinungen bereits geschlossen wurde. Kurve 100 umsäumt den nördlichen und westlichen Kaiserstuhl. Sie wird hervorgebracht durch das Wirken zweier gut charakterisierter Herdgebiete. Bei dem ersten, von süd-nördlichem Verlauf, ist die Abhängigkeit von den bedeutenden tektoni- schen Störungen, die hier festgestellt wird, ganz auffällig. In dem rechtwinkeligen Umbiegen von Kurve 20 und dem parallelen Verlauf mit den beiden Parallelspalten ist sie noch einmal deutlich erkennbar. Auf der Nordostseite zeigt sich der Einfluß der zahlreichen Verwerfungen ebenfalls. Solche von geringer Sprunghöhe, wie die bei Riegel und östlich Malterdingen ver- laufenden, bieten stärkeren Stößen kein Hindernis. Dagegen setzt die erste bedeutendere Verwerfung, östlich von Heimbach, den Erderschütterungen ein Ziel; alle Erdbebenorte liegen westlich von ihr. Diese Heimbacher Verwerfung schneidet von den Emmendinger Vorbergen ein langes schmales Stück ab, in dem die Erschütterungen sich zwar weit nach Norden und Süden, aber nur wenig nach Osten hin fortpflanzen können. 4b) Einfluß der Herdtiefe. Hin- sichtlich der oberflächlichen Verbreitung der Erdbeben kann man, mit gewissen Ein- schränkungen, den alten Satz von v.Lasaulx als zu Recht bestehend ansehen, der lautet: Erdbeben mit nur kleinem Verbreitungsgebiet, jedoch von heftiger Wirkung können nur eine geringe Tiefe des erregenden Herdes besitzen. Aber Erdbeben von großem Verbreitungs- gebiet und schwachen Wirkungen an der Oberfläche sind in bedeutender Tiefe erregt. 4c) Homoseis ten. In früheren Zeiten hat man sich viel mit den Homoseisten (auch wohl Koseisten oder Isochronen ge- nannt) beschäftigt, d. h. mit den Ver- bindungslinien aller Orte mit gleicher Zeit für den Bebenbeginn. Theoretisch betrachtet müßte man von darauf basierenden Unter- suchungen wertvolle Aufschlüsse erwarten dürfen; aber in der Praxis versagen sie wegen der allzugroßen Unsicherheit der Zeitbe- stimmungen vollständig, und selbst die in- strumentellen Registrierungen dürfen heut- Erdbeben 693 zutage noch nach dieser Richtung hin nur Bei denjenigen Beben aber, die wir in- mit der größten Vorsicht verwendet werden, folge ihrer Entstehung als tektonische 5. Epizentrum. Gegenwärtig hört oder Dislokationsbeben bezeichnen und man häufiger den Standpunkt vertreten, die die überwiegende Mehrzahl der Erdbeben • Erschütterte Orte Gneis Trias Oura Tertiäre Sedimente Seismische Linien ** \ * * ^ HP 1 1 = 1 1 .\?, -•-;.•• Basaltische Gesteine |:-,v>;:::v:Vj Phenol ith Löss und Lehm Diluvialer Schotter Verwerfung Fig. 4. Seismisch-geologische Karte des Kaiserstuhls. Nach R. Lais. es gäbe kein punktförmiges Epizentrum bezw. eine engbegrenzte epizentrale Fläche, welche im Verhältnis zur Größe des Schütter- gebietes als punktförmig gelten dürfte. Hiergegen ist folgendes einzuwenden: Wird das Erdbeben hervorgerufen durch vulkanische Explosionen, dann ist das Hypozentrum mit bestimmten Partien des Vulkanschlotes oder der Eruptionsspalte identisch, worin sich die Explosionen voll- ziehen. Mithin ist das Epizentrum punkt- förmig im obengenannten Sinne. Handelt es sicli um ein Beben infolge des Einsturzes eines Hohlraumes, dann liegt gleichfalls zweifellos ein punkt- förmiges Epizentrum vor. ausmachen, liegen die Verhältnisse nicht so einfach. Da lassen sich in der Hauptsache nachstehende zwei Fälle unterscheiden. Die das Erdbeben auslösende Bewegung ! beschränkt sich auf die beiden aneinander : stoßenden Ränder zweier benachbarter Schollen oder einer neu entstandenen Bruch- ; linie. Dann ist das Epizentrum, als die Projektion einer mehr oder minder senk- recht in die Tiefe gehenden Bruch- oder Rntschfläche, eine entsprechend lange, oft mehrere hundert Kilometer messende Linie bezw. eine verhältnismäßig schmale, aber langgestreckte Zone. Es ist nun aber als sicher anzunehmen, daß die Schollenbewegung nicht gleichzeitig auf der ganzen Länge der Ver- 694 Erdbeben werfungslinie beginnt. Vielmehr wird die Be- i Spalte erhielt und der man eine Tiefe von 20 km wegung an einer ziemlich eng umgrenzten Stelle : zuschreiben zu müssen glaubt, relative Horizontal- anfangen und erst allmählich nach beiden I Verschiebungen von rund 3 m teilweise sogar Flügeln hin immer weiter abliegende Teile von über 4% m und an einer Stelle von mehr rlpr Dislokitionslinie erfassen Also selbst als 6 m festgestellt worden; dagegen haben die der JJislokationslinie erlassen. Also seiDSt , Vertikalverschiebungen, die an nahezu senk- bei einer weit dahinziehenden Dislokatioiis- rechten Verwerfungsflächen vor sich gingen, lmie läßt sich von einem eigentlichen punkt- , anscheinend nirgends den Betrag von i/2 m bis förmigen Epizentrum reden. , l m überschritten. Aus vier zuverlässigen Zeit- Ein klassisches Beispiel für ein derartiges ; beobachtungen, und zwar von San Rafael, Mare Epizentrum bietet das Erdbeben, welches am 18. April 1906 Kalifornien, namentlich aber San Francisco, schwer heimsuchte. Wie aus der Karte von Lawson (Fig. 5) ersichtlich ist, Island, Berkeley und Mount Hamilton, hat man den primären Ausgangsort des zerstörenden Stoßes zu 38° 03' N und 122° 48' W Greenwich bestimmt, ein Punkt, der zwischen Olema und dem südlichen Ende der Tomales-Bay ge- legen ist. Weiterhin kann der Fall eintreten, daß eine größere Scholle oder gar ein Komplex von Schollen von der pri- mären, das Erdbeben auslösenden Bewe- gung ergriffen wird. Dann komplizieren sich naturgemäß die Verhältnisse in hohem Maße. Sämt- liche Schollen bezw. deren Bruchstücke vollführen alsdann Differentialbewe- gungen gegenein- ander, Vertikalver- schiebungen oder Schaukelbewegun- durch gen, sämtlichen die an in Be- tracht kommenden Verschiebimgs- flächen seismische Energie ausgelöst wird. Statt eines Epizentrums ist dann eine Vielzahl von Einzelepizentren vorhanden, ein gan- zes, übereine größere Fläche verbreitetes Netzwerk. Demzu- folge hätten wir unter Umständen mit Epizentren zu rech- nen, bei denen zu- wird die durch die Isoseiste X gekennzeichnete I nächst absolut kein Gedanke an einen Vergleich Epizentrallinie durch einen Bruch der Erdkruste mit einem Punkte aufkommen will. Dennoch an einer Linie oder an einem System von Linien jst anzunehmen, daß auch hier schärfere, ein- wandsfreie Zeitmessungen den Wahn von der «ilcichzeitigkeit der Bewegung in dem ganzen Fig. Isoseistenkarte des Kalifornischen Erdbebens von 18. April 1906. Nach Lawson. bedingt, die von Point Delgada mehr als 435 km weit bis San Juan verliefen ; von Point Arena bis San Juan, d.h. in einer Erstreckung von 300 km, konnten Dislokationen zusammenhängend nach System zerstören würden. Der erste Impuls Nebenbei bemerkt sind auf wird auch in diesem Falle von einer einzelnen dieser Herdspalte, die den Namen San Andreas- ! Stelle ausgehen, jedoch infolge der herr- Erdbeben (;<>.-, • i sehenden Spannungs- oder Lagerungsver- hältnisse die benachbarten Sehollen zu selb- ständigen Bewegungen reizen. Dann ergäbe sich weiterhin als das wahrscheinlichste, daß das, sagen wir einmal, „primäre" Epizentrum innerhalb des weiteren „sekun- dären" Epizentrums eine mehr oder minder zentrale Lage einnähme. Falls dieser Ideen- gang das Richtige trifft, hätten wir es auch hier im Grunde genommen mit einem punkt- förmigen Epizentrum zu tun. Zur Erläuterung dieser Verhältnisse sei bei- spielsweise das große mitteleuropäische Erdbeben vom 16. November 1911 herangezogen. Die von Lais und dem Verfasser bearbeitete Karte seines pleistoseisten Gebietes (Fig. 6; vgl. auch Fig. 2 und 3) läßt die Frage nach dem Epizentrum zunächst als aussichtslos erscheinen; gibt sie doch nicht weniger als drei getrennte Gebiete zu er- kennen, in denen die Bebenstärke den 7. Grad erreicht und überschreitet. Betrachten wir zu- nächst das pleistoseiste Gebiet am Bodensee, dann erkennen wir auf den ersten Blick, daß hier die hohen Inten- sitäten hauptsächlich eine Folge der beson- deren Untergrundsver- hältnisse sind, daß der schwankende moor- und wasserdurchtränkte Kiesuntergrund, der den alten Seeboden bezeich- net, die Bebenwirkung sehr verstärkte. Die durch eine Verwerfung, die von Sigmaringen nach Balingen zieht und in den Dornstetter Graben weist, im Nordwesten durch den steilen Erosionsrand der Alb. An den Rändern dieser abgegrenzten Scholle fand eine bedeutende Ver- stärkung der Bebenwirkungen statt, so daß in der Umgebung von Hechingen, Balingen, Ehingen und Sigmaringen die Intensität den 7. bis 8. Grad erreichte. Es ist hier nicht mög- lich, lokale Untergrundverhältnisse zur Erklärung heranzuziehen. Wir müssen also innerhalb dieser Scholle das Epizentrum suchen, das dadurch mit einer Unsicherheit von höchstens + 20 km festgelegt ist, und senkrecht darunter in großer Tiefe des Hypozentrum. Damit vollständig über- einstimmend geben alle sorgfältigeren Berech- nungen, die bis jetzt auf Grund der instrumen- tellen Registrierungen angestellt wurden, Punkte, die innerhalb derselben Scholle liegen. Durch die Bewegung im tiefgelegenen Bebenherde ge- riet die ganze Albtafel in Schwingungen, ent- sprechend 6x/2— 7 Grad Stärke. Die dem Beben- Abstürze kungen und Sen- im Untersee und in anderen Teilen des Bodensees selbst haben die gleiche Ur- sache. Auf der Ost- seite des Ueberlinger- sees zeigt sich wieder der verstärkende Ein- fluß von Verwerfungen. Im zweiten pleisto- seisten Gebiet aber, bei Stockach, sind die hohen Intensitätsgrade nur darauf zurückzuführen, daß an den Verwer- fungen, die das Ein- bruchsbecken des Ueber- lingersees nach Nord- west fortsetzen, durch die Erschütterungen stärkere Bewegungen ausgelöst wurden. Auch dieses Gebiet kann also nicht für das Epi- zentrum in Frage kommen. Es bleibt noch als letztes eine Fläche der rauhen Alb, die im Südosten be- grenzt ist durch die Ab- senkung gegen das Mo- lasseland, im Südwesten Verver/ung 2? Alter Eissee Torf, alter Seeboden Erdbeben -Stärhe 6 örad^ der TjMotfttiligen SKala 6. .Mitteldeutsches Erdbeben vom karte des pleistoseisten Gebietes. 16. November 1911 Nach Lais und Isoseisten- Sieberg. 696 Erdbeben herde zunächst gelegene Scholle, die oben näher bezeichnet wurde, zeigt an ihren Rändern ein Anwachsen der Intensität bis zum 8. Grad. Die Wellen, die sich von dort aus nach allen Seiten hin fortpflanzten, lösten zunächst bei ihrem Auf- treffen auf die Verwerfungen bei Stockach und am Ueberlinger See verstärkte Bewegungen aus. Das gleiche fand weiterhin u. a. an der Trias- scholle des „Bonndorfer Grabens" statt, der von Osten her weit in das Granit- und Gneismassiv des Schwarzwaldes hineingreift; denn hiermit fällt eine Zunge mit Intensitäten von 6 und 6 1/2 Grad genau zusammen, die in dem schwach (5. Grad) erschütterten Schwarzwald sich scharf hervorhebt. Ebenso bemerkenswert in diesem Sinne ist ferner noch ein langes und schmales, kräftig (6. — 7. Grad) erschüttertes Gebiet, das, völlig getrennt vom Epizentrum, den westlichen Schwarzwaldrand begleitet. Es umfaßt die sedimentären Vorberge, die, an der mächtigen Rheintalspalte verworfen, dem kristallinen Ge- birge vorgelagert sind, und zeigt die höchsten Intensitäten im allgemeinen auf der Verwerfung selbst. 6. Seismometer. 6a) Allgemeines. Zur instrumentellen Aufzeichnung der Erd- beben bezw. der von ihnen ausgelösten Wellenzüge dienen Registrierinstrumente, die man als Seismometer bezeichnet. Im einzelnen ist die Aufgabe dieser Instru- mente die, uns Aufschluß zu geben über die verschiedenen Arten der auftretenden Wellen, ihre Eintrittszeiten am Beobachtungsort und ihre Elemente (Amplitude und Periode). Die heutzutage im Gebrauch befindlichen Seismometer sind Pendel, denen man zweckentsprechende Form und Hilfsapparate gegeben hat. Im Prinzip ist ein Seismometer folgendermaßen eingerichtet (Fig. 7) : Die Be- wegungsyorgänge zu einer welle nförmigenLinie auf; gleichzeitig lassen die von einer genau gehenden Uhr jede Minute auf dem Regi- strierstreifen eingetragenen Zeitmarken die Eintrittszeit einer jeden Welle mit aller Schärfe bestimmen. 6b) Seismometertypen. Neben dem in Figur 7 dargestellten Vertikalpendel- Seismometer benutzt man auch Seismo- | meter mit umgekehrtem Vertikalpendel (Fig. 8), bei denen die in d drehbare Pendel- masse m durch die Kraft der Federn sp in labilem Gleichgewicht erhalten wird, sowie Horizontalpendel-Seismometer (Fig. 9), deren mit dem Draht f aufgehängte Masse m sich mit dem horizontalen Arm b gegen das Drehlager d stützt. Die Wirkungsweise dieser Sonderkonstruktionen ergibt sich der Hand der Abbildungen ohne aus dem oben Gesagten. Die Gründe man die verschiedenen Typen von metern geschaffen hat, sind rein praktische. Vor allem spielt dabei die Empfindlich- keit der Seismometer eine Rolle, die ge- messen wird durch die Amplitude, welche einer Vergrößerung der Schwerkraft um den 206 000 sten Teil ihrer Gesamtstärke (g = 9780) entspricht. Im allgemeinen wächst sie mit der Pendellänge, der allerdings aus technischen Gründen enge Grenzen gezogen sind. Jedoch erreicht man die gleiche Wirkung durch Verwendung von Horizontal- oder Kegelpendeln, bei denen, wie vorhin (Fig. 9) gezeigt wurde, die Schwingungen der Pendelmasse parallel dem Erdboden um eine annähernd vertikale Achse erfolgen. Während beispielsweise Vicentinis Vertikal- an weiteres weshalb Seismo- Fig. 7. Schema eines Vertikalpendel -Seis- mometers. Fig. 8. Schema eines umge- kehrten Vertikalpendel - Seis- mometers. Fig. 9. Schema eines Horizontal- pendel-Seismometers. wegung der an einem Galgen mittels des Stabes L aufgehängten Pendelmasse m wird mittels eines Schreibhebels j, des sogenannten Indikators, auf einen durch ein Uhrwerk u vorwärts bewegten Papierstreifen r ununter- brochen aufgezeichnet. Durch die Vorwärts- bewegung löst sich die Aufzeichnung der Be- pendel nur 1,5 m lang ist, entspricht v. Rebeur- Ehlerts Horizontalpendel einem Vertikalpendel von etwa 36 m Länge und Omoris Horizontal- pcndel sogar einem solchen von 200 m Länge. Vollständig erhält man die horizontale Bodenbewegung nur dann, wenn man sie in zwei zu einander senkrecht stehenden Erdbeben 607 Richtungen aufzeichnet. Dies erreicht man am sichersten durch zwei Seismometer, weniger einwandfrei durch eine von Brassart zuerst angewandte Vorrichtung, welche die stanten" auf das „mathematische" Vertikal- pendel reduzieren, mit dem sie durch die Gleichung Bewegung: eines einzigen Pendels in zwei V=J:L zueinander senkrechte Komponenten zerlegt. Je nachdem der parallel zur Erdoberfläche oder der senkrecht von unten nach oben wirkende Anteil der Erdbebenwellen zur Auf- zeichnung gelangen soll, unterscheidet man zwi- schen Horizontal- und Vertik al- Seismo- metern (nicht zu ver- wechseln mit den nach der Art ihrer Auf- hängung benannten Ho- rizontal- und Vertikal- Pendeln). Bei den Ver- tikal-Seismometern (Fig. 10) ist die Pendelmasse p an einer Spiralfeder Fig. 10. Schema eines Seismometers für die vertikale Kompo- nente der Bodenbe- wegung. sp aufgehängt, die sich unter dem Einflüsse der Vertikalkomponente der Bodenbewegung verkürzt und verlängert. Vornehmlich unter Berücksichtigung des Pendelgewichtes scheidet man die Horizon- talpendel in schwere und leichte. 6c) Registrierung. Die Registrierung erfolgt bei den Pendeln mit schwerer Masse meist mechanisch derart, daß ein feiner Stift den Ruß von einem mit Ruß geschwärzten Papierstreifen wegkratzt, oder gar einfach mit Bleistift oder Tinte auf einem weißen Papier- blatt. Bei kleinen Pendelmassen kann jedoch nur die kostspielige optische (photographi- sche) Registriermethode in Betracht kommen, bei der eine Lichtquelle einen feinen Licht- strahl auf einen mit dem Pendel schwin- genden Hohlspiegel fallen läßt, der dort reflektiert und zu der mit photographischem Papier bespannten Registriertrommel ge- sandt wird. Galitzin hat außerdem die magnetisch induktive Registriermethode eingeführt. Zu diesem Zwecke ist eine mit der Pendelmasse schwingende Induktions- spule, deren Windungen senkrecht zu denen eines starken Elektromagneten stehen, mit einem Spiegelgalvanometer leitend verbunden. Die bei den Pendelschwingungen in der Spule an Stärke wechselnden Induktions- ströme bringen dann den Spiegel des Galvano- meters zu entsprechenden Ausschlägen, die optisch aufgezeichnet werden. 6d) Theorie der Seismometer. Für die Auswertung der Registrierungen ist es gleichgültig, welcher Typus von Seis- mometern vorüegt; denn alle lassen sich durch experimentelle Bestimmung ihrer „Kon- verbunden sind. Hierin bedeutet V die Indikatorvergrößerung, L die Pendellänge (Länge des mathematischen Vertikalpendeis) und J die sogenannte Indikatorlänge. Außer- dem besteht die Beziehung worin T0 = Eigenperiode eines Pendels und g die Schwerkraft = 9780 ist. Bestimmt man experimentell T eines beliebigen Pendels, so erhält man durch obige beide Gleichungen die „äquivalente" Pendellänge L des ent- sprechenden Vertikalpendels und damit die äquivalente (zugehörige) Indikatorlänge J und die Indikatorvergrößerung V. Obwohl man sich bei den Seismometern daran gewöhnt hat, von Pendelschwingungen zu sprechen, ist diese Ausdrucksweise in Wirklichkeit genommen grundfalsch. Soll doch gerade die Pendelmasse relativ zur Erde völlig unbewegt verharren, stationär blei- ben, und dadurch die Differenzialbewegung des sowohl mit ihr, als auch mit dem schwin- genden Erdboden verbundenen Registrier- werks ermöglichen, durch die die Beben- registrierung zustande kommt (Fig. 11). Stationär bleibt aber die Pendelmasse bei + 10 +1 0-1 Fig. 11. Die Bewegungen eines Vertikalpendel- Seismometers während eines Erdbebens. A Ruhe- zustand. B und C während einer Bodenver- schiebung in der Pfeilrichtung : die Masse bleibt stationär. D das Pendel ist in Eigenschwingungen geraten. kleinen und schnellen Horizontalverschie- bungen des Erdbodens und der mit letzterem starr verbundenen Aufhängevorrichtung des Pendels nur unter der Voraussetzung eines mathematischen Pendels, bei dem die Pendelmasse als punktförmig und die Masse des Aufhängestabes als im Verhältnis ver- schwindend klein angesehen werden darf. Da wir es aber in Wirklichkeit mit physi- schen Pendeln zu tun haben, bei denen die obigen Voraussetzungen nicht zutreffen, 698 Erdbeben so werden die Bewegungsvorgänge viel komplizierter, weil zu den Bewegungen des Erdbodens stets mehr oder minder die er- zwungenen Schwingungen des Pendels kommen. Vor allen Dingen überträgt sich nämlich infolge der Keibung in den Auf- hänge- und Stützvorrichtungen des Pendels, im Gehänge, die Bodenbewegung auf das Pendel selbst, bringt dieses, anstatt daß es stationär bleibt, zum Mitschwingen (Eigen- schwingungen), und zwar in seiner von der Pendellänge abhängigen Eigenperiode. Infolgedessen entspricht das aufgezeichnete Seismogramm nicht mehr der wahren Boden- bewegung, sondern stellt eine komplizierte Wellenlinie dar, die aus der Interferenz, d. h. aus der gegenseitigen Durchdringung der verschiedenen Arten von Bodenwellen mit den Eigenschwingungen des Pendels resul- tiert. Je nachdem die Erdbebenschwingungen des Pendels in gleichem oder entgegen- gesetztem Sinne erfolgen, vergrößern oder verkleinern sich im Seismogramm die Schwingungsweiten (Amplituden). Fig. 12. Kurven von Pendelschwingungen. I Registrierungen eines ungedämpften Pendels, II und III durch Interferenz je zweier verschieden- artiger Wellenzüge entstandene Registrierungen. Dieses Verhalten veranschaulicht Figur 12. Bei I erlitt das Pendel hintereinander 5 Stöße, und zwar befand es sich jedesmal in Ruhe, als es die Stöße a, b und c empfing; nach jedem dieser Stöße vollführte es infolge der Trägheit noch weitere Schwingungen in seiner Eigen- periode, wobei die Amplitude durch die Reibung allmählich abnahm. Aber noch während der von c hervorgerufenen Eigenschwingungen bekam es in d einen weiteren Stoß in der augenblick- lichen Schwingungsrichtung, welcher die Am- plitude vergrößerte, und in e schließlich einen der Bewegungsrichtung entgegengesetzten Stoß von solcher Stärke, daß es beinahe zur Ruhe kam. II und III zeigt (dick ausgezogen) einige Wellen, die durch Interferenz verschiedener Wellenzüge (gestrichelt) entstanden sind. Ein Mittel, den auf solche Weise ge- gebenen Fehlerquellen zu begegnen, bietet die Anwendung einer Dämpfung, d. h. einer geeigneten Vorrichtung, die, aller- dings unter Verkleinerung der Amplituden, dem Pendel die Aufnahme von Eigenschwin- gungen unmöglich macht, ohne die Empfind- lichkeit gegen die Erdbebenwellen störend zu verringern. Als Dämpfungen dienen im allgemeinen Vorrichtungen, bei denen ein mit der Pendelmasse starr verbundener Metall- körper entweder sich in einer Flüssigkeit (Oel, Glycerin) bewegt oder eine abgesperrte Luftmasse zusammendrückt. Neuerdings sind auch magnetische Dämpfungen in Ge- brauch, bei denen in einer mit der Masse zwischen starken Magneten schwingenden Kupferplatte Ströme hervorgerufen werden, welche die Schwingungen hemmen. Uebrigens sei noch darauf hingewiesen, daß ungedämpfte Pendel in vielen Fällen die Einsätze der verschiedenen Phasen der Bewegung mit größerer Sicherheit erkennen lassen als gedämpfte. Kennt man das experimentell zu be- stimmende Dämpfungsverhältnis 6:1, die daraus zu berechnende sogenannte Ke- laxationszeit x infolge der Dämpfung und die übrigen vorher genannten Konstan- ten des Pendels, dann besteht für periodi- sche Schwingungen, also Sinuswellen, die Beziehung S = V Fl vi 2ttt T0 Darin ist T die Periode (in Sekunden) der Erdbebenwelle, gemessen im Seismogramm, und V die resultierende Vergrößerung. Nun ergibt sich schließlich die Ampli- tude A der wahren Bodenbewegung am Seismometerstandorte nach der Formel A = a: 58, wenn a = der im Seismogramm gemessenen Amplitude (in Millimetern) ist. Die Amplitude A allein stellt jedoch kein Maß für die Intensität der zerstörenden Kraft des Erdbebens dar. Erst die maximale Beschleunigung z/g, welche auch die Periode berücksichtigt, läßt uns diese beur- teilen; denn ein Erdbeben wirkt um so ver- heerender, je größer seine Beschleunigung, d. h. je kleiner die zu größeren Amplituden gehörige Periode der Bodenbewegung ist. Die maximale Beschleunigung berechnet sich nach der Formel 4A Milligal 1 Milligal = V1000 Gal; Gal = Zentimeter- sekundeneinheit der Beschleunigung; da g = ca. 980 Gal, so ist l;-^ai=ca. 1 Milliontel der Schwerkraft. dCc&tgsz^ Erdbeben 699 Im Gegensatz zu den Sinuswellen läßt sich bei kurzen, stoßartigen, unperiodi- schen Schwingungen die wahre Boden- bewegung nur in ganz roher schätzen nach der Gleichung Annäherung A = a IT worin V = J : L ist. Die oben in ihren Hauptzügen ganz kurz angedeutete Theorie der Seismometer ist von Schlüter, Wiechert und Galitzin ent- wickelt worden. 7. Seismogramme. Die instrumentelle Niederschrift eines Erdbebens, also das durch die Registrierung festgehaltene genaue Ab- bild der flüchtig unter dem Seismometer- standorte hindurcheilenden Erdbebenwellen, bezeichnet man als Seismogramm. Durch seine messende Analyse erlangen wir in erster Linie Kunde davon, daß überhaupt ein Erdbeben stattgefunden hat, um welche Zeit sowie mit welchen Perioden und Ampli- tuden die verschiedenen Gruppen von Beben- wellen den Seismometerstandort passierten. Dadurch werden der Wissenschaft selbst solche Erdbeben zugänglich, die in Tausenden von Kilometern Abstand und in unerforschten Gebieten oder gar auf dem Meeresgrunde ihren Ursprung nehmen. Aus den Eintritts- zeiten der einzelnen Wellengruppen oder ..Phasen" des Seismogramms berechnet sich der Abstand des Bebenherdes vom Seismo- meterstandort, daraus wieder rückwärts die Eintrittszeit des Erdbebens am Ausgangsort und die oberflächliche Fortpflanzungsge- schwindigkeit. Wenn sich nun noch, wie es unter Umständen der Fall ist, die Richtung feststellen läßt, aus der die Wellen herkom- men, so ist die Lage des Bebenherdes mit M« 45m l L 55m | 13 h 25 m ziemlicher Genauigkeit bestimmt, Liegen die seismometrischen Beobachtungen von mindestens drei Stationen vor, dann läßt sich die Lage des Bebenherdes mit mehr oder minder großer Annäherung an die Wirklich- keit angeben; letzteren Punkt werden wir noch eingehender zu würdigen haben. 7a) Phasen. In jedem Seismogramm erkennen wir eine Reihe von charakteristi- schen Wellengruppen oder Phasen, über deren Bedeutung wir uns in den allgemeinen Zügen klar sind. Allerdings herrscht hin- sichtlich sehr vieler Einzelheiten in diesem Bilde noch völlige Ungewißheit. Es treten beispielsweise Wellen und Gruppen von solchen auf, von denen wir nicht einmal immer mit Gewißheit sagen können, ob sie wirklich reelle, durch das Beben ausgelöste Bodenbewegungen abbilden oder ob sie vielleicht durch Eigenheiten des Seismo- meters oder des Untergrundes an dessen Standort hervorgerufen werden. Manche auch, über deren Bedeutung wir uns bisher noch keine Rechenschaft abzulegen ver- mögen, scheinen für bestimmte Epizentren in bezug auf den gegebenen Seismometer- standort charakteristisch zu sein, da sie sich, wenn auch etwas modifiziert, an einer Station in allen Seismogrammen des gleichen Epizentrums wiedererkennen lassen. Hier sollen uns aber nur die sicher erkannten Wellen züge beschäftigen. Ein in großer Entfernung vom Seismo- meterstandort aufgetre tenes Beben liefert uns das vollständigste Seismogramm (Fig. 13). In einer solchen Registrierung erkennen wir drei voneinander verschiedene Phasen, nämlich die beiden Vorläuferphasen und die Hauptphase. Jede dieser Phasen zeigt 30m 35m ts 50r, -*-J^—r-J\ \S/^\ -~~^f\ • 14-h /w\A/VVW\/w^vvV-^aa^ 30,. 45m ,-NA/V^ — 'VA/ 25m 40m Fig. 13. eines zerstörenden Fernbebens, fornisches Erdbeben vom 18. Apri beismogramm Epizentralentfernung 9700 km. Kali- 1906, optisch registriert zu Straßburg. 7i in Erdbeben nicht allein andere Wellenelemente, sondern au eh verschiedene Fortpflanzungsverhältnisse. ! Folgendes sind die unterscheidenden Merk- male der drei Phasen: Die ersten Vorläufer (man bezeichnet sie gewöhnlich abgekürzt als P primae undae) sind stoßartige, unperiodische Schwin gungen von kleiner Amplitude und Periode. Ihre Fortbewegung geschieht am schnellsten. Die zweiten Vorläufer (S = secundae undae) zeigen etwas größere Amplituden und auch größere Perioden, bewahren aber noch den stoßartigen Charakter. Sie pflanzen sich langsamer fort. Beiden Wellenarten ist gemeinsam, daß ihre Laufzeit, d. h. die Zeit zwischen dem Stoß im Epizentrum und der Ankunft am Seismometerstandort mit der Entfernung vom Epizentrum wächst; allerdings fin- det diese Zunahme nicht proportional dem längs der Erdoberfläche gemessenen kürzesten („geodätischen") Abstände statt, sondern in abnehmendem Verhältnis (vgl. die Tabelle auf S. 703). Immerhin kann man zur Charakterisierung der beiden Phasen einen Durchschnittswert der Fortpflanzungsge- schwindigkeit annehmen, nämlich ca. 14 km pro Sekunde für die ersten, ca. 7% km pro Sekunde für die zweiten Vorläufer. Die Hauptphase (L = longae undae) setzt sich aus einer Reihe sinusartiger, periodi- scher Schwingungen von verhältnismäßig langer Periode zusammen; allerdings nehmen gegen das Ende die Perioden allmählich ab. In der Hauptphase tritt auch das Maximum (M — undae maximales) der Bodenbewegung auf, das jedoch nicht mit dem Maximum der Ampütude zusammenfällt. Im Gegensatz zu der Laufzeit der Vorläuferwellen ist die der Hauptwellen proportional dem geodä- tischen Epizentralabstand; weist doch die Fortpflanzungsgeschwindigkeit einen nahe- zu konstanten Wert von etwa 3,8 km pro Sekunde auf. Man muß jedoch im Auge behalten, daß alle hier und weiterhin angegebenen Zahlen lediglich Durchschnittswerte sind, etwa ent- sprechend den klimatologischen Mittelwerten. Im einzelnen weichen die gefundenen Zahlen mitunter nicht unerheblich hiervon ab aus Gründen, die bisher noch nicht genügend geklärt sind; es scheint allerdings, als ob dem Bebenherd dabei eine ausschlaggebende Bedeutung zukäme. Infolge der so verschiedenen Fortpflan- zungsverhältnisse ist es erklärlich, daß am Seismometerstandorte die einzelnen Wellen- gattungen zeitlich nacheinander eintreffen, am frühesten die ersten Vorläufer, am späte- sten die Hauptwellen; dementsprechend ist ••'iieh das Seismogramm ausgebildet. Umge- kehrt geben uns aber die Zeitdifferenzen der Phasen im Seismogramm ein Mittel an die Hand, einen Schluß auf die Entfernung des Epizentrums vom Seismometerstandort zu ziehen (vgl. auch Fig. 16). 7b) Typen von Seismogrammen. Unter diesen Umständen ergeben sich fol- gende Seismogrammtypen. 20 h 30 m, 40 s 23h 27m | 45 s '■;!: ^WWWM Fig. 14. Seismogramme zweier Ortsbeben in Straßburg: am 22. Januar 1906 (III. Grad Mercalli), gedämpft; am 9. Januar 1908 (IV. Grad), ungedämpft. Ortsbeben (im Epizentralgebiet, Fig. 14). Einzige Phase: Infolge des kurzen Weges tritt im Seismogramm eine Differenzierung der verschiedenen Wellenarten nicht ein. Jeder einzelne der kurzperiodischen Stöße macht sich als solcher im Seismogramm bemerk- bar, worauf das allmähliche Ausklingen der Eigenschwingungen der Scholle einsetzt. Fig. 15. Seismogramm eines Nahbebens, Epi- zentralentfermmg ca. 250 km , mitteldeutsches Erdbeben vom 16. November 1911, mechanisch registriert in Neuchätel. Erdbeben Till Nahbeben (bis 1000 km Epizentralentfernung, Fig. 15). I. Phase: P als kurze, stoßartige Wellen, Periode T = 1 bis 6 s, kleine Amplituden; zu- weilen sind Erdbebenf ort- behandeln Güte Ermange- zu geringe übergelagert theorie das Problem der pflanzung nicht erschöpfend vermag, sondern auch die mancher Beobachtungen, die bereits" langperiodische Wellen I lung von besseren bisher als Ausgangspunkt Kurz nach Beginn setzen als gleichzeitig; auftretend und ein, IL Phase: gleichzeitig auftretend einander überlagernd S, L und M die langen Wellen (T = etwa 10 s) gleich mit der Maximalbewegung. Ob diese letzte- ren Wellen anderen von längerer Periode (etwa 20 bis 70 s) überlagert sind, läßt sich schwer aus dem Seismogramm entscheiden. Mittelweit entfernte Beben (1000 bis 5000 km). I. Phase: P, mitunter schon von Wellen langer Periode (30 bis 70 s) überlagert. II. Phase: S und L gleichzeitig, indem sich S noch die Wellen langer Periode (30 bis In L Wellen von T = ca. 40 s. beginnt mit Wellen, deren von in NAIiBEBEM ORTSBEßE;j FMBEBEN 70 s) überlagern. III. Phase: Periode schnell etwa 30 s auf 20 s sinkt ; zeigt bald nach dem Beginn das Maximum M bei etwa T = 15 bis 20 s. Je größer die Herddistanz, desto später auch M, weil immer mehr Wellen von 30 bis 50 s auftreten. Sehr weit entfernte Beben (über 5000 km, Fig. 13). I. Phase: P. II. Phase: S. III. Phase: L mit Wellen von bis 70 s; genauer gesprochen S zunächst Wellen sehr die allmählich auf T = 30 bis Dann tritt als IV. Phase: M bei T = 30 s ein. langer T = 40 folgen auf Periode, 25 s sinkt. ' Intracrustale Erstarrungskruste Stossstrahl von 19 20 19 Antiepicentrun 16. Die Fortpflanzung der seismischen Wellen und ihr Erscheinen im Seismogramm (Vx = erste, V2 = zweite Vorläufer). Fig. dienen mußten, uns an dieser Stelle Infolgedessen müssen wir damit begnügen, kurz Beben aus der Nähe des Gegen'punktes. diejenige Anschauung zu entwickeln, die heute den meisten Beifall findet, während andere hin und wieder kurz ge- T = lange 40 bis 70 s; diese an. Erst viel von T = 30 bis der Amplitude I. Phase: P. IL Phase: S. III. Phase: M bei Wellen halten recht später kommt IV. Phase: mit Weilen 20 s mit dem Maximum (nicht der Bodenbewegung). Mit weiteren im Seismogramm noch erkennbaren Wellen (Keflexionen und Wellen, die auf dem Wege über den Gegenpunkt eintreffen) werden wir uns späterhin noch beschäftigen. 8. Seismische Wellen. Die Frage nach der Natur der seismischen Wellen ist zurzeit in vollem Fluß und es stehen sich die ver- schiedensten Auffassungen gegenüber, ohne daß eine derselben uns voll zu befriedigen vermöchte. Schuld daran ist nicht allein der Umstand, daß die klassische Elastizitäts- Auffassungen nur werden streift werden können. Als Ganzes betrachtet, darf man den Erd- ball in einer für unseren Zweck hinreichenden Annäherung als elastisches, isotropes Me- dium auffassen, da die die Gesteinskruste zusammensetzenden Einzelkristalle regellos und richtungslos durcheinander gewürfelt sind. Die in einem solchen Medium ent- stehenden Erschütterungen bezeichnet man als Elastizitätswellen. Ihre Fortpflan- zung vom Erregungsherde aus erfolgt, ähn- lich derjenigen des Lichtes, in kugelähnlichen geschlossenen Wellenzügen. Diese Wellen- flächen werden in der Seismologie als liomo- seistische Flächen bezeichnet, und ihre Schnittlinien mit der Erdoberfläche bilden die bereits erwähnten Homoseisten. Der Weg, den die Energie vom Ausgangspunkte bis zu einem beliebigen Beobachtungspunkt 702 Erdbeben zurücklegt, steht auf sämtlichen homoseisti- schen Flächen senkrecht und heißt Stoß- strahl; für ihn ist also die Laufzeit ein Minimum. Mit der Erdoberfläche schließt der dort austretende Stoßstrahl den Emer- genzwinkel ein. 8a) Erdwellen. Gelangt im Innern eines elastischen Körpers eine Erschütte- rung zur Auslösung, so entstehen zwei Gattungen von Wellen, die sich von dem gemeinsamen Zentrum aus unabhängig von- einander ausbreiten. Die eine Wellenart sind die auf Volumveränderung beruhenden Ver- dichtungswellen (auch normale oder Kon- densationswellen genannt), also longitu- dinal, in der Richtung der Fortpflanzung schwingende Wellen. Dazu gesellen sich dann noch transversal, also senkrecht zur Fort- pflanzungsrichtung, schwingende soge- nannte Scherungswellen (Distorsionswel- len); das charakteristische Merkmal der Scherungswellen, im Gegensatz etwa zu den in Kreisbahnen schwingenden Wasserwellen (Gravitationswellen), ist, daß die elastische Verschiebung der Teilchen, die sogenannte Schubdeformation, in gerader Linie senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung längs paralleler Seiten erfolgt. Infolge ihrer verschiedenen Geschwindigkeit, die nach der Theorie an- nähernd im Verhältnis 13:1 steht, trennen sie sich um so weiter voneinander, je größer die Entfernung vom Ursprungsort ist. Unter den bei den Erdbeben sich durch den Erdkörper hindurch fortpflanzenden Erdwellen haben wir die ersten Vorläufer als die sich am schnellsten fortpflanzenden Longitudinalwellen aufzufassen, während wir in den zweiten Vorläufern die lang- sameren Transversalwellen erblicken wer- den. Diese Auffassung erscheint uns unge- zwungener als die von Läska vertretene, wonach die zweiten Vorläufer reflektierte Longitudinalwellen sein sollen. 8b) Oberflächenwellen. Wenn die vorbesprochenen Wellen auf eine Unstetig- keitsfläche, insbesondere die freie Ober- fläche des elastischen Körpers , treffen, rufen sie dort eine dritte Wellengattung komplizierten Charakters hervor, die sich über die Oberfläche ausbreitet. Diese von Lord Rayleigh zuerst erkannten Ober- flächen wellen scheinen also beim Erdbeben vom Epizentrum auszugehen. Man bezeichnet sie als die langen Wellen der Hauptphase, weil sie in beträchtlicher Entfernung vom Epizentrum gewöhnlich die größten Schwing- ungen des Erdbodens veranlassen und des- halb im Seismogramm am stärksten ausge- bildet erscheinen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Rayleigh-Wellen ist allgemein von den Elastizitätskonstanten des Mediums ab- hängig und gewöhnlich kleiner als die der . Transversalwellen. Bei den Erdbebenwellen hat I sie, wie wir sahen, den Wert von etwa 3,8 km j pro Sekunde. Dieser Wert ist nun zwar für die an der Erdoberfläche liegenden Sande, Lehme und ähnliche weiche Bodenarten zu groß. Indessen können wir annehmen, die Fortpflanzung der Hauptwellen erfolge längs | der harten und kompakten archäischen und paläozoischen Gesteine, die den Unterbau der festen Erdkruste bilden; alles was darüber liegt, schwingt einfach passiv mit. Die Oberflächenwellen nehmen, wenn man das Epizentrum als Pol betrachtet, bis zum Aequator an Energie ab, von dort aber bis zum gegenüberliegenden Pol, dem Gegen- punkt (Antiepizentrum), wieder zu, weil sich eben die gleiche Energiemenge folge- weise auf immer größer und dann wieder kleiner werdende Flächen verteilen muß. Da aber außerdem ein Teil der Energie auf dem langen Wege durch Absorption, also Umsatz in eine andere Energieform (Wärme) verloren geht, so beträgt nach Angenheister die im Gegenpunkte gesammelte Energie nur noch den 490. Teil der ursprünglichen (= 1/22 der Amplitude der wahren Bodenbewegung). Nunmehr übernimmt das Antiepizentrum die Rolle des Epizentrums; die von ihm ausge- sandten Oberflächenwellen, die sogenannten W2- Wellen, weisen bei ihrer Rückkehr am Epizentrum nur noch den 242500. Teil der ursprünglichen Energie (= 1/490 der Amplitude) auf. Dieses Hin- und Zurück- strömen zwischen Epizentrum und Anti- epizentrum hält so lange an, bis sämtliche Energie aufgebraucht ist; jedoch konnten schon W3-Wellen nur selten mehr in Seis- mogrammen gefunden werden. Noch verwickeitere Bewegungsvorgänge enthüllen uns aber die Seismogramme. Da lagern sich z. B. , namentlich den Haupt- wellen, sekundäre Wellenzüge anderer Periode über, so daß häufig die Normalwelle kaum mehr zu erkennen ist. Dabei spielen Eigen- schwingungen ganzer Erdschollen, die von den seismischen Wellen angeregt werden, sowie mancherlei sonstige geologische Ver- hältnisse eine im einzelnen auch noch nicht andeutungsweise geklärte Rolle. Ferner sind in den Seismogrammen häufig mehrfache iReflexionen der an die Erdoberfläche gelangten Wellenzüge nachzuweisen, die so mannigfaltige und komplizierte Verhält- nisse darbieten, daß hier nicht näher darauf j eingegangen werden kann. 8c) Wege der Wellen. Die Vorläufer, pflanzen sich, im Gegensatz zu den Haupt- wellen, direckt durch das Erdinnere fort. Dafür sprechen in erster Linie die Laufzeiten (vgl. nachstehende Tabelle). Denn diese wachsen, wie bereits erwähnt wurde, zwar mit der geodätischen Entfernung vom Epi- Erdbeben 703 Zentrum, aber nicht proportional dieser Distanz, sondern in abnehmendem Verhält- nis. Dies zeigt, daß sie zuerst in die Tiefe steigen, wo sie schneller fortgeleitet werden, und dann wieder emportauchen. Ferner ist kein Gestein der Erdkruste imstande, elasti- sche Schwingungen mit Geschwindigkeiten von 10 und mehr km pro Sekunde fortzuleiten. Epizentralentfernung Laufzeiten nach Wiechert-Zöppritz. 2 3 4 5 6 7 8 9 10 ii 12 13 Megameter*) Laufzeit P 120 260 360 440 510 570 630 690 740 790 840 S90 9^0 Sekunden \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ Differenzen .... 140 100 80 70 60 60 60 50 50 50 50 40 ,, Laufzeit S 240 460 640 790 910 1030 1140 1250 1^50 1450 1540 1620 1700 ,, \y \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ \/ Differenzen .... 220 180 150 120 120 110 110 100 100 90 80 80 ,, *) 1 Megameter = 1000 km. Die Form des Stoßstrahls bei den Vor- läufern zu kennen, ist wichtig für die Ab- leitung der Fortpflanzungs Verhältnisse im Erdinnern. Aber da fehlen uns noch jegliche sicheren Angaben. Die Japaner vertreten die Ansicht, alle Phasen pflanzten sich parallel der Erdoberfläche, aber in verschiedenen Tiefen, fort, die ersten Vorläufer in den untersten Schichten. Jordan kommt auf Grund von mehr als 400 Registrierungen bei 10 Beben zum Schluß, daß für die ersten Vor- läufer vorderhand die Annahme einer gerad- linigen Fortpflanzung (ca. 12 km pro Sek.) den Beobachtungen am besten entspräche. Die meisten Deutschen nehmen, nach dem Vorgange von A. v. Schmidt, gegen das Erd- innere konvexe Stoßstrahlen an, was auch uns als das plausibelste erscheinen will; ganz Ausführliches darüber findet sich in einer Reihe von Arbeiten von Wie eher t, Zöppritz und Geiger (Göttinger Nachrich- ten, von 1907 an). 9. Bestimmung von Hypozentrum und Epizentrum. 9 a) Herd tiefe. Für die ganze Theorie der Erdbeben wäre es das wichtigste, wenn sich die Tiefe des Herdes eines jeden Bebens, also des Hypozentrums, einwandfrei ermitteln ließe. Die Mittel und Wege dazu können selbstverständlich, wenigstens so- weit sich dies heute beurteilen läßt, nur die instrumentellen Registrierungen liefern. Wir haben aber oben gezeigt, daß wir über die physikalischen Verhältnisse in den Erdtiefen und damit über die Fortleitungsverhältnisse der seismischen Energie noch recht im un- klaren sind. Das gleiche gilt auch für die Beeinflussung der Fortpflanzuno; durch den geologisch-tektonisehen Aufbau der Gesteins- kruste. Und solange dies der Fall ist, können wir keine der bisher gebräuchlichen Methoden für die Berechnung der Herdtiefe (Dutton, v. Schmidt, Rudzki, v. Kövesligethy, Janosi, Saderra Masu) hinsichtlich ihres Wertes oder Unwertes gerecht beurteilen. Ein weiteres Eingehen auf diese Frage erübrigt sich deshalb, zu- ganz von- mal die verschiedenen Methoden einander abweichende Werte ergeben. 9b) Epizentrum. Eine kaum geringere Bedeutung, in theoretischer Hinsicht sowohl wie in praktischer, kommt der Festlegung des Epizentrums zu. Aber über den Genauig- j keitsgrad der hierfür zu Gebote stehenden Methoden bestehen Meinungsverschieden- heiten. Seit dem Aufschwung, den im letzten Jahrzehnt die Seismometrie nahm, hat immer mehr die irrige Meinung Platz gegriffen, die ganze Zukunft der Seismologie beruhe einzig und allein auf den instrumenteilen Regi- strierungen; über den seismischen Wellen wurden die Erdbeben selbst fast ganz ver- gessen. Trotz der großen Bedeutung der \ Seismometrie, die nicht im geringsten verkannt werden soll, muß doch auf Grund zahlreicher Erfahrungen vor der jetzt üblichen Ueber- schätzung der mikroseismischen und der Ver- nachlässigung der makroseismischen Beob- achtungen nachdrücklich gewarnt werden. Wenn beispielsweise das Epizentrum auf Grund der instrumenteilen Fernbebenregistrierungen berechnet wird, dann erhält man, trotz der anscheinend so genauen geographischen Koor- dinaten desselben, die manchmal sogar bis auf Bogensekunden angegeben werden, Werte die nur in seltenen, günstigen Fällen leine Genauigkeit von ±100 bis 200 km auf- weisen. Daß schon eine solche Unsicherheit für alle Detailarbeit in seismogenetischer Hin- sicht zu groß ist, leuchtet ohne weiteres ein. 1 In den weitaus meisten Fällen, zumal wenn es sich um bedeutendere Epizentralentfer- nungen handelt, ist die Unsicherheit ganz er- heblich größer, nämlich einige hundert Kilo- meter, und mitunter wandert das berechnete | Epizentrum, je nachdem man Stationen aus- wählt, in geradezu verblüffender Weise umher. Eine eindringliche Sprache redet namentlich i auch die Untersuchung, in der 0. Klotz i für das Jahr 1911 seine Berechnungen der Epizentren mit denjenigen von Galitzin und Zeißig verglichen hat; dabei ergaben sich nämlich Unterschiede, die durchweg 704 Erdbeben hoch in die hunderte Kilometer gehen. Die Ursache dieser Erscheinung ist zunächst darin zu suchen, daß die Analyse der Seis- mogramme, selbst wenn diese von einwand- freien und gut besorgten Instrumenten ge- wonnen werden, sehr oft einer Subjektivität in der Auffassung unterworfen ist, die einen für den vorhegenden Zweck zu großen Sp'el- raum läßt. Dazu kommt, daß der Zeit- dienst meist noch sehr im argen liegt; erst in allerletzter Zeit scheint er in Deutschland einen erfreulichen Aufschwung durch die Verwertung der Funkentelegraphie zu neh- men. Dies alles trägt mit dazu bei, die Lauf- zeitkurven und die von diesen abgeleiteten Formeln, die ja die Grundlage für die Berechnung bilden, recht unsicher zu ge- stalten. Eine wichtige Einschränkung muß allerdings gemacht werden: Wenn das Epi- zentrum eines kräftigen Bebens in großer Nähe von einer Reihe in jeder Hinsicht erst- klassiger Seismometerstationen umgeben ist, | wie etwa dasjenige des mitteldeutschen Erd- bebens vom 16. November 1911, dann muß natürlich die Epizentralberechnung an Zuver- lässigkeit gewinnen. Alles in allem genommen kommt man zu folgendem bedeutungsvollen Ergebnis: Die mikroseismische Epizential- bestimmung leistet gute Dienste zur unge- fähren Lokalisierung eines Bebenherdes. Namentlich ist sie von Wichtigkeit in den zahl- reichen Fällen, in denen wir von einem Beben lediglich die instrumentellen Aufzeich- nungen, nicht aber sein Schüttergebiet kennen, weil es entweder in weit entfernten und wenig zugänglichen Landgebieten oder gar auf dem Meeresboden liegt; denn selbst- verständlich dürfen auch solche Beben für die Wissenschaft nicht ganz verloren gehen. Aber alle Untersuchungen, die den Zusammen- hang der Erdbeben mit den einzelnen Zügen im Antlitz der Erde zum Gegenstande haben, dürfen sich nur auf solche Erdbeben stützen, die genau makroseismisch erforscht sind. Für die makroseismische Bestimmung der Epizentren lassen sich keine allgemein gültigen Kegeln aufstellen, vielmehr kann es sich hierbei nur um sinngemäße Anwendung der zahlreichen bisher mitgeteilten Erfahrungstat- sachen auf den einzelnen Fall handeln. Die mikroseismische Epizentralbe- stimmung hingegen ist an besondere Methoden gebunden, die hier kurz angedeutet werden sollen. Setzen wir zunächst den Fall, man verfüge lediglich über die Registrierungen einer einzelnen Station. Dann müssen wir zunächst die Epi- zentralentfernung {A) aus den Zeitunter- schieden der Phaseneinsätze bestimmen. Bei I Fernbeben kann man diese Rechnung mit hinlänglicher Genauigkeit im Kopfe vornehmen nach der sogenannten Laskascben Regel, die besagt: (S— P) Minuten — 1=^ Megameter d. h. in Worten: die in Minuten ausgedrückte Differenz der Eintrittszeiten der zweiten und ersten Vorläufer, vermindert um eine Einheit, ergibt die Epizentralentl'ernung in Megametern (1 Megameter — 1000 km). Beispielsweise ergibt eine Dauer der ersten Vorphase von 10,7 Minuten eine Epizentralentfernung von 9700 km. Genauere Werte erhält man, indem man die zur Zeitdifferenz (S — P) gehörigen Kilometer aus nachstehender Tabelle entnimmt; beispiels- \ weise (S — P) = 9 m 55 s, Epizentralentfernung 8700 km. Zwischenwerte können interpoliert werden. . Differenzen (S — P) der Eintrittszeiten der zweiten und ersten Vorläufer. Nach den Laufzeitkurven von Wiechert und Zöppritz bearbeitet von Zeißig. km 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1000 m s m s m s m s m s m s m s m s m s m s o 0 11 0 22 0 33 0 44 0 55 1 06 1 16 1 27 1 38 1 48 I ooo 1 58 2 08 2 18 2 27 2 37 2 46 2 56 3 °5 3 14 3 23 2 ooo 3 32 3 4° 3 49 3 57 4 °5 4 13 4 21 4 28 4 36 4 43 3 ooo 4 50 4 58 5 05 5 10 5 17 5 24 5 3° 5 35 5 41 5 47 4 ooo 5 53 5 58 6 04 6 10 6 15 6 20 6 26 6 31 6 37 6 42 5000 6 48 6 53 6 58 7 °4 7 °9 7 15 7 20 7 25 7 3i 7 36 6 000 7 4i 7 47 7 52 7 58 8 03 8 08 8 13 8 19 8 24 8 29 7 000 8 34 8 39 8 44 8 50 8 55 9 00 9 05 9 10 9 15 9 20 8 000 9 25 9 3° 9 35 9 40 9 45 9 5o 9 55 10 00 10 05 10 10 9 000 10 16 10 20 10 25 10 30 10 35 10 40 10 45 i° 49 10 54 10 58 10 000 11 02 11 07 11 11 11 16 11 20 11 24 11 29 11 33 11 37 11 41 11 000 11 45 11 49 11 53 11 57 12 Ol 12 05 12 09 12 13 12 17 12 21 12 000 12 25 12 28 12 32 12 36 12 39 12 43 12 46 12 49 12 53 12 56 Bei Nahbeben bedient man sich zweck- mäßig der Formel von Conrad, die sich auf die Zeitdifferenz der Hauptwellen und der ersten Wuläufer (L — P)=t, in Sekunden ausgedrückt, stützt. Sie lautet 5,8+8,09 t— 0,009 t2=zf km Zur Vereinfachung hat man hiernach die auf der folgenden Seite gegebene Tabelle berechnet. Um jetzt das Epizentrum zu finden, braucht man nur in einer Landkarte oder auf einem Globus nachzusehen, wo in der betreffenden Entfernung Erdbebenherde liegen. Gute Dienste tun in dieser Hinsicht Karten, die nach dem Vor- Erdbeben 705 D iff erenzen (L- -P) der Haupt wellen und d er ers ten V orläufer. L— P A = i 14 2 22 3 39 4 38 5 46 6 54 7 62 8 70 9 78 10 86 Sek. km L— P A = 15 125 20 164 25 202 30 240 35 278 40 315 45 352 50 388 55 424 60 459 Sek. km L— P A = 65 494 70 528 75 562 80 595 85 629 90 661 95 693 100 725 Sek. kni gange von Grablovitz die Linien gleicher Ent- fernung vom Beobachtungsort und die Kurven der wichtigsten Azimute enthalten, zumal wenn sie, wie die vom Verfasser für Straßburg heraus- gegebene, zu einer morphologisch -seismischen Weltkarte ausgestaltet ist. Allerdings ist das Resultat kein eindeutiges, weil sich gewöhnlich eine Anzahl von Erdbebengebieten in der ge- gebenen Entfernung befinden. Sind von dem Beben zwei zueinander senkrechte Komponenten der Bewegung registriert und die ersten Einsätze völlig scharf ausgebildet, dann läßt sich nach der von Galitzin, Zeißig und anderen durchgearbei- teten Methode auch noch das Azimut des Beben- herdes gegen den Seismometerstandort berechnen. Durch das Hinzutreten der Richtung, aus der die Wellen eintreffen, wird natürlich das Epi- zentrum eindeutig bestimmt. Verfügt man über die Registrierungen von wenigstens drei Stationen, dann bedarf man zu einem eindeutig bestimmten Epizentrum keiner Azimutberechnungen mehr, sondern lediglich der Epizentralentf einungen und der geographi- schen Koordinaten der Stationen. Die Berech- nung selbst stellt sich alsdann dar als eine ein- fache Aufgabe der sphärischen Trigonometrie. Stehen die Beobachtungen von mehr als drei Stationen zur Verfügung, dann muß man das Ausgleichsverfahren nach der Methode der kleinsten Quadrate zu Hilfe nehmen. Trotzdem durch zahlreiche eigens für diesen Zweck be- rechnete Hilf stabellen (z. B. von Szirtes) die Berechnung erheblich vereinfacht wird, bleibt sie doch noch recht zeitraubend. Infolgedessen sucht man in neuester Zeit mit gutem Erfolg die rechnerischen Methoden durch rein gra- phische Methoden zu ersetzen. Ü. Klotz hat einer derartigen, von E. Rosenthal her- rührenden Methode zu weiterer Verbreitung ver- holten, die auf der Verwendung besonders vor- gerichteter Kartenblätter in stereographischer Projektion beruht; sie setzt mindestens drei Stationen voraus, kann aber auch mehr Stationen berücksichtigen. Mainka hat außerdem den ein- fach zu handhabenden Brillschen Apparat für äronautische Ortsbestimmungen, der auf der in der Astronomie gebräuchlichen Methode der Standlinien basiert, für die Epizentralbestimmung geeignet und diese damit zu einer ganz einfachen mechanischen Arbeit gemacht. 10. Seismische Geographie. Einen besonders lehrreichen Einblick in die Ent- stehungsursachen der Erdbeben muß uns zweifellos die geographische Verteilung der Erdbeben gewähren, wenn wir sie mit dem geologisch-tektonischen Aufbau in Parallele stellen. Den Grundstein hierzu legten nament- lich österreichische Geologen, in erster Linie R. Hoernes und E. Sueß, während F. de Montessus de Ballore diese Kenntnisse nicht nur erweiterte, sondern auch zum ersten Male zu einem die ganze Erde um- fassenden Gesamtbilde vereinigte. Für derartige Untersuchungen wäre es wertvoll, einen zahlenmäßigen Ausdruck für die seismische Tätigkeit eines Ortes oder einer Gegend zu finden, wobei allerdings der Grundsatz als unerläßliche Vorbedingung zu gelten hätte, daß jedes der dort aufgetrete- nen Beben bekannt wäre, und daß ferner nur die gleichen Zeiträume miteinander ver- glichen würden. Montessus hat seine For- mel, nach der er früher die „Seismizität" eines Gebietes bestimmte, selbst aufgegeben. Heutzutage unterscheidet er: Seismische Gebiete, in denen die Erd- beben häufig sind und mehr oder minder zerstörend wirken; peneseismische Gebiete, in denen sie bei wechselnder Häufigkeit stark auftreten, und aseismische Gebiete, in denen die Erd- beben schwach und selten oder gar unbe- kannt sind. Wenn wir auch den von Montessus vorausgesetzten Parallelismus zwischen der Stärke und der Häufigkeit der Beben nicht als allgemein gültig anerkennen können, so wollen wir uns doch sein Einteilungsprinzip zu eigen machen. Uebrigens sei noch bemerkt, daß in neuester Zeit Lais die Seismizität eines Gebietes folgendermaßen mißt, und zwar mit gutem Erfolge (vgl. die Karte Fig. 4): Für einen nicht zu kurzen Zeitraum werden alle Orte des zu prüfenden Gebietes ausge- wählt, die jedesmal dann, wenn sie erschüttert wurden, eine zur Intensitätsbestimmung ge- eignete Nachricht liefern. Statt der Inten- sitätswerte werden die ihnen in der Mercalli- Cancani- Skala entsprechenden Beschleuni- gungswerte (vgl. die Tabelle S. 689) einge- setzt und die für sämtliche Erschütterungen des betreffenden Ortes gebildete Summe dei selben, reduziert auf ein Jahr, als Aus- druck seiner Seismizität genommen. Im allgemeinen findet Montessus, die Erdrinde werde nahezu ausschließlich innerhalb zweier schmaler Zonen erschüttert, die mit zwei großen unter den von E. Haugh rekonstruierten mesozoischen Geosynklinalen zusammenfallen. Da letztere aber von den Geologen noch lebhaft Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band m. 45 706 Erdbeben umstritten werden, so wollen wir hierbei nicht länger verweilen, sondern in kurzer Zusammen- fassung das seismische Verhalten der einzelnen Gebietsteile auf Grund der letzten Forschungs- ergebnisse näher betrachten. ioa) Seismische Gebiete sind in erster Linie eine schmale Störungszone der Erdrinde, die in west-östlicher Richtung von Europa gegen Ostasien hinzieht. Das ganze Mittelmeer- becken, der Persische Meerbusen, das Rote Meer und die ganze nördliche Hälfte des In- dischen Ozeans sind gewaltige Einbruchs- becken der Erdrinde, die, zum Teil recht weit, in das Festland eingreifen. Nach Norden schließen sich lange, bogenförmige Stränge von jungen Faltengebirgen an sie an, wie die Pyrenäen, j Alpen, Apennin, Karpathen, Dinaren, Kaukasus und Himalaya, die von den niedersinkenden und gleichsam wie ein Keil wirkenden Schollen gegen die starren Tafeln des Vorlandes gepreßt und i so immer höher aufgestaucht werden (s. die Artikel „Gebirgsbildung" und „Ge- birge der Erde"). Die andere Zone fällt mit dem zirkumpazifischen Zerrungsgebiet (v. Richthof en) zusammen, also mit den Küsten- gebieten des Großen Ozeans bezw. mit den den i Westküsten vorgelagerten Inselketten (Aleuten, | Japan, Formosa, Philippinen, Malayischer Archipel, Salomon- und Tongainseln, sowie Neuguinea). Daß wir es hier mit Senkungsvorgängen in der Erdrinde zu tun haben, lehren uns die langen Reihen der ozeanischen Gräben, die die Küsten und Inselreihen des Großen Ozeans, namentlich im Westen, begleiten (s. den Artikel „Meere"). Diese schmalen, die größten Meeres- tiefen aufweisenden Gräben bezeichnen den Bruch- rand des pazifischen Senkungsfeldes und sind gleich- zeitig der Sitz der stärksten Erdbeben. Der Antillenbogen, der in seinem Bau große Aehnlich keit mit der ostasiatischen Inselguirlande zeigt, sowie das Südufer des durch Dislokationen ent- standenen Baikalsees sind ebenfalls hierher zu rechnen. Unter den Seebebengebieten ragt besonders die seismische Zone des St. Pauls- felsen im äquatorialen Atlantik hervor, wo zweifel- los der Vulkanismus eine Rolle spielt. Die übrigen lebhafter tätigen Seebebengebiete stehen im großen und ganzen mit den vorbesprochenen tektonischen Verhältnissen in offensichtlichem Zusammenhang. iob) Peneseismische Gebiete stellen die Randfalten der Schollenländer dar, wie der Ural, das Vorland des Altai, die Australischen Alpen usw., ferner die Rümpfe abgehobelter Faltengebirge, in denen sich in jüngerer Zeit j Brüche vollzogen haben, so die Kaledonischen, die Armorikanisch-Variscischen Falten mit der als Grande Faille du Midi bekannten riesigen Verwerfung bezw. dem französisch-belgisch - westfälischen Kohlenbecken, das Rheintal zwi- schen Bonn und Bingen, die Mainzer Tertiär- bucht, der Oberrheinische Graben, das Erz- gebirge mit seiner verwirrenden Tektonik, in Syrien die jungtertiären Grabenbrüche des Jordans mit dem Toten Meere, die Appalachen Nordamerikas, Madagaskar, sowie der ostafri- rvische Anteil des Großen Grabens. Im Kap- land haben wir es mit gewaltigen staffeiförmigen, der Küste parallelen Abbruchen im Faltengebirge zu tun; desgleichen ist peneseismisch das von Brüchen, auf denen zahlreiche heiße Quellen empor- steigen, durchzogene Land der Hereros, sowie die längs west-östlich streichender Brüche ab- sinkende Kiistenzone der Goldküste. Die See- beben des Indischen Ozeans sind an eine Graben- versenkung geknüpft, derenHorste im Westen durch Madagaskar, die Seychellen, bis nach Ceylon hinüber, im Osten durch die linienförmig ange- ordneten Koralleninseln der Lakkadiven, Male- diven und Tschagos-Inseln kenntlich werden. Auch an der Neufundlandbank haben wir es in ähnlicher Weise mit einem absinkenden Horste zu tun, während an der Südspitze der Iberischen Halbinsel zwei Brüche im Verlaufe der Küsten- linie einander kreuzen. Senkungsfelder sind weiter das Ligurische Meer, das Tyrrhenische Becken , die Adria , das Marmarameer und das Schwarze Meer. ioc) Aseismische Gebiete sind in erster Linie die alten Schollenländer, sowie die von den Faltenästen umklammerten Plateaus, wie die zentralen Hochflächen von Kolumbien und Alaska, das Koloradoplateau, das Bolivianische Plateau und die Küsten des Roten Meeres. Der eigentliche Nordatlantische Kessel ist so gut wie bebenfrei, ebenso der ganze mittlere Teil des Großen Ozeans, wo sich einzig und allein bei den Hawaii-Inseln Seebeben vulkanischen Ursprungs bemerkbar machen. ii. Entstehungsursachen der Erdbeben. Auf Grund ihrer Entstehungsursachen wer- den die Beben nach dem Vorgang von R. Hoernes, E. Sueß und F. Toula heuti- gentags fast allgemein in folgende drei Gruppen zusammengefaßt. na) Explosionsbeben. Zunächst sind die verhältnismäßig seltenen Beben zu nennen, die mitunter, aber nicht immer, die Vulkanausbriiche begleiten. Diese Explosions- beben müssen zurückgeführt werden auf das stoßweise Anschlagen des im Eruptions- schlot oder -spalt heraufdrängenden Magmas gegen die überlagernde Gesteinsdecke, das zudem an der Oberfläche stark entgast ; sobald dieGesteinsdecke geborsten ist und den Erup- tionsprodukten den Weg freigibt, lassen die Erdstöße gewöhnlich schnell an Heftigkeit nach. Hierher zu rechnen sind aber auch die versuchten Eruptionen, wie etwa das zerstörende Erdbeben, das am 15. Ok- tober 1911, drei Wochen nach der Beendi- gung einer starken Spalteneruption des Aetna, die Ostseite dieses Vulkans heimsuchte. Allerdings werden in alten, längst erlosche- nen Vulkangebieten auftretende Beben gerne als mißglückte Eruptionsversuche angesehen, während sie sich bei näherem Zusehen als rein tektonische erweisen. Erfahrungs- gemäß bleiben Explosionsbeben, selbst bei großer Heftigkeit, nur auf den Vulkan selbst oder seine unmittelbare Nähe beschränkt. ii b) Einsturzbeben. Eine weitere Art von ebenso seltenen wie ganz lokalen Beben läßt sich auf den Zusammenbruch unterirdischer, durch Auswaschung oder sonstige natürliche Vorgänge entstandener Erdbeben "(17 Hohlräume zurückführen, wie sie vor allem in Kalkgebirgen (z. B. im Karst) angetroffen werden. In diesem Falle redet man von Ein- sturzbeben. nc) Dislokationsbeben oder tek- tonische Beben. Die weitaus größte Zahl von Erdbeben, darunter sämtliche, die ein ausgedehntes Schüttergebiet aufweisen, sind eine Begleiterscheinung des Prozesses der Gebirgsbildung; man bezeichnet sie als Dislokationsbeben oder tektonische Beben. Sie allein werden zu sogenannte n Weltbeben, indem ihre Wellen allerorten die empfind- lichen Seismometer in Tätigkeit versetzen. Wird das innere Gleichgewicht der Erd- rindenschollen durch die gebirgsbildenden Kräfte auf irgendeine Weise gestört, sei es durch den Faltungsprozeß, durch Absinken, Auf- steigen oder Schaukelbewegung von Schollen, die Entstehung neuer oder die Erweiterung vorhandener Spalten usw., so treten plötzlich und ruckweise senkrechte und wage rechte Ver- schiebungen, Verwerfungen und Rutschungen der einzelnen Gesteinsschichten auf, oftmals verbunden mit einemBrechen und Nachstürzen der Gesteinsmassen. Die gleitende Reibung an den rauhen Seitenflächen der Gesteins- schollen löst die elastischen Bebenwellen aus. Infolgedessen ist selbst der langsamste Fal- tungs- und Senkungsvorgang nicht ohne eine zahllose Menge von einzelnen Erschütterungen denkbar. Es gewinnt übrigens den Anschein, als ob reichlich in den Gesteinsklüften zirku- lierendes Wasser durch mechanische Fort- spülung und chemische Lösung die Beweg- lichkeit der Schollen vergrößere; denn in manchen Bruchgebieten folgen Erdbeben gerne auf heftige Regengüsse oder plötzliche Schneeschmelze. Aber nur vereinzelt hinter- lassen solche unterirdischen Vorgänge eine äußerlich sichtbare Spur; größere meßbare Dislokationen bei Gelegenheit von Erd- beben scheinen auf küstennahe (Alaska, Kalifornien) oder Inseln durchsetzende Bruch- zonen beschränkt zu bleiben und in Faltungs- gebieten nicht vorzukommen. Wenn aber die Verwerfung, wie es gewöhnlich der Fall ist, an der Erdoberfläche nicht sichbar wird, so beruht dies lediglich darauf, daß lockeres, zertrümmertes und verstürztes Gesteins- mate rialeinen vielgrößerenRaumeinnimmt als das feste Ausgangsgestein. Hobbs vertritt, in manchen Fällen zweifellos mit vollem Recht, die Ansicht, auch die unter dem Deckgebirge verborgenen Erdbebenspalten (Bruchlinien), die er seismotektonische Linien nennt, ließen sich aus den sichtbaren Bebenwirkungen in ihrem Verlaufe festlegen; namentlich sollen die Orte stärkster Beben- wirkungen die Schnittpunkte von zwei oder mehr seismotektonischen Linien charakte- risieren. Wirklich zeigte auch, wie wir sahen, das mitteldeutsche Beben vom 16. November 1911 ganz ausgesprochen Steigerungen der seis- mischen Intensität auf Verwerfungen, nament- lich auf einzelnen Schnittpunkten von solchen. Uebrigens drängt sich uns ohne weiteres auch die Vermutung auf, die Verteilung der Schwerkraft in der Erdrinde, namentlich aberdie lokalen undregionalen Schwere- anomalien, sowie die damit eng verknüpften Störungen des Erdmagnetismus müß- ten in der Erdbebentätigkeit einer Gegend zum Ausdruck gelangen. Die wenigen bis- her in dieser Hinsicht durchgearbeiteten Fälle lassen Wechselbeziehungen dieser drei Naturkräfte erkennen, erlauben aber weder eine Verallgemeinerung, noch einen genügen- den Einblick in die Ursachen. Besonders deutlich tritt dieser Zusammenhang zutage, wenn man nach dem Vorgang von Riccö für Unteritalien und Sizilien die Karten der Schwereverteilung und der erdmagnetischen Elemente mit Barattas seismischer Karte vergleicht; dann sieht man, wie in der Nach- barschaft der Bebengebiete die Kurvenzüge sich dicht aneinander drängen und mancher- lei Ablenkungen von der normalen Richtung erleiden. Deutlich erkennbar war die Ur- sache des Zusammenhanges zwischen der Form eines Erdbebenschüttergebietes und dem Verhalten des Erdmagnetismus in einem Falle, den Lais anführt. Ein Erd- beben, das den vulkanischen Kaiserstuhl erschütterte (Fig. 17), war nämlich fast völlig auf die festen, besonders die basaltischen Ge- steine dieses Gebirges beschränkt, griff aber im Südwesten erheblich darüber hinaus und erschütterte hier noch einige Orte der aus losen Schottern aufgebauten Rheinebene. Ganz dasselbe Verhalten zeigt die Hori- zontalintensität; die von der Isodyname 0,20 CGS eingeschlossene Fläche überschreitet das vulkanische Gebirge nach derselben Richtung (Fig. 18). Nach G. Meyer sind solche Gebiete verminderter Horizontal- intensität auf das Auftreten isolierter Basalt- berge zurückzuführen. Erdbeben und Erd- magnetismus lassen hier also erkennen, daß im Südwesten des Kaiserstuhls ein aus Basalt bestehender Bergrücken in geringer Tiefe unter dem Diluvium verborgen liegt. Von Milne und Cancani wurde gezeigt, daß die Zahl der großen Weltbeben mit ' der Größe der Verschiebungen des Erdpols zu- und abnimmt, daß ferner die größere Zahl dieser Beben auf die Zeiten der Rich- tungsänderungen bei den Polverschiebungen fällt. Eine genaue Analyse der Polände- rungen soll die Uebereinanderlagerung zweier periodischer Bewegungen zu erkennen geben, von denen das eine Glied durch Massen- verlagerungen im Erdinnern infolge von Erd- beben bedingt würde. Aber auch über diese Frage sind die Akten noch lange nicht ge- schlossen. 45* 708 Erdbeben Fig. 17. Schüttergebiet des Kaiserstuhlbebens vom 21. Mai 1882. Nach R. Lais. Riegel m ^2 Gebiete venninder- j~;~ •./' ~ ~* Oebiete vermehr- ter Horizontalin- p~~.T.T..~.T.T! '-er Horieontalin- tenoltät '::^: :•_'■■ i' tenaltät Iaodyname 0,203 CCS, die ohne die magnetische Wirkung des Gebirges von ONO nach WSW durch Oberbergen ginge. Ebenso zahlreich wie die Arten der Dislokationen selbst müssen auch diejenigen der Dislokationsbeben sein. Zu- nächst können wir theoretisch Faltungs- oder Stauungs- beben von Zerrungs- oder Senkungsbeben trennen, obgleich sie praktisch, d. h. in ihren Wirkungen, keiner- lei Unterschiede erkennen lassen. Ferner kann es sich in den Außenzonen der Fal- tengebirge um Quer- oder Blattbeben handeln, wenn die Dislokation bezw. die Bebenachse die Streichrichtung des Gebirges mehr oder minder rechtwinkelig schneidet. Zieht sich aber die Verwerfung paiallel der geologischen Ge- birgsachse hin, dann liegt ein Längs-, Wechsel- oder Vor- schubbeben vor. Innenzonen der gebirgsbogen, im rungsgebiete der und staffeln lande meistens werfungen hängen Fig. Die Horizontalintensität des Erdmagnetismus im Kaiserstuhl. Nach G. Meyer. In den Falten- Zer- Land- im Seh olle n- die Erdbeben Veitikalver- zusammen. Sie hat Sueß als Senkungs- beben bezeichnet, und diese Bezeichnung mag auch beibe- halten werden, weil nach unse- rer Anschauung die Senkung immerhin der häufigere, wenn auch sicherlich nicht alleinige Vorgang ist. Je nach der Art der Verwerfung kann man unterscheiden zwischen peri- pherischen, zentralen, radialen und tafelförmigen Senkungsbeben. Da übrigens auf den Dislokationslinien und mit den Erderschütterungen die meisten vulkanischen Aus- brüche hervortreten, so machte sich früher gerade hier die Schwierigkeit der Trennuno; zwischen vulkanischen und tektonischen Erdbeben besonders geltend. nd) Kryptovulkanische Beben. Es soll übrigens nicht verschwiegen bleiben, daß manche Seismologen, dar- unter Verfasser, der Ansicht sind, neben den rein tekto- nischen Beben könnten auch kryptovulkanische Beben auf- treten, d. h. solche, bei denen durch noch ungeklärte Vor- ganz Erdbeben* 709 gänge (z. B. Kristallisationsprozesse) Energie ausgelöst würde, die erst den Anstoß zu Schollenbewegungen größeren oder ge- ringeren Umfange s gäben. ne) Nachbeben und Schwarmbeben. Die schon früher (S. 689) charakterisierten Nachbeben entstehen infolge der elastischen Nachwirkung in den von der Spannung be- freiten Gesteinsschollen. Experimentelle Ver- suche haben nämlich gezeigt, daß ein Ge- steinsstück unter der konstanten Einwirkung einer Kraft elastisch deformiert wird, daß aber nach dem plötzlichen Erlöschen dieser Kraft die Spannung nicht ebenso plötzlich nach- läßt, sondern daß sich der normale Zu- stand nur ganz allmählich wiederherstellt. In vollem Einklang damit steht, daß die Kurve des Abklingens ihrer Stärke und Häufigkeit, wie Omori zeigen konnte, eine Hyperbel ist. Auch spielt, nach demselben Autor, das geologische Alter des Gesteins eine Kolle; denn es erweist sich in Karten, wo die Orte mit gleicher Zahl von Nachbeben durch Kurven vereinigt werden, der Ab- stand zwischen zwei aufeinander folgenden Linien der Isofrequenz am größten in archäi- schem Gestein, während er folgeweise kleiner wird in paläozoischem, mesozoischem und känozoischem Gestein. Nicht mit den Nachbeben zu verwechseln sind die auch schon erwähnten Schwarm- beben, die sich gleichfalls auf Wochen und Monate erstrecken können, aber aus einer sprungweisen Aneinanderreihung ver- schieden starker Erdbeben bestehen. Hier haben wir es nach Ansicht des Verfassers mit einem ganzen, in seinem Gleichgewicht gestörten Schollensystem zu tun, bei dem die in eine neue Gleichgewichtslage hinein- schwingenden Schollen einander immer wieder stören. Der Umstand aber, daß sich ge- wöhnlich gewisse Regelmäßigkeiten in der Gruppierung um auffallende Stöße herum nicht verkennen lassen, deutet darauf hin, daß manche Einzelstöße des Schwarmbebens wiederum Nachstöße im Gefolge haben. nf) Relaisbeben. Da sich bei einem Erdbeben die Bewegung von Scholle zu Scholle fortpflanzt, die Beweglichkeit der einzelnen Schollen aber eine sehr verschiedene ist, so wird es begreiflich, daß unter Umständen auch in mehr oder minder entfernten Ge- bieten, die vom Schüttergebiet durch eine bebenfreie Zone getrennt sind, durch die dort eintreffenden Wellen reife Spannungen ausgelöst werden. Die so hervorgerufenen Relaisbeben können sowohl Dislokations- beben, als auch Einsturzbeben sein. ng) Extratellurische Auslösung von Beben. Es ist ein ebenso alter wie weitverbreiteter Glaube, die wechselnde Stel- lung der wichtigeren Gestirne (Sonne, Mond, Planeten) beeinflusse durch ihre Attraktionswirkungen die Bebentätigkeit. Bisher konnte ein vollgültiger Beweis weder für noch gegen erbracht werden. Ueberhaupt hat die von manchen mit Vorhebe betriebene Ableitung von seismischen Perioden so- lange keinen Sinn, als man nicht sicher sein kann, daß auch wirklich sämtliche auf- tretende Beben bekanntwerden; von diesem Ziele sind wir aber, wenn wir von ganz vereinzelten Ausnahmen absehen, zurzeit noch himmelweit entfernt. Die heute nur möglichen „Stichproben" dürfen keinerlei | Beweiskraft beanspruchen. Daß schnelle und starke Luftdruck- schwankungen, wie sie der Voibeizug tiefer barometrischer Depressionen am Epi- zentrum mit sich bringt, unter Umständen reife tektonische Spannungen und damit Erderschütterungen auslösen können, er- scheint recht plausibel. Aber es dürfte schwer fallen, in einem bestimmten Falle den Be- weis hierfür zu erbringen. Namentlich die Beobachtungen an der seismisch so regen Westküste Südamerikas haben in manchen Seismologen (v. Richt- hofen, Milne, Montessus, Wiechert) die Anschauung erweckt, der Massentrans- port von einer Scholle auf den Rand der benachbarten infolge der Denudation sei in der Lage, Erdbeben hervorzurufen. Und diese Anschauung erscheint recht einleuchtend, wenn man bedenkt, daß gerade dort die Niveauunterschiede zu beiden Seiten der durch tiefe ozeanische Gräben gekennzeich- neten Bruchlinie auf volle 14 km anwachsen. Die Schollen des Hochgebirges, wo die Denu- tation ganz besonders kräftig wirkt, müssen infolge der Druckerleichterung allmählich in die Höhe steigen, während die Gebiete, in denen die Sedimentierung erfolgt, unter der stets zunehmenden Belastung zur Tiefe sinken. n h) Seebeben. Daß bei den Seebeben sowohl tektonische, als auch vulkanische Ursachen in Frage kommen, muß man ohne weiteres annehmen. Aber in einem bestimmten Falle die Entscheidung zu treffen, ist mitunter recht schwierig, wenn nicht unmöglich. Wie sich bei einem submarinen Vulkan- ausbruch, namentlich in der Tiefsee, die Verhältnisse gestalten, wissen wir nicht. Das plötzliche Hervorstoßen der Lava- massen und die damit verbundenen Dampf- explosionen erschüttern die Wassermassen erheblich, den Meeresboden aber höchstens in seinen allerobersten Teilen. Die engbe- grenzte Stoßwirkung erklärt das Aufsteigen der turmhohen, garbenförmigen Wasser- säulen über die Wasseroberfläche. Die tektonischen Seebeben dürften weniger auf Faltungsvorgänge (solche kom- men allerdings vielleicht für die Atlantische / 710 Erdbeben — Erde (Chemischer Bestand der Erde) Schwelle in Betracht), als auf Spaltenver- werfungen zurückzuführen sein. Wird der Meeresboden von einem Disloka- tionsbeben betroffen, so treten die Erdbeben- wellen in das Wasser über und machen sich, sobald sie auf ein Schiff treffen, als plötz- licher Stoß bemerkbar. An der Oberfläche des Meeres können wegen ihrer mehrere hundert Kilometer betragenden Länge Kay- lei gh wellen keinerlei unmittelbar sichtbare Oberflächenwellen hervorrufen; nur die senkrecht zur Meeresoberfläche gerichteten Stöße vermögen unter Umständen den Widerstand der Atmosphäre zu überwinden, zerreißen alsdann die Oberflächenschicht des Wassers und werfen kleine Strahlen auf, die den Eindruck des Aufwallens erwecken, als koche und siede das Wasser. Hinsichtlich der seismischen Flutwel- len muß man annehmen, daß das Epizentrum des Bebens nicht auf dem Lande, sondern am Meeresgrunde lag, daß es sich also um ein Seebeben handelt, das auch auf dem Fest- lande verspürt wurde. Literatur. Dutton, Earthquakes in the Light of the new Seismology. New York 1904- — Ehlert, Zusammenstellung, Erläuterimg und kritische Beurteilung der wichtigsten Seismometer mit besonderer Berücksichtigung ihrer praktischen Veno endbar keil. In den Beiträgen zur Geophysik, Leipzig 1898. — Galitzin, Zur Methodik der seis- mometrischen Beobachtungen. St. Petersburg 1908. — Verselbe, Zhber die Bestimmung der Kon- stanten von stark gedämpften Horizontalpendeln. St. Petersburg 1908. — Hilfstabellen zur Aus- wertung von Seismogrammen bei Anwendung aperiodischer Instrumente. St. Pttersburg 1908. — Hobbs, Earthquakes, an Introduction to seismic Geology. New York 1907. Deutsch von Bus ka. Leipzig 1910. — Hoemes, Erdbebenkunde, die Erscheinungen rmd Ursachen der Erdbeben, die Methoden ihrer Beobachtung. Leipzig 1S93. — Mainha, Kurze Ucbersicht der modernen Erd- bebeninstrumentc. In : Der Mechaniker. Berlin 1907. — Milne, Seismology. London 1898. — Montessus de Hallore, Les tremblements de lerre, geographie seismologique. Paris 1906. — Derselbe, La science seismologique, les tremble- ments de terre. Paris 1907. — Sieberg, Hand- buch der Erdbebenkunde. Braun schweig 190Jt. — Derselbe, Der Erdball, seine Entwickelung und seine Kräfte. Eßlingen 1908. — Derselbe, Methoden der Erdbebenforschung. In Keilhacks Lehrbuch der ])raktischen Geologie. Stuttgart 1908. — Wiechert, Theorie der automatischen Seismographen. Berlin 1908. — Periodische Erscheinungen. Ballett ino della Societa sismologica Italiana. Born. — Bulletin de la Commission Seismique Permanente. St. Peters- burg. — Bulletin und Publications in foreign Languages of the Earthquake Invcstigalion Committee. Tokio. — Erdbebenwarte. Laibach. — Gerlands Beiträge zur Geophysik. Leipzig. — Mitteilungen der Erdbebenkommission der k. k. Akademie der Wissenschaften. Wien. A. Sieberg. Erde. Chemischer Bestand der Erde. 1. Eruptivgesteine. 2. Sedimente. 3. Mittlere Zusammensetzung der Rinde. 4. Erdkern. 5. Verteilung der Elemente und Mineralien. i. Eruptivgesteine. Wenn man den chemischen Bestand der Erde untersuchen will, fällt zunächst eine Dreiteilung in die Augen. Wir finden eine Gashülle, eine Wasser- hülle und die feste Hülle. Mit Bezug auf die Gashülle sei auf den Artikel „Atmosphäre" verwiesen, mit Bezug auf die Wasserhülle auf den Artikel „Meer". Es verbleibt uns hier nur die Behandlung der festen Erde. Von dieser aber ist natürlich nur ein kleiner Teil, die äußerste Oberfläche, unmittelbar zugänglich. Die tiefsten Bohrlöcher der Erde sind wenig über 2 km tief und der Erdradius beträgt rund 6500 km. Nun liegen ja allerdings die Schichten, welche die Rinde der Erde bilden, meist nicht mehr in ihrer ursprünglichen Lagerung wie die Blätter eines Buches übereinander, sondern sie sind aufgerichtet, so daß man auf der Oberfläche hinschreitend oft mehr als 20 Kilometer in die Erde eindringen kann. Man kann demnach sagen, daß man die Gesteine der Rinde einigermaßen kennt. Sie sind zum Teil Eruptivgesteine, die aus dem feurigen Fluß entstanden sind, zum Teil durch Zer- störung aus den Eruptivgesteinen entstandene Sedimente und zum Teil aus diesen beiderlei Gesteinen entstandene Metamorphe. Gelingt es uns, die durchschnittliche Zusammen- setzung der einzelnen Kategorien zu berechnen und gleichzeitig ihr Mengenverhältnis unter- einander zu schätzen, so läßt sich über die Pausch-Zusammensetzung der Erdrinde im- merhin etwas Genaues aussagen. Der Amerikaner Clarke hat dies ver- sucht, aber da man nicht in der Lage ist, die einzelnen Gesteine ihrer Menge nach abzuschätzen, so muß man andere indirekte Wege einschlagen. Zunächst wird man eine Entscheidung treffen müssen darüber, bis zu welcher Tiefe man die Rinde in Betracht ziehen will. Clarke hat dafür 10 Meilen, oder rund 16 km genommen. Von dieser Masse können wir mit vollem Recht aus- sagen, daß sie hauptsächlich aus Eruptiv- gesteinen besteht; diese aber sind, das lehrt die Erfahrung, ziemlich gleichmäßig über die ganze Erdoberfläche verbreitet, be- sonders wenn man größere Areale zusammen- faßt. Sind nun von einem solchen größeren Areale mehrere Tausende von Analysen der verschiedenartigen Eruptivgesteine aus- geführt, dann ist klar, daß von selteneren Gesteinen wenige, von häufigeren Gesteinen aber viele Analysen vorhanden sein werden. Man kann die mittlere Zusammensetzung aller Gesteine einfach gleich dem Mittel Erde (Chemischer Bestand der Erde) 11 aller Analysen setzen. So ist Clarke für die Vereinigten Staaten von Nordamerika verfahren und man darf eine Bestätigung der Clarkeschen Resultate darin finden, daß Hark er für die britischen Gesteine zu einem nur wenig abweichenden Resultat gekommen ist und etwas Analoges Washing- ton für ein kleineres amerikanisches Gebiet festgestellt hat. Nach Clarke ergibt sich nun folgende mittlere elementare Zusammensetzung für die Eruptiven: 0 /o 0 47,05 Si 28,26 AI 7,98 Fe 4,47 Mg 2,34 Ca 3,43 Na 2,54 K 2,5° 11 0,16 Ti o,45 Zr 0,025 c V s Cl F Ba Sr Mn Ni Cr V Li O' /o 0,13 0,11 0,11 0,06 0,10 0,097 0,033 0,077 0,023 0,033 0,018 0,004 2. Sedimente, derselbe Forscher In ähnlicher Weise hat auch die Zusammen- setzung der Sedimente ermittelt, indem er eine Dreiteilung derselben herbeiführte. Er teilt in tonige Sedimente (I), Sandsteine (II) und Kalksteine (III), eine Teilung, welche unbeschadet der geringen Menge anderer Gesteine in der Tat zutreffen kann. Für diese 3 Gruppen wurde folgende durchschnittliche Zusammensetzung gefunden : I 0/ /o 58,38 15,47 4,03 2,46 2,45 3,12 i,3i 3,25 ■ 5,02 ■ 0,65 ^2,64 .0,17 — 0,65 0,05 Spur Spur 0,81 ,54 SiO, AU)., Fe203 FeO MgO CaO Na20 K,0 H20 Ti"02 CO., P2Ö5 s so3 Cl BaO MnO Li.,0 C Es galt nun die Mengenverhältnisse dieser Gesteine festzustellen und Clarke kam, nach eingehender Würdigung aller Umstände zu der Annahme, daß man bei gleicher Ver- teilung der Sedimente rund um die ganze Erde ihre Mächtigkeit zu höchstens 800 m annehmen dürfe. Daraus läßt sich dann berechnen, daß ihre Masse nur etwa 5% von der gesamten Gesteinsmasse bis zu 16 km II 0 78,66 4,78 1,08 0,30 1,17 • 5,5^ •0,45 s 1,32 § 1,64 • 0,25 5,04 § 0,08 I - 0,07 Spur 0,05 Spur Spur III 0/ /o 5,19 0,81 7,90 42,01 I 0,05 ■ 0,33 ! 0,77 0,06 41,58 0,04 0,09 *" 0,05 0,02 0,05 Spur Tiefe beträgt. Durch einen Vergleich des Mineralbestandes in den Sedimenten und Eruptiven gewinnt man die Ueberzeugung, daß von jenen 5% 4% auf die Tongesteine, 0,75% auf die Sandsteine und nur 0,25% auf die Kalksteine entfallen. Man erhält so folgende mittlere Zusammensetzung der Sedimente: Si02 0/ /o 58,76 A1„03 Fe„03 FeÖ 13,13 3,4i 2,01 MgO 2,53 CaO 5,45 /o Na,0 1,12 K,o 4,60 H20 4,30 CO, 4,80 usw. 3. Mittlere Zusammensetzung der Rinde. Berücksichtigt man diese Resultate und gleichzeitig die chemische Zusammen- setzung des Meerwassers, sowie der Luft, so erhält man als Mittel der chemischen Zu- sammensetzung für die ganze Erdrinde bis zu 16 km Tiefe, das unter I angeführte Resultat: 0 Si AI Fe Ca Mg Na K H Ti C Cl Br P S Ba Mn Sr N Argon F Uebr. Elem. III 0/ /o 85,79 IV 0 /o 23,01 p 0,10 V^o.og §0,08 •^0,03 0,11 0,11 0,09 0,08 0.03 ^0,05 §0,14 ;i,i4 -0,04 10,67 0,002 2,07 0,08 0,09 0,01 75,68 i,3 0,10 0,10 0,47 0,50 Unter II ist die Zusammensetzung der Lithosphäre, unter III die der Hydrosphäre und unter IV die der Atmosphäre beigefügt. II beträgt 93,39%, III 6,58% und IV 0,03% der ganzen Masse. Diesen Zahlen von Clarke hat nun J. folgende beigefügt: H. L. Vogt noch Cr 0,01 Ni 0,005 Li 0,005 Sn 0,000 x — 0,00 x Co 0,0005 J 0,0001 Rb o,ooor o /o Zn, Pb 0,000 x Cu 0,0000 x — 0,000 x Ag 0,00000 x Au 0,000000 x Cd 0,00000 x Jn, Ga 0,0000000 x B, Be 0,00 x Ce, Yt 0,00 x — 0,000 x Th 0,000 x Se 0,000000 x — 0,00000 x 712 Erde (Chemischer Bestand der Erde) -- Erden (Mineralien mit seltenen Erden) Vogt verdanken wir auch eine Kritik der Clarkeschen Resultate und er gibt für dessen Zahlen folgende Genauigkeitsgrenzen: Sauerstoff i 1/20 Silicium ^ yig Aluminium und Chlor : 1/i Eisen, Calcium, Magnesium, Natrium, Kalium dz V.3 Wasserstoff ± V5 Titan, Phosphor, Mangan, Schwefel ^ % Diese Abweichungen ändern natürlich an der Größenordnung der Clarkeschen Zahlen so gut wie nichts. An dieser Stelle mag auch darauf hingewiesen werden, daß Bunsen seinerzeit die mittlere Zusammen- setzung der Granite auch als die mittlere Zusammensetzung der Erdrinde bezeichnet hat und daß diese Zahlen tatsächlich im großen und ganzen mit denen von Clark e übereinstimmen. 4. Erdkern. Dies ist jedoch nur die chemische Zusammensetzung der Erdrinde, I welcher Clarke ein spezifisches Gewicht von 2,7 zuschreibt; die ganze Erde hat aber ein spezifisches Gewicht von 5,57 und daraus j folgt, daß sich die chemische Zusammenset- zung nach dem Erdinnern hin ändern muß. Man hat daher angenommen (vgl. den Artikel „Erdinneres"), daß im Innern der Erde ein metallischer Nickeleisenkern mit einem Radius von 5000 km vorhanden sei, der dann erst von einer 1500 km dicken Silikat- schale umschlossen wäre. Natürlich ist ein allmählicher Uebergang von den leichten Silikaten der Erdoberfläche zu den schwereren der größeren Tiefe und von da zum metalli- schen Kern vorhanden. Für diese Meinung spricht auch die chemi- sche Zusammensetzung der Meteoriten, in denen das gediegene Nickeleisen besonders reichlich ist und in Verbindung mit wesent- lich nur Magnesium- und Eisensilikaten steht (vgl. den Artikel „Meteoriten"). Auch die Erfahrungen der Petrographie machen es wahrscheinlich, daß bei der Ab- kühlung der Erde aus dem Schmelzflusse sich einerseits gediegenes Nickeleisen abge- schieden und im Erdkern gesammelt hat und daß andererseits darüber sich eine Zone befinden muß, deren Zusammensetzung wesentlich den zuerst sich ausscheidenden Mineralien entspricht. Diese aber sind femischer Natur, d. h. sie enthalten vor- zugsweise Magnesium und Eisen. Berücksichtigen wir nun diese Betrach- tungen, dann wären die auf und in der Erde befindlichen wichtigen Elemente der Menge nach in folgende Reihe zu ordnen: Eisen, Sauerstoff, Silicium, Ma- gnesium Aluminium, Calcium, Na- trium, Kalium. Aus den obigen Zusammenstellungen erhellt, daß nur 8 Elemente in erheblicher Menge an dem Aufbau der Erde beteiligt sind. Diese Elemente haben sämtlich ein Atomgewicht, das zwischen 16 und 56 liegt; alle leichteren und alle schwereren Elemente treten stark zurück. 5. Verteilung der Elemente und Mine- ralien. Von den vorhandenen Elementen gehören fünf (K, Na, Ca, AI, Si) hauptsäch- lich der Schale, drei (Mg, Fe, Si) der Ueber- gangszone und eines (Fe) dem Kern an. Diese Erscheinung hat ihren Grund in Saigerungen nach dem spezifischen Gewicht der entstehenden Mineralien. Das Mengen- ,' Verhältnis der Mineralien in den Eruptiven der Erdoberfläche, ist nach Clarke etwa folgendes : 0/ /o Feldspäte und Vertreter . . 59,5 Hornblenden und Augite . . 16,8 Quarz 12,0 Glimmer 3,8 Uebrige Mineralien 7,9 Endlich mag hier noch darauf hingewiesen werden, daß der Erde als ganzem ein durch- aus reduzierender Charakter zukommt, wie dies ja auch bei den vulkanischen Emana- tionen, bei den von den Vulkanen ausge- worfenen schneeweißen Aschen nachgewiesen und bei den stark eisenoxydulhaltigen Laven selbstverständlich ist. Auch den Meteoriten kommt dieser reduzierende Charakter zu. Literatur. F. W. Clarke, The Data 0/ Geo- chemistry, II. Aufl. Washington 1911. — J. H. L. Vogt, Uebcr die relative Verbreitung der Elemente. Ztschr. f. prakt. Geologie 1898. 225, 314, 377, 413. G. Linck. Erden. Als Erden, eigentliche Erden, werden die Oxyde der Erdmetalle (vgl. ,, Erdmetalle") bezeichnet, als „alkalische Erden" die Oxyde der Erdalkalimetalle (vgl. „Erdalkali- metalle"). Erden. Mineralien mit seltenen Erden. I. Allgemeiner Teil. 1. Die als Metalle der seltenen Erden bezeichneten Elemente. 2. Ent- stehungsart und Vorkommen der Mineralien mit seltenen Erden. 3. Ihre technische und wissen- schaftliche Verwendbarkeitlind Bedeutung. IL Spe- zieller Teil. Beschreibung der einzelnen Mineralien. I. Allgemeiner Teil. i. Die als Metalle der seltenen Erden bezeichneten Elemente. Mit der Bezeich- nung „Metalle der seltenen Erden" faßt man heute eine große Anzahl von Elementen zu- sammen. Man rechnet zu ihnen das Zirko- nium, das Thorium, die Gruppe des Erden (Mineralien mit seltenen Erden) 713 Ytterbiums und die Gruppe des Cers. Zur Gruppe des Cers gehören außer diesem selbst die Elemente Lanthan, Praseodym, Neodym und Samarium. Zur Gruppe des Ytterbiums zählt man das Europium, Gadolinium, Terbium, Dysprosium, Holmium, Erbium, Thulium, Yttrium, Ytterbium, Scandium. Diese Auf- zählung der Metalle der Ytterit- und Ceriterden ist aber sicherlich noch nicht vollständig, es gehören zu ihnen noch viel mehr Elemente; doch sind diese vorläufig nicht isoliert und in ihren Eigenschaften ge- nügend bestimmt. Unsere Kenntnisse sind hier eben noch lückenhaft und zwar des- wegen, weil diese Erden in allen ihren Eigen- schaften außerordentlich nahe miteinander verwandt sind, und es große Schwierigkeiten macht, sie von einander zu trennen. Aus dem gleichen Grunde kommen sie auch in der Natur immer zusammen vor. In einem Mineral, das eine Ytteriterde enthält, lassen sich auch alle anderen in größerer oder geringerer Menge nachweisen und das gleiche gilt für die Ceriterden. Die hier zu besprechenden Mineralien können wir daher chemisch zunächst einmal in 4 Gruppen einteilen; und zwar in 1. die Mineralien des Zirkoniums, 2. des Thoriums, 3. der Ytterit- und 4. der Ceriterden. 2. Entstehungsart und Vorkommen der Mineralien mit seltenen Erden. Die wich- tigsten Vertreter der beiden ersten Gruppen sind Sauerstoff Verbindungen wie der Zir- kon, die der beiden letztgenannten Phos- phate wie Monazit, Xenotim usw. Da aber Zirkonium, Th o r i u m und die anderen seltenen Erden auch wiederum untereinander große Aehnlichkeit aufweisen, sind Minerahen, die alle 4 Elemente oder Elementgruppen zusammen enthalten, außerordentlich zahl- reich. Infolgedessen sind ferner alle diese Mineralien auf die gleiche Weise entstanden. Soweit es sich um primäre Minerahen handelt, finden sie sich ausschließlich in Eruptivge- steinen,Graniten, Pegmatiten usw. Früher waren die Hauptfundstellen Schweden, Nor- wegen und das Ilmengebirge im Ural. Heute sind die nichteuropäischen Fundorte viel ertragreicher, nämlich erstens die Ver- einigten Staaten, und zwar von diesen Nord- und Südcarolina, Virginia, Idaho, Colorado und Texas, und zweitens Brasilien. Aber auch in allen anderen Teilen der Erde treffen wir die seltenen Erden an. Sie sind, wenn auch meist nur in geringerMenge, außerordent- lich weit verbreitet. Das hat sich besonders in den letzten Jahren, seitdem man diesen Minerahen ein erhöhtes Interesse zugewandt hat, immer wieder gezeigt. Früher schienen | sie nur selten, weil man nicht nach ihnen ge- sucht hatte. Heute ist das anders geworden; sowohl in der Technik, wie in der Wissenschaft spielen die seltenen Erden eine große Rolle. 3. Die technische und wissenschaft- liche Verwendbarkeit und Bedeutung der Mineralien mit seltenen Erden. Die Mine- ralien mit seltenen Erden werden in großem Maße verwendet zur Herstellung der Glüh- strümpfe des Gasglühlichts, der Nernstlampen usw. Außerdem sind sie auch außerordent- lich wichtig als Ausgangsmaterial zur Ge- winnung der Radioelemente. So hat z. B. 0. Hahn aus dem Thorianit zum ersten Male das sehr aktive Radiothorium abge- schieden. In der folgenden Einzelbeschreibung sind die Mineralien nachdem System von Groth geordnet. II. Spezieller Teil, a) Sauerstoff Verbindungen. DasZirkon- oxyd kommt als Mineral sehr selten vor; es kristallisiert monoklin, hat die Härte 6,5, das spezifische Gewicht 5 und trägt den Namen Baddeleyit. Sehr viel wichtiger ist dagegen der Zirkon. Er kristallisiert tetragonal und ist isomorph mit Zinnstein, Rutil, Thorit und Polianit. Die Kristalle sind meist säulenförmig oder pyramidal ausgebildet. Die Basis tritt sehr selten auf. Das Mineral spaltet nach (111) und (110), zeigt einen muscheligen Bruch, hat die Härte 7% und besitzt lebhaften Glasglanz. Seine Farbe ist nicht sehr charakteristisch; meist ist sie braun- rot, seltener gelb oder grün. Die Lichtbrechung des Zirkons ist stark und ebenso die Doppelbrechung. Seine chemische Zusammensetzung wird durch die Formel ZrSi04 ausgedrückt. Der Zirkon ist weit verbreitet in Graniten, Quarzpor- phyren, in kristallinen Schiefern und endlich auch in Sandsteinen. Ist er durchsichtig und gelblichrot gefärbt, so wird er unter dem Namen Hyazint als Edelstein geschätzt. Vor allen Dingen aber verwendet man ihn zur Ge- winnung von Zirkono xyd für die Nernstlampen. Dem verwitterten Zirkon hat man öfters neue Namen gegeben, wie: Malakon, Cyrtolit, Tachyaphaltit, Ostranit, Oerstedit und Auerbachit. Kristallographisch dem Zirkon sehr ähnlich | ist der Naegit. Er enthält aber außer Zr auch \ Th und Ytterbium. Seine nähere Untersuchung steht noch aus. Das thoriumreichste Mineral ist der Tho- rianit; er enthält bis zu 79 °0 ThÜ,; daneben I U02 und Ceriterden. Die dem Zirkon analog zusammengesetzte Th- Verbindung, ThSi04, heißt als schwarzes Mineral Thorit, als gelbes Orangit. Diese letzte Varietät ist außerdem schwerer als die erste, was daher kommt, daß ThSi04 nie rein in der Natur vorkommt, sondern erstens immer wasserhaltig ist und zweitens Beimengungen I von Uran, Mangan, Cer, Zinn und Blei in wechselnder Menge enthält. Im übrigen sind die physikalischen Eigenschaften des Thorit- Orangit denen des Zirkon sehrähnlich. Kristall- system ebenfalls tetragonal. Auch die Art des '14 Erden (Mineralien mit seltenen Erden) Vorkommens ist die gleiche. Nur ist eben der Zirkon viel häufiger. Auch vom Thorit gibt es eine ganze Reihe meist amorpher Umwand- lungsprodukte, wie Auerlith, Uranothorit, Calciothorit, Eukrasit und Freyalith. b) Haloide. Von Haloiden der seltenen Erden kommen in der Natur nur Fluorver- bindungen vor. Schon ziemlich lange bekannt ist der Tysonit (Ce,La,Di)F3, der hexagonal kristallisiert. Ferner ist zu nennen der Yttro- cerit, der bis zu 20% Fluorverbindungen von Cerit- und Ytteriterden, ferner Fluorcal- cium und Wasser enthält. Hierher gehören ferner der Fluo cerit (CeLaDi)2OF4, Kristall- system hexagonal, ebenso dessen wasserhaltiges Verwitterungsprodukt, der Hydrof luocerit; ferner der Bastnäsit(CeLa)2F6+(CeLa)203 + C02 mit etwas Di, außerdem der Parisit CaF2 + Ce203+3C02 und der Kischtimit, der jeden- falls nur ein zersetzter Parisit ist. Es gibt auch noch einen bariumhaltigen Parisit, der den Namen Cordylit trägt; und ein an Ca reiches Cermineral, Synchisit, CeFCa(C03)2. Zu dieser Reihe ist neuerdings der an Ytter- erden reiche Yttrofluorit hinzugekommen. c) Karbonate. Schon Bastnäsit und Parisit enthalten neben Fluor auch Kohlen- säure, so daß man sie auch zu den Carbonaten zählt. Zu diesen gehören aber vor allem der Weibyeit, der nach der Analyse von Brögger aus 67 % Ceriterden und aus CO», Ca, Sr, Fe besteht, Kristallsystem rhombisch; ferner der Ancylit, ein basisches Cer- und Sr-Carbonat, und endlich der Lanthanit, ein wasserhaltiges La-Carbonat von der Zusammensetzung La,(C03)3+9H20. — Diese drei Mineralien sind aber außerordentlich selten. Sie kommen immer zusammen mit den oben erwähnten Fluor- verbindungen vor, aus denen sie durch Zer- setzung entstanden sind. d) Uranate. Unter den Uranaten ist für uns das zu: Radiumgewinnung so sehr gesuchte Uran - pecherz das wichtigste (vgl. auch den Artikel „Radioaktive Mineralien"). Zwar gibt man gewöhnlich an, der Uraninit, wie man das Üranpecherz nennt, sei einfach Uranoxyd, (U308). Es enthält aber meistens mehr oder weniger große Mengen von seltenen Erden, speziell von Thorium, Cer und Ytterbium. Kristallsystem regulär. Nichts anderes als Pech- erz mit Beimengungen von Y, Er, Ce und Th ist auch der regulär kristallisierende, in Oktaedern vorkommende Cleveit und Nivenit. Bröggerit enthält außer Uran eigentlich nur noch Thorium- oxyd. e) Phosphate. Zu dieser Rubrik gehören, wie schon erwähnt, die häufigsten und bekann- testen unter den Cerit- und Ytteriterden. Der Xenotim oder Ytterspat ist Yttriumortho- phosphat von der Formel YP04; doch enthält er auch Er, Ce und N. Seine kleinen Kristalle sind tetragonal und dem Zirkon, mit dem sie häufig^ zusammen vorkommen, recht ähnlich. Xenotim scheint aus einem Hussakit ge- ten Sulphatophospbat entstanden zu aus dem die Schwefelsäure bis auf Reste aus- urde. Auch ein dem Xenotim nahe Yttrium niobattantalat kommt vor, der Fergusonit Y(NbTa)04, und zwar meist mit einem geringen Gehalt an Ce, Ur, Th, Zr und He. Kristalls ysteni tetragonal. Der Sipylit ist wesentlich niobsaures Er und wahrscheinlich isomorph mit dem Fergusonit. Doch all diese Mineralien sind von geringer Be- deutung gegenüber dem Monazit, dem Cer-Lan- than-phosphat, das nach der Formel (CeLa)POt zusammengesetzt ist und wechselnde Mengen von Thorium führt. Es ist heute das weitaus wichtigste Material zur Gewinnung der Cerit- erden und des Thoriums. Er kristallisiert monoklin, hat einen muscheligen Bruch, Fett- glanz, die Härte 5 und eine meist rotbraune Farbe. Außer in Eruptivgesteinen trifft man ihn vor allen Dingen auf sekundärer Lagerstätte, im Schwemmsand der Flüsse. Besonders wichtig sind da die brasilianischen Ablagerungen in den Sandbänken an der Seeküste der Provinz Bahia. Aber auch Nord- und Südcarolina liefern große Mengen Monazit. Der schon früh entdeckte Mikrolit ist eigentlich ein Kalkniobat; doch ist das Calcium bei ihm häufig durch seltene Erden ersetzt. Kristallsystem regulär. Auch Koppit (Ca2Nb207) ist meist reich an seltenen Erden und der Yttrotantalit ist praktisch reines Y4(Ta207)3. Ihm ähnlich ist Hjelmit, für den man noch keine bestimmte Formel an- geben kann. Er enthält Y und Ce. Chemisch ist ihm Samarskit sehr ähnlich, der ebenfalls ein Y-undEr-haltiges Niobatist. Kristalls ystem rhombisch. Zwischen ihm und dem erwähnten Yttrotantalit steht der Plumboniobit, wie der Name sagt, ein Bleiniobat, das ebenfalls Y enthält. Dem Samarskit stehen der Nohlit und der Anner ödit, dessen Zersetzungsprodukt der Rogersit ist, sehr nahe. In diese Gruppe gehört ferner der Risörit, dessen Hauptbestand- teile Yttrium und Niob sind. Endlich ist noch zii erwähnen, daß Columbit, Niobit und Tantalit manchmal geringe Mengen seltener Erden enthalten. f) Wasserhaltige Phosphate. Gegenüber den wasserfreien sind die wasserhaltigen Phos- phate von ganz untergeordneter Bedeutung. Früher hat man nur Rhabdophan und Sco- villit gekannt, deren Zusammensetzung etwa durch die Formel (La,Di,Y,Er)203P,05 + H,0 gekennzeichnet wird. In neuerer Zeit ist da hinzu- gekommen: der Florenzit, ein Al-Ce-Phos- phat, das mit 6H20 kristallisiert, der trikline Anapait von der" Formel Ca,Fe(P04)2+4H20 und der Gorceixit mit Spuren von Ce. Den Erikit könnte man auch zur nächsten Gruppe rechnen, denn er enthält neben Phosphor auch Kieselsäure und an seltenen Erden Ce, Di und La. g) Basische Silikate. Zu dieser Gruppe gehören zunächst die sehr seltenen Mineralien: Cappelenit, Britholit, Melanocerit, Ka- ryocerit und Tritonit. In enger Beziehung zu ihnen scheint auch der Steenstrupin zu stehen. Sie weisen alle einen Gehalt an Bor oder Fluor und an seltenen Erden auf und finden sich in den Augitsyeniten des südlichen Norwegens. Viel häufiger ist der Gadolinit, der mit dem Datolit isomorph ist, also auch mono- klin kristallisiert. Seine Formel ist FeBe2Y2Si2010. Er ist meist pechschwarz, kommt in Norwegen und außerdem in Schreiberhau im Riesengebirge und im Radautal im Harz vor. Ein Zersetzungs- produkt von ihm ist wahrscheinlich der Yttrialit. Erden (Mineralien mit seltenen Erden) - - Erdfälle 715 Mit dem Gadolinit ist der ebenfalls Ge-haltige Homilit isomorph. Ferner ist hier noch zu nennen der Erdmannit, dessen Eigenschaften aber vorläufig noch nicht genügend bestimmt sind und der vielleicht ein Verwitterungsprodukt des Homilit ist. Ein Mineral von sehr kom- plizierter und dabei auch schwankender Zu- sammensetzung ist der Orthit. Er gehört zur Gruppe des Epidot und ist ein wasserhaltiges Cer-Calcium-Aluminiumsilikat mit gerin- gen Mengen von Di, La und Y. Er kristallisiert monoklin, ist pechschwarz, hat die Härte 5,5 und zeigt Fettglanz. Der Orthit, der auch als Allanit bezeichnet wird, ist außerordentlich weit verbreitet. Als akzessorischen Gemengteil findet man ihn in Graniten, Syeniten, Dioriten und recht häufig auch im Tonali t des Adamello. Auch in den Auswürflingen des Laacher Sees kommt er vor. Ihm nahe ver- wandt ist der Piemontit oder Mangan- Epidot. Nur enthält er viel geringere Mengen von seltenen Erden, meist nur bis zu etwa 2%. — Recht häufig ist der auch zu den Epidot- mineralien gerechnete Cerit oder Cerinstein; er kristallisiert rhombisch, doch sind seine Kri- stalle selten. Meist findet man ihn in feinkörnigen Aggregaten, graubraun gefärbt; er hat Fettglanz und wird durch Salzsäure zersetzt. Er besteht bis zu 60 %, ja manchmal bis zu 70% ans seltenen Erden. Außerdem enthält er Ca, Wasser und Kieselsäure. Er ist eines der Mineralien, in denen man zuerst seltene Erden gefunden hat. Die dem Cerit entsprechende Verbindung, die an Stelle der Cerit- Yttererden enthält, kommt in der Natur nur sehr spärlich vor und wird K a i n o s i t genannt. Außerdem steigt der Gehalt an Ytter- erden beim Kainosit nur bis zu 35%. Ihm stehen zwei weitere, an Yttererden reiche Mine- ralien, Rowlandit und Thalenit, nahe. h) Orthosilikate. Der sogenannte Ytter- granat enthält ebenfalls Ytteriterden und Zirkonium. In Deutschland wurde er als Ein- schluß in einem Granitgange an den Kochel- wiesen bei Schreiberhaii gefunden. i) Metasilikate. Von Metasilikaten sind bis jetzt vier Mineralien bekannt, die bis zu 20% Zirkonium, aber auch geringe Mengen von Ceriterden enthalten. Es sind das die mono- klinen Mineralien Rosenbuschit, Lavenit und Wöhlerit und der dem triklinen Kristall- system angehörige Hiortdahlit. k) Polysilikate. Zu den Polysilikaten ge- hört zwar eine große Anzahl von Mineralien; doch sind dies keine sonderlich wichtigen. Nichts anderes als Titanitvarietätcn sind die Mineralien Yttrotitanit, Eukolit-Titanit, Alshedit. Sie enthalten etwa 2 bis 3% seltene Erden. Nur eben erwähnt werden sollen die 3 Mineralien Mo- sandrit, Johnstrupit und Rinkit, die man auch am besten zur Titanitgruppe stellt. Kristall- system monoklin. Sie sind sehr selten und ent- halten bis zu 25% Ceriterden. Ihnen ist in jeder Beziehung der Tscheffkinit sehr ähnlich. - Auch der Zirkel it gehört hierher, der zur Hälfte aus Zirkon besteht. Kristallsystem regulär. Ein tonerdehaltiger, aber thor- und eisenfreier Zirkelit ist der Uhligit. Zum Gegensatz von Katapleit und Elpidit, die sehr zirkonerde- reich sind, enthält der Leukosphenit nur 3% hiervon. — Ferner zählt zu den Titanaten der Delorenzit. Seine sehr komplizierte Formel weist unter and eren auch Y auf. I m Y 1 1 r o k r a s i t , einem wasserhaltigen Titanat, hat man außer Y auch Th nachgewiesen. Erwähnenswert ist ferner Eudialyt, mit einem Gehalt von 10%, Zirkon- und 3 bis 5%, Ceriterden. Von diesem Mineral findet sich außer großen rötlichen, hexagonalen Kristallen noch eine weniger gut ausgebildete Abart, die eine braune Farbe aufweist und den Namen Enkolit führt. Zwei Varietäten des Perowskit, nämlich der Knopit und der Dysanalyt, enthalten ebenfalls 5% Ceriterden, während einige weitere Abarten dieses Minerals, nämlich Pyro chlor, Endeiolit, Hatchettolit und der erst seit kurzem bekannte Merignacit einen geringeren Prozentsatz, manchmal nur 2%, an Cergehalt aufweisen. An dieser Stelle reiht man wohl auch am besten den neu entdeckten Beckelit ein, dessen Zusam- mensetzung durch die Formel Ca,(Y,Ce,La,Di)4 (SiZr)sOt5 repräsentiert wird. Euxenit, der wieder etwas häufiger auftritt, als die eben er- wähnten Mineralien, ist im wesentlichen ein Titanat und Niobat mit Zusätzen von Y, Er und Ce, wozu noch N02, FeO und He tritt. Er wurde schon früh in Norwegen entdeckt, kristalli- siert rhombisch, doch sind seine Kristalle selten. Ihm ähneln Polykras und Loranskit; und auch Aeschynit unterscheidet sich von ihm wahr- scheinlich nur dadurch, daß er an Stelle von Uran Thorium enthält. Der Polymignyt endlich ist bis auf einen 14%-Gehalt an Zirkon- erde wiederum mit dem Aeschynit identisch. Ebenso wie die Euxenit-Polykras-Mine- ralien sind die untereinander isomorphen Blom- strandin und Priorit zusammengesetzt. Jedenfalls stehen sie zu den ersteren im Ver- hältnis der Dimorphie. Die neuentdeckten Mineralien Hellandit (monoklin) und Thortveitit (rhombisch) sind Polysilikate der Ytteriterden. Damit sind die bis heute bekannten Mineralien der seltenen Erden erschöpft. Aus dieser Zusammenstellung selbst geht wohl am deutlichsten hervor, wie häufig diese „seltenen" Erden eigentlich sind, besonders wenn man in Betracht zieht, daß sie auch schon in Mineralien, wie Apatit, Feldspat uws. öfters nachgewiesen worden sind. Literatur. Abeggs Handbuch der Anorganischen Chemie III, 1. — Groth, Tabellarische lieber- sieht der Mineralien. — Schilling, Das Vor- kommen der seltenen Erden im Mineralreich, — Schna ntke, Neue Mineralien, Fortschritte der Mineralogie) Kristallographie und Petrographie. Bd. I und II. A. Ritzel. Erdfälle meist kreisförmige oder elliptische mehr oder weniger große Vertiefungen der Erdober- fläche, welche durch die Auslaugung unterirdi- scher löslicher Gesteine (wie Gips oder Stein- salz) und den Einsturz darüber liegender Ge- steinsmassen entstanden sind, (vgl. den Artikel „Meteorwasser"). 716 Erdinneros Erdinneres. 1. Stofflicher Bestand. 2. Temperatur des Erdinnern. 3. Zustand des Erdinnern: a) Gas- förmig, [b) Flüssig, c) fest. i. Stofflicher Bestand. Der direkten Beobachtung ist nur ein verschwindend kleiner Teil. der Erdoberfläche zugänglich. Ueber alle Stoffe jenseits dieser dünnen Kruste müssen wir auf Umwegen einen Aufschluß zu erlangen suchen, wobei uns zunächst die Beobachtungen über die mittlere Erd- dichte behilflich sein werden. Zur Beobach- tung der mittleren Erddichte sind verschie- dene Methoden angewandt worden. Bei der ersten vonNewton vorgeschlagenen beobach- tet man die Ablenkung eines Bleilotes durch einen Berg, dessen Masse und Gestalt be- kannt sind. Die zweite Methode benutzt die | Beobachtung von Pendelschwingungen am Fuße und auf dem Gipfel eines Berges, oder an der Erdoberfläche und in einem Schacht. Der Nachteil dieser Methoden besteht darin, daß man zur Berechnung die Masse und Dichtigkeit eines Berges oder einer Erd- schicht benutzen muß, die trotz aller Sorgfalt nicht genau zu ermitteln sind. Um diese Fehlerquelle zu beseitigen, benutzte Caven- dish die sogenannte Drehwage, während die neuesten Beobachtungen fast ausschließlich mit der Wage ausgeführt werden. Als letzte Methode sei die Wilsingsche Pendelmethode erwähnt. Die von den verschiedenen Forschern er- haltenen Werte sind aus folgender Tabelle ersichtlich. Beobachtungsjahr Mittlere Erddichte Beobachtungsmethede Maskelyne und Hutton . . James Carlini nach Schmidt Mendenhall nach Fresdorf Airy Haughton Sterneck nach Helmert Cavendish Reich Baily berichtigt Cornu-Baille Yolly Poynting Richarz, Krigar-Menzel . . Wilsing 1775—1778 1856 1824 1881 1856 1856 1883 1798 /1838 \1850 1843 1873 1880 (1878 \1891 1896 (1887 \1889 Aus den neueren, möglichst fehlerfreien Beobachtungen ergibt sich, daß die mittlere Erddichte zwischen 5,4 und 5,7 liegt. Dieser Wert ist bedeutend höher als die Dichte der die äußere Kruste zusammensetzenden Ge- steine. Das spezifische Gewicht der Diorite, die etwa der Zusammensetzung der äußeren Kruste entsprechen, ist etwa 2,8; auch haben die Feldspate, die etwa 59% der eruptiven Erdkruste ausmachen, nur eine Dichte von 2,5 bis 2,8, der Quarz mit 12% eine solche von 2,7 und die Hornblenden und Augite mit ., eine Dichte von 3,1 bis 3,5. Da die mittlere Dichte der Erde etwa doppelt so als die mittlere Dichte der äußeren Kruste, so müssen sich in den inneren Par- tien unserer Erde bedeutend dichtere Massen f4,48 U,95 5,3i6 ±0,054 4,39 4,837 5,77 5,667 6,566 ± 0,0182 5,48 5,77 5,7J 5,48 5,43 ± 0,0233 5,583 5,66 5,55 5,56 5,692 ± 0,068 5,69 ±0,15 5,4934 5,505 ± 0,009 5,594 ± 0,032 5,577 ± 0,013 Lotablenkung ,, Pendel , ! 5, Drehwage Wage Pendel vorfinden und zwar müssen sie nicht nur dichter sein als die an der Oberfläche, sondern auch dichter als die mittlere Erddichte. Die hohe mittlere Erddichte ist auf zweierlei Art zu erklären versucht worden. Von einer Anzahl von Forschern (Laplace, Lipschütz, Dar- |win, Callandreau, Helmert, Tumlirz) sind Dichteges'etze aufgestellt worden, die alle von der Voraussetzung ausgehen, daß die Dichte von der Oberfläche stetig bis zum Mittelpunkt zunimmt. Dabei ergibt sich j eine zentrale Erddichte von 9,5 bis 11. Vom Standpunkt der Mathematik und Astronomie läßt sich gegen diese Gesetze nichts einwenden. ! Es läßt sich aber die hohe mittlere Erddichte ! auch noch auf eine andere Weise erklären, I die ebenso wie die angeführten Dichtegesetze Erdinneres 717 - mit den Erfahrungen der Astronomie und Mathematik in Einklang zu bringen ist, dafür aber den Vorteil hat, daß sie mit den geo- logischen Tatsachen, besonders wenn man die Entstehung der Erde berücksichtigt, besser übereinstimmt. Ich halte die Annahme von Dana undWiechert, daß die Erde aus einem Eisenkern mit einer relativ dünnen Steinkruste bestehe, für besser als die, daß die Dichte von außen nach innen kontinuier- lich zunehme, denn für die zweite Hypothese haben wir keinen Beweis, für die erste sprechen aber verschiedene, noch näher zu erörternde Umstände. Wiechert nimmt als mittlere Erddichte 5,58 und als Dichte des Steinmantels 3,2 an und erhält als Dichte des Metallkerns Werte, die nur wenig über 7,8, der Dichte des Eisens liegen. Er schließt daraus, daß der Kern unserer Erde haupt- sächlich aus metallischem Eisen bestehe, dessen spezifisches Gewicht infolge des großen Druckes etwas höher sei, als an der Ober- fläche. Für einen Eisenkern gerade spreche auch die große Verbreitung des Eisens in den Meteoriten und im Sonnenspektrum. Die Dicke des Steinmantels sei etwa 1400 km (Vs Erdradius), jedenfalls sei sie nicht kleiner als 1200 km und nicht größer als 1600 km. Unter diesen Voraussetzungen stimmt die berechnete Erdabplattung mit der beob- achteten gut überein. Zwischen Kern und Steinkruste nimmt Wiechert eine dünne, plastische Steinschicht an, und zwar sowohl wegen der Vulkane, als auch weil sich bei Erdbeben die Erschütterungswellen längs der Erdrinde fortpflanzen, was nur bei einer durch eine nachgiebige Schicht von dem festen Kern getrennten Kruste möglich ist. Eine Hauptstütze für Wiecherts Ansicht sind die Resultate der Spektralanalyse und . die Erkenntnis, daß die Meteoriten Bruch- stücke von anderen Weltkörpern unseres jRranete»systems sind. Beide beweisen uns, /''daß die auf der Erde in größeren Mengen vorhandenen Elemente auch auf den übrigen Weltkörpern in größerer Masse vorhanden sind. Die Meteoriten bestehen in der Haupt- sache aus eisenreichen Verbindungen, zum Teil fast ganz aus Nickeleisenlegierunsen, während die Steinmeteoriten der Masse nach dagegen sehr zurücktreten. Dieses Verhältnis von Eisen zum Silikat läßt sich leicht er- klären, wenn man bedenkt, daß diese Welt- körper nach der Kant-LaplaceschenTheorie aus Gasen entstanden sind, die sich bei fort- schreitender Abkühlung zu Dämpfen und Flüssigkeiten kondensiert haben. Mit dieser Kondensation ging eine Sonderung nach dem spezifischen Gewicht Hand in Hand. Zu oberst schwammen die eisenarmen Silikate, darunter folgte eine ziemlich dünne mit Eisen gesättigte Silikatschicht; und den Kern bildete gediegenes Eisen, was von den Silikaten nicht mehr aufgenommen werden konnte. In gleicher Weise müssen auch die Vorgänge auf unserer Erde sich abgespielt haben. Daß es bisher noch nicht gelungen ist auf der Erde gediegenes aus dem Erdinnern stammendes Eisen nachzuweisen, ist kein Beweis gegen die eben erörterte Ansicht, wenn wir bedenken, daß die Laven, welche die Erd- oberfläche erreichen, ihrer Temperatur nach nur aus Tiefen von 60 bis 100 km stammen können, während ja nach Wiechert die eisen- reiche Zone erst in etwa 1400 km beginnt. Auch die Erdbebenbeobachtungen sprechen für Wiecherts Ansicht, daß die Erde aus einer Silikatkruste und einem Metallkern bestehe. Man beobachtet bei den Erdbeben ver- schiedene Stöße. Der erste Stoß geht durch das Erdinnere mit einer Geschwindigkeit von 9,2 km pro Sekunde; er ist infolge der Reibung in dem stark komprimierten In- neren sehr schwach. Der zweite scharfe Stoß geht bei größerer Entfernung mit 3,4 km Ge- schwindigkeit pro Sekunde viel weniger ge- schwächt längs der Erdrinde; mitunter kommt er noch einmal, jedoch stark geschwächt, wo- bei er dann wahrscheinlich auf dem längsten Wege rund um die Erde gegangen ist. Bei kleinen Entfernungen fehlt oft der erste Stoß und die Geschwindigkeit des zweiten Stoßes kann sich bis auf 2 km erniedrigen, wenn die Fortpflanzung in lockeren Schichten vor sich j geht. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit i eines Stoßes in einem Quarzberg ist zu 3,6 km | berechnet worden. Dieser Wert stimmt gut mit dem beim zweiten Stoß gefundenen überein, wie es auch zu erwarten ist, da die Erdkruste in der Hauptsache aus Silikaten besteht. 2. Temperatur des Erdinnern. Wir wissen, daß die Wärme nach dem Erdinnern ungefähr um 1° C auf 33 m zunimmt (vgl. den Artikel „Erdwärme"). Demnach müßte in etwa 40 km Tiefe eine Temperatur vorhanden sein, bei der alle uns bekannten Gesteine schmelzen würden, wenn nicht der Schmelz- punkt mit wachsendem Druck zunähme. Barus hat nachgewiesen, daß bei Diabas der Schmelzpunkt für 40 Atmosphären (an- nähernd 155 m Tiefe) um 1° C steigt. Dem- nach würde die feste Erdrinde höchstens eine Dicke von 50 bis 60 km haben können. Eine genaue Temperaturangabe für das Erd- innere läßt sich nicht machen, jedoch soll versucht werden, die untere und obere Grenz- temperatur anzugeben. Die niedrigste Tem- peratur, die in den zentralen Partien unserer Erde möglich ist, muß sicher höher sein als der Schmelzpunkt irgendeiner von den Vul- kanen ausgeworfenen Lava, also höher als 1000 bis 1400°. Da nun diese Laven aus peripherischen Herden und nicht direkt aus dem Erdinnern kommen, so haben sie schon einen Teil ihrer Wärme auf dem Wege vom 718 Erdinneres Inneren bis zum Herd und von da bis zur Oberfläche verloren; ferner wird aber auch Wärme beim Entweichen der Gase aus dem Magma verbraucht, so daß man nicht fehl- gehen wird, wenn man als untere Grenz- temperatur für das Erdinnere mindestens 2000 bis 3000° annimmt. Schwieriger ist es, eine obere Temperaturgrenze anzugeben. Das eine ist wohl sicher, daß die höchste zu erwartende Temperatur unterhalb der kri- tischen Temperatur der Stoffe liegen muß, die im Inneren in größerer Menge vorhanden sind, denn erst, nachdem die Temperatur so weit gesunken war, konnte eine Sonderung nach- dem spezifischen Gewicht eintreten, während die Stoffe im überkritischen Zustand voll- ständig gemischt waren. Da experimentelle Bestimmungen über die kritischen Tempera- turen von Metallen nicht existieren, so sind wir auf die theoretisch von Guldberg ge- fundenen Werte angewiesen. Er berechnet aus der absoluten kritischen Temperatur des Quecksilbers (1000°) für die übrigen Metalle gende Werte: cj Cu 39000 Pb 20000 Ag 36000 Sb 58000 Au 43000 Bi 46000 Zn 26000 Fe 52000 Cd 25000 Pd 57000 AI 30000 Pt 70000 Sn 30000 Wenn diese Werte nicht allzusehr von den wahren abweichen, so wird man als obere Grenze der Innentemperatur höchstens 7000 bis 8000° C annehmen können. Innerhalb dieser Grenzen von 2000 bis 8000° C dürfte dann die innere Erdtemperatur sicher liegen. 3. Zustand des Erdinnern. 3a) Gas- förmig. Die größten Meinungsverschieden- heiten herrschen unter den einzelnen For- schern über den Zustand des Erdinnern. Die einen behaupten es sei fest, die anderen es sei flüssig und die dritten es sei gasförmig. Die Hypothese vom gasförmigen Erdinnern versuchte zuerst Ritter mit Hilfe der mecha- nischen Wärmetheorie zu begründen. Aus- gehend von der Annahme, daß das M ariotte- Gay-Lussac sehe Gesetz für Gase selbst bei den höchsten Drucken und Temperaturen noch Gültigkeit hat, findet er für eine mit der Erde hinsichtlich der Größe und Massen- verteilung übereinstimmende Gaskugel eine zentrale Dichte gleich der 3,91-fachen mitt- leren Dichte. Seine weiteren Berechnungen ergeben im Zentrum einen Druck von 31560 Millionen kg und eine Temperatur von 103 400°. Bei einer so enorm hohen Temperatur würden alle auf der Erde vorhandenen Stoffe über- kritisch sein, sich also durch keinen Druck verflüssigen lassen. Ritter schließt daraus, daß die Erde aus einer festen Kruste und einem gasförmigen Kern bestehe, dessen innerste Partien infolge von Dissoziation die isolierten Grundstoffe bilden. Er kommt ferner noch zu dem merkwürdigen Resultat, daß bei einer der Erde gleich großen Gas- kugel Wärmeentziehung keineswegs mit Temperaturabnahme im Innern verbunden ist, sondern daß von der durch die Gravi- tationsarbeit erzeugten Wärme nur 18,7% durch Strahlung verloren gehen, während 81,3% zur Temperaturerhöhung verwendet werden. Dieses Resultat läßt sich aber nicht unmittelbar auf die Erde übertragen, sondern es müßte erst nachgewiesen werden, ob bei der Erde Wärmeverlust und daraus folgende Kontraktion mit Temperaturerhöhung ver- bunden ist oder nicht. Ritter ist der Ansicht, ; es ließe sich weder dies noch das Gegenteil beweisen. Auch Zöppritz sprach sich für ein gasförmiges Erdinnere aus. Er ist : der Ansicht, daß die Dichte- und Temperatur- beobachtungen bei der geringen, uns erreich- baren Tiefe für das Verhalten in den zen- tralen Teilen nicht maßgebend sein können, sondern sich vielmehr mit den verschiedensten Ansichten über das Erdinnere vertragen. Die Abplattung der Erde sei kein Beweis für ein flüssiges Innere, da eine elastische Kugel von der Größe der Erde bei gleicher Rota- tionsgeschwindigkeit ebenso deformiert würde. Die mittlere Dichte spräche ebenso wie die Präzession für eine Dichtezunahme nach dem Erdinnern. Hopkins hat zuerst den Versuch gemacht, die Präzession zu be- rechnen, indem er verschiedene Annahmen über den Zustand des Erdinnern macht. Er kommt dabei zu dem Resultat, daß man nur unter der Voraussetzung einer sehr ' starren Erdkugel die in Wirklichkeit beob- achteten Präzessionserscheinungen erklären kann. Darwin hat jedoch später nachge- : wiesen, daß nicht die Präzession, sondern j die Nutation entscheidend sei. Er kommt aber zu dem gleichen Resultat, daß die Erde einen sehr hohen Grad von Starrheit besitzen muß. Von gleicher Wichtigkeit, um einen Auf- schluß über das Erdinnere zu erlangen, wie die Präzession und Nutation, sind die Gezeiten. Thomson ging von der Ueberlegung aus, daß die Anziehung von Sonne und Mond nicht nur auf die Wassermassen der Erd- oberfläche einen Einfluß ausübt, sondern auch auf die feste Erdrinde. Die Wirkung dieser attraktiven Kräfte, die man bei den Meeren schon lange unter dem Namen der Gezeiten kennt, ist bei der festen Erde um so größer, je geringer die Krustendicke und je geringer die Starrheit der ganzen Erdmasse ist. Da keine Substanz absolut starr ist, so muß die Erdoberfläche bis zu einem gewissen Grade diesenKräften nachgeben. Daß es bis jetzt nicht gelungen ist, diese Deformationen der festen Erdrinde nachzuweisen, ist kein Beweis gegen ihre Existenz, wohl aber ein Beweis gegen die Erdinneres 719 Annahme, die Erde bestehe aus einer dünnen Kruste mit einem flüssigen Innern; denn dann würde von Ebbe und Flut des Meeres nichts zu merken sein, sondern Land und Wasser würden sich gleichzeitig alle 12 Stunden um einige Fuß heben und senken. Selbst wenn die Starrheit der Erde gleich der des Glases oder Stahles wäre, so würde sie doch noch 3/5 bezw. x/3 mal soviel nach- geben, als wenn sie flüssig wäre. Es ist daher wahrscheinlich, daß die Starrheit der Erde größer als die des Glases ist. G. Dar- win zieht aus seinen Untersuchungen den Schluß, daß die Erde viel starrer sein müsse als Pech bei 0° und daß sie auch nicht etwa aus einer 100 km dicken Kruste, die ein flüssiges Innere umschließt, bestehen könne, da sie in beiden Fällen der Anziehung von Sonne und Mond fast wie eine Wasserkugel folgen würde. Wäre die Erde starr, so müßten besonders die Gezeiten von lans;er Periode sehr nahe mit der Theorie übereinstimmen. Die Beobachtungen haben aber gerade das Fehlen von Gezeiten langei Periode ergeben, was sich nur dadurch erklären läßt, daß die festeErde nicht starr ist, sondern selbst Gezeiten hat. Da aber Fluten kurzer Periode nachge- wiesen sind, so kann die Erde auch nicht aus zähflüssigem inkompressiblen Material be- stehen und es bleibt nach Zöppritz Meinung nur der Ausweg offen, daß sich das Erdinnere in einem vielleicht gasähnlichen Zustand befindet, dessen Eigenschaften die Verzögerung und Veränderung der Fluten zu erklären gestatten. Zöppritz schließt sich im großen und ganzen den Ausführungen von Ritter an. Wenn auch nach seiner Ansicht, das Mariotte-Gay-Lussacsche Gesetz nicht während des ganzen Verdich- tungsvorganges gültig gewesen sei, so müßte doch die Mittelpunktstemperatur 20000° übersteigen, eine Temperatur, die sicher oberhalb der kritischen Temperatur aller auf der Erde vorkommenden Stoffe liege. Die zentralen Massen müßten sich daher in einem gasförmigen, so komprimierten Zustand be- finden, daß man die ganze Masse nur als starr bezeichnen könnte. Sowie jedoch der Druck nachläßt, reagiert die Masse wie ein Gas und aus diesem Grunde bezeichnet Zöppritz diesen Zustand als gasähnlich. Auch Gün- ther ist der Ansicht, das Erdinnere sei gas- förmig. Er unterscheidet sieben, wie er jedoch ausdrücklich hervorhebt, nicht voneinander getrennte, sondern lückenlos ineinander übergehende Zonen. 1. Die feste Kruste, j 2. Die Zone der latenten Plastizität. 3. Das Magma. 4. Die Zone gewöhnlicher Flüssigkeit. 5. Die Zone der gewöhnlichen Gase. 6. Die Zone der überkritischen Gase. 7. Zentralball des einatomigen Gases. Neuerdings hat sich auch Arrhenius für ein gasförmiges Erdinnere ausgesprochen. Er nimmt an, daß in etwa 300 bis 400 km Tiefe die Temperatur so hoch ist, daß kein Stoff dort anders als in Gasform bestehen kann. Diese Gase sollen sich wie ein zäh- flüssiges Magma verhalten und am ehesten festen Körpern vergleichbar sein. Gegen diese Hypothesen vom gasförmigen Erdinnern möchte ich folgendes einwenden. Die ganzen Berechnungen Ritters beruhen auf der Voraussetzung, daß das Mariotte- Gay-Lussacsche Gesetz auch für sehr hohe Temperaturen und Drucke Gültigkeit hat. Eine solche Anwendung dürfte aber im Hin- blick darauf, daß schon bei den uns zu Gebote stehenden Temperaturen und Drucken be- deutende Abweichungen vorkommen, nicht angängig sein. Abgesehen davon ist aber auch ganz unverständlich, woher die außerordent- lich hohe Temperatur des Erdinnern stammen soll. Sie kann nicht von der bei der Kontrak- tion der Gasmassen zu Dämpfen und Flüssig- keiten erzeugten Wärme übrig sein, da infolge der in diesen Gasen auftretenden Strömungen eine ziemlich gleichmäßige Wärme geherrscht haben muß und bei einer so hohen Temperatur an eine Kondensation nicht zu denken ist. Sie kann aber auch nicht etwa nachträglich entstanden sein, durch die Wärme, welche durch die Kontraktion der äußeren Kruste bei der Abkühlung erzeugt wird, denn sonst müßte ja unsere Erde immer heißer werden; dann wäre aber überhaupt kein Grund zu weiterer Kontraktion vorhanden. Auch die von Zöppritz angeführten Beobachtungen der kosmischen Physik sind kein Beweis dafür, daß das Erdinnere gasförmig sein muß. Sie widersprechen alleidings einem gasförmigen Erdinnern nicht, aber sie er- bringen nur den Beweis, daß sich die Erde äußeren Einflüssen gegenüber wie ein sehr starrer Körper verhält, daß sie also nicht aus einem flüssigen Innern von einer dünnen Kruste umgeben bestehen kann. 3b) Flüssig. Die Hypothese vom flüs- sigen Erdinnern, das von einer festen Kruste umgeben ist findet sich schon im Altertum. Wissenschaftlich wurde sie von Descartes begründet; infolge der Abkühlung seien die äußersten Schichten erstarrt, während sich im Innern noch glutflüssiges Gestein vorfinde. In gleichem Sinne sprachen sich Newton, Fourier und Delaunay aus. Eingehend ist die Hypothese des flüssigen Erdinnern von Mallet zu begründen versucht worden. Er weist die chemische Theorie zur Erklärung der Erdwärme zurück und sucht zu beweisen, daß die Erde aus einem flüssigen Kern bestehe, der von einer festen, sich kontrahierenden Kruste umgeben sei. Die Abkühlung sei an den Polen am größten und infolgedessen habe auch von hier aus die Krustenbildung begonnen. Bei Beginn der Erkaltung sei die Kruste 72n Erdinneres durch Kontraktion stark deformiert worden, und es haben sich durch die Faltungen Linien geringsten Widerstandes gebildet, in deren Nähe das Gestein bis zu großen Tiefen in eng aneinander gepreßte Bruchstücke verwandelt worden sei. Auch jetzt noch kontrahiere sich die Kruste infolge der säkularen Abkühlung. Dadurch würde eine Kompression der festen Kinde bewirkt und durch den Druck, den die Kruste auf den sich zusammenziehenden Kern ausübt, würde das Material längs der Linien geringsten Widerstandes zerdrückt. Die bei diesen Vorgängen geleistete Arbeit werde in Wärme umgesetzt, die sich an den Druck- und Zerquetschungsstellen bis zur Kotglut und Gesteinsschmelze steigern könne und die Ursache des Vulkanismus sei. Es entsteht also die vulkanische Hitze nicht durch Ver- bindung mit dem flüssigen Innern oder isolierten Lavaseen, sondern durch die bei der Zerquetschung der Kruste in Wärme um- gesetzte mechanische Arbeit. Außerdem sei noch die Gegenwart von Wasser nötig, denn sonst müßte sich der Vulkanismus nur in Ergüssen flüssiger Gesteinsmassen äußern. Mallet sucht dann nachzuweisen, daß unter den in der Natur gegebenen Bedin- gungen die zur Erklärung der vulkanischen Erscheinungen nötige Wärme entstehen kann und daß die so entstehende Wärme auch ausreichend ist. Diese Hypothese ist von mehreren Forschern angegriffen und wider- legt worden. Roth wendet sich besonders gegen die Annahme von zwei Wärmequellen in der Erde, nämlich Eigenwärme und die durch die Gesteinszermalmung entstehende. Am auffallendsten sei, daß nach Mallets Berechnung nur a/i6oo der Gesamtwärme für Vulkane verwendet wird, und daß dieses eine eigene Wärmequelle hat, während die übrigen 1599/i6oo> die durch Strahlung verloren gehen und für die Thermen nötig sind, vom heißen Kern geliefert werden. Selbst wenn man zugibt, daß die für die Vulkane nötige Wärme durch Gesteinszermalmung geliefert wird, so würde die so entstandene Wärme nur dann ausreichen, wenn die Zerdrückung unter den günstigsten Bedingungen vor sich geht, d. h. plötzlich und ohne Fortführung von Wärme; ferner dürfte sich der Wider- stand des zu zermalmenden Gesteins nicht durch die Temperaturzunahme des Erd- innern verringern. Auch Lang hat die Malletsche Hypothese einer eingehenden Kritik unterworfen, wobei er vor allen Dingen den Nachweis liefert, daß die von Mallet seinen ganzen Berechnungen zugiunde ge- legte Formel falsch ist; ferner macht er darauf aufmerksam, daß Mallet keine Er- klärung dafür gibt, wie sich die feste spezifisch schwerere Kruste an der Oberfläche halten konnte, ohne unterzusinken. Lang nimmt an, daß die Erde einst aus konzentrischen, i nach dem spezifischen Gewicht angeordneten Magmaschalen bestanden habe, und daß die : Erstarrung an der Oberfläche begonnen habe. I Die festen Krustenteile seien dann infolge ihres größeren spezifisches Gewichtes in dem i flüssigen Magma untergesunken, in heißere Schichten gekommen und wieder geschmolzen; dies habe sich solange wiederholt, bis die ganze Masse weit genug abgekühlt gewesen sei, daß sich ein fester Kern habe bilden können, um den dann in relativ kurzer Zeit die ganze übrige Masse kristallisiert sei. 'Diese Annahme verträgt sich nach Längs Ansicht aber nicht mit den Erscheinungen des Vulkanismus, die für ein flüssiges Erdinnere sprächen. Um die Tatsache zu erklären, daß sich die erstarrten Teile des Erdmagmas nicht um das Zentrum, sondern als Kruste an der Peripherie grup- piert haben, sieht sich Lang zu der Annahme genötigt, daß die Erstarrung des Magmas nicht mit einer Volumverminderung, sondern mit einer Volumen Vergrößerung verbunden sei. Infolge des noch andauernden Wärme- verlustes, verdicke sich die zuerst gebildete Kruste immer mehr, gleichzeitig aber ver- mehre sich zufolge der Volumenausdehnung des festwerdenden Magmas der Druck im Innern. Von Zeit zu Zeit suche er sich in vulkanischen Eruptionen oder, wo er zum Druchbrechen der Rinde nicht stark genug sei, durch Hebungen des Geländes auszu- gleichen. Ueber das Verhalten der verschie- denen Substanzen beim Uebergang vom flüssigen zum festen Zustand sind von einer Reihe von Forschern Untersuchungen ange- stellt worden. Bischof untersuchte Basalt, Trachyt und Granit und fand, daß diese drei Gesteine beim Uebergang vom flüssigen in den glasigen Zustand eine Kontraktion erleiden, die sich bei der Kristallisation noch bedeutend vermehrt. Zirkel schließt aus Schmelzversuchen an Granat, Vesuvian, Augit, Olivin und verschiedenen Feldspäten auf eine Verminderung des spezifischen Gewichtes beim Uebergang aus dem kristallisierten in den glasigen Zustand. Lang glaubt auf Grund der von Jahr bei der Kristallisation des Eisens beobachteten Volumvermehrung auf ! eine gleiche Erscheinung bei den Magmen 1 schließen zu dürfen. Gleichfalls Ausdeh- | nung im Momente des Festwerdens beob- j achtete Miliar bei Gußeisen und Whitley ■ bei Gußeisen, Messing, Schlacke und Basalt, j Werner Siemens ließ durch seinen Bruder i Friedrich Siemens Versuche an Glas- flüssen anstellen. Dabei ergab sich, daß sich dünnflüssiges Glas bei der Abkühlung stark zusammenzieht und zähflüssig wird; bei weiterer Temperaturabnahme ist die Zu- sammenziehung eine nur geringe und im Momente der Erstarrung findet eine geringe Ausdehnung statt. Infolgedessen kann Druck Erdinneres 721 Uebergang vom dünn- zum zäh- 11 i cht nur den flüssigen Zustand begünstigen und vom zähflüssigen zum isotrop festen. Nies und Winkelmann unterwarfen alle wich- tigen Metalle einer eingehenden Untersuchung. Es ergab sich dabei, daß Zink, Zinn, Wismut, Antimon, Eisen und Kupfer im Momente der Kristallisation eine deutliche Volumen- vermehrung erfahren; für Blei und Kadmium war eine sichere Entscheidung nicht zu treffen; aller Wahrscheinlichkeit nach zeigen sie ein gleiches Verhalten. Kies hat acht Jahre später wahrscheinlich zu machen gesucht, daß sich die Silikate gleichfalls im Momente der Erstarrung ausdehnen. Er weist zunächst darauf hin, daß feste Gesteins- stücke nicht nur auf den Laven schwimmen, sondern daß sie auch nach Palmieris Ver- suchen am Vesuv nach dem Untertauchen wieder in die Höhe kommen. Auch die im Lavasee des Kilaueakraters schwimmende Insel spreche für Ausdehnung im Momente des Festwerdens, da sich allenfalls eine dünne Platte schwereren Materials schwim- mend erhalten könne, nicht aber ein Block von solchen Dimensionen (18 m tief, 30 m lang). Vincenti und Omodei untersuchten das spezifische Gewicht von Kadmium, Blei, Wismut, Zinn, Natrium, Kalium, Phosphor und Quecksilber nahe am Schmelzpunkt in festem und flüssigem Zustande und fanden, daß nur Wismut eine Ausnahmestellung einnimmt, indem es sich beim Kristallisieren ausdehnt, während alle übrigen der genannten Stoffe sich zusammenziehen. Die wichtigste Untersuchung über das Verhalten der Sili- kate hat Barus am Diabas angestellt. Er untersuchte die Abhängigkeit des Schmelz- punktes vom Druck und fand, daß der Schmelzpunkt durch Druck erhöht wird. Die Silikate ziehen sich also bei der Kristalli- sation zusammen. Weiter- ergibt sich, daß, wenn eine Kristallisation bei hohem Druck stattgefunden hat, die schon festen, kristalli- sierten Massen nach Aufhebung des Druckes wieder flüssig werden müssen. Zu dem gleichen Resultate bezüglich der Silikate kommt Doelter. Er führt zunächst aus, daß weder das Schwimmen der festen Lava auf flüssiger, noch das Wieder auf- tauchen von untergetauchten Lavastücken ein Beweis für die Ausdehnung im Momente der Erstarrung sei, da beide Vorgänge ledig- lich durch die poröse Beschaffenheit der festen Laven bedingt seien. Als weitere Fehlerquellen bei den Schwimmversuchen ergeben sieb, die verschiedene Temperatur des festen und flüssigen Materials, Gas- entwicklungen und aufsteigende Strö- mungen in der Flüssigkeit. Doelter be- nutzte zur Bestimmung des spezifischen Gewichts der Flüssigkeit Indikatoren, deren Schmelzpunkt höher war als der des ge- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III schmolzen«! Silikates, so daß sie, ohne geschmolzen zu werden, auf die Schmelz- temperatur des zu untersuchenden Silikates erhitzt werden konnten. Es wurde Melanit, Augit, Spodumen, Limburgit, Lava vom Vesuv und Aetna, Nephelinit und Leucitit untersucht und zwar im flüssigen, rasch erstarrten glasigen und langsam kristallin erstarrten Zustande. Dabei ergab sich, daß die flüssigen Massen das geringste spezifische Gewicht haben und die kristallin erstarrten das höchste. Auch Tammann spricht sich verschiedentlich für eine Volumenkontraktion beim Kristallisieren aus und zwar nicht nur^^^ für die Silikate, sondern für alle Stoffe mit Ausnahme von Wismut und Wasser. Von besonderer Wichtigkeit ist die Tatsache, daß sich die Schmelzpuiiktserhöhuiig mit zunehmendem Druck bald verringert und daß sie ein Maximum erreicht, den maximalen Schmelzpunkt, um bei weiterer Druck- steigerung wieder abzunehmen. Tammann bestimmte den maximalen Schmelzpunkt für einige Substanzen; leider ist er bis jetzt weder für die Silikate, noch sonst einen bei der Zusammensetzung unserer Erde hervor- ragend beteiligten Stoff experimentell be- stimmt. Für eine Kristallisation unter Druck spricht auch die bei Laven gemachte Beobachtung, daß im Innern unter Druck gebildete Kristalle sich sofort wieder auf- lösen, wenn die Lava an die Oberfläche kommt und der Druck aufgehoben wird. Ferner ist noch zu beachten, daß die Schmelz- punkte kristallisierter Körper oft höher sind, als die derselben Substanzen im glasigen Zu- stand, z. B. Orthoklas (1215° resp. 1190°) und Olivin (1280° resp. 1255°); auch kristal- lisieren diese Schmelzen nur, wenn man sie einige Zeit auf einer über dem Schmelzpunkt liegenden Temperatur erhält. Wir können also vorläufig nur sagen, daß es wahrschein- lich ist, daß die im Erdinnern vorkommenden Substanzen beim Kristallisieren ein kleineres Volumen einnehmen, daß also unter Druck der - kristallisierte Zustand der beständigere ist. Airy sucht die Flüssigkeit des Erd- innern aus der Kant-Laplaceschen Theorie abzuleiten, indem er von der Annahme aus- geht, daß die Erde durch Verdichtung von Gasmassen entstanden sei und daß die zentralen Partien der Erde noch so heiß seien, daß sie sich nur im glutflüssigen Zustand befinden könnten. Hennessy wendet sich gegen Thomsons und Darwins Beweis von der Starrheit der Erde.. Die von diesen beiden Forschern gemachten Vorausset- zungen weichen so weit von den tatsächlichen Verhältnissen ab, daß auf diese Weise die Unmöglichkeit eines flüssigen Erdkerns nicht erwiesen sei. Ferner haben sich auch Woodward und Toula für ein flüssiges Erdinnere ausgesprochen. 46 722 Erdinneres — Erclmann 3c) Fester Zustand. Für ein festes Erdinnere trat zuerst Marschall von Bieberstein ein, der die Erde als festes Agglomerat von Meteoriten ansah. Lamont schloß aus den Störungen der magnetischen Kurven auf einen kompakten Eisenkern. Am eingehendsten hat Thomson die Festig- keit der zentralen Erdpartien zu begründen versucht. Er stützt seinen Beweis einerseits auf die Präzession und Nutation, andererseits auf die Experimente von Bischof, daß sich die Silikate bei der Kristallisation zu- sammenziehen. Daraus schließt er aber fälschlicherweise, daß die an der Erdober- fläche erkalteten Teile bis zum Zentrum eingesunken seien, und daß von hier aus die Erstarrung vor sich gegangen sei. Poulett Scrope hält die Starrheit nur für eine be- dingte, die bei Aufhebung des Druckes auch sofort wieder aufgehoben wird. Pfaff ist der Ansicht, daß die Erde aus einem durch Druck verfestigten Kern, einer flüssigen Zwischen- schicht und einer festen Kruste bestehe. Somit kann es nur für die innersten Partien eine Ausnahme geben, wenn nämlich für sie der maximale Schmelzpunkt über- schritten ist; dann würden sich diese Massen im isotrop flüssigen Zustand befinden, je- doch nur so lange, als der maximale Schmelz- punkt überschritten ist. Bei fortschreitender Abkühlung gehen auch sie in den kristalli- sierten Zustand über. Solange jedoch keine Beobachtungen über den maximalen Schmelz- punkt eines Metalls oder Silikats vorliegen, dürfte es am wahrscheinlichsten sein, an- zunehmen, das Erdinnere befinde sich im plastischen kristallisierten Zustand, der bei Aufhebung des Druckes in den isotrop flüs- sigen, ja vielleicht sogar in den gasförmigen übergehen würde. Literatur. S. Arrhenins, Das Werden der Wellen. Deutsch von L. Bamberger. Leipzig 1908. — Barus, High temperature work in igneous fusion and ebullition, chiefly in relation to pressure. Bulletin of the United States Geological Survey, 1893, No. 103. — Verselbe, The fusion constants of igneous rock. — Part. H. The contraction of motten igneous rock on passing from liquid to solid. Philosophical Magazine, 1893, V. Serie, XXXV, S. 173 bis 190. — Dana, On some Restdts of the Earth's Contraction from cooling, including a discussion of the Origin of Mountains, and the Nature of the Earth's Interior. 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Seine zahlreichen Experimentaluntersuchungen umfassen weite Gebiete der organischen wie anorganischen Chemie und sind in Liebig s Annalen, in den Berichten der Deutschen chemi- schen Gesellschaft und im Journal für praktische Chemie veröffentlicht, Abgesehen von einer umfangreichen „Präparatenkunde", hat sein gründlich und originell bearbeitetes Lehrbuch der anorganischen Chemie vielfach Eingang gefunden. In fesselnder Weise hat er in Einzel- schriften über seine Reisen nach dem Kaukasus und Alaska berichtet. E. voti Meyer. Erdmann — Erdwärme 723 Erdmann Otto Linne. Geboren am 11. April 1804 in Dresden, gestorben am 9. Oktober 1869 in Leipzig, wo er seit 1825 als Dozent, dann als Professor der Chemie erfolg- reich gewirkt hat. Seine zahlreichen, sowohl der anorganischen wie organischen Chemie an- gehörenden Experimentalnntersuchnngen tragen oft ein technisches Gepräge; sie sind meist in dem von ihm begründeten Journal für praktische Chemie (seit 1834), das aus seinem Journal für technische und ökonomische Chemie (1828 bis 1833) hervorgegangen war, veröffentlicht. Besonders hervorzuheben sind seine mit Mar ch and ausgeführten sehr genauen Bestim- mungen der Atomgewichte zahlreicher Elemente (u. a. des Kohlenstoffs, Wasserstoffs, Calciums, Kupfers, Quecksilbers). Von Erdmamisgrößeren Werken ist außer einem in mehreren Auflagen er- schienenen Lehrbuch der Chemie seine Warenkunde als verdienstlich zu nennen, die, in vielen Auf- lagen herausgegeben, bis in die Gegenwart viel benutzt worden ist. Seine aus reichen Erfahrungen abgeleiteten Ansichten über die chemische Aus- bildung legte er in der zu wenig bekannten Schrift „Ueber das Studium der Chemie" (1861) nieder. E. von Meyer. Erdmetalle ist der Sammelname für Aluminium und die Metalle der Cer- und der Yttrium- gruppe. Die Vertreter dieser beiden Grup- pen werden als die Metalle der „seltenen Erden" bezeichnet (vgl. die Artikel „Bor- gruppe", „Chemische Elemente" und ,, Erden, Mineralien mit seltenen Erden"). Erdwärme. 1. Klimatische Wärme. 2. Eigene Wärme: a) Beobachtungen in Bergwerken, b) Beobach- tungen in Brunnen, c) Beobachtungen bei Tief- bohrungen, d) Beobachtungen an Thermen und Laven. 3. Größe der geothermischen Tiefenstufe. 4. Zunahme der Erdwärme mit der Tiefe. 5. Ur- sachen der Erd wärme. i. Klimatische Wärme. Obgleich sich unsere Erde in dem Weltenraum, dessen Tem- peratur sehr niedrig ist, befindet, hat sie doch große Wärmevorräte. Die Erdwärme stammt nicht aus einer Quelle, sondern die Erde erhält einen kleinen Teil ihrer Wärme von der Sonne, während der weitaus größere Teil aus einer im Erdinnern befindlichen Wärmequelle herrührt. Die Klimaschwan- kungen der Erdoberfläche dringen nur bis zu einer geringen Tiefe ein, jenseits dieser so- genannten neutralen Schicht ist von einem Temperaturwechsel nichts mehr zu merken. Diese Tatsache wurde zuerst von de la Hire und Cassini gegen Ende des 17. Jahrhunderts gefunden. Sie stellten fest, daß ein im Keller der Pariser Sternwarte aufgestelltes Thermometer seinen Stand fast nicht änderte, unbekümmert um den Wechsel der Temperatur an der Erdoberfläche. Je ge- ringer an einem Orte die Klimaschwankungen sind, um so näher liegt die neutrale Schicht der Erdoberfläche, je größer die Unterschiede zwischen Sommer und Winter sind, um so tiefer liegt diese Schicht. Infolgedessen ist die neutrale Schicht am Aequator der Erd- oberfläche am nächsten und an den Polen am weitesten davon entfernt. Sie ist im großen und ganzen einem Ellipsoid ähnlich mit starker Ab- plattung an den Polen. Die zahlenmäßigen Angaben der einzelnen Forscher über die Tiefe der neutralen Schicht weichen ziemlich voneinander ab. So gibt z. B. Boussingault V2 m Tiefe, Wild 5 m und Richthofen -/3 bis 1 m für die Tropen an. Fourier behaup- tet, daß die täglichen Wärmeschwankungen in 3 m Tiefe und die jährlichen in weniger als 60 m nicht mehr wahrnehmbar seien. Nau- mann verlegt die Fläche konstanter Tem- peratur in der gemäßigten Zone in 60 bis 80 Fuß Tiefe. Man kann wohl sagen, daß in 20 bis 25 m Tiefe der Wechsel der Oberflächen- temperatur sich nicht mehr geltend macht. Dringen wir also von der Erdoberfläche nach dem Erdinnern ein, so wird die Wärme bis zur neutralen Schicht je nach der Jahreszeit zu- oder abnehmen. 2. Eigenwärme. Ganz anders jenseits der neutralen Schicht. Von dieser aus nach dem Mittelpunkt finden wir, soweit bis jetzt be- obachtet, stets eine Zunahme der Tempe- ratur. 2a) Beobachtungen in Bergwerken. Die ersten auf Beobachtungen beruhenden Angaben über die Zunahme der Wärme nach dem Erdinnern finden sich bei dem Jesuiten- pater Athanasius Kircher (1665). Aus den Angaben von Schemnitzer Bergleuten erfuhr er, daß ein Bergwerk um so wärmer ! sei, je tiefer es sei. In gleichem Sinne äußerte 1 sich der Physiker Boyle (1680) und der Me- diziner Boerhave (1732). In den Beginn des 19. Jahrhunderts fallen die ersten Versuche, um die Temperaturzunahme in Gruben zahlen- mäßig zu bestimmen. Während Fox und Lean die Temperatur der Grubenluft und Grubenwässer in den Zinnbergwerken von Cornwall maßen, um daraus die Temperatur- zunahme festzustellen, versenkte Cordier seine auf gleichen Gang geprüften Thermo- meter in das Gestein selbst. Er beobachtete in den drei Gruben zu Carmeaux (Depart. Tarn), Decise (Depart. Nievre), Littry (De- part. Calvados) und fand das Dasein einer inneren Wärme, welche der Erde eigentüm- lich ist, nicht von den Sonnenstrahlen her- 46* '24 Erdwärme rührt und schnell mit der Tiefe zunimmt. Die Zunahme der Wärme ist nicht überall gleich; sie beträgt im allgemeinen 25 m für einen Grad. Die Beobachtungen Kupffers ergaben in einigen Gruben des Urals eine ,,geothermische Tiefenstufe" von 24,8 m, in Cornwall, Sachsen und Frankreich 26,9 m für 1° R. Im Jahre 1834 veröffentlichte Reich eine Zusammenstellung der in den sächsischen Bergwerken gemachten Beobachtungen und fand als Mittelwert 41,84 m Tiefenzunahme auf 1° C Temperaturzunahme. Auch alle späteren Beobachtungen in Gruben haben eine wenn auch oft sehr verschiedene Tempe- raturzunahme ergeben: so fand man z. B. im Adalbertschacht bei Pribram in 889,3 m Tiefe eine Temperatur von 21,8° C, in einem Kup- ferbergwerk der Keweenaw-Halbinsel (Michi- gan) in 1396 m Tiefe nur 26,1° C. Aus den Beobachtungen in Bergwerken läßt sich nur der Schluß ziehen, daß mit wachsender Tiefe die Temperatur zunimmt. Die Größe der Temperaturzunahme ist jedoch infolge vieler störender Einflüsse (Luftströmungen, Ein- dringen der Tagewässer, Anwesenheit der Ar- beiter) aus diesen Beobachtungen nicht fest- zustellen. Ganz ähnlich liegen die Verhält- nisse bei Tunnels. Auch diese Beobachtungen können nur die allgemeine Temperaturzu- nahme beweisen, ohne für die Aufstellung eines Gesetzes brauchbar zu sein. Im St. Gotthardtunnel stieg die Temperatur auf 30,43° C und in dem 1907 fertiggestellten Simplontunnel sogar auf 53,6° C. 2b) Beobachtungen an Quellen. Die ersten genauen Beobachtungen in arte- sischen Brunnen verdanken wir Kupffer. Er beobachtete in vier artesischen Brunnen in der Nähe von Wien und fand eine geother- mische Tiefenstufe von 25,4 m für 1° R. Für einen artesischen Brunnen bei Rochelle fand er 24,6 mfürl0 R. Eine besonders abweichende Tiefenstufe erhielten Matte uci und Pilla in einem Brunnen am Monte Massi in Toskana. Sie erklären die äußerst rasche Zunahme von 1° C auf 13 m durch die Annahme, in Italien befinde sich die zentrale Hitze näher der Oberfläche als z. B. in England, wodurch auch Italien so reich an Vulkanen und Erd- beben sei. Außer diesen Beobachtungen finden sich bei Naumann noch die folgenden: In einem artesischen Brunnen inMondorff (Luxemburg) fand man in 2066 Fuß Tiefe 34° C. Wenn in den uns erreichbaren Tiefen die Temperatur wie die Tiefe zunimmt, ergeben sich daraus folgende Werte für die geother- mische Tiefenstufe für 1° C. Neusalzwerk La Grenelle Mondorff 92,27 95,0 91,1 Fuß Bohrbrimnen von La Grenelle in Paris Bolirbrunnen von Neu- salzwerk in Westfalen Tiefe in Pariser Fuß Temperatur in C° Tiefe in Pariser Fuß Temperatur in C° 917 1231 1555 1684 22,2 23,75 26,43 27,70 580 1285 1935 2144 i9,7 27,5 3i,4 33,6 Ferner fand man bei St. Andre (Eure) 95,3. Fuß und bei Rouen 90,8 Fuß. Ziemlich abweichende Werte wurden bei Pitzbuhl bei Magdeburg (80 Fuß) und bei Artern in Thü- ringen (120 Fuß) gefunden. 2c) Beobachtungen bei Tiefboh- rungen. Im Anfang des vorigen Jahrhunderts begann man genauere Beobachtungen in Bohrlöchern anzustellen. Magnus beobach- tete im Bohrloche zu Rüdersdorf bei Berlin, das eine Tiefe von 600 Fuß hatte, und fand in 380 Fuß Tiefe 13,7° R 500 „ „ 14,2° R „,, /15,8°R SccS, " " U5,9°R Als mittlere Jahrestemperatur von Rüders- dorf' nimmt er 7,6° R an und findet also auf 655^ eine Temperaturzunahme von (15,9— 7,6) 8,3° R, d. h. 1,25° R auf 100 Fuß. Unter besonderer Berücksichtigung der störenden Einflüsse fand Er m a n inRüdersdorf eine Tem- peraturzunahme von 1° R für 90 Fuß Tiefen- zunahme. Eine sehr günstige Gelegenheit zu einer möglichst genauen Beobachtung der Temperaturzunahme bot sich im Bohrloche zu Pregny bei Genf. Man bohrte 682 Fuß tief, ohne fließendes Wasser zu erhalten; an- fangs erhielt man einen dicken Schlamm, I später nur feuchte Erde. Auf diese Weise \ waren sowohl die störenden Wasserzirkula- ! tionen als auch die Luftströmungen be- j seitigt. Die Beobachtungen ergaben 1 114,8 Fuß Tiefenzunahme auf 1° R, Eine be- sonders rasche Temperaturzunahme fand M and eisloh zu Neuffen am Fuße der schwä- bischen Alb. Das Bohrloch war 1186 Fuß tief im Dogger und Lias. Schwarze bituminöse Schiefertone wechselten mit Ibis 4 Fuß mäch- tigen Kalksteinflötzen. Das ganze Gestein war mit Schwefelkies durchsetzt. Die Beobach- tungen in dem 2 Zoll weiten Bohrloch er- gaben eine Wärmezunahme von 3,28° C auf 100 Fuß oder 1° C auf 10,5 m, einen außer- ordentlich kleinen Wert für die geothemische Tiefenstufe. Ueber die Ursachen dieser äußerst raschen Temperaturzunahme ist man bis heute noch nicht einig. Daubree glaubt, daß es die Nachwirkung früherer basaltischer Durchbrüche sei, die erwärmend noch heute auf jene Schichten einwirkten. Bischof hält es nicht für unmöglich, daß in Klüften auf- steigende Wasserströme die Wärme tieferer Erdwärme 725 Schichten den darüberliegenden zuführen und so seit langen Zeiten einen erwärmenden Einfluß ausüben. Branca hat später nach- gewiesen, daß sich Mandelsloh sowohl ver- rechnet hat, als auch, daß er eine unzulässige Art der Berechnung angewendet hat ; nach Be- seitigung dieser zwei Fehler wird die geother- mische Tiefenstufe zwar etwas größer, ergibt aber immer noch den außerordentlich kleinen Wert von 11,1 m auf 1° C. Branca nimmt als Ursache dieser abnorm raschen Tempera- turzunahme einen flachgelegenen, isolierten Schmelzherd unter jener Gegend an, der zu- gleich das Material für die dort so zahlreich vorhandenen Vulkandurchbrüche geliefert haben soll. Höfers Ansicht, daß die durch das ganze Bohrloch verbreiteten bituminösen Liasschiefer die Ursache der raschen Tempera- turzunahme seien, weist Branca als unrichtig zurück. Denn einesteils haben diese Schiefer überhaupt nur die geringe Mächtigkeit von 30 Fuß 4 Zoll, anderenteils findet in diesen Schichten nicht einmal ein Anwachsen der Temperatur statt. Im Jahre 1867 begann man bei Sperenberg, 5y2 Meilen südlich von Ber- lin, ein Bohrloch anzulegen, das für die Tem- peraturbeobachtungen von allergrößter Wich- tigkeit wurde. Man durchbohrte der Reihe nach 2 Fuß Schutt 278,5 Fuß Gips, 5 Fuß Gips mit Anhydrit und von 283 Fuß an reines Stein- salz. 1871 hatte das Bohrloch eine Tiefe von 1052 Fuß, wovon sich die unteren 3769 im Steinsalz befanden. Gerade weil ein so großer Teil des Bohrlochs in demselben Gestein lag, war es für dieTemperaturbeobachtungen so geeignet. Bis 444 Fuß war das Innere mit einer Eisenblechverröhrung ausgekleidet und daher für Temperaturbeobachtungen nicht zu brauchen. Da bei der großen Tiefe die Wasser- zirkulation eine bedeutende war, so mußte man einzelne Teile der im Bohrloch befindlichen Wassersäule abschließen, um die wahre Ge- steinstemperatur zu bekommen; anderenfalls wäre in den oberen Schichten die Temperatur zu hoch und unten zu tief gefunden worden. Roth nimmt als mittlere Jahrestemperatur von Sperenberg 7,18° R an und berechnete aus den Beobachtungen folgende Temperatur- reihe: eine geothemische Tiefenstufe von 27,8 m auf 1° C. Diese Beobachtungen zeigen zwar, daß mit wachsender Tiefe die Temperatur zu- nimmt, aber sie geben uns nicht die wahre Gesteinstemperatur, denn infolge der auf- tretenden Zirkulation findet man an der Bohr- lochsohle die Temperatur zu gering, in den oberen Partien zu hoch. Diese Differenzen zwischen der Gesteinstemperatur und der des im Bohrloch befindlichen Wassers sind natürlich um so größer, je tiefer das Bohrloch ist, da dann den oberen Schichten um so mehr Wärme zugeführt wird. Dies sieht man sofort, wenn man die Beobachtungen im Bohrloch I und II in Sperenberg vergleicht. I war zur Zeit der Beobachtung 2043 bis 2617 Fuß und II nur 490 Fuß tief. I Tiefe in Fuß Temperatur in ° R II Tiefe in Fuß Temperatur in ° R IOO 200 300 4OO II,0 11,6 12,3 13.6 IOO 200 300 400 9 10,4 12,5 Den Nachweis, daß am Grunde des Bohr- lochs die Temperatur zu klein gefunden wurde, erbrachte Dunker auf folgende Weise. In 3390 Fuß Tiefe ließ er mit halber Weite 17 y2 Fuß vorbohren und schloß diese kleine Wassersäule durch einen mit Werg und Leinwand umwickelten Stopfen ab. Als Mittel ergab sich aus den Beobachtungen mit Abschluß 36,55° R, während die Be- obachtungen ohne Abschluß 33,6 ergaben. Nachdem sich D u nk e r davon überzeugt hatte, daß die wahre Gesteinstemperatur nur dadurch zu ermitteln sei, daß man ldeine Wassersäulen solange abschloß, bis sie die Temperatur des umliegenden Gesteins angenommen haben, ' in Fuß Temperatur Zunahme für 100 Fuß in ° R Temperatur in ° R 700 15,654 1,097 900 17,849 1,047 IIOO 19,943 o,997 1300 2i,937 0,946 1500 23,830 0,896 1700 25,623 0,846 1900 27,315 o,795 2100 28,906 0,608 339o 36,756 konstruierte er einen besonderen Abschluß- apparat, da die Beobachtung mit dem Vor- ! bohren einesteils sehr umständlich war, j andererseits aber eine nachträgliche Beobach- tung in höheren Teilen des Bohrlochs über- haupt unmöglich ist. Nach Ausschaltung aller ungenügenden Beobachtungen und nach i Anbringung der nötigen Korrektionen bleiben folgende übrig: Tiefe in Fuß 700 900 IIOO 1300 1500 1700 1900 2100 3390 Temperatur in ° R 17,275 18,780 21,147 21,510 23,277 24,741 26,504 28,668 37,238 Daraus ergibt sich für 100 Fuß Tiefenzu- Daraus ergibt sich eine geothermische nähme 0,904° R Temperaturzunahme, oder Tiefenstufe von 42 m auf 1° R oder von 726 Erdwärme 33,7 m auf 1° C. Zum zweiten Male wurde der D u n k e r sehe Abschlußapparat in dem 577 m tiefen Bohrloch von Sudenberg bei Magdeburg verwandt, und eine geother- mische Tiefenstufe von 32,3 m auf 1° C gefunden. Ebenfalls unter Dunkers Lei- tung wurde in Sehladebach bei Dürrenberg ein Bohrloch gemacht, das die ansehnliche Tiefe von 1748 m erreichte. Als die Beobach- tungen begannen war das Bohrloch 1240 m tief und bis dahin verröhrt. In dem unver- rohrten Teile stieg die Temperatur von 36,2° in 1266 m Tiefe bis auf 45,3° in 1716 m Tiefe. Später stellte man auch von 36 bis 1236 m Beobachtungen an, die eine Temperaturzu- nahme von 8,8 bis 35,2° R ergaben, die also mit den übrigen Werten trotz der Verrohrung gut übereinstimmen. Daraus ergibt sich eine Tiefenstufe von 35,7 m auf 1° C. Noch tiefer ist das Bohrloch vonParuschowitz bei Rybnik in Oberschlesien, das eine Tiefe von 2003,34 m hat. Man führte von 6 bis 1959 m Temperatur- beobachtungen aus, die jedoch eine ziemlich unregelmäßige Wärmezunahme ergaben. Diese Unregelmäßigkeit ist durch die wechselnde Gesteinszusammensetzung bedingt. Man durchsank nicht weniger als 82 Steinkohlen- flöze, die mit anderen Gesteinen wechselten. Henrich fand, daß auch hier die Temperatur proportional der Tiefe zunimmt und zwar 31,82 m auf 1° C. Das tiefste Bohrloch ist seit 1909 Czuchow II, etwa 2 km nordwestlich vom gleichnamigen Dorf zwischen Gleiwitz und Rybnik. Es ist 2239,72 m tief. Die Ge- steinsverhältnisse sind ähnlich dem etwa 10 km entfernten Bohrloch von Paruschowitz. Die Temperatur nahm gleichmäßig mit der Tiefe zu, abgesehen von den durch Kohlen- einlagerungen hervorgerufenen Unregel- mäßigkeiten; sie stieg in 2221 m Tiefe auf 83,4° C. Die geothermische Tiefenstufe er- gibt sich zu 31,8 m auf 1° C, 2d) Thermen und Laven. Ein weiterer Beweis für die Temperaturzunahme nach dem Erdinnern ist das Vorhandensein der heißen Quellen, die je nach der Tiefe, aus der sie stammen, eine mehr oder weniger hohe Temperatur haben. Von den bekannten Ther- men Mitteleuropas hat der Solsprudel von Soden 29° C, der Sprudel von Nauheim 37°, die Badequelle von Ems 50°, der Kochbrunnen in Wiesbaden 68°, der Sprudel in Karlsbad 75° und die Höllenquelle in Baden-Baden 86° C. Ferner seien noch die intermittieren- den heißen Springquellen oder Geysirs er- wähnt, von denen die bekanntesten der Geysir auf Island und die Geysirs des Yellowstöne- parks sind. Die Geysireruptionen kommen dadurch zustande, daß das in der Röhre be- findliche Wassser durch die innere Erdwärme auf Temperaturen über 100° erhitzt wird, und daß der sich bildende Wasserdampf die darüber befindliche Wassersäule heraus- schleudert. Daß noch wesentlich höhere Tem- peraturen als alle bisher erwähnten im Erd- innern vorhanden sind, beweisen uns die Laven. Beim Vesuv hat man am unteren Ende eines Lavastromes eine Temperatur von 1000 bis 1100° C gefunden. Vor dem Ver- lassen des Vulkanschlotes dürfte die Tempe- ratur nicht höher als etwa 1400° sein, da sich sonst nicht bereits beim Austritt der Lava Leucit-undOlivinkristalle vorfinden könnten. 3. Größe der geothermischen Tiefen- stufe. Ueberblickt man das Ergebnis aller bisher gemachten Temperaturbeobachtungen, so ergibt sich daraus eine Temperaturzunahme mit wachsender Tiefe. Die Werte für die geothermische Tiefenstufe schwanken zwi- schen 10 und 40 m für 1° C. Der wahrschein- lichste Wert dürfte etwa 33 m auf 1° C sein. Fragt man sich nach der Ursache der starken Abweichungen der einzelnen Beobachtungen, so ergibt sich, daß sie zum einen Teil in Be- obachtungsfehlern begründet sind, daß zum anderen Teil aber tatsächlich LTnterschiede in der geothermischen Tiefenstufe vorhanden sind. Letztere sind begründet durch lokale Erwärmungen infolge der Nähe von Vulkanen oder unterirdisch erstarrenden Magmen oder infolge chemischer Prozesse, wie z. B. die Zer- setzung von Pyrit in Steinkohlenflözen. Auch die in der Erdrinde zirkulierenden Wassernrassen beeinflussen die geothermische Tiefenstufe, indem sie teils erwärmend, teils abkühlend wirken. Ferner ist noch die Wärmeleitfähigkeit der unsere Erde zu- sammensetzenden Stoffe von wesentlichem Einfluß. Die Wärmeleitungskoeffizienten der irr Betracht kommenden Substanzen weichen sehr voneinander ab, wie ein Blick auf fol- gende Tabelle zeigt. Marmor 0,0054 — 0,0352 Basalt 0,00317 — 0,0067 Feuerstein 0,0024 Kalktuff 0,01523 Sandstein 0,0024 — 0,03072 Gips 0,0031 Quarz 0,01576 Gneiß 0,0005770 — 0,0081 Porphyr 0,0083 Granit 0,0004159 — 0,0097 Lava 0,1358 Steinkohle 0,000297 — 0,00044 Steinsalz 0,0137 Eisen 0,09 — 0,2 (je nach den Beimengungen). Es kann uns daher nicht wundern, daß man in verschiedenen Gesteinsschichten un- gleiche Werte für die geothermische Tiefen- stufe findet, z.B. in Erzbergwerken besonders große Werte. 4. Zunahme der Wärme mit der Tiefe. Alle bisherigen Berechnungen der geother- mischen Tiefenstufe sind unter der An- nahme gemacht, daß die Wärme proportional Erdwärme 727 der Tiefe zunimmt. Ob diese Annahme jedoch richtig ist oder ob die Wärme langsamer oder schneller zunimmt als die Tiefe soll jetzt erör- tert werden. Reich sowohl als auch Bischof kamen zu dem Resultat, daß sich aus den bis zur ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an der Erde gemachten Beobachtungen ein Ge- setz über die Wärmezunahme nicht ableiten läßt. Bischof versuchte daher auf experi- mentelle Weise die Abkühlungsverhältnisse einer erkaltenden Kugel zu erforschen. Er ließ Basaltkugeln gießen, an denen er bei der Abkühlung Temperaturbeobachtungen an- stellte. Die Kugel hatte einen Durchmesser von 21 Zoll und war mit einem 1 y2 Zoll dicken Lehmmantel umgeben, der im Innern mit dünnen Eisenstäben und Drähten gebunden war. Das Ganze befand sich in einem eisernen Kessel, unmittelbar vor dem Schmelzofen und war ringsum mit Formsand eingedämmt. Die Schmelzhitze des Basalts war größer als die des Kupfers, da ein eingetauchter Kupfer- draht schmolz, also sicher über 1084° R. Vier Stunden nach dem Guß nahm man die Kugel mit dem Lehmmantel heraus und setzte sie zur freieren Wärmeausstrahlung auf einen Trichter von Eisenblech. Acht Stunden nach dem Guß hatte der Mantel eine Temperatur von 240° R und nun begann man mit den Temperaturbeobachtungen. Es wurden vier Thermometer eingesetzt, No. I in den Mantel, II und III wollte man 2 bezw. 7 Zoll tief und IV in den Mittelpunkt setzen. Es waren aber beim Guß die Röhren, welche die Ther- mometer aufnehmen sollten geschmolzen und voll Basalt gelaufen. Man versuchte zwar die Löcher auszubohren, jedoch konnte man das zweite Loch nur bis zu 2 Zoll, das dritte und vierte nur bis zu 4 Zoll aus- bohren ; dies war insofern ein Nachteil, als die Röhren im dritten und vierten Loch tiefer gingen und daher die Temperatur in- folge der Wärnieleitung höher war. Die Beobachtungen ergaben, daß die Tem- peraturzunahme in der erkaltenden Kugel in einer geometrischen Reihe erfolgt. Naumann ist der Ansicht, daß die Temperatur in den obersten Schichten wie die Tiefe zunehme, während dann die Zunahme eine langsamere sei. Er glaubt dies trotz der geringen Tiefe, bis zu der unsere Beobachtungen reichen, aus den Messungen von La Grenelle beweisen zu können, indem er für die ersten 677 Fuß eine geothermische Tiefenstufe von 81,6 Fuß und für die folgenden 792 Fuß eine solche von 123 Fuß berechnet. Lord Kelvin (W. Thomson) hat versucht, auf theoretischem Wege die Temperaturverteilung im Erd- innern zu erforschen. Er wendet zwei von Fourier aufgestellte Gleichungen auf die Erde an. Mit Hilfe dieser beiden Gleichungen findet Thomson, daß wahrscheinlich 100 Mil- lionen Jahre seit Beginn der Abkühlung der Erde verstrichen sind, denn dann ergibt sich die mit den Beobachtungen übereinstimmende Temperaturzunahme von 50 Fuß auf 1° Fahrenheit. Gleichzeitig benutzt er diese Be- rechnung, um die Verteilung der Temperatur in der Erde 100 Millionen Jahre nach Beginn der Abkühlung zu berechnen und graphisch darzustellen. Dabei ergibt sich, daß die Tem- peratur für die ersten 100000 Fuß um751° F für einen Fuß zunimmt, worauf die Zunahme eine geringere ist, bei 400000 Fuß ungefähr Vi« F, bei 800000 Fuß weniger als Vaaso0 F. O -1b -2b 3b 4b 5b 6b 7b -8b -9b b aXlO aXI5 aX20 Fig. 1. :uou°faiir Die Kurve OPQ zeigt den Ueberschuß der Temperatur über die der Oberfläche. Die Kurve AP'R zeigt die Größe der Temperatur- zunahme nach dem Mittelpunkt der Erde. Dunker leitete aus seinen Beobach- tungen in Sperenberg eine Formel ab, nach der zwar die Temperatur mit wachsender Tiefe zunimmt, jedoch immer langsamer. Er bezeichnet mit S die Tiefe einer Schicht in Fuß und mit T die dort herrschende Temperatur in R° und erhält so T=7,18+ 0,01298571818.8—0,00000125701 S2. Nach dieser Formel würde die Temperatur bei 5162 Fuß mit 40,7° R ihr Maximum erreichen und dann wieder abnehmen, so daß man für den Mittelpunkt der Erde eine große Kälte erhielte, was jedoch mit allem, was wir über die Abkühlung einer Kugel wissen, in direktem Widerspruch steht. Henrich beseitigte diesen offenbaren Mangel an der Dunkerschen Formel. Ferner machte er sie unabhängig von der mittleren Temperatur der Oberfläche, da von dieser die Temperaturzunahme gar nicht abhängig 728 Erdwärme ist. Seine Formel F=12,273+0,00744925 S ergibt eine mit wachsender Tiefe stetig zu- nehmende Temperatur und zwar auf 100 Fuß 0,76° R. Ferner stimmen die mit dieser For- mel berechneten Werte viel besser mit den Beobachtungen überein. Hotten rot h ist nur mit der Ausschaltung der mittleren Orts- temperatur aus der Dunkerschen Formel ein- verstanden, er bestreitet jedoch, daß es richtig ist, wenn Henrich für das Gesetz der Tem- peraturzunahme nach der Tiefe eine gerade Linie annimmt; nach seiner Meinung wird es durch eine Parabel dargestellt. D unk er hat später seine erste Formel selbst verworfen und spricht sich an verschiedenen Stellen seiner Arbeiten ganz entschieden dafür aus, daß die Wärme in den uns erreichbaren Tiefen wie die Tiefe zunehme, und daß man aus den geringen durch Beobachtungsfehler unver- meidlichen Verzögerungen keineswegs auf Wärmemangel im Erdmittelpunkt schließen dürfe. Die Sperenberger Beobachtungen er- geben nach seinen späteren Berechnungen als Wärmegesetz F=17,486 492+0,00 7450129 (S — 700). Brauns und Lasaulx sind der Ansicht, daß die aus den Sperenberger Be- obachtungen gezogenen theoretischen Schlüsse für größere Tiefe durchaus keine Gültigkeit haben. Die in Sperenberg gefundenen Tem- peraturen seien nicht die wirklichen Gesteins- temperaturen, sondern trotz des Abschlusses mit dem Dunkerschen Kautschukverschluß habe von unten her eine Erwärmung statt- gefunden. Hann fand auf Grund der für die Erde geltenden Gesetze der Wärmeleitung und -Strahlung, daß zwar mit wachsender Tiefe die geothermische Tiefenstufe wächst, daß wir aber die Zunahme erst in einer Tiefe von 130000 engl. Fuß merken können, wenn seit Beginn der Abkühlung der Erde 100 Mil- lionen Jahre verflossen sind und in 13000 Fuß (etwa 4 km) bei einer Abkühlungsdauer von 1 Million Jahren. Pfaff versuchte auf experimentelle Weise das Gesetz der Tempe- raturzunahme zu finden, da dieBeobachtungen an der Erde selbst gar zu verschiedene Werte ergeben haben. Die Bischof sehen Versuche hält er wegen des geringen Kugeldurchmessers für unzureichend und den tatsächlichen Ver- hältnissen zu wenig nahe kommend. Er geht dabei von folgender Ueberlegung aus : „Denken wir uns die Erdrinde 10 geographische Meilen dick, so ist, wenn wir uns ein beliebiges Stück der Erde an der Oberfläche mit einer kreis- förmigen Basis als Kegel bis in den Mittel- punkt der Erde verlängert denken, der feste Teil dieses Kegels, das Rindenstück, sofern wir den Kegel sehr spitz annehmen, den Durch- messer der Basis z. B. eine Meile also 15 Mi- nuten umfassend, unbedingt als ein Zylinder anzusehen, der mit seiner Grundfläche auf einer erhitzten Masse aufsteht und seitlich gegen Wärmeverlust geschützt ist." Auf Grund dieser Betrachtung verfuhr er folgender- maßen: Er füllte einen Blechzylinder, der mit seitlichen Oeffnungen zur Aufnahme der Ther- mometer versehen war, mit Quarzsand. Diesen Zylinder steckte er in einen Pappzylinder und füllte den Zwischenraum mit Sägespänen aus zur besseren Wärmeisolierung. Das Ganze wurde anfangs in einem Wasser- und später in einem Oelbad erhitzt, bis die Thermometer eine konstante Temperatur zeigten. Aus den Beobachtungen zieht Pfaff den Schluß, daß die Temperaturzunahme mit der Tiefe nicht in einer arithmetischen, sondern in einer geo- metrischen Reihe erfolge. Diese Experimente entfernen sich so weit von den tatsächlichen Verhältnissen, daß man ihnen irgendwelche Bedeutung zur Lösung des vorliegenden Pro- blems nicht zusprechen kann. Ueberblickt man das Ergebnis aller Versuche, ein Gesetz für die Wärmezunahme nach dem Erdinnern aufzustellen, so ergibt sich, daß die neuesten mit allen Vorsichtsmaßregeln an der Erde ge- machten Beobachtungen eine der Tiefe pro- portionale Temperaturzunahme ergeben und nicht wie die früheren Beobachtungen eine langsamere. Dies gilt jedoch nur für die uns erreichbaren Tiefen; in größeren Tiefen wird nach den theoretischen Berechnungen von Thomson und Hann sowie nach den Ex- perimenten von Bischof die Temperatur langsamer zunehmen als die Tiefe. 5. Ursachen der Erdwärme. Wir haben in den vorigen Kapiteln gesehen, daß unsere Erde im Innern eine von der jetzigen Sonnen- strahlung unabhängige Wärmequelle besitzen muß. Wir wollen uns nun mit den Ursachen dieser inneren Erdwärme näher beschäftigen. Descartes (1644) und Leibnitz (1649) sprachen zuerst die Ansicht aus, die Erde sei einst eine feurig-flüssige Masse gewesen und die innere Erdwärme sei noch ein Rest jener sehr großen Hitze. Auch Fourier bekennt sich in seinem grundlegenden Werk: „Theorie analytique de la chaleur" zu der Ansicht, daß die innere Erdwärme ein Rest der ursprüng- lichen Ballungswärme sei. In ganz eigenartiger Weise versucht Poisson die innere Erdwärme zu erklären. Er nahm Anstoß daran, daß die Mehrzahl der Physiker und Geologen für das Erdinnere eine unsere menschlichen Begriffe weit übersteigende Temperatur annehmen. Bei einer Temperaturzunahme von 1° C für 30 m würde die Mittelpunktstemperatur über 2 Millionen Grad betragen. Es müßten daher alle Stoffe als glühende Gase vorhanden sein, die jedoch auf die fünffache Dichte des Wassers komprimiert wären. Poisson hält es für un- möglich, daß die Erdkruste imstande sei, einem Druck, wie ihn derartig stark kompri- mierte Gase ausüben müßten, zu widerstehen. Er sucht infolgedessen eine andere Erklärung für die innere Erdwärme. Aus der kugel- förmigen an den Polen abgeplatteten Gestalt Erdwärme 729 schließt er auf einstige Flüssigkeit der ganzen Erdmasse, die sich durch Wärmeabgabe an den kalten Weltenraum abkühlte. Die Er- starrung begann nicht, wie allgemein ange- nommen wird, an der Oberfläche, sondern im Mittelpunkt, da die zentralen Schichten infolge des hohen Drucks schon bei Temperaturen er- starren konnten, bei denen die äußeren noch lange flüssig sind. Nachdem die Erde voll- ständig erstarrt war und ihre ganze Wärme verloren hatte, kam unser Planetensystem in wärmere Gegenden des Weltenraumes und die Erde wurde von außen wieder erwärmt. Augenblicklich passiert sie wieder kältere Regionen und so findet man nach dem Erd- innern eine Temperaturzunahme, ohne daß man eine allzu hohe unsere Begriffe über- steigende Temperatur annehmen müßte. Die Ansicht von der verschiedenen Temperatur des Weltenraumes ist insofern unrichtig, als er leer ist und infolgedessen auch keine Tem- peraturunterschiede aufweisen kann. Im großen und ganzen zustimmend sprach sich Lamont zu Poissons Hypothese aus; es fehlt aber auch nicht an direkten Gegnern. De la Rive gibt zwar zu, daß das Erdinnere nicht unbedingt flüssig sein müsse, um die Temperaturzunahme zu erklären, jedoch hält er es für nötig, eine eigene Wärmequelle im Innern der Erde anzunehmen. Er glaubt, daß chemische Prozesse die Ursache der inneren Erdwärme seien. Poggendorff wendet sich besonders gegen die Annahme, daß die Er- starrung vomZentrum aus begonnen haben soll. Er hält es für unmöglich, daß eine Flüssigkeit bei hoher Temperatur durch Druck verfestigt werden könne, zumal wenn sie sich bei ihrer Erstarrung ausdehnt. Gerade wenn man ein flüssiges Innere voraussetzt, braucht man nicht so unglaublich hohe Temperaturen anzuneh- men, da die Temperatur innerhalb der flüs- sigen Massen infolge von Strömungen fast überall gleich sein wird. Auch Naumann ist der Ansicht, daß die Erstarrung von der Ober- fläche her begann und nicht im Zentrum. Ebenso wenig ließe sich die Verschiedenheit der Temperatur des Weltraumes beweisen. Thomson leugnet zwar nicht, daß man die Temperaturverhältnisse des Erdinnern durch chemische Prozesse erklären kann; jedoch sei diese Art der Erklärung infolge der überall gleichmäßig beobachtetenTemperaturzunahme sehr unwahrscheinlich. Die weniger hypo- thetische Ansicht, die Erde sei ein chemisch untätiger, in der Abkühlung begriffener war- mer Körper, sei jedenfalls vorzuziehen. Pois- sons Hypothese sei schon aus dem Grunde unhaltbar, weil beim Passieren der heißen Regionen des Weltenraumes die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt eine Unterbre- ung erlitten hätte. Wäre nämlich dieser Durchgang vor mehr als 1250 und weniger als 5000 Jahren erfolgt, so müßte die Tem- peratur jener Regionen 25 bis 50° F höher ge- wesen sein, als die mittlere heutige Ober- flächentemperatur, eine Annahme, die durch die Geschichte widerlegt wird. Wäre da- gegen der Durchgang vor 20000 oder noch mehr Jahren erfolgt, so müßte die Temperatur sogar mindestens 100° F höher gewesen sein als die jetzige Oberflächentemperatur, dann wären aber alle Lebewesen zugrunde ge- gangen. Der Amerikaner Sterry Hunt sucht die Erdwärme gleichfalls auf chemischem Wege zu erklären. Er geht von einer rotie- renden Nebelmasse aus, die eine so hohe Temperatur hatte, daß alle Stoffe gasförmig waren. Bei der Abkühlung trat eine Zirku- lation ein, die Kugel wurde flüssig und nun bildeten sich die ersten chemischen Verbin- dungen, die nach Hunts Ansicht Oxyde von Silicium, Aluminium, Calcium, Magnesium und Eisen waren. Die Erstarrung begann im Zentrum, während die Oberfläche noch flüssig war. Bei weiterer Abkühlung bildete sich an der Oberfläche ein Brei, ähnlich den Hochofenschlacken oder vulkanischen Glä- sern. Als dann die Temperatur so weit ge- sunken war, daß die Oberfläche dieses Breies erstarrte, kondensierte sich auch bald der Wasserdampf, und zwar infolge des größeren Druckes schon bei einer viel höheren Tem- peratur. Da das erste Wasser große Mengen Schwefel- und Salzsäure absorbiert hatte, wurde sofort ein großer Teil der soeben erst gebildeten Kruste zerstört. Ebenso begann die in großen Mengen vorhandene Kohlen- säure auf die Gesteine einzuwirken. Die Erd- oberfläche bestand aus Schichten, die aus dem Schmelzfluß erstarrt, dann aber durch chemische Einflüsse verändert waren. Je dicker die Kruste wurde, um so mehr kommen die untersten mit Wasser durchtränkten Schichten in den Bereich der inneren Hitze und um so größer war der darauf lastende Druck. Sie wurden dadurch in den wässerigen Schmelzfluß gebracht und liefern das Material für die Vulkanausbrüche. Toula bemerkt zu dieser Hypothese, daß zwar das Vorhanden- sein chemischer Prozesse in der Erde nicht zu leugnen sei, daß ihm aber der von Hunt ein- geschlagene Weg höchst zweifelhaft sei. Vor allen Dingen ist nicht einzusehen, warum die einsinkenden Sedimente durch die innere Erdwärme schmelzen sollen, während die in jenen und noch größeren Tiefen befindlichen Massen sich im festen und nicht im flüssigen Zustand befinden sollen. Auch der Ursprung der gewaltigen Sedimentmassen und die Kräfte, welche das Sinken dieser Massen be- wirken,sind keineswegs nachgewiesen. Volger gibt zwar eine im Erdinnern befindliche von der Sonne unabhängige Wärmequelle zu, jedoch macht er sich eine von den gewöhn- lichen Anschauungen vollständig abweichende Er führt die innere Erdwärme Vorstellung. 730 Erdwärme auf drei Ursachen zurück: 1. Den Druck der oberen Schichten auf die unteren. 2. Die Reibung bei der Bewegung der festen Teile und des Wassers innerhalb der Erde. 3. Che- mische durch die Atmosphärilien hervor- gebrachte Vorgänge. In ähnlicher Weise führt Mohr die innere Erdwärme auf umgesetzte Sonnenarbeit zurück. Das von der Sonne auf der Erdoberfläche verdampfte Wasser fällt als destilliertes aus den Wolken hernieder, dringt in die Erde ein und kommt, nachdem es feste Bestandteile aus der Erde aufgenom- men hat, wieder an die Oberfläche. Durch dieses Auswaschen entstehen in der Erdober- fläche Hohlräume, infolge deren Senkungs- erscheinungen auftreten, welche die innere Erdwärme hervorbringen sollen. Pfaff hat eingehend nachgewiesen, daß die von Volger und Mohr angenommenen Wärmequellen nicht im entferntesten ausreichen, sondern daß wir vorläufig die innere Erdwärme nur als Rest der einstigen Ballungswärme er- klären können. Trotzdem alle Beobachtungen dagegen sprechen, daß das Erdinnere seine Wärme von außen empfange, hat doch Treu- bert die Ansicht ausgesprochen, die Sonne sei die Ursache der inneren Erdwärme, indem sie wie die Luft so auch das Innere erwärme. Die Erdrinde sei viele Meilen für Luft und Wasser durchlässig und stehe mit der At- mosphäre durch viele Kanäle in Verbindung. Nach Treuberts Ansicht müßten in dieser „Gesamtatmosphäre" die gleichen Vorgänge stattfinden wie in der Atmosphäre, d. h. die Temperatur müßte mit der Tiefe zu- und mit der Höhe abnehmen. Küppers bemerkt dazu sehr richtig, daß ein großer Unterschied zwischen „Gesamtatmosphäre" und Atmo- sphäre besteht in Bezug auf die Lage der Wärmequelle. Für erstere liegt sie oberhalb, für letztere dagegen unterhalb der erwärmten Luftmassen. Dieser Unterschied dürfte doch auf die Wärmezirkulation einen so großen Einfluß haben, daß dadurch Treuberts Hy- pothese jede Existenzberechtigung verliert. Die von Treubert angenommenen Zirku- lationen der Bodenluft verlangen eine Wärme- quelle im Innern der Erde, und er gibt uns so selbst das Mittel in die Hand, die Unzu- länglichkeit seiner Hypothese zu beweisen. Ebenfalls auf die Sonne, wenn auch in anderer Weise, sucht Jaczewski die Erdwärme zurückzuführen. Nach seiner Meinung müßte man überall dieselbe geothermische Tiefen- stufe finden, trotz der verschiedenen Wärme- leitungsfähigkeit der Gesteine, wenn die Ur- sache dieser Wärme in den zentralen Par- tien der Erde zu suchen wäre. Es müßte sich ischen der von außen zugeführten Sonnen- wärme und der inneren ein stationärer Zustand bilden, sodaßsich jenseits der neutralen Schicht überall dieselbe geothermische Tiefenstufe ergäbe Da nun die geothermische Tiefen- stufe nicht überall gleich groß gefunden worden ist, so schließt Jaczewski, daß die Ursache dei Temperaturzunahme eine andere sei, als die bisher angenommene. Nach seiner Ansicht genügen auch die chemischen Pro- zesse nicht, um die Verschiedenheiten zu er- klären. Diese Gründe erscheinen mir nicht hinreichend, diezentraleErdwärmezu leugnen. Abgesehen davon, daß Jaczewski die durch die chemischen Prozesse entstandene Wärme zu gering anschlägt, vergißt er ganz den Ein- fluß der in der Erdrinde zirkulierenden Wassermassen, die teils erwärmend, teils abkühlend wirken, ebenso wie den der Vul- kane und der unterirdisch erstarrenden Mag- men. Ferner ist auch die Wärmeleitfähigkeit nicht zu vernachlässigen, da die Werte für die in der Erde vorhandenen Stoffe ziemlich voneinander abweichen (siehe Seite 726). Jaczewski versucht dann eine neue Theorie über die Entstehung der Erde aufzustellen, mit deren Hilfe er gleichzeitig den Beweis zu erbringen sucht, daß das Erdinnere kalt sei und daß daher die Temperaturzunahme nur von der durch die Sonne zugeführten Wärme abhängen könne. Die Temperatur des Welt- raumes sei eine sehr niedrige und auch der über den ganzen Weltraum zerstreute Stoff habe eine sehr niedrige Temperatur gehabt. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht Jaczewski glaubte, daß dieMassen, dieunsere Erde jetzt bilden, auch dann noch, als sie schon von der Sonne abgetrennt waren, die niedrige Temperatur des Weltenraumes ge- habt hätten. Beim Zusammentritt der in Uratome aufgelösten Materie zu Atomen und Molekülen wurde eine beträchtliche Wärme- menge frei, die sich mit fortschreitender Ver- dichtung immer mehr steigern und, da wir es bei so hohen Temperaturen mit über- kritischen Gasen zu tun haben, auch auf die ganze Masse gleichmäßig ausdehnen mußte. Von diesem heißen Zentralkörper trennten sich nun erst die einzelnen Planeten mit ihren Monden ab. Jaczewski nimmt dagegen an, daß sich der Kern der kalten unsere Erde bildenden Nebelmasse zuerst verdichtet habe und daß die dabei entstehende Wärme nach außen abgegeben worden sei. Mit fortschrei- tender Konzentration seien immer größere Wärmemengen nach außen abgegeben wor- den, und daher sei die Erde im Innern zuerst kalt und fest geworden. Die Gebirge seien dadurch entstanden, daß die Sonne in der festen Erdrinde ähnliche Strömungen der Massen hervorrufe, wie in den Meeren. Den Vulkanismus erklärt Jaczewski als Folge von stürmischen chemischen Reaktionen, die durch die Wirkung der Sonnenenergie hervor- gebracht würden. Eine Kritik dieser Hypo- these erübrigt sich nach dem eben Ausge- führten wohl von selbst. Eine ganz eigen- artige Erklärung für die innere Erdwärme Erdwärme — Erlenmeyer 731 sucht Liebenow zu geben, indem er das Radium als Ursache angibt. Wenn man die vom Innern abgegebene Wärmemenge 1010 Kilogrammkalorien setzt, so würden 2,1014 g Radium genügen, um die Temperatur der Erde konstant zu erhalten. Verteilt man diese Menge gleichmäßig auf die ganze Erde, so kommen auf 1 cbm 1/5QQ0 mg, nur auf der Oberfläche verteilt kommen auf jeden qm 0,4 g, eine Radiummenge, die in einer 6 cm dicken Schicht Joachimsthaler Pechblende enthalten ist. Daher können in der Tiefe keine größeren Mengen Radium vorhanden sein oder wenigstens ist die Zersetzung nur auf eine geringe Oberflächenschicht be- schränkt. Dann dürfte allerdings auch die Temperatur nur in der Nähe der Oberfläche zunehmen und jenseits jenes Gebietes würde das ganze Innere einen gleichen nicht allzu hohen Maximalwert besitzen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß ein Teil, ja vielleicht sogar die ganze Wärme, die unsere Erde nach außen abgibt, durch die radioaktiven Elemente ge- liefert wird. Ich halte es jedoch für sehr unwahrscheinlich, daß die ganze innere Erd- wärme durch das Radium geliefert wird. Wenn auch das Vorhandensein chemischer Prozesse im Erdinnern nicht zu leugnen ist, so sind sie allein nicht imstande, die gleich- mäßige Temperaturzunahme und den Vul- kanismus zu erklären. Wir können daher nicht auf die Annahme verzichten, daß die innere Erdwärme ein Rest der ursprünglichen Ballungswärme ist, da wir sie einerseits zur Erklärung der vulkanischen Erscheinungen nötig haben, und da sie sich andererseits auch aus der ganzen Entstehung unserer Erde mit Notwendigkeit ergibt. Literatur. S. Arrhenius, Das Werden der Welten. Deutsch von L. Bamberger. Leipzig 1908. — Bischof, Die Wärmelehre des Innern unseres Erdkörpers, ein Inbegriff aller mit der Wärme in Beziehung stehender Erscheinungen in und auf der Erde. Leipzig 18S7. — Cordier, Neue Beobachtungen über die Temperatur im Innern der Erde. Poggendorffs Annalen, LXXXIIX (XIII, N. F.), 1828, S. 363 bis 366. — E. Dunker, lieber die Benutzung tiejer Bohr- löcher zur Ermittelung der Temperatur des Erd- körpers und die deshalb in dem Bohrloche I zu Sperenberg auf Steinsalz angestellten Be- obachtungen. Zeitschrift für Berg-, Dutten- und Salmenwesen in dem Preußischen Staate, 1872, S. 206. — Derselbe, lieber die Temperatur- beobachtungen im Bohrloche zu Schladebach. Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläontologie, 1889, I, S. 29 bis 47. — Fourier, Theorie analytique de la chaleur. Deutsch von Weinstein, S. 9. Berlin 1884- — Günther, Handbuch der Geophysik. 2. Aufl. 1. Stuttgart 1897. — Honn, Handbuch der Klimatologie. 1883. — Jaczeicslci. Ueber das thermische Regime der Erdoberfläche im Zusammenhang mit den geologischen Prozessen. Verhandhingen der Kaiserl. Russ. Mineralogischen Gesellschaft, XL1I, 1905, S. 243 bis 383. — A. Kircher, Mundus subterraneus. Amsterdam 1665. — Kupffer, Bemerkungen über die Temperatur in den tieferen Erdschichten. Poggendorffs Annalen, CV1II (XXXII, N. 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Freiberg 1834- — Stapff, Wärmezunahme nach dem Innern von Hochgebirgen. Bern 1880. — Derselbe, Drei Vorträge, gehalten in der 55. Ver- sammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Eisenach 1882. — H. Thiene, Temperatur tind Zustand des Erdinnern. Jena 1907. — Thomson und, Tait, Handbuch der theore- tischen Physik. Deutsch von Helmholtz und Wertheim, I2. Braunschweig 1874- H. Thiene. Erleiimeyer Emil. Geboren am 28. Juni 1825 zu Wehen bei Wies- baden, starb er am 22. Januar 1909 inAschaffen- burg, wo er seit 1893 im Ruhestand lebte, nachdem er seine erfolgreiche Lehrtätigkeit in Heidelbergl855 begonnen, dann seit 1868 an der Technischen Hoch- schule in München bis zum Jahre 1883 ausgeübt hatte. Er ist als Schriftsteller ungemein tätig ge- wesen, nicht nur durch Veröffentlichung seiner aus- gezeichneten Experimentaluntersuchungen , die meist Gegenstände der organischen Chemie behan- delten, sondern auch durch Herausgabe eines größe- ren Lehrbuches der organischen Chemie (seit 1864), in dem er die damals neue Strukturlehre mit Erfolg durchführte und so zu deren Einbürgerung beitrug. Seine gesunde, kritische Natur kam hier wie schon früher in seinen theoretischen Auf- sätzen, die er in der von ihm herausgegebenen „Zeitschrift für Chemie und Pharmazie" in Zeiten des Sturmes und Dranges chemischer Entwicke- lung (1859 bis 1864) veröffentlichte, zu voller Geltung. Das Wirken E r 1 e n m e y e r s auf diesem Gebiete wie als Forscher und als Lehrer ist in dem von seinem Schüler M. Conrad geschriebenen Nekrolog (Ber. 43, 3654) eingehend dargelegt. E. von Meyer. 732 Erosion - - Erzlagerstätten Erosion nennt man die eingrabende Tätigkeit des Wassers, Eises und Windes (vgl. die Artikel „Meere", „Flüsse", „Eis", „Atmo- sphäre"). Eruptivgesteine heißen alle Gesteine, welche~raus dem Schmelzfluß entstanden sind. Synonymum: vulkanische Gesteine. Man vergleiche die Artikel „Lagerungsform der Gesteine" und „Gesteinseinteilung" Erzlagerstätten. 1. Einleitung. 2. Die wichtigsten auf den Erzlagerstätten vorkommenden Mineralien: a) Erze von Gold, Silber, Quecksilber, Platinmetallen, Kupfer, Blei, Zink, Zinn, Eisen, Mangan, Chrom, Aluminium, Nickel, Kobalt, Antimon, Wismut, Arsen, Molybdän, Wolfram, Uran, Lithium, Schwefel, Phosphorit, b) Lagerarten und Gang-, arten. 3. Allgemeine geologische Verhältnisse: a) Unterscheidung nach der Form, b) Lage im Raum. 4. Sekundäre Veränderungen der Mineral- führung. 5. Systematik. 6. Entstehung der Erz- lagerstätten und damit zusammenhängende be- sondere Eigenschaften: a) Magmatische Ausschei- dungen, b) Schichtige Lagerstätten, c) Erz- gänge. Entstehung der Spalten. Die Gang- füllung. Gangstruktur. Paragenesis. Unregel- mäßigkeit der Erzführung, d) Höhlenfüllungen und metasomatische Lagerstätten, e) Kontakt- lagerstätten, f) Die eluvialen Lagerstätten, g) Die alluvialen Seifen. 7. Beziehungen der Erz- lagerstätten zum Magma. 8. Die wichtigsten Lagerstätten in ihrer geographischen Verbreitung: Gold, Silber, Quecksilber, Platin, Kupfer, Blei, Zink, Zinn, Wolfram, Eisen, Mangan, Chrom, Aluminium, Nickel, Kobalt, Antimon, Wismut, Schwefel, Phosphorit. i. Einleitung. Als Erz bezeichnet der Bergmann im allgemeinen Mineralien, aber auch Mineralgemenge, welche für die Dar- stellung von Schwermetallen oder ihrer Ver- bindungen in Betracht kommen können. In diesem Sinne besteht ein Erz fast nie- mals aus Schwermetallen oder Schwermetall- verbindungen allein, sondern diese sind meistens vermengt mit mehr oder weniger massenhaften wertlosen Begleitern, den Gang- (oder Lager-)Arten; außer manchen anderen technischen Gesichtspunkten ent- scheidet der Wert des zu gewinnenden Metalles darüber, ob das Gemenge als Erz bezeichnet werden kann oder nicht. So kann eine Quarzmasse mit einer Beimengung von nur 0,0005% Gold in sehr vielen Fällen als Golderz gelten, während ein eisenhaltiges Gemenge mit 30% Eisengehalt nur unter ganz besonderen Verhältnissen noch als Eisenerz betrachtet werden kann, üebrigens werden gelegentlich auch solche Schwermetall Verbindungen als Erze bezeich- net, die nicht wegen des Metalles sondern wegen ihres wertvollen Gehaltes an Schwe- fel oder Arsen usw. gewonnen werden, so der Schwefelkies, der Arsenkies, und in früherer Zeit galt dies auch für die sauerstoff- reichen Manganerze. In den Erzlagerstätten haben die in kleinen Mengen durch die ganze Gesteins- welt verbreiteten Metalle durch mannigfache Vorgänge eine Konzentration erfahren. 2. Die wichtigsten auf den Erzlager- stätten vorkommenden Mineralien. Im folgenden mögen die wichtigsten auf den Erzlagerstätten auftretenden („einbrechen- den") Mineralien, Erze wie Gangarten aufgezählt werden. Es geschehe dies unter Bezeichnung ihrer besonderen Art des Vor- kommens, ihrer Bildung und Umwandlung, während wegen der besonderen Eigenschaften der zu erwähnenden Minerahen auf die mine- ralogischen Lehrbücher und die entsprechen- I den Artikel des Handwörterbuchs verwiesen ! werden muß. 2a) Erze.— Gold. Gold ist ein zwar sehr untergeordneter aber oft wertvoller Be- standteil vieler Sulfide, wie des Schwefel- kieses, des Kupferkieses, der edlen Silbererze, i des Fahlerzes und des Arsenkieses, sowie manchmal des Arseneisens. In welchem Zustand sich das Edelmetall in diesen Erzen befindet, ob in gediegenem Zustand fein ein- sprengt, oder wie dies oft sehr wahrschein- lich ist, in isomorpher Mischung oder Lösung, läßt sich bisher mit Sicherheit nicht fest- stellen. Durch Verwitterung der genannten Erze wird das Gold frei und erfährt dabei sehr oft eine sekundäre Konzentration als Freigold. Das gediegene Gold ist neben dem gold- haltigen („güldischen") Schwefelkies ' das wichtigste Golderz. Man unterscheidet das Berggold vom Seifengold; ersteres wird zu letzterem, wenn es durch natürliche Trans- portmittel (Wasser, Wind) aus den primären Lagerstätten verschleppt wird. Das Berggold soll im allgemeinen einen höheren Silber- gehalt als Seifengold besitzen ; er kann z. B. auf den Goldsilbererzgängen Siebenbürgens 4/iq der Legierung ausmachen. Die größere Keinheit des Seifengoldes wird einerseits dadurch begründet, daß das auf den allu- vialen Lagerstätten vorkommende Gold teil- weise von sekundären, bereits silberarmen Goldkonzentrationen in den verwitternden Lagerstätten herrührt, andererseits nimmt man auch an, daß infolge der langandauernden Einwirkung der Atmosphärilien in den Seifenablagerungen eine Auslaugung der unedleren Beimengungen, also eine natürliche Läuterung des Goldes statthat. Auf gewissen Golderzgängen bilden die Erzlagerstätten 733 zinnweißen Tellurgolderze ein sehr wichtiges silber (Hornsilber, Kerargyrit, AgCl mit 75,3% Ag), das Bromsilber (AgBr), der Jodobromit (AgJ + 2 Ag[Cl, Br]), und das hexagonale Jodsilber (Jodargyrit, AgJ); weitaus das wichtigste ist das, in den Wüsten 1 Chiles ehedem stellenweise massenhaft ge- und 10% Ag, in dem fast silberfreien | fundene Chlorsilber. Erz. Die Zusammensetzung dieser Erze entspricht allgemein der Formel (Au, Ag)Te2, d. h. das Verhältnis zwischen Gold und Silber ist ein sehr schwankendes; so enthält der Sylvanit vonNagyäg in Siebenbürgen 30% Au Calaverit Kaliforniens sind 44% Au, im Krennerit etwa 35% Au auf 6% Ag enthal- ten. Der gleichfalls zu Nagyäg auftretende bleigraue Nagyagit (Blättertellur) ist im wesentlichen ein Bleitellurid mit einem Goldgehalt von 6—13%. Sehr selten ist das Tellurgoldsilber (Petzit (Ag, Au), Te) mit 24 bis 26% Au. " Silber. Das meiste Silber wird aus dem Bleiglanz gewonnen, der fast immer einen, allerdings sehr selten bis zu 1% sich erhe- benden Silbergehalt besitzt. Von den edlen Silbererzen ist das manchmal goldhaltige gediegene Silber in den mannigfachsten Formen (in Drähten, Zähnen, Filigranen, Kristallen usw.), insbesondere als ein Ver- witterungsprodukt auf silberhaltigen Blei- glanzlagerstätten oder entstanden durch die Umwandlung anderer Silbererze sehr ver- breitet. "Wichtig ist ferner der dunkelgrau metallisch glänzende regulär kristallisierende Silberglanz _(Ag2S, mit 87,07% Ag), sehr selten das ähnlich aussehende Tellursilber (Hessit Ag2Te). Auf den Andreasberger Gängen hatte das zinnweiße Antimonsilber (mit etwa 75% Ag) eine gewisse Bedeutung. Sehr verbreitet sind die rotdurchsichtigen Rotgültigerze, nämlich der Proustit (Ag3AsS3 mit 65,4% Ag und der Pyrargyrit (Ag3SbS3 mit 60% Ag), der letztere weit häufiger als ersterer. Die prächtigen rhomboedrisch- hemimorphen Kristalle dieser Erze finden sich u. a. auf den Silbererzgängen von An- dreasberg, im Erzgebirge, in Chile, Peru und Bolivien usw. Von anderen rotdurchsichtigen Silbererzen seien genannt die Feuerblende (Ag3SbS3, wie Pyrargyrit, aber monoklin), der Xanthokon (Ag3AsS3, gleichfalls monoklin) und der monokline Miargyrit AgSbS2; letztere drei sind selten und niemals als Silbererze von eigentlicher Bedeutung. Schöne, eisenschwarz glänzende rhombische Kristalle bildet nicht selten in Begleitung des Rotgültigerzes der Stephanit (Melanglanz, Sprödglaserz, Ag5SbS4, mit 68,5% Ag); Das wichtigste Quecksilbererz bildet der Zinnober, HgS mit 86,2% Hg, meistens derb, seltener in rhomboedrischen Kristallen. Er wird oft von gediegenem Quecksilber, wohl auch von Silberamalgam begleitet. An manchen Orten, z. B. zu Kotterbach an der Tatra, wird Quecksilber auch aus queck- silberhaltigem Kupferfahlerz gewonnen, das [ bis zu 17 % desselben enthalten kann. Die Metalle der Platingruppe, Pla- tin, Iridium, Osmium, Palladium, Rhodium und Ruthenium bilden in der Natur Legie- rungen, in welchen Platin, Iridium (im Osmiridium) und Osmium (im Iridosmium) , die vorwaltenden Bestandteile ausmachen. 1 Zu bemerken ist, daß sich auf den Golderz- I lagerstätten von Gongo Socco nördlich von Ouro Preto in Brasilien Gold mit einem Palladiumgehalt von 8% gefunden seltener ist der Polybasit (etwa Ag10Sb2S8, eines der reichsten Silbererze mit ca. 70% Ag). Ein sehr seltenes silberreiches Germanium- mineral ist der Argyrodit von Freiberg. Stark silberhaltig und dann als eigentliche Silber- erze von Bedeutung, wie z. B. in Südamerika oder ehedem zu Freiberg, sind häufig gewisse Antimonfahlerze. Wohl stets sekundärer Entstehung sind die regulär kristallisierenden Halogenver- bindungen des Silbers, nämlich das Chlor- hat. Der Laurit, RuS2, von Borneo und der Sperrylit, Pt As, von Sudbury in Kanada, haben nur mineralogisches Interesse. Das wichtigste Kupfererz ist der gold- gelbe, tetragonal kristallisierende Kupfer- kies (FeCuS2, mit 34,5% Cu und 30,5% Fe). Massenhaft findet sich, mitunter als primäres Erz, das Kupferfahlerz [(Cu2,Fe.Zn)4Sb2S4 oder (Cu2, Fe, Zn)4As2S4 oder Mischungen beider mit einem Kupfergehalt bis zu 52%]. Diesem eisenschwarz metallisch glänzenden, tetraedrisch kristallisierenden Erz ist ähnlich der wenig häufige rhombische Enargit (Cu3AsS4). Alle übrigen Kupfererze sind ge- wöhnlich oder ausschließlich aus der Verwitte- rung der vorigen, besonders des Kupferkieses hervorgegangen : das im frischen Bruche bronzefarbige Buntkupfererz (FeCu3S3, mit 55,6% Cu) der incligo blaue Covellin (Kupfer- indig, CuS, mit 66,4% Cu), der eisenschwarz glänzende, nicht selten in rhombischen Kris- tallen auftretende Kupferglanz (Cu2S, mit 79,8%, Cu), das reguläre Rotkupfererz (Cu20, mit 88,8% Cu) und das gediegene Kupfer; desgleichen die blauen oder grünen Kupfer- salze, wie der Malachit ([CuOH],C03), die Kupferlasur ([CuOH]2Cu[C03]2); gelegent- liche Kupferarseniate und -Phosphate, das Kieselkupfer (CuSi03 . 2H20) und seine mit Brauneisenerz verunreinigte Abart, das Kupferpecherz. Der in schönen rhom- boedrischen Kristallen auftretende Dioptas, H2CuSi04 ist selten, der in Wasser leicht lösliche Kupfervitriol, CuS04.5H20, hat nur in regenarmen Gebieten (z. B. in der Wüste Atacama) Bedeutung als Kupfererz. 734 Erzlagerstätten Das gewöhnlichste Bleierz und eines der häufigsten Erze überhaupt ist der Bleiglanz (PbS, mit 86,6% Pb, wohl stets silberhaltig); er ist bleigrau, ein ausgezeichnetes Beispiel regulärer Kristallisation. Als Bleischweif bezeichnet man striemig-faserigen Bleiglanz, der seine Struktur wohl stets einer Pressung und Gleitung zu verdanken haben dürfte. Bei der Verwitterung des Bleiglanzes ent- steht vorzugsweise Weißbleierz (Cerussit, PbC03), viel seltener der gleichfalls rhom- bisch kristallisierende Anglesit (Bleivitriol PbS04), gelegentlich bilden sich auch die hexagonalen Erze Pvromorphit (Grünbleierz, Pb5(P04)3Cl) und Mimetesit (Pb5(As04),Cl); untergeordnete sekundäre Bleimineralien sind unter anderen das Gelbbleierz (PbMo04, tetragonal) und das sehr seltene, monokline Kotbleierz (PbCr04). Wenig verbreitet und nur selten wichtig als primäres Gang- mineral sind der Bournonit (PbCuSbS3) und einige andere Sulfosalze des Bleies. Das verbreitetste Zinkerz ist die regulär- tetraedrisch kristallisierende Zinkblende (Blende, Sphalerit ZnS). Im reinen Zustande enthält sie 67% Zn; bei den meisten Blenden wird indessen der Zinkgehalt durch die Bei- mengung von Eisen, das bis 20% ausmachen kann und dessen reichliche Anwesenheit im allgemeinen an der dunklen Färbung der Blende erkannt wird, erheblich herabgedrückt. Viele Zinkblenden besitzen einen merk- lichen, bis zu 4% steigenden Cadmiumgehalt, der sich bei der Verwitterung in der Bildung des hochgelben CdS, des Greenockits, kund- gibt. Weit seltener als die Blende ist die hexagonale Modifikation des ZnS, der in derben Aggregaten meistens nicht leicht von der Zinkblende unterscheidbare Würtzit. durch Ver- Galmeie" hervor, d. h. der rhomboedrische Zinkspat (Smithsonit ZnC03), das rhombisch -hemimorphe Kieselzinkerz (Calamin (ZnOH)2Si03), die mit diesen ge- legentlich vorkommende schneeweiße Zink- blüte (Zn(OH)2.(ZnOH)2CO?) und der sel- tene Willemit (Zn2Si04). Die Galmeie kom- men fast ausschließlich dort vor, wo das Nebengestein der verwitternden Blendelager- stätten Kalkstein ist. Das rhomboedrische, in der Natur als Rotzinkerz auftretende Zinkoxyd (ZnO, mit einem bis zu 12% steigenden Mn203-Gehalt) und der Frank- linit, ein Zinkeisenmanganspinell, bilden nur bei Franklin im Staate New Jersey mäch- tige bauwürdige Massen. Das Zinn tritt in der Natur fast nur als Zinnerz (Zinnstein, Kassiterit, Sn02) auf. Dieses braune, tetragonal kristallisie- rende Erz enthält nach der Formel 78,6% Sn, ist aber meistens durch Eisenoxvd und Aus der Zinkblende gehen Witterung die I andere Oxyde etwas verunreinigt. Der Zinnkies (FeCu2SnS4) ist nur auf wenigen Zinnerzlagerstätten bekannt. Das Eisen findet sich in der Natur hier und da in gediegenem Zustande unter Be- dingungen, die bei mancher Aehnlichkeit mit dem Meteoreisen doch eine tellurische Herkunft sicher erscheinen lassen. Das einzige wirklich massenhaftere Eisenvor- kommen ist dasjenige von Uifak (Ovifak) auf der Insel Disko an der Westküste von Grön- land. Tatsächlich ist das dortige Eisen in früherer Zeit von den Eskimos zur Herstellung von Geräten benutzt worden. Die wichtigsten Eisenerze sind der Mag- netit, der Eisenglanz, das Brauneisenerz und , der Spateisenstein. Der eisenschwarze, metallischglänzende, meist in Oktaedern kristallisierende Mag- netit (Fe304 mit 72,4% Fe) ist eines der wichtigsten Erze der Kontaktlagerstätten und bildet in den kristallinen Schiefern manchmal kolossale Lager; auf den Erz- gängen tritt er nur ausnahmsweise auf. Seine Bildung vollzieht sich offenbar bei höheren Temperaturen, wie er denn auch in größeren Massen als Ausscheidung aus Eruptivgesteinen und zwar besonders kiesel- säurearmen („basischen") bekannt ist. In letzterem Falle wird er gern von Titaneisen (Ilmenit, mFe203+nFeTi03) begleitet, dessen Titangehalt den Wert solcher Erze herab- drückt. Der rhomboedrisch kristallisierende, gleichfalls eisenschwarze, metallisch glän- zende, an seinem dunkelkirschroten Strich erkennbare Eisenglanz (Hämatit, Rot- eisenerz, roter Glaskopf, Eisenglimmer, Eisen- rahm, Fe203 mit 70%Fe)' geht häufig infolge Oxydation aus dem Magnetit hervor; er vermag neben diesem oder ohne ihn in derselben Weise Erzlager zu bilden und tritt gleichfalls, wenn auch seltener als vor- herrschendes Erz der Kontaktlagerstätten auf. Auf Erzgängen ist er häufiger als jener und mitunter das einzige Erz solcher. Eisen- glanz findet sich als Verwitterungsprodukt vieler eisenhaltiger Erze und Mineralien. Im übrigen ist das Brauneisenerz (Limonit, brauner Glaskopf, Fe409H6 = 2Fe203.3H20 oder 4FeOH3— 3H20, mit 60%Fe) das gewöhnlichste und stabilste Um- wandlungsprodukt aller der Verwitterung unterliegenden Eisenverbindungen. Dieses Hydroxyd ist außerordentlich verbreitet in vielen wichtigen Eisenerzlagern der käno- zoischen und mesozoischen Schichten und bildet den Hauptbestand der aus konzentrisch- schaligen Konkretionen bestehenden Eisen- oolithe oder Eisenrogensteine. In den ver- witterten Ausstrichzonen der Erzlagerstätten tritt das Brauneisenerz an die Stelle sonstiger Eisenerze und eisenhaltiger Gangarten und Erzlagerstätten 735 verursacht die intensive Braunfärbung, die dazu führte, jene Ausstriche als den „eisernen Hut" zu bezeichnen. Der Siderit (Eisenspat, Spateisenstein, FeCOp mit 48,2% Fe) kristallisiert rhom- boedrisch und besitzt im frischen Zustand eine licht braune Farbe, die durch Ver- witterung sehr bald in die braune des Braun- eisenerzes oder bei einigem Mangangehalt in eine braunschwarze oder schwarze über- geht. Trotz seines niedrigen Eisengehaltes bildet er ein wichtiges Erz, insbesondere wenn an Ort und Stelle genügend Brennmaterial vorhanden ist, um ihn vor dem Transport abzurosten, wobei der Rückstand etwa die Zusammensetzung des Magnetits annimmt. In früherer Zeit war der Siderit gegenüber anderen Eisenerzen bevorzugt, weil er fast durchgängig phosphorarm oder phosphor- frei ist. Als Sphärosiderit bezeichnet man knollen- und linsenförmige, sehr stark mit tonigem Material verunreinigte Konkre- tionen von Spateisenstein, wie sie insbesondere in den verschiedensten tonig entwickelten Schichten des Mesozoikums und des Ter- tiärs auftreten. Wenn sie mehr oder weniger zu Brauneisenstein verwittert sind, nennt man sie wohl auch Toneisensteine. Der Kohleneisenstein (black band), der in zahl- reichen Kohlenrevieren früher als wichtiges Erz gefördert worden ist, ist ein durch kohlige Beimengungen verunreinigter, dazu gewöhnlich ziemlich phosphorhaltiger Spat- eisenstein. Die Brauneisensteine, ganz besonders die in sedimentären Lagern angehäuften, also z. B. auch die Rasen- und Seeerze, sind mehr oder weniger reich an Phosphorsäure. Ein höherer Phosphorgehalt führt manchmal zum sichtbaren Auftreten von allerlei Eisenphosphaten, wie des blauen Vivianits (Fe3(P04)2.8H20), des gelben Kakoxns (Fe,(P04)2.12H20), des braunen Eleonorits, des grünen Kraurits usw. Neben dem Brauneisenerz kommen in untergeordneter Menge noch andere Eisen- hydroxyde vor, wie der Goethit (Fe02H), der Gelbeisenstein (Fe205H4) und der rote und deshalb dem Roteisenstein ähnliche Hydro hämatit (Turgit Fe407H2). Die beiden wichtigsten Eisensulfide, der Magnetkies (Fe7S8 bis FenS12, wahrschein- lich FeS) und der Schwefelkies (Pyrit, FeS2) kommen als Eisenerze nur mittelbar in Be- tracht; wenn sie durch Röstung völlig ihres Schwefelgehaltes beraubt („totgeröstet") sind, werden sie gelegentlich auf Eisen weiter ver- hüttet. Im übrigen bildet besonders der Pyrit das Hauptmaterial für die Herstellung der Schwefelsäure. Die verbreitetsten Manganerze sind die als Braunstein bezeichneten Mangan- superoxyde und Oxyde. Die Zusammenset- zung Mn02 besitzt der nicht sehr häufige, mitunter in deutlichen tetragonalen Kristallen auftretende stahlgraue Polianit, ferner der strahlige oder faserige gleichfalls stahl- graue Pyrolusit (Grau- oder Weichmangan- erz); jener Formel entspricht ein Gehalt von 63,2% Mn und 36,8% 0. Der Psilomelan (schwarzer Glaskopf, Hartmanganerz) besteht zum größten Teil aus MnO,, enthält aber daneben immer auch BaO, K20 und andere Bestandteile, wie z. B. Li20. Aehnlich zusammengesetzt ist das leichte, poröse Wad. Der schwarze Mang an it (Mn02H) bildete auf den Manganerzgängen des Südharzes bei Ufeld in mitunter prächtigen rhombi- schen Kristallen das Haupterz. Die beiden tetragonal kristallisierenden halbmetallisch glänzenden schwarzen Manganoxyde, der Hausmannit (Mn304) und der Braunit (Mn203) finden sich nicht nur auf Gängen, sondern sie treten vor allem auch massenhaft an mehreren Orten Mittelschwedens, ge- bunden an Kalksteineinlagerungen in den kristallinischen Schiefern auf. Der Rhodo- nit (MnSiOjj) kommt als Gangart auf man- chen Erzgängen und gewissen Kontaktlager- stätten vor. Da er außerdem auch an der Zusammensetzung gewisser Schiefer beteiligt ist (z. B. in der Kulmformation) und leicht zu Braunstein verwittert, so kann er den Ausgangspunkt für die Entstehung von reicheren Manganerzlagern bilden. Das Chrom erscheint in größerer Menge lediglich in der Form des regulär kristallisie- renden, schwarzen Chromits (Chromeisen- stein (Fe, Mg, Cr) (Cr, AI, Fe)204). Er bildet nur in sehr basischen, magnesiareichen Eruptivgesteinen, den Peridotiten, mag- matischeAusscheidungen von mitunter großem Umfang. Aluminium wird aus dem Kryolith (3NaF. A1F3) und vor allem aus dem Bau xit gewonnen. Der letztere hat etwa die Zu- sammensetzung A100H, ist aber mehr oder weniger durch Brauneisen und andere Stoffe verunreinigt; er entsteht durch die tief- gehende Zersetzung der verschiedensten tonerdehaltigen Gesteine. Die eigentlichen Sulfide, Arsenide und Antimonide des Nickels, wie der Millerit (Haar- oder Nickelkies, NiS), der Rotnickel- kies (NiAs), der Chloanthit (NiAs,), der Gersdorffit (NiAsS), der Ullmannit (NiSbS) usw. haben niemals eine größere Bedeutung für die Nickelgewinnung gehabt. Diese geht vielmehr von zwei Mineralien aus, nämlich dem mitunter reichlich nickelführenden Mag- netkies und dem Garnierit und anderen ihm verwandten Mineralien. Der Magnetkies mancher an gabbroartige Gesteine gebundener Lagerstätten, wie z. B. zu Sudbury in Kanada, enthält oft einen meistens nurwenigeProzente ausmachenden Nickelgehalt, der gelegentlich 736 Erzlag» a statten bei Anwesenheit des nickelreichen Nickel- magnetkieses bis zu 15% steigen kann. Es ist zweifellos, daß solche Magnetkiese samt dem mit ihnen auftretenden Kupferkies Aussonderungen aus dem Gabbromagma selbst sind. Als Garnierit, Schuchardtit, Pimelit, Nickelgymnit usw. werden grüne, mehr oder weniger nickeloxydreiche, teilweise auch tonerdehaltige, gewöhnlich erdige Mag- nesiumhydrosilikate bezeichnet, welche stel- lenweise, wie in Neukaledonien und zu Frankenstein in Schlesien massenhaft bei der Zersetzung von nickelhaltigem Serpentin entstellen. Garnierit bildet gegenwärtig das hauptsächlichste Nickelerz. Kobalt, das zur Smaltefabrikation be- nötigt wird, stammt vorzugsweise aus dem Speiskobalt (CoAs2) und aus dem Asbolan. In früherer Zeit, als die sogenannten Kobalt- fahlbänder bei Snarum in Südnorwegen noch von erheblicher Bedeutung für die Blau- farbenindustrie waren, bildete der Kobalt- glanz (CoAsS), wie der Speiskobalt ein zinnweißes, regulär kristallisierendes Erz - der erstere besonders gern in Pentagon- dodekaedern gleich dem Pyrit — ein sehr wichtiges Kobalterz. Der Asbolan (Erd- kobalt, Kobaltmanganerz) erscheint in nieren- förmigen, dem Wad nicht unähnlichen Massen, die hauptsächlich aus Brauneisen und Mn02 bestehen und als Zersetzungsprodukt nicht nur auf kobalthaltigen Erzgängen auftreten, son- dern auch in der Verwitterungskrume z. B. der nickelführenden Serpentine auf Neukale- donien so massenhaft angetroffen werden, daß sie heute ein sehr wichtiges Kobalterz darstellen. Das in diesen Asbolanen scheinbar durch Adsorption konzentrierte Kobaltoxyd bildete jedenfalls, wie das Nickelerz, einen spärlichen Bestandteil der zersetzten Ser- pentine. Das hauptsächlichste Antimonerz ist der bleigraue in rhombischen Prismen kristal- lisierende Antimonit (Antimonglanz, Grau- spießglanzerz, Sb2S3, mit 71,4°/oSb). Selten ist das gediegene Antimon. Wismuterze sind das auf vielen Zinn- erzgängen verbreitete gediegene Wismut und der zinnweiße, in rhombischen Prismen wie der Antimonit kristallisierende Wismut- glanz (Bismutit, Bi,S3, mit 81,2% Bi). Letz- terer ist im allgemeinen selten, bildet aber zusammen mit dem aus ihm hervorgehenden Wismutocker (Bismit, Bi203, mit 89,66% Bi) zu Tasna und Chorolque in Bolivien die reichsten Wismutlagerstätten der Erde. Das Arsen des Handels wird bei der Verhüttung der mannigfachen arsenhaltigen Erze (Fahlerze, Arsenkies FeAsS, Arsen- eisen oder Löllingit FeAs2, Speiskobalt usw.) gewonnen. Zu Andreasberg im Harz hatte das Vorkommen von gediegen Arsen eine gewisse Bedeutung. Für die Zwecke des Eisenindustrie sind der bleigraue Molybdänglanz (MoS2) und vor allem der schwarzbraune, monokline Wo lfr a- mit (FeW04 und Mn\VÜ4 oder Mischungen beider, mit 76% W03) gesuchte Erze. Sie finden sich hauptsächlich auf den Zinnerzgängen oder solchen mit ganz ähnlicher mineralogischer Zusammen- setzung. Das Uranpecherz (Pechblende, etwa U304, aber mit erheblichem Bleigehalt) ist seit etwa 60 Jahren für die Fabrikation gefärbter Gläser, von Porzellanfarben und neuerdings auch wegen seines Radiumgehaltes gesucht. Die wichtigsten Lagerstätten dieses pechschwarzen, durch das außerordentlich hohe spezifische Gewicht 9 aus- gezeichneten Minerales liegen bei Johanngeorgen- stadt und Joachimsthal im Erzgebirge, wo es ebenso wie z. B. im Gilpin County (Colorado) an Silbererzgänge gebunden ist. Lithium präparate werden hergestellt aus lithiumhaltigen Glimmern wie z. B. dem Zinn- waldit (H2K2Li2Al4Si6019F4+Fe12Si6Ol2), aus dem Spodumen (LiAlSi206) und dem Petalit (LiAlSi4Ü10), welche letztere beiden z. B. auf der Insel Utö bei Stockholm für diesen Zweck gewonnen werden. Der rhombisch kristallisierende Schwefel findet sich als Bestandteil von gewissen jung- tertiären Mergelablagerungen in verschiedenen Gegenden; am wichtigsten sind die sizilianischen Schwefellager. Die chemische Industrie benutzt hauptsächlich den Schwefelkies (FeS2) zur Dar- stellung der Schwefelsäure. Das einzige massenhaft auftretende Phos- phat ist der Apatit (Ca5(P04)3Cl oder Ca5(P04)3F). Durch ihre schönen hexagonalen Kristalle be- rühmte Fundstätten liegen in Südnorwegen und Untario. Als Phosphorite bezeichnet man teils phosphatreiche Koprolithen oder fossile Knochen und Zähne, sobald sie massenhaft in den Schichten auftreten, vor allem aber unreine, mehr oder weniger kalkige, tonhaltige oder eisenschüssige Konkretionen oder Krustenbildungen über Kalk- steinen oder geradezu in Phosphat umgewandelte Kalksteine. Diese sind alle durch eine sekundäre Konzentration der ursprünglich an organische Reste gebundenen Phosphorsäure entstanden und bestehen wenigstens teilweise aus Fluorapatit; im übrigen ist die mineralogische Konstitution besonders der konkretionären Phosphorite noch wenig genau bekannt. 2b) Lagerarten und Gangarten. Soweit die Erze lagerartig oder als Ausscheidungen aus Eruptivgesteinen vorkommen, werden sie von den normaler Komponenten der normalen Sedimente oder kristallinen Schiefer, welche man dann als „Lagerarten" bezeichnet, oder von gewissen normalen Bestandteilen der Eruptivgesteine be- gleitet. Auf den sogenannten Kontaktlager- stätten sind die in den metamorphen Kalksteinen verbreiteten Silikate, mitunter in sehr schöner Kristallisation, die Begleiter der Erze: so vor allem der mehr oder weniger eisenhaltige Granat (Melanit, Topazolith, Andradit, Aplom Ca3Fe2- Si3012, eisenhaltiger Grossular Ca,(AlFe),Si3Oi2), der monokline Diopsid (MgCaSi2Ü6), Strahlstein ((MgFe)3CaSi401„), der tetragonale Vesuvian (H4Ca12Xl6Si10043), der Epidot (H2Ca4(AlFe)6 Si6026), Wollastonit (CaSi03), seltener der Ilvait (H2Ca.,FeIIFe1ISi4Ol8) usw. Erzlagerstätten 737 Ueberall verbreitet ist der Quarz (Si02), häufig der chemisch gleichartige Chaleedon. Der Quarz bildet in verschiedenen Abarten (Eisen- kiesel, Amethyst, Milchquarz, Bergkristall usw.) überhaupt die wichtigste Gangart der Erz- gänge ; der wasserhaltige Opal findet sich gelegent- lich (wie z. B. der durch Nickeloxyd grün ge- färbte Prasopal) als sekundäres Produkt. Von den Karbonaten ist am verbreitetsten der Kalk- spat (rhomboedrischesCaCOg), weniger häufig sind die weiteren „Karbonspäte" der Kalkspatgruppe: Dolomit (CaC03.MgC03), Braunspat (CaC03. (Mg, Fe ,Mn) C03) , Ankerit (Ca C03 . Fe C03) , Eisenspat (Siderit FeC03) und Manganspat (Rhodochrosit MnC03). Die rhombischen Kar- bonate der Aragonitreihe, Aragonit (CaC03), Strontianit (SrCÜ3) und Witherit (BaC03) sind auf Erzgängen seltene Erscheinungen. Von den Sulfaten ist der sehr häufig in ausgezeichneten rhombischen Kristallen auftretende Schwerspat (Baryt BaS04) eine der wichtigsten Gangarten; selten sind der Anhydrit (CaS04) und der Coele- stin (SrS04). Der Flußspat (CaF2) findet sich fast nur auf Erzgängen, mitunter so massenhaft, daß er gewonnen wird. Silikate sind auf Erzgängen im allgemeinen selten. Ziemlich verbreitet und hier und da massen- haft vorkommend ist der rosafarbige, fast stets derbe Rhodonit (MnSi03). Die Feldspäte Ortho- klas (KAlSi308) und Albit (NaAlSi308) werden nur gelegentlich beobachtet. Von Bedeutung sind gewisse bor-, fluor- und lithiumhaltige Sili- kate für die Zinnerzgänge, so vor allem der Tur- malin (meistens der schwarze Schörl, Si^B^l],, (MgFe)]2H6Ofi3), der Topas (ALSi04(F, OH),) und der Zinnwaldit (ein Lithionglimmer). Die Zeolithe, das sind wasserhaltige Alumosilikate von Calcium, Natrium, seltener auch von Kalium, Baryum (Strontium) brechen nur auf gewissen, besonders auf silberhaltigen Erzgängen in größerer Menge ein, so z. B. zu St. Andreasberg. Der Apatit (Ca5(P04)3(F,Cl)) findet sich unter anderem auf manchen Zinnerzgängen. 3. Allgemeine geologische Verhältnisse. 3a) Unterscheidung nach der Form. Eine Systematik der Erzlagerstätten muß zwar, wenn sie wissenschaftlich befriedigen soll, stets auf deren Entstehungsweise be- gründet werden. Da aber die Erkenntnis der letzteren mitunter sehr schwierig und sogar bei vielen im übrigen gut bekannten Lager- stätten die Entstehungsweise noch Gegen- stand der Erörterung ist, so ist es sehr ge- bräuchlich, allgemein die Form der Lager- stätten als Unterscheidungsprinzip zu be- nutzen. Manche der dabei gebrauchten Be- zeichnungen umschließen bereits eine gene- tische Deutung. Flöze sind über große Flächen hin verfolgbare Schichten, welche einen nutz- baren Bestandteil enthalten oder aus einem solchen bestehen, also z. B. Kohlenflöze, oder das Mansf eider Kupferschieferflöz. Als Lager bezeichnet man erzreiche Gesteine oder Erzmassen, die bei verhältnismäßig geringer Ausdehnung in die Weite als ab- sonderliche Gebirgsglieder so zwischen den Schichten liegen, daß sie selbst für sedi- mentäre Bildungen gehalten werden müssen oder wenigstens zunächst solche zu sein scheinen; z. B. die Kieslager der verschie- densten Gegenden, die ßleierzlager im schle- sischen Muschelkalk, die Magnetit- und Eisenglanzlager im schwedischen Urgebirge. Als Linsen bezeichnet man Lager mit verhältnismäßig großer Dicke. Fahlbänder sind kristalline Schiefer, welche lagenweise einen im Verhältnis sehr zurücktretenden Gehalt an Erzen führen. In der ursprüng- lichen, aus Norwegen stammenden Anwen- dung dieses Ausdruckes handelt es sich um vorwaltende sulfidische Erze. Stöcke sind ganz unregelmäßig geformte, ringsum vom Nebengestein umschlossene, mit- unter auch tief unter die Oberfläche verfolg- bare Erzmassen von beträchtlicheren Aus- maßen, häufig mit etwa elliptischem oder kreisförmigem Querschnitt. Nester, Putzen Schmitzen, Knauer, Nieren und ähnliche Ausdrücke bezeichnen Erzanhäufungen klei- neren und kleinsten Maßstabes. Erzlineale sind lagerartige Massen von linsenförmigem Querschnitte und sehr bedeutender Aus- dehnung nach einer Richtung. Diese Bezeich- nung wird für manche norwegische Kieslager gebraucht, die so in den Schichten liegen, wie ein Lineal zwischen den Blättern eines Buches. Unter Seifen versteht man Geröllab- lagerungen, meist fluviatiler Herkunft, oder auch wohl oberflächlichen Verwitterungs- schutt, welche Edelmetalle, Zinnerz, Edel- steine u. dgl. führen. Erzgänge sind mit Erz ausgefüllte Spalten. Klüfte, Adern, Trümer, Schnüre sind Gänge von geringer Dicke und Ausbrei- tung. Stockwerke sind ausgedehntere, mit Erzadern dermaßen durchzogene Gesteins- massen, daß das Gestein selbst wie Erz verarbeitet werden muß. Bot das Gestein selbst vermöge seiner Schicht-, Absonde- rungs- und Zerrüttungsklüfte oder in seinen Poren die Wege für die Einwanderung von Erz, so spricht man von Imprägnationen. können stellenweise die Form von annehmen. Lage im Raum. Bei allen Lager- bezeichnet man die geringste Dimen- sion, senkrecht zwischen zwei mehr oder weniger parallelen Begrenzungsflächen ge- Solche Lagern 3b) Stätten messen, als die Mächtigkeit. Ist die Lager- stätte nicht horizontal („schwebend") ge- lagert, so bedeutet ihr Streichen (Fig. 1) den Winkel zwischen der Nordsüdrichtung und der in der Lagerstättenebene liegenden Horizontalen; unter dem Einfallen ver- steht man den spitzen Winkel, welchen die Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 47 738 Erzlagerstätten Normale zur Streichrichtung mit dem Hori- zont bildet. Zeigt die Lagerstätte einen stark wechselnden Verlauf, so bezieht man sich auf zwei Richtungen, welche zwischen den wechselnden Streich- und Fallrichtungen die Mitte halten und spricht von General- streichen und Generalfallen. Als den Aus- biß oder Ausstrich bezeichnet man die- Streichen- fibrd J/oriz, orvt Sud Fig. 1. X Winkel des Streichens; + Einfalls- winkel. Aus Stelzner-Bergeat, Erzlager- stätten. jenige Stelle, wo die Lagerstätte an die Ober- fläche tritt. Durch jüngere Auflagerungen ist der Ausbiß gewöhnlich „verdeckt". Von sehr wesentlicher Bedeutung für die jeweilige ununterbrochene Ausbreitung von Erzlagerstätten sind die Ge b i r g s s t ö r u n g e n, welche sich nach der Lagerstättenbildung zugetragen haben. Soweit die Erzlager- stätten, wie ein großer Teil der Flöze und Lager, gleichen Alters wie das Nebengestein sind, haben sie mit diesem sämtliche Störun- gen der ursprünglichen Lagerung, seine Fal- tung in Mulden und Sättel (Synklinalen und Antiklinalen), Deformationen wie Zerrungen, Zerreißungen und Zusammenstauungen er- fahren. Für die Erzgänge, welche durch Ausfüllung solcher Spalten entstanden sind, die sich in der Regel erst nach der Faltung und in ihrem Gefolge bildeten, kommen fast nur diejenigen Gebirgsstörungen in Betracht, welche man in weiterem Sinne als Verwerfun- gen bezeichnet. Ihrem Wesen nach zerfallen diese in zwei ganz verschiedene Arten, in die Verwerfungen im engeren Sinne und in die Ueberschiebungen. Bei den echten Verwerfungen (Fig. 2 und 3) hat längs einer Fig. 2. Quer- verwerfung, x Sprnngwinkel, su flache Sprung- höhe, ru Seiten - Verschiebung. Zerreißungsfläche („Verwerfer") eine Bewe- gung in der Weise stattgefunden, daß der dem Verwerfer aufruhende, „hangende" Teil tiefer und sehr häufig auch etwas seitwärts von dem unter dem Verwerfer ruhenden („liegenden") zu liegen kam. Man gewinnt den Eindruck, als habe auf dem Verwerfer ein Abgleiten stattgehabt. Von einer Ueber- schiebung spricht man, wenn längs einer, gewöhnlich recht flach- liegenden „Ueber- schiebungsfläche" der hangende Teil gegen den unter ihr liegenden emporgeschoben worden ist. Solche Ueberschiebungen sind sehr häufig begleitet von den Anzeichen einer vorherigen Zerrung infolge von Faltung (sogenannte Faltenverwerfungen). In ähn- licher Weise vermögen auch Verschiebungen in anderen Richtungen, z. B. in horizontaler, vor sich zu gehen. 4. Sekundäre Veränderungen der Mine- ralführung. Die Mineralführung der Lager- stätten steht in enger Beziehung zu ihren Entstehungsbedingungen. Hier mögen zu- nächst nur die Veränderungen besprochen werden, welche der Mineralbestand durch die nahe der Oberfläche stattfindende Ver- streichende Verwerfung. Witterung erfährt, und die einerseits zur Neu- bildung zahlreicher „sekundärer" Mineralien führen, andererseits für den technischen Wert der Lagerstätte von sehr hoher Bedeutung werden können. Die Umwandlungen werden vorzugsweise durch das Wasser und den Sauerstoff der Luft, weiterhin durch die im Wasser ent- haltene Kohlensäure und die durch dasselbe dem Boden entzogenen Halogensalze, Phos- phate, Humussubstanzen und Stickstoff- sauerstoffverbindungen usw. bewirkt. Sie bestehen in einer Hydratisierung und Oxyda- tion, insbesondere auch in einer Umwandelung in Salze, welche mit den bezeichneten Stoffen und unter sich in Wechselwirkung treten können. Es bilden sich so Hydroxyde, Oxyde, Sulfate, Karbonate, seltener Tellurate, Chro- mate, Molybdate, Wolframate, Phosphate, Arseniate, Vanadate, Silikate, Chloride, Bro- mide und Jodide; auffällig ist auch das recht häufige Vorkommen besonders von gedie- genem Kupfer und Silber, sehr gewöhnlich die Abscheidung 7 Gold aus goldhaltigen Erzen. Es sei dazu weiter daran erinnert, daß bei der Oxydation des überall verbreiteten Schwefelkieses freie Schwefelsäure entsteht: FeS2-f70 = FeS04+S03. Die Umwandelung der Lagerstättenaus- striche findet nur oberhalb des Grundwasser- spiegels statt. Wo gleichwohl noch unter- halb desselben eine ausgiebige sekundäre Erzlagerstätton 739 Mineralbildung beobachtet wird, wie z. B. auf den Siegerländer Spateisensteingängen, läßt sich in manchen Fällen nachweisen, daß der letztere in früheren Zeiten tiefer lag als jetzt. Die Verwitterung des Lagerstättenaus- striches führt zur Weglaugung von Mineralien und damit zu einem löcherigen, zerfressenen Aussehen der Masse; da die Eisensalze bei Anwesenheit reichlichen Wassers und von Luft schließlich in Brauneisenerz übergehen, so erscheint der Ausstrich gewöhnlich rostig und man bezeichnet deshalb diese verwitterten Massen als den „eisernen Hut" der Lagerstätte. Schreitet die Denudation rascher vorwärts als die Bildung des eisernen Hutes, so wird dieser letztere fehlen und die Lager- stätte tritt in unveränderter oder wenig veränderter Beschaffenheit an die Oberfläche. Dies gilt vor allem für Hochgebirge und Gegenden mit ehemaliger Gletscherbedeckung wie Skandinavien. Dagegen hat sich in regenarmen Gebieten, wie z. B. in den Wüsten Südamerikas, im Laufe langer Zeit eine bis in große Tiefen reichende Umwandlung der Lagerstätten vollziehen können, teilweise unter Erhaltung sogar leicht löslicher Ver- witterungsprodukte. Man hat in dem verwitternden Ausstriche häufig zweierlei Zonen zu unterscheiden: oben sehr oft einen von edleren Bestandteilen fast freien, im wesentlichen aus Branneisenerz und Quarz bestehenden, mitunter Mippenförmig aus der Landschaft hervortretenden Ausbiß und dar- unter eine reiche Anhäufung sekundärer, aus den niedersickernden Lösungen ausgeschiedener Erze, die sehr oft den eigentlichen Reichtum der Lagerstätte bildet. Bei dieser Umlagerung ent- stehen allgemein schwefelärmere oder schwefel- freie Erze, welche der Verhüttung geringere Schwierigkeiten bereiten. Es ist leicht verständ- lich, wenn nach der Erschöpfung dieser reichen Zonen sehr oft der Bergbau eingestellt wurde. Gold wird aus dem verwitternden Schwefel- kies frei und vermag sich auf der Lagerstätte zu gröberen Massen von Freigold zu konzentrieren. Kupferkies geht in Buntkupferkies und Kupfer- glanz über; desgleichen enthält der eiserne Hut oft große Mengen von gediegen Kupfer, Rot- kupfererz und Karbonaten, die eine „oxydische Zone" über jenen sekundären Sulfiden zu "bilden pflegen. Bleiglanz wird hauptsächlich zu Weiß- bleierz, das in ihm enthaltene Silber scheidet sich in gediegenem Zustande oder auch als Silber- glanz oder als Silberchlorid, -bromid und -Jodid aus. Aus der Zinkblende werden bei Gegenwart von Kalkstein die viel leichter verhüttbaren Galmeie. Der Galmei im Ausstrich vieler Blende- lagerstätten ist schon seit dem Altertum zur Messingfabrikation benutzt worden , während erst im XIX. Jahrhundert die Verwendung der J Zinkblende gelang. Manche jetzt unbedeutenden Kupfergruben verdankten ihren ehemaligen Reichtum den reichen oxydischen Erzen im eisernen Hute und den darunter liegenden reicheren sekundären Sulfiden, so in Chile, in Montana, in Toscana und in Südaustralien. Viele sehr reiche Silbererzlagerstätten, besonders in Nord- und Südamerika, wurden später als Bleiglanzlagerstätten verlassen und die be- merkte Verarmung der Golderzgänge in der Tiefe hat nicht nur darin ihre Ursache, daß mit der Zunahme unzersetzter Sulfide, insbesondere des Pyrits, die Gewinnung des Edelmetalles schwieriger wurde, sondern auch darin, daß im eisernen Hute tatsächlich eine abwärts gerichtete Konzentration des Goldes stattgefunden hatte. Die im Obigen bezeichneten, durch Aus- laugung und Wiederausscheidung bewirkten Er- scheinungen werden wohl auch als die „sekun- dären Teufenunterschiede" bezeichnet. 5. Systematik. Eine wissenschaftliche Systematik der Erzlagerstätten muß von deren Entstehune;sweise ausgehen. Eine sehr verbreitete Aufnahme hat die folgende, von dem Freiberger Geologen A. W. Stelz- ner (f 1895) herrührende Systematik gefun- den, welche die Erzlagerstätten nach ihrem Altersverhältnis zum Nebengestein und so- weit sie mit diesem zugleich gebildet sind, nach der Entstehungsweise des letzteren unter- scheidet. I. Prot ogene (primäre) Lager statten. Die Erze sind an Ort und Stelle aus Lösungen (Schmelzen) kristallisiert, nicht durch che- mische oder mechanische Verlagerung aus präexistierenden Erzabsätzen hervorgegan- gen. 1. Syngenetische Lagerstätten. Die Erze bilden einen gleichzeit'g mit dem Muttergestein entstandenen Bestandteil dieses letzteren. a) Magmatische Ausscheidungen in Erup- tivgesteinen. Form: Einsprengungen, Putzen, Nester, Schlieren, Stöcke. b) Schichtige oder sedimentäre Lager- stätten. Form: Einsprengungen, Flöze, Lager, Linsen, Nieren. 2. Epigenetische Lagerstätten. Die Erze sind nach der Bildung des Neben- gesteins in dieses eingewandert. a) Gänge. Ausfüllungen von Spalten der verschiedensten Dimensionen; letztere sind im wesentlichen ohne eine chemische Auf- lösung des Nebengesteines entstanden. Form: Mehr oder weniger ausgedehnte Lager- stätten von plattenförmiger Gestalt. Stock- werke. Imprägnationen. b) Höhlenfüllungen und metasoma- tische Lagerstätten. Infolge der Mine- ralansiedelung hat eine chemische Auflösung des Nebengesteins stattgehabt; der von den Mineralien eingenommene Raum ist im wesentlichen durch eine solche geschaffen worden. a) Die Lagerstätte enthält keine mit dem Kontakt- kann vorherge- Erzabsatz gleichzeitig gebildeten mineralien. Der Mineralansiedelung die Bildung von Hohlräumen 47* 740 Erzlagerstätten gangen sein, oder der Mineralabsatz erfolgte unter schrittweiser Verdrängung (Meta- somatose) des Nebengesteins. Das letztere ist fast durchweg Kalkstein oder Dolomit. Metasomatische Lagerstätten im en- geren Sinne. Form: Stöcke, Lager, Linsen, Butzen, Nester, Schläuche; aufgelagerte Massen über Schratten, Karren, Kacheln, in Taschen, Trichtern und Orgeln. ß) Die Lagerstätte ist während der Kontaktmetamorphose des Kalksteins durch einen eruptiven Durchbruch entstanden, das Erz ein Exsudat des Eruptivgesteins. Zur Mineralführung der Lagerstätte gehören Kon- taktmineralien. Kontaktlagers t ätten. Form: eingelagerte Stöcke usw. wie bei a, in der Regel im Kontakt zwischen dem Eruptivgestein und dem Kalkstein. IL Deuterogene (sekundäre) Lager- stätten. Durch chemische oder mechanische Konzentration eines ärmeren Erzgehaltes nach der Auflösung oder Zertrümmerung älterer Gesteine oder Lagerstätten ent- standen. 1. Eluviale Lagerstätten. Die Erze haben keinen nennenswerten Transport er- fahren; hat auf chemischem Wege eine Konzentration zu gröberkörnigen Haufwerken stattgehabt, ist überhaupt die Verwitterung des Gesteins von einer chemischen Anreiche- rung des Erzgehaltes begleitet gewesen, so spricht man von me tat he tischen Lager- stätten. Form: Grus, erzführende Verwitte- rungsböden, erdige, sandige oder konglo- meratartige Residuen, Klumpen, Knollen, Bohnerze usw. 2. Alluviale Lagerstätten (Trüm- merlagerstätten, Seifen). Die nutzbaren Bestandteile bilden nach der Zerstörung ihrer ursprünglichen Lagerstätte zusammen mit Gerollen und Detritus einen Bestandteil von Alluvionen. Form: Klumpen, abge- riebene Kristalle, Flitterchen und Staub in Fluß-, seltener in marinen oder äolischen Ablagerungen. 6. Entstehung der Erzlagerstätten und damit zusammenhängende besondere Ei- genschaften. 6a) Die magmatischen Ausscheidungen. Die in ihren Ursachen noch wenig erkannten Vorgänge, welche dazu führen, daß ein ursprünglich homogener Schmelzfuß (Magma) in chemisch verschie- dene Teilschmelzen zerfällt (magmatische Differentiation oder Spaltung), und auf welche die Erscheinung zurückzuführen ist, daß demselben Magmaherde nach ihrer minera- logischen Zusammensetzung recht verschie- dene Gesteine entstammen können, bewirken auch gelegentlich eine lokale Anreicherung der im Magma vorhandenen Schwermetalle. Soweit diese schon in einer früheren Zeit der Gesteinserstarrung kristallisieren und nicht etwa während der Festwerdung des Magmas ausgestoßen werden (vgl. unter 7), vermögen sie, manchmal bis zum fast voll- ständigen Ausschluß sonstiger Mineralaus- scheidungen, Lagerstätten von zumeist oxy- dischen Erzen zu erzeugen. Solcher Art sind die Schlieren, Klumpen, Stöcke und linsen- förmigen Massen von Magnetit und Titan- eisenerz, insbesondere in kieselsäureärmeren, zumeist den Gabbros nahestehenden Ge- steinen und die massigen Anreicherungen von Chromeisenstein in manchen Peridotiten (basischen, hauptsächlich aus Olivin be- stehenden Gesteinen). Wie lue und da das nickelhaltige metallische Eisen, so findet sich auch das Platin, meistens in feinster Verteilung, als magmatische Ausscheidung in Olivingesteinen, freilich in zu geringer Menge, als daß sich seine Gewinnung daraus lohnen könnte. Magmatische Lagerstätten gehören zu den selteneren Typen. Ihre Erze sind dadurch gekennzeichnet, daß sie IJebergänge nach Eruptivgesteinen erkennen lassen. 6b) Schichtige (sedimentäre) Lager- stätten. Während der Bildung der Sedi- mente können dem sie absetzenden Wasser metallhaltige Lösungen irgendwelcher Her- kunft zugeführt worden sein, aus welchen sich zu gewissen Zeiten, also geologisch ge- sprochen in bestimmten Schichthorizonten Erze niedergeschlagen haben. Ein Kennzei- chen solcher erzführender Sedimente ist ihre „Horizontbeständigkeit"; ein weiteres be- steht darin, daß neben den Erzen auch die normalen Bestandteile sedimentärer Gesteine, gelegentlich z. B. auch Gerolle, wohlerhaltene Versteinerungen u. dgl., in den Lagern gefun- den werden. Durch Gebirgs druck, Faltungen und Störungen kann die ursprüngliche Form solcher Ablagerungen sehr verwischt sein, durch Metamorphose ihr Mineralbestand ein besonderes Gepräge erhalten haben. Der Erzgehalt der schichtigen Lager- stätten mag sich, soweit er aus Eisen- oder Manganerzen besteht, hauptsächlich aus der Zerstörung von Gesteinen herleiten, deren Eisen- und Mangangehalt unter der Einwir- kung lösender Agentien, wie Kohlensäure, weggeführt und dann infolge Verlustes der letzteren meist unter Oxydation wieder aus- geschieden wurde. In solcher Weise bilden sich auf dem Festlande die See-, Sumpf- und Raseneisenerze und zwar vorzugs- weise im Bereich der großenteils aus feinem Gesteinsdetritus bestehenden diluvia- len Glazialablagerungen. Durch die bei der Fäulnis von Pflanzen entstehende Kohlen- säure oder durch gewisse, als Humus-, Quell- oder Quellsatzsäure bezeichnete organische Komplexe wird das Eisenoxydul, welches vorher durch die Fäulnisprozesse und den Sauerstoffbedarf der fäulnisbewirkenden Bak- terien aus Eisenoxyd erzeugt wurde, gelöst, Erzlagerstätten 741 weggeführt, aber im Verlauf der Wanderung wieder oxydiert und als Brauneisenerz in der Gestalt von Knollen, Klumpen und Linsen ausgeschieden. Nicht ganz verschieden davon ist vielleicht das Vorkommen konkre- tionärer (oolithiseher) Eisenerze in manchen Ablagerungen ehemaliger seichter Meeres- teile, wie im thüringisch-böhmischen Silur, im Jura (Fig. 4), in der norddeutschen Kreide von Spalten her in die bituminösen Mergel eingewandert sei. Niederschläge von Schwefeleisen bilden Fig. 4. Die Eisenoolithflöze bei Wasseralfingen. Braun- Jura: cc Opalinus-Tone 100 — 110 m; ß Personatensandstein 10 m, x unteres Eisensteinflöz, 1,6 m, Sandschiefer 3 m, y Zwischenüüz 0,7 m, Sandschiefer 6 m, z oberes Flöz 1 m, toniger Sandstein 6 — 9,m; y Sowerbyi-Kalk 6 m; d Giganteus- und Ostrea-Kalk 2 m; s Parkinsoni-Oolith 9 m; £ Ornatenton 9 m. Weiß- Jura: cc Impressaton 50 m; ß Biplex-Kalk 20 m; y 1 Schwammfelsen, 2 Planulatenkalk, 3 Aptychentoi? , zusammen 70 m; 6 Mutabilis-Kalke. — Maßstäbe in Metern. Nach E. Fraas. Aus Stelzner- Bergeat, Erzlagerstätten. und im alpinen Eocän, während z. B. die j bei Ilsede in Hannover auftretenden Eisen- j erze die sicheren Anzeichen einer Herkunft aus zusammengeschwemmtem Eisenschlamm an sich tragen, der von der Zerstörung meso- ! zoischer Sedimente herrührt. Oolithische Manganerze kennt man z. B. aus alttertiären Ablagerungen zu Kutais im Kaukasus. Anderer Art sind wohl die im rechtsrheini- schen Mittel- und Oberdevon verbreiteten Roteisensteinlager. Da sie immer an Diabase und deren Tuffe gebunden sind, so hat man ihre Entstehung mit dem Eintritt von vulka- nischen Eisenchloriddämpfen oder Eisen- säuerlingen in das devonische Meer in Zu- sammenhang gebracht. lieber die Ent- stehung der vorzugsweise aus Eisensulfiden und Kupferkies bestehenden „Kieslager" gehen die Ansichten auseinander, wie denn auch unter Kieslagern jedenfalls Lagerstätten von sehr verschiedener Bildungsweise ver- standen werden. Manche, wie z. B. diejenigen von Bodenmais in Bayern und von Falun in Schweden sind sehr wahrscheinlich erup- tive Intrusionen, andere, wie diejenigen von Norwegen werden für gangartige, epige- netische Bildungen gehalten, während da- gegen das Kieslager des Rammeisberges bei Goslar deutliche Versteinerungen führt. Der Kupferschiefer am Harz und in Thüringen gilt den meisten Geologen als syngenetisches Flöz, andere meinen, daß der Erzgehalt sich jetzt noch dort, wo Anhäufungen von Seetang verwesen. Gewisse Seetange ver- mögen nämlich dem Meerwasser Sulfate zu entziehen, die bei der Verwesung zu Sulfiden reduziert werden; letztere werden durch die bei der Fäulnis entstehende Kohlensäure unter Entwickelung von H2S in Karbonate umgewandelt, wobei dann aus Eisenlösungen Schwefeleisen ausgefällt wird. Im Schwarzen Meere ist das Wasser schon in Tiefen unter 180 m so mit Schwefelwaserstoff durch- schwängert, der von Fäulnisprozessen her- rührt, daß darunter alles tierische Leben unmöglich wird; es erklärt sich so die An- wesenheit von erheblichen Mengen von FeS im Bodenschlamme. Die wichtigsten Schwefellagerstätten Europas, nämlich diejenigen im gipsführenden jüngeren Tertiär Siziliens, sind schichtiger Natur. Man erklärt ihre Entstehung teils durch eine Reduktion von Gips durch verwesende organische Substanzen (das Mut- tergestein der Schwefellager ist gewöhnlich reich an Bitumen) und die weiter im nach- stehenden Schema bezeichneten Vorgänge: CaS04 + 2 C = CaS + 2iC02 CaS+ H,0+ C02 = CaC03+ H2S H2S+0 = H20+S Der vorhin erwähnte zur Entstehung des Eisensulfids führende Vorgang kann bei Abwesenheit von Eisen auch die Bildung 742 Erzlagerstätten von freiem Schwefel zur Folge haben. Eine andere Erklärungsweise bezieht sich auf die sogenannten Schwefelbakterien, welche als Nebenprodukt ihres Stoffwechsels bis zu 90% ihrer ganzen Masse an Schwefel auszu- scheiden vermögen; sie erzeugen ihn aus dem bei Fäulnisprozessen entstehenden Schwe- felwasserstoff und oxydieren ihn zu Schwefel- säure (vgl. den Artikel „Bakterien"). In den Limanen des Schwarzen Meeres spielen sie eine nicht unwesentliche Rolle. mal die Schichten in solcher Menge erfüllen, daß letztere zu wichtigen Phosphatlagern werden können. 6c) Die Erzgänge. Die Zuwanderung der mineralbildenden Stoffe erfolgte auf Spalten, die sich in weitaus den meisten Fällen im Zusammenhang mit tektonischen Vorgängen bildeten und sich dann sehr oft als Verwer- fungen zu erkennen geben. Manchmal sind indessen die Spalten nichts anderes als die Absonderungsklüfte eines erstarrenden Ge- Ä\ Devon. Culm. Granit. Kersantit. Mesozoicum. Fig. 5. Die Spalten, Erzgänge und Ueberschiebungen („Ruschein") im Oberharz. Nach Bens hausen. Aus Stelzner-Bergeat, Erzlagerstätten. Wenn Flachseeablagerungen reich sind an Versteinerungen, insbesondere an Ueber- resten von Wirbeltieren, so hat der in diesen vorhandene Gehalt an phosphorsaurem Kalk und Fluor nicht selten eine Konzentration in den hauptsächlich aus Apatit (Ca5(P04)3F) bestehenden Phosphoritknollen erfahren, welche neben den Versteinerungen manch- steines, so z. B. die flözartig übereinander- liegenden Zinnerzgänge im Granit von Zinnwald, der durch sie in schalenförmig übereinanderliegende Bänke geschieden wird; oder das Spaltengewirre (Stockwerk) an der Peripherie des zinnführenden Granitstockes von Altenberg i. S., oder die zahlreich hinter- einanderfolgenden Querabsonderungen man- Erzlagerstätten 74:5 eher gangförmiger Intrusivgesteine (soge- nannte „Leitergänge"). Da die durch die gleichen tektonischen Ursachen bewirkten Verwerfungen in dem- selben Gebiete gewöhnlich die gleiche Rich- tung besitzen, so ist auch das Streichen der Gänge desselben „Gangre vieres" oft ein gleichgerichtetes (Fig. 5). Wo sich, wie in der Freiberger Gegend, verschiedene Systeme gleichgerichteter Gänge durchschneiden, ist auch die Erzführung in den verschiedenen Systemen häufig verschieden. Das Einfallen der Gänge ist gewöhnlich ein steiles. Ihre streichende Länge mißt häufig nur wenige hundert Meter, recht oft aber auch mehrere, manchmal sogar viele Kilometer. Die „ein- fachen Gänge" bestehen lediglich aus der Ausfüllung einer, gewöhnlich nur nach Dezi- metern messenden Spalte; „zusammenge- setzte Gänge" hingegen sind erzerfüllte Zer- rüttungszonen, bestehen also aus einem ganzen System ineinander verlaufender „Trümer" und Gänge mit zwischengelagerter] Schollen des zerrissenen Nebengesteins. Die zusammengesetzten Bleiglanzgänge der Claus- thaler Gegend (Oberharz) erreichen bis zu 80 m Mächtigkeit. Andererseits können ein- fache Klüfte bis zur geringen Dicke von wenigen Millimetern, wenn sie goldführend sind, immer noch als wertvolle Gänge gelten. Die Mächtigkeit der Erzgänge kann beträcht- lichen Wechseln unterworfen sein, d. h. sie „verdrücken" sich bald, bald „tuen sie sich auf". Wieweit die Gänge in die Tiefe reichen können, ist nicht bekannt; Tatsache ist, daß sie stellenweise noch in Schächten von mehr als 1000 m Tiefe abgebaut werden, ohne daß sich Anzeichen einer Endigung hätten wahrnehmen lassen. Die Gangfüllung besteht aus den Erzen und den unbrauchbaren Gangarten, sowie gelegentlich aus Bruchstücken des Nebengesteins. Treten die Erze se.hr zurück, so wird der Gang „taub". Sämtliche bereits oben (2 a) aufgezählten Erze mit Ausnahme weniger, wie des Rotzink- erzes, der Zinkspinelle, des Chromits und Bauxits sind auf Erzgängen anzutreffen, deren mineralogische Erscheinungsweise be- deutend vielartiger ist, als die irgendeines anderen Lagerstättentypus. Gangstruktur. Die Anordnung der Gemengteile einer Gangfüllung (ihre „Struk- tur") läßt fast immer erkennen, daß die Kristallisation wie aus einer wässerigen Lösung vor sich gegangen ist, wobei sich lagenweise Krusten verschiedener Mineralien, mitunter in wiederholter Folge, ausgeschieden haben. Die Aufeinanderfolge der Krusten ist nicht selten in gleicher Weise an beiden Spaltenwänden zu beobachten, wodurch die Gangfüllung einen ganz charakteristischen symmetrischen Aufbau erhält (Fig. 6). Ge- wisse Erze pflegen dabei immer vor anderen auskristallisiert zu sein, d. h. die Altersfolge („Sukzession") in den Gangfüllungen ist keine ganz gesetzlose. Enthält der Gang Bruchstücke des Nebengesteins oder einer ^^AikiJtlhgfed c 6 Fig. 6. Gangstufe der barytischen Bleiformation vom Prinzen-Spat der Grube Churprinz bei Freiberg, a Braune Blende, b weißer Quarz, c spargelgrüner Flußspat, d zarter Saum von brauner Blende, e schmutzigfleischroter, krumm- schaliger Schwerspat, f schmaler Saum von Strahlkies, g Schwerspat = e, h Flußspat = c, i Strahlkies = f, k weißer Kalkspat, 1 licht-wein- gelber Kalkspat, in der Mitte kleine Drusen bil- dend. Nach v. Weißenbach. älteren Ausfüllung der Spalte, so spricht man von „Gangbreccien"; zeigt die jüngere, verkittende Füllmasse um die Bruchstücke herum die vorhin erwähnte Lagenstruktur, so spricht man wohl von „Kokardenerzen". Sind die einzelnen Bestandteile der Füllung unregelmäßig und ohne deutliche Alters- unterschiede miteinander verwachsen, so entsteht die „massige CTangstruktur". Gewöhnlich ist die Ausfüllung der Gang- spalte nicht völlig zu Ende gediehen; es hinterbleiben dann mehr oder weniger nahe der Medianebene Hohlräume, die mit den zuletzt ausgeschiedenen Kristallen ausge- kleidet sind; es sind das die oft so prächtigen „Drusen". Paragenesis. Das Vorkommen der zahlreichen auf Erzgängen anzutreffenden 744 Erzlagerstätten Mineralarten ist zunächst durch bestimmte Existenz- und Entstehungsbedingungen ge- regelt. Viele Mineralien fehlen vollständig in den primären Gangfüllungen, sind aber ganz gewöhnliche Erscheinungen in den sekun- dären Gebilden des eisernen Hutes, wie z. B. sämtliche Kupfer- und Bleisalze der Sauer- stoffsäuren, das Brauneisenerz usw.; andere bilden sich niemals im eisernen Hute, wie Magnetit, Wolframit, Speiskobalt usw. Wei- terhin ist in der primären Gangfüllung selbst das Zusammenvorkommen der Erze und Gangarten geregelt durch die zumeist noch wenig erklärbaren Gesetzmäßigkeiten, die man mit Breithaupt (1849) als die Para- genesis der Mineralien bezeichnet und die darin bestehen, daß gewisse Mineral(Stoff-)- Kombinationen an den verschiedensten Orten der Erde wiederkehren und dort für ganze Gangreviere charakteristisch sein können, dabei nicht nur von anderen Mineralien, sondern auch von einer ganzen Reihe che- mischer Elemente geradezu gemieden zu werden pflegen. So ist die Kombination Quarz, Schwefelkies, Gold in den „Gold- quarzgängen" über die ganze Erde verbreitet, ebenso der Bleiglanz in Begleitung der Zinkblende; an vielen Orten findet sich das Zinnerz mit einer treuen Genossenschaft von Quarz und wolfram-, lithium-, bor- und fluorhaltigen Mineralien, der z. B. Antimon, Silber, Blei und Zink vollständig fehlen. Mit einem alten Freiberger Ausdruck be- zeichnet man diese Mineralkombinationen als „Formationen"; zu Freiberg selbst unter- scheidet man mehrere, teilweise auch im Alter verschiedene und in verschieden ge- richteten Gangsystemen auftretende Erz- formationen. Unregelmäßigkeit der Erzführung. Die primäre Mineralführung eines Ganges kann sowohl in horizontaler wie in verti- kaler Erstreckung (im Streichen und Fallen) wechseln; so beobachtet man z. B. in gewissen Oberharzer Gängen, daß mit zunehmender Tiefe Zinkblende an die Stelle des Bleiglanzes tritt. Man bezeichnet diese Erscheinung kurz als den „primären Teufenunterschied". Zu Schemnitz in Ungarn sind einzelne Gänge in ihren nördlichen Teilen goldreicher, in ihren südlichen silberreicher; mit zuneh- mender Tiefe geht dort die Silbererzführung in eine Golderzführung über. Der Reichtum (Adel) eines Ganges ist übrigens nicht in seiner ganzen Ausdehnung derselbe, er wechselt vielmehr, indem die Erze in „Mitteln" angereichert erscheinen, deren Anordnung häufig eine gewisse Regel- mäßigkeit zeigt. Durchsetzt ein Gang ver- schiedene Arten von Nebengesteinen, so findet recht oft mit dem Wechsel des letzteren auch eine Zunahme oder Verminderung der Erzführung statt (Fig. 7). Eine allge- meine Regel besteht in solcher Beziehung nicht, indessen ist es eine oft gemachte Wahr- nehmung, daß Nebengestein, das selbst erzführend ist (z. B. der Kupferschiefer oder Fahlbänder) auf durchsetzende Erz- gänge veredelnd wirkt. Zu Freiberg fand eine erhebliche Veredelung dort statt, wo ein jüngerer Gang spitzwinkelig auf einen älteren traf und eine Strecke weit dessen Verlauf folgte, d. h. „geschleppt" wurde. Während die vorhin erwähnte Abhängig- keit der Erzführung von der Art des Neben- gesteins zweifellos chemischen Einflüssen zuzuschreiben ist, wird selbstverständlich auch die verschiedene Möglichkeit der Spal- tenbildung in verschiedenen Gesteinen, die ganz von deren Struktur abhängt, für das Auftreten von Erzgängen und deren Mächtig- keit von Belang sein. 6d) Höhlenfüllungen und meta- somatische Lagerstätten. Bei den Erz- gängen beschränkt sich der Mineralabsatz im wesentlichen auf den mechanisch gebil- deten Spaltenraum; eine Imprägnation des Nebengesteins oder eine teilweise Verdrän- gung hat in manchen Fällen statt, die Lager- stätte behält dabei aber doch immer die Form einer nach zwei Richtungen vorwaltend mannigfaltiger entwickelten Platte. Viel s.o. JTunslscfräcfi/e ScftreiÄer-Sch. ? ^ Jidrnigftai : **gcr (/rauer GnmJS \ ,:,:,„. Gzqsfr. &bert-Sc7b. zrrr A _ m vv>n\ -i-Ä "A,.,, l>il,,ULfft, <£,.,y. ,,,.■, iu uSa — V\4v\\\ — T-'" ^ — *V" — i *-' n ';;-"?: T't — ''-ir ' V l-V »fwlÄvÄu^ ffi J^f .f..„.?n i .■ " Vffl\ -fr» •!' Art wm 111 1 «w« -i \. < \ Ipgl» Fig. 7. Die. Verteilung der Erzmittel im Ludwigspatgang zu Freiberg und ihre Abhängigkeit vom Nebengestein. Nach H. Müller. Aus Stelzne r-Bergeat , Erzlagerstätten. Erzlagerstätte m 745 wird die Gestalt, wenn die erzabsetzenden Lösungen längs irgendwelcher Spalten mit dem verhältnismäßig leicht löslichen Kalk- stein in Berührung kommen. Es mögen dann zunächst Hohlräume entstehen, die durchaus dieselbe Formenmannigfaltigkeit besitzen, wie die durch die Atmosphärilien längs Klüften, also auch an der Grenze zwischen leicht- löslichen Kalk- und schwerer -löslichen oder unlöslichen Gesteinen und zumal auch längs Schichtflächen oder im Durchschnitte von Spalten erzeugten Auslaugungshöhlen. Die ausgezeichnete Lagenstruktur mancher an Kalksteine gebundener Lagerstätten spricht dafür, daß dem Erzabsatz tatsächlich die Bildung eines Hohlraumes vorhergegangen sein muß und man kann dann von Höhlen- füllungen sprechen. Allgemein kann man die oft recht unregelmäßig gestalteten Erz- ansiedelungen im Kalkstein als metasoma- tische (Metasomatose = Verdrängung) be- zeichnen, wenn man damit nicht sagen will, daß der letztere selbst immer als ausfällendes Agens gewirkt habe und dabei gewisser- maßen molekelweise von den Mineralansie- delungen verdrängt worden sei. Die Formen, welche metasomatische Lagerstätten anneh- men können, sind in den Figuren 8 und 9 dargestellt. Recht verbreitet sind lagerartige Vorkommnisse, die dadurch ent- TOO/n — -> Fig. 8. Sogenannte Erzschläuche. Zinnober- vorkommen im Kalkstein von Siele in Toskana. Nach Spirek. Aus Stelzner-Bergeat, Erzlagerstätten. ■3*»_ '<<".:. Fig. 9. Metasomatische Ausbreitung des Erzes in Kalkstein von einer Spalte aus. Spateisenstein- lagerstätte von Manor House bei Aiston in Cumberland. Nach Phillips. stehen, daß die mineralbildenden Lösungen längs Schichtflächen eindrangen; sie werden j vielfach als Lager bezeichnet und es ist ihnen früher häufig auch eine sedimentäre Entstehung zugeschrieben worden. Zu den metasomatischen Lagerstätten in dem vorhin gefaßten Sinne gehören vor allem zahlreiche Blei- und Zinkerzlager- stätten, wie diejenigen im Muschelkalk von Beuthen und Tarnowitz in Oberschlesien, im Kohlenkalk der Aachener Gegend, im Silur- kalk des Mississippi- und Missourigebiets, ; im Wettersteinkalk der Alpen, insbesondere Kärntens usw.; ferner auch gewisse Spat- eisensteinlager im Zechstein Deutschlandsund in paläozoischen Kalksteinen der Alpen oder der Kreide Nordspaniens (Bilbao). Die Verdrängung des Kalksteins kann auch durch Lösungen erfolgen, welche auf seiner Oberfläche Eisen- und Manganerze ab- setzen. Sie führt dann zu den unter den Namen Schratten, Racheln, Karren, geolo- gische Orgeln usw. bekannten, vielfach schon durch gewöhnliche Taswässer erzensten Austiefungen. Ausgezeichnete Beispiele solcher j Art sind die oberflächlichen Mangan- und I Eisenerzauflagerungen auf dem Stringo- cephalenkalk des Lahntales, besonders bei Gießen und Wetzlar. In derselben Gegend finden sich auch metasomatische Phosphorit- auflagerungen. Auf zahlreichen Korallen- inseln Westindiens und z. B. auf den Jaluit- Inseln (Marshall-Archipel) bilden sich Phos- phorite durch direkte Einwirkung des Kalkes auf die Lösungen von Ammoniumphosphat, das aus den massenhaften Fäkalien der dort hausenden Vögel und Robben entsteht. In ähnlicher Weise mögen auch die meta- somatischen Phosphorite der versteinerungs- reichen oberen Kreide in Artois, in der Pi- cardie und im benachbarten Belgien und solche z. B. in Florida zu erklären sein. 6e) Kontaktlagerstätten. Eine be- sondere Art der metasomatischen Lagerstät- ten sind die Kontaktlagerstätten. Sie sind dadurch entstanden, daß beim Durchbruch eines Tiefengesteines durch ein reaktions- fähiges Nebengestein — in den allermeisten Fällen, wenn nicht immer, sind es Kalksteine oder sonstige an Kalziumkarbonat reiche Sedimente — , die von jenem ausgestoßenen Dämpfe oder vielleicht auch heiße wässerige Exsudate mit dem Nebengestein in Wechsel- wirkung traten, so daß unter Verdrängung des letzteren eine Stoffzufuhr in dasselbe statthatte. Nicht nur an der Grenze zwischen dem Kalkstein und der eruptiven Injek- tion („dem Kontakt"), sondern auch auf Klüften im Kalkstein selbst finden sich dann die als Kontaktmineralien bekannten, kalk-, tonerde- und magnesiareichen, auch wohl Eisen und Mangan enthaltenden Silikate (vgl. 2 b) zusammen mit Quarz, sehr selten 746 Erzlagerstätten auch mit Flußspat und in der Kegel durch- wachsen mit mehr oder weniger Magnetit, Pyrit und Kupferkies; diese letzteren bilden die wichtigsten Erze der Kontaktlagerstätten, zu denen manchmal auch Bleiglanz und Zinkblende und andere Sulfide oder Oxyde treten. Die Verteilung der Erzmassen und ihre Gestalt sind ganz unregelmäßig, letztere ist im allgemeinen als stockartig zu bezeichnen. Zu den Kontaktlagerstätten gehören mit Sicherheit die Magnetitlagerstätten des Ba- nats (Südungarn), die von Schmiedeberg in Schlesien, die Eisenglanz- und Magnetitlager auf Elba, auch gewisse Kupfererzlagerstätten im Ural, in Arizona, in Nordmexiko usw. Auch gewisse, an Kalkstein des Urgebirges gebundene Magnetitlager z. B. in Mittel- schweden und zu Arendal in Südnorwegen gehören wohl in diese Gruppe; die aus Diopsid, Granat, Vesuvian usw. bestehenden Silikatfelse, welche die Erze begleiten, be- zeichnet man dort als „Skarn". 6f) Die eluvialen Lagerstätten (eluviale Seifen). Die eluvialen Lagerstätten entstehen bei der Verwitte- rung und oberflächlichen Auflockerung (Vergrusung) von Gesteinen, wobei die leichteren oder der chemischen Unwandlung leicht zugänglichen Bestandteile mechanisch oder in gelöstem Zustand allmählich ent- fernt werden, die schweren oder der Auf- lösung widerstrebenden Gesteinskomponenten eine Anreicherung erfahren. Die letztere wird in sehr vielen Fällen noch gefördert durch eine chemische Konzentration und führt zu einer Sammlung ursprünglich fein und spärlich ver- teilter Bestandteile zu grobem Sand, zu Klumpen und Nieren. Diese chemische Konzentration, die sich z. B. auch im eisernen Hut der Erzlagerstätten vollzieht, wird als Metathese (Umlagerung) bezeichnet. Man kann diese Lagerstätten auch als „Residual- seifen" (residuum, der Rückstand) bezeichnen. Eines der bekanntesten Beispiele einer solchen Metathese bildet die Anhäufung von Eisenerzen über eisenhaltigen Gesteinen; sie erscheinen in der Form von „Bohnerzen" oder von erdigem Brauneisenerz auf der zer- fressenen, ausgehöhlten Oberfläche z. B. des Jurakalkes in der Schweiz und Süd- deutschland, als „Terra rossa" in den Karren und Aushöhlungen der Kalksteine in den Südalpen und im Mittelmeergebiet; sie haben dann oft auch durch Zusammen- schwemmung eine mechanische Konzentration erfahren. Als oberflächliche Zersetzungs- produkte basaltischer Tuffe und Ströme sind die am Vogelsgebirge verbreiteten Brauneisen- steine zu erklären. Durch eine tiefgreifende Auslaugung tonerdehaltiger Gesteine ver- schiedener Art, vor allem tonhaltiger Kalk- steine, indessen auch feldspatführender Syenite, Gneiße usw. entstanden die für die Aluminiumfabrikation so wichtigen Bauxit- I lager in Südostfrankreich, Mittelitalien und ! in den nordamerikanischen Staaten Georgia, Alabama und Arkansas. Durch die meta- thetische Anreicherung eines sehr geringen Kobaltgehaltes sind bei der oberflächlichen Zersetzung von Serpentin die als „Trüffel- erze" bezeichneten Asbolanknollen auf der Insel Neukaledonien entstanden. Eluviale Golderzlagerstätten sind in Westaustralien, in Brasilien, in Guayana, Surinam, auf Madagaskar und in den Alleghanies bekannt. 6g) Alluviale Seifen. Auf den allu- vialen Seifen finden sich Geschiebe, Körner, Kristalle, Blättchen oder Staub gewisser gegen chemische Einwirkungen und z. T. auch gegen die mechanische Zerkleinerung widerstands- fähiger Metalle oder sonstiger Mineralien, welche bei derZerstörung ihrer ursprünglichen Lagerstätte durch fließendes oder brandendes Wasser oder durch den Wind, sehr selten vielleicht auch durch Gletscher verschleppt und vermöge ihres hohen spezifischen Ge- wichtes angereichert worden sind. Als nutz- bare Bestandteile kommen in Betracht Gold, Platin und die Platinmetalle, Edelsteine, Zirkonverbindungen, Monazit, Zinnstein, nicht aber Silber, das im Boden allmählich in das nicht widerstandsfähige Chlorsilber übergeht. In den englisch sprechenden Ländern werden die Metallklumpen der Seifen als „nuggets" bezeichnet. In den fluviatilen Ablagerungen, denen weitaus die allermeisten Seifen angehören, hat infolge einer fortgesetzten Aufschwem- mung eine abwärts gerichtete, durch die Schwere bedingte Wanderung der Edel- metalle stattgefunden, die sich darum vor- zugsweise auf dem Boden der Geröllmassen in den Unebenheiten des anstehenden Fels- gesteins angereichert finden. Die wichtigsten Seifenablagerungen folgen nicht den heutigen Flußläufen, sondern sind an die oft hoch- gelegenen Schottermassen alter, jetzt ver- lassener Strombetten gebunden. Erst aus diesen gelangt ihr nutzbarer Inhalt dann mitunter in die heutigen Flüsse. 7. Beziehungen der Erzlagerstätten zum Magma. Daß alle Metalle der Erzlager- stätten sich aus dem Stoffbestand des irdi- schen Magmas herleiten, ist selbstverständ- lich. Der Erzinhalt der Sedimente mag aller- dings lange Umwege zurückgelegt und oft- malige Verlagerungen durchgemacht haben. Ein mehr oder weniger unmittelbarer Zu- sammenhang zwischen der Bildung der allermeisten epigenetischen Lagerstätten und den im Magma sich vollziehenden Erstar- rungsvorgängen wird seit langem von vielen Geologen für wahrscheinlich gehalten; nach ihrer Auffassung sind mit wenigen Aus- | nahmen die Gänge, die Kontaktlagerstätten und die (nicht aufgelagerten, vgl. 6d) meta- Erzlagerstätten 747 somatischen Lagerstätten durch Dämpfe oder Lösungen gebildet, die von unten empor- stiegen (Aszension). In einzelnen Fällen entstammt der Erzgehalt der Gänge sicherlich dem Nebengestein und ist durch Auslaugung in Spalten eingewandert und dort unter Konzentration wieder ausgeschieden worden (Lateralsekretion); letzterer Vorgang ent- spricht dann der Bildung der so häufigen Kalkspat-, Quarz- oder Zeolithklüfte. Auf solche Art bildeten sich die grünen Ma- gnesia-Nickelhydrosilikate in den hochgradig zersetzten Peridotiten oder Serpentinen zu Frankenstein in Schlesien oder auf Neu- kaledonien; das Muttergestein ist hier selbst ein wenig nickelhalt ig. Die Annahme einer Lateralsekretion ist jedoch in dem weiten Umfange, wie F. Sanclberger (um 1880) wollte, nicht anwendbar. Daß das Magma stellenweise sehr reich an Schwermetallen sein kann, beweisen die magmatischen Ausscheidungen von Oxyden und Metallen und das Auftreten von nickel- führendem Magnetkies und von Kupferkies unter Umständen, welche die letzteren als Aussonderungen in späteren Phasen der Ver- festigung gabbroartiger Gesteine zu erkennen geben. Die Ausstoßung von Stoffen mannig- facher Art, darunter auch von Schwermetallen wie Eisen, Kupfer, Blei usw. und von Metal- loiden wie Arsen, Schwefel, Selen, Bor wird an Vulkanen beobachtet. Auf solche „pneu- matolytische", d. h. durch die Reaktion von Gasen bedingte Vorgänge ist auch zumeist die Entstehung der Kontaktlager- Fumarolen statten zurückzuführen. Die der Vulkane zeigen, daß im Magma ent- haltene Bestandteile vergasbare Verbinclun- gen zu bilden vermögen. Ob diese letzteren aus dem Magma austreten, hängt davon ab, ob sie den auf ihm lastenden Druck ver- möge ihres eigenen Gasdruckes zu über- winden vermögen. Der letztere nimmt mit der Auskrystallisation der Schmelze zu, weil die vergasbaren Stoffe in der Lösung mehr und mehr konzentriert werden. Bei der ungeheuren Verbreitung des Granites, der weitaus das wichtigste Tiefengestein darstellt, wird man annehmen dürfen, daß sich aus dem Granitmagma der Stoffbestand vieler epigenetischer Lagerstätten herleitet. Der große und mannigfaltige Mineralreichtum vieler Pegmatitgänge, d. h. jener sehr grob- körnigen, vorzugsweise aus Quarz und Feld- spat bestehenden Gesteine, welche als die erstarrten Restlösungen des granitischen Magmas gedeutet werden müssen, weist darauf hin, daß sich in den letzteren zahlreiche Stoffe ansammeln, welche in den normalen Bestand des Gesteins selbst nicht eingehen. Die mine- ralogische Zusammensetzung mancher echter Erzgänge, z. B. diejenige gewisser Golderz- und vor allem der Zinnerzgänge hat gange eine große Aehnlichkeit mit jenen pegmatiti- schen Bildungen, von denen sie sich immerhin durch das Zurücktreten der Alkalien unter- scheiden, während sie bedeutend mehr Kiesel- säure enthalten als die Pegmatite. In der Tat zeigen auch sehr viele Goldquarzgänge und ganz besonders die Zinnerzgänge sehr nahe geologische Beziehungen zu Granit- intrusionen, und die letzteren hat man über- haupt nur in der Nähe solcher angetroffen; teilweise treten sie in ihnen selbst oder in ihrem Kontakthofe auf, so daß viele Granit- massive geradezu von Zinnerzgängen um- schwärmt sind. Zum Mineralbestand dieser letzteren gehören unter anderem Mineralien, die sich auch in den Drusenräumen der Pegmatite oder als Gebilde der „letzten pneumatolytischen Aeußerungen" in den Graniten vorfinden, wie der bor- und fluor- haltige Turmalin, das Fluoraluminiumsilikat Topas, der Orthoklas, Lithionglimmer, seltener Berylliumsilikate (Beryll undPhenakit), sowie Molybdänglanz, Apatit, Flußspat und andere. Sie unterscheiden sich von den gewöhnlichen Erzgängen insbesondere durch das mehr oder weniger reichliche Einbrechen von Silikaten. Viele andere Gänge entbehren dieser Silikatführung und machen nach Struktur und Mineralführung ganz den Ein- druck von Absätzen aus wässerigen Lösungen. Da sie in mehr oder weniger großer Tiefe ent- standen sein müssen, so hält man sie für Thermalabsätze. Trotzdem sie in sich selbst eine sichere Beziehung zu eruptiven Gesteinen nicht erkennen lassen, wird eine solche doch mit höchster Wahrscheinlichkeit zu vermuten sein, wenn sie, wie manche Goldsilbererz- gänge oder manche Kupfererzgänge an die Nähe eruptiver Durchbrüche gebunden sind und mit der Entfernung von letzteren auch die Erzführung einer Gegend gewissermaßen ausklingt. Viele Erzgänge und metasoma- tische Lagerstätten, insbesondere solche mit Blei- und Zinkerzen lassen zwar tatsächlich keinerlei Beziehung zum Magma erkennen und sie treten häufig in Gebieten auf, in denen weit und breit kein Eruptivgestein die Oberfläche erreicht hat. Zwischen den epigenetischen Lagerstätten herrschen jedoch in stofflicher Beziehung so viele Uebergänge, daß es gleichwohl erlaubt ist, an eine Einheit des Phänomens zu glauben und für alle eine Herkunft aus dem Magma anzunehmen. Man kann vielleicht annehmen, daß manche Stoffe, wie eben Blei und Zink, weiter vom Magma abzuwandern vermögen als andere, etwa Zinn und Gold, und daß erstere auf Spalten noch bis in solche Zonen der Erd- kruste vordringen können, bis zu welchen sich aufsteigendes Magma auch durch die Kontaktmetamorphose nicht mehr verrät. Elie de Beaumont (1847) hat die meisten Erzgänge als thermale Mineralabsätze be- 748 Erzlagerstätten zeichnet und nicht nur für die gelösten Stoffe, sondern auch für das lösende Wasser eine Herkunft aus dem Granitmagma behauptet; beide sollten daraus durch Exhalation aus- geschieden, das Wasser durch Kondensation in kühleren Gesteinszonen aus ausgeatmeten Wasserdämpfen entstanden sein. Er unter- schied im übrigen die sämtlichen Thermen in zwei Gruppen, nämlich in solche, welche lediglich die in die Tiefe eingesickerten und dort erwärmten atmosphärischen Wässer nach der Erdoberfläche zurückführen, und in diejenigen, welche aus dem Magma selbst ihren Ursprung nehmen. In ähnlichem Sinne hat E. Sueß (1902) zwischen den „vadosen" Quellen meteorischen Ursprungs und den magmatischen „juvenilen" unterschieden. Die Frage, ob sich wirklich juvenile Quellen nach der Oberfläche ergießen, ist indessen nicht entschieden. Als Einwurf gegen die Annahme einer ther- malenEntstehung der meisten Erzgänge kann nicht gelten, daß viele der in ihnen vorkommen- den Mineralien in Wasser unlösliche Verbindungen seien, wie z. B. der Schwerspat, der Quarz, der Flußspat oder der Eisenglanz; denn in Wasser ganz unlösliche Stoffe wird es kaum geben. Viele sehr schwer lösliche Ausscheidungen könnten zudem auch erst durch die Wechselwirkung von Lösungen entstanden sein, welche jeden ihrer Komponenten für sich enthielten, wie z. B. nachweislich Schwerspat in der Natur dadurch entstehen konnte, daß sich eine Lösung von BaCl2 mit einer solchen eines Sulfates mischte. Auch ist es denkbar, daß das Sulfat des Ba- ryums erst dadurch entstand, daß sulfidhaltige Baryumlösungen durch Beimischung von Sauer- stoff oxydiert wurden. Zur Unterstützung der „Thermalhypothese" wird häufig daran erinnert, daß manche Mine- ralwässer geringe Mengen von Stoffen führen, die gewöhnliehen Quellen fremd sind, und daß es dann gelegentlich auch zu Abscheidungen kommt, die man als mehr oder weniger häufige Bestandteile der Erzgänge antrifft. So soll das Wasser von Wildbad in Württem- berg u. a. Borsäure, Arsensäure, Lithium, Ba- ryum und Zinn, der Cannstatter Sprudel Bor- säure, Jod, Brom, Fluor, Baryum, Arsen, Kupfer, Blei und Antimon führen. In der Pyrmonter Badequelle wies Fresenius Zink, Nickel, Kobalt, Blei, Kupfer, Antimon, Arsen und Titan nach. Der Karlsbader Sprudelstein enthält etwa 0,3% SrC03 und ca. 1 % CaF2, auch gelegentlich etwas Arsen. Es wurde berechnet, daß der Karlsbader Sprudel täglich mindestens 30 Pfund Flußspat absetze. Quellsinter bei Steamboat Springs in Nevada führen Spuren von Gold, Silber, Zinnober, Blei, Kupfer, Zink, Kobalt, Nickel, Eisen und nicht unbeträchtliche Mengen von Antimon und Arsen. Da man im Auge behalten muß, daß die Metallführung solcher Quellen, deren Zahl sich noch erheblich hätte vermehren lassen, da und dort auch präexistierenden Lagerstätten entstammen kann, insbesondere wenn sie in Gangrevieren ihren Ursprung haben, so sind solche Beispiele nicht unbedingt beweisend. In dem Mineralbestand der epigenetischen Lagerstätten kommt weder quantitativ noch qualitativ der Stoffbestand der mineralbil- denden Lösungen zum vollständigen Aus- druck. Mit dem Wasser, welches man mit großer Wahrscheinlichkeit als das Lösungs- mittel bezeichnen darf, mag ein großer Teil des gelösten verschwunden sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Man hat versucht, aus den oft tiefgreifenden Veränderungen, welche das Nebengestein der Erzgänge erfahren haben kann, auf die chemische Beschaffenheit der gangfüllenden Lösung Schlüsse zu ziehen. Recht häufig ist eine Verquarzung desselben. Oft beobachtet man eine reich- liche Bildung von Kaliglimmer (Muskovit, Serizit) im Nebengestein. Auf einer Um- wandlung des Orthoklases in Glimmer und Quarz beruht die sogenannte „Greisen- bildung" im granitischen Nebengestein der Zinnerzgänge und mancher Gold- und Kupfer- erzgänge; auf eine Zufuhr von Bor und Fluor ist das reichliche Auftreten von Turmalin, auf eine solche von Fluor die Topasbildung im Nebengestein vieler Zinnerzgänge zurück- zuführen. Die Auslaugung von Eisenoxyd, Kalk, Magnesia und Alkalien aus dem Neben- gestein läßt auf die Anwesenheit von Kohlen- säure in der gangfüllenden Lösung schließen, die reichliche Imprägnation mit Pyrit unter gleichzeitiger Bildung von Kalkspat ist auf die Anwesenheit von Alkalisulfiden ge- deutet worden. Neben den metasomatischen Lagerstätten ist der Magnesiagehalt des Kalkes sehr oft bis zur völligen Dolomitisie- rung angereichert worden, eine Erschei- nung, die auch neben den gewöhnlichen Höhlen des Kalksteingebirges sehr allgemein ist und auf der größeren Löslichkeit des kohlensauren Kalkes im Vergleich zur kohlen- sauren Magnesia in kohlesäurehaltigem Was- ser beruht. Mitunter enthalten die Gangmineralien kleine Einschlüsse von wässerigen Lösungen; in solchen haben sich manchmal Alkalien nachweisen lassen. Ueberlegungen über den Chemismus der Gesteinsumwandlung längs der Erzgänge haben übrigens dazu geführt, den gangfüllenden Lösungen im allgemeinen einen alkalischen Charakter zuzuschreiben. Es versteht sich von selbst, daß bei ihrer Reaktion auf das Nebengestein nicht geringe Stoffmengen aus diesem in jene übergehen müssen, die späterhin wiederum in der Gang- spalte zur Mineralbildung beitragen können, wie z. B. Kalk, Magnesia, Eisenoxyd und -oxydul oder Kieselsäure, so daß auch darum die Zusammensetzung der Gangfüllung keinen ganz zuverlässigen Schluß auf die Beschaffenheit der aus der Tiefe empor- gestiegenen Lösung erlaubt. 8. Die wichtigsten Erzlagerstätten nach ihrer geographischen Verbreitung. Erzlagerstätten 749 Manche wichtigere Vorkommnisse und Typen sind bereits als Beispiele in den vorhergehen- den allgemeinen Abschnitten angeführt wor- den, welche deshalb das Nachstehende mehr oder weniger ergänzen werden. Gold. In früherer Zeit stammte das meiste, in den frühesten Zeiten wohl fast alles Gold aus den Goldseifen; die Suche nach dem begehrten Metalle und die Gold- wäscherei ging in allen neu gewonnenen Ge- bieten der Kulturarbeit voraus. Goldseifen sind auf der Erde ungemein weit verbreitet, in Europa gegenwärtig völlig erschöpft, in anderen Ländern schon sehr stark ausgebeutet. Ein wenig goldfüh- rend sind zahlreiche Flüßchen Thüringens und des Erzgebirges, die Eder, die Donau, der Inn, die Salzach, die Hl, der Rhein usw. Bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat man zwischen Kehl und Mainz ein wenig Gold gewaschen; bei Kehl betrug der Goldgehalt des verwaschbaren Sandes, der sich nach Hochwässern am oberen Ende der Geschiebebänke oder hinter den Uferdämmen absetzte, gewöhnlich nur 13 bis 15 Hundertmillionstel. Auch aus der Donau hat man noch vor 30 Jahren unter- halb Wien Gold gewaschen. Goldseifen wurden in Schlesien bei Löwenberg und Goldberg, in Böhmen bei Eule verarbeitet. Das meiste im russischen Reiche gewon- nene Gold stammt aus den Seifen des östlichen Ural (Beresowsk seit 1813; Gornyschtschit, Isetsk, Nevjansk, Miask seit 1824), des Altai, aus verschiedenen Distrikten West- und Ostsibiriens und neuerdings hat auch das Amurgebiet eine besondere Bedeutung erlangt. In Australien waren besonders in den 1850 er Jahren die großenteils pliocänen Goldseifen von Viktoria, welche teilweise unter mehrere hundert Fuß dicken Basalt- strömen begraben liegen, wegen ihres Reich- tumes berühmt. Verschiedene riesige Gold- klumpen — ■ der größte, zu Ballarat gefun- dene wog 70 Pfd. — haben den Golddistrikt berühmt gemacht. Bis 1861 bildete die Goldwäscherei in Viktoria und in Neusüd- wales den einzigen Goldbergbau, wozu dann weiterhin noch die Bearbeitung der Gold- quarzgänge kam. Von höchster Wichtigkeit für die Gold- produktion war die im Jahre 1849 erfolgte Entdeckung der Goldseifen Kaliforniens. Sie sind vorzugsweise an tertiäre, bis 2300 m hoch gelegene Flußablagerungen gebunden und waren besonders reich in einem zwischen dem 37. und 40. Breitegrad sich erstreckenden Gebiete; auch hier liegen die goldführenden Schotter teilweise unter alten Lavaströmen. Die Goldführung der jetzigen Flüsse, die zweifellos der Zerstörung der Seifen entstammt, ist verhältnismäßig geringfügig. In neuerer Zeit ergaben einige Jahre lang die im Jahre 1896 entdeckten Goldseifen in den Grenz- gebieten zwischen Alaska und Britisch- Kolumbien, insbesondere diejenigen am Klondike-Flusse, sehr reiche Erträge. Die wichtigsten Golderzlagerstätten der Erde sind jetzt diejenigen am Witwatersrand, einem von Westen nach Osten streichenden Höhenzuge im südlichen Transvaal, mit dem Minenzentrum Johannesburg. In einer streichenden Ausdehnung von rund 90 km sind dort vorwiegend aus Quarzgeröllen be- stehende Konglomeratbänke im Liegenden devonischer Schichten goldführend. Man hat jene goldführenden Ablagerungen (bankets oder reefs), die sich mehrfach innerhalb einer aus quarzitischen Sandsteinen, Quarziten, Tonschiefern und Diabasdecken bestehenden Schichtfolge wiederholen, wohl als uralte, gewissermaßen „fossile" Goldseifen erklären wollen. Dem widerspricht aber das Auf- treten des Goldes, das sich kaum jemals in den Quarzgeröllen, auch nicht in abge- rollten Klumpen und Blättchen vorfindet, wie sie für Seifengold charakteristisch sind; vielmehr ist das Edelmetall aufs innigste gebunden an Schwefelkies im Zement der Konglomerate, dessen Kristalle es wie eine gleichzeitige Bildung durchwächst. Man hat also entweder anzunehmen, daß sich das Metall zur Zeit der Konglomerat ablag erung mit dem Pyrit aus Lösungen niedergeschlagen habe, oder daß es später in die Schichten eingewandert sei. Die goldführenden Schich- ten bilden eine ungefähr 15 km breite Aus- strichzone und fallen nahe der Oberfläche steil, durchschnittlich mit 45 bis 50° nach Süden ein, liegen aber, was für die Zukunft des Bergbaues wichtig ist, schon in der Tiefe von einigen hundert Metern sehr viel flacher. Der Goldgehalt ist in einzelnen Konglo- meratbänken ein verhältnismäßig recht gleichbleibender, am höchsten in der Gegend von Johannesburg; eine der reichsten Schich- ten ergab eine Goldführung bis zu 171 g in 1000 kg. Das Witwatersrandgold ist erst im Jahre 1885 entdeckt worden; bald darauf wurde die Stadt Johannesburg gegründet. Ihren jetzigen hohen Aufschwung verdankt die dortige Goldindustrie der Einführung des sogenannten Cyanidprozesses, der darauf beruht, daß das im Pyrit fein verteilte Gold durch eine sehr verdünnte Cyankaliumlösung ausgelaugt werden kann. Man hat über den Goldreichtum des Witwatersrandes mehrfach Berechnungen angestellt, Hatch schätzt ihn neuerdings (1910) noch auf rund 20 Mil- liarden Mark oberhalb von etwa 1800 m Tiefe, bis wohin voraussichtlich der Bergbau ohne übermäßige Schwierigkeiten vordringen kann. Der Wert der jährlichen Goldpro- duktion des Witwatersrandes beträgt jetzt 750 Erzlagerstätten über 600 Mill. M. ; bis 1911 belief sie sich ins- gesamt auf 5,3 Milliarden M. Golderzgänge sind auf der ganzen Erde sehr weit verbreitet; auf ihnen tritt das Edelmetall immer nur in geringen, mitunter überhaupt kaum sichtbaren Mengen auf, während der mineralogische Charakter der Gänge durch weitaus überwiegende sonstige Erze, insbesondere Sulfide, wie Pyrit, Kupfer- kies, Antimonit, Silbererze, Bleiglanz und Zinkblende bestimmt sein kann. Ein sehr häufiger Typus sind die sogenannten Gold- quarzgänge; Quarz ist darin die einzige oder vorherrschende Gangart, Haupterz ist gül- discher Pyrit, daneben kommt auch Freigold vor. Recht häufig ist eine genetische Be- ziehung zu Granitintrusionen zweifellos. Die in Deutschland, z. B. zu Reichmanns- dorf in Thüringen, zu Freiwaldau in Schlesien und zu Goldkronach im Fichtelgebirge auf- tretenden Goldquarzgänge haben keine Be- deutung mehr. Etwas wichtiger sind die gold- iührenden Quarzantimonitgänge von Mile- schau in Böhmen, die Gänge von Eule und Roudny, gleichfalls in Böhmen, und die ziemlich silberhaltigen Golderzgänge der Hohen Tauern bei Gastein, wo noch jetzt ein in entfernte Zeiten zurückreichender Bergbau getrieben wird, während die Gold- gewinnung am Heinzenberg bei Zell im Zillertal erlegen ist. Andere alpine Golderz- gänge sind z. B. die am Monte Rosa. Die goldführenden Arseneisenlagerstätten von Reichenstein in Schlesien, die alljährlich etwa 50 kg Gold liefern, sind keine Golderz- gänge, sondern scheinbar sehr eigenartige Kontaktlagerstätten; die Erze sind dort an Serpentin gebunden, der durch Kon- taktmetamorphose aus dolomitischem Kalk- stein entstanden sein dürfte. Der berühmteste Golderzgang der Ver- einigten Staaten ist der „Mother lode" („Muttergang") in Kalifornien. Er ist ein Goldquarzgang von der Art der zusammen- gesetzten Gänge, d. h. die mächtige Minerali- sation einer Zerrüttungszone, die sich längs des westlichen, mittelgebirgsartigen Abfalles der Sierra Nevada mit einer mehrere hundert Meter erreichenden Breite ungefähr 180 km weit verfolgen läßt. Der Mother lode bietet ein vorzügliches Beispiel für die sekundäre Veredelung der Golderzgänge im Ausstrich: während um 1850 die Tonne (1000 kg) Goldquarz noch für 300 bis 800 M. Gold enthielt und in ge- ringen Tiefen noch Goldmassen bis zu 43 kg Gewicht auftraten, beträgt jetzt der Goldwert einer Tonne des Goldquarzes nur mehr 40 bis 55 M., entsprechend einem Gehalte von 15 bis 20 g Gold. Der früheste Goldbergbau in den Ver- einigten Staaten fand seit Ende des 18. Jahrhunderts in den Alleghanies statt. Von brasilianischen Goldquarzen seien diejenigen von Morro Velho und Passagem in Minas Geraes erwähnt. Bemerkenswert sind auch die mit Gold imprägnierten Eisen- glimmerschiefer (Itabirite) von Ouro Preto; das Gold enthält hier merkwürdigerweise bis zu 8% Palladium und wird von etwas Platin begleitet. Die wichtigsten Goldquarzgänge Austra- liens sind diejenigen von Ballarat und Ben- digo in Viktoria, andere werden in Neusüd- wales abgebaut und in Queensland hatte die Goldlagerstätte am Mount Morgan einen Ruf wegen des ungeheuren Goldreichtums im verwitterten Ausstrich: dieser ergab noch im Jahre 1887 181 y2 g Gold in der Tonne, je weiter man jedoch in die Tiefe drang, desto mehr nahm der Goldgehalt ab und betrug z. B. 1903 nur mehr 15 g, dabei wurde die Lagerstätte immer kupferreicher. Den Goldquarzgängen stehen gewisse Tellurgoldgänge mineralogisch ziemlich nahe; andere zeigen eine Aehnlichkeit mit den weiter unten zu erwähnenden Goldsilber- erzgängen. Letzterer Art sind die Tellur- goldgänge von Nagyäg in Siebenbürgen, welche vor den Goldsilbererzgängen des- selben Gebietes durch das Einbrechen von Schrifterz (Sylvanit) und Nagyagit ausge- zeichnet sind. Es sind sehr wenig mächtige Klüfte in einem „propylitisierten" d. h. grün- steinartig umgewandelten Dazitdurchbruch tertiären Alters. Die seit 1891 bekannten Tellurgoldgänge im Cripple Creek Distrikt am Südwestabhang des Pikes' Peak in Colo- rado führen als Haupterz Calaverit, als Gangart spielt neben Quarz und Dolomit violetter Flußspat eine bemerkenswerte Rolle. Cripple Creek war von 1891 bis 1906 einer der reichsten Golddistrikte der Erde. Bis 1905 wurde dort für rund 650 Mill. M. Goldwert produziert. Weitere sehr reiche Tellurgold- gänge sind diejenigen von Kalgoorlie in Westaustralien, 600 km landeinwärts von Perth; es sind zusammengesetze Gänge in Dioriten, Amphiboliten, Pyroxeniten u. dgl. Auf den Goldsilbererzgängen tritt das Gold oft in Begleitung von edlen Silber- erzen und meistens mit größeren Mengen der gewöhnlichen Sulfide, dazu mit Quarz, Kalkspat und anderen Karbonaten, stellen- weise auch mit Schwerspat, Rhodonit usw. auf. Dieser Gangtypus hat seine hauptsäch- lichste Verbreitung im Bereich von anclesi- tischen, rhyolithischenund dazitischen Massen- durchbrüchen tertiären Alters und ihrer näheren Umgebung. Die Gänge des wichtigsten europäischen Golderzdistriktes, nämlich die Goldsilber- erzlagerstätten Ungarns (und Siebenbürgens) sind dieser Art. Sie sind über eine Entfer- nung von mehreren hundert Kilometern längs der tertiären Durchbrüche am Innenrande Erzlagerstätten 751 des Karpathenbogens von Sehemnitz und Kremnitz bis nach der Maros im Südosten des Königreichs verbreitet. Gewöhnlich sind sie durch eine große Mannigfaltigkeit der Mineralführung- ausgezeichnet; das Mengen- verhältnis zwischen der Silber- und Gold- führung ist in den verschiedenen Distrikten ein verschiedenes, manche Gänge können geradezu als goldarme Silbererzgänge be- zeichnet werden. Längs des Karpathenbogens folgen die wichtigsten Reviere folgender- maßen: Schemnitz-Hodritsch, Kremnitz im Flußgebiete der Gran; Nagyhänya, Felsö- bänya, Kapnik, Rotaund Olähläposbänya im Flußgebiete der Szamos; im siebenbürgischen Erzgebirge sind die wichtigsten Gruben- reviere diejenigen von Verespatak, Bucsum, Botes, Boicza und vor allem auch Muszäri und Ruda. Die Nagyäger (vgl. oben) Gänge sind hingegen teilweise Tellurgoldgänge. In Siebenbürgen wurde schon zur Zeit der römischen Herrschaft ein umfangreicher Gold- bergbau getrieben und zweifellos reicht z. B. auch die Goldgewinnung von Sehemnitz weit zurück ins Mittelalter. Die ungarische Goldproduktion beträgt jetzt nur mehr etwa 3300 kg im Jahre. Vor ungefähr 40 Jahren stand die Minen- stadt Virginia City in Nevada wegen des enormen Reichtums der dortigen Gruben in hohem Rufe. Die Lagerstätte, der Comstock- gang, ist ein etwa 7 km langer und an der Oberfläche bis zu 300 m mächtiger zusammen- gesetzter Goldsilbererzgang. In den geringeren Tiefen zeigte er eine reiche sekundäre Ver- edelung, ganz besonders in einer Anzahl un- regelmäßig gestalteter Erzmittel, den soge- nannten „Bonanzas". Der Comstockgang wurde 1859 entdeckt; die höchste Produktion erreichte Virginia City im Jahre 1876 mit 162 Hill. M. an Gold- und Silberwert. Bis 1882 hat der Gang rund 1300 Mill. M., davon 53% an Silber- und 43% an Goldwert er- geben. Im Jahre 1881 kam der Bergbau dadurch fast vollständig zum Erliegen, daß in der Tiefe von 900 m heißes Wasser ein- brach. Auch der Comstockgang hat als Neben- gestein grünsteinartig veränderten (,,pro- pylitisierten") Andesit. Sehr reich an Gold- silbererzgängen ist Colorado. Gutenteils treten sie hier nicht in Verbindung mit jüngeren Eruptivgesteinen sondern in kristal- linen Schiefern, Gneis, Granit, Porphyr usw. auf. Eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Comstockgang besitzen die in Andesit auf- setzenden, im Jahre 1900 entdeckten Gänge von Tonopah, andere sind die gleichfalls erst in neuester Zeit entdeckten, hauptsächlich an Dazit gebundenen Gänge von Goldfield, 45 km weiter südlich, beide haben gegen- wärtig eine große Bedeutung für die ameri- kanische Gold- und Silberproduktion. Wiederum an tertiäre Eruptivgesteine gebundene Goldsilbererzgänge werden östlich von der Stadt Auckland auf Neuseeland im Hauraki-Goldfeld abgebaut. Die wichtigsten Goldproduzenten der Erde waren im Jahre 1910 folgende: Transvaal mit 235 000 kg Vereinigte Staaten „ 144 500 kg Australien „ 98 300 kg; Rußland Mexiko Rhodesien „ 60 500 kg „ 36 200 kg „ 19 000 kg Silber. Ein sehr großer Teil des Silbers wird bei der Verhüttung des silberhaltigen Bleiglanzes der Bleiglanzgänge gewonnen. Auch der eiserne Hut der metasomatischen Bleiglanzlagerstätten war stellenweise sehr reich an sekundären Silbererzen, wie z. B. an Halogensilberverbindungen und gediege- nem Silber, während der Bleiglanz derselben Lagerstätten in der Tiefe auffallend silber- arm zu sein pflegt. Zu den hauptsächlichsten Silberlagerstätten gehören die schon er- wähnten Goldsilbererzgänge; ganz besonders sei erinnert an den Comstockgang, dessen enorme Ausbeute wesentlich zur Entwertung dieses Metalles beigetragen hat. Auch der späterhin noch zu erwähnende Mansf eider Kupferschiefer kann noch jetzt als eine wichtige Silberlagerstätte gelten. Mit einer alten Freiberger Bezeichnung meint man mit der Bezeichnung „edle Quarzformation" solche Gänge, welche neben den stets vorhandenen gewöhnlichen Sul- fiden, wie Pyrit, Kupferkies, Bleiglanz, Zinkblende usw. reichlich edle Silbererze, nämlich Silber, Silberglanz, Rotgültigerz, Stephanit u. a. m. mit vorwiegendem Quarz als Gangart führen. Ein anderer mehrfach wiederkehrender Gangtypus sind die Kalk- spatsilbererzgänge, auf denen neben der vorhin genannten Gangfüllung sehr reich- licher Kalkspat auftritt, wie z. B. auf den durch ihren großen Mineralreichtum berühm- ten Gängen von St. Andreasberg im Harz; der dortige Bergbau ist vor kurzem einge- stellt worden. Viel mineralogische Aehnlich- keit mit den Andreasberger Gängen haben diejenigen zu Kongsberg im südlichen Nor- wegen ; das Haupterz ist dort Silberglanz, aus welchem die prachtvollen, in allen Samm- lungen verbreiteten zahn- und draht- förmigen Bildungen gediegenen Silbers her- vorgegangen sind. Die wenig mächtigen Gänge sind nur dort edel, wo sie die soge- nannten Fahlbänder, d. s. mit allerlei fein verteilten Sulfiden, insbesondere mit Pyrit und Magnetkies imprägnierte Schiefer- einlagerungen, durchschneiden. In Deutschland ist der eigentliche Silber- bergbau wegen des Preissturzes, den das Metall vor ungefähr 20 Jahren erlitten hat, so gut wie erloschen. Zu Freiberg in Sachsen 752 Erzlagerstätten konnte nur ein Teil der Erzgänge als eigent- liche Silbererzgänge bezeichnet werden, die übrigen waren in mineralogischer Be- ziehung in der Hauptsache Bleiglanz- und z. T. auch Zinkblendegänge. Bis in die letzten Jahre bestand dort auf verschiedenen, im weiteren und näheren Umkreis der Stadt gelegenen zumeist in Gneis aufsetzenden Gängen (Fig. 6, 7) der „edlen Quarzforma- tion" Silberbergbau: durch besonderen Adel aber zeichneten sich die nach ihrem minera- logischen Charakter den Kalkspatsilbererz- gängen nahestehenden „edlen Braunspat- gänge" aus, denen hauptsächlich die Grube Himmelsfürst ihren Reichtum verdankte. Sie war berühmt wegen ihrer ausgezeichneten Mineralfunde und des gelegentlichen Vor- kommens massenhaften gediegenen Silbers. Die sehr zahlreichen Gänge der sogenannten „kiesigen Bleiformation" (Haupterze: silber- haltiger Bleiglanz, Pyrit, Zinkblende, Kupfer- kies und Arsenkies) in der unmittelbaren Nähe der Stadt sind an sich nicht silber- reich, die Schleppungskreuze zwischen zwei Gängen dieser Art oder mit solchen der edlen Braunspatformation waren aber Stellen sehr reicher Veredelungen und ergaben den Gruben Himmelsfürst und Himmelfahrt jahrelang sehr reiche Ausbeuten. Die im Jahre 1847 angetroffene Silbermasse von 675 kg Gewicht entstammte einer solchen Schleppung. Die z. T. sehr mächtigen Gänge der „baryt- ischen Bleiformation" führten als Haupterz zwar nur Bleiglanz mit niedrigem Silbergehalt, stellenweise aber auch edle Silbererze in Begleitung von Kobalt, Nickel, Wismut usw. Der bedeutendste Gang dieser Art war der etwa 8 y2 km weit verfolgte, von der Grube Churprinz abgebaute „Halsbrücker Spat". Der Ursprung des Freiberger Silberbergbaues wird in die Zeit der Regierung des Mark- grafen Otto zu Meißen zwischen 1162 und 1170 verlegt. Die höchste Silberproduktion fällt in das Jahr 1884 (über 35000 kg). Die gesamte Silberproduktion Freibergs von 1163 bis 1900 gibt H. Müller zu rund 5400000 kg im Werte von über 900 Mill. M. an. Der seit Jahren nicht mehr lohnende Bergbau ist in der letzten Zeit so weit zurück- gegangen, daß er im Jahre 1913 gänzlich ein- gestellt werden wird. Die zeitweise wegen ihres Silberreich- tums und ihrer schönen Mineralien bekannten erzgebirgischen Gruben von Marienberg, Anna- berg und Johanngeorgenstadt sind teils auf- gelassen, teils bedeutungslos geworden. Sie bauten auf Gängen, auf denen neben den edlen Silbererzen auch Kobalt -und Nickelerze samt etwas Wismut einbrachen. Zu Schnee- berg wird aus solchen Gängen jetzt noch Kobalt für die dortige Blaufarbenfabrikation gewonnen, die im Erzgebirge im Jahre 1540 erfunden wurde. Die in mineralogischer Kinzigtal im im Elsaß Hinsicht ganz ähnlichen Silbererzgänge von | Joachimsthal an der sächsisch-böhmischen Grenze sind wichtige Lagerstätten des Uran- pecherzes, das sich in kleinen Mengen übrigens auch auf den vorher genannten Gängen und zu Freiberg findet. Der Silberbergbau ii Schwarzwald und zu Markirch gehört der Vergangenheit an. In den Vereinigten Staaten von Nord- amerika hat die Silberproduktion mit dem Preissturze des Silbers und vor allem seit dem Erliegen der Minen von Virginia City recht an Bedeutung abgenommen. Zahlreiche Gruben des Westens fördern noch neben Gold auch Silber. In Colorado und Nevada waren wie in Südamerika die eisernen Hüte mancher metasomatischer Lagerstätten und Bleierz- gänge reiche Silberlagerstätten: so diejenigen 1 von Leadville, wo man zur Zeit der ersten Blüte 1877 bis 1884 außer 3200 kg Gold 1600000 kg Silber gewonnen hat, oder zu Aspen. Sehr reich war der jetzt fast verlassene Eurekadistrikt, wo zwischen 1868 und 1883 ! neben 225000 Tonnen Blei nicht weniger als 250 Mill. M. an Gold und Silber gewonnen worden sind. Gegenwärtig ist neben Colo- rado der Staat Idaho der hauptsächlichste Silberproduzent; die wichtigsten Lager- stätten sind dort die sehr reichen silberhaltigen ( Bleierzgänge von Coeur d'Alene. Seit einigen Jahren sind die Kobaltsilbererzgänge bei Cobalt in Ontario (Canada) für die Silber- produktion von wesentlicher Bedeutung ge- worden. Das Silberland der heutigen Zeit ist immer noch Mexiko. Auf dem Hochlande folgen sich zahlreiche Minendistrikte von Oaxaca bis in den Staat Chihuahua. Die Silberlagerstätten sind an die tertiären Eruptivgesteine oder an deren Nähe ge- bunden. Nach ihrer mineralogischen Zu- sammensetzung haben sie viel Äehnlichkeit mit den Goldsilbererzgängen, von denen sie sich im allgemeinen durch ihren geringen Goldgehalt unterscheiden. In ausgezeichneter Weise zeigten sie die sekundäre Veredelung der oberen Teufen; die teilweise aus Eisen- und Manganoxyd bestehenden, an Chlor- und Bromsilber und Gold reichen Ausstriche bezeichnet man hier als „quemazones", die in der Tiefe folgenden, unedleren sulfidischen Erze als „negros". Bald nach der Er- oberung des Landes wurden die Silbererz- gänge von Pachuca und Real del Monte, etwa 100 km von der Hauptstadt, entdeckt; zu Pachuca erfand Bartolome de Medina 1557 das so wichtig gewordene Amalgama- tionsverfahren (den sogenannten Patio- prozeß). Seine höchste Blüte hatte jener Distrikt am Ende des 18. Jahrhunderts; 1780 soll Real del Monte allein flu- 44 Mill. M. Silber ergeben haben. Zu Guanajuato, 300 km Erzlagerstätten 753 nordwestlich von der Stadt Mexiko, ist die Veta Madre einer der größten und reichsten Erzgänge der Erde; die berühmte Grube Valenciana ergab zwischen 1788 und 1824 für 137 Mill. M. Silber; seit Ende des 16. Jahrhunderts bis zu Humboldts Zeit soll man aus der Veta Madre schon für 1600 Mill. M. Silber gefördert haben. Etwa 200 km weiter nördlich liegt der im Jahre 1546 entdeckte Gangdistrikt von Zacatecas ; zahlreiche andere sind im mittleren und nördlichen Teil der Republik zerstreut. Die mexikanische Silber- produktion beträgt jährlich über 2 Mill. kg. In Südamerika sind besonders Peru und Bolivien reich an Silbererzlagerstätten. In Peru sollen die im Jahre 1630 entdeckten Lagerstätten am Cerro de Pasco für 1,5 Milliarden M. Silber gegeben haben. In Bolivien führen zahlreiche über einen mehr als 800 km langen Landstrich ver- breitete Erzgänge neben edlen Silbererzen, Sulfiden und Sulfosalzen von Kupfer, Eisen, Zink und Blei auch Zinnerz mit seinen gewöhn- lichen Begleitern Wolframit und Wismut, aber höchstens ganz untergeordnet auch mit den für die Zinnerzvorkommnisse anderer Gegenden so wesentlichen fluor- und bor- haltigen Gangarten. Die Gänge stehen in naher Beziehung zu kieselsäurereichen Erup- tivgesteinen. Ihr Silbergehalt war in früheren Zeiten ein ganz enormer und ihm verdankten besonders die um die Mitte des 16. Jahrhunderts gegründeten Städte Potosi und Oruro ihren hohen Ruhm. Die Silber- ausbeute zu Potosi wird für die Jahre von 1545 bis 1803 zu 5480 Mill. M. angegeben. Das bolivianische Zinnerz hat wegen der Transportverhältnisse im Lande noch nicht die volle Bedeutung errungen. Im südlichen Teile der Republik liegen die großen Hütten- werke von Huanchaca und der Minendistrikt von Pulacayo; das Hauptsilbererz der dor- tigen Gänge ist Silberfahlerz. Im nördlichen Chile waren in den 70 er Jahren die Silbergruben von Chanarcillo und Caracoles durch das reiche Vorkommen von gediegen Silber und von Silberhalogen- verbindungen im eisernen Hute ausgezeichnet. Das jetzt auf Blei, Zink und Silber be- arbeitete Erzlager von Brokenhill, 480 km von Adelaide in Neusüdwales, bot nach seiner Entdeckung im Jahre 1883 ein aus- gezeichnetes Beispiel für die sekundäre An- reicherung von Silbererzen infolge der Ver- witterung von silberarmem Bleiglanz. Der eiserne Hut und die Zone der reichen Kon- zentrationen reichten bis zur Tiefe von un- gefähr 100 m, Weißbleierz und sekundäre Kupfererze sowie zahlreiche andere Neu- bildungen waren so durchsetzt mit Chlor-, Jod- und Bromsilber sowie gediegenem Silber, daß die Massen, besonders auch das kaoli- nisch zersetzte Nebengestein bis über 1% I des Edelmetalles enthielten. Das frische Erz besteht hauptsächlich aus Bleiglanz und Zinkblende, enthält nebstdem viel Quarz, j Granat und Rhodonit und bildet eine lager- artige Masse in kristallinen Schiefern. Es produzierten im Jahre 1910: Mexico Ver. Staaten Australien Peru Canada Bolivien Deutschland Belgien 2 260 000 kg Silber 1 760 000 450 000 200 000 1 000 000 218 000 420 000 265 000 (fast ausschließ- lich aus impor- Itierten Erzen. Quecksilber. Das wichtigste Queck- silbererz, neben welchem sich das gediegene Quecksilber immer nur in untergeordneter Menge findet, ist der Zinnober. Als eigent- liche Quecksilberlagerstätten werden solche bezeichnet, auf welchen dieses Erz, gewöhn- lich fast ohne alle anderen Begleiter, mit Aus- nahme von Pyrit oder Markasit, und mit wechselnden Gangarten auftritt. Träger der Quecksilberlagerstätten können die ver- schiedensten Gesteine sein. Einigermaßen mächtige Zinnobergänge sind kaum bekannt; gewöhnlich tritt das Erz vielmehr als Im- prägnation in zerrütteten Gesteinen auf, worin seine Ansiedelung nicht selten auffällige meta- somatische Erscheinungen mit sich gebracht hat. Die an permische Gesteine gebundenen Zinnoberlagerstätten in der Rheinpfalz (Zweibrücken) sind seit Jahrzehnten ver- ; lassen. Wenig bedeutend sind die in kar- bonischen Sandsteinen und Kohlenflözchen i auftretenden Lagerstätten von Nikitowka in Rußland und diejenigen in einem Serpentin I am Avalaberg, 20 km südlich von Belgrad. Die ältesten und immer noch sehr ergiebigen Quecksilberlagerstätten von Almaden am Nordabhang der Sierra Morena finden sich hauptsächlich in einem sehr festen devo- nischen Quarzit; man baut drei 8 bis 10 m mächtige, in Tonschiefer eingelagerte mit Zinnober imprägnierte Quarzitmassen ab. Zu Idria in Krain besteht schon seit 1490 Quecksilberbergbau. In dem durch bedeu- tende Ueberschiebungen und Faltungen ge- störten Gebiete bilden bald Dolomite und i Dolomitbreccien des Muschelkalkes, bald ! bituminöse Sandsteine und Tonschiefer der unteren Trias die Träger der Erzimprägna- tionen. Der Zinnober ist mehr oder weniger | mit Kohlenwasserstoffen verunreinigt (Stahl- ! erz, Quecksilberlebererz); als Korallenerz bezeichnet man die an Brachiopoden reichen, ■ mit Zinnober imprägnierten Schiefer. Ein nicht unwichtiger Quecksilberdistrikt liegt nahe dem Monte Amiata in Toskana; verschiedene Gesteine sind dort in den Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 48 754 Erzlagerstätten ziemlich zahlreichen Gruben die Träger der Erzführung; zu Siele (Fig. 8). sind es tonige eocäne Kalke („Alberese"), zu Abbadia solche des Lias. Die ergiebigste Quecksilberregion der Erde war vor etwa 35 Jahren der West- abfall der Sierra Nevada in Kalifornien, zwischen dem 34 y2. und 39. Breitegrad. Das Erz bildet teilweise sehr reiche Imprägna- tionen in metamorphen Schiefern, Sand- steinen, Serpentin usw. oder auch in jüngeren Basalten. Die reichste Grube ist New Al- maden; die größte dort abgebaute mit Zinn- ober imprägnierte Gesteinsmasse hatte eine ! Länge von 800, eine Breite von 200 und eine Dicke von 15 Fuß. Kalifornien hatte seine höchste Quecksilberproduktion mit 2755 Tonnen im Jahre 1877; jetzt ist sie auf den fünften Teil herabgesunken. Seit 1899 findet auch im Terlinguadistrikt in Texas Quecksilberbergbau statt; in mine- ralogischer Beziehung haben die dortigen Gruben wegen des Vorkommens von einigen sekundären Quecksilbererzen, nämlich: Terlinguait (Hg2C10), Kleinit (Quecksilber- ammoniumchlorid mitOxychlorid und Sulfat), Eglestomt (Hg4Cl2ü) und Montroydit (HgO) Interesse erhalten. Die Quecksilberproduktion betrug 1909 in Spanien 1393 t Italien 771 t Oesterreich 637 t Vereinigte Staaten 713 t Mexiko 200 t Ungarn 80 t Rußland (1908) 49 t Platin. Das Platin dürfte sich auf pri- märer Lagerstätte, abgesehen von seinem sehr spärlichen Vorkommen auf brasilia- nischen Golderzgängen, lediglich in perido- titischen Gesteinen finden, worin es in sehr geringer Menge als magmatische Ausschei- dung auftritt. Aus diesen Gesteinen ge- langte es in die Platinseifen. Für die Platinproduktion kommen nur zwei Gebiete in Betracht : erstlich die Platin- seifen im Osten des mittleren Ural in den Distrikten Nischne Tagilsk, Bissersk und Goroblagodat, und zweitens diejenigen im Chocodistrikt in der Republik Columbia. Am Ural wird das Platin am Boden alter Flußablagerungen unter Torf und mehr oder weniger platinfreien Geschiebemassen angetroffen; stellenweise ist es von Seifengold begleitet, das aber jedenfalls von anderen primären Lagerstätten herrührt. Der größte bisher gefunde Platinklumpen stammte vom Berge Solowieff und wog 9,6 kg. Das Metall hat einen bis zu 18% betragenden Eisen- gehalt und wird zudem von Iridium, Rhodium, Palladium, Osmium und ein wenig Kupfer verunreinigt; Iridosmium und Osmiridium findet sich neben dem Platin auf den Seifen. Infolge des gesteigerten Bedarfes und des dadurch außerordentlich gestiegenen Wertes des Edelmetalles mußten die längst ver- waschenen Seifen wiederholt verwaschen werden; der geringste Platingehalt der ver- waschenen Seifen beträgt heute 2,5 g in 1000 kg Geschiebe, um ein vielfaches weniger als in der Zeit der ersten Platingewinnung in den 1820er Jahren. Der Ural soll im Jahre 1909 rund 6000 kg Platin ergeben haben. Sehr geringe Mengen Platin werden gegen- wärtig in Britisch-Columbien aus dem Tula- meenfluß (etwa 1 kg im Jahr), in Neusüd- wales und Borneo (je 15 kg) gewonnen. Im übrigen kommt als wesentlicher Platin- produzent nur noch die Republik Columbia in Betracht, wo im Jahre 1909 noch un- gefähr 180 kg gewaschen wurden. Man entdeckte dort das Edelmetall 1735, warf es aber später, um Fälschungen der Silber- lieferungen zu hintertreiben, ins Meer. Kupfer. Kupferkies und Fahlerz sowie sekundäre Kupferverbindungen treten in untergeordneter Menge auf sehr vielen Lager- stätten auf und werden dann gelegentlich auch verhüttet. Sehr mannigfaltig ist die geologische Natur der eigentlichen Kupfer- erzlagerstätten. Der wichtigste Kupferbergbau Deutsch- lands ist derjenige um Mansfeld östlich vom Harz. Das Erz ist der Kupferschiefer, d. i. ein schwarzer, sehr bituminöser Mergel- schiefer mit einem feinverteilten Gehalt an Sulfiden, insbesondere auch solchen des Kupfers (die sogenannte Speise). Im all- gemeinen bildet er in seiner weiten Ver- breitung am Harzrand, am Nord- und Süd- abfall des Thüringer Waldes und in Hessen einen wenig mächtigen Schichtenkomplex an der Basis des Zechsteins; doch finden sich in einigen Gegenden kupferführende bituminöse Schichten auch in etwas höheren Zechstein- horizonten. An sehr vielen Stellen der Provinz Sachsen, Kurhessens, Hannovers und Thüringens hat früher Kupferschiefer- bergbau bestanden; jetzt wird der Schiefer nur mehr in der Mansfelder Gegend abge- baut, wo er auch einen bemerkenswerten Silbergehalt besitzt. Seine Lagerung ist dort im ganzen diejenige einer nach Osten zu geöffneten, vom oberen Zechstein und Buntsandstein verdeckten Mulde; im west- lichen, südlichen und nördlichen Mulden- ausstrich ist er schon vor Jahrhunderten abgebaut worden, während der neuere Berg- bau mit tiefen Schächten nach dem Mulden- inneren vorgerückt ist. Der Kupferschiefer ist bei Mansfeld etwa 50 cm mächtig; von unten nach oben nimmt im allgemeinen der Kupfer- und Silbergehalt so ab, daß gegen- wärtig nur die untersten insgesamt 15 cm dicken Lagen die Verhüttung lohnen. Der Erzlagerstätten iO'O Kupfergehalt beträgt darin 2 bis S°/0, der Silbergehalt 0,010 bis 0,015%, d. h. es kom- men nur etwa 5 kg Silber auf 1000 kg Kupfer. | Die Erzführung wird bald in günstiger bald in ungünstiger Weise durch die mannigfachen als „Rücken" bezeichneten Flözstörungen beeinflußt. So weit längs der Rücken, die meistens Verwerfer darstellen, eine Ver- edelung der gestörten Schichten stattge- funden hat, bilden diese Teile der Lagerstätte den wesentlichen Gegenstand der Gewinnung. Der Mansfelder Bergbau reicht wohl min- destens bis ins 12. Jahrhundert zurück. Die 1852 gegründete Mansfeldsche Gewerkschaft ist eine der großartigsten industriellen Unternehmungen Deutschlands. Sie pro- duziert jährlich gegen 20000 t Kupfer und 100000 kg Silber. Nach allgemeiner Annahme hat schon im Jahre 972 auf dem Erzlager im Rammelsberg bei Goslar am Harz Bergbau bestanden (Fig. 10). Dieses bildet eine ungefähr 1200 m weit verfolgte, in unbekannte Tiefe hinab- reichende Einlagerung in den mitteldevo- Hangenden Schwerspat im ursprünglichen vorwalten. In den kupferreichsten Erzen beträgt der Kupfergehalt gegen 16%. Zu Stadtberge im südlichen Westfalen werden Imprägnationen von oxydischen Kupfeierzen, Kupferglanz und Buntkupfer- erz in einem sehr stark zerklüfteten, brüchigen Kulmschiefer abgebaut. Das Vorkommen ist an einen bestimmten Horizont der Kulm- schiefer gebunden und deshalb scheinbar ein lagerartiges. Quarzreiche Kupfererzgänge hat man früher in der näheren und weiteren Um- gebung Freibergs, ferner zu Kupferberg in Schlesien, südlich und östlich des Sieben- gebirgs (z. B. bei Rheinbreitbach), ferner bei Dillenburg in Nassau abgebaut. ) Zu Lauterberg am Harz führten die Kupfererz- gänge Schwerspat und prächtigen gelben Flußspat. Verschiedene Kupferkiesgänge mit bald mehr quarziger, bald mehr karbo- natischer Gangart finden sich in den kristal- linen Schiefern vom Inntal in Tirol bis südlich von Salzburg; zu ihnen gehören die jetzt •Soff- Goslaner Sc/uefer (J/ißeldero7i) JH& Lager Fig. 10. Profil und Grundriß durch das Rammelsberger Kieslager. a Spiriferensandstein, b Calceolaschiefer, c Wiseenbacher (Goslarer) Schiefer, e Erzlager. Nach Klockruann. nischen Wissenbacher Schiefern, die dort in überkippter Lagerung unter 40 bis 50° nach dem Gebirge einfallen. Die Mächtig- keit des Lagers ist durch Pressungen und Faltungen sicherlich stark verändert worden, mag aber ursprünglich 2 bis 3 m betragen haben. Im wesentlichen besteht es aus einem innigen Gemenge von Schwefelkies, Kupfer- kies, Bleiglanz, Zinkblende und Schwerspat, welche im großen ganzen neben einer feinen Bänderung im kleinen auch eine lagen- förmige Verteilung erkennen lassen, derart daß kupferreiche Erze im ursprünglichen Liegenden, Bleiglanz, Zinkblende und unbedeutenden Kupferlagerstätten von Mitter- berg am Hochkönig, die zufolge von Alter- tumsfunden schon in der Bronzezeit bear- beitet worden sind. Der Kupferbergbau zu Schwaz in Tirol, der jetzt fast ganz er- } loschen ist, hatte im Besitz der Fugger im 16. Jahrhundert eine hohe Blüte; die Lager- stätten sind dort hauptsächlich metasoma- tische Einlagerungen von Fahlerz in Dolomit. Die kupferreichste Provinz Italiens ist Toskana. Uralt war der Bergbau auf den jetzt verlassenen Kontaktlagerstätten von Campiglia marittima gegenüber Elba. Die Kupfergrube Monte Catini bei Volterra mag 48* 756 Erzlagerstätten gleichfalls schon den Etruskern Kupfer geliefert haben; sie hatte eine große Blüte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, kann aber jetzt als erschöpft gelten. Massen von reinem Kupferkies, der in den oberen Teufen in reichere Sulfide und gediegen Kupfer umgewandelt war, bildeten ursprüng- lich Spaltenfüllungen in einem Diabas. Durch spätere Gebirgsbewegungen waren sie teilweise zu Reibungskonglomeraten d. h. kugelförmigen Einlagerungen von jeglicher Größe inmitten eines grünen lettigen Ge- steins zerrieben worden. Ein nennenswerter Kupferbergbau besteht jetzt nur mehr in der Umgebung von Massa Marittima. Die teilweise recht mächtigen Kupferkiesquarz- gänge erfüllen Verwerfungsspalten zwischen eocänen oder eocänen und permischen Schichten; merkwürdigerweise hat längs solcher Gänge eine Umwandlung des Neben- gesteines nach Art der Kontaktmetamor- phose stattgefunden. Der uralte Kupferbergbau der Insel Cypern, von welcher sich angeblich das Wort cuprum herleiten soll, ist sozusagen ver- schollen. Außer massenhaften Schlacken weist nur da und dort im Süden der Insel noch ein schmaler in Diabas aufsetzender Kupfer- kiesgang auf den antiken Bergbau hin. Auch zu Rio Tinto in der südspanischen Provinz Huelva reicht der Bergbau, jetzt der wichtigste Kupferbergbau Europas, bis in das frühe Altertum zurück. Die dortigen Kieslager bilden Einlagerungen in der Kulm- formation; in ihrer Nachbarschaft treten Eruptivgesteine und für Tuffablagerungen gehaltene Gesteine auf. Man kennt über 50 solche Lagerstätten innerhalb einer 200 km langen, bis nach S. Domingos in Portugal reichenden, 20 km breiten Zone; die bedeu- tendsten bei Rio Tinto abgebauten Kies- lager haben Längen bis zu mehr als 1000 m und teilweise 80 m durchschnittliche Mächtig- keit. In der Hauptsache herrscht Schwefelkies, der Kupfergehalt schwankt, beträgt aber in der Regel nur 3 bis 4%. Schon die Phönizier scheinen zu Rio Tinto Bergbau getrieben zu haben. Im schwedischen Gneisgebirge sind mehr- fach Kieslager bekannt; die wichtigsten werden seit etwa 600 Jahren zu Falun, nord- westlich von Upsala, abgebaut. Die Erz- lager bestehen aus sehr viel Quarz mit etwas Glimmer, Cordierit, Granat, Amphibol usw., die innig verwachsen sind mit Pyrit, Magnet- kies, Kupferkies und etwas Zinkblende. Sie bilden stockförmige, schon in der Tiefe von einigen hundert Metern endigende Ein- lagerungen im Gneis, von dem sie durch die sogenannten Skölar (= Schalen), wahr- scheinlich umkristallisierte und minerali- siertc Quetschzonen, geschieden sind. Falun hatte seine höchste Blüte in der Mitte des 17. Jahrhunderts; heute sind seine Kieslager fast erschöpft. Eine große Anzahl von Kieslagern ist in den kristallinen Schiefern Norwegens bekannt. Sie finden sich längs der West- küste etwa zwischen dem 59. und 67. Breite- grad. Als Lagerart tritt hier der Quarz mehr zurück, häufig sind Silikate wie Strahlstein, Chlorit, Glimmer, Diopsid, Granat, Zoisit und Epidot, d. h. die auch in den umschließen- den Muttergesteinen verbreiteten Bestandteile. In der Nachbarschaft der Lager sind massige, als Gabbros bezeichnete Gesteine verbreitet; i man hält sie für intrusiv und will mit ihrer Intrusion die Kieslager als epigenetische Injektionen in Verbindung bringen. Wich- I tigere Kieslager Norwegens sind die eigen- artigen „Kieslineale" von Röros südöstlich von Trondhjem und am Sulitelma östlich von j Bodo. Im Ural waren die Kontaktlagerstätten I von Bogoslowsk an der Turja und von Mednorudiansk bei Nischne Tagilsk in frühe- I reu Zeiten wegen des großen Reichtums ihrer Ausstriche bekannt. Mednorudiansk lieferte große Mengen des edlen, seither viel I verarbeiteten Malachits. In England waren die Kupfererzgänge ! von Cornwall, welche eine kupferreiche Aus- bildung der dortigen Zinnerzgänge darstellen, von Bedeutung. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind reich an Kupferlagerstätten von mancher- lei Art. Die seit 1850 bekannte Lagerstätte von Ducktown ist eines der in den kristal- linen Schiefern der Alleghanies verbreiteten Kieslager. Höchst eigenartig ist das Kupfer- erzvorkommen auf der Keweenaw-Halbinsel am Obern See im Staate Michigan. Gedie- genes Kupfer bildet hier fast ganz ausschließ- lich das Erz bis in so große Tiefe, daß es im Gegensatz zu seinem sonstigen Vorkommen für primär gehalten werden muß. In der 180 km langen, bis 7 km breiten Kupfer- region herrschen präkambrische Sandsteine und Konglomerate samt eingelagerten erup- tiven Decken, insbesondere von Diabas. Das Kupfer tritt bald mit Kalkspat, Quarz, Prehnit (H2Ca2Al2Si30i2), Zeolithen usw. in Gängen auf und breitet sich von diesen in dem Nebengestein aus, dieses scheinbar verdrängend, so daß auf solche Weise Massen von enormem Gewicht, angeblich bis zu 420000 kg entstanden; oder das Metall findet sich in den Konglomeraten, ihren Zement bildend oder ganze, manchmal fußgroße Gerolle verdrängend; endlich hat es sich in den Blasenräumcn von Diabas- mandelsteinen angesiedelt, indem es auch hier die ursprünglichen, aus Kalkspat bestehenden Mandeln oder das Gestein selbst verdrängte. Ueberall ist das Kupfer von Mineralien be- Erzlagerstätten 757 gleitet, die sich als Umwandlungsprodukte der Gesteine erklären lassen. Mit dem Kupfer zusammen, indessen nie mit ihm legiert, kommt gelegentlich auch gediegenes Silber vor. Am Oberen See haben schon die Ur- einwohner Kupferbergbau getrieben. Der neuere Bergbau datiert seit 1847; von den zahlreichen seither erstandenen Gruben sind jetzt diejenigen im Houghtondistrikt (be- sonders Calumet und Heela) am wichtigsten. Gegenwärtig erzeugt Michigan nur mehr ungefähr ein Zwölftel der auf 500000 Tonnen veranschlagten Kupferproduktion der Ver- einigten Staaten. Zu Butte in Montana setzen zahlreiche, bis zu 30 m mächtige Kupfererzgänge in Granit auf. Ihr eiserner Hut war mitunter reich an Gold und Silber; unter ihm folgte eine reiche Konzentration sekundärer Sul- fide (Kupferindig, Buntkupfererz, Kupfer- glanz) und dann, stellenweise erst 450 bis 660 m unter der Oberfläche, reichlicher Enargit. Hauptgangart ist der Quarz. Das zu Butte gewonnene Erz ist ziemlich reich an Gold und Silber; manche Gänge wurden in den oberen Teilen als Silbererzgänge ab- gebaut. Montana ist gegenwärtig mit einer Kupferproduktion von rund 150000 Tonnen das Hauptkupferland der Erde. Hinter der Kupfererzeugung Montanas steht diejenige Arizonas nur wenig zurück, ja sie hat jene sogar zeitweise übertroffen. Der Reichtum dieses Staates beruht vor- zugsweise in den veredelten Ausstrichen der Kontaktlagerstätten von Bisbee, Clifton- Morenci und Globe. Fast ein Drittel der nord- amerikanischen Kupferproduktion stammt aus den Gruben Arizonas. Der Kupferberg- bau in diesem Staate besteht seit etwa 35 Jahren. In Mexiko sind seit den letzten Jahren die Kontaktlagerstätten von Cananea im Staate Sonora wichtig geworden; andere liegen bei Concepciön del Oro im Staate Zacatecas. In Bolivien bestehen die reichsten Kupferlagerstätten, diejenigen von Corocoro südlich vom Titicacasee, in Imprägnationen von gediegenem Kupfer innerhalb eines Komplexes eisenschüssiger, wahrscheinlich kretazeischer Sandsteine. Im übrigen sind Kupferlagerstätten an der Westseite Süd- amerikas sehr verbreitet von Peru bis nach Chile, wo der Kupferdistrikt Tamaya, nord- westlich von Ovalle, lange Zeit einer der reichsten der Erde war. In Deutschsüdwestafrika sind die wichtig- sten in Abbau stehenden Kupfer erzlag er- statten die metasomatischen, übrigens auch ziemlich bleireichen Vorkommnisse von Tsumeb (Otavi). Die bisher gewonnenen Erze entstammen dem sekundär veredelten Lagerstättenausstiich, Die Lagerstätten von Burra-Burra und einige andere in Südaustralien verdankten ihren anfänglichen Reichtum gleichfalls den sekundären Erzen der oberen Teufen Die Kupferproduktion betrug 1910 in Vereinigte Staaten 493000 t Mexiko 60000 t Spanien und Portugal 51000 t Japan 47000 t Australien 41000 t Chile 26000 t Deutschland 25000 t Rußland 23000 t 1 Peru 19000 t Blei und Zink. Viele der weiter vorn genannten Silber- und Goldsilbererzgänge sind zugleich Bleiglanzlagcrstätten. Als eigentliche Bleierzlagerstätten mögen hier solche genannt werden, deren Haupterz der Bleiglanz ohne wesentliche Begleitung pri- märer edler Silbererze darstellt. Er "selbst ; ist immer mehr oder weniger silberhaltig. Bleiglanz und Zinkblende sind so regelmäßig auf derselben Lagerstätte vereinigt," daß die meisten Bleierzlagerstätten zugleich solche von Zinkerzen sind und umgekehrt. Im Ausstriche der metasomatischen Lagerstätten hat die Verwitterung der Zinkblende zur Bildung vonGalmei geführt, die selbst wieder- um von einer Verdrängung von Kalkstein begleitet gewesen ist, mitbin gewissermaßen nietasomatische Lagerstätten zweiter Gene- ration ergeben hat. Mit ganz geringen Ausnahmen gehören die Bleizinkerzlagerstätten zu den Gängen und den metasomatischen Lagerstätten, ganz wenige sind Kontaktlagerstätten; nur für wenige blei- und zinkerzführende „Lager", wie z. B. für das früher besprochene Kieslager im Rammeisberg, läßt sich mit hoher Wahr- scheinlichkeit eine Gleichaltrigkeit mit dem Nebengestein behaupten. Im Freiberger Revier (vgl. oben unter Silber) sind die Gänge der „kiesigen" und der „barytischen Bleiformation" die eigentlichen Bleierzlagerstätten; erstere führen zudem viel schwarze Zinkblende, die auf letzteren ganz zurücktritt. Die Gänge des westlichen Oberharzes (Fig. 5) setzen vorwiegend in Tonschiefern und Grauwacken des Kulm, untergeordnet auch im Devon oder auf Verwerfungen zwischen beiden auf. Es sind zusammen- gesetzte Gänge, Ausfüllungen bis zu 80 m mächtiger, an Verwerfer gebundener Spalten- systeme, teilweise über 10 km weit zu ver- folgen; ihr Streichen ist annähernd parallel dem nördlichen Harzrande. Nach ihrer Mineralf ührung unterscheidet man zwei Gruppen: die südlichen Gänge (Grunder Revier) führen hauptsächlich Bleiglanz mit Schwerspat und Siderit, die nördlichen 758 Erzlagerstätten (Clausthal-Zellerfeld, Lautenthal) enthalten unter kommen neben dem Bleiglanz auch Bleiglanz und Zinkblende, die letztere mehr- Knotten von Kupferkarbonaten vor. fach in der Tiefe überhandnehmend, sowie auch etwas Kupferkies neben Quarz und Kalkspat als vorwiegenden Gangarten. Edle Silbererze fehlen fast vollständig. Im Gründer Kevier steigt der Silbergehalt des Bleiglanzes bis auf 0,3%, sonst erreicht er kaum 0,1%. Der Oberharzer Bergbau reicht vielleicht bis ins 13. Jahrhundert zurück, wurde aber eigentlich erst im XVI. Jahrhundert durch den Zuzug erzgebirgischer Bergleute be- gründet. Die durch ihre schönen Mineralien be- rühmt gewordenen Gruben von Neudorf im Unterharz sind jetzt aufgelassen. Die Bleierzgänge von Holzappel, Ems und Braubach an der unteren Lahn und am Ehein setzen in unterdevonischen Schiefern und Grauwacken auf; bekannt sind die prächtigen Pyromorphite von der Grube Friedrichssegen bei Braubach. Die sonstigen Gänge des rheinisch-westfälischen Schiefer- gebirges, von denen die von Bensberg bei Köln die mächtigsten sind, führen haupt- sächlich Zinkblende. glanzlager Die seit Jahrhunderten bekannten Blei- bei Commern und Mechernich im rheinländischen Kreis Schieiden haben noch vor wenig Jahren reiche Ausbeute ge- geben, gelten aber jetzt als erschöpft. Einige Sandsteinhorizonte des dortigen Hauptbunt- sandsteins führen massenhafte rundliche Konkretionen von Sandkörnchen mit kristal- lisiertem Bleiglanz, die sogenannten Blei- erzknotten. Diese letzteren werden selten über erbsengroß; sie machen 4 bis 10% des Gesteinsgewichtes aus. Wo sie auftreten, ist der sonst rote Sandstein gebleicht. Mit- Fig. 11. Profil durch die metasomatischen Bleiglanzlagerstätten von Kreuth in Kärnten. Maßstab 1:12 500. Nach Posepny. AusStelzner- B e r g e a t , Erzlagerstätten. Die wichtigsten Zinkerzlagerstätten Eu- ropas sind die metasomatischen Lagerstätten in der Gegend von Aachen und in Ober- schlesien. In dem preußisch-belgischen Grenzgebiete westlich von Aachen finden sie sich dort, wo der Kohlenkalk, oder in selte- neren Fällen da, wo der mitteldevonische Eifelkalk von Querverwerfungen durchsetzt wird. Bleiglanz und Zinkblende, an deren Stelle in den oberen Teufen der Galmei tritt, bilden längs der Grenze zwischen den Schiefertonen und den dolomitisierten Kalk- steinen lagerartige oder stockförmige Massen; seltener sind die in das Schiefergebirge hin- einsetzenden Gänge. Die Grube Schmal- graf ist jetzt die wichtigste dieses unter dem Namen Altenberg (Vieille Montagne) be- kannten Kevieres. Ganz ähnlich sind die Lagerstätten bei Stolberg (Diepenlinchen) östlich von Aachen, ähnlicher Entstehung auch die an Eifeler Kalk gebundenen Galmei- lager von Iserlohn und Schwelm in Westfalen. Die Erzlagerstätten von Tarnowitz und Beuthen in Oberschlesien gehören der Muschel- kalkformation an, die dort in zwei Graben- versenkungen, eingesunken in die Schichten des Steinkohlengebirges, vor der Abrasion bewahrt worden ist. Zu Tarnowitz herrscht Bleiglanz, Beuthen produzierte früher viel Galmei; jetzt sind dort die tieferen Lager- stättenteile reich an Blende. Das erzführende Gestein ist hier wie dort fast ausschließ- lich ein etwa 50 m mächtiger dolomitisierter Kalkstein des unteren Muschelkalkes, dessen Unterlage ein sehr tonreicher und deshalb wasserundurchlässiger Kalkstein bildet. Im großen ganzen unterscheidet man im Dolomit zwei übereinanderliegende „Erzlager"; man darf wohl annehmen, daß auf den Spalten, längs denen das Nieder- sinken der Muschel- kalkschollen vor sich ging, die Metalllösungen emporstiegen und sich vorzugsweise längs der Schicht flächen aus- breiteten, den Kalk- stein verdrängend und dolomitisierend. Tarno- witz ist im Jahre 1526 gegründet ; indessen hat wohl schon lange vor- her dort Blei- und Silberbergbau statt- gefunden. Der neuere Erzbergbau Ober- schlesiens datiert seit der Erwerbung des Landes durch Preußen. Erzlagerstätten 759 Die im oberen Muschelkalk auftretenden Galmeilager von Wiesloch bei Heidelberg sind den oberschlesischen ähnlich; ihre Bil- dung scheint in Beziehung zum Grabenbruch des Bheintales zu stehen. In den bayrischen und tiroler Nordalpen führt der Wettersteinkalk (obere Trias) stellenweise Bleierze, so zu Bieberwier am Fernpaß und im Höllental bei Garmisch, wo Gelbbleierz auftritt. Viel verbreiteter sind metasomatische Blei- und Zinkerzlager- stätten im südalpinen Wettersteinkalk; am bedeutendsten sind diejenigen von Raibl und Bleiberg-Kreuth (Fig. 11) in der Gegend von Villach in Kärnten. In den oberen Teufen der Bleiberger Gruben bildet Gelb- bleierz eine merkwürdige Erscheinung. Die an Mineralien, besonders auch an allerlei Silikaten reiche Bleizinkerzlager- stätte in den kristallinen Schiefern am Schneeberg bei Sterzing in Tirol scheint teil- weise gangförmiger Natur zu sein; ein anderer Teil des Vorkommens ist wahrscheinlich unter Verdrängung einer Kalksteineinlagerung ent- standen. Von sonstigen österreichischen Bleierzlagerstätten hat nur noch das Gang- gebiet von Pfibram in Böhmen Bedeutung (Fig. 12). Das Nebengestein der Gänge bilden im wesentlichen präkambrische Schiefer und kambrische Grauwacken. Ihr Auftreten ist, ohne daß von genetischen Beziehungen ge- sprochen werden könnte, räumlich gebunden an die zahlreichen, in dichter Menge jene Sedimente durchsetzenden Diabasgänge; ihre Erzführung dürfte zu einer benachbarten Granitintrusion in Beziehung stehen. Die Mineralführung der Gänge ist sehr mannig- faltig. Das gewöhnliche Erz besteht aus silberreichem Bleiglanz, Zinkblende, Kalk- spat und Siderit; daneben spielen die quar- zigen „Dürrerze" eine sehr- wichtige Rolle, in welchen der Bleiglanz mehr zurücktritt und die edle Metallführung vorzugsweise an Silbererze gebunden ist. Die Pfibramer j Gruben bestehen wohl schon seit 600 Jahren und gehören mit Schachttiefen bis gegen ! 1200 m zu den tiefsten Erzgruben der Erde. Der ehedem berühmte Bergbau von Kutten- berg und der von Mies in Böhmen sind völlig aufgelassen. Zu Monteponi im Distrikt Iglesias auf Sardinien haben die in silurischem Kalkstein aufsetzenden metasomatischen Bleiglanz- lagerstätten die Form von Schläuchen („Erz- säulen"). Sie entstanden offenbar im Durch- schnitte von Klüften mit den Schichtflächen ; innerhalb eines 300 m langen und 100 m breiten Raumes kennt man ungefähr 60 solcher Erzsäulen. Monteponi ist bekannt wegen seiner schönen sekundären Bleierze, besonders als Fundort des schön kristalli- sierten Phosgenites. In derselben Gegend sind auch ergiebige Galmeilager. Die Bleierzgänge von Linares und La Carolina-Sta. Elena südlich der Sierra Morena in Spanien gehören zu den ergiebigsten der Erde. Erwähnt seien ferner die metasoma- tischen, schon von den Karthagern und Rö- mern ausgebeuteten Bleierzlagerstätten von SOOrm too 300 ■20O ■700 v. ■■• ' Fig 12. Profil durch den Annaschacht zu Pfibram. Diabasgänge (schraffiert) „schleppen" die Blei-Silbererzgänge (schwarz). Beide setzen an einer Ueberschiebungsfläche zwischen Grau- wacke (rechts) und Tonschiefer (links oben) ab. Maßstab 1 : 6700. NachPosepny. Aus Stelzner- Berg e a t , Erzlagerstätten. Cartagena. In den Pyrenäen sind Galmei- lager zwischen Guipüzcoa und den Picos de Europa bei Santander erschlossen; bekannt ist die schöne Zinkblende von der Grube Inagotable in letzterem Gebirgsstocke. Die metasomatischen Bleiglanzlager im Kohlenkalk von Northumberland, Cumber- land, Durham, Westmoreland und Derbyshire 760 Erzlagerstätten sind jetzt bedeutungslos. Die schönen eng- lischen Flußspate und Schwerspate stammen von solchen. Schon im Altertum, besonders im 5. Jahrh. v. Chr., hatte ein lebhafter Blei- und Silber- bergbau auf den Lagerstätten von Laurion am Kap Sunion in Attika statt. Bleiglanz, Zink- blendeund jüngere Ausscheidungen vonGalmei treten dort mit den mannigfachen Formen metasomatischer Lagerstätten in mehreren durch Schieferbänke voneinander getrennten Marmorlagen auf. Am wichtigsten sind die Gruben von Kamaresa. Als man im Jahre 1864 die Ausbeutung der längst verlassenen Gruben wieder aufnahm, gewann man zu- nächst noch nennenswerte Mengen von Silber und Blei aus den massenhaften Schlacken der athenischen Zeit. Gegenwärtig ist die Gegend von Laurion ein wichtiger Galmeiproduzent. Ganz einzigartig ist das Vorkommen von Zinkblende als primärer Bestandteil einer im übrigen aus Feldspat, Quarz, Glimmer, Granat, Pyroxen, Hornblende usw. bestehen- den schichtartigen, gebänderten Einlagerung in dem feinkörnigen Gneis von Ammeberg in Schweden. Dieses Zinkblendelager ist gegen 4 km weit mit einer bis zu 15 m betragenden Mächtigkeit bekannt und folgt allen Bie- gungen des Gneisstreichens wie ein kon- kordant eingelagerter Gesteinskörper. Neben der Zinkblende führt das Lager auch etwas Bleiglanz und Pyrit. Ein anderes Zinkerzvorkommen ganz besonderer Art ist dasjenige von Franklin Furnace und Sterling Hill im Staate New Jersey. Die Erze sind hier nicht sulfidisch sondern oxydisch, nämlich der Zinkmangan- eisenspinell Franklinit, das Rotzinkerz, der Willemit (Zn2Si04) und der Troostit ([Zn,Mn,Fe,Mg]2Si04). Diese zusammen mit Manganpyroxen und Mangangranat bilden eine bis zu 15 m mächtige Einlagerung in einer trogförmig gefalteten Marmormasse, die ihrerseits von Gneis unterlagert wird. Die Erzmassen verdrängen den Marmor und verlieren sich andererseits in ihm. Man ist geneigt, das merkwürdige Vorkommen für eine Kontaktlagerstätte zu halten, wofür die Gegenwart von Pegmatit in unmittelbarer Nähe der Erze spricht. Metasomatische Blei- und Zinkerzlager- stätten sind in großer Zahl über ein etwa 500 km langes und 300 km breites Gebiet in den Staaten Missouri, Kansas, Arkansas, im Indian Territory, in Illinois, Wisconsin und Jowa verbreitet. Man unterscheidet den Südostdistrikt südlich von St. Louis, den Zentraldistrikt um Jefferson, beide mit vorherrschenden Bleiglanzlagerstätten, und den Südwestdistrikt um Joplin, welcher gegenwärtig die Hauptmenge des ameri- kanischen Zinkes liefert und einer der wich- tigsten Zinkerzdistrikte der Erde überhaupt ist. Hier sind die Lagerstätten an den unteren Kohlenkalk, in den beiden anderen Distrikten an verschiedene Kalksteinhorizonte des Un- tersilurs gebunden. In sehr mannigfaltiger Form bilden sie Imprägnationen, Höhlen- füllungen, Erzschläuche, stockartige An- reicherungen usw. Die Ausbeutung der Bleierzlager durch die Weißen reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Missouri produziert jetzt fast genau so viel Zink wie Blei, nämlich je rund 128000 Tonnen. Zu den metasomatischen Bleierzlagern gehören auch manche in früherer Zeit wegen des Gold- und Silbergehaltes ihrer Ausstriche berühmte Vorkommnisse in Colorado (Lead- ville, Aspen), Nevada (Eureka), Neu-Mexiko (Lake Valley) und viele andere. Jetzt ist neben Missouri der Staat Idaho der wichtigste Bleiproduzent Nordamerikas; dort haben die Bleierzgänge von Coeur d'AlOne eine sehr große Bedeutung gewonnen. Die an sekundären Erzen reichen Lager- stätten von Mapimi in Mexiko scheinen meta- somatischer Natur zu sein. Das gewaltige Bleizinkerzlager von Brokenhill in Austra- lien wurde schon weiter oben wegen seines silberreichen eisernen Hutes namhaft ge- macht. Es produzierten im Jahre 1910, teilweise aus importierten Erzen, Blei Zink Vereinigte Staaten 355000 t 251000 t Spanien 180000 t 6600 t Deutschland 156000 t 228000 t Mexiko 121000 t Belgien 89000 t 173000 t Australien 80000 t England 32000 t 64000 t Holland — 21000 t Frankreich 26000 t 51500 t Oesterrekh 13000 t 13000 t Zinn. Das Auftreten des Zinnerzes auf primärer Lagerstätte ist fast ausschließlich an Granit und dessen Kontakthöfe ge- bunden; in allen seltenen Ausnahmen zeigen sich wenigstens Beziehungen zu anderen sauren Gesteinen: so bei gewissen Zinnerz- vorkommnissen in Rhyolithen Mexikos, bei den zinnerzführenden Silbererzgängen Boli- viens und bei den sehr spärlich vertretenen Vorkommnissen des Erzes auf metasoma- tischen oder auf Kontaktlagerstätten. Wegen seiner Härte, seiner chemischen Wider- standsfähigkeit und seines hohen spez. Ge- wichtes kann das Zinnerz eine Anreicherung auf alluvialen und eluvialen Seifen erfahren, die mitunter vielleicht durch eine sekundäre Konzentration im eisernen Hute seiner primären Lagerstätten vorbereitet worden ist. Die an Granit gebundenen Zinnerzgänge bieten ein ausgezeichnetes Beispiel einer- Erzlagerstätten 761 seits für unmittelbare Beziehungen zwischen Erzgängen und Tiefengesteinen, anderer- seits für paragenetische Gesetzmäßigkeiten. In ersterer Hinsicht stehen sie nach ihrem Auftreten und ihrer mineralogischen Zu- sammensetzung den als kristallisierte gra- nitische Restlaugen zu betrachtenden Peg- matiten sehr nahe. Sie werden vielfach, aber ohne zureichende Begründung, als pneuniato- lytische Bildungen, ja geradezu als Subli- mationsprodukte bei der Entgasung der Granite betrachtet; besser werden sie viel- leicht als Kristallisationen aus sehr heißen und sehr reaktionsfähigen Lösungen be- zeichnet. So weit das Nebengestein aus Granit, Gneis oder anderen feldspatführenden Gesteinen besteht, ist der Feldspat darin in Kali- (und wohl auch Lithion-) Glimmer und Quarz umgewandelt und es entstand so das als „Greisen" bezeichnete sehr charak- teristische Gestein. Sehr häufig ist auch eine Turmalinisierung, seltener eine Topasierung des Nebengesteins; oft ist auch der Feldspat in solchem Grade durch Zinnerz ersetzt, daß das Gestein selbst zum Erz wird („Zwitter"). Die Paragenesis der gewöhnlichen, an Granit gebundenen Zinnerzgänge unterscheidet sich wesentlich von derjenigen der meisten an- deren Erzgänge. Ausgezeichnete und nahe- liegende Beispiele für dieselbe bieten die Zinnerzlagerstätten des Erzgebirges. Ge- wöhnliche Begleiter des Zinnerzes sind der Quarz, der Orthoklas, ferner Wolframit und Scheelit, Eisenglanz, gediegen Wismut, Kupferkies und Arsenkies; Lithionglimmer, Topas, Turmalm, der Fluorapatit, der Flußspat und selten auch die Beryllium- silikate Beryll (Be3Al2Si6018) und Phenakit (Be2Si04). Eine ähnliche, besonders durch Bor, Fluor, Lithium und Phosphorsäure gekenn- zeichnete Paragenesis wiederholt sich sonst noch bei einzelnen Kupfer- und Golderz- gängen. Gerade ihr Gehalt an Bor und Fluor war von jeher der Anlaß, diesen Gängen eine pneumatolytische Entstehung zuzu- schreiben; nach Daubree hätte sich das Zinnerz durch folgende Reaktion gebildet: SnF4 + 2H20=Sn02+4HF. Ihre Mög- lichkeit läßt sich experimentell beweisen. Für die Gewinnung des Zinnes haben die primären Zinnerzlagerstätten heute nur mehr eine nebensächliche Bedeutung, der größte Teil des Erzes stammt aus eluvialen und allu- vialen Seifen. Von den zahlreichen sächsischen Zinn- erzlagerstätten stellen nur noch wenige in Abbau. Zu Altenberg ist die Peripherie eines postkarbonischen Granitdurchbruches stock- werkartig mit Zinnerz und dessen Begleitern dermaßen durchwachsen und imprägniert, daß das Gestein selbst verpocht werden muß, um den nur 0,3% betragenden Zinngehalt zu gewinnen; nebendem wird noch der 0,002% betragende Wismutgehalt nutzbar gemacht. Zu Zinnwald finden sich die zinn- erzführenden Mineralansiedelungen außer auf Gängen auch auf den Absonderungsklüften, durch welche die dortige Granitkuppe in zahlreiche flach-schalenförmig übereinander- liegende Bänke zerfällt. Solcher „Zwitter- j flöze" kennt man bis zu 100 m Tiefe im ganzen 16. Der Zinngehalt beträgt durch- schnittlich 0,5 bis 0,7%; übrigens wird jetzt hauptsächlich Lithionglimmer und Wolfra- | mitgewonnen. Als weitere, zeitweise blühende Zinnerzgruben sind zu nennen diejenigen von Geyer (Fig. 13) und Ehrenfriedersdorf, wo auch Arsenkies gewonnen wurde, und zu t Graupen bei Teplitz und Schlaggenwald bei Karlsbad. Der erzgebirgische Zinnerzbergbau reicht bis ins 15., derjenige von Schlaggen- wald mindestens bis ins 12. oder 13. Jahr- hundert zurück. Auch Zinnseifen sind früher im Erzgebirge an vielen Orten ausgebeutet worden. Ohne bei den zahlreichen mehr oder weniger unwichtigen Zinnerzgängen in der Bretagne, in Zentralfrankreich und im Westen \ der iberischen Halbinsel (Provinz Galicia) zu verweilen, sei etwas ausführlicher der alt- berühmten Zinnerzlagerstätten der Halb- insel Cornwall gedacht. In dem etwa 130 km langen und 35 km breiten Minendistrikt durchbrechen große und kleine Granitstöcke eine hauptsächlich aus paläozoischen Grau- wacken und Tonschiefern bestehende Ge- birgsformation; sie sind begleitet und um- schwärmt von zahlreichen petrographisch verwandten Gesteinsgängen. Im Zusammen- hang mit den Intrusionen steht die Bildung von Zinn- Kupfererzgängen, auf welche die- jenige von Bleierzgängen folgte. Nur die ersteren haben größere Wichtigkeit. Sie setzen teils nur im Granit auf; sehr häufig treten sie aus diesem in die Kontaktzone über, und führen bald nur Zinnerz, bald nur Kupfererze, bald beide Erze zusammen. Auf vielen Gängen gewann man im Ausstrich nur Zinnerz, während sich in größerer Tiefe se- kundäre Kupfererze fanden, letztere oft ausgezeichnet durch ihre schöne Kristalli- sation (z. B. Kupferglanz, Rotkupfererz). Im Granit tritt das Erz teils in eigentlichen Gängen und neben diesen in mehr oder weniger reichen Imprägnationen auf, deren eine, die große Carbona von St. Ives in einem ungefähr 220 m langen und etwa 10 m hohen und breiten Weitungsbau 60000 t mit Zinn- erz durchwachsenen Granit ergeben hat, teils auch war das Vorkommen ein stockwerk- artiges. Es ist bekannt, daß schon die Phönizier aus England Zinn geholt haben sollen. Die in uralten Zeiten ausgebeuteten Zinnerzseifen sind jetzt sozusagen völlig er- schöpft. Eine hohe Bedeutung hatte der Zinn- und Kupferbergbau Cornwalls in 762 Erzlagerstätten früheren Jahrhunderten; im Jahre 1871 erzführende, aus der Verwitterung zinnerz- erreichte er seine höchste Blüte und ist führender Granite hervorgegangene Boden seitdem mehr und mehr unbedeutend ge- auf das Erz verwaschen. Nachdem der Zinn- worden, reichtum der beiden genannten Inseln gegen Fig. 13. Ein „Zug" von Zinnerzgängen in Granit, Neben den Gängen ist der Granit mit ' Erz imprägniert, Zinnerzlagerstätten zu Geyer im Erzgebirge. Nach Charpentier. Erwähnung verdient das Zinnerzvor- kommen von Campiglia Maritima in Tos- kana, das lediglich mit Brauneisenstein, welcher teilweise deutliche Pseudomorphosen nach Pyrit bildet, auf metasomatischen Lager- stätten in einem normalen Kalkstein auftritt. Reich an Zinnerzlagerstätten ist Australien; die wichtigsten sind diejenigen am Mount Bischoff in Tasmanien. In Queensland sind die Gänge teilweise ziemlich reich an Wol- framit und Molybdänglanz Das reichste Zinnerzgebiet der Erde er- streckt sich von Bangka und Billiton, zwei südlich Singapore gelegenen Inseln, nord- wärts durch die Halbinsel Malakka. Ins- besondere in den Malayenstaaten Perak und Selangor wird seit sehr langer Zeit der über hunderte von Kilometern verbreitete zinn- früher sehr bedeutend abgenommen hat, stammt jetzt weitaus das meiste Zinn des Handels aus Malakka. Nordamerika ist trotz der großen Ver- breitung von Granit sehr arm an Zinnerz- lagerstätten, die dort noch dazu von nur geringem Umfang sind. Das merkwürdige Vorkommen des Zinnerzes auf den Silber- erzgängen Boliviens ist schon früher er- wähnt worden. In ungewöhnlicher Weise findet sich das Erz in Rhyolithen Mexikos. Die Zinnproduktion der Hauptzinnländer betrug 1910: Malayische Staaten (Straits) 57000 t Bangka-Billiton 14500 t Bolivien 19000 t Australien 5000 t England 6000 t Erzlagerstätten 763 Wolfram. Wolframit ist ein treuer Be- gleiter des Zinnerzes und besitzt z. B. zu Zinnwald jetzt neben Lithionglimmer eine größere Bedeutung als das letztere. Gänge, welche neben Quarz im wesentlichen Wolfra- mit führen, aber doch mehr oder weniger enge mineralogische Beziehungen zu den Zinnerzgängen erkennen lassen, sind z. B. in Portugal, Sachsen, Brasilien. Australien und in der argentinischen Republik bekannt. Die ganze Wolframitproduktion der Erde betrug 1909 ca. 5000 t. Eisen. Als Eisenerze kommen die früher bezeichneten Oxyde und Hydroxyde, neben- sächlich auch die bei der Schwefelsäure- fabrikation abgerösteten Kiese in Betracht. Die Zahl der Eisenerzlagerstätten auf der Erde ist eine ungeheuere; ihre Verwertbar- keit hat eine außerordentliche Vermehrung und ihre Bewertung eine völlige Umwälzung seit der Erfindung des Entphosphorungs- prozesses durch Thomas und Gilchrist (1879) erfahren, durch den heute phosphorhaltige Eisenerze im weitesten Umfang unter gleich- zeitiger Gewinnung der phosphorhaltigen Schlacke verarbeitet werden können. Trotz- dem bleiben weitaus die meisten Eisenerz- lagerstätten heute noch unbenutzt, weil ihre Ausnutzung auch bei dem höchsten Eisengehalt (bei Magnetit 72% Fe) unmög- lich wird, wenn der Transport des Erzes zur Verhüttung nur einigermaßen kostspielig ist. Die Eisenerze zeigen unter allen Erzen die größte Mannigfaltigkeit des Auftretens. Die wichtigsten Lagerstätten des Eisens können nach ihrer geologischen Erscheinungs- weise als Lager bezeichnet werden; so die Magnetit- und Eisenglanzlagerstätten in den kristallinen Schiefern vieler Gegenden, die Roteisenerzlagerstätten des deutschen De- vons, die sedimentären Minettelager im braunen Jura und zahlreiche andere Eisen- oolithvorkommnisse vom Silur bis zum Tertiär. Echte sedimentäre Bildungen sind ferner die Rasen-, Sumpf- und See-Erze, die Toneisen- und Kohleneisensteine. Lager- förmig treten gewisse metasomatische Spat- eisensteine in verschiedenen Kalksteinfor- mationen auf. Als magmatische Ausschei- dungen finden sich Massen von titanhaltigem Magnetit und Titaneisen in Anorthositen Südnorwegens und der Adirondackberge im Staate New York sowie im Hyperit des Tabergs in Smäland. Sie haben nur geringe wirtschaftliche Bedeutung. Ebenso haben die Roteisenerz- und Spateisensteingänge vielfach sehr von ihrer früheren Bedeutung ver- loren. Zu den Kontaktlagerstätten gehören viele von „Skarn" (vgl. 6e) begleitete, an Kalke oder Dolomite gebundene Magnetit- und Eisenglanzlager. Ueber die metathe- tischen Konzentrationen von Brauneisenerz vergleiche 6f. Das größte europäische Eisenerzfeld sind die Minetteablagerungen in Luxemburg und in den deutsch-französischen Grenzgebieten bis in die Gegend von Nancy. Dieser oolith- ische Eisenstein bildet mehrere mächtige Lager im obersten Lias und unteren Dogger. Wegen ihres ziemlich ansehnlichen Phos- phorgehaltes war die Minette früher nicht abbauwürdig, ihre Ausbeutung begann erst in den 1870er Jahren und hat seitdem und in der letzten Zeit auch inFranzösisch-Lothringen einen ungeheuren Aufschwung genommen. Oolithische Eisenerze des Lias werden gegenwärtig noch zu Harzburg am Nordrande des Harzes, solche des Doggers zu Wasseral- fingen in Württemberg, solche des unteren Malm an der Porta Westfalica abgebaut. Am nördlichen Harzrande finden sich ähn- liche Eisenerzablagerungen in der unteren Kreide (Hils) bei Salzgitter und Dornten. Die bedeutende Eisenhütte von Großilsede bei Hannover verarbeitet hauptsächlich Brauneisensteine, welche bei Peine ein stellen- weise über 10 m mächtiges Lager zwischen dem Quadratenmergel und Gault bilden. Das Erz kommt in gerundeten oder fast scharfkantigen Gerollen jeder Größe bis herab zu derjenigen von Brauneisenerzsand vor und hat sich jedenfalls infolge der Auf- schwemmung älterer toneisensteinführender Schichten durch das seichte Kreidemeer gebildet. Oolithische Eisenerze finden sich in eocänen Schichten der Nordalpen und wurden früher besonders am südlich vom Chiemsee abgebaut. Erwähnung verdienen die silurischen Eisensteine von Schmiedefeld in Thüringen; sie bestehen großenteils aus den eisenreichen chloritähnlichen Mineralien Chamosit und Thuringit; hauptsächlich das letztere Mineral tritt darin in der Form ausgezeichneter Oolithe auf. Etwa gleichalterig und von ganz ähnlicher Art sind die Eisensteine, welche südwestlich von Prag eine weite Verbreitung besitzen und in der Gegend von Nutschitz auf eine Erstreckung von 8 km und mit einer größten Mächtigkeit von 14 m ein bauwürdiges Lager von zweifellos sedimen- tärem Ursprung bilden. Die Kohleneisensteine der verschiedenen deutschen und außerdentschen Steinkohlen- reviere lohnen jetzt kaum mehr die Ge- winnung. Dasselbe gilt im ganzen auch von den besonders in den Jura- und Kreide- ablagerungen sehr verbreiteten Toneisen- steinen. Die in ganz Norddeutschland im Bereich der eiszeitlichen Ablagerungen auf- tretenden Raseneisensteine (vgl. 6b) werden gegenwärtig nur noch in geringer Menge ver- hüttet, Die wichtigsten Eisenstein gänge sind die Siegerländer Spateisensteinlagerstätten. Sie bilden gruppenweise in unterdevonischen Kressenberg 764 Erzlagerstätten Grauwacken und Schiefern sogenannte Gang- züge, deren man bei Siegen 16 zählt und welche Längen bis zu 15 km erreichen. Dabei besitzen einzelne Gänge ganz ungewöhnliche Mächtigkeiten bis zu 30 m. Neben zahlreichen untergeordneten Mineralien, z. B. von Kobalt und Nickel, führen die Siegerländer Eisen- steingänge stets Quarz und besonders in den oberen Teufen auch Kupfererze, Bleiglanz und Zinkblende. Der Wert des Siegerländer Eisensteines besteht in seiner Phosphorfrei- heit und seinem oft recht beträchtlichen Mangangehalt. Bis in teilweise ansehnliche Tiefen ist der Spateisenstein in Roteisenerz und Brauneisenstein umgewandelt, in deren Gesellschaft sekundäre Mangan- und auch Kupfermineralien angetroffen werden. Die Roteisensteingänge im Erzgebirge und am Harz (Andreasberg, Zorge, Lauter- bera) sind ietzt bedeutungslos geworden. In Begleitung der Kalksteine, Diabase und Diabastuffe (Schalsteine) des rechts- rheinischen Mittel- und Oberdevons kommen vielfach, insbesondere im Lahntal, in Waldeck und im Harz (z. B. bei Elbingerode und Osterode-Clausthal) Lager von Roteisenstein vor. Sie sind manchmal erfüllt von Ver- steinerungen mit wohlerhaltener Kalkschale, woraus zu schließen ist, daß sie nicht meta- somatischer Entstehung sein können. Anderer Art sind die auf den Stringocephalenkalk aufgelagerten, metasomatischen Brauneisen- steine z. B. bei Gießen, die wegen des Vor- kommens kristallisierter Eisenphosphate mine- ralogisches Interesse besitzen (z. B. bei Wald- girmes) und nach ihrer Entstehung mit den später zu erwähnenden Manganerzlagern der- selben Gegend verwandt sind. Als metasomatische, an Jurakalk ge- bundene Massen werden neuerdings die Eisenerzlager von Amberg in der Oberpfalz aufgefaßt. Met asomatische, mehr oder we- niger in Brauneisenstein umgewandelte Spat- eisensteinlager werden im Zechstein von Schmalkalden, bei Saalfeld, am Hüggel bei Osnabrück und bei Bieber am Spessart ab- gebaut. Kontaktlagerstätten sind wohl die in mehr oder weniger deutlichem Zusammen- hang mit Graniten stehenden Magnetitlager von Schmiedeberg im Riesengebirge und solche im Erzgebirge bei Schwarzenberg, wo sie von Arseneisen, Zinkblende, Bleiglanz und anderen Erzen begleitet werden. Als der Typus der Kontaktlagerstätten gelten seit Jahrzehnten die mehr oder weniger sulfidführenden Magnetitlager bei Vaskö (Moravicza), Dognäcska, Oravicza, Csiklova u. a. a. 0. im Banat; sie sind unmittelbar an den Durchbruch dioritischer Intrusionen durch einen zu Marmor veränderten Kalk- stein gebunden und bekannt als der Fundort schön kristallisierter Kontaktmineralien wie Granat, Wollastonit und Vesuvian. Eine der großartigsten Eisensteinlager- stätten Europas und neben dem Nutschitzer Eisenerzvorkommen (vgl. oben) das wichtigste Eisensteinlager Oesterreichs ist der Erz- berg bei Eisenerz in Steiermark. Er besteht an seinem Nordwestabhange bis zur Mächtig- keit von 125 m aus Spateisenstein, der seit Jahrhunderten abgebaut wird. Solcher Lager, die jetzt für metasomatische Bildungen in paläozoischen Kalksteinen gehalten werden, gibt es noch zahlreiche kleinere in den öster- reichischen Nordalpen vom Salzburgischen bis zum Semmering. Weiter südlich sind die Erzlager von Hüttenberg in Kärnten gleich- falls metasomatische Spateisensteinlager in kristallinem Kalkstein. Im Zipser Komitat, z. B. zu Bindt und Kotterbach südöstlich der Tatra, werden mehrfach mächtige Spateisensteingänge ab- gebaut. Sie führen auch mehr oder weniger Kupferkies und stellenweise auch queck- silberhaltiges Fahlerz. Große Spateisenstein- bzw. Brauneisenerzlager werden bei Gyalär im Hunyader Komitat ausgebeutet. Zu den Kontaktlagerstätten zählen wieder- um die wegen ihrer schönkristallisierten Mineralien berühmten Eisenstein-Pyrit-Lager von Traversella und Brosso in Piemont und wenigstens teilweise auch die wichtig- sten italienischen Eisenerzlagerstätten, näm- lich diejenigen von Elba (Fig. 14). Die an der Ostküste letzterer Insel bei Rio Marina auf- tretenden Vorkommnisse sind zweierlei Art: die nördlich gelegenen führen in verschie- denen Horizonten (Perm, Rhät und Lias), scheinbar immer in engem Zusammenhang f Punta Fig. 14. Schematisches Profil durch die Eisensteinlagerstätten von Calamita auf Elba, sc Schiefer; c Kalkstein: p Pyroxen-Ilvait-Granatfels. f Magneteisenstein. Nach Fabri und Lotti. Aus Stelzner-Bergeat, Erzlagerstätten. Erzlagerstätten 765 mit eingelagerten Kalksteinen Roteisenstein, j Eisenglanz und Schwefelkies mit etwas Quarz, aber ohne Kontaktsilikate. Die be- 1 rühmten Elbaner Eisenglanz- und Pyrit- ! kristalle stammen von dort. Südlich von ' Eio, insbesondere auf dem Berge Calamita ist das Erz Magneteisenstein, gleichfalls gebunden an Kalkstein, jedoch begleitet von Silikaten. Die Lagerstätten sind zwar nirgends unmittelbar an eruptive Durch- brüche geknüpft, doch treten Granitgänge in ihrer nächsten Nähe auf. Die englische Eisenindustrie früherer Zeiten gründete sich vorzugsweise auf die in den zahlreichen Steinkohlenrevieren vor- [ kommenden Kohleneisensteine. Bedeutung besitzen jetzt noch die metasomatischen Roteisensteinlagerstätten im Kohlenkalk, sei- ] teuer auch im Silurkalk von Cumberland und Lancashire, insbesondere im White- haven-Distrikt, von wo die unter dem Fundort Frizington bekannten prächtigen Kalkspäte stammen. In neuerer Zeit sind die oolithischen Eisensteine wichtig geworden, die sich an zahlreichen Orten und in verschiedenen Horizonten der jurassischen Ablagerungen vorfinden, welche von Cleveland im Nord- osten bis Portland im Süden England durch- ziehen; insbesondere gilt dies von den soge- nannten „Cleveland-Erzen" des mittleren Lias. Schon im Altertum wurden die jetzt für die deutsche und besonders die englische Eisenindustrie so wertvollen Eisenerzlager von Bilbao am Golf von Biscaya ausgenutzt. Das Erz bildet metasomatische Massen in Kalkstein der unteren Kreide und besteht im frischen Zustande aus Spateisenstein, der in großem Umfange in der gewöhnlichen Art umgewandelt ist. Schweden ist eines der eisenreichsten Länder der Erde; die Eisenerzlager gehören sozusagen alle zwei großen Distrikten an, dem mittelschwedischen westlich von Stock- holm und dem lappländischen; die beiden Erzzonen sind rund 650 km voneinander entfernt, weisen aber in petrographischer Hinsicht manche Aehnlichkeiten auf. Die Lagerstätten Mittelschwedens sind sämtlich der kristallinen Schieferformation und im be- sonderen gewissen feinkörnigen gneisartigen Gesteinen eingelagert, welche man in Schwe- den als Granulite oder Leptite zu bezeichnen pflegt. Bald sind die Erze sehr quarzreich, feldspatarm und bestehen vorzugsweise aus Eisenglanz; oder es sind Magneteisensteine mit Skarn, d. h. mit einem Gemenge von Hornblende, Pyroxen, Granat usw., einge- lagert in Gesteine, die durch einen besonders hohen Gehalt an Natronfeldspat ausgezeich- net und dabei oft nach Art der Kontakt- lagerstätten an Kalkstein oder Dolomit ge- bunden sind; ein ganz eigenartiger Erztypus sind endlich die mehr oder weniger apatit- reichen Magnetit- und Eisenglanzlager von Grängesberg, zugleich die wichtigsten Mittel- schwedens; sie sind eingelagert in einen gleichfalls sehr natronreichen Plagioklas- „Granulit" und bilden drei Züge von Lagern, deren bedeutendstes 400 m lang und 90 m mächtig ist. Das Grängesberger Erz wird besonders nach den rheinischen und ober- schlesischen Hütten exportiert. Zum Typus der skarnführenden Magneteisensteine ge- hören die altberühmten Lager von Danne- mora. Die wichtigsten Eisensteingruben Lapplands sind diejenigen von Gellivare und etwa 100 km nördlich davon diejenigen auf den Bergen Kirunavara und Luossavara bei Kiruna. Zu Gellivare liegen zahlreiche Linsen von teilweise apatitreichem Magnet- eisenstein in einem sehr stark gepreßten und schieferartig ausgewalzten Natronsyenit. In den beiden Erzbergen von Kiruna tritt ein etwa 4 km langer Zug syenitischer und quarzhaltiger Orthoklasgesteine zutage, an welche ein fast ebenso weit verfolgbares, steileinfallendes und bis zu 164 m, im Durch- schnitt über 70 m mächtiges Lager von apatitführendem Magnetit in solcher Weise gebunden ist, daß auch an dessen magmati- schem Ursprung nicht gezweifelt werden kann. Die lappländischen Eisenerzlager gehören zu den kolossalsten Lagerstätten der Erde; ihre enorme Produktion wird über Luleä im Osten und Narvik im Westen hauptsächlich nach Deutschland, England und Nordamerika ausgeführt. Im Vergleich zu Schweden ist Norwegen arm an Lagerstätten des Eisens. Die Kon- taktlagerstätten von Arendal, südwestlich von Christiania, berühmt wegen ihres Reich- tums an schönen Mineralien, und diejenigen der Gegend von Christiania haben für die Eisenprocluktion keine Bedeutung mehr. Die schon wiederholt erwähnten Titaneisen- steine von Ekersund-Soggendal sind niemals in größerem Maßstabe verhüttet worden, weil sie zu eisenarm sind. Erwähnung^ ver- dienen die an eine sedimentäre Schiefer- und Kalksteinformation gebundenen, recht bedeutenden Eisenglanzlager von Naever- haugen und Dunderlands dal, dieses südlich, jenes westlich vom Sulitjelma. Die berühmten Magnet eisenberge Wisso- kaja und Gora Blagodat im mittleren Ural dürften den Kontaktlagerstätten zuzurechnen sein. Eine solche ist wohl auch das große Magnetitlager von Mokta-el-Hadid in Algier. Die bedeutendsten Eisenerzlagerstätten Nordamerikas sind diejenigen im Bereich der präkambrischen Formationen am Oberen See und zwar insbesondere an dessen süd- lichem Ufer in den Distrikten Marquette, Menominee, Crystal Falls und Penokee Gogebic im Staate Wisconsin, an seinem 766 Erzlagerstätten westlichen Ufer im Mesabi- und Vermilion- Distrikt im Staate Minnesota. In ihrer jetzigen Erscheinungsweise sind die Erze sekundärer Natur und hervorgegangen aus der oberflächlichen Zersetzung von sedimen- tären Sideritkieselschiefern und magnetit- führenden Aktinolithschiefern ; die ersteren sind dabei zu prachtvoll gebänderten Jaspisschiefern geworden, ein großer Teil des Eisengehaltes jener Gesteine ist aber ausgelaugt worden und nach der Tiefe ge- wandert, um sich in oxydischen Erzen längs undurchlässiger Einlagerungen, wie z. B. am Kontakt talkig zersetzter Diorite oder Diabase, welche die eisenführenden Schichten durchsetzen, oder am Grunde tektonischer Mulden wieder auszuscheiden. Zumeist besteht das Erz aus Hämatit oder lockerem Koteisenstein, teilweise auch aus Magnetit, zunächst der Oberfläche aus Eisenhydr- oxyden. Zufolge ihrer Entstehungsart sind nur wenige bis in Tiefen unter 300 m zu ver- folgen, die Erschöpfung der Eisenerze am Oberen See steht deshalb in absehbarer Zeit bevor. Im Marquettedistrikt findet etwa seit 1850 Eisensteinbergbau statt; erst in den Jahren 1891 bis 1892 wurden auch die Mesabi- und Vermilionlagerstätten erschlos- sen. Allein seit 1891 hat sich die Jahres- produktion verdoppelt; sie erreichte im Jahre 1907 ein Maximum mit 42 Mill. metr. Tonnen gegenüber einer Gesamteisenerzförderung der Vereinigten Staaten von rund 53 Mill. im Werte von annähernd 500 Mill. M. Im Osten der Union sind Eisenerze mannig- facher Art verbreitet: so titanhaltige Mag- netite als Ausscheidungen der Anorthosite in den Adirondack-Bergen (New York), Magnetit- und Eisenglanzlager in den kristal- linen Schiefern von New York bis nach Alabama, Brauneisenerze als eiserner Hut von Pyritlagern, als metasomatische Auflagerun- gen und metathetische und residuale An- reicherungen, ferner die sedimentären, teil- weise oolithischen Clinton-Erze im Silur, die insbesondere zu Birmingham in Alabama verhüttet werden. Zu den Kontaktlager- stätten gehören diejenigen von Cornwall in Pennsylvanien und zu Iron Springs im süd- westlichen Utah. Eine Uebersicht über die Eisenerzeugung der Länder würde, da die Eisenerze zur Verhüt- tung in die Steinkohlendistrikte zu wandern pflegen, nur die Entwickelung der Eisenindustrie, nicht aber den Eisenreichtum der Länder zur Anschauung bringen. Die gegenwärtige Roh- eisenproduktion der Welt wird auf 60 Mill. Tonnen geschätzt. Der gewinn bare Eisen Vorrat der Lagerstätten wird u. a. geschätzt in den Ver- einigten Staaten auf etwa 4,6 Milliarden, in Deutschland auf rund 4 Milliarden Tonnen. Mangan. Die wesentlichste Bedeutung der Manganerze liegt heute nicht mehr im Sauerstoffgehalt der als Braunstein bezeich- neten Manganverbindungen, sondern in ihrer Verwendung bei der Verarbeitung des Roh- eisens. Viele Eisensteine, wie die Spateisen- steine des Siegerlandes oder Steiermarks, oder gewisse schwedische Magnetite enthalten I selbst schon erhebliche Mengen Mangan. Die Braunsteingänge in den Porphyren, Porphyriten und Melaphyren des Rotliegen- den in Thüringen und am Südharz sind jetzt größtenteils verlassen. Zu Oehrenstock bei Ilmenau und zu Elgersburg südlich von I Gotha waren Pyrolusit, Psilomelan und da- neben Hausmannit und Braunit die Erze, zu Ilfeld am Harz fanden sich prächtige Kristallisationen von Mangamt. Zu Paisberg, Längban und an einigen anderen Orten Mittelschwedens finden sich I Braunit und Hausmannit gebunden an Dolomitlager und begleitet von mehr oder weniger selbständigen Einlagerungen von | Eisenglanz und von allerlei Silikaten wie Granat, Rhodonit und anderen Mangan- j pyroxenen, manganhaltigem Glimmer usw. ganz in der Art der von Skarn begleiteten Magneteisensteine derselben Gegend. Eine ' merkwürdige Erscheinung bildet das in Klüften des Erzes auftretende gediegene Blei. Marine Sedimente sind die ausgedehnten I Manganerzlager von Kutais in Transkau- kasien. Sie liegen innerhalb eines 2 bis 3m i mächtigen Schichtenkomplexes alttertiärer Sandsteine und bestehen hauptsächlich aus dichtem Psilomelan in knolliger oder aus- gesprochen oolithischer Struktur. Durch die Auslaugung und Konzen- tration von Mangan bei der Verwitterung j manganhaltiger Gesteine und deren De- ! tritus, also durch eine Metathese, ist die I Entstehung sehr zahlreicher Manganerzlager j zu erklären; gewöhnlich finden sich auf diesen auch nicht unbeträchtliche Mengen I von Eisenoxyd. Vielfach ist das Mutter- gestein solcher Vorkommnisse Kieselschiefer, mitunter mit einem sichtbaren Gehalt von Rhodonit, wie z. B. im Schäbenholz im | Unterharz. Die reichen Braunsteinlager der Lindener Mark bei Gießen sind Auflage- rungen auf mitteldevonischem Stringo- ; cephalenkalk ; ihr Ursprung leitet sich jeden- j falls von der tonigen Zersetzung des Ge- steinsschlammes ab, der in der Tertiär- i zeit auf der Oberfläche des Kalksteins ab- gelagert worden ist. Chrom. Das einzige Chromerz, der Chromit, kommt nur als magmatische Aus- scheidung in Peridotiten und in den zu diesen in Beziehung stehenden Serpentinen vor und bildet darin derbe Massen von mit- unter gewaltigen Dimensionen. Gering- fügige Chromitvorkommnisse sind diejenigen im Zobtengebirge (Schlesien) und zu Kraubat Erzlagerstätten 7G7 in Steiermark, weit verbreitet sind solche in Norwegen, andere liegen bei Orsowa, in Bosnien, Serbien und im Ural. Große Chromitlagerstätten werden im westlichen Kleinasien bei Brussa, ferner bei Antiochia. Mersina, Alexandrette und Smyrna, auf Euböa, in Neuseeland und auf Neukaledonien abgebaut, das im Jahre 1908 als wichtigster Chro mit produzent 47000 t des Erzes aus- führte. Aluminium. Der Kryolith tritt in größerer Menge nur zu Ivigtut an der West- küste Grönlands auf. Er bildet dort haupt- sächlich mit Siderit, Quarz, Bleiglanz, Zink- blende, Kupfer- und Schwefelkies eine stoek- förmige Masse, die in ähnlicher genetischer Beziehung zu einem Granitdurchbruch steht, wie das von Pegmatiten bekannt ist. Nur etwa ein Fünftel der grönländischen Kryolith- produktion wird übrigens zur Aluminium- fabrikation verwendet, etwa zwei Fünftel dienen zur Herstellung von Milchglas, andere zwei Fünftel zur Emaillefabrikation. Das Haupterz für die Aluminiumdarstellung ist jetzt der Bauxit, welcher bei Baux, Ville- veyrac und anderen Orten Südfrankreichs, vor allem auch in den nordamerikanischen Staaten Georgia, Alabama und Arkansas gewonnen wird. Die Vereinigten Staaten produzierten im Jahre 1910 150000 t des Erzes, Frankreich 130000 t. Nickel. Die heutige umfangreiche Ver- wendung des Nickels wird im wesentlichen der Entdeckung der Lagerstätten des nickel- führenden Magnetkieses bei Sudbury in Kanada (1884) und des Garnierits auf der französischen Insel Neukaledonien (1864) verdankt. Zu Sudbury (Provinz Ontario) ist der nickelführende Magnetkies, stets be- gleitet von Kupferkies, im allgemeinen ge- bunden an amphibolitische Einlagerungen in den kristallinen Schiefern des Hurons; sie erweisen sich als regionalmetamorphe Gabbros und verwandte Gesteine. Das Erz tritt besonders gern an der Peripherie dieser Einlagerungen auf. Die Verbreitung des Nickelmagnetkieses erstreckt sich über eine etwa 80 km lange und 40 km breite Zone. Sein Nickelgehalt beträgt 1 bis 5%, mit- unter auch über 10%; die Kupferführung der Lagerstätten ist ungefähr ebenso hoch. Die Nickelproduktion Kanadas belief sich im Jahre 1910 auf rund 17000 t. Aehnliche, an basische, zumeist gabbroartige Gesteine oder Amphibolite gebundene Lagerstätten sind besonders vor der Zeit des kanadischen und neukaledonischen Nickelbergbaues an zahlreichen Stellen Norwegens und zu Varallo im Piemont abgebaut worden; verwandt da- mit ist auch das Vorkommen von Sohland in der sächsischen Lausitz. Die durch eine intensive Zersetzung von nickelhaltigem Serpentin entstandenen Lager- stätten von grünen Nickelhydrosilikaten, wie sie an vielen Stellen Neukaledoniens seit 1874 abgebaut werden, sind eines der wenigen Beispiele für die allmähliche Anreicherung größerer Erzmassen durch Lateralsekretion (vgl. unter 7). Neukaledonien lieferte 1910 über 115000 t Garnieriterze mit etwa 6V>% Nickel. Von anderen Vorkommnissen derselben |Art seien die Lagerstätten von Franken- stein in Schlesien erwähnt, die seit 1891 ausgebeutet werden. Die grünen Nickel- silikate, Schuchardtit und Pimelit, finden sich dort im sogenannten roten Gebirge, einem längs zahlreicher Spalten zu eisen- schüssig tonigen Massen umgewandelten Ser- pentin, der dadurch stellenweise bis zu 3% Nickel enthalten kann. Chrysopras und Chloropal sind sekundäre, durch Nickel- silikat grün gefärbte Kieselausscheidungen. Kobalt. Wenn Speiskobalt oder seltener i der Kobalt glänz in größeren Mengen auf Erzgängen auftritt, wie in der Gegend von Schneeberg in Sachsen und am Temiskaming- I See in Ontario, wo sie von Silbererzen be- gleitet werden, auf den Spateisensteingängen bei Siegen, auf den sogenannten „Kobalt- rücken" Thüringens oder des Spessarts, so bildeten sie in früherer Zeit und sind sie gelegentlich noch jetzt (wie zu Schneeberg) wichtige Erze für die Smaltefabrikation. Von nicht gangförmig! sind zunächst zu erwähnen die vor Jahren verlassenen Kobaltfahlbänder von Skuterud und Snarum in Südnorwegen, nahe Mo dum. Sie bilden sehr quarzreiche, mehr oder weniger Glimmer, Turmalin, Pyroxen und Amphibol führende Einlage- rungen in der Gneis- Glimmerschieferfor- mation; das Hauptkobalterz ist Kobaltglanz, der u. a. von Pyrit, Magnetkies, Kupferkies und Molybdänglanz begleitet wird. In Schweden bestand Kobaltbergbau auf den Fahlbändern von Vena am Nordende des Wetternsees und zu Tunaberg, wo die schönen Kobaltglanzkristalle in kristallinem Kalkstein auftreten. In neuerer Zeit haben die als „Trüffel- erz" bezeichneten metathetischen Asbolane von Neukaledonien, die einen Kobaltgehalt von 2 bis 3% besitzen, technische Bedeutung erlangt (vgl. 6f). Antimon. Die Paragenesis Antimonit, selten mit gediegenem Antimon, und Quarz ist charakteristisch für die Antimonerzgänge. Solche finden sich, mitunter mit allerlei Sulfantimoniden des Bleies und Kupfers bei Wolfsberg am Harz, zu Brück a. d. Ahr, zu Arnsberg in Westfalen, wo sie auf Schicht- klüften auftreten, zu Milleschau in Böhmen, wo sie wie zu Schleiz auch etwas gold- führend sind, zu Schlaining in Oberungarn, an zahlreichen Stellen des französischen Kobaltlagerstätten einigen 768 Erzlagerstätten Zentralplateaus, auf Korsika, Sardinien und in Toskana usw. Bekannt sind die prächtigen bis zwei Fuß langen Antimonitkristalle aus den Gängen von Ichinokawa auf der japa- nischen Insel Shikoku. _ Wismut. Der geringe Bedarf an Wismut wird hauptsächlich aus Gängen von der Para- genesis der Zinnerzgänge gewonnen. Die größten Wismutlagerstätten sind die Gänge auf den Bergen Tasna und Chorolque in Bolivien ; das Wismuterz ist hier nicht wie gewöhnlich gediegen Wismut, sondern der sonst seltene Wismutglanz; mit etwa 97 000 kg war Bolivien im Jahre 1910 der Hauptwismutproduzent. Schwefel. In größeren Mengen findet sich der Schwefel als Fumarolenprodukt an Vulkanen, wo er, wie in Japan oder am Popocatepetl in Mexiko, noch jetzt gewonnen wird. Sedimentäre Schwefellager, die mit vulkanischer Tätigkeit nichts zu tun haben, sind verbreitet in jüngeren tertiären Schichten, wie in den Congerienschichten der Bomagna zu Perticara, in der Gegend von Siena, im Miocän von Swoszowice in Galizien und im schlesischen Kreise Pleß, zu Radoboj in Kroa- tien, sowie vor allem auf Sizilien. Die haupt- sächlichste Verbreitung des Schwefels auf Sizi- lien liegt zwischen den Städten Trapani, Paternö und Licata; der primäre Schwefel bildet in feiner Verteilung den Bestandteil eines grauen Mergels, während die schönen von Gips, Coelestin, Aragonit usw. begleiteten Kristalle sekundäre Kristallisationen in Klüften sind. Ueberall finden sich mit den tertiären Schwefelmergeln auch Ablagerungen von Gips, Steinsalz, in Sizilien stellenweise auch von Glaubersalz, allgemein enthalten sie auch größere oder ge- ringere Mengen von Kohlenwasserstoffen, wie Petroleum ; daß es sich um Sedimente aus bracki- schem Wasser handelt, geht aus der Versteine- rungsführung hervor. Ueber die Entstehung der sedimentären Schwefellager vgl. 6 b. Seit 1868 kennt man in der Kreideformation Louisianas über 30 m mächtige auf Gips und Steinsalz ruhende Schwefellager. Italien mit 435 000 und die Vereinigten Staaten mit 303 000 t hatten im Jahre 1909 weitaus die größte Schwefel- produktion. Für die Darstellung der Schwefelsäure ist außer den mannigfachen sonstigen Sulfiden ganz besonders der Schwefelkies, der bei völliger Abrüstung 53,3% Schwefel abgibt, von höchster Bedeutung. Auf manchen Lagerstätten findet er sich fast ohne irgendwelche anderen Erze, wie z. B. auf dem mitteldevonischen Kieslager von Meggen a. d. Lenne. Kieslager sind außerordent- lich weit verbreitet z. B. in den Alpen (Panzen- dorf in Kärnten, Agordo in Venezien, Oeblarn, Kallwang usw. in Steiermark, zu Pinerolo im Piemont), abgesehen von den schon früher er- wähnten wegen ihres Kupfergehaltes wichtigen Vorkommnissen. Besonders die arsenfreien Kiese sind gesucht für die Darstellung der Koch- laugen in der Papierfabrikation. Phosphatlagerstätten. Apatit findet sich an zahlreichen Orten des südlichen Norwegens (z. B. bei Kragerö und Bamle) zusammen mit viel Rutil (Ti02), Titaneisen, Hornblende, Magne- siaglimmer, Enstatit, Skapolith, Feldspäten und anderen teilweise gut kristallisierten Mine- ralien gangförmig in Gabbros. Die im Jahre 1872 j entdeckten reichen Lagerstätten haben in den i achtziger Jahren bis zu 15 000 t Apatit jährlich gegeben, jetzt ist ihre Bedeutung sehr zurück- gegangen. Aehnlicher Art sind die Lagerstätten zwischen Kingston und Ottawa in Ontario, von denen die bekannten in Kalkspat eingewachsenen Apatitkristalle stammen. Jetzt wird dort der in großen Platten auftretende Glimmer (Phlo- gopit) gewonnen. Metasomatische, meistens an die Oberfläche von Stringocephalenkalk gebundene Phosphorit- lager wurden seit 1864 an verschiedenen Orten des unteren Lahntales lebhaft abgebaut. Durch metasomatische Prozesse erklärt sich auch die Entstehung der Phosphatlagerstätten auf der Oberfläche der Kreideschichten in aus- gedehnten Gebieten Nordfrankreichs und Bel- giens. Die reichsten Phosphoritlagerstätten sind die- jenigen von Florida; es sind teils metasomatische Anreicherungen in und auf tertiären Kalken, teils sind es zusammengeschwemmte Gerolle, die ihre iirsprüngliche Heimat wahrscheinlich im Pliocän besitzen und jetzt in großen Mengen als „river pebbles" aus den Flüssen gebaggert werden. In Carolina finden sich die Phosphorite auf ihrer ersten Lagerstätte in sehr jugend- lichen Ablagerungen, die erfüllt sind von Säuge- tierresten, während sie selbst Versteinerungen des Eocäns enthalten; es wird daraus geschlossen, daß es sich um ältere Kalk- oder Mergelknollen handle, die erst auf sekundärer Lagerstätte unter dem Einfluß verwesender tierischer Reste ihre Umwandlung in Phosphorit erfuhren. Die auf gewissen Inseln Westindiens (z. B. Sombrero) und der Südsee (z. B. Jaluit) ge- wonnenen Phosphorite sind umgewandelte Korallenkalke (vgl. 6d). Außerordentlich weit verbreitet, aber meistens nicht hinreichend reich, sind schichtige Ablagerungen von Phosphorit- konkretionen, z. B. im Silur des Vogtlandes und Podoliens, im Devon der Pyrenäen, im Lias und ganz besonders in der Kreide der verschiedensten Gegenden. Die bedeutenden Lagerstätten von Algier und Tunis gehören den an Resten von Krebsen, Fischen und Sauriern reichen unter- eocänen Schichten an. Die Produktion der hauptsächlichsten Phos- phatländer stellte sich 1908 folgendermaßen: Frankreich 486 000 t Algier 452 000 t Tunis 1 300 000 t Belgien 198 000 t Vereinigte Staaten 2 500 000 t Ozeanien-Nauru-Inseln 300 000 t Literatur. Stelsner - Bergeat , Die Erzlager- stätten. Leipzig 1904 bis 1906. — R. Beck, Lehre von den Erzlagerstätten LH. Aufl. -Berlin 1909. — Bey seh lag -Kvusch- Vogt, Die Lager- stätten der nutzbaren Mineralien und Gesteine. Stuttgart. Erscheint seit 1909. — A. G. Werner, Neue Theorie von der Entstehung der Gänge. Freiberg 1791. — B. Cotta, Lehre von den Erzlagerstätten. Leipzig 1859 bis 1S6L — A. von Groddeck, Die Lehre von den Lager- stätten der Erze. Leipzig 1879. — von Vechen- Bruhns, Die nutzbaren Mineralien tmd Ge Erzlagerstätten Eschscholtz 769 birgsarten im Detitschen Reiche. Berlin 1906. — Das wichtigste statistische Montanhandbuch ist The Mineral InJustry, New York. Die wichtigste deutsche einschlägige Zeitschrift ist die Zeitschrift für praktische Geologie. Berlin. Seit 1893. A. Bergeat. Erzwungene Schwingungen siehe den Artikel „Schwingungen, erzwungene Schwingungen". Escher von der Linth Arnold. Er war der Sohn des berühmten schweizerischen Staatsmannes Hans Konrad Escher, des Er- bauers des Linth-Kanals, der wegen seiner Ver- dienste den Ehrennamen von der Linth erhielt. Am 8. Juni 1807 in Zürich geboren, erhielt er seine Vorbildung in der Vaterstadt. Seit 1825 studierte er in Genf, Berlin und Halle Natur- wissenschaft, besonders Geologie. Während seiner Studienzeit bereiste er Deutschland, Oesterreich und Oberitalien. Von 1830 bis 1833 durchstreifte er mit den Geologen F. Ho ff mann und Phi- lippi Italien und Sizilien. 1834 habilitierte er sich an der Hochschule in Zürich, wurde dort 1852 Professor der Geologie an der Universität und 1856 auch am Polytechnikum. Er starb in Zürich am 12. Juli 1872. Die Bedeutung Eschers von der Linth liegt in seinen Alpenforschungen. Besonders die Ostschweiz und die anstoßenden Gebiete sind von ihm in Gemeinschaft mit S tu der und Heer eingehend untersucht worden. Zahlreiche Reisen ms Ausland, nach Deutschland, Frankreich, Italien. England, nach Algier und der Sahara ließen ihn wichtige Beobachtungen sammeln, wenngleich seine Hypothese von der Meeres- bedeckung der Sahara zur Diluvialzeit, die die Ausbreitung der Gletscher ermöglicht haben sollte, nicht aufrecht erhalten werden konnte. Er besaß eine feine Beobachtungsgabe; doch veröffentlichte er sehr ungern seine Ergebnisse. Obwohl er nur eine unbedeutende Rednergabe besaß, übte er doch durch sein begeistertes Wort auf Schüler und Fachgenossen einen wirksamen Einfluß aus. Nach seinem Tode fielen seine wertvollen Samm- lungen und Manuskripte dem Züricher Poly- technikum zu. Wichtig ist seine 1849 erschienene Karte des Kanton Glarus und die gemeinschaftlich mit B. S tu der herausgegebene Carte geologique de la Suisse (1853, 2. Aufl. 1869, 3. Aufl. 1894\ die in der Fachwelt reiche Anerkennung fand. Literatur. Heer, Arnold Escher von der Linth. Lebensbild eines Naturforschers. Zürich 1873. — Gümbel , Arnold Escher von der Linth. Allge- meine Deutsche Biographie, 6, S. 862 bis 865. O. Marschall. Eschricht Daniel Friedrich. Geboren am 18. März 1798 in Kopenhagen, ge- storben am 22. Februar 1863 dortselbst. Prakti- zierte 1822 bis 1825 auf Bornholm als Arzt und studierte dann Physiologie und vergleichende Anatomie an der Universität Kopenhagen, wo er 1829 Lektor, 1836 Professor wurde. Die meisten seiner Spezialabhandlungen sind in den Akten des Videnskabernes Selskab veröffentlicht worden, so die Bearbeitung der Anatomie der Salpen (1841) und der Wale (1843 bis 1862, 8 Abhandlungen). Er schrieb ferner: Handboog i Physioloei (Kopen- hagen 1823 bis 1832, 2 Bd., 2. Aufl. 1851), Unter- suchungen über die nordischen Waltiere, Leipzig 1849, Das physische Leben. Populäre Vorträge (Kopenhagen 1852, 2. Aufl. 1856), Unverstand und schlechte Erziehung, Vorlesungen über Kaspa Hauser, Berlin 1857, Folkelige Foredrag (1855 bis 1859). Literatur. Carus, Geschichte der Zoologie. München 1872. W. Harms. Eschscholtz Johann Friedrich von. Geboren am 1./12. November 1793 in Dorpat, gestorben am 9./19. Mai 1834. Studierte Medizin und machte dann als Schiffsarzt 1815 mit Otto v. Kotzebue eine Reise um die Welt mit, an der auch Adelbert v. Chamisso teilnahm. 1828 machte er noch eine weitere Reise mit Kotzebue auf der „Predprijatie". Auf diesen beiden Reisen sammelte er das Material zu seiner bedeutungsvollen Arbeit „Ueber das System der Akalephen oder medusenartigen Strahltiere" (Ber- lin 1829). Seine reichen naturhistorischen Samm- lungen vermachte er der Universität Dorpat. Besonders hervorzuheben ist noch sein Zoologi- scher Atlas, enthaltend Abbildungen und Be- schreibungen neuer Tierarten (Berlin 1829 bis 1831). Für den dritten Band von Kotzebues Ent- deckungsreisen in der Südsee und der Beringsstraße (Weimar 1821) lieferte er noch folgende Arbeiten : „Ueber die Koralleninseln, ihre Entstehung, Aus- bildung und Eigentümlichkeiten", „Beschreibung einer neuen Affengattung Prebytis mitrata", „NaturhistorischeundphysiologischeBemerkungen über die Seeblasen", „Beschreibung neuer aus- ländischer Schmetterlinge": Papilio Kotzebue, P. Chamissonia, P. Krusensternia usw., „Ideen zur Aneinanderreihung der rückgrätigen Tiere" (Dorpat 1819), Entomographien (Berlin 1824), Zoologischer Atlas (enthaltend Abbil- dungen und Beschreibungen neuer Tierarten) (Berlin 1829 bis 1833, 5 Hefte). Literatur. Carus, Geschichte der Zoologie. München 1872. — Burckhardt, Geschichte der Zoologie. Leipzig 1907. W. Harms. Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 49 770 Ester Ester. den Namen „Ester" ein. Ester sind T .,, n, ., 'j> .„ 0 v ,. also alle Verbindungen, die man I. Allgemeiner Teil. 1. Begriff 2 Forum ie- . h x Molekül Säure und 1 Mole. ^^ÄÄ" ^vÄ^T^kül Alkohol unter Wasseraustritt von Estern: a) Saure und neutrale Ester, entstanden denken kann. Die früheren b) Ester mehrwertiger Alkohole. 5. Allgemeine j Bezeichnungen, z. B. Essigäther, Salpeter- Bildungsweisen. 6. Eigenschaften. Reaktionen, äther, sollten zweckmäßig fallen gelassen 7. Beeinflussung anderer Gruppen. 8. Anwendung werden, der Ester. 9. Anwendung der Esterifizierung : 2. Formulierung und Bezeichnung. a) Zum Schutz von OH und COOH-Gruppen. Man kann die Ester auffaSsen als Säuren, b) Zur Reinigung und Charakterisierung von ; d Wasserstoffatom durch einen Alkylrest Phenolen c) Zur Erkennung der Anzahl von Methylester der Salz- Hydroxylgruppen. 10. Esterbildung und Ver- 1 „ ^ . ' , .. J , „. , , seifung: a) Das Gleichgewicht, b) Dil Reaktions- saure als Salzsaure, deren Wasserstoff durch gesch windigkeit: a) Anorganische Katalysatoren. Methyl, das Radikal des Methylalkohols, er- ß) Organische Katalysatoren. II. Spezieller Teil: , setzt ist. Cl— H Salzsäure -CH3 Methyl (Rad. des Me- thylalkohols) CH3COO— H -C2H5 Essigsäure Aethyl Cl— CH3 Salzsäure - Methylester CH?COO— CaH5 Essigsäureäthyl- ester Ä. Ester anorganischer Säuren. 11. Ester der Halogenwasserstoffsäuren. Halogenalkyle. 12. Ester der unterchlorigen Säure. 13. Ester der Ueberchlorsäure. 14. Ester des Schwefelwasser- stoffs. 15. Ester der Sulfoxylsäure. 16. Ester der schwefligen Säure, a) Ester der unsymme- trischen Säure, b) Ester der symmetrischen Säure. 17. Ester der Schwefelsäure, a) Saure Ester, b) Neutrale Ester. 18. Ester der selenigen I j)ieser" Auffassung entsprechen Bezeichnun- und Selensäure 19 Ester der untersalpetrigen 1 . Salzsäure-Methylester, Essigsäure- Säure. 20 Ester der salpetrigen Saure. 21. ; ^ Schwefelsäure-Diäthylester. Ester der Salpetersaure. 22. Ester der pnos- ; *"' j . ,. ^ •> tf phorigen und * Phosphorsäure. 23. Este/ der; Andererseits kann man dje Ester auffassen arsenigen, Arsen-, Bor- und Kieselsäure. B. Ester j als Alkohole, deren Hydroxylgruppe durch organischer Säuren. 24. Allgemeines. 25. Ester \ einen Säurerest ersetzt ist, ähnhch wie man einbasischer Säuren mit niederen Alkoholen, die Salze als Basen auffassen kann, deren 26. Fruchtäther. 27. Ester höherer Alkohole. Hydroxyl durch Säure ersetzt ist. an TT' j. -„„1 i.: All,„l,~l„ OQ TTo+nv J J 28. Ester mehrwertiger Alkohole. 29. Ester substituierter Fettsäuren. Acetessigester: a) Dar- stellung, b) Eigenschaften. Desmotropie. c) Spaltung, d) Alkylierung. e) Anwendung zu Synthesen. f) Kondensationsreaktionen. 30. Ester der Blausäure. 31. Ester mehrbasischer | C2H5 Säuren. 32. Ester von Orthosäuren. 33. Ester aromatischer Säuren. 34. Ester aromatischer Alkohole und Phenole. II. Anhang:. Wachs. CIL-OH >2±15 -OCOCLL Aethylalkohol Rest der Essigsäure C2H5— 0— COCH Aethylacetat -OH -0N02 Rest der Salpetersäure C2H5ON02 Aethylnitrat mole. III. Anhang. Wachs. . , , Allgemeines. 2. Anwendungen. 3. Verfäl- Dieser Auffassung entspricht folgende der schungen und Surrogate. 4. Tierische Wachse. ; Bezeichnungsweise der Salze nachgebildete 5. Pflanzenwachse. I. Allgemeiner Teil. 1. Begriff. Mit dem Namen Aether be- zeichnete man früher zweierlei Arten von Ver- Art der Benennung: Methylchlorid, Aethyl- acetat, Diäthylsulfat. Endlich kann man sich die Ester sauer- stoffhaltiger Säuren entstanden denken aus Alkoholen durch Ersatz des Wasserstoff- bindungen, nämlich solche, die aus 2 Mole- i atoms durch das Radikal einer Säure. külen eines Alkohols unter Wasseraustritt ent- stehen und die heute noch als Aether be- zeichnet werden (vgl. den Artikel „Aether") C2H50;H OHC2H5 Aethyl-Alkohol C2H5-0-C2H5 Aethyl-Aether C2H50-H -N02 C2H50-N02 Alkohol Rad. d. Salpeters. Aethylnitrat 3. Vergleich mit Salzen. Konstitution. Man kann die Ester unmittelbar mit den Salzen in Parallele stellen. Wie sich eine Base mit einer Säure unter Wasseraustritt und dann solche, die aus einem Säure- und j zu einem Salz vereinigen kann, so kann sich einem Alkohol-Molekül unter Wasseraustritt ein Ester aus Säure und Alkohol unter Wasser- entstehen, austritt bilden. CH3COO H OH C2H5 Essigsäure Alkohol CH,CO-0-CJL früher Essigäther jetzt Essigester Letztere repräsentieren also eine ganz andere Art von chemischen Verbindungen. Für diese zweite Art von Aethern führte Gmelin Na OH Natriumhydroxyd CH3OH Methylalkohol HCl Na— Cl Salzsäure Chlornatrium (Natriumchlorid) CH3— Cl Chlormethyl (Methylchlorid) HCl Salzsäure Ester 771 In der Tat ist auch in den Estern das Alkyl- radikal genau an derselben Stelle wie das Metall in den Salzen gebunden. Diese Auf- fassung stützt sich hauptsächlich auf die Darstellung von Estern aus Metallsalz und Alkylhalogeniden, wobei direkt das Alkyl den Platz des Metalles einnimmt. ,OAg X)!Ag Silbersulfat 02S^ JCH3 JCH, Methyl] odid OJ3 \ OCH3 OCH, + AgJ AgJ ,OK 09S< OaS< OH Dimethylsulfat Jodsilber Wenn somit die Ester formal mit den Salzen zu vergleichen sind, so sind sie doch in ihrem physikalischen und chemischen Ver- halten sehr von ihnen verschieden. Salze sind meist fest, Ester meist flüssig und leicht destilherbar. Vor allem sind die Ester nicht elektrolytisch dissoziiert, wie es gelöste Salze sind; Ester reagieren daher langsam (vgl. Abschnitt 6). 4. Verschiedene Arten von Estern. Da sich alle organischen und fast alle anorga- nischen Säuren mit Alkoholen zu Estern ver- einigen lassen und da sowohl die Zahl der Säuren wie die der Alkohole unbegrenzt groß ist, ist auch die Zahl der Ester unend- lich groß. 4a) Saure und neutrale Ester. In mehrbasischen Säuren können alle Wasser- stoffatome durch Alkoholradikale ersetzt werden. Dann entstehen neutrale Ester. Sind nicht alle Wasserstoffatome ersetzt, so entstehen saure Ester, die noch den Cha- rakter von Säuren haben und daher Ester- säuren genannt werden. Sie können mit den sauren Salzen verglichen werden. CH20H CH2OCOCH3 CH2OCOCH3 CHOH CHOH 1 CH0C0CH3 CH2OH Glycerin CH2OH Monoacetat CH20C0CH3 CHOCOCHg 1 CH2OCOCH3 CH2OH Diacetat Triacetat Sind die Hydroxylgruppen mit den Resten verschiedener Säuren verestert, so entstehen gemischte Ester: CH,OH CH2C1 0 ii IH2OH Glycol, 2wertiger Alkohol CH2OC^CH3 xOK OK neutrales Kaliumsulfat saures Kaliumsulfat Glycolester der Salzsäure und Essigsäure (Glycolchloracetin) 5. Allgemeine Bildungsweisen. 1. Aus der freien Säure und dem Alkohol bildet sich der Ester; doch ist die Reaktion nicht voll- ständig, sie bleibt bei einem Gleichgewicht stehen, da umgekehrt das gebildete Wasser den Ester spaltet. CaH5OH+HOCOCH3 - C,H5OCOCH3+H20 Alkohol Essigsäure Essigester Wasser Um die Bildung des Esters möglichst vollständig zu machen, muß man daher ent- weder das Wasser binden, z. B. durch Schwefel- säure (organische Ester) oder muß die Ester, falls sie flüchtig sind, abdestillieren, z. B. Aethylnitrat, Nitrite (vgl. Abschnitt 10). 2. Aus Säurechloriden und Alkoholen oder besser Natriumalkoholat. 02S /OCH3 OCH, 02SN Schwefelsäure- dimethylester Dimethylsulfat OH OCH, Schwefelsäure- monomethylester Methylschwefelsäure 4b) Ester mehrwertiger Alkohole. Andererseits vermögen, ähnlich wie die mehr- wertigen Basen, auch die mehrwertigen Al- kohole verschiedene Arten von Estern zu bilden, je nachdem alle oder nur ein oder einige Wasserstoffatome durch Säurereste ersetzt sind .Cl Na OCH3 Beispiele: OS< + XC1 Na OCH3 Thionylchlorid Na-methylat Chlorid d. schwefligen S. yOCH3 NaCl — >■ os< xOCH3 ! NaCl Schwefligsäure- di methylester 0 CH3Cf Cl+NaC >C.,H5 Chlorid der Essigsäure 0 > CH3C^OC2H5 - NaCl Aethylacetat /Cl NaOCH3 H— C^ Cl Na OCH3 N Cl Na OCH 3 Chlorid d. Orthoameisen- säure (Chloroform) 49* 772 Ester OCH3 > HC OCH 3 + 3NaCl OCH3 Orthoameisensäure- methylester 3. Endlich lassen sich die Ester darstellen aus den Alkali- und besonders den Silber- salzen der Säuren mit Jodalkyl. 09S< OAg JC,H5 JC2H5 Silbersulfat Jodäthvl OAg OC2H5 AgJ AgJ -> 02S;' xOC2H5 Diäthylsulfat 6. Eigenschaften. Reaktionen. Die Die Verseilung wird häufig schon durch Wasser zustande gebracht; immer gelingt sie mit Alkalien, nötigenfalls mit alkoholi- schem Kali; dabei entstehen dann nicht die freien Säuren, sondern deren Alkalisalze neben den Alkoholen. CH3COOC2H5 + NaOH = CH3COONa + C2H5OH Die Estergruppe ist lange nicht so reak- tionsfähig, wie andere Gruppen, z. B. Hydr- oxyl, Carboxyl usw. Durch Ammoniak werden die Ester in Säureamide übergeführt. CH3C^OC2H5 + NH3 sauren Ester verhalten sich in ihrer Fähig- keit zur Salzbildung wie Säuren. Die neu- tralen Ester niederer Alkohole mit anorga- nischen Säuren sind meistens unzersetzt destillierbare Flüssigkeiten; einige, z. B. Chlormethyl, Methylnitrit sind bei gewöhn- licher Temperatur gasförmig. Die Ester höherer Fettsäuren und die Ester hoch- schmelzender Alkohole sind flüssig oder fest und meistens hochsiedend. Die neutralen Ester sind in Wasser meist unlöslich, in organischen Lösungsmitteln löslich. Im Gegensatz zu den Salzen reagie- ren die Ester langsam: sie sind nicht elek- trolytisch dissoziiert; auch bilden sie sich langsam aus Säure und Alkohol (siehe Ab- schnitt 10). Es gibt allerdings Ester, die sich momentan aus den Komponenten bilden und sich momentan durch Wasser spalten lassen , z. B. die Nitrite. Ferner sind die anorganischen Ester eines kom- plizierten Alkohols, des Triphenylcarbinols, in Schwefeldioxydlösung elektrolytisch dissoziiert und zeigen Ionenreaktionen; sie bilden darin einen Uebergang zu den Salzen. Verseif ung. Die charakteristische Eigen- schaft aller Ester ist, daß sie sich Unterwasser- aufnahme in Säure und Alkohol zu spalten vermögen, ähnlich wie Salze schwacher Basen durch Wasser in Base und Säure gespalten werden (siehe den Artikel „Hydrolyse"). /Cl H OH /OH Alf Cl H OH -> AI; OH + HCl XC1 H OH OH Aluminiumchlorid Aluminiumhydroxyd und Wasser und Salzsäure C2H5-C1 HÖH -> C2H5OH + HCl Aethylchlorid Alkohol und und Wasser Salzsäure Man bezeichnet diese hydrolytische Spal- tung der Ester als Verseifung, weil mit Hilfe der hydrolytischen Spaltung von Fett- säureestern des Glyzerins durch Natronlauge die Seifen dargestellt werden. Aethylacetat -> CH3C^NH2 + Acetamid Ammoniak HOC2H5 Alkohol CH3C^OC2H5 CH3C^C1 MitPhosphorpentachlorid entstehen Säure- chloride und Alkylchloride. 0 + pci5 Aethylacetat Phosphorpentachlorid 0 + C1C2H5+P0C13 Acetylchlorid Aethylchlorid Organische Ester sind zu mancherlei Kondensationsreaktionen fähig (siehe „Essig- | ester" und „Acetessigester", Abschnitt 29). Ferner vermögen die Ester mit magne- siumorganischen Verbindungen unter Kohlen- stoffsynthese zu reagieren und werden daher in der synthetischen Chemie zum Aufbau von Ketonen und tertiären Alkoholen ver- wandt. Die sehr reaktionsfähigen magne- siumorganischen Verbindungen entstehen durch Einwirkung von Magnesium auf Ha- llogenalkyle; sie lagern sich an die Keto- gruppe des organischen Esters an, wobei Kohlenstoff an Kohlenstoff tritt. Die zu- nächst entstehende Additionsverbindung wird durch Wasser gespalten, wobei die neue | Kohlenstoffbindung erhalten bleibt. C6H5Br+Mg -> C6H5MgBr Brombenzol Magnesiumbrombenzol ^O-MgBr C6H5C\ C6H5 XOC2H5 Benzoesäureäthylester /OMgBr >- CeHgG— C6H5 OC2H5 + H20 Additionsverbindung 0 C6H5CC6H5 + Mg< _L+ C2H5OH Benzophenon. ^OH Ester 773 7. Beeinflussung anderer Gruppen. Sind andere Gruppen im Molekül vorhanden, wie z. B. in einem sauren Ester das saure Wasserstoffatom, oder in organischen Ver- bindungen eine Aldehyd- oder Amido- usw. Gruppe, so wird der Charakter der anderen Gruppe durch die Estergruppe meist nur un- wesentlich beeinflußt. Wird eine Carboxyl- gruppe verestert, wird also ihr reaktions- fähiges Wasserstoffatom durch Alkyl er- setzt, so wird ihre Eigentümlichkeit vernich- tet. So ist z. B. der Benzoesäure-Aethylester in seinem Verhalten dem Benzol ähnlicher als der Benzoesäure. C6H5COOH C6H5COOCH3 C6H6 Benzoesäure Methylester Benzol Die Ester der Amiclosäuren verhalten sich ähnlich wie primäre, anderweitig nicht substituierte Amine. NH2CH2COOH NH2CH2COOCH3 Amidoessigsäure Methylester NH2CH2CH, Aethylamin 8. Anwendung der Ester. Da Zahl und Art der Ester sehr verschieden ist, so haben sie auch die verschiedenste Art der Verwen- dung gefunden. Die Ester der Schwefel- säure und Salzsäure werden zur Einführung von Alkyl in der synthetischen Chemie ver- wandt. Ester der Salpetersäure sind wichtige Sprengstoffe. Die organischen Ester dienen teils als Lösungsmittel, teils werden sie ihres Geruches wegen als Fruchtessenzen ver- wandt. In der synthetischen Chemie werden sie zu Kondensationen (vgl. Abschnitt 29 „Acetessigester") und zur Reaktion mit magnesiumorganischen Verbindungen ge- braucht. Endlich sind die Wachse und die Fette organische Ester, auch ist eine Art der Kunstseide (Acetatseide) ein Ester der Zellu- lose. 9. Anwendung der Esterifizierung. 9a) Schutz von OH und COOH- Gruppen. Wie oben erwähnt, ist die Estergruppe weniger reaktionsfähig als die Hydroxyl- oder die Carboxylgruppe. Viele Säuren sind in freier Form zersetzlieh, als Ester haltbar; manche (Orthosäureester) sind nur als Ester existenzfähig. Von dieser Stabilität der Ester macht man Gebrauch, indem man bei Reaktionen etwa vorhandene Hydroxyl- oder Carboxylgruppen verestert, um sie unversehrt zu erhalten. 1. Beispiel: Schutz einer Hydroxylgruppe. Bei der Syn- these der Benzoylbenzoesäure wird Oxy- benzoesäurechlorid gebraucht. Da sich aber Oxybenzoesäure nicht ohne Veränderung der Hydroxylgruppe in das Chlorid verwandeln läßt, so verestert man die Hydroxylgruppe und chloriert dann. Das nunmehr ent- stehende Chlorid wird zur Synthese verwandt. 12. Beispiel: Schutz einer Carboxylgruppe. Gemenge von Amidosäuren, wie sie bei der Spaltung des Eiweißes entstehen, lassen sich nicht unzersetzt durch Destillation trennen. Man verestert daher die Carboxylgruppe mit Alkohol und Salzsäure und kann nun die entstehenden Ester durch fraktionierte Destil- lation trennen und reinigen und danach , wieder zu den freien Säuren verseifen. 9b) Reinigung und Charakterisie- rung von Phenolen. Um Verbindungen I vom Typus des Phenols, die oft schlecht kristallisieren, zu reinigen, führt man sie in ihre gut kristallisierenden Essigsäure- oder Benzoesäureester über („Acetylierung" und „Benzoylierung"), indem man die Alkalisalze der Phenole mit Essigsäureanhydrid oder Benzoylchlorid behandelt. Bei der Beschrei- bung neuer Phenole stellt man meistens auch diese Ester, die sogenannten Acetyl- und Benzoylverbindungen dar, da sie wegen ihres scharfen Schmelzpunktes gut zu charak- terisieren sind. >— ONa Phenolnatrium C1-C-C6H5 0 Benzoylchlorid 0— C— C6H5+NaCl II 0 Benzoesäurephenylester 9c) Erkennung der Zahl von Hydroxylgruppen. Um die Zahl freier Hydroxylgruppen in fraglichen Verbindungen, besonders in Kohlehydraten, zu bestimmen, führt man sie vollkommen in die Essigsäure- ester über, reinigt diese, verseift dann eine gewogene Menge Substanz mit einer gewoge- nen Menge Alkali und bestimmt durch Titrie- ren des übriggebliebenen Alkalis, wie viel Essigsäure an das Molekül gebunden war, d. h. wie viel Hydroxylgruppen im Molekül vorhanden sind. 10. Esterbildung und Verseifung. 10a) Das Gleichgewicht. Säuren und Alkohole wirken meistens nur langsam auf- einander ein. Durch Erwärmen im ge- schlossenen Rohr wird die Esterbildung be- schleunigt, doch so geht sie nicht vollständig zu Ende, sondern sie macht bei einem Gleich- gewicht halt. Dasselbe Gleichgewicht kann auch von der anderen Seite erreicht werden, wenn man die entsprechenden Mengen Wasser und Ester aufeinander einwirken läßt. CH3COOH + C2H5OH Säure Alkohol :CH3C02C2H5+H20 Ester Wasser Läßt man äquivalente Mengen aufeinander einwirken, bringt man also z. B. entweder 1 Molekül Essigester (60 g) und 1 Molekül Alkohol (46 g) oder 1 Molekül Aethyl- 774 Ester acetat (88 g) und 1 Molekül Wasser (18 g) zu- sammen, so bildet sich nach genügend langer Zeit in beiden Fällen ein homogenes Gemenge von der gleichen Zusammensetzung: V8 Mol Essigsäure + Vs Mol Alkohol + 2/3 Mol Wasser + 2/3 Mol Ester Wendet man verschiedene Alkohole auf die gleiche Säure an, so steigt mit dem Molgewicht des Alkohols die Menge des gebildeten Esters. Sekundäre Alkohole liefern weniger Ester als die isomeren primären, tertiäre weniger als die sekundären. Die obige Gleichgewichtsbeziehung läßt sich nach dem Massenwirkungsgesetz in folgende Gleichung kleiden, in der C die Konzentration bedeutet, K eine Konstante. Csäure X C Alkohol t/Ester X Lwasser K CKster = Csäure X C Alkohol ^Wasser X rv Demnach kann man die Ausbeute an Ester d. h. Cßster erhöhen, indem man die Konzentration von Säure oder Alkohol groß wählt. Man muß z. B., wenn man etwas Säure vollständig verestern will, mit einem großen Ueberschuß von Alkohol arbeiten. Oder man kann die Konzentration de» Wassers und zwar am besten durch chemische Bindung vermindern, wie es z. B. durch den Zusatz von Schwefelsäure bei der Darstellung organischer Ester geschieht. Für die Verseifung ergibt sich die aus obiger Gleichung abzuleitende Formel: p OEster X C Wasser tt- L'Säure = ~~ TS • tv t/Alkohol Das Gleichgewicht wird also durch Wasser zugunsten von Säure und Alkohol ver- schoben; in der Tat kann man mit viel Wasser die in Wasser löslichen Ester gänzlich ver- seifen. Auch kann man die Verseifung da- durch vollenden, daß man die entstehende Säure durch Alkalien bindet und aus dem Gleichgewicht entfernt. So werden die Fett- säureester des Glycerins durch Alkali zu fettsaurem Alkali (Seife) und freiem Glycerin verseift. Man vergleiche den Artikel „Che- misches Gleichgewicht". iob) Die Reaktionsgeschwindigkeit. Durch Katalysatoren wird die sonst sehr geringe Geschwindigkeit der Esterbildung und Verseifung gesteigert. a) Anorganische Katalysatoren. Am besten wirken anorganische Säuren, beson- ders Schwefelsäure und Salzsäure, die schon in geringer Menge große Mengen Säure bei Gegenwart von überschüssigem Alkohol zu verestern vermögen. Bei der gebräuch- lichen Methode der Darstellung von organi- schen Estern, Kochen der Säure mit alko- holischer Salzsäure oder Schwefelsäure, hat die Salzsäure also den doppelten Zweck, die Geschwindigkeit zu erhöhen und durch che- mische Bindung des entstehenden Wassers das Gleichgewicht zugunsten der Ester- menge zu verschieben. Die Verseifung wird ebenfalls durch Säuren beschleunigt. In verdünnter wässe- riger Lösung ist die Geschwindigkeit, mit der sich ein Ester verseift, proportional der Anzahl der vorhandenen Wasserstoff ionen: diese sind also der katalytisch wirksame Teil der zugesetzten Säure. Man kann diese Eigen- schaft benutzen, um die Wasserstoffionen- konzentration unbekannter Säuren zu messen, indem man der Lösung der Säure Essigsäure- methylester zusetzt und dessen Verseifungs- geschwindigkeit durch Titration bestimmt. Die Methode ist besonders zur Bestimmung der Hydrolyse von Salzen angewandt worden. In konzentrierten Lösungen oder bei Ab- wesenheit von Wasser ist die katalytische Wir- kung der Säure nicht mehr der Wasserstoffionen- konzentration proportional, vielmehr scheinen sich Komplexe des Wasserstoffions mit Alkohol zu bilden, die katalytisch stark wirksam sind und durch Wasser zerstört werden. [C2H5OH...H]+ +H20->[H2O...H]+ +C?H5OH Komplexion Wasserstoffion in wässeriger Lösung Durch Zusatz von etwas Wasser wird näm- lich die katalytische Wirkung der Säure stark vermindert. Am besten wird die Verseifung durch Alkalien zustande gebracht , deren Hydr- oxylionen die Geschwindigkeit sehr erhöhen. Man vergleiche den Artikel „Chemische Kinetik". ß) Organische Katalysatoren. Die Fettsäureester des Glycerins werden durch gewisse Fermente gespalten und durch die- selben Fermente aus Fettsäure und Glycerin aufgebaut (vgl. darüber die Artikel „Fer- mente" und „Fette"). II. Spezieller Teil. A. Ester der anorganischen Säuren. ii. Ester der Halogenwasserstoff- säuren, Halogenalkyle. Die Ester der Halogenwasserstoffsäuren kann man auch auf- fassen als die Halogensubstitutionsprodukte der Kohlenwasserstoffe, z. B. den Aethylester der Salzsäure als chloriertes Aethan. C2H5OH + HCl = C2H5-C1 + H20 Alkohol Salzsäure • Aethylchlorid C2H6 + Cl, = C2H5-C1+ HCl Aethan Chlor Monochloräthan Demgemäß bezeichnet man die Ester ent- weder entsprechend den anderen Estern als Halogenide, z. B. Aethychlorid, Jodäthyl, oder als substituierte Kohlenwasserstoffe, also Monochloräthan, Trichlormethan. Bildungsweisen: 1. Aus Paraffinen. Beim Behandeln mit Halogen entstehen Gemenge von Substitutionsprodukten, die nicht zu trennen sind. Ester 775 2. Aus Alkylenen. Durch Anlagerung von Halos;enwasserstof f entstehen Halog'enalkvle : H2C- H H,C li + -► | H2C- Cl Ha— C— Cl Aethylen Aethylchlorid. 3. Aus Alkoholen und Halogenwasser- stoffsäuren, wobei zur Bindung des ent- stehenden Wassers Schwefelsäure oder Zink- chlorid zugesetzt wird. H2C— OH HCl H2CC1 Aethyljodid, Jodäthyl C2H5J, Kp 72°. Allyljodid CH2 = CH— UH2 J, der Jodwasser- stoffester des Allylalkohols, enthält das Jod in besonders reaktionsfähiger Art locker gebunden. CHa CHa Die Monohalogensubstitutionsprodukte des Benzols sind als Halogenwasserstoffsäure- ester des Phenols aufzufassen. Das Halogen ist in ihnen sehr fest gebunden. OH Phenol 4. Aus Alkoholen mit Phosphorpenta- chlorid, Phosphortribromid und Phosphor- trijodid (über Phosphortrichlorid vgl. weiter unten, Abschnitt 22). PC15+ C2H50H=C2H5C1+ POCI3 +HC1 HOCH, CH3J J -f HOCH3 = CH3J + P' J HOCH3 CH3J -OH OH OH Eigenschaften : Angenehm riechende Gase bezw. Flüssigkeiten, in Wasser kaum, in Alkoholund Aether leichtlöslich. Das Halogen ist in ihnen zu zahlreichen Umsetzungen ge- eignet, sie werden daher als Alkylierungs- mittel verwendet. Am reaktionsfähigsten sind die Jodverbindungen, dann folgen die Brom-, dann die Chlorverbindungen. Ueber Veresterung mit Jodalkylen vergleiche z. B. Abschnitte 15, 16, 19, 24. Mit Magnesium geben die Halogenalkyle magnesiumorganische Verbindungen z. B. C2H5MgBr, die zu Synthesen verwendet werden. An Ammoniak und Amine addieren sie sich zu Aminbasen. H3N + JCH3 CH3NH2 + JCH3 Methylamin -CH, H3N< -> H2N(CH3)2J Dimethyl- ammoniumjodid. Monofluormethan, Methylfluorid CH3F, Gas, Kp —78°. Monochlormethan, Methylchlorid, Chlor- methyl CH3C1, Gas, Kp— 24°. Wird zur Kälteerzeugung verwandt. Monochloräthan, Aethvlchlorid, Chloräthyl. C2H5C1, Kp 12,5°. Mcthylbromid, CH3Br, Kp 4,5°. Aethylbromid C2H5Br, Kp 38°, wird als Aether bromatus in der Medizin als Nar- coticum verwendet. Monojodmethan, Jodmethyl, Methyljodid CH3J, Kp 43°, schwere, süßlich riechende, stark lichtbrechende Flüssigkeit. Dar- stellung aus Methylalkohol, Phosphor und Jod, wobei sich intermediär Phosphor- jodid bildet, das mit dem Methylalkohol nach obenstehender Gleichung reagiert. Chlorbenzol (Phenylchlorid) Chlorbenzol, C6H8C1, flüssig, Kp 132», aus Benzol und Chlor bei Gegenwart von Antimonpentachlorid. Brombenzol C6H5Br, Kp 155°. Jodbenzol C6H6J, Kp 188° bildet mit Chlor Phenyl- jodidchlorid C6H5JC12. p-Chlortoluol C1C6H4CH3, Kp 163°, Benzyl- chlorid C6H5CH2C1, Kp. 176°, isomer mit dem vorigen, enthält aber das Chlor in der aliphatischen Seitenkette (Salzsäure- ester des Benzylalkohols). Das Chloratom ist zu Umsetzungen fähig. Triphenylmethylchlorid, Salzsäure-Ester ; des Triphenylcarbinols, eines komplizierteren Alkohols, ist in Schwefeldioxydlösung in Ionen gespalten, verhält sich also wie ein Salz (vgl. Abschnitt 13). Kohlenwasserstoffe, die mehr als ein Halogen enthalten, sind als Ester mehrwer- "• tiger Alkohole aufzufassen, sie sind im Ar- tikel ..Aliphatische Kohlenwasser- stoffe" näher behandelt. Aethylidenchlorid CH3CC12H, Kp 60°, ist der Salzsäureester des (unbekannten) Hy- drats des Acetaldehyds CH3CH(OH)2. Aethylenchlorid CH2C1CH2C1, Kp 84°, isomer mit dem vorigen, ist der Ester des Glycols CH2OHCH2OH. i Chloroform CHC13, Kp 61,5°, ist der Ester des (unbekannten) Trioxymethans CH(OH)3 (Hydrat der Ameisensäure). Benzalchlorid, C6H5CHC12, Kp 213°, aus Toluol mit Chlor, gibt beim Verseifen Benzaldehyd C6H5CHO. 12. Ester der unterchlorigen Säure. I Sie sind durch Einwirkung von Alkohol auf konzentrierte wässerige unterchlorige Säure erhalten woiden. Methylhypochlorit, Unter- chlorigsäuremethylester CH3OCl, stechend riechendes explosives Gas. Aethylester, gelbe Flüssigkeit, Kp 36°. 13. Ester der Ueberchlorsäure. Aethyl- perciüorat C2H5C104, sehr explosive Flüssig- keit. Triphenylmethylperchlorat C6H5\ CPH5 - ,C — CIO4, C6H5 776 Ester rotgelbe Kristalle, ist in Lösung elektroly- tisch dissoziiert, hat also die Eigenschaften eines Salzes. Ester der chlorigen und der Chlorsäure sind nicht bekannt. 14. Ester des Schwefelwasserstoffs. Schwefelwasserstoff vermag als zweibasische Säure sowohl saure wie neutrale Ester zu bilden. Erstere heißen Merkaptane, letztere Sulfide oder Thioäther (vgl. die Artikel „Organische Verbindungen der Me- talle und Nichtmetalle" und „Thio- verbindungen"). 15. Ester der (unbekannten) Sulfoxyl- säure. Von der Sulfoxylsäure leiten sich durch Ersatz eines am Schwefel stehenden Wasserstoff atoms durch Alkyl die S ulf in- säur en ab, die somit als saure Ester der Sulfoxylsäure aufzufassen sind (vgl. die Artikel „Organische Verbindungen der Metalle und Nichtmetalle" und „Sulfo verbin düngen"). H 0 C2H XS^ oder OH C2H 2115 H V Aethylsulfinsäure w OH Sulfoxylsäure Die Sulfinsäuren bilden 2 Reihen neutraler Ester, die sich durch den Ort der Bindung des Alkyls unterscheiden. a) Alky7an Sauerstoff gebunden, Aethyl- sulfinsäureester. Entstehen aus den Sulfin- säuren durch Verestern mit Alkohol und Salzsäure. OC2H5 Aethylsulfinsäureäthylester b) Alkyl an Schwefel gebunden, Sulfone. Entstehen aus den Alkalisalzen der Sulfin- säuren mit Jodalkylen, ferner durch Oxyda- tion der Thioäther. C2H5 ,0 C2H9 ^0 Diäthylsulfon (vgl. den Artikel „Sulfo Verbindungen"). 16. Ester der schwefligen Säure. Die empirische Formel der schwefligen Säure H2S03 läßt zwei Strukturformeln zu: .OH 0. H 0 = S< OH symmetrische schweflige Säure >< 0^ OH unsymmetrische schweflige Säure. Welche Formel der freien Säure zukommt, ist unentschieden. Von beiden Formeln leiten sich Ester ab. 16a) Ester der symmetrischen schwefligen Säure, a) Saure Ester. Alkyls chweflige Säuren. Die freien Säuren sind nicht existenzfähig. Ihre Salze sind durch Einleiten von Schwefeldioxyd in Natriumalkoholatlösungen erhalten worden. /ONa C2H50-Na + S02 = 0S< XOC2H5 Natrium- Schwefel- äthylschweflig- äthylat. dioxyd. saures Natrium. Durch verschiedene Reagentien werden sie in die isomeren beständigen alkylsulfon- sauren Salze umgelagert (siehe unten). ß) Neutrale Ester. Dialkylsulfite. Sie entstehen durch Einwirkung von Thionyl- chlorid auf Alkohole. + 2 HCl chlorid Es sind wasserunlösliche, pfefferminzähn- lich riechende Flüssigkeiten, die sehr schwer verseift und durch verschiedene Reagentien in die isomeren Alkylsulfonsäureester (siehe unten) umgelagert werden. Schwefligsäuredimethylester, Dimethyl- sulfit, S03(CH3)2, Kp 121°; Diäthylsulfit, Kp 161°; Dipropylsulfit, Kp 191°. 16b) Ester der unsymmetrischen schwefligen Säure, a) Saure Ester. 1. Der am Sauerstoff sitzende Wasserstoff ist durch Alkyl ersetzt: möglicherweise haben die oben besprochenen äthylschwefligsauren Salze die folgende, hierher gehörige Kon- stitution: ß\ HOC2H5 /OC2H5 o=s< + XC1 HOC2H5 = 0=S/ XOC2H5 Thionyl- Alkohol Diäthylsulfit 0 OC,H 2X±5 0'x Na 2. Der am Schwefel sitzende Wasser- stoff ist durch Alkyl ersetzt: Alkyls ulfonsäuren. 0 /H 0 C2H5 0^ OH 0^ OH schwefhge Säure Aethylsulfonsäure (vgl. den Artikel „Sulfo Verbindungen"). ß) Neutrale Ester. Alkylsulfon- säureester. Sie entstehen durch Einwirkung von Jodäthyl auf schwefligsaures Silber. 0. xOC2H5 S03Ag2 2JC2H5 W +2AgJ 0^ XC2H5 Silbersulfit Jodäthyl äthylsulfonsaures Aethyl 17. Ester der Schwefelsäure. 17a) Saure Ester. Alkylschwefelsäuren. Sie entstehen 1. durch Einwirkung von Alkoholen auf Schwefelsäure. Ester 777 0^ X)H C2H5OH + >< Alkohol Schwefelsäure 0. OH >< + H20 < >< (V X0H Oy xOC2H? Aethylen Schwefelsäure Aethylschwefelsäure 3. durch Einwirkung von Chlorsulfon- säure auf Alkohol. Ck ,0H >( HOC2H5 = 0^ ^Cl C. .OH >< + HCl 0/y X0-C2H5 Die freien Säuren sind dicke Flüssig- keiten ; leicht löslich in Wasser. Es sind starke Säuren von hohem Dissoziationsgrad; ihre Salze kristallisieren gut. Durch Erhitzen mit Wasser werden sie in Alkohol und Schwe- felsäure gespalten. Beim trockenen Erhitzen zerfallen sie in ungesättigte Kohlenwasser- stoffe und Schwefelsäure; auf dieser Eigen- schaft beruht die Darstellung des Aethylens aus Schwefelsäure und Alkohol. C2H5OH + H2S04 -> Alkohol Schwefelsäure C2H5S04H+ H20 -► C2H4+ H2S04 Aethylschwefelsäure Aethylen. Die alkylschwefelsauren Salze werden vielfach ebenso wie die Halogenalkyle zum Alkylieren angewandt, da sie ihr Alkyl leicht abgeben, z. B. "Öl /ÖNa: C-H,— 0 Na o 0 — C,H, 2iJ5 Natriumphenolat Aethylschwefelsaures Natrium. C6H5— 0— C2H5 + Na2S04 Aethyläther des Phenols. Methylschwefelsäure S04HCH3, dicker Sirup. Aethylschwefelsäure S04HC2H5 , Sirup, sehr leicht in Wasser löslich. Kaliumsalz S04KC2H5, wasserfreie mono- kline Tafeln. Bariumsalz (S04C2H5)2Ba + 2H,0, leicht in Wasser löslich. Die Chloride der Alkylschwefelsauren entstehen aus ihnen durch Einwirkung von Phosphorpentachlorid. 0^ OH >S< + PC15 > 0^ xOC2H5 Aethylschwefelsäure 0 ,C1 \S( + HCl + P0C13 0^ OC2H5 Aethylschwefelsäurechlorid Aethylschwefelsäurechlorid, C2H5S03C1, wird am einfachsten durch Einleiten von Aethylen in Chlorsulfonsäure hergestellt: <\\ C1 <\\ /Gl >< + C2H4 = \S( Ox/ OH 0/y XOC2H5 es ist eine stechend riechende Flüssigkeit. Sie kann zum Aethylieren verwandt werden. 17b) Neutrale Ester der Schwefel- säure. Bildungsweisen: 1. Durch Einwir- kung von Alkyljodiden auf Silbersulfat. C2H5J AgO. 0 + >sr — > C2H5J AgO x0 Jodäthyl Silbersulfat C2H5-0 /O X + 2AgJ C2H5-07 x0 Diäthylsulfat. 2. Durch Einwirkung von Sulfurylchlorid oder Chlorsulfonsäure auf Alkohol OvX . Cl HOC2H5 0^ VC1 HOC2H5 0. ;;oc2h5 W + 2HC1 0X/ XOC2H5 Eigenschaften: Schwere, in Wasser un- lösliche, unzersetzt siedende Flübsigkeiten. Mit Wasser werden sie verseift. Sie sind sehr giftig, bewirken starke Entzündung der At- mungsorgane, ferner Konvulsionen, Comaund Lähmung. Die Schwefelsäureester werden vielfach zum Alkylieren verwandt und haben in neue- rer Zeit das Jodmethyl und Jodäthyl großen- teils verdrängt. Phenole, Amine und orga- nische Säuren werden leicht von ihnen alkyliert. Schwefelsäuredimethylester, Dimethyl- sulfat S04(CH3)2, Kp 188°, Diäthylester, Kp 208°, Diisoamylester, Kp 150° bei 20 mm. 18. Ester der selenigen und Selensäure Diäthylselenit Se03(C2H5)2, Kp 183°, unter Zersetzung. Wird durch Wasser verseift. 778 Ester Aethylselensäure Se04HC2H5, aus Selen- säure und Alkohol, sehr unbeständig. Die Salze sind isomorph mit den entsprechenden äthylschwefelsauren Salzen. 19. Ester der untersalpetrigen Säure. Untersalpetrigsaures Aethyl, Diazoäthoxan C2H5— 0— N = N— 0— C2H5 entsteht aus untersalpetrigsaurem Silber mit Jodäthyl. Farblose in Wasser unlösliche Flüssigkeit, sehr explosiv. 20. Ester der salpetrigen Säure. Von der salpetrigen Säure lassen sich zwei Reihen von Derivaten ableiten, je nachdem das Alkyl an Stickstoff oder Sauerstoff gebunden ist; erstere bezeichnet man alsNitrokörper, letztere sind die echten Ester der salpetrigen Säure. 0 0 ^N— H oder 0=N— OH salpetrige Säure >N-C2H5 (F Nitroäthan 0=N^0— C2H5 Aethylnitrit. Durch Einwirkung von Jodäthyl auf Silbernitrit entstehen beide Arten von Iso- meren. Unterschiede beider Isomerer: Die Nitrite sind viel leichter flüchtig als die Nitrokörper. Entsprechend der Struktur lassen sich wohl die Nitrite, nicht aber die Nitrokörper zu Alkohol und salpetriger Säure verseifen. ONO- -C2H5 ONOH+HOC2H5 Durch naszierenden Wasserstoff werden die Nitrokörper zu Aminen reduziert, die Nitrite verseift. Näheres siehe im Artikel „Nitroverbindungen". Alkylnitrite. Bildungsweisen: Durch Einwirkung von salpetriger Säure auf Alkohole z. B. in verdünnter wässeriger Lösung. Die Esterbildung geht hier viel schneller vor sich, als bei allen übrigen Säuren; sie verläuft fast mit der Geschwindigkeit einer Ionenreaktion. Da die Alkylnitrite tief sieden, kann man sie dauernd aus dem Reaktionsgemenge abdestil- lieren und so aus dem Gleichgewicht ent- fernen. C2H5OH+HO— N— 0 —> Alkohol salpetrige Säure C2H50— NO + H20 Aethylnitrit.' Eigenschaften: Leicht flüchtige, eigen- tümlich aromatisch riechende Flüssigkeiten. Der Dampf wirkt eingeatmet erweiternd auf die Blutgefäße ein; die Wirkung äußert sich dadurch, daß man beim Einatmen von Nitriten einen roten Kopf bekommt; die Wirkung geht jedoch rasch vorüber. Die Alkylnitrite werden sehr rasch verseift. Salpetrigsäuremethylester oder Methylnitrit CH3ONO, Kp —12°. Aethylnitrit C2H5ONO, in der Parfümerie verwandt (vgl. Abschnitt 26). Kp +16. Salpetrigsäureisoamylester oder Amylnitrit C5HnONO, Kp 96°, gelbliche Flüssigkeit, setzt sich mit Methylalkohol zu Methyl- nitrit undAmylalkoholum. WirdzumDiazo- tieren und Nitrosieren verwandt. In der Medizin als ,,Amylium nitrosum" besonders bei Angina Pectoris gebraucht. 21. Ester der Salpetersäure. Bildungs- weisen: 1. Aus Silbernitrat und Jodalkyl >N-OAg+JC2H5 = 0^ >N-OC2H5+AgJ. 0^ 2. Durch Einwirkung von rauchender Salpetersäure auf Alkohol. 0.. N— OH - HOC2H5 0 0. ^N-OC2H5 + H20. 0^ Um bei dieser Reaktion das Auftreten von salpetriger Säure, deren Anwesenheit zu Explosionen führen kann, zu verhindern, setzt man Harnstoff zu, der die salpetrige Säure zerstört. HNO, + HN02 salpetrige Säure 0=C=0 + 2N2 Kohlensäure o=c/ NH2 NH5 Harnstoff 3H20 + Wasser Stickstoff. Aus dem Reaktionsgemenge lassen sich dann die Ester, falls man Ueberhitzen ver- meidet, ohne Explosionsgefahr abdestillieren. Eigenschaften: Die Alkylnitrate sind explosiv; dies beruht darauf, daß sie einen Teil der zur Verbrennung des organischen Bestandteils nötigen Sauerstoffmenge bereits im Molekül haben. Die Ester niederer Al- kohole sind farblose, in Wasser unlösliche, angenehm riechende Flüssigkeiten. Salpetersaures Methyl, Methylnitrat CH3— 0N02, Kp 60°, wurde früher technisch hergestellt. Die Fabrikation ist wegen mehre- rer verheerender Explosionen aufgegeben. Salpetersaures Aethyl, Aethylnitrat C2HS— 0N02, Kp 86°, wird zum Nitrieren verwandt. Sehr große technische Bedeutung haben die Salpetersäureester mehrwertiger Alkohole, besonders der neutrale Salpetersäureester Ester 779 des Glycerins (Glycerintrinitrat), das soge- nannte Nitroglycerin. Es wird durch Ein- wirkung von Salpeterschwefelsäure auf Glyce- rin hergestellt: CH2 OH H ON02 CH OH H ON02 CH2 OH H ONO: CH2— ON02 CH — ON02 CH,— ONO, Nitroglycerin ist also kein Nitrokörper, sondern ein Salpetersäureester. In Kiesel- guhr aufgesaugtes Nitroglycerin ist Dynamit. Zellulose bildet mit rauchender Salpeter- säure ein Hexanitrat [C12H1404(N03)6]n, die sogenannte Schießbaumwolle. Sie dient als Ausgangsmaterial zur Darstellung des rauchlosen Pulvers (vgl. den Artikel „Sprengstoffe"). Ein Tetranitrat der Zellulose [C12Hi606 (N03)4]n wird in ätherischer Lösung als Collodium verwendet; es dient mit Kampher gemengt als Zelluloid zur Darstellung von photographischen Films und zahlreichen Gebrauchsgegenständen. Bei Darstellung von Kunstseide nach Chardonnet wird Zellulose in ein Nitrat überführt und als solches gesponnen. 22. Ester der phosphorigen und Phos- phorsäure. Von den zwei Formeln der phos- phorigen Säure OH 7OH P OH 0=P^OH OH \H symmetrische unsymmetrische phosphorige Säure leiten sich zwei Reihen von Estern ab. 1. Die einen haben das Alkyl an Sauer- stoff gebunden (echte Phosphorigsäureester) ; sie entstehen durch Einwirkung von Phos- phortrichlorid auf Natriumalkoholat. Gl NaOCH3 Pf :C1 + NaOCH3 > Cl Na OCH, Phosphortrichlorid Natriummethylat ,OCH3 P( 0CH3 + 3NaCl xOCH3 Trimethylphosphit. Phosphorigsäuretrimethylester P03(CH3),. Kp 111° Oel. Phosphorigsäuretriäthylester P03(CoHr)3, Kp 156°. 2. Die anderen haben das Alkyl am Phosphor: sie heißen Phosphinsäuren (vgl. den Artikel „Organische Verbindungen der Metalle und Nichtmetalle"). /OH 0 - P. OH XC2H5 Aethylphosphinsäure. Phosphorsäuretriäthylester 0 = P03(C2H5)3, Kp 211° aus Natriumalkoholat und Phos- phoroxychlorid. 23. Ester der Arsenigen-, Arsen-, Bor- und Kieselsäure. Symmetrischer Arsenigsäuretriäthylester As03(C2H5)3, Kp 166«. Ueber die den Phosphinsäuren ent- sprechenden Arsinsäuren vgl. den Artikel „Organische Verbindungen der Me- jtalle und Nichtmetalle". ArsensäuretriäthylesterOAs03(C2H5)3,Kp235° aus arsensaurem Silber und Jodäthyl. i Borsäuremethylester B03(CH3)3Kp 65°, farb- lose Flüssigkeit, durch Wasser sofort zer- setzt. Aethylester Kp 119°. Die Borsäureester brennen mit grüner Flamme. Diese Eigenschaft wird in der analytischen Chemie zum Nachweis der Bor- säure benutzt, indem man die fragliche Sub- stanz mit konzentrierter Schwefelsäure und , Alkohol übergießt, wodurch etwa vorhandene Borsäure verestert wird, und dann an- zündet. Orthokieselsäureester entstehen aus ! Siliciumchlorid und Alkoholen. Unzersetzt flüchtige, unangemehn riechende Flüssig- keiten, die durch Wasser langsam verseift werden. Sie brennen mit weißer Flamme. Orthokieselsäuremethylester Si04(CH3)4, Kp 120°. Aethylester Si04(C2H5)4, Kp 165°. Siliciumameisensäuretriäthvlester HSi03 (C2H5)3, Kp 134°, entspricht dem Ortho- ameisensäureester in der Kohlenstoffreihe. Darstellung aus Siliciumchloroform und Alkohol. /Cl HSi^Cl Cl Silicium- HOC2H5 H OC2H5 H OC2H5 Alkohol. HSi OC2H5 OC,H5 oc:h5 Ester. Chloroform. Ester der Chromsäure, Mangansäure und Vanadinsäure sind nicht bekannt. B. Ester] organischer Säuren. 24.^'Allgemeines. Bildungsweisen: Die Ester organischer Säuren werden nach den all- gemeinen Darstellungsweisen erhalten (siehe oben). In der Regel stellt man sie durch Kochen der Säure mit dem Alkohol bei Gegenwart von Schwefelsäure oder Salzsäure dar. Sie werden ferner dargestellt durch Umsetzung von Salzen organischer Säuren mit anorganischen Estern, besonders Estern der Halogenwasser- stoffsäuren oder der Schwefelsäure. Als der- artige „Alkylierungsmittel" werden vorzugs- weise verwandt Methyl- und Aethyljodid und Dimethyl- und Diäthylsulfat. Falls man mit den Alkalisalzen nicht zum Ziele kommt 780 Ester wendet man die Silbersalze zur Umsetzung mit Jodalkyl an, wobei schwerlösliches Jodsilber entsteht. /O /O CH3Cf + JCH3 = CH8Cr + JAg XOAg x0CH3 CH3Cf + CH3S04CH3 = xONa Dimethylsulfat .CO CH3( + NaS04CH3. xOCH3 Ester lassen sich ferner darstellen, indem man Säuren dampfförmig mit Ameisen- säureester über gewisse Katalysatoren leitet. 0 C3H7COOH + CH3— 0— C— H über Ti02 Isobuttersäure Methylformiat bei 250° -> C3H7COOCH3 + CO + H20 Methyhsobutyrat. Eigenschaften: Die Ester niederer Reihen sind farblose, unzersetzt flüchtige Flüssig- keiten von angenehmem Geruch. Der spe- zifische Geruch des Weines ist auf seinen Ge- halt an Estern zurückzuführen. Viele werden als Fruchtäther technisch verwendet. Die höheren Ester sind kristallisiert, in Alkohol und Aether löslich, in Wasser nur die niederen in geringer Menge. Reaktionen: Ueber die hydrolytische Spaltung (Verseifung), über die Reaktionen mit Ammoniak, Phosphorpentachlorid und magnesiumorganischen Verbindungen siehe im allgemeinen Teil, Abschnitt 6. Ueber Kondensationsreaktionen vgl. „Acetessig- ester", Abschnitt 29. Ebenso wie man durch die Einwirkung von Wasser die Alkylgruppe eines Esters durch Wasserstoff ersetzen kann, vermag man sie durch Einwirkung von Alkoholen bei Gegenwart von Salzsäure gegen ein anderes Alkyl auszutauschen. CH3COOC2H5 + HOC5Hn ^ Aethylacetat Amylalkohol CHsCOOC6Hu + HOC2H5 Amylacetat Aethylalkohol. 25. Ester einbasischer Säuren mit niederen Alkoholen. Ester der Ameisen- säure. Aus Ameisensäure, Alkohol und Salzsäure. Angenehm riechende Flüssig- keiten. Methylester, Methylformiat HC02CH3, Kp 32,5°. Aethylester, Aethylformiat HC02C2H5, Kp 54,4° wird bei der Bereitung künstlichen Rums verwandt. Ester der Essigsäure. Essigsäure- methylester, Methylacetat CH3COO.CH3, Fp —100,4°, Kp +57°. Essigsäureäthylester, Aethylacetat, kurz Essigester oder nach der alten Nomen- klatur Essigäther, Aether aceticusCH3COO. C2H5, Fp —82,4°, Kp 77,5°, wird tech- nisch durch Destillation von Alkohol mit Schwefelsäure und Essigsäure gewonnen; er wird als Gelatinierungsmittel für Schieß- baumwolle, ferner als Lösungsmittel, so- wie seines angenehmen Geruchs wegen als Zusatz zu Fruchtsäften, Weinessig usw. verwandt. Er dient als Ausgangsmaterial zur Herstellung des Acetessigesters, siehe unten. Propvlacetat CH3COOC3H7, Kp 101,6°. Isopropylacetat CH3COOC3H7, Kp 90°. Butylacetat CH3COOC4H9, Kp 124,5°. Isobutylcarbinolacetat, Amylacetat, Essig- ester des Gärungsamvlalkohols, CH3COO. C5Hn, Kp 140°, riecht nach Birnen. Wird als Brennflüssigkeit der Hefnerschen Nor- malkerze in der Photometrie verwandt. n-Hexylacetat, Kp 169°, und n-Octylacetat, Kp 207°, kommen im Heracleum-Oel vor. Ester der Propionsäure. Methylester C3H5COOCH3, Kp 79,5°. Aethylester, Kp 98,8°. Isoamylester, Kp 160°, riecht nach Ananas. Ester der Buttersäure. Methylester C3H7COOCH3, Kp 102,3°, riecht* nach Reinetten. Aethylester, Kp 120, riecht nach Ananas. Isoamylester, Kp 178, riecht nach Birnen. n-Hexylester, Kp 205, und n-Octylester, Kp 244, finden sich im Heracleum-Oel. Valeriansäureäthylester C4H9COOC2H5, Kp 144°. Iso valeriansäureäthylester C4H9COOCoH5, Kp 135°. IsovaleriansäurisoamylesterC4HgCOO— CgHu, Kp 194°, riecht nach Aepfeln. Caprinsäureisoamylester C9H19COO — C5H1X, Kp 275° — 290°, sogenannter Oenanthäther, im Weinfuselöl; verursacht den charakte- ristischen Geruch des Weins. 26. Fruchtäther. Ihres Geruches wegen werden Ester als „Fruchtäther" in der Parfümerie verwandt. Im folgenden ist die Zusammensetzung einiger technischer Aether gegeben. Ananasäther: 130 g Amylvalerianat, 30 g Aethylbutyrat, 840 g Alkohol. Apfel äther: 100 g Amylvalerianat, 50 g Aethvlnitrit, 50 g Aethylacetat, 7,5 g Acetaldehyd, 792,5 g Alkohol, Birnen äther: 200 g Amylacetat, 100 g Aethylnitrit, 50 g Aethylacetat, 650 g Alkohol. Pfirsichäther: 100 g Amylvalerianat, 20 g Aethylacetat, 100 g Amylbutyrat, 10 g Benzaldehyd, 770 g Alkohol. 27. Ester höherer Alkohole. Ester von hochmolekularen einwertigen Alkoholen fin- Ester 781 den sich in der Natur im Walrat und in den Wachsarten (s. unten Wachs). Palmitinsäurecetylester C15H31COOC16H33 wachsglänzende Blättchen, Fp 49°. Palmitinsäuremyricylester C15H31COOC30H6i, im Bienenwachs. 28. Ester mehrwertiger Alkohole. Es können (vgl. oben Abschnitt 4) alle oder nur eine oder einige Hydroxylgruppen und zwar mit verschiedenen »Säuren verestert sein. Es gibt daher hydroxylhaltige (basische) Ester, neutrale, einfache und gemischte Ester. Beispiele: a) Monoester: Glycolmonoace- tat, CH2— OH | Kp 182° CH2— 0— COCH3, mit Wasser mischbare Flüssigkeit, aus den Halogenhydrinen mit fettsauren Salzen. CH2-C1 K-O-COCH, CH.-0-COCH CH2-0-COR NaOH CH,OH Na-O-COR CH-O-COR +NaOH -> CHOH + Na-O-COR I CH2-0-COR+NaOH Fett CH,-OH CH90H + KC1 Glycol- Kaliumacetat. Glycolmono- chlorhydrin. acetat. b) Neutraler Ester : Glycoldiacetat CH,— 0— COCH3 | Kp 18(3° CH2— 0— COCH3 aus 1,2 Dichloräthan mit Kaliumacetat. CH,-C1 K-0-COCH3 CH2-0-COCH = | + 2KC1 CH2-C1 K-0-COCH3 CH2-0-COCH3 c) Gemischter Ester: Glycolchlor- acetin, CH2C1 Kp 144° CH2OCOCH3 aus Glycolmonoacetat und Salzsäure. CH2OH I +HC1 CH2OCOCH3 CH2C1 I +H20 CH2OCOCH3 Ester des Glycerins. Von größter biologischer und technischer Bedeutung sind die neutralen Carbonsäureester des Glycerins, die Fette und Oele. Die wichtigsten der- artigen Ester sind die Glycerinester der Buttersäure, Palmitinsäure, Stearinsäure und Oelsäure. Durch Kochen mit Alkalien werden sie hydrolytisch in das Alkalisalz der Säure, die „Seife" und in freies Glycerin gespalten („verseift"). Vgl. den Artikel „Fette, Oele, Seifen". CHOH +Na-0-COR Glycerin Fettsaures Alkali. Seife Ein Essigsäureester der Zellulose wird als Kunstseide (Acetatseide) und mit Kam- pher als „Cellit" zur Fabrikation von Film technisch verwertet. 29. Ester substituierter Fettsäuren. Acetessigester. Die Ester substituierter Säuren werden in der Regel bei den be- treffenden Säuren, z. B. Aminosäuren usw. behandelt. Durch eine Estergruppe werden andere Gruppen in der Regel nur unwesent- lich modifiziert (siehe oben Abschnitt 7). Beispiele: Oxyessigsäureäthylester CH2OHCOOC2H5, Kp 160°, aus Oxyessigsäure mit Alkohol und Salzsäure. AmidoessigsäureäthylesterNH2CH2C002CH5, Kp 147°, nach Cacao riechendes Oel. Bildet mit Salzsäure ein Salz. Diazoessigsäureäthylester N2: CHCOOC2H5, Kp 143°, aus Amidoessigester mit salpe- triger Säure, zersetzt sich unter dem Ein- fluß von Katalysatoren. Tritt eine Estergruppe in ß- Stellung zur Ketongruppe C = 0 so erlangt diese die CH2 Fähigkeit, sich zur Gruppe C — OH umzu- 11 C— H lagern und saure Eigenschaften anzunehmen. Acetessigsäureäthylester, Acet- essigester CH3— CO— CH2— C02C2H5, Kp 181° (72° bei 12 mm). 29a) Darstellung des Acetessig- ester s. Der Acetessigester wird durch Kochen von trockenem Essigester mit Natrium hergestellt. 2CH3C02C2H5 + Na CH3COCH2C02H5 + C2H5ONa + H Da eine Spur Alkohol zum Einleiten der Reaktion notwendig ist, so nimmt man an, daß nicht das Natrium, sondern das erst entstehende Natriumäthylat die Konden- sation bewirkt. Der Mechanismus der Kon- densation ist nicht aufgeklärt; man kann sich vielleicht folgende Vorstellung machen: es lagert sich Natriumäthylat an Essigester an; das Additionsprodukt reagiert mit Essig- ester unter Austritt von zwei Mol Alkohol: CH, ,0 C>H 2xi5 CH ONa OC2H5 NaO xc;/oc2H5+ H V0C2H5 H Additionsprodukt X)Na CHC02C2H5 Essigester + CH,— C--CH— C00C2H 782 Ester 29b) Eigenschaften. Angenehm rie- chende Flüssigkeit. Die Ketogruppe ist hier derart durch die Estergruppe modifiziert, daß sie sich in die isomere Enolgruppe umzu- lagern vermag. Acetessigester ist ein Ge- menge zweier isomerer Körper, der Ke- toform und der Enolform (von en, Aus- druck für Doppelbindung, und ol, Ausdruck für Hydroxylgruppe). CH C— CH,— COOC-H 2A±5 -COOCaH5 0 Ketoform. CH3-C = CH- OH Enolform Beide Formen gehen unter Wanderung eines Wasserstoffatoms leicht ineinander über. Diese Art der Isomerie bezeichnet man als Desmo- tropie (siehe den Artikel „Isomerie"). Die reine Ketoform (echter Acetessigester) ist ein Oel, das bei — 41° erstarrt. Die Enolform (Oxycrotonsäureester) ist ein auch im Aether- kohlensäurekältegemisch nicht erstarrendes, stark riechendes Oel. Gewöhnlicher Acet- essigester ist ein im Gleichgewicht befind- liches Gemenge von 7,4% Enol- und 92,6% Ketoform. Man kann die Enolform quantita- tiv durch Titration mit titrierter alkoholi- scher Bromlösung bestimmen, wobei nur die Enolform Brom addiert und entfärbt. CHo— C = CH— CCLCofL Als Enolform vermag der Acetessigester Salze zu bilden: CH3C=CHC00C.H6 xONa Natracetessigester CH3C=CHCOOC2H5 xOCu 2 Kupferacetessigester Acetessigester färbt sich in Lösungen mit Eisensalzen violettrot, was auf der Bildung eines dunkelfarbigen Ferrienolsalzes beruht. 29c) Spaltung des Acetessigesters. Durch Kochen mit konzentrierten Alkalien wird Acetessigester in Essigsäure und Essig- ester, letzterer weiter in Essigsäure und Alkohol gespalten. Die Reaktion heißt: Säurespaltung. CH3CO : CH,COO C2H5 OH|H H.OH — > CH3COOH+ CH3COOH+ C2H5OH Durch verdünnte Alkalien oder Säuren wird er in Aceton, Kohlensäure und Alkohol gespalten: Ketonspaltung. CH3COCH2 COOC2H5 HO Br— Br CH,— C— CHBr— C09C,H OH Br 2^2 5 CH3— C— CHBrC02CoH5 + HBr II 0 Durch diese Titration hat man ermittelt, daß Acetessigester in verschiedenen Lösungs- mitteln beim Gleichgewicht verschiedene Mengen Enol enthält: in Wasser 0,4%, in Chloroform 7%, in Alkohol 12%, in Hexan 50%. Die Enolform des Acetessigesters hat saure Eigenschaften, ähnlich wie Phenol; offenbar wirkt ebenso wie beim Phenol die benach- barte Doppelbindung auf die Hydroxyl- gruppe ein. C=C. H.OH — > CH3COCH3+C02+CJLOH 29d) Alkylierung des Acetessig- esters. Läßt man auf die Lösung des Natracetessigesters in Alkohol Alkyljodide einwirken, so entstehen alkylierte Acetessig- ester, in denen das Alkyl am Kohlenstoff gebunden ist. Sie leiten sich nicht von der Enolform, von der ausgehend sie dargestellt sind, sondern von der Ketonform ab. CH3 CH3 C— ONa C=0 + JC2H5 — >► JNa + | CH CHC2H5 COOC2H5 COOC2H5 Der so entstandene Alkylacetessigester vermag sich in ein Enol umzulagern und kann als Natriumsalz weiter alkyliert werden: OH Enolgruppe HC — C \OH Phenol CH3 C— ONa CC2H5 COOR CH3 C=0 + JC2H5 — >. JNa + | C,H5 I XC2H5 COOR Die nunmehr entstehenden Dialkylacet- essigester können sich nicht mehr umlagern. Wenn eine Verbindung bei der Alkylie- rung das Derivat einer isomeren Form gibt, so bezeichnet man sie als tautomer. Sol- che tautomere Reaktionen kann man sich auf folgende Weise erklären: Ester 783 1. Man kann annehmen, daß ebenso wie der freie Acetessigester, auch das Natriumsalz in zwei Formen vorhanden ist, deren eine reagiert und stets nach- gebildet wird. CH3 im Gleichge- — ONa wicht mit i CH3 C=0 CH I COOR sehr wenig: v CHNa -- > J CoH 2iJS i OOR + JNa 2. Man kann annehmen, daß die neuen Verbindungen nicht wie oben durch Aus- tausch des Natriums gegen Alkyl zustande kommen, sondern daß sich das Alkyljodid an die Doppelbindung addiert. CH3 i C=0 + NaJ I I CHC2H5 COOR Es entsteht dann also aus einem Enol direkt das Derivat eines Ketons. Dieser Reaktionsverlauf ist für einige Reaktionen bewiesen. Dies hat deswegen Bedeutung, weil es zeigt, daß die früher allgemein üb- liche Bestimmung der Konstitution von Säuresalzen unbekannter Konstitution durch Alkylierung nicht zuverlässig ist, da ja bei der Alkylierung nicht immer echte Derivate des reagierenden Salzes, sondern eines isome- ren Salzes auftreten können. 29 e) esters zu Anwendung Acetessig- CH3 C-ONa C^H C2H5 I COOR CH3 C— ONa+JC2H5 || (oder jedes CH andere | Alkyljodid) COOR Acetessigester CK C ONa • J CHCoH, 2iJ5 COOR CH3 C=0 'I C=HC2H5 COOR Aethylacetessig- ester (oder andere alky- lierte Ester) lierung ge\^ des Synthesen. Die durch Alky- alkylierten Acetessig- ester können ebenso wie der freie Acetessig- ester durch verschiedene Reagentien der Ketonspaltung und der Säurespaltung unterhegen. Hierdurch ist der Aufbau einer großen Reihe von Säureestern, Ketonen und Säuren ermöglicht worden. Diese Synthese hat für den Ausbau der systematischen Chemie große Bedeutimg gehabt. Beispiele: ro. v>6 ^VO* Essigsäure %/*> CH2C2H5 CH3 I c=o CH2— C2H5+ C02+ C2H5OH Methylpropylketon (oder andere Ketone) CH3 COOH ' wird unter dem Namen \_/ XOCH3 NH2 „ 0 r t h o f o r m " als Lokalanästheticum verwandt. p-Aminobenzoesäureester des Diäthylamino- äthanols ist als salzsaures Salz unter dem Namen ,,Novocain" das heute am meisten gebrauchte Lokalanästheticum h2n/ \c\ \_/ X0-CH2-CH2 C2H5 M M C2H/ XC1 Cocain ist ein komphzierter Ester der Benzoesäure (Benzoylecgoninmethylester). Atropin ist der Tropasäureester des Tropins (näheres siehe im Artikel „Alkaloide"). Chlorophyll ist ein Ester des Alkohols „Phytol" mit Säuren von unbekannter Konstitution (siehe den Artikel „Pflan- zenstoffe unbekannter Konstitu- tion"). 34. Ester aromatischer Alkohole und Phenole. Phenylacetat, Acetylester des C— CH3, Kp 195°, aus Salicylsäurephenylester, Phenylsalicylat, Sa- id, HOC6H4COOC6HB, Fp 43°, Kp 172° bei 12 mm, wird als Antisepticum verwandt. Phenylkohlensaures Natrium, Natriumsalz des sauren Kohlensäurephenylesters ONa 0 = C\n// \ 1 a"s C02 und Natrium- \_/ phenolat, lagert sich beim Erhitzen unter Druck in salicylsaures Natrium um (siehe den Artikel „Phenole"). Acetylsalicylsäure, Essigsäureester der Salicylsä'ure, Kp 128°, ist als „Aspirin" offi- zinell -0— CO-CH, Phenols, Natriumphenolatlösung und Essigsäurean- hydrid. Phenylbenzoat, COOH Durch Veresterung mehrerer Moleküle von p-oxy-Benzoesäure miteinander entstehen Ketten; derartige Ketten sind vermutlich in den Gerbstoffen (Tannin) vorhanden. Literatur. Meyer und Jacobson. Lehrbuch der organischen Chemie. Leipzig 1909. — Richter • Anschütz - Schröter , Organische Chemie. Bonn 1909. — Beil stein, Handbuch der organischen Chemie. Hamburg 1893 — 1906. III. Anhang. Wachs. i. Allgemeines. Das Wachs der Bienen enthält als charakteristischen Bestandteil Ester von Fettsäuren mit höheren einwertigen Alkoholen. Da es nun eine große Anzahl von Naturprodukten gibt, die dem Bienenwachs physikalisch wie chemisch nahestehen, so bezeichnet man sie insgesamt als Wachse. Wachse im chemischen Sinne sind Stoffe tierischer oder pflanzlicher Herkunft, die als Hauptbestandteil Ester höherer Fettsäuren mit höhe- ren einwertigen Alkoholen enthalten. Neben den Estern enthalten die Wachse meist noch andere Stoffe z. B. hochmoleku- lare freie Säuren und freie Alkohole, ferner höhere Kohlenwasserstoffe. aus Natriumphenolat und Benzoylchlorid, Fp 71°; Kp 314°. Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III 2. Anwendung. Wachse werden zur Fabrikation von Kerzen und Wachszünd- hölzern verwandt. Wachskerzen werden namentlich bei gottesdienstlichen Hand- C = 0, ! lungen, besonders in katholischen und ortho- I doxen Kirchen (Rußland) verbrannt. Ferner CfiHK dienen Wachse als Bohnermittel für Fuß- böden (hauptsächlich Carnaubawachs, siehe unten). 50 786 Ester und Wachs — Entropie Export und Import nach Deutschland Einfuhr 1909 dz 1000 M Ausfuhr 1909 dz 1000 M Insekten- inkl. Bienen wachs, roh Pflanzen wachs, roh ...... Wachs raffiniert, Wachsstümpfe 18 298 9805 4 455 4887 1830 586 4805 255 14 048 1446 44 3749 3. Verfälschungen und Surrogate. Wegen des hohen Preises der Wachse werden C23H47COO— C13H diese vielfach mit minderwertigem Material verfälscht, teils mit mineralischen Beschwe- Bananenwachs enthält einen Ester 27- organi- rungsmitteln, teils mit anderen sehen Stoffen, z. B. Stearin, Fett, Paraffin Besonders das bei Boryslaw in Galizien ge- fundene Erdwachs (Ozokerit, Ceresin), das aus paraffinähnlichen Kohlenwasserstoffen besteht und demnach chemisch gar nichts mit Wachs zu tun hat, wird, da es ähnlich durchscheinend und weich wie Wachs ist, vielfach an Stelle von echtem Wachs für Kerzenfabrikation verwendet und besonders nach Rußland exportiert. 4. Tierische Wachse. Walrat (Sperma- ceti) kristallisiert aus dem Walratöl aus, das sich im Schädel des Pottwales (Physeter makroeephalus) findet. Es be- steht hauptsächlich aus Palmitinsäurecetyl- ester C15H31COO— C1?H33, Fp 53,5°. Bienenwachs bildet die Wandungen der Bienenzellen. Es ist ein Gemenge von Cerotinsäure („Cerin") C25H51COOH, die löslich in heißem Alkohol ist und von Pal- mitinsäure-Myricylester („Myricin") C15H31 COO — C30H61, in Alkohol unlöslich. Daneben enthält es noch Mehssinsäure C29H59COOH sowie höhere Alkohole und Kohlenwasser- stoffe. Chinesisches Insektenwachs wird von der Wachsschildlaus (Coccus ceriferus) auf einer Eschenart (Fraxinus chinensis) abgesondert. Es enthält hauptsächlich Cerotinsäure-Cerylester C25H51COO— C;6H53. Wollfett ist im chemischen Sinne ein Wachs, da es nicht Ester des Glycerins, sondern — neben sauren und anderen Neben- bestandteilen — Ester der einwertigen Alko- hole Cholesterin und Isocholesterin mit Palmitin-, Cerotin- und anderen Säuren ent- hält. Es wird zur Bereitung von Salben als Lanolin sowie auch zu anderen Zwecken technisch verwendet (vgl. den Artikel „Fette, Oele, Seifen"). 5. Pflanzenwachse. Carnaubawachs ist ein wichtiger Handelsartikel. Es über- zieht die Blätter des Carnaubabaums, einer in Brasilien heimischen Palmenart (Coper- nicia cerifera). Bestandteile: Myricylalkohol C^rl^Orl und Cerotinsäure und andere höhere Ester und Säuren, teils frei, teils verestert, ferner Kohlenwasserstoffe. Literatur. Meyer und Jacobson, Lehrbuch der organischen Chemie. Leipzig 1909. — Ubbe- lohde, Handbuch der Oele und Fette. Leipzig 1908. K. H. Meyer. Euler Leonhard. Geboren am 15. April 1707 in Basel, gestorben am 7. September 1783 in Petersburg. Er war der Sohn eines Landpfarrers, eines Schülers von Jakob Bernoulli, und wurde anfänglich von dem Vater unterrichtet, studierte darauf bei Johann Bernoulli Mathematik und folgte diesem 1727 nach Petersburg, wo er 1730 Professor der Physik an der Akademie wurde. 1741 ging er als Direktor der mathematischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften nach Berlin und kehrte 1766 nach Petersburg zurück. Schon seit 1735 auf einem Auge blind, verlor er 1766 das Augenlicht völlig. Euler war ein genialer Kopf und einer der fruchtbarsten Schriftsteller, gegen 700 Abhandlungen hat er veröffentlicht, 200 sollen in seinem Nachlaß vorgefunden worden sein. Die Mathematik sieht in ihm einen der Be- gründer der analytischen Mechanik; sein Addi- tionsgesetz der elliptischen Funktionen ist unter dem Namen des Eulerschen Theorems bekannt. Fast auf allen Gebieten der Physik hat Euler gearbeitet. Energisch bestritt er Newtons Hypothese der Fernwirkung und im besonderen seine Emissionstheorie des Lichts, der er eine Aethertheorie entgegenstellte, die Licht, Wärme, mechanische Kraft und Elektrizität auf eine ge- meinsame Ursache, den Aether, zurückführte. Literatur. N. Fuss, Eloge de Mr. L. Euler. Petersburg 1783. Deutsch Basel 1786. — Rtidio, L. Eider. Basel I8S4. — Verselbe, Die Baseler Mathematiker Daniel Bernoulli und Leonhard Eider. Basel I884. E. Drude. Eutropie auch katamere Eutropie bezeichnet das ge- setzmäßige Verhalten der Kristalle innerhalb einer Verwandtschaftsreihe des natürlichen Systems der Elemente und Verbindungen (z. B. P, As, Sb, Bi oder CaC03, SrCO?, BaC03). Alle Eigenschaften ändern sich mit Eutropie — Exkretionsorgane 787 steigendem Molekulargewicht entweder in auf- oder absteigender Reihe (vgl. den Ar- tikel „Kristallchemie"). Exkretionsorgane. 1. Protonephridien: a) Als dauernde Exkre- tionsorgane. b) Als larvale Exkretionsorgane. 2. Die segmental angeordneten offenen Nephri- dien der Ringelwürmer: a) Der polychäten Anneliden, b) Der Oligochäten. c) Der Hiru- dineen. d) Der Echiuriden und Sipunculiden. e) Die Urnieren der Oligochäten und Hirudineen. 3. Die offenen Nephridien der Brachiopoden. 4. Die modifizierten Segmentalorgane der Glieder- tiere: a) Schalen- und Antennendrüse der Crusta- ceen. b) Nephridium von Limulus. c) Coxal- drüsen der Arachnoiden. d) Nephridien von Peripatus. 5. Die Nieren der Mollusken. 6. Die Nieren der Wirbeltiere (Vorniere, Urniere, Nach- niere). 7. Sonstige Nierenorgane von wechseln- der morphologischer Bedeutung: a) Die Mal- pighischen Gefäße der Gliedertiere. b) Das Exkretionsorgan der Nematoden, c) Die Exkre- tionsorgane bei den Echinodermen. d) Die Nephrocyten der Gliedertiere, e) Die Exkre- tionsorgane bei den Tunicaten. f) Höhere Tier- formen ohne besondere Exkretionsorgane. Die Exkretionsorgane haben die Aufgabe, die aus dem tierischen Stoffwechsel sich er- gebenden, für den Körper unbrauchbaren, ja schädlichen Abfallstoffe aus dem allge- meinen Säftekreislauf auszuschalten und aus dem Körper abzuleiten. Nur den niedersten Metazoenstämmen fehlen solche Exkretions- organe völlig, also zunächst den Schwämmen und Cölenteraten, weiter den Mesozoen und endlich auch den acölen Turbellarien, wenn auch ihr Vorhandensein bei letzteren noch nicht völlig auszuschließen ist. Den übrigen höheren Metazoen kommt dagegen mit verschwindenden Ausnahmen, von denen am Schlüsse noch zu reden sein wird, ein besonderes Exkretionsorgan zu. i. Protonephridien. Unter Proto- nephridien sind Exkretionsorgane zu ver- stehen, deren mannigfach gestaltetes Kanal- system durch besondere Poren an der Körper- oberfläche nach außen mündet, gegen den inneren Leibesraum dagegen durch eigen- artige cilientragende Terminalorgane völlig abgeschlossen erscheint. ia) Protonephridien als dauernde Exkretionsorgane. Als solche ist ihr Vorkommen ein ganz allgemeines und kon- stantes bei Plattwürmern und Rädertieren, sie treten ferner noch auf bei polychäten Anneliden und finden sich endlich bei einer Reihe isolierter Tiergruppen (Gastrotrichen, Echinoderiden, Echinorhynchus, endoprokten Bryozoen) sowie bei Amphioxus. Den morphologisch wichtigsten Bestand- teil der Protonephridien bilden ihre Ter- minalorgane, die in typischer Ausbildung (Fig. 1) sich zusammensetzen aus einer Terminalzelle mit Kern, aus einem Binnen- raum, der von stark verdünnten Membranen umschlossen wird und in seinem Inneren eine Wimperflamme aufweist, sowie endlich aus einer Kapillare, welche den Anschluß des Terminalorgans an das eigentliche proto- nephridiale Kanalsystem vermittelt. Alle diese Teile sind in "der Regel nichts anderes als Differenzierungen einer . einzigen Zelle, m-'-r w i -*m ' Fig. 1. Terminalorgane der Protonephri- dien verschiedener Plattwürmer. Aus 1 J. Meisen heimer, Die Exkretionsorgane der wirbellosen Tiere, I. Ergebnisse und Fortschritte der Zoologie, 2. Bd., 1909. a von Tetracelis marmorosum. Nach Luther, 1904. b von Stichostemma graecense. Nach Böhmig, 1898. c von Geonemertes chalicophora. Nach Böhmig. 1898. d von Taenia crassicollis. Nach Bugge. 1902. e von Amphilina foliacea. Nach Hein. 1904. k, kj, ki— in Kerne der Terminalorgane, kL>, kiv Kerne der Kapillaren, hc Sammel- kapillare, rw Ringwulst am Binnenraum der Terminalorgane, wf Wimperflammen. welche eben als Terminalzelle den inneren Abschluß herbeiführt. Auf dieser einfachen Entwickelungsstufe begegnen wir den Ter- minalorganen bei den Turbellarien und vielen Nemertinen; bei anderen treten mannigfache Komplikationen hinzu, so bei den Band- 50* 788 Exkretionsorgane würmern, wo die Terminalzellen sich gegen das Parenchym hin außerordentlich stark dendritisch verästeln (Fig. ld), wo ferner die Wände des Binnenraums durch einen verdickten Ringwulst besonders gestützt erscheinen. Bei Rädertieren können ferner der Außenfläche der Terminalzellen lange Geißeln ansitzen, auch sind hier häufig die einzelnen Cilien der Wimperflamme zu einer einheitlichen undulierenden Membran verschmolzen. Am stärksten modifiziert sind die Terminalorgane bei den polychäten Anneliden, wo sie sich zu den sogenannten Solenocyten umgebildet haben. Diese Soleno- cyten (Fig. 2) sitzen in großer Zahl den blind geschlossenen Enden der Nephridialkanäle auf und bestehen je aus einem langen dünnen Röhrchen, welches mit seinem basalen Ende die Wandung des Nephridialkanals durch- setzt, an seinem apicalen, in die Coelomhöhle frei hineinragenden Ende dagegen eine den Kern enthaltende Zelle trägt. Diese letztere entspricht zweifellos einer Terminalzelle, so wie das Röhrchen dem Binnenraum und der Kapillare entspricht. Durchzogen wird das Röhrchen von einem der Wimper- flamme homologen Gebilde, einer langen Geißel, welche von der Terminalzelle ihren Fig. 2. Solenocytenapparat eines poly- chäten Ringelwurms (Phyllodoce paretti). Im Längsschnitt durch das Ende eines Nephri- dialastes. Aus J. Meisenheimer, 1. c, Nach Goodrich, 1902. k Kern der Terminalzelle, ng Nierenkanal, r Solenocytenröhre, z Terminal- zelle. Ursprung nimmt und weit in das Lumen des Nephridialkanals hineinragt. Die Anordnung der Solenocyten ist eine sehr mannigfache. Zumeist stehen sie bündel- oder fächerförmig, dann aber auch zerstreut oder reihenweise gruppiert, je nach der besonderen Form des Nephridialkanals selbst (Fig. 3). Ganz ähnlich Fig. 3. Protonephridien einiger Poly- chäten in ihren Endabschnitten. Aus J. Meisenheimer, 1. c. a von Eulalia viridis Nach Fage, 1906. b von Phyllodoce paretti. Nach Goodrich, 1900. c von Nephthys hom- bergii. Nach Fage, 1906. g äußere Geißeln am Ende der Nephridialkanäle, m stützende Membran der Solenocyten, ng Nephridial- kanal, sol Solenocyten. Exkretion sorgane 789 ge- des wie bei den Polychäten sind auch die Soleno- cyten des Amphioxus gebaut. Die ausführenden Leitungswege der Protonephridien weisen bei weitem nicht die gleiche morphologische Ein- heitlichkeit auf, wie sie den Ter- minalorganen zukommt, da sie eben in viel höherem Maße von der so überaus verschieden stalteten Gesamtorganisation Körpers der genannten Tier- gruppen beeinflußt werden müssen. Als Grundtypus liegt aber allen ein Paar symmetrisch zu beiden Seiten des Körpers angeordneter Kanäle zugrunde, welche die Kapillaren der Terminalorgane aufnehmen und durch je einen besonderen Porus an den Seiten des Körpers nach außen münden. Wir begegnen diesem Grundtypus noch bei den Larven der Disto- meen (Fig. 4), wo zudem nur ein Paar von Terminal- vorhanden ist. Ge- zu beiden Seiten des genommen wird. Aber dieser Grundtypus erleidet auch hier überaus mannigfache Modifi- kationen. So werden zunächst, um nur einige der wichtigeren anzuführen, die Längs- einziges organen trennte Körpers stamme werden. (Fig. 5) im ein- liegende Exkretions- treffen wir weiter bei den rhabdocölen Turbellarien an, doch können dieselben auch hier schon in ihrem Verlauf recht be- trächtlich kompliziert Bei den Trematoden sind zwar auch noch fachsten Falle zwei Längsstämme wohl zu unterscheiden, aber diese fließen hier stets schon aus einer größeren Zahl von Seitenästen zusammen und ver- einigen sich am Hinterende des Wurmes zu einem unpaaren me- dianen Abschnitt, der seinerseits durch einen feinen Porus nach außen mündet. Sehr viel stärkere Umgestaltungen erfährt dieses einfache Kanalsystem dann aber weiter dadurch, daß die Zahl der Längsstämme sich vermehrt und zwischen ihnen eine vielfache Anastomosenbildung statt- hat, und daß der Endabschnitt sich zu einer Art Endblase von mannigfacher Form erweitert. Auch das Nephridialsystem der Band- würmer (Fig. 6) läßt sich von dem gleichen Grundtypus ableiten, auch hier ist ursprüng- lich jederseits ein besonderer Kanal vorhan- den, der als feiner Gang im Hinterende des Körpers beginnt, dorsalwärts nach vorn bis zum Scolex verläuft, sich hier in einer Schlinge nach der Ventralseite wendet und nun unter beträchtlicher Erweiterung seines Durchmessers als Hauptstamm wieder nach hinten bis zur Endspitze des Körpers zieht, wo er von der gemeinsamen Endblase auf- CJT Fig Fig. 4. Larve von Dis- tomum hepaticum mit eingetragenen Exkretions- stämmen. Aus J.Meisen- heimer, I.e. Nach Coe, 1896. au Auge, bl End- blase, ng Exkretionsstamm, tn Terminalorgane. Fig. 6. Schein a- tische Darstel- lung d er ur- sprünglichen An- I Ordnung der Ex- i kretionsstämme | bei den Cestoden Aus J. Meisen- heimer, 1. c. ebl End blase, hst Haupt- stamm, nst Neben- stamm. Exkretionsorgan eines Trematoden (Distomum heterophyes). Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Looss, 1894. A, B die beiden Haupt- stämme, I, II Gefäße 2. Ordnung, 1 — 4 die beider- seitigen vier Gruppen von je 3 Terminalorganen, ex Exkretionsporus. ?bl hst nst 790 Exkretionsorgane stamme beider Seiten durch Querkommis- suren verbunden, es können ferner an den verschiedensten Stellen Schlingen- und Insel- bildungen auftreten, es geht die Endblase nach dem Abstoßen der Endproglottis ver- loren. Es mün- j au den dann an ' der jeweilig letzten Pro- glottis die vier Längsstämme direkt nach außen, es treten aber weiter in ihrem Verlauf bis zum Scolex besondere Randporen (so- genannte Fora- mina secunda- ria) auf, welche gleichfalls die Ableitung der Exkretflüssig- keit besorgen. Eine Ver- mehrung der Zahl der Exkre- tionsstämme, wie sie verein- zelt schon bei niederen Tur- bellarien nach- zuweisen ist, ist dann das charakteris- tische Kenn- zeichen der hö- heren, der tri- claden Turbel- larien. Es tre- ten hier jeder- seitsvierHaupt- stämme auf, die weiter noch die besondere Eigentümlich- keit aufweisen, daß einegrößere Zahl von Exkre- tionsporen in ihren Verlauf eingeschaltet ist, wogegen die ursprüngliche Mündungsstelle ging. Fig. 7. Schema des Ex- kretionssystems von Dendrocoeluin lacteum. Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Wilhelmi,1906. au Auge, ex Exkretions- poren, ph Pharynx. verloren Sehr klar zeigen dieses Verhalten unsere Süßwassertricladen, bei denen im übrigen bei einzelnen Formen wieder eine sekundäre Reduktion in der Zahl der Längsstämme eintrat. So ist es beispiels- weise auch bei Dendrocoelum lacteum (Fig. 7), wo im übrigen die Längskanäle in regelmäßigen Abständen netzartig ver- flochtene Knäuel bilden, denen je ein Ex- kretionsporus zukommt. Es bietet sich in diesem Exkretionssystem die Vorstufe eines segmental gegliederten Organes dar, es brauchten nur die Verbindungen zwischen den einzelnen, je aus einem Knäuel und Porus bestehenden Abschnitten gelöst zu werden und wir hätten eine Reihe segment- artig hintereinander gelegener, gleichgebauter Organe vor uns. Dieser weiteren Stufe begegnen wir bei den Nemertinen. Hier wird bei manchen Formen, wie bei S t i c h o - stemma graecense, das Nephridialsystem jederseits durch ein System vielfach ver- schlungener und anastomosierender Kanäle gebildet, die den Körper der ganzen Länge nach durchziehen und durch eine größere Anzahl von Seitenporen nach außen aus- münden. Indem dann zwischen den einzelnen Knäuelpartien mit ihren zugehörigen Poren eine Kontinuitätstrennung einsetzt, wird das ganze System in eine Anzahl aufeinander folgender selbständiger Nephridien zerlegt. Im übrigen weist das Protonephridialsystem der Nemertinen zumeist hochgradige Speziali- sierungen auf. Von ihnen ist wohl die wich- tigste die, daß sich die Terminalorgane nicht mehr über den ganzen Körper zerstreut finden, sondern daß sie eine Lokalisierung erfahren und mit den Blutbahnen in innige Beziehung treten, sei es daß sie sich in die Gefäßwand derselben einstülpen oder daß sie sich mit vielfach verästelten Gefäßkomplexen eng verflechten. Außerordentlich viel enger schließen sich in dem Verhalten ihrer exkretorischen Lei- tungswege an die ursprünglichen Platt- würmer wieder die Rädertiere an (Fig. 8). Auch hier findet sich zu beiden Seiten des Körpers je ein Längsgefäß, das nach innen hin die Terminalorgane aufnimmt, mit seinem äußeren Ende dagegen unter Vermittelung einer unpaaren Exkretionsblase auf der Körperoberfläche ausmündet. Die Leitungs- wege zerfallen scharf in zwei Abschnitte, in die eigentlichen Längsstämme, die gelegent- lich in ihrem Verlaufe einzelne Treibwimpern enthalten, und in ein besonderes Kapillar- system, das sich zwischen jene und die Terminalorgane einschaltet und in der Regel : aus einem vorderen System für das Räder- ; organ und einem hinteren für den Körper ! besteht. Erwähnt sei ferner an dieser Stelle das 1 Exkretionssystem der endoprokten Bryozoen, | welches typisch protonephridialen Bau be- sitzt und aus zwei einfachen, symmetrisch zu beiden Seiten des Körpers angeordneten Kanälchen besteht, die nach innen je ein Terminalorgan tragen und nach außen in Exkretionsorgane 791 einem gemeinsamen kurzen Ausführgang zusammenstoßen. Im vollen Gegensatz zu den bisher be- sprochenen Verhältnissen steht die Anord- nung der protonephridialen Leitungswege bei den segmentierten Polychäten, wo sie fast völlig den Charakter typischer Segmental- organe angenommen haben, also vor allem paarweise in jedem Segment sich finden. Jedes Protonephridium stellt einen einfachen dagegen dem Cölom sich zuwenden und hier mit Solenocyten besetzt sind. ib) Protonephridien als larvale Exkretionsorgane. Wie aus unserer bisherigen Betrachtung hervorgeht, besitzen die Protonephridien ihre Haupt Verbreitung bei niederen Würmern und Rädertieren. Bei höheren Tieren spielen sie dagegen eine nicht unbedeutende Rolle nur noch als larvale Exkretionsorgane, die vergänglicher Natur sind und sich in der Regel durch einen sehr einfachen Bau auszeichnen. Sie treten als solche auf bei den polychäten Anneliden, bei Echiu- rus, bei den Phoroniden sowie bei Muscheln und Schnecken und werden in der Regel als Ur- nieren bezeichnet. In den einfachsten Fällen, wie sie bei- spielsweise die Trocho- phoralarven von Poly- chaeten und Muscheln (Fig. 9) darbieten, be- steht das Protonephri- dium aus einem ein- fachen Kanälchen, dessen Wand aus einer einzigen Zelle gebildet wird, während eine zweite Zelle das Termi- nalorgan mit einer mächtig entwickelten Wimperflamme dar- stellt. Weiterhin kön- nen sich jedoch sehr beträchtliche Kompli- kationen einstellen. Auf späteren Trochophora- —tt --iof Fig. 8. Flächenansicht des Exkretions- organs eines Rädertieres, Lacinularia socialis. Aus J. Meisenheiraer, 1. c. Nach Hlava, 1904. ca Kapillarröhre, e unpaares Endstück, fl Teruiinalorgane, hs Hauptex- kretionsstamin, kn Knäuelbildung desselben, q Querkomroissur zwischen den beiderseitigen Kanalsystemen, r Räderorgan, tv Treibwimpern. langgestreckten, in der Cölomhöhle gelegenen Schlauch dar, der von Flimmerepithel aus- gekleidet erscheint, nach außen durch einen Porus an der Körperoberfläche ausmündet, mit seinem inneren blindgeschlossenen Ende dagegen frei in die Cölomhöhle hineinragt und hier die Solenocyten trägt. Bei Amphioxus endlich liegen die Nieren- kanälchen im Bereiche des ganzen Kiemen- darmes als paarige segmental angeordnete und bogenförmig gekrümmte Röhrchen, die nach der einen Seite in den Peribranchial- raum ausmünden, mit ihrem inneren Ende --K0 Fig. 9. Längs- schnitt durch das larvale Proto- nephridium einer sfadTeTde7poTychät7n Muschel Dreis- trptpii an rlprn ein- sensia polymorpha. tieten an dem ein- Aus j Meisen- fachen Urnieren- heimer, 1. c. Nach schlauch Verästelungen Meisenheimer,1900. auf und es entwickelt k Kern des Urnieren- sich an deren Enden kanals (ng), tz Ter- ein komplizierter Sole- minalzelle,wfWimper- nocytenapparat. Ganz flamme, ähnlich verhalten sich in letzterer Hinsicht die Urnieren der Actino- trochalarve der Phoroniden. Nach einer anderen Richtung hin haben sich die Ur- nieren der Lungenschnecken weiter ent- wickelt. Bei den Süßwasserpulmonaten (Fig. 10) besteht das zu beiden Seiten des Larvenkörpers gelegene Organ aus zwei in einem Winkel zueinander gestellten und von einem feinen Kanal durchbohrten Schen- keln. Den Aufbau besorgen insgesamt vier Zellen: eine erste bildet den äußeren Ausführ- gang, die zweite füllt als Riesenzelle mit sehr großem Kern den Raum zwischen den beiden Schenkeln aus, die dritte bildet den inneren 792 Exkretionsorgane Schenkel und die vierte endlich schließt als Schlinge, deren Schenkel dicht aneinander TerminarzelledasganzeOrgangegendieLeibes- liegen und innen durchaus bewimpert sind, höhle ab. Die fächerartig gestaltete Terminal- Der innere Schenkel ist etwas breiter, er zelleweistanihremperipherenRandeeinegroße trägt an seinem an dem Dissepiment be- ng h festigten Ende auf einem verengten Halse eine trichterförmig sich erweiternde Oeffnung, das sogenannte Nephro- stom, dessen Lippen mit Cilien besetzt sind. Der äußere Schenkel weist ein engeres Lumen auf, sein Ende zeigt eine rechtwinklige Ab- knickung, die zum Ausführgang wird und durch einen Porus nach außen mündet. Derart gestaltete Ne- phridien sind von zahl- reichen Polychäten be- ätiss. 0 schrieben worden, ihr Fig. 10. Seitenansicht der Urniere eines Süßwasserpulmo- Bau kann sich im naten. Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Meisenheimer, 1899. einzelnen aber dadurch äuß. ö. äußere Oeffnung, ect Ectoderm, ev Endvakuole der Terminal- beträchtlich mehr kom- zelle, k Kern der Riesenzelle, ng Exkretionskanal, tz Terminalzelle, plizieren daß entweder wf Wimperflamme, der Nierenkanal sich in mannigfache Win- Endvakuole auf, die von zahlreichen Exkret- , düngen legt und Erweiterungen zeigt, oder körnchen erfüllt ist, und sendet in das Kanal- ! aber dadurch, daß das Nephrostom sich lumen hinein eine mächtige Wimperflamme. höher differenziert und mächtige, mit Cilien - ev tz Etwas andersartig stellt sich der Bau der Urniere bei den Landpulmonaten dar, hier handelt es sich um lange, vielzellige Röhren, die an ihrem inneren Ende durch eine größere Zahl von Wimperzellen gegen die Leibeshöhle abgeschlossen werden. Ent- wickelungsgeschichtlich sind die larvalen Protonephridien in der Mehrzahl der Fälle auf rein ektodermale Anlagen zurückgeführt worden. 2. Die segmental angeordneten offenen Nephridien der Ringelwürmer. Dem bisher betrachteten geschlossenen Nephridialtypus steht ein zweiter in den gegen die Leibes- höhle offenen Nephridien gegenüber. Der- selbe hat seine typischste Ausbildung bei den Ringelwürmern gefunden, hat sich aber in mannigfach modifizierter Weise auch noch bei zahlreichen höheren Tierformen, die jenen den Ursprung verdanken, erhalten. 2a) Die offenen Nephridien der polychäten Anneliden. Dieselben sind weit allgemeiner verbreitet als die proto- nephridialen Segmentalorgane, wie letztere treten sie in regelmäßiger Aufeinanderfolge paarweise in jedem Segment auf. Den nor- malen Aufbau eines solchen Nephridiums möge dasjenige von Scalibregma in- flatum als herausgegriffenes Beispiel ver- anschaulichen (Fig. 11). Der Gesamtumriß wird gegeben durch eine U-förmig gebogene besetzte Lippen ausbildet. Fig. 11. Offenes Nephridium eines polychäten Anneliden, Scalibregma in- flatum. Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Ashworth, 1902. ngi,2 Nephridialkanäle, nst Nephrostom, p äußere Mündung. Die Segmentalorgane der Polychäten erfahren aber nun noch eine weitere Kompli- kation dadurch, daß mit ihnen sich ein Organ Exkretionsorgane 793 verbinden kann, welches ursprünglich in keinerlei Beziehung zu dem exkretorischen Apparat steht. Es ist dies der Genitaltrichter, der eine besondere segmentale Differenzierung des Cölomepithels darstellt und wohl ur- sprünglich die Aufgabe hatte, die Geschlechts- produkte durch eine innere Trichteröffnung aufzunehmen und durch einen an der äußeren Körperwand gelegenen Porus nach außen zu entleeren. Dieses Verhalten findet sich tat- sächlich noch bei manchen Capitelliden, bei den weitaus meisten Polychäten dagegen gewinnt der Geni- taltrichter Bezieh- spt ungen zu den Ne- phridien, und zwar zu solchen von offenem, wie von geschlossenem (pro- tonephridialem) Ty- pus. Im letzteren Fall stellt der Trich- ter ein mächtiges sackförmiges Organ dar, welches an seinem inneren Ende eine große, mitCilien Fig. 12. Protone- phridium eines poly- chäten Anneliden (Alciopa) mit ver- schmolzenem Geni- taltrichter. Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Goodrich, 1900. est Genitaltrichter, ng Nephridialkanal, sol Solenocyten. Bei * Ver- einigung von Genital- trichter und Nephridial- kanal. zugleich noch die Abfuhr der männlichen und weiblichen Geschlechtsprodukte, die von der Oeffnung des Genitaltrichters aus der Leibeshöhle aufgenommen werden. Noch eingreifender sind die Verände- rungen, welche die offenen Nephridien durch die Verbindung mit dem Genitaltrichter erleiden. Hier erfolgt die Vereinigung stets unmittelbar am Nephrostom, wobei sich dann der Genitaltrichter zunächst noch ziemlich unabhängig vom Nephrostom halten kann, in der Mehrzahl der Fälle aber fest mit dessen Rändern verschmilzt (Fig. 13). Das schein- bar einheitliche Segmentalorgan ist also dann in Wirklichkeit aus zwei ganz ver- schiedenen Komplexen zusammengesetzt, es stellt ein sogenanntes Nephromixium dar. Der sekundär aufgesetzte Genitaltrichter ist in der Regel durch seine mächtigen Lippen, seinen komplizierteren histologischen Aufbau, I seine stärkere Bewimperung leicht von dem '. einfacher strukturierten und engeren Ne- phrostom eines nicht zusammengesetzten Nephridiums zu unterscheiden. Jedes Ne- phromixium besitzt eine doppelte physiolo- gische Funktion, es ist einerseits exkretorisch j tätig und leitet andererseits die Geschlechts- produkte aus der inneren Leibeshöhle nach außen. Eigenartige Umwandlungen kann der Genitaltrichter dann erleiden, wenn er nach Verlust der ursprünglichen äußeren Oeffnung keinen direkten Anschluß an ein Nephridium gewinnt. Er wird dann zu einem sogenannten ciliophagocytären Organ, welches, bald schalen-, bald sackförmig, feste Bestandteile der Cölomflüssigkeit , vor allem die mit Exkretstoffen beladenen leukocytenartigen Elemente aufnimmt und in sich bis zum völligen Zerfall derselben anhäuft. Meist liegen diese ciliophagocytären Organe dann einem protonephridialeiiSegmentalorgan dicht an und letzteres nimmt durch seine Wand hindurch die verflüssigten Exkretstoffe des Fig. 13. Nephro- [ eiliophagoevtären Organs in sich auf. In mixium eines ■V polychäten Anne- liden (Irma lati- frons). Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Good- rich, 1900. est Genitaltrichter, ng Nierenkanal, p äußere Mündung. besetzte Oeffnung aufweist, an seinem ent- gegengesetzten Ende dagegen mit der Mitte des Nephridialschlauches in direkte Verbindung tritt (Fig. 12). Letzterer bleibt in seinem proximalen, die Solenocyten tragenden Ab- schnitt rein exkretorisch tätig, mit seinem äußeren distalen Teil aber übernimmt er nun neben der Entleerung der Exkretstoffe diesen Fällen hat also nun der Genitaltrichter seine ursprüngliche Funktion aufgegeben und ist zu einem rein exkretorisch tätigen Organ geworden. 2b) Die offenen Nephridien der Oligochäten. Als Ausgangspunkt der- selben muß ein einfaches Nephridium gelten, bei welchem ein Nephrostom aus der Leibes- höhle in einen gewundenen Kanal über- führt, der seinerseits nach kürzerem oder längerem Verlauf durch einen Porus sich nach außen öffnet. Hieraus haben sich dann durch hochgradige Differenzierungen von Nephrostom und Leitungswegen die kom- plizierten Nephridien der Regenwürmer ent- wickelt. Das Nephridium von Lumbricus (Fig. 14) stellt sieh in Form von drei Schleifen 794 Exkretionsorgane dar, die völlig von eigenartig modifizierten, blasigen und gleichfalls exkretorisch tätigen Peritonealzellen umhüllt werden. Losgelöst von den drei Schleifen erscheint einzig der Trichterabschnitt, der als präseptaler Ab- schnitt vor dem vorhergehenden Dissepiment gelegen ist. Er stellt im wesentlichen das aus zahlreichen bewimperten Zellen zusammen- gesetzte Nephrostom dar, dessen obere Lippe hufeisenförmig gestaltet ist. Das Nephrostom führt über in den Nierenkanal, der das Dissepiment durchsetzt und dann einen sehr komplizierten Weg beschreibt. Er durchzieht zunächst den ersten Schenkel von Schleife I, weiter in rückläufiger Be- Fig. 14. Schematische Darstellung des Nephridiums eines Regenwurms. Aus J. Meisenheimer, 1. c. Nach Maziarski, 1905. I — III die drei Hauptschleifen, a Ampulle, bg Peritonealhülle, dk Drüsenkanal, ebl End- blase, nst Nephrostom, s Dissepiment, sk Schlei- fenkanal, stk Stäbchenkanal, wk Wimperkanal. wegung auch den zweiten Schenkel der gleichen Schleife, tritt in Schleife II über und bildet hier eine lange bis fast zur Spitze der Schleife II reichende Schlinge, kehrt wieder zurück in Schleife I und durchläuft deren Schenkel in umgekehrter Richtung unter starker Schlängelung zum zweiten Male. Dieser Abschnitt des Nierenkanals möge als Schleifenkanal bezeichnet werden, seine Wände sind dünn und zart und zumeist ohne Cilien. Unter Erweiterung seines Lumens geht der Schleifenkanal über in den Wimper- kanal, der in gerader Richtung die Schleife II i von ihrer Basis bis zur Spitze durchzieht. Seine Wandung besteht aus stärker ent- wickelten, von hellbräunlichen Körnchen erfüllten Zellen, sein inneres Lumen ist dicht von Cilien ausgekleidet. An der Spitze der Schleife II erweitert sich der Wimperkanal zu einer von kleinen bakterienartigen Stäb- chen auf der Innenseite besetzten Ampulle, von dieser geht ein weiter, von Drüsenzellen ausgekleideter Drüsenkanal ab, der unter allmählicher Verengung die Schleife zurück- läuft, die beiden Schenkel der Schleife I durchzieht und endlich in die Basis aller drei Schleifen, welche von dem peritonealen Aufhängeband des ganzen Organs gebildet wird, eintritt. Von hier gelangt er in Schleife III und wird nun als Stäbchenkanal be- zeichnet, da hier in die Basis seiner Wand- zellen zahlreiche körnige Filamente einge- lagert sind. Der Stäbchenkanal mündet dann endlich in die End blase ein, deren Epithel von einem Belage gitterartig sich durchkreuzender Muskelfasern umhüllt wird und die schließlich in einer kleinen Ein- senkung der Epidermis nach außen mündet. Die meisten Regenwürmer besitzen ähn- lich gebaute Nephridien. Von den besonderen Modifikationen möge nur die erwähnt werden, bei der es in jedem Segment an Stelle eines einzigen Nephridienpaares zur Ausbildung sehr zahlreicher, aber bedeutend kleinerer Nephridien, sogenannter Mikronephridien, kommt. Solche treten namentlich bei den großen Regenwürmern der Tropen auf, sie leiten sich aus dem Zerfall einheitlicher Anlagen ab, von denen in jedem Segment ursprünglich nur ein einziges Paar vorhanden ist. Erwähnt sei endlich noch, daß auch das Nephridium der Branchiobdelliden in seinem Aufbau sich durchaus auf das Oligochäten- nephridium zurückführen läßt, so daß diese Wurmfamilie wohl den Oligochäten näher steht als den Hirudineen, mit denen man sie früher vielfach vereinigte. 2c) Die Nephridien der Hirudineen. Einen durchaus eigenartigen Bau besitzen die segmental angeordneten Nephridien der Hirudineen. Der eigentliche Drüsenabschnitt zeigt mehrfache Schlingenbildung und wird in seinem ganzen Verlaufe durchzogen von Exkretionsorgane 795 einem intrazellulären Kanal. Nach außen führt er gewöhnlich durch eine geräumige Endblase, an seinem inneren Ende ist er blind geschlossen. Im Bereiche dieses Endes sind die Drüsenzellen häufig zu mächtiger Größe angeschwollen, und es zeigt sich ferner der Exkretionskanal vielfach verästelt oder netzartig aufgelöst. An das blindgeschlossene Ende schließt sich dann weiterhin in vielen Fällen noch ein besonderes trichterförmiges Wimperorgan an. Um für dessen Beschreibung ein besonderes Beispiel herauszugreifen, so läßt dasselbe bei Clepsine bioculata (Fig. 15) u/~ Fig. 15. Wiinperorgan eines Blutegels (Clepsine bioculata). Aus J. Meisenhei- mer, 1. c. Nach Graf, 1899. dr Endzelle des drüsigen Exkretionskanals, kr Kronenzellen, uv Leukocyten, rc Kapsel, w Wand derselben, st StielzeHe. eine bewimperte Trichterkrone von einer blasig aufgetriebenen Kapsel unterscheiden, die beide durch einen Stiel miteinander verbunden sind. Die Trichterkrone wird aus zwei, am äußeren Rande etwas umge- schlagenen Zellen gebildet, welche auf ihrer Oberfläche schaufeiförmig ausgehöhlt und stark bewimpert erscheinen. Sie führen über in einen gleichfalls bewimperten intra- zellulären Kanal, der von einer einzigen Zelle gebildet wird und weit in die blasige Kapsel mit seinen Enden vorspringt. Die Wand der Kapsel selbst besteht aus einer dünnen Endothelhülle, sie legt sich dicht dem blind- geschlossenen Ende des Drüsenkanals an, ohne daß es jemals zu einer Kommunikation der beiderseitigen Innenräume käme. — Der Bau dieser Wimperorgane kann im einzelnen wohl variieren, prinzipiell aber ist er stets der gleiche, wie ihre Krone sich auch stets in Abschnitte der sekundären Leibeshöhle öffnet. Von hier nehmen sie mit der Trichteröffnung die mit Exkret- stoffen beladenen lymphoiden Blutkörperchen auf, lagern sie in der Kapsel ab und führen ihren Zerfall herbei bis zur vollkommenen flüssigen Auflösung. Und diese Exkret- flüssigkeit wird dann auf osmotischem Wege von den Wänden des drüsigen Exkretions- kanals aufgenommen. Bei einzelnen Formen, wie beispielsweise bei Hirudiniden, können übrigens diese Wimperorgane ihre exkre- torische Funktion völlig aufgeben und zu Bildungsstätten von Blutkörperchen werden. Die Exkretstoffe werden dann den Nephridien durch besondere Gefäße zugeführt. Ihrem morphologischen Wert nach sind die Wimper- organe nicht als Nephrostome aufzufassen, sie sind vielmehr morphologisch gleich zu setzen den umgewandelten Genitaltrichtern der Polychäten, stellen also ciliophagocytäre Organe dar. 2d) Die Exkretionsorgane der Echiuriden und Sipunculiden. Beiden Echiuriden hat eine starke Reduktion in der Zahl der Nephridien stattgefunden, was übrigens auch schon bei manchen Poly- chäten der Fall ist. Im übrigen bilden sie blasenförmige Organe, die durch einen kleinen Porus nach außen münden und in die Leibes- höhle sich mit einem kompliziert gebauten Trichter öffnen. Sie dienen zugleich als Ausführgänge der Geschlechtsprodukte, stellen also wohl Nephromixia dar. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei den Sipunculiden, wo indessen die Reduktion noch weiter auf ein Paar von Nephridien oder gar auf ein einziges unpaares Nephridium fortgeschritten ist. Bei ihnen treten aber ferner wiederum Homologa der ciliophago- cytären Organe in den sogenannten Urnen auf, stark bewimperten Gebilden, die teils frei in der Leibeshöhle umherschwärmen, teils auf einer Unterlage, wie beispielsweise auf Gefäßwandungen fixiert sind. 2e) Die Urnieren der Oligochäten und Hirudineen. Dieselben zeigen keinerlei primitive Merkmale mehr, stellen sich viel- mehr in jeglicher Hinsicht als frühzeitig differenzierte Teile des Nephridialapparates der erwachsenen Würmer dar. Demgemäß bestehen sie bei den Regenwürmern aus offenen, mit mächtigen Wimperflammen versehenen Kanälen, bei den Blutegeln aus dünnen, auf sich selbst zurückgewundenen geschlossenen Schläuchen, ohne jegliche Spur einer Flimmerung im Inneren. 796 Exkretionsorgane 3. Die offenen Nephridien der Brachio- poden. Die Nephridien der Brachiopoden sind zweifellos auf offene Segmentalorgane zurückzuführen, treten aber zumeist nur in einem, seltener in zwei Paaren auf. Sie bestehen stets aus einem kürzeren oder längeren Nephridialschlauch, der von einem flimmernden Zylinderepithel ausgekleidet ist, sowie aus einem weiten, gleichfalls stark bewimperten Trichter, der sich in die Leibes- höhle öffnet. Der Nephridialschlauch ist häufig intensiv gefärbt und mündet durch einen Porus nach außen. Das ganze Organ dient zugleich als Geschlechtsausführgang. 4. Die modifizierten Segmentalorgane der Gliedertiere. 4 a) Schalen- und Antennendrüse der Krebse. Gleichfalls noch ziemlich unmittelbar lassen sich die genannten Exkretkmsorgane der Krebse an die typischen Segmentalorgane der Glieder- würmer anschließen. Beide sind je in einem Paar vorhanden, und zwar gehört die Antennendrüse dem Segment der 2. Antenne, die Schalendrüse dem der 2. Maxille an. Den Vorfahren des Krebsstammes kamen beide Organe wohl gleichzeitig zu, bei den heute lebenden Vertretern derselben ist ihre Verteilung eine derartige, daß die Antennendrüse im wesentlichen das Exkre- tionsorgan der höheren Krebse, der Malako- straken, darstellt, während die Schalendrüse vorzugsweise bei den niederen Krebsen, den Entomostraken, sich findet. Indessen ist diese Regel nicht ganz streng durchgeführt. Bei den Entomostraken tritt wenigstens auf Larvenstadien die Antennendrüse auf und hält sich bei einzelnen Formen, wie gewissen Daphniden, zeitlebens als rudimentäres Ge- bilde ; und andererseits findet sich die Schalen- drüse auch bei Malakostraken, bei Isopoden, in voller Ausbildung, bei anderen, wie N e b a 1 i a und Decapodenlarven , in mehr oder weniger rudimentärem Zustande. Der Bau beider Exkretionsorgane ist im wesentlichen der gleiche, drei Abschnitte lassen sich überall an ihnen unterscheiden: das Endsäckchen, der Nierenkanal und der Ausführgang. Am einfachsten liegen die Verhältnisse bei der Schale ndrüse der Entomostraken (Fig. 16 A). Am innersten Ende findet sich das blindgeschlossene er- weiterte Endsäckchen, gebildet von einer regelmäßigen Lage niederer Epithelzellen. Durch einen verengten Hals geht das End- säckchen über in das zumeist in mehrere Schleifen gelegte Nierenkanälchen, dessen Wandzellen häufig bei fehlenden Zellgrenzen eine Art Syncytium darstellen und eine streifige Struktur aufweisen, die man in einzelnen Fällen auf einen wabigen Aufbau des Protoplasmas zurückgeführt hat. Es verliert sich diese streifige Struktur zumeist in dem äußeren Abschnitt des Nierenkanäl- chens, welches schließlich in den eigentlichen Ausführgang übergeht, der seinerseits einer Einfaltung der äußeren Epidermiszellen seine Fig. 16. A Schalendrüse eines Phyllo- poden (Limnadia lenticularis). Nach M, Nowikoff, Zeitschr. f. wiss. Zool., 78. Bd., 1905; B Schalendrüse einer Assel (Por- cellio). Nach A. Ter-Poghossian, Zeitschr. f. Naturwiss., 81. Bd., 1909. ag Ausführgang, bl Harnblase, es Endscäckchen, nk Nierenkanäl- chen, z Trichterzellen. Entstehung verdankt. Die Ausmündung erfolgt in der Umgebung der 2. Maxille. Das ganze Organ liegt in der Kopfregion und zwar innerhalb der Schalenduplikatur, welche den Körper vieler Entomostraken i umschließt, daher auch der Name. Zahlreiche Konnektivfasern befestigen Endsäckchen wie | Nierenkanälchen an den umgebenden Or- j ganen und an der Hypo dermis. Rückbil- | düngen mannigfacher Art erleidet die Schalen- drüse schon innerhalb der Gruppe der Entomostraken bei parasitischen Copepoden und Cirripedien. Das Gesagte gilt zunächst im wesent- lichen für Entomostraken. Die Schalen- drüse der Isopoden (Fig. 16 B) zeigt in ihrem Bau noch eine weitere wichtige Differen- zierung. Zwar ist auch hier ein wohlent- wickeltes Endsäckchen von länglicher Gestalt sowie ein bald mehr, bald weniger zahlreiche Schlingen bildender Nierenkanal vorhanden, aber weiter liegt an der Uebergangsstelle dieser beiden Abschnitte ein Kranz von vier kreuzweise gestellten Zellen, die einen engen Kanal zwischen sich einschließen und tief in das Lumen des Nierenkanälchens hinein- ragen. Ein elastisches oder muskulöses Band umzieht diesen Zellenring, der wohl funktionell einen Klappenapparat darstellt, dazu bestimmt, den Uebertritt von Exkreten aus dem Nierenkanälchen in das Endsäckchen zu verhindern. Es sind solche Uebergangs- Exkretionsorgane 797 zellen übrigens auch bei Copepoden gefunden worden. Eine weitere Besonderheit der Isopoden-Schalendrüse bestellt darin, daß das Nierenkanälchen vor dem Uebergang in den Ausführgang eine ampullenartige Er- weiterung erfährt, als eine Art Harnblase aufweist. Die Antennendrüse gleicht in ihrer einfachsten Form, so wie sie sich etwa bei den Schizopoden darbietet, durchaus der Schalendrüse. Auf ein aus niederen Zellen zusammengesetztes Endbläschen folgt ein langes gewundenes Harnkanälchen mit strei- fenartiger Struktur seiner Zellelemente, dieses erweitert sich zu einer Harnblase und mündet schließlich durch einen kurzen Ausführgang am Basalglied der 2. Antenne aus. Auch der nämliche, aus vier Zellen bestehende Klappen- apparat ist vorhanden. Das Organ liegt als Ganzes im Bereich des vorderen Cephalo- thorax zu beiden Seiten des Kaumagens. Einen sehr hohen Grad von Kompli- kation erreicht aber dann die Antennen- drüse bei den dekapoden Krebsen, so daß der ursprüngliche Bauplan häufig kaum Fig. 17. A Antennendrüse eines Bra- ch yuren (Stenorhynchus phalangium); B des- gleichen von einem Macruren (Arctus ursus). Nach P. Marchai, Arch. Zool. exper. et gener. (2. serie) tome X, 1892. ag Ausführ- gang, bl Harnblase, es Endsäckchen, nk Nieren- kanälchen. noch zu erkennen ist. Gleichzeitig nimmt sie dabei sehr bedeutend an Umfang zu und füllt den vorderen Teil des Cephalothorax fast völlig aus. Immerhin lassen sich der Analyse ihres Baues die drei uns bekannten Abschnitte durchaus zugrunde legen (Fig. 17). Das Endsäckchen wird hier in der Regel als Sacculus bezeichnet. Es stellt in nur wenigen Fällen ein einfaches Bläschen dar, wie bei manchen Krabben (Fig. 17 A), zumeist ist es vielfach gefaltet (Fig. 17 B) oder sein Inneres durch Scheidewände in zahlreiche Unterabteilungen zerlegt. Die Wandung bildet ein ziemlich hohes Epithel, dessen Zellen von Vakuolen und Granula- tionen erfüllt sind. Durch eine kleine Oeff- nung mündet der Sacculus in einen unter ihm gelegenen umfangreichen Drüsenab- schnitt, in das sogenannte Labyrinth, welches nichts anderes darstellt, als den inneren Ab- schnitt des ursprünglichen Nierenkanälchens, nur daß dieser jetzt stark erweitert ist und sogar vielfach durch Scheidewände und Bälkchen in seinem Inneren in ein Maschen- werk zerlegt sein kann. Häufig senkt sich ferner die Saceuluswand mit zahlreichen verästelten Aussackungen von oben her tief in die Wand des Labyrinths ein (Fig. 17 B). Das Epithel des Labyrinths besteht ganz wie bei den einfachen Nierenkanälchen aus den charakteristischen gestreiften Zellen. Der distale Abschnitt des Nierenkanälchens ist zu einer dünnwandigen Blase umge- wandelt, die meist bauchig aufgetrieben er- scheint und eine ganz ungeheure Ausdehnung gewinnen kann, indem von einem zentralen Sacke aus zahlreiche lappenartige Fortsätze ausgehen (Fig. 17 A), die sich zwischen Magen, Leber, Kaumuskeln und Speiseröhre einschieben und dieselben überdecken. Bei den Anomuren erreicht die Blase wohl das Maximum ihrer Entwicklung. Sie sendet hier vielfach anastomosierende Fortsätze zwischen die Organe hinein und erstreckt sich mit einer hinteren Aussackung durch das ganze Abdomen bis zum Hinterleibsende. Bei den Macruren verschmelzen häufig die beiderseitigen Blasen zu einem einzigen unpaaren System mächtiger Blasenräume. Histologisch weisen die abgeplatteten Wand- zellen der Blase ebenfalls eine streifige Struktur auf. Schließlich geht der End- abschnitt in einen kurzen Ausführgang über, , der im Bereiche der Basalalieder der 2. An- tenne ausmündet. Die Mündung selbst ist häufig mit einem besonderen beweglichen Kalkstückchen, dem Operculum, versehen, welches die Entleerung des Harns reguliert. Wohl mit am kompliziertesten ist die Antennendrüse des Flußkrebses gebaut, ge- wöhnlich infolge ihrer vorwiegend grünlichen Färbung als „grüne Drüse" bezeichnet, Sacculus und Labyrinth sind in zahlreiche komplizierte Unterabteilungen zerlegt, die sich schalenförmig übereinander lagern und schließlich wiederum in eine ovoide Blase 798 Exkretionsorgane übergehen, die ihrerseits unter trichter- förmiger Verengung sich in den Ausführgang fortsetzt. Die Blutversorgung erfolgt bei den ein- facher gebauten Typen der Crustaceen- nephridien dadurch, daß das Organ von allen Seiten her von der Blutflüssigkeit umspült wird und höchstens um Endsäckchen und Nierenkanälchen sich besondere Blutlakunen ausbilden. Bei den höheren Krebsen wird dagegen die Blutversorgung durch besondere Gefäße geregelt, von denen das wichtigste ein Seitenast der Antennenarterie ist, der in den Sacculus eindringt. Die Gefäße gehen schließlich inBlutlakunen über, die namentlich den Sacculus in mächtiger Ausdehnung um- spülen, aber auch um das Labyrinth ein reich entfaltetes Netzwerk bilden. Sowohl Endsäckchen (Sacculus) wie Nierenkanälchen (Labyrinth) sind an der Exkretion beteiligt. Der in der Blase an- gesammelte Harn stellt eine wässerige Flüssig- keit dar, die eine besondere organische Säure enthält. Unter den mannigfachen morphologischen Deutungsversuchen der Crustaceenniere darf jetzt wohl zweifellos die Deutung allein noch als berechtigt angesehen werden, welche unter Heranziehung des Annelidennephri- diums in dem Endsäckchen ein reduziertes Cölom sieht und in dem Nierenkanälchen das Homologon des eigentlichen Segmental- organs. Diese Deutung wird wesentlich gestützt durch die Entdeckung der eigen- artigen Verschlußzellen am Uebergang des Endsäckchens in das Nierenkanälchen. Ein Vergleich dieser Zellen mit den bewimperten Endzellen des Annelidennephridiums liegt trotz fehlender Wimperflammen sehr nahe. Es finden sich übrigens solche Zellen, wie hier noch bemerkt sein mag, nicht nur bei den oben geschilderten einfacheren Typen, sie scheinen auch an den entsprechenden Stellen der kompliziert gebauten Dekapoden- niere in Form besonders strukturierter großer Zellen aufzutreten. Auch entwickeln ngs- geschichtlich scheint sich die eben angeführte Deutung stützen zu lassen, insofern bei mehreren Dekapoden ein doppelter Ur- sprungsort der Niere nachgewiesen ist. Der Sacculus entsteht aus mesodermalen Ele- menten, das Labyrinth dagegen und die ausführenden Abschnitte aus nach innen verlagerten Ektodermzellen. 4b) Nephridium von Limulus. Auch an diesem lassen sich noch unschwer die gleichen Abschnitte wie an der Crustaceen- niere feststellen (Fig. 18). Die Endsäckchen sind hier in größerer Zahl vorhanden, und zwar jederseits vier. Sie liegen im Be- reich des 2. bis 5. Extremitätenpaares in die Muskulatur des Cephalothorax ein- gebettet und stellen lappenartige Gebilde dar, von denen das erste am kleinsten, das letzte am größten ist. Ihr Inneres bildet ein Netzwerk stark verzweigter, von einem abgeplatteten Epithel ausgekleideter Röhr- chen. Embryonal werden diese Endsäckchen in noch größerer Zahl angelegt, insofern dann auch dem Segment des 1. und 6. Extremitätenpaares solche zukommen, aber bald wieder schwinden. Ventral- wärts werden die vier Endsäckchen durch einen längsverlaufendenVerbindungsgang ver- einigt, der aus einem groben Netzwerk anastomosierender Röhren besteht und in Fig. 18. Coxaldrüse von Limulus poly- phemus. Nach W. Patten und A. P. Hazen, Journ. of Morphol., Vol. 16, 1900. ag Ausführ- gang, nk Nierenkanal, es Endsäckchen, vg Ver- 1 bindungsgang derselben. seinem hinteren Abschnitt sich in einen von platten Zellen umschlossenen Vorraum erweitert. An letzteren schließt sich dann erst der eigentliche Nierenkanal an. Derselbe beginnt mit dünnem Hals, bildet einen vielfach ge- wundenen, nach vorn bis zum vordersten Endsäckchen hinziehenden Knäuel, biegt dann unter sehr beträchtlicher Erweiterung rechtwinklig nach hinten um und läuft als gerades Rohr bis zum 4. Endsäckchen zurück. Ein erneuter scharfer Knick führt ihn nach kurzem Verlauf zu dem eigentlichen Ausführgang hin. Letzterer besitzt gemäß seiner ektodermalen Herkunft dicke, von Chitin ausgekleidete Wände, wogegen der eigentliche Nierenkanal von einem kubischen Epithel ohne deutliche Zellgrenzen um- schlossen wird. Die Ausmündung erfolgt an der Basis des 5. Beinpaares. Entwickelungsgeschichtlich entstehen die Endsäckchen aus Wandzellen der Mesoderm- Exkretionsorgane 799 somiten ihres zugehörigen Segmentes, der Nierenkanal dagegen allein aus einer Aus- stülpung des im Segment der 5. Extremi- tät gelegenen somatischen Mesoderms. Er wächst von hier lang röhrenförmig aus und verschmilzt ferner mit einer ihm entgegen- kommenden Ektodermeinstülpung. 4c) Coxaldrüsen der Arachnoideen. Die Coxaldrüsen sind stets nur in einem Paar vorhanden und stellen einfache oder ge- wundene, im Cephalothorax gelegene Schläuche dar, an denen die morphologische Gliederung in drei Abschnitte nicht selten noch deutlich zu erweisen ist. So beim Skorpion, wo das Organ mit einem End- säckchen beginnt, das aus zahlreichen ver- zweigten Röhrchen sich zusammensetzt, dünne von einem Plattenepithel überzogene Wandungen besitzt und allenthalben von Bluträumen durchzogen wird. Die Räume dieser Rö lirchen gehen unter Vermitteln ng einer Region undifferenzierter körniger Zellen kontinuierlich über in den weiten Nieren- kanal, der in vielfach gewundenem Knäuel das Endsäckchen einschließt. Seine Wandung zeigt wiederum wenigstens in der peripheren Plasmazone deutliche Querstreifung. Es schließt sich dann endlich der eigentliche Ausführgang an, der an der Basis der 5. Ex- tremität (== 3. Beinpaares) ausmündet. Besonders klar zu erkennen ist ferner die Dreiteilung derCoxaldrüse beiPhalangiden (Afterspinnen). Auch hier ist ein inneres, in diesem Falle sackförmig erweitertes End- bläschen zu unterscheiden, weiter ein langer, zum Teil knäuelartig aufgewundener Nieren- kanal und endlich ein ausführender Abschnitt, der noch dazu eine besondere Harnblase entwickelt. Die Ausmündungsstelle liegt auch hier im Bereiche des 3. Beinpaar- segmentes. Nachgewiesen sind Coxaldrüsen ferner ganz allgemein bei Pseudoskorpionen, Pedi- palpen und Solpugiden, bei letzteren vor allem darin von dem gewöhnlichen Ver- halten abweichend, daß sie sich hinter dem 1. Beinpaar nach außen öffnen sollen. Unter den echten Spinnen sind Coxaldrüsen in typischer Ausbildung nur noch bei den Tetrapneu mones (Mygaliden, Atypus) anzu- treffen, wo sie jederseits im Cephalothorax vielfach gewundene Drüsenmassen darstellen und an der Basis des 3. Beinpaares aus- münden. Bei den übrigen Spinnen, bei den Dipneumones, sind Coxaldrüsen nur noch bei jungen Tieren mächtiger entwickelt, münden aber hier stets wie bei den Solpu- giden an der Basis des 1. Beinpaares aus. Bei alten Tieren ist das Organ rückgebildet. In ihrer höchsten Entfaltung tritt die Coxal- drüse unter den genannten Spinnen bei den Ageleniden auf, am stärksten reduziert ist s bei den Epeiriden. Bei den Milben (Acarinen) muß das Vorhandensein von Coxaldrüsen als durchaus zweifelhaft an- gesehen werden. Wie bei den Krebsen und bei Limulus so sind auch bei den Spinnen die Exkretions- organe als Ueberreste ursprünglich segmental angeordneter Nephridien anzusehen. Diese Auffassung wird dadurch bestätigt, daß hier bei den Spinnen, ähnlich wie bei Limulus, rudimentäre Anlagen von Coxaldrüsen in den Segmenten aller vier Beinpaare ange- troffen werden. Eine unmittelbare Homologie der geschilderten Organe von Krebsen, Limulus und Spinnen besteht dabei wohl nicht, da sie im einzelnen, sogar innerhalb der Gruppe der Spinnentiere selbst, wechseln- den Segmenten angehören. Entwickeln ngsgeschichtlich geht beim Skorpion der Nierenkanal aus der somatischen Wand des im 3. Beinpaarsegment gelegenen Cölomsäckchens hervor. 4d) Nephridien von Peripatus. In sehr viel weniger stark modifizierter Form begegnen wir dagegen Segmentalorganen bei Peripatus, jener ursprünglichen Form, welche den Uebergang von Anneliden zu Tausendfüßen und Insekten vermittelt. Zu- nächst kommt hier wieder jedem Segment des gleichmäßig gegliederten Körpers je ein Paar solcher Organe zu, mit einziger Ausnahme der vordersten und hintersten Segmente. An jedem Segmentalorgan (Fig. 19) -1)1 Fig. 19. Nephridiuni von Peripatus capensis. Nach F. M. Balfonr, Quart. Journ. nucrosc, science. N. S., Vol. 23, 1883. Etwas modifiziert, ag Ausführgang, bl Harnblase, es Endsäckchen, nk Nierenkanal, tr Trichter. lassen sich fünf Abschnitte unterscheiden. Zunächst der äußeren Körperoberfläche liegt der von kleinen Epithelzellen gebildete Ausführgang, der in einer Grube an der Basis der Beine ventralwärts nach außen führt. Nach innen setzt er sich fort in eine erweiterte Sammelblase, deren Wandung 800 Exkretionsorgane aus sehr stark abgeplatteten Zellen besteht. Aus der Blase entspringt sodann ein mehrfach gewundener Kanal, der eigentliche Nieren- kanal, dessen Wandzellen in den einzelnen Abschnitten bald dichter, bald weiter ge- stellt sind, bald klein und kubisch, bald groß und abgeflacht erscheinen. Alle sind von zahlreichen Exkretkörnchen erfüllt. Der Nierenkanal verengt sich schließlich und geht dann unter plötzlicher Erweiterung in einen neuen Abschnitt, eine trichterartige Bildung über, deren dicke Wände aus einem mehr- schichtigen Zylinderepithel gebildet werden. An seinem inneren Ende öffnet sich der Trichter, der nie auch nur eine Spur von Be- wimperung zeigt, mit erweitertem Lippenrand in den letzten Abschnitt des Nephridiums, in den Endsack, der eine dünnwandige Blase darstellt und morphologisch als ein abge- gliederter Teil der Leibeshöhle aufzufassen ist. In den einzelnen Segmenten können die Nephridien mancherlei Umbildungen er- leiden. Im ersten und zweiten Körper- segment sind sie ganz rudimentär, im dritten wandeln sie sich zu den Speicheldrüsen des erwachsenen Tieres um, im Genital- segment werden sie zu den Geschlechts- gängen. Entwickeln ngsgeschichtlich geht der Ausführgang aus einer Einstülpung des Ektoderms hervor, während das ganze übrige Nephridmm aus dem Cölom entsteht. In jedem Segment zerfällt das beiderseitige Cölomsäckchen in einen dorsalen und einen ventrolateralen Abschnitt. Der erstere erfährt eine vollständige Auflösung, der letztere wandelt sich unmittlebar in die oben beschriebenen Abschnitte des Nephri- diums, von der Harnblase bis zum End- sack um. Das ganze Exkretionsorgan von Peripatus ist durchaus homolog dem Nephridium der Anneliden, dessen einzelne Bestandteile noch sämtlich vorhanden sind. 5. Die Nieren der Mollusken. Auch die Nieren der Mollusken werden vielfach un- mittelbar von den Segmentalorganen der Anneliden abgeleitet, und zwar vergleicht man dem Cölomsäckchen das Perikard, in welches stets der innerste Endabschnitt der Niere mit einem Wimperkanal einmündet, dem Nephridialkanälchen den eigentlichen Nierensack. Am schwersten mit dieser Auf- fassung in Einklang zu bringen sind die Tatsachen der Ontogenie, auf welche sich mancherlei Einwände gegen diese Auffassung gründen. Die Nieren der Mollusken sind ursprüng- lich stets in einem Paar vorhanden, sekundär kann aber bei abgeleiteten Typen durch Reduktion der einen Niere ein einseitig gelagertes unpaares Organ gebildet werden. Alle Molluskennieren stimmen ferner in ihrem Bau insofern überein, als sie konstant zwei Oeffnungen ihres sackförmigen Haupt- abschnittes aufweisen. Die eine derselben ist als Perikardialnierenöffnung nach dem Perikard hin gerichtet, die zweite führt als äußere Mündung nach außen. Wir beginnen mit den primitivsten Formen, mit einem Vertreter der Amphineuren, mit Chiton (Fig. 20). Die Niere jeder Seite Fig. 20. Nierensystem von Chiton. Aus A. Lang, Lehrbuch der vergl. Anatomie der wirbellosen Tiere. Mollusca. 2. Aufl., bearbeitet von K. Hescheler, 1900. af After, k Kiemen, m Mund, n1_3 die drei Nierenschenkel, na Nieren- ausführgang, np Perikardialnierengang, pc Peri- card. besteht aus einem Y-förmigen Kanal, dessen längerer Schenkel nach vorn gerichtet ist und hier blind endet, während die beiden kürzeren, im hinteren Körperabschnitt ge- legenen Schenkel die beiden charakteri- stischen Nierenöffnungen tragen. Und zwar öffnet sich der eine direkt in das gleich- falls im hinteren Körperabschnitt befindliche Perikard, der andere zeigt eine sackförmige Erweiterung seiner mittleren Partie, von der dann der kurze Ureter ausgeht. In alle drei Schenkel münden vielfach gelappte Kanälchen ein, die besonders in der vorderen Körperregion sehr stark entwickelt sind. Durch Reduktion des vorderen Schenkels kann die Gestalt der Niere vielfach mehr V-förmig werden, dazu können noch mannig- fache Komplikationen durch Ausbildung von Nebenschläuchen hervorgerufen werden. Exkretionsorgane SOI Ausgekleidet ist die Niere in allen ihren Teilen von einem kubischen Flimmer epithel, in dessen Plasma zahlreiche Vakuolen und Harnkügelchen gelegen sind. Auch bei den Muscheln ist die Niere (hier, namentlich früher, gewöhnlich als Bo- janussches Organ bezeichnet) noch durchaus paarig und symmetrisch zu beiden Seiten des Körpers gelagert. In ihrer einfachsten Form stellt sie einen glatt wandigen, U- förmig geknickten Schlauch dar, an dessen einem Zipfel die Perikardialnierenöffnung und an dessen anderem Ende die äußere Mündungsstelle gelegen ist. Zumeist er- fahren die beiden Nierenschenkel dann aber noch weitere Komplikationen. So auch bei unserer Teichmuschel, Anodonta (Fig. 21). riva drüsigen Epithel, gleichmäßig lange langer Cilien trägt. Ihre Fig. 21. Nierensystem der Teichmuschel (Anodonta). NachW. M. Rank in, Jen. Zeitschr. f. Naturwiss., 24. Bd., 1890. nlt , die beiden Nierenschenkel, na Nierenausführgang, np die beiden Enden des Perikardialnierenganges, pc Perikard. Der innere Schenkel (n,) entwickelt, sich zu dem allein sekretorisch tätigen Nierensack, dessen Wand zahlreiche, in das Innere vor- springende Falten aufweist. Ueberzogen ist diese Wand von einem dessen Zellenelemente Cilien tragen und im Inneren von dunkel grünen oder braunen Exkretkörnchen er- füllt sind. Vom Vorderende dieses Nieren- sackes geht der mit kurzen Cilien besetzte Perikardialnierengang ab, der direkt in das Pei^jkard einmündet und an seinem gegen die Niere gewendeten Abschnitt ein Büschel Bewegung erzeugt eine lebhafte nach der Niere hin gerichtete Strömung. Das Hinterende des Nierensackes biegt um in den dorsal und nach außen von ihm gelegenen Nierengang (n2), der hinten erweitert und in mehrere Kammern zerlegt ist, nach vorn hin aber sich beträchtlich verengt. Histologisch unterscheidet sich der Nierengang von dem Nierensack vor allem dadurch, daß seine Wände glatt sind und daß seinen Epithelzellen die Einlagerungen von Exkretkörnchen fehlen. Im vordersten Bezirk verschmelzen ferner bei Anodonta die beiderseitigen Nierengänge in der Mediane miteinander, dennoch aber gibt jeder ein besonderes, schräg nach außen und abwärts gerichtetes kurzes Rohr als eigentlichen Nierenausführgang ab, der jederseits zwischen den Lamellen der äußeren Kiemen nach außen mündet. Für die Niere der Gastropoden bildet das Ausgangsstadium gleichfalls ein Paar symmetrisch gelegener Organe, die beiderseits vom Enddarm in die Mantelhöhle ausmünden und die ferner je durch eine innere Oeffnung mit dem Perikard kommunizieren. In Ver- bindung mit der asymmetrischen Aufwindung des Schneckenkörpers beginnt aber die Niere der einen Seite, und zwar die vor der Torsion linke, sich zu reduzieren und schließ- lich ganz zu schwinden. Bei niederen Prosobranchiern sind noch zwei Nieren vorhanden, die eine freilich bereits als stark rückgebildetes Organ. Dies zeigt beispiels- weise Patella (Fig. 22), bei welcher Schnecke ed--\/- Fig. 22. Nierensystem eines Proso- branchiers (Patella). Aus H. Simroth, Gastro poda prosobranchia, in Bronns Klassen und Ordnungen des Tierreichs, 3. Bd., Mollusca, II. Abt., 1896 bis 1907. af After, ed Enddarm pc Perikard , pn Perikardialnierenüffnungen, In linke Niere und deren Ausführgang (Inj), rn rechte Niere mit Ausführgang (rm). wohl beide Nieren noch entwickelt sind, die linke aber an Umfang ganz außerordent- lich gegen die rechte zurücktritt. Beide Nieren besitzen aber noch einen besonderen Ausführgang, weisen ferner noch je einen wohlentwickelten Perikardialnierengang auf. Beide sind noch funktionierend und im Inneren von voluminösen, mit Konkretionen erfüllten Nierenzellen ausgekleidet. Bei den höheren Prosobranchiern, denMonotocardiern, ist dann die Niere stets unpaar und stellt hier eine geräumige, vom Nierenepithel ausgekleidete Tasche dar. Auch bei Opistho- branchiern und Pulmonalen ist stets nur Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 51 8i i'j Exkretionsorgane eine einzige Niere vorhanden, ihr Verhalten sei etwas genauer von unserer Weinbergs- schnecke geschildert (Fig. 23). Sie liegt hier als ein gelblich- bis grauweiß gefärbtes Organ im hinteren Abschnitt der Lungen- höhle. Der eigentliche Nierensack ist im : Mantelhöhle, also mit der Außenwelt kom- I munizieren. Die Wandung der Nierensäcke ist zum größeren Teile glatt und von einem platten Epithel überzogen ; nur an der vorderen Wand, wo die großen, zum Herzen zurück- kehrenden Nierengefäße sich gegen das Lumen der Nierensäcke vorstülpen, ist das Nieren- epithel drüsig entwickelt und bildet daselbst in Zusammenhang mit hohlen Ausstülpungen der Venen traubige oder gelappte Gebilde, die sogenannten Venenanhänge, an denen sich vorzugsweise die Exkretionsprozesse abspielen. Die abgeschiedenen Stoffe ge- langen zunächst in die Nierensäcke und werden von da durch die Harnleiter, welche rechts und links von der Afterpapille ge- legen sind, in die Mantelhöhle und nach außen geleitet. Der Perikardialnierengang liegt wie der Harnleiter im vorderen Bereich Fig. 23. Niere der Weinbergschnecke (Helix pomatia). Nach G. Stiasny, Zool. Anz., 26. Bd., 1903. k Herzkammer, n Nieren- sack, na15 2 primärer und sekundärer Harnleiter, pc Perikard, pn Perikardialnierenöifnung, v Herzvorhof. Inneren von zahlreichen lamellösen Falten seiner Wandung fast ganz erfüllt, an ihnen sitzen die zylindrischen, von Harnkonkre- menten erfüllten Nierenzellen. Ein flimmern- der Kanal führt aus diesem Sack als Peri- kardialnierengang in das Perikard hinein, während an der nach vorn gerichteten Spitze der Nierensack in den primären Harn- leiter übergeht. Letzterer liegt als erweiterter platter Sack der eigentlichen Nierenwand fest an, zieht an ihr entlang nach hinten, biegt dann scharf um und verläuft als sekundärer Harnleiter in Form eines engen Rohres dicht neben dem Enddarm wieder nach vorn, um hier in der Umgebung des Atemloches auszumünden. Und endlich fügt sich auch das Nieren- system der Cephalopoden durchaus dem Grundplan der Molluskenniere ein (Fig. 24). Wir haben auch hier, wenigstens im ursprüng- lichen Zustande, zwei im oberen und hinteren Teil des Eingeweidesackes srelegene Nieren- säcke, die in typischer Weise einerseits mit dem Perikard, andererseits mit der ^ — i-va. Fig. 24. Nierensystem eines Tintenfisches. Aus A. Lang, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der wirbellosen Tiere. Mollusca. 2. Aufl., bearbeitet von K. Hescheler, 1900. n Nierensack, na Nierenausführgang, np Peri- kardialnierenöffnung, pc Perikard, v Vene, va Venenanhang. des Nierensackes, er führt in das Perikard oder wenigstens in den stark modifizierten Raum, welcher dem Perikard der übrigen Mollusken entspricht. Im einzelnen finden sich nun noch mancherlei Besonderheiten. Zunächst werden die Nierensäcke durch Gestalt und Lage der angrenzenden Eingeweide stark beeinflußt, da letztere sich allenthalben in ihr Lumen vordrängen. Weiter treten bei den dekapoden Tintenfischen die beiderseitigen Nierensäcke in offene Kommunikation. Und endlich Exkretionsorgane 803 haben sicli bei Nautilus die Nierensäcke in I zwei Paare geteilt, von denen aber dann nur dem einen Paar Perikardialnierenöffnungen zukommen, welch letztere ihrerseits selb- ständig geworden sind und das Perikard [ direkt mit der Mantelhöhle verbinden. 6. Die Nieren der Wirbeltiere. Es ' gebührt sich dann endlich, an dieser Stelle die Nieren der Wirbeltiere anzuschließen, weil sie, mag ihre Ableitung im besonderen auch noch so problematisch sein, in ihrem ursprünglichsten Bau vielfach an die Seg- mentalorgane der Anneliden erinnern. Sie bestehen alsdann aus einer Anzahl regel- mäßig hintereinander angeordneter Nieren- kanälchen, die durch einen Wimpertrichter in die Leibeshöhle münden und am ent- gegengesetzten Ende sich zu einem gemein- samen Ausführgang verbinden. Der gesamte exkretorische Apparat der Wirbeltiere setzt sich aus drei Systemen zusammen, die als Abkömmlinge eines ur- sprünglich einheitlichen Systems in Onto- genie und Phylogenie zeitlich und räumlich aufeinander folgen. Sie werden als Vorniere (Pronephros), Urniere (Mesonephros) und Nachniere (Metanephros) unterschieden. Das ursprünglichste System ist die Vorniere (Fig. 25 A), bestehend aus einer geringen Anzahl einzelner Kanälchen, die aus Differen- zierungen des Cölomepithels hervorgehen. Sie sind metamer angeordnet, öffnen sich durch einen Wimpertrichter (Nephrostom) in das Cölom und münden am entgegen- gesetzten Ende in einen gemeinsamen Aus- führgang, der als Vornierengang nach hinten zieht und in die Kloake sich öffnet. Die Vornierenkanälchen sind geschlängelt, in ihrem Verlaufe bildet sich ferner unter beträchtlicher Verdünnung der Wand eine Erweiterung aus und diese kann durch einen Gefäßknäuel (Glomerulus) eingestülpt oder wenigstens von Gefäßschlingen umschlossen werden. Es entsteht so die erste Anlage eines Malpighischen Körpers. Die Vorniere kommt zur Funktion oder könnte funk- tionieren bei Myxinoiden, Petromyzonten, Ganoiden, Teleostiern, Dipnoern, Batrachiern, Gymnophionen. Sie kann nicht mehr funk- tionieren bei Selachiern und sämtlichen Amnioten, da sie hier alsbald nach der Anlage oder noch während derselben wieder rückgebildet wird. Das zweite Exkretionssystem ist die Urniere (Fig. 25 B), welche eine sehr viel größere dauernde Bedeutung besitzt. Ihre Anlage erfolgt ontogenetisch hinter der Vorniere, im engsten Anschluß an dieselbe, gleichfalls aus dem Cölomepithel. Auch sie besteht aus einer Anzahl von zumeist metamer angeordneten Kanälchen, die alle den gleichen Bau besitzen. Sie nehmen einen gewundenen Verlauf, stehen durch ein Ne- phrostom mit der Leibeshöhle in Verbindung und entwickeln einen typischen Malpighi- schen Körper. Durch einen ausführenden Abschnitt münden sie alle in einen gemein- samen Gang, der unmittelbar aus dem Vor- nierengang hervorgegangen ist und nun als Urnierengang (= Wo lff scher Gang) be- zeichnet wird. Die Urniere ist das haupt- sächliche Harnorgan der meisten Fische, A. B -u '9 - nh, Y-un -sl C D Fig. 25. A Vornierenstadium der Anam- nia; B Urnierenstadium der Amphibien; C Vor- und Urnierenstadium der Am- niota; D Nachnierenstadium der Am- niota. Nach R. Wiedersheim, Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere, 1902. vn Vorniere (weiß gehalten), im Urniere (schraffiert), nn Nachniere (schwarz gehalten); vg Vornierengang, ug Urnierengang, ng Nachnierengang; hb Harn- blase, ho Hoden, mk Malpighischer Körper, nh Nebenhoden, nph Nephrostom. der Selachier und der Amphibien. Bei den Amnioten erfährt sie dagegen als Harn- organ eine völlige Rückbildung, bewahrt aber ihre phylogenetisch schon sehr frühzeitig auftretenden Beziehungen zum männlichen Geschleehtsapparat. Und wiederum im Anschluß an dieses 51* 804 Exkretionsorga 1 1 e zweite Nierensystem entsteht kaudalwärts von ihm das dritte, die Nachniere (Fig. 25D). Aus indifferentem Anlagematerial bilden sich neue Nierenkanälchen aus, die keine Nephrostome mehr aufweisen, dagegen typi- sche Malpighische Körperchen entwickeln. Sie verbinden sich ferner nicht mehr mit dem Urnierengang, sondern werden von einem Kanal aufgenommen, der vom Endabschnitt des Urnierengangs selbständig auswächst (Fig. 25 C) und den definitiven Ureter oder Harnleiter darstellt. Derselbe trennt sich schließlich völlig vom Urnierengang und mündet dann entweder in die Kloake oder (auf höherer Entwickelungsstufe) in die Harnblase ein. Die Nachniere stellt das typische bleibende Exkretionsorgan der Rep- tilien, Vögel und Säugetiere dar. Diese drei Nierensysteme sind nicht, wie man früher zumeist annahm, als drei ge- sonderte selbständige Systeme aufzufassen, die in der Phylogenie einander ablösten, sondern sie sind homodyname Abschnitte eines und desselben Ahnenorgans, welches ursprünglich ein fast den ganzen Rumpf durchziehendes Exkretionsorgan darstellte, und dessen streng segmental angeordnete Bestandteile überall den gleichen Bau zeigten. Von einem solchen Ahnenorgan, einer so- genannten Holonephros, stellen sie ver- schieden alte Abkömmlinge dar, deren fort- schreitende Entwickelungstendenz in der Ausbildung einer vermehrten Zahl von Nierenkanälchen und damit einer volumi- nöseren Nierenmasse besteht, wie sie die stetig sich erhöhenden Anforderungen des Wirbeltierkörpers erheischten. Im besonderen werden nun die einzelnen Gruppen der "Wirbeltiere der Reihe nach auf ihre spezielleren Verhältnisse hin zu prüfen sein. Wir beginnen mit den niederen Formen und schreiten zu den höheren fort. Die funktionierende Niere der Cyclo- stomata (Fig. 26 A) wird durch eine Ur- niere gebildet. Dieselbe liegt in Form zweier langgestreckter Körper der Dorsalwand der Leibeshöhle an und besteht jederseits aus einem langen, das ganze Organ durchziehen- den Urnierengang, dem zahlreiche, vielfach gewundene Kanälchen in metamerer An- ordnung ansitzen. Sämtliche Kanälchen beginnen mit einem Malpi«hischen Körper- chen, dagegen fehlen in erwachsenem Zu- stande die Wimpertrichter. Am vorderen Ende des ganzen Organs bleiben einige Vornierenkanälchen erhalten und diese mün- den noch mit wimpernden Nephrostomen in die Leibeshöhle. Die Ausmündung der Harngänge erfolgt auf einer besonderen Papille in den Urogenitalsinus. Beziehungen zu dem Geschlechtsapparat bestehen nirgends. Bei den Selachiern wird die Vorniere schon frühzeitig zurückgebildet und es bleibt nur die Urniere erhalten. Und zwar vielfach in ihrer ursprünglichsten Beschaffenheit, insofern wenigstens bei einem Teil der Haie die Nephrostomen an den Nierenkanälchen zeitlebens neben den Malpighischen Körper- chen bestehen bleiben. Im vorderen Bezirk der Niere können die Nephrostome sogar kn -Vü [un\ wi im. u9 un hl- Fig. 26. A Vorniere und Urniere eines jugendlichen Petrornyzon. Nach W. M. Wheeler, Zool. Jahrb., Morph., 13. Bd., 1900. B Urniere eines Knochenfisches (Perca fiuviatilis). Nach B. Haller, Jen. Zeitschr. f. Naturwiss., 43. Bd., 1908. hbl Harnblase, hl Harnleiter, kn Kopfniere, ug Urnierengang, un Urniere, vg Vornierengang, vn Vorniere. Exkretionsorgane 805 noch eine metamere Anordnung,' zeigen, im allgemeinen aber vermindert sieh ihre Zahl mit zunehmendem Alter, um schließlieh bei vielen Formen ganz zu schwinden. Als Ganzes betrachtet stellt die Urniere der Haie einen langgestreckten, häufig ge- lappten Körper dar, an dem sich zumeist ein bandförmiger vorderer von einem er- weiterten hinteren Abschnitt unterscheiden läßt. Der bandförmige Abschnitt sendet seine Kanälchen direkt in den Urnierengang, der sich in seinem hintersten Teile zu einem Harnsinus erweitern kann, während dagegen in dem voluminöseren hinteren Nierenab- schnitt die Kanälchen ihre Mündungen distal- wärts verschieben, untereinander zusammen- fließen und einen selbständigen Ausführgang bilden, der gleichfalls in den Harnsinus mündet. Die Sinusse der beiderseitigen Harnleiter vereinigen sich und öffnen sich schließlich auf einer Papille in die Kloake. - Im männlichen Geschlecht tritt ferner der vordere Abschnitt der Niere in Beziehung zu der Geschlechtsdrüse. Seine Kanälchen hören mit der Harnsekretion auf, übernehmen dagegen die Abfuhr der männlichen Ge- schlechtsprodukte in den Urnierengang, der also nun zum Samenleiter wird und unab- hängig von den Harnausführgängen des hinteren Abschnittes nach außen führt. Die bleibenden Nieren der Ganoiden sind ebenfalls die Urnieren, sie besitzen eine langgestreckte, bald kompaktere, bald ver- schmälerte Form. Aehnliches gilt für die Dipnoer. Bei den Ganoiden können in seltenen Fällen die Nephrostome erhalten bleiben, bei den Dipnoern fehlen sie in er- wachsenem Zustande stets. Komplizierteren Verhältnissen begegnen wir bei den Teleostiern (Fig. 26 B). Das bleibende Organ ist auch hier die Urniere. Dieselbe ist dicht der dorsalen Knmpf- höhlenwand angeschmiegt und zeigt in Form und Ausdehnung überaus wechselnde Ver- hältnisse. Bald ist sie sehr lang und schmal, bald kurz und gedrungen. Vielfach ver- schmelzen im hinteren und vorderen Bereich die beiderseitigen Nieren miteinander. Der vorderste, dem Schädel unmittelbar an- liegende Abschnitt, der noch Teile der Vorniere enthält, wandelt sich in ein eigen- artiges, an Lymphzellen reiches Gewebe um, das nicht mehr als Niere funktioniert; es wird dieser Abschnitt gewöhnlich als „Kopfniere" bezeichnet. Die Nierenkanälchen sammeln sich in Harnleitern, die zum Teil in die Masse der Niere eingebettet sind und in ihrem Endabschnitt eine Erweiterung, den Harnsinus, ausbilden. Die Harnsinusse beider Seiten verschmelzen miteinander, sie vereinigen sich ferner mit einer dorsalen Ausstülpung der Kloake, so daß eine Art Harnblase zustande kommt. Die Aus- mündung erfolgt Stadien noch Im vordersten und gewundenem Harn- sind auch auf embryonalen meist hinter dem After, und zwar entweder durch einen einfachen Porus oder auf einer besonderen Papille. Beziehungen zu den Geschlechtsdrüsen be- stehen nirgends. Die Nieren der Amphibien lassen un- mittelbar an die niederen Zustände der Selachier anknüpfen, von denen die Fische sich weit entfernt haben. Die primi- tivsten Verhältnisse weisen die Gymno- phionen auf. Hier werden embryonal noch 12 bis 13 Vornierenkanälchen angelegt und auch die bleibende Urniere zeigt noch sehr ursprünglichen Bau. Sie bildet im er- wachsenen Zustand jederseits ein langes, schmales, eingekerbtes Band, das sich aus zahllosen Nierenkanälchen zusammensetzt. Letztere behalten zeitlebens ihren ursprüng- lichen Aufbau aus Nephrostom, Malpighi- schem Korper kanälchen bei, rein segmental angeordnet. Abschnitt persistiert dieses letztere Verhalten zuweilen, später wird aber durch sekundäre Wachstumsvorgänge die Zahl der Harnkanälehen sehr beträchtlich vermehrt und es können dann schließlich bis zu tausend Nephrostome an einer Urniere gezählt werden. Gruppen von Nierenkanäl- chen vereinigen sich zu größeren Sammel- gängen und diese münden alle in den Urnieren- gang. Bei den Uro d eleu ist die ursprüngliche metamere Anordnung der Urnierenkanälchen sehr viel weniger deutlich, doch bleiben auch hier ihre Nephrostome zeitlebens erhalten. Ihrer Form nach stellen die Urnieren band- artig in die Länge gestreckte Organe dar, welche in einen vorderen schlankeren und einen hinteren kompakteren Abschnitt zerfallen (Fig. 27 B). Der erstere tritt nun im männ- lichen Geschlecht (Fig. 27 A), wie bei den Selachiern, in Beziehung zur Geschlechts- drüse, insofern samenführende Kanälchen die männlichen Geschlechtsprodukte in das Nierenparenchym überleiten, von wo sie durch die Harnkanälchen aufgenommen und in den Urnierengang weiter befördert werden. LetztererGang funktioniert also dann auch hier als Samenleiter. Der hintere Abschnitt der Niere entwickelt gleichzeitig besondere lange Sammelkanäle, die unabhängig von dem Urnierengang in die Kloake münden. Bei den Anuren liegen im allgemeinen die Verhältnisse ganz ähnlich wie bei den Urodelen, nur ist die Form der Niere in Anpassung an die Körpergestalt eine ge- drungenere, ihr Umfang ist auf die mittlere Beckenregion beschränkt. Die Nephrostome sind ebenfalls noch erhalten, sie stehen aber nur noch während der Larvenperiode mit den Harnkanälchen in Verbindung. Später 806 Exkretionsorgane lösen sie sich von ihnen los und münden eigenartigerweise in die Nierenvenen ein. Allen Amphibien kommt eine Harnblase zu, in der sich die klare Harnflüssigkeit an- sammelt. Die Blase entsteht unabhängig von den eigentlichen Urnierengängen als eine Einstülpung der ventralen Kloaken- wand und kann sich ihrer Gestalt nach überaus verschiedenartig verhalten. Meist ist sie einfach sackförmig, zuweilen lang ^4 S Fig. 27. Schematische Darstellung der Urniere eines Urodelen, A im männlichen, B im weiblichen Geschlecht. Nach J.W. Spengel, Arbeiten d. Zool. Inst. Würz bürg, 3. Bd., 1876. bn Beckenniere, gn Geschlechtsniere, hg Harn- gänge, ho Hoden, ov Ovarien, ng Urnierengang. schlauchförmig, wie bei Amphiuma, wieder in anderen Fällen am Scheitel in zwei Spitzen geteilt, die bei Alytes und Bombinator zu langen Schläuchen auswachsen. Bei allen höheren Wirbeltieren tritt dann endlich die Urniere als funktionierendes Nierenorgan ganz zurück, und ihre Stelle wird eingenommen von der Nachniere. Bei den Reptilien treffen wir als solche mehr oder minder kompakte Organe an, die weit hinten in der Bauchhöhle liegen und nicht selten bis in die Schwanzregion hinein sich erstrecken. Bei einigen Eidechsen ver- binden sich die beiderseitigen Nieren durch quere Substanzbrücken miteinander oder verschmelzen in ihren hinteren Abschnitten völlig. Eine gedrungene Form besitzt die Niere bei den meisten Echsen und Schild- kröten, bei den Schlangen aber hat die lang- gestreckte Körperform eine ähnliche Dehnung der Nieren zur Folge, es kommt ferner hier in weiterer Folge des schmalcylindrischen Körperbaues die eine Niere vor die andere zu liegen und endlich führt die hohe Be- weglichkeit der einzelnen Körperabschnitte zu einem Zerfall der Niere in breit zusammen- hängende Läppchen. Jm Inneren besteht die Niere aus einzelnen Harnkanälchen, deren Bau im einzelnen durchaus dem weiter unten bei den Vögeln geschilderten entspricht. Die Kanälchen sammeln sich in weiten Sam- melröhren, die in den Ureter überführen. Die Harnleiter sind am längsten bei den Schlangen entwickelt, sie münden im männ- lichen Geschlecht zusammen mit den Samen- leitern auf einem Paar gemeinsamer Urogeni- talpapillen in die Kloake aus, im weiblichen Geschlecht dagegen auf selbständigen Pa- pillen. Zumeist ist eine in die Kloake ein- mündende Harnblase vorhanden. Eine solche fehlt gänzlich einigen Eidechsen und ist bei Schlangen und Krokodilen nur in rudimentärem Zustande vorhanden. Bei Lacerta ist sie länglich rund und mit einem schmalen Stiel versehen, bei der Blind- schleiche ist sie länger gestreckt, bei anderen am Scheitel eingekerbt. Ihr morphologischer Wert ist ein sehr verschiedener. So geht bei Schlangen und einigen Eidechsen die Blase aus einer dorsalen Ausstülpung der Kloaken- wand hervor, während sie bei anderen Eidechsen, bei Krokodilen und Schild- kröten einer ventralen Ausstülpung der Kloakenwand oder einer Erweiterung des Allantoisstieles ihre Entstehung verdankt. Der Harn bildet weißliche Konkremente von breiiger Beschaffenheit, doch scheiden einige Formen, wie beispielsweise die Schild- kröten, auch flüssigen Harn aus. Die Nieren der Vögel sind verhältnis- mäßig groß. Sie stellen zwei langgestreckte Körper dar, welche die vom Becken gebildeten Höhlungen von innen her mit ihrer Substanz ziemlich ausfüllen und daher auf ihrer Dorsalfläche die Reliefverhältnisse der inneren Beckenwand wiederholen. Die ventrale Nierenfläche ist dagegen ziemlich glatt, quere Einkerbungen zerlegen sie gewöhnlich in drei Lappen (Fig. 28 A). Häufig können ferner Verschmelzungen der beiderseitigen Nieren in der Medianebene in stärkerem oder geringerem Umfange auftreten. Ihrem feineren Bau nach wird die Niere zu äußerst von einer zarten durchsichtigen Bindegewebshülle umschlossen, während das Innere völlig von dem dunkelbraunroten Parenchym erfüllt ist. Letzteres setzt sich aus einer Unzahl kleiner Läppchen zusammen, die dicht nebeneinander gepackt sind und die Nierenkanälchen enthalten, im Parenchym liegen ferner die größeren Sammelröhren, Gefäße und Nerven. Eine ExkretionsorgaiK s mit deutliche Scheidung in Rinden- und Mark- substanz ist nicht vorhanden. Jedes Harnkanälchen (Fig. 28 B) beginnt an der Oberfläche eines Läppchens mit einer kleinen rundlichen Bow man sehen Kapsel (I), die einen arteriellen Gefäßknäuel, den Glo- merulus, umschließt. Aus dieser Kapsel entspringt ein kurzer engerer Hals, der sehr bald in einen erweiterten und mehrfach A B Fig. '28. A Ventralansicht des Nieren- systems einer Taube, B einzelnes Harn- kanälchen einer Taube. Nach H. Gadow, Vügel, in Bronns Klassen und Ordnungen des Tierreichs, VI. Bd., 4. Abt., 1891. cl Kloake, hl Harnleiter, nx — n3 die drei Nierenlappen, I bis V die einzelnen Abschnitte eines Harn- kanälchens. geschlängelten Abschnitt (II) übergeht. Unter erneuter Verengung setzt sich das Kanälchen dann in die lange, geradegestreckte Henle- sche Schleife (III) fort, deren ab- und auf- steigender Ast dicht nebeneinander liegen. Es folgt nochmals ein etwas geschlängelter Abschnitt (IV) und dieser geht endlich in die größeren Sammelgefäße (V) über. Letztere vereinigen sich bündelweise zu stärkeren Kanälen, welche direkt in die Harnleiter einmünden. Die Epithelien der Nieren- j kanälchen wechseln in den einzelnen Ab-; schnitten zwischen höherem und niederem | Zylinderepithel, dagegen fehlen Flimmer- zellen durchaus. Die Wände der Bow man- schen Kapsel bestehen aus mosaikartig zusammengefügten niederen Zellen. Die Gefäßversorgung der Niere erfolgt in der Weise, daß die aus der Aorta descendens und der Arteria ischiadica entspringenden Arteriae renales sich bald nach ihrem Eintritt in die Niere je in zwei, verschiedenen Systemen angehörige Aeste spalten. Die Arterien der einen Art, behandeln die Niere wie jedes andere Organ, d. h. sie lösen sich in Kapillaren auf, welche die ganze Nierensubstanz durch- setzen, und sammeln das Blut dann wieder in abführenden Nierenvenen. Die Arterien- äste des zweiten Systems dienen dagegen der Harnausscheidung. Sie senden Zweige zwischen die Nierenläppchen und diese geben dann nach allen Seiten hin zahlreiche, fast kapillare Gefäße ab, von denen je eines einen zu einer Kapsel herantretenden Glome- rulus abgibt. In diesem wird der Harn abgeschieden, in der Kapsel angesammelt und durch die Nierenkanälchen abgeleitet. Das austretende Gefäß des Glomerulus löst sich dann schließlich gleichfalls in ein kapilla- res Netzwerk auf und aus diesem gehen dann erst die abführenden Venen hervor. Die Harnleiter entspringen von der Ventralfläche der Nieren und verlaufen als Röhren wechselnden Durchmessers nach hinten, häufig teilweise in die Nierensub- stanz eingebettet. Die Mündung erfolgt schließlich auf päpillenartigen Vorsprüngen in die Kloake und zwar in den mittleren Abschnitt derselben, welchen man als Uro- daeum bezeichnet. Der Harn bildet eine weißliche breiige Masse, die direkt dem Kote beigemischt und mit demselben ent- leert wird. Sein wesentlichster Bestandteil wird hier bei den Vögeln (und ebenso bei den Reptilien) durch Harnsäure gebildet, nicht durch Harnstoff wie bei den Säuge- tieren. Eine Harnblase fehl t allen erwachsenen Vögeln vollständig, nur im embryonalen Leben entwickelt sich eine solche vorüber- gehend aus einer Erweiterung des Allantois- stieles. Bei den Säugetieren liegen die ver- hältnismäßig kleinen Nieren weit vorn in der Lendenregion der Bauchhöhle. Sie sind meist dorsoventral zusammengedrückt und weisen einen konvexen Außen- sowie einen konkaven Innenrand auf (vgl. Fig. 30). Letzterer wird als Hilus bezeichnet, an ihm treten die Blutgefäße ein und aus. von ihm geht der Harnleiter ab. Im Inneren der Nierensubstanz lassen sich zunächst eine Mark- und eine Rindenschicht scharf voneinander scheiden. Letztere enthält allein die gewundenen Teile der Harnkanälchen, erstere die gerade gestreckten Sammelröhren. Jedes Harnkanälchen (Fig. 29) beginnt auch hier mit einem Malpighi- schen Körperchen. Dieses selbst setzt sich, ganz wie bei den Vögeln, zusammen einmal aus der Bow manschen Kapsel, bestehend aus dem kugelig erweiterten und ein- seitig eingestülpten Endabschnitt des Kanälchens, sowie weiter aus dem Glo- merulus, einem bipolaren, arteriellen Gefäß- netz, welches den eingestülpten Raum der Kapsel erfüllt. Es schließen sich dann die gleichen gewundenen Abschnitte sowie die gerade gestreckte Henlesche Schleife SOS Exkretionsorgane an, wie wir sie bei den Vögeln schon kennen lernten. Die Hen leschen Schleifen liegen ganz wie die stärkeren Sammelkanäle in der Marksubstanz, die gewundenen Kanälchen, wie schon gesagt, in der Rindensubstanz. Die Sammelkanälchen vereinigen sich zu immer stärker werdenden Sammelröhren und münden schließlich auf Vorsprüngen der Marksubstanz in einen Raum aus, der von dem erweiterten Ende des Harnleiters wechselt nun Zahl, Gestalt und Anordnung der Pyramiden ganz außerordentlich, und man kann danach eine Reihe sehr ver- schiedener Typen von Säugetiernieren unter- scheiden. Im einfachsten Falle ist nur eine einzige solche Pyramide vorhanden, die alle Sammelkanäle aufnimmt und frei als einzige Papille in das Nierenbecken vorragt. So ist es bei Echidna und vielen kleineren Vertretern der Beuteltiere, Insektenfresser, Fledermäuse, Nagetiere und Edentaten. Bei einem zweiten Typus treten zu beiden Seiten dieser einzigen Papille Seitenwülste auf, wodurch das Nierenbecken verzweigt er- scheint, so bei Känguruhs und vielen höheren Säugern. Bei einem dritten Typus tritt Fig. 29. Schema des Baues der Harn- kanälchen in der Niere des Menschen. Aus C. Gegenbaur, Lehrbuch der Anatomie des Menschen, 1892. I bis V die einzelnen Ab- schnitte eines Harnkanälchens , und zwar : I Malpighisches Körperchen, II und IV gewundene Abschnitte. III Henlesche Schleife, V Sammel- rohr. gebildet und als Nierenbecken bezeichnet wird (Fig. 30). Die in das Nierenbecken hineinragenden papillenartigen Vorsprünge sind die Spitzen kegelartiger Gebilde, die mit breiter Basis der Rindensubstanz auf- sitzen und im Inneren eben die Sammel- kanäle enthalten. Die Kegel selbst pflegt man als Pyramiden zu bezeichnen, sie schließen zwischen sich Ausbuchtungen des Nieren- beckens ein, die man mit dem Namen der Nierenkelche (Calyces) belegt. Im einzelnen Fig. 30. Niere des Menschen im Frontal- schnitt. Aus C. Gegenbaur, Lehrbuch der Anatomie des Menschen, 1892. b Nierenbecher, bg Blutgefäße, hl Harnleiter, nb Nierenbecken, pa Papillen, pyr Pyramiden der Marksubstanz, r Rindensubstanz. an Stelle der mittleren Papille eine lang- gestreckte Leiste, die in ihrer ganzen Längen- ausdehnung die Mündungen der Nieren- kanälchen trägt (Leistenniere). Eine solche Niere findet sich in reiner Form besonders bei Raubtieren, Paarhufern und Affen. Zu der Längsleiste können aber dann weiter ebenfalls noch Seitenwülste hinzutreten, die Leiste selbst kann gleichzeitig in mehrere hintereinander gelegene Papillen zerfallen. So auch in der Niere des Menschen (Fig. 30). — Ein gänzlich anderer Nierentypus entsteht dann, wenn jede Nierenpapille mit ihrem Kelch, Ureterast und Rindenmantel selb- ständig wird und so je ein besonderes Nieren- Exkretionsorgane 809 läppchen (Renculus) darstellt. Die Niere erscheint dann oberflächlich gelappt, wird zu einer Kenculiniere (Fig. 31), wie sie beispielsweise Bos unter den Huftieren, die Bären unter den Kaubtieren und alle Wale zeigen. Ein letzter Nierentypus wird dann endlich durch die sogenannte Recessusniere dargestellt. Bei Pferd und Tapir tritt das eigentliche Nierenbecken ganz zurück, von ihm aus entwickelt sich dagegen nach vorn und hinten je ein langer Gang (Recessus), der tief in das Nierenparenchym einschneidet und ohne jede Papillenbildung die Mün- dungen der Sammelröhren empfängt. Bei Flußpferd und Elefant hat dieser Typus ~rK Fig. 31. Schema des Baues einer Reneuli- niere. Nach U. Gerhardt, Verhandl. d. Dtsch. Zoolog. Gesellsch. 1911. hl Harnleiter, hlt die Aeste desselben zu den einzelnen Reneuli (rl). insofern noch eine Weiterbildung erfahren, als hier 4 bis 5 Recessus auftreten, die auf der Nierenoberfläche dann ebenfalls Lappen- bildung hervorrufen. Die gesamte Nierensubstanz wird von der aus bindegewebigen Häuten bestehenden Nierenkapsel umschlossen. Am Hilus gehen aus den beiderseitigen Nierenbecken die eigentlichen Harnleiter (Ureteren) hervor, die frei die Bauchhöhle nach hinten durch- ziehen und sich schließlich in die hintere Wand der Harnblase einsenken. Sie sind innen von einem mehrschichtigen Epithel ausgekleidet, außen von Ring- und Längs- muskelfasern sowie von bindegewebigen Schichten umschlossen. — Alle Säugetiere besitzen eine Harnblase. Dieselbe geht im wesentlichen hervor aus der ventralen Kloa- kenwand, doch können an ihrer Bildung auch die unteren Abschnitte der ursprüng- lichen Harnleiter sowie Teile der Allantois (Allantoisstiel = Urachus) beteiligt sein. Nur bei den Monotremen münden die Ureteren nicht in die Harnblase ein, sondern unmittel- bar in den Urogenitalkanal. Der flüssige Harn enthält als wichtigsten Bestandteil den Harnstoff, daneben (nach Analysen des menschlichen Harns) noch schwefelhaltige Säuren, Kreatinin, Ammo- niak, Hippursäure und ganz geringe Mengen von Harnsäure. Neben den Malpighischen Körperchen nehmen übrigens auch die Harn- kanälchen tätigen Anteil an dem Exkretions- prozeß, und zwar hat man Grund zu der Annahme, daß in ersteren hauptsächlich Wasser und Salze, in letzteren besonders der Harnstoff abgeschieden wird. 7. Sonstige Nierenorgane von wech- selnder morphologischer Bedeutung. 7a) Die Malpighischen Gefäße der Gliedertiere. Solche treten uns zunächst bei den Spinnentieren, vielfach neben den Coxaldrüsen, von den Skorpionen bis zu den Milben entgegen, und zwar handelt es sich hier um schlauchförmige Gebilde, die im Zusammenhange mit dem Endabschnitt des Mitteldarms stehen (Fig. 32 A). In der Regel sind sie in der Zwei- oder Vierzahl vorhanden, können sich aber im einzelnen mannigfach komplizieren, indem sie entweder Fig. 32. Malpighische Gefäße: A einer Kreuzspinne (Epeira diadema), B eines Insekts (Larve von Cerambyx heros). Nach A. Veneziani, Redia, Vol. II, 1904. ed End- darm, md Mitteldarm, mpg Malpighische Ge- fäße, rb Rectalblase. Sil) Exkretionsorgane an ihrer Mündungsstelle Knäuel bilden oder sich mit ihren Enden vielfach verzweigen. Histologisch besteht ihre Wandung aus flachen Epithelzellen, die von Exkretkörnern über und über erfüllt sind. Letztere werden direkt in das Lumen der Schläuche entleert und rufen, indem sie in größeren Massen daselbst sich anhäufen, nicht selten ein perlschnurartiges Aussehen der Schläuche hervor. Ihrer Entstehung nach sind sie in engsten Zusammenhang mit dem entodermalen Mitteldarm zu bringen und zwar im besonderen mit dem hintersten Abschnitt desselben, der häufig als Rektalblase auffällig hervortritt. Malpighische Gefäße finden sich dann weiter unter den Gliedertieren bei Myrio- poden und Insekten, hier aber als Anhangs- gebilde des Enddarms (Fig. 32 B). Sie stellen auch hier langgestreckte, blind endende Drüsenschläuche dar, deren ursprüngliche Zahl ganz wie bei den Spinnen zwei oder vier beträgt. Ein solches Zahlenverhältnis ist anzutreffen bei den Tausendfüßen, bei den pentameren Käfern, bei Fliegen und wanzenartigen Insekten. Die Zahl der M al p ig hi sehen Gefäße kann dann aber steigen auf 6, 8, 12, 16 und so fort bis auf über hundert. Sechs Gefäße besitzen konstant die Schmetterlinge und Käfer, letztere mit Ausnahme der Pentameren, acht besitzen die Ohrwürmer und Lepisma, zwölf weist Machilis auf, sechzehn Campodea. Alle diese Insekten sind als oligonephridiale zu bezeichnen, ihre Gefäßzahl läßt sich stets auf eine Spaltung von 2 oder 4 Gefäßen zurückführen. Ihnen stehen gegenüber die polynephridialen Insekten (die meisten Grad- flügler, die Hymenopteren), deren Gefäßzahl eine sehr viel höhere ist. Aber diese zahl- reichen Gefäße münden nun nicht alle getrennt voneinander in den Darm ein, sondern sie ordnen sich zu einer beschränkten Zahl von Bündeln zusammen, die je einem besonderen, mit dem Darm in Verbindung- stehenden Höcker aufsitzen. Die Zahl dieser Bündel ist nie höher als sechs, häufig sind es vier oder zwei, selten fünf oder drei, nur eines ist bei den Grillen vorhanden. Es entspricht also die Zahl der basalen Höcker ungefähr der Zahl der Gefäße der oligonephridialen Formen und es ist daher sehr wahrscheinlich, daß jeder Höcker tat- sächlich einem basalen Gefäßstamm ent- spricht, der sich an seiner Spitze stark verzweigt hat. Sekundär können dann wieder Verschmelzungen mehrerer Bündel eintreten. Im allgemeinen darf ferner als Regel gelten, daß die Malpighischen Gefäße dort, wo sie in geringer Zahl auftreten, sehr lang sind. So können sie bei manchen Tausendfüßen mehrfache Körperlänge aufweisen, bei vielen Insekten unter vielfachen Windungen bis zum Magen emporziehen und wieder bis zum Enddarm zurückkehren. Sind Mal- pighische Gefäße dagegen in sehr großer Zahl vorhanden, so sind sie stets sehr kurz und bilden dem äußeren Aussehen nach Büschel dünner verworrener und geschlängel- ; ter Fäden. Histologisch bestehen die Malpighischen Gefäße aus drei Schichten: erstens aus einer bindegewebigen äußeren Peritonealhülle, die durch elastische und muskulöse Fasern verstärkt sein kann, zweitens aus einer mittleren sehr zarten Tunica propria und drittens endlich aus einer inneren ein- schichtigen Lage hoch entwickelter Drüsen- zellen von meist polygonaler Gestalt. Diese letzteren stellen die eigentlichen Exkretions- zellen dar, ihr Plasma ist von gelblichen oder bräunlichen Körnchen erfüllt und trägt gegen das Lumen der Gefäße hin einen Bürstensaum. Der Inhalt der Gefäße besteht bald aus einer hellen Exkretflüssigkeit, bald aus zahllosen stark lichtbrechenden Kügelchen, welche die Gefäße häufig prall erfüllen und ihnen ein weißliches oder gelblichweißes Aussehen verleihen. Die Exkrete selbst bestehen ganz im allgemeinen aus Natrium-, Kalium-, Ammonium- und : Calcium-Uraten, aus Calciumoxalaten und | aus freier Harnsäure. Es hat also hier der Darmtraktus die Funktion einer Niere übernommen, insofern er eben in seinem hinteren Abschnitt Diver- tikel zur Ausbildung bringt, die völlig im Dienste der Exkretion stehen. Die Zellen dieser Divertikel sind typische Nierenzellen geworden, die an ihrer äußeren Peripherie die im Blute gelösten Exkretstoffe aufnehmen, in ihrem Inneren verarbeiten und in das Gefäßlumen weitergeben. Von hier gelangen dann die endgültigen Abfallprodukte in den eigentlichen Darm und weiter nach außen. Ontogenetisch gehören die Divertikel bei den Insekten dem ektodermalen Enddarm (Proctodaeum) an und damit ergeben sich vom entwickelungsgeschichtlichen Stand- punkt aus gewisse Schwierigkeiten für eine Homologisierung der Malpighischen Gefäße ! der Insekten mit denen der Spinnen, wo sie dem entodermalen Darmabschnitt ihren Ursprung verdanken. Aber freilich werden I diese Schwierigkeiten leicht behoben, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, daß homologe Organe eine Verschiebung ihres ontogenetischen Ursprungsortes durchmachen : können. 7b) Das Exkretionsorgan der Nema- toden. Dasselbe ist im einzelnen besonders : genau bekannt von Ascaris lumbrieoides (Fig. 33). Der Exkretionsapparat besteht | hier zunächst aus zwei in den Seitenlinien | verlaufenden, hinten blind endenden Kanälen, die sich vorn in einem Bogen vereinigen und mit einem kurzen unpaaren Kanal Exkretionsorgane Sil in der ventralen Mittellinie des Körpers ausmünden. Das ganze paarige Kanal- system besteht ans einer einzigen riesigen Zelle, deren Kern (k?) auf der linken Seite liegt. In der Höhe dieses Kerns erleiden die Fig. 33. Schema des Exkreti- onsapparates von Ascaris In mbricoides. Nach R. Gold- schmidt, Zoo- log. Anzeiger, 29. Bd., 1906. ag Ausführgang mit seinem Kern (kj, n Exkretionsge- webe, sg Seiten- kanal mit seinem Kern (k2). kj- beiderseitigen Kanäle eine kapillare Auf- lösung und sind zudem durch zwei dünne Querbrücken miteinander verbunden. Auch der unpaare Ausführgang besteht ans einer einzigen Zelle. Dazu tritt mm noch das eigent- liche exkretorisch tätige Drüsengewebe. Das- selbe liegt ebenfalls in den Seitenlinien und besteht aus einem Syncytinm, welches zer- streute bläschenförmige Kerne enthält. In seiner Gesamtheit bildet es in jeder Seiten- linie zwei längsverlanfende, durch Quer- brücken miteinander verbundene Stränge. Eine direkte Berührung mit der Wand der besteht nicht, die Ueberleitung erfolgt wahrscheinlich durch zwischen Drüseiie,ewebe und Nierenkanäle der Exkrete feine Fäden Nierenkanal. 7c) Die Exkretionsorgane bei den Echinodermen. Besondere typische Ex- kretionsorgane fehlen allen Echinodermen. Zum Teil erfolgt die Abscheidung flüssiger Exkrete durch Osmose an den atmenden Flächen des Körpers, ferner hat man als Exkret produkte wohl anzusehen die ge- färbten, zuweilen kristallinischen Körnchen, welche in den verschiedensten Körperteilen, zumal den bindegewebigen Schichten, ange- troffen werden und während der ganzen Lebensdauer des Tieres hier aufgespeichert liegen bleiben. Aehnliche geformte Produkte enthalten die frei in der Leibeshöhle flottieren- den Wanderzellen. Außerdem hat man noch zahlreichen anderen Organen der Echino- dermen exkretorische Funktion zugeschrieben, so dem Axialorgan der Seeigel, den sack- förmigen Bursae der Schlangensterne, den Tiedemannschen Körperchen der Seesterne, den Wimpertrichtern an der Leibeshöhlen- wand der Holothurien. 7d) Die Nephrocyten der Glieder- tier e._ Man versteht darunter große., isolierte oder in Gruppen vereinigte Zellen, die im Inneren der verschiedensten Körperteile auf- treten können und ihre exkretorische Funk- tion besonders klar dadurch beweisen, daß sie überall dem Körper eingefügtes karmin- saures Amnion aufnehmen." Sie treten bei Krebsen bald in Kopf, Thorax oder Abdomen, bald in den Füßen oder den Kiemenanhängen auf, sie finden sich bei Spinnen im ganzen Körper zerstreut und häufen sich bei In- sekten namentlich in der Umgebung des Herzschlauches an. 7e) Die Exkretionsorgane bei den Tunicaten. Dieselben treten uns hier in einer durchaus eigenartigen Form und Ent- wickelung entgegen, welche von einfachen Mesenchymzellen zu hoch komplizierten Or- ganen führt. Bei den Botrylliden liegen die Verhältnisse am primitivsten, insofern hier zu ovalen Zellelementen umgewandelte Mesenchymzellen aus der Leibeshöhlen- flüssigkeit die Harnsalze aufnehmen und in ihrem Protoplasma in Form bräunlich glän- zender Körnchen niederlegen. Bei den Synascidien schließen sich diese allenthalben zerstreuten Mesenchymzellen dann enger zusammen zu einer einheitlichen mesoder- malen Zellgruppe von gelblichgrauer Färbung, und bei den eigentlichen Ascidien gehen aus diesem Zusammenschlüsse allseitig geschlos- sene Bläschen hervor, die in ein das Darmrohr umkleidendes Bindegewebspolster eingebettet sind. Die Wand der Bläschen besteht aus einem einschichtigen vakuolisierten Nieren- epithel, das fortgesetzt die Exkretstoffe dem Blute entnimmt und im Inneren der Bläschen als Harnkonkremente anhäuft. Bei den Cynthiadeen sind diese Bläschen zu sack- oder schlauchförmigen Gebilden von häufig bedeutendem Umfang geworden, sie liegen nicht mehr in dem den Darm umschließenden Bindegewebe, sondern peripher dicht unter dem äußeren Körperepithel zu beiden Seiten des Körpers. Bei den Molguliden hat das Exkretionsorgan dann seine höchste Aus- bildungsstufe erreicht. Es stellt hier ein umfangreiches, dicht unter der Körperober- fläche "gelegenes Gebilde dar, das man früher vielfach als Bojanussches Organ bezeichnet und (mit Unrecht) mit dem entsprechenden Organ der Muscheln verglichen hat. In Wirklichkeit ist es aus einer Vereinigung der Nierenbläschen der anderen Tunicaten entstanden zu denken und erscheint nun äußerlich als ein bohnenförmiger Nieren- körper, der außen von einer derben binde- gewebigen Membran umschlossen wird und innen mit hohen schmalen Drüsenzellen ausgekleidet ist. Die in das innere Lumen 812 Exkretionsorgane abgestoßenen Exkretstoffe vereinigen sich zn einem eigenartigen stabförmigen Ge- bilde von gelb- bis dunkelbräunlicher Fär- bung. Recht kompliziert verhalten sich dann endlich auch die Exkretionsorgane der Salpen. Auch hier treten zunächst Mesenchymzellen von exkretorischer Funktion auf, aber diese lagern sich weiterhin in Masse besonderen Nierenorganen auf, von denen sie absorbiert werden. Von solchen Nierenorganen sind drei Paare vorhanden, die als blasenförmige Blindsäcke in Speiseröhre und Magen sich öffnen. Ihr Epithel nimmt die Exkretstoffe aus dem Blut sowie aus den Mesenchymzellen auf und scheidet sie in das Lumen der Nierenorgane wieder aus. Die weitere Ab- leitung nach außen erfolgt dann durch Darm und Kloake. Den Appendikularien fehlt jegliches Nieren- organ. yl) Höhere Tierformen ohne be- sondere Exkretionsorgane. Es fehlen Exkretionsorgane völlig den Gordiiden, den Chätognathen sowie den Enteropneusten, bei welch letzteren man ohne genügenden Grund den Eichel- und Kragenpforten exkre- torische Funktion zugeschrieben hat. Unter den ektoprokten Bryozoen fehlt ferner ein Exkretionsorgan durchaus den Gymno- laemata, wo das als Nierenorgan in Anspruch genommene sogenannte Intertentakularorgan in Wirklichkeit einen Eileiter darstellt. Bei den Phylactolaemata besitzen einige Formen ebenfalls kein Exkretionsorgan, bei anderen scheint sich an den Verbindungs- kanälen der Lophophorhöhle mit den Ten- takelhöhlen ein solches von durchaus eigen- artigem Aufbau herauszubilden. Literatur. F. 31. Balfour, The anatomy and development of Peripatus capensis. Quart. Journ. microsc. science. N. S. vol. 23, 18S3. — H. M. Bernard, The coxal glands of Scorpio. Ann. Mag. Nat. Hist. 6. ser. vol. XII, 1393. — F. Blochmann, Untersuchungen über den Bau der Brachiopoden. Jena 1802. — L. 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Statt durch ihre Schwingungszahl v unterscheidet man allerdings die Schwin- gungen der Optik meistenteils durch ihre Wellenlänge X, die mit jener durch die Be- ziehung 1= C 1) v zusammenhängt, wo c die Lichtgeschwindig- keit in dem betreffenden Medium bedeutet und im leeren Räume = 3.1010 cm/sec ist. Als Grenzen der Lichtempfindung ergeben sich demnach auf Grund der Gleichung 1 die Wellenlängen 8.10-5 und 4.10-5 cm, oder, wie man in der Farbenlehre ge- wöhnlich zu schreiben pflegt, 800 und 400 jliju, wo 1 fifji 1 Millionstel Milli- meter bedeutet (1 u = 0,001 mm). Strah- len, deren Wellenlängen zwischen diesen Grenzen liegen, werden nun besonders von den glühenden Stoffen ausgesandt, und zwar kommen hiervon für die Farbenempfin- dung wieder besonders die festen und flüs- sigen in Betracht, da nämlich diese, wenn ihre Temperatur hoch genug ist, zugleich die sämtlichen überhaupt vom Auge wahrzunehmenden Aetherschwingungen aus- senden. Wir haben es also hier mit einem Gemisch aus unendlich vielen Strahlen zu tun, deren Wellenlängen den oben genannten Grenzbezirk vollkommen ausfüllen, ja in der Regel auch noch beiderseits mehr oder weniger darüber hinausragen. Auch unsere Sonne stellt eine solche Strahlenquelle dar, und zwar ist sie für die alltäglichen Farbenempfindungen des Menschen natürlich weitaus die wichtigste von allen. Trotz ihrer komplizierten Zusammen- setzung macht nun die Strahlung eines glühenden festen oder flüssigen Körpers auf das menschliche Auge doch einen voll- kommen einheitlichen Eindruck, den wir, wenn dieses Strahlengemisch mit demjenigen der Sonnenstrahlung annähernd überein- stimmt, als Weiß bezeichnen. Am reinsten sieht man dasselbe wohl am frisch gefallenen Schnee, sehr gut ferner auch an hellen Wolken, an weißem Porzellan, Papier usw., wobei allerdings für alle diese nicht leuchtenden Stoffe Voraussetzung ist, daß sie entweder von der Sonne selbst oder von einer hin- SÜD Farbe sichtlich der Zusammensetzung annähernd gleichwertigen Lichtquelle beleuchtet werden. Daß nun das weiße Sonnenlicht trotz seines einheitlichen Eindrucks auf das mensch- liche Auge doch nicht, wie z. B. Goethe meinte, einen einheitlichen, sondern einen sehr komplizierten Vorgang darstellt, ergibt sich daraus, daß sich ein solcher weißer Lichtstrahl z. B. durch ein Prisma oder ein Gitter in eine unendliche Menge von Einzel- strahlungen zerlegen läßt, die man mit diesen Apparaten z. B. auf einem weißen Stück Papier bandförmig nebeneinander als ein sogenanntes Spektrum ausbreiten kann. Die einzelnen Schwingungen des für das Auge in Frage kommenden Bereiches dieses Spektrums werden dann von unserem Seh- organ als verschiedene Farben wahrge- nommen und zwar genau genommen jede Wellenlänge als eine andere. In Wirk- lichkeit allerdings unterscheidet das Auge nur etwa 5 Farbenbezirke des Spektrums vollkommen deutlich als solche; diese sind in folgender Tabelle I zugleich mit den zugehörigen Wellenlängen angegeben. Tabelle I. Farbenbezirke des Spektrums. Wellenlängen in (i(i 800 — -600 Rot 600 — 580 Gelb 580—500 ( irün 500—430 Blau 430—400 Violett Newton allerdings unterschied außer diesen Farben noch zwei andere, nämlich das Orange zwischen Rot und Gelb und das Indigo zwischen Blau und Violett; indessen waren hierfür hauptsächlich theo- retische Gründe bestimmend, da er näm- lich dadurch auch in der Farbenskala wie in der akustischen Tonleiter auf sieben verschiedene Stufen kommen wollte. Der Vergleich mit den Tonempfindungen ist hier indessen schon deswegen nicht ange- bracht, weil eine mehr oder weniger große Harmonie der Farben wie bei den Tönen überhaupt nicht existiert. In der Tabelle I fällt vor allem die geringe Ausdehnung der Gelbempfindung auf, eine Tatsache, die wohl damit zu- sammenhängt, daß das Auge für diese Farbe die größte Empfindlichkeit hat. Andererseits kann man aber nicht sagen, daß unser Sehorgan allgemein für diejenigen | Farben, für welche es die größere absolute Empfindlichkeit hat, auch das größere Farben- unterscheidungsvermögen besitzt, denn es dehnt sich z. B. die Grünempfindung nach der obigen Tabelle I über einen größeren Spektralbezirk aus als die Blauempfindung, trotzdem das Auge für Grün sehr viel emp- findlicher ist als für Blau. Diese verschiedene Empfindlichkeit des Auges für die verschiedenen Spektralfarben geht übrigens annähernd proportional mit der Helligkeit, unter welcher uns die ver- schiedenen Farben des Sonnenspektrums er- scheinen, eine Größe, die zuerst von Fraun- hofer bestimmt wurde. Seine Ergebnisse sind in der Tabelle II dargestellt - - unter Beifügung der zugehörigen Spektralstelle (Fraunhoferschen Linie), Wellenlänge und Farbe. Tabelle IL Relative Helligkeiten im prismatischen Sonnenspektrum nach Fraunhofer. Linie Wellenlänge Farbe Helligkeit B C D E F 687 Rot 656 Rot 589 Gelb 560 Grüngelb 527 ( irün 486 Grünblau 3 9 64 100 48 17 G 431 Blauviolett H 397 Violett 0.6 Man sieht, daß die Empfindlichkeit des Auges am stärksten im Grüngelb bei etwa 560 ju.pt ist, und daß sie von da ab nach den beiden Enden des Spektrums hin ziemlich gleichmäßig abnimmt. Für das letzte Rot zwischen 800 und 680 juju sowie für das ganze Violett ist diese Empfindlichkeit so gering, daß diese Farben für die meisten Farbenwahrnehmungen des täglichen Lebens überhaupt nicht in Frage kommen. Die- jenigen Eindrücke nämlich, welche wir für gewöhnlich als Violett bezeichnen, setzen sich meistens aus einer Mischung der beiden Farben Rot und Blau zusammen, wie wir überhaupt sehen werden, daß die meisten Farben des täglichen Lebens keine reinen Spektralfarben sondern ein Gemisch aus sehr vielen derselben darstellen. Ehe wir aber auf diesen Gegenstand eingehen, sei noch erwähnt, daß Strahlen von der Art der Lichtschwingungen, wenn ihre Wellen- länge größer als 800 /uju ist, wegen ihrer Lage im Spektrum als Ultrarot und solche, deren Wellenlänge kleiner als 400 jujli ist, als Ultraviolett bezeichnet werden. Beide Strahlenarten lassen sich indessen, wie schon Farbe 831 erwähnt wurde, direkt mit dem Auge über- haupt nicht wahrnehmen, und sie kommen daher auch für unsere Farbenempfindungen noch viel weniger in Betracht als das an sie grenzende letzte Rot bezw. Violett des sichtbaren Spektrums. Was sodann diejenigen Farbeneindrücke angeht, welche durch die Mischung mehre- rer Farben Zustandekommen, so mag hier zunächst hervorgehoben werden, daß hier nicht etwa von einer Mischung von Farb- stoffen die Rede ist, sondern von einer solchen der verschiedenen Farbenstrahlen des sichtbaren Spektrums. Dies muß näm- lich deswegen betont werden, weil die Ver- wechselung dieser beiden Begriffe schon von jeher zu den größten Irrtümern geführt hat. Es kommt dies hauptsächlich daher, daß man im täglichen Leben unter „Farbe" sowohl einen Farbstoff als auch einen ge- färbten Lichtstrahl versteht, während in der Physik diese beiden Begriffe scharf aus- einander gehalten werden müssen, da wir sehen werden, daß die Mischung von Farb- stoffen hinsichtlich des Farbeneindrucks ganz andere Resultate ergibt als die Mischung von Farben, d. h. von Farbstrahlen. Wenn daher hier von einer Farbe gesprochen wird, so handelt es sich stets um einen bestimmten Lichtstrahl des sichtbaren Spektrums oder auch eine Mischung einer mehr oder weniger großen Anzahl derselben. Von der Mischung von Farbstoffen dagegen wird im folgenden Abschnitt - bei den Körperfarben — die Rede sein. Um nun aber die bei der Mischung der einzelnen Farben des Spektrums zu erwar- tenden Farbeneindrücke verstehen zu kön- nen, muß man von den Versuchen über die Mischung reiner Spektralfarben ausgehen, wie sie zuerst 1854 von Helmholt z an- gestellt wurden. Dieser mischte zunächst zwei verschiedene Wellen des Sonnenspek- trums dadurch, daß er in das letztere einen Schirm mit zwei beliebig gegeneinander verschiebbaren Spalten brachte und die durch sie hindurchgegangenen Einzelfarben wieder durch eine Linse vereinigte. Hierbei ergab sich zunächst die bemerkens- werte Tatsache, daß der Eindruck des Weiß, der ja, wie schon erwähnt wurde, durch die Gesamtheit der Wellen des Sonnen- spektrums hervorgerufen wird, auch schon durch Vereinigung je zweier einfacher Spek- tralfarben erhalten wird, und zwar gibt es, genau genommen, wieder unendlich viele solcher Farbenpaare, die zusammen Weiß ergeben, Paare, die man übrigens als elemen- tare Komplementärfarben bezeichnet. In der folgenden Tabelle III, die von Heimholt z stammt, sind für einige dieser unendlich vielen Farbenpaare nicht bloß die zugehörigen Wellenlängen sondern auch das Verhältnis der Wellenlängen jedes Paares angegeben. Tabelle III. Wellenlängen und Wellenverhältnisse elementarer Komplementärfarben. Farbe Wellenlänge T_ , | Komplementär- ,v ,, ... i , Wellenlange tarba Verhältnis der Wellenlängen Rot ( hange Goldgelb Goldgelb Gelb Gelb Grüngelb 656,2 607,7 585,3 573,9 567,1 564,4 563,6 Grünblau Blau Blau Blau Indigoblau Indigoblau Violett 492,i 489,7 485,4 482,1 464,5 461,8 von 433 ab r,334 1.240 1,206 1.190 1,221 1.222 i,3°i Daß das Wellenlängenverhältnis am klein- sten für die in der Mitte der Tabelle auf- geführten Paare ist, hängt damit zusammen, daß sich der Farbenton im Spektrum um die Wellenlänge 580 herum sehr schnell, für die komplementäre Spektralgegend dagegen sehr viel langsamer ändert, wie ja auch aus Tabelle I hervorgeht. Weiter ist zu der Tabelle III noch zu bemerken, daß darin der mittlere Teil des Spektrums zwischen 560 und 495 ju/u, d. h. also das eigentliche Grün, vollständig fehlt, oder daß mit anderen Worten diese Farbe überhaupt keine einfache Komplementärfarbe besitzt. Da nun aber andererseits diese Wellen zusammen mit allen anderen Strahlen des Spektrums den Eindruck des Weiß er- geben, so muß es doch möglich sein, auch diese Wellen, wenn auch nicht durch eine, so doch durch mehrere andere Strahlen zu Weiß zu ergänzen. Nach Helmholtz genügen hierzu schon zwei andere Farben, nämlich je eine von den beiden Enden des Spektrums, d. h. das Grün wird erst durch die beiden Farben Rot und Violett zu Weiß ergänzt. In der Praxis allerdings verschwindet, wie schon oben erwähnt wurde, der Ein- druck des eigentlichen Violett des Spek- trums meistens nahezu vollkommen, so daß man für gewöhnlich auch schon Rot und 832 Farbe Grün allein als komplementäre Farben an- sieht. Kommen wir sodann zu der Mischung solcher Elementarfarben, welche nicht kom- plementär sind, so haben wir zu unter- scheiden zwischen solchen, welche im Spek- trum einen geringeren Abstand haben als zwei Komplementärfarben und solchen mit größerem Abstand. Im ersteren Falle stimmt der Ton der Mischfarbe stets mit demjenigen einer im Spektrum zwischen den beiden Komponenten liegenden Wellen- länge überein, und zwar wird der Ton um so gesättigter, je dichter die Komponenten im Spektrum beieinander liegen, und um- gekehrt um so weißlicher, je näher sie dem komplementären Paare kommen. So er- gibt z. B. die Mischung von Spektralrot und Spektralgelb ein gesättigtes Kotgelb (Orange), diejenige von Rot und Grün da- gegen ein weißliches Gelb, und ähnlich liegen die Verhältnisse am anderen Ende des Spektrums. Ist ferner der Abstand der beiden Misch- farben im Spektrum größer als derjenige zweier komplementärer Wellenlängen, ein Fall, der nach der Tabelle III nur bei der Mischung von Rot mit Blau oder Violett, sowie von Gelb mit Violett auftreten kann, so ergibt sich als Mischfarbe entweder Purpurrot oder Rosarot, das erstere näm- lich nur bei der Mischung von Rot und Violett und das letztere in den beiden übrigen Fällen; und zwar gilt auch hier wieder, wie oben, der Satz, daß die Mischfarbe um so weißlicher wird, je näher die beiden Kom- ponenten den komplementären Wellenlängen liegen. Bei dieser Mischung einzelner Spektral- farben ist ferner noch zu berücksichtigen, daß diese für das Auge eine sehr verschiedene Helligkeit besitzen, und daß daher, wenn man bei der Mischung etwa gleiche Wellen- längenbezirke nimmt, die Farbe der helleren Welle überwiegt. In der Mischung des ge- samten Lichtes gleicht sich jedoch dieser Unterschied einesteils deswegen aus, weil die hellste Farbe des Spektrums, das Gelb, nur einen relativ schmalen Wellenbezirk umfaßt, während der dazu komplementäre blaue Teil ziemlich ausgedehnt ist; und weil anderenteils auch das noch sehr helle und ausgedehnte Grün in zwei noch stärker ausgedehnten Spektralbezirken, nämlich dem ganzen Rot einerseits und dem ganzen Violett andererseits, seine komplementären Farben findet, Bei den Farbeneindrücken des täglichen Lebens handelt es sich nun allerdings in den seltensten Fällen um eine Mischung ein- zelner Wellenlängen des Spektrums, sondern stets um eine solche ganzer Spektralbezirke, so daß wir auch hierauf noch etwas näher eingehen müssen. Durch die Mischung mehrerer Elementar- farben des Spektrums ergibt sich nun, wie auch nach dem obigen ohne weiteres ver- ständlich ist, überhaupt kein neuer Farben- eindruck mehr, sondern es kann sich dabei stets nur um eine mehr oder weniger große Verflachung eines bestimmten Farbentones des Spektrums handeln, wenn auch die Mischfarbe dadurch, daß sie stets heller ist als die Komponenten — es handelt sich ja bei dieser Art der Mischung stets um eine Addition von Farbeneindrücken — zumal in den lichtschwächeren Teilen des Spek- trums unter Umständen gesättigter er- scheinen mag als irgendein Teil des Spek- trums selbst. So leuchtet z. B. das Licht, welches von einer Kupferoxydammoniak- lösung durchgelassen wird, und welches bei geeigneter Konzentration der Lösung die gesamten blauen und violetten Strahlen des Spektrums — aber auch nur diese — um- faßt, in einem geradezu wundervollen Blau, obgleich es nach den obigen Mischungsregeln natürlich weniger gesättigt sein muß als irgendeine der vielen Komponenten, aus denen es sich zusammensetzt. Jedenfalls sieht man aber aus diesem Beispiel, daß auch die Mischung der gesamten blauen Strahlen des Spektrums keine andere Farbe als Blau ergibt, wie ja auch aus jenen Regeln ohne weiteres folgt. Benutzt man ferner bei diesen Versuchen eine Farbstoffschicht, welche neben dem größten Teil des Blau des Spektrums auch noch das Grün derselben durchläßt, so er- hält man als Mischfarbe wieder, wie die angegebenen Regeln erwarten lassen, einen zwischen den beiden in Frage kommenden Spektralbezirken liegenden Farbenton, d. h. also ein Grünblau oder Blaugrün, je nachdem von den beiden Komponenten das Blau oder das Grün vorherrscht. Kommt ferner bei einer anderen Farbstoffschicht zu der Mischung von Blau und Grün auch noch ein Teures Gelb des Spektrums hinzu, das ja nach Tabelle III komplementär zu einem Teil des Blau ist, d. h. mit diesem zusammen Weiß ergibt, so muß dadurch die Gesamt- ' färbe zunächst einen weißlichen Ton erhalten, und zwar wird diese Farbenänderung haupt- ! sächlich auf Kosten des durch seine Kom- plementärfarbe vernichteten Blau gehen, so daß demnach der Farbenumschlag außer zum Weiß auch gleichzeitig zum Grün hin gehen wird, und wir also schließlich ein Hellgrün erhalten. In ähnlicher Weise ergeben sich auch die bei der Mischung der übrigen Spek- tralbezirke des Spektrums zu erhaltenden Farbe s:53 Farbeneindrücke. Immerhin ist aber bei diesen Farbenmischungen noch zu berück- sichtigen, daß das Helligkeitsverhältnis der einzelnen zur Mischung gelangenden Spektral- farben im praktischen Leben häufig ein ganz anderes ist als wir es im Sonnenspek- 1 sorbiert, trum selbst vorfinden, da nämlich die ein- dagegen zelnen Strahlen derselben in den verschiede- nen Stoffen meist in ganz verschiedener Stärke geschwächt werden. In dieser Be- ziehung gilt nun als Regel, daß der Farbenton derjenigen Komponenten, deren Helligkeit die größere ist, auch in der Mischung ent- sprechend mehr hervortritt. Handelt es sich also z. B. Wellenlängen, so nicht mehr reines Weiß ergeben sondern ein solches mit einem Stich in die Farbe der relativ helleren Wellenlänge. Wenn ferner zwei komplementäre Strahlen des Spektrums zwar in richtigem Stärkeverhältnis, aber doch beide nur mit sehr geringer Intensität zur Mischung gelangen, so wird der Eindruck, welchen das Auge dabei erhält, als Grau bezeichnet, eine Farbe, die natürlich auch z. B. dann entsteht, wenn alle Farben des Spektrums zusammen in stark abge- schwächter Intensität zur Wirkung kommen. Grau ist also nichts anderes als ein licht- schwaches Weiß. Wiegt jedoch bei einer solchen Mischung von lichtschwachen Farben- strahlen z. B. die rote Seite des Spektrums vor der andern vor, so spricht man von Braun mit den Unterabteilungen Rotbraun oder Gelbbraun, je nachdem hierbei das Rot oder das Gelb in den Vorder- grund tritt. Hat dagegen in dem licht- schwachen Weiß die kurzwellige Seite des Spektrums die relativ größere Intensität, so redet man von Blau grau oder Stahl- grau. Ein Grau mit vorherrschendem Grün ferner heißt Olivengrün. Bei voll- kommenem Fehlen der Lichtwirkung endlich entsteht der Eindruck des Schwarzen. Weiteres über die Farbenmischung findet man übrigens auch noch im nächsten Ab- schnitt unter den Körperfarben. 2. Die Körperfarben. Die Körperfarben stellen die einfachste und gewöhnlichste Art der Farben dar. Es gehören hierzu nämlich nicht bloß die sämtlichen Farben der Blätter und der Blüten der Pflanzen- welt sondern auch die meisten Farben der Tierwelt, sowie vor allem auch die der vielen, künstlich gefärbten Gegenstände. Auch jene Farben der organischen Welt rühren nämlich ebenso wie die dieser künst- lich gefärbten Gegenstände von sogenannten Farbstoffen her, so daß man also die Körper- farben auch als „Farbstofffarben" be- zeichnen kann. Die Fähigkeit, auf das menschliche Auge Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. den Eindruck einer Farbe hervorzurufen, erlangt nun ein solcher Farbstoff durch die Eigenschaft, daß beim Durchgang des Lichtes durch ihn ein Teil der Strahlen des sicht- baren Spektrums mehr oder weniger ab- d. h. ausgelöscht, ein anderer Teil nahezu ungeschwächt hindurch- gelassen wird. Am besten lernt man die Eigenschaften eines solchen Stoffes kennen, wenn man ihn in einem geeigneten Lösungs- mittel (Wasser, Alkohol, Äether, Aceton oder dgl.) auflöst, dann die Lösung in geeigneter Konzentration in ein sogenanntes Absorp- tionsgefäß, d. h. ein Gefäß mit zwei sich um zwei komplementäre gegenüberstehenden Wänden aus farblosen wird dann die Mischuno; Spiegelglasplatten bringt, und durch dieses dann die Strahlung einer Lichtquelle schickt, deren Spektrum die einzelnen Farben mög- lichst in dem gleichen Helligkeitsverhältnis enthält wie das der Sonne; und zwar kommt zu diesem Zwecke neben dem Sonnenlicht selbst von den künstlichen Lichtquellen be- sonders der Nernstbrenner sowie die Acetylen- lampe in Frage. Allenfalls genügt aber auch das Licht einer gewöhnlichen elektrischen Glühlampe, eines Auerbrenners oder auch einer Petroleumlampe. Das durch die Lösung hindurehgesjangene Licht wird dann mit dem Spalt eines Spektro- skopes aufgefangen, und dann in diesem Instrument die Verteilung der Absorption auf die verschiedenen Farben des Spektrums beobachtet. Will man die Farbe des gefärbten Gegen- standes selbst in dieser Weise analysieren, so beleuchtet man ihn möglichst hell mit einer der genannten Lichtquellen und richtet dann das Spaltrohr des Spektroskops so auf ihn, daß in letzteres nur das diffus zerstreute, nicht aber das oberflächlich von ihm reflektierte Licht hineingelangt, da nämlich dieses, wie wir im nächsten Ab- schnitt sehen werden, meistens nahezu die gleiche Farbe zeigt wie das auffallende Licht und daher die eigentliche Körper- farbe des Gegenstandes stets mehr oder weniger verdeckt. Bei durchsichtigen oder durchscheinenden Gegenständen (gefärbten Gläsern. Papieren, Laub- und Blütenblättern, Zeugstoffen usw.) ist es häufig vorteilhafter, das durch den Stoff hindurchgegangene Licht zu analysieren. Zur genaueren zahlenmäßigen Bestim- mung der Absorption der verschiedenen Wellenlänüen des Spektrunis in einem be- stimmten Farbstoff ferner benutzt man an Stelle des Spektroskops ein sogenanntes Spektralphotometer, wie es z. B. von Vier- or dt angegeben ist. Dessen Instrument unter- scheidet sich von einem gewöhnlichen Spektro- skop in der Hauptsache nur dadurch, daß daran statt eines Spaltes deren zwei an- 53 834 Farbe gebracht sind, die unmittelbar nebeneinander in derselben Vertikalen liegen, und von denen jeder seine besondere Mikrometer- schraube hat, um damit die beiden Spalt- breiten genau messen zu können. Vor dem einen dieser beiden Spalte wird nun die zu untersuchende Farbstofflösung in bestimmter Konzentration und Schichtdicke angebracht, während durch den anderen das Licht der zur Untersuchung dienenden Lichtquelle frei hindurchgeht. Zunächst wird dann die Breite des ersteren Spaltes passend ein- gestellt, und nun die des anderen so weit verringert, bis die Helligkeit der von beiden den Spalten herrührenden Spektren, die natürlich im Okular des Apparates un- mittelbar übereinander gesehen werden, an der in Frage kommenden Spektralstelle die gleiche ist. Aus dem Verhältnis der beiden Spaltbreiten ergibt sich dann ohne weiteres der Wert des zu messenden „Absorptions- koeffizienten" der Lösung für den in Frage kommenden Spektralbezirk. Näheres über dieses und andere Spektralphotometer muß in den betreffenden Spezialwerken nach- gesehen werden. Auf die Bedeutung des Absorptionskoeffizienten wird übrigens am Schlüsse dieses Abschnittes noch etwas näher eingegangen werden, da wir dieser Größe auch noch im folgenden Abschnitt wieder begegnen werden. Schon die einfache spektroskopische Be- obachtung des Absorptionsspektrums eines Farbstoffes genügt nun aber, um über die allgemeinen, für die Theorie der Körper- farben in Frage kommenden Gesichtspunkte Aufschluß zu geben. Sie zeigt nämlich zu- nächst, daß ein Farbstoff diejenigen Wellen des Spektrums, deren Farbe er aufweist, stets nahezu ungeschwächt hindurchläßt, vor allem aber auch, daß er die zu seiner Eigenfarbe komplementären Wellenlängen stets mehr oder weniger stark absorbiert. Diese letztere Eigenschaft ist fast noch wich- tiger als die erstere; denn es lassen z. B. die meisten gelben Farbstoffe außer den gelben Strahlen des Spektrums auch den größten Teil des Rot oder Grün noch mehr oder weniger gut durch, dagegen haben alle gelben Farbstoffe die Eigenschaft, daß sie das dem Gelb komplementäre Blau ab- sorbieren. Das Charakteristische eines Farb- stoffes ist daher im Grunde genommen nicht die Art der von ihm durchgelassenen, sondern die der von ihm absorbierten Wellen des Spektrums oder mit anderen Worten: die Lage und Breite des dunklen Absorptions- streifens in seinem Absorptionsspektrum. Ein solcher gelber Farbstoff, der außer den gelben auch die grünen und roten Strahlen des Spektrums nahezu ungeschwächt hin- durchläßt, zeigt nun allerdings eine hell- gelbe, d. h. eine mit Weiß gemischte gelbe Farbe; denn nach den im ersten Abschnitt gegebenen Regeln über die Mischung von Farbeneindrücken im Auge ergänzen sich das vom Farbstoff gleichfalls durchgelassene Grün und Rot annähernd zu Weiß. Ist dagegen die Absorption des Grün hierbei stärker als die des Rot, so wird der Ton der Farbstofffarbe ins Rötliche und im umge- kehrten Falle ins Grünliche schlagen. Wird jedoch die eine dieser beiden Farben hierbei - ebenso wie das Blau — vollständig ab- sorbiert, die andere dagegen — - ebenso wie das Gelb — vollständig durchgelassen, so haben wir es schließlich mit einem aus- gesprochenen Rotgelb bezw. Grüngelb zu tun. Bei denjenigen Farbstoffen, welche eine rote Farbe zeigen, erstreckt sich die Ab- sorption des Stoffes in erster Liiüe natür- lich wieder über das zum Rot komplementäre Grün, und, wenn dann zugleich mit dem Rot auch noch das Gelb und Blau gut durchge- lassen werden, so haben wir es wieder mit einem Hellrot zu tun, da sich ja Gelb und Blau zu Weiß ergänzen. Wird jedoch von den letzteren beiden Farben hierbei das Blau stärker absorbiert als das Gelb, so muß der Ton der Farbe gelbrot (ziegelrot) sein; ist das Umgekehrte der Fall, so haben wir Rosa, d. h. ein Rot vor uns, welches einen Stich ins Blaue zeigt. Ein roter Farbstoff endlich, der nur die roten Strahlen des Spektrums gut durchläßt, alle anderen Farben desselben aber absorbiert, zeigt natürlich ein gesättigtes Rot (Blut- rot). Die grünen Farbstoffe absorbieren stets sowohl das rote wie das violette Ende des Spektrums, da ja diese beiden Spektral- bezirke zugleich das Komplement des Grün bilden; sie können demnach außer dem Grün höchstens noch Gelb und Blau durch- lassen, die zusammen wieder Weiß ergeben; und in diesem Falle handelt es sich dann wieder um ein Hellgrün. Wird ferner — außer dem Grün — nur noch die eine dieser beiden Farben gut durchgelassen, so haben wir es ähnlich wie oben mit Gelb grün oder Blaugrün zu tun. Die blauen Farbstoffe endlich zeigen stets eine kräftige Absorption des Gelb, so daß also außer dem Blau eventuell auch noch das Rot und das Grün von ihnen durch- gelassen werden kann, was auch in diesem Falle wieder Hellblau liefert. Fehlt da- gegen in dem Absorptionsspektrum außer dem Gelb auch noch der größte Teil des Rot, so erhalten wir Grünblau, und wenn statt des Rot das Grün absorbiert wird, so ergibt sich Rotblau, eine Farbe, die ge- wöhnlich mit Lila oder auch vielfach mit Violett bezeichnet wird, da sie mit der Farbe 835 diesen Namen tragenden Farbe der kürzesten Wellen des sichtbaren Spektrums tatsäch- lich eine gewisse Aehnlichkeit besitzt. Derjenige Teil dieser Darlegungen, welcher sich auf die Zusammensetzung der als Hellrot, Hellgelb usw. bezeichneten Farben bezieht und welcher nicht bloß für die Farben der Farbstoffe, sondern ganz allgemein gilt, ist in folgender Tabelle IV noch besonders zusammengestellt, da er für die sogleich folgenden Betrachtungen über die Mischung von Farbstoffen von Bedeutung ist. Tabelle IV. Es besteht Hellrot Hellgelb Hellgrün Hellblau aus ' Rot Gelb Blau Rot Gelb Grün Gelb Grün Blau Rot Grün Blau Wenden wir uns nun Farbeneindrücken, welche Mischung zweier zu denjenigen sich bei der oder mehrerer Farb- stoffe ergeben, so ist liier zunächst noch einmal zu betonen, daß eine Mischung von Farbstoffen etwas ganz anderes darstellt, als eine solche von Farben, d. h. Farb- strahlen, wie sie im ersten Kapitel betrachtet wurde. Während es sich nämlich dort für das Auge stets um eine Addition von Farbeneindrücken handelte, findet bei der Mischung von Farbstoffen stets eine Sub- traktion solcher Eindrücke statt, denn jeder der Farbstoffe absorbiert von dem auf- fallenden weißen Licht einen bestimmten Teil, so daß also die Mischung stets mehr Licht absorbiert, d. h. mehr von dem auffallenden Lichte wegnimmt als jeder der Stoffe für sich allein. Darum spricht man denn auch hier von einer Subtraktionsfarbe, bei der Mischung von Farbstrahlen dagegen von einer Additionsfarbe. Mischen wir also einen roten Farbstoff, welcher nur die grünen Strahlen des Spektrums absor- biert, und welcher also nach den früheren Darlegungen eine hellrote Farbe zeigt, mit einem solchen, welcher nur Blau ab- sorbiert, und also hellgelb aussieht, so wird die Mischung beider sowohl die grünen wie die blauen Strahlen auslöschen, und das von ihnen beiden zusammen durchge- lassene Licht wird daher nicht bloß eine andere Farbe haben als das von jedem allein durchgelassene, sondern auch stets dunkler sein als diese, während die bei der Mischung zweier Farbstrahlen entstehende Misch- farbe stets heller ist als jede der Kompo- nenten, j Was die bei der Mischung von Farb- von Stoffen zu erwartende Farbe der Mischung angeht, so ist zunächst klar, daß zwei Farbstoffe, von denen jeder nur eine Farbe des Spektrums, also der eine z. B. nur Rot und der andere nur Blau, durch- läßt, bei ihrer Vermischung überhaupt kein Licht mehr durchlassen können, da ja der eine dann stets das von dem anderen noch durchgelassene Licht verschluckt. Die Farbe der Mischung muß demnach in diesem Falle schwarz sein. Mischt man zwei Farbstoffe, von denen jeder für sich je zwei Farben- regionen des Spektrums durchläßt, d. h. also eine Mischfarbe der beiden Regionen zeigt, so wird die Farbe der Mischung auch dann noch in zwei Fällen Schwarz sein, nämlich dann, wenn die hier in Frage kom- menden vier Regionen des Spektrums sämt- lich verschieden voneinander sind. Dies ist zunächst der Fall, wenn man einen rot- gelben Farbstoff mit einem blaugrünen, und ferner auch, wenn man einen rotblauen mit einem grüngelben mischt; denn in beiden Fällen absorbiert der eine der beiden Stoffe wieder gerade die von dem anderen noch durchgelassenen Wellen. In den vier anderen hier noch möglichen Fällen dagegen erhält man bei der Mischung zweier solcher Farb- stoffe nicht mehr Schwarz, sondern eine reine Spektralfarbe, und zwar offenbar die- jenige, welche von den beiden gemischten Farbstoffen gemeinsam durchgelassen wird. Die Vermischung eines rotgelben Farb- stoffes mit einem grüngelben gibt nämlich Gelb, die eines rotgelben mit einem rotblauen Rot, die eines gelbgrünen mit einem grünblauen Grün und die eines grünblauen mit einem rotblauen schließlich Blau. Was die Mischung solcher Farbstoffe angeht, von denen jeder für sich drei Farbenbezirke des Spektrums durchläßt, und die, wie wir oben gesehen haben, entweder Heihot, Hellgelb, Hellgrün oder Hellblau zeigen müssen, so erhält man jetzt, solange man nur zwei dieser Stoffe mischt, überhaupt kein Schwarz mehr, da die Mischling in diesem Falle, wie aus der Tabelle IV folgt, stets zwei Farbenbezirke des Spek- trums durchläßt, die in der folgenden Tabelle V zusammengestellt sind. 53* 836 Farbe Tabelle V. Gemische Farbstoffe Mischfarbe Hellrot + Hellgelb Hellrot + Hellgrün Hellrot + Hellblau Hellgelb + Hellgrün Hellgelb + Hellblau Hellgrün + Hellblau Eotgelb Gelbblau = Weiß Rotblau Gelbgrün Rotgrün = Weiß Grünblau Hier ergibt sich also bei der Mischung wieder nur in vier Fällen ein wirklicher Farb- stoff, in den beiden anderen dagegen Weiß, das allerdings, da es sich ja hier um Sub- traktionsfarben handelt, nur ziemlich licht- schwach und also mehr ein Grau sein wird. Außer den betrachteten Farbstoffmischun- gen kommen noch solche in Betracht, wo man je einen der zuletzt betrachteten d. h. also je drei Spektralbezirke durchlassenden Farbstoffe mit je einem der früher be- sprochenen, d. h. also entweder nur je eine oder je zwei Bezirke durchlassenden, mischt. In dem ersteren dieser beiden Fälle kann sich nun bei der Mischung offenbar nur entweder Schwarz oder diejenige Misch- farbe ergeben, welche der nur die eine Spektralfarbe durchlassende Stoff zeigt; und zwar ergibt sich wieder aus der Tabelle IV, daß zunächst das erstere in 4 Fällen auf- treten muß, nämlich bei der Mischung von Hellrot mit Grün, von Hellgelb mit Blau, von Hellgrün mit Rot und von Hellblau mit Gelb; denn in allen diesen Fällen ab- sorbiert der eine der beiden Farbstoffe immer gerade die von dem anderen durch- gelassenen Spektralbezirke. Es entsteht demnach hier Schwarz durch die Mischung von je zwei Farbstoffen, deren Farben, wenn sie additiv gemischt würden, gerade im Gegenteil Weiß liefern würden, d. h. komplementär zueinander sind; hier tritt also der Unterschied der Additions- und der Subtraktionsfarben in schroffster Weise in die Erscheinung. Weiter ergeben sich nach Tabelle IV 12 Fälle, wo sich bei der Mischung eines der darin gekennzeichneten vier für je drei Spektralbezirke durchlässigen Farb- stoffe, mit je einem nur einen solchen Bezirk durchlassenden Stoff eine wirkliche Farbe bildet, nämlich bei der Mischung von Hell- rot mit Rot, Gelb oder Blau, von Hellgelb mit Rot, Gelb oder Grün, von Hellgrün mit Gelb, Grün oder Blau und schließlich von Hellblau mit Rot, Grün oder Blau. Die entstehende Mischfarbe ist natürlich in allen diesen Fällen diejenige des zuletzt genannten, nur einen Spektralbezirk durch- lassenden Farbstoffs, und eine solche Mi- schung wird daher im allgemeinen wenig Zweck haben. Endlich bleiben uns dann noch die- jenigen Farbeneindrücke übrig, welche sich bei der Mischung eines je drei und eines je zwei Farbenbezirke des Spektrums durch- lassenden Farbstoffes ergeben. Von diesen sind die ersteren durch die Tabelle IV gekennzeichnet, während die letzteren durch die vier Mischfarben Rotgelb (Orange), Gelbgriin, Grünblau und Rotblau (Lila) dargestellt werden. Bei den letzteren ergeben sich die von jedem Farbstoff durch- gelassenen Spektralbezirke unmittelbar aus ihrem Namen, und die Zusammenstellung dieser Durchlaßfarben mit denjenigen der Tabelle IV zeigt dann, daß sich bei der Mischung zunächst in 8 Fällen einfach die Farbe des zwei Spektralbezirke durchlassen- den Farbstoffs ergeben muß, nämlich Rot- gelb bei der Mischung von Rotgelb mit Hellrot oder Hellgelb, Gelbgrün bei der Mischung von Gelbgrün mit Hellgelb oder Hellgrün usw. Auch diese Farbstoffmischun- gen bieten deshalb, da sie ja stets nahezu unverändert die Farbe der einen Kompo- nente zeigen müssen, kein besonderes Inter- esse. Wesentlich anders dagegen verhält es sich mit den 8 Mischungen, deren Resultat in der folgenden Tabelle VI zusammengestellt ist, die sich wieder sehr einfach auf Grund der Angaben derTabelle IV ergibt. Tabell e VI. Gemischte Farbstoffe Mischfarbe Rotgelb + Hellgrün Gelb Rotgelb + Hellblau Rot Grüngelb + Hellrot Gelb Grüngelb + Hellblau Grün Grünblau + Hellrot Blau Grünblau + Hellgelb Grün Rotblau + Hellgelb i:.it Rotblau + Hellgrün Blau Bemerkenswert ist bei diesen Mischungen zunächst, daß die Mischfarbe stets eine reine Spektralfarbe ist, und ferner auch noch, daß diese resultierende Farbe in der einen der beiden Komponenten — der in der Tabelle zu zweit stehenden nämlich - überhaupt nicht enthalten zu sein scheint. Das letztere erklärt sich natürlich einfach daraus, daß sie hier jedesmal durch ihre Komplementärfarbe verdeckt wird. Bei allen diesen Färbst offmischungen ist nun allerdings zu bedenken, daß es Farbstoffe, welche ein, zwei oder drei Farbe 837 die in Frage ist Regionen des Spektrums - - und nur diese — absorbieren, überhaupt nicht gibt, son- dern daß die meisten dieser Stoffe, wie das Spektroskop lehrt, an einer bestimmten Stelle des Spektrums ihr Absorptionsmaxi- mum besitzen, und daß von hier aus die Absorption nach beiden Seiten hin all- mählich abnimmt, und zwar erstreckt sie sich von jenem Maximum aus gewöhnlich um so weiter über die benachbarten Spektral- bezirke hin, je konzentrierter und je dicker kommende Farbstoffschicht Schwach konzentrierte Lösungen eines Farbstoffes andererseits absorbieren oft nur verhältnismäßig kleine Teile des zu ihrer Körperfarbe gehörigen komple- mentären Farbenbezirks des Spektrums, so daß dann bei der Vermischung des Stoffes mit anderen Farbstoffen die übrigbleiben- den Teile dieses Bezirks in der Mischfarbe noch sehr deutlich zum Vorschein kommen, und daher diese von der nach den oben gegebenen Regeln zu erwartenden oft nicht unbeträchtlich abweicht. Einen voll- kommen genauen Aufschluß über die bei der Mischung von Farbstoffen zu erhaltende Mischfarbe kann daher nur die spektro- skopische Untersuchung des von jedem der Stoffe durchgelassenen Lichtes ergeben; und es gilt dann die Regel, daß die Misch- farbe sich aus allen denjenigen Wel- len des Spektrums in demjenigen Int ensitäts Verhältnis zusammensetzt, wie es übrig bleibt, wenn das zur Beobachtung verwandte Licht nach- einander durch die sämtlichen mit- einander gemischten Stoffe gegangen ist. Da nun aber schon die Zahl der Farb- stoffe mit einer bestimmten Körperfarbe eine sehr große ist, da ferner die meisten dieser die gleiche Farbe zeigenden Stoffe trotzdem ein ziemlich verschiedenes Ab- sorptionsspektrum zeigen können, und da endlich bei einer Mischung mehrerer Farb- stoffe nicht bloß jeder einzelne Komponent in beliebiger Konzentration, sondern auch die Komponenten selbst noch wieder in beliebigem Verhältnis zueinander gemischt werden hönnen, so ergibt sich demnach aus allein diesem, daß die Zahl der auf diese Weise herzustellenden Farbentöne geradezu mehrfach unendlich sein muß; und dies beweist ja auch die ganz gewaltige Fülle der Farbenarten, die die Gegenstände des täglichen Lebens uns darbieten. Der Färber aber, der diese Farbenein- drücke erzeugen, oder der Maler, der sie nachahmen will, wird bei seinen Farb- stoffmischungen stets am sichersten an der Hand des Spektroskopes arbeiten, und die oben angegebenen Regeln sind daher zur allgemeinen Uebersicht be- auch um- stimmt. Als ein besonders interessantes Beispiel der Mischung von Farbstoffen sei hier diejenige etwas näher betrachtet, welche bei dem sogenannten Dreifarbendruck zu- stande kommt. Die drei dabei zur Verwen- dung kommenden Farben sind in Figur 1 zum Teil neben- und zum Teil übereinander gedruckt, und man sieht, daß es sich dabei — oberflächlich betrachtet um Rot, Gelb und Blau handelt. Jeder dieser drei Farbstoffe läßt nun aber nicht etwa bloß den seiner Farbe entsprechenden Farben- bezirk des Spektrums durch; denn dann müßte, wie wir oben gesehen haben, schon der Uebereinanderdruck je zweier der- selben ein vollkommenes Schwarz ergeben, und es wäre also damit weder die Wiedergabe irgendeiner Mischfarbe noch auch die der vierten Hauptfarbe des Spektrums, des Grün nämlich, möglich. Bei genauerem Hinsehen sieht man denn auch, daß die drei Farben der Figur 1 als Hellrot, Hell- gelb und Grünblau zu bezeichnen sind, und aus den obigen Darlegungen folgt dann zu- nächst und die Figur 1 bestätigt es auch — , daß der Uebereinanderdruck des Hellrot und des Hellgelb ein Gelbrot der des Grünblau und des Hellgelb reines Grün liefern muß, Farben, natürlich, da es sich um Subtraktionsfarben handelt, beide dunkler sind als jede der Mischfarben für sich allein. Die Mischung von Hellrot und Grünblau ferner liefert nach Tabelle VI ein dunkles Blau, das jedoch in dem Falle, wo der letztere Farbstoff etwas schwächer aufgetragen wird, einen Stich ins Rötliche erhält und dann als Lila er- scheint. In ähnlicher Weise lassen sich auch alle übrigen Farbentöne zwischen Rot und Gelb und Gelb und Blau durch mehr oder weniger starkes Auftragen einer der beiden in Frage kommenden Mischfarbe» erzeugen. und ein die 83S Farbe Der Uebereinanderdruck der sämtlichen drei Farben der Figur 1 erzeugt, wie die Figur zeigt, ein vollkommenes Schwarz, was sich theoretisch z. B. in der Weise er- gibt, daß das Grün, welches aus der Mischung des Hellgelb und Grünblau entsteht, durch das dann noch hinzugefügte Hellrot voll- kommen ausgelöscht werden muß, da das Absorptionsmaximum eines hellroten Farb- stoffes stets im Grün liegt. Bei weniger starkem Auftrag der drei Farben wird, wenn alle drei im gleichen Verhältnis ab- geschwächt werden, die Mischfarbe Grau, das beim stärkeren Auftrag einer der drei Farben natürlich den Ton dieser Farbe an- nimmt, so daß sich auf diese Weise also auch die weniger ausgesprochenen Farbentöne ziemlich naturgetreu wiedergeben lassen. Als Gegensatz zu diesen Mischungen von Farbstoffen mögen sodann auch noch einige nicht minder wichtige Mischungen von Farben, d. h. Farbeneindrücken be- sprochen werden, nämlich einerseits die- jenigen, welche beim Newtonschen Krei- sel, und andererseits die, welche bei dem Lumi er eschen Au t o ehr om verfahren zustande kommen. Denn wenn auch in diesen beiden Fällen zur Farbenmischung ebenfalls Farbstoffe benutzt werden — beim Kreisel nämlich zur Färbung der ein- zelnen Sektoren der rotierenden Pappscheibe und bei den Autochromplatten zur Färbung der darin gleichmäßig verteilten roten, grünen und blauen Stärkekörner — , so handelt es sich doch in diesen beiden Fällen nicht wie oben um eine Uebereinander- lagerung der betreffenden Farbstoffe, sondern um eine Nebeneinanderlagerung derselben, so daß hier also nicht ihre Subtraktions-, sondern ihre Additionsfarbe zur Geltung kommt. So geben z. B. ein blaues und ein gelbes Stärkekörnchen, die in der Autochromplatte unmittelbar nebeneinander liegen, zusammen nicht den Eindruck des Grün, wie sie ihn geben würden, wenn sie hintereinander in der Platte lägen, sondern den des Weiß; und ebenso vermischen sich auch bei einer rotierenden Newtonschen Scheibe, die zur Hälfte gelb und zur Hälfte blau gestrichen ist, diese beiden Farben im Auge des Beobachters zu Weiß. Diese letztere Farbe kann allerdings in beiden Fällen nicht so hell sein, wie dasjenige Weiß, welches das Auge sehen würde, wenn die betreffenden Farbstoffe nicht vorhanden wären, d. h. wenn die Autochromplatte klar durchsichtig, und wenn die Newtonsche Scheibe rein weiß wäre; denn jeder der Farbstoffe nimmt natürlich einen Teil des auffallenden weißen Lichtes fort. Das Weiß der Autochrom platte sowohl wie das des Newton sehen Kreisels wird daher stets etwas ins Grau spielen zumal, wenn man unmittelbar neben die gefärbte Platte bezw. Scheibe eine un- gefärbte bringt und beide mit der gleichen Lichtquelle beleuchtet. Im allgemeinen ist schließlich zu den Körperfarben noch zu erwähnen, daß man die Farbe eines Farbstoffes in zweierlei Weise zur Geltung bringen kann: entweder näm- lich überzieht man die zu färbenden Stoffe nur mit einer dünnen und durchsichtigen Schicht desselben, so daß dann die Struktur der Stoffe selbst noch durch die Farbstoff- schicht hindurch sichtbar ist, oder man trägt den Farbstoff so dick auf, daß diese Struktur verschwindet. Im ersten Falle spricht man von einer „Lackfarbe", im zweiten von einer „Deckfarbe". Bei jener muß der zu färbende Stoff, wenn die Farbe des Farbstoffes rein zur Geltung kommen soll, im ungefärbten Zustande entweder voll- kommen durchsichtig oder vollkommen weiß erscheinen, da sonst die Farbe des Farb- stoffes mit der des Stoffes selbst eine Misch- farbe ergibt. Ein weißer Stoff ist nämlich ein solcher, welcher sich aus einer Unzahl mikroskopisch kleiner Fäserchen, Bläschen oder dergleichen zusammensetzt, von denen je- des einzelne für sich vollkommen durchsichtig ist; denn dann wird eben das auffallende weiße Licht an den einzelnen Teilchen durch sogenannte diffuse Reflexion nach allen Seiten hin eleichmäßig zerstreut und zwar alle Farben desselben in nahezu gleicher Stärke, so daß also der Stoff in der Farbe des auffallenden Lichtes erscheint, d. h. weiß, wenn dieses selbst weiß ist. Taucht man dagegen einen solchen weißen Körper in eine Farbstofflösung, so durchtränkt diese die Wandungen der einzelnen Fasern wie eine Gelatinefolie, und das diese Wan- dungen durchsetzende und dann ins Auge zurückgeworfene Licht muß demnach die Farbe des Farbstoffes zeigen. Mit Rücksicht auf die Unterscheidung einer Körperfarbe von den weiter unten zu betrachtenden Farbenarten ist hier ferner noch zu erwähnen, daß die erstere ihren Farbenton weder mit dem Einfallswinkel des zur Beobachtung benutzten Lichtes noch mit der Art der Polarisation desselben ändert. Wenn allerdings die äußere Ober- fläche des Stoffes vollkommen eben ist, so daß sie das Licht wie ein Spiegel zurück- wirft, so kann bei bestimmten Beobachtungs- winkeln dieses oberflächlich reflektierte Licht die Körperfarbe des Farbstoffes verdecken, wie beispielsweise ein glatt gehobeltes, ge- färbtes und dann mit Firnis überzogenes Stück Holz unter gewissen Winkeln wie ein farbloses Stück Spiegelglas erscheint. Schließlich ist hier noch anzuführen, daß die Körperfarbe ihren Farbenton auch dann Farbe s:\\i nicht ändert, wenn man den gefärbten Stoff in ein Medium mit anderem Brechungsexpo nenten bringt, d. h. wenn das einfallende Licht statt aus der Luft aus Wasser, Firnis oder dergleichen auf die gefärbte Schicht fällt. Voraussetzung ist dabei aber natürlich, daß diese Medien selbst nicht gefärbt sind, d. h. daß die einzelnen Farbenstrahlen des zur Beobachtung dienenden weißen Lichtes auf ihrem Wege von der Lichtquelle zum Farb- stoff und von diesem zum Auge durch das den Farbstoff umgebende Medium nicht in ungleichem Grade absorbiert werden. 3. Die Oberflächenfarben. Als Ober- flächenfarbe bezeichnet man in der Physik eine Farbe, welche unmittelbar an der Oberfläche eines Stoffes und zwar lediglich deswegen entsteht, weil die verschiedenen Farben des Spektrums an ihr verschieden stark reflektiert werden. Man könnte des- wegen diese Farben auch ebenso richtig als „Reflexionsfarben" bezeichnen. Eine be- sondere Struktur der Oberfläche ist also für das Zustandekommen einer Oberflächen- farbe nicht erforderlich, sondern diese kommt vielmehr gerade dann am besten zur Geltung, wenn jene Fläche so glatt wie möglich ist. Die bekanntesten Beispiele der Ober- flächenfarbe sind diejenigen gewisser Metalle wie des Kupfers und des Goldes, und man bezeichnet daher diese Farbenart auch viel- fach als Metallfarbe. Dieser Name ist in- dessen insofern nicht berechtigt, als die Oberflächenfarbe bei den Metallen — aus Gründen, die wir sogleich kennen lernen werden — nicht die Regel sondern die Ausnahme bildet; und tatsächlich haben wir denn auch die eigentlichen Stoffe mit Oberflächenfarben nicht hier sondern bei den Farbstoffen zu suchen. Es sind nämlich zumal die sehr stark färbenden, d. h. also die einen Teil der Strahlen des Spektrums sehr stark absorbierenden Stoffe dieser Art, wie z. B. das Fuchsin, das Diamantgrün usw., welche eine besonders ausgesprochene Ober- flächenfarbe zeigen - - und zwar auch nur in festem Zustande. Die Oberfläche eines Fuchsinkristalles z. B. schillert in einem prächtig grünen Farbenglanz, eine Eigen- schaft, die um so mehr auffällt, als dieser Farbstoff bekanntlich beim Lösen in Alkohol oder dergleichen eine ausgesprochen rote Körperfarbe zeigt. Noch schöner allerdings treten die Ober- flächenfarben dieser Stoffe hervor, wenn man eine größere spiegelnde Fläche davon herstellt, was z. B. in der Weise zu erreichen ist, daß man eine konzentrierte Lösung des Farbstoffes in heißem Alkohol herstellt und die noch heiße Lösung über eine ebenfalls heiß gemachte und schräg gehaltene Glas- platte gießt, so daß das Lösungsmittel mög- lichst schnell verdunsten kann. Die zurück- bleibende Farbstoffschicht zeigt dann, von der Luftseite her gesehen, beim Fuchsin eine starke gelbgrüne, beim Diamantgrün eine schön kirschrote, dagegen von der Glasseite aus betrachtet, beim einen eine blaugrüne, beim andern eine gelbbraune Oberflächenfarbe. Allerdings ist der Glanz, d. h. die Stärke des reflektierten Lichtes, bei diesen eigentlichen Stoffen mit Oberflächenfarben erheblich ge- ringer als bei den Metallen, hinsichtlich der Farben Sättigung dagegen verhält es sich gerade umgekehrt; und der Grund dafür ist nun auch leicht einzusehen. Die Tatsache nämlich, daß das Licht von den Metallen so stark reflektiert wird, rührt in erster Linie daher, daß dasselbe von ihnen in so ganz ungewöhnlich starkem Grade absorbiert wird, in viel stärkerem nämlich als selbst in dem Absorptions- maximum eines jener stark absorbierenden Farbstoffe. Andererseits hat aber ein Stoff der letzteren Art wieder das vor den Metallen voraus, daß er nicht wie diese alle Strahlen des Spektrums in nahezu gleicher Stärke ab- sorbiert und sie daher auch nicht alle in nahezu gleicher Stärke reflektiert. In bezug auf diejenigen dieser Strahlen nämlich, die von dem Farbstoff nahezu ungeschwächt hindurchgelassen werden, muß er sich ähnlich wie ein gewöhnlicher farbloser Körper, also z. B. wie Wasser oder Glas, verhalten, und diese Strahlen werden da- her auch von ihm ebenso wie von diesen letzteren Stoffen nur in schwachem Maße reflektiert. Gerade dieser Umstand aber, daß ein solcher Farbstoff einen Teil der Strahlen des Spektrums sehr stark - - fast so stark wie ein Metall - - und einen anderen Teil davon sehr schwach - - fast so schwach wie ein gewöhnlicher farbloser Stoff - reflek- tiert, bedingt nun die große Sättigung der Oberflächenfarbe dieser Stoffe ; denn eineFarbe wird natürlich um so reiner, je größer die Unterschiede sind, welche die Intensität der verschiedenen Spektralwellen des ur- sprünglich auffallenden weißen Lichtes bei dem die Farbe erzeugenden Prozesse er- fährt. Aus den obigen Darlegungen folgt nun weiter, daß die von einem stark absorbie- renden Farbstoffe am stärksten reflektierten Strahlen diejenigen sind, welche er am stärksten absorbiert, so daß diese also auch in der Reflexionsfarbe vorherrschen müssen. In der Körperfarbe des betreffenden Stoffes treten dagegen umgekehrt gerade die von ihm durchgelassenen, d. h. schwach 840 Farbe oder gar nicht absorbierten Strahlen hervor, und somit ergibt sich hieraus die Regel, daß die Oberflächenfarbe eines stark absorbierenden Farbstoffes bis zu einem gewissen Grade zu seiner Kör- perfarbe komplementär sein muß, eine Tatsache, die denn auch schon seit 1852 als das Haidingersche Gesetz bekannt ist. Allerdings gilt dieses Gesetz nicht im genauen Sinne des Wortes komplementär; denn einesteils hängt die Körperfarbe eines Stoffes sehr wesentlich von der Dicke und der Konzentration der durch- strahlten Farbstoffschicht ab, Bedingungen, mit denen die Oberflächenfarbe nichts zu tun hat, und andererseits ändert diese sich wieder, wie wir später sehen werden, ganz erheblich sowohl mit dem Brechungsexpo- nenten des angrenzenden Mediums wie auch mit dem Einfallswinkel und der Polarisations- art des auffallenden Lichtes, Größen, von denen wieder die Körperfarbe vollkommen unabhängig ist. Als Beispiel sei hier nur angeführt, daß die Körperfarbe des Fuchsins mit der Dicke der in Frage kommenden Schicht vom hellsten Rosa bis zum tiefsten Rot wechselt, und daß andererseits die Oberflächenfarbe dieses Farbstoffes bei senkrechtem Einfall sorbiert werden, die für farblose Körper geltenden Fresnelschen Reflexionsformeln anzuwenden sind, während für die von dem Stoffe stark absorbierten Strahlen die für die sogenannte Metallreflexion gültigen, zu- erst von Cauchy aufgestellten Foimeln in Frage kommen. Diese beiden Formeln lauten, wenn wir uns zunächst auf den senkrechten Einfall des Lichtes aus der Luft beschränken, des Lichtes aus Luft eelbgrün. aus Glas blaugrün und aus Diamant rein blau ist. Diese letztere Farbe ist aber natürlich keineswegs mehr komplementär zu dem reinen Rot, welches die Körperfarbe einer etwas dickeren Fuchsinschicht darstellt. Wohl aber kann man sagen, daß das Blaugrün, welches eine auf Glas gegossene Fuchsinschicht, von der Glasseite aus gesehen, wiederspiegelt, annähernd komplementär ist zu dem Rosa, welches die Durchlaßfarbe einer sehr dünnen Schicht dieses Farbstoffes bildet, so daß also für diesen besonderen Fall das Haidingersche Gesetz tatsächlich zutrifft. Nach dem Bisherigen dürfte es nun vielleicht scheinen, als ob die Vorgänge, welche sich bei der Reflexion des Lichtes an den Stoffen mit Oberflächenfarben ab- spielen, sehr verwickelter Natur seien. Dies ist indessen keineswegs der Fall; denn die Erscheinungen lassen sich hier sehr leicht übersehen und auch sogar bis in alle Einzel- heiten hinein rechnerisch verfolgen, wenn man direkt auf die sehr einfachen und auch längst bekannten Formeln zurückgeht, welche für die Reflexion des Lichtes gelten. Nur insofern wird die Sache hier etwas verwickel- ter als bei den sonstigen Stoffen, weil hier zwei Arten von Formeln zu berücksichtigen sind, indem nämlich für diejenigen Strahlen, welche von einem solchen stark absorbie- renden Farbstoff wenig oder gar nicht ab- R0 = IV n+1 (Fresnel) und R0 = (n - l)2 + k2 (n + l)2 + k2 (Cauchy). 2) 3) Hierin bedeutet R0 den reflektierten Bruchteil des einfallenden Lichtes für den Einfallswinkel Null, ferner n den Brechungs- exponenten und endlich k, das nur in der Formel 3 vorkommt, den Absorptions- koeffizienten des betreffenden Stoffes für die in Frage kommende Lichtwelle. Beim Fuchsin z. B. gehört das ganze Rot bis zu etwa 630 /liju hin und das ganze Violett von etwa 430 //,// an zu den schwach absorbierten Strahlen, und auf diese ist demnach bei diesem Farbstoff einfach die Formel 2 an- zuwenden. Das Gelb und Grün zwischen 590 und 450 juu dagegen werden vom Fuchsin annähernd ebenso stark absorbiert wie von einem Metall; für diese Wellen gilt also die Formel 3. Als stark absorbiert im Sinne der Cauchy sehen Theorie ist näm- lich nur ein solcher Lichtstrahl anzusehen, der von dem in Frage kommenden Stoff schon in einer Schicht von der Dicke einer Lichtwellenlänge, d. h. also von etwa 0,0005 mm Dicke, eine namhafte Absorption erleidet; denn nach dieser Theorie wird der von einer solchen Schichtdicke bei senkrechtem Auffall des Lichtes durchgelassene Bruchteil der Inten- sität durch die Größe e-^k dargestellt, wo e = 2,71828... die Basis des natür- lichen Logarithmensystems und n= 3,14159... die bekannte Ludolphsche Zahl bedeutet. Hieraus berechnet sich z. B., daß ein ab- sorbierender Stoff, der von einem be- stimmten Lichtstrahl in 1 mm dicker Schicht 89 % absorbiert, was doch schon eine recht kräftige Absorption bedeutet, im Sinne der Cauchy sehen Theorie nur einen Absorptionskoeffizienten von 0,0001 hat, so- daß also in dieser Theorie eine solche Ab- sorption — ja sogar eine viel stärkere noch vollkommen vernachlässigt werden kann, d. h. daß ein solcher Strahl einfach als ein nicht absorbierter behandelt werden kann, für den also einfach die Fresnelsche Reflexions- Farbe 841 formel 2 gilt. Diese letztere ergibt sich ja übrigens auch, wie man sieht, unmittelbar aus der C au chy sehen Gleichung 3 für k = 0. Geschieht der Einfall des Lichtes auf einen solchen Stoff nicht aus der Luft, son- dern aus einem anderen Medium, so ist an Stelle des einfachen Brechungsexponenten n des Farbstoffes für die betreffende Wellen- länge das Verhältnis der Brechungsexpo- nenten der beiden aneinander stoßenden Medien für diese Welle zu setzen, so daß dem- nach die Formeln 2 und 3, wenn wir den Brechungsexponenten des den Farbstoff um- gebenden Mediums mit i^ und den des Farbstoffes selbst mit n2 bezeichnen, in R0 ii. und n2+ n, Rn (n2 — nx)2+ iVk2 (n2+n1)2+n12k2 2a) 3a) übergehen. Die reflektierten Intensitäten werden also hier ganz andere als in dem Falle, wo der Farbstoff von Luft umgeben ist, und es leuchtet schon deswegen ein, daß die Reflexionsfarbe sich mit der Art des den Farbstoff umgebenden Mediums nicht un- wesentlich ändern kann. Es kommt jedoch hier noch ein Umstand hinzu, welcher bewirkt, daß diese Veränderlichkeit in unserem Falle eine besonders starke wird: das ist die sogenannte anomale Dispersion dieser stark absorbierenden Farbstoffe. Diese Erscheinung besteht darin, daß die Brechungsexponenten eines solchen Stoffes für diejenigen Wellenlängen, welche zu beiden Seiten seines Absorptionsmaximums liegen, im Vergleiche zu denjenigen anderer Stoffe ganz gewaltige Unterschiede in der Größe zeigen, obwohl es sich hierbei um Strahlen handelt, die im Sinne der Cau chy sehen Theorie noch als nicht absorbierte angesehen werden können, und deren Verhalten man also in dieser Beziehung eher mit demjenigen bei den gewöhnlichen farblosen Körpern zu vergleichen geneigt sein würde. In Wirk- lichkeit liegen jedoch hier bei den Körpern mit Oberflächenfarben die Verhältnisse ganz anders als bei den farblosen Stoffen; denn während z. B. beim Schwefelkohlenstoff, der ja bekanntlich einen der stärkst dis- pergierenden unter den farblosen Stoffen darstellt, die Brechungsexponenten für die verschiedenen Strahlen" des sichtbaren Spek- ' trums sämtlich zwischen 1,6 und 1,7 liegen, und deswegen nach der Formel 2 ein erheb- licher Unterschied in der Stärke des reflek- tierten Bruchteils hier nicht auftreten kann - tatsächlich zeigen ja auch alle diese farblosen Stoffe bei der gewöhnlichen Reflexion des Lichtes keine merkliche Oberflächenfarbe — , i hat z. B. das Fuchsin für die violetten Strahlen in der Umgebung der Fraunhofer- scheu G-Linie (2 == 431) einen Brechungs- exponenten, welcher mit demjenigen der atmo- sphärischen Luft (n == 1) annähernd überein- j stimmt, während es andererseits die roten Strahlen bei X = 634 ungefähr ebenso stark bricht wie der Diamant, der ja von allen farblosen Stoffen die höchsten Brechungs- exponenten hat (n == 2,4 bis 2,5). Die beiden erwähnten Strahlengattungen werden nun aber vom Fuchsin nur so schwach absorbiert, daß man sie in der Theorie ohne weiteres als nicht absorbierte ansehen und auf sie also einfach die Fr es n eischen Re- flexionsformeln anwenden kann. Daraus folgt dann, daß, wenn das Licht auf das Fuchsin aus der Luft fällt, die ge- nannten violetten Strahlen so gut wie gar nicht an ihm reflektiert werden, - - denn für n == 1 wird ja nach der Formel 2 R0 = 0 — ; das erwähnte Rot dagegen wird nach diesen Darlegungen vom Fuchsin hierbei ungefähr ebenso stark reflektiert wie vom Diamanten, d. h. nach Formel 2 etwa 8mal so stark wie vom Wasser und etwa 4mal so stark wie vom gewöhnlichen Glase unter denselben Umständen. Man sieht demnach, daß in dem Falle, wo die Strahlen auf das Fuchsin aus der Luft fallen, die auf der roten Seite des Absorptionsmaximunis dieses Farbstoffs liegenden schwach absorbierten Strahlen ganz erheblich viel stärker reflektiert werden als die auf der violetten Seite gelege- nen. Das Umgekehrte wird jedoch eintreten, wenn das Licht auf die Fuchsinschicht aus Diamant fällt, denn dann wird nach der Formel 2a gerade für die roten Strahlen, für die ja jetzt na = n2 ist, R0 = 0, während sich für die violetten, da für diese jetzt Ht = 2,4 und n2 = 1 wird, derselbe Wert ergibt, der sich oben für Rot ergab. Die Folge hiervon ist dann aber offenbar die, daß die Oberflächenfarbe des Fuchsins sich gegenüber der nach dem Hai dingersehen Gesetze zu erwartenden Farbe beim Ein- fall des Lichtes aus der Luft stark nach der roten und beim Einfall aus dem Diamanten umgekehrt nach der violetten Seite des Spektrums hin ver- schieben muß; und dies ist nun auch tat- sächlich der Fall, denn das Fuchsin zeigt an der Luft eine gelbgrüne, am Diamanten dagegen eine hellblaue Oberflächenfarbe, während sie nach dem Hai dinger sehen Gesetze in allen Fällen ein ziemlich reines Grün sein sollte. Zur genaueren Verfolgung dieser Er- scheinungen sind nun in der Tabelle VII die Brechungsexponenten und Absorptions- koeffizienten des Fuchsins für eine größere Reihe von Spektralstellen angegeben - - und 842 Farbe zwar die Absorptionskoeffizienten nur für solche, die im Sinne der Cauchyschen Theorie als stark absorbierte Strahlen in Betracht kommen. Tabelle VII. Optische Konstanten des festen Fuchsins. Fraun- hol'ersche Linie A a B C — D E F — G — H Wellen- länge n k 759 2,019 719 2,086 687 2,161 656 2,310 634 2,412 589 2,684 0,792 527 1,913 i,4!9 486 1,074 1,168 455 0,847 o,533 43i 0,95 425 1,00 397 i,32 Die Werte von n sind außerdem auch in der ausgezogenen Kurve der Figur 2 graphisch dargestellt, während zugleich in der - - y • - * — *-— — .♦ »y- -«. — ♦— " • { ■ . i 1 ■ n 2.5 2.0 1.5 10 ,1=800 700 600 500 400 Fig 2. punktierten Kurve daselbst die Brechungs- exponenten des Schwefelkohlenstoffs wieder- gegeben sind, um nämlich den gewaltigen Unterschied in dem Verhalten eines stark absorbierenden Farbstoffes und eines ge- wöhnlichen farblosen Körpers möglichst an- schaulich vor die Augen zu führen. Da sich nun die starke Absorption des Fuchsins nach den in der Tabelle angegebenen Werten von k etwa von 600 bis 440 jtiju ausdehnt und sein Absorptionsmaximum etwa bei 540 jn,u liegt, so sieht man aus der Figur 2, daß alle diejenigen Strahlen, welche vom Absorptionsmaximum aus nach der Seite der längeren Wellen hin liegen, einen relativ sehr hohen, die nach der anderen Seite zu gelegenen dagegen einen sehr nie- drigen Wert der Brechungsexponenten be- sitzen, und es muß deswegen ein aus Fuchsin verfertigtes Prisma die roten Strahlen er- heblich stärker ablenken als die violetten, während bekanntlich sämtliche farblosen Stoffe das umgekehrte Verhalten zeigen. Dies ist denn auch der Grund, warum man bei den stark absorbierenden Farbstoffen von einer anomalen Dispersion im Gegen- satz zu der normalen der gewöhnlichen farb- losen Stoffe spricht. Aehnlich wie das Fuchsin verhalten sich nämlich in dieser Beziehung auch die übrigen stark absorbie- renden Farbstoffe, nur daß sich die Kurve der Brechungsexponenten natürlich je nach der Lage des Absorptionsmaximums im Spektrum entsprechend verschiebt. Daß sich nun aber aus den in Tabelle VII angegebenen optischen Konstanten des Fuchsins auf Grund der Formeln 2 und 3 tatsächlich die Stärke des von diesem Farbstoff reflektierten Lichtes berechnen läßt, ergibt die Tabelle VIII, in welcher die so berechneten Zahlen direkt mit den durch Beobachtung gewonnenen zusammen- gestellt sind. Tabelle VIII. Berechnete und beobachtete Werte der von einem Fuchsinspiegel bei senkrechtem Auf- fall des Lichtes aus der Luft reflektierten Bruchteile B0. Fraunhofersche Linie l C 056 D 589 E 527 F 486 455 G 43i t> \ berechnet n° \ beobachtet 0,168 0,170 0,244 0,217 0,271 0,267 0,242 0,239 0,083 0,092 0,001 0,011 Fällt ferner das Licht nicht mehr senk- recht, sondern schräg auf einen Körper mit Oberflächenfarben, so hängt die Größe des reflektierten Bruchteiles auch hier — wie bei jeder Keflexion — außer von dem Bre- chungsexponenten und dem Absorptions- koeffizienten auch noch von der Größe des Einfallswinkels und von der Art der Polarisation des auffallenden Lichtes ab, da nämlich für Licht, welches parallel der Einfallsebene polarisiert ist — das übrigens im folgenden kurz p.p. -Licht genannt werden Farbe 843 soll — , sowohl bei stark wie bei schwach absorbierenden Medien ganz andere Re- flexionsformeln gelten als für senkrecht zu jener Ebene polarisiertes (s.p.- Licht). Nennt man nämlich i den Einfallswinkel, r den zugehörigen Brechungswinkel, ferner Rf und Rf die beim Einfallswinkel i reflek- tierten Bruchteile für p.p.- und s.p. -Licht, so lauten die für jeden beliebigen Einfalls- winkel gültigen Fresnelschen, d. h. sich auf schwach absorbierte Strahlen bezie- henden Reflexionsformeln sin2(i — r) .... Rl „;„a); ■ J\ (für p.p.-Licht) 4) sin2(i + r) und pS = tg2(i r) (für s.p.-Licht) 5) 2(i + r) und die ebenso allgemein geltenden Cauchy- schen Reflexionsformeln für stark absor- bierte Strahlen: Rf sin2(i — r) + käasin2r sin2(i + r) + k;2sin2r (für p.p.-Licht ) 6) und 7) RS = cosa(i + r)tg2i + kj2sin2r 1 cos2(i — r)tg2i -f- ki2sin2r ' (für s.p.-Licht). Ueber die Bedeutung von ki siehe weiter unten. Ist ferner das auffallende Licht unpolari- siert, so kann man es zur einen Hälfte als p.p.- und zur anderen als s.p.-Licht ansehen und hat dann also in beiden obigen Fällen für die Größe Ri des reflektierten Bruch- teiles die Gleichung: Ri=-|(BF+Bj[) 8) Der Brechungswinkel r ergibt sich dabei für schwach absorbierte Strahlen bekanntlich aus dem Snellius sehen Brechungsgesetz: sin i = n sin r, 9) wo n allgemein das Verhältnis der Brechungs- exponenten der beiden aneinander stoßenden, in diesem Falle als schwach absorbierend anzusehenden Medien darstellt. Für stark absorbierte Strahlen dagegen gilt die Gleichung 9 nicht mehr, sondern es treten vielmehr an ihre Stelle die drei so- genannten Ketteier sehen Gleichungen: sin i = m sin r 10) m2 — ki2 = n2 - k* 11) rii ki cos r = n k, 12) aus denen hervorgeht, daß hier Brechungs- exponent und Absorptionskoeffizient nicht mehr wie bei den farblosen Medien kon- stant sind, sondern daß jeder Einfallswinkel i seine besonderen Werte m und ki besitzt. Die Werte n und k ferner, die in diesen Gleichungen auftreten und auch schon in den Gleichungen 3 und 3a vorkamen, gelten also hier nur für senkrechten Einfall und sind daher genauer mit n0 und k0 zu be- zeichnen.1) Was nun aber weiter die Veränderungen anbetrifft, welche die drei Größen Rf, R- und Ri mit wachsendem Einfallswinkel er- leiden, so ist zunächst zu bemerken, daß Rf in allen Fällen, d. h. also sowohl bei schwach wie bei stark absorbierten Strahlen, mit dem Einfallswinkel zunimmt, um für i = 90°, d. h. für streifenden Einfall, = 1 zu werden. Wie stark demnach auch die Oberflächenfarbe eines Stoffes bei senkrech- tem Au ff all ist: läßt man p.p.-Licht schräg auf ihn fallen, oder betrachtet man ihn - - was auf dasselbe hinauskommt — schräg durch einen Polarisationsapparat, der nur p.p.-Licht durchläßt, so wird mit wachsendem Ein- fallswinkel seine Oberflächenfarbe immer blasser, um für i = 90° vollständig zu ver- schwinden. Denn da für i = 90° die reflek- tierte Intensität für alle Strahlen des Spek- trums gleich 1 wird, d. h. also auch alle gleich stark reflektiert werden, so kann hier von einer Oberfli>chenfarbe natürlich nicht mehr die Rede sein. Ganz anders liegen dagegen die Verhält- nisse bei s.p.-Licht. Zunächst nämlich folgt schon aus der in diesem Falle für schwach absorbierte Strahlen gültigen Gleichung 5, daß für i + r= 90° der Nenner der rechten Seite unendlich groß und mithin Rf = 0 wird oder mit anderen Worten, daß in diesem Falle von dem s.p.-Licht überhaupt nichts reflektiert wird. Den zugehörigen Ein- fallswinkel, der bekanntlich der Polari- sationswinkel des Stoffes für die be- treffende Wellenlänge heißt, findet man in diesem Falle sehr leicht mit Hilfe der Glei- chung 9; denn daraus ergibt sich für ihn, wenn wir ihn mit h bezeichnen, die bekannte Brewstersche Gleichung: tg h = n. 13) Es hängt demnach bei schwach absor- bierten Strahlen die Größe des Polarisations- winkels nur von der Größe des Brechungs- exponenten des Stoffes für den betreffenden Strahl ab; und da nun bekanntlich auch alle farblosen Stoffe für die verschiedenen Strahlen des Spektrums einen verschiedenen Brechungsexponenten haben, so haben also alle diese Strahlen auch ihren besonderen Polarisationswinkel, d. h. für jeden dieser Strahlen ist hier derjenige Einfallswinkel, bei welchem s.p. - Licht überhaupt nicht reflektiert wird, ein anderer. x) Näheres über die Ableitung aller dieser Formeln s. in den Artikeln „Lichtpolari- sation" und „Lichtreflexion". 844 Farbe Für einen bestimmten dieser verschie- denen Einfallswinkel wird mithin die zu- gehörige Farbe des Spektrums überhaupt nicht, die anderen Farben dagegen mehr oder weniger stark reflektiert, und somit muß das gesamte reflektierte Licht aus diesem Grunde gefärbt erscheinen. Diese von der Verschiedenheit der Polarisations- winkel der verschiedenen Farben herrührende Oberflächenfärbung tritt nun hiernach aller- dings in erster Linie bei s.p. -Licht auf, da jedoch auch das unpolarisierte Licht zur Hälfte aus s.p. -Licht besteht, so wird sie sich, wie wir später sehen werden, unter Um- ständen auch bei diesem bemerkbar machen. Bei den gewöhnlichen farblosen Stoffen freilich sind die Unterschiede der Brechungs- exponenten für die einzelnen Farben so gering, daß hier auch die Polarisationswinkel nahezu für alle Farben denselben Wert haben und deswegen die von dieser Ursache herrührende Färbung sogar beim reflektierten s.p. -Licht im allgemeinen nur wenig zur Geltung kommt. Bei den Körpern mit Oberflächenfarben dagegen unterscheiden sich, wie wir oben gesehen haben, auch schon bei den schwach absorbierten Strahlen die Brechungsexponenten für die verschiedenen Strahlen des Spektrums ganz beträchtlich, und diese Unterschiede sind es nun auch in erster Linie, welche die ziemlich starke Veränderlichkeit der Oberflächenfarbe die- ser Stoffe mit dem Einfallswinkel bedingen. Für das Fuchsin z. B. folgt aus der Glei- chung 13 auf Grund der in der Tabelle VII angegebenen Werte von n, daß beim Einfall des Lichtes aus Luft die Polarisations- winkel dieser Substanz für das letzte Blau und das Violett sämtlich zwischen 30 und 50°, diejenigen für das ganze Rot dagegen zwischen 60 und 70° liegen ; und es wird dem- nach für die ersteren Einfallswinkel das blaue und violette, und für die letzteren das rote s.p. -Licht so gut wie gar nicht reflektiert. Das erstere hat nun allerdings, da ja jene Farben an der Grenzschicht Luft/Fuchsin sowieso nur schwach reflektiert werden, auf den Ton der s.p. -Oberflächenfarbe nur wenig Einfluß, um so mehr aber das letztere, da ja das Rot wegen seiner hohen Brechungs- exponenten hier mit zu den stark reflek- tierten Strahlen gehört, Tatsächlich ändert denn auch das Fuchsin seine gelbgrüne Luft- Oberflächenfarbe bei Anwendung von s.p.- Licht bis zu etwa 50° Einfallswinkel hin nur wenig, von da ab aber mit weiter wach- sendem Einfallswinkel sehr beträchtlich, da sie zuerst grün, dann blaugrün und bei etwa 70° rein blau wird, um bei noch größeren Einfallswinkeln schnell in ein helles Violett und schließlich von 85° an in vollständiges Weiß überzugehen. Der Umstand, daß der Ton der Farbe bei 70° rein blau ist, deutet darauf hin, daß hier in dem reflektierten s.p. -Lichte außer dem Rot vor allem auch noch das zum Blau komplementäre Gelb fehlen muß, und dies hat nun seinen Grund darin, daß bei diesen Einfallswinkeln die gelben Strahlen, trotzdem sie zu den vom Fuchsin stark absorbierten gehören, da ihr Absorptions- koeffizient noch verhältnismäßig niedrig, ihr Brechungsexponent dagegen — ähnlich wie der der benachbarten roten Strahlen - ganz außerordentlich hoch ist, sich auch bei der Reflexion noch ähnlich wie diese verhalten, d. h. im s.p. -Lichte nur sehr schwach reflektiert werden. Im übrigen haben aber auch stark absorbierte Strahlen ähnlich wie die schwach absorbierten ihren besonderen Einfallsfall, den sogenannten Hauptein- fallswinkel nämlich, welcher dem Polari- sationswinkel der ersteren analog ist, für den aber allerdings das einfallende s.p. -Licht bei der Reflexion nicht völlig verschwindet, sondern nur ein Minimum wird. Dieser Haupteinfallswinkel h berechnet sich für solche Strahlen aus der Gleichung tg2h = nh2+kh2 14) in der m, und kh die zum Winkel h zuge- hörigen Werte von n und k bedeuten, und die offenbar eine Verallgemeinerung der Brewsterschen Gleichung 13 darstellt. Zum Beweis der obigen Darlegungen sind nun in der Tabelle IX die auf Grund der Formeln 4 bis 8 berechneten Werte von Rf, R* und Ri für die meisten der früher berücksichtigten Farben des Spektrums für einen Einfallswinkel von i == 70°31' wieder- gegeben. Dieser letztere Winkel ist näm- lich der Haupteinfallswinkel des Fuchsins für das gelbe Licht der D-Linie. Außerdem sind in Tabelle IX auch die Werte \on R0 aus Tabelle VIII wiederholt. (Tabelle IX siehe nächste Seite.) Die Tabelle zeigt nun tatsächlich, daß für den in Betracht gezogenen Einfallswinkel die Werte von R? nicht bloß für das schwach absorbierte Rot, sondern auch für das stark absorbierte Gelb und Grün bis zur E-Linie nur sehr klein sind, und daß sie lediglich für die blauen Strahlen zwischen F und G beträchtlichere Größen erreichen. Die bei etwa 70° Einfallswinkel zu beobachtende rein blaue s.p.-Oberflächenfarbe des Fuchsins findet mithin durch die als Grundlage aller unserer Darlegungen angenommenen Re- flexionsformeln 4 bis 8 ihre volle Erklärung, und in ähnlicher Weise erklären sich auch die sonstigen sich bei diesem und anderen Stoffen dieser Art noch zeigenden, vielfach so reizvollen Veränderungen ihrer Ober- flächenfarbe. Es sei deshalb hier nur noch erwähnt, daß zu dieser Art von Stoffen Farbe 845 Tabelle JX. Reflektierte Bruchteile an der Grenzschicht Luft/Fuchsin für i = 70°3l'. Fraunhofersehe Linie Wellenlänge C 656 D 589 E 527 F 486 455 G 431 11 397 Bf Ri Ro 0,528 0,007 0,268 0,168 0,621 0,016 0,318 o'244 0,652 0,092 0,372 0,271 0,650 0,222 o,436 0,242 0,523 o,254 0,389 0,083 0,231 0,193 0,212 0,001 0,220 0,052 0,136 0,019 außer den stark absorbierenden Stoffen zu- nächst auch ihre konzentrierten Lösungen und ferner gewisse Kristalle, wie z. B. das Magnesiumplatincyanür, gehören, von denen liier noch kurz die Rede sein soll. Was nämlich zunächst die konzentrierten Lösungen eines stark absorbierenden Farb- stoffes angeht, so gehen die optischen Eigen- schaften des letzteren natürlich — wenn auch in mehr oder weniger abgeschwächter Form — in die Lösung über, und auch diese besitzt demnach ihre stark und ihre schwach absorbierten Strahlen sowie die dadurch bedingte anomale Dispersion, d. h. es sind auch bei ihr die Brechungsexponenten für die auf der roten Seite des Absorptions- maximums gelegenen Strahlen erheblich größer als die der anderen Seite. Als Bei- spiel sind in Tabelle X die Brechungsexpo- nenten einer 18,8 prozentigen Fuchsinlösung in Alkohol angegeben. Tabelle X. Brechungsexponenten einer 18,8 prozentigen Fuchsinlösung in Aethylalkohol. Fraunhofersche Linie Brechungsexponent B i,45o C 1,502 D 1,561 F 1,312 G =85 H 1,312 Der Verlauf der Brechungsexponenten ist hier also ein ganz ähnlicher wie bei dem festen Fuchsin, nur daß die Unterschiede der Werte erheblich geringer sind. Die Folüje davon ist, daß die Oberflächenfarbe, welche diese Lösung an der Luft zeigt, nur schwach ausgesprochen ist. Wesentlich anders liegen jedoch die Verhältnisse, wenn das Licht z. B. aus Glas auf die Lösung fällt; denn, da dann im Rot die Brechungs- exponenten der beiden aneinanderstoßenden Medien annähernd übereinstimmen, im Blau und Violett dagegen ziemlich stark von- einander abweichen, so folgt aus der Formel 2a, daß in diesem Falle auch schon bei senk- rechtem Einfall des Lichtes das blaue Ende des Spektrums in der Reflexionsfarbe ganz erheblich vor dem roten Ende vorherrschen, d. h., daß die Reflexionsfarbe einer kon- zentrierten Fuchsinlösung am Glase rein blau sein muß, und dies ist nun auch tatsächlich der Fall. Noch schönere Färbun- gen dieser Art zeigen die konzentrierten Lösungen des Fluoreszeins in Kali- oder Natronlauge, da man nämlich in diesem Falle Konzentrationen mit über 50 % Farb- stoff herstellen kann. Die Oberflächen- farben derartiger Lösungen treten übrigens schon an den Glasflaschen, in welchen man die Lösungen aufbewahrt, mit großer Stärke hervor, denn auch hier erfolgt ja der Einfall des Lichtes auf die Lösung aus I dem dieselbe umgebenden Glase heraus. Das letztere darf aber natürlich, wenn man die Oberflächenfarbe rein beobachten will, nicht gefärbt sein, und außerdem ist es zweckmäßig, hierbei die Flasche in ein größeres, mit Wasser oder noch besser Benzol gefülltes Gefäß zu, tauchen, um das an der Außenseite der Flasche reflektierte Licht, das die Beobachtung des innen reflektierten stört, zu beseitigen. Am vollkommensten I geschieht dies nach Formel 2a, wenn die Brechungsexponenten des umgebenden Stof- fes mit dem des Glases übereinstimmen, was beim Benzol annähernd der Fall ist. Beim schrägen Einfall des Lichtes ver- schiebt sich auch hier wieder der Ton der Reflexionsfarbe nach der blauen Seite des Spektrums hin • und zwar besonders für s.p-Licht, im schwächeren Grade aber auch ; für gewöhnliches, das ja zur Hälfte aus erste- rein besteht. Ein in vieler Beziehung ähnliches Ver- halten wie diese Oberflächen der stark ab- 1 sorbierenden Farbstofflösungen am Glase zeigen nun auch die bekannten Schiller- farben vieler Tiere, die ja besonders i unter den Schmetterlingen, Käfern und Vögeln verbreitet sind: und es ist deshalb zuerst von B. Walter die Vermutung ausge- sprochen worden, daß dieürsache dieser Farben | in stark absorbierenden Farbstoffen zu suchen 846 Farbe sei, die in der Chitin- bezw. Hornsubstanz dieser Geschöpfe gelöst sind. Auch andere Physiker, wie Garbasso und Michelson, sind dieser Ansicht beigetreten, während mehrere Zoologen, wie Biedermann und Mallock, die Auffassung vertreten, daß es sich hier um Farben dünner Blätt- chen handelt. Die früher in dieser Hin- sicht vielfach ausgesprochene Vermutung dagegen, daß diese Farbe als eine Gitter- farbe anzusehen sei, d. h. durch Beugung des Lichtes an sehr feinen, in die Oberfläche dieser Tiere eingelagerten Streifen ver- ursacht werde, läßt sich schon deswegen nicht aufrecht erhalten, weil bei vielen der- selben solche Streifen überhaupt nicht vor- handen sind -- ganz abgesehen davon, daß auch die physikalischen Veränderungen einer Gitterfarbe mit dem Einfallswinkel usw. ganz andere sind als die bei den in Rede stehenden eigentlichen Schillerfarben der Tiere. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß nicht auch im Tierreich vielfach Farben auftreten, die auf eine Gitterwirkung zurückzuführen sind - - hierzu dürften in erster Linie die- jenigen zu rechnen sein, die man gewöhnlich als „irisierende" bezeichnet, und die dadurch charakterisiert sind, daß sie ihren Farbenton schon bei geringer Aenderung des Gesichtswinkels ganz erheblich ändern — , dann aber sind es eben Erscheinungen ganz anderer Art als diejenigen, welche hier allein als „Schillerfarben" bezeichnet werden. Auch die „Farben trüber Medien", die man vielfach zur Erklärung dieser eigent- lichen Schillerfarben des Tierreiches heran- gezogen hat, können hier schon deswegen nicht in Frage kommen, weil es sich bei ihnen nicht um eine durch regelmäßige Reflexion, sondern nur um eine durch all- seitige Zerstreuung des einfallenden Lichtes erzeugte Farbe handelt, die daher auch niemals den Glanz erreichen kann, wie er den wirk- lichen Schillerfarben eigentümlich ist. Das- selbe würde übrigens eventuell auch für Farben gelten, die durch „optische Reso- nanz", d. h. durch Zerstreuung bestimmter Wellen des einfallenden Lichtes infolge Mit- schwingens an gewissen kleinsten Teilchen, die in der Oberhaut der betreffenden Organe der Tiere liegen, Zustandekommen sollen - ganz abgesehen davon, daß eine derartige Entstehung einer Farbe überhaupt noch zweifelhaft ist, und daß es sich dabei viel- mehr wahrscheinlich nur um eine besondere Art der Farben trüber Medien handelt. Näheres darüber siehe unter 5 und 6. Die einzige außer den eigentlichen Ober- flächenfarben hier noch in Frage kommende Farbenart scheint daher nur noch die der Farben dünner Blättchen zu sein, indessen spricht auch gegen diese vor allen Dingen die verhältnismäßig geringe Veränderlichkeit i der Schillerfarben mit dem Einfallswinkel, sowie auch z. B. der Umstand, daß unter diesen Farben niemals eine solche mit einem rosa Farbenton beobachtet wird, während gerade dieser bei den Farben dünner Blätt- chen der bevorzugte ist. Gegen die Auffassung als Oberflächen- farben und für die der Farben dünner Blätt- chen spricht andererseits der Umstand, daß die Schillerfarben sich durch Druck ver- ändern lassen und besonders auch der, daß die Farben verschwinden, wenn man die betreffenden Organe in ein Medium bringt, dessen Brechungsexponent annähernd mit dem des Chitins bezw. des Harnstoffes übereinstimmt; denn hierbei geben die Lö- sungen der stark absorbierenden Farbstoffe, wie wir oben gesehen haben, meist noch schönere Farben als an der Luft, während die Interferenzfarbe eines dünnen, aus Luft bestehenden Blättchens natürlich verschwin- 'den muß, wenn der Luftraum mit einem Medium ausgefüllt wird, das den gleichen Brechungsexponenten hat, wie der den Raum umgebende Stoff. Näheres darüber siehe unter 4. Können demnach die Schillerfarben des Tierreichs hinsichtlich ihres Ursprungs noch als zweifelhaft gelten, so ist dies nicht der Fall bei denjenigen gewisser Kristalle, wie z. B. des Magnesiumplatincyanürs, da diese zweifellos als Oberflächenfarben nachzu- weisen sind. Das Eigenartige aber, was diese Körper vor den früher betrachteten einfachen Körpern mit Oberflächenfarben auszeichnet, besteht darin, daß wir es hier meist mit doppelt brechenden Körpern zu tun haben, die also das einfallende Licht in zwei Teile, einen ordentlich und einen unordentlich gebrochenen, zerlegen: und daß dann meistens nur der eine dieser beiden Teile in dem Kristall stark absorbiert wird, so daß also auch nur dieser eine Ober- flächenfarbe zeigen kann. Beim Magnesium- platincyanür z. B. ist es nur der unordent- lich gebrochene Strahl, was sich hier u. a. darin äußert, daß bei senkrechter Beleuch- tung die beiden Grundflächen des Kristalls keine Oberflächenfarbe zeigen, sondern nur die vier Seitenflächen. Die ersteren zeigen vielmehr eine solche Farbe erst bei schrägem Auffall des Lichtes, da ja erst dann an ihr neben den ordentlichen auch ein unordentlicher Strahl entstellt; um aber in diesem Falle die Reflexionsfarbe des letzteren gut zu beobachten, muß man durch Anwendung eines Polarisationsappa- rates, also am einfachsten eines Ni kölschen Prismas, das keine solche Färbung zeigende ordentliche Licht beseitigen, eine Maßregel, Karl »' 847 die natürlich auch bei der Beobachtimg der Oberflächenfarbe der Seitenflächen " von Nutzen ist. 4. Die Farben dünner Blättchen. l) Diese Farben entstehen, wenn weißes Licht sowohl an der Vorder- wie an der Hinter- seite einer sehr dünnen, parallelwandigen und farblosen Schicht reflektiert wird. Die beiden auf diese Weise in gleicher Richtung ins Auge gelangenden, von derselben ur- sprünglichen Schwingung herrührenden Teil- schwingungen besitzen nämlich wegen des verschiedenen Weges, den sie zurückgelegt haben, einen bestimmten Phasenunterschied, welcher im wesentlichen von dem Ver- hältnis der Lichtwellenlänge in der dün- nen Schicht zu der Dicke der letzteren ab- hängt und daher für die verschiedenen Farben des Spektrums verschieden ausfällt. Von diesen werden sich dann diejenigen, bei welchen jener Phasenunterschied eine un- gerade Anzahl von halben Wellenlängen beträgt, durch Interferenz auslöschen, wäh- rend diejenigen, für welche jene Differenz eine gerade Anzahl von Wellenlängen aus- macht, in ihrer vollen Stärke zur Wirkung kommen. Am reinsten wird die Farbe dann, wenn die Schicht eine solche Dicke hat, daß durch diese Interferenz ein ganzer Farbenbezirk des Spektrums, also z. B. das ganze Grün nahezu vollständig vernichtet wird, und zugleich der dazu komplementäre Bezirk, also in diesem Falle das Rot, in voller Stärke auftritt, Dies ist nun nicht für die allerdünnsten Schichten der Fall, welche eine ! solche Interferenzfarbe zeigen, sondern erst für gewisse mittlere Dicken. Handelt es sich z. B. um ein dünnes Blättchen aus Luft, wie wir es u. a. beim Newton sehen Ringsystem vor uns haben, so beginnen die Farben schon bei einer Schichtdicke von etwa 100 //,//, ihren reinsten Ton erlangen sie aber erst etwa bei der 6- bis 8 fachen Dicke. Nach Tabelle I ist nämlich A/2 für das mittlere Rot = 330 und für das mittlere Grün = 270 juju, so daß also 4//2 des ersteren = 1320 und 572 des letzteren = 1350 //// ist. Ferner ergibt sich 5 l/t des ersteren = 1650 juju und 6 7a des letzteren = 1620 juju, sodaß also für diese Wegdifferenzen, d. h. also für Schichtdicken von 600 bis 800 pfi das Rot und das Grün sich bei der Interferenz tatsächlich entgegengesetzt verhalten müssen. Eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft der Farben dünner Blättchen ist die, daß diese Farben stets ■ solange wenigstens nicht eine Färbung des Lichtes durch andere 2) Siehe hierüber auch den Artikel „Licht- interferenz". Ursachen, wie durch Absorption oder reine Reflexion, in Frage kommt -- stets dieselben Farbentöne zeigen müssen, so daß also z. B. das Newtonsche Ringsystem, in dem ja alle möglichen Schichtdicken vertreten sind, zugleich auch alle überhaupt möglichen Farben dünner Blättchen zeigt. "Wenn nämlich auch die Interferenzfarbe eines farblosen dünnen Blättchens einesteils von seiner Dicke, und ferner zweitens auch von seinem Brechungsexponenten abhängt — denn ein höherer Brechungsexponent be- dingt ja eine entsprechende kleinere Wellen- länge in dem betreffenden Medium — , ja, wenn hierbei auch noch, wie wir später sehen [werden, der Einfallswinkel des Lichtes in Frage kommt, so können doch alle diese j Veränderungen, da sie ja alle Farben des Spektrums in gleicher' Weise betreffen, immer nur eine Verschiebung der Farbe in der Reihe der Newton sehen Ringfarben, nicht aber einen neuen Farbenton er- zeugen; und nur insofern können hierbei kleine Veränderungen auftreten, als die ver- schiedene Dispersionsfähigkeit der verschie- denen Stoffe für die verschiedenen Farben des Spektrums eine geringfügige Aenderung in dem Verhältnis ihrer Wellenlängen in jenen Stoffen bedingt. Was sodann die Art der Veränderlichkeit der Farben dünner Blättchen mit dem Ein- fallswinkel betrifft, so wandern diese Farben mit wachsendem Winkel nicht, wie man auf den ersten Augenblick glauben möchte und auch vielfach angegeben findet, nach der Seite der längeren, sondern nach der der kürzeren Wellen. Jene falsche Ansicht rührt nämlich daher, daß man meint, daß bei schrägem Durchgang des Lichtes durch das Blättchen die Wegdifferenz in ihm größer wird, und daher hierbei gewissermaßen längere Wellen an Stelle der kürzeren treten. Dabei ist aber übersehen, daß bei schrägem Auflall des Lichtes außer der Wegdifferenz, im Innern des Blättchens auch eine solche außerhalb desselben in Frage kommt, die bei senkrechtem Auffall nicht vorhanden und die jene innere Vergrößerung der Diffe- renz mehr als aufhebt. In den beiden Figuren 3 und 4 ist diese äußere Wegdifferenz durch die Strecke DC dargestellt. Daß hier zwei verschiedene Figuren ge- zeichnet sind, hat seinen Grund darin, daß in der Natur zwei wesentlich von- einander verschiedene Arten dünner Blätt- chen vorkommen, einmal nämlich solche, bei denen dasselbe aus einer zwischen zwei festen Stoffen befindlichen dünnen Luft- schicht besteht, wie dies z. B. beim Newtonschen Ringsystem der Fall ist, und ferner solche, bei denen es sich um ein wirkliches Blättchen aus einer festen oder 848 Farbe flüssigen Substanz handelt (Glimmerblätt- chen, Seifenblasen usw.). Diese beiden Fälle sind nun in den Figuren 3 und 4 dargestellt, und man sieht zunächst aus 3, daß die Phasendifferenz Ö zwischen den beiden interferierenden Strahlen I und A'B + BC'-DC . . ,. II hier = - — j— - ist, wo / die "Wellenlänge der Strahlen in Luft darstellt. Fig. 3 Eine einfache Umformung des Ausdrucks liefert die Gleichung d = 2cl cos i 15) wo i den Einfallswinkel und d die Dicke der dünnen Schicht bedeutet. Diese Gleichung zeigt, daß für i = 90°, also für streifenden Ein- tritt des Lichtes, (5 = 0 wird, d. h. daß in diesem Falle die Schicht sich, wie groß auch d sei, wie eine unendlich dünne ver- hält. Die Bestätigung dieser Folgerung er- gibt sich ohne weiteres am Newtonschen Ringsystem; denn je schräger man auf dasselbe blickt, um so weiter dehnt sich der innere schwarze Fleck, der der Phasen- differenz 0 entspricht, nach außen hin aus. Die Gleichung 15 gilt aber auch für den Fall der Figur 4, nur daß dann / die Größe der Wellenlänge in der Substanz Fig. 4. des Blättchens bedeutet. Um sie abzuleiten. hat man davon auszugehen, daß hier die Phasendifferenz ö der beiden Strahlen I und AB -f BC DC . 11 = - t— ist, wo A; die Wellen - /i /a länge im Blättchen und ).a die in der äußeren Umgebung desselben bedeutet. Bemerkenswert ist hier ferner noch, daß die Farbe der dünnen Schicht sich im Falle der Figur 3 viel stärker mit dem Ein- fallswinkel ändert als in dem der Figur 4. Es liegt dies daran, daß bei Figur 3 der Winkel, welchen der Strahl in der Schicht selbst mit der Normalen ihrer Grenzflächen bildet, gleich dem Einfallswinkel draußen ist, und also sieh mit diesem zugleich zwischen 0 und 90° ändert; in Figur 4 dagegen ist der innere Einfallswinkel stets erheblich kleiner als der äußere, so daß der erstere z. B. bei einem Blättchen, dessen Brechungsexponent = 1,6 ist, im höchsten Falle nur etwa 40° wird. Die Frage, ob es sich in einem bestimmten Falle um eine dünne Luftschicht oder um ein wirkliches dünnes Blättchen aus einer festen Substanz handelt, läßt sich in den meisten Fällen dadurch entscheiden, daß man das Blättchen in eine Flüssigkeit bringt, da nämlich im ersteren Falle die dünne Schicht sich mit der Flüssigkeit vollsaugen wird und dann ihr Farbenton sich um ein Beträchtliches ändern muß, im anderen Falle dagegen nicht. Die Aenderung des Farben- tones im ersteren Falle rührt natürlich daher, daß die Wellenlängen in der Flüssig- keit kleiner sind als in der Luft, so daß das Blättchen sich dann wie ein solches von größerer Dicke verhalten, d. h. der Ton der Interferenzfarbe sich nach der Seite der längeren Wellen hin verschieben muß. Diese Verschiebung ist um so beträchtlicher, je dicker die Luftschicht ist, aber auch schon bei den innersten Farben des Newtonschen Ringsystems ist sie ziemlich bedeutend, da sie z. B. für das Blau der zweiten Ordnung, der ersten wirklich ausgesprochenen Farbe dieses Systems, der eine Schichtdicke von 360 fi/n entspricht — vgl. den Artikel „ Licht- interferenz" - - schon bei Immersion in Aether (n = 1,36) vom Blau zum Rot springen muß, denn es ist 360 x 1,36 = 490 und der Dicke 490 fifi entspricht schon das Rot der zweiten Ordnung. Da nun aber auch die wirklichen Schiller- farben des Tierreichs - - s. oben unter 3 - beim Eintauchen der betreffenden Organe in eine solche Flüssigkeit eine deutliche Aenderung ihres Farbentones zeigen, so würde, wenn es sich hier um Farben dünner Blättchen handelte, zunächst aus der Tat- sache dieser Veränderlichkeit hervorgehen, daß hierbei in allen diesen Fällen dünne Luftschichten in Frage kommen müssen. Nach den obigen Darlegungen würde ferner einesteils die Farbe dieser dünnen Luft- schichten mit wachsendem Einfallswinkel nacheinander alle Farben des Newtonschen Farbe 849 Ringsystems durchlaufen müssen, was bei den Schillerfarben des Tierreichs keineswegs der Fall ist, und andererseits würde ihr Farbenton z. B. beim Eintauchen in Aether selbst schon dann, wenn es sich dabei um das Blau der ersten Ordnung handelt, vom Blau zum Rot springen müssen, während in Wirklichkeit dabei nur eine Verschiebung vom Blau bis zum benachbarten Grün zu beobachten ist. Ein weiteres Unterscheidungsmittel der Farben dünner Blättchen von den Ober- ilächenfarben besteht darin, daß die ersteren mit der Polarisationsart des angewandten Lichtes nur ihre Stärke, nicht aber ihren Farbenton ändern, während die letzteren, wie unter 3 näher dargelegt wurde, für schrägen Auffall bei Anwendung von s.p. -Licht nicht bloß einegesättigtere, sondern auch eine andere Farbe aufweisen als bei p.p.-Licht. 5. Die Farben trüber Medien. Diese meist nur schwach ausgesprochenen Farben entstehen, wenn in einem im übrigen gut durchsichtigen, festen, flüssigen oder gas- förmigen Medium sehr viele und sehr feine undurchsichtige Teilchen zerstreut sind. Die letzteren werden nämlich durch die Wirkung des einfallenden Lichtes zu Ausgangspunkten besonderer Wellen, und bewirken also da- durch eine Zerstreuung des ersteren. Das bekannteste hierher gehörige Beispiel ist die atmosphärische Luft, an deren Staub- teilchen das Licht der Sonne zerstreut wird und so das Blau des Himmels bildet. Nach J. W. Strutt (Lord Rayleigh), der zuerst diese Theorie der Farben trüber Medien aufgestellt hat, wächst näm- lich die Intensität des zerstreuten Lichtes umgekehrt proportional der vierten Potenz der Wellenlänge des Lichtes, so daß des- wegen das Blau erheblich stärker zerstreut wird als das Rot (s. auch den Artikel „Atmo- sphärische Optik"). In dem durch- gehenden Licht wird dagegen umgekehrt das blaue Ende des Spektrums stärker ge- schwächt erscheinen als das rote, wie ja auch die Sonne selbst, wenn sie am Hori- zonte steht, stets rötlich aussieht. Auch an dem Blau des Himmels selbst macht sich diese größere Absorption der kürzeren Wellen insofern bemerkbar, als die dem Horizonte näher gelegenen Teile des blauen Himmels stets mehr grün gefärbt sind als die beim Zenith befindlichen — und zwar besonders diejenigen Teile, welche der am Horizont stehenden Sonne gegenüber liegen, da näm- lich hier auch schon das das Himmelsblau erzeugende Licht einen langen Weg durch die Atmosphäre gemacht hat. Andere Beispiele der Farben trüber Medien sind die sogenannten kolloidalen Lösungen, bei denen feste Teilchen, deren Größe erheblich kleiner ist als die Wellen- länge des Lichtes, in einem durchsichtigen und farblosen festen oder flüssigen Medium schweben. Eine solche Lösung erhält man z. B., wenn man von einer alkoholischen Harzlösung nach und nach einige Tropfen zu einer größeren Menge Wassers zusetzt, oder wenn man mit Hilfe eines elektrischen Licht- bogens oder eines Wehneltunterbrechers ein Metall in Wasser zerstäubt. Werden die Teilchen größer, so wird die Farbe des zer- streuten Lichtes bei gewöhnlichen Teilchen weißlicher, da dann eben außer der Rayleigh- schen Zerstreuung auch noch gewöhnliche Re- flexion hinzukommt; handelt es sich dabei um Metallteilchen, so tritt im zerstreuten Lichte zugleich auch ihre Reflexionsfarbe und im durchgelassenen ihre Absorptions- farbe mit auf. Schließlich sei noch erwähnt, daß das nach der Rayleighschen Theorie zerstreute Licht auch eine Polarisation zeigt, die ihren größten Wert hat, wenn der zerstreute und der einfallende Strahl aufeinander senk- recht stehen. Auch das Blau des Himmels zeigt sich stets mehr oder weniger polarisiert, jedoch liegen hier die Verhältnisse ziemlich verwickelt, weil außer dem direkten Sonnen- licht auch das des übrigen Himmels mit- wirkt. 6. Resonanzfarben. Die Vermutung, daß auch bei den optischen, ebenso wie bei den elektromagnetischen Schwingungen eine Ab- sorption durch Resonanz der absorbierenden Teilchen mit den einfallenden Wellen Zu- standekommen kann, wurde 1902 zuerst von Wood ausgesprochen. Dieser hatte bei der Destillation von Alkalimetallen in luftleeren Gefäßen an den kälteren Teilen derselben feine metallische Niederschläge erhalten, die sowohl im durchgelassenen wie im zerstreuten Lichte lebhafte Farben zeigten, und zwar war die Farbe des letzteren stets komplementär zu der des ersteren. Die Untersuchung mit dem Mikroskop zeigte, daß es sich hier um kleine Teilchen von 200 bis 300 fAfjt handelte, und wenn diese Teilchen weit voneinander lagen, so zeigte sich nur diffus zerstreutes Licht und keine regelmäßige Reflexion; bei dichterer Lage- rung der Teilchen dagegen hauptsächlich regelmäßig reflektiertes Licht und zugleich eine viel tiefere Färbung des durchge- lassenen. Später stellte Wood solche Metallnieder- schläge auch durch kathodische Zerstäubung von Gold sowie auch auf chemischem Wege her, jedoch waren die Teilchen in diesem Falle so klein, daß ihre Größe mit dem Mikro- skop nicht mehr gemessen werden konnte. Aehnliche Beobachtungen wurden kurze Zeit darauf auch von Kossonogoff ver- öffentlicht, der solche Schichten auch durch Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 54 850 Farbe Zerstäubung verdünnter Salz-, Farbstoff- und kolloidaler Metalllösungen mittels Pul- verisators erzeugte. Derselbe Beobachter sprach dann weiter die Vermutung aus, daß auch die Farben der Schmetterlingsflügel — und zwar nicht bloß die Schillerfarben, sondern auch die Körperfarben derselben — durch optische Resonanz des Lichtes an kleinen Chitinkörnchen zustande kommen; ja, er meinte sogar, daß jede Körperfarbe auf diese Weise entstehe. Zugleich glaubte er feststellen zu können, daß eine Abhängig- keit zwischen der Farbe der betreffenden I Schichten und der Größe der in ihnen befind- ' liehen resonierenden Teilchen stattfinde, und zwar soll nach seinen Messungen die Größe dieser Teilchen bei den Schmetterlings- schuppen von der Größe der ganzen Wellen- länge des von ihnen „reflektierten" Lichtes, bei den Metall- und Anilinfarben dagegen von der Größe der halben Wellenlänge sein. Dabei scheint der Verfasser die Begriffe Körperfarbe und Reflexionsfarbe vollkommen durcheinander zu werfen. Später meinte auch Ehrenhaft, daß man bei der Absorption des Lichtes in kolloidalen Lösungen eine resonanzartige Wir- kung anzunehmen habe; jedoch sei hier ein scharfer Unterschied zwischen elektrisch leitenden und nicht leitenden Teilchen zu machen. Im letzteren Falle sei nämlich hier lediglich die gewöhnliche Raylei ghsche Theorie der Farben trüber Medien, im ersteren dagegen eine von J.J. Thomson gegebene Modifikation derselben für metallische lei- tende Teilchen anzuwenden. Die Unter- schiede beider Theorien bestehen nach ihm hauptsächlich darin, daß nach ersterer das Maximum der Polarisation bei 90°, nach letz- terer aber bei 60° — vom einfallenden Strahle aus gerechnet — liegt, und tatsächlich hat er auch diesen letzteren Polarisationswinkel bei seinen Messungen an kolloidalen Metall- lösungen gefunden, während nicht metal- lische Lösungen dieser Art dafür annähernd 90° ergaben. Gegen die Anwendung der Thomson- schen Theorie auf diese Erscheinungen er- klärte sich später Pockels, der dagegen hauptsächlich geltend machte, daß bei der hohen Periodenzahl der Lichtschwingungen die Leitfähigkeit der Metalle viel geringer sei, als jene Theorie sie annimmt, auch hätten einige auf Veranlassung von Thomson selbst angestellte Messungen auch für Metall- lösungen das Polarisationsmaximuni bei 90° ergeben. Auch Mie sagt, daß die Theorie der optischen Resonanz mit sehr unklaren Be- griffen arbeite; er hat deshalb durch Steubing die Absorption und Diffusion des Lichtes an Goldlösungen bei verschie- dener Größe der Goldteilchen untersuchen lassen, wobei sich zeigte, daß sich weder die Absorptionskurve noch auch die Lage der maximalen Ordinate im Spektrum des dif- fundierten Lichtes wesentlich mit der Größe der Goldteilchen änderte. Hieraus schließt Mie, daß in diesem Falle von einer optischen Resonanz keine Rede sein könne. Aller- dings hält auch er eine Erweiterung der Rayleigh sehen Theorie in diesem Falle für erforderlich, und gibt auch eine solche in dem Sinne, daß er dabei auch die Absorption eines Teiles der elektrischen Energie der einfallenden Schwingungen durch die Metall- teilchen berücksichtigt. Er findet dann, daß bis zu einer Teilchengröße von ca. 100 juju das von den Metallteilchen seitlich zer- streute Licht fast nur Rayleigh sehe Strah- lung ist, die also ihr Polarisationsmaximum bei 90° hat und hier vollkommene Polari- sation zeigt. Für größere Teilchen dagegen rückt das Polarisationsmaximum nach der Seite des einfallenden Lichtes zu, und zu- gleich das Maximum der diffusen Reflexion nach der entgegengesetzten Seite. Die Farben der kolloidalen Goldlösungen erklären sich durch das Zusammenwirken zweier Eigenschaften der Goldteilchen. Diese haben nämlich ein Absorptionsmaximum im Grün und ein Reflexionsmaximum im Rot- gelb. Sehr kleine Teilchen reflektieren schwach und absorbieren stark, sie machen daher die Lösung rubinrot. Größere Teilchen absorbieren und reflektieren stark, so daß also im durchgelassenen Lichte das Blau vorwiegt. Die Versuche von Steubing und von Lampa bestätigen im allgemeinen diese Ergebnisse der Theorie. 7. Dispersionsfarben. Die zusammen- gesetzte Strahlung einer weißen Lichtcjuelle kann man einesteils durch ein Prisma und anderenteils auch durch ein Gitter inihre ver- schiedenen Bestandtile zerlegen, und also so die sämtlichen elementaren Farben des Spektrums in reinster Art zur Anschauung bringen. Allerdings gehören zur Her- stellung eines solchen Spektrums nicht bloß das Prisma bezw. das Gitter, sondern zu- gleich auch noch eine in größerer Entfernung davon aufgestellte punkt- oder spaltförmige Lichtquelle. Denn unter freiem und gleich- mäßig hellem Himmel z. B. zeigt weder ein Prisma noch ein Gitter auch nur eine Spur eines Spektrums, da eben dann von den I von den verschiedenen Seiten her kom- menden Strahlen jeder für sich ein beson- deres Spektrum erzeugt und alle diese Einzel- spektren sich wieder so miteinander mischen, daß ein Farbeneindruck nicht zustandekommt. Das Charakteristische dieser Dispersionsfarben ist nämlich das, daß sie sich stets nur über einen verhältnismäßig kleinen Winkel er- strecken, oder also mit der Aenderung des Einfallswinkels ihren Farbenton ganz erheb- Farbe — Farben 851 lieh viel schneller ändern als irgendeine andere der bisher betrachteten Farbenarten. Bei einem Gitter z. B., dessen Streifenab- stand 0,002 mm beträgt, erscheinen bei senk- rechtem Einfall des Lichtes zwischen 0 und 90° Austrittswinkel drei vollständige Spektren, dasjenige erster Ordnung zwischen 11 und 21°, dasjenige zweiter Ordnung zwi- schen 23 und 45° und dasjenige dritter Ord- nung zwischen 37 und 90°. Bei größerem Abstand der Gitterfurchen wird die Zahl der Spektren noch größer und dement- sprechend der Winkelabstand der Farben noch kleiner. Ferner ist für diese Farben der Umstand bezeichnend, daß sie immer nur in einer be- stimmten Ebene des Raumes ausgesandt werden nämlich in derjenigen, welche beim Prisma senkrecht auf der brechenden Kante und beim Gitter senkrecht auf der Richtung seiner Furchen steht. Diese beiden Eigentümlichkeiten sind denn auch der Grund, daß man eine solche Dispersionsfarbe in der Natur nur äußerst selten sieht, und zwar vorwiegend auch nur bei künstlichen Lichtquellen, da dann eben die Bedingung der punkt- bezw. spaltför- migen Quelle eher erfüllt ist. So z. B. zeigt sich das Farbenspiel eines Brillanten fast nur bei künstlichem Licht, und dasselbe gilt auch z. B. von dem Irisieren der Perlmutter- schalen, während die bei Tageslicht hieran zu beobachtenden Färbungen fast ausschließ- lich zu den Farben dünner Blättchen ge- hören, wie auch schon von Brewster be- merkt wurde. Literatur. H. v. Helmholtz, Physiologische Optik. 3. Avfl. Hamburg und Leipzig 1909. — W. v. Bezolcl, Die Farbenlehre im Hinblick auf Kunst und Kunstgeiverbe. Braunschweig 1874. — B. Malter, Die Oberflächen- oder iSchillerfarben. Braunschweig- 1895. - — W, Biedermann, Die Schillerfarbe bei Insekten und Vögeln. Jena 1904 (Häckel- Festschrift). Hier findet man über das in der Ueber- schrift gekennzeichnete Gebiet ein vollständiges Literaturverzeichnis bis 1904- — Von neueren Abhandinngen darüber sind zu erwähnen: Michelson, Philosophical Magazine, Her. 6, Bd. 21, S. 554, 1911. — A. Mallock, Proc. Boy. Soc, Her. A, Vol. 85, S. 598, 1911. — Utber Farben trüber Medien und Resonanzfarben s. J. W, Slrutt (Lord Rayleigh), Philos. Mag., 1871, 1881, 1899. — R. W. Wood, Philos. Mag. (6), Bd. 3 und 4, 1902. — J. Kossonogoff, Physika!. Zeitschr., Bd. 4, 1902. — F. Ehren- haft, Ann. d. Phys., Bd. 11, 1903. — F. Pockels, Physik. Zeitschr., Bd. 5, 8. 152 und 460, 1904. — F. Mie, Ann. d. Phys., Bd. 25, S. 377, 1908. — A. Lampa, Wien. Ber., Bd. 118 und 119, 1909 und 1910. B. Walter. Farben. Einleitung. Die Begriffe : Farbe, Farbstoff, Pig- ment, Pigmentfarbstoff. 1. Der Begriff „Farbe" im maltechnischen Sinne. 2. Die Farbstoffe; Nomenklatur und Einteilung der Malerfarbstoffe ; Eehtheits- und Reinheitsbegriffe. 3. Technische Anforderungen an Malerfarbstoffe: a) Licht- echtheit, b) Luftechtheit. c) Kalkechtheit, d) Säureechtheit, e) Wasserechtheit, f) Oel- echtheit im physikalischen Sinn, g) Verträg- lichkeit in Mischung mit anderen Farbstoffen. Zinkweißechtheit, 4. Wirkung und Einteilung der Bindemittel. 5. Optische und maltechnische Beziehungen der Farbstoffe zu den Binde- mitteln. 6. Chemische Einwirkungen von Bindemitteln auf Farbstoffe. 7. Emteilung der Farben nach Art der Bindemittel: a) Kalkfarben, b) Wasserglasfarben, c) Aquarellfarben. /]) Chi- nesische Tusche, e) Leimfarben, f) Kaseinfarben, g) Temperafarben, h) Oelfarben (Lackfarben), i) Oeldruckfarben. k) Systeme der Künstler- Ölfarben. 1) Pastellfarben, Farbstifte, Bleistifte. Einleitung. Der Begriff „Farbe" wird im Deutschen in dreierlei Bedeutungen gebraucht, nämlich zur Bezeichnung 1. der physiolo- gischen Erscheinung der homogenen Licht- arten. 2. der farbigen Erscheinung von Stoffen (Farbstoffen). 3. der mal fertigen Gemische von Malerfarbstoffen mit Binde- mitteln. Dieser Aufsatz bezieht sich auf den Begriff „Farbe" nur in letzterer Bedeutung. Die wissenschaftliche Erschließung des Ge- bietes der Anstrich-, Maler- und Druckfarben ist besonders bezüglich der Wechselwirkungen zwischen den Farbstoffen und den Binde- mitteln, wie der Untersuchungsniethoden der letzteren keineswegs abgeschlossen. Die Forschungsgebiete der wissenschaftlichen Mal- materialienkunde sind Chemie, Physik, die fabrikatorische und handwerkliche Praxis und die Kunsthistorie. Es werden im folgen- den die Lücken bezeichnet, die noch auszu- füllen sind. Farbstoffe oder Pigmente sind farbige Stoffe, die Färbevermögen besitzen, d. h. ihre Färbung anderen Stoffen mitteilen. Man teilt sie in Textilfarbstoffe, Farbstoffe für Glasmalerei und Keramik und Anstrichfarb- stoffe im weiteren Sinne (Malerfarbstoffe usw.). Die Anstrichfarbstoffe bedürfen zur Verwendung eines Bindemittels und müssen darin unlöslich sein. Sie sind entweder natürliche oder künstliche, anorganische oder organische. Man teilt sie ein in Erd- und natürliche Mineralfarbstoffe, künstliche an- organische, Farbstoffe aus natürlichen organi- schen Farbmaterialien pflanzlichen oder tieri- schen Ursprunges und synthetisch hergestellte organische Farbstoffe (Pigmentteerfarbstoffe). 1. Der Begriff ,, Farbe" im maltech- nischen Sinne. Unter einer Farbe im mal- technischen Sinne versteht man mechanische Gemenge von Anstrichfarbstoffen usw. mit den üblichen Bindemitteln, die entweder vom Verbraucher für jeweilige Verwendung selbst, 54* 852 Farben oder fabrikatorisch im verbrauchsfertigen Zustande hergestellt oder vom Verbraucher durch Zusätze (Verdünnungsmittel) in den- selben versetzt werden. 2. Die Farbstoffe; Nomenklatur und Einteilung der Malerfarbstoffe; Echt- heits- und Reinheitsbegriffe. Die Bezeich- nung (Deklaration) der Anstrich-, Druck- und Malerfarbstoffe ist im Laufe der Zeit dadurch unsicher geworden, daß sie nicht immer mit ihrer Zusammensetzung über- einstimmt (falsche Substanzbezeichnungen). Diese Uebereinstimmung allein gibt Gewähr für Lieferung nach Bestellung. Mißstände ergaben sich ferner dadurch, daß die Rein- heit, d. h. Abwesenheit fremder natürlicher Bestandteile oder absichtlicher Zusätze nicht immer garantiert ist. Man versucht daher seit ca. 30 Jahren in Deutschland und anderen Ländern die Nomenklatur und Deklaration dieser Farbstoffe und der Bindemittel- materialien auf sichere Basis zu stellen. Diese Maßnahmen gehen in Deutschland von der Münchener Gesellschaft zur Förde- rung rationeller Malverfahren aus. Diese hat unter anderem folgende Nomenklatur- grundlagen geschaffen. 1. Stoff- oder Substanzbezeichnungen sind Namen von Farbstoffen usw., die ihre Zusammensetzung unzweifelhaft oder andeutungsweise (Vul- gärnamen) angeben. 2. Ursprungs- oder Herkunftsbezeichnungen geben über den Fundort, jenen der Fabrikation, von wo aus sie in den Handel kommen, Aufschluß. 3. Qualitätsbezeichnungen geben über die Zusammensetzung der Materialien keinen sicheren Aufschluß, bezeichnen aber be- stimmteVerwendungsmöglichkeiten derselben. 4. Nuancebezeichnungen drücken die Aehnlichkeit des Farbtones eines Farbstoffes mit in der Natur vorkommenden farbigen Stoffen usw. aus. 5. Phantasiebezeich- nungengeben über Zusammensetzung, Her- kunft und Qualität keinerlei Aufschluß (ge- schützte Namen). 6. Beinamen oder Syno- nyma sind die neben der Substanz- oder sonst handelsüblichen Bezeichnung gebräuchlichen Namen für denselben Farbstoff. 7. Falsche Substanzbezeichnungen sind Namen, welche eine andere Zusammensetzung eines Materials vortäuschen als es besitzt (z. B. gelber Ultramarin für Barytgelb, Zinnober für Zinnoberersatzfarbstoffe). Es wurde durch Vereinbarung der deutschen Fabri- kanten- und Konsumentengruppen festge- setzt, daß Farbnamen, deren Substanz als farbgebender Stoff in den angebotenen oder gelieferten Produkten nicht enthalten ist, nicht benutzt werden dürfen, sondern das Wort „Imitation" (Ersatz) beim Farbnamen tragen müssen. 8. Ersatzmittel (Surro- gate) sind Materialien, welche bei anderer chemischer Zusammensetzung dieselben tech- nischen Verwendungsmöglichkeiten haben sollen, wie die zu ersetzenden bezw. die gewisse Mängel der ersteren nicht besitzen. Kein Ersatzmittel kann alle Eigenschaften des zu ersetzenden aufweisen. Zur Schaffung sicherer Grundlagen im Handel und in der Verwendung der Mal- materialien wurden ferner die Keinheits- und Echtheitsbegriffe umgrenzt. Man unter- scheidet bei fabrikatorisch hergestellten Farb- stoffen usw. chemische von technischer Rein- heit. Diese können nur technisch rein ver- langt werden. Technisch rein ist ein fabrikatorisch hergestellter Farbstoff, der ein chemisches Individuum ist, dann, wenn er neben den integrierenden Bestandteilen keine unzulässigen Mengen fremder enthält. Zur Garantierung der technischen Reinheit ist von den Fabrikanten vorgeschlagen, diese bei Bestellung durch Zusatz des Kennwortes „rein" beim Farbstoffnamen zu fordern. Echt im chemischen Sinne ist ein Farbmate- rial usw., wenn seine chemische Zusammen- setzung dem Namen entspricht Naturecht sind natürliche Farbstoffe (Erdfarben), wenn sie so, wie sie in der Natur vorkommen, ge- liefert werden und nur solchen Aufbereitungs- arbeiten unterworfen wurden, durch welche keine fremden Stoffe hinzutraten Fäl- schung liegt vor, wenn die Zusammensetzung eines Farbmaterials nicht der Deklaration entspricht; Verfälschung, wenn es neben dem durch den Namen gekennzeichneten Stoff noch fremde absichtlich zugesetzte, keinen technischen Effekt bewirkende ent- hält (Verdünnen, Strecken der Farbstoffe usw.) Unter Schön ungen versteht man Zusätze von fremden anorganischen oder organischen Farbstoffen zu natürlichen oder künstlichen zum Zwecke der Verbesserung der Nuancen (A. Eibner, Der Reinheits- begriff bei Malmaterialien. Farbenztg. 15, 1539 [1910]). Die Malerfarbstoffe usw. teilt man in der folgenden Weise ein: 1. Grund - farbstoffe sind solche natürliche oder künstliche, naturreine oder technisch reine Farbstoffe, deren Farbton nicht durch mechanisches Mischen zweier oder mehrerer erzielt werden kann. 2. Mischfarbstoffe sind Farbstoffe, die durch mechanisches Ver- mischen gleicher oder verschiedener Mengen zweier oder mehrerer bunter Grundfarbstofie erhalten werden. 3. Verschnittfarbstoffe sind mechanische Gemenge von naturechten Grund- oder Mischfarbstoffen mit verdünnen- den, nicht buntfarbigen Zusätzen (Spat. Kreide, Gips usw.), die dem Zwecke der Verbilligung dienen. 4. Substratfarb- stoffe sind natürliche oder künstliche Farb- stoffe, bei deren Bildung oder Herstellung ein weißer Füllstoff vorhanden ist oder ver- wendet werden muß, um die verlangte Nuance oder sonstige maltechnische Qualität (Verteil- Farben sr,:i barkeit, Deckfähigkeit usw.) herzustellen. Natürliche Substratfarbstoffe sind u. a. die Ocker. Sie enthalten Eisenhydrate als färbendes Prinzip und Ton als Unterlage. Künstliche Substratfarbstoffe sind: Cad- miumgelb zitron, Chromgelb zitron. Ersteres enthält Cadmiumoxalat oder -carbonat als Unterlage, letzteres Bleisulfat als solche. Diese Stoffe verhindern, daß die Partikeln des färbenden Prinzipes zu größeren Kom- plexen zusammentreten und so eine andere Lichtabsorption ausüben, als die zum hellen Gelb führende. Außerdem sind Substratfarb- stoffe das Cadmiumrot (A. Eibner, Ueber Cadmiumgelb usw., Farbenztg. 13, 1511 (1908)), die Neapelgelbe, Kobaltblaue, Kobalt- grüne, Ultramarine usw. (Lunge, Chem.- Techn. Untersuchungsmethoden 6. Aufl., 4. Bd., Abschnitt Anorganische Farbstoffe). Zu den Substratfarbstoffen zählen auch die Krapplacke usw. und Teerfarblacke. 3. Technische Anforderungen an Maler- farbstoffe. Neben der Forderung der Natur- echtheit bezw. technischen Echtheit und Reinheit der Malerfarbstoffe, soweit sie nicht als Verschnitt- bezw. Substratfarbstoffe de- klariert sind, stellt man bezüglich der tech- nischen Verwendbarkeit nachfolgende Anfor- derungen, die, falls sie aus zwingenden Grün- den nicht erfüllt werden können, zur Grup- penteilung führen. Ein Malerfarbstoff soll sein: a) lichtecht, b) luftecht, c) kalkecht, d) säureecht, e) wasserecht, f) ölecht im physikalischen Sinne, g) verträglich in Mischung mit anderen Farbstoffen. 3a) Lichtechtheit. Bezüglich Licht- echtheit verhalten sich die Malerfarbstoffe usw. sehr verschieden. Als absolut lichtecht können nur die Erdfarbstoffe und einige künst- liche anorganische gelten. Prinzipielle Unter- schiede zwischen der Lichtechtheit der künst- lichen anorganischen und organischen Maler- farbstoffe lassen sich nicht feststellen. Es gibt sehr lichtunechte anorganische Malerfarb- stoffe, so die meisten Sorten von Chromgelb, auf nassem Wege hergestellte Zinnober und andererseits sehr lichtechte organische, wie die Krapp- und Alizarinlacke und besonders die neueren Pigmentfarbstoffe der Anthra- chinonreihe (Indanthrene), Heliofarbstoffe, Säurealizarinblaulacke, Thioindigos, Ciba- farbstoffe usw., die im Wasserfarbenauftrag im Vollton, also ohne Verdünnung mit Weiß teilweise die dreifache Lichtechtheit des Alizarinlackes erreichen. Die noch häufig zu findende Ansicht, daß die alten Malerfarb- stoffe pflanzlichen und tierischen Ursprungs durchaus lichtechter seien als synthetisch hergestellte Teerfarbstoffe ist unzutreffend. Gelblacke, Gummigutt, Karmin usw. zählen zu den lichtunechtesten Malerfarbstoffen; Pflanzenindigo ist lichtunechter als syn- thetischer und als Wasserfarbe sehr viel unechter als Thioindigos und die oben erwähn- ten anderen Teerfarbstoffe (über das Ver- halten der indigoiden Farbstoffe als Oel- farben vgl. 6a). Ueber die Lichtwirkungen auf Maler- farbstoffe sind die Forschungen ebenso- wenig abgeschlossen, wie über die auf Textil- farbstoffe. Sie äußern sich entweder im Verblassen oder Verdunkeln. Ersteres tritt am häufigsten auf. In letzter Zeit wurden neue Beobachtungen gemacht, die auf be- schleunigende Einflüsse durch gewisse Binde- mittel und auch durch andere Farbstoffe hinweisen (vgl. 6 a und b). Man unter- scheidet bei Malerfarbstoffen chemische und physikalische Lichtwirkungen und Ueber- gänge letzterer in erstere; die chemischen bilden die Mehrzahl und beruhen auf Oxy- dation wie bei Bleiglätte, Cadmiumgelb und den organischen Farbstoffen, oder auf Reduk tion, wie bei Bleibraun, Chromgelb, den Pariserblauen usw. Die physikalischen Licht- wirkungen bei Jodquecksilber und Zinnober sind durch Aenderung der Struktur und Kristallform verursacht, wodurch die Licht- absorption sich ändert. Sie können bei Anwesenheit von Ueberträgern in chemische übergehen. So wird die gelbe Modifikation des Jodquecksilbers durch Reduktion grau- violett, der geschwärzte Zinnober durch Oxydation gebleicht (vgl, unter 3g, Zink- weißunechtheit). Es gibt auch hier rever- sible und irreversible Lichtwirkungen. Bei manchen Farbstoffen wie den Zinnobern und Pariserblauen beginnt die Wirkung in reversibler Weise und wird später irreversibel (vgl. A. Eibner, Ueber Lichtwirkungen auf Malerfarbstoffe. Chem. Ztg. 1911, 753; der- selbe, Ueber technische Prüfungsmetho- den von Malerfarbstoffen und die Verwend- barkeit der neuen Pigmentteerfarben in der Kunstmalerei. Farbenztg. 16, 1390, (1911); K. Gebhardt, Ueber die Einwirkung des Lichtes auf Farben. Marburg 1908; derselbe, Zusammenhang zwischen Lichtempfindlich- keit und Konstitution von Farbstoffen. Journ. f. prakt. Chem. 84 (1911) u. a. a. 0.). Die Agentien, welche die chemischen Licht- wirkungen auslösen, sind der Sauerstoff und das Wasser der Luft. Beschleunigende Wirkung üben hygroskopische Stoffe aus, wie Glyzerin (vgl. 7c, Aquarellfarben). Ueber den Einfluß der Glasbedeckung auf die Lichtechtheit von Farbstoffen vgl. A. Eibner, Technische Prüfungsmethoden von Malerfarbstoffen, I.e. 3 b) Luft echt hei t. Luftechtheit (Wetter- echtheit) ist die relative Widerstandsfähig- keit der Malerfarbstoffe und Farbenanstriche gegen die Atmosphärilien, also gegen Sauer- stoff, Wasser. Kohlensäure, schweflige Säure usw. (vgl. 3d, Säureechtheit). 3c) Kalkechtheit. Kalkechte Farbstoffe zeigen chemische Indifferenz gegen frisch ge- 854 Farben löschten kieselsäurearmen Kalk, die sich im Stehenbleiben der Nuance in diesem äußert. Man unterscheidet kalkechte und kalkunechte Malerfarbstoffe. Zu letzteren gehören Blei- weiß, die Chromgelbe, Pariserblaue usw. Kalkfarben sind nicht nur Farbstoffe, die durch gelöschten Kalk nicht chemisch ver- ändert werden, sondern solche, die den übrigen Bedingungen eines licht- und wetterfesten Malerfarbstoffes entsprechen. Deshalb sind alle alten und die meisten neueren organischen Farbstoffe keine Kalkfarben, Eine Ausnahme bilden u. a. die Kalkgrüne, die man als Grün- und Grautonlacke grüner Tripkenyl- methanfarbstoffe auffassen kann. 3cl) Säureechtheit. Der Begriff Säure- echtheit bei Malerfarbstoffen bezieht sich nur auf ihr Verhalten gegen schweflige Säure und Schwefelwasserstoff. Die Ultramarine sind sehr empfindlich gegen erstere und Blei- weiß gegen letzteren. 3e) Was s er echt hei t. Wasserecht- heit wird von allen Malerfarbstoffen ver- langt, die in Wasserfarbentechniken ver- wendet werden, d. h. sie sollen auch nicht spurenweise in Wasser löslich sein, da die gefärbte Lösung eines wasserunechten Farb- stoffes durch Kapillarität in die darüber gelegten Schichten dringen und diese anfärben würde (durchschlagende Farbstoffe). Es gibt einige Malerfarbstoffe, die nicht ganz unlöslich in Wasser sind, wie Indischgelb und Zink- gelb. Diese färben auch die Papierfaser an, so daß derartige Farbenaufträge schlecht abwaschbar sind. Unter den Pariser- und Preußischblauen finden sich Sorten, die lös- liches Berlinerblau enthalten. 31) Oelechtheit. In gleicher Weise muß ein Farbstoff, der als Oelfarbe oder im Bunt- druck verwendbar sein soll, ölecht sein. Es handelt sich hier nur um die eventuell teil- weise Löslichkeit von Malerfarbstoffen in den öligen Bindemitteln im physikalischen Sinne. Oelunechtheit wurde zuerst bei den vor ca. 30 Jahren hergestellten, mit Teerfarb- stoffen geschönten Erdfarben beobachtet (blutende, beizende Farbstoffe). Die neueren Pigmentteerfarbstoffe sind mit wenigen Aus- nahmen ölecht. Dadurch haben sie neben ihrer Lichtechtheit sich als Pigmentfarb- stoffe besonders für Buntdruck eingeführt. Das bekannteste und älteste Beispiel eines ganz ölunechten Malerfarbstoffes ist der Asphalt. Er ist in Terpentinöl sehr leicht, in Leinöl usw. reichlich löslich und schlägt, da er außerdem das Trocknen stark ver- zögert, durch die Untermalung durch und verursacht so das Nachdunkeln. Teilweise öllöslich sind alle Farbstoffe mit bituminösen Bestandteilen, wie Rußbraun, Bister, Kölner Umbra, Kasseler Braun. Die Ermittelung der Oelechtheit erfolgt durch die Auslauf- und die Aufstrichprobe. Bei ersterer digeriert man den Farbstoff mit einem Gemenge von 2/3 Leinöl und 7a Terpentinöl bei gewöhnlicher Temperatur oder bei ca. 70° C, gießt auf Filtrierpapier und beobachtet die Färbung der Auslaufzone. Bei der Ueberstrichprobe streicht man den Farbstoff fett in Oel ab- gerieben auf nicht saugende Unterlage und bringt auf diesen Aufstrich, sobald er eben klebefrei trocken geworden, magere Zink- weißölfarbe in Flecken oder Streifen auf. Das Bindemittel der unteren Schicht zieht sich dann in den Ueberstrich und färbt diesen, wenn der zu prüfende Farbstoff ein durch- schlagender ist. 3g) Verträglichkeit in Mischung. Verträglichkeit in Mischung ist eine an Maler farbstoffe zu stellende Hauptanforderung. Man versteht hierunter 1) das Ausbleiben chemischer Wechselzersetzung zweier Farb- stoffe, 2) die chemische Unveränderlichkeit von Farbstoffen durch katalytische Wirkung anderer eventuell unter Mitwirkung von Bindemitteln. Berücksichtigt man, daß die Malerfarbstoffe nicht durchwegs chemisch indifferente Stoffe sind, so ist zu verwundern, daß die wissenschaf tliche Malmaterialienkunde nicht längst die Bedingungen festgelegt hat, unter welchen Malerfarbstoffe verträglich sind. Einzelne Fälle von Wechselzersetzungen bei diesen waren schon im Mittelalter be- kannt; so jene des Grünspans mit Auri- pigment und Realgar. Trotzdem begann man erst vor nicht zu langer Zeit dieses Gebiet systematisch zu bearbeiten. Der bekannteste Fall erwähnter Art ist die rasch verlaufende Wechselwirkung zwischen den Cadmium- farbstoffen und den Kupfergrünen usw., die zur Bildung von Schwefelkupfer führt und damit zur Mißfärbung des ursprünglichen Mischtones. Der Eintritt dieser Wechsel- zersetzung wird durch Oelbindemittel nicht verhindert. Hierher gehören auch die ver- meintlichen Wechselzersetzungen zwischen schwefelhaltigen Farbstoffen und Blei- farben, wie zwischen Zinnober, Cad- miumgelben, Ultramarinen, Lithopon und Bleiweiß, die erfahrungsgemäß nicht oder nicht in starkem Grade auftreten und durch Oelbindemittel verhindert werden (vgl. A. Eibner, Malmaterialienkunde, Kap. 9). Es wurde vor einiger Zeit bekannt, daß gewisse weiße Farbstoffe die Lichtechtheit einer Reihe von bunten Malerfarbstoffen durch katalytische Wirkung beeinflussen (A. Eibner, Ueber Lichtwirkungen auf Malerfarbstoffe 1. c. und derselbe, Ueber technische Prüfungsmethoden von Maler- farbstoffen usw. 1. c). Zu diesen gehört das Zinkweiß, das in Mischung mit anorga- nischen Farbstoffen wie Chromgelb, Cad- miumgelb, Pariserblauen, den meisten orga- nischen, einschließlich der Pigmentteer- farbstoffe, deren Lichtechtheit in zum Teil Farben *.-).-> außerordentlichem Grade (Pariserblau) be- einträchtigt. Es handelt sich hier also um eine unter Lichtwirkung zustande kommende Unverträglichkeit von Malerfarbstoffen. A. Eibner nannte diese Eigenschaft die Zinkweißunechtheit derselben. Nach neueren Beobachtungen scheinen auch andere weiße Farbstoffe wie Kreide usw. ähnliche Wirkungen auszuüben, ohne daß diese ledig- lich auf den durch den weißen Farbstoff bewirkten Verdünnungsgrad des bunten zu- rückzuführen wäre. Ueber Beeinflussung von organischen Farbstoffen durch anorga- nische oder ersterer untereinander liegen zurzeit nur einige Beobachtungen vor. Be- züglich der Mitwirkung von Bindemitteln bei diesen und anderen Erscheinungen vgl. Abschnitt 6. 4. Wirkung und Einteilung der Binde- mittel. Die Bindemittel haben den Zweck, durch ihre Klebefähigkeit im eingetrockneten Zustande die Partikeln der Farbstoffe unter sich und die Malschicht (Druckschicht) am Grund haften zu machen, außerdem licht- und luftempfindliche Farbstoffe zu schützen und keine schädlichen Einflüsse auf sie aus- zuüben (vgl. 6). Man teilt die Bindemittel nach der Zusammensetzung ein in anorgani- sche und organische. Von ersteren kommen in Betracht: gelöschter Kalk,- Wasserglas; von letzteren die wasserlöslichen Bindemittel; Pflanzenleime, arabisches Gummi, Kirsch- gummi, Traganth; die künstlichen stickstoff- freien Klebemittel Dextrin und Stärkeleime; dann die tierischen Knochenleime inklusive Hausenblase. Von in Wasser unlöslichen orga- nischen Stoffen werden verwendet Kasein in Form löslicher Salze; von mit Wasser emulgierbaren das Eigelb. Ferner die fetten trocknenden Oele, Leinöl, Mohnöl, Nußöl, seltener Sonnenblumenöl; dann chinesisches Holzöl; neuerdings Sojabohnenöl und Perilla- öl. Versuchsweise wurden für Künstleröl- farbenfabrikation Candlenußöl und Nigeröl verwendet. Außerdem finden Anwendung als Bindemittel oder Bestandteile derselben fette Oelfirnisse, Oellaeke, Harzlacke, Oel- emulsionen (vgl. 7g, Temperafarben) und Bal- same. Als Lösungs- bezw. Verdünnungs- mittel dienen Wasser, zur Herstellung der wässerigen Bindemittel, Terpentinöl und dessen Ersatzmittel. Malmittel sind Hilfs- materialien der Oel- und Temperamalerei. Man unterscheidet schnell trocknende oder Sikkative und langsam trocknende. Erstere sind entweder Oelfirnisse mit starkem Gehalt an Trockenstoffen (Bleisikkative, Sikkativ de Courtrai, Terebine) oder Oelharzlacke (Sikkativ de Haarlem); letztere hochsiedende ätherische Oele wie Rosmarin-, Spick-, Lavendel- und Nelkenöle, auch Copaivaöle. Firnisse sind Pflanzenöle (Leinöl, Mohnöl, Nußöl usw.), die durch Erhitzen mit Trocken- stoffen (Bleiglätte, Mennige, Braunstein) auf höhere Temperatur (gekochte Firnisse, alte auf Firnisbereitung) oder durch Behandlung bei mittleren Temperaturen mit Metallver- bindungen der Leinölsäuren (Linoleate) oder solchen des Kolophons (Resinate) die Eigen- schaft gewonnen haben, in dünner Schicht aufgetragen rasch zu trocknen. Man unter- scheidet Spri tlacke, z.B. Schellack, eine Auf- lösung des Stocklackes in Alkohol, Essenz- lacke, d.h. Lösungen von Harzen wie Mastix, Dammar, weichen Kopalen in Terpentinöl und Oellaeke, d. h Lösungen der Rück- stände der trockenen Destillation in fetten und ätherischen Oelen unlöslicher Naturharze in Oelfirnissen (Lackmassen), die mit Ter- pentinöl oder dessen Ersatzmitteln auf Streichkonsistenz verdünnt werden. Auf diese Weise werden die Bernstein- und Kopal- lacke hergestellt. Ersatzmittel hierfür sind u. a. die mittels Kalk- und Zinkverbin- dungen des Kolophons oder Estern derselben (Schaalsche Lackester) oder mit durch Erhitzen gehärtetem Kolophon (Ambrol) her- gestellten Harzlacke oder Kompositionslacke. Der Trocken- und Haftprozeß der Bindemittel. Die wässerigen Bindemittel trocknen durch Verdunsten des Wassers und hierbei stattfindende chemische Veränderung der anorganischen Bindestoffe Kalkhydrat bezw. Wasserglas. Die pflanzlichen und tie- rischen Leime trocknen nur durch Verdunsten des Wassers. Unlöslichkeit kann bei Knochen- leim und Kasein durch Besprengen der Bild- fläche mit Formalinlösung oder essigsaurer Tonerde bewirkt werden. Die Adsorption von Wasser durch diese kolloidalen Stoffe und das allmähliche Abgeben desselben nach dem Verdunsten des Lösungswassers kann zu Volumveränderungen der Farbschicht füh- ren, die das Aufblättern der Farbschicht ver- i Ursachen (vgl. 7e). Kasein und Eiweiß geben Haftfestigkeit durch chemische Verbindung , mit dem Kalk des Malgrundes bezw. durch | Unlöslichwerden des Kaseinkalkes beim Ein- trocknen. Die Haftfestigkeit der Farben- schicht ist bedingt durch die Größe ihrer Adhäsion am Malgrund und die Kohäsion j zwischen Färb- und Bindemittelmaterial. [ Die fetten trocknenden Oele trocknen durch I Sauerstoffaufnahme unter Bildung von Oxy- glyzeriden (Linoxyn), sowie durch Polymeri- sation unter Liclitwirkung (Genthe, Lein- öltrockenprozeß; Fahrion, Die Chemie der trocknenden Oele, Berlin 1911). Bei den Oel- firnissen werden diese Vorgänge durch die Trockenstoffe beschleunigt. Der Trocken- prozeß beginnt hier an der Oberfläche, da diese | mit dem Sauerstoff in Berührung steht und schreitet nach der Tiefe vor. Bei dickeren ; Schichten der Farben entstehen durch die , hierdurch auftretende Volumvergrößerung und das Antrocknen der oberen Schicht 856 Farben Spannungszustände, die Runzelbildung veranlassen. Oellacke trocknen zunächst durch Verdunsten des Verdünnungsmittels (Ter- pentinöl usw.), dann durch Sauerstofiauf- nahme. Es kommt dadurch bei diesen zu geringerer Runzelbildung als bei fetten trocknenden Oelen und deren Firnissen. Harzessenzlacke trocknen fast ausschließlich durch Verdunsten des Lösungsmittels. Run- zelbildung tritt daher hier nicht auf. Die hochsiedenden ätherischen Oele und Balsame trocknen fast ohne Verdunstung und unter schwacher Sauerstoffaufnahme. Für die Nomenklatur der Bindemittel sind dieselben Festsetzungen maßgebend wie für die Farb- stoffe. Stoff- oder Substanzbezeichnungen dürfen nicht auf Surrogate übertragen werden. Die wissenschaftliche Wertbe- stimmung der Bindemittel ist infolge ihrer meist komplizierten Zusammensetzung und teilweisen Fehlens der analytischen Me- thoden zur quantitativen Bestimmung der- selben wie jener der Verfälschungen zur- zeit noch nicht allfällig sicher. Emul- sionen als Farbenbindemittel sind Ver- teilungen öliger Bindemittel, die mittels eines emulgierenden Agens bewirkt werden. Zur Herstellung einer Emulsion bedarf es also nur dreier Stoffe: des Wassers, des zu emulgierenden Oeles und des emulgierenden Stoffes. Die Emulsionen bilden die Binde- mittel der Temperafarben (s. 7 g). 5. Optische und maltechnische Be- ziehungen der Farbstoffe zu den Binde- mitteln. Diese sind für die naturwissen- schaftliche Entwickelung der Maltechnik von besonderer Bedeutung. 5a) Chroma- tische Veränderungen der Farbpulver durch Bindemittel; optisches Verhal- ten der Farben beim Eintrocknen. Die Farbstoffpulver sind Systeme zweier optischer Medien von verschiedener Licht- brechbarkeit bezw. Absorption, von Luft und Farbstoffkorn. An der Grenze beider findet im Farbstoff, falls er ein bunter ist, teilweise Absorption und Reflexion und außerdem dif- fuse Reflexion weißen Lichtes statt Tritt an Stelle der Luft ein Bindemittel, so wird wegen des größeren Brechungsvermögens des- selben die diffuse Reflexion des weißen Lich- tes (Oberflächenlicht)- ganz oder teilweise aufgehoben und das Licht dringt tiefer in ihn ein. Deshalb erscheint er im Bindemittel tiefer gefärbt als im Pulver. Ist er ein Stoff von relativ geringem Li chtbrechungs ver- mögen und hat das Bindemittel annähernd den gleichen Brechungsindex, so erscheint er darin relativ durchsichtig (lasierend). Sind die Indizes beider stark verschieden, so er- scheint die Farbe relativ undurchsichtig (deckend). Verdunstet das Bindemittel beim Auftrocknen der Farbe größtenteils, so tritt an Stelle desselben Luft und dadurch wieder eine starke Brechungsdifferenz, d. h. diffus reflektiertes weißes Licht auf. Daher trocknen die Kalk-, Fresko-, Mineral-, Leim- und Acjuarellfarben relativ hell auf. Die Temperafarben ändern sich, da sie Oel ent- halten, beim Trocknen weniger als erstere und die Oel-, Oelharz- und Harzfarben bleiben hierbei im optischen Effekt unverändert bezw. ändern sich nur wenig, wenn ein Teil des Bindemittels (Terpentinöl) verdunstet oder nach unten austritt (Einschlagen). Pastellfarben werden nur beim Fixieren etwas dunkler. Umgekehrt ändern sich Oelfarben beim Firnissen wenig; Temperafarben stark. Auch die spezifischen Unterschiede in der Erscheinung der einzelnen Malereien beruhen auf den erwähnten optischen Beziehungen zwischen den Farbstoffen und Bindemitteln. Der Lüster der Freskomalereien rührt von der relativen Lichtdurchlässigkeit des kristal- linischen Kalksinters her. Mineralmalereien besitzen ihn nicht, weil das Bindemittel hier amorph ist. Kaseinwandmalereien erreichen aus gleichem Grunde nicht den Lüster der Fresken. Oelharz- und Harzmalereien haben mehr Tiefenlicht als Temperaöl- und beson- ders Oelwachsmalereien, weil die Harze größere Brechungsindizes besitzen als die fetten Oele. Es sind hier daher die Brechungs- differenzen zwischen Farbstoff und Binde- mittel geringer als bei Oel maiereien. 5b)Deckfähigkeit; Bestimmung der- selben; Lasurfarben. Die Deckwirkung von Malerfarben ist das Resultat der optischen Wirkung der Farbstoffe auf das Licht unter Mitwirkung der Bindemittel. Sie ist für jeden Farbstoff eine Funktion der optischen Eigenschaften beider. Bei den Farbstoffen kommt zunächst der Grad der Lichtabsorp- tion in Betracht. Schwarze und dunkle Farbstoffe decken infolge fast totaler oder starker Lichtabsorption. Die Deckwirkung ist hier unabhängig vom spezifischen Gewicht des Farbstoffes. Jene der weißen und hell- bunten dagegen ist in erster Linie abhängig von diesem und der dadurch bedingten Größe der Lichtbrechung bezw. Reflexion. Doch ist das spezifische Gewicht für die Deckwirkung der schweren Farbstoffe nicht ausschlaggebend. Mitwirkend sind hier noch Größe und Gestalt des Farbkornes, sowie kristallinische bezw. amorphe Ausbildung, da auch die Zahl der stattfindenden Reflexio- nen die Größe der Deckwirkung bedingt. Der Hauptbetrag derselben wird durch totale Lichtreflexion im Farbstoffkorn unter Mit- wirkung der noch im Bindemittel stattfinden- den diffusen Reflexion (Erscheinung trüber Medien) hervorgebracht. Von demselben Stoff deckt also die amorphe Form besser als die kristallinische, weil die Zahl der Reflexionen in ersterer die größere ist. Der Betrag der Deckfähigkeit einer angeriebenen Farben S57 Farbe ist gleich der Differenz der Brechungs- indizes des Farbstoffes und des gewählten Bindemittels. Die Bestimmung der Deck- fähigkeit von Malerfarben war in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Erörterungen (vgl. Farbenztg. Jahrgänge 13 bis 17; A. Eibner, Ueber technische Prüfungsmetho- den von Malerfarbstoffen usw. 1. c). Es fehlen zurzeit Vereinbarungen über die zweckmäßigste Methode. Die beiden am häufigsten verwendeten sind die Mischmethode und die Aufstrichmethode. Sie werden aus- schließlich zur Prüfung weißer Farbstoffe verwendet. Nach ersterer werden gleiche Gewichtsmengen der zu prüfenden Farbstoffe mit gleichen Mengen eines Indikatorfarbstoffes /Ultramarin, Rußschwarz) im Pulver innig gemengt und in Oel abgerieben. Die Mischung, die den helleren Ton zeigt, gilt als jene, die den deckenderen weißen Farbstoff enthält. Bei Anwendung von im spezifischen Gewicht sehr verschiedenen Farbstoffen wie Bleiweiß und Zinkweiß erhält man nach dieser Methode unrichtige Resultate, da die verwendeten Volumina der zu prüfenden Farbstoffe un- gleich sind. Es ergibt sich dann das Resultat, daß Zinkweiß besser deckt als Bleiweiß. In diesen Fällen liefert diese Methode nur bei Anwendung gleicher Volumina der Farb- stoffe richtige Resultate. Von den Auf- strichmethoden ist jene am einwandfreiesten, wobei die mit gleichen Volumen der Farbstoffe aus gleichen Volumen Oel hergestellten Farben in mehrmaligem, nicht deckenden Anstrich bis zur erreichten Deckfähigkeit gestrichen und die Zahl der hierzu nötigen Aufträge, sowie die verbrauchten Farbmengen werden. Zur Deckfähigkeit bedient Linien oder Feststellung man auf Figuren der sich dem bestimmt erreichten schwarzer Malgrunde. Lasurfarben sind Farben, bei welchen die Brechungsdifferenz zwischen Farbstoff und Bindemittel gering ist. Zur Bestimmung derselben kann jene des Brechungsexponenten des Farbstoffes in einem Medium von be- kannter Brechung in der Ausbildung von Le Blanc (Zeitschrift f. phys. Chemie io, 433 (1892)) dienen. Es wird im Refraktometer von Pul f rieh der Brechungsexponent einer Flüssigkeit ermittelt, in der der zu prüfende Farbstoff durchsichtig erscheint. Diese Methode kann nicht auch zur Ermittlung der Deckfähigkeit von Farbstoffen verwendet werden, weil man zurzeit keine Flüssigkeit mit Brechungsexponenten über 2,0 kennt (Phosphor in CS..), während die Brechungs- exponenten der meisten Deckfarbstoffe größer als 2 sind. Die Ermittlung der Lasurfähig- keit von Farben erfolgt zurzeit auf rein empirischem Wege nach Typ durch Ver- gleich der Durchsichtigkeitsgrade auf Glas- platten. Sc) Färbevermögen, Ausgiebigkeit. Unter Färbevermögen versteht man die relative Fähigkeit eines bunten oder schwarzen Farbstoffes, einem weißen oder bunten bei der Mischung die eigene Färbung mitzu- teilen. Färbevermögen ist nicht identisch mit Deckvermögen, da es sich hier um eine optische Erscheinung handelt, die an der Oberfläche der Farbschicht durch additionelle Mischung eines bunten Farbtones mit Weiß zustande kommt, während die Deckfähig- keit eine Tiefenwirkung eines einzigen Farb- stoffes ist. Daher liefert die Mischmethode zur Ermittlung der letzteren keinen sicheren Anhalt, wenn auch ersichtlich ist, daß ein stark deckender Farbstoff eine stark ent- färbende Wirkung auf einen bunten ausüben muß. Andererseits gibt es ausgesprochene Lasurfarbstoffe (Pariserblaue, Teerfarbstoffe), die bei geringer Deckwirkung sehr großes Färbevermögen zeigen. Sd) Oelverbrauch und Oelen der Oel färben usw. Eine Schwierigkeit bei der Fabrikation der Künstlerölfarben bildet der verschieden große Oelverbrauch der einzelnen Farbstoffe. Er ist hauptsächlich bedingt durch die Verschiedenheit ihrer spezifischen Gewichte, wodurch gleiche Gewichtsmengen verschiedene Volumina ergeben. Spezifisch leichte Farbstoffe verbrauchen daher ge- wöhnlich, wenn auch nicht ausnahmslos mehr Oel als schwere, um gleich malfertige Farben zu liefern. Es spielen hier auch die Benetz- barkeit, Größe und Form, Glätte, Porosität des Farbkornes, also rein physikalische Momente eine Rolle. Diese bedingen im Zusammenhang mit dem spezifischen Gewicht auch Ungleichheiten in derKohäsion der Farb- stoffe mit dem Oel, die sich im langsamen oder raschen Absetzen und dem sogenannten ,, Oelen" der Tubenölfarben, sowie im Unter- schied in ihrem Verhalten unter dem Pinsel, der Malfähigkeit äußern. Es ist noch nicht gelungen, diese Unterschiede in hinreichender Weise abzugleichen (vgl. 7i). 6. Chemische Einwirkungen von Binde- mitteln auf Farbstoffe. 6a) Oelunecht- heit im chemischen Sinne. Die früher fast allgemein verbreitete Annahme, daß die Bindemittel der Malerfarben usw. auf die Farbstoffe durch Abschluß derselben von der Luft schützend einwirken und keinerlei Ver- änderungen derselben bewirken, hat sich in den letzten Jahren als irrig erwiesen. Seit langem kannte man chemische Wirkungen fetter Oele, unter den Bezeichnungen Blei- verseifung und Zinkverseifung. Man schreibt die Wetterbeständigkeit von Oelbleiweißan- strichen dem allmählichen Eintritt der erster en zu, wobei sich Bleioleate bilden, die der Hydro- lyse weniger stark unterliegen wie Zinkoleate. Neuerdings nahm W. Flatt (Farbenztg. 15, 227 (1910)) auch bei Lithopon Verseifung 858 Farben des Zinksulfids an. Wenig bekannt ist, daß auch Erdfarben, wie Umbra, dann Englisch- rote und Caput mortuum, als Künstleröl- farben beim Lagern teilweise Verseifung er- leiden und so ölunecht werden, indem das Bindemittel angefärbt wird und durch Eintritt in obere Malschichten Nachdunkeln veranlaßt. Das Vergrünen künstlicher Kupfer- blaue im Oelbindemittel besteht in Bildung von ölsaurem Kupfer. Kupfer haltige, aus Kiesabbränden hergestellte Eisenrote färben das Oelbindemittel grünbraun. Gegenüber diesen lästigen, aber in ihren Wirkungen nicht stark hervortretenden Erscheinungen ver- dient eine zuerst von E. Täuber (Chem. Ztg. 1908, 1032, 1909, 417) beobachtete und später von A. Eibner weiter verfolgte besondere Beachtung. Täuber ermittelte, daß das im Wasserfarbenbindemittel außerordentlich lichtechte Tinoindigorot (Violettstich) und Indigo mit weißen Farbstoffen gemischt im Oel schon im Dunkeln, im Lichte in kürzester Zeit völlig ausbleichen. Es handelt sich hier nicht ausschließlich um katalytische Wirkung der weißen Farbstoffe, da Thioindigorot und Indigo gemischt mit Zinkweiß als Wasser- farben keineswegs rasch verblassen. Täuber nahm Reduktion dieser Farbstoffe durch das Oel an, Eibner Oxydation und übertragende Wirkung des letzteren unter Mitwirkung des Lichtes. Harzbindemittel (Mastix-Dammar- lack) und Oellacke verändern sie nicht bezw. in geringerem Grade. Die Bleich- wirkung ist also durch den Trockenprozeß der fetten Oele verursacht (A. Eibner, Ueber indigoide Farbstoffe in der Verwendung als Oelfarben. Chem. Ztg. 1909, 229). Diese Erscheinung zeigen nicht alle indigoiden Farbstoffe im gleichen Grade. Einige wie Thioindigoscharlach R und Cibafarben sind weitgehend ölbeständig. Es ergaben sich in- dessen Anhaltspunkte zur Annahme, daß bei anderen Teerfarbstoffen ähnliche Ursachen des beobachteten relativ raschen Verbleichens der Oelfarbenaufstriche im Lichte vorhanden sind. 6b) Eindicken der Oelfarben. Dieses ist zumeist durch die Bildung unlöslicher Seifen aus Bestandteilen der Farbstoffe- mit dem Bindemittel verursacht und tritt sowohl bei Anstrich- als bei Tubenölfarben auf. Bei ersteren ist die Ursache die Bildung von Harz- seifen (abietinsauren Salzen), wenn Kolophon als Oelbindemittel verwendet wurde. Zur Ver- meidung derselben wurde die erwähnte Ver- änderung des Kolophons durch Herstellung von Harzkalk usw. und Harzestern vorgenommen. Außerdem kann das Eindicken auch durch Ausfallen (Ausfladen) des Harzanteiles aus dem Bindemittel stattfinden, der den Farb- stoff mitreißt und mit ihm zu einer festen Paste verkittet. Derartige Erscheinungen kommen auch bei Tubenölfarben vor, sind indessen hier meist durch den Farbstoff ver- ursacht. So dickt Mennige relativ rasch durch Pflasterbildung ein. 7. Einteilung der Farben nach Art der Bindemittel. 7a) Kalkfarben. Als Binde- mittel dient hier der gelöschte Kalk bezw. das gelöste Kalkhydrat. Diese Farben werden zum Gebrauche frisch her- gestellt. Als Farbstoffe kommen nur kalk- und luftechte in Betracht, also ausschließlich Erd- und Mineralfarben ohne Bleiweiß, Zink- weiß, Chromgelb, Cadmium zitron, Zinkgelb, Chromgrüne, Zinkgrüne und Pariserblaue. Ultramarin ist in Städten bedingt kalkecht. Der Kalk muß möglichst fett, d. h. frei von Magnesia und Silikaten sein. Das Einsumpfen — Ablöschen in Gruben mit durchlässigem Boden — erfolgt zur Trennung des Kalkes von von diesen und den sandigen Bestandteilen, sowie zur Entfernung von löslichen Salzen (Gips usw.). Zu langes Einsumpfen führt den Kalk oberflächlich in Carbonat über und ist daher nicht empfehlenswert. Die Wirkung des Bindemittels ist hier eine zweifache. Ver- kittung der Farbpartikeln durch den ein- trocknenden Kalk und Festigung der An- strichschicht durch Bildung von Kalksinter — kristallinisch kohlensaurem Kalk — aus dem an die Oberfläche der Malschicht dringenden gelösten Kalkhydrat. Die Zerstörung von I Kalkfarbenanstrichen und Freskomalereien wird durch das sich darauf kondensierende kohlensäurehaltige Wasser der Atmosphäre eingeleitet. Es bildet sich zunächst wasser- löslicher saurer kohlensaurer Kalk, der teil- weise abtropft, teilweise von den darunter liegenden trockenen Schichten aufgesaugt wird und so zur Verringerung der Bindemittel- menge der Malschicht Anlaß gibt. Ver- wandelt sich der in dieser verbliebene saure kohlensaure Kalk wieder in neutral kohlen- sauren, so geschieht dies mit größerer Ge- schwindigkeit als bei der Bildung des ur- sprünglichen Sinters. Die Abscheidung er- folgt daher nicht mehr in der früheren kristal- linischen, sondern in pulveriger, zur Bindung der Farbenpartikel weniger geeigneter Form. Durch diese Vorgänge wird der Farbschicht die Bindung entzogen. Sie blättert ab oder zerfällt pulverig, je nachdem der eine oder der andere Vorgang überwiegt. Durch Ein- dringen von Nässe durch die Bewurfschicht ' (Einregenstellen) wird meist das Abblättern verursacht. Die durch diese bewirkte Zer- störung von Fresken ist nicht an allen Bild- stellen die gleiche. Die verschiedenen Farb- stoffe begünstigen oder verzögern die Dif- ifusion des Kalkhydrates an die Bildober- fläche. Hierdurch kommt es zu ungleichmäßig dicker Ablagerung von Sinter. Die dunklen Farbstoffe, auch Ocker, verzögern, die hellen bis weißen begünstigen sie, da hier der Kalk überwiegt. Daher werden erstere Stellen Farben s.V.i an Fresken rascher zerstört als letztere. Teil- weise in gemischter Manier, d. h. unter An- wendung von Kaseinfarben usw. ausgeführte Fresken zeigen andere Erhaltungszustände als reine Fresken. Wenn hier auf dem frischen Grund gemalt wurde, sind diese Stellen durch Bildung von Kaseinkalk widerstandsfähiger als die Stellen mit Kalksinter. In Städten bewirkt die schweflige Säure der Rauchgase rasche Zerstörung von Kalkmalereien durch Gipsbildung, da derselbe ebenfalls von Was- ser gelöst wird. Die bei Fresken häufige Schleierbildung wird teils durch Auswitterung aus feuchter Bewurfschicht (Mauersalpeter), teils durch Umbildung von saurem kohlen- saurem Kalk in neutralen bewirkt. 7b) Wasserglasfarben (Stereochromie, Mineralmalerei). Der Versuch, ein wetter- beständigeres Bindemittel für Monumental- malerei zu schaffen als der Kalksinter der Kalkfarbentechnik ist, führte zur Erfindung der Wasserglasfarben durch N. von Fuchs, deren technische Ausbildung man Liebig, Pettenkofer, den Malern Kau! back, Echter, Schlotthauer, sowie dem Tech- niker Keim verdankt. Die Anwendung ge- schieht jetzt im wesentlichen nach zwei Ver- fahren: a) indem man auf einen nach be- sonderer Vorschrift hergestellten kalkhaltigen Malgrund mit Wasser und Farbstoffen, die Zuschläge von Zinkweiß, Magnesia, Kieselsäurehydrat usw. enthalten, malt und das Bild nach dem Trocknen durch Bestäuben mit Kaliwasserglaslösung fixiert. Hierbei ver- bindet sich diese mit den Zuschlägen der Farb- stoffe und dem Kalk des Malgrundes zu un- löslichen Silikaten, welche Farbschicht und Malgrund mit einander verkitten, b) indem man die Farben mit Wasserglas angemacht auf den in einfacherer Weise hergestellten Malgrund aufträgt. Letzteres Verfahren dient zur Herstellung von Fassadenanstrichen und dekorativen Arbeiten, sowie zur Restaurierung von Fresken (Freskolithverfahren) Das Silex" wasserglasverfahren von Eberhardt beruht auf der Herstellung des Wasserglases in einer Form, welche die vorzeitige Abscheidung der Kieselsäure verhindert. Mineral mal ereien sind bei richtiger Herstellung naturgemäß wetterbeständiger als Freskomalereien. 7c) Aquarellfarben. Die Anwendung dieser Farben knüpft sich an die Erfindung des Papyros und der Hieroglyphenschrift in Aegypten, wie die älteste Papier- und Tusche- fabrikation der Chinesen; im Mittelalter setzte sie sich als Miniaturmalerei und Gouache fort und erreichte in England am Ausgange des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt, auf dem sie sich bis in die moderne Zeit erhielt. Die Aquarellfarben sind das erste Farbenmaterial, das, besonders in England, naturwissenschaft- licheBehandlung zunächst bezüglichLichtecht- heit fand. Die Aquarellfarben sind durch zwei Momente besonders gekennzeichnet: Die außerordentlich feine Mahlung der Farbstoffe und das komplizierte Bindemittelgemenge. Erstere ist bedingt durch die in der Aquarell- malerei angewendeten relativ sehr dünnen Farbschichten, die eine Forderung der op- tischen Methode darstellen, nach welcher die 1 typische und ältere Aquarellmalerei arbeitet, der subtraktiven Farbenmischung durch ; übereinandergesetzte transparente Farblagen. I Die Farbstoffkörner der modernen Aquarell- farben sind durchgängig kleiner als Milz- brandbazillen (0,004—0,01 mm) die durch- schnittliche Größe beträgt 0,00025 mm (Mal- technische Mitteilungen der Firma Schmincke & Co. 7. Lieferung). Die ursprüngliche Ueber- legenheit der französischen und englischen Aquarellfarben über die deutschen beruhte u. a. in der feineren Mahlung und in der Zu- sammensetzung des Bindemittels. Durch diese feine Verteilung der Farbstoffe sowie ge- eignete Wahl der Bindestoffe wird das Zu- sammentreten der Farbpartikeln zu größeren Komplexen (Ausflocken) verhindert und die Aufschlämmung derselben in der angeriebenen Aquarellfarbe in einen Zustand versetzt, der jenem von kolloidalen Lösungen angenähert ist. Hierdurch wird glatter Auftrag auf dem als Malgrund dienenden Papier erzielt. Be- dingung ist, daß dieses nicht Stoffe wie Alaun usw. enthält, die das Ausflocken befördern (Church, The Chemistry of Paints and Paintings, London 1901). Das Hauptbinde- mittelmaterial für Aquarellfarben ist weißes arabisches Gummi; außerdem kommen fol- gende Materialien in Verwendung: weißes Dextrin, Kirschgummi, Tragant, Kartoffel- sirup, Kandiszucker, aus Copaivabalsam, Glycerin, Emulsionen Wachs und Mastix Gummi. Diese Mittel Zweck, die Sprödigkeit vermindern, teils die für Tuschfarben Konsistenz, teils das sogenannten Honig- mit arabischem haben teils den des letzteren zu Herstellung der (Stückfarben) nötige Feuchtbleiben der Tubenaquarell-, und Napffarben zu bewirken, teils wie die genannten Emulsionen Glanz des Farben- auftrages und Haftfestigkeit zu erzielen. Um den infolge der kapillaren Attraktion des Wassers besonders auf fetthaltigem und glattem Papier (Bemalen von Photographien) auftretenden unglatten Auftrag der Aquarell- farben zu beseitigen, werden den Aquarell- farben Stoffe zugesetzt, welche der Tropfen- bildung entgegenwirken. Als ein solcher ist seit langem die Ochsengalle bekannt und in Verwendung, welche ihre geringe Oberflächen- spannung dem Gehalt an Taurocholsäure und deren Seifen und Taurin verdankt (Hora- dams Patentaquarellfarben). Außerdem werden Gemische von Dichlorhydrin, öl- saurem Natron und einem Präparat aus Schweinegalle verwendet. Zu gleichem Zwecke 860 Farben benützt die Firma Schmincke & Co. neuer- dings Salze der Lysalbin- und Protalbinsäure, aus Eiweiß gewonnen. Die Aquarellfarben werden in Stücken (Tuschfarben), Scheiben, Tuben und als Napi'farben gelief eit (vgl. Buchwald, Aquarellfarben. Chem. Techn. Bibl. Nr. 275). Unter den Farbstoffen für Aquarellfarben befinden sich immer noch solche wie Gummigutt, Gelblacke, Stil de grains, Carmin usw., welche den modernen Anforderungen an die Lichtechtheit von Künstlerfarben nicht entsprechen. Die An- wendung zu großer Mengen von Glycerin ist schädlich, da hierdurch infolge der hygro- skopischen Wirkung die Lichtechtheit der empfindlicheren Farbstoffe vermindert wird. Die Gouachefarben weisen größere Gehalte an Bindemittel auf als die Aquarellfarben, da in der Gouachemalerei dickerer Farbenauf- trag stattfindet. Sie ist im wesentlichen Deck- farbenmalerei. 7 d) Chinesische Tusche. Ihre Fabri- kation, die schon 2000 Jahre v. Chr. be- trieben worden sein soll, blieb bezüglich der Bindemittelbestandteile teilweise Geheimnis. Als Farbstoff dient Rußschwarz, das aus dem Oel der Samen von Dryandra cordata durch Anzünden in Lämpchen gewonnen wird. An Bindemitteln verwendet man: Hausenblase und Hautleim; dazu kommen Abkochungen von Aconitum und Anchusa nebst Kampfer und Moschus ; letzterer wegen des Gerbstoff- gehaltes zum Gerben der Leimbindemittel und Unlöslichmachen der Tusche nach dem Auf- trocknen. Aus dem Ruß und dem Binde- mittelgemisch werden Kugeln geformt, die in geschlossenen Porzellantöpfen längere Zeit im Wasserbade erwärmt werden. Dann werden die Kugeln mit schweren Stößeln unter öfterem Erwärmen gedichtet, hierauf die Stäbchen geformt, diese nochmals mit Holzhämmern bearbeitet und in Holzformen gepreßt, welche die Firmenzeichen eingeschnitten enthalten. Das Trocknen erfolgt nach dem Einwickeln der Stäbchen in Papier unter Zwischenlagen von Reisasche bei gewöhnlicher Temperatur. Zuletzt werden sie vergoldet und poliert (Buchwald, Chem. Techn. Bibl. Nr. 275). Die moderne europäische Fabrikation fester und flüssiger Tuschen geht wie die chinesische von zwei Hauptmomenten aus: Verwendung von möglichst feinem Rußschwarz und Auswahl von Bindemitteln, die nach dem Trocknen von selbst oder durch Zusätze wasserunlöslich werden. 7e) Leimfarben. Das Bindemittel der- selben ist der Knochenleim. Sie dienen zurzeit nur für Stuben- und dekorative Malerei und werden zur Verwendung frisch hergestellt. Die warme Leimlösung wird den mit Wasser angeteigten Farben beigemischt und un- mittelbar darauf gestrichen. Zu starker Leimzusatz kann das Abblättern der Farbe nach dem Trocknen verursachen. Dieses erfolgt durch Volumverminderung der Leim- schicht an der Oberfläche durch Abgabe des kolloidal aufgenommenen Wassers, wodurch konkave Aufbiegung der Schicht erfolgt. Leimfarbe zerfällt in feuchten Räumen durch Zersetzung des Bindemittels leicht und eignet sich daher u. a. nicht für Kirchenmalerei. Als Ersatzmittel für tierischen Leim dient vielfach mit Alkalien aufgeschlossene Stärke (Sichelleim usw.). Das Hauptbindemittel der Pereiratempera ist Hausenblasenleim neben anderen wasserlöslichen Stoffen. Sie ist also keine Tempera, sondern wesentlich Leim- bindemittel. 71) Kaseinfarben. Die Eigenschaft der Lösungen der Knochenleime zu gelatinieren, führte zur Einführung der flüssigen Leime. Zu diesen zählen auch die Lösungen des Kaseins in Alkalien, Kalkwasser, Ammoniak, Hirschhornsalz, Borax usw. Die Käseleime besitzen sehr beträchtliche Klebekraft und wurden schon im Mittelalter verwendet. Die Notiz des Plinius des Aelteren, daß der Mörtel für das Tektorium des Minerva- tempels zu Elis mit Milch angerührt wurde, ist das älteste Zeugnis der Verwendung des Kaseins im Baugewerbe. Im Luccamanu- skript (9. Jahrhundert) und bei Cennino 1437 wird es als Farbenbindemittel erwähnt. Für Wandmalerei wird die Kaseinfarbe zum jeweiligen Gebrauch frisch hergestellt, indem das frische Kasein der Milch mit gelöschtem Kalk zusammengerührt den in Wasser auf- geschlämmten Farben zugesetzt wird. Es wird auf frischen Kalkputz gemalt, oder es werden fabrikatorisch hergestellte Kaseinfarben (Gerhardtsche, Richardsche Kasein- farben) verwendet. Für Anstrichtechnik finden seit einiger Zeit trockene Kasein- präparate (Kaltwasserfarben) viel Absatz. Diese sind trockene Gemenge von pulver- förmigem Kasein mit gelöschtem Kalk und Zuschlägen von die Streichbarkeit und Deckfälligkeit bewirkenden Stoffen wie Kreide, Kaolin usw. Beim Anmachen mit warmem oder kaltem Wasser tritt die chemische Verbindung zu Kaseinkalk und damit die Klebewirkung ein. Durch Zusatz der in Wasser aufgeschlämmten Farbstoffe erhält man streichfertige bunte Kaseinfarben, die auf Mauer, Kalkputz, Holz und Leinwand verwendet werden. Der Kaseinkalk ist nach dem Eintrocknen in Wasser unlöslich; dabei- sind diese Farbenanstriche abwaschbar. Ka- seinfarben streichen sich sehr leicht und haften auch auf Oelgrund. Es kommt in- dessen wesentlich auf das richtige Mengen- verhältnis zwischen Bindemittel und den Farbstoffen an. Enthalten sie von ersterem zu wenig, so haften sie nach dem Trocknen nicht genügend (Wischen), Ist zu viel ver- Farben 861 wendet, so tritt besonders bei dickem Auf- trag Abblättern ein. Ein neues Kasein- farbenbindemittel ist Mahlers Nafka- kasein, ein nicht alkalisch reagierendes Präparat von aufgeschlossenem Kasein, das eine bemerkenswerte Klebewirkung, Streich- fähigkeit und Beständigkeit besitzt. Die durch Alkali gelösten Kaseinpräparate sind dem Faulen sehr stark ausgesetzt und müssen durch Zusatz konservierender Mittel haltbar gemacht werden. Hierher gehört auch die „Marmorkalkfarbe". Ueber Kaseinsilikat- farben und Kaseinmalerei vgl. R. Scherer, Das Kasein, Wien 1905. 7g) Temperafarben. Hierunter ver- steht man Künstler- und Anstrichfarben, deren wässeriges Bindemittel einen öligen Bestandteil enthält, die also Emulsionen sind. Temperafarben sind also nicht Farben, deren Bindemittel erst beim Trocknen in Wasser unlöslich wird, wie manchmal angenommen wird. Sie entstanden aus dem Bestreben, Wasser als Malmittel zu verwenden und doch den Vorteil der Unlöslichkeit des einen Binde- mittelbestandteiles -- des Oeles -- zu haben. Es gibt natürliche und künstliche Emul- sionen. Die älteste in der Malerei verwendete natürliche Emulsion ist 1. das Eigelb, dessen Anwendung als Farbenbindemittel schon von Plinius den Aelteren bezeugt ist und das im Mittelalter und bis zur Erfindung der van Eyck das Bindemittel für Tafel- malerei war. Es besteht wesentlich aus Wasser, dem Eieröl nebst Eiweiß und dem emulgierenden Agens Vitellin, einem Nucleo- albumin. Seine Emulsionsfähigkeit ist so groß, daß dem Eigelb noch das gleiche Ge- wicht an fetten Oelen einverleibt werden kann. Hierdurch entsteht 2. die moderne Eiöltempera. Andere künstliche Tempera- arten sind 3. die Oelgummitempera. Sie ist der Apothekeremulsion nachgebildet und eignet sich für Tafelmalerei weniger als Ei- und Eiöltempera, da sie einen beim Auf- trocknen spröden Bestandteil, das arabische Gummi enthält. Außerdem adhäriert sie wegen starker Oberflächenspannung nicht hinreichend auf Oelgrund, d. h. sie zeigt dar- auf die Erscheinung des Perlens. Hierher gehören die für Anstrichzwecke verwendeten Oelemulsionen Grundin von Köhler und Mahlers Fondin, bei welchen das emul- gierende Agens und gleichzeitige Füllmate- rial aufgeschlossene Kartoffelstärke ist. Sie besitzen außerordentliche Geschmeidigkeit und haften auf Oelgrund gut. 4. Kasein- öltempera. Hier bewirkt Kaseinlösung die Emulgierung, die von besonderer Be- ständigkeit ist. Diese Tempera trägt sich gut auf Oelgrund auf und wird für Künstlerzwecke verwendet (E. Friedlein, Tempera und Temperatechnik, München 1906). Hierher gehört die Nafkakaseinöl- tempera von Mahler, ein für Anstrich- und dekorative Malerei sehr verwendbares äußerst geschmeidiges Farbenbindemittel. 5. Seifen- tempera. Sie enthält Wachs- oder Fettseifen als emulgierende Stoffe. Die frühmittel- alterliche Wachstempera ist im wesent- lichen eine Emulsion von flüssigem Wachs in Wasser, bewirkt durch Vorhandensein von Seifen der freien Wachssäure (Zerotinsäure). Sie wird u. a. hergestellt durch Zusatz von Pottasche zu auf Wasser geschmolzenem Wachs, oder durch teilweise Verseifung mit Aetzalkalien. Diese Emulsionen gehören zu den haltbarsten, die es gibt. Sie wurden schon im frühesten Mittelalter verwendet und bildeten mit oder ohne Oelzusatz das Bindemittel der byzantinischen Wachs- malerei (sogenanntes Punisches Wachs). Die moderne typische Seifentempera enthält als ölemulgierende Stoffe Fettseifen (Vene- zianerseife). Die Unkenntnis der zur Her- stellung einer Emulsion benötigten bezw. überflüssigen Stoffe hat im Laufe der Zeit zur Herstellung einer großen Anzahl von Temperabindemitteln geführt, die zu viele und teilweise schädliche, in ihren Wirkungen sich störende, oder Farbstoffen schadende Ingredienzien enthalten, wie ätzende Al- kalien. Zur Konservierung der Eitempera wurde im Mittelalter Feigenmilch, d. h. der Milchsaft der jungen Feigentriebe, der selbst eine Emulsion ist, und Essig verwendet. Heutzutage dienen zur Konservierung der Temperatubenfarben Phenol, Salizylsäure, Resorcin, a-Naphtol usw. 7h) Oelfarben (Lackfarben). Die Oelfarbe besitzt neben der Harzfarbe die größte Transparenz, da die Differenz zwischen den Brechungskoeffizienten von Farbstoff und Bindemittel hier und dort kleiner ist als bei den übrigen Farben. Man unterscheidet Anstrichölfarben, Oeldruckfarben und Künst- lerölfarben. Die Oelfarbentechnik im hand- werklichen Sinne kam lange vor der künst- lerischen Oelmalerei in Anwendung. Nach Gerh. Cremer ist sie eine antike Erfindung. Die Schedula des Theophilus (9. Jahr- hundert) erwähnt ihrer zum Anstrich von Holz und Stein. Im frühen Mittelalter wurden Banner- und Schildmalereien in Oelfarben ausgeführt. Diese waren also lange bekannt ehe die Brüder van Eyck im Jahre 1411 ihre Neuerung in der künstlerischen Oel- malerei einführten. Als Bindemittel für Anstrichöl- und Druckfarben dient nur das Leinöl bezw. Leinölfirnis. Sie werden im Gegensatz zu den Künstlerölfarben nicht in butterartiger Konsistenz geliefert, sondern j in streichfertigem Zustand, d. h. mit Terpen- tinöl oder dessen Ersatzmitteln verdünnt, i Lackfarben oder Emailfarben sind Farben für Anstrich, welche mit Hochglanz auftrocknen. Sie enthalten als Bindemittel 862 Farben wesentlich Oellacke (Bernstein-, Kopallack) oder eingedicktes Leinöl (Standöl), Holz- öllacke, oder feine Copallacke. Derartige Farben sind die Zonkafarbe, Ripolinfarbe, Japanlackfarbe u. a. Sie dicken nicht ein und liefern auch mit Zinkweiß wetterbe- ständige Anstriche. yi) Oeldruckfarben ; Buch- und Bnntdruckfarben. Diese unterscheiden sich von den Anstrichfarben sowohl durch teilweise Verschiedenheit der verwendeten Farbstoffe, als durch andere Zusammen- setzung bezw. Konsistenz der Bindemittel. Nach ersterer Hinsicht kommen nur die Bnntdruckfarben in Betracht. Die moderne photomechanische Farbendrucktechnik (Drei- und Vierfarbendruck) arbeitet in ähnlicher Weise wie die typische Aquarellmalerei hauptsächlich nach dem Prinzipe der op- tischen Farbenmischung durch Subtraktion, d. h. wo nicht Rastermischung (additive Farbenmischung) angewendet wird, unter Aufeinanderlagerung transparenter Farb- schichten. Sie vermag daher Deckfarben und Farbstoffe, die ein breitbandiges Absorp- tionsspektrum geben, also chromatisch nicht eintönige, nicht zu verwenden. So geben Ultramarin und Zinnober keinen violetten, sondern bräunlichen subtraktiven Mischton. Zur Erzielung des chromatisch richtigen subtraktiven Dreifarbensystems war man daher genötigt, Farbstoffe mit schmalban- digen Spektren, also Teerfarbstoffe, zu ver- wenden, die außerdem leicht in dei\erf order- lichen Transparenz herstellbar sind. Die Einführung dieser hat also gerade in diesem Teil der Pigmentfarbentechnik Berechtigung. Die Anforderung bezüglich Lichtechtheit tritt hier in zweite Linie. Andere in der An- strichtechnik verwendete Farbstoffe sind hier unverwendbar, weil sie entweder durch die Bindemittel nicht genügend gebunden werden oder die Druckwalzen angreifen, wie Zinnober. Die Bindemittel für Farbendruck sind von jenen der Anstreicherei und Lackie- rerei teils dadurch verschieden, daß für billige Schwarzdrucke sogenannte Kompositions- firnisse, d. h. harz-, harzöl- und mineralöl- haltige Mischungen mit Leinölfirnis benutzt, für feinen Buch- und Buntdruck zwar Fir- nisse aus reinem Leinöl, aber in viel dickerer und zäherer Beschaffenheit verwendet wer- den müssen. Diese sind hauptsächlich stark eingedickte oder geblasene Leinöle (Buch- druckfirnisse). Andererseits werden zur Er- reichung raschen Trocknens von Massen- artikeln des Druckgewerbes Bindemittel an- gewendet, die wenig oder kein fettes Oel enthalten (vgl. E. Valenta, Die Rohstoffe der graphischen Druckgewerbe II; Ed. And es, Oel- und Buchdruckfarben). 7k) Systeme der Künstlerölfarben. Während für Anstrich- und Oeldruckfarben ausschließlich Leinöl und dessen Derivate zur Verwendung kommen, diente als Binde- mittel für moderne Künstlerölfarben bis vor kurzem zumeist Mohnöl oder dessen Firnis, da dieses viel heller ist als Leinöl, im Dunkeln nicht gilbt und geeignetere Konsistenz der damit angeriebenen Farben ergibt als ersteres. Nur für langsam trocknende und nicht helle Farben werden Gemische von Leinöl und Mohnöl, bezw. ersteres allein als Firnis, wie für Schwarzpigmente verwendet. Außerdem runzelt das Mohnöl beim Trocknen nicht so stark wie Leinöl. Nach dieser Hinsicht und bezüglich Helligkeit steht das früher für Künstlerfarben benützte Wallnußöl dem Mohnöl näher als Leinöl (E. Täuber, Techn. Mitt. f. Malerei XXVIII, 191 [1912]). Andrerseits trocknet das Mohnöl nicht so gut durch wie Leinöl und Nußöl. Außerdem stellte Täuber fest, daß das Reißen und Springen der Farblagen bei Anwendung von Leinöl weniger häufig auftritt als bei Mohn- ölfarben. Er empfiehlt aus den angeführten Gründen die Wiederverwendung von Nußöl in der Künstlerfarbenfabrikation. Nachdem seit dem Ausgange des Mittel- alters die Herstellung dieser Farben fabrika- torisch betrieben zu werden begann, trat zu den Anf orderungen bezüglich Malfähig- keit und Haltbarkeit der Bilder die der Lagerfähigkeit der Oelfarben. Um das Ein- trocknen zu verhindern, wurden an Stelle der zur Einfüllung dienenden Daimblasen die luftdichteren Zinntuben eingeführt. Teils um das Oelen der Farben zu verhindern, teils um die gewünschte Konsistenz zu erzielen wurden die Künstlerölfarben in butterartiger Beschaffenheit geliefert, so daß sie sich in Strangform aus den Tuben drücken lassen. Da diese Konsistenz nicht bei allen Farb- stoffen leicht zu erzielen war und bei den schweren Pigmenten das Absetzen eintrat, griff man zum Wachs als Verdickungsmittel. Zur Anwendung desselben gelangte man im ; ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts auch ! durch die richtige Anschauung, daß Ueber- schuß von Oel zur rascheren Veränderung der Oelbilder führt und infolge der an den antiken Enkaustiken beobachteten Unver- änderlichkeit des Wachses, die den Maler Fernbach zur Erfindung einer modernen Wachsmalerei (Fernbachs Enkaustik) führte, deren Ausläufer in der Wachs- malerei für dekorative Zwecke zu finden sind. Später wurde in den Künstlerölfarben das Wachs teilweise durch Harze ersetzt. In den letzten Jahren griff man auf die Darstellung der wachs- und harzlosen Oel- farben des Mittelalters zurück und ver- suchte reine Harzfarben herzustellen. Man unterscheidet demnach vier Systeme der Fabrikation von Künstlerölfarben: 1. Wachs- ölfarben, 2. Harzölfarben, 3. reine Oelfarben, Farben 863 4. Harzfaxben. 1. Die Wachsölfarbe be- sitzt den Vorteil, einen Teil des fetten Oeles durch ein Mittel zu ersetzen, das nicht nach- gilbt und sich durch Altern nicht verändert. Dieser Zusatz vermindert auch die erwähnte Neigung der Oelfarbe, im dicken Auftrag beim Trocknen zu runzeln. Dagegen ver- zögert er das Trocknen der Farbe sehr wesentlich, da dadurch der Zutritt des Sauer- stoffes der Luft behindert wird. Da, wie er- wähnt, die einzelnen Pigmente die natürliche Trockenfälligkeit der fetten Oele im posi- tiven und negativen Sinne beeinflussen, bewirkt Wachszusatz, indem er das Trocknen verlangsamt, keinen Ausgleich der Trocken- zeiten der einzelnen Gelfarben, sondern Er- höhung ihrer Verschiedenheit, Diese ist demnach ein Charakteristikum der Wachs- ölfarben. Die Unterschiede schwanken zwischen 2 und 8 Tagen. Ein Problem der Künstlerölfarbenfabrikation war demnach möglichste Abgleichung der Trockenzeiten der einzelnen Farben. Obwohl das Wachs den Brechungsindex 1,53 hat, erhöht es die Transparenz der Farben nicht, da es ein trübes Medium ist. Die Wachsölfarben sind daher relativ stumpf und haben Neigung zum Einschlagen beim Trocknen, weil saugen- der Untergrund das Oel stärker anzieht als das Wachs. 2. Die Fabrikation der Harzölfarben und ätherischen Harzölfarben entsprang ebenfalls dem Bestreben, das Zu- viel an fettem Oel zu ersetzen. Der Maler Mussini wendete zu diesem Zwecke zuerst Bernsteinfirnis an. Die Firma Schmincke & Co. bildete dieses System aus. Die heutigen Mussinifarben enthalten neben Bernstein- firnis Copaivabalsam (Marakaibo) und Ter- pentinöl. Der optische Vorteil dieser Medien besteht in ihrem höheren Lichtbrechungs- vermögen (Bernstein 1,53, Copaivabalsam 1,52) gegenüber dem der fetten Oele (ca. 1,48). Hierdurch gewinnen diese Farben an Transparenz. Ferner trocknen sie auch in dickerer Schicht fast ohne Runzeln auf, da hier das Trocknen infolge Verdunstung des Terpentinöls mehr aus der Tiefe erfolgt wie bei den fetten Oelen. Dieselbe Erschei- nung bewirken der Copaivabalsam und die Copaivaöle. Außerdem schützt der Harz- bestandteil dieser Farben infolge des gas- dichteren Zustandes seiner eingetrockneten Schicht die empfindlichen Farbstoffe gegen Lichtwirkung (vgl. Oelunechtheit der indi- goiden Farbstoffe). Endlich ist bei Harzöl- farben infolge des relativ rascheren Trocknens das Einschlagen nicht so beträchtlich als bei Wachsölfarben. 3. Reine Oelfarben. Die Nachteile zu reichlichen Wachszusatzes bei Künstlerölfarben haben in neuester Zeit noch eine andere Art von Abhilfe veranlaßt. Da, wie erwähnt, die Maler des Mittelalters die Farben nur mit Leinöl, Mohnöl oder Nußöl oder deren Firnissen anrieben und der Er- haltungszustand der meisten damit gemalten Bilder ein guter ist, suchte man diese Art der Herstellung auszubauen. Anfangs schien der angenommene, sehr verschiedene Ein- fluß der Pigmente auf die Trockenzeiten der Oelfarben der Durchführung ein Hindernis zu sein. Es zeigte sich aber, daß er nicht im vorausgesetzten Oracle vorhanden ist und daß die bei den früheren Künstlerölfarben beobachteten Verschiedenheiten der Trocken- zeiten hauptsächlich durch den Wachszusatz verursacht sind. Die neuen reinen Künstler- ölfarben zeigen Trockenzeiten von 1% bis höchstens 4 Tagen (A. Eibner, Malmate- rialienkunde S. 411). Der Nachteil des Oeles konnte durch Beschränkung der Menge aus- geglichen werden. Hierdurch erreichte man leicht die übliche Konsistenz. Diese Farben Zusätze wegfallen, reicher die alten und daher aus- Die Lagerfähigkeit ist, soweit bis sind, da weitere Farbstoff als an gute. Das Absetzen giebiger. jetzt zu urteilen, eine der schwereren Pigmente wird durch gering- fügige Zusätze von Emulsionen oder durch Dicköl verhütet. Das Einschlagen findet hier weit weniger statt als bei den Wachs- ölfarben. Außerdem wirken sie brillanter als diese, weil das trübe Medium Wachs wegfallt. Derartige Farben werden in Deutschland u. a, von den Firmen G. Wagner, Möwes und Schmincke hergestellt (vgl. A. Eibner, Malmaterialienkunde, Kap. 30). 4. Harz- farben. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Maler Knierini, in der Meinung, die antiken Wandmalereien Harzmalereien versucht, Künstler- mit reinem Harzbindemittel herzu- und verwendete zu diesem Zwecke seien färben stellen Copaivabalsam, den später Pettenkofer in sein System der Regenerierung blind ge- wordener Oelgemälde einführte. Es wurde schon erwähnt, daß das Harzbindemittelwegen des hohen Brechungsindexes von allen Binde- mitteln die Farben am lasierendsten er- scheinen läßt. Deshalb wurde auch von Malern des Mittelalters viel mit venezia- nischem Terpentin und anderen Harzzusätzen gearbeitet. In neuerer Zeit wurden die Harz- farben in Wiederaufnahme gebracht (Gun- dermanns Farben) und wegen des op- tischen Effektes teilweise mit Vorliebe ver- wendet. Ihr Bindemittel besitzt jedoch außer einer gewissen Sprödigkeit nach dem Trocknen den Nachteil, in ätherischen Oelen, wie Terpentinöl usw., teilweise auch in Alkohol, löslich zu sein, was bei Oelfarbe nicht der Fall ist, da das Linoxyn in fast allen orga- nischen Lösungsmitteln unlöslich ist. Mit reinen Harzfarben hergestellte Gemälde können also nach dem Blindwerden nicht mittels des Pettenkofersehen Regene- rationssystems, das Alkohol und Copaiva- 864 Farben baisam anwendet, wiederhergestellt werden, ohne daß die Bildoberfläche Schaden leidet. Die Harzfarben haben bisher weite Ver- breitung nicht gefunden. 7I) Pastellfarben, Farbstifte, Blei- stifte. In der Pastellfarbentechnik wird scheinbar ohne Bindemittel gearbeitet. Doch enthalten die Pastellstifte, falls sie nicht mit Gips als Unterlage hergestellt sind, geringe Mengen von Bindemitteln und außerdem wird dieses durch das Fixieren nachträglich aufgebracht. Mit Farbstiften nach Art der heutigen Pastellstifte sollen schon Lionardo und Daniel du Monstier (f 1646) ge- arbeitet haben. Zu hoher Blüte gelangte die Pastellmalerei durch Raphael Mengs, Boucher, die Rosalba Carriera, Quen- tin Latour u. a. im 18. Jahrhundert. Bei der Herstellung der Pastellstifte kommt kein Farbstoff ohne aufhellendes Weiß zur Ver- wendung, da das Pastell auf Helligkeit und Duftigkeit gestimmt ist. Man verwendete früher Gips oder Kaolin (Pfeifenerde), jetzt meist Schlemmkreide. Die Mischungen der einzelnen Farbstoffe werden mit Wasser zu steifem Teig angeknetet und mit wenig Tragantschieini als Bindemittel versetzt. Durch Ausrollen oder Pressen formt man Stifte, die bei mäßiger Temperatur getrocknet werden. Die Menge des Bindemittels ist so zu wählen, daß die Farben sich auf dem Malgrunde, grobkörnigem, mit Bimstein- pulver usw. bestrichenem Papier (Pyramiden- kornpapier) leicht abreiben. Das Fixieren erfolgt nach Fertigstellung des Bildes durch Bestäuben mit einem Klebestoff, der den charakteristischen optischen Effekt des Pastells möglichst wenig ändert. Es darf also kein Mittel von hohem Brechungsindex sein und muß bei geringer Menge starke Klebewirkung äußern. Ostwald verwendet eine Lösung von Kasein in Borax (über Herstellung von Pastellstiften vgl. Ost- wald, Malerbriefe; Buchwald, Chem.- Techn. Bibl. Nr. 275). Der optische Effekt des Pastells ist durch das starke Vorherrschen des diffusen Oberflächenlichtes infolge Zu- rücktretens des Bindemittels bei feinkörniger Textur der Bildoberfläche bedingt. Er kann in anderen Techniken nicht erreicht werden. Durch Ueberfixieren kann viel von dem Reiz des Pastells verloren gehen. Die Farben- wirkung des Pastells ist ausschließlich Ober- flächenwirkung; Lasuren sind nicht erzielbar. Das die Haltbarkeit von Pastellen beeinträch- tigende Moment ist nicht die Abstaubbarkeit infolge der geringen Menge von Bindemittel, da diese durch sachgemäßes Fixieren be- seitigt wird, sondern die Aufhellung sämt- licher Töne durch Weiß und der infolge der relativ geringen Menge von Bindemittel fast ungehinderte Zutritt des Luftsauerstoffes und von Feuchtigkeit zur Bildoberfläche. Hierdurch können die unter 3g erwähnten Kontaktwirkungen auftreten, die zu rascherer Lichtwirkung auf die Farbstoffe führen als bei Objekten anderer Maltechniken. Es ist also bei Pastellfarben noch mehr als bei Aquarellfarben die Anwendung nur licht- echter Farbstoffe geboten. Trotzdem finden sich gerade hier immer noch anerkannt licht- unechte, wie Karmin, Chromgelbe und eben- solche Teerfarbstoffe in beträchtlicher Menge vor. Zwei moderne Pastellfarbensortimente ergaben bei der Belichtung innerhalb zwei Monaten im Frühjahre folgende Resultate. Von den Farbstoffen der einen waren 40% verblaßt, 10% nachgedunkelt, 50% unver- ändert gebneben. Von der anderen waren 31% verblaßt, 48% nachgedunkelt und 21% unverändert geblieben. Es besteht also Veranlassung, für Pastellmalerei licht- echtere Farbstoffe zu wählen. Vor einiger Zeit begann Ostwald die Pastellmanier auf die Monumentalmalerei anzuwenden. Von der Erwägung ausgehend, daß Pastelle keine auf dem Malgrunde haftende zusammenhängende Schicht darstellen, die durch deren Zu- standsveränderungen reißen, oder sich ab- lösen könnte, sondern daß es sich um einen im wesentlichen zusammenhanglosen trocke- nen Auftrag von Farbkörnern handelt, man daher hier nicht von dem Zustande des Malgrundes abhängig ist und auch beliebig große Flächen mit Farbe bedecken kann, übertrug Ostwald das Pastell auf Wände. Die Fixierung erfolgt mittels Kaseinborax- lösung und nachfolgend mit essigsaurer Ton- erde zur Unlöslichmachung des Kaseins. Nach dem Trocknen wird das Bild mit Paraf- fin eingerieben (W. Ostwald, Monumen- tales und dekoratives Pastell. Leipzig 1912). Rafaellistifte. Vor mehreren Jahren stellte der Pariser Maler Rafaelli Oelfarben- stifte her, womit infolge der relativ geringen Menge und besonderen Art des Bindemittel- gemisches nach Art der Pastelltechnik gemalt werden kann. Zuletzt wird das Bild gefirnißt. Diese Stifte enthalten als Bindemittel Leinöl, Wachs und Talg. Der Gehalt an letzterem bewirkt, daß mehrere Jahre alte Aufträge dieser Farben mit Terpentinöl, Alkohol oder Aether abgewaschen werden können. Die Zusammensetzung dieses Bindemittels gefähr- det also die Bilder beim Regenerieren. Außer- dem kann der Talg nicht als geeignetes Far- benbindemittel bezeichnet werden. Farbstifte. Kreide- und Farbenstifte | waren schon im Altertum bekannt. Man unter- scheidet Buntstifte, Kohlen- oder Schwarz- kreidestifte, Tinten- und Kopierstifte. Das j Bindemittel für erstere besteht aus einer Lö- sung von Gummilack in Weingeist und vene- zianischem Terpentin. Den Farbstoffen wird Ton zugesetzt. Der geknetete Farbteig wird in einer Presse in Strang-form gebracht, diese Farben — Farben der Mineralien 865 in Stifte zerschnitten, die zum Zwecke der Erhärtung in luftdicht verschlossenen Blech- büchsen erhitzt werden. Die Fassung in Holz geschieht in der in der Bleistiftfabrikation üblichen Weise. Die Schwarzkreiden werden aus Kienruß hergestellt, der in Leinwand- säcken unter Druck zwischen Preßplatten und gleichzeitigem Erhitzen verdichtet wird, bis die Masse graphitähnliche Beschaffenheit zeigt und in Stifte zerschnitten werden kann. Die lithographischen Kreiden werden nach dem englischen Verfahren aus einem Gemenge von 30 Teilen Bienenwachs, 25 Teilen Talg, 20 Teilen weißer Seife, 15 Teilen Schellack und 6 Teilen Lampenruß hergestellt, das man zum Schmelzen erhitzt und nach dem Er- kalten in Stifte formt. Das Bindemittel der Fettstifte besteht aus Talg und Bienenwachs. Zur Herstellung der Tintenstifte dienen wasserlösliche Teerfarben, meist Methyl- violett. Als Füllstoff dient Kaolin; als Bindemittel Tragant. Die Farbmasse wird vor der Pressung in Stangenform durch An- wendung hohen Druckes komprimiert und die Stifte dann in Holz gefaßt. Bleistifte. Stifte aus Blei und Silber zum Schreiben und Zeichnen waren schon im 13. Jahrhundert bekannt. Der Graphit kam als Schreibmaterial erst im 17. Jahrhundert in England in Anwendung. Im 18. Jahrhundert begann die Fabrikation der Graphitstifte in Nürnberg, die den Passauer Graphit ver- wendete. Mit der Entdeckung der sibirischen Graphitlager im Jahre 1842 nahm die Blei- stiftfabrikation außerordentlichen A\ü- schwung, während die Anwendung der aus Blei oder Bleilegierungen, besonders der Rose sehen Mischung, bestehenden Schreib- stifte bald aufhörte. Anfangs wurden die Graphitstifte aus dem in Stücken vorkom- menden Mineral gr schnitten und in Holz- formen gefaßt, später wurden die Abfälle, sowie der erdige Graphit zur Fabrikation der Bleistifte verwendet. Hierzu war es nötig, das Pulver in Verbindung mit anderen Stoffen zu kompakten Massen zu formen, aus welchen die Stifte geschnitten werden konnten. Erst später wurden sie durch Durchdrücken der noch bildsamen Graphit- masse durch Röhren in einer die Nachbear- beitung unnötig machenden Form herge- stellt. Die Schwierigkeit besteht hierbei in der Herstellung einer Masse, die bezüglich Festigkeit und Abfärbevermögen beim Schreiben dem kompakten Graphit mög- lichst nahe kommt und außerdem ver- schiedene Grade der Weichheit erreichen läßt. Die anfangs verwendeten Klebestoffe Leim, Hausenblase, Tragant usw. erwiesen sich als ungeeignet. Man ging daher zur An- wendung von Fichtenharz, Schellack und Spießglanz über. Im Jahre 1795 fand Conte das heute noch übliche Bindemittel Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band II zur Herstellung der Graphitstifte in dem Ton. Dieser gibt genügende Bindekraft, um die Masse in Formen zu pressen. Die Verdichtung erfolgt durch Brennen. Diese Stifte haben gegenüber den alten, aus dichtem Graphit hergestellten, den Vorteil, daß die Schrift nicht glänzt und daher dunkler erscheint. Zu diesem Zwecke setzt man der Bleistift- masse auch etwas Lampenruß zu. Haupt- erfordernis ist äußerst feine Mahlung der Graphitmasse. Sie erfolgt zuerst trocken, dann in Naßmühlen. Das Mengenverhältnis ist % bis iy2 Teil Ton auf 100 Teile Graphit. Der erhaltene Brei wird durch Abpressen auf die erforderliche Konsistenz gebracht; durch Zerschneiden in dünne Platten und Wiedervereinigung von den Blasen und Hohlräumen befreit und die Masse dann durch die Pressen gezogen. Die erhaltenen Stifte werden zugeschnitten, trocknen gelassen und gebrannt. Die Höhe der Temperatur bedingt die Härte der Bleistifte. Das Brennen erfolgt in feuerfesten, luftdicht geschlossenen Kap- seln, in welchen die Stifte in Kohlenstaub eingebettet liegen. Das Holz für die besseren Bleistiftsorten ist Zedernholz; für geringere Rotbuchen-, Linden-, Erlen-, Fichten- und Tannenholz. Die Herstellung der Holz- formen für die Graphitrinnen und Fertig- stellung der Stifte geschieht mittels Spezial- maschinen (B u c h wald, Bleistifte usw. Chem.- techn. Bibl. Nr. 275). Literatur. Siehe die Zitate in den einzelnen Abschnitten. A. Eibner. Farben der Mineralien. 1. Entstehung der Farben. 2. Durchsichtige, idiochromatische und farblose Mineralien. 3. Undurchsichtige , idiochromatische Mineralien. 4. Allochromatische Mineralien, a) Färbung durch körperlich vorhandene färbende Substanzen, b) Dilut gefärbte Mineralien. cc) Färbung durch isomorphe Beimischung, ß) Färbung durch nicht isomorphe Beimischung. y) Mineralfärbung durch Radiumstrahlen. S) Einfluß von höherer Temperatur auf dilut gefärbte Mineralien, s) Fluoreszenz. 5. Lichtbrechung und Färbung. 6. Pleochroismus. 7. Benennung der Farben. i. Entstehung der Farben. Das Licht wird bei seinem Durchgang durch die Körper teilweise absorbiert;1) ist die Absorp- tion unmerkbar gering und von der Wellen- länge annähernd unabhängig, so erscheinen diese im weißen Lichte farblos; ist sie für Licht von verschiedener Wellenlänge un- gleich, so erscheinen sie farbig, ist die :) Man vergleiche den Artikel „Absorption , Lichtabsorption". [. 55 866 Farben der Mineralien Absorption zugleich sehr stark, so erscheinen sie undurchsichtig. Gehört die Farbe zum Wesen der Substanz, so nennt man diese eigenfarbig oder idiochromatisch, im an- deren Fall gefärbt oder allochromatisch. 2. Durchsichtige, idiochromatische und farblose Mineralien. Die Farbe dieser Mineralien ist eine Eigenschaft ihres Stoffes derart, daß jedes immer die gleiche Farbe besitzt oder farblos ist, wenn seine Substanz chemisch rein ist. Die farblosen Mineralien können mit den idio chromatischen in eine Gruppe zusammengefaßt werden, weil abso- lute Farblosigkeit doch nicht vorkommt; man nennt sie bei größter Durchsichtigkeit wasserhell, aber es ist ja bekannt, daß auch Wasser bei großer Tiefe und Reinheit nicht farblos ist. Die Farbe wie die Durchsichtig- keit wird beeinflußt durch die kristallinische Beschaffenheit; in Kristallen ist die Farbe reiner und tiefer, die Durchsichtigkeit voll- kommener als in körnigen oder faserigen Aggregaten oder in dem Pulver der Substanz, ihrem „Strich". Durch Variation der Struk- tur entsteht Variation der Farbe, Malachit ist in den feinfaserigen schaligen Aggregaten dunkel- bis hellgrün, Kupferlasur in Kristallen tiefblau, in erdigen Massen hellblau, Zinnober tief rubinrot bis grell zinnoberrot, Schwefel in Kristallen gelb, als Mehlschwefel nahezu weiß. Auch die Temperatur beeinflußt die. Farbe (ohne chemische Aenderung), so wird Schwefel bei tiefer Temperatur nahezu farb- los, während geschmolzener Schwefel bei höherer Temperatur braun wird, um bei fallender wieder hellgelb zu werden. Die Farb^ eines kristallisierten Minerals oder überhaupt einer chemischen idiochro- matischen Verbindung ist häufig dieselbe wie die seiner verdünnten wässerigen Lösung; in diesem Fall kann man mit W. Ostwald annehmen, daß die Farbe der betreffenden kristallisierten Verbindung die ihrer Metall- ionen sei, so, daß Kupfervitriol die blaue Farbe den Cupriionen verdanke, daß die gelbe Farbe des Kaliumchromats durch die gelben Chromationen erzeugt werde. In Konsequenz dieser Anschauung wird man in bezug auf die Molekularstruktur der Salze zu der Annahme geführt, daß die Massen- teilchen der ineinander gestellten Teilsysteme eines regelmäßigen Punktsystems nicht nur chemische Moleküle, sondern auch Ionen sein können, und daß diese ihre Farbe dem kris- tallisierten Körper mitteilen. Für den Fall , daß der kristallisierte Körper eine andere Farbe besitzt als seine verdünnte wässerige Lösung, wäre anzunehmen, daß diesem durch die Kristallstruktur eine besondere Farbe zu- komme, die kristallisierte Verbindung nicht dissoziiert sei und ihrerseits Farbe besitze. Farblose Mineralien und chemische Ver- Verbindung eine eigene bindungen sind auch in ihren Lösungen farb- los; ihre Ionen sind farblos. Blei-, Bayrum-, Strontiumsalze sind Beispiele. Kohlenstoff- verbindungen jedoch, welche im kristalli- sierten Zustand Isomere der geschmolzenen oder gelösten Verbindung sind, können in beiden Zuständen verschiedene Farbe be- sitzen. So sind die Kristalle von Nitrosobenzol farblos oder weiß, die geschmolzene oder in gewissen Lösungsmitteln gelöste Substanz aber ist grün. Durch Verunreinigung wird die Farbe mehr oder weniger leicht und stark ver- ändert, die des Schwefels wird durch tonige Beimischung braun, die von Zinnober durch Kohlenwasserstoffe schwarz. Durch Ver- witterung geht die Farbe in die der Ver- witterungsprodukte über, Eisenspat wird rot, wenn er in Eisenoyxd, braun, wenn er in Hydroxyd übergeht, schwarz, wenn er zugleich Mangan enthält, indem dieses in Manganoxyde übergeht. Rotkupfererz wie Kupferlasur werden durch Umwandlung in Malachit grün, Weißbleierz durch Umwand- lung in Bleiglanz schwarz. Eigenartig ist der Zerfall des roten Realgars unter dem Einfluß des Lichtes in ein gelbes aus As2Ss und As203 bestehendes Pulver. Unter dem Einfluß von Strahlungen wird die Farbe idio chromatischer Mineralien nur unwesentlich geändert; farblose Mineralien werden hierdurch bisweilen gefärbt, aber wohl nur, wenn sie nicht vollkommen che- misch rein sind. Es scheint, als ob analytisch nicht mein nachweisbare Spuren einer Bei- mischung schon hinreichen, einem farblosen Mineral unter dem Einfluß von Strahlungen eine Färbung zu erteilen. 3. Undurchsichtige idiochromatische Mineralien. Undurchsichtige idiochroma- tische Mineralien haben metallischen Cha- rakter, d. h. sie besitzen infolge eines starken Reflexionsvermögens Metallglanz. In dünnsten Blättchen lassen viele von ihnen Licht hindurch; so erscheinen äußerst dünne Goldblättchen im durchfallenden Licht blau durchsichtig. Allgemein ist die Farbe eines Metalls im reflektierten Licht annähernd komplementär zu der Farbe des durchfallenden Lichtes; ein Metall, wie Kupfer, erscheint rot, weil das rote Licht stärker als die anderen Farben reflek- tiert wird. Unter Benutzung von äußerst dünnen Metallprismen ist es Kundt und Drude gelungen, die Brechungsindizes von Gold, Silber, Kupfer und anderen Metallen zu bestimmen, deren Werte ganz auffallend niedrig, für die drei genannten Metalle kleiner als eins sind. Je kleiner der Brechungsindex, um so höher ist der Absorptionskoeffizient, um so stärker der Glanz. Für Silber beträgt das Reflektionsvermögen für Na-Licht 95,3%, woraus sich dessen hoher Glanz erklärt. Farben der Mineralien 867 In Antimonglanz ist nach P. Drude die Absorption etwa viermal kleiner, der Brechungsindex entsprechend sehr hoch, 4,49 und 5,17 je nach der Richtung. Einen Apparat zur Erkennung und Messung opti- scher Anisotropie metallischer Substanzen hat Joh. Königsberger konstruiert. Die Farbe der metallischen Mineralien wird durch Beimischungen beeinflußt, so die von Gold in bekannter Weise durch beigemischtes Silber oder Kupfer, die von Platin durch Eisen, und sie wird geändert durch chemische Umbildungen der Oberfläche, indem Anlauf- farben entstehen. Diese können auf un- gleichwertigen Flächen nach Charakter und Intensität verschieden sein, ebenso wie der- artige Flächen sich oft durch ihren Glanz unterscheiden. Kristalle oder dünne Schichten gewisser Verbindungen — Fuchsin, Platincyanüre, Cyanin, Kaliumpermanganat — vereinigen in sich die Eigenschaften durchsichtiger und undurchsichtiger idio chromatischer Kör- per, indem sie gewisse Lichtarten stark ab- sorbieren und für diese Farben undurch- sichtig metallglänzend erscheinen, für andere Lichtarten durchlässig sind. Nach dem Vorgang von Haidinger, der die Erschei- nung als Oberflächenschiller bezeichnet hat, werden diese Farben als Oberflächen- farben und Körperfarben unterschieden; beide sind für dieselbe Richtung eines Kristalls annähernd komplementär. Für kristallo- graphisch verschiedene Richtungen können sie verschieden sein, z. B. auf den Prismen- flächen der quadratisch kristallisierenden Pla- tincyanüre andere sein als auf deren Basis- flächen. Kristalle mit derartigen Ober- flächenfarben zeigen zugleich anomale Dis- persion. Durch Interferenz erzeugte Far- ben. Von den Oberflächenfarben sind die Schill er färben nach ihrer Ursache scharf zu unterscheiden; sie sind nicht der kristalli- sierten Substanz als solcher eigentümlich, sondern werden durch äußerst feine, massen- haft in ihnen vorhandene Einschlüsse oder Hohlräume dadurch erzeugt, daß das Licht durch diesezur Interferenz kommt, Wenn diese Einschlüsse zugleich nahezu undurchsichtig sind, wird der größte Teil des Lichtes an ihnen reflektiert und durch Zusammenwirkung dieser Faktoren Farben von nahezu metalli- schem Charakter erzeugt. Die Einschlüsse sind meistens nach einer Richtung dünn tafelig und nach krist allographisch bestimm- ten Richtungen innerhalb der Kristalle orientiert, so daß die Schillerfarben nur in gewissen Richtungen auftreten. Der unter dem Namen Labrador bekannte Kalknatron- feldspat liefert hierfür das beste Beispiel (Labradorisieren); auch gewisse Alkalifeld- spate zeigen solchen Farbenschiller oder solche Farbenwandlung, während es noch nicht exakt bewiesen ist, ob der blaue Lichtschein der unter dem Namen Mondstein bekannten Varietät des Kalifeldspates auf die gleiche Weise zustande kommt oder ob hier mehreres zusammenwirkt, um den Lichtschein zu erzeugen. Unabhängig von derartigen Einschlüssen werden lebhafte Farben durch Interferenz des Lichtes an dünnen Luftschichten erzeugt, so häufig an Kristallen, in denen infolge von Spaltbarkeit Lamellen sich abgelöst haben. Schwerspat, Gips, Kalkspat lassen solche Interferenzfarben häufig erkennen; diese Erscheinungen nennt man Irisier'en Unter Umständen können solche Interferenz- farben auch unabhängig von dünnen Luft- schichten in farblosen doppelbrechenden Blättchen zu sehen sein, wenn das Licht unter geeignetem Winkel einfällt und reflektiert wird; auf einen Glasstreifen montierte Blättchen und Keile von Gips oder Quarz lassen so im auffallenden Tages- licht die gleichen Farben erkennen, wie in einem Polarisationsinstrument. Durch Inter- ferenz des Lichtes an feinsten Hohlräumen wird wahrscheinlich das lebhafte Farbenspiel des Edelopals erzeugt, durch Beugung des Lichtes an äußerst feinen Fasern entstehen die Farben im Regenbogenachat. 4. Allochromatische Mineralien. 4a) Färbung durch körperlich vorhan- dene färbende Substanzen. Unter den gefärbten Mineralien sind zunächst diejenigen abzutrennen, welche ihre Farbe körperlich vorhandenen farbigen oder selbst wieder gefärbten Einschlüssen verdanken; diese können in Dünnschliffen unter dem Mikroskop oder als Rückstand bei der Auflösung erkannt werden. So erdiges Eisenoxyd, welches Steinsalz rot, Gips, welcher es grau färbt. Sind die Einschlüsse selbst kristallisiert, so kommt dies in dem Charakter der Farbe des einschließenden Minerals zum Ausdruck; so erscheinen durch eingeschlossenen Eisen- glimmer die Mineralien Carnallit, der unter dem Namen Sonnenstein bekannte Oligoklas, der Aventurinquarz, mancher Heulandit metallisch glänzend rot. Auch hier sind die eingeschlossenen Kristallenen oft kristalli- graphisch orientiert und in gewissen Fällen (Carnallit) ist es nach A. Johnsen wahr- scheinlich, daß sie sich erst nachträglich in ihrem Wirt gebildet haben, daß ihre Substanz zuvor in diesem in fester Lösung enthalten war. Zu dieser Gruppe gehören u. a. die rhombischen Pyroxene, Bronzit und Hypersthen, die durch dünne tafelförmige Einschlüsse vielleicht von Titaneisen in be- stimmten Richtungen einen metallischen Schiller besitzen. Einschlüsse feiner, nach einer Richtung gestreckter Mineralien be- wirken, wenn sie annähernd parallel liegen, 55* 868 Farben der Mineralien je nach ihrer Größe außer einer Färbung wechselnde Erscheinungen, den Lichtschein des Katzenauges (durch Asbest) wie den eigen- artigen Glanz und die matte Farbe von manchem Elaeolith. Sind diese feinen Ein- schlüsse nach mehreren Richtungen kristallo- graphisch orientiert, so bewirken sie Beu- gungserscheinungen, ohne daß ihre Farbe selbst, weil sie zu fein sind, hierbei zur Gel- tung käme: so den Asterismus in Glimmer, in Sternsaphir, Rosenquarz, Almandin. Die Nädelchen, welche ihn bewirken, gehören meist dem Rutil an. Sind die eingeschlossenen Teilchen dagegen in keiner Weise regelmäßig geordnet, so erteilen sie dem Wirt eine gleichmäßige Farbe, wie Strahlstein der Prasem genannten Varietät von Quarz. Andere Mineralien, welche von Natur ungefärbt sind, erhalten eine Farbe durch Pigmente, welche in Zwischenräumen sich ablagern; so das Tigerauge. Es ist ursprüng- lich ein feinfaseriges blaues Mineral, Kroky- dolith, eine Varietät von Hornblende gewe- sen; durch Verwitterung ist es in Kiesel- säure zerfallen, welche als Quarz die Fasern einnimmt, und Eisenhydroxyd, das zwischen den Fasern sich abgelagert hat. Mineralien von derartiger Struktur gestatten künst- liche Färbung: Tigerauge, indem es zunächst durch Behandlung mit Salzsäure entfärbt und danach mit Anilinfarben gefärbt wird; gestreifter, aus porösen und dichten Schichten bestehender Chalcedon, indem die porösen Schichten mit Farbstoff getränkt werden (rot entsteht durch Eisensalz und nach- heriges Glühen, schwarz durch Honig oder Zucker und Behandlung mit Schwefelsäure, grün durch Chromsalze usw.). Auch regel- mäßige Zeichnungen wie die der natürlichen Baumsteine werden künstlich hervorgerufen, indem die Zeichnung auf mit Wachs über- zogenen Chalcedon eingekratzt und mit Höllenstein eingeätzt wird; dieser dringt in den Chalcedon ein, tritt mit schwarzer oder brauner Farbe nach dem Brennen hervor und ahmt täuschend echten Braunstein nach. 4b) Dilut gefärbte Mineralien. Im Gegensatz zu diesen Mineralien, welche durch ein körperlich vorhandenes Pigment gefärbt sind, stehen die dilut gefärbten, deren Farbe oft ebenso gleichmäßig wie die der idiochro- matischen Mineralien oder die einer Farb- stofflösuno;, der Verbindung jedoch nicht eigentümlich ist. Oefters jedoch ist die Färbung in ihnen ungleichmäßig, indem ihre Intensität oder die Farbe von Schicht zu Schicht wechselt, so daß die Kristalle zonaren Bau deutlich erkennen lassen (Turmalin, Fluß- spat, Augit). Auch können die beiden Enden eines Kristalls verschieden (Turmalin, Diop- sid) oder die Färbung ganz unregelmäßig fleckig sein (Saphir, Flußspat). In vielen Fällen beruht die Färbung darauf, daß mit einer farblosen Verbindung eine gefärbte gemischt ist; die Analyse bringt hierfür den Beweis. Die Beimischung kann mit der ersteren isomorph oder nicht isomorph sein. a) Färbung durch isomorphe Bei- mischung. Wie Kalialaun durch isomorphe Beimischung von Chromalaun violett in allen Tiefen werden kann je nach der Menge der Beimischung, so werden Magnesiasilikate durch Beimischung isomorpher Eisenoxydul- silikate grün (Olivin-, Pyroxenreihe), durch Eisenoxydsilikate braun wie Kalktongranat durch Kalkeisengranat. Rubin verdankt seine rote Farbe beigemischtem Chromoxyd, während Smaragd durch das im Silikat enthaltene Chrom grün gefärbt ist. Auch mehrere Stoffe können sich an der Färbung beteiligen, wobei es aber nicht immer mög- lich ist, anzugeben, in welcher Verbindung sie in dem Kristall enthalten sind. Eine solche Rolle spielt neben Eisenverbindungen Titan im Granat, Augit und anderen Silikaten, in dem blauen Saphir und anderen künst- lichen Edelsteinen (siehe den Artikel „Schmucksteine"). Die äußerst mannig- faltige Färbung des Turmalins, wechselnd von Kristall zu Kristall wie in demselben Kristall, beruht auf vielfachem Wechsel seiner Zusammensetzung, indem sich Ver- bindungen, die für sich nicht bekannt sind, isomorph mischen. ß) Färbung durch nicht isomorphe Beimischung. Daß auch durch nicht isomorphe Beimischung Kristalle dilut ge- färbt werden können, beweisen die Versuche von 0. Lehmann. Kohlenstoffverbindun- gen, wie Meconsäure und viele andere nehmen beim Kristallisieren aus einer Lösung, die zugleich einen Farbstoff (Modebraun, Methy- lenblau, Malachitgrün, Methylviolett) gelöst enthält, diesen in sich auf, wobei die Kristalle in der Regel dunkler gefärbt werden als ihre Lösung. In den meisten Fällen werden die Kristalle zugleich stark dichroitisch. Sind die einen Kristall umschließenden Flächen kristallographisch ungleichwertig, so ist auch der Sättigungspunkt der Farbstoff- lösung in bezug auf den Kristall auf ver- schiedenen Flächen desselben verschieden, und die Folge hiervon ist, daß die zu un- gleichwertigen Flächen gehörenden An- wachspyramiden verschieden gefärbt werden können! Meconsäure durch Methylviolett gefärbt gibt so Kristalle mit verschieden gefärbten Sektoren. Unter den Mineralien ist verschiedene Färbung ungleichwertiger Anwachspyramiden besonders von Augit bekannt, dessen Kristalle im Durchschnitt Versichedehneit der Auch für angenommen, daß die sogenannte Sanduhrform zeigen diese hat Pelikan «^& Färbung nicht durch Farben der Mineralien 869 isomorphe, sondern durch nicht isomorphe Beimischung erzeugt werde. Derartige homogene Mischungen fremder zu einem Kristall vereinigter Körper sind nach dem Vorgang von van't Hoff als feste Lösungen aufgefaßt worden; nach Johnsens Unter- suchungen dürften jedoch meistens mecha- nische Gemenge oder regelmäßige Verwach- sungen, nicht aber physikalische Gemische vorliegen. Durch nicht isomorphe Beimischung ist der unter dem Kamen Amazonenstein be- kannte Kalifeldspat grün gefärbt, denn eine mit Feldspat isomorphe grüne Verbindung ist nicht bekannt. Wahrscheinlich wird die Farbe durch eine Kupferverbindung erzeugt. Eigenartig verhält sich Salmiak, wenn er aus Lösungen, die andere Chloride oder Chlorüre enthalten, kristallisiert; am längsten bekannt und am häufigsten untersucht sind die roten Eisensalmiakkristalle. Ihre Natur ist deswegen schwer zu ermitteln, weil die Salze mehrere Hydrate bilden und entweder als solche in wechselndem Verhältnis mit Salmiak mischen oder mit Salmiak Doppelsalze bilden, die dann wieder in wechselndem Verhältnis mit Salmiak Misch- kristalle bilden. Zuletzt hat A. Johnsen diese anomalen Mischkristalle einer Untersuchung unterworfen und vieles klar gestellt; er bemerkt aber, daß sich über die chemische Natur der eingelagerten Sub- stanzen doch nur zuweilen etwas aussagen lasse, und daß man von der Natur der Mischkristalle sich erst dann werde ein Bild machen können, wenn die Gleichgewichts- verhältnisse gleicher und ungleicher Kristall- moleküle physikalisch bearbeitet sein werden. y) Mineralfärbung und Radium- strahlen. Während in diesen Fällen die Anwesenheit eines färbenden Stoffes analy- tisch immer noch nachgewiesen werden kann, ist dies bei sehr vielen anderen prächtig und mannigfaltig gefärbten Mineralien nicht mehr möglich. Hierzu gehören die Farb- varietäten von Bergkristall, Rauchquarz, Rosenquarz und Amethyst, die von Beryll, Aquamarin und Goldberyll, die von Zirkon, das blaue Steinsalz, Flußspat in allen seinen prächtigen Farben, Apatit, der diesem nur wenig nachsteht, Topas, Kunzit, blauer Schwerspat und Coelestin und viele andere. Ungemein zahlreiche, von Doelter gesam- melte Untersuchungen beschäftigen sich mit der Frage nach der Ursache dieser Färbungen, ohne eine allgemeine Lösung gefunden zu haben, nur das dürfte sicher sein, daß Strah- lungen der verschiedensten Art vor allem Radium-, Thorium- und vielleicht Kalium- strahlen eine Rolle hierbei spielen, indem sie während der Entstehung der Mineralien wie später auf diese einwirken und ihre Farbe erzeugen oder beeinflussen. Aber auch hierbei ist die Färbung an sieh farbloser Verbin- dungen wohl immer an die Gegenwart fremder, analytisch nicht mehr nachweis- barer, daher vorläufig unbekannter Stoffe gebunden, indem Verbindungen, die wir als chemisch rein glauben ansprechen zu dürfen, wie künstlich hergestelltes Chlornatrium, reinster Bergkristall, von Natur farbloser Zirkon jenen Strahlungen gegenüber indiffe- rent bleiben, während solche, deren chemi- sche Reinheit nicht so hochgradig ist, leichter Färbung annehmen, wie natürliches Stein- salz, durch Glühen entfärbter Rauchquarz oder gar Zirkon. Welcher Art die Stoffe sind, durch deren Gegenwart die Mineralien zur Annahme einer Farbe prädisponiert werden, ist noch nicht ermittelt; die zuletzt besonders durch L. Wo hier vertretene Ansicht, daß es organische Substanzen, Kohlenwasser- stoffe seien, wird mehr und mehr verdrängt durch die zuletzt besonders durch Wein- schenk vertretene Ansicht, daß es anor- ganische Stoffe, Eisen-, Mangan-, Titan- und sich dergleichen Verbindungen seien. Eine besondere Schwierigkeit bieten Mine- ralien, welche so große Farbenmannigfaltig- keit zeigen wie Flußspat und Apatit; für letzteren ist es nach Pupkes Untersuchungen wahrscheinlich, daß mehrere Faktoren bei der Färbung beteiligt sind, Beimischung färbender Stoffe (Mangan- und Eisenphosphat) und Einwirkungen radioaktiver Substanzen. Für die Farbenmannigfaltigkeit des Flußspats kann man eine befriedigende Erklärung über- haupt noch nicht geben. Auch die Ur- sache der blauen Färbung von Steinsalz ist trotz sehr zahlreicher Untersuchungen bis heute nicht bekannt. Durch die von eingeschlossenen, wenn auch nur schwach radioaktiven Kristallen von Zirkon ausgehenden Strahlungen werden häufig in dem einschließenden Mineral (Cor- dierit, Biotit) um jene intensiver oder ab- weichend von der Hauptmasse gefärbte, dazu oft dichroitische Höfe erzeugt; da die Radioaktivität der eingeschlossenen Kristalle nur schwach ist, können sie nur nach sehr langer Einwirkung entstanden sein, woraus sich erklärt, daß sie nur in Mineralien alter Gesteine (Gneis) auftreten. Diese pleo-chroi- tischen Höfe werden von den a-Strahlen er- zeugt, welche die Derivate der Radium- und Thoriumfamilie bei ihren Umwandlungen aus- senden (vgl. den Artikel ,, Radioaktivität"). ö) Einfluß von höherer Tempera- tur auf die Farbe dilut gefärbter Mineralien. Stärker noch als bei idiochro- matischen Mineralien ändert sich bei manchen allo chromatischen die Farbe mit der Tempe- ratur; so wird Rubin bei steigender Tempe- ratur schmutzig grün bis farblos, beim Abkühlen wieder so rot wie zuvor. Amethyst wird durch Glühen gelb, mancher Rauch- 870 Farben der Mineralien quarz dunkelweingelb, gelber Topas rosenrot, brauner Zirkon farblos ; beim Abkühlen kehrt in diesen Mineralien die Farbe von selbst nicht wieder zurück, wohl aber, wenn sie Kadiumstrahlen ausgesetzt werden. Andere Mineralien verblassen unter dem Einfluß des Sonnenlichtes, so manche Topase, Flußspate, Rosenquarz. Lange bekannt ist dies von dem zart rosa gefärbten Zirkon in Auswürflingen des Laacher Sees; durch Radiumbestrahlung wird auch dieser wieder gefärbt. Dies alles deutet darauf hin, daß bei der diluten Färbung allochromatischer Mine- ralien Radium- oder auch Thorium- und andere Strahlen mit wirksam sind. s) Fluoreszenz. Manche dilut gefärbte Kristalle, besonders solche von Flußspat, haben mit den Lösungen einiger Stoffe (Fluorescein, schwefelsaures Chinin) die Eigen- schaft gemein, daß sie bei Bestrahlung mit gewissen Lichtarten selbstleuchtend werden, Licht von anderer Farbe erzeugen, eine Eigenschaft, die als Fluoreszenz bezeichnet wird. Auch dies beweist, daß in dem Fluß- spat ein seiner Verbindung fremder Stoff enthalten ist, der seine Farbe wie die Fluores- zenz erzeugt, und man kann allgemein an- nehmen, daß die färbenden Stoffe in den dilut gefärbten Mineralien der letzten Gruppe in deren Substanz gelöst enthalten seien, daß sie mit diesen eine feste Lösung bilden und weiter, daß manche erst durch Ein- wirkung radioaktiver Stoffe so zerlegt werden, daß sie die Farbe erzeugen. 5. Lichtbrechung und Färbung. Die Frage, inwieweit die Lichtbrechung der Mineralien etwa durch Pigmente geändert werde, hat E. A. Wülfing durch exakte Messung an Diamant, Flußspat der ver- schiedensten Färbung, Quarz, Rauchquarz und Amethyst geprüft mit dem Ergebnis, daß die Pigmente keinen nennenswerten Einfluß auf die Lichtbrechung ausüben, während es andererseits durch viele Untersuchungen bekannt ist, daß die Lichtbrechung in Kristallen, welche durch isomorphe Bei- mischung gefärbt sind, sich sehr merkbar, und zwar proportional mit der Beimischung ändert; Farbe wie Lichtbrechung sind hier additive Eigenschaften Allgemein ist die 6. Pleochroismus. Farbe eines optisch anisotropen Kristalls von der Richtung abhängig, in der das Licht durch den Kristall hindurchgeht, die Absorption ist in optisch gleichwertigen Richtungen gleich, in ungleichwertigen Rich- tungen verschieden; sind die Absorptions- unterschiede merkbar groß, so erscheint die Farbe des Kristalls je nach der Richtung ver- schieden: ein Rubin erscheint in der Richtung der Hauptachse bläulichrot, senkrecht dazu gelblichrot, ein Turmalin in der ersteren Richtung etwa schwarz und undurchsichtig, senkrecht dazu grün, der rhombische Cor- dierit erscheint in der Richtung der einen Achse dunkelblau, der zweiten hellblau, der dritten gelblichweiß. Diese Erscheinung nennt man Pleochroismus, auch Dichrois- mus; sie wird, da sie mit der Doppelbrechung in engster Beziehung steht, bei dieser be- sprochen werden (vgl. den Artikel „Doppel- brechung"). 7. Benennung der Farben. Bei der ge- nauen Benennung einer Farbe bestehen Schwierigkeiten, die nicht zu überwinden sind, weil die Farbe immer ein subjektiver Eindruck ist und in unserer Sprache die Worte für die Mannigfaltigkeit der Farben fehlen; wir behelfen uns durch Vergleich mit mehr oder weniger bekannten Dingen. Speisgelb nennen wir Schwefelkies nach einem bei der Verhüttung von Kobalt- und Nickelarsenerzen entstehenden Zwischen- produkt, tombakbraun Magnetkies nach einer kupferreichen Messinglegierung, aber wer hat je eine solche Speise oder Tombak gesehen ? Zur Bezeichnung von Rot bei nicht- metallischen Mineralien müssen Blut, Fleisch und Scharlach, Rosen, Hyazinthen und Pfirsichblüten, Ziegel und sogar Morgenrot ihre Namen hergeben. Um eine exaktere Bezeichnung der Farbe herbeizuführen, hat man Farbenskalen zu- sammengestellt, von denen die „Inter- nationale Farbenskala von Radde" am meisten in Gebrauch ist. Die Farbe des Minerals wird durch Vergleich mit denen der Skala bestimmt und in beziig auf diese durch Bezeichnungen angegeben, so daß jeder, der die Skala besitzt, hieraus entnehmen kann, welche Farbe gemeint ist. Die Bestimmung läßt sich bei trüben und nicht metallischen Mineralien recht genau durchführen, versagt aber leicht bei klar durchsichtigen oder metalli- schen Mineralien. Für erstere könnte man sich helfen durch farbige Gläser, für letztere durch Bronzefarben, die beide etwa nach Art der Raddeschen Skala zusammenzu- stellen wären. Literatur. W. Ostwald, lieber die Farbe der Ionen. Zeitsckr. f. phys. Chem. g, 1898. — Der- selbe, Grundlinien der anorganischen Chemie, 1900. — P. Drude, Beobachtungen über die Re- flexion des Lichtes am Antimonglanz. Ann. d. Phys., N. F., Bd. 34, 1888. — Derselbe, Lehrbuch der Optik, 1906. — Job. Koenigsberger, lieber einen Apparat zur Erkennung optischer Aniso- tropie undurchsichtiger Substanzen. Centralbl. f. Min., 1908 und 1909. — M. Leo, Die Anlauf- farben. Dresden 1911. — O. Lehmann, lieber künstliche Färbung von Kristallen. Ann. d. Phys. N. F. 51, 1894. — A. Pelikan, lieber den Schichtenbau der Kristalle. Tschermaks Min. u. petrogr. Mitteil., Bd. XVL, 1896. — A. Johnsen, Die anomalen Mischkristalle. JV. Jb. f. Min. 1908, IL — C. Doelter, Das Radium Farben der Mineralien - - Farbstoffe 87 1 und die Farben. Dresden 1910. — K. Simon, Beiträge zur Kenntnis der Mineralfarben. N. Jb. f. Min. Beil., Bd. 26, 1908. — F. Fuplce, Die optischen Anomalien bei Apatit. Dissertation, Bonn 1908. — E. A. Wülflng, Einiges über Mineralpigmente. Festschrift zum 70. Geburtstag von H. Rosenbusch, 1906. — B. Brauns, Die Ursachen der Färbung dilut gefärbter Mineralien (mit Angabe der neuen Literatur). Fortschr. d. Min. I. 1911. R. Brauns. Farbstoffe. 1. Einleitung. 2. Chemische Struktur der Farbstoffe. 3. Färbeverfahren. 4. Echtheits- eigenschaften. 5. Giftigkeit. 6. Einteilung der Farbstoffe. 7. Darstellungsverfahren und Be- schreibung der wichtigsten Farbstoffe. 8. Analy- tische Erkennung und quantitative Bestimmung von Farbstoffen. 9. Geschichtliches und Sta- tistisches. 1. Einleitung. Verdünnte wässerige Lösungen von Kaliumbichromat, Azobenzol- sulfonsäure, Methylorange sind rotgelb ge- färbt. Tränkt man weiße Wollfäden mit diesen Lösungen und wäscht sie später mit Wasser aus, so verschwindet die Färbung, welche von Kaliumbichromat und von Azo- benzolsulfonsäure herrührt, nicht aber die von Methylorange. Diese Verbindung ist im Gegensatz zu den beiden anderen ein Farbstoff, sie überträgt ihre Färbung auf die eingetauchte Wollfaser; die beiden an- deren Verbindungen sind zwar ebenso rotgelb gefärbt wie Methylorange, sie sind farbige Stoffe, aber keine Farbstoffe, da sie eingetauchte Gespinnstfasern nicht anfärben, nicht ,,auf Gewebe aufziehen", wie man in der Färberei sagt. Als Farbstoff bezeichnet man sonach nicht jede farbige chemische Verbindung, im allgemeinen auch nicht solche farbige Substanzen, welche als Pulver — Ocker, Chromgelb, Ultramarin — durch Bindemittel wie Gummi, Leim, Oel, Firnis, Wachs, Kalk auf einer Unterlage festgeklebt werden, was für Wasserfarben, Oelfarben, Kalkfarben zutrifft, sondern nach dem heute üblichen Sprachgebrauch nur solche farbigen Verbindungen, welche in gelöster Form pflanzliche und tierische Gewebe — Baumwolle, Wolle, Seide, Leder, Hörn, Federn — ■ anfärben. Derartige Farbstoffe sind mit wenigen Ausnahmen Kohlenstoffverbindungen und deshalb deckt sich im wesentlichen die Bezeichnung „Farb- stoffe" mit dem, was der Chemiker „orga- nische Farbstoffe" nennt. Die praktisch verwerteten organischen Farbstoffe sind zum kleineren Teil pflanz- liche und tierische Erzeugnisse, beispiels- weise Lackmus, Karmin (vgl. dazu die Artikel „Pflanzenstoffe unbekannter Kon- stitution" und„Tierstoffe unbekannter Konstitution"), zum weitaus größeren aber auf rein chemischem Wege gewonnene Verbindungen, künstliche Farbstoffe. Auch die wichtigsten altbekannten Pflanzen- farbstoffe Krapp und Indigo werden heute fabrikmäßig durch chemische Synthese her- gestellt; die natürlichen organischen Farb- stoffe spielen nur noch eine untergeordnete, täglich an Bedeutung abnehmende Rolle. Fast ausnahmslos dienen als Ausgangs- material zur Darstellung der künstlichen Farbstoffe die aus dem Steinkohlenteer (vgl. den Artikel „Teer") gewonnenen aroma- tischen Kohlenwasserstoffe Benzol, Toluol, Naphtalin und Anthracen und deshalb führt das Heer der organischen Farbstoffe mit Recht den Sammelnamen „Teerfarb- stoffe" oder auch, aber weniger zutreffend, „Anilinfarben". 2. Chemische Struktur der Farbstoffe. Weitaus die Mehrzahl aller Kohlenstoff- verbindungen ist farblos; nur einige wenige Körperklassen sind farbig und innerhalb dieser besitzt wiederum nur ein Teil der Abkömmlinge die Eigenschaft zu färben. Wir können uns bestimmte Vorstellungen über den molekularen Bau der meisten Farbstoffe machen und diese Struktur durch Formelbilder veranschaulichen, die in leicht verständlicher Weise mehr besagen als Namen und lange Beschreibungen. Alle Farbstoffe enthalten mindestens eine Atomgruppe, welche die Farbe ver- ursacht— chromophore Gruppe — , und eine, welche die Eigenschaft des Färbens, den Farbstoffcharakter bedingt — auxo- chrome Gruppe (vgl. hierzu und zum folgenden auch den Artikel „Absorption [Lichtabsorption]"). Solche chromophore Gruppen sind die Nitro gruppe— N02,dieAzogruppe — N=N — ; auxochrome Gruppen sind die Hydroxyl- gruppe — OH und die Aminogruppe — NH2, welche der Substanz schwach saure oder basische Eigenschaften, Phenol- oder Amin- charakter verleihen. Aus dem farblosen Benzol CgHß wird durch den Eintritt der chromophoren Azo- gruppe das gelbrote Azobenzol C6H5 — N= N — C6H5, welches nicht färbt, aber durch Einführung einer Hydroxyl- oder Amino- gruppe in das gelbfärbende Oxyazobenzol C6H5— N=N— C6H4— OH oder Aminoazo- benzol C6H5— N=N— C6H4— NH2 über- geht. Jeder Stoff, der im sichtbaren Ted des Spektrums eine ausgesprochene x\bsorption besitzt, ist farbig; liegt jedoch die Absorp- tion im ultravioletten Teil des Spektrums, so erscheint ein solcher Stoff farblos. Dieser 872 Farbstoffe Fall trifft zu für die meisten aromatischen Kohlenwasserstoffe, von denen schon der einfachste, das Benzol, eine starke Absorption im Ultraviolett zeigt. Durch chromophore Gruppen wird nun diese Absorption aus dem stärker brechbaren Bezirk des Spektrums nach dem weniger brechbaren hin verschoben und wenn diese Verschiebung stark genug ist, so erscheint der Stoff farbig; rückt also durch den Einfluß einer chromophoren Gruppe ein Absorptionsband aus dem Ultra- violett ins Violett, so zeigt der Stoff eine gelbe, rückt er bis ins Gelb und Rotgelb vor, eine blaue Farbe. Je größer die Molekel des einer Verbindung zugrunde hegenden aroma- tischen Kohlenwasserstoffs ist, und je ärmer an Wasserstoff, um so auffälliger zeigt sich die Wirkung eines Chromophors und so kann man verstehen, daß ein einfacher aroma- tischer Stoff, obgleich er einen Chromophor, etwa eine Ketongruppe =CO, enthält, farblos ist, während diese Ketongruppe, wenn sie in einem hochmolekularen oder wasserstoff- ärmeren Kohlenwasserstoff liegt oder doppelt vorhanden ist, deutliche Färbung hervor- ruft, wie nachstehendes Beispiel veran- schaulicht : H H Benzophenon, farblos H H y\ /Co— cos hL Jh hI H H Benzil, hellgelb Ebenso leuchtet ein, daß einfachere Farb- stoffe überwiegend gelb gefärbt sind, ver- wickeitere mit höherem Molekulargewicht oder mehrfach vorhandenem Chromophor oder gar beidem gleichzeitig rot oder blau; das Absorptionsband rückt aus dem Ultra- violett im ersten Fall ins Violett, im anderen ins Grün oder bis ins Gelb. Zur Veran- schaulichung ein Beispiel: HOqSXJLN=NCßH,OH -'6iJ-4 6iJ-4v H03S . C10H5N = NC6H3-C6H3N OH CH, CIL Benzolsulf onsäureazophenol, gelb HO3S . C6H4N=NC10ILOH Benzolsulfonsäureazonaphtol, Naphtolorange HO3S . CipH6N=NC10H6OH Naphtalinsulfonsäureazonaphtol, Echtrot A NC10H5. ÖH HO3S Naphtolsulfonsäureazoditolylazonaphtol- sulfonsäure, Azoblau. Vgl. den Artikel „Absorption (Licht- absorption)". 3. Färbeverfahren. Versucht man mit wässerigen Lösungen von Farbstoffen Ge- spinstfasern, wie Seide, Wolle, Baum- wolle zu färben, so beobachtet man auf- fällige Verschiedenheiten. Der nämliche Farbstoff erzeugt beispielsweise auf Seide und Wolle eine dauerhafte, nicht auswasch- H H Fluorenon, hellgelb H H ,COs H H Anthrachinon, gelb bare Färbung, während er Baumwolle un- gefärbt läßt, andererseits färbt von drei chemisch verschiedenen, aber äußerlich durchaus ähnlichen Farbstoffen der eine z. B. nur die Wolle, der andere nur die Baum- wolle, der dritte beide Fasern waschecht an. Außerdem findet man, daß Zusätze von sauren, alkalischen oder neutralen Salzen, von freien Säuren, von Seife u. dgl. zu den Farbstofflösungen das Färbevermögen ver- bessern oder beeinträchtigen und zwar für verschiedene Farbstoffe und verschiedene Gewebestoffe in ganz verschiedener Art. Ferner erzeugt der nämliche Farbstoff auf verschiedenen Gespinstfasern erheblich ver- schiedene Farbtöne und schließlich bedingt es beträchtliche Unterschiede, je nachdem man eine Faser im losen, versponnenen oder ver- wobenen Zustand, roh oder gebleicht, der Färbung unterwirft. Zeigen sich solche weitgehende Verschiedenheiten schon bei der einfachsten Art des Färbens durch unmittelbares Aufziehen des gelösten Farb- stoffes aus der Lösung auf die Faser — Ver- fahren der direkten Färbung — so wird die Sache noch verwickelter durch die Be- nutzung zweier weiterer Färbeverfahren, der Beize nfärbung und der Entwicke- lungsfärbung. Das Beizenfärben beruht auf der Bil- dung einer in Wasser unlöslichen Verbindung des Farbstoffes, eines „Farblackes". Man Farbstoffe 873 tränkt beispielsweise die Faser mit der Lösung eines Metallsalzes (meist Salze von Aluminium, Chrom, Eisen oder Zinn), das sich auf der Faser in ein unlösliches basisches Salz oder Metallhydroxyd verwandelt und bringt die so „gebeizte" Faser in die Lösung eines geeigneten saueren Farbstoffes — Beizenfarbstoffes — , der mit dem Hydroxyd ein unlösliches, fest haftendes, farbiges Salz bildet. Oder auch umgekehrt : man tränkt die Faser mit Gerbsäure oder ähnlichen hochmolekularen organischen Säuren — Gerbstoffen — ■ und bringt sie in die Lösung eines basischen Farbstoffes, der mit der Gerbsäure ein unlösliches, farbiges Salz erzeugt. Bei guten Beizenfärbungen handelt es sich durchweg um kolloidale Lösungen der Beizen in den Gespinstfasern, nicht um oberflächliche Auflagerung. Es gelten also für die Vorgänge beim Beizenfärben einfach die chemischen Gleichungen für die Salz- bildung aus Base und Säure: 1. Fe(OH)2+H2S04^FeS04+H20. 2. Metallbase + Farbstoffsäure -> Farblack, (Metallsalz der Farbstoffsäure) + Wasser. 3. Gerbsäure + Farbstoffbase -> Farblack, (Gerbsaures Salz der Farbbase) -f- Wasser. Salze derselben Säuren mit verschiedenen Metallen können verschieden gefärbt sein, da die Farbe eines Salzes vomAnion und vom Kation abhängt und deshalb kann auch der nämliche Farbstoff mit verschiedenen zeugen; so färbt Alizarin auf Alnminium- beize scharlachrot, auf Chrombeize braun- violett, auf Eisenbeize violettschwarz. Gelegentlich macht man auch in der Färberei Beizenfärbung von einer besonderen Art Gebrauch: erst färbt man das Gewebe mit einem direkt färbenden Farbstoff und dann beizt man ihn mit einem Metallsalz, ent- weder um einen anderen Farbenton oder eine größere Echtheit zu erzielen, als der direkten Färbung zukommt (Nachchro- mieren, Nachkupfern). Das Entwickelungsverfahren, die Er- zeugung des Farbstoffes auf dem Gewebe, umfaßt wiederum recht verschiedene Vor- gänge Man tränkt beispielsweise das Ge- webe mit einer alkalischen Lösung eines Phenols und bringt es dann in die Lösung einer Diazoverbindung, wodurch ein Azo- farbstoff in dem Gewebe entsteht: 02.C6H4NNC1 + C10H7.ONa-> Nitrodiazobenzolchlorid Naphtolnatrium N02.C6H4— N=N- Pararot C10H6.OH + NaCl. Beizen ganz verschiedene Färbungen er- Oder man verwandelt einen unlöslichen Farbstoff durch Reduktion in seine lösliche Leukoverbindung, tränkt mit dieser Lösung das Gewebe und hängt es an die freie Luft, worauf der Luftsauerstoff die Oxydation zu dem ursprünglichen Farbstoff bewirkt, der nun unabwaschbar haftet — ■ Küpen- färberei : COv .CO C6H4/ V=C/ >C6H4 + 2H + 2NaOH — >- XNHX XNH/ Indigo /C(ONa) /C(ONa) C6H4/ _>c-cC VyE4+2H20 Indigweißnatrium, Indigküpe C(ONa)x /C(ONa)x C6H4/ \c-C^_ \C6H4+0+H20 > .CO CO., C6H4/ X>C=C< \C6H4+2NaOH. Aus dem Gesagten geht hervor, daß es eine einfache, alle Vorgänge beim Färben einheitlich umfassende Theorie nicht wohl geben kann. Immerhin gewinnt man eine befriedigende Erklärung durch die experi- mentell weitgehend gestützte Auffassung, daß das Aufziehen eines Farbstoffes auf die Gespinstfaser sehr oft ein chemischer Vorgang, eine Salzbildung, manchmal ein Lösung des Faser und gleichzeitig physikalischer Vorgang, eine Farbstoffes in der Substanz der schließlich nicht selten beides ist. Die meisten sauren und basischen Farbstoffe färben Wolle und Seide unmittel- bar, Baumwolle aber nicht. Seide und Wolle sind sehr verwickelt gebaute stick- stoffhaltige Verbindungen mit basischem und zugleich saurem Charakter, weil sie, wie z. B. die Aminoessigsäure basische und saure Gruppen enthalten, also mit Säuren und Basen Salze bilden können: NH0.CH2.COOH+HC1^ HCl.NHo.CHo.COOH salzsaure Aminoessigsäure 874 Farbstoffe NH2.CH2.COOH + NH3^ NH2.CH2.COONH4 aminoessigsaures Ammonium. Kommt nun Wolle in eine Lösung von Fuchsin, einem Salz der Fuchsinbase, so äußert sich diesem basischen Farbstoff gegenüber die Säureeigenschaft der Wolle, es entsteht sozusagen „wollsaures Fuchsin" als hochmolekulares, in Wasser unlösliches Salz und die vorher an die Fuchsinbase gebundene Säure wird in äquivalenter Menge frei; zu dieser Auffassung des Färbevorgangs stimmt die Tatsache, daß in einer farb- losen Lösung der Fuchsinbase Wolle sich mit der roten Farbe der Fuchsinsalze anfärbt. Bringt man umgekehrt Wolle in die violett- rote Lösung freien Helianthins, eines sauren Farbstoffes, so färbt sie sich mit der rot- gelben Farbe der Helianthinsalze ; sie spielt dem sauren Helianthin gegenüber die Rolle einer Base, es entsteht das Salz „helianthin- saure Wolle", hochmolekular und in Wasser unlöslich. Baumwolle, nahezu reine Zellulose, hat weder saure noch basische Eigenschaften, kann also weder mit basischen noch mit sauren Farbstoffen unter Salzbildung direkt gefärbt werden. Entweder wird die Baum- wolle also gebeizt und ihr durch Einlagerung von Metallhydroxyden ein basischer oder durch Gerbsäuren ein saurer Charakter verliehen, so daß sie sich wie Wolle verhält, also saure und basische Farbstoffe unter Salzbildung festhält oder man benutzt ein Entwickelungsverfahren wie die Küpen- färbung. Außerdem gibt es jedoch einige Farbstoffarten, die eine direkte Färbung von Baumwolle gestatten, sogenannte Sub- stantive Farbstoffe. Bei diesem Färbe- vorgang handelt es sich um eine feste Lösung des Farbstoffes in der Baumwollfaser, um einen physikalischen Vorgang, wobei der mehr oder weniger kolloidale Zustand der Faser und des gelösten Farbstoffes eine Rolle spielt (vgl. den Artikel „Disperse Gebilde"). Dieses Färbeverfahren ist also eine Art Ausschüttelungsverfahren und wie bei der gewöhnlichen Ausschüttelung findet auch hier eine bestimmte Verteilung des gelösten Farbstoffes zwischen den beiden Lösungsmitteln, hier Wasser und Baum- wolle, statt, das Farbbad wird nicht er- schöpft, sondern ein beträchtlicher Teil des Farbstoffes bleibt im Bade zurück. Dem- entsprechend kann zugunsten der Aus- färbung der Anteil des im Wasser gelöst bleibenden Farbstoffes vermindert werden durch Zusatz von Kochsalz, Glaubersalz, Soda u. dgl., die aussalzend wirken. Für die Richtigkeit der Erklärung des eben besprochenen Färbevorgangs sprechen noch folgende Tatsachen. Eine mit dem nämlichen Farbstoff erzielte direkte Färbung ist auf Wolle meist echter als auf Baumwolle; z. B. ist der Azofarbstoff Kongorot sehr säureempfindlich; seine Scharlachfarbe schlägt schon durch verdünnte Essigsäure augenblicklich in Schwarzblau um. Mit Kongorot gefärbte Baumwolle zeigt genau dieselbe Erscheinung, während unter den nämlichen Umständen kongorot gefärbte Wolle viel echter sich erweist und diesem Farbenumschlag aus Scharlach in Schwarz- blau nur in ganz geringem Grade und nur langsam unterliegt : das Rot wird allmählich etwas mißfarbig. Das ist leicht verständlich; denn während der Kongofarbstoff von der Baumwolle einfach unverändert gelöst ist, hat ihn die Wolle unter Salzbildung chemisch gebunden, er ist in der Hauptsache als „kongosaure Wolle" vorhanden und dieses hochmolekulare unlösliche Salz reagiert mit schwachen Säuren nur ganz wenig und langsam unter Bildung von schwarzblauer Kongofarbstoffsäure. Ferner verhält sich kongorot gefärbte Baumwolle, die in ihre Substanz Kongofarbstoff mit seinen sauren Gruppen aufgenommen hat, ähnlich wie Wolle insofern, als sie jetzt mit Fuchsin, Methylviolett und anderen basischen Farb- stoffen direkt überfärbt werden kann; die Kongorotfärbung wirkt genau wie eine saure Beize, ein Umstand, der praktisch verwertet wird. Manche Pflanzenfasern sind nicht wie Baumwolle und Leinen nahezu reine Zellulose, sondern die vornehmlich aus Zellulose be- stehenden Zellwände enthalten sogenannte inkrustierende Substanzen eingelagert, dar- unter oft eiweißähnliche Verbindungen mit sauren und basischen Atomgruppen oder saure Gerbstoffe und deshalb lassen sich derartige Pflanzengespinststoffe, z. B. Jute, ähnlich wie Wolle direkt färben, sie ent- halten gewissermaßen die Beizenstoffe schon in sich. 4. Echtheitseigenschaften. Beim Färben eines Stoffes kommt es selbstver- ständlich nicht nur darauf an, den ge- wünschten Farbenton zu erzielen, sondern die Färbung muß auch den Einflüssen wider- stehen, welchen sie bestimmungsgemäß beim Gebrauch ausgesetzt wird, sie muß bestimmte Echtheitseigenschaften aufweisen. Die Fär- bung eines Möbelstoffes muß lichtecht, aber weder waschecht noch schweißecht sein, Tischwäsche erfordert keine besonders gute Lichtechtheit, jedoch große Waschechtheit, Wasserechtheit und Säureechtheit; an Tuche sind die umfassendsten Echtheitsanforde- rungen zu stellen, denn sie müssen echt sein gegen die Einwirkung von Licht und Wasser, von Schweiß und Walke, von Säure und Alkali. Es gibt keinen Farbstoff, welcher Farbstoffe 875 allen Echtheitsaliforderungen gleichmäßig gut entspricht, wohl aber in reicher, alle Bedürfnisse befriedigender Auswahl solche, welche einer oder mehreren davon sehr voll- kommen Genüge leisten. Der weitverbreitete Vorwurf, Teerfarbstoffe seien allgemein un- echt, ist ein haltloses Vorurteil. Denn für jede Art von Echtheit hat man heute ent- sprechende Farbstoffe zur Verfügung und jeglicher Farbenton kann heute mindestens ebenso echt und durchweg billiger und sicherer erzeugt werden als früher mit den aus der Pflanzen- und Tierwelt stammenden „natürlichen" Farbstoffen. Ein Farbstoff braucht doch nicht länger auszuhalten als das damit gefärbte Gewebe und dieser höchste Grad von Echtheit, den man in jedem Fall verständigerweise verlangen kann, wird jetzt schon von vielen künstlichen Farbstoffen erreicht, von manchen sogar überschritten. Dabei darf man nicht ver- gessen, daß unter den Teerfarben alle Ab- stufungen von Echtheit vertreten sind, echte Farbstoffe aber meist teurer her- zustellen und umständlicher aufzufärben sind als weniger echte, und deshalb dauer- hafte Färbungen kostspieliger sind als un- echte. Die Verwertung billiger und wenig echter Färbungen ist also berechtigt für minderwertige, wenig haltbare Gewebe. Der schlechte Ruf, den die künstlichen Farb- stoffe bis vor wenigen Jahren fast allgemein genossen haben und bei vielen Laien heute noch genießen, ist also zum Teil unbegründet, zum Teil dadurch veranlaßt, daß jahr- zehntelang viele Färbereien entweder aus Mangel an chemischen Fachkenntnissen mit schlechten Farbstoffen und schlechten Färbeverfahren gearbeitet oder nach dem Grundsatz „billig und schlecht" gefärbt haben. Unterstützt wurde und wird ein solcher Betrieb in Kunst und Gewerbe durch einen oft unglaublichen Mangel an handwerklichen und chemischen Kennt- nissen bei Künstlern und Handwerkern, Kaufleuten und Käufern. Im folgenden finden die wichtigsten Echt- heitseigenschaften eine kurze Erläuterung. Waschecht ist eine Färbung, wenn sie die übliche Behandlung in der Wäsche aushält. Wollstoffe dürfen bekanntlich nicht heiß und nicht unter Zusatz von Soda, sondern nur mit lauem Seifenwasser ge- waschen werden, während Baumwolle sogar mit Seife und Soda gekocht werden kann. Deshalb muß eine Baumwollfärbung, die den Namen waschecht verdient, einer viel gröberen Behandlung standhalten als eine Wollfärbung. Von einer waschechten Fär- bung verlangt man auch, daß eine Färbung von einem Faden auf einen anderen damit verwobenen ungefärbten oder anders ge- färbten nicht übergeht, „blutet", wie der Fachausdruck lautet. Etwas verschieden von der Wasch- echtheit ist die Wasser- und die Walk- echtheit. Manche Färbungen, die gegen Wasser, das nicht rein ist, sondern kleine Mengen von Säuren, Salzen oder Seife enthält, beständig sind, färben ab bei längerer Berührung mit reinem Wasser, eine Eigentümlichkeit, die mit dem mehr oder minder kolloidalen Zustand von Faser und Farbstoff zusammenhängt (vgl. den Artikel „Disperse Gebilde"). Kleider- stoffe müssen wasserecht sein, da sie sonst im Regen, was einer Benetzung mit reinem Wasser gleichkommt, abfärben. Dem- gegenüber bedeutet Walkechtheit eine etwas verstärkte Waschechtheit, die nur für Wolle in Betracht kommt, weil nur wollene „in der Wolle" oder „im Stück" gefärbte Gewebe der Walke unterworfen werden, um sie durch Verfilzung der Fasern in Tuch zu ver- wandeln; die Walke besteht in einer stunden- langen Durchknetung mit einer starken Seifenlösung durch die Walkmaschine. Schweißechtheit bedeutet die Wider- standsfähigkeit gegenüber sauren und alka- lischen Flüssigkeiten; denn Schweiß kann bald sauer, bald alkalisch reagieren und schweißechte Färbungen dürfen weder durch Essigsäure, noch durch Ammoniak in ver- dünnter erleigen. Alkaliechte Färbungen werden durch Benutzung mit alkalisch reagierenden Flüssigkeiten, wie Seifen-, Soda- und Am- moniaklösung nicht verändert, säureechte nicht durch verdünnte starke Säuren, wie Salzsäure. Kleiderstoffe müssen diese beiden Echtheitsarten besitzen, da sie dem alkalisch reagierenden Straßenschmutz wie dem Bespritzen mit Essig, Limonaden und sauren Fruchtsäften ausgesetzt sind. Her- vorragend alkali- und säureunechte Farb- stoffe finden Verwendung als Indikatoren — Lackmus, Methylorange, Kongorot — , sind aber als Farbstoffe für Gewebe minder- wertig. Lichtechtheit, Unveränderlichkeit gegen die Wirkung der Sonnenstrahlen gehört zu den wertvollsten Eigenschaften eines Farbstoffes; völlig lichtechte Farb- stoffe gibt es überhaupt nicht, aber eine große Anzahl zeigen eine vollauf genügende Be- ständigkeit im Licht. Beim „Abschießen" oder „Verschießen" werden nicht lichtechte Färbungen entweder nur heller, sie ver- blassen und das ist der günstigere Fall, oder sie ändern ihren Farbenton, etwa aus Blau in Grau, aus Rot in Braun. Die Frage der Echtheit wird dadurch noch verwickelter, daß der nämliche Farbstoff je nach der lauwarmer Lösung Veränderung 876 Farbstoffe Gespinstfaser, die ihn trägt, oder nach dem Färbeverfahren, durch das er auf- gebracht worden ist, verschiedene Arten und Grade der Echtheit zeigen kann (vgl. dazu den Artikel „Photochemie"). 5. Giftigkeit. Noch weniger als den Vorwurf der Unechtheit verdienen die organischen Farbstoffe den allgemeinen Vor- wurf der Giftigkeit; mit wenigen Ausnahmen sind sie nicht giftig. Nur die Pikrinsäure ist ein starkes Gift. Martiusgelb und einige wenige Azofarbstoffe besitzen mäßige Gift- wirkung; jedoch auch diese dürfen bei den geringen Mengen, die zur Erzeugung einer Färbung nötig sind (0,2 bis 1,5% vom Gewicht des zu färbenden Körpers), als harmlos gelten. Einige für den Menschen unschädliche Farbstoffe — Auraini n, Fuchsin, Methylviolett, Methylenblau, Phosphin — sind für Mikroorganismen giftig und haben als antiseptische Mittel eine beschränkte Verwendung gefunden. Aurami 11 und Methylviolett sind für diesen Zweck unter der Bezeichnung Pyoctaninum aureum und P. caeruleum im Handel. 6. Einteilung der Farbstoffe. Einen klaren Ueberbliek über das große und schwierige Gebiet der Farbstoffe gewinnt man, wenn man sie nach den chromophoren Gruppen einteilt, welche für sie charakte- ristisch sind. Es kommen nur 4 Chromo- phore in Betracht: Die einwertige Nitro- gruppe — N02, die zweiwertige, beider- seits an Kohlenwasserstoffreste gebundene Azogruppe — N Kohlenstoff :N- die an zweiwertige, gebundene Ketongruppe (Karbonylgruppe) C=0 und die vier- wertige, an Kohlenstoff gebundene Aethy- lengruppe C = C . Hieran schließen sich noch eine Anzahl von Abkömmlingen dieser Chromophore, denen ähnliche chro- mophore Eigenschaften zukommen. So rechnet man zu den zahlreichen Azofarb- stoffen mit dem Chromophor — N=N — die wenigen Azoxyfarbstoffe mit der ähnlichen Azoxygruppe — N^ ->N— als Chromophor. Zu den Ketonfarbstoffen mit dem Chromophor >C=0 gehören die Ketonimidfarbstoffe mit der chromophoren Gruppe C=NH, die Ket- \ oxime mit der Gruppe C =NOH (Isonitroso- gruppe) und die Thioketone mit der Gruppe C = S (Thiokarbonylgruppe). Kommen 2 Ketongruppen als Glieder eines Kohlen- stoffringes in gegenüberliegender oder be- nachbarter Stellung vor, so haben wir eine / besonders wichtige Art von Diketonen, die Chi 110 ne (p- und o-Chinone) mit dem chromophoren Kern 0 11 C % / \ f- & Jc- 0 II c c/V 1 =0 d k- oder C C II I 0 und den entsprechenden Abkömmlingen, z. B. 0 NH NH Chinonimid 0 NH Chinondiimid NOH NOH NOH Chinonoxim Chinondioxim NH C NOH 0 Chinonimidoxim Methylenchinon NH S Methylenchinonimid Thiochinon usw. Enthält ein Farbstoff, wie das nicht selten vorkommt, mehrere verschiedene Chromophore, so findet er sich bei demjenigen Chromophor eingereiht, welcher für seinen Farbstoffcharakter maßgebend ist; beispielsweise Farbstoffe 877 NO.-CJL— N=N-C,H; 6X^ / OH -CO OH Nitrobenzolazosalicylsäure mit den Chromophoren — N02 und — N=N — bei den Azofarbstoffen, CO C.H 61X4^ ^0 = Indigo -COx \p, H C = C<^ bei den Ketonfarbstoffen. 7. Darstellungsverfahren und Be- schreibung der wichtigsten Farbstoffe. I. Nitrofarbstoffe. Diese Farbstoff- klasse ist gekennzeichnet durch die Nitro- gruppe — N02 und umfaßt nur wenige ge- bräuchliche Farbstoffe, welche sämtlich Nitrophenole sind, also die auxochrome Gruppe — OH enthalten. Sie werden ge- wonnen durch Nitrierung von Phenolen auf die Weise, daß man die Phenole erst durch konzentrierte Schwefelsäure sulfoniert und dann mittels Salpetersäure die Sulfon- gruppen ganz oder teilweise durch Nitro- gruppen verdrängt. Die Farbe ist gelb und tritt nur in den Salzen kräftig hervor. In der Natur kommen keine Nitrofarbstoffe vor. OH Pikrinsäure 02Nj H! NO. H NO, Darstellung: HO,SCJLOH . C6HsOH H.SO, HNO, (N02)3C6H2OH. Pikrinsäure ist eine starke Säure, kristalli- siert in hellgelben Blättchen, schmilzt bei 122,5° und verpufft bei stärkerem Erhitzen, löst sich schwer in Wasser, schmeckt äußerst bitter und wirkt stark giftig. Sie färbt Wolle und Seide aus saurem Bade sehr rein zitron- gelb. Trotzdem diese Färbung in jeder Hinsicht mangelhafte Echtheit zeigt, findet sie doch starke Verwendung auf Seide, Wolle und Leder für sich allein und in Mischung, besonders mit grünen Farbstoffen. In dichtem Zustand, erzielt durch Schmelzen oder Pressen, dient die Pikrinsäure als wichtiges Sprengmittel (Melinit, Lyddit). H OH Martiusgelb, Naphtolgelb Darstellung: HNO; C10H5OH C10H7OH > (NO2)2C10H5OH Findet sich im Handel meist als Na-Salz; gelbes, kristallines Pulver, leicht löslich in Wasser. Schmeckt nicht bitter und ist nur mäßig giftig. Erzeugt in saurem Bade auf Seide und Wolle ein schönes Goldgelb mit etwas besseren Echtheitseigenschaften als die Pikrinsäurefärbung. HO,S Naphtolgelb S. Darstellung: C10H7OH J^Üli^ (H03S)3- C10H4OH HN(>3 > HO3SC10H4(NO2)2OH. Das in Wasser ziemlich schwer lösliche K-Salz und andere Salze dieser Farbstoff- säure färben Seide und Wolle aus saurem Bade im gleichen Ton wie Martiusgelb, aber etwas echter. Die Verbindung wird namentlich in Mischung mit anderen Farb- stoffen viel verwendet. II. Azofarbstoffe. Gekennzeichnet sind die Azofarbstoffe durch die Azogruppe, den beiderseits an aromatische Reste ge- bundenen Chromophor — N=N — . Monoazo- verbindungen enthalten die Azogruppe ein- mal, Disazoverbindungen zweimal, Trisazo- verbindungen dreimal; auch höhere Azo- farbstoffe sind zwar bekannt, aber nur wenige Tetrakisazo Verbindungen haben eine technische Bedeutung. Alle in Betracht kommenden Azofarbstoffe werden fabrik- mäßig durch die nämliche Reaktion, die Kuppelung einer Diazoverbindung mit einem Phenol oder einem Amin gewonnen (vgl. den Artikel „Azoverbindungen"). Als Ausgangsstoffe dienen folglich immer zwei Komponenten, einerseits ein primäres Amin, welches diazotiert wird und anderer- seits ein Phenol oder ein primäres, sekundäres oder tertiäres Amin mit offener p- oder o-Stellung, mit welchem die Diazover- bindung sich verknüpft, kuppelt, unter Abwanderung eines H-Atoms: 1. C6H5NH3C1+HN02 -^ C6H5NNC1+2H20 PhenylammoniumchloridjBenzoldiazomumchlorid, salzsaures Anilin, Diazobenzolchlorid 2. CJENNC1 C6H,ONa Phenolnatrium C6H5N NC6H4OH + NaCl Benzolazophenol Im allgemeinen wird für die Kuppelung die p-Stellung vor der o-Stellung bevorzugt und bei offener p- Stellung nur diese besetzt; allein man vermag häufig nicht ohne weiteres den Verlauf der Reaktion sicher vorauszu- 878 Farbstoffe sehen. Denn gelegentlich reagieren 2 Molekel I azokörper unter Besetzung eines p- und Diazo Verbindung und es entsteht ein Dis- 1 eines o-Platzes: oll OH 2C6H5NNC1 + H; H1 + 2NaOH H und bei Abkömmlingen des a-Naphtols und a-Naphtylamins wird in manchen Fällen trotz offener p- Stellung eine verfügbare o-Stellung aufgesucht; beispielsweise liefert H./ \,N = NC,Hi N = NC6H5 + 2NaCl + 2H20, Dioxynaphtalindisulfonsäure (1.8.3.6) mit diazotiertem Anilin gekuppelt Benzol- azo dioxynaphtalindisulfonsäure (2.1.8.3.6): OH HO,S< OH H H S03H 4/ H HO,S NCJL SO3H ß-Naphtol und ß-Naphtylamin besitzen keine offene p-, sondern nur 2 offene 0- Stellen, 1 und 3: Hier lei, was nimmt sonst die Azogruppe, einer- für Substituenten Naphtalinkern lagern, stets die Stellung (1), nie die andere 0- Stellung (3) ein. Phenole kuppeln am leichtesten in schwach alkalischer oder neutraler, Amine in schwach saurer oder neutraler Lösung. Unter Benutzung dieser Erfahrung kann man bei zu verkuppelnden Verbindungen, die gleichzeitig Phenole und Amine sind, einen oder auch zwei verschiedene Diazo- komponenten mit Sicherheit in bestimmte gewünschte Stellungen einsetzen, eine praktisch wichtige Möglichkeit, welche durch das Schema der Darstellung des Naphtol- im I blauschwarz erläutert wird : OH NH; HO,S NaO,S NaO,S + NaCl. Die Bildung einiger der einfachsten Amino- 1 der Einwirkung der Diazoverbindung bildet sich azofarbstoffe verläuft infolge der Entstehung ; erst eine Diazoamidoverbindung und dann lagert eines Zwischenproduktes etwas anders als das i sich diese in den Aminoazofarbstoff um: bisher angewandte Schema ersehen läßt. Bei I Farbstoffe 879 1. C6H5NNC1 + C6H5NH2 2. C6H5NN.NHC6H5 -> -> C6H5NN.NHC6H3 + HCl C6H5N=NC6H4NH2. Die theoretisch so einfache, in wässeriger Lösung bei Zimmerwärme meist rasch und fast quantitativ verlaufende Kuppelungs- reaktion erfordert in der Technik doch große Erfahrung und Sorgfalt wegen der leichten Zersetzlichkeit der Diazoverbin- dungen und der großen Verschiedenheit in der Leichtigkeit und Geschwindigkeit der Kuppelung. Eine einfache Benennung der äußerst mannigfaltigen Azokörper hat man, wenn man die Namen der durch die Azogruppe verknüpften Stoffe durch das Wort — azo — verbindet: C6H5N=NC10H7 Benzolazonaphtalin. H03SC6H4N=NC6H4N(CH3)2 Benzolsulfonsäureazodimethylanilin, Handelsname : Helianthin. H03SC6H4N: :NC10H6OH :NC6H3(S03H)N Benzolsulfonsäureazobenzolsulfonsäureazo- naphtol, Handelsname: Biebricher Scharlach. H03S(NHo)C10H5N=NC6H4.C6H4N= • NC10H5(NH2)SO3H Aminonaphtalinsulfonsäureazodiphenylazo- aminonaphtalinsulfonsäure, Handelsname : Kongorot. HOOCC6H3(OH)N=NC10H6N=NC10H5- (OH)S03H Salicylsäureazonaphtalinazonaphtolsulfon- säure, Handelsname: Diamantschwarz. Farbenton und Echtheitseigenschaften der Azofarbstoffe hängen bei gleicher sum- marischer Zusammensetzung in sehr auf- fälliger und häufig nicht vorherzusehender Weise ab von der Stellung der chromophoren und auxochromen Gruppen in den Kohlen- stoffringen und auch von der Stellung der anderen außerdem noch vorhandenen Atom- gruppen, wie Sulfonsäurerest — S03H, Kar- boxyl -COOH, Methoxyl -OCH3 usw. Gar nicht oder nicht genügend in Wasser lösliche Azofarbstoffe werden löslich durch Einlagerung von Sulfongruppen; diese wer- den entweder von vornherein in den Farb- stoff hineingebracht dadurch, daß man einen oder beide Komponenten in Form einer Sulfonsäure verwendet: C6H4 \ ,SOc NN + Cm^ONa NaO3SC6H4N=NC10H6OH, oder den fertigen Azofarbstoff nachträglich sulfoniert: C6H5N=NC6H4NH2+H2S04 — >► yNH2 C6H5N=NC6H3< + H20. 6 5 \S03H Wie schon erwähnt, äußern die Sulfon- gruppen je nach ihrer Stellung in der Molekel auf Farbenton und Echtheit der Farbstoffe verschiedenartige Einflüsse, die teilweise be- kannten Regeln folgen. Beispielsweise liefern die beiden nur durch die Stellung einer der beiden Sulfongruppen unterschiedenen /5-Naphtoldisulfonsäuren 1 und 2 mit den nämlichen Diazokomponenten gekuppelt verschiedene Färbungen, die eine (1) mehr rotstichige, die andere (2) mehr gelbstichige, daher ihre Handelsnamen: 1. HO.S' H H R-Säure H03S SCLHH H H G-Säure. Die Anzahl der praktisch verwerteten Azofarbstoffe kommt der aller anderen Teerfarbstoffe zusammen mindestens gleich. Es können im folgenden nur eine kleine Anzahl ausgewählter Vertreter Erwähnung finden, die man für Struktur und Färbe- eigenschaften als Typen ansehen darf. In der Natur kommen keine Azofarbstoffe vor. Fast durchweg finden sich die Azofarbstoffe im Handel als undeutlich kristalline, in Wasser lösliche Pulver, gewöhnlich Na-Salze mit wenig kennzeichnender Färbung, von der Herstellung her verunreinigt durch anorganische Salze und sehr oft mit Kochsalz, Glaubersalz, Dextrin und ähnlichen unschädlichen Stoffen in abge- messenen Mengen absichtlieh versetzt, um stets die nämliche bestimmte Farbstärke zu erzielen. Ueber derartiges werden deshalb in den Be- schreibungen nur in besonderen Fällen Angaben gemacht. a) Monoazofarbstoffe. H la. p-AminoazobenzolC6H5N=N/ \H hI Jnh„ H Darstellung: C6H5NH2— >C6H5NNC1 + CANH, C6H5N=NC8H4NH2. l'HsNNNHC,Hs 880 Farbstoffe Gelbe, bei 127,5° schmelzende, subli- mierbare Nadeln. Bildet rote, durch Wasser der hydrolytischen Spaltung unterliegende Salze und ist als Farbstoff wertlos. Durch- aus ähnlich verhält sich das auf gleiche Weise aus o-Toluidin darstellbare nächste Homologe, das Aminoazotoluol H H N= N H CH3 NH2 H beide Stoffe sind aber wichtige Ausgangs- punkte für die Darstellung anderer Farb- stoffe. Ib. Aminoazobenzoldisulfonsäure, EchtgelbG, H H Säuregelb H,/ >N = W x,S03H H03S\ Jh Hx JnH2 H H Darstellung: Durch Sulfonierung von la mit rauchender Schwefelsäure. Dient zum Färben von Seide und Wolle und zum Wolldruck und hat die natürlichen Farbstoffe aus Curcuma und Gelbholz fast völlig ver- drängt. Lichtechtheit befriedigend. Ganz analog das aus Aminoazotoluol erhaltene H H Echtgelb R 3 H03S N = N CH3 H CH3 NH2 SO,H Beide Echtgelb dienen zur Darstellung des wichtigen Disazofarbstoffes Biebricher Scharlach (Nr. 21) und seiner Homologen. 2. Helian- thin, Me- thylorange HO3S H H N = W XH H Hl Jn(CH3)2 H Darstellung: Diazotierte Sulfanilsäure H03SC6H4NH, gekuppelt mit Dimethyl- anilin C6H5N(CH3)2. Zum Färben und Bedrucken von Wolle; gut lichtecht, aber ganz säureunecht, des- halb die bekannte Benutzung als Indikator; die freie Farbstoffsäure oder richtiger das intramolekulare Salz der Sulfon- mit der NC6H4S03 Amingruppe. || / ist violett- NC6H4NH(CH3)2 NC6H4S03Na rot, die Salze, etwa || , d. h. die NC6H4N(CH3)2 freie Aminbase, rotgelb gefärbt. Die äußerst verdünnte, blaßgelbe, neutrale Lösung bleibt durch Alkali unverändert, schlägt aber durch sehr in Rot um geringe Mengen starker Säure Diphenylaminorange , H Orange IV, Tropaeolin 00 HO3S Darstellung: Diazotierte Sulfanilsäure ge- kuppelt mit Diphenylamin C6H5NHC6H5. Schöner Orangefarbstoff für Wolle und Seide, auch viel benutzt in Mischung mit Echtrot (Nr. 7) und ähnlichen Farbstoffen; Lichtecht- heit gut, Säureechtheit besser als bei Nr. 2. Mit gleichen Eigenschaften, nur gelbstichiger, färbt das mittels diazotierter Metanilsäure H03SC6H4NH2 hergestellte, stark benutzte Metanilgelb, H H Tropaeolin H02S G h1 N = W >H H hL JnHC6H5 H H welches auch zum Färben der Papiermasse im Holländer dient. H Chrysoidin CfiH,N=Ni H, H NH2 H NH< Darstellung: Diazotiertes C6H5NH2, gekup- pelt mit m-Phenylendiamin NH2C6H4NH2. Braungelber Baumwollfarbstoff auf Tan- ninbeize. Ungenügend lichtecht und deshalb heute vielfach durch bessere Farbstoffe er- setzt. Absorbiert recht vollkommen die photographisch wirksamen Lichtstrahlen, und damit gefärbter Weingeistfirnis dient als Anstrich der Fensterscheiben von Dunkel- kammern. 5. Bismarck- braun, Vesuvin Darstellung: Durch Einwirkung von HN02 auf m-Phenylendiamin H2NC6H4NH2. Bismarckbraun ist ein Gemenge aus Amino- benzolazophenylendiamin und demDisazof arb- stoff Phenylendiaminoazobenzolazophenylen- diamin. Farbstoffe 881 da stets ein großer Teil des Phenvlendiamins demgemäß auch mit 2 Molekeln Phenylendi- amin kuppelt. Bismarckbraun erzeugt auf gerbstoff- gebeizter Baumwolle beim Färben und Drucken ein lebhaftes Braun und zieht ohne Beize auf Jute und Leder auf, ist aber sehr lichtunecht. Das nämliche gilt für das etwas tiefer und röter färbende homologe Man- an beiden Aminogruppen sich diazotiert und i chesterbraun EE und CH NH H H N - Ni NH2H H H N N CH3 NU, H H pH 3 NH, 6a. Sudan I C6H5N = N H HO,/ \b H\ / \ JR H H Darstellung: Diazotiertes C6H5NH2, ge- kuppelt mit ß-Naphtol C10H7OH. In Wasser unlösliche, tiefgelbe Blättchen, leicht löslich in Alkohol. Findet starke Verwendung zum Färben von Spritfirnissen, Harzen, Oelen, Seifen, Wachs und Paraffin. Die rotgelben Färbungen sind lichtecht. Die nämliche hat das analoge Sudanbraun H Anwendung 6b. Naphtol- orange, Orange II v S03H ist eine Sulfonsäure von 6a, gewonnen durch Kuppelung von diazotierter Sulfanilsäure mit ß-Naphtol. Färbt Wolle und Seide leuchtend rotgelb mit guter Lichtechtheit. Die schwer- löslichen Ba- und Pb-Salze bilden auf Ton- erde, Schwerspat und ähnliche Träger nieder- geschlagene vielgebrauchte Lackfarben für Anstrichzwecke. Die gleichen Verwendungen findet das isomere, durch die Stellung der Sulfongruppe unterschiedene C6H5N = N 6c. Ponceau 4GB, Croceinorange gewonnen durch Kuppelung von diazo- tiertem C6H5NH2 mit ß-Naphtolsulfonsäure- Schäffer. Echtrot A H N Darstellung: Naphtionsäure HO3SC10H,5 NH2 diazotiert und gekuppelt mit C10H7OH. Tiefes, etwas stumpfes Rot, viel verwendet in der Woll- und Seidenfärberei, sowie in der Wolldruckerei; sehr lichtecht und gut wasch- echt. Dient auch zur Herstellung von Lacken für Anstrichfarben. 8. Kristallponceau 6R H N : N S03H Hj H o/V\ P S03H Darstellung: a-Naphtylamin diazotiert und gekuppelt mit G-Säure (HO3S)2C10H6OH. Schön scharlachroter, aber nicht sehr licht- echter Wollfarbstoff. 9. Cochenillerot A, Neucoccin S03H gewonnen aus G-Säure. Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. Sulfonsäure von Nr. 8, diazotierter Naphtionsäure Feuriges, lichtechtes Rot, sehr viel verwendet in der Woll- und Seidenfärberei sowie zum Wolldruck. 56 882 Farbstoffe 10. Echtrot C, Azorubin S. OH H H SO,H Darstellung: Naphtionsäure, diazotiert und gekuppelt mit Nevile-Winther-Säure HO3SC10H6OH. Karminroter, lichtechter Farbstoff für Wolle und Seide und für Wolldruck. 11. Echtrot D, Amaranth H N = = N Isomer mit Nr. 9, gewonnen durch Kup- pelung von diazotierter Naphtionsäure mit R- Säure. Tiefes Rot, verwendet wie Nr. 7, 9 und 10 mit den nämlichen Echtheitseigenschaften. tief schwarzviolette Chromlack, der durch nachträgliche Chrombeizung auf der rot- gefärbten Faser entsteht und sehr echt ist. N N 13. Alizarin- gelb 2G Hf X|H H COOH OH Darstellung: m-Nitranilin N02C6H4NH2 diazotiert und gekuppelt mit Salicvlsäure HOC6H4COOH. Wichtig sind nicht die direkten Färbungen, sondern nur die Beizen- färbungen, und zwar der Chromlack. Er liefert ein Olivgelb von guten Echtheits- eigenschaften und dient zum Färben und Bedrucken von Wolle und Baumwolle. Die analoge p-Nitroverbindung, Alizaringelb R 12. Chromo- trop 2R C6H5N = N HO,S Darstellung durch Kuppeln von diazo- tiertem Anilin mit Chromotropsäure (H03S)„- C10H4(OH)2. Lebhaft roter Farbstoff für Wollfärbung und Wolldruck, gut lichtecht. Durch die beiden Hydroxyle in 1.8-Stellung im Naphtalinkern besitzt Chromotrop 2R die Eigenschaften eines Beizenfarbstoffes, der mit Metallhydroxyden verschieden ge- färbte Lacke gibt. Am wichtigsten ist der NO, liefert unter den nämlichen Bedingungen ein Braunorange. b) Disazofarbstoffe. 14. Naphtolblauschwarz OH NH2 C.HBN = N H03S Darstellung: AminonaphtoldisulfonsäureH (HO3S)2C10H4(NH2)OH wird erst sauer mit diazotiertem p-Nitranilin, hierauf alkalisch mit diazotiertem Anilin gekuppelt. Erzeugt auf Wolle beim Färben und beim Drucken ein echtes Blauschwarz. 15. Kongorot H H Ny ^H Hj/ \s H\/ \> H H S03HH Darstellung : Benzidin NH2C6H4 . C6H4NH2 diazotiert (Bisdiazodiphenyl) und gekuppelt mit 2 Mol. Naphtionsäure H03SC10H6NH2. Kongorot und die anderen Benzidin- farbstoffe (Nr. 16. 17 und 18) zeichnen sich durch die Eigentümlichkeit aus, Baumwolle und Leinen direkt anzufärben und finden deshalb in der Baumwollfärbcrei eine aus- gedehnte Anwendung, gleichzeitig aber auch zum Färben von Wolle und Halbwolle. Kongorot erzeugt auf Baumwolle ein nicht sehr reines Scharlach, das weder licht- noch säureecht ist; die Färbung auf Wolle ist schöner und wesentlich echter. Kongorot wird als Indikator benutzt, dessen Rot durch Säure in Blau umschlägt. Farbstoffe 883 16. Azoblau H H OH H -Bj H CH, CH. H N Jh H Darstellung : Diazotiertes Tolidin NH 2C6H3- (CH3).(CH3)CfiH3NH2 gekuppelt mit Nevile- Winther- Säure. Dient zum Färben von Baumwolle und Leinen, Wolle, Halbwolle und Halbseide und liefert ein Violettblau, dessen Lichtechtheit auf Baumwolle und Leinen mäßig, auf Wolle gut ist. 2 Mol. Aminonaphtolsulfonsäure G OH H HO.S NH2 H H liefern mit diazotiertem Benzidin gekuppelt in alkalischer Lösung Diaminschwarz RO, in saurer Diaminviolett N. 17a. Diamin- schwarz RO NH OH H NH, Dient zum Schwarzfärben von Baumwolle, Leinen und Seide; Lichtechtheit gut. H H OH N=^=Nr ^H W x 17b. Diamin- violett HO.S NHS 11 N- H H H NH H H H H S03H H H Erzeugt auf Leinen und Baumwolle ein ziemlich reines, aber nur mäßig lichtechtes Violett. 18. Chrysamin G H HOOCf Nn Hol Jh H H h Nf \h Hf \,N h\/ \yR H H H W xCOOH H\ JoH H7 Darstellung: Diazotiertes Benzidin, ge- kuppelt mit 2 Mol. Salicylsäure. Findet starke Verwendung zum Gelbfärben von Baumwolle und Leinen; die Färbungen sind sehr lichtecht, echter als bei allen anderen Benzidinfarbstoffen, aber nicht alkaliecht; die Farbe schlägt durch Alkali aus Reingelb in Gelbrot um. Das homologe Chrysamin R H H H H HOOCf X,N==N Hol Jh h H CH, CH 3 ^Ai3 N == W NCOOH H H'k JoH H aus diazotiertem Tolidin hat gleiche Ver- wendung und Eigenschaften, aber einen rotstichig gelben Farbenton. 56* 884 Farbstoffe 19. Baumwollscharlach Brillantcrocein, S03H S03H Darstellung: Aminoazobenzol C6H5N = NC6H4NH, diazotiert und gekuppelt mit G- Säure (HO3S)2C10H5OH. Viel gebraucht zum Färben von Wolle und Seide, von Baumwolle mit Alaunbeize ] wasserecht, und von Papier im Holländer. Die Woll- färbungen haben gute Echtheitseigenschaften, die Baumwollfärbungen dagegen sind mangel- haft licht-, wasch- und wasserecht. Die Seidefärbung ist lichtecht und ausreichend 20. Tuchrot B SO,H Darstellung: Aminoazotoluol CH3C6H4N I eigenschaften. Die anderen Tuchrotmarken =NC6H3(CH3)NH.. diazotiert und gekuppelt | haben ähnliche chemische Struktur und ähn- mit R-Säure (H03S)2C10H5OH. Färbt Wolle und Seide tiefrot mit sehr guten Echtheits- liche Verwendung. 21. Biebricher Scharlach Gewonnen durch Kuppelung von diazo- tierter Aminoazobenzoldisulfonsäure mit ß- Naphtol. Findet starke Verwendung zum Färben von Wolle, Seide, Leder und Papier. Der Farbstoff ist sehr farbkräftig und licht- echt, aber auf Seide nicht wasserecht. SOJHH N H HCLS 22. Naphtolschwarz, Brillantschwarz B SO,H Darstellung: Amino-G-Säure (H03S)2- diazotiert und in alkalischer Lösung mit R- C10H5NH2 wird diazotiert und in saurer Lösung mit a-Naphtylamin gekuppelt, hier Säure (HO3S)2C10H5OH gekuppelt. Zum Färben und Bedrucken von Wolle; viel ge- auf die so erhaltene Aminoazonaphtalin- 1 braucht in der Hutfärberei. Sehr lichtecht, disulfonsäure (HO3S)2C10H5N=NC10H6NH2 \ waschecht und genügend walkecht. Farbstoffe 885 23. Tartrazin H NaO,S H c) Pyrazolonazofarbstoffe NaOOC.C = N 5 ! > /\H N = = NOH - CO H'x JsO 3Na H H II Das Tartrazin (vgl. den Artikel ,.Hetero- ! wird mit 2 Molen Phenylhydrazinsulfonsäiire cyklische Systeme") enthält als Chromo- in wässeriger Lösung erwärmt; das erst ent- phore eine Azogruppe und eine Karbonyl- gruppe; jene ist für die Farbstof f eigens chaften maßgebend. Darstellung: Dioxyweinsaures Natrium stellende Dihydrazon schließt unter H20-Ab- spaltung einen Pyrazolonring und die mit Soda neutralisierte und eingedampfte Flüssigkeit liefert dann den Farbstoff als Trinatriumsalz: NaOOC.C(OH)2 + 2NH2 — NHC6H4S03H C(OH)2.COONa NaOOC.C- — > 4HaO + N-NHC6H4S03H H03SC,H4HN NaO,SC.H*NH — N N HOOC.C COONa C N— NHCGH4S03Na >► H20 + HOOC.C N -COOH Na03SC6H4NH \ NC8HdS0,Na N = = C - CO' Hydrazonformel, tautomer mit der obigen Azoformel des Tartrazins. Tartrazin gibt auf Seide und Wolle beim Färben und Drucken ein reines, leuchtendes Gelb von vorzüglicher Echtheit in jeder Hin- sicht und hat vorteilhaft die weniger echten gelben Pflanzenfarbstoffe ersetzt, III. Ketonfarbstoffe. Die Ketonf arbstoii e (vgl. den Artikel „Fe- to ne") enthalten als Chromophor clieKarbo- nylgruppe )>C=0, oder Abkömmlinge der- selben, z. B. die Ketonimidgruppe C =NH, als auxochrome Gruppen —OH oder — NH2. Zu dieser Farbstoff klasse gehören außer einigen wichtigen Teerfarbstoffen eine An- zahl pflanzlicher und tierischer Farbstoffe, denen früher eine viel größere praktische Bedeutung zukam als heute, wo sie mehr oder minder verdrängt sind durch künstliche Farbstoffe, die ähnliche Farbentöne liefern, oder, mit ihnen identisch, durch Synthese gewonnen werden. a) Karbonylfarbstoffe. H C6H3(OH)3 Gegenwart mit von Essigsäure CH3.COOH in Chlorzink: CH3.COOH+ C6H3(OH)3->CH3.CO.C6H2(OH)3+H20. Blaßgelbe, bei 168° schmelzende Blätt- chen. Beizenfarbstoff, der mit Tonerdebeize ein mäßig lichtechtes Olivgelb erzeugt und zum Färben und Bedrucken von Baumwolle viel gebraucht wird. Gleiche Verwendung findet das homologe, aus Pyrogallol und Ben- zoesäure dargestellte Trioxybenzophenon H C6H5.CO, HO' 1. Gallacetophenon,. CH3.CO, XH Alizaringelb C HO\ /OH OH Darstellung: Erhitzen von Pyrogallol H OH OH unter dem Namen Alizaringelb A; die Fär- bungen sind braungelb und gut lichtecht. Für direkte Färbungen werden beide Farb- stoffe nicht verwertet und auch alle übrigen natürlichen und künstlichen Karbonylfarb- stoffe, von denen im folgenden einige Vertreter angeführt sind, werden ausschließlich auf Metallbeizen gefärbt. H H i/V ° \/\H 2. Euxanthon | j HO\/\oc/\/H H OH 886 Farbstoffe Aus dem Harn von Kühen, die mit Mango- blättern gefüttert werden, gewinnt man in Indien den Farbstoff Piuri, der als Maler- farbe unter dem Namen „Indischgelb" wert- voll ist. Indischgelb ist ein Gemisch aus Euxanthon und dem Mg-Salz der Euxanthin- säure; diese ist die Glukuronsäure Verbin- dung des Euxanthons: C]3H80«+HOC.CH- (OH) . CH(OH) . CH(OH) . CH(OH) . COOH und entsteht beim Durchgang des Euxanthons durch den Tierkörper. Die synthetische Dar- stellung des Euxanthons hat rein wissen- schaftliche Bedeutung. H 3. Luteolin HO H 0 CO H_OH ,CH H H OH ist der Farbstoff des Wau, Keseda luteola, und findet beschränkte Verwendung, gebeizter Seide ein schönes, zu erzeugen. In der Katt der gelbe Zinklack und der b lack des Rhamnetins, des Krautes von heute noch eine um auf alaun- sehr echtes Gelb undruckerei wird raungelbe Chrom- H HOOC H 0 H OH \ C— < COH H"H >OH OH eines dem Luteolin naheverwandten Farb- stoffes aus den Gelb- oder Kreuzbeeren benutzt. Auch das Morin, der färbende Be- standteil des Gelbholzes, gehört in diese Reihe. 4a. Hämatein bildet sich aus Hämatoxylin durch Oxyda- tion an der Luft: Hämatoxylin ist der wesent- liche Bestandteil des Blau- oder Campeche- holzes von Hämatoxylon campechianum. In der Woll- und Baumwollfärberei und -druckerei finden die schwarzen Eisen- und Chromlacke des Hämateins beträchtliche Verwendung. o II 4b. Brasilein \. II o ^CH ii /COH H CHa H OH OH steht zum Brasilin in der nämlichen Bezie- hung wie Hämatein zum Hämatoxylin. Brasilin findet sich im Fernambukholz, dem Holz verschiedener Caesalpiniaarten aus Brasilien. Auf Alaunbeize liefert es ein ähn- liches Rot wie Alizarin und ist deshalb für Wolle und Baumwolle viel verwendet worden, heute aber großenteils verdrängt durch das ungleich echtere Alizarin oder durch billigere, aber immer noch echtere Azofarbstoffe. 5. Karminsäure. Zu den Oxyketonfarb- stoifen gehört vermutlich auch die in ihrer Struktur noch nicht sicher erkannte Karmin- säure. Sie ist der färbende Bestandteil der Cochenille, dergetrockneten weiblichen Schild- läuse einiger Kaktusarten. Karminsäure ist ein Beizenfarbstoff, dessen Zinnoxydlack kar- minrot ist und früher namentlich in der Woll- färberei sehr wichtig war: heute ist er völlig ersetzt durch rote Azofarbstoffe, namentlich EchtrotC(Nr.lO),BiebricherScharlach(Nr.21) und ähnliche. Die schöne, aber lichtunechte Malerfarbe Karmin besteht wesentlich aus dem Alumini umlack der Karminsäure. Kar- minlösung besitzt auch vielseitige Verwendung in der mikroskopischen Technik zum Färben mikroskopischer Präparate (hierüber Näheres bei Eosin). Chinolingelb, Chinophtalon H H Darstellung: Durch Zusammenschmelzen von Chinaldin und Phtalsäureanhydrid: xcox C9H6N.CH3+C6H4/co\0^ GJLN.CH / CO \co C6H4 + H20; dabei entsteht ein farbloses, isomeres Neben- produkt, dem man die Formel Farbstoffe ssT 0 ,CO \ \ ^CfiH, exM CaHr,N.CH = C zuschreibt. Chinolingelb kristallisiert aus Sprit in gelben, bei 235° schmelzenden Nadeln, die sich in Wasser nicht lösen. Durch Be- handlung mit rauchender Schwefelsäure er- hält man eine Disulfonsäure, deren Natrium- salz in Wasser leicht löslich ist, Chinolingelb wasserlöslich heißt und auf Wolle ein her- vorragend reines Gelb von guten Echtheits- eigenschaften erzeugt; seiner ausgiebigeren Verwendung steht nur der hohe Preis etwas im Wege. Aehnliche wertvolle Farbstoffe lassen sich auch aus gebromtem oder ge- chlortem Chinaldin und aus chlorierten Phtalsäureanhydriden aufbauen. b) Ketonimidfarbstoffe. 7. Auramin (CH3)2D H NH2C1 Es darf als festgestellt gelten, daß die Salz- bildur.g an der Ketonimidgruppe yC=NH stattfindet und nicht im Sinne der isomeren Formel : (CH3): XN(CH3)2C1 an einem Dimethylanilinkern, wonach das Auramin ein Methylenchinonimidabkömmling wie die Triphenylmethanfarbstoffe wäre. Darstellung: Schmelzen von Michlerschem Keton mit Salmiak in Gegenwart von Chlorzink: (CH3)2NC6H4 — CO — C6H4N(CH3)2 + NH4C1 -> H20+ (CH3)2NC6H4-C-C6H4N(CH3)2. NH2C1 Auramin und das homologe, isomere Ditolylderivat, Auramin G (CH3)HNC6H3(CH3 — C-(CH3)C6H3NH(CH3) NH2C1 sind gelbe basische Beizenfarbstoffe für mit Tannin gebeizte Baumwolle, Ramie und Leinen und werden zum Färben und Drucken als Ersatz des viel unechteren Curcumins (aus Curcuma) in großem Umfang verwendet, nicht allein für Gelb, sondern auch in Mi- schung mit Safranin und Fuchsin zu Schar- lachtönen und mit Malachitgrün oder Me- thylenblau zu gelbgrünen Tönen. Seide und Wolle werden ohne Beize mit befriedigender Echtheit angefärbt und deshalb findet Au- ramin auch zum Färben und Bedrucken von Wolle und Seide Anwendung;. 8. Primulin CH3 H X/^S/0 H H H c' s/ H 'N^H,/ ^NH2 cl JsOsH Darstellung: Beim Schmelzen von p- Dehydrothiotoluidin: Toluidin mit Schwefel entsteht zunächst H Hf NnH. CH. H + 4S H CH H c H H NH; H + 3H2S H Dehydrothiotoluidin ist ein schwacher, blaßgelber Farbstoff, der als Chromophor die substituierte Karbonylimidgruppe \C = NH als Bestandteil eines heterozyklischen Fünf- ringes C und als Auxocnrom die s/ Aminogruppe -NH2 enthält. Nun besitzt das Dehydrothiotoluidin aber auf der einen Seite eine Methylgruppe, auf der anderen eine Aminogruppe in ganz entsprechender Stellung wie das p-Toluidin und wie von diesem 2 Mo- lekel mit 4S reagieren, so tun dies bei fort- gesetztem Schmelzen mit Schwefel auch je 2 Dehydrothiotoluidinmolekel, wodurch die Primulinbase 888 Farbstoffe CH3.C6H3/ ^C.C6H/ ^C.C6H3/ %G. C6H4NHa entsteht. Wahrscheinlich geht dieser Kon- densationsprozeß in gleicher Weise noch weiter zu noch höhermolekularen Verbin- dungen, die im käuflichen Primulin vor- kommen. Um die Primulinbase in Wasser löslich und somit als Farbstoff verwertbar zu machen, wird sie mit konzentrierter Schwefelsäure sulfoniert; die Sulfonsäure kommt als Na-Salz in den Handel. Primulin färbt nicht nur Wolle und Seide, sondern auch nach'Art der Benzidinfarbstoffe Baum- wolle und Leinen direkt waschecht an; wegen ihrer mangelhaften Lichtechtheit macht man aber von diesen Färbungen nur be- schränkten Gebrauch. Weit häufigere Verwendung findet Primulin als Entwiche- lungsfarbstoff. Als primäres Amin läßt es sich diazotieren und mit Aminen und Phe- nolen zu Azofarbstoffen kuppeln; die Diazo- tierung und Kuppelung läßt sich auch auf dem mit Primulin gefärbten Gewebe leicht durchführen und eine Reihe kräftiger schar- lachroter, tiefroter und brauner Färbungen werden namentlich auf Baumwolle viel be- nutzt; sie sind waschecht, aber meist wenig lichtecht. Der Azofarbstoff aus diazotiertem Primulin mit ß-Naphtol ist alizarinrot (türkischrot), mit Naphtolsulfonsäure (2.6) scharlach, mit m-Phenylendiamin lebhaft braun. c) Indigofarbstofie. Alle zur Indigofamilie gehörigen Farbstoffe (vgl. den Artikel „In digo'gr upp e") enthalten zweimal den Chromophor ^C=0 und einmal den Chromophor ^>C=C( , stetsin der Verknüpfung— CO— C=C^CO— ; durch Reduktion entstellt daraus — C(OH) = C — C=(HO)C — , die Leuko Verbindung des betreffenden Indigofarbstoffes. Diese Leuko- verbindungen zeigen die Eigenschaften von Phenolen, denn die Gruppen — C(OH) = sind Glieder von Ringen, und bilden leicht lösliche Alkalisalze, Küpen, welche sich an der Luft leicht oxydieren unter Rückbildung des Farbstoffes, der in Wasser unlöslich ist. Ein mit der Lösung des Alkalisalzes einer Leuko Verbindung getränktes Gewebe ent- wickelt auf sich beim Aushängen an die Luft den Indigofarbstoff - Küpenfärberei. Für alle Glieder der Indigofamilie ist die Küpenfärberei das übliche Verfahren, weil es hervorragend echte Färbungen liefert. Der andere Weg, durch Sulfonierung lösliche Indigofarbstoffe zu gewinnen, hat nur ge- ringe Bedeutung. 9. Indigblau, Indigo tin H H, H H NH I OC- C\ NH H H H H Indigblau ist der wertvolle Bestandteil des natürlichen Indigo und wird heute über- wiegend fabrikmäßig synthetisch dargestellt. Es bildet ein dunkelblaues, kupferrot schim- merndes Pulver und sublimiert bei hoher Temperatur in kupferroten Prismen. Unlöslich in den gewöhnlichen Lösungsmitteln, auch in Alkalien und verdünnten Säuren, bildet es mit konzentrierten starken Säuren Salze, die durch Wasser sofort hydrolytisch gespalten werden. Der aus Indigoferaarten gewonnene natürliche Indigo enthält zwischen 20% und 90% schwankende Mengen an Indigblau, daneben Indigrot, Indigbraun und Indig- leim; die Verwendung von Waid, Isatis tinc- toria, zur Gewinnung von Indigo hat schon längst aufgehört. Von den zahlreichen syn- thetischen Darstellungsverfahren des Indig- blaus werden heute zwei im großen durch- geführt, die theoretisch sehr ähnlich sind; die Wege, welche die beiden Verfahren 1 und 2 einschlagen, werden durch folgende Formeln erläutert: 1. Verfahren: Naphtalin — >- Phtalsäureanhvdrid H H H Hr x/ X,H w I II x0 Hl X M Hl H H H -> Phtalimid H Hr V \ III nh H\/ CO' H ■> Anthranilsäure H /\ COOH H< Y IV h\/\nh2 H Farbstoffe 889 > Phenylglyzinkarbonsäure H •> * Indoxylkarbonsäure H H H COOH \NH.CH,.COOH H H VI H NH COH C.CO OH -> Indoxvl H ■> Indioblau H H H H H VII COH II CH H H VIII H MI -CO OC H H H H Umwandlung; I zu II wird bewirkt durch Oxydation mittels heißer konzentrierter Schwefelsäure in Gegenwart von Queck- CO. C8H4 NO + NH, CO silbersulfat als Katalysator; II zu III durch Erhitzen mit gasförmigem Ammoniak: ,CO. > CCH/ NH+HoO. CO III zu IV durch Oxydation mit unter chlorigsaurem Na: .COv COONa C6H4 \0+ NaOCl + 3NaOH > C6H4 + NaCl + Na2C03 + H20. CO NH, IV zu V durch Einwirkung von monochloressigsaurem Na in kalter wässeriger Lösung: + NaCl. COONa COONa C6H4 + C1CH2. COONa > C6H4 NH, (Andere Wege für diese Umwandlung müssen hier übergangen werden.) ONa NH.CH..COOH V zu VI und VI zu VII durch Schmelzen mit Alkali: CO , CO Na C«H HX>+C6H4 Vi. COONa: NH NH/ CO Na s NH C6H4 Vl.COONa-f NaOH CO Na > C6H4X ^CH + Na,C05 MI VII zu VIII durch Oxydation der wässerigen Lösung der Alkalischmelze mittels ein- seblasener Luft: CONa CO CO 2('6H4 Vh+O, > 2NaOH+C6H4 >C == C< XC6H4. NH NH NH7 Dabei tritt als Nebenprodukt der auch im auf, wie folgende Formeln anschaulich natürlichen Indigo vorkommende, dem In- machen: digblau isomere rote Farbstoff Indirubin 890 Farbstoffe H H -CONa H\/\NH CH H Hi H1 CO CONa+H2°: H in der Schmelze Oxydation des Indoxyl-Na zu Isatin-Na. H H H H CONa h, I! _1_ CH II W CO I + H20 CONa H H H H 2NaOH + H| h\/\nh/c H co oa i i = c- NH H H' H in der Lösung der Schmelze Verknüpfung von 1 Mol. Indoxyl-Na und 1 Mol. Isatin-Na zu Indirubin. Beim Verküpen verwandelt sich übrigens die Hauptmenge des Indirnbins in das isomere Indigblau auf folgende Weise: durch die redu- zierende Küpe entsteht aus Indirubin I erst Leukindirubin II, dann durch Spaltung je 2 Mol. Indoxyl III und daraus dann durch die nach der Verküpung folgende Oxydation an der Luft nicht wieder Indirubin, sondern Indigblau IV: H H H H NH' -CO I /C = oc/ I = 0- NH H H ->- 2 H II III NH' H -COH II ..CH H H H II H 11 II H II ^nh/ -COH HOC / NH H H H 11 IV NH -CO OC I I /C = c. H H H H H H H 2. Verfahren: II II H Anilin NH, Indoxyl III NH' COH I ,CH II ->■ Phenylglyzin H II W >H II Hn H NH COOH I /CHg H Indigo CO OC I I = cN IV 1\/\nh/v H NH II II II H Weshalb dieses ältere und einfachere Ver- fahren 2 zunächst mit 1 nicht in Wett- bewerb treten konnte, lag begründet in der geringen Ausbeute an Indoxyl bei der Alkali- schmelze des Phenylglyzins. Nachdem ge- funden war, daß die Schmelze möglichst wasserfrei sein muß und daß dies trotz des bei der Reaktion erzeugten Wassers durch Zusatz von Natriumamid NaNH2 erreichbar ist, fiel dieser Uebelstand weg; anscheinend arbeiten jetzt beide Verfahren gleich gut und der natürliche Indigo ist durch den künst- lichen in großem Umfange ersetzt Für Wolle und für Baumwolle ist die Farbstoffe 891 Indigoküpenfärberei von größter Bedeutung; sie ist schon seit den ältesten geschicht- lichen Zeiten bekannt und Indigo war von jeher einer der wichtigsten Farbstoffe. Auch für den Baumwolldruck (Kattundruck) hat der Indigo seit einigen Jahren erhöhte Ver- wendung gefunden. Die Echtheitseigen- schaften sind fast in jeder Hinsicht gut, werden aber von einigen anderen synthetisch hergestellten Gliedern der Indigofamilie noch übertroffen. Indigkarmin ist das Na- Salz der durch Sulfonierung von Indigblau gewonnenen Indigblaudisulfonsäure C16H8N202(S03H)2; es löst sich leicht in Wasser, färbt Seide und Wolle direkt an und findet in der Wollfärberei trotz seiner mäßigen Lichtechtheit ziemlich starke Verwendung. Die erzielten Farben- töne sind reiner blau als die etwas stumpfen, aber echten Töne der Küpenfärbung. In den letzten Jahren sind eine lange Reihe von synthetischen Indigofarbstoffen in den Handel gekommen, die fast alle Farben des Spektrums umfassen und sich, aus der Küpe gefärbt, durch hervorragende Echt- heitseigenschaften auszeichnen. Man über- sieht das verwickelte Gebiet leicht, wenn man es einteilt in symmetrisch nach dem Indigo- typus gebaute und in unsymmetrische, nach dem Indirubintypus gebaute Farbstoffe; die 2-wertigen NH- Gruppen können eine oder beide durch 2-wertige Atome oder Atom- gruppen, z. B. durch Schwefel ersetzt sein. a) Nach dem Indigblautypus gebaute Farbstoffe: 10. Cib ablau, (5.7.5.7) Tetra- bromindigo *C0 0CV Be- liefert ein sehr reines, leuchtendes Blau. H 11. (6.6)-Dibrom- H indigo IJ, H Br C\NH/\/H synthetisch hergestellt, ist identisch mit dem aus Purpurschnecken gewon- nenen Purpur der Alten; er färbt ein stumpfes Rotviolett und ist für die heutige Färberei bedeutungslos. 12. Thioindigorot B H H H II S- -CO oc H H H H Darst.: Naphtalin -'6ii4\ CO- -> Phtalsäureanhvdrid C„H,/ \0 C6H4 > Phtalimid CO. \ \nh CO' •> Anthjanilsäure. CO OH C«H 6ix4 \ NH, bis hierher stimmt der Weg mit dem zur Darstellung von Indigblau 1 überein, weiterhin ist er neu. diazotierte Anthranilsäure >• Dithiosalicylsäure - h/\/COOH u/\/C00H HOOCx/\ H \ NNC1 II Hr H II H !H H H Thiosalicylsäure H /COOH Hr H MI SH H 892 Farbstoffe ■> Carboxyphenylthioglykolsäure >• Oxythionaphtenkarbonsäure H H , \/~~— , x _C0H IV j V | li H\/\S.CH2.COOH H\/ \s/CCOOH H H Oxythionaphten > Thioindigorot. h" H H h/ V COH Hr V -CO OC- -/ \h VI | VII I H\/\s/CH H\/\s/c =c\s/\/h H H H Die Um Wandlung von I zu II erfolgt durch Natriumdisulf id: ,COOH COOH HOOC 2C6H/ + Na2S2 — > C6H4/ >C6H4 + 2NaCl +2N2; XNNC1 XS -S7 von II zu III durch Reduktion mit Fe oder Zu: COOH HOOC COOH C6H / \C6H4 + 2H — > 2C6H4/ XS- S' SH ; von III zu IV durch eine Lösung von chloressigsaurem Na: COONa /COONa C6H4/ + C1CH2. COONa > C6H4< + NaCl; xSNa XS.CH2. COONa von IV zu V durch die Alkalischmelze: .COONa CONa C6H4< — > C6H4/ XC. COONa + H,0, XS.CH2. COONa ^ wobei auch weiterhin die Abspaltung der Karboxylgruppe erfolgt: CONa CONa V zu VI: C6H4/ ^C. COONa + NaOH > C6H / ^CH + Na,C03, xs/ xs/ VI zu VIII erfolgt durch Oxydation in der alkalischen Lösung der Schmelze: CONa co co 2CfiH4< XCH+20 — > C6H4/ N;C = C/ xC6H4+2NaOH. xsx \ s / x s / Färbt aus der Küpe auf Baumwolle und Echtheit. Gibabordeaux B und Cibarosa sind Wolle ein stumpfes, dem Fuchsinrot ahn- halogenisiertes Thioindigorot B. liches Violettrot von ganz hervorragender H H h/\ co oc /\h 13. Helindonorange R j C2H50y y\ g/C = (\ g/^ /OC2H5 H H Farbstoffe 893 ist ein schönes echtes Orange für Baumwolle und Wolle. Die anderen Helindonfarben sind gleichfalls durch Alkoxylgruppen sub- stituiertes Thioindigorot. b) Nach dem Indirubintypus gebaute Farbstoffe. h A -co oc/NH\ AH i | i i I H\/Xs/C c" ~\/H H H 14. Thioindigoscharlach R Darstellung durch kurzes Aufkochen einer wässerigen, schwach alkalischen Lösung II II H, COH h -CH H H H gleichmolekularer Mengen von Oxythio- naphten und Isatin: H H CO COH H /V -co oc/NH\/ ^c c- II H H H Hochroce, metallglänzende Nädelchen, j Baumwolle echt scharlachrot. Cibarot G ist unlöslich in den üblichen Lösungsmitteln. Dibromthioindigoscharlach. Färbt aus der farblosen Küpe Wolle und H H H 15. Thioindigoscharlach 2 G H, H CO oc- 'C = = G. >H >H H H H entsteht durch Kondensation von Oxythionaphten mit Acenaphtenchinon: H H „ H H H H H \S- COH OC- CK ' OC. H H H H H H \S- CO OC- ] ! -C = = G >H + HaO >H H HU ~ H H Färbt aus der Küpe Baumwolle und Wolle hervorragend echt gelbstichig scharlachrot. IV. Chinonfarbstoffe. Die Chinonfarbstoffe (vgl. den Artikel „Chinone") sind eine besondere Klasse von Diketonfarbstoffen, welche den Chinonkern enthalten, nämlich 2 Ketongruppen oder substituierte Ketongruppen (Ketoximgruppe >C = NOH, Ketonimidgruppe \c == NH) in o- oder p- Stellung als Glieder eines Ringes. Es gehören hierher außer einigen weniger wichtigen Farbstofffamilien die Alizarinfarbstoffe, die Oxazine, Thiazine und Azine und die lange Reihe d e r T r i p h e n y 1 m e t h a n f a r b s t o f f e. a) Anthracenfarbstoffe. Alle Anthracenfarbstoffe stammen ab von dem Ringdiketon Anthrachinon H h/8\ 0 C «H 2 -"■ H c 0 /\./H H (vgl. den Artikel „Anthracengruppe") und haben als Auxochrome — OH- oder -NH2-Gruppen; wertvolle Farbstoffe dieser 894 Farbstoffe Klasse besitzen stest 2 Auxochrome in o- Stellung (Alizarinstellung [1,2]). Nach ihrem wichtigsten und am längsten bekannten Ver- treter, dem Alizarin, heißen die Anthracen- farbstoffe auch Alizarinfarbstoffe. Die große Mehrheit dieser Verbindungen wird durch Substitution des zugrundeliegenden, aus Steinkohlenteer gewonnenen Kohlenwasser- stoffs Anthracen ClEL CIK VCH' >CfiH, /v6xx4, nur eine Minderheit durch synthetischen Aufbau des Anthracenkernes dargestellt. Von den aus Pflanzen gewinnbaren Farbstoffen dieser Klasse hat heute keiner mehr eine nennens- werte Bedeutung; entweder sind sie durch identische künstliche Farbstoffe ersetzt oder verdrängt durch ähnlich färbende Teerfarben anderer Art. Die meisten Anthracenfarbstoffe werden als Beizenfarbstoffe verwendet, nur wenige zu direkter Färbung und nur eine kleine Familie, die Indanthrene, als Küpen- farbstoffe. Die erzielbaren Farbentöne um- fassen außer reinem Grün sonst so ziemlich alle Farben des Spektrums und die meisten Färbungen zeichnen sich durch vorzügliche Echtheitseigenschaften aus. H OH la. Alizarin II CO \ H OH H H Alizarin ist der Hauptbestandteil des schon im Altertum bekannten und benutzten Farb- stoffs der Krappwurzel von Rubia tinc- torum; es kommt darin vor als Ruberythrin- säure, welche durch Einwirkung von Säuren und Alkalien oder durch Gärung in Alizarin und Glukose (Traubenzucker) gespalten wird: + 2H20 > 2C6H1206 + Vor 4 Jahrzehnten CO, C6H4 / ^co- >C6H2(OH)£ hat die fabrikmäßige synthetische Darstellung des Alizarins den Krapp zu verdrängen be- gonnen und binnen wenigen Jahren den An- bau des Krapps vernichtet, so daß große Strecken Ackerboden, namentlich in Süd- frankreich, für andere Kulturpflanzen ver- fügbar wurden. Die Herstellung des Alizarins nimmt folgenden Weg: Anthracen /CH\ i crh/i xc«h XH 6XX4 Anthrachinon /C0\ CfiH/ \CfiH XO 6xxi -> x\nthrachinon-/>Sulfonsäure hA/C0-A 111 H\ X _ A M ■>■ Alizarin H OH ,COs V V xOH IV I Hx k _ X Jh H H Das aus Steinkohlenteeröl gewonnene Anthracen wird durch Chromsäure zu Anthrachinon oxydiert, I -^ II: XH. CO. C6H4< \c,H4+30 > H80+CeH4/ XC6H4 Anthrachinon wird durch Erhitzen mit rauchender Schwefelsäure sulfoniert, II -> III: /C0\ /C0\ C6H4/ \C6H4+S03 > C6H4/ \C«Ha.S08H XO' ^CO- III -> IV erfolgt durch Alkalischmelze oder durch Erhitzen mit Natronlauge unter Druck auf 170°: CO, C6H4/ >C6H3 . S03Na + 3NaOH COv .ONa > C6H4 XC6H4< + Na2S03+2H xCOx xONa hierbei wird der Wasserstoff nicht frei, Um diese Störung zu vermeiden, setzt man der sondern reduziert einen Teil des Alizarins. Natronlauge als Oxydationsmittel Kalium- Farl »Stoffe 895 chlorat KC103zu. DerVerlauf der Reaktion ist ungewöhnlich, da nicht bloß die Sulfongruppe durch - ONa ersetzt wird, sondern auch noch ein benachbartes H-Atom. Aus dem Na-Salz wird das freie Alizarin durch An- säuern ausgefällt. Alizarin ist ein rotgelbes, bei 290° schmel- zendes Pulver, das in gelbroten Nadeln sub- limiert, sich in Wasser wenig löst, mit Alkalien blauviolette, leicht lösliche, mit den meisten anderen Metallen unlösliche, verschieden ge- färbte Salze, Lacke, bildet. In der Färberei findet der rote Aluminiumlack, der schwarz- violette Eisen- und der braunviolette Chrom- lack Anwendung. Ein Eingehen auf die oft sehr verwickelten Beizenfärbereiverfahren würde über den Rahmen dieser Abhandlung hinausgehen. Zum Färben und Bedrucken von Baumwolle und Leinen in Rosatönen dient der Aluminiumlack, in tieferen roten und scharlachroten Tönen ein Rizinusölsäure ent- haltender Aluminiumcaleiumlack ( Türkisch- rotfärberei), in braunvioletten Tönen der Chromlack und in gebrochen violetten bis fast schwarzen Tönen der Eisenlack. Zum Färben und Bedrucken von Wolle werden hauptsächlich die roten Aluminiumlacke und die braunvioletten Chromlacke verwendet. Alle Ausfärbungen sind sehr echt in jeder Hinsicht. Die roten Alizarinlacke (Krapp- lacke) sind wegen ihrer Lichtechtheit auch geschätzt und viel gebraucht als Farben in der Aquarell- und Oelmalerei sowie in der Litho- graphie. H OH Ib. Alizarini ot S Hl H -CO OH H H S03Na ist. das Na-Salz des mit rauchender Schwefel- säure sulfonierten Alizarins und dient zum Scharlachfärben von Wolle auf Aluminium- beize. lc. Flavo- H purpurin HO H oll Id. Isopurpurin, HO Anthrapurpurin d CO :o H OH H H den die entstehen bei der Alkalischmelze aus Anthrachinondisulfonsäuren a und ß, bei stärkerer Sulfonierung des Anthrachi- nons sich bilden. Beide isomeren Trioxy- anthraehinone liefern auf Wolle und Baum- wolle mit Aluminiumbeize gelbstichigeres Scharlach als Alizarin. Sie sind in vielen Alizarinmarken, die zu Scharlachfärbungen dienen, absichtlich enthalten. H OH COs 2. Purpurin H H /' CO/ II OH H OH Ist neben Alizarin im natürlichen Krapp- farbstoff enthalten und wird durch Oxydation von Alizarin dargestellt. Sein scharlachroter Aluminiumlack und tiefvioletter Chromlack finden beschränkte Verwendung im Woll- und Baumwolldruck. H oll 3. Anthragallol, H Anthracenbraun jj ,CO CO- \ OH OH H H Darstellung: Durch Erhitzen eines Ge- misches von Benzoesäure und Gallussäure mit konzentrierter Schwefelsäure: H H H H H COOH + HO OH H OH OH H H H H CO H OH OH OH + 2H20 H Zum Färben und Drucken von Wolle und \ und auf Chrombeize erzeugt. Da bei der Baumwolle viel benützt wegen der satten Synthese des Anthragallols gleichzeitig die Braunfärbungen, die es auf Aluminium- , Umsetzung 11 COOH HO HO II + H OH OH H OH OH H HO- HO1 CO 0 OH ()H oll OH + 2H20 896 Farbstoffe eintritt, also ein Hexaoxyanthrachinon, das Rufigallol, sich bildet, so ist dieses dem tech- nischen Anthragallol beigemengt. Der färbe- rischen Verwendung tut dies keinen Eintrag, weil auch das Rufigallol ein brauner Beizen- farbstoff ist. Ein isomeres, als Dipurpurin aufzufassendes Hexaoxyanthrachinon ist das HO OH 4. Anthracen- H blau jjQ1 OH H OH OH Darstellung: Erhitzen von 1,5-Dinitro- .CO anthrachinon N02C6H3< )C6H3N02 mit XCOX rauchender Schwefelsäure. Es liefert beim Färben und Drucken von Wolle und Baum- wolle ein schönes, tiefes, sehr echtes Blau auf Chrombeize. H OH 5. Nitroalizarin, H Ali zarinorange jj •CO \ \CO/ H OH N02 H Darstellung: Durch Nitrieren von Alizarin. Zum Färben und Drucken von Wolle und Baumwolle; gibt auf Aluminiumbeize ein bräunliches Orange, auf Chrombeize ein Rot- violett, beide echt. H OH 6. Alizarinblau H H OH H N H\/H H Darstellung: Nitroalizarin (Nr. 5) wird zu Aminoalizarin reduziert und dieses mit Glyzerin und Schwefelsäure unter Zusatz von Nitrobenzol erhitzt; dabei erfolgt dann Bildung eines Pyridinringes ,,Alizarinchinolin" analog wie aus Anilin Chinolin sich bildet: H OH Hi H CO OH H H NH, + hoch, ch,oh \ch/ OH Das beigefügte Nitrobenzol oxydiert den bei der Synthese frei werdenden Wasser- stoff. Beim Färben und Drucken von Wolle und Baumwolle erzeugt das Aüzärinblaü ein tiefes Indigoblau auf Chrombeize und hatte als Indigoersatz eine Verwendung, die auf- gehört hat seit der technischen Darstellung von Indigblau. Einige seiner Abkömmlinge: Alizarinblau S, Alizaringrün und Alizarin- indigblau werden heute mehr gebraucht als das Alizarinblau. OH 7. Alizarinschwarz, H Naphtazarin jj OH H II ist das Analogon des Alizarins in der Naphta- linreihe, also kein Anthracen-, sondern ein Naphtalinfarbstoff , dessen Einreihung an dieser Stelle der Analogie wegen geschieht. Darstellung: Ein Gemisch von Dinitro- naphtalinen wird mit einer Lösung von Schwefel in konzentrierter Schwefelsäure er- wärmt. Naphtazarin liefert auf chromge- beizter Wolle ein licht-, walk- und säure- echtes Schwarz. 8. Alkannin ist ein roter Anthrachinon- farbstoff nicht näher erforschter Struktur, der iii der Alkannawurzel vorkommt und heute nur noch zum Färben von Genuß- mitteln gebraucht wird. Indanthrene. Mit dem Namen Indan- threne faßt man eine Familie von An- thracenfarbstoffen zusammen, die das Ge- meinsame haben, daß sie aus Amino- anthrachinon unter Verknüpfung von zwei und mehr Anthrachinonresten entstehen. Alle sind hervorragend echte Küpen- farbstoffe, die für völlig widerstandsfähige Baumwollfärbungen sehr große Bedeutung besitzen; Farben aus allen Bezirken des Spektrums sind unter ihnen vertreten, nur kein reines, klares Grün. Hier können nur 2, verhältnismäßig einfache Vertreter be- sprochen werden, Indanthrenblau und Indan- threngelb. Farbstoffe 897 9. Indanthrenblau H H CO H Darstellung Aus /3-Aminoanthrachinon in der Alkalischmelze unter Zusatz von Kali- salpeter. Indanthrenblau bildet durch alkalische stehende Farbstoff ist gleichfalls ein Blau von Reduktion eine blaue Küpe und der auf dem \ reinem, tiefem Ton. Gewebe durch Oxydation an der Luft ent- 1 10. Indanthrengelb, Flavanthren Indanthrengelb entsteht gleichfalls aus ß-Aminoanthra- chinon in der Alkalischmelze und zwar bei höherer Temperatur. Die Küpe ist gleichfalls blau und bildet an der Luft den gelben Farbstoff. b) Chinonoximfarbstoffe. Durch Einwirkung von salpetriger Säure auf Phenole erhält man im aligemeinen nicht die unbeständigen Nitrosophenole, sondern die isomeren Chinonoxime: NOH Der chromophore Chinonoximring über- unlöslich und stark gefärbt, somit können die nimmt zugleich die Rolle des Auxochroms, Chinonoxime als Beizenfarbstoffe dienen, da die Oximgruppe Salze mit Basen bildet Einige Vertreter haben auch tatsächlich eine wie ein Phenol. Die Salze mit AI, Fe, Cr sind ; beschränkte Verwendung, z. B. das oben 57 Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Hiind III. 898 Farbstoffe angeschriebene 2-Naphtochinon-l-oxim als färbt. Eine Snlfonsänre dieser Verbinduni;' Gambin G, welches auf Eisenbeize dunkel ist das Naphtolgrün B auf Chrombeize schwarzbraun olivgrün NaO,S gewonnen durch Behandlung der ß-Naph- tolsulf onsäure - Schaff er mit salpetriger Säure und nachherige Salzbildung; das Eisen ist darin durch die üblichen Reagentien nicht nachweisbar, also nicht als Ion vorhanden. Die tiefgrüne Lösung färbt Wolle direkt wasch- und lichtecht in ziemlich lebhaften grünen Tönen an. Die grünen Niederschläge, welche die Lösung mit AI- und Pb- Salzen gibt, finden in der Buntpapierfabrikation und als Anstrichfarben Verwendung. c) Chinonimidfarbstoffe. (Vgl. den Artikel ,,Azine';.) Als chromophore Gruppe enthalten die Chinonimidfarbstoffe den Chinonimid- oder Chinondiimidring 0 NH oder NH NH als Auxochrom die Aminogruppe. Die ein- fachsten Vertreter dieser Klasse, die Indo- phenole und Indamine, lassen sich leicht zu ihren Leukokörpern, den p-Oxy-p-Aminodi- phenylaminen und p-Diaminodiphenyl- aminen reduzieren: O Indophenol H hI /W2 H + 2H p-Oxy-p-Aminodiphenvlamin H H W V HO H H H NH; Sie färben sämtlich lichtecht blau, finden durch Alkalien werden sie nämlich sehr leicht aber wegen ihrer Säureunechtheit kaum mehr zerstört unter Spaltung in Chinon und Amin: Anwendung. Durch Säuren und meist auch II 0 H H N H H H H H NH + H20 II o II H <) II + H2N H II II H NH, Dieser Uebelstand fällt weg, wenn der dann widerstandsfähige, heterozyklische Chinonimidring Glied eines heterozyklischen i Anthracenringe: Ringes und dadurch beständig wird; man hat | N X Oxazinring Thiazinring Diazin(Azin)ring Diesen 3 Familien der Oxazine, Thiazine Stoffe an, von denen aber nur wenige Vertre- undAzine gehören eine Reihe wichtiger Färb- ter als Typen besprochen werden können. Farbstoffe 899 0 x a z i n e : 1. Neu blau B oder R, Meldola- blau II C1(CH3)2N H H // N o 1 H H H H H oder (Neuerdings wird auf Grund von Beob- achtungen, die in einigen Fällen zwingend sind, durchweg für die Chinonimidfarbstoffe statt der p-chinoiden Formulierung die o-chinoide vor- gezogen und demgemäß die Oxazine als Oxonium- salze, die Thiazine als Thioniumsalze von o- Chinonimiden, nicht wie bisher als Imoniumsalze von p-Chinondiimiden aufgefaßt. Im folgenden wird meist die p-chinoide Schreibung beibehalten, die sich ja leicht in die o-chinoide übersetzen läßt). Darstellung: Salzsaures Nitrosodimethyl- anilin (Chinoiioximdimetliylimoiiiumchlorid) und /i-Naphtol kondensieren sich in alkoholi- scher Lösung schon bei Zimmerwärme: H H H C1(CH3)2N Y II NOH H H H H + W HoL Jh H + 0 -> Hi s x f 'h Meldolablau bildet blauviolette, bronze- glänzende, in Wasser lösliche Kristalle, liefert ein gebrochenes, tiefes, bis zu blau- schwarz gehendes Blau von guter Echtheit und dient zum Färben und Drucken von Baumwolle und Leinen auf Gerbstoffbeizen. 2. Nilblau C1(CH,),N \ Thiazine: 3, Methylenblau 0 H H + 2HX>. H y/ N II C1(CH3)2N \ H8) 3/2 H Darstellung: I. Salzsaures Nitrosodi- methylanilin wird mit Zinkstaub und Salz- säure zu p-Aminodimethylanilin reduziert: y\ y\o/\ yNH2 C1(C2H5)2N V V Cl(CH3)oN = C6H4 = NOH + 4H HC1(CH3)2NC6H4NH2 + H20. Nilblau wird ähnlich wie Meldolablau aus salzsaurem Nitrosodiäthyl-m-Aminopheiiol IL Die neutralisierte Lösung wird mit und /5-Naphtylamin dargestellt und ebenso thioschwefelsaurem Na und K2Cr207 versetzt verwendet, erzeugt aber ein schöneres, rein j und dadurch p-aminodiniethylanilinthio- grünstichiges Blau. | sulfonsaures Na gewonnen: NH2 HC1(CH3)2NC6H4NH2 + Na2SS03 + 0 — > (CH3)2NC6H3< +NaCl+ H20 xS.S03Na III. Zur neutralen Lösung wird erst Dimethvlanilin gegeben und es wird dann wiederum mit K2Cr207 oxydiert: H H (ch3)2n! H „Ah NH 2 -30-ZnCl8 S.S03Na H'x JN(CH,)a H 57* 900 Farbstoffe h/VNNAh C1(CH3) 2N^\/\ S \/ N(CH3) ■ + ZnS04+ NaCl + 2H20 H Im Handel kommt meistens das Chlor- zinkdoppelsalz des Methylenblaus vor als braunes, metallglänzendes Kristallpulver, das sich in Wasser leicht mit rein blauer Farbe löst. Auf Baumwolle, die mit Tannin gebeizt ist, erzeugt Methylenblau ein schönes, ziemlich echtes Blau und wird zum Färben und Drucken sehr viel verwendet. Azine (Diazine): Safranin T H H S N-, CH»' C1H3N^\ \N/ H | H C6H5 |CH3. NH, Darstellung: I. Aminoazotoluol wird mit Zinkstaub und Salzsäure reduziert: H! H N= = Nf |CH3 H CH, H H NH, + 4H H H H H H NH2 H2N CH3 " H H ,CH3 NH., IL Die neutralisierte Mischung aus o-Toluidin und p-Toluylendiamin wird mittels Na2Cr207 zum Ditolylindamin oxydiert: II CH. NH5 H H H H\ /'NH, H H H CH. HN^N H Ns H H CH3 NH + 2H20 III. Hierauf wird sogleich eine Lösung von I Stunden gekocht, wodurch unter Oxydation salzsaurem Anilin zugegeben und dann einige I durch die Luft Azinringschließung erfolgt: ch/yVV H H + C6H5NH3Cl+0; chA/nÄCH3 C1H2N^ \/ ^N " /NH H I H C6H5 + 2H20 Safranin T ist im Handel als rotbraunes, in Wasser nicht sehr leicht lösliches Pulver. Es hat sehr starke Verwendung zum Färben und Drucken von Baumwolle und Leinen auf Tanninbeize ; auch zum Färben von Firnissen wird es gebraucht. Die blaustichig roten, fuchsinähnlichen Färbungen, welche es liefert, sind zwar nicht hervorragend echt, aber immerhin echter als die mit Fuchsin er- zeugten. Farbstoffe 901 5. Indoinblau R, Janusblau Gl Ho Dieser Azoazinfarbstoff wird dargestellt durch Kuppeln von diazotiertem Safranin mit jö-Naphtol und wird verwendet zum Färben von Baumwolle und Leinen auf Gerb- stoffbeizen; er färbt tiefblau mit guten Echt- heitseigenschaften. Ein Homologes des Safranins ist das Mauvein, der älteste Farbstoff dieser Art; er liefert Violett- und Lilatöne, wird seit langen Jahren als Druckfarbe für englische Brief- und Stempelmarken benutzt und heute ist dies wohl die einzige Verwendung, die ihm geblieben ist, 6. Spritindulin, Indulin R und B, Echtblau R und B, sind Mischungen von zwei ähn- lichen Farbstoffen H H II G6H5HN, und c6h5hn^\/\n/\/NH2 Cl H I H C6H5 rotstichig schwarzblau, R Die Marke R enthält überwiegend das ein- fachere, B überwiegend das höhere Homologe, beide enthalten aber noch kompliziertere Ver- bindungen. Sie werden dargestellt durch Er- hitzen von Aminoazobenzol mit Anilin und salzsaurem Anilin, sind in Wasser wenig oder kaum löslich und dienen zum Färben von Sprit- lacken und zum Bedrucken von Baumwolle. Indulin, wasserlöslich, Echtblau R und B wasserlöslich, Nigrosin, wasserlöslich sind Na- Salze von Sulfonsäuren der obigen Induline und werden zur direkten Färbung von Wolle und Seide in echten schwarzblauen Tönen sowie im Wolldruck benützt. 7. Anilinschwarz. Dieser unlösliche schwarze Farbstoff ist vermutlich eine hochmolekulare indulin- artige Verbindung, die aus Anilinsalzen durch Oxydation mit Chromsäure oder mit Kalium- chlorat in Gegenwart von Kupferverbin- dungen als katalytischen O-Ueberträgern dar- gestellt wird. Es findet in der Baumwoll- färberei und -druckerei eine ausgedehnte Verwendung, für Wolle nur eine unterge- ordnete und wird stets auf der Faser erzeugt. Die Färbungen sind sehr echt. d) M e t h y 1 e n c h i n o n f ar b s t o f f e. Methylenchinonfarbstoffe sind gekenn- zeichnet durch den chromophoren Methylen- chinonring C«H,HN ^ X c0h5hn^\/\n Cl H NHC6H5 NHC6H5 grünstichig schwarzblau, B C oder Methylenchinoniminring 0 und enthalten als oder Aminogruppen. Sie Triphenylmethan- und 2. Stoffe. NH Auxochrome Hydroxyl- umfassen 1. die die Akridinfarb- A. Triphenylmethanfarbstoffe. Die Triphenylmethanfarbstoffe sind die eigentlichen „Anilinfarbstoffe". Viele von ihnen zeichnen sich durch grelle Färbungen von ungewöhnlicher Leuchtkraft, durch auf- fällige Ausgiebigkeit und ungenügende Echt- heit aus und sie meint der Laie, wenn er die künstlichen Farbstoffe rundweg schreiend und unkünstlerisch, billig, schlecht und un- echt nennt, Die praktisch wichtigen Triphenyl- methanfarbstoffe leiten sich ab: vom Di- aminodiphenylmethan : Malachitgrünfamilie ; vom Triaminotriphenylmethan: Fuchsin- familie; von der Triphenylmethan-o-karbon- säure: Phtaleine. Kein Triphenylmethanfarbstoff wird aus 902 Farbstoffe einem Kohlenwasserstoff der Triphenyl- methanreihe dargestellt, vielmehr wird der Triphenylmethankern stets synthetisch auf- gebaut aus Abkömmlingen einfacherer aroma- tischer Kohlenwasserstoffe. 1. Malachitgrün, Bittermandelölgrün. Malachitgrünfamilie: H H H hAAAh ci(CH3)2Nv ;h Hk ; H II Darstellung: I. Benzaldehyd (Bitter- mandelöl) und Dimethylanilin werden durch n/ o Erhitzen mit Chlorzink kondensiert zum Leukomalachitgrün : X6H4N(CH3)S C6H5.C^ + 2C6H5NlCH3)2 -> C6H6.CH HO,SCJL.CH \CH2C6H4S03H 2AA5 SC6H4N\CH2C6H4S03H /C2H5 n s^Tr/ '^ = NxCH2C6H4S03H UijbU^.o^ .C2H5 C6H4N\CH2C6H4S03H Die Verbindung färbt Wolle und Jute direkt in smaragdgrünen Tönen und ist besser licht- und säureecht als die unsulfo- nierten Malachitgrüne, aber ganz alkaliun- echt, wird jedoch trotzdem viel ge- braucht. 904 Farbstoffe 4. Patentblau, Ca- Salz der einbasischen Farbstoffsäure SO,H 0 (C2H5); H H OH H H II C , H H H N(C2H5)2 Darstellung : Die Leukobase aus Diäthylanilin und m-Oxybenzaldehyd wird sulfoniert und dann zum Farbstoff oxy- diert. (C2H5)2NC6H5 + HOC0H4.CHO ->► H0C6H4.CH/ C6H4N(C2H5). HOx C,H4N(CaHa)2 H03S— C6H2.CH\ H03S/ XC6H4N(C2H5)2 H0X /C6H2.Cvs H03SX S02- C6H4N(C2H5)2 C6H4N(C2H5)2 C6H4 = N(C2H5)2 I -0 Wichtiger Farbstoff zum Färben von Seide in Mischung mit Tonerde oder Schwerspat als und Wolle in schönen, grünstichig blauen Körperfarben zum Anstreichen, zu Buch- und Tönen, säureecht, alkaliecht und ziemlich lichtecht. Schwerlösliche Metallsalze dienen 5a. Fuchsin, Parafuchsin Steindruck und sind in dunkeln Färbungen befriedigend echt. Fuchsinfamilie. NH2 h/\h H | H B/\fcyy C1H2N^\/H H\/NH H H Zwei Darstellungsverfahren, ein älteres und ein neueres. Erstes Verfahren: Eine Mischung aus 1 Mol. p-Toluidin und 2 Mol. Anilin wird unter Zusatz von Salz- säure (weniger als zur Neutralisation nötig wäre), Nitrobenzol als Oxydationsmittel und Eisen als O-Ueberträger mehrere Stunden auf etwa 200° erhitzt, das entstandene Fuchsin mit Wasser aus der Schmelze ausgelaugt und umkristallisiert; das folgende Schema ver- anschaulicht den Vorgang: NH5 H, H H H NH5 H CHa 30 H H H H + 3H20 H + + H H cih.nI H 'h 3 H H H NH2 Uli., H NHo H Farbstoffe 90 o Von den nebenbei eintretenden Reak- 1 aber mit dem orthoständigen H; dadurch er- tionen ist eine theoretisch und praktisch | folgt gleichzeitig mit dem Aufbau des Tri- wichtig: von den beiden beteiligten Anilin- phenylmethankernes die Schließung eines molekeln reagiert nur eines mit dem in p- Akridinringes, es entsteht statt Fuchsin der Stellung befindlichen H-Atom das andere Akridinfarbstoff Phosph in : H NFL H H cih3nI Jh H H CH3 + + H2N! H H + 30 H H H H, C1H. H NH. // C N H H H II H H + 3H20 Zweites Verfahren: I. Anilin wird mit Formaldehyd zu p-Diaminodiphenylmethan kondensiert: C6H5N C6H5NH2 + HCHO -> C6H5N = CH„+ H20 CH2 + C6H5NH2 -> NH2C6H4.CH2.C6H4NH2 II. Diaminodiphenylmethan wird mit salzsaurem Anilin unter Zusatz von Nitro- benzol und Eisenchlorid verschmolzen: NH,C1 H2N XII C1H + 2H20 Parafuchsin ist sehr farbkräftig, zieht auf Seide und Wolle direkt mit der bekannten blaustichig roten Farbe, auf Jute ebenso, auf Baumwolle aber nur unter Vermittlung einer Gerbstoffbeize mit weit blauerem und trübe- rem Ton. Die Färbungen sind sämtlich mangelhaft lichtecht und ganz unecht gegen Alkali und stärkere Säuren, finden aber gleichwohl ausgiebige Verwendung. Den nämlichen Mangel an Lichtechtheit zeigen auch die durch Fällung des gelösten Fuchsins mit Gerbstoffen erhaltenen Lackfarben für Buch-, Stein- und Tapetendruck. Die Säureunechtheit des Fuchsins, des Mala- chitgrüns und der meisten anderen Amino- triphenylmethanfarbstoffe rührt daher, daß nur die Imoniumsalze, also die einbasischen, Farb- stoffe sind, nicht aber die gelblichen Imonium- ammoniumsalze, die durch verdünnte, starke Säuren entstehen : /C6H4NH2 C1H.N = C,H4 = C< ; XCCH4NH2 Imoniumsalz, Fuchsin ,C6H4NH2 C1H2N = C6H4 = C< XC6H4NH3C1 Imoniumammoniumsalz, gelblich Fuchsin ist deshalb verwertbar als Indikator auf freie „Mineralsäure". Die Alkaliunechtheit der nämlichen Farbstoffe erklärt sich durch die C1H2N = C„H4 = C CKH.NHa C6H4NH2 NaOH Tatsache, daß aus den Farbsalzen durch Alkali die farblose Karbinolbase entsteht: > H2N /C6H6NHa C6H4— C< -fNaCl \C6H5NH2 OH 906 Farbstoffe 5 b, Fuchsin. Magenta NH2 C1H2N H H gemischt mitParafuchsin und Ditolylfuchsin. Darstellung: Enthält die Fuchsinschmelze 1. außer p-Toluidin undAnilin noch o-Toluidin wie dies bei rohem „Anilinöl" der Fall ist, so spielt das o-Toluidin die Rolle des Anilins, man erhält nicht nur das von Triphenyl- methan abstammende Parafuchsin, sondern auch das vom Diphenyltolylmethan und teilweise auch das vom Ditolylphenylmethan abstammende Homologe, ein Gemisch, das ein wenig blaustichiger färbt als Parafuchsin, im übrigen aber dieselben zeigt. Noch blaustichiger färbt 5 c. Tritolvlfuchsin NH, H Eigenschaften C1H2N CH3 H H Y H CH (CH3)2NC6H4.CO.C6H4N(CH3)2 + 2HC1 Tetramethyldiaminobenzophenon, Michlers Keton N(CH3)S C1(CH3)2 Messingglänzencle Kristalle, die schön blau- violett färben. Dient zur direkten Färbung von Wolle, Seide und Jute und als Baum- wollfarbstoff auf Tanninbeize, ferner zum Drucken von Wolle und Baumwolle und in der Buntpapierfabrikation; die mit Gerb- stoffen hergestellten Lacke als Farbe im Buch-, Stein- und Tapetendruck, sowie als Anstrichfarbe; ferner als violette Tinte, Hektographen- und Stempelfarbe. Echtheits- eigenschaften wenig besser als bei Fuchsin. 8. Methylviolett B bis 6B. Besteht aus in den Aminogruppen verschieden weit alkylierten Fuchsinen, die durch ein ähnliches Schmelzverfahren wie das Fuchsin aus Di- methylanilin, Methylbenzylanilin usw. ge- Farbstoffe 907 wonnen werden; dabei liefert durch ver- wickelte Oxydationsvorgänge aus den Alkyl- anilinen abgespaltenes Methyl das Metlian- kohlenstoff atoni für den Aufbau des Tri- phenylmethankernes. Die verschiedenen Marken liefern je nach dem Grade der Alkyliernng violette Töne von Rotviolett bis Blauviolett. Der Farbstoff wird ver- wendet wie das Kristallviolett. 9a) Anilinblau, spritlöslich, Spritblau, Gentianablau NHCJL H, H II C1CCH5HN^\/ H H H Yc\/\ H H H NHC6H5 H Darstellung: Parafnchsin wird durch Er- hitzen mit Anilin in Triphenylparafuchsin übergeführt: I. (H2NC6H4)3COH + 3C6H5NH2 -> Triaminotriphenylkarbinol, Parafnchsinbase (C6H5HNC6H4)3COH + 3NH3 Triphenyltriaminotriphenylkarbinol II. (C6H5HNC6H4)3COH + HCl -> (C6H5HNC6H4)2C =C6H4= NHC6H,C1 + H20 Trij)henylparafuchsin Braunrotes, kristallines Pulver, in Wasser unlöslich, in Sprit löslich. Säureechter und mäßig lichtechter, rein blauer Farbstoff, hauptsächlich zum Färben von Firnissen be- nutzt. 9b) Sulfonsäuren des Sprit blau. Verschiedene Sulfonsäuren des Spritblaus finden in Form ihrer leicht in Wasser löslichen Alkalisalze als ziemlich licht- echte, sänreechte, schön blaue Farbstoffe ausgedehnte Anwendung zum Färben von Seide. Wolle und Leder; die Färbungen auf Papier und gerbstoffgebeizte Baumwolle sind weniger echt. Im Handel heißen diese sulfonierten Anilinblaue Wasserblau, Bay- risch Blau, Alkaliblau. Phtaleine. Wertvolle Farbstoffe sind nur solche entstanden durch Wasserabspaltung aus zwei Phtaleine, die einen Xanthenring besitzen, Phenolresten: COOH OH HO1 — > H,0 + sO COOH o 10. Flnorescein, Uranin, Resorcinphtalein H H H "\ H H C 0 H COONa H H ONa H Darstellung: Durch Erhitzen von Phtal- säureanhydrid mit Resorcin auf 200°: 90« Farbstoffe HO1 H H, H + H JoH H COO CO + H h/Nb Hol JoH H H H hI Jcooh H ( H H ^ C o H H OH 2H20 (Für das Fluorescein und seine Abkömmlinge läßt sich statt der p-chinoiden Schreibweise 0 //* V 0 / auch die o-chinoide 0! // C 0 durchführen; im folgenden wird durchweg die p-chinoide Formulierung beibehalten). Fluorescin ist ein braunrotes, in Wasser schwer lösliches Pulver; die leicht löslichen Alkalisalze zeichnen sich durch kräftige grüne Fluoreszenz aus. Der Farbstoff färbt Seide hellgelb mit schöner Fluoreszenz, wird aber seiner geringen Echtheit wegen nicht viel ver- wendet. Die Hauptmenge des fabrikmäßig her- gestelltenFluoresceins dient zur Gewinnung der Eosine. Bemerkenswert ist seine Verwertung zur Erforschung unterirdischer Wasserläufe, wozu es sich durch seine außerordentlich starke grüne Fluoreszenz eignet. Eine lprozentige Lösung des NH4- Salzes ist rotbraun, kaum fluoreszierend; bei einer Verdünnung fQ7rnnn erscheint die Lösung blaßgelb, sehr stark farblos, im grün fluoreszierend, bei kräftig Tageslicht 1 100000ÖÖ0 1000000 fluoreszierend, bei ist im Sonnenlicht die Fluoreszenz noch gut sichtbar und selbst bei täätjtjä Mn nf)ß im Strahlenkegel einer Sammellinse noch sicher wahrnehmbar; d. h. 1 g in Ammoniak- flüssigkeit gelöst und im Wasser eines Sees von 2 km Länge, 1 km Breite und 5 m Tiefe verteilt läßt sich noch bequem erkennen, wenn durch 10 ccm solchen Wassers ein Strahlenkegel Sonnenlicht durchtritt. 11. Eosin, Eosin gelblich H H H H H COONa H Br <) C \ Br o Br ONa Br Darstellung durch Bromierung von Fluorescein. Rote, stahlblau schimmernde Kristallenen, leicht löslich in Wasser mit grüner Fluoreszenz. Färbt Wolle und Seide in prachtvoll reinen Tönen von gelblich Rosa bis Scharlach; dazu zeichnen sich die Seiden- färbungen noch durch gelbgrün schimmernde Fluoreszenz aus. Leider ist die Lichtechtheit ganz ungenügend. Die Lösung dient als rote Tinte, die unlöslichen Blei- und Zinnlacke, auf Tonerde, Schwerspat oder Mennige niedergeschlagen als Ersatz für Zinnober, Krapp- und Karminlacke zu Anstrich- und Druckfarben, die massenhaft verwendet werden; sie sind sämtlich hervorragend schön, billig und unecht. Sehr wertvoll ist das Eosin und seine Verwandten, ebenso wie Fuchsin, Methylviolett und einige ihrer Abkömmlinge Farbstoffe 909 in der mikroskopischen Färbetechnik. Denn je nach Art und Anwendung eines dieser Farbstoffe färbt er bestimmte Zell- und Ge- webebestandteile an oder nicht, läßt sich aus- laugen oder haftet, und macht auf diese Weise Dinge sichtbar und unterscheidbar, die sich ohne solche Färbungen der Beobachtung ent- zögen. Heute weiß schon der Laie, daß z. B. die Bakterienforschung ihre Fortschritte zum guten Teil den mikroskopischen Färbungs- verfahren verdankt (vgl. den Artikel „Mikroskopische Technik"). . Erythrosin H H H ! COONa H c/\/xo/ v JoNa J Darstellung durch Jodieren von Fluores- cein. Färbt Wolle und Seide weit blau- stichiger als Eosin in leuchtenden Tönen von Rosa bis Karmin und wird auch für Baum- wolle auf Tonerdebeize verwendet, ist aber nicht lichtechter als Eosin. Noch blau- stichigere Färbungen liefern die von chlorierten Phtalsäuren abstammenden, als Phloxine im Handel vorkommenden Eosine. 13. od am in B II h/Nb hI Jcooh H \ H (CaH5)2 // C H H 0 C2H5)2 H Darstellung durch Erhitzen von Phtal- säureanhydrid mit Diäthyl-m-Amino- phenol, analog der Fluoresceinsynthese. Grüne Kristalle oder braunrotes Pulver, lös- lich in Wasser mit roter Farbe und gelbroter Fluoreszenz; liefert auf Seide und Wolle un- gewöhnlich feurige, reine Färbungen von hellem Rosa bis zu Karmin, die viel echter als die Eosinfärbungen und auch echter als die früher mit Cochenille hergestellten Fär- bungen sind und in Färberei und Druckerei sehr ausgedehnte Anwendung finden. Auch die Färbungen auf Baumwolle mittels Alu- miniumbeizen sind leidlich echt, wenn auch weniger schön. Die Seide zeigt außer der feurigen Färbung noch besonders schöne, rotgelbe Fluoreszenz. 14. Gallein, Alizarinviolett Darstellung: Durch Erhitzen von Gallus- säure mit Phtalsäureanhydrid auf 200°: 2(HO)3C6H2.COOH + C6H/ >0 XJCK ,H0 CdH4COOH -> ^C6H2 = C-C6H2(OH), + 2COo + 2H20 u ^ 0 " Rotbraunes, metallisch grün glänzendes beize zum Färben und Drucken von Wolle und Kristallpulver, fast unlöslich in kaltem | Baumwolle mit sehr guten Echtheitseigen- Wasser. Tief violetter Farbstoff auf Chrom- schatten. 91.0 Farbstoffe 15. Coerulein, Alizaringrün H Darstellung: Durch Erhitzen von Gallein mit konzentrierter Schwefelsäure auf 200°: C6H4COOH HO | >6H2 = C-C6H2(OH)2 0^ HO ■> H20+ \c6Ha 0- C6H4-CO I I C= =C6H(OH2) 0 Die Wasserabspaltung erfolgt unter Schließung eines Anthrachinonringes, so daß das Coerulein gleichzeitig einen Triphenyl- methan-, einen Xanthen- und einen Anthra- cenkern enthält. Blauschwarzes, kupferrot schimmerndes Pulver, fast unlöslich in Wasser. Ausgezeich- net echter Beizenfarbstoff, der auf Aluminium- beize ziemlich rein hellgrün, auf Chrombeize dunkel olivgrün färbt und für Seide, Wolle, Baumwolle und Leinen zum Färben und Drucken gebraucht wird. B. Akridinfarbstoffe. 16. Phosphin, Chrysanilin NH, H H H H H H H // cih2n^\/\n H H NH, H gute Echtheitseigenschaften besitzen. Durch- weg hochmolekular und in Wasser kaum löslich, bilden sie mit Schwefelnatrium in Wasser kolloidale Lösungen, aus denen sie auf Baum- wolle aufziehen und nach einem meist durch Aushängen an die Luft bewirkten Oxydations- prozeß waschecht haften. Ueberwiegend er- hält man mit den Schwefelfarbstoffen stumpfe Töne von Braungelb, Oliv, Dunkel- blau, Dunkelgrün und Schwarz. Dargestellt werden die Schwefelfarbstoffe durch Ver- schmelzen von Nitro- oder Aminophenolen mit Schwefel und Sehwefelnatrium. Als Vertreter seien genannt: Schwefelschwarz, Immedialblau, Inimedialschwarz, Katigen- indigo, Auronalgelb. b) Flechtenfarbstoffe. Die Mutter- substanz dieser Farbstoffe ist das Orcin Darstellung: Nebenprodukt der Fuchsin- schmelze, s. Nr. 5 a. Aus der Fuchsin- mutterlauge kristallisiert nach Zusatz von Salpetersäure das Nitrat als rotgelbes Kri- stallpulver. Wird hauptsächlich in der Leder- färberei zur Herstellung befriedigend echter Töne zwischen rötlichgelb und dunkel braun- orange verwendet. V Farbstoffe unzureichend be- kannter Struktur. a) Schwefelfarbstoffe. Unter dieser Bezeichnung versteht man eine Anzahl von technisch wichtigen Farbstoffen, die Baumwolle direkt färben und teilweise sehr welches frei oder in einfachen Abkömmlingen in vielen Flechten (Roccella-, Lecanora-, Variolaria-Arten) vorkommt und unter der Einwirkung von Ammoniak und Luft in das gefärbte und färbende Orcein sich um- wandelt. Orcein ist ein Beizenfarbstoff, der mittels Aluminium- und Zinnbeizen auf Seide und Wolle ein schönes Rot und Rotviolett erzeugt, das trotz seiner Liehtunechtheit bis heute noch durch den Wettbewerb ahn lieh färbender Azofarbstoffe erst teilweise verdrängt ist. Ueberläßt man die nämlichen Flechten einer längeren Gärung, so erhält man den Lakmusfarbstoff, der heute ganz auf den Gebrauch als Indikator beschränkt ist. Farbstoffe 911 c) Cur cu min. Curcumin ist der gelbe Farbstoff der Curcumawurzel, der durch Al- kali in rotbraun umschlägt und deshalb als Indikator dient, früher aber zum Gelbfärben von Seide, Baumwolle und Papier viel ge- braucht wurde. d) Catechu, Cachou. Catechu heißt ein Farbstoff, der neben verschiedenen Gerbsäuren in den Auszügen aus dem Holz von Acacia catechu und Uncaria Gambir sowie aus der Frucht der Arekapalme vorkommt. Der unlösliche Gerbstoff entsteht durch Oxy- dation der löslichen Catechinsäure und gibt ein Braun, Oliv. Grau und Schwarz von vorzüglicher Echtheit. Deshalb findet er zum Färben und Bedrucken von Baumwolle eine ausgedehnte Anwendung. 8. Analytische Erkennung und quan- titative Bestimmung von Farbstoffen. Die Erkennung von Farbstoffen auf der Faser oder in Substanz ist eine Aufgabe, die dem Färbereichemiker sehr häufig gestellt wird und die sich trotz der großen Anzahl im Handel befindlicher Farbstoffe meist als lösbar er- weist, oft in kurzer Frist mittels weniger Reaktionen. Es gehören aber dazu gründ- liche allgemeine Kenntnisse in der Chemie und große Erfahrung auf dem Gebiete der Farbenchemie, und hier läßt sieh lediglich kurz andeuten, welche Mittel für diesen Zweck zur Verfügung stehen. Jeder Farbstoff hat in Lösung ein ganz bestimmtes Absorptions- spektrum und für einige sind ihre Absorp- tionsbänder so kennzeichnend, daß man sie daran sofort im Spektroskop erkennt; für andere trifft das zwar nicht zu, aber sie verraten sich durch auffällige Aenderungen, die ihr Spektrum durch Zusatz von Säuren, Alkalien oder Metallsalzen erleidet; wieder andere eignen sich überhaupt wenig für spek- troskopische Beobachtung. Erschwert wird die Untersuchung selbstverständlich, wenn nicht ein einziger, sondern Gemische mehrerer Farbstoffe vorliegen. Darüber unterrichtet in der Regel ein einfacher kapillaranalytischer Versuch ausreichend: Man hängt Filtrier- papierstreifen so auf daß sie mit ihrem unteren Ende in die Farbstofflösung ein- tauchen; ist nur ein Farbstoff vorhanden, so steigt die Lösung mit einheitlicher, nur stetig blasser werdenden Farbe im Streifen in die Höhe, sind es aber mehrere, so ist die Geschwindigkeit des Aufsteigens und die nach längerer Zeit erreichte Höhe für die einzelnen Farbstoffe verschieden und die Färbung der Streifen ändert sich Schritt für Schritt. Schon ohne spektralanalytische Beob- achtung erkennt man viele der häufigsten Farbstoffe auf der Faser wie in Substanz durch ihr Verhalten gegen neutrale Lösungsmittel —Wasser, Alkohol, Aether — , durch Fluores- zenzerscheinungen, durch die Färbung ihrer Lösung in konzentrierter Schwefelsäure, durch Farbenänderungen auf Zusatz von Alkalien, Säuren, Beizenlösungen, Oxyda- tions- und Reduktionsmitteln, durch die Fähigkeit Wolle anzufärben, Baumwolle aber nicht und umgekehrt. Zur Veranschau- lichung ein einziges Beispiel: Braunrotes Pulver, in Wasser tiefrot löslich; erweist sich durch Kapillaranalyse als einheitlich. Färbt Wolle aus saurem Bade tiefrot au, laßt aber Baumwolle ungefärbt. Verdünnte Säuren und Alkalien bewirken keinen Farbenumschlag. Vermutlich ein roter Azofarbstoff. Durch Kochen mit Zinkstaub und Salzsäure wird die Verbindung entfärbt und scheidet einen weißen Niederschlag aus, der sich als Naphtionsäure erweist; in Lösung bleibt ein salzsaures Salz, durch Acetylierung und die leichte Oxydierbarkeit zu jS-Naphtochinon als salzsaures l-Amino-2- Naphtol zu erkennen. Hiernach muß der ur- sprüngliche Farbstoff hergestellt sein durch Kuppelung von diazotierter Naphtionsäure mit /J-Naphtol. Denn Azofarbstoffe liefern bei kräf- tiger Reduktion keine Leukokörper, sondern spalten sich stets derart, daß man die ursprüng- lich diazutierte Komponente, das primäre Amin als solches, die damit gekuppelte andere Kom- ponente um eine Aminogruppe reicher zurück- erhält. Der untersuchte Farbstoff ist also Echt- rot A, der Azofarbstoff Nr. 7 (S. 881), welcher sich nach der Gleichung spaltet: + 4H Zur quantitativen Bestimmung eines Farbstoffes hat man zwei Wege, die sich gegenseitig ergänzen: 1. Man vergleicht mittels eines Kolori- meters eine Lösung des betreffenden Farb- stoffes von bekanntem Gehalt mit einer solchen des zu untersuchenden, was aller- dings oft Schwierigkeiten bietet, wenn sie infolge von Beimengungen verschiedener Art verschiedene Farbentöne zeigen. Denn nur gleiche Farbentöne von verschiedener Stärke lassen sich kolorimetrisch ohne gröbere Fehler miteinander vergleichen, nicht aber beispielsweise ein rotstichiges mit einem reinen Blau. 2. Man macht Probefärbungen und ver- 1)12 Farbstoffe — Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) gleicht die mit bestimmten Mengen des einen Farbstoffs als Typ hergestellte Ausfärbung mit der des zu untersuchenden, ein Verfahren, das jedoch die sachkundige Hand und das geübte Auge des Farbenchemikers er- fordert. 9. Geschichtliches und Statistisches. Zwei der echtesten und schönsten orga- nischen Farbstoffe, Krapp und Indigo, sind seit Jahrtausenden bekannt, denn schon die alten Aegypter verstanden damit Gewebe rot und blau zu färben. Der erste künstlich her- gestellte, aber zunächst kaum praktisch ver- wertete Farbstoff war die Pikrinsäure (1771). Auf Anregung von A. W. Hoff mann fanden Perkin 1856 das jetzt kaum mehr gebrauchte Mauvein, Verguin und Renard 1858 das Fuchsin. 1864 und 1866 kamen die ersten Azofarbstoffe, Aminoazobenzol und Chry- soidin, in Handel, 1867 durch Poirrier und Chapat das Methylviolett. 1869 fanden Graebe und Liebermann die Darstellung des Alizarins aus Anthracen und damit das erste und ungeheuer wichtige Beispiel des Aufbaues eines hervorragend wertvollen Pflanzenfarbstoffes aus einem Teerkohlen- wasserstoff. Von 1874 an begann die tech- nische Darstellung der von A. Baeyer ent- deckten Phtaleine, 1877 die des durch Caro entdeckten Methylenblaus und des von E. und 0. Fi s c h e r und von D 0 e b n e r aufgefundenen Malachitgrüns. 1879 führte R. Nietzki mit dem Biebricher Scharlach den ersten Disazofarbstoff in die Technik ein. 1880 nahm A. Baeyer das erste Patent auf die Synthese von Indigblau; doch dauerte es noch 18 Jahre, bis von den zahlreichen auf- gefundenen Verfahren das Heu mann sehe in zwei verschiedenen Ausführungs weisen die Darstellung des Indigblaus im großen ge- stattete und der künstliche Indigo seinen Siegeszug antrat. 1884 fand Böttiger die vom Benzidin abstammenden, Baumwolle ohne Beize färbenden Disazofarbstoffe, 1893 Vi dal den ersten schwarzen Schwefelfarb- stoff und seit 1900 hat das Gebiet der Schwe- felfarbstoffe wie der Indigofarbstoffe einen ungeahnten Ausbau erfahren. Die Industrie der Teerfarbstoffe hat ihren Ausgang von England und Frankreich genommen, ihre großartige Entwickelung aber in Deutschland gefunden, so daß Deutschland, welches noch vor 50 Jahren alle seine Farbstoffe aus dem Ausland beziehen mußte, heute diese fast ausschließlich selbst erzeugt und noch für 160 Mill. M. jährlich ausführt. Mußte früher Deutschland den Krapp aus südlicheren Ländern kaufen, so stellt es sich seit 1872 seine Alizarinfarbstoffe selbst her und deckt noch den größten Teil des Bedarfs anderer Länder. Der nämliche Vorgang spielt sich seit 1900 mit dem Indigo ab. Die Gesamterzeu- gung an Pflanzenindigo betrug etwa 9 Mill. kg jährlich mit einem Gehalt von etwa 5 Mill. kg Indigblau im Wert von rund 100 Mill. M.; davon führte Deutschland für 20 Mill. M. ein. Heute stellt Deutschland seinen ganzen Bedarf aus einheimischen Rohstoffen selbst her und führt noch für über 10 Mill. M. Indigblau aus; dabei ist der Preis des reinen Farbstoffs von 20 M. auf 6 M. für das kg gesunken, so daß der schöne echte Farbstoff mit ähnlich färbenden, billigen und unechten Farbstoffen erfolg- reich in Wettbewerb treten kann. Die glänzenden Fortschritte der Teer- farbenindustrie beruhen, wenn man alle kauf- männischen und volkswirtschaftlichen Zu- sammenhänge ausschaltet und nur die rein chemische Seite betrachtet, keineswegs auf Entdeckungen im gewöhnlichen Sinne, auf glücklichen Funden, sondern sie sind in rastloser Arbeit Schritt für Schritt ziel- bewußt errungene Erfolge, fast in jedem ein- zelnen wichtigen Falle zunächst rein wissen- schaftlicher, dann wissenschaftlicher und technischer Art in engem Verein unter ge- wissenhafter Beobachtung und Erforschung aller auftretenden gewollten und nicht ge- wollten Reaktionen. Literatur. H. Th. Buchever, Die Mineral-, Pflanzen- und Teerfarben. Leipzig 1911. — R. Möhlau und H. Th. Bucherer, Farben- chemisches Praktikum. Leipzig 1908. — R. Nietzki, Chemie der organischen Farbstoffe. Berlin 1905. — G. Schultz und P. Julius, Tabellarische Uebersicht der künstlichen orga- nischen Farbstoffe. Berlin 1902. — E. Risten- part, Organische Farbstoffe. Leipzig 1911. — H. Wichelhaus, Organische Farbstoffe. Dres- den 1908. K. Elbs. Farne im weitesten Sinne. Pteridophyta. Einleitung. 1. Filicales. a) Beschaffenheit und Gestalt des Sporophyten. b) Vergleichende Anatomie des Sporophyten. c) Aderung des Blattes, d) Epidermale Anhangsgebilde, e) Stel- lung der Sori. Lage und Anordnung der Sporangien. f) Schutzvorrichtungen des Sorus. Indusium. g) Struktur der Sporangien. h) Ge- stalt und Häute der Sporen, i) Apikale Meri- steme und Primordien der Sporangien. k) Pro- thallium. 1) Antheridium. m) Archegonium. n) Embryo. Beschreibung der Hauptfamilien. A. Simplices. B. Gradatae und Mixtae. 2. Ecpii- setales. 3. Lycopadiales. A. Eligulatae. B. Ligulatae. 4. Sphenophyllales. Einleitung. Die Gruppe der Pterido- p hyten(Farnpflanzen)umfaßt diejenigen Ge- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 913 fäßpflanzen, welche keine Samen tragen. Die Samenpflanzen sind sicher von Ahnen herzu- leiten, die im wesentlichen Farncharakter tru- gen. Diese Annahme findet eine starke Stütze in der Tatsache, daß gewisse fossile Pterido- phyten (vgl. den Artikel „Fortpflanzung der Pflanzen") Organe trugen, die den Samen der höheren Pflanzen sehr nahe stehen ; auf der anderen Seite finden wir Samen- pflanzen, die in ihrem vegetativen Auf- bau und in ihrem Fortpüanzungsmodus außerordentlich gewissen Pteridophyten ähneln, die keine Samen bilden. Die Pterido- phyten sind Gefäßpflanzen und zeigen in ihrem ganzen Aufbau deutlich, daß sie an das Leben auf dem Lande angepaßt sind. Dementsprechend kann man sie als die primitivsten unter den Pflanzen betrachten, die in das Leben auf dem Lande angepaßt sind. Andererseits aber zeigen die einfacheren Vertreter der Gruppe in den beiden Gene- rationen (Gametophyt und Sporophyt) große Uebereinstimmung mit den Bryophyten (vgl. den Artikel „Fortpflanzung derMoose und derFarne"). Manche meinen, daß diese Aehnlichkeit auf einen gemeinsamen Ursprung hinweise. Andere denken, daß die beiden Gruppen eine Anpassung an die gleichen äußeren Be- dingungen zeigen, die parallel aber getrennt vor sich gegangen sei; daß nämlich beide sich an das Leben auf dem Lande ange- paßt haben, obwohl sie beide von Wasser- pflanzen herstammen, die wahrscheinlich von der Art unserer heutigen, im Wasser lebenden Algen waren (vgl. den Artikel ,,F o r t p f 1 a n z u n g"). Mag dem sein wie ihm wolle, sicher ist, daß die Pteridophyten in mehr als einer Beziehung die einfachsten Gefäßpflanzen sind. Ferner sagen uns geo- logische Befunde, daß sie einen großen, ja den vorherrschenden Bestandteil der Vege- tation der primären Gesteine ausmachten. Wenn sie es nicht zur Bildung echter Samen gebracht haben, so ist das ein Hinweis darauf, daß sie die Fähigkeit, auf dem Lande zu leben, nicht vollständig erlangten. Sie brauchen noch heute für jeden Befruchtungsakt flüssiges Wasser. Wir können also sagen, daß die Pteridophyten eine Mittelstellung in der Reihe der pflanzlichen Organismen einnehmen (vgl. den Artikel „Fortpflan- z u n g"). Obwohl also die Pteridophyten unter den Landgewächsen nicht die oberste Stelle einnehmen, zeigen sie doch in der Anpassung an ihre Umgebung, wie auch in manchen Fällen in der Zahl ihrer Species, ein über- raschendes Maß erfolgreicher Entwicke- von dem Zeitalter der Pteridophyten zu reden und anzunehmen, daß die heutigen Vertreter dieser alten Stämme degeneriert sind. Das mag für manche von ihnen zu- treffen, es sind ja gewisse Typen, die wir fossil kennen, längst hing. Man pflegt von der Kohlenperiode als Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III ganz ausgestorben. Von anderen dagegen und besonders von dem großen Stamm der Filicales können wir ohne Uebertreibung sagen, daß zu keiner Periode der Erdgeschichte ihre Flora reicher war als gegenwärtig. Die homosporen Filices haben wahrscheinlich in der Jetztzeit den Höhepunkt ihrer Entwickelung erreicht. Die bekannten Pteridophyten setzen sich zusammen aus mehreren getrennten Reihen (Phyla). Zurzeit ist eine Ableitung der- selben voneinander unmöglich, ja es ist zweifelhaft, ob irgend zwei von ihnen ge- meinsame Ahnen hatten. Trotz aller Ver- schiedenheiten im einzelnen zeigen diese Reihen aber doch so viele Analogien mit- einander, daß sie entweder in parallelen Linien sich entwickelt haben, oder daß sie Nachkommen gemeinsamer, allerdings weit zurückliegender Ursprungsformen sein müs- sen. Das alles aber ist heute hypothetisch. Für unsere Zwecke ist es wohl das beste, alle diese Phyla getrennt zu behandeln, sie als parallele Reihen betrachtend. Wir kennen 4 Reihen; es kann jedoch diese Zahl jederzeit vermehrt werden durch die Ent- deckung fossiler, längst ausgestorbener Formen. Die bis jetzt bekannten Phyla sind 1. die Filicales oder Farne im engeren Sinne, 2. die Equisetales oder Schachtel- halme, 3. die Lycopodiales oder Bärlappge- wächse, 4. die Sphenophyllales, einschließlich der Psilotaceae. Ihre Geschichte reicht zurück bis zur paläozoischen Periode, und sie alle (wenn die Psilotaceae zu den Sphenophyllales ge- rechnet werden) sind in der jetzt lebenden Flora unserer Erde vertreten. Das frühe Vorkommen und die lange Geschichte dieser Pflanzen und ihre Zwischenstellung zwischen ihren wasserlebenden Ahnen und der voll- kommen spezialisierten Landflora machen sie für uns besonders interessant. 1. Filicales. Mit diesem Namen werden die Pterido- phyten bezeichnet, deren Blätter im Ver- hältnis zu der sie tragenden Achse groß sind (Fig. 1). Die gewöhnlichen Farne ge- hören hierher. Einen solchen Sproß nennt man megaphyll. Die Vertreter der anderen Reihen haben an den Achsen verhältnismäßig 58 914 Farne im weitesten Sinne (Pterid.oph.yta) kleine Blätter, dementsprechend nennt man sie mikrophyll. Man wird denken, daß die bloßen Größenverhältnisse zwischen dem Sproß und dessen Gliedern kaum eine wissen- schaftliche Grundlage für die Unterscheidung der Filicales von den anderen Gruppen der Pteridophyten ergeben könnten. Aber eine weitgehende Vergleichung zeigt, daß dieser Charakter für die Einteilung ausreicht, daß Fig. 1. Habitus eines Baumfarnes (Alsophila crinita), auf Ceylon wachsend. Verkleinert. Nach Strasburger. er immer zusammentrifft mit anderen weniger deutlich sichtbaren Merkmalen. Zu- dem ergibt die anatomische Untersuchung, daß die Megaphyllie einen entscheidenden Einfluß auf die innere Struktur ausübte, so daß für die Diagnose wichtige Eigen- schaften entstanden. So können wir denn die Megaphyllie der Filicales als das am meisten hervortretende und außerordent- lich konstante Unterscheidungsmerkmal an- nehmen. Die Filicales umfassen mehr und mannig- faltigere Formenreihen als irgendein anderer Stamm der Pteridophyten. Die Zahl der lebenden Species ist ungefähr 7000, und ob- gleich sie an trockenen Standorten selten sind oder ganz fehlen, sind sie doch weit über die Erde verbreitet; wir finden sie über- all, wo einigermaßen genügende Feuchtig- keit vorhanden ist, um das Wachstum der meist zarten Blätter zu gestatten und ihre Entwickelung zu ermöglichen. In klima- tischer Hinsicht kann man sie als typische mesotherme Hygrophyten bezeichnen; denn die meisten verlangen schattige Standorte, wenn auch einige Formen dem Leben an exponiert sonnigen Stellen angepaßt sind. Den ihnen am meisten zusagenden Stand- ort finden sie im Schatten des tropischen Regenwaldes, und dort bilden sie denn auch den vorwiegenden Bestandteil des Unter- holzes. In gewissen Gebieten der Nordinsel von Neu-Seeland ist sogar der Wald selbst aus baumförmigen Farnen zusammengesetzt. Selten kämpfen die Farne erfolgreich gegen die Vegetation der Blütenpflanzen. In den gemäßigten Zonen treten sie mehr und mehr zurück, wenn auch besonders harte Arten, wie z. B. der Adlerfarn (Pteridium aqui- linum), in nördlicheren Gebieten große Flächen bedecken. Von allen Farnen ist er überhaupt der erfolgreichste Konkurrent der mit ihm zusammenlebenden vollkommeneren Samenpflanzen. Gegen die kälteren Gebiete hin nimmt die Zahl der Farnspecies ab. Wir finden ja vereinzelte Formen noch in be- trächtlichen Gebirgshöhen, aber das sind nur spärliche und unbedeutende Vorkommen der im wesentlichen doch mesothermen hygro- phyten Flora der Filicales. Die Geschichte der Fdicales geht zurück bis zur paläozoischen Periode. Wir werden später sehen, daß tatsächlich die meisten der heute lebenden Farngattungen und -arten verhältnismäßig rezenten Ursprungs sind. Aber es gibt doch einige wenige, welche die lebenden Relikte längst vergangener Zeiten darstellen. Das Paläozoikum hatte eine große Zahl von Organismen mit farnähn- licher Beblätterung. Es hat sich jedoch erwiesen, daß ein großer Teil derselben wirkliche Samenpflanzen waren, aus welchen dann die neue Klasse der Pteridospermen (v2jl. den Artikel „Fortpflanzung der Pflanzen") gebildet wurde, und es ist noch gar nicht möglich zu entscheiden, wie viele von den Fossilen, die ähnliche Fortpflauzungs- körper tragen, man noch dazu wird rechnen müssen. Es fragt sich nun also, welche von diesen paläozoischen Fossilien denn eigentlich wirklich die Ueberreste von echten Farnen darstellen. Es wird weiter unten gezeigt werden, daß in den primären Gesteinen mindestens 3Typen vorhanden sind, nämlich dieBotryo- pteridae, gewisse Pecopteriden, und dann noch gewisse Formen, die mit einigen der niedersten Leptosporangiaten verwandt sind. Scott hat in einem speziellen Falle Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 915 den detaillierten Beweis für die homospore Natur dieser Pflanzen erbracht. Er hat bei Stauropteris Oldhamia, einem Fossil, das zu den Botryopterideae gehört, gefun- den, daß die Sporen in dun Sporangium zu keimen vermögen, so wie wir das bei Todea, Tri c h o m an e s und einigen anderen lebenden , homosporen Farnen sehen können. Dieses eine Beispiel schon bildet ein heilsames Korrektiv jener Tendenz, die gleich nach der Entdeckung der Pteridospermen her- vortrat, alle paläozoischen, farnähnlichen Pflanzen als potentielle Samenpflanzen zu betrachten. Natürlicher ist es jedenfalls, alle farnähnlichen Fossilien für echte Farne zu halten, solange bis ihr Pteridospermen- charakter bewiesen ist (vgl. den Artikel ,,Fo r t p f 1 a n z u n g"). Das „onus probandi" haben diejenigen, welche jedem Fossil eine höhere Stellung geben wollen, während andere ruhig ab- warten, bis der Beweis da ist. Aus diesem Grunde wollen wir jetzt die Botryopteriden, gewisse Pecopteriden und einige andere als echte paläozoische Farne vom homosporen Typus ansehen, deren Ent- wickelungsgangsehrwahrscheinlichim wesent- lichen der gleiche war wie der eines modernen Farnes. Das frühe Vorkommen homosporer Farne, welches die Entwickelungstheorie an- nimmt oder gar fordert, erscheint auf Grund des paläontologischen Beweismaterials über jeden Zweifel erhaben. Aber man hat er- kannt, daß sie in der Flora jener Zeiten nicht so massenhaft vertreten waren, wie man zeitweise geglaubt hatte. Die Einzelheiten der Entwickelung ent- scheiden dann die Frage, ob Samenpflanze oder Farn. Die Lebensgeschichte eines typischen homosporen Farnes wird in dem Artikel „Fortpflanzung der Pflanzen (Farne)" an dem Beispiel des gemeinen Schildfarns [Dryopteris, (Nephrodium) Filix mas] be- schrieben und durch Bilder erläutert. Wir sehen dort, daß der Entwickelungszyklus aus 2 Phasen besteht, dem Sporophyt und dem Gametophyt, welche regelmäßig mit- einander abwechseln. Der Sporophyt, die ungeschlechtliche Generation, tritt stärker hervor, und ist das, was man gemeinhin als Farnpflanze bezeichnet. Diese ist verhältnismäßig groß und von kompli- zierter Struktur, sie trägt relativ große, oft mehrfach gefiederte Blätter an ein r Achse, die im Boden durch viele faserige Wurzeln befestigt ist (Fig. 2). Die ganze Pflanze ist durchzogen von einem Gefäßsystem, das wieder ein Beweis für den hohen Grad der Anpassung des Sporophyts an das Leben auf dem Trockenen ist. Wie der Name Sporophyt schon sagt, ist der Endzweck der Farnpflanze der, Sporen zu erzeugen. Diese werden gewöhnlich an der Unterseite der Blätter gebildet und finden sich in Kapseln, die man Sporangien nennt; diese selber wieder stehen meistens in großer Zahl zu Gruppen vereinigtund bilden diesogenannten Sori, die man mit bloßem Auge als bräun- liche Flecken von verschiedener Gestalt und Größe an der Unterseite der fertilen Blätter erkennen kann. Die Verschiedenheiten im Bau der Sori benutzt man bei der Einteilung der Farne (Fig. 2 A, B, C). Wenn die Sporen reif '■\iv».v v-/ . ■ -- - .. - . Fig. 2. Dryopteris (Nephrodium) Filix mas. A Vertikalschnitt durch einen Sorus, das In- dusinm bedeckt die gestielten Sporangien. Nach Kny. B ein Fiederblättchen mit Sori, die noch vom Indusium bedeckt sind. C dasselbe mit etwas älteren Sori mit geschrumpftem In- dusium.* Schwach vergrößert. Nach Stras- burger. sind, vermag der leichteste Wind sie fortzu- führen. Jede Spore kann unter passenden äußeren Bedingungen keimen. Dabei ent- steht immer ein kleiner, grüner, sich selbst ernährender Zellkörper, das Prothallium oder der Gametophyt. Dieser lebt voll- ständig getrennt vom Sporophyt und stellt die Geschlechtsgeneration dar (Fig. 3). Früher oder später bildet er die Sexualorgane, und zwar die männlichen, Antheridien genannt, und die weiblichen, die Archegonien. Bei 58* 916 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Vorhandensein von Wasser öffnen sich die reifen Archegonien und Antheridien, und aus den letzteren werden die Spermatozoiden entleert, die sich im Wasser zu den geöffneten Archegonien hinbewegen und in dieselben eindringen. Die Befruchtung erfolgt durch die Verschmelzung eines Spermatozoids mit dem Ei, das im Archegonium enthalten ist. Die Fusionszelle heißt Zygote; sie bildet den Ausgangspunkt für einen neuen Sporo- Fig. 3. Dryopteris Filixmas. A Prothallium von unten gesehen, ar Archegonien, an Antheri- dien, rh Khizoiden. B Prothallium mit jungem Farn, der mit seinem Fuß an demselben ansitzt. b das erste Blatt, w die erste Wurzel. Vergröße- rung ca. 8fach. Nach Strasburger. phyten, gleich dem vorhergehenden. Wir haben also einen regelmäßigen Wechsel zwischen ungeschlechtlicher und geschlecht- licher Generation. Alle Farne, mit Ausnahme gewisser anomaler Formen, die sich aber nie als wildwachsende Rassen erhalten haben, befolgen und wiederholen diesen Kreislauf der Entwickelung. Man darf wohl annehmen, daß diejenigen fossilen Formen, die man zu den Filicales rechnet, einen ähnlichen Ent- wickelungsgang durchmachten. Für die wissenschaftliche Behandlung der großen Zahl der bekannten Filicales, fossiler und moderner, ist es erwünscht, die- selben soweit als möglich gemäß ihren phyletisehen Verwandtschaften zu klassi- fizieren. Mag auch die Klassifikation heute noch unvollkommen sein, so eignet sich doch keine größere Pflanzengruppe besser für ein solches Verfahren, als die Filicales. Denn wir besitzen von ihnen eine lange Reihe von Urkunden in Form gut erhaltener Fossilien, die bis in die frühesten Schichten der paläo- zoischen Periode zurückgehen, Wir können dieselben verfolgen durch die sekundären und tertiären Gesteine bis zu der Jetztzeit, wo die Filicales in einer größeren Zahl von Arten vertreten sind, als irgendwelche anderen Pteridophyten. Unter den heutigen Vertretern dieser Gruppe finden wir Typen, die denen der frühesten Schichten ent- sprechen, andere, die erst inspäteren Perioden der Erdgeschichte auftraten, und endlich solche, die erst in neueren Zeiten in die Er- scheinung getreten sind. Wenn wir die lebenden Formen miteinander vergleichen in bezug auf ihre Hauptcharaktere, und wenn wir die erlangten Ergebnisse in Beziehung setzen zu den verwandten Fossilien, so wird es außerordentlich wahrscheinlich, daß die Schlüsse, die man so betreffs der Ab- stammung der Filicales zieht, richtig sind. Es ist nun zunächst erforderlich festzu- stellen, welches die Kriterien sind, nach denen die Vergleichung der Filicales zum Zweck einer phyletisehen Anordnung ge- schehen soll, und Klarheit zu erlangen über den relativen Wert der verschiedenen Kri- terien. Der Wert eines Merkmals wird natür- lich in erster Linie abhängen von seiner Konstanz durch lange Reihen hindurch, mit kleinen progressiven Aenderungen. Diese kleinen Aenderungen sind von besonderer Wichtigkeit, wenn wir sehen, daß zwei oder mehr Charaktere in parallelen Linien sich fortentwickeln. Wenn weiter diese Charak- tere physiologisch unabhängig voneinander sind, so ergeben sie noch gewichtigeres phyle- tisches Beweismaterial. Wir werden unten sehen, daß uns eine allmählich zunehmende Menge solchen Beweismaterials heute zur Verfügung steht, das genügt, um wenigstens eine Skizze der wahrscheinlichen Leitlinien der Stammesgeschichte der Filicales zu liefern, wenn es auch noch zu dürftig ist für ein bis ins einzelne vollständiges Schema. Diese Methode bedeutet aber nichts an- deres als die Durchführung des „natürlichen Systems", dessen Gesichtspunkte bei der Einteilung der Blütenpflanzen schon prak- tisch verwertet sind, auch für die Filicales. Die Einteilung dieser letzteren erfolgte zu lange auf sehr beschränkter Basis. Benutzt wurden hauptsächlich Einzelheiten im Bau der reif enSori und der Sporangien, zuwenig Rücksicht wurde auf die Entwickelungs- geschichte genommen. Dazu sind jetzt noch andere Kriterien gekommen. Im folgenden sind die hier benutzten Charaktere zusammen ■ gestellt: 1. Die Beschaffenheit und Gestalt des Sporophyten. 2. Seine Anatomie, be- sonders das Gefäßsystem. 3. Die Aderung des Blattes, 4. Die epidermalen Anhangs- gebilde. 5. Die Merkmale des Sorus, be- sonders seine Lage und die Anordnung der Sporangien. 6. Die Schutzvorrichtungen des Sorus, besonders das Indusium. 7. Die Struktur des Sporangiums, mit besonderer Berücksichtigung des Annulus und der Sporenproduktion. 8. Die Gestalt und die Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 917 Häute der Sporen. 9. Die Charaktere der apikalen Meristeme, einschließlich der Prim- ordia der Sporangien. 10. Das Prothallium, seine Gestalt, sein Scheitel und seine An- hangsgebilde. 11. Die Antheri dien, einschließ- lich der Zahl der Spermatocyten. 12. Die Archegonien, ihre Lage und Struktur. 13. Die Embryologie. Jedes dieser Kriterien soll kurz diskutiert und seine Bedeutung für den Zweck der Ver- gleichung und phyletischen Anordnung der Filicales gewürdigt werden. Und späterhin soll der Versuch gemacht werden, dieselben zu gebrauchen zur Aufdeckung der Richtlinien, welche die Entwickelung der Filicales befolgte. ia) Beschaffenheit und Gestalt des Sporophy t en. Was Gestalt und Beschaffen- heit betrifft, ist der Sporophyt der Filicales zusammengesetzt aus Einheiten, die einfache Sprosse darstellen; das Blatt ist groß im Verhältnis zur Achse und vielfach fein ge- fiedert. Die Pflanzen sind im wesentlichen megaphyll. Damit geht Hand in Hand die Einrollung des Blattstieles im Jugendzu- stand, so daß das Ganze aussieht wie ein Bischofsstab (Fig. 1). Das hängt zusammen mit dem apikalen Wachstum, das für alle Farnblätter bemerkenswert ist; denn durch die Einrollung werden die jüngsten Gewebe nach außen hin geschützt. Der Sproß kann radiär sgin, das ist z. B. der Fall bei den auf- rechten Typen, die ihre höchste Aus- bildung in den Baumfarnen er- reichen (Fig. 1). In anderen Fällen ist der Sproß dorsiventral: dann liegt die Achse schief oder hori- zontal (Fig. 4). Der radiäre Typus dürfte der primi- tivere, der dorsi- ventrale dagegen der abgeleitete sein. Möglich ist, daß im Laufe der Stammes- geschichte wieder holt ein Wechsel von aufrechten zu kriechenden Formen, und umgekehrt, stattgefunden hat. Am Sproß des kriechenden Typus sind die Blätter durch lange Internodien getrennt, während bei den aufrechten Formen die Blätter dicht gedrängt beieinander stehen. Manchmal dringen die fortwachsenden Sprosse in den Boden ein als Rhizome, wie beim Adlerfarn; in anderen Fällen nehmen sie das Aussehen von Ranken an, wie bei Acrostichum scandens. Diese haben wohl ihre Bedeutung, doch sind es wahrscheinlich späte, abgeleitete Zustände. Dasselbe gilt für den kletternden Habitus, den einige Farnblätter zeigen. Die Gattung Lygodium zeigt das besonders; hier bleibt die Achse unterirdisch und die Blattspindeln stellen drahtartige Gebilde von unbegrenztem Wachstum dar. die an Sträuchern und Bäumen hinaufwinden ; daran sitzen dieFiecler- blättchen in kurzen Abständen. In vielen Fällen finden wir bei Blättern und Sprossen der Farne biologische Anpassungen, die den Verhältnissen, wie wir sie bei den höheren Blütenpflanzen antreffen, entsprechen. Bei manchen Famen stellt der einfache Sproß die ganze Pflanze dar. Bei anderen dagegen treten Vervielfachungen auf, sei es durch terminale Verzweigung oder durch die Bildung von Adventivknospen an ver- schiedenen Stellen der Achse und der Blätter. Auf diese Weise kann die Zahl der Sproß- scheitel vermehrt werden und das einzelne Individuum an Umfang und Ausdehnung gewinnen. Die terminale Verzweigung ist meistens dichotom und ist für die primitiveren Formen (vgl. Fig. 53) charakteristisch. ib) Vergleichende Anatomie der Sporophyten (Gefäßsystem). Die ver- gleichende Anatomie, besonders auch des Ge- fäßsystems, erweist sich von Tag zu Tag als wichtigerer Faktor für die phyletischeBetrach- Fig. 4. Ein Teil des unterirdischen Stammes eines dorsiventral gebauten Farnes, Pteridium aquilinum (L.) Kuhn, mit Blättern und Blattstiel- basen. In % natürlicher Größe. Aus Sachs' Lehrbuch. Umwandlungen biologische tungsweise der Filicales. Die Gründe dafür sind einmal darin zu suchen, daß wir bei den Filicales starke Unterschiedein der Anordnung der Leitungsbahnen finden, sodann in der Er- kenntnis, daß ein bestimmtes Fortschreiten von einfacheren zu komplizierteren Stadien im Laufe der Stammesentwickelung statt- gefunden hat. Zudem gehen diese fortschrei- tenden Abänderungen parallel mit solchen bei anderen, ganz verschiedenen Merkmalen. Man darf aber bei der Behandlung ana- 918 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) tomischer Fragen nicht vergessen, daß bei jeder progressiven Entwickelung die Struk tur des Gefäßsystems durch die äußere Gestaltung bedingt wird und ihr folgt, nicht aber umgekehrt. Ferner: der strukturelle Effekt irgendeiner Entwickelung kann er- halten bleiben, selbst wenn die formativen Wirkungen, mit welchen er ursprünglich im Zusammenhang stand, sich geändert haben oder ganz verschwunden sind. Die anatomischen Charaktere folgen nur lang- sam der fortschreitenden Entwickelung und können lange auf demselben Zustand be- harren. Sie haben eine Art phyletischen Beharrungsvermögens. Nach diesen Be- merkungen, die für allePteridophyten gelten, wollen wir zu der vergleichenden Unter- suchung des Gefäßsystems der Filicales über- gehen. Eine Fortentwickelung des Gefäßsystems zeigt sich am meisten in einer Abspaltung selbständiger Gefäßstränge, die sowohl im Stamm als im Blatt getrennt verlaufen. Ganz allgemein deutet ein einfacher Gefäß- strang in der Achse oder im Blatt auf einen relativ primitiven Zustand hin, wogegen eine große Zahl getrennter Stränge für den abgeleiteten Zustand charakteristisch ist. Aber es kann auch Reduktion eintreten, so daß wieder einfache Typen entstehen, die von den primitiven nur schwer zu unter- scheiden sind. Betrachten wir zuerst die Achse, so sehen wir in den einfachsten Fällen den Sproß durch- zogen von einem marklosen Gefäßbündel- kern (Fig. 5): in der Mitte ist das Xylem, das zusammengesetzt ist aus treppenför- migen Tracheiden, mit oder ohne einge- streutem Parenchym. Um jenes herum schließt sich ein Ring von Phloem, der seinerseits wieder umgeben ist von einer Pericykelscheide. Der Abschluß nach außen geschieht durch eine Endodermis. Dieses ganze Gefäßsystem, eingebettet in das um- gebende Gewebe, heißt die Stele; der eben geschilderte primitive Typus wird als pro to- st el bezeichnet, womit eben gesagt sein soll, daß er die einfachsten Verhältnisse darstellt. Man findet ihn bei den alten Farnfamilien der lebenden Gleicheniaceae und Schizaea- ceae, und bei den fossilen Botryopteriadeae. Er tritt auch auf in den jungen Pflanzen verschiedener Farnfamilien, bei denen er im erwachsenen Stadium nicht mehr zu finden ist. Das stimmt überein mit der Rekapitu- lationstheorie. Im Laufe der phyletischen Fortentwicke- lung nahm die Stele an Größe zu. Bei ge- wissen Typen entstand ein markartiger Kern, das Gefäßsystem wurde zum mark- haltigen monostelen. Wir finden das bei relativ primitiven Farnen mit aufrechter Achse, wie bei den fossilen und zuletzt bei den rezenten Osmundaceae (s. Kidston und Gwynne-Vaughan, Fossile Osmundaceae). Jedoch dieses Stadium war weiteren Kompli- kationen unterworfen durch das Eindringen von Parenchym (s. unten). Eine dritte Form der Anordnung ist charakteristisch für die kriechenden Rhizome. Querschnitte durch ein Internodium eines solchen zeigen das Gefäßsystem als voll- ein zentrales Grund- Der Ring besteht aus Xylem, die beiderseits zeigen ständigen Ring, der gewebe umschließt, einer Mittelzone von Fig. 5. Botryopteris cylindrica. Photogra- phie eines Querschnittes durch das paläozoische Fossil. Der solide Xylemkern mit endarcheru Protoxylem ist umgeben von einem sehr gut erhaltenen Phloemband. Der Bau ist typisch protostel. sukzessive umgeben ist von Phloem, Peri- cykel und Endodermis. Dieser Aufbau wird von Jeffrey als amphiphloisch sipho- nostel bezeichnet, oder als solenostel, von Gwynne-Vaughan. Er ist entstanden durch das Eindringen des Blattpolsters in die Stele, gerade über der Insertion jedes Blattes. Gehen diese Gewebsstücke weit genug nach oben und unten, so daß sie in der Längsachse miteinander in Verbindung treten, so er- halten wir einen markartigen Kern, der bei jeder Blattinsertion mit der Rinde in Ver- bindung steht durch eine Oeffnung, die Blattlücke genannt wird (Fig. 6). Wo»die Internodien lang sind, stehen diese Blattlücken in einem gewissen Abstand von- einander. Wo sie aber kurz sind, nämlich in den Fällen, wo das Rhizom sich aufrichtet und die Blätter dichter gedrängt stehen, über- lagern sich die Blattlücken und die ganze Stele nimmt das Aussehen eines offenen Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 919 Netzwerkes an, sie heißt dictyostel. Das sehen wir typisch bei Dryopteris (Nephro- dium) filixmas; der Querschnitt zeigt eine Anzahl von Gefäßsträngen (meristel), die aufrechten Farnstöcken der Jetztzeit (Fig. 7). Schließlich können weitere Komplika- tionen noch auf zwei Arten entstehen: einmal 2 Fig. 6.« Dennstaedtia apiifolia. Habitus, Sporangien, Gefäßbündelverlauf, il Blattfieder erster Ordnung. 2 und 3 Dennstaedtia cicutaria. Nach Baker. 2 Längsschnitt eines Sorus. 3 Fertiles Fiederchen. 4 bis 6 Anatomie. Nach Gwynne-Vaughan. 4 Dennstaedtia punctiloba. Diagramm des Rhizoms, einen Knoten mit der Basis einer Blattspur zeigend. 5 Dasselbe von Dennstaedtia apiifolia. 6 Dasselbe von Dennstaedtia rubiginosa. ringförmig angeordnet sind. Diese Anord- nung finden wir gewöhnlich bei den durch Bildung akzessorischer Stränge inner- halb oder außerhalb des stelären Komplexes. Beispiele hierfür sind das Rhizom von Pteridium aquilinum (Fig. 8), oder die Stöcke der Cyatheaceae. Dann aber auch dadurch, daß noch weitere Lücken bildet werden, oder Perforationen des meri Fig. 7. NephrodiumFilix mas.L. BeinStamm- ende, dessen Blattstiele abgeschnitten sind, b Blattstielquerschnitte, w Wurzeln. C eben- solches Stammende, Bündelnetz (dictyostel) durch Abschälung der Rinde bloßgelegt. D Masche des Netzes (Blattlücke) mit den An- sätzen der Bündel. Aus Sachs' Lehrbuch. ge- ll Fig. 8. Pteridium aquilinum. Querschnitt durch das Rhizom. s konzentrische Meristelen, 1 sklerenchymatische Platten, lp Zone der Skler- enchymfasern, R Rinde, e Epidermis. Vergröße- rung 7 fach. Nach Strasburger. 920 Farne im weitesten Sinne (Pteridöphyta) stelen Aufbaues, durch die dann die größeren Meristelen in noch kleinere Gefäßstränge aufgeteilt erscheinen. Eine Vergleichung zeigt deutlich, daß wir eine fortschreitende Ent- wickelung haben vom protostelen Stadium bis zu weitgehender Zerlegung des Gefäß- systems in Einzelstränge im Stamm der Farne. Eine parallele. Entwickelung finden wir in den Blättern der Farne. Bei den ältesten Typen besteht die Blattspur aus einem ein- zigen fortlaufenden Gefäßstrang, der jedoch bei den ausgestorbenen Botryopterideae und Zygopterideae sehr komplizierte Formen annahm. Bei den primitiven Typen der heute längerten, parallel angeordneten Tüpfeln haben, die den Wänden ein treppen- oder leiterförmiges Aussehen verleihen.'- Das Phloem besteht der Hauptsache nach aus Siebröhren, die oft beträchtliche Weite haben. Die zahlreichen Siebplatten sind auf den Seitenwänden und zeigen so eine den Tracheiden bis zu einem gewissen Grade analoge Struktur. Die anderen Gewebsarten, die zum Aufbau des Sprosses beitragen, sind in ihrer Vertei- lung zu variabel, als daß sie eine sichere Basis zur Vergleichung liefern könnten.! Das gilt besonders für das Sklerenchym, das oft, aber nicht immer, dunkel gefärbte Stränge bildet, deren Lage und Anordnung gewöhn- Fig. bis 3 Längsschnitte durch junge einen jungen Soriis, die beiden 5 7 9. Dicksonia. Sporangienentwickelung. Nach Bower. 1 Sori von Dicksonia Schiedei Baker. 9 Querschnitt durch Lippen des Indusiunis zeigend. 4 bis 7 Sporangien von Dicksonia Menziesii, von vier ver- schiedenen Seiten gesehen. 8 Querschnitte durch Sporangienstiele. 10 Dicksonia Barometz. Nach Gwynne-Vaughan. Teil der Stammstele von innen gesehen, die Abzweigung von drei Blattspuren zeigend. lebenden Farne ist dieser Strang seitlich er- weitert zu einem riemenförmigen Gebilde, das auf Querschnitten hufeisenförmig ge- bogen erscheint. Fortgeschrittenere Formen zeigen denselben aufgelöst in kleinere Stränge, deren Anordnung noch erkennen läßt, daß sie zusammen den einzigen, gebogenen Strang darstellen, von welchem sie herzu- leiten sind. Eine gleiche Aufteilung ist durch die Rachis bis in die Fiedern hinein zu sehen (Fig. 9, io) Was die Gewebselemente betrifft, welche die Gefäßbündel zusammensetzen, so ist eine weitgehende Uebereinstimmung bei den Filicales zu beobachten. Die Hauptmasse des Xylems machen die Treppen-Tracheiden aus, die ihren Namen von den transversal ver- lieh in naher Beziehung zu den Gefäßbündeln steht (Fig. 8). ic) Aderung des Blattes. Beobach- tungen über die Aderung der Blattflächen der Farne haben gegenüber der Unter- suchung innerer anatomischer Charaktere den Vorteil, daß sie mit der Lupe ge- macht werden können und ohne Zuhilfe- nahme von Schnitten. Die Aderung wird zur Vergleichung der Farne schon sehr lange benutzt. So bildete sie einen Hauptbestand- teil der Methode von Presl, in seinem ,,Ten- tamen Pteridographiae" (1836). Desgleichen wurde dieses Merkmal systematisch ver- wendet von Metten ins (Filices Horti Lip- siensis 1856). Neuere vergleichende Unter- zwischen der Aderung lebender suchungen Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 921 *»^% und fossiler Formen hatten das Ergebnis, daß einige der geprüften Typen relativ alt Fig. 10. Relativ pri- mitive T y p e n der Ad e r u n g. A von Adian- tum capillus veneris (Venatio Cyclopteridis). B von Scolopendrium vulgare (Venatio Taeni- opteridis). C Blattseg- ment I. Ordnung von Asplenium adiantum nigrum (Venatio Sphe- nopteridis). D von Polypodium vulgare (Venatio Eupteridis). E von Pteridium aqui- linum (Venatio Neuro- pteridis). F von Dry- opteris Filix mas (Ve- natio Pecopteridis). Nach Luerssen. und primitiv, andere dagegen neueren Ur- sprungs sind und abgeleitete Formen dar- Fig. 11. Höhere Typen der Aderung, mit anastomosie- renden Adern. A und B Venatio Goniopteri- dis. A Teil eines Blatt- segmentes von Menis- cium reticulatum Sw. Natürliche Größe. B Teil eines Sekundär Segmen- tes von Asplenium es- culentum Pr. Natürliche Größe. C Teil einesBlatt- segmentes von Polypo- dium nereifolium Schk. (Venatio Goniophlebii). D Teil eines Segmentes I. Ordnung des Blattes von Hemitelia grandi- folia Spr. (Venatio Pleocnemiae). ^natür- liche Größe. E Teil eines Blattes von Poly- podium caespitosum Lk. (Venatio Cyrtophle- bii). F Blatt von Poly- podium serpens Sw. (Venatio Marginariae). G Teil aus einem Pri- märsegmente von Wood- wardia radicans Sw. (Venatio Doodyae). H Teil eines Blattes von OnocleasensibilisL. (Ve- natio Sageniae). J Teil eines Blattes von Poly- podium sporodocarpum W. (Venatio Phlebodii). K Teil eines Blattes von Polypodium crassif olium L. (Venatio Anaxeti). L Teil eines Blattes von Polypodium quercif oli- um L. (Venatio Dryna- riae). Nach Luerssen , Farnpfanzen. 922 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) stellen. Die Resultate solcher Vrgleichungen sind von Potonie (Engler und Prantl, Natürliche Pflanzenfamilien I, 4, S.480ff.) zu- sammengestellt worden. Für den Typus der Archaeopterides ist danach charakteristisch eine fächerförmige Aderung mit gegabelten Adern, ohne Mittelrippe indenFiederchen. Er ist vertreten vom Kulm an abwärts. Der Typus der Sphenopterides und Pecopterides, cha- rakteristisch für Karbon und Perm, zeigt eine Mittelrippe im Fiederchen, aber noch gegabelte Adern. Die Netzaderung tritt zum erstenmal auf in der Flora 5 (middle Goal Measures) und nimmt in höheren Schichten an Häufigkeit zu. Der fortgeschrittenste Typus ist ausgezeichnet durch ein eng- maschiges Netzwerk, er erscheint zum ersten- mal in der mesozoischen Periode. Aus solchen Zusammenstellungen fossiler Typen und deren Vergleichung mit heute lebenden Formen kann für die Filicales festgestellt werden: daß eine gegabelte Aderung ohne Verschmelzungen einen primitiven Zu- stand andeutet (Fig. 10); daß eine Aderung mit gelegentlichen Verschmelzungen eine Mittelstellung der betreffenden Formen er- weist; und daß endlich ein kleinmaschiges Netzwerk von Adern eine relativ fortge- schrittene phyletische Stellung kennzeichnet (Fig. 11). Das Vorwiegen der gegabelten Aderung ohne Fusionen bei den Marattiaceae, Osmundaceae, Schizaeaceae, Gleicheniaceae stimmt mit obigen Schlüssen überein. id) Epidermale Anhangsgebilde. Zu den epidermalen Anhangsgebilden der Farne sindzuzählen die Haare, mit oder ohne Drüsen, und flache Schuppen, Spreuschuppen oder Ramenta genannt. Oft in ungeheurer Menge und nicht selten beide zugleich vorhanden, bilden sie eine flockige oder spreuige Um- hüllung der jungen Teile der Pflanze, um dann später abgeworfen zu werden. So bilden sie einen Schutz nicht nur gegen extreme Tempera- turen, sondern auch gegen zu starke und unzeitige Verdunstung. Diesen Zwecken dienen die Ramenta natürlich viel wirk- samer als die Haare, und man darf deshalb wohl annehmen, daß sie eine phyletisch jüngere Erwerbung sind als diese (Fig. 12). Die Richtigkeit dieser Annahme wird noch wahrscheinlicher durch die Tatsache, daß wir bei den Botyropterideae Haare finden gerade so wie bei den lebenden Marattiaceae, Osmundaceae, den meisten Schizaeaceae und gewissen Gleicheniaceae. So sehen wir, daß in der Regel die niederen Typen Haare tragen, die höher stehenden dagegen Schuppen. Aber man darf kaum, wie Kühn das versucht hat, alle Polypodiaceae nach diesem Merkmal einteilen (Die Gruppe der Chaetopterides 1882). Es wird unten gezeigt werden, daß die Entwickelung von den Haaren zu den Spreuschuppen mehrmals in verschiedenen Formenreihen vor sich gegangen ist. Man kann also nur bei Vergleichung nahver- wandter Formen schließen, daß Gattungen oder Arten, die Haare tragen, primitiver sind als jene, die Schuppen tragen. Die Tatsache, daß der Uebergang von dem einen zum anderen zusammengeht mit der Fortent- m A Fig. 12. A Spreuschuppe von Cysto pteris fragilis. B Spreuschuppe von Asplenium viride. Vergrößerung etwa 20fach. Nach Sadebeck. wickelung anderer Charaktere, zeigt die Richtigkeit dieser Ansicht. ie) Stellung der Sori. Lage und An- ordnung der Sporangien. Die Beschaffen- heit der Sori ist schon immer bei der Einteilung der Farnebenutzt worden. Bei Organen, deren Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 923 Bau so variabel ist wie hier, ist besonders Wert auf die Eigenschaften zu legen, die durch lange Reihen relativ konstant bleiben. Einer der wichtigsten dieser Charaktere ist die Lage des Sorus. Bei gewissen Botryopteri- wie bei der modernen Osmunda be- decken die Sori die Oberfläche und den Rand sehr dcac eines zu- sammengezoge- nen Sporophylls. Das war wahr- scheinlich der primitive, un- differenzierte Zu- stand. Aber bei einigen anderen frühen Formen nahmen die Sori eine oberfläch- liche Stellung an der Unterseite des Sporophylls ein, wie bei den Marattiaceae und Gleicheniaceae, und dieser Zu- stand ist streng aufrecht erhalten bei den Matoni- neae, den Cya- theaceae (Fig. 13) mit ihren Abkömmlingen wie Dryopteris usw. und ver- wandten Formen wie Woodsia und Ono- clea, und endlich auch bei den Pterideae. Bei anderen sind die Sori streng randständig: die erstgebildeten Sporangien entspringen Fig. 13. Teil eines Fieder- blättchens von Lopho- soria quadripinnata Gmel. , mit superfizialen Sori, die Sporangien jedes Sorus vom gleichen Alter. | eine große Konstanz in der Stellung der Sori bei den genannten Familien, und man muß diejenigen mit randständigen (marginalen') und jene mit flächenständigen (superficialen) Sori als verschiedene Gruppen trennen. Ein zweites Merkmal, das bislang wenig beachtet wurde, ist die Anordnung der Spo- rangien im Sorus, und die damit eng zu- sammenhängende Reihenfolge ihres Er- scheinens. 3 Typen sind zu unterscheiden: die Simplices, bei denen die Sporangien eines Sorus alle simultan gebildet werden (Fig. 13); die Gradatae, mit ganz be- stimmter basipetaler Reihenfolge (zeitlich und räumlich) in der Erzeugung der Sporan- gien (Fig. 15); und die Mixtae, mit zeit- licher, aber nicht räumlicher Aufeinander- folge (Fig. 16). Diese 3 Typen fallen an- nähernd, vielleicht sogar genau, zusammen mit 3 aufeinanderfolgenden geologischen Zeitaltern. So waren die Simplices haupt- sächlich oder vielleicht sogar ausschließlich vertreten in der paläozoischen Periode; die Farne der mesozoischen Periode setzen sich zusammen aus jenen und einem großen Teil der Gradatae, und die große Masse der neueren Farne ist charakterisiert durch den gemischten Typus der Sori (Mixtae). Mögen auch diese 3 Typen im allgemeinen mit den 3 großen Perioden der Erdgeschichte koinzi- dieren, so darf man doch nicht annehmen, daß jede phyletische Reihe sich notwendig über sie alle erstrecken müßte. Zu erkennen ist mehr eine allgemein steigende Entwicke- lung, die in vielen Reihen zum Ausdruck kommt, als irgendein einzelner Fortschritt. if) Schutzvorrichtungen des Sorus. Indusium. Die primitivsten Farne haben alle nackte Sori, d.h., nachdem das eingerollte Blatt sich im Laufe des Wachstums ge- streckt hat, sodaß der Selbstschutz aufhört, Fig. 14. Längsschnitte durch junge Sori von Dicksonia Schiedei Baker. direkt vom Rande des Blattes (Fig. 14). Diese Stellung ist sehr konstant bei den Schizaeaceae, den Hymenophyllaceae, Dick- sonieae und Davallieae, obgleich bei den letzten Abkömmlingen der letzteren ein Uebergang vom Rand auf die Unterseite vorkommt. Abgesehen hiervon finden wir liegen die Sporangien frei da, ohne irgend- welchen eigenen Schutz (Fig. 13). Aber bei vielen der späteren und der abgeleiteten Typen treffen wir Schutzvorrichtungen, welche die jungen Sporangien bedecken Diese werden mit dem Namen Indusium bezeichnet (Fig. 2). Es ist oft angenommen worden, daß das 924 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Indusium, obwohl es bei verschiedenen Farn- gruppen verschiedene Gestalt und Lage annimmt, doch phyletisch durchweg das gleiche Organ ist, d. h. daß es eine morpho- logische Wesenheit ist. Diese Ansicht ist schon a priori unwahr- scheinlich: denn es existierten verschiedene Typen mit nackten Sori, ehe Inclusien in Außerdem sind die Unterschiede in der Lage, im Bau und im Wachstum der Indusien bei verschiedenen Farntypen derartige, daß eine phyletische Gleichwertigkeit ausge- schlossen ist. Es sind bereits mehrere ver- schiedene Typen von Indusien festgestellt worden, und es ist möglich, daß mit fort- schreitender Untersuchung noch weitere Fig. 15. Sporangienentwickelung von Dennstaedtia apiifolia, die basipetale Entwicke- lungsfolge der Sporangien zeigend. Nach Bower. 1 Sorus mit rein basipetaler Entwickelungsfolge. 3 aufspringendes Sporangium derselben, den sehr wenig schiefen Annulus zeigend. 2 und 4 Dennstaedtia rubiginosa Kaulf. 2 Sorus, zeigend, daß die Entwickelungsfolge zunächst basipetal war, später aber gemischt wurde. 4 aufgesprungenes Sporangium desselben, zeigend, daß der Annulus beiderseits vor der Insertionsstelle des Stieles aufhört. die Erscheinung traten, und es ist kein Grund anzunehmen, daß der Schutz bei allen genau in derselben Weise bewirkt worden ist. erschlossen folgende: werden. Bis jetzt haben wir a) Fig. 16. vallia Längsschnitt durch einen älteren Sorus von Da- Griffithiana mit Sporangien verschiedenen Alters. 100 fach vergrößert. Den Typus von Matonia. Dieses Genus steht allein unter ver- wandten Formen; es hat ober- flächlich gelagerte Sori, die ge- schützt sind durch eine schirm- artige Bedeckung. Diese fehlt bei den Gleicheniaceae (von denen dieses Phylum wahrscheinlich abstammt), und bei dem lebenden Dipteris und dem fossilen Lac- copteris. Wir haben es hier wahrscheinlich mit einer Neu- bildung zu tun, die entstanden ist durch Wachstum von der Mitte des Receptakulums aus (Fig. 17, 4, 15). ß) Bei den Cyatheaceengenera Lophosoria und Alsophila sind die Sori nackt, so wie bei dem elterlichen Gleicheniaceen- typus (Fig. 13). Bei Hemitelia Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 925 Fig. 17. 1 Blatt von Matonia pectinata. Nach Diels. 2, 3, 12 Sporangien von verschiedenen Seiten. Nach Diels. 9 Spore. Nach Diels. 4 Längsschnitt durch den Sorus. Nach Diels. 5 bis 8, 10, 11, 13 bis 15 Entwickelung der Sporangien. Nach Bower. jedoch sind sie halb und bei Cyathea ganz umschlossen von einem basalen, häutigen In- dusium, das wir auch wiederfinden beiWood- sia,Onoclea, Peranemau. a. BeiCysto- pteris und bei Dryopteris überwölbt das Indusium einseitig den Sorus, und bei Poly- stichum erscheint es distal am Receptaculum. In allen diesen Fällen ist das Indusium wahr- scheinlich von der Natur eines speziali- sierten Ramentums (Fig. 18). y) Der Typus der Pterideae hat ober- flächlich gelagerte Sori, die vom Rande des Blattes überwölbt werden. Die Ueber- gänge von dem breiten, flachen Blatt mit oberflächlichen Sori bis zu dem verschmäler- ten fertilen Blatt, mit umgebogenem und oft häutigem Rande lassen deutlich den Ur- marginalen Indusiums er- Fig. 18. Sporangienentwickelung von Alsophila und Cyathea. Nach Bower. 1 und 2 Cyathea dealbata Sw. 1 Längsschnitt eines sehr jungen Sorus, die Anlage der Placenta und des Indusiums zeigend. 2 älteres Stadium, die basi- petale Entwickelungsfelgeder Sporangien zeigend. 3 Alsophila atrovirens, junger Sorus, ge- ringe Andeutung einer basipetalen Entwicke- lungsfolge der Sporangien zeigend. 4 und 5 Spo- rangien von Alsophila excelsa, unterhalb 5 ein Querschnitt des Sporangiumstiels. sprung des kennen (Fig. 19). d) Der Typus von Pteridium ist da- durch ausgezeichnet, daß er außer dem marginalen Indusium anderer Pterideae noch ein intramarginales Indusium besitzt; die Vergleichung mit verwandten Formen er- gibt, daß letzteres durch die innige laterale Verflechtung zahlreicher Haare entstanden ist (Fig. 20). e) Der Typus der Farne mit echt mar- ginalen Sori, vertreten bei den Schizaeaceae, Hymenophyllaceae, Dicksonieae und Da- vallieae, zeigt akzessorische Wachstums- gebilde von verschiedener Gestalt, die sich nach Ursprung und Entwickelung als Neu- formationen erweisen, entstanden durch 926 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Auswachsen von Geweben der Blatt- oberfläche (Fig. 14). Wir haben also gesehen, daß sich min- destens 5 verschiedene Arten der Entstehung Fig. '19. Pteris aculeata Sw. G Fieder mit Fruktifikation und Deckrand. H Teil derselben, stärker vergrößert. Nach Die s. der mit dem Sammelnamen Indusium be- zeichneten Schutzvorrichtungen verfolgen lassen. Infolgedessen kann dieses Wort nur in dem allgemeinen Sinne gebraucht werden, als damit Gebilde bezeichnet werden sollen. cales handen gewesen sein müssen. Fig."20. Pteridium aquilinum (L.) Kühn: Rezepta- kulum mit den beiden indusialen Bedeckungen. Nach Luer ßen. die zum Schutze der Sporangien im Sorus entwickelt worden sind. Was sie gemeinsam haben, ist einzig ihre Funktion und ihr ge- wöhnlich zarter Aufbau. ig) DieStruktur der Sporangien. Die Sporangien sind das wichtigste in dem Sorus : und da sie bei den heute lebenden Farnen in jedem voll- ständigen Entwicke- luugsgang eines Indi- viduums konstant auftreten, so folgt, daß sie durch die ganze Stammesent- wickelung der Fili- hindurch vor- Ihre Struktur bildet deshalb ein Hauptkriterium der Ver- i gleichung, und zwar schon seit sehrlanger Zeit. Diese ist jedoch sehr variabel sowohl in Größe, | Gestalt und Bau. als auch in der Zahl der gebildeten Sporen. Die bestehen- den Unterschiede liefern eine sehr wichtige Unterlage für die phyletische Betrachtung der Fili- cales. Es war gebräuchlich, die beiden Typen der Leptosporan- giatae und derEusporangiatae zu unterscheiden, je nach der Entstehung der Sporangien aus einer oder mehreren Elterzellen. Aber vergleichende Beobachtungen zeigen, daß diese Unterschiede nur graduell sind. Der Ueber- gang vom einen zum anderen ist durch die Diagramme der Figur 21 a bis g dargestellt, die die ersten Teilungen zur Bildung der Sporan- bei verschiedenen Farn- typen zeigen, von den Marattiaceae bis zu den Polypodiaceae. Es wird gien nun allgemein ange- Fig. 21. Diagramme, welche die verschiedenen Farnen zeigen, pteris, c Alsophila, d Schizaea, manes, e, f Todea, Teilungen der Sporangien bei a Polypodiaceae, b Cerato- e Thyrsopteris oder Tricho- 5 Angiopteris. nommen, daß die massi- geren Eusporangiaten phylogenetisch älter sind, und daß die Farne mit kleineren Sporangien spä- tere und abgeleitete Typen darstellen. Die Zahl der in einem Spo- rangium gebildeten Sporen ergibt annähernd ein Maß für die Masse und den Umfang des Sporangiums selbst. Sehr große Sporenzahlen sind schätzungsweise ge- funden worden in den Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 927 großen Sporangien der Marattiaceae: z. B. 1500 bei Angiopteris oder 7500 bei Kaul- fussia; andere Simplices wie Gleichenia und Osmunda mit ungefähr 500 oder Lygodium und Todea mit ca. 250 Sporen nehmen eine mittlere Stellung ein; bei den Polypodiaceae endlich, die im wesentlichen moderne Typen sind, ist die Zahl der Sporen eines Sporangiums ge- wöhnlich 64 oder 48 und kann herunter- gehen bis auf 24 oder 16. Wir sehen also im Gefolge der fortschrei- tenden Entwickelung eine Reduktion der Sporenzahl. Damit geht Hand in Hand eine zunehmende Spezialisierung des Annulus, jenes Ringes aus mechanisch wirksamen Zellen, der die Ausstreuung der reifen Sporen veranlaßt. Bei den eusporangiaten Farnen, einschließlich der frühen Botryopterideae, er- scheint das mechanische Gewebe als ein breiter Ring, der über das distale Ende der Sporan- gienkapsel hinwegläuft. Es besteht aus meh- reren Zellreihen, und es scheint, daß der vielreihige Annulus der vorherrschende, wenn auch nicht der ausschließliche Typus in der paläozoischen Periode war. Durch Uebergänge hindurch kann die Verein- fachung des Annulus verfolgt werden bis zu dem Zustande, wie wir ihn bei den rao- — wie bei den Gradatae — zahlreiche Sporan- gien in basipetaler Reihenfolge stehen, eine laterale Dehiszenz, die aber noch durch einen schief verlaufenden Annulus bewirkt wird. Die Sporangien konnten sich so vom Receptakulum schief nach außen hin öffnen, wie das Figur 22 B, C andeutet. Die laterale Dehiszenz kann für einen phyletischen Fortschritt gehalten werden; zusammen mit dem schiefen Annulus charakterisiert sie die Gradatae. Einen weiteren Schritt vorwärts sind die Mixtae, der Typus unserer heutigen Farne. Bei ihnen ist die basipetale Ent- stehungsfolge der Sporangien wieder ersetzt durch die dicht gedrängte Anordnung mit einer Mischung der verschiedensten Alters- stufen, und alle Sporangien sitzen auf einem flachen Receptakulum. Der Annulus hat eine vertikale Lagerung angenommen (Cathetogyratae) (Fig. 22 A), die laterale Dehiszenz ist beibehalten. So können sich die Sporangien vom Receptakulum vertikal nach außen hin öffnen. Auf diese Weise finden also die angenommenen Stufenfolgen der phyletischen Fortentwickelung des Sporangiums eine gute biologische Erklärung. Ueberclies koinzidieren dieselben mit den paläontologischen Tatsachen. Man kann demnach zusammenfassend schließen: das Fig. 22. Sporangien. A Dryopteris (Nephrodium) Filix mas; an der Basis ist ein Drüsenhaar. B, C Alsophila armata, von zwei Seiten gesehen. D Aneimia caudata. E Osmunda regalis. A bis D 70 fach vergrößert, E 40 fach. Aus Strasburgers Lehrbuch. dernen Polypodiaceae antreffen, wo er aus einer einzigen Reihe weitspezialisierter Zellen besteht (Fig. 22). Bei den eusporangiaten Farnen erfolgte die Oeffnung durch einen medianen Längsriß. Mediane Dehiszenz finden wir auch bei den primitiven Farnen, von denen leptosporangiate Reihen, wie die Osmun- daceae, abstammen (Fig. 22 E). Sie wurde gewöhnlich bewirkt durch einen Annulus. der schief war (Helicogyratae) wie bei Gleichenia. Aber bei dieser Art des Auf- springens, wie sie für die Simplices charak- teristisch ist, brauchen die Sporangien einen gewissen Spielraum; sie ist also nicht ge- eignet für einen dichten Sorus. Dement- sprechend finden wir in den Fällen, in denen primitive Sporangium war eusporangiat und erzeugte viele Sporen; es zeigte longitudinale Dehiszenz und einen gewöhnlich vertikalen Annulus aus mehreren Zellreihen. Ein mittlerer Zustand weist kleinere Sporangien mit geringerem Sporenerträgnis auf, die lateral aufspringen und einen schiefen Annulus aus einer einzigen Zellreihe besitzen. Das Sporangium der phyletisch am höchsten stehenden Farne ist relativ klein und erzeugt, wenig Sporen; es hat einen vertikalen An- nulus, aus einer einzigen Zellreihe gebildet, und zeigt laterale Dehiszenz durch einen transversalen Riß. ih) Gestalt und Häute der Sporen. j Die Gestalt der Sporen und die die Sporen umschließenden Häute sind gut untersuchte 928 Farne im weitesten Sinne (Pterid.oph.yta) Charaktere, die sich sehr für diagnos- tische Zwecke eignen. Hinsichtlich der Gestalt der Sporen lassen sich zwei Haupt- typen erkennen: der radiäre und der bi- laterale. Der erstere ergibt sich aus der tetraedrischen Teilung der Sporenmutter- zelle; er ist gekennzeichnet durch seine an- nähernde Kngelform, 3 konvergierende Linien markieren den Punkt, wo vor der Teilung die Mitte der Sporenmutterzelle lag. Die bilateralen Sporen entstehen, wenn die Sporenmutterzelle sich in 4 Quadranten teilt; bei der Reife sind sie leicht nieren- f örmig. Der radiale Typus ist charakteristisch für die Osmnndaceae, Hymenophyllaceae und für viele Pterideae und Schizaeaceae. Unter letzteren, wie auch bei den Gleichenia- ceae, finden sich gewisse Arten mit bilate- ralen Sporen. Diese Unterschiede können deshalb nicht als allgemeine Kriterien ver- wendet werden; sie haben jedoch ihren Wert bei der Vergleichung von Formen innerhalb engerer Verwandtschaftskreise. Die Häute der Sporen zeigen oft eine eigentümliche, oberflächliche Zeichnung von diagnostischem Wert. Wenn auch bei einigen Farnen die Sporenwand glatt ist, so finden wir doch bei vielen dieselbe außen gezeichnet durch Vorsprünge und Linien, die bei der Vergleichung gut verwendet werden können. Das könnte wohl noch in ausgiebigerem Maße geschehen als bisher. Noch mehr gilt das für diejenigen Struk- turen, welche auf die Entwickelung eines Perisporiums um die normale Wand herum zurückzuführen sind. Hannig (Flora 1911, S. 321) hat ein solches gefunden bei den Aspidiaceae und den Aspleniaceae, bei den meisten anderen Farnen jedoch soll es fehlen. Da es innerhalb offenbar natür- licher Gruppen Ausnahmen hinsichtlich Ge- stalt und Zeichnung der Sporen gibt, so muß man mit der Benutzung dieser Merkmale als Kriterien vorsichtig sein. ii) Apikale Meristeme und Primor- dien der Sporangien. Die apikalen Meristeme und diePrimordien der Sporangien, die sich ganz ähnlich verhalten, ergeben ein Kriterium der Vergleichung, daß bis jetzt nie genug gewürdigt worden ist. Es kann hierbei die anfängliche Organisation jedes Teiles des Sporophyten in Betracht gezogen werden. In Nummer 7 haben wir gesehen, daß das massive Primordium der Sporangien bei den Marattiaceae ganz allmählich übergeht in die sukzessiv immer weniger massiven der Polypodiaceae. Das ist symbolisch über- haupt für alle Meristeme der betreffenden Farne. Eine vergleichende Untersuchung der apikalen Regionen der Achse, des Blattes und der Wurzel ergibt, daß in allen diesen Teilen die Marattiaceae einen relativ kom- plizierten Zustand darstellen, insofern die Gewebe sich in ihrer Entstehung zurück- verfolgen lassen in der Regel auf eine Gruppe von 3 oder 4 Initialen, gewöhnlich von pris- matischer Gestalt (Fig. 23 A). Damit sind zu vergleichen die Teilungen zur Bildung des massiven Sporangiums (Fig. 21 g), die auch nicht auf eine einzige Zelle zurückzu- führen sind. Dagegen finden wir bei den Typen der Polypodiaceae in Stamm, Blatt und Wurzel jeweils eine einzige Initiale von kegelförmiger Gestalt, die bestimmte Tei- lungen eingeht, so daß das ganze Gewebe eines jeden Organs von seiner einen Initialen herstammt (Fig. 23 B). Auch hier finden wir Fig. 23. Starnnischeitel von Angiopteris evecta. Von oben gesehen. Es sind augenschein- lich 4 Initialen (x, x) vorhanden. B Scheitel von Osmunda regalis. Von oben. 1, 1 Blätter; die jüngsten zeigen auch eine dreiseitige Initiale. die gleichen Verhältnisse wieder bei den Teilungen des Sporangiums; das ganze Sporangium der Polypodiaceae geht aus einer einzigen Zelle hervor (Fig, 21a). Zwischen diesen beiden Extremen können gewisse frühe Farntypen eingereiht werden. Von diesen sind bemerkenswert die Osmnnda- ceae, deren Wurzeln nicht konstant eine einzige Initiale aufweisen, während das Blatt eine dreiseitige Scheitelzelle hat an Stelle der einfacheren zweiseitigen. Diese Mittelstellung zwischen den Extremen zeigt Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 929 sich auch bei den Teilungen des Sporangiums der Osmundaeeae (Fig. 21 e, f). das zwischen den Typen der Marattiaceae (Fig. 21 g) und der Polypodiaceae steht (Fig. 21 a). Am einfachsten und überzeugendsten wird das vielleicht demonstriert durch die Flügel oder Ränder der Blätter (Fig. 24). Bei den Marattiaceae zeigt ein Schnitt durch den massiven Rand, daß die Gewebe des- selben nicht auf eine einzige Randzelle zu- rückgeführt werden können (Fig. 24 A). Bei den Osmundaeeae ist es ähnlich (Fig. 24 B) Ein Querschnitt durch das Blatt der Poly- podiaceae ergibt dagegen, daß dort alle Zellen durch regelmäßige Teilungen mittels schiefer Wände aus einer einzigen Randzelle hervorgehen (Fig. 24 C). Die häutigen Hymenophyllaceae zeigen besondere Ver- hältnisse; bei ihnen finden sich in der Regel sehr einfache marginale Teilungen (Fig. 24D). Fig flügel 24. Querschnitte durch die jungen Blatt- verschiedener Farne. A Angiopteris eveeta, mit einem kleinzelligen Meristem am Flügelrande, nicht nur einer einzigen Randzelle. B Todea bar b ata, mit ähnlichem Bau. C Sco lo pendriu m vulgare, regelmäßige alter- nierende Teilungen einer Randzelle (m) zeigend. D Trichomanes radicans, eine Randzelle (m) mit transversalen Teilungen zeigend. jenigen der Marattiaceae in ihrer kompli- zierteren Art, während die Scheitel des Stammes und der Wurzel je eine einzige Initiale aufweisen, gerade wie die lepto- sporangiaten Farne. Dieser Widerspruch kann erklärt werden durch die Annahme einer progressiven, immer massigeren Modi- fikation des Blattes und des Sporangiums bei Pflanzen, die von einem den Ophio- glossace"ae und Botryopterideae ähnlichen Typus herstammen; damit hängt auch der eigentümliche Habitus der Ophioglossaceae zusammen. ik) Prothallium. Das Prothallium, die Gametophytgeneration der Farne, ist in dem Artikel „Fortpflanzung der Pflanzen (Pteridophyta)" kurz beschrieben. Dort ist dazu alsBeispiel genommen das Pro thallium von Dryopteris (Nephrodium) Filix mas; dieses stellt den bei den Polypodiaceae gewöhn- lichsten Typus dar, wie er im Freien unter normalen Bedingungen wächst. In Kulturen wird die Verteilung der modifiziert. Schlecht ernährte Prothallien werden fast faden- förmig, und ganz all- gemein kann man sagen, daß die weniger gut ernährten Anthe- ridien erzeugen, die besser ernährten da- gegen Archego nien. Bei normalen Prothallien kommt das in der Regel so zur Gel- Geschlechtsorgane Bei den meisten Farnen finden wir diese Gleichartigkeit der Teilungen der Scheitel und der Sporangien mit großer Konstanz beibehalten; wir erkennen in ihr eine Tat- sache der allgemeinen Organisation, die phyletischen Abänderungen unterworfen war im Sinne einer Entwickelung von kompli- zierteren zu einfacheren und regelmäßigeren Methoden. Jedoch zeigen die Ophioglossa- jschlechtsorgane ceae eine Abweichung hiervon, die wir bei l einer fleischig verdick- keiner anderen Abteilung der Filicales wieder- \ ten Mittelrippe. Das finden. Bei ihnen sind die Teilungen des der Osmundaeeae ist Blattes und des Sporangiums ähnlich den- ähnlich Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. tung, daß zuerst An- theridien und dann Archegonien gebildet werden. Sonach han- delt es sich hier um Merkmale, die für die Vergleichung nur mit der nötigen Vorsicht zu gebrauchen sind. Nichtsdestoweniger gibt es gewisse Typen von Prothallien, die sich von dem der Poly- podiaceae unterschei- den und ziemlich kon- stant bei den be- treffendenFarnfamilien auftreten. So ist z. B. das Prothallium der Marattiaceae sehr groß und trägt die gebaut. Bei Fig. 25. Prothallium von Ophioglossum vulgatum. anAnthe- Ge_ ridien, ar Archego- au£ nien, k junge Pflanze mit der ersten Wurzel, ad Adventivzweige, h Pilzhyphen. Nach Bruchmann. Aus Strasburger. 59 930 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) den Ophioglossaceae leben die massiven, gewöhnlich farblosen Prothallien unter- irdisch, die Ernährung wird besorgt durch eine Mykorrhiza (Fig. 25). Sie sind wahrscheinlich herzuleiten von einem Typus ähnlich dem der Marattiaceae, die saprophytische Lebensweise ist eine Neu- erwerbung. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Eusporangiaten, die durchweg eine verhältnismäßig massige Organisation ihres Sporophyten zeigen, auch ein ziemlich massiges Prothallium besitzen. Andererseits gibt es Farne mit band- ja selbst fadenförmigen Prothallien. Wir finden sie hauptsächlich unter den Hymeno- phyllaceae, aber auch bei gewissen Schizaea- ceae und bei Vittaria. Den extremsten Fall stellt Trichomanes dar, bei welchem das vegetative Gewebe des Prothalliums mit einer grünen Fadenalge zu vergleichen ist: der einzige massive Teil ist der Archegonio- phor (Fig. 26). Dieser Zustand stimmt Fig. 26. Trichomanes rigidum. Teil des Prothalliums mit einem Archegoniophor, an welchem noch eine junge Pflanze sitzt. Nach Goebel. überein mit dem dünnen und zarten Bau des Blattgewebes bei Trichomanes, und es scheint also, daß die Anpassung an extreme Feuchtigkeit zu einem permanenten Merk- mal bei beiden Generationen geworden ist. Die Tatsache, daß die Gestalt des gewöhn- lichen Polypodiaceenprothalliums unter wechselnden Lebensbedingungen sich leicht ändert, schließt Vergleichungen, die auf die Form des Prothalliums gegründet sind, nicht aus dann, wenn, wie bei Trichomanes, ein Anpassungsmerkmal erblich fixiert ist. So können also, mit der nötigen Vorsicht, Unterschiede in der äußeren Gestaltung der Prothallien zur phyletischen Vergleichung herangezogen werden. il) Antheridium. Das Antheridium, das männliche Geschlechtsorgan eines ge- wöhnlichen Farns der Polypodiaceen, ist ein halbkugeliger Körper, der über die Oberfläche des Prothalliums emporragt. Es besteht im wesentlichen auseinerWand aus tafelförmigen Zellen, die eine Menge kleinerer Zellen, die Spermatocyten, umgibt. Aus jeder der letzteren entsteht bei der Reife ein Spermato zoid (Fig. 27). Eine Vergleichung der Fig. 27. ridium Polypodium vulgare. A reifes Anthe- B entleertes Antheridium. C, D Sperma- tozoiden. Nach Strasburger. Antheridien verschiedener Farntypen ergibt, daß Unterschiede in der Struktur und den Proportionen vorhanden sind, die immer den Charakteren der Sporangien der betreffenden Formen entsprechen. So wie die Sporangien der eusporangiaten Farne charakterisiert sind durch ihre größere Masse, ihren kurzen Stiel — in einigen Fällen sind sie sogar tief in das Gewebe des sie tragenden Blattes ein- gesenkt — , so sind auch die Antheridien dieser Farne relativ groß und entweder sitzend oder tatsächlich in das Gewebe des Prothalliums eingesenkt. Ein rohes Maß für den Umfang des Antheridiums, oder mehr noch für die Komplexität seiner Struktur, ist numerisch gegeben durch die Zahl der Spermatocyten, die in einem Querschnitt in der Medianebene eines reifen Antheridiums enthalten sind ; oder besser noch durch die wirkliche Zahl der Spermatocyten im ganzen Antheridium. obgleich eine genaue Schätzung dieser Zahl in einem großen Antheridium schwierig ist. Es zeigt sich, daß eine ungefähre, nicht numerisch genaue Beziehung besteht zwischen der Zahl der Spermatocyten und der Zahl der Sporen in den Sporangien bei denselben Farnen: und der weniger robuste Charakter der Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 931 Leptosporangiaten findet seinen Ausdruck auch in den Proportionen ihrer Anthe- ridien. im) Archegonium. Der Bau desArche- goniums,desweiblichenGeschlechtsorgans, ist aus Figur 28 ersichtlich. Er ist in dem Artikel „Fortpflanzung der Pflanzen" genauer beschrieben. Die Archegonien verschiedener Farntypen sind nicht genau gleich. Sie unter- scheiden sich in dem Halsvorsprung und ge- wissen anderen Einzelheiten. Auch finden wir wieder eine rohe Beziehung zwischen den Charakteren der Sporangien verschiedener Farne und denjenigen ihrer Archegonien: bei den eusporangiaten Typen kann das Archegonium tiefer in das Gewebe ein- gesenkt sein als bei den Leptosporangiaten. Obgleich dies ganz allgemein gilt, kann eine auf das Archegonium gegründete Verglei- chung nicht so bis ins Einzelne durch- geführt werden wie das für das Antheridium der Fall war. Ohnehin sind die Merkmale beider Organe nicht von hoher Bedeutung für die vergleichende Betrachtung. in) Embryo. Der Embryo, welcher aus dem befruchteten Ei (Zygote) hervorgeht. Fig. 28. Polypodin m vulgare. A junges, noch nicht geöffnetes Archegonium. K' Halskanalzelle, K" Bauchkanalzelle, o Eizelle. B reifes, geöff- netes Archegonium. Nach Strasburger. stellt das Anfangsstadiuni der neuen Sporo- phytgeneration oder der Farnpflanze dar. Sein Bau ist für einen typischen, leptosporan- giatenFarnin zwei aufeinanderfolgenden Ent- wickelungsstadien durch Figur 29 A und B gekennzeichnet. Das ältere der beiden Stadien läßt schon die Anfänge der wesent liehen Teile: Stamm, Blatt, Wurzel und Fuß erkennen, sowohl in der äußeren Form als auch in der inneren Struktur. Die Ernährung des Embryos geschieht zunächst mit Hilfe des Fußes, d. h. eines Saugorgans, das eine physiologische Verbindung mit dem elterlichen Prothallium herstellt. Die Figur 29 A gibt ein Bild von den ersten Teilungen des Embryos, durch welche die Initialen von Stamm, Blatt und Wurzel, die bei den Leptosporangiaten charakte- ristisch sind für diese Organe, entstehen. Wir haben jedoch schon darauf hinge- wiesen, daß bei den eusporangiaten Formen gewöhnlich nicht eine einzige Initiale vor- handen ist, und daß dies ein Zeichen der massigeren Organisation dieser relativ frühen Farne ist. Das ist nun auch der Fall bei den Teilungen ihrer Embryonen, die nach einem „massiveren" Plan vor sich gehen. Die Marattiaceae und die Ophio- glossaceae zeigen das. Und so sehen wir denn durch den ganzen Lebensgang dieser Farne die derbe Organisation im Gegen- Fig. 29. A Embryo von Pteris serrulata, vom Archegonium befreit. Im Längsschnitt, f Fuß, s Stamm, b erstes Blatt, w erste Wurzel. Nach Kienitz-Gerloff. B ein weiter entwickelter Embryo von Pterid iu m aquilinum. f Fuß, noch in den erweiterten Archegoniumbauch aw eingebettet, pr Prothallium. Nach Hof- meister. satz zu der zarteren beibehalten. Die letzt- genannte Familie, die am meisten von den übrigen abweicht, fällt durch den Suspensor auf, ein Organ, mit welchem der junge Embryo tief in das Gewebe des massiven Prothalliums eindringt. Wir sehen ihn bei Botrychium obliquum und bei Hel- minthostächys. Etwas ähnliches ist bei den Marattiaceae und zwar beim Embryo von Danaea beobachtet worden. Dies sind alles relativ primitive Formen. Interessant ist, daß sie uns einen Zustand zeigen, der bei den Filicales selten, dagegen gemein ist bei der sehr niedrig stehenden Reihe der Lycopodiales. Das Gleichgewicht der Entwickelung der Teile des Embryos ist nun aber Aende- rungen unterworfen je nach den biologischen Umständen. Einen sehr instruktiv ist, (in geringerem Grade auch Bo- 59* vulgatum ext reinen Fall, der stellt Ophioglossum 932 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) trychium Lunaria) dar, wo der Embryo schleunigst eine frühreife Wurzel bildet, während die Entwickelung der Achse und des Blattes hingehalten wird. Die junge Pflanze wird hier versorgt durch ein ziem- lich massives Prothallium, bis die Mycor- rhizawurzel fertig ist, um nun die Er- nährung zu übernehmen. Dieser Zustand steht in strengem Gegensatz zu dem, was die leptosporangiaten Farne gewöhnlich zeigen. Bei diesen ist ja das Prothallium relativ klein und der Embryo sucht zuerst ein assimilierendes Blatt zu bilden, das die Ernährung übernimmt, zugleich aber ist auch eine Wurzel erforderlich, die das Wasser und die Salze liefert. Solche Unter- schiede, die in offensichtlicher Beziehung zu den biologischen Erfordernissen stehen, mahnen zur Vorsicht bei der theoretischen Ehnbryologie. Sie weisen darauf hin, daß der Sporophyt in seinen Anfangsstadien merkwürdig plastisch ist in seinen Pro- portionen, die sich ändern, entsprechend den direkten Anforderungen des sich ent- wickelnden Keimlings. Die Hauptmerkmale, die bei der phyle- tischen Betrachtung der Filicales benutzt werden können, sind nun angegeben. Sie können unabhängig voneinander benutzt werden und man wird so aus ihnen Schlüsse von einigem Wert ziehen können. Ueber- zeugenderes Beweismaterial jedoch für phyle- tische Schlüsse ergibt sich, wenn eine Pa- rallelität der fortschreitenden Entwickelung zu erkennen ist bei zwei oder mehreren dieser Merkmale. Und je größer die Zahl letzterer ist, und je klarer sie sich auf physiologisch verschiedene Wesenszüge beziehen, um so annehmbarer wird eine daraus hergeleitete Ansicht sein. Man darf jedoch nicht glauben, daß Parallelität hinsichtlich aller Kriterien herrscht. Der Mangel derselben führt oft zu Meinungsschwierigkeiten. In solchen Fällen kann das paläontologische Beweis- material die Entscheidung geben, so weit es zur Verfügung steht. Denn es liefert positive Tatsachen gegenüber bloßen einander ent- gegenstehenden Meinungen. Aber auch hier ergeben sich Schwierigkeiten, sodaß die Beweisführung oft auf „negativer Evi- denz" beruht. Der Mangel an paläonto- logischen Urkunden von einer gegebenen Form aus einem bestimmten geologischen Horizont beweist ja nicht notwendig, daß diese Form überhaupt nicht existierte zu der Zeit, als jene Schichten sich ablagerten. Man muß immer die Unvollkommenheit der geologischen Urkunden berücksichtigen. Vieles wird ungewiß bleiben: und in Wirk- lichkeit steckt diese Erweiterung der phyle- tischen Methode noch in den Kinderschuhen. Die jetzt gezogenen Schlüsse bezüglich der Filicales können freilich in späteren Zeiten revidiert werden; das eine aber kann mit Bestimmtheit versichert werden, daß diese Methode, so unvollkommen durchgeführt sie auch sein mag, doch eine durchaus ge- sunde und gründliche ist. Und wie schon anfangs bemerkt, eignet sich keine Pflanzen- gruppe besser für diese Art der Betrachtung als gerade die Filicales. Die Anordnung der nun folgenden kurzen Beschreibung der Hauptfamilien der Filicales entspricht denn den Folgerungen, die aus einer Unter- suchung nach den dargelegten Gesichts- punkten sich ergeben. A. Simplices. Darunter sind zu verstehen alle die- jenigen Farne, bei denen die Sporangien, die in einem Sorus vereinigt sind oder aber sonst in naher Beziehung zueinander stehen, alle simultan gebildet werden, so daß sie alle ungefähr von gleichem Alter sind. Mit diesem Merkmal finden sich immer andere zusammen, so die relative Größe und der massige Stiel des Sporangiums; letzterer ist in einigen Fällen sogar tief in das Ge- webe des Sporophylls eingesenkt. Das Sporenerträgnis jedes Sporangiums ist relativ groß, der Annulus, wenn vorhanden, oft von kompliziertem Bau, die Dehiszenz erfolgt durch einen Längsriß. Diese Farne haben nicht immer Sori; wo solche be- stimmt vorhanden sind, fehlt gewöhnlich ein spezialisiertes Schutzorgan. Alle diese und noch andere Charaktere deuten auf einen primitiven Zustand hin. Dichotome Verzweigung der Achse, des Blattes und selbst der Wurzel ist häufig, wenn auch nicht konstant. Die Nervatur der Blätter ist offen, netzartige Vereinigungen sind selten. Als dermale Anhangsgebilde treten gewöhnlich Haare, nicht Schuppen, auf. Der steläre Bau der Achse ist ent- weder protostel oder aber von einem davon abgeleiteten, einfachen Typus (ausgenommen die Marattiaecae), und die Blattspur ist ge- wöhnlich ungeteilt. Am Scheitel der Achse, des Blattes und der Wurzel finden wir häufig eine Anzahl von Initialen, und die dadurch angezeigte massige Organisation ist sogar in den Kanten der jungen Blätter zu erkennen. Das Prothallium ist massig, die Sexualorgane sind tief eingesenkt, die An- theridien enthalten sehr zahlreiche Spermato- cyten. Die Embryologie kennt ebenfalls ziemlich massige Strukturen, ein Suspensor ist jedoch nur in wenig Fällen vorhanden. Alle diese Charaktere zusammen mit denen des Sorus, zeigen an, daß die Simplices weit abstehen von den vorherrschenden Typen der heutigen Farne. Sie umfassen Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 933 Familien, die meist nur durch wenige lebende Genera und Species vertreten sind, manche von ihnen gehen zurück bis zu den Fossilien des Paläozoikums und wieder andere sind überhaupt nur im fossilen Zustand be- kannt. Aus alledem ergibt sich, daß die Simplices die primitivsten Vertreter der Filicales darstellen. Wir teilen sie ein in folgende Familien 1. Coenopterideae. 2. Ophioglossaceae. 3. Marattiaceae. 4. Osmundaceae. 5. Schizaeaceae. 6. Gleicheniaceae. 7. Matonineae. Darin sind alle eusporangiaten Farne eingeschlossen und außerden noch einige Leptosporangiaten. Es steht bis jetzt noch nicht genügend Beweismaterial zur Verfügung, um zeigen zu können, daß irgend zwei der genannten Familien von gemeinsamer Abstammung sind, wie wahr- scheinlich das auch sein mag. So kann man wohl annehmen, daß eine "Verwandtschaft besteht zwischen den Coenopterideae und den Ophioglossaceae, oder zwischen den Gleiche- niaceae und den Matonineae. Aber bei dem jetzigen Zustand der Ungewißheit wird es das beste sein, sie getrennt zu betrachten in der angegebenen Reihenfolge. Die Fa- milien sind jedoch so angeordnet, daß diejenigen, welche die ursprünglichsten Charaktere zeigen, vorangestellt sind; auf die folgen dann jene, welche den gewöhn- lichen leptosporangiaten Farnen näher stehen. 1. Coenopterideae. Der Name ist von Seward (Fossil Plauts, Vol. II, S. 433) eingeführt worden, um die alten Familien der Botryopterideae und Zvgopterideae zu bezeichnen, welche beide nur im fossilen Zustande bekannt sind. Wir finden sie in den Schichten des Devons bis zum Perm, und seitdem sind sie ausgestorben. Die Er- kennung ihrer Farnnatur beruht teils auf ihrer Anatomie, teils auf der schnecken- förmig aufgerollten Knospenlage und auf der Tatsache, daß am distalen Teil wieder- holt gefiederter Blätter zahlreiche Sporangien stehen. Endlich hat Scott gezeigt, daß bei Stauroptens oldhamia Scott die Sporen im Sporangium keimen können, so wie wir das sehen bei Todea und anderen Farnen. Die Coenopterideae unterschieden sich jedoch von den gewöhnlichen Farnen in mehreren Punkten. Der Sproß dieser Pflanzen, wenigstens des größten Teils derselben, war radial ge- baut. Die Achse war dünn im Verhältnis zu den großen Blättern ; sie wurde getragen von stützenförmigen Wurzeln. In manchen Fällen waren viele Axillarknospen zu finden, so wie bei den modernen Hymenophyllaceae.' Die Achse war protostel (Fig. 5), bei den Zygoptendeae war jedoch der zentrale Teil des Xylems differenziert in ein Gemisch von Tracheiden und Parenchym. Der Umriß der Stele war manchmal stern- förmig (Asterochlaena). In den einfacheren hallen scheinen die Blätter vom gewöhn- lichen Typus der Farne gewesen zu sein- bei den großen Zvgopteriden jedoch sind sie von eigenartiger Beschaffenheit, sowohl der äußeren Form als auch des anatomischen Baues Letzterer zeigt sich darin, daß das Bündel des Blattstiels die Form eines „Doppel-Ankers" hat, was damit zusammen- hangt, daß an der Rachis 4 Reihen von Fiederblättchen sitzen. An der Blattbasis und an der Achse finden wir zudem Schuppen oder „Aphlebien"; Scott hält sie für modi- fizierte, basale Fiedern (Ann. of Bot. 1912, S. 50). Die Fruktifikation ist bei einer Anzahl dieser Farne bekannt. In einigen Fällen finden wir besondere fertile Blätter. Die Sporangien waren relativ groß, birnförmig. und standen quastenförmig zusammen am Ende oder am Rande der Fiederchen. Manchmal waren sie auch vereinigt zu kreisförmig abgegrenzten Gruppen, den Sori. Ihre Wand bestand in manchen Fällen aus mehr als einer Zellage; der Annulus stellte sich als ein mehrreihiges Band von Zellen dar (Fig. 30). Sie enthielten Sporen, deren Zahl auf viele Hundert in jedem Sporangium geschätzt wird. Der einfache protostele Bau der Achse, die haarähnlichen epidermalen Anhangs- gebilde, die großen eusporangiaten Sporangien mit mehrreihigem Annulus und das große Sporenerträgnis jedes Sporangiums, weisen klar und deutlich auf einen primitiven Zustand hin, wenn auch die kompliziert gebauten Blätter einen ungewöhnlichen Zu- stand der Spezialisation aufweisen. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Coenopterideae primitive Farntypen waren. Jedoch es ist schwierig, sie enger anzu- schließen an irgendwelche lebenden Formen. Renault, der diese Familie zuerst bil- dete, vermutete eine Verwandtschaft mit den Hymenophyllaceae, Osmundaceae und Ophioglossaceae. Diese Ansicht ist wahr- scheinlich richtig, obgleich keine dieser Verwandtschaften als sehr nahe angesehen werden kann. Es ist möglich, daß die Coenopterideae, so wie wir sie durch die Fossilien kennen, nicht die Vorfahren irgend- einer der genannten Familien waren, doch mögen sie wohl mit den Formen, von denen diese abstammen, verwandt gewesen sein. 2. Ophioglossaceae. Die Verwandtschaft dieser Familie ist noch nicht zweifellos 934 Farne im weitesten Sinne (Pteri&ophyta) festgestellt. Wir besitzen keine zuverlässige fossile Geschichte derselben, und die Pflanzen, aus denen sie zusammengesetzt ist, haben solch besondere Merkmale, daß Gegenstand langer Debatte die Frage war, ob sie ver- wandt seien mit den Lycopodiales, den Sphenophyllales oder mit den Filicales. Ueber die Anatomie der Coenopterideae ist jedoch in letzter Zeit manches bekannt geworden, was auf eine Verwandtschaft der Familie mit diesen frühen Farnen hinweist. Die Ophioglossaceae umfassen 3 Genera: Ophioglossum mit 43 Arten, Botrychium mit 34 Arten und Helminthostachys mit nur einer Art. Die Vertreter dieser kos- mopolitischen Familie sind perennierend, meist mit einem unterirdischen Stamm; einige leben epiphytisch. Mit Ausnahme von Helminthostachys haben sie alle einen kurzen aufrechten Stamm mit einer End- knospe. Jedes Jahr reift nur ein Blatt, Fig. 30. 1, 2 Zygopteris pinnata. 1 eine Gruppe von Sporangien mit ihrem breiten Anmi- lus. 2 ein Schnitt durch ein Sporangium. Nach Eenault. Die untere Figur zeigt einen Sorus von Corynepteris corallioides. 'Nach Zeiller. manchmal 2 oder mehr. Bei Helmintho- stachys und augenscheinlich auch bei anderen Formen finden sich schlafende Axillar- knospen, ähnlich wie bei gewissen Coenopte- riden, die gelegentlich die beschädigte api- kale Knospe ersetzen können. In der Regel kommt in jeder Vegetationsperiode nur ein Blatt zum Vorschein. An seiner Basis ist es durch eine Scheide geschützt. Das Blatt ist langgestielt; an der Lamina sind zwei Regionen zu unterscheiden. Der sterile Teil, der bei Ophioglossum ganz ist, bei Botrychium dagegen ein- bis dreifach gefiedert und bei Helminthostachys bandför- mig. An der adaxialen Seite erhebt sich von der Basis des sterilen Blatteiis die fertile Aehre, die bei Ophioglossum einfach, bei Botrychium jedoch verzweigt ist wie das sterile Blatt. Diese eigentümliche An- ordnung ist für die Familie charakteristisch (Fig. 31). Bei Ophioglossum stehen die Sporangien in zwei Reihen tief eingesenkt an den Flanken der Aehre. An ihrer Stelle finden wir bei Helminthostachys dicht aneinander gereihte Sporangiophoren, von denen jedes mehrere Sporangien trägt. Bei Botrychium haben wir randständige Reihen von Sporangien, aber die Sporangien entspringen getrennt voneinander. Die sind massiv, das Sporen- groß. Die Sporen sehen alle Sporangien erträgnis ist aus. gleich Die Morphologie des Blattes kann auf zweierlei Weise interpretiert werden. Nach der alten Ansicht von Roeper soll die Aehre das Ergebnis einer Verschmelzung von einem Paar basaler Fiedern sein; er ver- gleicht das mit Aneimia, wo die basalen Fiedern aufgerichtet und fertil sind und in Juxtaposition stehen. Nach Mettenius dagegen ist die Aehre ein Organ, vergleich- bar mit dem adaxialen Sporangium der Lycopodinen oder mit dem Sporangiophor der Psilotaceae. Ueber diese Kontroverse kann hier nicht diskutiert werden: wir müssen uns damit begnügen, zu sagen, daß durch die anatomischen Untersuchungen die Ansicht Roepers bestätigt zu werden scheint. Die Anatomie des Stammes zeigt an der Basis einen primitiven Zustand. Weiter nach oben finden wir einen Uebergang zu solenostelen und clictyostelen Strukturen, jedoch ohne inneres Phloem. Botrychium hat sekundäres Dickenwachstum, Spuren davon finden sich bei Helminthostachys. Das kommt den Verhältnissen bei dem Coeno- pteridenfossil Botrychioxylon gleich. Die anatomischen Charaktere des Blattes deuten darauf hin, daß Ophioglossum relativ fort- geschritten ist im Vergleich zu Botrychium und Helminthostachys. Im ganzen ge- nommen weisen die anatomischen Merkmale auf eine Verbindung mit den Filicales hin. Aus der keimenden Spore entsteht ein Prothallium, das unterirdisch lebt und sich saprophytisch ernährt; die Sexualorgane sind tief eingesenkt, die Zahl der Sperma- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 935 tocyten in jedem Antheridium ist sehr groß (Fig. 32). Die Embryologie zeigt im allge- meinen die gleichen Verhältnisse wie bei einem ensporangiaten Farn. Bei Botrychium obliqmim und bei Helminthostachys ist ein Fig. 31. ASporophyt von BotrychiumLunaria, mit aufrechtem Stengel und reifem fertilem Blatt. Etwa y2 natürliche Größe. Nach Strasburger. B Sporophyt von Ophioglossum vulgatum, mit reifem fertilem Blatt, darunter der aufrechte Stengel mit der Knospe für das folgende Jahr. y2 natürlicher Größe. Nach Strasburger. Suspensor beobachtet worden, den wir unter den Filicales bei Danaea wiederfinden, dann aber auch bei den Lycopodiales. Die Summe der Charaktere dieser Familie ergibt eines der schwierigstenProbleme phyletischer Beziehungen. Vieles deutet auf eine Ver- wandtschaft mit den Lycopodiales und Sphenophyllales hin; jedoch die anato- mischen Merkmale werden immer mehr eine Stütze der Annahme einer Verwandt- schaft mit den frühesten Farntypen, und besonders mit den Coenopterideae. Auf jeden Fall bilden die Ophioglossaceae eine be- sondere Gruppe, und manche halten es für das beste, diese Sonderstellung durch die Aufstellung des Phylums der Ophioglossales zum Ausdruck zu bringen. 3. Marattiaceae. Diese alte Familie wird durch 5 lebende Genera vertreten: Angiopteris mit 62 Arten (wenigstens nach de Vries), Archangiopteris mit 1 Art, Marattia mit 28,Christensenia( = Kaulfussia) mit 1 und Danaea mit 26 Arten. Typen Fig. 32a. Ophioglossum vulgatum. A bis C Stadien der Entwickelung des Antheridiums aus einer superfiziellen Zelle. Die obere Zelle in C liefert die Deckzellen, die untere die Spermato- cyten. D noch nicht geöffnetes Antheridium, d Deckzellen. E Spermatozoid. Nach Bruch- mann. Fig. 32b. Ophioglossum vulgatum. A bis C Entwickelung des Archegoniums. D reifes, ge- öffnetes Archegonium mit 2 Spermatozoiden (s) an der Oeffnung. h Halszellen, hk Halskanalzelle, o Eizelle, b Basalzelle. Nach Bruch mann. mit den anatomischen und den Merkmalen des Sortis der Familie finden wir schon zur paläozoischen Zeit. Die kurze, massive Achse dieser Genera ist zuerst aufrecht, radiär und unverzweigt. Bei den 3 erstgenannten Gattungen bleibt das immer so; bei Kaulfussia und Danaea jedoch wird die Achse schief und dorsi- ventral, wenn die Pflanze heranwächst. Die Blätter tragen an ihrer Basis Stipulae. Das Blatt selbst ist gewöhnlich lederartig und im Umriß verschieden gestaltet. Bei (.i:;i; Farne im weitesten Sinne (Pteridopkyta) Danaea simplicifolia ist es oval, dagegen I massiver Sporangien, die um einen zentralen einfach gefiedert bei anderen Danaeaarten Punkt oder Linie herumstehen (Fig. 34). und bei Archangiopteris ; endlich mehrfach Die Sporangien sind eusporangiat und ent- und oft kompliziert gefiedert bei Marattia halten sehr viele Sporen: so bei Kaulfussia und Angiopteris (Fig. 33, 4). Die Blätter etwa 7850, Marattia 2500, Danaea 1750, von Kaulfussia sehen aus wie die der Roß-' Angiopteris 1450. Bei Angiopteris und Archangiopteris stehen die ein- zelnen Sporangien getrennt, bei den anderen Genera sind sie verschmolzen zu großen synan- gialen Sori. Die Sporangien- wand besteht aus mehreren Zelllagen. Ein spezialisierter Annulus ist nicht vorhanden; beim Aufspringen entsteht ein medianer Riß, der bei Danaea und Kaulfussia auf eine schein- bar terminale Oeffnung reduziert sein kann. Das grüne Prothallium ist groß und fleischig, die Sexual- organe sind tief in sein Gewebe eingesenkt. Die Embryologie ist dadurch eigentümlich, daß die junge Pflanze die Ober- fläche des Prothalliums durch- bricht und dann zunächst auf- recht wächst. Danaea hat außerdem noch einen Suspensor vergleichbar dem von Hel- minthostachys und Botrychium obliquum. Fossilien, die in Stamm und Wurzel eine den lebenden Ma- rattiaceae vergleichbare Struk- tur zeigen, finden sich in der paläozoischen Periode (z. B. Psaronius); das Karbon liefert Fossilien mit Sori, die genau denen von Angiopteris (z. B. Scolecopteris) oder von Kaul- fussia (z. B. Ptychocarpus) gleichen. Andere Fossilien, die den Stamm einer jungen Pflanze. Nach Goebel. 2 Basis man früher zu den Marattiaceae ' ■ ■ . 1 aas ■ : Fig. 33. Angiopteris evecta. 1 Vertikalschnitt durch eines Blattstiels, mit 2 seitlichen Stipulae. Nach Goebel 3 Stele einer jungen Pflanze mit Blattlücken. Nach Farmer und Hill. 4 Habitus der Pflanze. Nach Bitter. kastanie. Die Wurzeln entspringen im Innern des fleischigen Stammes. Die Aderung der Blätter entspricht dem Pecoptericlen- typus, nur Kaulfussia hat Netznervatur. | scheinbar zu den Marattiaceae gehörenden Fossilien auch wirklich als echte Farne an- zusehen, solange ihre Pteridospermennatur stellte, haben sich als samen- tragende Pflanzen erwiesen. Es ist wohl möglich, daß mit der Zeit noch andere heute zu den Marattiaceae gezählten fossilen Formen von diesen abgetrennt werden müssen. Inzwischen ist es das beste, alle Die Adern vereinigen sich gegen die Blatt- basis hin zu zahlreichen Strängen, die im Blattstiel in konzentrischen Ringen ange- ordnet erscheinen; diese treten dann in das axiale Gefäßsystem ein, das, besonders bei Marattia und Angiopteris, aus zahlreichen Strängen besteht, die ebenfalls in konzen- trischen Ringen verlaufen. Die Wurzeln besitzen eine polyarche Stele. Die Sori sitzen an der Blattunterseite; nicht völlig klar gestellt ist. Es kann wohl kaum bezweifelt werden, daßdieMarattiaceae nach oben hin in Verbindung stehen mit gewissen Pteridospermen. Ihre Beziehung zu anderen echten Farnen ist proble- matisch. In der Tat ist ihre Stellung ziem- lich isoliert. 4. Osmundaceae. Die Osmundaceae jeder Sorus enthält eine einzige Reihe (werden dargestellt durch die lebenden Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 937 Gattungen Osmunda und Todea mit gegen 20 Arten. Sie sind weit verbreitet und ihre fossilen Vertreter reichen zurück bis zum Perm. Die bekannteste Form der Familie ist der „Königsfarn", Osmunda regalis. Alle Osmundaceae haben einen massiven, aufrechten, radiär gebauten Stamm, der sich dichotom verzweigen kann; claytoniana (Fig. 35, s, <;). Nach unten hin können sie seitlich miteinander ver- schmelzen, so daß sie ein zylindrisches Netzwerk bilden, dessen Maschen sehr lang und eng sind. Die ganze Stele ist umgeben von einem Phloemband und einer Endo- dermis (Fig. 35, 9). Jeffrey und Fan 11 halten diese Struktur für eine reduzierte Fig. 34. 1 Stück der Blattunterseite von Angiopteris caudata, mit Sori. Nach Goebel. 2 Sorus von Angiopteris crassipes Wall. Nach Bitter. 3 Zwei Sporangien derselben, das linke in Seitenansicht, das rechte in Längsschnitt. Nach Bitter. 4 bis 9 Sporangienentwickelung von Angiopteris evecta. Nach Bower. 4 Teil eines jungen Sorus, von oben gesehen. 5 Längsschnitt eines jungen Sporangiums. 6 Längsschnitt eines älteren Sporangiums. 7 Spitze eines fast reifen Sporangiums, von oben gesehen. 8 Längsschnitt eines Sporangiums im Stadium der Sporenmutter zellen, das Tapetum mit x bezeichnet. 9 Querschnitt eines fast reifen Sporangiums. die Blätter stehen dicht selben, die Blattbasen bleiben gedrängt an zurück. deni- Wir finden hier Blätter von lederartiger Be- schaffenheit (Todea barbara) bis zu solchen, die dünn und häutig, fast durchsichtig sind (Todea superba); die Nervatur ist von primitivem Typus, offen und gegabelt. Die jungen Blätter sind bedeckt mit einer dichten Schicht von Schleimhaaren. Schuppen fehlen. Die Anatomie des massiven Stammes der lebenden Typen war der Gegenstand leb- hafter Kontroversen. Die Blattspur besteht aus einem einzigen Strang, der beim Eintritt in die Achse die Gestalt eines U annimmt, wobei das Protoxylem an der Wölbung des TJ liegt. Sie bildet dann zusammen mit den anderen gerade so gebauten Blattspuren einen Ring, der ein zentrales Mark umgibt. Ihre Zahl ist verschieden, von 8 oder weniger bei Todea barbara bis zu 40 bei Osmunda amphiphloisch siphonostele. Die Unter- suchung verwandter Fossilien durch Kids ton und Gwynne-Vaughan hat aber un- zweifelhaft ergeben, daß wir es hier mit einer Aufwärtsentwickelung zu tun haben, die ausgegangen ist von einem markhaltigen (medullated) protostelen Typus. Dadurch wird auch ein bedeutsames Licht geworfen auf die Art und Weise, auf welche Er- weiterungen der Stele entstehen können. Die ersten Teilungen der Achse, des Blattes (vgl. Fig. 23 B), des Blattrandes und der Wurzel von Osmunda gehen alle nach einem komplizierteren Schema vor sich als bei den leptosporangiaten Farnen und weisen auf die Eusporangiaten hin. Das- selbe gilt für die Sporangien; bei Osmunda stehen diese an den Blatträndern, ohne zu Sori vereinigt zu sein ; bei Todea sind die Sori nur undeutlich und stehen an der Blatt- unterseite. Ein Indusium fehlt. Die Spor- 938 Farne im w ei testen Sinne (Pteridopliyta) angien sind relativ groß und haben kurze, dicke Stiele. Beim Aufspringen entsteht sin vertikaler Riß, der durch eine distale, schiefe Gruppe mechanischer Zellen ver- ursacht wird, die man als Annulus anerkennen kann (Fig. 35, 1 bis 4). Die Art und Weise der Teilung, durch die sie erzeugt werden, schwankt, doch erinnert sie an die euspor- Familie tragen, zeigen uns, daß der Typus der Schizaeaceae schon früh vertreten war. Der Sproß zeigt eine ausgesprochene Neigung zur Dorsiventralität, wenn er auch bei einigen Aneimiaarten radiär gebaut ist. Lygodium hat eine kriechende gegabelte Achse. Die Blätter sind sehr verschieden. Bei Schizaea sind sie dichotom; bei Fig. 35. Osmundaregalis. 1 Ventralansicht, 3 Seitenansicht 4 Dorsalansicht des Sporangiums. NachLuerßen. 2 Spore. Nach Milde. 5 Querschnitt durch einen kräftigen Stamm. 6 Quer- schnitt durch den Holzteil desselben. Beide nach de Bary. 8 junges Sporangium. Nach Goebel. 7 ein Doppelsporangium. NachBower. 9 Querschnitt durch den vor einem Markstrahl gelegenen Teil einer Stele. Nach Zenetti. angiaten Farne (Fig. 21 e, f). Jedes Spor- angium bildet viele Sporen, etwa zwischen 512 und 128. Das Prothallium ist verhältnismäßig massiv; jedoch die Sexualorgane und die Embryologie stimmen im wesentlichen mit dem Typus der Leptosporangiaten über- ein. Nimmt man alle Merkmale zusammen, die äußere Form, Dichotomie der Achse, die Haare, die Anatomie, das Sporangium und die Sporenzahl, so geht klar hervor, daß die Osmundaceae eine relativ primitive Gruppe sind (diese Vermutung wird durch das Auftreten der Gruppe in relativ alten Schichten gestützt). Es bleibt jedoch zweifel- haft, ob sie direkt zu irgendeiner Gruppe lebender Filicales hingeführt haben. 5. Schizaeaceae. Diese Familie umschließt die Genera: Lygodium, Schizaea, Aneimia und Mohria, mit über 100 Species. Sie sind weit verbreitet, jedoch meistens in den Tropen. Fossilien wie Senftenbergia, Klukia und Kidstonia, die ganz die Merkmale der Lygodium im Grunde dichotom verzweigt, jedoch tritt eine Komplikation durch api- kales Wachstum ein, zudem ist der Habitus kletternd und die Blätter erreichen oft ! eine Länge von 100 Fuß. Bei Aneimia sind die 2 basalen Fiedern allein fertil; sie nehmen eine aufgerichtete Stellung an, wodurch Roeper veranlaßt wurde, hier den morpho- logischen Ursprung der fertilen Aehre der Ophioglossaceae zu suchen. Die Anatomie der Schizaeaceae ist ebenso verschiedenartig wie ihr äußerer Habitus; wir finden jedoch immer das primitive Merkmal einer ungeteilten Blattspur. Am einfachsten gebaut ist die Achse von Ly- godium, sie ist protostel. bilden die aufrechten einer Dictyostele und Blattlücken; die kriechenden Typen zeigen solenostele Struktur. Die meisten Schizaeaceae tragen Haare, nur das Genus Mohria, das auch in anderen Merkmalen einen fort- 'geschrittenerenTypus darstellt, hat Schuppen. Das andere Extrem Aneimiaarten, mit sich überdeckenden Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 939 Die Sporangien stehen einzeln („mon- 1 ist immer primitiv, ungeteilt meristel, ziem- angiale Sori" von Prantl), und sind ziemlich j lieh kontrahiert entsprechend dem ge- spreizten gebogen Sie entstehen immer aus Randzellen können aber durch nachfolgendes intra- marginales Wachstum später superfizial erscheinen; sie sind geschützt durch ,,in- dusiale" Läppchen. Das Aufspringen ge- schieht durch einen vertikalen Riß (Fig. 36), protostel (Fig der durch eine distale Gruppe mechanischer Zellen bewirkt wird. Die Zahl der Sporen schwankt von 256 bei Lygodium bis zu 128 bei den anderen Genera. Der Stiel der Sporangien ist relativ dick, die Teilung des jungen Sporangiums tief (Fig. 21 D). Die Pro- thallien sehen in einigen Fällen aus wie die an- derer Leptosporangiaten, in anderen sind sie faden- förmig fast wie bei den Hymenophyllaceae. 6. Gleicheniaceae. Dazu gehören etwa 80 lebende Arten der Genera Stromatopteris und Gleichenia; einige Syste- matiker anerkennen nur das Genus Gleichenia. Es sind im wesentlichen tropische Formen, die sich aber weit südlich bis Neu-Seeland er- strecken. Im Mesozoikum waren Farne vom Typus der Gleichem aeeen sicher vorhanden; Fossilien wie Oligocarpia und Diplot- mema lassen das Vor- kommen der Gleichenia- ceen im Paläozoikum vermuten. Gleichenia hat eine ausgedehnte, krie- chende Achse, die dichotom verzweigt ist. Sie trägt Blätter, die einfach gefiedert sein können (G. platyzoma), die aber gewöhnlich höhere Grade der Verzweigung zeigen. Das Ganze erhält oft einen gespreizten Habitus. Das apikale Wachstum des Blattes setzt in bestimmten Intervallen aus, so daß der Scheitel als eine schlafende Knospe zwischen dem zuletzt gebildeten Paar Fiedern erscheint und so der Eindruck der Dichotomie erweckt wird. In Wirk- lichkeit haben wir es immer mit einer mono- podialen Fiederung zu tun. Die so zusammen- gesetzten Blätter bilden ausgedehnte Dickichte, besonders in den tropischen Savannen. Anatomisch zeigen die Gleicheniaceae schöne Uebereinstimmung. Die Blattspur hufeisenförmig Habitus. Der Strang kann sogar mit seinen freien Enden zusammenstoßen, so daß eine zylindrische Pseudostele entsteht (Fig. 37, s). Das Rhizom ist bei den meisten Arten 37, i bis 4), nur bei G. pec- 6 10 Fig. 36. Sporangien und Sporen der Schizaeaceae. 1 und 2 Aneimia Phyllitidis Sw. 1 von innen. 2 von außen. 3 und 5 Sehizaea pennula Sw. 5 von der Seite. 3 oberer Teil schräg von au ßen oben. 4 L y g 0 d i u m j a p 0 n i c . u m S w., von der Seite. 6 und 10 Mohr ia caffrorum (L.) Desv. 10 von oben. 6 von der Seite. 7, 8, 9, 11 Sporen der Schizaeaceae. 11 Sehizaea pennula Sw. 7 Lygodium japonicum Sw. 9 Mohria caf f rorum (L.) Des. 8 Aneimia fulva Sw. Nach Prantl. tinata, eine Form, die auch in anderer Hin- sicht fortentwickelt ist, ist es solenostel (Fig. 37, 7). Die Sori der Gleicheniaceae sind super- fizial und nackt; sie stehen in einer Reihe auf jeder Seite der Mittelrippe. Sie ent- halten wenige, massive Sporangien mit kurzen Stielen; ein schiefer Annulus ist vorhanden, das Aufreißen geschieht in Flächen, die vom Mittelpunkt des Sorus ausstrahlen (Fig. 38, 5). Bei den primitiveren Formen des Genus stehen im Zentrum des Sorus keine Sporangien, so wie bei den Marattiaceae. Aber 2 Species weichen davon ab, nämlich G. linearis und G. pectinata. Da beide anatomisch fortgeschrittene Typen darstellen, so kann die Aenderung der Anordnung im Sorus wohl auch für einen Fortschritt gehalten werden (Fig. 38, lohisn). Mit der größeren Zahl der Spor- 940 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) angien geht zusammen eine Reduktion Sporen. Bei G. flabellata liegt die Sporen- ihrer Größe und der Zahl der erzeugten zahl zwischen den typischen Zahlen 1024 6 7 Fig. 37. 1 Diagramm eines Querschnitts durch das Rhizom von Gleichenia flabellata. Nach Boodle. 2 Querschnitt der Stele des Internodiums, das Phloem mittels einer gestrichelten Linie angedeutet, das Metaxylem schraffiert, das Protoxylem durch kleine Kreise angedeutet. 3 und 4 Querschnitt durch die Stele eines Knotens von Gleichenia flabellata. Nach Tansley 5 und 6 Gleichenia circinata. 5 Verbindung des Blattbündels mit der Stele. 6 Querschnitt des Blattbündels. 7 Querschnitt der Stele von Gleichenia pectinata. NachBoodle. 8 Quer- schnitt der Basis des Petiolus von Gleichenia dicarpa, die pseudosteläre Struktur zeigend. Nach Gwynne-Vaughan. 13 14. 5 12 Fig. 38. 1, 2, 3, 6 Sporangien von Gleichenia dicarpa R. Br., in verschiedener Lage. 1, 2 die Dehiszenz zeigend. Nach Diels. 5 Teil eines fertilen Segmentes von Gleichenia flabellata R. Br., mit Aderung und Sori. 7 Spore von Gleichenia pedalis Kaulf. 4, 8, 9 Sporangien von Gleichenia dichotoma, von verschiedenen Seiten gesehen. 10, 11 Zerklüftung der Sori von Gleichenia dichotoma. 12 bis 17 radiär gebaute Sori, mit einem oder mehreren Spor- angien im Zentrum des Sorus. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 941 und 512. Bei G. pectinata und linearis schwankt sie zwischen 512 und 256, und bei den kleineren Sporangien kann sie noch niedriger sein. In der Tat werden diese Species durch ihre Anatomie und die Merk- male der Sori als die fortgeschrittensten Formen der Familie gekennzeichnet. Das ist von Bedeutung in beziig auf die hiervon abgeleiteten Reihen der Cyatheoideae. Das Prothallium und die Embryologie von Gleichenia stimmen mit dem bei den Leptosporangiaten üblichen Typus über- ein, jedoch zeigen die Sexualorgane und besonders die Antheridien für die Ver- gleichung wichtige Merkmale. Die An- theridien sind in der Größe verschieden, sich zurückverfolgen bis ins Rät. Dieses hohe Alter stimmt überein mit der großen Analogie, die sie zu den Gleicheniaceae zeigen, mit denen sie wahrscheinlich ver- wandt sind. Matonia pectinata wächst am Boden dahin und hat ein kriechendes Rhizom, i das mit Haaren bedeckt ist und sich schein- bar dichotom verzweigt. Die vereinzelt stehenden Blätter erreichen eine Höhe von 6 bis 8 Fuß; die Lamina ist fußförmig und hat ihre Entstehung einer dichotomen Verzweigung zu verdanken (Fig. 39; i). Die einzelnen Blattabschnitte sind gefiedert. Die superfizialen Sori stehen vereinzelt in der Nähe der Mittelrippe. Das reife Rhizom Fig. 39. 1 Blatt von Matonia pectinata. Nach Diels. 2, 3, 12 Sporangien von verschiedenen Seiten. Nach Diels. 9 Spore. Nach Diels. 4 Längsschnitt durch den Sorus. Nach Diels. 5 bis 8, 10, 11, 13 bis 15 Entwicklung der Sporangien. Nach Bower. die Zahl der erzeugten Spermatozoiden übertrifft weit das bei den leptosporangiaten Farnen gewohnte Maß. Das ist wohl ein primitives Merkmal, das besonders inter- essant ist im Vergleich mit dem relativ großen Sporenerträgnis der Sporangien. So lassen denn die Merkmale der Anatomie, des Sorus und des Sporangiums, wie auch der Antheridien, die Gleicheniaceae als eine primitive Gruppe erkennen, eine Annahme, die noch gestützt wird durch ihr frühes Vorkommen. 7. Matonineae. Zu dieser Familie, im engeren Sinne, gehört nur ein Genus der lebenden Farne, nämlich Matonia. Jedoch ergibt sich aus verwandten Fossilien, daß Formen der Gruppe vorherrschend waren in der Flora des Mesozoikums und sie lassen zeigt die komplizierteste solenostele Struktur, die bei Farnen bekannt ist. Der einfachere Bau der jungen Stämme läßt vermuten, wie der komplizierte Endzustand erreicht worden ist. In einem solchen Rhizom findet man 3 konzentrische Gefäßringe, die in ein Grundparenchym eingebettet sind; jeder derselben ist typisch solenostel. Die Blattspur stellt eine ungeteilte, aber stark gekrümmte Platte von Gefäßbündel- gewebe dar. die an den Knoten mit dem äußeren und mittleren Ring Verbindungen eingeht; zwischen den Knoten können dazu noch Verbindungen mit dem inneren Ring kommen. Das ganze System kann als eine sehr komplizierte Ableitung vom solenostelen Typus betrachtet werden. Der Sorus ist vom Gleicheniatypus: er enthält 6 bis '.Hl' Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 9 Sporangien und ist bedeckt von einem lederigen, schirmförmigen Indusium, das zuletzt abfällt (Fig. 39, 4). Das ist das ein- zige Vorkommen eines Indusiums bei den Simplices. unter denen Matonia eine be- sonders fortgeschrittene Stellung einnimmt. Dieser Schluß ist nicht nur auf die Anatomie gegründet, sondern auch auf die Tatsache, daß die Sporangien, obgleich sie den schiefen Annulus beibehalten haben, doch laterale Dehiszenz zeigen; die Sporenzahl liegt zu- dem zwischen 48 und 64, wie wir es ähn- lich nur bei den höher entwickelten Typen wiederfinden. Aus dem paläontologischen Material ergibt sich, daß Matonia ein alter Typus ist, aber doch nicht zu den frühesten Formen gehört. Die Familie kann als ver wandt mit den Gleicheniaceae betrachtet werden, sie zeigt jedoch in mancher Hin- sicht letzteren gegenüber Anfänge einer Fortentwickelung, die wir bei gewissen leptosporangiaten Nachkommen vollendet finden. B. Gradatae und Mixtae. Es ist oben darauf hingewiesen worden, daß entsprechend der Anordnung und der Reihenfolge des Erscheinens der Sporangien im Sorus, die Farne als Simplices, Gradatae und Mixtae unterschieden werden. Die Gruppen der Simplices sind kurz besprochen worden, und es könnte nun natürlich er- scheinen, in derselben Weise fortzufahren, und nacheinander die Gradatae und die Mixtae zu behandeln. Aber dieses Ver- fahren schließt die Annahme in sich, daß jedes dieser Merkmale notwendig seinen Platz in der Phylogenie der Farne hat. Das ist jedoch nicht der Fall. Jede der verschiedenen Stammesreihen hat sich in bestimmter Richtung entwickelt, unab- hängig davon, was in anderen Reihen vor sich ging. So finden wir in einigen Fällen direkte Uebergänge von dem Sorus der Simplices zu dem der Mixtae; in anderen Fällen ging die Entwickelung bis zum gradaten Typus und blieb dabei stehen: oder endlich es erschienen in demselben Phylum nacheinander alle 3 Typen. Daraus ergibt sich klar, daß wenn wir nachein- ander die Simplices, Gradatae und Mixtae abhandelten, dadurch Glieder natürlicher Gruppen auseinander gerissen würden. Wir wollen daher die verschiedenen Gruppen von Farnen, deren Formen offenbar zu- sammengehören und Stammesreihen dar- stellen, getrennt betrachten, dabei immer die Wichtigkeit des Merkmals der gradaten oder gemischten Sori im Auge behaltend. Diese Reihen mögen ihrer Abstammung nach in mehr oder weniger enger Beziehung stehen zu den verschiedenen Gruppen der bereits beschriebenen Simplices. Jedoch es ist schon oben bemerkt worden, daß es ungewiß ist, ob irgend zwei der Familien der Simplices eine gemeinsame Stamm- form haben. In gleicher Weise herrscht Ungewißheit über die Beziehungen der abgeleiteten und spezialisierten Formen reihen der leptosporangiaten Farne zu den Simplices. Unter den Leptosporangiaten selbst sind jedoch bereits durch die systema- tischen Botaniker bestimmte Reihen er- kannt worden. Diese sollen nun kurz be- schrieben, ihre möglichen phyletischen Ver- wandtschaften angegeben werden. Dabei muß immer bedacht werden, daß infolge unserer unvollkommenen Kenntnisse über Einzelheiten diese Gruppierung nur ver- suchsweise geschehen und eine bessernde Aenderung jederzeit möglich ist. Wir haben gesehen, daß die Simplices Unterschiede zeigen in der Stellung der Sporangien und Sori in bezug auf den Rand des Blattes, das sie trägt. Bei den Coenopterideae und den Osmunclaceae ist die Lage unbestimmt und nicht gleich- förmig, sie kann superfizial (Todea, Cory- nepteris ?) oder marginal (Osmunda, Bo- tryopteris) sein. Sie können für primitive Typen gehalten weiden, bei denen die Lage der Sori noch nicht fixiert ist, wie bei den meisten Farnen. Bei den Marattiaceae, Gleicheniaceae und Matonineae aber sind die Sori immer superfizial, bei den Schizaeaceae und Ophioglossaceae immer marginal. Diesen Unterschied finden wir auch bei den höher entwickelten Formenreihen wieder. So werden wir sehen, daß dieHymenophyllaceae und die Formen der Dicksonia-Davallia- Reihe immer marginale Sori haben, in dem Sinne, daß die ersten Sporangien wirklich aus Randzellen hervorgehen, während die übrigen Formenreihen mehr oder weniger also ent- konstant superfiziale Sori tragen, wo die ersten Sporangien intramarginal stehen. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß innerhalb der verschiedenen Stammesreihen der Farne die Stellung der Sori — entweder marginal oder superfizial in der Regel streng beibehalten wird. Darauf ist in Be- schreibungen der Farne im allgemeinen wohl hingewiesen worden, jedoch ist der systematische Wert dieser Tatsache nirgends genügend gewürdigt. Vielleicht deswegen, weil bei manchen Formen mit marginalen Sori letztere die Tendenz zeigen, sich auf die Unterseite hin zu verschieben. Das finden wir besonders bei einigen daval- lioiden Farnen, und das mag den offensicht- lichen Wert dieses Merkmals für die phyle- tische Vergleichung beeinträchtigt haben. Weiterhin ist zu bemerken, daß in den ver- schiedenen Phyla, die jetzt betrachtet Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 943 werden sollen, die indusialen Schutzgebilde des Sortis nicht gleichförmig sind. Es wird gezeigt werden, daß die Beschaffenheit und die Art der Entstehung des Indusiums von einem Phylum zum anderen sich ändert, wenn auch im einzelnen Phylum darin Gleichförmigkeit herrscht. Nach diesen einleitenden Bemerkungen wollen wir nun dazu übergehen, die Hauptreihen der lepto- sporangiaten Farne zu besprechen, wobei immer soweit als möglich auf die Formen der Simplices hingewiesen werden soll, von denen sie wahrscheinlich abstammen. 8. Die Hynienophyllaceen- Reihe. Die Hymenophyllaceae. Diese Fa- milie umfaßt die großen Genera Hymeno- richten blattlose Zweige die Funktion der Wurzeln. Die Hymenophyllaceae werden oft die ,, Hautfarne" genannt, wegen der zarten Textur ihrer Blätter, deren Spreiten ge- wöhnlich aus einer einzigen Schicht durch- sichtiger Zellen bestehen. Die Formen der größeren Spezies haben stark verzweigte Blätter mit schmalen Abschnitten. Einige spezialisierte Typen dagegen zeigen breite Blattflächen mit gegabelter Aderung, die wahrscheinlich kondensierte Zweigsysteme darstellen (Fig. 40). Axillarknospen finden sich bei den Hymenophyllaceae allgemein, wenn sie auch häufig rudimentär bleiben und sich nicht entwickeln. Das ist von Fig. 40. Blattformen von Hymenophyllaceen. Nach Sadebeck. 1 Trichomanes reni- forme Forst. 2 Trichomanes Lyallii, Hooker. 3 Trichomanes spieatum Hedw. 4 Hymenophyllum cruentnm, Cav., 5 Hymeno phyllum dilatatum Sw. 6 Hy- men ophyllum aus trade Willd. phyllum und Trichomanes mit etwa 450 Arten, die sich überall in den Tropen, vereinzelt auch im Norden und Süden finden, ganz besonders aber in Neil- Seeland verbreitet sind. Sie zeigen weit- gehende Anpassung an feuchte Stand- orte; oft erscheinen sie als Epiphyten im Schatten dichter Wälder. Der Sproß ist manchmal aufrecht und radiär gebaut und trägt gebüschelte Blätter, häufiger aber ist er kriechend und hat lange Internodien. Er ist bedeckt mit fadenförmigen Haaren, Ramenta fehlen. Von der Achse entspringen sich ausbreitende Wurzeln; bei einigen wurzellosen Arten von Trichomanes ver- Interesse im Vergleich mit neuerdings bei den Ophioglossaceae und Zygopterideae ent- deckten Verhältnissen. Die Blattspur ist immer ungeteilt; an "leicht sie der Stele der Achse, oben hin wird sie kollateral, ist monostel mit peripherem Innern umgibt ein Band von ein zentrales Gewebe von und Parenchym. Das ist im einzelnen verschieden; die Anatomie ist jedoch in vielen Punkten zu vergleichen mit der des alten Genus Zygopteris. Die Sori sind marginal. Die Sporangien stehen in streng basipetaler Reihenfolge ihrer Basis weiter nach Die Achse Phloem; im Metaxylem Protoxylem 944 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Fig. 41. Sorus und nun. Nach Goebel 1 Trichomanes tene- Spr. Nach v. d. Bosch. Sporangienformen bei Hymenophyllaceen. 2 und 3 Hymenophyllum javanicum 2 zwei Indusien. 3 eine der Indusien klappen zurückgeschlagen. 4 Hymenophyllum Wilsoni Hook. Sorus im Längsschnitt, das Receptakulum zeigend, die ersten Sporangien nahe der Spitze entwickelt, mit Zellteilungen, welche das interkalare Wachstum verursachen. 5 bis 8 Sporangien von Hymenophyllum dilatatum, von verschiedenen Seiten gesehen. 9 bis 12 Sporangien von Tri chomanes radicans Sw. 13 und 14 Trichomanes tenerum. Nach Goebel. 13 Sporangium von der Seite. 14 Stück eines Längsschnittes durch die Placenta mit zwei Sporangien, oben und unten der Annulus sichtbar. an einem Receptakulum, das von der Ver- längerung einer Blattader quer durchsetzt wird. Bei gewissen Arten von Trichomanes finden wir die längsten Receptakeln, die bei Farnen bekannt sind (Fig. 41, i). An der Basis ist das Receptaknhim umgeben von einem schüsseiförmigen Inclusium, das dei Trichomanes ganz ist, bei Hymeno- phyllum dagegen zweilippig (Fig. 41, 2 und 3). Sori und Sporangien von entsprechendem Typus hat man bis in frühe geologische Forma- tionen zurückverfolgen können: so findet sich im oberen Karbon das noch zweifelhafte Fossil Hymenophyllites. Die Sporangien selbst zeigen große Verschiedenheiten in der Größe und im Sporenertrag; bei Hy- menophyllum sind sie am größten. Sie sind kurz gestielt, haben einen schiefen Annulus und springen lateral auf (Fig. 41, 5 bis 13). Die Zahl der Sporen eines Spor- angiums bewegt sich in den Grenzen von über 400 bei Hymenophyllum Tunbrid- gense bis zu 32 bei Trichomanes pinnatum. Keine andere Farnfamilie zeigt eine solche Variation ihrer Merkmale. Die höhere Zahl verbindet sie mit den primitiveren Sim- plices, die kleinere mit relativ geförderten Typen der lep osporangiaten Farne. Diese Tatsachen sind bedeutsam in Beziehung auf die oben erwähnten anatomischen Vergleiche. Das Prothallium von Hymenophyllum stellt eine breite, bandförmige Zellfläche dar; bei Trichomanes ist es gewöhnlich fadenförmig und trägt ,,Archegoniophoren" Fig. 42. Trichomanes rigidum. Teil des Prothalliums mit einem Archegon iophor, an welchem noch eine junge Pflanze sitzt. Nach Goebel. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 945 von mehr oder weniger massiver Struktur (Fig. 42). Da die Archegonien keine eigen- tümlichen Besonderheiten zeigen, die An- theridien jedoch denen der Gleicheniaceae ähneln, so ist die Gestalt des Prothalliums sehr wahrscheinlich das Ergebnis passung an feuchte Bedingungen, allel der Anpassung des Sporo- phyten geht. DieHymenophyl- laceae sind also wohl ziem- lich frühen Ursprungs: sie stellen aber einen blind endigenden Zweig dar, der charakterisiert ist durch die Annahme eines hygrophilen Habitus in beiden Generationen, bewirkt durch Verminderung der Zahl der Zellschichten. Trichomanes zeigt in beiden Generationen die weitergehende Vereinfachung, es hat sich also wohl mehr entfernt von der Stammform, die wahrschein- lich zu verbinden ist mit mar- ginalen Typen wie die Schizaea- ceae, und möglicherweise auch die Ophioglossaceae und Zygo- pterideae. 9. Die Thyrsopteris Loxsoma Dicksonia - Dennstaedtia - Davallia-Reihen. Das sind alles Farne mit im wesent- lichen marginalen Sori, wenig- stens dem Ursprung nach; manche ihrer Formen zeigen jedoch mehr oder weniger deut- lich eine Verschiebung des Sorus gegen die Blattunter- seite hin, was am stärksten ausgeprägt erscheint bei den abgeleiteten Davalliaceae. Es handelt sich hier um Farne, bei denen in mehrfacher Hin- der die An- par- scheinen schon zur Zeit des Jura existiert zu haben. Thyrsopteris ist ein niedrig 4 fach ge- wachsender Baumfarn, mit 3- bis fiederten Blättern und Haaren. Der Bau des Gefäßsysteins ist, soweit man ihn kennt, verhältnismäßig primitiv. Die Sori sind vom Dicksoniatypus ; die Sporangien stehen sieht eine Fortentwickelung zu- bemerken ist: so in dem Ueber- gang von Haaren zu Schuppen, von der solenostelen zur dictyostelen Struktur der Achse, von der ungeteilten zur geteilten Blattspur, vom gradaten Sorus zu dem der Mixtae, und endlich vom schiefen zum vertikalen An- nulus. Diese Progressionen verlaufen zum größten Teil parallel, während die Lage der Sori und die allgemeinen Charaktere beibehalten werden, so daß wir es hier wohl sicher mit echten phyletischen Reihen zu tun haben. 9a) Thyrsopteris und Loxsomopsis. Thyrsopteris, ein monotypisches Genus, wird dargestellt durch Thyrsopteris elegans auf Juan Fernandez. Farne desselben Typus Fig. 43. Loxsoma Cunninghami. Habitus und Sporangienentwickelung. 1 Fieder mit Aderung und Soris. Nach Diels. 2 Blatt, nach einem Exemplar in dem Leidener Reichsherbariuni. 3 Spore. 4 Teil eines fertilen Segmentes mit Sorus und Indusium. 5 Längsschnitt durch Sorus und Indusium. 6 Sporangium. 3 bis 6 nach Diels. 7 Längsschnitt durch einen halberwachsenen Sorus. 8 Längsschnitt durch die Basis der Placenta, die jungen Sporangien zeigend. 9 Sporangium mit dem nur teilweise verdickten Annulus, von der Seite gesehen. 10 Dasselbe, aber an der Oeffnungsstelle gesehen. 11 Junger Sorus noch im Indusium eingeschlossen. 7 bis 11 nach Bower. 12 Stammstele mit Blattlücke. Nach (iwynne-Vaughan. basipetal, das erste wird streng marginal gebildet. Die großen Sporangien haben einen schiefen Annulus, der aus vielen Zellen besteht, ein Stomum fehlt. Die Sporenzahl schwankt zwischen 48 und 64. Die Ver- wandtschaft mit Dicksonia liegt klar zutage; doch ist es besser, Thyrsopteris getrennt zu halten, da das Sporangium im Annulus und Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 60 946 Farne im weitesten Sinne (Pterid.oph.yta) Stomum alte Merkmale aufweist. Diese Eigentümlichkeiten finden wir auch bei Lox- somopsis, einem von ChristinCostaBicaneu entdeckten Genus, das jedoch erst noch genau untersucht werden muß, ehe ihm sein Platz endgültig zugewiesen werden kann. Hierher soll auch Loxsoma Cunning- hamii E. B. gerechnet werden, die m Neu-Seeland endemisch wächst. Diese Pflanze hat den Habitus einer lederigen Davallia und trägt Sori wie Trichomanes ; von beiden unterscheidet sie sich dadurch, daß ihre Sporangien in einer Medianebene aufspringen. Man betrachtet sie am besten als den einzigen lebenden Vertreter eines besonderen Tribus, der verwandt ist einer- seits mit den Schizaeaceae, andererseits mit den Hymenophyllaceae und den Dicksonieae. Das kriechende Ehizom der Pflanze ist solenostel, die Blattspur ungeteilt (Fig. 43, 12). Die kahlen Blätter sind zwei- oder drei- fach gefiedert, unterseits sind sie graublau (Fig. 43, 1 und 2). Die Sori sind marginal, jeder sitzt am Ende einer Ader und hat ein basales, schüsselförmisjes Indusium. Das säulenförmige Eeceptakulum trägt eine basipetale Folge von Sporangien (Fig. 43, 4 bis 8), deren jedes ungefähr 64 Sporen enthält. Das Sporangium hat einen un- vollkommenen Annulus, der nur am dis- talen Ende verdickt ist; es öffnet sich durch einen medianen Eiß (Fig. 43, 6, 0 und 10). Das ist eine Eeminiszenz an primitive Typen wie die der Schizaeaceae. 9b) Dicksonieae. Die 3 Genera der Dicksonieae, Balantium, Dicksonia und Cibotium, umfassen ungefähr 30 Arten. Einige davon sind große Baumfarne, andere von niedrigerem, aber doch vor- herrschend radiärem Bau. Die kleineren Formen ähneln Thyrsopteris in den Blättern, der Haarbedeckung und den marginalen Sori; die größeren, dendroiden Species sehen aus wie Cyathea, von dem sie sich jedoch leicht unterscheiden lassen, auch die sterilen Pflanzen, durch die Bedeckung mit Haaren gegenüber den Eamenta der Cyatheaceae, Auch sind ihre Sori marginal, die von Cyathea dagegen superfizial. Die beiden Phyla sind wohl völlig zu trennen, wenn auch beide dendroide Form erreichen. Das Gefäßsystem stellt eine, von einer Solenostele kaum verschiedene Dictyostele dar; die Blattlücken überdecken einander nur wenig. Von der Basis jeder Blattlücke entspringt ein breiter, bandförmiger, ein- gebogener Gefäßstrang, der sich bald in zahlreiche kleinere Stränge teilt, die huf- eisenförmig angeordnet sind (Fig. 44, 10). Bei der verwandten Dennstaedtia mit kriechendem Ehizom ist, wie wir sehen werden, die Achse solenostel; offenbar hängt der Uebergang von der Solenostele zur Dictyostele bei Dicksonia zusammen mit der Erwerbung des aufrechten Habitus. Die aufrechte Achse erhält die nötige mecha- nische Festigkeit durch sklerotische Gewebs- elemente, die das Leitungsgewebe begleiten. Die Sori sind der Entstehung nach streng marginal, und darin entsprechen sie im Fi Dicksonia Nach Bower. 1 bis 3 Längsschnitte clurch 9 Querschnitt durch einen jungen Sortis, die Sporangienentwickelung. junge Sori von Dicksonia Schiedei Baker. beiden Lippen des Indusiums zeigend. 4 bis 7 Sporangien von Dicksonia Menziesii, von vier verschiedenen Seiten gesehen. 8 Querschnitte durch Sporangienstiele. 10 Dicksonia Barometz. Nach G wynne-Vaughan. Teil der Stammstele von innen gesehen, die Ab- zweigung von drei Blattspuren zeigend. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 947 wesentlichen denen der Hymenophyllaceae, dochistihrlndusium deutlicher zweilippig mit ungleich großen Lippen (Fig. 44, i und 9). Aus dem Blattrand entsteht das zungen- förmige Receptakulum, das zwischen den Lippen des Indusiums liegt; auf seinem Rand erscheint das erste Sporangium (Fig. 44, 3). Auf dieses folgen andere in basipetaler Reihenfolge. Das reife Spor- angium ist ziemlich lang gestielt und hat einen sehr schiefen Annulus; es springt lateral auf. Die typische Sporenzahl ist 64. Aus der Struktur wie auch aus der Be- schaffenheit des Sorus und des Sporangiums ergibt sich eine enge Verwandtschaft der Dicksonieae mit Thyrsopteris. Durch i bis 6). Die Sori sind meistens kreisförmig und haben einzylindrisches, streng marginales Receptakulum (Fig. 45, 2 und 3), auf welchem die langgestielten Sporangien gewöhnlich in basipetaler Reihenfolge entstehen. Der Annulus ist nahezu vertikal, die Dehiszenz lateral und quer. Der Annulus ist noch ein klein wenig schief, woraus sich schließen läßt, daß die Stammform einen schiefen Annulus besaß. Sowohl bei Dennstaedtia als auch bei Microlepia findet man Ab- weichungen von der streng basipetalen Reihenfolge der Sporangien, wie sie für die Gradatae charakteristisch ist. Junge Spor- angien erscheinen unregelmäßig einge- streut zwischen die älteren. Wir sehen hier Fig. 45. Dennstaedtia apiifolia. Habitus, Sporangien, Gefäßbündelverlauf. 1 Blattfieder erster Ordnung. 2 und 3 Dennstaedtia cicutaria. Nach Baker. 2 Längsschnitt eines Sorus. 3 Fertile Fiederchen. 4 bis 6 Anatomie. Nach Gwynne-Vaughan. 4 Dennstaedtia punetiloba. Dia- gramm des Rhizoms, einen Knoten mit der Basis einer Blattspur zeigend. 5 DasselbeN'on Denn- staedtia apiifolia. 6 Dasselbe von Dennstaedtia rubiginosa. Loxsomopsis und Loxsoma sind sie, jedoch weniger nahe, auch verwandt mit den Hy- menophyllaceae und anderen, noch primi- tiveren Formen. Nach oben hin schließen sie sich eng an die Dennstaedtiinae u. a. 9c) Dennstaedtiinae. Dieser Sub- tribus wurde aufgestellt von Prantl, um die Genera Dennstaedtia, Microlepia, Hypo- lepis und einige andere zusammenzu- fassen. Dennstaedtia ist dem Wesen nach ein kriechender Dicksoniatypus mit einzel- stehenden, stark verzweigten Blättern, die offen geädert und mit Haaren, nicht Schuppen, bedeckt sind. Die Achse hat eine deutliche Solenostele, in manchen Fällen finden sich noch innerhalb steläre Gewebszüge (Fig. 45, Uebergangsstadien zu den Mixtae. So nehmen die Dennstaedtiinae eine interessante Zwischenstellung ein. Die Systematiker schließen sie auf der einen Seite an die gradaten Dicksonieae, auf der anderen an die mixten Davallieae an; die soralen Merk- male zeigen Lebergänge zwischen beiden. Sie haben jedoch die primitivere Behaarung beibehalten und tragen keine Schuppen. 9d) Davallieae. Diese Familie um- schließt eine Anzahl von Farnen, die so eng zusammenhängen, daß sie verschiedent- lich in Genera angeordnet worden sind. Es ist wohl möglich, daß die von Di eis (Natürliche Pflanzenfamilien I, 4, S. 205) unter diesem Namen zusammengestellten 60* 948 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Gattungen mehrere konvergente Reihen dar- stellen. Wie er selbst jedoch zugibt, bedarf die ganze Gruppe einer kritischen Nach- prüfung. Die allgemeinen Charaktere sind Fig. 46. Davallia. Habitus und Sporangienentwickelung. 1 Davallia pentaphylla Bl. Nach Diels. 2 Davallia cana- riensis Sw., Fieder 3. Ordnung mit Aderung und Sori. Nach Diels. 3 und 4 Davallia Griff ithiana Hk. Nach Bower. 3 Junger Sorus im Längsschnitt, die ersten An- lagen der Sporangien zeigend. 4 alter Sorus, junge und alte Sporangien gemischt zeigend. Fig. 47. Marsilia quadri- foliata. a junges Blatt, s Sporocarpien. Nach g Bischof f. Verkleinert. folgende: es sind rhizomatische Farne mit einzelstehenden, oft reich verzweigten Blättern. Statt der Haare finden wir hier Schuppen. Die Achse wird durchsetzt von einer Dictyostele, die oft, Perforationen" aufweist. Die Blattspur verläuft von Anfang an in 2 getrennten Strängen. Der Sorus ist typisch marginal, kann aber infolge der extremen Ungleichheit der Lippen des Indusiums superfizial erscheinen. Das Receptakulum ist flach, Sporangien verschiedenen Alters stehen untereinander gemischt (Fig. 46). Die Sporangien sind langgestielt, der Annulus ist vertikal, die Dehiszenz lateral und quer. Die Sporenzahl beträgt bei Davallia speluncae 64 in jedem Sporangium. Aus all diesen Merkmalen ist eine fort- geschrittene Stellung der Da- vallieae zu erkennen, doch sind sie offenbar noch verwandt mit den primitiveren Dennstaedti- inae und Dicksonieae. Man kann wohl annehmen, daß die eben genannten Farne eine natürliche Reihe oder Schar bilden, wenn auch nicht not- wendig längs einer einzigen oder kontinuierlichen phyle- tischen Linie. Diese Reihe umfaßt Formen mit typisch marginalen Sori; die Stamm- form war wahrscheinlich ver- wandt mit den Schizaeaceae. Das schüsseiförmige oder gelappte Indusium ist offen- bar von derselben Natur wie die schützenden Wachs- tumsgebilde, die wir in dieser Familie finden. Die Formen dieser Reihe schreiten fort vom gradaten zum mixten Typus der Sori, vom schiefen zum vertikalen Annulus, vom solenostelen zum hoch ent- wickelten dictyostelen Bau der Achse. Durch den Pa- rallelismus, den diese verschie- denen Linien der Fortentwicke- lung zeigen, erhalten die oben behaupteten allgemeinen Schlüsse eine starke Stütze. 10. Heterospore Typen. ioa) Marsiliaceae. Die Mar- siliaceae sind am besten im Anschluß an die leptosporan- giaten Farne mit marginalen Sori zu behandeln. Sie werden gewöhnlich in die Hydro- pterideae eingereiht, d. s. was erlebende Pflanzen, die Sporacarpe. Nach sich von den anderen Farnen Bischoff. Verkleinert, dadurch unterscheiden, daß sie getrennte männliche und Fig. 48. Pilularia globuli- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyfa) 949 weibliche Sporen haben (heterospor). Wir werden sehen, daß sie wahrscheinlich ver- wandt sind mit den Schizaeaceae. Die Familie umfaßt 2 Genera, Marsilia(Fig. 47) und Pilnlaria (Fig. 48), mit ungefähr 60 Species, die weit verbreitet sind. Es sind bewurzelte Pflanzen, die an nassen Standorten oder sub- mers leben; sie haben kriechendeRhizomeund Blätter von reduziertem Typus, die jedoch die Einrollung im Jugendzustand beibe- halten haben. Aeußerlich treten am stärksten hervor die Sporocarpien. Bei Marsilia sind das bohnenförmige gestielte Körper, die einzeln oder zu mehreren an dem unteren Teile des Blattstieles sitzen. Die Sporocarpien von Pilnlaria sind kugelig, und nur je eines Es sind zweierlei Sporangien vorhanden: die Megasporangien, deren jedes nur eine einzige Megaspore enthält, und die zahl- reicheren Microsporangien, von denen jedes 64 Microsporen erzeugt. Das reife Sporo- carp öffnet sich im Wasser infolge des Ver- schleimens des inneren Gewebes und die Wände der Sporangien werden aufgelöst. Ein mechanisch wirkender Annulus ist also nicht nötig; jedoch hat Campbell bei Pilnlaria americana Spuren eines termi- nalen Annulus gefunden, ähnlich dem der Schizaeaceae; auf die Verwandtschaft mit dieser Gruppe weisen auch die marginale Entstehung und die Einzelheiten der Ent- wickelune hin. Fig. 49. Marsilia. Sporangien und deren Entwickelung. 1 bis 3 Verlauf der Seitenadern der Frucht. 4 Medianer Längsschnitt einer sehr jungen Frucht. 5 Querschnitt einer solchen. 6 Teil eines Längsschnittes senkrecht auf Fig. 4. Ma Makrosporangien, Mi Mikrosporangien, Sk die Ausfuhrkanäle der Sori, F Gefäßbündel. 7 bis 9 Marsilia polycarpa, Nach Göbel. 7 Junges Sporophyll von der Seite. F Anlage eines Fiederblättchens, S junge Sporocarpien. 8 Junges Sporophyll von oben. 9 Unterer Teil eines Sporophylls mit 8 Sporocarpien. 10 bis 13 Marsilia Salvatrix. Nach Göbel. 10 Frucht. 11 Eine in Wasser aufgesprungene Frucht läßt einen Gallert- ring hervorkommen. 12 Der Gallertring G ist zerrissen und ausgestreckt. Sr die Surusfächer. 13 Ein Fach mit seinem Sorus aus einer reifen Frucht. Ma Makrosporangien, Mi Mikrosporangien. ist der Basis jedes Blattes seitlich angeheftet. Der Bau und die Entwickelung dieser Organe zeigen, daß sie stark modifizierte Fiedern sind, was noch klarer wird durch den vaskulären Zusammenhang (Fig. 49, i bis 5). Die kriechende Achse enthält eine Solenostele vom reduzierten Typus, daran schließen die ungeteilten Blattspuren sich an. Das Blatt von Marsilia hat gegabelte Aderung ohne Netzverschmelzungen. Das alles zusammen mit der Haarbedeckung und dem Fehlen der Ramenta deutet auf einen primitiven Zustand hin. Die Sori sitzen in Höhlungen des Sporo- carps; der Entstehung nach sind sie mar- ginal an den reduzierten Fiedern (Fig. 49, 3). Die Keimung der Sporen, die zusammen ausgestreut werden, geht sehr rasch vor sich. Aus den Microsporen entstehen Prothallien mit kaum mehr als 2 Antheridien, die Spermatocyten enthalten (Fig. 50, 4, 5). Die großen Megasporen enthalten ein Nähr- gewebe; am apikalen Ende wird ein win- ziges Prothallium (Fig. 51, 7-9) gebildet, das ein einziges Archegonium trägt (Fig. 51, 10). Nach der Befruchtung des Eies durch die langen, spiraligen Spermatozoiden (Fig. 50, 7) entsteht ein Embryo von der bei Farnen üblichen Gestalt. Der Entwicke- lungsgang ist also der eines Farnes; jedoch in Uebereinstimmung mit dem Standort und der Erwerbung der Heterosporie sind die 950 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Einzelheiten modifiziert. Die Marsiliaceae können demgemäß als spezialisierte Formen betrachtet werden, die anzuschließen sind an Farne mit marginalen Sori und beson- ders an die Schizaeaceae. Die bisher betrachteten Reihen der leptosporangiaten Farne zeigten alle die marginale Stellung der Sori; wenn bei den höher entwickelten Formen von Davallia eine superfiziale Stellung zustande kommt, so ist das zweifellos ein abgeleiteter Zustand. Die marginale Stellung ist auch charakteristisch für die primitiven Schizaea- ceae, mit denen die oben spezifizierten Leptosporangiaten wahrscheinlich in ge- wissem Maße verwandt sind. Weiterhin Fij 4 56 50. Marsilia^vestita. Entwickelung des Mikroprothalliums und der Spermatozoen. Nach Belajeff und Campbell. 8 Fig. 51. I. Marsilia vestita. Keimung der Makrospore. 1 Längsschnitt durch eine reife Makro- spore. N Nucleus. 2 bis 6 nachfolgende Stadien in der Entwickelung des weiblichen Pro- thalliums und Archegoniums. Nach Campbell. II. Marsilia Drummondii. 7 Medianer Längs- schnitt einer Prothalliumanlage, Teilungsschritt zur Anlage der Halskanalzelle. 8 Die Kern- spindel für die Anlage der Bauchkanalzelle. 9 Längsschnitt nach Anlage einer zweiten Kanalzelle. 10 Reifes Archegonium, eine Hals- und eine Bauchkanalzelle, die Scheidewand über dem Ei in der Mitte verquollen. Nach Strasburger. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 951 rmgerem haben die indusialen Schutzgebilde alle die Natur von Auswüchsen der intramarginalen Blattoberfläche, wie wir sie bei den Schizaea- ceae finden, so bei Lygodium und in ge- Grade bei Mohria. Wir gehen nun über zu den leptospor- angiaten Farnen, bei denen die Stellung der Sori superfizial ist, die also in dieser Hinsicht den Gleicheniaceae und den Matonineae entsprechen. Wir werden sehen, daß die indusialen Schutzgebilde dieser Gruppe, wenn auch im einzelnen der Be- schaffenheit und dem Ursprung nach vari- ierend, doch insgesamt sich unterscheiden von jenen, die charakteristisch für die sind. Es marginalen sollen Reihen nun nach- Achse und Blätter sind mit Haaren be- kleidet. Die Blätter sind dichotom verzweigt, sie lassen einen Fortschritt erkennen in der netzförmigen Aderung (Fig. 52, 3 und 4), Dip- teris Lobbiana hat schmale Segmente, mit je einer Reihe von Sori zu beiden Seiten der Mittelrippe. ' Dipteris quinquefurcata und L. Wallichii nehmen eine Mittelstellung ein; sie führen hinüber zu der breitblätterigen Dip- teris conjugata (Fig. 52, 1 bis 3), bei der sehr zahlreiche Sori über die breite, netzaderige Blattfläche zerstreut sind. Die Achse ist solenostel. ähnlich wie die von Matonia, jedoch weniger kompliziert; die Blattspur ist gewöhnlich ungeteilt. Am interessan- testen sind die Sori. Im allgemeinen sind Fig. 52. Dipteris. 1 bis 4 Dipjteris conjugata (Kau lf.) Rein w. 1 Blatt einer erwachsenen Pflanze. Nach Kunze. 2 Habitusbild einer jungen Pflanze. Nach Die ls. 3 Unterseite eines fertilen Blattes mit Aderung und Soris. Nach Kunze. 5 Sporangien und Paraphysen. Nach Kunze. 4 Dipteris Lobbia[na (Hook.) Moore. Teileines fertilen Segmentes mit Aderung und Soris. Nach Diels. einander diese verschiedenen Reihen be- trachtet werden. 11. Die Matonia-Dipteris-Cheiropleuria- Platycerium-Reihe. Die Aufstellung dieser Reihe beruhte bisher nur auf der Verglei- chung allgemeiner, äußerer Merkmale. Die ins einzelne gehende Untersuchung wird die Gültigkeit derselben nachzuweisen haben. Das Genus Dipteris wurde lange Zeit zu Polypodium gerechnet wegen seiner nackten, superfizialen Sori. Heute wird es als der einzige lebende Vertreter der Diptericlinae angesehen und an die Ma- tonineae angeschlossen. Wir kennen 4 lebende Species aus der Indo-Malaiischen Flora; diese zeigen eine interessante Pro- gression der Merkmale des Blattes und des Sorus. Sie haben alle, wieMatonia, kriechende Rhizome mit gelegentlicher Dichotomie: 'sie gebaut wie die von Matonia; jedoch es fehlt ein erhöhtes Receptakulum und das Indusium; sie enthalten ferner mehr Spor- angien, die ganz unregelmäßig angeordnet sind. Bei Dipteris Lobbiana entstehen noch die Sporangien eines Sorus simultan: bei Dip- teris conjugata, wo die zahlreichen Sori über die Blattfläche verstreut liegen, entstehen neue Sporangien zwischen den zuerst gebilde- ten. Wir haben hier den direkten Uebergang vom Typus der Simplices zu dem der Mixtae, ohne die gradate Zwischenstufe; die allge- meine Beschaffenheit der Sori nähert sich der für Acrostichum charakteristischen. Das einzelne Sporangium ist klein und hat einen schiefen Ring, dessen Zellen bis zur Ansatzstelle des Stieles verdickt sind. La- terale Dehiszenz, Sporenzahl 64. Wir haben hier also eine Progression 952 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) vom Typus der Simplices direkt zu dem sie weit auseinander zu stehen scheinen. der Mixtae, in einer durch andere Charaktere Im vorliegenden Fall nun haben wir einen als natürlich erkannten Reihe. Es handelt solchen synthetischen Typus, nämlich Lopho- sich hier um alte Formen; paläontologisch soria, das die Gleicheniaceae mit den lassen sich die Dipteridinae bis ins Rät Cyatheaceae verbindet. Alle diese Farne zurück verfolgen. Matonia und Dipteris stimmen überein in der superfizialen sind verwandte, alte Formen: erstere zeigt Stellung der Sori; bei den primitiveren eine hohe Entwickelung ihres Gefäßsystems, Formen fehlt ein Indusium, statt dessen letztere eine solche ihrer Sori. stehen die relativ wenigen Sporangien radial Die Genera Cheiropleuria und Platy- um ein vorspringendes Receptakulum. cerium können als weitere Abkömmlinge Es ist gezeigt worden, daß Gleichenia linearis und Gleichenia pectinata sich von den anderen Gleichenden unter- scheiden in folgenden Punk- ten: sie tragen Haare, der Bau der kriechenden Achse kann bis zu solenostelen Strukturen entwickelt sein, die Blattspur ist ungeteilt; sie haben eine größere Zahl von Sporangien im Sorus und einen geringeren Sporen- ertrag im Sporangium. Da- durch sind sie gegenüber den anderen Formen des Genus als fortgeschrittene Typen zu erkennen. Ihnen gegenüber stehen die Cya- theaceae; das sind Baum- farne mit aufrechter, mas- siver Achse und einem end- ständigen Büschel von Blättern (Fig. 53); sie haben Ramenta, dictyostelen Bau des Stammes, geteilte Blatt- spur; die Sporenzahlen sind sehr nieder, 32, 16 oder gar nur 8 im Sporan- gium; die Sporangien stehen in basipetaler Reihe am Receptakulum. Der syn- thetische Typus Lophosoria nimmt nun eine Mittel- stellung zwischen beiden ein. Es ist ein mono- typischer, niedrig wachsender Baumfarn der westlichen Tropen, oft als eine Alsophila klassifiziert. Von den Blatt- basen entspringen horizontale Ausläufer; die Pflanze ist mit Haaren bedeckt; die aufrechte Achse enthält eine Dictyostele, die Ausläufer dagegen sind solenostel; die Blattspur ist ungeteilt; der Fig. 53. Cyathea dealbata. Doppelstämmiges Exemplar aus dem botanischen Garten in Glasgow, den Habitus einer Cyathea zeigend. Es hat den Anschein einer Dichotomie, es ist jedoch unmöglich, das mit Sicherheit zu behaupten. der Matonineae betrachtet werden, die zu Epiphyten spezialisiert sind. Das muß jedoch erst noch genauer geprüft werden. 12. Die Gleichenioid-Cyatheoid-Aspi- dioid-Reihe. 12a) Die Cyatheoideae. Sorus ist der der Simplices (Fig. 54), der Sehr wahrscheinlich war die Stammform der I Annulus aber ist schief, die Dehiszenz Cyatheoideae und zuletzt auch der Aspidioid-] lateral, die Sporenzahl 64. Diese Merkmale farne verwandt mit den Gleicheniaceae. An- nahmen dieser Art finden eine gute Stütze, wenn es gelingt, verbindende Glieder, oder, wie man auch sagt, synthetische Typen, zu finden, mit deren Hilfe man die Beziehungen zwischen Reihen erkennen kann, die ohne scheiden den Typus von Alsophila, daher wird er besser als Lophosoria Presl. abgetrennt. Man kann ihn betrachten als einen Ab- kömmling der Gleicheniaceae, der die auf- rechte Achse angenommen hat und die Blatt- entwickelung abgekürzt hat. Der Uebergang Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 953 Vergleich zu Alsophila, welches dictyostel ist, ge- teilte Blattspur, Haare wie auch Eamenta und Sori vom gradaten Typus hat, ist dann leicht zu machen. Der Habitus der Cyatheaceae ergibt sich aus Figur 53; die dort zu sehende Dichotomie ist jedoch selten und für den mit den Gleicheniaceae von In- teresse. Der bau miormige Ha- bitus scheint se- kundär zu sein; er führt zur massiven Achse mit einer kom- plizierten Dic- tyostele und ak- zessorischen Strängen, wäh- rend sklerotische Massen die me- chanische Festig- keit geben. Von Bedeutung sind vor allem die Sori, die ihre superficiale Stel- lung beibehalten. Das Receptaku- lum ist ver- längert ; an Fig. 54. Lophosoria quadripinnata Gmel. Teil eines Fiederblättchens mit superfizialen Sori, die Sporangien jedes Sorus vom gleichen Alter. Stelle tauen hung rangien der simul- Entste- der Spo- wie bei Gleichenia und Lophosoria tritt eine basipetale Reihenfolge; diese ist ange- deutet bei Alsophila, bei Hemitelia und Cya- thea deutlichausgeprägt. Auchinden Schutz- gebilden des Sorus ist ein Fortschritt zu er- kennen. Alsophila hat nackte Sori, bei Hemi- telia ist der Sorus an seiner Basis teilweise umkleidet von einer Schuppe, die einem Ra- mentum nicht unähnlich ist; bei Cyathea endlich bildet das schüsseiförmige Indusium, das dem Genus den Namen gibt und das von der Basis des Receptakulums ausgeht, eine sehr vollkommene Schutzbedeckung der jungen Sporangien (vgl. Fig. 18). Dieses In- dusium stellt wahrscheinlich ein modifiziertes Ramentum dar, durch die ganze Familie hindurch. Von Bedeutung ist noch, daß der geringste Sporenertrag im Sporangium, d. h. der fortgeschrittenste Zustand, bei Cyathea zu finden ist, welches Genus auch das höchst organisierte Indusium hat. Wir haben so die wahrscheinliche Her- kunft der Cyatheaceae erläutert; sie bilden eine sehr natürliche Familie, die offenbar phyletisch ganz zu trennen ist von den Dicksonieae, bei denen der Sorus streng marginal ist. Das hauptsächlichste ge- meinsame Merkmal ist der baumförmige Wuchs. Wir kennen 3 Genera: Alsophila, Hemitelia und Cyathea, mit über 400 Arten, die über die Tropen der alten und neuen Welt verteilt sind. Ihre Existenz scheint mehr von den Regenfällen als von der Temperatur abzuhängen. Die außertropische Grenze ihres Verbreitungsgebietes findet sich auf der Stewart-Insel bei Neu- Seeland. Bis jetzt kennt man noch nicht ge- nügend Material, das das Vorkommen der Cyatheaceae im Paläozoikum bewiese. Im Jura jedoch war weit verbreitet Coniopteris hymenophylloides, ein Farn, der mit großer Wahrscheinlichkeit zu den Cyatheaceae ge- rechnet werden kann. Dieses fossile Vor- kommen würde auch harmonieren mit der phyletischen Mittelstellung, welche die Fa- milie wohl einnimmt. Die Salviniaceae werden oft mit den Marsiliaceae zusammengestellt als 2. Ab- teilung der Hydropterideae. Da sie jedoch wahrscheinlich mit diesen Farnen nicht nahe verwandt sind, und da die Aehnlichkeit zwischen beiden als die Folge einer parallel verlaufenden Anpassung an gleiche Lebens- bedingungen angesehen werden kann, so scheint es besser zu sein, sie zu näher ver- wandten Formen zu stellen, nämlich in die Nachbarschaft der Cyatheaceae. Sie um- fassen 2 Genera schwimmender Pflanzen, Salvinia und Azolla, mit ungefähr 18 Spezies. Diese Pflanzen haben relativ kleine Blätter, deren Form wenig Farnähnliches hat; je- doch die Einzelheiten der Entwickelung, besonders die Teilungen am Scheitel, sowie die ersten Stadien der Sporangien, lassen deutlich den Farncharakter erkennen. Die Blätter von Salvinia sind in Quirlen zu je 3 angeordnet; von diesen sind die zwei schräg nach oben gestellten zu Laubblättern ent- wickelt, das dritte nach abwärts gerichtete dagegen als wurzelähnliches, absorbieren- des Organ ausgebildet (Fig. 55, i, 2). Der Sproß ist reich verzweigt und zwar monopodial. Beide Genera haben mit den Marsiliaceae gemein den heterosporen Cha- rakter. Bei Salvinia sind die Sori — oder Sporocarpien, wie sie zuweilen genannt werden — kurz gestielte kugelige Körper, I die in Bündeln an der Basis der Wasser- blätter sitzen. Jeder ist umgeben von einem doppelten „Indusium", ähnlich dem der ; Cyatheaceae, und enthält zahlreiche Sporan- gien. Die kleineren Mikrosporangien und ! die größeren Makrosporangien finden sich in getrennten Sori, die ersteren in größerer Zahl (Fig. 55, 3). Azolla hat ähnliche Sori; jedoch ist nur ein einziges Mega- sporangium in jedem weiblichen ,,Sporo- carp". Die Sporangien zeigen mehr oder weniger deutlich basipetale Entwickelungs- folge. In jedem Megasporangium ist nur 954 Farne im weitesten Sinne (Pteridopliyta) eine einzige Megaspore, die Mikrospuren dagegen entsprechen in ihrer Zahl und Entwicklung den Sporen der leptosporan- giaten Farne. Sie werden frei durch Des- organisation der Sporangien. Bei der Kei- mung bilden sie ein rudimentäres Prothal- lium mit Antheridien und Spermatozoiden (Figur 55, 5, o). Auch die weiblichen Sporen Fig. 55. Salvinia natans. 1 Habitusbild. 2 ein einzelner Blattwirtel, mit Sporocarpien. Beide nach Bischoff. 3 Längsschnitt durch einen Sorus mit Mikrosporangien und einem solchen mit Megasporangien, Nach Luerßen. 4 bis 6 männliche Prothallien. 4 Teilung der Mikrospore in 3 Zellen. 5 fertiges Prothallium von der Flanke. 6 von der Bauchseite. Nach Belajeff. bilden einTsehr rudimentäres Prothallium mit Archegonien; nach der Befruchtung ent- steht aus einem derselben ein Embryo, ähnlich dem eines Farnes, der bei Salvinia wurzellos ist. Die Heterosporie, die wir hier finden, ist offensichtlich ein biologischer Fort- schritt gegenüber dem homosporen Zustand, den wir bei den meisten Filicales antreffen. Zu den Cyatheaceae sind von verschiede- nen Systematikern nun noch eine Anzahl anderer Genera mit superfizialen Sori und basalem Indusium gestellt worden. Das sind Struthiopteris und Onoclea, Peranema und Diacalpe, Woodsia und Hypoderris, Cystopteris und Acrophorus. Neuere Nach- untersuchungen dieser Farne, ausgenommen i Acrophorus, haben die Gründe für die An- nahme einer solchen Verwandtschaft be- festigt, sowohl hinsichtlich der Sori wie auch der Anatomie. Es wird demnach wahrscheinlich, daß der Cyatheoidtypus, mit gradatem Sorus und basalem Indusium, keine blind endigende Entwickelungsreihe darstellt. Modifikationen und zwar be- sonders die Einführung des gemischten Sorus scheinen den Anstoß zur Entwickelung neuer, abgeleiteter Formen gegeben zu haben. Struthiopteris, Onoclea, Woodsia und Cysto- pteris haben noch den gradaten Sorus beibehalten, dagegen treten bei Hypoderris, Peranema und Diacalpe nun die gemischten Sori auf. Alle diese Formen können als spezialisierte Unterreihen betrachtet werden: Struthiopteris und Onoclea in bezug auf ihr Vorkommen in nördlichen Gebirgen, Peranema und Diacalpe in hohen Lagen der Tropen; Woodsia ist eine Zwergform des Nordens und Hypoderris endlich lebt im Schatten der tropischen Wälder. Cysto- pteris kommt überall vor, hauptsächlich aber in den gemäßigten Zonen; es ist be- sonders auch alpinen Lebensbedingungen an- gepaßt. Für die Vergleichung ist es vielleicht die interessanteste Form. Schon Swartz und Presl haben Cysto- pteris mit den Aspidieae verglichen. Die Aehnlichkeit im Habitus ist unver- kennbar. Der vaskuläre Bau ist fast der- selbe wie bei Dryopteris (Nephrodium) Oreopteris. Die Sori und die Indusien gleichen denen der Aspidieae. Beide haben ein vaskuläres Receptakulum; ein Median- schnitt durch einen jungen Sorus von Cystopteris ergibt nahezu dasselbe Bild wie bei Dryopteris. Bei ersterem jedoch ist die Reihenfolge der Sporangien die der Gradatae, bei letzterem die der Mixtae. Daraus läßt sich schließen, daß eine Pro- gression von gewissen Cyatheoidabkömm- lingen zu den Aspidieae stattfand, charak- terisiert durch die Annahme des Merkmals der gemischten Sori. So entstanden die Sori von Hypoderris, Peranema und Dia- calpe; eine ähnliche Progression hatten wir schon erkannt in der Dennstaedtia- Davallia- Reihe. Demgemäß wäre die phyle- tische Stellung der Aspidieae die von Ab- kömmlingen der Cyatheoidfarne, die den Sorus der Mixtae erworben haben. 12 b) Aspidieae. Wir kennen etwa 1000 Arten dieser Reihe, die über die ganze Welt verbreitet sind. Die wichtigsten Genera sind Dryopteris, Aspidium und Polystichum. Dazu nehmen Di eis und Christensen noch eine Anzahl kleinerer Genera, von denen aber wohl keines wirk- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 955 lieh phyletisch zusammenhängt mit den großen Genera. Darüber werden weitere Untersuchungen zu entscheiden haben. Eine zur Darstellung sich gut eignende Form ist Dryopteris (Nephrodium) Filix mas. Diese Farne haben ein kriechendes, schiefes oder aufrechtes Rhizom mit ge- wöhnlich reich verzweigten Blättern. Die Aderung ist bei vielen offen, ohne Ana- stomosen; bei einigen, besonders solchen mit breiter Blattfläche, die also wahr- scheinlich kondensierte Typen darstellen, kommt Netzaderung vor. Stamm und Blätter tragen zahlreiche Ramenta, bei vielen Formen finden sich aber auch Haare; die Beschaffenheit derselben ist von Christensen zur Einteilung des großen Genus Dryopteris benutzt worden. Die dictyostele Struktur der Achse und die geteilte Blattspur von Dryopteris Filix mas sind wohlbekannt. Die Einzelheiten des vas- kulären Baues erleichtern die systematische Anordnung der Familie. Die Sori sind superfizial; sie sitzen ent- weder am Ende der Adern oder auf denselben. Bei den einfacheren Formen stehen sie in einer einzigen Reihe parallel dem Rande. Ist das Blatt breit, wie bei den abgeleiteten Typen, so kann auch mehr als eine Reihe da sein. Wir haben schon erörtert, daß der Sorus wohl von dem der Cyatheaceen abzu- leiten ist. Die Abänderungen haben offen- sichtlich biologische Vorteile zur Folge. Zunächst hat der gemischte Sorus gegenüber dem gradaten schon den allgemeinen Vorzug, daß bei ihm die Entleerung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und so die be- grenzte Länge des Receptakulums best- möglich ausgenützt wird. Einen zweiten Vorteil bietet die abgeflachte Gestalt des Receptakulums; es wird dadurch die Ein- rollung des Blattes in der Knospenlage leichter als da, wo das Receptakulum in die Länge gezogen ist, wie bei Cyathea. Dazu kommt bei Dryopteris noch die seit- liche Anheftung des Indusiums. Ein weiterer Fortschritt ist bei Polystichum zu sehen; hier stehen die Sporangien um das ganze Receptakulum herum bis an die Seite des- selben, die der Mittelrippe gegenüberliegt. Das Indusium erscheint dann in der wohl- bekannten Federballform. Endlich finden wir bei gewissen abgeleiteten Formen eine Modifikation in der Weise, daß das Indusium verkümmert ist; der nackte Sorus ist vom „Polypodioid"-Typus. Das ist der Fall bei Dryopteris (Polypodium) phegopteris, dem Tüpfelfarn. Da wo ein Indusium vorhanden, ist dasselbe ein modifiziertes Ramentum. Die Sporangien sind langgestielt; sie haben einen vertikalen Annulus und ein gut ausgebildetes Stomum; die Sporenzahl ist häufig 48 (Fig. 2 A, B, C). Die Gleichenioid - Cyatheoid - Aspidioid- ! Reihe umfaßt also Farne, die übereinstim- mend superfiziale Sori tragen. Sie beginnt mit primitiven Formen, die den einfachen Sorus, die protostele Achse und die un- geteilte Blattspur der Gleicheniaceae auf- | weisen, und endigt bei Farnen mit ge- i mischteni Sorus, dictyosteler Achse und ! stark geteilter Blattspur, wie die Aspidieae. i Dazwischen stehen die Cyatheoidfarne mit t gradatem Sorus, verschiedenartig solenosteler ! Achse und Unterteilungen der ausgedehnten Meristele des Blattstiels. Das Indusium — wo ein solches vorhanden — ist von der Natur eines spezialisierten Ramentums. i Eine kritische Untersuchung über die Frage, | welches die letzten phyletischen Abkömm- linge der Aspidieae seien, steht noch aus. 13. Die Plagiogyria-Blecknum-Wood- wardia-Reihe. Eine andere phyletische j Formenreihe, welche die Entwickelung von ! relativ einfachen zu fortgeschrittenen Farnen zeigt, stellt die von Di eis mit dem Namen BlecnninaebezeichneteGruppedar(Natürliche Pflanzenfamilien I, 4, S. 222). Dazu ge-. hören die Genera Blechnum, Sadleria, Wood- wardia und Doodya. Die älteren Systema- tiker rechneten dazu noch das Genus Pla- giogyria, das von Sir W. Hooker sogar in das Genus Lomaria (= Blechnum) einge- schlossen wurde. Neuerdings ist es wieder j als getrenntes Genus erkannt worden ; es ist ein synthetischer Typus, der die Blech- ninae mit primitiveren Farnen verbindet. 13a) Plagiogyria. Dieses Genus hat 11 Species, die in den östlichen und west- lichen Tropen weit verbreitet sind, be- sonders im Gebirge. Die Farne der Gruppe haben eine auf- rechte massive Achse, die bedeckt ist von . den Basen der dicht stehenden Blätter. Gelegentlich findet sich Dichotomie der Achse. Die Blattbasen sind verbreitert und tragen zahlreiche, vorspringende Pneu- matophoren. Die jungen Blattflächen sind bedeckt mit Schleimhaaren, Schuppen fehlen. Die Blätter sind gefiedert, haben einen gezähnten Rand und zeigen offene Aderung. Fertile und sterile Blätter sehen verschieden aus. Die sterilen Blätter sind breiter, die fertilen relativ schmal und haben umgeschlagene Ränder. Letztere bedecken die Sori, die auf den gegabelten Adern sitzen und sonst keinerlei Schutzgebilde haben. Gewisse Species entsenden Ausläufer, die von den Blattbasen entspringen; in ihrem basalen Teil zeigen diese solenostelen Bau. Das ganze Gefäßsystem ist ziemlich pri- mitiv. Das ergibt sich nicht nur aus den solenostelen Ausläufern; der erwachsene Stamm ist wohl dictyostel, jedoch wenig entfernt von einer Solenostele. Die Blatt- spur tritt als ungeteilter Strang aus. Diese Tatsachen, zusammen mit der Haarbe- deckimg und der einfach gegabelten Aderung 956 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) weisen auf einen primitiven Zustand hin (Fig. 56). Das ergibt sich noch deutlicher aus den Sporangien; diese sind groß, lang- gestielt und bilden ziemlich lockere Sori auf den Adern. Das auffallendste Merkmal ist ihr schiefer Annulus (Fig. 56, B und C) mit lateraler Dehiszenz; die Sporenzahl im Sporangium ist nur 48. Die ersten Spor- die Haare und den schiefen Annulus als primitives Genus abhebt. 13 b) Blechnum. Hierher gehören 138 Species, die meist tropisch sind, sich jedoch auch in die nördliche und südliche gemäßigte Zone hinein erstrecken. Viele Species finden sich auf Neu-Seeland. Zu Blechnum wird jetzt auch Lomaria gestellt, Fig. 56. Plagiogyria Kze. A bis F Plagiogyria semicordata (Presl) Christ. A Habitus. B und C Sporangien, von vorn und von der Seite. D Blattstielbasis. E Fragment des sterilen Blattes, mit Aderung. F Fragment des fertilen Blattes, mit Aderung und Sori. G Plagio- gyria scandens (Griff) Mett. Fragment des fertilen Blattes mit Aderung und ausgebreitetem Deckrande. Nach Mettenius. angien des Sorus erscheinen fast simultan, das früher wegen der engeren fertilen [Blätter davon getrennt gewesen war. nachher folgen aber andere, die dazwischen gestreut sind. Der Sorus ist also tatsächlich gemischt, ohne jedes gradate Anzeichen. Diese Merkmale lassen eine Beziehung zwischen Plagiogyria und den Simplices erkennen, ohne daß ein engerer Anschluß hergestellt werden könnte. Das Genus ist viel näher verwandt mit Blechnum, von dem es sich jedoch durch die Anatomie, Wir werdensehen, daß beide voneinemdimorphen Typus, mit engeren fertilen Blättern, so wie bei Plagiogyria, abzuleiten sind. Die Achse dieser Farne ist meistens auf- recht und trägt ein Büschel von Blättern; sie sehen aus wie kleine Baumfarne. Da sie sich leicht kultivieren lassen, werden sie mit Vorliebe in Gewächshäusern ge- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 957 zogen. Die Sektion Lomaria hat streng dimorphe Blätter wie Plagiogyria. Die schmaleren fertilen Blätter haben umge- schlagene Ränder, welche die Sori schützen; letztere sitzen auf den gegabelten Adern und füllen den Raum zwischen Mittel- rippe und Blattrand aus. Die Sektion Eu-Blechnum hat weniger streng dimorphe Blätter; zwischen der Reihe der Sori und dem Blattrand bleibt ein großer Zwischen- raum. Zwischen diesen beiden Formen finden sich Uebergänge, die es berechtigt erscheinen lassen, daß beide dem Genus Blechnum eingefügt werden. Der Unterschied zwischen den fertilen Blättern von Lomaria und Eu-Blechnum beruht auf einer Neubildung, die sich Schritt für Schritt verfolgen läßt, wenn man die verschiedenen Species vergleicht. Der ursprüngliche Typus ist ähnlich Plagio- gyria, wo der Blattrand sich nach unten über die Sori umbiegt. Bei einigen Species von Lomaria ist das genau so, ohne irgend- welche Verdickung des Blattes an der Stelle der stärksten Krümmung. Bei Blechnum (Lomaria) discolor und einigen anderen jedoch findet sich eine solche Verdickung, die durch nachträgliche perikline Teilungen Fig 57. Blechnum (Lomaria) discolor. A, B, C Schnitte durch fertile Fiedern von ver- schiedenen Altersstufen. Die abaxiale Oberfläche ist konkav, in den Zeichnungen oben ge- legen. Man sieht, wie der eigentliche Rand zum „Indusium" auswächst, und wie eine leichte der Stelle der stärksten Verdickung an Krümmung der Fiedern auftritt. Fig. 58. Blechnum brasiliense. Schnitte durch Fiedern zum Vergleich mit Fig. 57. A junges, fertiles Fiederchen mit marginaler Teilung. B und C zeigen die Anfänge des „Indusiums" als eines Gebildes von offensichtlich superfizialer Herkunft, D und E ältere Stadien. Das Indusium bedeckt die jungen Sporangien, die in basipetaler Reihenfolge angeordnet sind. Das „Indusium" stellt phyletisch den Blattrand dar. 958 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) hervorgerufen wird (bei X oder in Fig. 57, A, B und C). Bei anderen Species, z. B. Blechnum brasiliense entsteht an derselben Stelle ein flügelartiger Auswuchs. Der Blatt- rand geht direkt in diesen über, sodaß der Sorus mit seinem Indusium später als super- fiziales Wachstumsgebilde erscheint. Die Vergleichung der Spezies untereinander er- gibt, daß der Flügel des Blattes von Blech- num brasiliense, der zu einer ausgedehnten Fläche auswächst, in korrelativer Beziehung steht zu dem kleineren Flügel des Blattes von Blechnum discolor, und daß das Indu- sium von Blechnum brasiliense phylogene- tisch aus dem Blattrand hervorgegangen ist, jedoch in seiner Entwickelung behindert wurde durch das starke Wachstum des neuen Gebildes (Fig. 58). Biologisch ist der Fall wohl so zu deuten: die korrelative Reduktion der assimilierenden Fläche des fertilen Blattes war außerordentlich stark; der Blattrand wurde schon zum Schutze der Sori gebraucht; so wurde denn durch die Neubildung wieder eine assimilierende Fläche hergestellt. Das Endresultat ist aus Figur 59 ersichtlich. Nicht nur im Sorus zeigt Blechnum Fortschritte gegenüber Plagiogyria. Ein solcher ist auch zu erkennen in den flachen Ramenta des Blattes und der Achse, sowie in der weitergehenden Aufteilung der Ge- fäßstränge in Achse und Blatt. Fig. 59. Blech - mim o ed- el entale L. 2 Paar reifer Fiedern, von unten, die großen margi- nalen Wachs- . tumsgebilde und die Indu- sien als Klap- pen dicht an der Mittelrippe und parallel zu dieser zeigend. Nach Diels. 13 c) S adleri a-Wo 0 d w ar d ia-D 0 0 d y a. Diese Genera stehen hinsichtlich der Ent- wickelung der Sori noch eine Stufe höher als Eu-Blechnum. Die kontinuierlichen Indusiallappen auf jeder Seite der Mittel- rippe sind hier zerlegt in eine Reihe kurzer Indusien, deren jedes ein Fleckchen des Sorus bedeckt. Das sieht dann aus, als ob eine Reihe von Sori auf jeder Seite der Mittelrippe stünde. Auf den ersten Blick scheint die Anordnung gleich der bei den Aspidieae zu sein. Die Phylogenie ist aber gänzlich verschieden; denn hier ist das Indusium ein Teil des Blattrandes, bei den Aspidieae dagegen ist es ein spezialisiertes Ramentum. Außerdem schaut hier das Indusium nach einwärts gegen die Mittel- rippe, bei den Aspidieae aber nach außen gegen den Rand. Bei einigen Species von Doodya ist die Reihe der Sori doppelt. Woodwardia und Doodya haben Netzaderimg, ein Merkmal, das weiterhin sie als abgeleitete, relativ junge Formen kennzeichnet. Die ganze Reihe, von Plagiogyria aufwärts bis zu Wood- wardia und Doodya, erscheint als eine sehr natürliche und zusammenhängende; die einzelnen Schritte der Fortentwicklung lassen sich bei der Vergleichung der lebenden Formen klar und deutlich erkennen. Pro- blematisch bleibt, welches der phyletische Ursprung von Plagiogyria gewesen sein mag, und auch, ob es noch andere Abkömmlinge dieser Reihe gibt außer den genannten. 14. Asplenieae. Nach der Einteilung von Christ umfassen die Aspleniaceae die Blechneae und die Asplenieae. Eine ähnliche Anordnung hat Diels angenommen. Das setzt eine enge Verwandtschaft zwischen den beiden Gruppen voraus, für die sich zweifellos viel sagen läßt. Da jedoch die vergleichende Untersuchung noch nicht, soweit in Einzelheiten eingedrungen ist, um eine phyletische Einheit erkennen zu lassen, so ist es wohl gegenwärtig das beste, die Asplenieae als eine besondere Reihe abzutrennen. Dazu gehören etwa 750 Farn- species, die weit verbreitet sind in beiden j Tropen und gemäßigten Zonen. Die wieh- , tigsten Genera sind Athyrium, Diplazium 1 und Asplenium. Sie bilden eine sehr natür- liche Gruppe, charakterisiert durch den gemischten Sorus mit einem flachen Re- ceptakulum, das seitlich von einer Ader entspringt, der es gewöhnlich ein Stück weit folgt. Das Indusium ist vom Rande des Blattes schief nach innen gerichtet. Darin stimmen die Asplenieae mit den Blechneae überein ; das war wahrscheinlich der Grund dafür, daß die beiden Reihen zu einer zusammengezogen wurden (Fig. 60). Die Asplenieae sind hoch entwickelte Farne, das zeigt sich in dem gemischten Sorus, den dünngestielten Sporangien, dem clietyo- stelen Bau der Achse und in dem Vor- handensein von oft zahllosen Ramenta. Der Blattstiel hat jedoch in der Regel nur 2 Gefäßstränge, ein Merkmal, das nur auf eine Mittelstellung dieser Farne hindeutet. Das Indusium ist zuweilen ähnlich dem der Aspidieae. Die systematische Stellung Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 959 jedoch, die zugewiesen wird, Vergleichung mit gewöhnlich weist dem den Asplenieae eher auf eine Indusium der Fig. 60. Diplazium (Asplenium) radicans (Schk.) Presl. Teil eines Fiederblättchens 2* Ordnung mit Aderung und Sori. Nach Di eis. Blechneae hin. Wir haben gesehen, daß wahrscheinlich diese beiden Typen phyletisch verschieden sind, und daß ihre Indusien verschiedenartiger Herkunft sind. Es ist zurzeit unmöglich, das Indusium der Asplenieae mit Sicherheit auf das eine oder das andere zurückzuführen; ihre systema- tische Stellung bleibt also zweifelhaft. 15. Pterideae. Die Pterideae stellen eine große und erfolgreiche Farnfamilie dar. Dazu gehört eine große Anzahl von Genera mit zusammen über 800 Arten. Diese sind charakterisiert durch die super- fizialen Sori, die oft verlängert sind und auf den Adern oder an deren Enden sitzen. Die Adern zeigen oft Anastomosen, die parallel dem Blattrand verlaufen; die Sori können so zu einer kontinuierlichen intra- marginalen Linie vereinigt sein. Das ist jedoch ein sekundäres Ergebnis. Der Blatt- rand ist gewöhnlich nach unten umgebogen und bildet eine indusiumartige Bedeckung (Fig. 61). Mit wenig Ausnahmen fehlen In- dusien irgendwelcher anderen Art. Die Pflanzen dieser Reihe haben sehr verschiedene Gestalt. Es gibt kriechende, büschelige und aufrechte Formen. Die Blätter zeigen relativ einfache bis reiche Verzweigung. Manchmal finden sich Haare, häufiger dagegen Ramenta. Das Gefäß- system kann solenostel sein mit ungeteilter Blattspur, oder aber es ist eine Dictyostele mit geteilter Blattspur. Wenn also auch die Sori immer mehr oder weniger deutlich gemischt sind, die Sporenzahl relativ nieder •— ? Fig. 61. I. 1 Pterislongifolia L. Habitus. Nach Diels. 2 und 3 Pteris aculeata, Sw. 2 Fieder. 3 Teil einer Fieder. Mit Sorus und aufgeklapptem Indusium. Nach Baker. 4 Pteris elata var. Karsteniana. Diagramm des Gefäßbündelverlaufes an der Insertionsstelle eines Blattes. Nach Gwynne-Vaughan. An der Vorderseite ein Stück herausgeschnitten, um das Innere zu zeigen. II. A Adiantum pedatum L. Blatt. Nach Diels. B Adiantum Parishii Hook. Habitus. Nach Hooker. C Unterseite eines Blattes. Nach Hooker. D und E Adiantum Capillus Veneris L. Teile einer fertilen Fieder. Bei E der tertile Lappen aufgeklappt, um die Sporangien zu zeigen. Nach Diels. 960 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) ist, so lassen sich doch augenscheinlich innerhalb der großen Reihe wieder kleinere phyletische Folgen erkennen. Die Pterideae sind eine weitverbreitete Farngruppe, die etwa 30 Genera umfaßt, die über die tropischen und gemäßigten Regionen verteilt sind. Sie stellen offenbar eher eine phyletische Schar, als eine einzige beschränkte Linie dar. Einige von ihnen zeigen verhältnismäßig primitive Merkmale. Diese stammen wahrscheinlich direkt von Typen aus der Gruppe der Simplices ab und sind nicht etwa das Ergebnis irgend- welcher sekundärer Modifikationen aus an- deren Reihen spezialisierter Leptosporan- giaten. Man hat sie in 4 Unterreihen ein- geteilt: die Gymnogramminae, die Cheilan- thinae, die Adiantinae und die Pteridinae, welche natürliche Unterschiede zeigen; doch sind sie wohl sozusagen als ein Bündel phyletischer Linien von einem gemeinsamen Ursprung ausgegangen. Das bekannteste Beispiel aus der Gruppe der Pterideae ist Pteridium aquilinum, der gemeine Adlerfarn, ein kosmopoli- tischer Farn, der zu den weitest verbreiteten Pflanzen gehört. Seine Stellung in der Familie ist eine relativ fortgeschrittene. 15a) Gymnogramminae. Diese sind charakterisiert durch die Sori, die sich der ganzen Aderung, oder doch wenigstens des größten Teils derselben, entlang erstrecken, wie z. B. bei Gymnopteris rufa (L.) Link. (Fig. 62). Häufig fehlt ein besonderer Schutz Fig. 62. Gymnopteris rufa (L.) Bernh. Fieder und Fiederausschnitt. Beide vergrößert, Nach Flora Brasiliensis. der Sori; die Pflanzen sind gewöhnlich mit Haaren an Stelle der Schuppen bedeckt, die Blattspur ist ungeteilt. Diese Merkmale deuten auf die verhältnismäßig primitive Stellung dieser Farne hin. Andererseits ist netzförmige Aderung nicht selten, besonders bei dem Genus Hemionitis, wenn auch viele Formender Gruppe offene Gabelung der Blatt- adern aufweisen. 10 Genera gehören hierher. 15b) Cheilanthinae. Die Sori dieser Farne sind beschränkt auf die marginale Region der Adern; der Blattrand ist nach unten umgebogen und bildet so in vielen Fällen einen Schutz der Sori. Von den Genera, die Diels zu der Gruppe zählt, seien zunächst die primitiveren genannt, nämlich: Plagiogyria, Llavea und Crypto- gramme. Plagiogyria haben wir schon im Zusammenhang mit der Blechnum-Wood- wardia-Reihe besprochen. Es ist sehr wohl möglich, daß es gegenüber gewissen Cheilanthinae, wie Llavea und Crypto- gramme, die Stellung eines synthetischen Typus einnimmt. Diese Ansicht findet eine Stütze in der Tatsache, daß bei Crypto- gramme der Annulus gelegentlich eine Spur schief sein kann. Wie dem auch sein mag, so sind doch offenbar Llavea und Crypto- gramme relativ primitive Typen der Familie. Von den übrigen Genera sind besonders hervorzuheben die Xerophyten Notholaena und Cheilanthes; sie sind mit schuppigen oder wachsartigen Gebilden bedeckt, ihre Blattstiele sind schwarz. W. Hooker schon hat den Habitus von Cheilanthes verglichen mit dem von Mohria, und es ist wohl möglich, daß ein gewisser phyletischer Zusammenhang der Familie mit den Schi- zaeaceae bestanden hat. Ein anderes wich- tiges Genus ist Pellaea; denn es kann als ein Prototyp der noch übrig bleibenden 2 Abteilungen der Familie betrachtet werden. Seine Sori sitzen meist nahe am Rand, auf den gegabelten, völlig getrennten Adern (Fig. 63). Der Blattrand ist umgeschlagen und bedeckt so die Reihe der Sori. Die Pflanze ist mit Haaren bedeckt, die Blatt- spur ungeteilt, der Stamm solenostel oder schwach dictyostel, alles Anzeichen eines relativ primitiven Zustandes. Wahrschein- lich umfassen die Cheilanthinae die ältesten Formen der lebenden Pterideae. 15 c) Adiantinae. Dazu gehört nur das große Genus Adiantum, weit verbreitet in den Tropen, aber mit einigen Arten auch in den gemäßigten Zonen vertreten. Sie sind charakterisiert durch die weitgehende Zerteilung der Blätter (vgl. Fig. 61 A). Die Teilblättehen tragen am distalen Rande einen oder mehrere Sori; sie haben, wie die von Pellaea, getrennte Gabeladern. Die Adern erstrecken sich bis in kleine Rand- läppchen hinein, die umgeschlagen sind: letztere tragen die Sporangien. Wir haben hier einfach einen weiter spezialisierten Pellaea-Sorus (vgl. Fig. 61 C, D und E). Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 961 Diese Annahme wird noch gestützt durch die Anatomie und die Haarbedeckung in der Jugend. i5d) Pteridinae. Die Pteridinae um- fassen 9 Genera, die in ihrer Fruktifikation gegenüber Pellaea einen Fortschritt zeigen. Derselbe besteht in dem Auftreten einer intra- marginalen Kommissur, welche die Enden der Adern verbindet. Auf dieser Kommissur sitzen die Sporangien; sie sind bedeckt von Fig. 63. Pellaea falcata (R. Br.) Fee. A Ha- bitus. B Teil einer Fieder, mit Aderimg und Sori. A nach Diels. B nach Hooker. chitis, Paesia und Pteridium. Pteris ist ein großes Genus, das überall in den wärmeren Teilen der Welt vorkommt. Es sind kriechende und aufrechte Formen mit Blättern, die sehr verschieden stark ver- zweigt sind. Die kriechenden Formen sind solenostel, ihre Blattspur ist ungeteilt. In einigen Fällen ist ein markständiges Sy- stem entwickelt, so daß schließlich Polyzyklie resultiert, z. B. bei Pteris elata (Fig. 61, 4). DerSorus ist wie oben beschrieben (Fig. 61, 3). Seinen Merkmalen nach nimmt Pteris eine mittlere Stellung ein; es ist gegenüber Pel- laea deutlich fortgeschritten," jedoch nicht so stark wie Paesia und Pteridium. Pteridium, der Adlerfarn, zeigt Fort- entwickelung sowohl im Gewebe der Gefäß- bündel als im Sorus. Die Blattspur ist in eine Anzahl von Strängen geteilt; ein Querschnitt des Rhizorns zeigt eine Teilung der beiden konzentrischen Gefäßstränge in zahlreiche Meristelen (Fig. 64). Was den dem nach unten umgebogenen Rande. Das ist sicher ein Fortschritt gegenüber Pellaea; vaskuläre Verschmelzungen deuten ja selbst schon ein abgeleitetes Stadium an (vgl. Fig. 61, 1 bis 3). Die Hauptgenera sind Pteris und Lon- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. Fig. 64. Pteridium aquilinum. Querschnitt durch das Rhizom. s konzentrische Meristelen, z sklerenchymatische Platten, lp Zone der Slder- enchymfasem, R Kinde, e Epidermis. Vergröße- rung 7iach. Nach Strasburger. Sorus betrifft, so findet sich bei Pteridium und auch bei Paesia, außer dem Schutze durch den umgeschlagenen Blattrand, noch ein inneres Indusium, das vermutlich durch seitliche Verschmelzung von Haaren ent- stellt; ein solches Indusium kommt bei keinem anderen Genus vor. Welches die Natur dieses Indusiums auch wirklich sein mag, sein Vorhandensein bedeutet jeden- falls einen Fortschritt gegenüber den anderen Formen der Familie. Pteridium ist also ein geförderter und vielleicht der fortgeschrit- tenste Typus der Pteridinae. Die Pterideae zeigen also, neben ge- wissen, relativ primitiven Formen, ganz bestimmte Linien der Fortentwickelung, die in gewissem Maße parallel laufen mit solchen, wie wir sie anderwärts sehen können. Aus ihnen sind wohl keine höheren Typen als sie selbst hervorgegangen; sie stellen 61 962 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) offenbar eine Reihe dar, die frühzeitig von anderen sich abtrennte. Es bleibt noch viel zu tun übrig, bis die Tatsachen genügen, um sie mit einiger Sicherheit entsprechend ihren phyletischen Beziehungen „inter se" einzureihen. Im vorstehenden ist der Versuch gemacht worden, die Hauptreihen der Filicales dar- zulegen und ihre phyletischen Verwandt- schaften anzugeben. Kleinere Reihen sind weggelassen worden. In mehreren ver- schiedenen Reihen sind (ähnliche Methoden der fortschreitenden Entwickelung erläutert worden; in der Tat war parallele Ent- wickelung mit folgender Konvergenz der Typen häufig. Das ist besonders deutlich zu sehen bei der Entstehung derjenigen Formen, die als ,,Polypodium" und „Acro- stichum" bezeichnet worden sind. Das frühere Genus Polypodium wurde charak- terisiert durch die superfizialen Sori von rundem Umriß, ungeschützt durch irgend- welche indusiale Bedeckung. Doch dieser Zustand kann aus sehr verschiedenen An- fängen hervorgegangen sein. Technisch ist Lophosoria ein Polypodium, und es wurde als solches von Schkuhr beschrieben; doch es ist ein primitiver Typus, der niemals ein Indusium besessen hatte. Andererseits hat eine Abteilung von Dryopteris den Polypodioidzustand erlangt infolge der Ver- kümmerung des Indusiums. Ferner hatte man unter „Acrostichum" zu verstehen Farne, deren Sporangien, ungeschützt durch ein Indusium, über eine große Fläche des Blattes ausgestreut waren. So wurde Platy- cerium dazu gerechnet, das jedoch wahr- scheinlich durch Dipteris conjugata ein Matonioidabkömmling ist. Ebenso wurden dazu früher die Farne der Gruppe Steno- chlaena gestellt, obwohl diese sicher von den Blechneae abzuleiten sind. Die Sache ist eben die, daß Polypodium und Acrostichum, im alten unbeschränkten Sinne keine natürlichen Genera sind, sondern Stadien oder Zustände darstellen, die durch Modi- fikation aus mehreren unterschiedenen An- fängen hervorgegangen sein können. Beim Studium einer so großen und wohlbesehriebenen Familie wie dieser ist es zuerst nötig, die relativ konstanten Merk- male von den weniger konstanten zu trennen. Die Lage der Sori in Beziehung zum Blatt- rand hat sich als eines der konstantesten Merkmale durch lange Reihen hindurch erwiesen, wogegen andere, wie die Ver- zweigung, die epidermalen Anhangsgebilde, das Gefäßsystem, der Bau des Sorus, die Größe und Sporenzahl der Sporangien und korrelativ die Größe der Antheridien und die Zahl der Spermatocyten, alle vari- iert haben. Bei der Betrachtung dieser Staminesreihen ergeben sich Resultate, die mit Hilfe des fossilen Materials kontrolliert werden müssen. Ergibt sich hierbei Ueber- einstimmung, so ist das ein Zeichen dafür, daß die angewendete Methode gesund und richtig war. Demnach stellen die Filicales ein Bündel von Stammesreihen dar, die, nach dem heutigen Stande unserer Kennt- nisse, sich nicht auf einen einzigen Aus- gangspunkt zurückführen lassen. Die pri- mitiven Formen zeigen vorwiegend Dicho- tomie, eine relativ massige Organisation, wie schon ihre Meristeme, Haarbedeckung, protostelen Bau der Achse, ungeteilte Blatt- spur, Sori mit simultaner Entstehung der wenigen und großen, ungeschützten Spor- angien und große Sporenzahl im Sporan- gium. Ihr Gametophyt war wahrschein- lich massig, mit relativ großen Antheridien und in das Gewebe eingesenkten Arche- gonien. Die jüngeren abgeleiteten Formen zeigen in verschieden hohem Grade: Verlust der dichotomen Verzweigung, zartere Or- ganisation, Schuppen an Stelle der Haare, verschieden weitgehende Vervollkommnung der Stele und Blattspur, u. a. die Aufteilung in kleinere Stränge, Sori verschiedenartig geschützt, mit sukzessiver Bildung der zahl- reichen, relativ kleinen Sporangien, und kleiner Sporenzahl in jedem derselben. Ihr Gametophyt ist zarter, die Sexual- organe ragen hervor, die Zahl der Sperma- tocyten ist reduziert. Dieser Zustand ist durch Progression längs paralleler Linien erreicht worden. Die so entstehenden leptosporangiaten Farne sind vorherrschend unter den Farnen der Gegenwart. Sie stellen offenbar die höchste Fülle der Ent- wickelung dar, die bisher von den Filicales erreicht wurde. 2. Equisetales. Die Lebensgeschichte der Equisetales zeigt dieselben Wesenszüge wie die der Filicales. Die unterscheidenden Merk- male liegen in der Beschaffenheit des Sporophyten, der deutlich microphyll ist, wie wir es an dem lebenden Genus Equisetum (Schachtelhalme) sehen können. Sie sind gegenüber allen anderen Pteridophyten ge- kennzeichnet durch die Anordnung der Sporangien; diese werden von Sporangio- phoren getragen, welche direkt der Achse an- sitzen, und die nicht bestimmt mit Blättern in Zusammenhang gebracht werden können. Die Sporangiophoren haben einen von Ge- fäßbündeln durchzogenen Stiel; am distalen Ende sind sie schildförmig verbreitert und hier sitzen die Sporangien (Fig. 65, B, C). Das Phylum wird heute nur noch durch das Genus Equisetum vertreten, mit unge- fähr 30 Species, welche weit verbreitet sind und feuchte Standorte bevorzugen. Jedoch es ist erwiesen, daß die Equisetales schon im Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 963 Devon vorkamen, wo sie schon einen hohen Grad der Ausbildung' erreicht hatten. Charakteristischer noch sind sie für das Karbon, in welchem sie zur höchsten Entwickelung gelangten, so- wohl der Zahl als auch der Größe nach; sie wuchsen dort zu hohen Bäumen heran. In der Folge traten sie dann mehr und mehr zurück, und heute sind sie nur noch re- präsentiert durch das kosmo- politische Genus Equisetum, das eine bemerkenswerte Gleichförmigkeit der Typen zeigt. Die wesentlichen Merk- male des lebenden Genus sollen zuerst besprochen werden, daran anschließen soll dann die vergleichende Betrachtung der Fossilien auf Grund dessen, was bei Equisetum zu sehen ist. Am Sproß tritt am stärk- sten hervor die Achse, die immer radiär gebaut ist und an ihrem Scheitel eine deut- liche Initiale aufweist. An der vegetativen Achse ent- springen seitlich in dichter acropetaler Reihenfolge die Blattscheiden. Diese verwach- sen schon frühzeitig mitein- ander, und im fertigen Sta- dium sieht man dann von den verwachsenen Blattscheiden nach oben hin abstehen die Blattzipfel (Fig. 65 A) in Form von kleinen Zähnen. Die Internodien strecken sich: sie zeigen eine Kanellierung und zwar so, daß die Riefen oder Rinnen aufeinander- folo-ender Internodien alter- F,g- 65" Ecl^lsetum arvense. A fertiler Sproß, vom ioi&enaer inieinocuen alter Rhizom entspringend, das auch Knollen trägt; die vegetativen meien, was man an den Sprosse noch nicht entfaltet. F steriler, vegetativer Sproß. Knoten leicht erkennen kann. B und c Sporangiophoren mit Sporangien, die in C geöffnet Dieser Bauplan des Sprosses sind. D Spore mit den beiden Spiralbändern des Periniums. ist für alle lebenden Schach- E trockene Sporen, die Spiralbänder ausgebreitet. A und F telhalme derselbe. Unter- Y2 natürliche Größe, V, C, D, E vergrößert. Nach Stras- schiede finden sich in der burger. Länge der Internodien, der Zahl der Rillen, in dem Vorhandensein oder gener Entstehung erweckt wird. Die Seiten- Fehlen des Chlorophylls je nach der Ent- sprosse sind genau so gebaut wie der Haupt- stehung über oder unter der Erde. Immer sproß, doch gewöhnlich in vereinfachtem aber ist beibehalten die radiäre Symmetrie Maße. An diesen Seitenknospen werden und die quirlförmige Anordnung der Blätter, immer Wurzeln gebildet, je eine an der Die Verzweigung des Sprosses ist mono-; Basis einer jeden; sie werden entwickelt, podial; sie geht von Zellen aus, die unmittel- auch wenn die Knospen schlafend bleiben bar über den Blattscheiden liegen und mit (Fig. 65, A). Sproß und Wurzeln zeigen je deren Zähnen alternierend stehen. Ein so nach den Umständen verschiedene Grade entstehender Zweig durchbricht die umhül- der Entwickelung; daraus ergeben^ sich lende Blattscheide, sodaß der Anschein endo- deutliche äußere Verschiedenheiten, auf 61* 964 Farne im weitesten Sinne (Pterid.oph.yta) denen die spezifische Unterscheidung be- ruht. Die Sporangiophoren sind zu Strobili oder Zapfen vereinigt, die normalerweise terminal an der Achse stehen und oft nur an derHauptachse gebildet werden (Fig. 65, A). In vielen Fällen werden sie aber auch an Seitenzweigen entwickelt. Man kann ganz allgemein sagen, daß die Strobili nicht auf Sproßachsen einer bestimmten Ordnung be- schränkt sind. So bedarf es keiner großen Einbildungskraft, um in dem Sproßsystem von Equisetum das Resultat einer Ver- vielfachung einer einfachen Einheit zu sehen ; diese Einheit ist der Sproß, der aus Achse und Blattscheiden besteht und in einem terminalen Strobilus Sporen bildet. Der Strobilus besteht aus einem Stück der Achse, an welchem die Sporangiophoren sitzen, oft nicht so regelmäßig wie die Blattscheiden Zwischen den einzelnen Sporangiophoren finden sich keine Blätter. Ein Sporangiophor hat einen zentralen Stiel, der an seinem distalen Ende eine Scheibe trägt ; von dieser hängen Sporangien in kleiner, aber wechselnder Zahl herab (Fig. 65, B, C). Die Sporen sind alle gleich (isospor). Sie haben außer den zwei üblichen Häuten noch ein Epispor, das bei der Reife sich in vier Bänder teilt, die an einem zentralen Punkt fest- geheftet sind. Diese Bänder krümmen sich hygroskopisch, so daß die Sporen sich an- einanderhaken; infolgedessen wachsen die eingeschlechtigen Prothallien immer in Gruppen vereinigt (Fig. 65, D, E). Der Typus von Equisetum läßt sich bis ins mittlere Karbon (Middle Coal Measures) zurückverfolgen, häufiger jedoch findet er sich in den Gesteinen des Mesozoikums. Verwandt mit ihm ist die fossile Form Phyllotheca aus dem Perm, die sich haupt- sächlich dadurch unterscheidet, daß zwischen den Sporangiophoren des Strobilus Scheiden steriler Blätter stehen; ferner auch Schizo- neura aus der Trias, das charakterisiert ist durch seine quirlförmig angeordneten Blät- ter, die zu Scheiden verwachsen sind, welche längs aufreißen, so daß die entstehenden Lappen gerade wie einzelne Blätter von der Achse abstehen. Die meisten der älteren Equiseteufossilien jedoch gehören zu dem Typus der Calamarien. Das waren Pflanzen von baumförmigem Habitus, mit sekundärem Dickenwachstum des Stammes, jedoch mit dem gleichen primären Bau des Sprosses wie Equisetum. Die Blattquirle verwachsen häufig an der Basis, jedoch oft nur wenig, wie bei Annularia; bei Asterophyllites aus dem Devon dagegen stehen die Blätter voll- ständig getrennt in weit divergierenden Quirlen. Die Blätter waren gewöhnlich ein- fach, wie die von Equisetum, aber größer und als x\^similationsorgane wirksamer. Bei den ältesten Formen, wie Asterocalamites aus dem Kulm, waren die Blätter wiederholt dichotom verzweigt (Fig. 66). Die sehr alte Fig. 66. 1 Archaeocalamites. 2 ein Blatt desselben. 3 Asterocalamites scrobicu- latus. Nach Stur. Form Pseudobornia hatte gegabelte, fächer- förmig ausgebreitete Blätter von beträcht- lichen Dimensionen. Die älteren Formen unterscheiden sich von den jüngeren auch darin, daß bei ihnen die Glieder aufeinander- folgender Quirle superponiert sind, nicht alter- nieren. Der primitive Equisetoidtypus hatte demnach relativ große, im Quirl stehende, superponierte Blätter; diese waren von- einander getrennt und zeigten Gabelung. Der Zustand des heutigen Equisetum wurde erreicht durch Reduktion der verwachsenen und einfachen Blätter, die nun alternierend, nicht superponiert, stehen; die assimila- torische Funktion ging auf die Gewebe der Achse über. Wir haben jedoch keinen tat- sächlichen Beweis dafür, daß die Entwicke- lung von Equisetum in Wirklichkeit so vor sich gegangen sei. Der Strobilus der Calamarien stand terminal an der Achse; er war gewöhnlich länger als der von Equisetum und unter- schied sich von diesem auch im Bau. Der Equisetum am nächsten stehende Typus ist das alte Archaeocalamites; bei den anderen Calamariaceen jedoch alternieren regelmäßig ein Wirtel von sterilen Blättchen und ein solcher von Sporangiophoren (Fig. 67, i, 5). Die Sporangiophoren waren im wesentlichen wie die von Equisetum; ihre Beziehung zu den sterilen Blattwirteln war eigentümlich. Es bestand kein strenges numerisches Ver- hältnis zwischen beiden; zudem standen die aufeinanderfolgenden sterilen Blattquirle in Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 965 Alternation, die Sporangiophorenquirle da- gegen waren superponiert. Andererseits ist für Palaeostachya vera gezeigt worden, daß die Zahl der sterilen Blättchen an- nähernd übereinstimmt mit der Zahl der Sporangiophoren. Diese Tatsachen müssen in Betracht gezogen werden bei der Diskus- sion der Morphologie des Strobilus der Fig. 67. Fruktifikationen von Calamiten. 1 Calamostachys Binneyana. Längsschnitt des Strobilus. 2 Querschnitt desselben in der Höhe eines Sporangiophorenwirtels. 4 Calamo- stachys Casheana. Querschnitt durch den Stieleines Sporangiophors und dessen Sporangien mit 3 Makro- und einem Mikiosporangium. 5 Palaeostachya. Längsschnitt eines Stro- bilus, die axillare Stellung der Sporangiophoren zeigend. Nach Scott und Hickling. Equisetales und bei der Entscheidung über den wahren Charakter der Sporangiophoren. Figur 68 stellt einen Querschnitt durch ein Internodium von Equisetum arvense dar. Wir sehen die Epidermis, die Kinde und die zentrale Stele Wie immer bei im Wasser wachsenden Pflanzen finden sich große Luft- räume: ein zentraler Luftgang und dann eine Reihe von Höhlen, je eine an jedem der in einem Ring angeordneten Gefäßbündel, die den vorspringenden Längsleisten (Carinae) an der Oberfläche des Sprosses gegenüber- stehen und deshalb Carinalhöhlen genannt werden; mit ihnen alternierend und also den Kanälen an der Oberfläche gegenüber- stehend, findet sich eine Reihe von Höhlen in der Rinde: sie heißen Vallecularhöhlen. Der periphere Teil der Rinde setzt sich teils aus mechanischem, teils aus grünem, assi- milierendem Gewebe zusammen. Die Stele besteht aus dem Ring von Gefäßbündel- strängen, die rund um das zentrale Mark herumstehen. Diese sind seitlich voneinander getrennt durch breite Strahlen von Paren- chym, das Ganze ist bei den meisten Species begrenzt von einer ununterbrochenen Endo- dermis. Die Ausbildung und Lage der Endo- dermis wechselt von Species zu Species; doch das sind wohl spezielle und sekundäre -2Z. Fig. 68. Equisetum arvense. Querschnitt durch den Stengel, m lysigene Markhöhle, e Endo- dermis, cl Karinalhöhlen in den kollateralen Gefäßbündeln, vi Vallekularhöhlen, hp Skler- enchymstränge in den Riefen und Rippen /Cch chlorophyllführendes Gewebe der primären Rinde, st Spaltöffnungsreihen. Vergrößerung 11 fach. Nach Strasburger. Aenderungen, sie berühren nicht die Er- kenntnis, daß der Stamm im wesentlichen monostel gebaut ist. In den Internodien sind die Leitbündel ziemlich reduziert, wie gewöhnlich bei Wasser- pflanzen. Zwei Gruppen von Protoxylem liegen rechts und links von der Carinalhöhle und zwei andere kleinere Gruppen von Xylem schief nach außen von ihr, dazwischen liegt Phloem. An den Knoten dagegen ist das Xylem besser entwickelt und es finden sich da sogar Zeichen kambialer Tätigkeit. Zur Erklärung dieser Struktur ist ange- nommen worden, daß der Stamm monostel sei, wie bei anderen primitiven Formen, daß er aber nur noch einen geringen Ueber- rest des mutmaßlichen alten, protostelen Zu- standes darstellt. An Stelle des soliden Xylemkerns findet sich im zentralen Teil Parenchym; bei dem alten Fossil Calamites pettycurensis ist diese Umwandlung erst bis zu einer Volumver- ringerung des Xylems gediehen, es bleibt hier noch ein zentripetaler Ueberrest. Das deutet auf die Wahrscheinlichkeit der Annahme eines protostelen Ursprungs hin, vergleich- bar mit dem, was bei den Lycopodiales und 4Sphenophyllales zu sehen ist. Physiologisch erscheinen diese Umwandlungen als das natürliche Ergebnis des Lebens im Wasser oder in schlammigem Grunde; mit den ana- 966 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) tomischen Veränderungen harmoniert auch die Keduktion, welche die Blätter erfahren. Es sind freilich auch andere Erklärungen dieses schwierigen anatomischen Problems versucht und gegeben worden. Die jungen Zweige eines Calamiten zeigen eine Struktur, die identisch ist mit der eines modernen Equisetum. Später aber tritt in ihnen ein Kambium in Tätigkeit ähnlich dem, wie wir es in den Knoten der lebenden Equisetumspecies finden. In der Tat ist denn auch ein Calamit in ana- tomischer Hinsicht einfach ein Equisetum mit sekundärem Dickenwachstum. Durch das Dickenwachstum entstanden Stämme von erheblicher Größe und Dicke. In gleichem Maße nahm natürlich die Markhöhle an Größe zu. Vielleicht das häufigste Fossil aus der Kohle ist der geriefelte innere Abguß einer solchen Markhöhle, und es ist nicht immer ohne weiteres zu ersehen, ob man nur diesen oder den Stamm selbst vor sich hat. Die Wurzeln von Equisetum stimmen im wesentlichen mit denen der Farne überein, sie zeigen natürlich kein sekundäres Dicken- wachstum. Die von Calamites aber haben kambialen Zuwachs, entsprechend den Ver- hältnissen im Stamm. An den Scheiteln des Stammes und der Wurzel von Equisetum sind regelmäßige Tei- lungen aus einer einzigen Initialen zu er- kennen (Fig. 69). Die Scheitelzelle hat die Form einer dreiseitigen Pyramide, von deren Seitenflächen werden die Segmente (S' S") in regelmäßiger Folge abgeschnitten. Zwischen den apikalen Teilungen des Stammes und den Geweben desselben läßt sich keine exakte Verbindung herstellen. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß die inneren Zellen, die durch die ersten periklinalen Teilungen jedes Segmentes entstehen, in der weiteren Ent- wickelung nur Mark erzeugen. Wir werden sehen, daß Equisetum eusporangiat ist. Es ist bemerkenswert, daß bei einem eusporan- giaten Typus solche regelmäßigen apikalen Teilungen vorkommen. Etwas Aehnliches jedoch findet sich bei den Ophioglossaceae. Wir gehen nun über zur Besprechung der Sporen erzeugenden Teile und wollen ihre Entwickelung und ihre morphologische Natur untersuchen. In den Anfangsstadien sind die Sporangiophoren nicht unähnlich den sterilen Blattscheiden ; sie sind massivund konvex und zeigen ein fächerförmiges Maß- werk, wie in Längsschnitten zu erkennen ist. Diese Aehnlichkeit ist als Argument angeführt worden für die Ansicht, daß die Sporangio- phoren und die Deckblätter das Ergebnis einer Metamorphose aus im wesentlichen demselben Teil darstellen. Bald lassen sich nahe an den Rändern des konvexen Ge- bildes Zellen erkennen, aus welchen alle wesentlichen Teile des Sporangiums hervor- gehen, doch wirken auch noch benachbarte Zellen bei der Bildung des sporangialen Gewebskörpers mit. Die Entstehung des Sporangiums ist also eusporangiat. Jede Elterzelle teilt sich periklin, so daß im Ver- laufe weiterer Teilungen eine innere sporo- gene Masse abgegrenzt wird gegen die Sporangiumwand. Später trennen sich die Fig. 69. Equisetum arvens e. Medianer Längsschnitt des Vegetationskegels. Vergröße- rung 240 fach. Zellen des sporogenen Gewebes voneinander, sie runden sich ab und gehen die Tetraden- teilung zur Bildung der Sporen ein. Mittler- weile hat sich die sie unmittelbar umgebende Zellschicht zu einem Tapetum oder zur Nährschicht entwickelt; die Zellen desselben verschmelzen und die so entstehende viel- kernige Plasmamasse dringt zwischen die Sporenmutterzellen ein und ernährt sie bis zur Reife, dann wird sie absorbiert und die Sporen bleiben trocken zurück (Fig. 69a). Die oberflächlichen Zellen der Wand des Sporangiums werden hart und spiralig verdickt, während die inneren sich auflösen. Da< reife Sporangium besteht so aus einer einschichtigen Wand und einer trockenen Sporenmasse darin. Die Sporen sind alle gleich. Das Sporangium springt an einer Längslinie auf, die nach innen gegen den Stiel zu gelegen ist; diese Linie ist in der Zellstruktur vorgebildet. Infolge des stärkeren Wachstums des zentralen Teiles des Sporangiophors werden die Sporangien im Laufe der Entwickelung umgedreht und hängen dann von der ver- breiterten, distalen Vorderseite herab (Fig. 65, A, B, C). Letztere stoßen in der Jugend dicht zusammen, so daß die Sporangien da- durch wirksam beschützt werden. Unterhalb Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 967 des untersten Sporangiophors befindet sich der Annulus, d. i. die höchste Blattscheide, jedoch von reduziertem Typus. Er vervoll- ständigt den Schutz an der Stelle, wo er sonst fehlen würde. Die Sporangiophoren der Calamarien sitzen der Achse direkt auf; ihr Bau stimmt mit dem der Sporangiophoren von Equisetum als die der alternierenden Quirle steriler Blätter. An den Internodien stehen sie zu- weilen an der Basis, manchmal an der oberen Grenze, oft in der Mitte; auch darin zeigt sich ihre Unabhängigkeit von den sterilen Blättern. Alles das ergibt, daß sie anders- artige Gebilde sind als die sterilen Blätter des Strobilus. 1 I, Fig. 69a. Equisetum Limosum. A Sporangiumscheitel, das sporogene Gewebe umgeben von dem Tapetum (schattiert) und der Sporangiumwand. B Teil eines älteren Sporangiums, das Tapetum (t) noch deutlich, seine Zellen jedoch nicht mehr gegeneinander abgegrenzt; innen das sporogene Gewebe, von dem gewisse Zellen [(a) zugrunde gehen. Vergrößerung 200 fach. so überein, daß kein Zweifel über deren wirk- liche Homologie bestehen kann. Die Frage ist also, welcher Art sind die Sporangio- phoren? Die am meisten vertretene Ansicht ist die, daß der Sporangiophor ein modifi- zierter Blattzahn sei. Das scheint hervor- zugehen einmal aus der Aehnlichkeit der Struktur von Anfang an, dann aus der Gleich- artigkeit der Stellung zur Achse und endlich daraus, daß der Annulus und gelegent- liche Abnormitäten Uebergänge zwischen beiden zu liefern scheinen. Diese Schlüsse wären auch wohl kaum bezweifelt worden, wäre nicht der Aufbau des Strobilus der Calamarien gewesen, in welchem sterile Deckblätter vorhanden sind (Fig. 67, i, s). Die alternierende Aufeinanderfolge dieser Blätter wird nicht gestört durch die Gegen- wart der Sporangiophoren. Wollte man nun die Sporangiophoren mit Kecht als Blätter ansehen, so müßte vorausgesetzt werden, daß die alternierende Stellung der sterilen Blätter gestört würde da, wo die Sporangio- phoren zwischen ihre Wirtel eintreten: aber das ist nicht der Fall. Fernerhin, obwohl die Zahl der Sporangiophoren häufig die Hälfte derjenigen der sterilen Blätter be- trägt, so ist dieses numerische Verhältnis nicht streng aufrecht erhalten, auch ist ihre An- ordnung in vertikalen, nicht alternierenden Keinen nach einem anderen Plan getroffen, Dieser Schluß scheint unvereinbar mit den Tatsachen bei Equisetum, wo der An- nulus gewöhnlich als ein Uebergang von den Blattwirteln zu den Sporangiophoren be- trachtet worden ist. Ein Vergleich mit anderen Typen von Equisetenstrobili liefert die folgende Er- klärung des Equisetumstrobilus: In dem Genus Archaeocalamites (Bornia) beschreibt Renault für Bornia radiata, daß die Fruk- tifikation einfach oder aber in gewissen Ab- ständen durch Blattwirtel unterbrochen ist, sodaß die Aehre ein gegliedertes Aussehen erhält und von sehr verschiedener Länge sein kann. Es sind also die Stücke der Achse, die Sporangiophoren tragen, variabel, und es scheint nun, daß der Equisetumtypus bloß ein extremer Fall ist, in welchem die ganze Reihe der Sporangiophoren, die den terminalen Strobilus bilden, insgesamt über derletztenBlattscheidesteht, und daßletztere reduziert ist und als Annulus erscheint. Nach dem jetzigen Stand der Kenntnisse fehlen noch die Beweise für die Phyllomtheorie wie auch für die Nicht-Phyllomtheorie der Sporangiophoren; jedoch sprechen die Fos- silien zugunsten der letzteren. Endlich muß erwähnt werden, daß, ob- ! wohl Equisetum selbst homospor ist, bei den Calamariaceen Heterosporie beobachtet wor- denist. Figur 67, 4 zeigt das bei Calamostachys 968 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Casheana, an einem Querschnitt durch einen j Prothallien sind größer; sie bestehen aus Sporangiophor mit 4 Sporangien; 3 von i einem zentralen massigen Teil, welcher die diesen enthalten relativ große Sporen (Mega- j Archegonien trägt, und aus zahlreichen sporen), das vierte hat nur kleine Sporen dünneren Lappen, welche vom Rande des (Mikrospuren). ersteren entspringen. Goebel hat nachge- Die Sporophytgeneration der Equise- wiesen, daß das Prothallium nicht etwa tales, der modernen und fossilen, ist also radiär gebaut ist, sondern tatsächlich dorsi- sehr gleichförmig, eigentümlich für sich und ventral, mit einer starken Verdickung" auf verschieden von der anderer Phyla. Die | der Schattenseite (Fig. 70, I). Die Arche- lebenden Species sind meist klein, verglichen gonien haben einen vorspringenden Hals, mit den Calamarien. Die größte europäische ihr Bauch ist tief eingesenkt in das Gewebe Species ist Equisetum maximum; auf den des Prothalliums. In Einzelheiten des Pro- Antillen und in Südamerika erreicht Equise- thalliums und der Sexualorgane zeigen die tum giganteum Höhen bis zu 12 m. Der Equisetales größere Uebereinstimmung mit Stamm bleibt jedoch dünn, er hat kein se- den Filicales als mit den Lycopodiales: das kundäres Dickenwachstum, und die Pflanze gilt ganz besonders für die Spermatozoiden. erhält die mechanische Stütze zum Teil Der Hals des Archegoniums ist aufwärts von der Vegetation, mit und unter der sie gerichtet. Nach der Befruchtung teilt sich wächst. die Zygote zunächst durch eine horizontale Die grünen Sporen keimen sofort, sie Basalwand; diese trennt die epibasale Region, behalten ihre Lebensfähigkeit nicht lange, aus der der Sproß entsteht, von der hypo- Das entstehende Prothallium ist in der basalen Region. Ein Suspensor ist nicht Form äußerst variabel. Es ist gewöhnlich vorhanden (Fig. 71). Es erscheint natürlich, gelappt, zuerst nur eine Zellschicht dick, die ganze epibasale Hemisphäre als Bildungs- ohne lokalisiertes apikales Wachstum. Die ■ element des Sprosses anzusehen. Die Stamm- besser ernährten Prothallien werden weiblich, spitze mit ihrer Scheitelzelle entsteht die schlechter ernährten männlich; die am Mittelpunkt durch den einfachsten mög- Diöcie wird also durch die Ernährung be- liehen Teilungsverlauf, indem Oktanten- stimmt, sie ist nicht in der Spore schon fest gelegt. Die männlichen Prothallien sind gelappte ZeUf lachen, die die Antheridien an den Rändern tragen (Fig. 70, II); diese sind in das Gewebe eingesenkt und enthalten zahlreiche Spermatocyten. Wenn sie reif wände sich bilden ; aus den peripheren Teilen der epibasalen Region entsteht die erste Blattscheide mit ihren 3 Zähnen. Der so entwickelte Sproß wächst direkt aufwärts. Die hypobasale Hälfte des Embryos ist in- zwischen zum „Fuß" angeschwollen, welcher sind, brechen sie auf und entlassen Sperma- 1 in Kontakt mit dem Prothallium bleibt, tozoiden mit vielen Geißeln. Die weiblichen nachdem die junge Pflanze hervorgewachsen ist. Die Wurzel entsteht seit- vm » I II Fig. 70. Equisetum pratense. I. Weibliches Prothallium von der Unterseite, mit Archegonien (A). IL Männliches Prothal- lium mit Antheridien (A), d deren Deckelzellen. I. Vergrößerung 17fach, IL Vergrößerung 12fach. Nach Goebel. lieh an der hypobasalen Zone bei Equisetum arvense und Equisetum palustre (Fig. 71, 4, 7), bei Equisetum hiemale dagegen wird sie seitlich in einem gewissen Abstände von der Basis, ja manchmal so- gar an der epibasalen He- misphäre gebildet. Der ganze Embryo besteht also aus einer spindelförmigen Achse mit fortgesetztem apikalem Wachstum; seine Basis ist ohne Suspensor. Die Blätter und Wurzeln er- scheinen als Anhangsgebilde an dieser Spindel. Die Gruppe der Equi- setales steht ziemlich isoliert. Am nächsten verwandt sind sie wohl mit den Spheno- phyllales, d. h. mit Organis- men, bei welchen schon sehr früh lange Achsen mit mäßig großen, quirlig angeordneten Blättern in die Erscheinung traten. Die Wurzel erscheint Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 969 als Anhangsgebilde des Sprosses. Sporenbil- dung tritt bei keinem bekannten Equisetalen- typusfrühzeitigauf, sondern erscheint erst spät imLeben des Individuums. Die vergleichende Betrachtung zeigt, daß die Sporenerzeugung nicht auf Zweige einer bestimmten Ordnung beschränkt ist; Uebertragung der Fort- pflanzungsfunktion von Zweigen der einen auf Zweige einer anderen Ordnung kommt in der Natur vor. Dies zusammen mit der Tatsache, daß die Zweige aller Ordnungen soliden Xylemkernes. Aber das Xylem, das noch übrig geblieben ist, kann als der rudi- mentäre Rest desjenigen einer primitiven Monostele angesehen werden. Diese Charak- tere zusammen genommen weisen mit einiger Gewißheit auf eine strobiloide Abstammung des Sporophyts der Equisetales hin. 3. Lycopodiales. Wenn man die Pteridophyten nach der Kompliziertheit des Baues ihrer Fig. 71. 1 bis 5 Embryoentwickelung von Equisetum arvense, 6 und 7 von Equisetum palustre. Nach Sadebeck. 8 Prothallium mit junger Pflanze. Nach Hofmeister. 1 bis '2 derselbe junge Embryo in zwei verschiedenen Lagen. 3 und 4 weiter vorgeschrittener Embryo. Entwickelung des Stammes und der Blattscheide. 5 Noch weiter entwickelter Embryo, noch im Archegonium. 6 Junger Embryo im Archegonium. 7 Freipräparierter Embryo. 8 Senkrechter Durchschnitt eines Prothalliumlappens mit Keimpflanze, w Wurzel, b die Blattscheiden. im wesentlichen gleich gebaut sind, macht es wahrscheinlich, daß die Achsen niedereren Ranges und selbst die primäre Achse fertil gewesen sein mögen bei den primitiven Equisetoidtypen. In der Tat läßt sich das ausgearbeitete Sproßsystem, das die Formen der Familie aufweisen, mit dieser fort- schreitenden Sterilisation erklären. So können selbst die kompliziertesten Typen der Equisetales gedeutet werden als Ergebnis einer Entwickelung, charakterisiert durch Verzweigung und progressive Sterili- sation, ausgehend von dem einfachen Sproß mit seinen Anhängseln. Mit dieser Anschau- ung von der allgemeinen Morphologie stimmt überein die Entwickelung des Embryos von Equisetum. Die Anatomie der Gefäßbündel endlich, die so lange eher für phanerogam als für pteridophytisch gehalten wurde, ist nun ihrer Entstehung nach auf eine primi- tive Monostele zurückgeführt. Die Struktur derselben bei der bekannten Form ist ja allerdings weit entfernt von dem Zustand eines ! Anhangsgebilde und besonders der sporenerzeugenden Teile anordnen wollte, so kämen die Lycopodiales oder Bärlapp- gewächse an die erste Stelle zu stehen ; denn ihre Anhangsgebilde sind die einfachsten von allen. Die Sporangien sind alle isoliert, jedes hängt mit seinem Sporophyll in der Median- ebene zusammen. Darin nehmen sie eine Sonderstellung unter den Gefäßpflanzen ein. Die Lycopodiales sind gegenwärtig ziem- ' lieh gut vertreten auf der Erde; doch gehören dazu auch einige der ältesten Fossilien, die man kennt. In der paläozoischen Periode bildeten solche Pflanzen einen wesentlichen Bestandteil der Vegetation. Zu jener Zeit i wuchsen sie zu Bäumen heran, während die heutigen Lycopodiales relativ kleine Organis- men sind. Das Phylum hat also eine große Vergangenheit. Da die Blätter verhältnismäßig klein sind, so bildet die Achse den Hauptbestandteil des Sprosses. Bei den meisten Species ist sie zudem verzweigt und zwar in der Regel 970 Farne im weitesten Sinne (Pterid.oph.yta) dichotom. Die Pflanzen sind im Substrat mit Adventivwurzeln befestigt, die oft dichotom verzweigt sind. Die Lycopodiales werden in zwei Ab- teihingen zerlegt, gemäß dem Vorhandensein oder dem Fehlen einer Ligiüa. Dieses ist ein kleines, schuppenförmiges Anhangsge- bilde an der Oberseite der Blätter nahe der Basis, oft für das bloße Auge nicht sichtbar. Zu den Eligulatae, ohne Ligula, gehören die Lycopodiaceae mit den lebenden Genera Lycopodium und Phylloglossum und mit gewissen alten Fossilien, die als Lycopodites bezeichnet werden. Die Ligulatae, mit einer Ligula, umfassen unter den lebenden Formen Selaginella und Isoetes, dazu die fossilen Lepidodendraceae und Sigillariaceae. welche die Hauptmasse der fossilen Lycopodiales ausmachen. Die Eligulatae sind homospor, die Ligulatae heterospor. A. Eligulatae. Das Genus Lycopodium mit seinen etwa 100 lebenden Arten wurde von Spring ein- geteilt nach dem Grade der Differenzierung der verschiedenen Species. Er unterschied zwei Hauptabteilungen des Genus; die erste umfaßt diejenigen Formen, deren Sporangien über die ganze Länge des Sprosses verteilt sind, die zweite jene, bei denen die Sporangien zu begrenzten Zapfen vereinigt sind. Wenn auch in den Einzelheiten das Schema von Spring Aenderungen erfuhr, so beruht doch die gegenwärtige Einteilung des Genus noch auf Merkmalen, die durch die fortschreitende Differenzierung der sterilen und fertilen Teile der Pflanze gegeben sind. Die Abteilungen von Spring fallen im wesentlichen zu- sammen mit den Subgenera Urostachya, das die primitiveren Formen umfaßt, und Rho- palostachya, zu dem die Formen mit einem Zapfen oder terminalen Strobilus gehören. Ein wohlbekanntes Beispiel des Sub- genus Urostachya istLycopodium Selago (Fig. 72). Das ist eine Staude mit dichotom ver- zweigter Achse, die zahlreiche kleine, unter sich gleiche Blätter trägt. An der Basis der Pflanze findet sich gewöhnlich eine sterile Zone; auf diese folgen abwechselnd fertile und sterile Zonen, da das mittlere Stück des jeweiligen jährlichen Zuwachses fertil ist. Der einzige Unterschied zwischen den sterilen und den fertilen Zonen ist das Fehlen oder Vorhandensein der Sporangien ; und daunvoll- kommene Sporangien an den Grenzen der fertilen Zonen sich finden, so kann man schließen, daß die Pflanze aus einem Typus hervorgegangen ist, der durchweg fertil war. Ein solcher Typus wird nahezu erreicht von der großen Species Lycopodium Trencilla aus den Anden, die von einem bis zum anderen Ende fertil ist. Ein bekanntes Beispiel des Subgenus Rhopalostachya sehen wir in Lycopodium clavatum (Fig. 73 G). Der sterile kriechende | Sproß ist hier streng abgesetzt von dem distalen, fertilen Teil. Das ist nicht nur äußerlich so, sondern es sind auch die Sporo- phylle der fertilen Aehre breit und häutig, sie dienen zum Schutz und nicht der Assimila- tion (Fig. 73 H). Das Sporangium ist nieren- förmig und sitzt dem Sporophyll an der Basis an. Zu diesem Subgenus gehört die Mehrheit der Arten. Einige leben auf dem Fig. 72. Lycopodium Selago L. Dichotorner Sproß einer alten Pflanze mit den alternierenden sterilen und fertilen Zonen. Boden, andere epiphytisch, manche haben sogar einen kletternden Habitus angenommen und sind dorsiventral geworden. Die Formen des Genus zeigen in der Tat beträchtliche Anpassung, wie an den fortgeschritteneren Vertretern zu sehen ist. Das einzige andere lebende Genus ist das monotypische Phylloglossum in Australien und auf Neuseeland. Die reife Pflanze er- scheint als ein Büschel von fast zylindrischen Blättern, aus deren Mitte sich eine Achse er- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 1)71 hebt, die einen einfachen Strobilus trägt. Im Boden hat sie zwei Speicherknollen, eine vorjährige und eine in Entwicklung be- griffene, in der für das nächste Jahr ge- Fig. 73. Lycopodium clavatum. A älteres Prothallium. B Prothallium mit junger Pflanze. C Antheridium, noch geschlossen, quer. D Spermatozoiden. E jüngeres, noch geschlossenes Archegonium, F befruchtungsreifes, geöffnetes Archegonium. G Sporangientragende Pflanze. Y2 natürliche Größe. H Ein Sporophyll mit aufgesprungenem Sporangium. 1 und K Sporen in zwei Ansichten. Nach Bruchmann. Aus Strasburgers Lehrbuch. <::. "v Fig. 74. Phylloglossum Drummondii. 1 bis 3 Bildung der Sporangienähre. 4 Längsschnitt einer sehr jungen Sporangienähre, die Initialzellen des Sporangiums zeigend. 5 Sporophyll mit aufgesprungenem Sporangium. 972 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) speichert wird. Ferner sind eine oder mehrere Wurzeln vorhanden (Fig. 74, 3). Wir werden später sehen, daß Phylloglossum in seinem jährlichen Wachstum die embryonalen Sta- dien eines Lycopoden wiederholt. Die zu den Eligulatae gerechneten Fos- silien sind leider selten und relativ klein. Sie sagen uns aber, daß wir es hier nicht nur mit rezenten Typen zu tun haben. Die Anatomie von Lycopodium ist charak- terisiert durch eine Stele mit peripherem Protoxylem, oft mit einem soliden Xylem- kern, der für primitiv gehalten wird: d. h. wir haben eine Protostele. Die Blattspuren sind an der Peripherie der säulenförmigen Stele - Fig. 75. 1 Lycopodium Phlegmaria. Teil eines Querschnittes durch ein älteres Stengel- stück, im Rinden körper eine abwärts wachsende Wurzel. 2 Teil eines Querschnittes durch einen Sproß von L. Chamaecypariosus. 3 Quer- schnitt durch die Stele von L. serratum. 4 Ebenso von L. annotinum. 5 Ebenso von L. cernuum. 6 Ebenso von L. v 0 1 u b i 1 e. 4 nach Sachs, dieA übrigen nach Pritzel. mit dem Minimum lokaler Störung inseriert; diese erweist sich durch ihre Entwickelung als Stammbündel. Die Blätter stehen bis- weilen in regelmäßigen Wirtein, häufig aber auch in einer mehr oder weniger unregel- mäßigen Spirale. Von jedem Blatt tritt ein Gefäßstraug in die Achse ein und verläuft in dieser schief nach unten gegen die Stele hin, um sich schließlich mit dieser zu ver- einigen. Bei dem weniger differenzierten Urostachya besteht die Stele aus einer zu- sammenhängenden zentralen Xylemmasse, die unregelmäßige Sternform annimmt (Fig. 75, 3), wobei die kleineren Protoxylem- tracheiden peripher stehen. Bei dem höher differenzierten Rhopalostachya dagegen er- scheint auf einem Querschnitt das Xylem in getrennten Gruppen angeordnet (Fig. 75, 4 bis <;)• Diese Xylemmassen stehen jedoch ober- und unterhalb der Schnittebene mit- einander in Verbindung und das Ganze hat etwa die Struktur eines Xylemschwam- mes, dessen Zwischenräume durch Phloem ausgefüllt sind. Das ist ein höheres Stadium als die einfache Protostele, wir treffen es bei der fortgeschrittenen Sektion des Genus. Die größeren zylindrischen Wurzeln zeigen fast denselben anatomischen Bau wie der Stamm. Sie verzweigen sich dichotom und haben am Scheitel eine Wurzelhaube, die das kleinzellige, geschichtete Meristem bedeckt. Auch der Stammscheitel ist teil- weise geschichtet; bei Lycopodium Selago jedoch lassen sich die verschiedenen Gewebe auf eine Gruppe von drei Initialen zurück- führen. Das Plerom erstreckt sich bis über die jüngsten Blätter hinaus, woraus hervorgeht, daß diese akzessorische Gebilde an der domi- nierenden Achse sind. Die Pflanzen sind alle perennierend; in einigen Fällen, so bei Lycopodium inundatum, geschieht die Ueberwinterung mit Hilfe einer terminalen Knospe. Sie können sich vege- tativ vermehren durch Bulbillen, wie sie gewöhnlich bei Lycopodium Selago zu sehen sind. Die sexuelle Fortpflanzung mit Hilfe eines Prothalliums mit Sexualorganen war lange Zeit unbekannt. Das hat seinen Grund hauptsächlich darin, daß die Prothallien bei den meisten Species unterirdisch wachsen; auch für die Keimung der Sporen sind be- sondere Bedingungen erforderlich. Jedoch durch beharrliche und sorgfältige Sammlung von Material ist es gelungen, bei einer Anzahl von Species die Entwickelung vollständig zu erforschen, und es haben sich für die Ver- gleichung sehr interessante Resultate er- geben. Der erste Schritt ist die Bildung der Sporen, die, wie schon erwähnt, bei den Eligulatae alle gleichgestaltet sind. Sie werden in sitzenden, nierenförmigen Sporan- gien erzeugt, die ziemlich groß und zwischen dem sie tragenden Sporophyll und der Achse ausgebreitet sind. Die reifen Sporangien reißen auf parallel der Ebene des Sporophylls (Fig. 73 H). Die Zahl der Sporen im Sporangium ist sehr groß. Das Sporan- gium geht hervor aus einer wurstförmigen Gruppe von Zellen an der Oberfläche des Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 973 Blattes nahe der Basis. Innerhalb dieser Gruppe teilt sich bei Lycopodium Selago eine einzige Zellreihe perildin, so daß eine innere Beihe von sporogenem Gewebe und eine äußere Beihe hervorgeht, welche schließlich bei der Bildung der Sporangiumwand be- teiligt ist (Fig. 76, 4, 5). Ein Tangential- schnitt zeigt, daß die Zahl der Zellen in der sporogenen Beihe ungefähr 7 ist (Fig. 76, 7). Bei anderen Species, so bei Lycopodium clavatum, bei welchem das Sporangium gierend, durch, der fertige Sporophyt ist dann wieder im wesentlichen überein- stimmend gebaut. Die Unterschiede der Prothallien des Genus Lycopodium sind mehr solche der Gestalt und der Ernährungs- weise als des Grundbaues. Es lassen sich 3 Haupttypen unterscheiden. Der Typus des Lycopodium cernuum besteht aus einem massiven, zylindrischen Thallus, dessen unterer, konischer Teil im Boden steckt; der ist grün und mit un- obere Teil ragt hervor Fig. 76. 1 bis 2 Lycopodium clavatum. 1 Stück der Flächenansicht der Sporangiumwand, in der Mitte den Annulus zeigend. 2 Stücke des Längsschnittes, die Annuluszellen sind beim Schneiden voneinander getrennt worden. Nach Goebel. 3 Lycopodium inundatum. Längs- schnitt durch ein Sporangium, die Oeffnungsstelle ist durch einen Strich in der Sporangiumwand angedeutet. Nach Goebel. 4 bis 7 Lycopodium Selago, Entwickelung des Sporangiums. 4 bis 6 Radialschnitte. 7 Tangentialschnitt. 8 Lycopodium clavatum. Radialschnitt eines jungen Sporangiums. massiger ist, können 2 oder 3 solcher Beihen von sporogenen Zellen gebildet werden (Fig. 76, »). Die Sporangiumwand besteht ge- wöhnlich aus drei Schichten: die innerste ist das später aufgebrauchte Tapetum, die äußerste wird verhärtet und dient zum Schutz, die Dehiszenzlinie ist in der Struktur vorgebildet. Die Zellen des sporogenen Ge- webes teilen sich mehrfach, um endlich die Tetradenteilung einzugehen, durch welche die tetraedrischen Sporen gebildet werden. Bei den weiter spezialisierten Formen werden die Sporangien bis zur Beife geschützt durch das sie überdeckende Sporophyll (Fig. 76, 3). Der Sporophyt der Eligulaten zeigt eine bemerkenswerte Einförmigkeit der Typen; Verschiedenheiten finden sich nur in sekun- dären Einzelheiten. In der Embryologie je- doch zeigen sich deutliche Unterschiede, die mehr oder weniger sichtbar mit Verschieden- heiten der ( lterlichen Prothallien in Korre- lation stehen. In der Tat machen Prothallium und Embryo eine verwandte Entwicke- lung, von einem mittleren Typus diver- regelmäßigen, blattartigen Lappen versehen (Fig. 77). Er ernährt sich selbst, obschon ein endophy tischer Pilz vorhanden ist. Die Sexualorgane stehen zwischen den Lappen, die jüngsten sind einer am Bande des zylin- drischen Körpers ge- legenen meristema- tischen Zone am nächsten. In der Hauptsache wird die Ernährung durch die assimilierenden grü- nen Teile besorgt, die saprophytische Er- nährung ist neben- sächlich. Der Typus des Lycopodium cla- vatum und compla- natum zeigt über- wiegend saprophy- tische Ernährung ; denn die Prothallien Fig. 77. Lycopodium wachsen unter- cernuum. Prothallium, irdisch, die grünen Nach Treub. 974 Farne im weitesten Sinne (Pterid.oph.yta) Lappen fehlen. Die Sexualorgane nehmen die- selbe Stellung ein wie im vorigen Typus. Der untere Teil des Prothalliums ist für die sapro- phytische Ernährung spezialisiert (Fig. 78). Den dritten Typus finden wir bei epiphyti- schen Arten, z. B. Lycopodium phlegmaria, deren Prothallien fadenförmig und wiederholt verzweigt sind. Die zarten, farblosen Zweige erstrecken sich weithin durch die tote Borke, auf welcher die Prothallien wachsen. Die Ernährung ist saprophytisch. Diese Pro- thallien erzeugen oft Gemmen. Die Sexual- organe stehen auf der Oberseite verbreiteter Zweige des Thallus. Es ist interessant zu sehen, daß das Prothallium des primitiven Lycopodium Selago Anhaltspunkte zur genten Verbindung ; dieser anscheinend cliver- Typen. Die Entwickelungsweise seines Prothalliums variiert nämlich (Fig. 79). Es ist gewöhnlich ein blasser, unterirdischer Körper, bisweilen aber auch oberirdisch und grün: die Sporen scheinen entweder unter oder über der Erde zu keimen. Die Gestalt des Thallus ist verschieden gemäß seiner Lage: wenn unterirdisch gewachsen, ist sie länglich, die oberirdischen dagegen sind breit konisch, wie die der anderen ober- irdischen Typen. So stellt denn wohl der konische Typus die Grundform dar, die entsprechend der Umgebung spezielle Um- wandlungen aufweist. Die Antheridien und Archegonien stehen ' Fig. 78. Lycopodium clavatum. Prothallium im Längsschnitt. Nach Bruchmann. Fig. 79. Lycopodium Selago. A Prothallien von in verschiedener Tiefe gekeimten Sporen gebildet, die punktierte Linie gibt die Oberfläche des Bodens an. 1 bis 4 verschiedene Prothallienformen. 5 Normales Prothallium, stärker vergrößert. 6 Junge Pflanze, noch mit dem Prothallium in Verbindung. Nach Bruch mann. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 975 am terminalen Scheitel, erstere in der Mitte, letztere am Rande (Fig. 78). Die Antheridien sind tief eingesenkt, sie enthalten eine große Zahl von Spermatocyten (Fig. 73, C). Die Arehegonien stecken ebenfalls im Gewebe des Prothallinms, der Hals jedoch ragt hervor. Sie sind ausgezeichnet durch eine lange Reihe von Kanalzellen, wogegen das Ei an der Basis kaum größer ist als eine derselben (Fig. 73, E, F). Die Spermatozoiden tragen 2 Cilien (Fig. 73, D). Wie groß auch die Unterschiede sein mögen, welche die verschiedenen Embryo- typen von Lycopodinm aufweisen, so finden wir doch bei allen Species, deren Embryo- genie genau bekannt ist, ein Stadium am eine Gewebszone zwischen dem Suspensor und der oberen Etage wäre, während er mit dem Suspensor die Funktion teilt, die Ver- bindung mit dem Prothallium aufrecht zu erhalten. Den am wenigsten spezialisierten Embryo hat Lycopodium Selago (Fig. 80 obere Reihe, 2 bis ß). Der Fuß entsteht hier aus der un- teren Etage, alles andere aus der oberen. Der Fuß ist nur schwach entwickelt. Aus der Mitte der oberen Etagegeht der Stammscheitel hervor, seitlich entsteht das erste Blatt, der Cotyledo, dem andere folgen. Das Hypocotyl streckt sich, so daß die ersten Blätter über die Erde gehoben werden. Die erste Wurzel entsteht exogen aus der oberen Etage, Fig. 80. Obere Reihe: 1 Diagramm, die erste Segmentierung der Zygote von Lycopodium zeigend, a die erste Wand, welche den Suspensor abschneidet, b die Wand, welche die Fußetage von der Stammetage trennt, letztere weiß gelassen. 2 bis 6 weitere Entwickehmg des Embryos von Lycopodium Selago. Nach Bruchmann. Untere Reihe: 1 bis 4 Entwickelungsstadien des Embryos von Lycopodium Phlegmaria. Nach Treub. Anfang, in welchem der Embryo aus einem Suspensor und zwei Etagen aus je vier Zellen besteht(Fig.80 obere Reihe, i). Die Reihenfolge der ersten Teilungen, die zu diesem Stadium führen, ist verschieden. Es wird angegeben, daß aus der unteren Etage, d. i. die, die an den Suspensor anstößt, der sogenannte Fuß entsteht, und daß aus der oberen Etage alle anderen Teile des Embryos hervorgehen ; diese Angabe ist durch viele Zeichnungen gestützt. Nachdem die ersten Stadien durch- laufen sind, besteht jedoch gewöhnlich keine scharfe Grenze mehr zwischen dem Fuß und den anderen Teilen: in den einfachsten Fällen sieht es so aus, als ob der Fuß nur dicht oberhalb des Fußes; ihr folgen andere Wurzeln, die an höher gelegenen Punkten endogen gebildet werden. Die einzige Komplikation in dieser sehr einfachen Em- bryogenie besteht in der Verlängerung des Hypocotyls; es finden sich hier keine An- schwellungen wie bei anderen Typen des Genus, welche die Verbindung der Teile unterbrechen. Diese fehlen auch beim Embryo von Lycopodium phlegmaria, der im wesentlichen mit dem von Lycopodium Selago übereinstimmt (Fig. 80, untere Reihe 1 bis 4). Beim clavatum-annotinum-Typus ist das anders; hier muß ja der Embryo von dem 976 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) unterirdischen Prothallium an die Erd- oberfläche gelangen, während dessen er seine Nahrung aus dem massigen, saprophytischen Prothallium bezieht (Fig. 73, B). Die ersten Entwickelungsstuf en sind dieselben wie bei den anderen, bald aber zeigt sich eine deutliche Anschwellung des aus der unteren Etage her- vorgegangenen Fußes; dieser verbleibt als Haustorium im Prothallium (Fig. 78). In- zwischen schreitet die obere Etage nur lang- sam zur Bildung des Scheitels und des Coty ledo (Fig. 81, i bis 4). Die Orientierung beider zum Fuß ist nicht konstant; das hängt damit zusammen, daß der Fuß an der Stelle er- scheint, wo die Nahrung am reichlichsten ist. Der Fuß ist in der Tat ein opportuni- Typus finden sich in der Embryogenie akzesso- rische" Anschwellungen, die hier jedoch außer- halb des Prothalliums entstehen (Fig. 81 untere Reihe, 1 bis 3). Die Anfangsstufen sind auch hier die gleichen wie bei den anderen Species. Die untereZelletage jedoch, die sonst zumFuß sich entwickelt, bleibt klein und dient nur zur Verbindung des Embryos mit dem Prothal- lium; aus der oberen Etage entstehen wie üblich die verschiedenen Bestandteile des Embryos. Dieser durchbricht das Prothal- lium und erhebt sich als freiwachsendes Ge- bilde, wobei er jedoch zu einem knollen- förmigen Körper, dem „Protocorm" an- schwillt. Letzteres ist ein kugeliger, paren- chymatischer Zellkörper, der in den Boden II Fig. 81. Embryo, 4 Junge, 1 2 Lycopodium annotinum. 1 und 2 Junge Embryonen im Längsschnitt. 4~ 3 Junger von oben betrachtet. S Stammscheitel, W Wurzel, B Blätter, V Fuß, E Embryoträger, unterirdisch gewachsene Keimpflanze. V Fuß. Links die erste Wurzel, oben die Stengel mit Schuppenblättern. Nach Bruchmann. II. Lycopodium cerunum. 1 Junger Embryo, aus _dem , Prothallium hervorsprossend, rechts der Anfang des Protocorms. 2 und 3 Embryonen, den Protocorm zeigend. E Embryoträger. Nach Treub. stisches Wachstunisgebilde, das den übrigen Embryo in der verschiedensten Weise ver- dreht und ablenkt. Bald nach den ersten Blättern erscheint die erste Wurzel. Dann durchbricht der Embryo infolge des leb- haften Wachstums des Hypocotyls das Prothallium. Während er aufwärts durch die Erde hindurch wächst, ist der Sproß blaß und trägt nur schuppenförmige Blätt- chen, die jedoch in grüne Blätter übergehen, wenn er an die Oberfläche gelangt ist. Offen- bar ist also der clavatum-annotinum-Typus spezialisiert im Zusammenhang mit der unterirdischen Lebensweise der Prothallien. Auch bei dem unterirdischen cernuum- Wurzelhaare sendet. Der Entstehung nach i ist er also von dem Fuß des clavatum-Typus gänzlich verschieden (Fig. 81, untere Reihe 1 bis 3). An seinem distalen Ende bildet er einen Cotyledo, dem bald andere, zylindrische 1 Blätter in unregelmäßiger Anordnung folgen. Ziemlich spät erst ist der Stammscheitel zu j erkennen, nahe dem zuletzt gebildeten Blatt; aus ihm entstehen in der Folge weitere Blätter, die den normalen Sproß zusammen- setzen. Dicht an der Basis entsteht die erste j Wurzel, und so ist denn die normale Pflanze ! angelegt. Die Aehnlichkeit zwischen dem Embryo von Lycopodium cernuum und dem Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 977 lieh wachsenden Phylloglossumpflänzchen ist auffallend (Fig. 74). Letzteres entsteht am Scheitel einer Speicherknolle vom vorigen Jahr; der Vegetationspunkt der Knolle wird zum Vegetationspunkt der jungen Pflanze. Vergleicht man die Knolle von Phylloglossum mit der knollenartigen Anschwellung von Lycopodium cernuum, so wird klar, daß die Beziehungen beider Gebilde zu den Protophyllen und zu der definitiven Achse dieselben sind. Daraus folgt, daß die Knolle von Phylloglossum für ein jedes Jahr wieder- holtes „Protocorm" gehalten werden kann. In allen Fällen stellt die Anschwellung ein sekundäres, biologisch zu verstehendes Ge- bilde dar, es ist ein weiterer Beweis für die Neigung der Lycopodiumembryonen zu derartiger Entwickelung. Lycopodium inundatum bietet eine Analogie zu dem, was wir bei Phylloglossum sehen: diese Art geht im Winter zugrunde, mit Ausnahme der Spitze des kriechenden Sprosses, die im folgenden Jahre weiterwächst. Wenn nun dieses Wachstum vorbereitet und gefördert würde durch die Bildung einer lokalen An- schwellung mit Speicherstoffen, so wäre damit ein Zustand erreicht, ganz ähnlich den Verhältnissen bei Phylloglossum. Letz- teres ist in der Tat ein Lycopodium mit einem spezialisierten Embryonalstadium, das jedes Jahr wiederholt wird. B. Ligulatae. Im allgemeinen Habitus gleichen die Ligulatae den Eligulatae. Sie unterschei- den sich von ihnen durch den Besitz der Ligula, d. i. ein kleiner Fortsatz an der Oberseite des Bla tes nahe der Basis. Außerdem sind alle lebenden Ligulatae heterospor, die Eligulatae dagegen homospor. Das wichtigste und überwiegende Genus ist Selaginella; dazu gehören ferner Isoetes und die Hauptmasse der fossilen Lycopodiales. Letztere waren große, baumförmige Typen, wie Lepidodendron, Sigillaria,Bothrodendron u. a. Jedoch nicht alle fossilen Ligulaten waren groß; auch kleinere, im Habitus den heterophyllen Selaginellen entsprechende Pflanzen dieser Gruppe fanden sich in alten Erdschichten. Manche von ihnen endlich zeigten eine Fortentwickelung die mit der Entwickelung der Samenpflanzen zu ver- gleichen ist. Selaginella umfaßt über 300 Arten, die weit verbreitet sind, jedoch besonders den Schatten dichter Tropenwälder bevorzugen. Einige wenige gehen bis in die gemäßigten Zonen hinein. Während bei Lycopodium der Sproß nur ausnahmsweise dorsiventral, in der Regel radial gebaut ist, sind nur wenige Formen von Selaginella vom radiären Typus, und diese wachsen an trockeneren und helleren Orten als die dorsi ventralen. Die Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. vegetative Entwickelung ist charakterisiert durch reiche Verzweigung der Achse; bei den dorsiventralen Typen werden die Zweige verbreitert und abgeflacht, so daß sie wie Blätter aussehen (Fig. 82). Damit geht Hand in Hand eine ungleiche Entwickelung der Blätter (Anisophyllie). Bei den dorsiven- tralen Typen sind sie in vier Reihen ange- ordnet: zwei davon bestehen aus kleinen, schief aufwärts gerichteten Blättern, die anderen zwei aus großen, schief nach unten gerichteten (Fig. 82, 2). Bei diesen Species finden sich auch die eigentümlichen „Rhizo- phoren". Das sind nackte Zweige, die ver- tikal abwärts zum Boden wachsen, wo sie, obgleich sie selbst keine Wurzeln sind, doch solche erzeugen. Auf diese Weise wird der Sproß durch Wurzeln mechanisch gestützt und ernährt. Alle diese Eigentümlichkeiten sind jedoch sekundär und abgeleitet. Die primitiven Typen waren radiär, wie z. B. Selaginella spinulosa (Fig. 84, e). Diese Art zeigt auch eine relativ primitive Anatomie; die Merkmale ihres Gefäßsystems sind interessant im Vergleich einerseits mit Lycopodium, andererseits mit den baum- förmigen Fossilien. Der untere Teil der Achse wird durchsetzt von einer zylindrischen Stele; in der Mitte des soliden Xylem- kernes findet sich Protoxylem; dieses ist umgeben von einem Phloemband, einem Perizykel und der trabekulären Endodermis, d. i. eine Endodermis, deren Zellen seitlich voneinander getrennt sind, so charakteristisch für Selaginella. Das ist in Wirklichkeit eine Protostele. Weiter nach oben geht das Protoxylem in die Peripherie über, die Stele tritt in den terminalen Strobilus mit einem Mark versehen ein, indem die zentrale Masse durch dünnwandiges Gewebe ersetzt wird. Die Pflanze ist so durchweg monostel und zwar in einem primitiven Stadium. Der Zustand ist sehr ähnlich dem, wie er bei ein- facheren Lycopodiumtypen anzutreffen ist, oder besser noch ist er zu vergleichen mit ge- wissen primitiven Formen von Lepidodendron. Andere Species von Selaginella zeigen weitere Ausbildung in verschiedener Hinsicht. Die einfacheren dorsiventralen Species haben einfache bandförmige Stelen mit marginalem Protoxylem, an welchem die Blattspuren inseriert sind. Bei den größeren dorsiven- tralen Species jedoch, mit den oben er- wähnten blattartigen Luftsprossen und einem unterirdischen Rhizom, kann die Achse sole- nostel (Selaginella laevigata) oder polystel (Selaginella inaequalifolia und Willdonovii) werden, so wie wir es ähnlich bei Farnen ge- sehen haben. Doch das sind wohl späte und spezielle Umwandlungen, hervorgegangen aus dem marklosen, monostelen Typus. Es zeigt sich dabei eine Parallelität der Entwickelung zwischen den Selaginellen und den Farnen; 62 978 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) mehr haben die bei beiden erreichten gleichen Strukturen nicht zu bedeuten. Die Abgrenzung des Strobilus vom vege- tativen Sproß ist bei Selaginella deutlicher als bei Lycopodium. Bei Selaginella spinulosa ist der Uebergang allmählich, man hat an der Basis des Strobilus unvollkommene Sporan- gien beobachtet; beide Regionen sind hier radiär gebaut. Aber selbst bei den Formen mit dorsiventralem Sproß ist der Strobilus gewöhnlich radial, was ohne Zweifel ein primitiver Zustand ist (Fig. 82, 2). Die Sporangien sitzen zwischen der Ligula und j der Blattbasis. Die Verteilung der Mega- und Mikrosporangien ist verschieden. Letz- tere sind kastanienbraun, erstere heller ge- Fig. 82. Selaginella umbrosa. 1 Habitus. 2 Endzweig mit Strobilus, von der Lichtseite. 3 Endverzweigung, von der Schattenseite. 4 Sporophyll mit Megasporangium. 5 Ein solches mit Mikrosporangien. 6 Megasporen._L7 Mikrospuren. Nach Hieronymus. Fig. 83. A bis E Selaginella stolonifera. Keimung der Mikrospuren, sukzessive Stadien, p Prothalliumzelle, als Rhizoidzelle aufzufassen, w Antheridiumwandzellen, s spermatogene Zellen. A, B, D von der Seite, C vom Rücken. In E die Prothalliumzelle nicht sichtbar, die Wandzellen aufgelöst, umgeben die Spermatozoidmutterzellen. Vergrößerung 640fach. F Selaginella cuspi- data, Spermatozoiden. Vergrößerung 780fach. Nach Belajeff. Aus Strasburgers Lehrbuch. färbt, die Makrosporen sind von außen zu erkennen. Das Selaginellasporangium stimmt im allgemeinen mit dem von Lyco- podium überein. Es wird gewöhnlich be- schrieben als von der Oberfläche der Achse entspringend, jedoch die genaue Stellung variiert bei den einzelnen Species. Bis zur Bildung der zahlreichen Sporenmutterzellen verläuft die Entwickelung der Sporangien gleichförmig. In den Mikrosporangien gehen dann alle Sporenmutterzellen die Tetraden- teilung ein und die zahlreichen Mikrospuren bleiben klein; in den Makrosporangien je- doch gehen in der Regel alle Sporenmutter- zellen zugrunde bis auf eine, die eine Tetrade bildet. Die Makrosporen werden sehr groß, behalten aber die tetraedrische Gestalt bei. Ihre Zahl ist gewöhnlich 4, es sind aber auch schon 12 gesehen worden bei Selaginella Vogelii, die natürlich von drei Sporenmutter- zellen abstammen, andererseits kann manch- mal auch nur eine einzige vorhanden sein. Die Ausstreuung der Sporen erfolgt in der- selben Weise wie bei Lycopodium, doch sind die mechanischen Vorrichtungen schärfer ausgebildet, besonders für die Makrosporen. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 979 Die Sporen können schon zu keimen anfangen, ehe sie ausgestreut sind; die Keimung geht dann auf dem Boden weiter, wobei sie oft nebeneinander zu liegen kom- men. Bei der Keimung der Mikrospuren wird zuerst eine kleine Prothalliumzelle abgeschnitten (Fig. 83, p), der ganze übrige Inhalt der Spore entwickelt sich zum An- theridium, das schließlich zahlreiche Sper- matozoiden mit 2 Cilien entläßt (Fig. 83, F). Das männliche Prothallium ist also sehr reduziert, vergleichbar mit dem der Hydro- pterideae. Die tetraedrischen Megasporen sind von einer dicken Wand umgeben, welche längs der 3 konvergenten Linien aufbricht, so daß der Inhalt freigelegt wird. Es wird Selaginella spinulosa genau erforscht worden. Die ersten Stadien sind im wesentlichen wie bei Lycopodium: der Embryo steckt mit einem Suspensor im Prothallium; aus der unteren Zelletage (vgl. Fig. 80, I) entsteht das Hypocotyl, die obere bildet die Cotyle- donen und den Stammscheitel. An der Basis, in engem Zusammenhang mit dem Suspensor, entsteht die erste Wurzel. Das Hypocotyl streckt sich, so daß der Embryo sich krümmt und die Achse die Vertikal- stellung annimmt (Fig. 84, 3). Hinsichtlich der Entstehung und Lage der Teile des Embryo sind bei den verschie- denen Formen des Genus Unterschiede vor- handen. Sie alle stimmen darin überein, daß e 4. Fig. 84. Selaginella Martensii. 1 Gekeimte Megaspore mit zwei Embryonen. 2 Dasselbe, der Embryo hervortretend. Nach Pfeffer. 3 bis 10 Selaginella selaginoides, 3 Embryo in Längsschnitt, links unten der Embryokörper, rechts unten die Stelle, wo die Wurzel entstehen wird. K die ersten Keimblätter, 1 die Ligula. 4 Junge Keimpflanze mit Wurzel. Hypokotyle, Kotyledonen und Plumula. 5 Etwas älteres Stadium der Stengel, unten verdickt, darüber das dünne ausdauernde Hypokotyl. 6 Aelteres Stadium. H Hypokotyl, K die beiden Kotyledonen. 7 Habitusbild ein.- End Verzweigung mit drei Strobili. 8 und \) Der Stammgrund einer jüngeren und einer älteren Pflanze. 10 Laubblatt. Nach Bruch mann. nun vom Scheite der Spore ab ein Pro- thallium gebildet, so daß der ganze Hohlraum mit einem großzelligen Gewebe angefüllt wird, das durch die Oeffnung in der Wand hervorragt. Auf der hervorragenden Fläche entstehen die Archegonien (Fig. 84, 1), worauf die Befruchtung erfolgt. Auch hier ist also das Prothallium reduziert, jedoch nicht in dem Maße, wie das männliche, da ja für den jungen Embryo ein gewisser Vorrat von Nahrungsstoffen' vorhanden sein muß. Die Embryologie ist von Bruchmann für der Stammscheitel von der Mitte der epi- basalen Etage entsteht. Große Verschieden- heiten zeigt die Entwickelung des hausto- riumartigen Fußes. Bei dem primitiven S. spinulosa fehlt er gänzlich; bei Selaginella Martensii (Fig. 84, "2) erscheint er als eine Anschwellung, welche die junge Pflanze mit dem Prothallium verbindet, nachdem der Sproß hervorgewachsen ist. Selaginella ist wahrscheinlich ein alter Typus. Kleine Organismen, im Habitus den heterophyllen Selaginellen gl ichend, exi- 62* 980 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) stierten zu geologisch früher Zeit. Lycopo- dites Gutbieri Gopp. aus den oberen Kohlen- schichten kann kaum etwas anderes gewesen sein. Ferner hat Lycopodites primaevus Sehr., aus den mittleren Kohleschichten, heterospore Sporangien, mit mehr als 4 Sporen in den Megasporangien, wenn auch keinen deutlichen Selaginellasproß. Auch bei Lycopodites Suissei kann die Zahl der Megasporen 16 bis 24 sein. In diesen Fällen scheint die Reduktion der Sporenzahl, die im Gefolge der Heterosporie auftritt, noch nicht soweit gegangen zu sein, als bei der mo- dernen Selaginella. Dann aber finden sich im Karbon Fossilien, wie Miadesmia, welche in der Struktur, in den heterophyllen Blättern und im Besitz einer Ligula mit Selaginella übereinstimmen, in ihrer Fruktifikation je- doch eine Fortentwickelung zu den Samen- pflanzen hin zeigen. Die einzige Makrospore, die gebildet wird, bleibt im Sporangium, das von einem Integument mit einer kreis- förmigen Mikropyle umgeben ist (Fig. 85). Stif Fig. 85. Miadesmia membranacea. Radial- schnitt des samenartigen Organs, t Tentakeln. Nach Scott. Selaginella, so wie wir es lebend kennen, scheint also eine sehr interessante Mittel- stellung zwischen den bekannten Formen einzunehmen. Der radiäre Typus des Genus ist offenbar der primitive. Die Gleichheit der ersten EntwickelunGjsstadien der beiden Sporangiumtypen macht die Abstammung von homosporen Formen wahrscheinlich, doch sagen uns die Fossilien, daß der Typus mindestens aus dem Karbon stammt, ja daß er zu jener Zeit schon eine Fortentwicke- lung zu Samenpflanzen hin zeigte. Bis jetzt läßt sich aber keine Gruppe der Samen- pflanzen auf derartige Stammformen zurück- führen. Das Genus Isoetes kann als ein lebender Vertreter der baumförmigen Lycopodiales aus der paläozoischen Periode betrachtet werden, der von gestauchtem Habitus und in seinem Vorkommen beschränkt ist. Es umfaßt über 60 Species, die besonders in den gemäßigten Zonen weit verbreitet sind. 2 Species sind Landbewohner, die übrigen leben untergetaucht in frischem Wasser und wurzeln im Schlamm. Die Isoetespflanze besteht aus einer kurzen aufrechten Achse, die bedeckt ist von relativ großen Blättern. Die Achse ist gewöhnlich unverzweigt, je- doch kann Gabelung gelegentlich vorkommen, eine Tatsache, die interessant ist im Ver- gleich mit den Lycopodien (Fig. 86). Die Blätter sind alle gleich, ihre Basis ist breit, der obere Teil borstenförmig; in einiger Entfernung von der Basis befindet sich eine kleine Grube, in der die Ligula sitzt. Es sind sterile und fertile Blätter vorhanden, bei einigen Species besteht ein Größenunter- schied, indem die sterilen Blätter kleiner sind. Die Pflanze ist heterospor. Bei den fertilen Blättern liegt das Sporangium in einer Vertiefung der Blattoberfläche, zwischen Ligula und Blattbasis; obwohl das Sporangium groß, kuchenförmig ist, stimmt also seine Lage doch mit der bei Selaginella überein. Die Untersuchung von Schnitten durch die Blätter ergibt, daß auch bei der Mehrheit der sterilen Blätter ein rudimen- täres Sporangium in normaler Lage vorhan- den ist. Man hat festgestellt, daß in jeder Vegetationsperiode eine regelmäßige Auf- einanderfolge von Makrosporophyllen, Mikro- sporophyllen und sterilen Blättern statt- findet. Das ist ein Zustand, wie er ähnlich bei Lycopodium Selago anzutreffen ist. Nachdem die Embryonalstadien durchlaufen sind, stellt die ganze Pflanze potentiell einen fertilen Strobilus dar, in welchem sterile und fertile Regionen nur unvollkommen von- einander differenziert sind. Hinsichtlich der Sporangien zeigt Isoetes gemeinsame Merkmale mit den baumförmigen Lycopo- diales: bei beiden sind sie groß und kuchen- förmig. Auch ist eine gewisse Aehnlichkeit mit diesen in der Struktur des verkürzten, massigen Stammes, sowie in der Lokali- sation der gegabelten Wurzeln an dessen Basis zu erkennen. In der Tat ist Isoetes wie ein gestauchtes Lepidodendron oder mehr noch wie ein Lepidostrobus, der an der Basis eines Lepidodendrons ansitzt. Das macht seine Untersuchung interessant und wichtig. Es ist schwierig, die komplizierte Gewebs- masse des Stammes zu entziffern, da infolge der Lebensweise im Wasser eine Reduktion eingetreten ist. Die Stele der Achse wird am besten gedeutet als ein Stammgebilde, ver- gleichbar mit dem der einfacheren Lyco- podien; von ihr gehen dicht gedrängt die Blattspuren ab. Das Xylem ist reduziert und parenehymatisch. Eine kambiale Tätigkeit beginnt frühzeitig, sie bildet die Fortsetzung der Tätigkeit der primären Meristeme. Das Kambium erzeugt nach außen hin Rindenparenchym, nach innen hauptsächlich Xylem mit viel Parenchym. Es ist zweifel- haft, ob überhaupt sekundäres Phloem ge- Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 981 bildet wird. Die Struktur ist so, wie sie bei einem gestauchten Lycopoden zu erwarten war, etwa vom Typus des Lepidodendron fuliginosum, wenn derselbe den Wasser- habitus annahm. Die monarchen, dichotomen Wurzeln stimmen genau mit denen von Stigmaria überein, auch zeigt ihre Anord- nung gewisse Analogien mit der bei Stigmana (s. unten). Die Anatomie von Isoetes stützt also den Vergleich mit Lepido- dendron. Das gilt auch für die Lage und den Bau der Sporangien. Die Pflanze ist heterospor wie die übrigen Ligulaten; aber aus der Aehnlichkeit der ersten Stadien beider Arten von Sproangien ergibt sich unzweifelhaft, daß verläuft genau so, so daß eine Beschreibung hier überflüssig ist. Dagegen unterscheiden sie sich in den Spermatozoiden, die bei Isoetes viele Cilien tragen, sich also mit denen der Filicales vergleichen lassen. Auch hat der Embryo keinen Suspensor. Die Em- bryologie ist im Vergleich mit der der Lyco- pocliales abgekürzt, der Stammscheitel in seinem Wachstum gehemmt durch die früh- zeitige Entstellung des Cotyledos und der ersten Wurzel aus der epibasalen Etaee. Aus der hypo basalen Etage geht nur der Fuß her- vor. Da also auch Isoetes im wesentlichen mit dem übereinstimmt, was bei Lycopo- dium und Selaginella zu seilen ist, so können alle Lycopodiales als Varianten eines ein- Fig. 86. 1 bis 3 Isoetes lacustris. 4 I. Bolanderi. 5 I. lacustris. 1 Habitusbild. 2 Drei- lappiger Stamm, von oben gesehen, nach Entfernung der Blätter. 3 Basis des fruktifizierenden Blattes von der Innenseite. 4 Blattbasis mit Makrosporanginni. 5 Längsschnitt des basalen Teils eines Sporophylls mit seinem Mikrosporaiigium. 1 und 3 nach Luerssen. 2 nach Lotsy. 4 nach Campbell. 5 nach Hofmeister. sie gleicher Herkunft sind. Am interessan- testen ist dabei, daß die sporogene Masse quer durchsetzt wird von Tiabeculae aus sterilem Gewebe, die von der Basis des Sporangiums bis zur äußeren Wand des- selben sich erstrecken; dadurch wird dieses mechanisch gestützt und seine Ernährung wird erleichtert. Aehnliches findet sich bei einigen der größeren Lepidodendronsporan- gien. Die Sporen werden frei infolge der Verwesung der Sporangiumwand; sie sehen aus wie die von Selaginella. Die Zahl der Makrosporen in einem Sporangium ist je- doch viel größer als dort. Auch die Keimung zigen Typus angesehen werden, der im Grunde spindelföimig ist und dessen Stamm- scheitel aus der Mitte der epibasalen Etage hervorgeht. Wir gehen nun zu den baumförmigen Lycopodiales über. Sie gehören zu den ältesten Fossilien und finden sich vorn Devon bis zur Trias. Dazu gehören die Lepidcden- draceae, Bothrodendraceae, Sigillariaceae und Pleuromoiaeeae. Dieselben unter- scheiden sich in Einzelheiten, nach denen die Einteilung getroffen ist, allen aber liegt der gleiche morphologische Bauplan zugrunde. Die Hauptzüge desselben sind folgende: Die 982 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Hauptachse war aufrecht, sie erreichte in stimmen diese Würzelchen genau mit denen manchen Fällen eine Höhe von 100 Fuß. Sie von Isoetes überein (Fig. 88, o bis 9). Die war umfangreich im Vergleich mit den zahl- noch unvollkommen bekannte Form Pleuro- reichen einfachen Blättern, welche sie trug, moia ist für den Vergleich besonders inter- essant (Fig. 89). Sie hat stammartige Stigmarien- stümpfe, die verkürzt, aber noch mit den Wurzelnarben bedeckt sind. Denkt man sich dieselben noch weiter redu- ziert, so daß sie schließlich statt konvex konkav werden, so erhalten wir eine ungefähre Vorstellung des Zustandes von Isoetes. Die Blätter der fossilen Lycopodiales waren manchmal von beträchtlicher Größe, je- doch einfach gestaltet. Sie waren an der Basis zu den wohlbekannten Polstern ver- breitert, die bei manchen For- men die ganze Außenseite des Stammes bedecken (Fig. 87, 3, 4). An der Oberseite der Blätter, nahe der Basis, saß die Ligula, oft in einer tiefen Grube. Die Sporangien waren in der Kegel auf wohlumschrie- bene Zapfen beschränkt, die als Lepidostrobus beschrieben worden sind. Deren Bau war im wesentlichen derselbe, wie der des vegetativen Sprosses, von dem Vorhandensein der Sporangien abgesehen. Die Sporangien waren sehr groß und von der Achse radial nach außen gestreckt. Bei Lepido- Fig.87. lLepidodendronbauin. Restauriert. NachPotonie. dendron standen diese Zapfen 2 Lepidodendron aculeatum. Fragment des Stengels und am Ende gewöhnlicher Zweige; Hohldruck. Nach Sternberg. 3 und 4 Lepidodendron, bei Sigillaria entsprangen sie Blattpolster Nach Potonie. 5 Lepidodendron, versclue- geitlich der Hauptsache, dene Erhaltungszustande zeigend. Sach Seward. ^ der ^ ^ der R[eife ab! fielen. Bei Pleuromoia scheint, wie bei Isoetes, die ganze Hauptachse ein Strobilus gewesen zu sein, der auf einer Stigmarienbasis saß. Die alten Lepidodendrontypen stimmen mit den modernen Lycopodiales nicht nur in der äußeren Form, sondern auch in dem inneren Bau überein; jedoch im Zusammen- hang mit den größeren Dimensionen der Fossilien erscheinen bei diesen spezielle Um- wandlungen, die bei den modernen Formen fehlen. Die Uebereinstimmung besteht in dem Vorhandensein einer einzigen Stele mit zentripetalem Holz und peripherem Protoxylem; an dieser sind die Blattspuren mit dem Minimum lokaler Störung inseriert. Bei einigen der ältesten Species, deren Struktur erhalten ist, bestand der Xylem- kern durchweg aus Holz (Protostele) ; bei Nach oben hin war sie dichotom verzweigt, in den meisten Fällen überreich (Fig. 87, 1). Bei einigen Sigillarien jedoch und bei Pleuromoia fehlte die Verzweigung gänz- lich. Die Achse war im Boden befestigt durch wenig tief eindringende, weit ausgebreitete Stigmarien (Fig. 88). Bei Lepidodendron waren es vier Hauptstigmarien, die sich wiederholt gabelten und so ein weit ausge- breitetes System bildeten. Von diesen rhizom- artigen Organen strahlten Würzelchen nach allen Seiten aus, die eine Länge von 1 Fuß und mehr erreichten und sich dichotom verzweigten (Fig. 88, 4). Das gemeine Fossil Stigmaria zeigt gewöhnlich nur noch die Narben an den Stellen, wo die Würzelchen ausgingen (Fig. 88, 3). In ihrem monarchen Bau und der dichotomen Verzweigung Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 983 einen King jüngeren Typen war er differenziert hatte ein zentrales Mark. Eine auffallende Begleiterscheinung des starken Wuchses war das sekundäre Dickenwachstum, das bei der Mehrzahl der bekannten Formen zu erkennen ist. Dieses ging von zwei verschie- denen Kambien aus; das eine umgab das primäre Xylem und erzeugte sekundären Holzes; das andere lag in der Rinde, unterhalb der zurückbleibenden Blatt- basen, aus ihm ging ein breiter King sekundärer Rinde oder ein Periderm hervor, dessen Funktion zweifelhaft ist. Wie groß auch das Mark wurde im Verhältnis zum primären Holz, so blieb doch bei Lepiclo- dendron der Zusammenhang des Ringes ununterbrochen. Bei Sigillaria jedoch, dessen Blätter bisweilen sehr groß wurden, war die Sache anders. Hier finden sich Entwicke- lungsstufen im Sinne einer Aufteilung des primären Holzes der markhaltigen Stele in getrennte Stränge. So haben sich also die jüngsten Sigil- larien am weitesten von der primitiven Protostele entfernt, denn sie zeigen nicht nur ein Mark und sekundäres Dicken- wachstum, sondern auch die Aufteilung des primären Xylems. Trotz alledem ist es aber doch möglich, zu erkennen, daß die Gefäßbündel der fossilen Lyco- podiales Umwandlungen der primitiven Protostele dar- stellen. Der Lepidostrobuszapfen war oft von beträchtlicher Größe. Die Sporophylle waren so gestaltet und überdeckten einander so, daß die jungen Sporangien vollkommen und diesen Fossilien im wesentlichen die gleichen wie bei den lebenden Ligulaten. Doch zeigten einige dieser Pflanzen Anfänge einer Samen- bildung. Miadesmia ist schon erwähnt worden. Ein weiteres Beispiel dafür ist Lepidocarpon, bei dem, mit Unterschieden in Einzelheiten, die Megaspore in ähnlicher Weise auf der Elterpflanze zurückgehalten Fig 8 88. schützt Makro- bildet, Zapfen krosporen von sporen, ge- waren. Es wurden und Mikrospuren ge- im gleichen 2). Die Mi- aus wie die Die Makro - denen eine viel häufig (Fig. 90, sahen Selaginella. größere Zahl in jedem Sporan- gium entstand als bei Sela- ginella, waren auf der Außen- seite mit verschieden gestal- teten Vorsprüngen versehen. Das Prothallium bleibt in ihnen einge- schlossen, man hat sogar Reste von Arche- gonien erkennen können. Ohne Zweifel waren die Methoden der Fortpflanzung bei Stigmaria ficoides. 1 Habitus. Nach William - son. 2 Dasselbe. Nach Potonie. 3 Oberfläche, mit Narben der Appendices. 4 Stück mit Appendices. Nach Potonie. 5 Querschnitteines kleinen Exemplars. Nach Scott. 6 Quer- schnitt eines Würzelchens, so wie es gewöhnlich erhalten ist, außen ein Teil der äußeren Rinde, innen das Xylem, von der inneren Rinde umgeben. Nach Scott. 7 Teil eines Querschnittes eines Würzelchens, die monarche Struktur zeigend. Nach Scott. 8 Querschnitt des zentralen Teiles eines Würzelchens, ganz unten links das Protoxylem, dann das sehr weitzellige Metaxylem, ganz oben das sekundäre Xylem. 9 Querschnitt eines sich gabelnden Würzelchens, die in zwei Zonen differenzierte äußere Rinde noch zusammenhängend, die innere Rinde der beiden Zweige schon vollständig geteilt. wurde, wozu noch die schützende Umhüllung des Sporangiums durch integumentartige Gebilde kam, so daß ein Körper entstand, der einem Samen sehr nahe kommt. Mög- 984 Farne im weitesten Sinne (Pteridöphyta) licherweise gewannen die Mikrosporen Zu- tritt zu ihnen, solange sie noch auf der Eiterpflanze sich befanden. Jedoch es ist kein Beweismaterial vorhanden, das uns ein weiteres Fortschreiten auf dieser Ent- wickelungslinie zeigte, so daß daraus sich irgendeiner der bekannten Stämme der Samenpflanzen ergeben hätte. Die Lycopodiales stellen also im ganzen genommen eine sehr natürlich zusammen- hängende Pflanzenreihe dar. Sie unter- scheiden sich von allen anderen. Sie gehören mit zu den ältesten Typen, die man kennt. Fig. 89. PleuromeiaSternbergi. Stammknolle mit Wurzelnarben und einem Stück des ober- irdischen Stammteils, der rechts die epidermale Oberfläche mit Blattnarben, links die subepider- male Struktur zeigt. Nach Bischof. Ihre Aufeinanderfolge in den geologischen Schichten ist in vieler Hinsicht dieselbe, wie sie sich aus der vergleichenden Unter- suchung der verschiedenen Foimen ergibt. Aus beiden Quellen können wir schließen, daß der primitive Typus einen undifferen- zierten Sproß darstellte, der zugleich vege- tativ und fertil war, der sich dichotom ver- zweigte, eine protostele Achse hatte und homospor war. Dieser primitiven Urform steht von den heutigen Vertretern am nächsten der Selagotypus von Lycopo- dium. Aber, wie Scott hervorhebt (Studies, p. 266): „alle paläozoischen Lyeopoden, deren Reproduktion bekannt ist, waren heterospor." 4. Spenophyllales. Dazu gehörte ui>piünglich die längst ausgestorbene Pflanzenlamilie der Spheno- phylleae. Hier sind avßeidem dazu ge- nommen die lebenden Psilotaceae, mit den Genera Psilotum und Tmesipteris, die von einigen anderen Forschern nicht zu dieser Gruppe gestellt werden. Ferner werden hier einige noch nicht vollständig bekannte Fossilien am besten untergebracht. Diese Pflanzen haben eine dominierende Achse von protostelem Bau, welche Blätter von mäßiger Größe trägt; letztere sind mehr oder weniger stark gabelig verzweigt, sie stehen in Wirtein (Sphenophylleae) oder Fig. 90. Lepidostrobus Veltheimianus. 1 Querschnitt des Strobilus durch den mikro- sporangialen Teil. 2 Längsschnitt des Strobilus, oben die Mikro-, unten die Makrosporangien. 3 Querschnitt des Strobilus durch den megasporangialen Teil. 4 Querschnitt der Megasporen- wand, oben eine Gruppe von Mikrosporentetraden, in derselben Vergrößerung gezeichnet. 5 Ver- mutlich infolge der Keimung aufgesprungene Megaspore. 6 Prothallium mit Archegonialhöhle. 1 bis 5 nach Scott, Kidston und Binney. 6 nach Renault. Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 985 alternierend (Psilotaceae). Ein wich- tiges Unterscheidungsmerkmal ist, daß die Sporangiophoren nicht direkt der Achse ansitzen, sondern auf Anhangsgebilden: da- durch sind sie deutlich von den Equisetales abgegrenzt, mit denen sie im übrigen sehr viel Gemeinsames haben. Letzteres gilt be- sonders für die Sphenophylleae, während die Psilotaceae mehr zu den Lycopodiales hinneigen. Das ganze Phylum nimmt so eine vermittelnde, vielleicht zentrale Stellung ein, die ihm besonderes Interesse verleiht. A. Sphenophylleae. Diese alte und längst ausgestorbene Familie wird vertreten durch das eine Genus Sphenophyllum; mit ihm vergesellschaftet ist der komplizierte Sie waren keilförmig, mehr oder weniger gabelig geädert mit verschieden tiefen Ein- schnitten zwischen den Gabelenden. Die ältesten Formen hatten schmale, lineare Blätter, die jüngeren breit keilförmige und manche waren heterophyll (Fig. 91). Die Pflanze war im Boden befestigt durch Wurzeln, die offensichtlich an den Knoten inseriert waren. Der innere Bau ist verschieden; sekun- däres Dickenwachstum ist deutlich zu sehen und begann frühzeitig, so daß der primäre Zustand nur in kleinen Zweigen erhalten ist. Die Achse war protostel ohne jedes Mark oder verbindendes Parenchym. Das primäre Xylem hat Dreiecksform, die Protoxylem- keilförmige Scott. Fig. 91. 1 Sphenophyllum spec. Verzweigte Stengel, lineare und Blätter tragend, der rechte Zweig in einem langen Strobilus endend. Nach ginatum Brongn. Nach einem Exemplar aus der Sammlung Kidston. _3 S^ Thonii Makr. vergrößert. wirtelige 2 S. ema- S. trichomatosum Stur. 5 S. speciosum Boyle. 2 und 4 nach Seward. 3 nach Zeiller. 5, 6 Dasselbe. Ein Blatt, 6 nach Feistmantel. Strobilus, der unter dem Namen Cheiro- strobus bekannt ist. Sie finden sich in den Schichten des ,,Calciferous Sandstone" bis zum Perm. Die sporenerzeugenden Teile der Pflanze waren gewöhnlich zu wohlum- schriebenen, terminalen Strobili vereinigt, aber die Abgrenzung war nicht immer deut- lich. Das vegetative System von Spheno- phyllum bestand aus einer schlanken Achse mit gerippten Internodien; die Internodien waren getrennt durch superponierte Wirtel von Blättern, die unten mehr oder weniger verwachsen waren. Die Sproßzweige standen einzeln und augenscheinlich axillar. Die Zahl der Blätter in einem Wirtel war ein Vielfaches von 3, sehr häufig waren es 6. gruppen, einfach oder doppelt, liegen an den vorspringenden Ecken. Die Leitbündel sind Stammbündel; sie durchsetzen die Knoten ohne bemerkenswerte Veränderung des Baues. Bei der alten Species Sphenophyl- lum insigne bildete sich an jeder der drei Ecken des primären Holzkörpers ein Kanal infolge der Disorganisation des Protoxylems, so wie bei den Equisetales (Fig. 92, i). Die Tätig- keit des Kambiums beginnt unmittelbar an der Außenseite des primären Holzes; es erzeugt eine breite Zone sekundären Holzes, welche das primäre Holz vollständig um- schließt. Nach außen vom Holz liegt das Phloem und die Kinde, letztere mit einem Periderm. 086 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) Die Blätter scheinen der Größe und dem Bau nach Assimilationsorgane gewesen zu sein, wogeg n die Achse kaum assimilierte. Die an den Knoten austretenden Blatt- spuren verzweigten sich gewöhnlich inner- halb der Stammrinde in einzelne Stränge, die in die Adern des Blattes ausliefen unter wiederholter Gabelung (Fig. 91, e). Der Strobilus von Sphenophyllum war ähnlich gebaut wie der vegetative Sproß, nur daß die Sporangiophoren dazu kamen. Die Internodien desselben waren kürzer, die Blätter mehr verwachsen. Der Konus hatte so das Aussehen eines kompakten Körpers, der die bis zur Keife völlig geschützten Sporangiophoren trug. Jedoch die verschie- Komplizierter noch ist Sphenophyllum Roemeri, wo auf jedem Sporangiophor 2 Sporangien sitzen; letztere stehen in drei konzentrischen Kreisen an jedem Blatt- wirtel. Die Analogie mit den Sporangio- phoren der Equisetales ist hier deutlicher als da, wo nur ein einziges Sporangium auf jedem derselben sitzt. Noch deutlicher ist sie bei Sphenophyllum majus aus den mittleren Kohleschichten (middle Coal Measures); der Strobilus ist hier nicht scharf abgegrenzt. In jedem Wirtel stehen 6 oder 8 schmale, verschieden verzweigte Blätter. An der Basis jedes der gegabelten Sporophylle steht ein Sporangiophor, der 4 bis 6, ge- wöhnlich 4 Sporangien trägt. Die Sporangien Fig 92. 1 Sphenophyllum insigne. Querschnitt des Holzteiles eines ziemlich jungen Stengels, das dreieckige primäre Holz zeigend, mit einem das Protoxylem markierenden Kanal an jeder Ecke, rund herum das sekundäre Holz. 3 Sphenophyllum plurifoliatum. Quer- schnitt durch ein beblättertes Nodium. Nach Williamson. 2 und 4 Sphenophyllum quadri- folium. 2 Querschnitt durch ein Nodium, die sich gabelnden Blattbündel zeigend. Nach Renault. 4 Querschnitt etwas oberhalb des Nodiums, welcher 6 Blätter getroffen hat. Nach Renault. denen, unter dem generellen Namen Spheno- phyllum beschriebenen Fossilien zeigen Unter- schiede im einzelnen, sowohl hinsichtlich der Zahl und Lage der Sporangiophoren als auch der Zahl der von jedem derselben getragenen Sporangien. Die einfachsten Verhältnisse finden sich bei Sphenophyllum trichoma- tosum; hier stehen die Sporangien einzeln, nahe der Achsel der schmalen Sporophylle. Bei dem bekannten Sphenophyllum cunei- folium steht jedes Sporangium auf einem verlängerten vaskulären Sporangiophor; deren Zahl ist in jedem Wirtel doppelt so groß als die der verwachsenen Sporophylle. haben eine radiale Dehiszenzlinie ; das Ganze sieht auffallend den Sporangiophoren von Psilotum gleich (s. unten). Bei Sphenophyl- lum fertile endlich ist sowohl der dorsale als der ventrale Lappen fertil, d. h. es sitzen Sporangien sowohl am Sporangiophor als an dem diesen tragenden Blatt (Fig. 93). Schließlich bleibt noch der merkwürdige Zapfen aus dem ,,Calciferous Sandstone" vonBurntisland; Scott hat ihn Cheiroscrobus genannt und zu den Sphenophyllales in Be- ziehung gesetzt, doch hat er auch dessen Verwandtschaft mit den Equisetales und Lycopodiales erkannt. Sein vegetatives Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) 987 System ist noch unbekannt. Der Zapfen ist größer und komplizierter als sonst einer der bekannten sporangiophoren Typen (Fig. 93 rechts). Seine kräftige Achse zeigt mehr Lycopodinen- als Sphenophylloidcharaktere. Der markloseXylemkernwar sternförmig mit 12 vorspringenden Protoxylemgruppen, ent- sprechend den superponierten Sporophyll- wirteln. Jedes Sporophyll bestand aus 3 sterilen, handförmig geteilten Lappen und trug auf der Oberseite 3 Sporangiophoren, jeder mit 4 hängenden, langen Sporangien, angeheftet am verbreiterten distalen Ende (Fig. 93, rechts 2). Soweit sich aus dem Ge- fäßbündelverlauf schließen läßt, sind die Sporangiophoren Anhängsel des Sporophylls. treter dieser eigentümlichen und etwas iso- lierten Familie. Sie werden gewöhnlich zu den Lycopodiales gestellt; jedoch seit man sie genauer kennt, scheint es natürlicher, sie mit den Sphenophylleae zusammen zu nehmen. Die beiden lebenden Genera sind in ihren allgemeinen Charakteren einander so gleich, daß kein Zweifel an ihrer nahen Verwandtschaft bestehen kann. Beide haben keine Wurzeln. Der grüne staudige Sproß haftet in dem Substrat, das gewöhn- lich Humus ist. mit einem Komplex von blattlosen Rhizomen, die mit Rhizoiden be- deckt und von einer Mycorrhiza durchsetzt sind. Die Ernährung scheint also gemischt zu sein, teils saprophytisch, teils photo- Fig. 93. Unten: Sphenophyllum spec. Querschnitt eines Stengels mit Dickenwachstum. Nach Zeiller. Oben: Sphenophyllum fertile Scott. 1 Längsschnitt, 2 Querschnitt eines Teiles des Strobilus. In der Mitte unten: Sphenophyllum majus Kidston, Sporophyll von der adaxialen Seite gesehen. Rechts: Cheirostrobus Pettycurensis Scott. 1 Dia- gramm des Strobilus. 2 Diagramm eines Längsschnittes des Sporophylls. Sämtlich nach Scott. In diesem Zusammenhang sei auch Pseudo- 1 bornia ursina genannt aus dem oberen Devon. Es hatte große, im Quirl stehende Blätter; seine Fruktifikation hatte die Form einer langen lockeren Aehre, welche wirtelige Sporophylle trug, die reduzierten vege- tativen Blättern gleichsahen. Es scheint das, sagt Scott, ein Vertreter jener alten synthetischen Pflanzenrasse zu sein, von der bis dahin die Sphenophyllales die einzigen Beispiele waren. Derartige Fos- silien lassen auf eine engere Verwandtschaft zwischen den mikrophyllen Typen in der Vergangenheit schließen, als sie deren lebende Vertreter erkennen lassen. B. Psilotaceae. Die Genera Tmesipteris und Psilotum sind die einzigen lebenden Ver- synthetisch. Die Luftsprosse tragen zweierlei Änhangsgebilde: einmal einfache Laub- blätter und dann gegabelte Sporophylle. Diese können unregelmäßig auf demselben Sproß zusammenstehen, der so den Charakter eines lockeren, undifferenzierten Strobilus erhält. Tmesipteris hat nur eine Spezies in Australien. Diese Pflanze wächst auf Stämmen von Baumfarnen; ihre blattlosen, dichotom verzweigten Rlnzome sind in der Masse von Wurzeln versteckt, welche jene Stämme bedecken (Fig. 94, 1). Davongehen Zweige ab, die sich dem Lichte zuwenden und die oben erwähnten Anhangsgebilde tragen. Die Laubblätter sind etwa einen halben Zoll lang, in einer Vertikalebene aus- 988 Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) gebreitet. Die Sporophylle haben dieselbe Form, doch sind sie gegabelt, die Sporangio- phoren sitzen zwischen den Lappen (Fig. 94, 3 bis ?). Jedes Sporartgiophor trägt 2 große, zusammengewachsene Sporangien, manchmal auch 3 oder auch nur eines. Laubblätter und Sporophylle stehen in alternierenden Zonen; aber die Laubblätter können unregel- mäßig zwischen den Sporophyllen verteilt stehen, sodaß kein abgegrenzter Strobilus da ist. Das Genus Psilotum umfaßt zwei Species: Psilotum triquetrum und Psilotum flaccidum, ersteres eine aufrechte Staude, letzteres hängend und abgeflacht. Beide können epiphytisch leben und wachsen dann in mit Sphenophyllum majus (Fig. 93) ist unver- kennbar. Die Stellung der Sporangiophoren in bezug auf die gegabelten Sporophylle ist I die gleiche; in beiden Fällen ist die Zahl der Sporangien variabel, die Beziehung zwischen den einzelnen Sporangien und ihre Dehiszenz dieselbe. Die Sporophylle sind verschiedentlich gedeutet worden. Das einfachste und wahrscheinlichste ist jedoch, den Vergleich mit Sphenophyllum majus anzunehmen und sie als gegabelte Blätter anzusehen, von denen jedes ein Sporangio- phor trägt. Bei beiden Genera ist die Achse von einer Stele durchsetzt, die im Grund vom proto- stelen Typus ist; sie ist begrenzt von einer Fig. 94. Trnesipteris tannensis Bernh. 1 Habitusbild. 2 Sporophyll von der Unterseite. 3 von der Seite. 4 und 5 von oben gesehen. 1 bis 5 nach Pritzel. 6 Einfaches Sporophyll mit einem Sporangium. 7 Sproßstück, an welchem ein steriles Blatt und ein fertiles Sporophyll sitzen. 6 bis 7 nach Goebel. 8 Querschnitt des Rhizoms. Nach Dangeard. 9 Querschnitt des Stengels. Nach Campbell. Humuspolstern; Psilotum triquetrum wächst auch auf dem Boden. Die unterirdischen Rhizome sind blattlos, wie bei Trnesipteris, jedoch reicher verzweigt und enthalten einen endophyten Pilz. Sie erzeugen manchmal Gemmen in großer Zahl, die zur Vermehrung der Pflanze dienen. Die Luftsprosse sind ebenfalls gegabelt, reichlicher als bei Trnesi- pteris, und zwar in zwei Ebenen, die ungefähr senkrecht aufeinander stehen. Die Anhangs- gebilde sind ähnlich, aber kleiner; die Sporan- giophoren jedoch sind relativ groß und trag- n gewöhnlich 3 synangiale Sporangien. Ihre Zahl kann bis auf 1 herabgehen oder bis 5 steigen (Fig. 95, is). Die Aehnlichkeit Endodermis. Die Rinde besteht im Rhizcm aus stärkeführendem Parenohym, mit endo- phyter Mycorihizain den ävßeien Schichten. Im Sproß stellt die Rinde ein assimilierendes Gewebe dar, besonders bei Psiloti m. Der Bau der Stele variiert. Im Rhizcm ist oft kein deutliches Protcxylem; im Stamm nimmt das Xylem die Gestalt eines hehlen, vielstrahligen Steines an, mit dem Proto- xylem an der Peripherie. Bei Psilotum findet sich an der Basis des Luftsprosses eine schwache sekundäre Holzbildung außerhalb des primären Holzes. Der Bau der Spicß- basis würde also an den Stamm von Spheno- phyllum erinnern, während der obere Teil Farne im weitesten Sinne (Pteridophyta) «IS'.I der Achse des Konus von Cheirostrobus ähnelt, jedoch in einfacherem Maße und mit wenig Xylemstrahlen. Der Bau von Tmesi- pteris ist im wesentlichen derselbe, doch ist das Protoxylem mesarch. Die Entwicklung der Sporangiophoren zeigt, daß sie Anhangsgebilde des Sporo- phylls sind. Sie sind durchsetzt von einem Gefäßstrang wie in den anderen Fällen. Die Sporangien entstehen aus . einer beträcht- lichen Gewebsmasse, in der das sporogene Gewebe nicht scharf abgegrenzt ist. Wenn die Sporenbildung eintritt, so macht ein ansehnlicher Teil der Zellen der sporogenen Masse die Tetradenteilung nicht mit, sondern wird disorganisiert. Sie dienen dann als verlangen. Da muß daran erinnert werden, daß es Species von Lycopodium gibt mit wirtelig gestellten Blättern und andere, bei denen die Blätter unregelmäßig alternieren; und doch läßt man sie mit Recht in dem gleichen Genus. Folglich kann auch in diesem Falle eine Verschiedenheit in der An- ordnung der Blätter die Vereinigung der beiden Familien zu einem Phylum nicht hindern. Wie dem auch sei, so ergibt sich doch aus den gezogenen Vergleichen, daß die Sphenophylleae mit ihren Verwandten eine Pflanzenreihe vom größten Interesse für die Vergleichung darstellen, und daß sie als synthetische Typen Verwandtschaften mit anderen Pteridophytenreihen erkennen lassen, Fig. 95. Psilotum triquetrum. 8 bis 15 verschiedene Stadien der Entstehung junger Pflanzen aus Brutknospen. Die jungen Rhizome zeigen Dichotomie. Nach So lms. 16 Rhizoin. 17 Habi- tusbild desselben. 18 Sproßstück aus der fertilen Region. 16 bis 18 nach Pritzel. Tapetum. Bei beiden Genera sind die Dehiszenzlinien strukturell vorgebildet. Bei Psilotum strahlen sie von der Mitte aus, so wie bei Sphenophyllum majus. Die Keimung der Sporen ist unbekannt, der Gametophyt ist nicht mit Sicherheit beobachtet worden. Die Aehnlichkeit zwischen den lebenden Psilotaceae und den fossilen Sphenophylleae ist hauptsächlich in ihrer Anatomie und in der Natur der Sporophylle und Sporangiophoren gelegen. Die deutlichsten Unterschiede be- stehen in der Art der Verzweigung und in der Anordnung der Blätter. Die Frage ist, ob diese Verschiedenheiten genügen, um eine Trennung der beiden, zu der Gruppe der Sphenophyllales vereinigten Familien zu die bei den längst ausgestorbenen Typen klarer hervortreten als bei den heute lebenden Vertretern. Obwohl also bis heute die ver- schiedenen Reihen in phyletischer Beziehung noch nicht eng miteinander verbunden wer- den können, so scheint es doch nicht un- möglich, daß mit fortschreitender Kenntnis der Fossilien diese verwandtschaftlichen Be- ziehungen klarer werden, als das heute der Fall ist. Zurzeit erscheinen die Filicales und die Lycopodiales noch am meisten von den übrigen Pteridophyten isoliert. Literatur. Allgemeine Literatur über die Pteridophyta. 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Einkeimblättrige Pflanzen mit verholzten Fasern, Agavenfasern, Mauritius- hanf, Sansevierafasern, Yuccafasern, Manila- hanf, Neu-Seeländischer Flachs, Kokosfasern, Esparto, Piassaven, Bambus, Reiswurzeln, Palmblätter, Pandanusblätter, Panamastroh, Strohfasern, Seegras, vegetabilisches Roßhaar. IV. Holzfasern. V. Tannennadeln und Torffasern. I. Allgemeines. Faserpflanzen nennt man alle die- jenigen Gewächse, die entweder ganz oder in ihren Teilen für die Spinnerei und Sei- lerei, für Geflechte, für Bürstenwaren, für die Polsterei oder die Papierfabrikation Roh- stoffe liefern. Ganze Pflanzen, wie Seegras, Torfmoose und vegetabilisches Roßhaar dienen in der Regel nur als Pack- oder Polster- material, grobe Pflanzenteile, wie Palm- blätter, Halme oder Baste zu dem gleichen Zwecke oder zu Flechtwerk und rohen Stricken. Die eigentlichen Fasern sind ent- weder Haargebilde oder Festigkeitselemente des Pflanzenkörpers, meist aus der Rinde. den Blättern oder dem eigentlichen Holze, seltener aus Wurzeln oder Früchten. Da diese Elemente fast bei allen Pflanzen in genügender Ausbildung vorhanden sind. so ist die Zahl der Gewächse, die brauchbare Fasern liefern können, eine sehr große. Dennoch ist die Zahl der wirklich genutzten Faserpflanzen im Verhältnis dazu nur gering. Sie sind mit wenigen Ausnahmen sehr alte Kulturpflanzen. Die guten Eigenschaften ihrer Fasern, die leichte Kultur und ihre Ausbreitung, sowie die einfache Gewinnungs- weise der Fasern haben zu ihrer Auswahl geführt und sie z. T. durch Jahrtausende als wichtige Nutzpflanzen erhalten und ver- breitet. Wenn auch die Baumwolle eine gefährliche Konkurrentin der Flachsfaser geworden ist und der echte Hanf in ver- schiedenen tropischen Fasern brauchbare Ersatzstoffe gefunden hat, so stehen doch beide heute noch in ihren besonderen Eigen- schaften unübertroffen da. Die Verwendbarkeit der Pflanzenfasern hängt im wesentlichen ab von dem Bau ihrer Zellen und von der Struktur und der che- mischen Zusammensetzung ihrer Zellwand. Die Stärke der Zellwand und ihr Verhältnis zum Hohlraum der Zelle bedingen im all- gemeinen die Festigkeit und die Elastizität der Fasern. Die besondere Struktur der Wände, die als Schichtung bezeichnet wird, scheint diese Eigenschaften wesentlich zu erhöhen und von der chemischen Zusammen- setzung hängt neben den genannten Eigen- schaften vor allem die Haltbarkeit der Faser ab. In dieser Beziehung ist eine Faser um so wertvoller, je mehr sie aus reiner Zellulose besteht. Solche Fasern sind Baum- wolle, Flachs, Hanf und Ramie. Fast alle übrigen Fasern sind mehr oder weniger verholzt, d. h. sie enthalten neben Zellulose in erster Linie noch Lignin, einen chemisch noch nicht ganz sicher festgestellten Körper, der durch chemische Verfahren aus der Faser entfernt werden kann. Dadurch wird aber die Gewichtsmenge der Fasern geringer und die an sich schon von dem Grund- stoff der reinen Zellulosefasern verschiedene Zellulose in ihren Eigenschaften weiter ver- und damit weniger Widerstands ändert fähig. DieErkennung der wichtigsten Pflanzen- fasern in ihrer handelsüblichen Aufmachung ist bei längerer Uebung nicht nur für die einzelnen Arten, sondern auch für die Sorten derselben und die verschiedene Herkunft sehr wohl möglich. Für die Feststellung in Geweben und im Papier reichen die verschiedenen anatomischen Verhältnisse in der Regel aus. Wertvolle Unterstützung erhält die Prüfung durch das verschiedene chemische Verhalten der verholzten und der unverholzten Fasern, sowie durch die voneinander abweichenden optischen Eigen- schaften (Doppelbrechung, Dichroismus). Die Benennung der Pflanzenfasern gibt vielfach dadurch zu Mißverständnissen Anlaß, daß die Bezeichnung Hanf oder Flachs neuen, in ihrem Werte meist abweichenden Fasern beigelegt worden ist. Auch die Ab- stammung ist für manche Fasern noch recht unsicher. 992 Faserpflanzen II. Pflanzenhaare. Das wichtigste und einzige als Spinnfaser verwendete Pflanzenhaar und heute die wichtigste Pflanzenfaser überhaupt ist die Baumwolle. Alle übrigen Pflanzenhaare sind bis jetzt nur versuchsweise versponnen worden, sie werden dagegen in recht erheb- lichem Umfange als Polstermaterial ver- wendet. Man teilt sie in zwei Gruppen, die Pflanzendunen und die Pflanzenseiden. a) Baumwolle. Die Baumwollpflanze (Gossypium, Familie der Malvaceen) ist eine sehr alte Kulturpflanze. Ihre Heimat ist wahrscheinlich Indien, von wo aus sie sich in Asien nach Osten und Westen aus- gebreitet hat. Auch in der neuen Welt trafen die Entdecker die Baumwolle als Kulturpflanze an. Die Kenntnis der ver- schiedenen Arten der Gattung Gossypium und ihrer Kulturformen ist noch recht unsicher. Obwohl Watt in seiner neuesten Bearbeitung 41 Arten unterscheidet, kommen für uns nur 4 in Betracht, Gossypium herbaceum L.. die krautige oder indische Baumwolle. Gossypium barbadense L., die Sea Island- Baumwolle der Vereinigten Staaten, Gossy- pium hirsutum L., die Upland-Baumwolle der Vereinigten Staaten und Gossypium brasiliense Macf., die brasilianische oder Peru-Baumwolle. Von diesen Hauptarten gibt es eine große Anzahl von Kulturvarietäten und Kreuzungen, und so entstand eine große Zahl von für den Handel brauchbaren Sorten. Die Baumwolle ist in den meisten kultivierten Formen ein mehrjähriger bis zu 3 m hoher Strauch mit 3 bis 7 lappigen Blättern und großen einzeln stehenden weißen, gelben oder roten Blüten. Diese entwickeln etwa eigroße 3- bis 5-fächerige Kapseln mit zahlreichen Samen. Die Ober- haut der letzteren bildet eine beträchtliche Zahl ihrer Zellen zu 1 bis 5 cm langen, 0,02 bis 0,04 mm breiten, einzelligen, zylin- drischen, weißen bis braunen Haaren aus, welche die einzelnen Samen in einen dichten, weißen Haarfilz einbetten. Gleich- mäßigkeit, Feinheit, Länge (Stapel) und seidiger Glanz dieser Haare bedingen die Qualität der Baumwolle. Diese Eigen- schaften vereinigt in ganz vorzüglicher Weise die Sea Island Baumwolle und die in Aegypten gezogenen Sorten dieser Art. Die brasilianische oder Peru-Baumwolle kommt der Sea Island-Baumwolle nahe, nur daß sie an Stelle des seidigen einen wolligen Charakter hat. Die Upland - Baumwolle hat einen mittleren Stapel von etwa 30 mm, stellt die Durchschnittsware dar und liefert die größten Mengen des Handels. Die indische Baumwolle hat den geringsten Stapel und ist grob und hart. Die obengenannten wichtigsten Kulturgebiete geben bereits an- nähernd ein Bild von der Verbreitung des Baumwollbaues. Seine nördliche Grenze ist etwa der 36. Grad n. B., die südliche der 30. Grad s. B. Die Pflanze verlangt viel Sonne, möglichst gleichmäßige Wärme und einen lockeren Boden. Nicht zu heftige Regen in der Zeit ihrer Entwickelung sind erwünscht. Die Reife- und Erntezeit muß möglichst regenfrei sein. Fehlender Regen läßt sich gut bei hinreichender Luftfeuchtig- keit durch Bewässerung ersetzen. Mit nur wenigen Ausnahmen (Peru-Baumwolle) wird die Baumwolle als einjährige Pflanze gezogen. Sie braucht etwa 4 bis 6 Monate zur Reife. Die Kapseln reifen nicht gleichmäßig, so daß sich die Ernte über eine längere Zeit ausdehnt. Die Wolle wird vorsichtig aus den aufgesprungenen Kapseln herausge- nommen und meist gleich beim Ernten in fehlerlose und beschädigte getrennt. Die Trennung der Wolle von den Samen geschieht auf besonderen Maschinen, soge- nannten Säge- oder Rollergins. Das Ver- hältnis von Samen zur Wolle ist etwa 2:1. Die Baumwolle wird dann in Ballen von etwa 250 kg gepreßt. Die Welternte beläuft sich auf etwa 19 Mill. Ballen, davon kommen 13 Mill. auf die Ver- einigten Staaten, 3 Mill. auf Indien, 2 Mill. auf Aegypten. der Rest verteilt sich auf die übrigen Länder. Neuerdings sind besonders in Afrika Anbauversuche mit Baumwolle, teilweise mit gutem Erfolg, gemacht worden. Das Baumwollhaar ist mikroskopisch an seinen korkzieherartigen Drehungen sehr gut zu erkennen. Da das Haar ferner vom Samen abgerissen wird, so ist die Zelle auf einer Seite offen. Es besteht zum größten Teil aus reiner Zellulose und zeigt infolgedessen die üblichen Reak- tionen. Die Baumwolle ist heute unsere wichtigste Spinnfaser, die billigeren Manufakturwaren werden fast ausschließlich aus Baumwolle hergestellt. Mit Leinen, Wolle und Seide gibt sie die sogenannten halbleinenen, halb- wollenen und halbseidenen Gewebe. Die Baumwolle war ferner der Ausgangspunkt für die Gewinnung von reiner Zellrlose und die Herstellung von Schießbaumwolle. Die auf verschiedenem Wege gelöste Zellulose der Baumwolle liefert, in feine Fäden gepreßt, die sogenannte Kunstseide. Mit schwachen Säuren oder Laugen behandelt, verliert das Baumwollhaar seine Windungen, schwillt etwas an und wird auf der Oberfläche stark glänzend. Man nennt derartig behandelte Gewebe oder Garne mercerisiert. Sie zeichnen sich durch besonderen Glanz aus. b) Pflanzendunen. Pflanzendunen stammen aus den Früchten der Wollbäume, Bombax- und Eriodendronarten aus der Faserpflanzen 993 Familie der Bombaceen. Es sind mächtige Urwaldbäume aus verschiedenen Gebieten der Tropen, die in ihren mindestens 10 cm langen und 4 cm starken, walzenförmigen, oben und unten zugespitzten Früchten an der Frucht- wand dichte Haarmassen entwickeln, in die die Samen eingebettet sind. Die Haare sind bis zu 3 cm lang, 0,025 mm breit, von schwachgelber Farbe und wesentlich dünn- wandiger und infolgedessen gebrechlicher als Baumwolle. Man hat sie daher zum nur versuchsweise ohne verwendet. Die Fasern Eigenschaften, die ihre technische Verwendung veranlaßt haben. Die stark zusammengepreßten Haarmassen gehen an der Sonne wieder auf und lockern sich wie Bettfedern, sie eignen sich daher ganz vorzüglich als Stopfmaterial und finden als solches allgemeine Verwendung. Ferner ist an den meist vorhandenen Samen mit Sicherheit bestimmbar. Die Faser ist auch etwas verholzt und anatomisch durch schwach hervortretende Längsleisten im Innern der dünnen Wandungen ausgezeichnet. Unter den vielen anderen Pflanzenseiden scheint bis jetzt nur diejenige des westafrikanischen Kautschukbaumes Kickxia elastica ver- suchsweise in größeren Mengen eingeführt worden zu sein. Spinnen bisher dauernden haben aber Erfolg zwei der Regel mehrzellige III. Bastfasern Bastfasern sind in Stränge aus dem Rindengewebe zweiKem blättriger Pflanzen oder Gefäßbündel oder deren Festigkeitselemente aus den Geweben (Blättern. Stengeln) einkeimblättriger Ge- wächse. Mit dieser ( uuppierung stimmt auch annähernd die Verwendung. Die zweikeim- blättrigen Gewächse liefern die feineren sind sie schwer benetzbar und werden deshalb ! Spinnfasern, die einkeimblättrigen meist die Rettungs- und wegen ihrer Leichtigkeit für gürtel verwendet. Die wichtigste Pflanzendune ist der Kapok, von Eriodendron anfractuosum D.C., einem Baume des tropischen Ostindiens, •der heute über alle Tropen verbreitet ist. Er wird in erster Linie auf Java kultiviert. Die zweite wichtige Faser dieser Art kommt von Bombax malabaricum D. G, dem Simul cotton tree Vorderindiens. Das Produkt gröberen groben bis zu Doch gibt den gane es hier Seilereifasern Bürstenfasern auch Uebergänge. i. Zweikeimblättrige Pflanzen mit un- verholzten oder nur zum Teil verholzten Fasern, ia) Flachs, Linum usitatissimum L. Die wertvollste pflanzliche Spinnfaser ist immer noch, trotz der Ueberflügelung durch die Baumwolle, der Flachs. Er ist auch eine der ältesten Kulturpflanzen. geht ebenfalls unter dem Namen Kapok Die anmutige, bis zu 1 m hohe, blau blühende und wird dem javanischen meist gleichwertig ! Pflanze wird zur Fasergewinnung vor allem inRußland, Deutschland, Oesterreich, Belgien und Irland kultiviert. Für die Gewinnung scheiden, einzelligen leicht von erachtet. Verwandte Arten und Gattungen dieser Bäume liefern in Indien, Westafrika und Südamerika ähnliche Fasern, die aber zurzeit noch keine Handelsbedeutung haben. Die indische und javanische Rohware ist sehr leicht an der verschiedenen Gestalt der stets vorhandenen Samen zu unter- Anatomisch sind die ebenfalls Haare sehr einfach gebaut und Baumwolle, aber schwer von einander zu unterscheiden. Sie sind schwach verholzt. c) Pflanzenseiden. Pflanzenseiden werden im allgemeinen die seidigglänzenden Haarschöpfe vieler Früchte oder Samen ge- nannt. Technisch wichtig geworden sind bis jetzt allein die Samenhaare der Asclepiadeen, Calotropis gigantea R. Br. und Calotropis procera R. Br., deren Samenschöpfe unter dem Namen Akon oder Akund aus Vorder- indien in erster Linie als Kapoksurrogat in beträchtlicher Menge exportiert werden. Die Haare sind meist bis zu 3 cm lang, 0,04 mm breit, sehr stark seidenglänzend und ziemlich I den anhaftenden, brüchig. Man hat sie neuerdings dadurch Rindenteilen durch zum Spinnen geeignet zu machen versucht. daß man die Haare durch geeignete Chemi- kalien etwas zum Quellen bringt und damit fester macht. Ein dauernder Spinnstoff sind sie aber noch nicht. Auch der Akon Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. ist ein sorgfältiger Aufbereitungsprozeß not- wendig. Die Pflanzen werden kurz vor der Samenreife ausgezogen und von Blättern und Früchten durch Riffeln befreit. Um die Faser aus dem Rindengewebe zu ge- winnen und von dem Holzkörper zu trennen, ist eine Lockerung und teilweise Zerstörung des Rindengewebes notwendig. Dies ge- schieht in der Regel mit Hilfe des Wassers entweder durch Tau und Regen oder durch Einstellen der Stengelbündel in fließendes Wasser oder in besonders hierfür hergestellte Gruben. Der Fäulnisprozeß, der die Bast- fasern umgebenden Gewebe — die sogenannte Röste — wird hierbei durch die Tätigkeit von Bakterien unterstützt, deren Rein- kulturen gelegentlich zur Förderung des Röstprozesses angeboten wurden. Auch Aufbereitung mit warmem Wasser und mit chemischen Hilfsmitteln findet statt. Die Faser muß dann noch getrocknet und von nicht ganz zerstörten Hecheln befreit werden. Der beste Flachs ist lichtblond und von weichem Griff. Die einzelnen Bastfaser- stränge sind 0,3 bis lmlangundO.lbis 0.2mm dick. Die Fasern finden sich in konzentrisch Bündeln von etwa 8 bis 10 63 angeordneten 994 Faserpflanzen Zellen in der Rinde verteilt. Die einzelnen Zellen haben einen eckigen Querschnitt und sehr starke Wandungen, so daß nur ein feiner zylindrischer Hohlraum bleibt. Sie sind etwa 40 mm lang und haben einen Durchmesser von 0,02 mm. Die Flachszelle zeigt mehrfach schwache Verschiebungen im Längsverlaufe (sogenannte Stauchungs- erscheinungen). Die Faser ist stark doppel- brechend und gibt alle Zellulosereaktionen. Die Fasern des russischen Steppenflachses und die Fasern vom Grunde des Flachs- stengels zeigen ein abweichendes, dem Hanf ähnliches anatomisches Verhalten, so daß sie nur sehr schwer vom Hanf unterschieden werden können. i b) Hanf, Cannabis sativa L. Gleich dem Flachse ist der Hanf eine der ältesten Kulturpflanzen. Sein Verbreitungsgebiet ist größer als das des Flachses, jedoch dient er in den tropischen Ländern fast aus- schließlich zur Gewinnung seiner narkotischen Bestandteile (Haschisch). Außer den Haupt- produktionsländern des Flachses kommen für den Hanf noch Ungarn, Italien, Indien und China hinzu. Die Hanffaser dient in der Spinnerei nur zu groben Geweben und wird in erster Linie zu Seilen und Stricken verarbeitet. Sie ist äußerlich dem Flachs ähnlich, aber in der Regel länger. Der Querschnitt der Zellen ist mehr länglich verdrückt mit spaltenförmigem Hohlraum. Die Zellwand ist ebenfalls geschichtet, stark doppelbrechend und zeigt Stauchungs- erscheinungen wie der Flachs. Sie ist aber meist schwach verholzt. Der Hanf ist zwei- geschlechtlich und liefert in seinen männlichen Pflanzen ein feineres, wertvolleres Produkt. Die Aufbereitung der Faser wird ähnlich wie beim Flachs gehandhabt. ic) Sunnfaser, von Crotalaria juncea L. Außer dem eigentlichen Hanf (Cannabis) werden in Indien eine Reihe von Faser- pflanzen kultiviert, deren Fasern im Handel als,, indischer Hanf" bezeichnetwerden. Diese Sorten kann man in zwei Gruppen teilen, die eine steht dem echten Hanf näher, während die andere den Jutesorten zu- gerechnet werden muß. Der wichtigste der ersten Gruppe ist der sogenannte Sunn- hanf (auch indischer, Bombay- oder brauner indischer Hanf), der wie Flachs aufbereitet wird und eine aus feinen und groben Strängen zusammengesetzte, stärker verholzte Faser von hanfähnlichem Querschnitt liefert. id) Andere hülsenfrüchtige Faser- pflanzen. Neben anderen Arten der Gattung Crotalaria liefern auch Sesbania- und Vignaarten brauchbare, dem Sunn ähnliche Fasern. In China wird neben dem echten Hanf die Leguminose Pueraria thun- bergiana Benth. seit alten Zeiten als Faser- pflanze „Ko" gebaut. ie) Nesselfasern, Ramie. Die ein- heimische Brennessel liefert eine feine un- verholzte Spinnfaser, die früher in be- schränktem Maße verwendet wurde, bisher aber ohne dauernden Erfolg. Dagegen hat die im Osten Asiens, vor allem in China seit langem kultivierte Urticacee Boehmeria nivea Gaud. allmählich eine dauernde Ver- wendung in der europäischen Industrie gefunden. Diese Ramie, Chinagras oder Rhea genannte Faser wird aus den Rinden- teilen der mehrjährigen Pflanze gewonnen. Schwierig ist die Aufbereitung, da die Bast- faserbündel aus dem Grundgewebe der Rinde mit dem einfachen Röstverfahren nicht ge- wonnen werden können. Die Ramie kommt daher in der Regel als Rohramie in breiten Baststriemen in den Handel. Die eigentliche Spinnfaser wird erst in den Fabriken durch eigene Verfahren, die die Isolierung der Bast- fasern auf chemischem Wege ohne Schä- digung der Qualität der Faser bewirken, gewonnen. Dadurch werden die Bastbündel annähernd in die einzelnen Zellen zerlegt, die bei der Ramie eine ungewöhnliche Länge bis zu 260 mm und einen Durchmesser von 0,04 bis 0.08 mm haben (sogenannte kotonisierte Ramie). Die Faser ist unver- holzt, hat einen zusammengedrückt-ellip- tischen, häufig unregelmäßig ausgebuchteten Querschnitt, ist geschichtet und zeigt Stau- chungserscheinungen und deutliche Längs- spalten. Sie wird u. a. zu dem Grundgewebe der Glühstrümpfe verwendet. In China und Japan wird eine andere Nessel Urtica thunbergiana Sieb. u. Zucc. mit ähnlichen Fasern kultiviert. Sie liefert den sogenannten Berghanf (Shan ma). if) Japanische Papierfaser. Der Papiermaulbeerbaum Broussonetia papyri- fera Vent. besitzt in seiner Rinde so dichte Lagen von Bastfaserbündeln, daß sie wie große Stücke Papier gewonnen und ver- wendet werden können. In die einzelnen Fasern zerlegt, dient der Bast seit alten Zeiten zur Verfertigung des japanischen Papiers. Aehnlich verwendet man in Japan die Fasern der Thymelaeacee Edge- worthia papyrifera Sieb. u. Zucc, dort Mitsumata genannt. 2.Zweikeimblättrige Faserpflanzen mit verholzten Fasern. 2a) Jutegruppe. In diese Gruppe gehören im wesentlichen Fasern von Tiliaceen und Malvaceen. Der Hauptvertreter ist die echte Jute, Corchorus capsularis L. Auch andere Arten dieser Gattung, vor allem Corchorus olitorius L. werden zur Fasergewinnung angebaut. In Indien wird Jute schon seit langem kulti- viert, auch heute noch kommt 19/ao der Handelsware von dort. Die einjährigen Pflan- zen werden 2,5 bis 5 m hoch; sie werden in Faserpflanzen 995 ähnlicher Weise wie Flachs bei der Faser- gewinnung aufbereitet. Die gewonnenen Baststränge sind länger als beim Hanf und Flachs und bei gut aufbereiteter Faser von weißlichgelber, oft glänzender Farbe. Die einzelnen Zellen des Bastes haben einen vieleckigen Querschnitt und einen verhältnis- mäßig großen rundlichen Innenraum. Ihre Länge ist ca. 20 mm im Mittel, der Durch- messer 0,02 mm. Besonders charakteristisch für die Jute und ihre Verwandten ist die ungleiche Weite des Innenraumes der Zellen. Die Fasern zeigen sämtliche Reaktionen für Verholzung. Die Jute spielt heute in erster Linie als Ersatz für Hanf und Leinen eine Rolle bei der Herstellung von Seilen, Säcken, billigen Möbelstoffen. Teppichen usw. Neben der echten Jute kommt neuerdings der indische Gombohanf von Hibiscus cannabinus L. als Javajute in den Handel. Während aus Südchina echte Jute exportiert wird, stammt die nordchinesische von der Malvacee Abutilon Avicennae Gaertn. Von anderen Malvaceen ist noch Urena lobata Cav. zu erwähnen, die als Unkraut über die ganzen Tropen und Subtropen verbreitet ist. Ihre Fasern wurden neuerdings als Canhamo brasileiro aus Südamerika in den Handel gebracht. Alle diese Fasern zeigen ähnliches Verhalten wie die Jute. 2b) Adansoniafaser. Der ebenfalls zu den Malvaceen gerechnete Affenbrotbaum Adansonia digitata L. liefert in seinen starken, in breiten Platten ablösbaren Bast- lagen seit einigen Jahren ein neues Roh- material für die Papierfabrikation. 2c) Luffa. Die in allen Tropen ver- breiteten, vor allem in Japan kultivierten Netzgurkenarten Luffa acutangula Roxb. und Luffa cylindrica Roem. haben in ihren bis zu 50cm rangen, walzenförmigen Früchten ein netzartiges Fasergewebe, das nach dem Trocknen der Früchte gewonnen und zur Herstellung von Schuhsohlen, Badeschwäm- men usw. in großen Mengen regelmäßig exportiert wird. 3. Einkeimblättrige Pflanzen mit un- verholzten Fasern. Die Zahl der Faser- pflanzen dieser Gruppe ist gering. Von Bedeutung sind nur die Ananasfasern und der Raphiabast. 3a) Ananasfasern. Wahrscheinlich sind es wilde Arten der Gattung Bromelia, die in den Tropen vielfach als Heckenpflanzen Verwendung finden, oder verwilderte Formen der Fruchtananas, die die Fasern des Handels liefern. In West- und Ostindien, vor allem auf den Philippinen gewinnt man die feine, weiße, fast unverholzte Faser zur Herstellung von kostbaren Geweben, die dort Pina genannt werden. Die Faserbündel der echten Ananasfaser haben zum mindesten im inneren Teil Zellen von auffallend kleinem Quer- schnitt, Im Handel erscheint oft Sisal als Surrogat für Ananas. 3b) Raphiabast. Raphiabast ist ein richtiger Bast im technischen Sinne. Er besteht aus breiten gelblichen Bändern, die von den Blattfiedern der madagassischen Palme Raphia Ruffia Mart.gewonnen werden. Der Bast bildet unter der Oberhaut der Länge nach verlaufende Stränge, die mit der Oberhaut von den entlang der Mittel- rippe gespaltenen Fiedern abgezogen und dann getrocknet werden. Er findet heute an Stelle des Lindenbastes ausgedehnte Ver- wendung in der Gärtnerei. 4. Einkeimblättrige Pflanzen mit ver- holzten Fasern. 4a) Agavenfasern. Die Heimat der faserliefernden Agaven ist Mittelamerika. Dort werden verschiedene Arten gebaut und genutzt. Von größerer Bedeutung sind der Sisalhanf von Agave rigida var. sisalana Engelm. und die kürzeren stärkeren Fasern der Agave heteracantha Zucc. und Agave tequilana Web., die unter dem Namen Ixtle, Mexican Fibre von Tula und Jaumave in den deutschen Handel kommen. Seit etwa 20 Jahren wird die Sisalagave auch in anderen tropischen Ge- bieten, besonders in Deutsch-Ostafrika mit gutem Erfolge gebaut. Die Agaven gehören zur Familie der Amaryllidaceae. Sie bilden mächtige Blattrosetten mit 40 und mehr fleischigen bis zu 2 m langen Blättern. Aus dem Herzen der Rosette entwickelt sich der Blütenschaft, der entweder reichlich Früchte oder junge Brutknospen (Bulbillen) trägt. Nach dem Blühen, das erst nach mehreren, oft sogar nach vielen Jahren ein- tritt, geht die Pflanze zugrunde. Sie treibt ferner an Ausläufern reichlich Ableger. Die Blätter der Agaven werden bis auf die beiden inneren Kreise der jüngsten Blätter am Grunde abgeschnitten und in besonderen Maschinen gecpietscht und geschabt. Die so gewonnenen Fasern werden dann durch Spülen in klarem Wasser von dem noch anhaftenden grünlichen Blattschleim befreit und zum Trocknen an der Sonne aufgehängt. In Maschinen mit rotierenden Bürsten werden die Fasern endlich noch gründlich von Schäbeteilen gereinigt. Die Faserstränge sind bis zu 2 m lang, etwas flach und bei guter Ware von schöner weißer Farbe. Der Sisalhanf dient in erster Linie zur Her- stellung von Stricken und Tauen. Die Abfälle werden als Polstermaterial und in der Papierfabrikation verwendet. Der mikroskopische Querschnitt zeigt eine rund- liche oder halbmondförmige Anordnung der zahlreichen, das Bündel zusammensetzenden Zellen. Der Querschnitt der Zellen ist viel- eckig und ebenso der Umriß des weiten Innenraums. 63* 996 Faserpflanzen Die Ixtle besteht aus kürzeren, höchstens 1 m langen, steiferen Fasersträngen, die vor allem als Ersatz für Borsten in der Pinsel- und Bürstenfabrikation, sowie ge- färbt als Roßhaarersatz Verwendung finden. Die Ixtle von Palma, Mexiko, stammt nach neueren Forschungen von einer Yucca (s. unten). 4b) Mauritiushanf. Mauritushanf stammt von Fourcroya gigantea Vent. aus derselben Pflanzenfamilie und wird vielfach zu Unrecht Aloehanf genannt. Die Pflanze ist in ihrer Tracht den Agaven ähnlich, nur sind die Blätter heller grün und weniger fleischig. In der Kultur zieht man heute fast allgemein die Agaven vor. Die Fasern sind dem Sisal ähnlich. 4c) Sansevierafaser oder Bowstring- hemp. Der Hanf stammt von verschiedenen, zu den Liliaceen gehörenden, meist im tropischen Afrika heimischen Sanseviera- arten. Er wird bis jetzt nur in geringem Umfange von den wilden Beständen der Pflanzen gewonnen. Er ist meist kürzer als der Sisal, im übrigen in guter Aufbereitung diesem ähnlich. 4d) Yuccafasern. Während die Yucca- fasern bisher nur von lokaler Bedeutung waren, soll der größte Teil der Palma Ixtle aus Mexiko von der Yucacee Samuela carnerosana Trel. stammen. 4e) Manilahanf. Manilahanf wird die Faser der auf den Philippinen heimischen und allein dort genutzten Bananenart Musa tex- tilis Louis Nee genannt, die dort auch Abaca heißt. Die Pflanzen haben durchaus die Tracht der Fruchtbananen, nur bilden die scheidenartigen Blattstiele einen verhältnis- mäßig höheren Scheinstamm. Die Gewinnung der Faser erfolgt aus den Blattstielen, in- dem die ganze Pflanze im zweiten bis vierten Jahre kurz vor der Blüte oder Frucht- bildung über dem Boden abgeschnitten wird. Die einzelnen Blattstiele werden in mehrere Längsstreifen zerlegt und auf einer ein- fachen, von den Eingeborenen hergestellten Aufbereitungsmaschine entfasert. Die so isolierten Fasern werden durch Schwingen und Schlagen möglichst vollständig gereinigt und sofort getrocknet oder vorher noch gewaschen. Die gewonnene Faser ist bis zu 2 m lang und vongelblicher Farbe mit einemschwachen Stich ins Rötliche. Der Querschnitt zeigt ähnliche Verhältnisse wie beim Sisal, nur daß die Konturen der Bastzellen mehr rund- lich als vieleckig sind. In der Asche des Manilahanfs finden sich sogenannte Steg- mata, kieselsäureführende Inhaltsmassen der Begleitzellen der Fasern. Sie sind in ihrer Form für den Manilahanf charakte- ristisch. Der Manilahanf dient in Europa fast ausschließlich zur Herstellung von Schiffstauen, für die er neben dem Hanf wegen seiner Widerstandsfähigkeit gegen Wasser und seiner Leichtigkeit besonders geeignet ist. Auf den Philippinen werden von der Faserbanane durch sorgfältigere Aufbereitung und Auswahl auch feinere Spinnfasern gewonnen, die zur Herstellung von zarten wertvollen Geweben dienen. Die Abfälle des Manilahanfes finden in ziemlichem Umfange in der Papierfabrikation Ver- wendung. Auch von anderen Bananenarten, so von der Obst- und Mehlbanane, und einigen in Ostafrika aufgefundenen neuen Arten sind versuchsweise Fasern gewonnen worden, diese sind aber bisher ohne große Bedeutung für Industrie. 41) Neuseeländischer Flachs, Phor- mium tenax Forst. Wie der Name bereits sagt, ist die Faser dieser in Neuseeland heimischen, zu den Liliaceen gehörenden Pflanze wegen ihrer guten Eigenschaften dem Flachs an die Seite gestellt worden. Sie gehört aber in die Gruppe der Agaven- fasern und dient im wesentlichen zur Her- stellung von Seilen. Die Produktion im Heimatlande ist eine in den Jahren recht schwankende und auch die Anbauversuche in anderen Gebieten haben bisher keine nennenswerten Erfolge gebracht. Man zieht guten Sisal der Phormiumfaser vor. 4g) Kokosfaser oder Coir. Das Faser- gewebe der Kokosnüsse ist schon seit langem zu groben Stricken, Matten und Läufern verarbeitet worden. Die Faser- masse wird durch einen Röstprozeß ge- wonnen, in dem die gröberen Stücke der Faserhülle längere Zeit im Wasser geweicht werden. Nach dieser Vorbehandlung wird die Masse getrocknet, geklopft und in einzelne Faserstränge zerlegt, die entweder zu Bündeln gebunden oder bereits zu Stricken verarbeitet verschickt werden. Neuerdings werden auch, besonders seitdem man die Färbung der Faser erreicht hat, recht geschmackvolle und dauerhafte Zimmerteppiche aus ihr verfertigt. Die Faser ist je nach der Größe der Früchte bis zu 35 cm lang, von hell- gelber bis brauner Farbe und bis zu 0,3 mm stark. 4I1) Esparto oder Alfagras, Stipa tenacissima L. und Lygeum spartum Loeffl. Esparto liefert in seinen durch die Zusammen- faltung der halb zylindrischen Blatthälften anscheinend stielrunden Blättern im Heimat- lande (Algier. Tunis, Spanien) das Rohmaterial für Schuhe, Flechtarbeiten und grobe Stricke (Umschnürung der spanischen Apfelsinen- kisten). In neuerer Zeit findet es als soge- nannter Strohhalm der Virginiazigarren, gebleicht in der Papierfabrikation (gute eng- lische Briefpapiere) und schließlich feiner gehechelt als Spinnmaterial Verwendung. Faserpflanzen 997 Die kurzen Haare sind ein brauchbarer Anhaltspunkt, Esparto im Papier festzu- stellen. 4i) Piassaven. Piassaven sind die fisch- beinähnliehen, aber mehr stielrunden starken Gefäßbündel aus den meist schon verwitterten Blattstielen verschiedener Palmen. Das Material kam zunächst vor etwa 60 Jahren als Verpackung aus Brasilien und wurde als äußerst brauchbar für die Bürsten-und Besen- fabrikation erkannt. Es stammte von den Palmen Leopoldinia Piaeaba Wall, und Attalea funifera Mart. Ueber Para und Bahia kommen die beiden Sorten in den Handel. Die starke Ausbreitung dieses Rohstoffes in der Industrie brachte neue Sorten auf den Markt. Heute sind es namentlich die westafrikanischen Piassava- palmen, Raphia spec, die vor allem aus Liberia, Ober- und Niederguinea die Pias- save des Handels liefern. Außerdem kommt noch eine Piassave von der madagassischen Palme Dictyosperma fibrosum Wright und eine andere unter dem Namen Bassine oder Palmyrafaser von der ostindischen Palme Borassus flabellifer L. in den Handel. Zu den Piassaven rechnet man ferner die meist recht dünnen, pferdehaarähnlichen, schwarzen, stielrunden, sehr festen, Kitul genannten Faserstränge der ostindischen Palme Caryota urens L. Unter dem Namen Gomuti ist in Hinterindien eine ähnliche, etwas feinere Faser von der Palme Arenga saceharifera L. in Gebrauch, die neuerdings zu Ueberzügen für Polierwalzen u. a. ver- flochten wird. 4k Bambus. Aus den Bambushalmen wird durch Spalten der einzelnen Glieder in feine Stäbe ein vielfach verwendetes Piassavasurrogat hergestellt. 4I) Zacaton oder sogenannte Reis- wurzeln. Sie werden in Mexiko aus den Wurzeln der Gräser Epicampes stricta Presl., Epicampes macrocera Benth., Agrostis tolu- censis H. B. K. und einer Festuca spec. hergestellt. Die langen welliggekrümmten, etwa 1 bis 2 mm starken Wurzeln werden von der Rindenschicht befreit und durch Waschen, Reiben mit Steinen, Trocknen und eventuell Schwefeln marktfähig ge- macht. Sie kommen in armstarken Bündeln bis zu 50 cm Länge in den Handel und werden für grobe Bürsten- und Besenwaren verwendet. 4111) Palmblätter, Pandanusblätter, Panamastroh. In ihren Heimatländern dienen die Blätter der meisten Palmen und Schraubenbäume zur Herstellung von gröberen und feineren Geflechten sowie zum Teil zur Gewinnung von Fasern für Stricke. Für den europäischen Markt von Wichtigkeit sind die Blätter der kleinen Fächerpalme des Mittelmeergebietes Cha- wiirc'en. Blätter Streifen in den maerops humilis L., deren Fächerblätter in Nordafrika, Sizilien und Spanien zu Körben, Fächern, Schuhen u. a. verarbeitet werden. Die jungen, noch nicht entfalteten Blätter werden durch Hecheln in roher Weise in Längsstreifen zerlegt und zu Zöpfen zu- sammengedreht. Sie sind in dieser Form als Crin d'Afrique, Pflanzenhaar, Krollhaar- splint oder vegetabilisches Roßhaar ein als Polstermaterial verwendeter gebräuchlicher Handelsartikel. Die zu feinen Streifen geschnittenen und getrockneten Fiedern vieler Palmen und Blätter der Schraubenbäume liefern Flechtmaterial für Hüte. Neuerdings kommen solche Hüte in großen Mengen von den Philippinen und Madagaskar. Die feinste Flechtfaser für Hüte stammt aber von der Cyclanthacee Carloduvica palmata R. u. Pav.. einer in der Tracht den Fächer- palmen ähnlichen Pflanze Südamerikas und Westindiens. Aus ihren noch nicht ent- falteten jungen Blättern wird das sogenannte Panamastroh zur Herstellung der bekannten Hüte gewonnen. Während bis vor kurzem nur die fertigen Hüte importiert kommen heute auch die jungen oder die bereits zugeschnittenen für die Hutfabrikation in Europa I Handel. Als Anhang mag hier noch das Stuhlrohr erwähnt werden, die dünnen kletternden 1 Stämme der Rotangpalme (Calamus spec.) aus Hinterindien und dem Malaiischen Archi- pel. Die in schmalen Längsstreifen abgetrenn- ten Rindenpartien liefern das Flechtmaterial für die Rohrstuhlsitze. Der übrigbleibende Zylinder ist das Stuhlrohrpeddig ein be- kannter Rohstoff für die Korbinübelindu- strie. 411) Stroh. Das Stroh unserer Getreide- arten dient ebenfalls zur Herstellung von Geflechten, namentlich Weizenstroh, aus dem Florentiner Hüte gemacht dem ist aber Stroh ein material für die Papierfabrikation. Das Stroh, in erster Linie Roggenstroh, wird zu diesem Zwecke zerkleinert und mit Laugen unter Druck gekocht. Dabei werden alle Nicht- zellulosestoffe zerstört und es bleibt ein Zellmaterial, das aus reiner Zellulose besteht, zurück. Dieses gibt noch gebleicht sehr gute und feste, weiße Papiere. In ähnlicher Weise verwendet man die Stengelabfälle der Zucker- rohrfabrikation (sogenannte Bagasse), Bam- bus- und Maisstengel, die Halme des Zacaton sowie manche andere Gräser. 40) Seegras, Posidoniafaser. Die Blätter der an unseren Küsten verbreiteten Najadee Zostera marina L. liefert das als Polstermaterial bekannte Seegras. Eine nahe das italienische die bekannten weiden. Außer- wichtiges Roh- 998 Faserpflanzen - - Faujas de Saint-Fond verwandte Pflanze, Posidonia oceanica L., dient zu gleichen Zwecken im Mittelmeer- gebiet und liefert in ihren durch das Meer isolierten und zu Bällen verfilzten Fasern die sogenannten Meerbälle. Kürzlich hat man in Australien an den Küsten unter der Oberfläche große Lager solcher verwitter- ter Fasern, P. australis, gefunden und recht erfolgreiche Versuche in der Verarbeitung dieser Fasern mit Jute und Wolle gemacht. 4p) Vegetabilisches Koßhaar oder Tillandsiafaser. Diese in ihren Vege- tationsorganen stark reduzierte und wie eine lange Bartflechte von den Bäumen herab- hängende Bromeliacee des Südens der Ver- einigten Staaten und der Tropen liefert bereits in natürlichem Zustande getrocknet ein als Roßhaarersatz sehr brauchbares Polstermaterial. Sie wird aber auch durch besondere Behandlung von den weichen äußeren Partien ihrer nur wenige Millimeter starken, schwach verzweigten Fäden befreit und kommt dann in den Eigenschaften und im Aussehen den gekrollten Roßhaaren sehr nahe. An den Verzweigungen ist sie sehr leicht von anderem Fasermaterial zu unterscheiden. IV. Holzfasern. Feine Holzspäne dienen schon seit langer Zeit zu Flechtarbeiten und zur Her- stellung von Hüten, in Südeuropa die Hölzer von Pappel und Weide, in Japan das Holz eines Lebensbaumes, dessen Holzspan unter dem Namen Hinokibast für Flechtzwecke bei uns eingeführt wird. Insbesondere liefern aber heute die weicheren Hölzer von Tanne, Pappel, Weide u. a. das Zell- material für die Papierfabrikation und zwar entweder einfach mechanisch zerkleinert als Holzschliff oder aber nach weiterer chemischer Behandlung als Holzzellulose (auch kurz Zellulose genannt). Auch Ver- suche, die so gewonnene Holzfaser zu ver- spinnen, liegen bereits vor. Die Abstammung der Zellulose ist an den anatomischen Ver- schiedenheiten der einzelnen Hölzer sehr gut feststellbar. V. Tannennadeln und Torffasern. Die 10 und mehr Zentimeter langen Nadeln verschiedener Kiefernarten werden ähnlich wie die getrockneten Bestandteile der Torfmoose und des Torfes als Polster- material und neuerdings auch zu Spinn- zwecken für gröbere und feinere Gewebe verwendet. Bei Geweben werden besonders die guten Eigenschaften dieser beiden Roh- stoffe in sanitärer Hinsicht betont Literatur. Ch. B. Vodge, A Descriptive Catalogve of üseful Fiber Plauts of the World, including the Structural and Economic Classifications of Fibers. Washington 1897. — J. Wiesner, Fasern, in : Die Rohstoffe des Pflanzenreichs, IL Aufl., Leipzig 1900/08, Bd. IL. S. 167 Ms 463. ■ — Fr. von Höhnet, Die Mikroskopie der technisch verwendeten Faserstoffe, LI. Aufl. Wien und Leipzig 1905. — A. Herzog, Mikro- p holographischer Atlas der technisch wichtigen Faserstoffe, 1. Pflanzliche Rohstoffe. 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Zahlreiche geologische Reisen führten ihn durch ganz Frankreich. Die Alpen, Deutsch- land, Holland und England wurden von ihm bereist. Auf Verwendung von Buffon wurde er königlicher Kommissar der Bergwerke. 1797 wurde er Professor der Geologie am natur- wissenschaftlichen Museum in Paris; er starb am 18. Juli 1819 auf seinem Landgut St. Fond in der Dauphine. Faujas de Saint-Fond — Ferner 999 In seinem Werke „Recherches sur les volcans eteints du Vivarais et du Velay" (1778) bewies er den vulkanischen Ursprung des Basaltes. Weiter schrieb er,,Histoire naturelle delaProvince de Dauphine" (Grenoble 1781), „Mineralogie des volcans" (1784). Neben seinen Untersuchungen der Trappgesteine (Essai sur l'histoire naturelle des Roches de Trapp. Paris 1788) beschäftigte er sich auch mit paläontologischen Forschungen. Sein „Essai de Geologie" (Paris 1803) enthält neben Petrographie und Vülkanlehre auch eine Versteinerungskunde. Literatur. Biographie Universelle, Bd. 13, S. Jfl9 bis 422. — M. Freycinet, Essai sur la rie et les ouvrages de Faujas de Üt.-Fond, Paris 1820. O. Marschall. Fecliner Gustav Theodor. Fayre Pierre Antoine. Geboren am 20. Februar 1813 in Lyon, gestorben am 17. Februar 1880 in Marseille. Er wurde 1843 Professor an der medizinischen Fakultät in Paris, 1851 Vorstand des chemisch-analyti- schen Laboratoriums an der Ecole des arts et manufactures, von 1854 an war er Professor der Chemie an der Fakultät der Wissenschaften in Paris, zuletzt in Marseille. Gemeinsam mit Silber mann maß er Verbrennungswärmen; von ihm allein stammen Untersuchungen über die chemischen Verhältnisse der galvanischen Kette. E. Drude. Geboren am 19. April 1801 in Groß-Särchen bei Muskau in der Lausitz, gestorben am 18. No- vember 1887 in Leipzig. Er studierte seit 1817 in Leipzig, habilitierte sich da und wurde 1834 zum Professor der Physik daselbst ernannt. Diese Stelle bekleidete er bis 1839, wo ein schweres Augenleiden ihn zwang sie aufzugeben. Er wandte sich nunmehr der Naturphilosphie und Anthropo- logie zu und wurde nach seiner Genesung im Jahre 1843 zum Professor dieser Wissenschaften er- nannt. Er ist als der Begründer der Psycho- physik anzusehen. Seine physikalischen Arbeiten beschäftigen sich vorwiegend mit Galvanismus und elektrochemischen Prozessen. 1839 gab er die erste eingehende Theorie der Kontaktelektrizi- tät. Fechner war ein eifriger Verfechter der physikalischen Atomlehre, die er besonders gegen die Angriffe der Philosophen nachdrücklich verteidigte. Literatur. Knntze, Gustav Theodor F., Leipzig 1891. — W. Wandt, G. Th. F., Gedächtnis- rede zum 100jährigen Geburtstag, Leipzig 1901. E. Drude. Fehliug Hermann. Er ist in Lübeck am 9. Juni 1812 geboren, in Stuttgart am 1. Juli 1885 gestorben, wo er nahezu 40 Jahre als Professor am Polytechnikum erfolg- reich gewirkt hat. Zuerst Pharmazeut, dann Schüler Liebigs, widmete er sich namentlich organisch-chemischen Untersuchungen. Der Schwerpunkt seiner Experimentaluntersuchungen lag in der Ausarbeitung wertvoller Bestimmungs- methoden für die angewandte Chemie. Die nach ihm genannte Kupferlösung zur Ermittelung des Zuckers ist allbekannt und bewährt. Die Analyse von technischen Produkten des Bergbaus, von Mineralwassern und Nahrungsmitteln ver- dankt ihm manche Förderung. Literarisch war Fehling außerordentlich tätig bei Herausgabe von Lehrbüchern und namentlich des von Liebig und Wöhler begründeten Handwörterbuchs der Chemie. Sein Leben und Wirken ist in dem Nekrolog von A. W. Hofmann dargestellt (Ber. 18, 1811). E. von Meyer. Felsenmeere. So nennt man die in Gebirgsländern nicht selten vorkommenden losen und un- regelmäßigen Haufwerke von Felsblöcken, die ihre Entstehung der Verwitterung und Erosion oder Deflation verdanken (vgl. den Artikel ..Verwitterung"). Ferniat Pierre. Geboren am 17. August 1601 in Beaumont-de- Lomagne, gestorben am 12. Januar 1665 in Castres. Er war ein bedeutender Mathematiker, seine Forschungen erstrecken sich vorwiegend auf die Zahlen theorie; mit Pascal ist er als Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung an- zusehen; seine Methode der Maxima und Minima wurde grundlegend für. die Differentialrechnung Von seinen Arbeiten hat er nur wenig selbst veröffentlicht, doch ist vieles in den Werken von Pascal und den Briefen Descartes' ent- halten. Literatur. Genty, L'inftuence de F. sur son siede, Orleans 1784. — Taubiae , Fermat, Notiee biographique, Montauban 1879. — P. Hey, Galerie biographique de personnes celebres etc., Montauban. E. Drude. Ferner. Der in den Ostalpen gebräuchliche Aus- druck für Gletscher (vgl. den Artikel „Eis"). 1000 Fernphotographie Fernphotograptaie. Telautographie. Phototelegraphie. Fernsehen. 1. Telautographie: a) Kopiertelegraphen: a) Mit elektrochemischem Empfänger, ß) Mit elek- tromagnetischem Empfänger. y) Mit photo- graphischem Empfänger, b) Fernschreiber. 2. Phototelegraphie: a) Reliefmethode, b) Selen- methode, c) Statistische Methode und Zwischen- klischees. 3. Fernseher. Die Fernphotographie umfaßt alle Metho- den faksimiler Fernübertragimg von Schrift- zügen, Strich- und Halbtonbildern auf elek- trischem Wege. Der Uebermittelung von Schriftzügen und Strichzeichnungen dienen die Kopiertelegraphen und Fernschreiber. Der Uebermittelung von Halbtonbildern die Phototelegraphie. i. Telautographie. i a) Kopiertele- graphen. Bei diesen wird ein fertiges Schriftstück oder eine fertige Strichzeichnung punktweise übertragen. Die Zeichnung oder Schrift kann im Geber elektrisch leitend auf nicht leitendem Grunde, oder umgekehrt, dann erhaben oder vertieft auf glattem Untergrunde angefertigt sein. In den meisten Fällen wird das Geberbild auf eine biegsame Folie aufgetragen, welche um eine zylin- drische Walze gelegt wird, welche rotiert. Auf der Walze gleitet der Geberstift, welcher sich langsam in der Längsrichtung der Walze verschiebt, dadurch tastet der Geberstift, die Walze in engen Schraubenlinien ab. Der Empfänger zeigt die gleiche Bauart. Ist die Schrift elektrisch leitend auf isolierendem Untergrunde oder umgekehrt, so bildet der Geberstift einen Teil des Linienstromkreises, der durch die Schrift jeweils geschlossen oder unterbrochen wird. Bei vertieften oder erha- benen Strichen ist der Geberstift als Fühl- hebel ausgebildet, der den Linienstrom mittels Kontaktes schließt und öffnet. Die entstehenden Stromstöße, welche den ein- zelnen Bildpunkten entsprechen, können im Empfänger auf folgende Weise in sichtbare Zeichen verwandelt werden. 1. Der Linienstrom geht durch den Emp- fangsstift, durch die Empfangsfolie zur Walze, und ruft auf der Folie infolge che- mischer Präparation derselben eine Färbung hervor. 2. Die Stromstöße betätigen durch einen Elektromagneten direkt oder mit Hilfe eines Kelais einen Schreibestift. 3. Durch die Stromstöße werden Licht- wirkungen erregt oder beeinflußt, die auf einem lichtempfindlichen Papier Zeichen hervorrufen. Da es sich bei allen diesen Uebertragungen darum handelt, die Zeichen des Gebers im Empfänger in gleicher Weise aneinander zu reihen, ist eine synchrone Bewegung von Walze und Stift im Geber und Empfänger erforderlich. Bei den gegenwärtig in Ver- wendung stehenden Apparaten kommt durch- aus das von D'Arlincourt 1868 erfundene Verfahren zur Anwendung. Das Prinzip desselben beruht darauf, daß man einen der beiden Zylinder, den Geber oder den Empfän- ger, etwas rascher rotieren läßt. Nach jeder Umdrehung wird der rascher laufende Zylin- der durch ein Gesperre so lange aufgehalten, bis der langsamer laufende nachgekommen ist. In dem Augenblicke, in welchem beide Zylinder in der gleichen Lage stehen, erregt der langsamere Zylinder einen Stromstoß in der Leitung, durch welchen der schnellere Zylinder freigegeben wird, sodaß beide im gleichen Momente ihre Umdrehung beginnen. a) Mit elektrochemischem Empfän- ger. Das erste Modell eines Kopiertele- graphen stammt von Blakewell (1848), dessen Geber heute noch Verwendung findet. Die Geberfolie besteht aus Stanniol, auf wel- ches mit isolierender Flüssigkeit (Firnis usw.) geschrieben wird, oder es wird das Stanniol mit einer isolierenden Schicht überzogen und durch den Schreibstift das Stanniol bloßgelegt. Die Folie wird auf einer rotierenden Walze (a Abb. 1) aufgezogen, auf welcher der Stift b gleitet, der letztere wird durch eine Schrau- benspindel bei einer Umdrehung der Walze um eine Ganghöhe in der Längsrichtung der letzteren verschoben. Der Linienstrom geht von der Batterie B durch den Stift b und die Folie, zur Walze a und durch deren Achse c zur Erde (Fernleitung). Ein Strom kann nur dann fließen, wenn die Folie an der Stelle, wo sie gerade vom Stifte be- rührt wird, leitend ist. Der Empfänger Blakewells war elektrochemisch, indem das Empfangspapier mit einer Lösung von Wasser, Salzsäure und Zyankalium getränkt war. Blakewell wie auch manche Erfinder nach ihm verwendeten zur Erzielung syn- chronen Ganges eine „guide line". Es wird auf der Geberfolie unabhängig von der zu übertragenden Zeichnung ein gerader Strich gezogen, der sich bei Synchronismus im Empfänger als Gerade reproduzieren muß, daher eventuell zur Korrektur des Synchronis- mus verwendet werden kann. Die Anwendung der Schrift im Geber als Relief findet sich bei den Kopiertelegraphen nur vereinzelt, so bei Sawyer (1877), der das Relief lediglich durch Aufdrücken des Schreibstiftes auf eine solche Unterlage erzeugte. Auch die elektromagnetischem Empfänger findet man selten, da die Träg- heit derartiger Anordnungen bei weitem größer ist, als die elektrochemischer oder photographischer Empfänger. Man kann im Maximum 200 bis 250 Stromströme pro Sekunde registrieren. Dagegen sind die Fern} »hotographie 1001 erforderlichen Stromstärken geringer als bei den chemischen Empfängern, welche ca. 0,03 A erfordern. ß) Mit elektromagnetischem Emp- fänger. Im Prinzipe elektromagnetisch ist die Anordnung Carbonelles, welcher im Geber ein Reliefbild verwendet, welches Stromschwankungen eines Mikrophons er- zeugt. Im Empfänger wird durch die Strom- stöße eine Telephonmembrane in Schwin- gungen versetzt, welche durch einen Stift und unterlegtes Kohlepapier eine Schwarz- Weiß-Zeichnung erzeugt. y) Mit photographischem Empfän- ger. Die größten Erfolge erzielte bis jetzt wenn es nicht von einem an den Drähten befestigten Aluminiumblättchen a abge- halten wird. In der Mittellage der Drähte werden alle Lichtstrahlen abgeblendet, geht der Linienstrom durch die Drähte, so können alle Lichtstrahlen durchtreten. Figur 3 zeigt die Anordnung des optischen Systemes. a ist eine Nernstlampe, durch den Kondensor b werden die Strahlen auf das Aluminium- blättchen des Saitengalvanometers c kon- zentriert. Die Linsen d und e konzentrieren das Licht in Form eines Punktes auf den Empfangsfilm f. Zur Herstellung des Syn- chronismus verwendet Korn das D'Arlin- courtsche Prinzip; welches von ihm am Korn mit seinem photographischen Empfän- vollkommensten durchgebildet wurde. Geber ger (Fig. 1). Korn benutzt den Geber von und Empfangszylinder werden durch Gleich- strom-Neben- schlußmotore M angetrieben. Zur Bestimmung der Tourenzahl der Motoren bedient man sich abge- stimmter Federn, welche bei der entsprechenden Tourenzahl des Motores in Schwingungen ge- raten, ähnlich wie bei dem Frecpienz- messer von Hart- mann und Braun. Man kann dadurch Fig. 1. Blake well, auf der Empfangsstation ver- wendet er ein Lichtrelais, welches der Haupt- sache nach aus einem Saitengalvanometer besteht (Fig. 2). Zwischen den Schenkeln eines starken Elektromagneten (M) werden frei durchgehend zwei dünne Metallfäden oder Bänder S gespannt. Je nach den Strö- men, die durch diese Drähte gehen, werden sie auf- oder abwärts bewegt. In der Mitte kann durch eine Bohrung der Magnete Licht von einer behebigen Quelle hindurchtreten, die Tourenzahl auf x/4% genau einstellen. Der Empfangszylinder läuft etwas schneller als der Geberzylinder und wird nach jeder Um- drehung durch den Hebel d aufgehalten, gleich- zeitig wird durch den Exzenter e der Linien- strom vom Saitengalvanometer S ab- und auf das polarisierte Relais R umgeschaltet, bringt dieses jedoch nicht zum Ansprechen, da es entgegengesetzt polarisiert ist. In dem Mo- mente, wenn der Geberzylinder nachgekom- men ist, betätigt er durch Exzenter f den 1002 Femphotographie Umschalter g, und es wird ein Stromstoß verkehrter Richtung auf das Relais R zur Wirkung kommen; dieses spricht an, schließt die Lokalbatterie L und der Magnet h zieht den Hebel d an, welcher den Empfangs- zylinder i freigibt. Der Empfangszylinder wird vom Motor nur durch Reibung mitge- nommen. Er erhält eine drehende Bewegung durch Scheibe und Mitnehmerstift k, eine Längsverschiebung durch die Schrauben- Fig. 3. spindel 1- Naturgemäß muß der Zylinder sich in einem lichtdichten Kasten befinden. Thorne Baker verwendet den Synchronis- mus Korns mit einem elektrochemischen Empfänger (Fig. 4). Eine Eigentümlichkeit 3 W IC w Fig. 4. ist die Einschaltung von Gegenbatterien B^^. Kapazität K, Selbstinduktion J und Ohmschem Widerstand W, wodurch die Wir- kung sehr verbessert werden konnte. Als Gebebilder werden von Korn und Baker meist eigens hergestellte Rasterklischees ver- wendet, wenn es sich nicht um Strichzeich- nungen handelt. f fr&<*/tf',&i ■ ff* Fig. 5. Fernphotograj ihie 1003 Mit dem Verfahren von Korn und Baker wurden vom „Daily Minor" zahlreiche Bild Übertragungen auf den Linien Paris — Manchester — London vorgenommen. Im ganzen erwies sich das Kornsche Verfahren überlegen, da sich bis 1500 Zeichen pro Sekunde bei nur 0,01 Amp. Stromstärke übertragen lassen, während das Verfahren von Baker nur 300 Zeichen pro Sekunde bei 0,04 Amp. zuläßt. Fig. 5 zeigt eine telantographische Uebertragung von Korn zwischen Monte Carlo und Paris vom April 1912. Uebertragungszeit 15 Minuten. ib) Fernschreiber. Bei diesen erfolgt die Uebertragung von Schriftzügen (Zeich- nungen kommen hier kaum in Frage) in der Weise, daß die Bewegung des Schreibstiftes im Geber, eine kongruente Bewegung des Empfängerstiftes auslöst, also direkt die Schreibtätigkeit in die Ferne übertragen wird. Die Bewegung des Geberstiftes wird in zwei Komponenten zerlegt, deren jede nach ihrer Größe verschieden starke Strom- impulse (quantitative Komponenten) oder eine verschiedene Zahl gleichstarker Strom- impulse (pulsierende Komponenten) zur Emp- fangsstation sendet, woselbst die Umwand- lung der Impulse in mechanische Bewegung und die Zusammensetzung zur resultierenden Bewegung erfolgt. Die ersten praktischen Erfolge erzielte Elisha Gray (1888) mit pulsierendem Sender (Fig. 6). Am Geberstift a sind 2 nung der Feder e drehen; mit der Welle dreht sich der Kontakt f auf der Scheibe g, welche mit isolierenden Streifen, wie ein Kommu- tator, versehen ist. Je größer die Bewegung der Schnur ist, eine um so größere Zahl von isolierenden Lamellen muß f passieren und desto mehr Stromstöße werden in die Linie geschickt. Bei h ist eine Vorrichtung, „prony brake" genannt, angebracht, welche je nach der Bewegungsrichtung der Schnur Impulse verschiedener" Polarität herbeiführt, und in Fig. 6. Fig. 7. ihrer Art für alle ähnlichen Apparate vor- bildlich geworden ist. Die Schnur ist um eine Welle geschlungen, welche durch Rei- bung einen Arm mitnimmt, der durch Anlage an 2 Kontakte die Stromrichtung umkehrt. Zu jeder Komponente gehören im Emp- fänger (Fig. 7) 2 Elektromagnete a und b. Die Magnetanker cd und ef nehmen die durchlaufende Stange g nur mit, wenn sie durch einen Stromimpuls gegen den Magnet gezogen werden, hört der Impuls auf, so kommen die Federn h, i, k, 1 zur Wirkung und die Anker lassen die Stange frei, die infolge der Bremsen m, n ruhig bleibt. ! An den Stangen g und o ist der Empfangs- 1 stift p befestigt. Die Magnete werden durch I eine Lokalbatterie betätigt, und der Schluß | derselben erfolgt durch polarisierte Relais infolge der vom Sender ausgehenden Strom- st.'v.'k#, je nach der Stellung des „prony brake". Die Erfindungen Grays wurden prak- tisch verwendet. Jedoch wurden sie später Schnüre b und c befestigt, welche die Welle d von den quantitativen Komponentensendern (in den Figuren 6 und 7 ist nur die Hälfte des verdrängt, von denen die Konstruktion von Gebers und Empfängers gezeichnet, derandere Tiffany und Ritchie die hervorragendsten Teil ist identisch gebaut) entgegen der Span- sind. Tiffany (Fig. 8) verbindet mit dem 1004 Femphotographie Fig. 9. Geberstift a 2 Zahn- stangen b und c, welche 2 Zahnräder d und e in Drehung versetzen. Mit den Zahnrädern bewegt sich eine Bürste f auf einer Kontakt- scheibe g, wodurch verschiedene Wider- stände und damit verschiedene Ströme in die Linie geschaltet werden. In der Em- pfangsstation gehen diese Ströme durch 2 Spulen h und i, welche in dem Felde eines sehr starken Elektromagneten M den Strömen propor- tionale Bewegungen ausführen. Die Be- wegungen der Spulen werden durch Schnüre k und 1, Zahnräder und Zahn- stangen auf den Empfangsstift m übertragen. Beim Telewriter von Rite hie sitzt der Geberstift am Ver- einigungspunkt zweier Gelenkhebel. Diese entsenden durch Einschaltung verschiedener Wider- stände ähnlich wie beim Apparate von Tiffany quantita- tive Komponenten. Im Em- pfänger sind (Fig. 9) zwei gleiche Gelenkhebel vorgesehen, welche ähnlich den Zeigern von Dreh- spulgalvanometern betätigt werden. Die ankommenden Ströme fließen nämlich durch Spulen a und b, welche sich in einem starken Magnetfelde be- wegen. Beide Hebel bestimmen die Bewegung des Empfangs- stiftes c. Diese Anordnung wurde von der National Tele- writer Company in London in den praktischen Betrieb einge- führt. Von anderen Konstruk- tionen wäre noch der mit pho- tographischer Registrierung arbeitende Grzannagraph zu er- wähnen. Derselbe ist ebenfalls ein quantitativer Komponenten- sender. Im Empfangsapparat Fenxphotographie 1005 wird von den Komponenten je ein Spiegel- galvanometer zum Ausschlage gebracht, so daß der Lichtstrahl einer beliebigen Licht- quelle, von einem Galvanometer auf das andere reflektiert, eine zusammengesetzte Bewegung auf der lichtempfindlichen Schreib- fläche ausführt. Für Uebertragungen in Städten, also auf kurze Distanzen, haben sich die Fernschreiber gut bewährt, dagegen sind für Fernüber- tragung die Kopiertelegraphen weit über- legen. 2. Phototelegraph. Während es sich bei der Telautographie lediglich darum handelt, pro Bildpunkt einen Stromstoß konstanter Stärke im Empfänger zu erzeugen, muß bei der Uebertragung von Halbtonbildern ein Fig. 10. -X ^ daß das freie Ende r,-^K / des Geberstiftes a \\ . über eine Zahl von Kontakten b gleitet, wodurch verschie- dene Widerstände in die Leitung geschaltet werden. Da bei dem zarten Relief trotz der großen Hebelübersetzung die Auslenkung höchstens 3,5 mm beträgt, muß die Widerstands- kontaktfläche sehr klein gehalten werden. Sie besteht aus feinen Silber- und zwischen- geschaltenen Glimmerblättchen, welche stark zusammengepreßt und abgeschliffen, eine glatte Oberfläche bilden. Der Empfänger Belins ist ein Oszillo- graph c, dessen Spiegel durch die Strom- stöße proportional abgelenkt wird. Durch Zwischenschaltung eines von einem Ende zum andern das Licht immer stärker absor- bierenden Lichtfilters d wird die Menge des hindurch gelassenen Lichtes je nach der Ablenkung variieren. Die Lichteindrücke werden photographisch registriert. Bei seinen neueren Konstruktionen verwendet Belin im Geber die Stromschwankungen eines Mikrophons. Die Synchronismus- Einrichtung ist mit der Konischen identisch. 2b) Die Selenmethode. Die größte praktische Anwendung haben die photo- 1006 Pernphotographie telegraphischen Methoden gefunden, welche mit Selen im Geber arbeiten. Das Selen hat in seiner graukristallinischen Modifikation B die Eigenschaft, seinen elek- trischen Leitwiderstand bei Belichtung zu können durch die Kompensationsschaltung Korns auf ein Minimum reduziert werden. Bei derselben (Fig. 15) werden 2 Selenzellen die eigentliche Geberzelle Sx und die Kom- rmgern. Da ver- es jedoch einen sehr hohen spezi fischen Leitwiderstand besitzt, bringt man es für praktische Verwen- dungszwecke in die Form von Selenzellen, in welchen es möglichst große Ober- fläche und möglichst großen Querschnitt bei kleiner Leiterlänge erhält. Die- selben bestehen aus einer isolierenden Unterlage (Steatit, Schiefer, Glas usw.), auf welche 2 parallele Drähte (Kupfer, Platin) in Schrau- benwindungen gewickelt werden. Der Zwi- schenraum zwischen den Drähten wird mit I>X -o eine Selen angefüllt. Figur 12 Selenzelle nach Bidwell, Figur 13 nach zeigt Fig. 12. Fig. 13. Clausen und Bronk, welche in eine luft- leere Glasbirne montiert ist. Grippenberg benutzt als Elektroden feine Gitter aus Edel- metall, welche auf einer Glasplatte einge- brannt sind. Ein Nachteil bei Verwendung der Selenzellen für phototelegraphische Zwecke ist ihre Trägheit, Das Selen benötigt längere Zeit, um sich auf den einer bestimmten Belichtung entsprechenden Widerstand ein- zustellen. Eine oszillographische Aufnahme von Professor Glatzel (Abbildung 14) zeigt deutlich die Trägheit der Zelle (bei fehlen- der Trägheit müßte der Verlauf der Widerstandsänderung nach der gestrichelten Die Trägheitserscheinungen Linie erfolgen). Fig. 14. Fig. 15. pensationszelle S2 in den Zweigen einer Wheats toneschen Brücke einander gegen- geschaltet, so daß der Brückendraht a bei unbelichteten Zellen stromlos ist. Der infolge der Belichtung der Geberzelle erfol- gende Stromstoß im Brückendrahte bringt das in denselben geschaltete Saitengalvano- meter bj zur Ablenkung, welches seinerseits mit Hilfe der Lichtquelle c aie Zelle S2 be- lichtet, so daß der Brückendraht bei Auf- hören der Lichteinwirkung auf Sx sofort ohne Trägheitserscheinung wieder stromlos wird. Da das Empfangsgalvanometer b* in den Brückendraht geschaltet ist, also in Reihe mit dem Kompensationsgalvanometer, ist auch in diesem die Trägheit kompensiert. Figur 16 zeigt die von Glatzel oszillo- graphisch aufgenommene kompensierte Träg- heitskurve. Die Einstellung des Belichtungs- und Dunkelwiderstandes erfolgt fast momen- tan. Während alle anderen Versuche, photo- telegraphische Uebertragungen mit Hilfe von Selen im Geber durchzuführen, an der Trägheit der Zellen scheiterten, gelang es Korn mit Hilfe seiner Kompensations- schaltung günstige Resultate zu erzielen. Auf dem senkrecht angeordneten Geberzylin- der, welcher gleichzeitig eine rotierende und fortschreitende Bewegung erhält, ist der Bildfilm aufgezogen, welcher durch das Licht einer Nernstlampe in einem Punkte beleuchtet wird. Im Inneren des Zylinders befindet sich ein Prisma, welches das ein- fallende Licht auf eine am Boden des Zylinders befindliche Selen- zelle reflektiert. Die Syn- chronismus- und Empfangs- vorrichtung sind genau so gebaut wie beim Konischen Telautographen. Da jedoch die Ablenkung des Saiten- galvanometers nicht propor- tional der Stromstärke ist, wird zum Ausgleich hinter Femphotographi« ■ 1007 das Saitengalvanometer eine Blende in Form der Figur 17 eingeschaltet. Die Kompensationszelle hat Korn in den Geber verlegt, welcher daher ebenso wie der Emp- fänger ein Saitengalvanometer erhält. Die längsten Strecken, auf welchen kommt den statistischen Methoden zu, bei welchen den Tonungen der einzelnen Punkte entsprechende konventionelle Zeichen über- mittelt werden, welche dann mittels eigener Schreibmaschine oder durch Handsatz repro- duziert werden. Die Methode der Zwischen- Fig. 17. Fig. 16. gestellt längere Bilder nach diesem Verfahren übermittelt wurden, waren Berlin — Paris und Paris — London. Figur 18 zeigt eine phototele- graphische Uebertragung von Korn zwischen München und Berlin vom Frühjahr 1908. Uebertragungszeit 12 Minuten. Tschörn er in Wien (Fig. 19) verwendet im Geber einen Kontakt, der durch Selenzelle b und Elektromagnet c, oder mittels Reliefbildes und Taststift höher oder tiefer auf einem zylin- drischen rotierenden in Form eines oder mehrerer Dreiecke angeordneten Schleifkontakte d ein- wird, wodurch kürzere erzeugt Strom- impulse betätigen auf der Empfangsstation einen Lichtschieber e. Das Licht einer konstanten Lichtquelle f trifft nun zuerst durch eine größere Oeffnung, dann durch eine kleinere Oeffnung die licht- empfindlichen Schichten - Die Größenverhältnisse und die Ent- fernung der Oeffnungen werden nach der Rastergleichung be- stimmt. Die Belichtungsvorrich- tung stellt also eine kleine Rasterkamera vor. Das Halbton- original des Gebers wird dem- nach auf der Empfangsstation als kopier- und ätzfähige Autotypie duziert. 2c) Statistische Methoden und Zwischenklischees. Geringe Bedeutung klischees verwandelt das Originalbild in eine den Tönungen entsprechende Kurve, welche dann mittels Kopiertelegraphen (Adamian) oder in konventionellen Zeichen (Fortong> oder Stromimpulse werden. Die Fig. 18. Fig. 19. repro- übermittelt wird. Fortong führt dasBild mit Hilfe einer Selenzelle und eines Elektroma- gneten in ein gelochtes Band über, Adamian erzeugt mittels Selenzelle und eines Oszillo- 1008 Fernphotographie graphen eine Bildkurve, deren Ordinaten den Tonungen entsprechen. Auch diese Methoden haben wenig Verbreitung gefunden. Was die drahtlose Fernübertragung von Halbtonbildern anbelangt, so liegen wirkliche Versuche noch nicht vor. Als interessanteste Scheiben mit schrägen Schlitzen, von denen eine um ein vielfaches höhere Tourenzahl besitzt. Die Umwandlung der Licht- in elektrische Impulse erfolgt durch Selen- zellen, Bolometer oder Thermosäulen. Die unüberwindlichen Schwierigkeiten bietet die Fig. 20. mag die Anordnung Fricarts (Fig. 20) Er- wähnung finden. Die Stromschwankungen beeinflussen die Stellung eines Kontaktes a, welcher dadurch verschiedene Stellen des rotierenden Zylinders b in den Stromkreis schaltet. Da der Zylinder mit Reihen ver- schieden dicht gesetzter Kontakte c, welche den Kreis des Funkeninduktoriums schließen, versehen ist, wird eine größere oder kleinere Zahl von Kontakten bei einer Walzenum- drehung berührt, und dadurch eine größere oder kleinere Menge elektrischer Energie entsendet. 3. Fernsehen. Trachtet man die Ueber- tragung des Originales derart vorzunehmen, daß es im Momente der Uebertragung in der Empfangsstation dem Auge als einheitliches Bild sichtbar wird, so kommt man zum Probleme des elektrischen Fernsehens. Die Aussichten auf Verwirklichung sind derzeit recht gering. Ein Teil der Erfinder trachtet mit einer Leitung auszukommen, demnach das Bild in Punkten hintereinander zu über- mitteln. Die gesamte Uebertragungszeit dürfte dann höchstens l/w Sekunde (dies ist die Dauer der Nachbild Wirkung) be- tragen. Für die Zerlegung des Bildes in Punkte wären folgende Vorschläge zu er- wähnen. Le Blanc verwendet einen um 2 aufeinander senkrechte Achsen gleichzeitig schwingenden Spiegel, Szcepanik verwen- det 2 senkrecht zueinander schwingende Linienspiegel, von denen der eine eine größere Schwingungsfrequenz besitzt. Es wird da- durch das Original in nach Schrauben- oder Zickzacklinien angeordnete Punktreihen zer- legt Nipkow verwendet eine rotierende Scheibe mit einer Lochspirale, deren Gang- höhe gleich der Bildfceihe, deren Loch- entfernung gleich der Bildhöhe ist (Fig. 21). Weiller verwendet ein rotierendes Spiegelprisma mit gegen die Achse unter verschiedenen Winkeln geneigten Spiegeln, Majorana 2 gegeneinander rotierende Fig. 21. Synchronisierung und der Empfangsapparat. Hier dürften die trägheitsfreien Methoden, wie Ablenkung der Kathodenstrahlen durch Magnete, Drehung der Polarisationsebene im Magnetfelde am ehesten Aussicht auf praktische Verwendbarkeit besitzen. Erwähnenswert wäre die Apparatur von R 0 s i n g , welcher nach dem Vorschlage von Glage und Dieckmann die Ablenkung der Kathodenstrahlen einer Braun sehen Röhre im Magnetfelde verwendet. Die Bild- zerlegung erfolgt durch 2 rotierende Spiegel- prismen, durch eine lichtelektrische Zelle werden die Licht- in Stromimpulse ver- wandelt. Es ist also sowohl der Geber als auch der Empfänger trägheitsfrei. Andere Erfinder verzichten auf den Vor- teil einer einzigen Leitung und benutzen so viele Selenzellen, als das Bild Punkte erhält. Jede Zelle erzeugt bei Belichtung einen elek- trischen Impuls, "der für sich übertragen wird, so daß alle Bildpunkte in der Empfangs- station gleichzeitig erscheinen. Der erste derartige Vorschlag stammt von Senlecqu 1881. Lux will für jede Zelle Wechselströme verschiedener Periodizität verwenden, welche sich in einer Leitung ohne Störung über- lagern können. Durch abgestimmte Federn erfolgt in der Empfangsstation die Trennung der Impulse. Weitere Vorschläge für An- wendung einer größeren Zahl von Leitungen stammen von Ruhmer und Liesegang. Die enormen Kosten der Leitungen lassen diese Richtung wenig aussichtsreich er- scheinen. wenig Literatur. Paul F. Liesegang, Die Fern- photographie. Düsseldorf 1897.— B. Schafft er, Fernphotographie - - Feste Körper 1009 zum Die Photographie und das elektrische Fernsehen. Wim 1S98. — R. E. Liesegang, Beiträge Probleme des elektrischen Fernsehens. Aufl. Düsseldorj 1899. — E. Ruhmer, Das Selen und seine Bedeutung für die Elektro- technik. Mit besonderer Berücksichtigung der drahtlosen Telephonie. Berlin 1902. — A. Korn und B. Glatzelf Handbuch der Photographie und Telautographie. Leipzig 1911. — Eders Jahrbuch für Photographie und Reproduktions- technik. Halle a. S. 1898 bis 1911. P. v. Schrott 111 sogar Zusammensetzung Feste Körper. 1. Kristallinische feste Körper: a) Definition, b) Thermische Ausdehnung, c) Kompressibilität. d) Dampfdruck, e) Oberflächenspannung, f) Ki- netische Theorie der festen Körper, g) Gleich- gewicht der festen Körper mit anderen Phasen, h) Einfluß der Korngröße. 2. Amorphe feste Körper, a) Amorphe homogene feste Körper als Flüssigkeiten mit großer innerer Reibung, b) Amorphe heterogene feste Körper als disperse Systeme. i. Kristallinische feste Körper, i a) D e - finition. Die festen Körper zerfallen in die beiden Hauptklassen: kristallisierte und amorphe feste Körper. Die kristallisierten Körper besitzen charakteristische Polyederformen (vgl. die Artikel „Kristallformen" und „Kristallographie"), welche für die ungleiche chemische besitzen, stets Differenzen in der Achsen länge und oft auch in der Symmetrie auf- weisen. Hingegen streben alle amorphen Körper — wenn sie sich selbst überlassen d. h. unbeeinflußt von ihrer Umgebung sind — eine und dieselbe Gestalt, nämlich Kugelform, anzunehmen. Zur Definition der kristallisierten Körper kann auch ihre Eigenschaft dienen, daß ihr physikalisches Verhalten von der Richtung, längs welcher man sie prüft, abhängt. Z. B. ist die Härte des Minerals Cyanit, das stangenförmige Kristalle bildet, in der Längsrichtung der Stangen stark verschieden von der Härte in ihrer Querrichtung; schon durch Ritzen mit einer Eisennadel kann dieser Unterschied leicht festgestellt werden. Man bezeichnet diese Abhängigkeit von der Richtung als ,,vektorielles Verhalten"; die physikalischen Eigenschaften der Kristalle besitzen also den Charakter von Vektoren. ib) Thermische Ausdehnung. Man hat zwischen der linearen und der ku- bischen Ausdehnung zu unterscheiden und man bezeichnet das Maß der Ausdehnung | bare Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. für die Temperatureinheit als „Ausdeh- nungskoeffizienten" und pflegt sowohl den kubischen als auch den linearen Aus- dehnungskoeffizienten anzugeben (vgl. Lan- dolt-Börnstein, ph ysikalisch-cliemis che Tabellen). Es kann die kubische Ausdehnung als Gesamteffekt der in den verschiedenen Richtungen stattfindenden linearen Aus- dehnung bezeichnet werden. Während für amorphe Körper die lineare Ausdehnung in allen Richtungen die gleiche sein muß, ist sie für Kristalle im allgemeinen verschieden den verschiedenen Richtungen und kann ihr Zeichen wechseln, d. h. es gibt Kristalle, die längs gewissen Richtungen sich ausdehnen und zugleich längs anderen Richtungen sich zusammenziehen. Außerdem hängt der Ausdehnungs- koeffizient von der Anfangstemperatur des betreffenden Körpers ab und es sind nicht nur unter den kristallisierten, sondern auch unter den amorphen und flüssigen Körpern solche Stoffe möglich, die bei Temperatur- erhöhung in einem gewissen Temperatur- intervall sich zusammenziehen, während sie außerhalb dieses Intervalls dem Verhalten der gewöhnlichen Körper folgen, welche sich bei Temperaturerhöhung ausdehnen. Bei Kristallen drückt man die Abhängig- keit des Ausdehnungskoeffizienten von der Richtung folgendermaßen geometrisch aus: Man denkt sich aus dem betreffenden Kristall eine Kugel geschnitten und fragt: Welche geometrische Form nimmt die Kugel Stoffe, bei einer Temperaturänderung an ? Man hat gefunden, daß sie stets in ein Ellipsoid über- gehen muß und bezeichnet eine derartige Formänderung als „homogene Deformation". Für hochsymmetrische Kristallsysteme kann das gesamte Ellipsoid kein dreiaxiges sein, sondern es spezialisiert sich im hexagonalen und tetragonalen System zu einem Rotations- ellipsoid, im regulären System zu einer Kugel. Danach ist die Ausdehnung der regulären Körper ebenso beschaffen, wie diejenige der amorphen und flüssigen Körper Die regulären Körper besitzen aber keineswegs für alle physikalischen Eigen- schaften" diese Unabhängigkeit von der Richtung, die für den Ausdehnungskoeffi- zienten zutrifft. Vielmehr sind z. B. die Größen, welche ihre Kohäsionseigenschaften bestimmen (vgl. die Artikel „Elastizität" und „Kristallphysik") in komplizierter Weise auch in regulären Körpern mit der Richtung veränderlich. Die verschiedenen polymorphen Modi- fikationen eines Stoffes besitzen einen un- gleichen Ausdehnungskoeffizienten, z. B. ist die durch Schmelzen von Quarz erzeug- Modifikation der Kieselsäure (soge- 64 1010 Feste Körper nanntes Quarzglas) dadurch charakterisiert, daß sie einen viel kleineren Ausdehnungs- koeffizienten besitzt, als irgendein anderer gewöhnlicher Körper; für den kristallisierten Quarz ist die Größe der Ausdehnung aber keineswegs abnorm klein und überdies par- allel zur Hauptachse verschieden von der- jenigen, die er senkrecht zur Hauptachse besitzt. Dieser Unterschied der Richtungen fällt für das Quarzglas natürlich fort, ic) Kompressibilität. Während den Physiker hauptsächlich die allseitige Kom- pression fester Körper interessiert, besitzt für die Naturprozesse auch der einseitig wirkende Druck Bedeutung. 7. B. scheint die Bildung mancher ge- schief erter Gesteine durch sogenannte „Pres- sung", d. h. durch einen nicht allseitig wirkenden Druck, sich zu erklären. Es unter- liegt offenbar unter anderem ein vom Erd- innern nach der Oberfläche vordringendes Gesteinsmagma einem von unten nach oben zu abnehmenden Druck. Man ahmte durch künstlichen Druck die Bildungsprozesse von Glimmerschiefern und ähnlichen Gesteinen nach, indem man fand, daß in Lehm (u. dgl.) verteilte Glimmer- plättchen sich durch künstlichen Druck ebenso in parallele Stellungen bringen lassen, wie dies unter den natürlichen Gesteinen beim Glimmerschiefer eingetreten ist. Während allseitiger Druck nur bei sehr hoher Intensität die physikalischen Eigen- schaften fester Körper ändert, äußern sich die Einwirkungen der Pressung bereits früher. Eine interessante Folgerung über die Kompressibilität fester Körper hat F. Becke auf mineralogisch-petrographischem Gebiet gezogen. Aus dem Prinzip van't Hoffs über den Bewegungssinn des Gleichgewichts leitet F. Becke die Folgerung ab, daß durch Dynamometamorphose (vgl. die Artikel „Gesteinsstruktur" und „Mine- ral- und Gesteinsbildung, Metamor- phose") eine solche Umwandlung der Mineralkomponenten zustande komme, daß die neuen Mineralien ein kleineres Mole- kularvolumen besitzen als die ursprüng- lichen Mineralkomponenten (als Molekular- volumen bezeichnet man den Quotienten aus Molekulargewicht und spezifischem Ge- wicht eines Stoffes). Durch starke Druckwirkungen werden auch gewisse polymorphe Umwandlungen und Aenderungen der äußeren Eigenschaften von Mineralien erklärt. Beispiele für letzteres sind unter anderem die Umwandlung des Kalksteins in Marmor, des Augits in Diallag, für ersteres die Umwandlung des Augits in Hornblende. Auch die Absonderungen, welche ge- schieferte Gesteine häufig in äußerst aus- geprägtem Maße zeigen, erklären sich durch den Widerstand gegen Kompression. Einen geistreichen Gedanken zur Aus- übung einer starken Kompression fester Körper hatte Moissan: er ging davon aus, daß die natürlichen Diamanten sich unter sehr starkem Druck aus gewöhnlichem Kohlenstoff gebildet haben. Um diese Bil- dungsweise nachzuahmen, suchte er die von anderen beschriebene Eigenschaft des Eisens, beim Erstarren sich auszudehnen, zu be- nutzen. Der in geschmolzenem Gußeisen gelöste Kohlenstoff scheidet sich beim Er- starren aus und die zentralen Teile einer im Erstarren begriffenen Eisenmasse müssen auf den dort sich ausscheidenden Kohlen- stoff einen enormen Druck ausüben, da diese Teile in ihrer Tendenz, beim Festwerden ihr Volum zu vermehren, durch die Hülle des bereits erstarrten peripherischen Eisens behin- dert sind. Tatsächlich beobachtete Moissan die Bildung von winzigen, mikroskopischen Diamanten, doch ist es nicht sicher, daß diese durch Kompression sich gebildet haben, da spätere Beobachtungen die Annahme, daß das Eisen beim Erstarren sich ausdehne, wieder in Zweifel stellten. Durch Kompression fester Körper wird eine Aenderung ihrer Symmetrie bewirkt: einseitig komprimierte reguläre Kristalle nehmen Eigenschaften an, die denen der ein- achsigen Kristalle nahekommen, besonders gilt dieses für die Doppelbrechung (vgl. die Artikel „Doppelbrechung", „Kristall- physik") und den Pleochroismus (vgl. den Artikel „Farbe"), welchen z. B. blaues Steinsalz durch Kompression erlangt. Komprimierte einachsige Kristalle zeigen, wenn die Kompressionsrichtung nicht un- [ symmetrisch verläuft, die optischen Eigen- ' schatten (Achsenbilder) zweiachsiger Kristalle. Interessant ist es, Quarzkristalle zu kompri- mieren, da sich vermuten läßt, daß alsdann j die Achsenbilder denen der zweiachsigen Kristalle mit Drehungs vermögen entsprechen (vgl. Hauswaldt, Atlas der Interferenz- erscheinungen im polarisierten Licht). Auch durch plötzliche Abkühlung der peripherischen Teile fester Körper lassen sich ähnliche Strukturstörungen wie durch Kompression erzeugen. Hierauf beruht die Doppelbrechung rasch gekühlter Gläser und die Tendenz der sogenannten Glas- tränen zu Pulver zu zerfallen. Es zieht eben dieses rasche Abkühlung geradezu Kom- pressionswirkungen nach sich. id) Dampfdruck. Ebenso wie die Flüssig- keiten besitzen auch die festen Körper die Fähigkeit, so lange zu verdampfen, bis der Dampf eine von der betreffenden Temperatur abhängige maximale Dampfspannung erreicht "hat. Eine Anzahl von Sätzen, die für den über Flüssigkeiten stehenden Dampf Feste Körper 1011 gilt (vgl. den Artikel „Lösungen" S. 450 ff.) läßt sich auch auf den Dampf fester Körper ausdehnen. Meist ist die maximale Dampf- spannung fester Körper äußerst gering, und z. B. für die festen Riechstoffe (Moschus u. dgl.) ist sie auf keine andere Weise nach- gewiesen worden, als eben durch den Geruch. Die Sublimationsfähigkeit, welche viele \ Körper (z. B. Kampfer) noch bei recht tiefen Temperaturen besitzen, ist nur durch die , Existenz eines gewissen Dampfdrucks er- klärbar. Bei hohen Temperaturen sublimiert eine große Anzahl von Stoffen unterhalb ihres Schmelzpunkts zum mindesten in geringem Grade (Kohle im elektrischen Lichtbogen, Metalle in evakuierten Quarz- glasgefäßen). Oft kommt eine Dissoziation der verdampfenden Moleküle fester Körper zustande (z. B. bei Salmiak), Der maximale Dampfdruck über den verschiedenen Flächen eines Kristalls braucht nicht der gleiche zu sein; doch hat 0. Leh- mann geltend gemacht, daß diese Unter- schiede nicht so weit gehen können, daß der i Kristall auf Kosten der gleichen Moleküle, um welche er sich am einen Ende vermindert, am i entgegengesetzten Ende wächst, denn dieses würde im Prinzip ein perpetuum mobile zu konstatieren gestatten. Es müssen sich also für die zwischen jeder Fläche und j ihrer Gegenfläche liegenden Umgrenzungs- 1 elemente derart die etwaigen Unterschiede der Dampfspannungen ausgleichen, daß der Satz von der Erhaltung der Energie gewahrt bleibt. In der Natur kommt die Verdampfbarkeit fester Körper für die Bildung mancher Mineralien bei vulkanischen Prozessen in Betracht, und man hat beobachtet, daß oft gerade die bestausgebildeten Kristalle in solchen Fällen aus Dämpfen entstanden sind (vgl. den Artikel „Mineral- und Gesteins- bildung", S. 928 und 943). Ferner ist bemerkenswert die Vollkommen- ! heit der Kristalle, welche aus verdampfendem Jod sich an den kälteren Partien des Ver- suchsgefäßes abscheiden. Da wo diese Verdampfbarkeit leicht durchführbar ist, findet sie praktische An- wendung zur Reinigung der betreffenden Chemikalien (z. B. resublimierte Pyrogallus- säure und resublimiertes Jod). ie) Oberflächenspannung. Ebenso wie die Flüssigkeiten besitzen auch die festen Körper eine Oberflächenspannung, die an den Grenzflächen zwischen dem festen Stoff und dem umgebenden Mittel, aus welchem er entstellt, sich betätigt. Während bei amorphen Körpern wegen der Gleichwertigkeit aller Richtungen die Ober- flächenspannung zu einer kugelförmigen Um- grenzung führt, kann bei Kristallen die Ober- flächenspannung in verschiedenen Richtungen verschieden sein. Meist stellt man sich vor, daß bei der Bildung eines Kristalls die einzelnen Rich- tungen, wenn sie als Kräfte aufgefaßt werden, durch Bildung der auf ihnen senkrechten Flächen sich betätigen und hat alsdann auch eine Verschiedenheit der Oberflächenspan- nung längs den einzelnen Flächen anzu- nehmen. Diese können entweder natürliche Umgrenzungsflächen oder künstlich an- geschliffene Flächen sein. Curie hat das Prinzip aufgestellt, daß bei dem Wachstum eines Kristalls diejenigen Flächen, für welche die Oberflächenspannung den kleinstmöglichen Wert besitzt, sich vorzugsweise ausbilden, daß die anderen Flächen verschwinden. Es wäre dann das Wachstum eines Kristalls etwa mit demjenigen einer Seifenblase ver- gleichbar, während letztere wegen der Ober- flächenspannung stets die Kugelform bei- behält, bewahrt der Kristall stets diejenige Form, welche aus dem Minimumprinzip der Oberflächenspannung bei gegebenem Volum dann folgt, wenn man die anisotropen Bildungskräfte des Kristalls mit berücksichtigt, lieber letztere ist aber leider wenig mehr als ihre Symmetrie bekannt. Anhangsweise sei in diesem Abschnitt noch erwähnt, daß Tropfen, welche auf einer Kristallfläche sich befinden, nicht kreis- förmige, sondern im allgemeinen Fall ellip- tische Grundflächen annehmen; die Achsen der Ellipsen entsprechen dem Maximum und Minimum der Oberflächenspannung, die zwischen Kristallfläche und Tropfen besteht. Man hat hieraus Folgerungen über die Struktur der Kristalle (vgl. den Artikel „Raumgitter") abgeleitet. Das Wachstum der Kristallflächen und ihre Auflösung sind unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht als umkehrbare Prozesse im Sinne der Thermodynamik aufzufassen. Bei der Auflösung eines Kristalls bilden sich zwar auch Formen von genau bestimmtem Umriß, aber sie besitzen nicht ebene Flächen, sondern charakteristische Wölbungen. Diese von Raub er sehr genau experimentell studierten „Lösungskörper" weisen zwar Gesetzmäßigkeiten auf, die mit der Ober- ' flächenspannung im Zusammenhang stehen müssen, aber sie und ebenso die Aetzfiguren (vgl. die Artikel, ,Aetzfigur en", „Kristallo- graphie" und „Kristallchemie") bieten doch der theoretischen Erklärung vom Prinzip der minimalen Oberflächenspannung aus große Schwierigkeiten. if) Kinetische Theorie der festen Körper. Da die Gestalten der Moleküle und die zwischen ihnen herrschenden Kräfte für feste Körper viel komplizierter sind als für die Moleküle der Gase und Flüssig- 64* 1012 Feste Körper keifen, hat die kinetische Theorie der festen Körper weniger Erfolge aufzuweisen, als die- jenige der anderen Aggregatznstände und es lassen vorzugsweise solche Sätze sich für feste Körper kinetisch veranschaulichen, die auch thermodynamisch beweisbar sind. Man hat wohl öfters behauptet, daß zwischen der kinetischen Theorie der festen Körper und der Raumgittertheorie (vgl. den Artikel „Raumgitter") ein unvereinbarer Gegensatz bestehe. Jedoch trifft dieses nicht zu, sobald man sich die Formelemente eines Raumgitters nicht als starre Materie, sondern als die Wirkungskreise der materiellen Teilchen vorstellt, derart, daß diese innerhalb ihrer Wirkungssphäre sich in einer beliebig leb- haften Bewegung befinden können, deren Zentrum im betreffenden Knotenpunkt des Raumgitters zu suchen ist. Alsdann ver- schwindet jeglicher Widerspruch zwischen der kinetischen Theorie und der Struktur- theorie der festen Materie. Im übrigen entfaltet sich die Leistungs- fähigkeit dieser beiden Theorien auf ganz verschiedenen Gebieten: die Strukturtheorie liefert ihrer sehr allgemeinen Annahme wegen meist nur qualitative Resultate, die nur selten auf Gesetze, sondern mehr auf Klassifikationen hinführen und im wesentlichen nur die Sym- metrie der festen Körper betreffen; die kine- tische Theorie zwingt sogleich zur Spezialisie- rung der Grundhypothesen und liefert mittels des Calculs quantitative Resultate, welche durch die Folgerungen der Strukturtheorie, die stets geometrischer Natur sind, nur er- gänzt werden. ig) Gleichgewicht von festen Kör- pern mit anderen Phasen. Vorzugs- weise die 'Phasenlehre (vgl. den Artikel ,, Phasenlehre") in Verbindung mit den Diagrammen und Modellen der Gleichgewichts- kurven und -flächen ist vom physikochemi- schen Gesichtspunkt aus für die festen Körper von Wichtigkeit. Die für die flüssigen Körper enorme Erfolge aufweisende Theorie der Lösungen bietet bei Auffassung der Mischkristalle als „fester Lösungen" (vgl. den Artikel „Lösungen" S. 459) Anwendungen auf den kristallinischen Zustand. Diese Analogie gilt deshalb, weil Misch- kristalle als homogene Phasen im Sinne der Phasenlehre aufzufassen sind, so daß die Lösung eines Mischkristalls in Wasser ganz analog z. B. mit dem Verdampfen von ver- flüssigter Luft (d. h. eines Gemisches von Sauerstoff und Stickstoff) ist. Charak- teristisch und gemeinsam ist beiden Fällen der Umstand, daß die flüssige Phase im allgemeinen eine andere Zusammensetzung hat als die mit ihr im Gleichgewicht stehende Phase: Man erhält über einer Flüssigkeit, deren Zusammensetzung der gewöhnlichen Luft gleichkommt, ein Gas, welches an Sauer- stoff reicher ist, als gewöhnliche Luft; und analog erhält man bei Lösung eines Misch- kristalls das Resultat, daß die leichter lösliche Komponente sich stärker aus dem Misch- kristall herauslöst als die schwächer lösliche Komponente. Es verschiebt sich also der relative Prozentgehalt der beiden Komponen- ten zueinander während des Lösungsvor- ganges. Lösungstension und Dampfspan- nung sind folglich analog. Die Uebertragung der Lehre vom Gleich- gewicht (vgl. den Artikel „Chemisches Gleichgewicht") auf Doppelsalze und polymorphe Umwandlungen bietet keinerlei Schwierigkeiten, hingegen gelten für die Adsorptionen kompliziertere Regeln, da sich die Menge des adsorbierten Körpers vom Rande nach dem Zentrum der adsorbierenden hin ändert. Während für die Adsorptionsfähigkeit amorpher Körper das Verhalten von Holzkohle gegen verschie- dene Gase typisch ist, erscheint, unter den kristallisierten Körpern das Adsorptions- vermögen der Zeolithe für Wasser sicher- gestellt. Hingegen ist die Entscheidung der von B odländer angeregten Frage schwierig, bis zu welchem Grade die als isomorph (im weitesten Sinne) bezeichneten Stoffe gegen- seitiges Adsorptionsvermögen besitzen. Während das Adsorptionsgleichgewicht nicht immer sich vollkommen umkehrbar einstellt, mag noch gezeigt werden, wie die Bildung und Auflösung eines Mischkristalls unter steter Aufrechterhaltung des umkehr- baren Gleichgewichts denkbar ist. Man denke sich die zu einem Misch- kristall zu vereinigenden Mengen der reinen Komponenten zunächst getrennt vonein- ander in umkehrbarer Weise (d. h. unter Einführung semipermeabler Wände) gelöst, darauf mische man, wiederum umkehrbar, die Lösungen und entferne in umkehrbarer Weise so lange das Lösungsmittel, bis Kri- stallisation der Lösung eintritt. Die Be- rechnung der insgesamt hierbei an den semipermeablen Wänden zu leistenden Arbeit bietet eine einfache Anwendung der Gleich- gewichtslehre auf die feste Mischungsphase. Hierbei sieht man von der Verschieden- heit der Lösungsfälligkeit über den einzelnen Kristallflächen ab und betrachtet nur die mittlere Löslichkeit. Jedoch kann die Lö- sungstension über den einzelnen Kristall- flächen ebensogut verschieden sein, wie die Dampfspannung, von welcher wir schon oben sprachen. Daß diese Verschiedenheit der Lösungs- fähigkeit für die uligleichwertigen Flächen eines Kristalls wirklich existiert, ist z. B. Feste Körper 1013 von Miers experimentell nachgewiesen; die Berücksichtigung dieser Unterschiede läßt das Gleichgewicht zwischen Kristall und Lösung sehr kompliziert erscheinen. Denn man darf nicht etwa die verschiedenen Uligleichwertigen Flächen als verschiedene Phasen betrachten, da sonst nur diejenige, deren Löslichkeit am geringsten ist, stabil wäre, während die anderen natürlichen Umgrenzungsflächen verschwinden müßten. Während hier noch ungelöste Schwierig- keiten bestehen, mag folgender Erfolg der Gleichgewichtslehre für dieses Gebiet er- wähnt werden: Man hat die Tatsache, daß Alaun und Kochsalz aus gewissen Lösungen in Form von Würfeln, aus gewissen anderen Lösungen aber als Oktaeder kristallisieren, theoretisch erklärt: Man hat gefunden, daß diese Verschieden- heit durch die ungleiche Löslichkeit der Oktaeder- und Würfelflächen hervorgerufen wird. In solchen Lösungsmitteln, in denen das Oktaeder sich ausbildet, erwiesen sich die Flächen desselben als schwerer löslich, während sie in den Lösungsmitteln, die zu Bildung von Würfeln führen, leichter löslich sind als die Würfelflächen. ih) Einfluß der Korngröße. Die Erfahrung zeigt, daß feinkörnige Kristalli- sationen innerhalb ihrer gesättigten Lösung im Laufe der Zeit grobkörniger werden. Es erklärt sich dieses Verhalten dadurch, daß die größeren Kristalle auf Kosten der kleineren wachsen. Diese Erscheinung ist analog dem Phänomen, daß zwei sich be- rührende kleine Tropfen zu einem einzigen größeren Tropfen sich zu vereinigen streben. Das Gemeinsame beider Erscheinungen be- steht darin, daß die Oberflächenspannung sich verkleinert, wenn man mehrere kleinere Massen der gleichen Substanz zu einer einzigen Masse vereinigt. Hieraus folgt im einen Fall, daß die Dampfspannung über einem kleinen Tropfen diejenige über einem größeren übertrifft; und im anderen Falle folgt, daß die Lösungstension über einem kleineren Kristalle diejenige über einem größeren übertrifft. Das Gleichgewicht zwischen kristalli- sierten Körpern und ihren Schmelzen ist von größter Wichtigkeit für das Studium der Legierungen in der Metallographie. Die Legierungen der Metalle stehen den Mischkristallen nahe, erweisen sich aber im Gegensatz zu diesen bei mikro- skopischen Untersuchungen sein oft als inhomogen. Die Fälle beschränkter Misch- kristallbildung (vgl. die Artikel „Lösungen" und „Legierungen") ist unter den Metallen sehr häufig. Als eine merkwürdige Verschiebung des Gleichgewichtszustandes mag hier noch die ebenfalls an gewissen Legierungen beobacht- bare Umlagerung feinkörniger Strukturen zu größeren einheitlichen Individuen er- wähnt werden, die Rinne als „Sammel- kristallisation" bezeichnet hat. Länger bekannt als dieses Phänomen ist die Umlagerung sogenannter mimetischer Kristalle, welche sich aus einer großen Anzahl von Zwillingslamellen aufbauen, zu einem einheitlichen Kristall bei Temperatur- erhöhung. Daraus z. B., daß der bei Zimmertempe- ratur die reguläre Symmetrie nur nach- ahmende Borazit bei Erhitzung wirklich regulär wird, folgt, daß das Gleichgewicht zwischen den zahllosen Zwillingslamellen des gewöhnlichen Borazits beim Erhitzen labil wird und daß die parallele Anordnung der Moleküle in der Hitze stabiler ist als die verzwillingte. Das Gleichgewicht zwischen kristalli- sierten Körpern und ihren Schmelzen ist für das Studium der Eruptivgesteine von größter Bedeutung; es hat besonders J. H. L. Vogt unter diesem Gesichtspunkt die Silikatsschmelzen untersucht. Gesteins- strukturen, welche derjenigen des Schrift- granits gleichkommen, sind als eutektische Strukturen aufzufassen; die Zusammen- setzung der Feldspate in ihrer Abhängig- keit von dem sie erzeugenden Gestein erklärt sich aus den Roozeboom sehen Schmelz- typen der Mischkristalle u. dgl. Die „Differentiation" der petrographischen Schmelzmagmen bietet andere Anwendungen der Gleichgewichtslehre. Vielfach erscheinen die Differentiationsphänomene analog der Beobachtung, daß die unbeschränkte Misch- barkeit von Wasser und Alkohol durch ! Zusatz mancher Salze in eine beschränkte ; Mischbarkeit sich umwandelt, so daß eine Zerlegung der anfangs homogenen Flüssigkeit J in zwei flüssige Phasen erfolgt. Die Erstarrung der Meteoriten endlich bietet mancherlei Anwendungen der Gleich- gewichtslehre und steht mit dem Verhalten der Eisen-Nickellegierungen in enger Be- ziehung. 2. Amorphe Körper. 2 a) Amorphe homogene feste Körper als Flüssig- keiten mit großer innerer Reibung. Während man früher anzunehmen geneigt war (siehe den Artikel „Flüssigkeiten"), daß die amorphen Körper bei genauerer mikrosko- pischer Untersuchung sich als kryptokristallin erweisen würden, haben sich in den letzten Jahrzehnten prinzipielle Unterschiede zwi- schen beiden Körperklassen ergeben und Tammann hat für sie ganz abweichende Eigenschaften durch Versuche mit Anwendung sehr hohen Druckes aufgefunden (vgl. Tammanns Buch: „Kristallisieren und 1014 Feste Körper Festigkeit Schmelzen"). In der Tat stehen die amorphen Körper den flüssigen schon deshalb näher als den kristallisierten Körpern, weil sie sich beim Schmelzen vollkommen stetig in die flüssigen umformen, indem die innere Reibung sich ganz allmählich vermindert und ein scharfer Schmelzpunkt nicht exi- stiert. Hingegen weisen die kristallisierten che- mischen Verbindungen einen scharfen Schmelz- punkt und bei ihm eine plötzliche sehr inten- sive Verminderung der inneren Reibung auf. Doch muß hier die Ausnahme bemerkt werden, die man neuerdings fand, daß auch die bei sehr hohen Temperaturen schmel- zenden kristallinischen Silikatmineralien einen unscharfen Schmelzpunkt und eine allmähliche Abnahme der inneren Reibung zeigen. Auch beweisen die langsamen Form- änderungen, welche Stangen amorpher Körper bei lange andauernden Belastungen erfahren, daß man die amorphen Körper als Flüssig- keiten mit großer innerer Reinung auffassen kann. Diese Belastungen brauchen nur schwach zu sein oder können in vielen Fällen schon durch das eigene Gewicht der be- treffenden Körper (Siegellackstangen u. dgl.) ersetzt werden. Die Eigenschaft der amorphen Körper, im freien Zustand Kugelform anzunehmen, nähert sie ebenfalls mehr den Flüssigkeiten als den Kristallen; endlich nehmen sehr oft die durch Abkühlung von Schmelzen entstandenen amorphen Körper eine Mittel- stellung zwischen diesen und den kristalli- sierten Körpern dadurch ein, daß sie im Laufe der Zeit sich in kristallinische Produkte umlagern. Hierfür liefern die aus vielen Gläsern entstehenden Entglasungsprodukte einen Be- leg; z. B. die altrömischen Gläser für sehr langsame Entglasung, sogenanntes Reau- mursches Porzellan für rasche Entglasung; unter den natürlichen Gläsern der vulkani- schen Produkte enthalten viele Obsicliane, Pechsteine u. dgl., nachträglich erfolgte Kristallbildungen. Für die kleinen aber zahlreichen Kristalle, welche man bei der mikroskopischen Untersuchung von Harzen gefunden hat, ist es noch nicht nachgewiesen, ob sie stets nachträgliche Bildungen sind. 2b) Amorphe heterogene feste Körper als disperse Systeme (vgl. den Artikel „Disperse Gebilde"). Nicht immer sind die amorphen Körper einheitlich, oft erweisen sie sich vielmehr aus zwei oder mehr Körpern in feinster Wechsellagerung be- stehend, nach Art der okkludierte Gase ent- haltenden Holzkohle oder der für Farbstoffe aufnahmefähigen tierischen Kohle. Auch das eigenartige Farbenspiel des Edelsteins Opal erklärt sich durch winzigste, fein verteilte Inhomogenitäten und durch die an den Grenzen derselben stattfindenden Beugungen des Lichts. Durch Einlegen von Opal in Wasser und ähnliche Operationen können unter Umständen diese kleinen Einschlüsse (die beim Opal nach einigen Beobachtern Gas, nach anderen Flüssigkeiten sein sollen) sich ändern, wodurch auch das Farbenspiel an Schönheit gewinnt. Nach W. Ostwald bezeichnet man der- artige aus zwei innig gemengten Stoffen bestehende Substanzen als „disperse Systeme" und man unterscheidet zwischen „Disper- sionsmittel" und „disperser Phase". In obigem Beispiel wäre die Kieselsäure das Dispersionsmittel, hingegen wären die Ein- schlüsse als dispergiert innerhalb des Dis- persionsmittels anzusehen. Diese beiden Bezeichungen verhalten sich also ähnlich zueinander wie Lösungsmittel und gelöste Stoffe. Näheres siehe in dem Artikel „Disperse Gebilde". Als Uebergangsglieder zwischen kristal- loider und kolloider Ausbildungsform können Stärke und andere äußerst hochmolekulare organische Stoffe betrachtet werden, indem die Stärkekörner durch ihren polygonalen Umriß (der für die mikroskopische Unter- scheidung der verschiedenen Stärkesorten wichtig ist) das Verhalten der Kristalle bereits etwas nachahmen, während ihre sonstigen Eigenschaften den amorphen Kör- pern entsprechen. Von einem anderen Gesichtspunkt aus erscheinen die fließenden, flüssigen und scheinbar lebenden Kristalle als merk- teils zwischen teds zwischen würdige Uebergangsglieder den festen und flüssigen. den kristallisierten und amorphen, teils zwischen den bewegungslosen und den die Bewegungsfreiheit nachahmenden leblosen Körpern (vgl. den Artikel „Kristalle, flüssige Kri stalle"). Literatur. W. Ostwald, Lehrbuch der allge- meinen und physikalischen Chemie (noch nicht, vollendet). — O. Lehmann, Molekularphysik und viele andere Publikationen von 0. Leh- mann. E. Sommerfeldt. Festigkeit. Einleitung. 1. Grundbegriffe. 2. Fließen fester Körper, insbesondere der Metalle. 3. Plastizität und kristallinische Struktur. 4. Einfluß der chemischen Zusammensetzung. Metastabile Gleichgewichte. 5. Festigkeit gegen einfache Beanspruchungsarten. a) Zugfestig- keit, b) Druck- und Knickfestigkeit, c) Biegungs- Festigkeit 101; festigkeit. d) Torsionsfestigkeit. 6. Festig- keit gegen zusammengesetzte Beanspruchung. Allgemeine Festigkeitstheorien. 7. Einfluß des Belastungswechsels. 8. Einfluß der Belastungs- geschwindigkeit. Stoßartige Belastung. Einleitung. Die Festigkeit eines Stoffes ist kein einheitlicher Begriff; wir wollen vielmehr in diesem Begriff sämtliche Eigen- schaften zusammenfassen, die sein Verhalten mechanischen Kräften gegenüber bestimmen, insbesondere wenn diese groß genug sind, am ' Körper beträchtliche Formenänderungen oder Bruch herbeizuführen. Die meisten Unter- i suchungen über Festigkeit beziehen sich auf , die in der Technik benutzten Konstruktions- materialien (hauptsächlich auf Metalle und Baustoffe) und sind zu dem Zwecke unter- nommen worden, Grundlagen für die Beur- teilung der Sicherheit von technischen Kon- struktionen zu verschaffen. Die hierauf be- züglichen Rechnungsmethoden (Festigkeits- berechnungen) bilden eine besondere Disziplin, die sogenannte technische Festigkeits- lehre. Diese fußt auf zweierlei Grundlagen: eine erste Grundlage bietet die mathe- matische Elastizitätslehre (vgl. den Ar- tikel „Elastizität"), die darüber Aufschluß gibt, welche Spannungen eine bestimmte Be- lastung in dem Körper hervorruft : als zweite Stütze dient die in engerem Sinne genommene (physikalische) Festig- keitslehre, indem sie angibt, bis zu welchen Grenzen die Spannungen ohne Ge- fahr gesteigert werden können. Die physi- kalische Festigkeitslehre hat also vor allem zu erforschen, welche Kräfte zum Bruch oder zu bleibender Deformation führen, ferner in welcher Weise die Festigkeits- eigenschaften von besonderen Umständen, wie z. B. von Temperaturerhöhung, von der Vorbehandlung des Stoffes, von der Häufig- keit der Beanspruchung usw. abhängen. In enger Beziehung mit der physikalischen Festigkeitslehre steht das technische Ma- terialprüf ungswesen, dem man einen großen Teil unserer Kenntnisse über die Festig- keitseigenschaften der technisch wichtigen Materialien verdankt. Allerdings treten bei der technischen Materialprüfung oft die rein praktischen Gesichtspunkte in den Vorder- grund und bei komplizierteren Vorgängen verzichtet man zuweilen auf eine nähere Ana- lyse der Erscheinung und beschränkt sich auf die Ermittelung von Vergleichswerten mit Hilfe von Versuchen, die an allen Stoffen in genau derselben Weise vorgenommen und dabei möglichst den praktischen Belastungs- verhältnissen nachgebildet werden. i. Grundbegriffe. Wird ein Stab aus Flußeisen einer Zugkraft unterworfen und diese soweit gesteigert, bis der Stab zerreißt, so zerfällt der ganze Vorgang sehr deutlich in zwei Abschnitte. Anfangs ist auch zu einer geringen Verlängerung des Stabes, die nur mit feineren Meßinstrumenten nachzuweisen ist, eine sehr erhebliche Kraftsteigerung notwendig, während von einer gewissen Belastung an viel kleineren Laststufen ganz erhebliche, mit freiem Auge sichtbare Deh- nungen entsprechen. Wird der Stab während der ersten Periode entlastet, so geht die Deh- nung fast vollkommen zurück, d. h. die Deformation ist fast rein elastisch; im zweiten Abschnitt des Versuches verschwin- det dagegen beim Entlasten nur ein verhält- nismäßig geringer Anteil, während der überwiegende Teil der Verlängerung als bleibende Formänderung bestehen bleibt. Man bezeichnet die bleibende Form- änderung im Gegensatz zur elastischen oft als „plastische Deformation". Ebenso findet man auch bei anderen Beanspruchungen (Druck, Torsion usw.), daß kleine Kräfte vornehmlich elastische Deformationen hervor- rufen; überschreitet aber die Kraft eine ge- wisse Grenze, so entsteht eine überwiegend plastische Deformation. Man geht von der Vorstellung aus, daß für diese Grenze die Größe der Spannung (spezifische Belastung = Belastung für die Flächeneinheit) maß- gebend ist und bezeichnet die entsprechende Spannung als „Elastizitätsgrenze" des Stoffes. Der Zugversuch liefert insbesondere die Zugelastizitätsgrenze; spricht man von Druck- und Torsionselastizitätsgrenze, so versteht man darunter jenen kleinsten Wert der Druck- bezw. Schubspannung, die beim Druck bezw. beim Torsions versuch zu bleiben- den Formänderungen führt. Die Feststellung der Elastizitätsgrenze ist stets mit mehr oder weniger Willkür behaftet, da man neben der elastischen Formänderung bei noch so kleinen Belastungen schon infolge der elastischen Hysteresis stets eine bleibende Deformation nachzuweisen vermag. Die Elastizitätsgrenze ist also sozusagen von der Genauigkeit der Meßapparate abhängig. In der Praxis wird daher die etwas unbe- stimmte Elastizitätsgrenze durch die zumeist besser ausgeprägte Streckgrenze (beim Druckversuch auch Quetschgrenze genannt) ersetzt (Fig. 1). Unter Streckgrenze ver- steht man jene Spannung, bei der man zu- erst erhebliche Formänderung ohne nennens- werte Kraftsteigerung erhält. An und für sich ist dieser Begriff auch nicht schärfer bestimmt, wie die Elastizitätsgrenze; prak- tisch bewährt er sich jedoch besser, da die bleibende Formänderung bei vielen Stoffen zunächst ganz allmählich einsetzt, bis der Stab dann bei einer ganz bestimmten Last plötzlich eine ganz erhebliche Verlängerung oder Verkürzung erleidet. Die entsprechende Spannung heißt die Streckgrenze. Bei einigen Stoffen (z. B. bei Flußeisen) erfolgt diese plötzliche Streckung sogar unter abnehmen- 1016 Festigkeit der Last und erst eine Weiterstreckung er- fordert wieder Kraftsteigerung. In diesen Fällen unterscheidet man eine obere und eine untere Streckgrenze, entsprechend dem nacheinander folgenden Maximum und Minimum der Belastung. Bezüglich ihres Verhaltens jenseits der Elastizitätsgrenze teilt man die Stoffe in plastische und spröde ein. Bei plastischen ,, Formänderungskurve" zum Ausdruck, die eine graphische Darstellung der Beziehung zwischen Spannung und Dehnung liefert. Figur 2 gibt die typische Formänderungs- Bruch grenze B Streckgrenze -Elastizitätsgrenze Bruch Dehnung Fig. 1. Dehnung Fi" 2 Stoffen (wie bei Flußeisen, Kupfer, Blei usw.) erfolgt der Bruch erst nach erheblichen bleibenden Formänderungen, während bei spröden Stoffen die Ueberschreitung der Elastizitätsgrenze fast unmittelbar zum Bruch führt. Einige Autoren unterscheiden noch zwischen plastischen Stoffen im engeren Sinne und zähen Stoffen, je nachdem die bleibende Deformation unter konstanter (evtl. unter etwas abnehmender) Belastung erfolgt, oder weitere Deformation stets weitere Kraftsteigerung erfordert. Bei zähen Stoffen erfolgt der Bruch erst bei einer Belastung, die erheblich höher liegen kann, als die Streckgrenze. Diese Höchstbelastung heißt die „Bruchlast"; auf die Flächen- einheit bezogen, liefert sie die „Bruch- grenze" des Stoffes. Die Bruchgrenze des Zug- bzw. Druckversuchs wird auch schlecht- hin als „Zugfestigkeit" bezw. „Druck- festigkeit" desMaterials bezeichnet. Ebenso wird beim Biegungs- oder beim Torsionsver- such die der Bruchlast entsprechende größte Spannung als „Biegungs-" bezw. „Tor- sionsfestigkeit" bezeichnet. Allerdings wird diese Spannung zumeist nur rechnerisch ermittelt und zwar unter Voraussetzung der Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes bis zum Bruch ; in solchen Fällen sind die berechneten Werte mehr als Hilfsgrößen und nicht als wirkliche physikalische Konstanten des Mate- rials anzusprechen. Bei spröden Stoffen ist die Bruchgrenze die allein maßgebende, da die Elastizitätsgrenze meist unbestimmt und auch keine Streckgrenze vorhanden ist. Das verschiedene Verhalten der Stoffe kommt am einfachsten durch die sogenannte kurve eines zähen (A), eines vollkommen plastischen (B) und eines spröden Stoffes (C) wieder. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Plastizität und Sprödigkeit keine Materialeigenschaften sind, sondern vom Spannungszustande ab- hängen. So werden Gesteine, die bei ge- wöhnlichen Festigkeitsversuchen sich spröde verhalten, unter hohem allseitigen Druck plastisch, wie dies einerseits aus der bruch- losen Deformation gewisser geologischer Schichten folgt, andererseits durch Druck- versuche unter hohem allseitigen Druck nachgewiesen werden kann. So verhält sich z. B. Marmor schon unter einem allseitigen Druck von etwa 6 bis 800 Atm. als voll- kommen plastisch ; bei noch höheren Drucken liefert der Versuch eine Formänderungs- kurve, wie man sie sonst nur bei zähen Stoffen erhält. Die Streckgrenze — relativ zu dem im Räume herrschenden allseitigen Druck -- beträgt in vollkommen plastischem Zustande etwa 2000 Atm. (ungefähr so viel, wie die Streckgrenze desFlußeisens), während die Druckfestigkeit des spröden Marmors bei atmosphärischem Druck nur 1300 Atm. beträgt. Als Maß der Plastizität wird oft die Arbeitsmenge betrachtet, die beim Festig- keitsversuch bis zum Bruch geleistet wird. Da die Formänderungskurve auch als Kraft- W'g-Diagramm aufgefaßt werden kann, so liefert die Fläche zwischen Formänderungs- kurve und Abscissenachse (OABCC in Fig. 1) unmittelbar die erwähnte Arbeits- menge, und zwar bezogen auf die Volum- einheit, falls die Belastung auf die Flächen- einheit, die Dehnung auf die Längeneinheit bezogen ist. 2. Das Fließen fester Körper insbeson- dere der Metalle. Die plastische Deforma- tion wird oft auch als Fließen, die Streck- Festigkeil 1017 grenze als Fließgrenze, die Formänderungs- kurve als Fließkurve bezeichnet. Die ge- naue Ermittelung der Fließkurve stößt auf Schwierigkeiten, da ein Gleichgewichtszu- stand sich sehr langsam einstellt. Falls man z. B. Zugversuche an demselben Material mit verschiedenen Geschwindigkeiten aus- führt, so erhält man zu denselben Span- nungen verschiedene Deformationen und zwar ist die Deformation desto kleiner, je schneller die Belastimg gesteigert wurde. Unterbricht man den Versuch und hält den Stab unter konstanter Belastung, so kann man noch sehr lange Zeit eine Deformation nachweisen (Nachfließen). Bei zähen Stoffen nimmt man an, daß die Deformation schließ- lich doch einer gewissen Ruhelage zustrebt. Diese Ruhelagen bilden die sogenannte ,, Kurve der unendlich langsamenDehnungen", d. h. jene Fließkurve, die man bei unend- lich langsamer Steigerung der Belastung erhalten würde. Ein vollkommen plastischer Körper wird dagegen unter konstanter Last immer weiter fließen: so stellt sich z. B. beim Eis unter gewisser Belastung eine für lange Zeit gleichförmige Deformationsbewegung ein ; diese Beobachtung ist für die Erklärung der Vorgänge in Gletschern von Wichtigkeit. Ueber das Geschwindigkeitsgesetz des Fließens ist bisher sehr wenig bekannt, ebenso wie wir kein allgemein gültiges Gesetz für den zeitlichen Verlauf der elastischen Nachwirkung kennen (vgl. den Artikel „Elastizität"). Wird ein zäher Körper nach bleibender Deformation entlastet und nochmals be- lastet, so beginnt das Fließen erst ungefähr bei der vor der Entlastung erreichten Höchstlast. Bei Neubelastung verhält sich der Körper ungefähr so, wie ein elastischer Körper mit höherer Streckgrenze. Diese allgemeine Regel wird oft als Coulomb- Gerstnersches Gesetz bezeichnet. Durch eine Beanspruchung irgendwelcher Art wird die Streckgrenze auch für andere Bean- spruchungsarten erhöht ; diese Tatsache findet eine praktische Anwendung bei der sogenann- ten Härtung durch Kaltbearbeitung. Unter Härtung versteht man in diesem Falle schlechthin eine Erhöhung der Streckgrenze: als Kaltbearbeitung bezeichnet man Prozesse, die mit bleibenden Formänderungen ver- bunden sind (z. B. Hämmern, Walzen, Ziehen usw.), falls sie bei gewöhnlicher Temperatur vorgenommen werden. Wird derselbe Prozeß oberhalb einer bestimmten Temperatur, deren Höhe natürlich von dem Stoffe abhängig ist, vorgenommen, so wird die Streckgrenze nicht erhöht (Warmbearbei- tung). Auch die durch Kaltbearbeitung hervorgerufene Erhöhung der Streckgrenze kann im allgemeinen durch Erhitzung über eine bestimmte Temperatur rückgängig ge- ! macht werden (Ausglühen). Wie diese Er- scheinungen mit der Struktur der Metalle zusammenhängen, soll weiter unten be- sprochen weiden. Einige Stoffe zeigen eine systematische Abweichung vom Coulomb-Gerstner- schen Gesetze, indem sie bei Wiederbe- lastung eine höhere Streckgrenze zeigen als die Höchstbelastung vor der Entlastung. Die Differenz wird noch auffälliger, falls man gewisse Zeit abwartet, d. h. dem Stabe eine sogenannte „Ruhepause'1 gewährt. Auch wenn statt zu entlasten die Last konstant gehalten wird, beobachtet man ohne jede äußere Einwirkung eine Erhöhung der Streckgrenze. Erst wenn die Streckung länger fortgesetzt Dehnung Fig. 3. Herstellung wird, läuft die Formänderungs- I kurve später in die normale Fließ- kurve ein (vgl. | Fig. 3, Linie a ohne, Linie b mit Ruhepause). Diese Erscheinungen werden hauptsäch- lich bei jenen Eisensorten be- obachtet, die eine ausgeprägte obere und untere Streck- grenze zeigen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß die obere Fließgrenze überhaupt als eine Erhöhung der eigentlichen Streckgrenze infolge voran- gegangener Beanspruchungen während der zu deuten ist. Es muß noch auf eine Rückwirkung der bleibenden Deformation auf die elastischen Eigenschaften der Stoffe erwähnt werden. Während nämlich die Streckgrenze durch die vorangegangene Beanspruchung erhöht wird, findet man die eigentliche Elastizitäts- grenze erniedrigt. Man erhält bereits bei viel kleineren Belastungen merkliche bleibende Aenderungen als bei der ersten Beanspruchung. Man bezeichnet diese Erscheinung als „elastische Er- müdung". Diese Bezeichnung erscheint dadurch bei echtigt, daß eine Ruhepause die Elastizitätsgrenze wieder in die Höhe bringt. Mit der Zeit tritt also nach der Ermüdung eine „Erholung" ein. Die Erholung wird durch eine Temperaturerhöhung stark be- schleunigt und zwar ist auch eine mäßige Erhitzung, die auf die Streckgrenze noch gar keinen Einfluß ausübt, für die Erholung bereits wirksam. 3. Plastizität und kristallinische Struktur. Die plastische Deformations- fähigkeit der Metalle und Legierungen steht in engem Zusammenhange mit ihrer kristalli 1018 Festigkeit irischen Struktur. Alle diese Stoffe sind lediglich Kristallhaufen: sie bestehen aus einzelnen Kristallen von unregelmäßiger Begrenzung, die ihrer kristallinischen Orien- tierung nach im allgemeinen nach allen Richtungen gleichmäßig verteilt sind, so daß das Konglomerat isotrop ist. Kristalle haben aber erfahrungsgemäß eine große Deforma- tionsfähigkeit. Sie leisten gegenüber bleiben- den Deformationen gewisser Art nur geringen Widerstand. Namentlich sind in Kristallen als regelmäßig aufgebauten Raumgittern Deformationen möglich, bei denen der regelmäßige Aufbau bestehen bleibt und nur einzelne Moleküle ihre Stellung mit ande- ren Molekülen vertauschen. So ist es z. B. eine Streifung, die wahrscheinlich dadurch entsteht, daß die Begrenzungslinien jener Lamellen, die Verschiebung oder Umlagerung erlitten haben aus der polierten Fläche etwas hervortreten. Ob jede plastische Deformation der Kristalle auf Translation und Zwillings- bildung zurückzuführen sei. ist allerdings sehr fraglich. So viel erscheint aber als sicher- gestellt, daß die plastische Deformation innerhalb der Kristallkörner vor sich geht, ohne den Zusammenhang des Konglomerats zu stören. Die mikroskopische Untersuchung liefert auch darüber Aufschluß, wie durch die Kaltbearbeitung (plastische Deformation bei gewöhnlicher Temperatur) Gestalt und Größe der Kristallkörner geändert werden. M Fig. 5. bekannt, daß man Kalkspatrhomboeder durch ganz geringe Kräfte deformieren kann, indem man einzelne Lamellen in die soge- nannte ,, Zwillingslage" überführt (vgl. den Artikel „Kristallphysik"). Denkt man sich also die einzelnen Kristallkörner eines Metalls aus Lamellen aufgebaut, so können sie durch Ueberführung der einzelnen Lamellen in die Zwillingslage in sehr mannigfaltiger Weise deformiert werden, besonders wenn man be- achtet, daß diese Beweglichkeit nach drei verschiedenen Richtungen besteht. Diese Art der Deformation wird als „Zwillings- bildung" bezeichnet (Fig. 4), Eine andere Art der bleibenden Deformation in Kristallen ist die sogenannte „Translation", bei der einzelne Kristallamellen eine Parallelver- schiebung erleiden (Fig. 5). Auch durch diese Art der Deformation kann ein Kristall sozusagen alle möglichen Gestalten an- nehmen Bei Metallen und Legierungen sind sowohl Translation als Zwillingsbildung nachgewiesen worden (Heyn, Ewing und Rosenhain) Man kann den Nachweis so führen, daß man die Oberfläche des Probestabs vor der Defor- mation polieren läßt und die polierte Ober- fläche nach der Deformation wieder be- obachtet. Man findet dann in vielen Körnern In natürlichem Zustande kann man die Kristallkörner als „gleichachsig" bezeichnen, da sie, obwohl unregelmäßig begrenzt, nach allen Richtungen ungefähr gleiche Abmessun- gen haben (Fig. 7a). Dies ist eine Folge des Unistandes, daß das Wachstum der Kristalle beider Kristallisation nach allen kristallinisch- gleichwertigen Richtungen mit der gleichen Geschwindigkeit geschieht. Nach Versuchen von E. Heyn treten durch die plastische Deformation zweifache Aenderungen im Gefüge ein: zunächst werden die Kristalle in der Kraftrichtung gestreckt, dann bei stärkerer Deformation auch geteilt (Fig. 7b). Man muß annehmen, daß für die Erhöhung der Streckgrenze diese Gefügeänderung maß- gebend ist, da beim Ausglühen gleichzeitig mit der Erniedrigung der Streckgrenze die gestreckten Körner sich wieder in gleich- achsige umwandeln (vgl. Fig. 7c) Die Rück- wandlung geschieht zunächst durch Unter- teilung der gestreckten Körner, so daß die durchschnittliche Korngröße des gezogenen und ausgeglühten Materials wesentlich ge- ringer ist als die ursprüngliche Korngröße. Bei weiterer Erhitzung etwa auf900°beginnen die Kristalle wieder zusammenzuwachsen (Fig. 7d), so daß man die ursprüngliche Korn- größezurückgewinnen kann. NachdenHeyn- Festigkeit 1019 Fig. 6. Zwillingslamellen im Dünnschliff eines plastisch deformierten Marmorkörpers. Nach Versuchen des Verfassers. sehen Versuchen scheint aber die Korngestalt größeren Einfluß zu haben als die Korngröße. Wie durch Gestalt und Größe der Kristall- körner die Streckgrenze beeinflußt wird, können wir bisher nicht genauer verfolgen. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß für die Streckgrenze eines solchen Kristall- haufens zwei Faktoren von Belang sind: erstens der Widerstand des Einzelkristalls gegen bleibende Deformation, zweitens die gegenseitige Beeinflussung der Kristallkör- ner. Es ist leicht einzusehen, daß der zweite Faktor wesentlichen Einfluß haben muß: der Widerstand des Einzelkristalls hängt offenbar von seiner Orientierung gegen die Kraftrichtung ab; in dem isotropen Haufen sind aber benachbarte Kristalle im allge- meinen verschieden orientiert, woraus folgt, daß sie sich in der Deformation hindern werden. Sie werden in Zwangslagen ge- bracht, aus denen sie nur durch die bei der 7 b. Schliff aus einem gezogenen Eisendraht. Nach Versuchen von E. Heyn. Fig. 7c. Derselbe Draht nach 1/2st.ündigem Glühen bei 616° C. Nach Versuchen von E. Heyn. Fig. 7 a. Schliff Beanspruchung. aus einem Eisendraht vor der Nach Versuchen von E. Heyn. Fig 7il. Derselbe Draht nach x/a ständigem Glühen bei etwa 960° C. Nach Versuchen von E. Heyn. 1020 Festigkeit Temperaturerhöhung erlangte größere Be- wegungsfreiheit wieder gelöst werden. 4. Einfluß der chemischen Zusammen- setzung. Metastabile Gleichgewichte. In der Technik kommen als Konstruktions- materialien hauptsächlich nicht reine Metalle, sondern Legierungen zur Verwendung. Es ist sehr charakteristisch, daß die Festigkeits- eigenschaften durch kleine Beimengungen sehr wesentlich geändert werden können. Die verschiedenen Flußeisen- und Stahlarten sind Eisen-Kohlenstofflegierungen, bei denen der Kohlenstoffgehalt zumeist unter 1,5% bleibt. Beim sogenannten „Sonderstahl" werden fremde Stoffe ebenfalls in verhält- nismäßig geringen Mengen zugemengt, um besonderen Anforderungen an Festigkeit und Plastizität zu genügen. So läßt sich bei reinen Eisen-Kohlenstofflegierungen hohe Streckgrenze und große Dehnbarkeit nicht vereinigen; die sogenannten „harten" Stahl- sorten, die hohe Streckgrenze haben, sind mehr oder weniger spröde. Durch Zu- mischung von 3 bis 3,5% Nickel erhält man aber ein Material, das beide Eigen- schaften in hohem Maße besitzt. Nickel- stahl bildet heutzutage ein bereits weit verbreitetes Konstruktionsmaterial und wird insbesondere im Schiffbau zur Herstellung von Panzerplatten, neuerdings auch im Brückenbau verwendet. Eisen-Kohlenstoff- Mangan-Legierungen liefern bei geringem Mangangehalt ein sprödes Material; beträgt die Menge des Mangans etwa 4,5 bis 5%, so kann es zu Pulver zerschlagen werden; bei weiterer Steigerung des Mangangehalts wird die Legierung insbesondere nach rascher Kühlung — wieder plastisch und verbindet mit der Plastizität eine große „Härte", d. h. hohe Widerstandsfähigkeit gegen Eindringen fremder Körper. Der wegen dieser Eigenschaft als Material für Panzerplatten geeignete Mang an stahl ent- hält zumeist etwa 12% Mangan und 1,5% Kohlenstoff; er ist schwer zu bearbeiten, kann nur geschliffen werden und hat außer- dem eine verhältnismäßig niedrige Elastizi- tätsgrenze. Eine hohe Elastizitätsgrenze kann beim Stahl durch Beigabe von Chrom erreicht weiden; Chrom wird auch oft zum Nickelstahl beigemengt. 3 bis 3,5% Ni, 0,25% C, 1,5% Cr liefern z. B. ein ganz vorzügliches Material, mit außerordentlich hoher Elatizitätsgrenze (etwa 10000 kg/cm2) und großer Elastizität, das sich hauptsäch- lich für wechselnde Belastung sehr gut eignet. Man kann die Festigkeitseigenschaften der Legierungen bei Beibehaltung der chemi- schen Zusammensetzung auch durch geeignete Wärmebehandlung modifizieren. Nach den Grundsätzen der Thermodynamik ent- spricht jeder Temperatur und jedem äußeren Druck ein ganz bestimmter thermischer Gleichgewichtszustand, welcher „absolut stabil" ist. Dieser Zustand ist ausgezeichnet durch den kleinsten möglichen Wert des „thermodynamischen Potentials", so wie bei rein mechanischen Systemen das stabilste Gleichgewicht durch den kleinsten Wert der potentiellen Energie bestimmt ist (vgl. den Artikel „Gleichgewicht"). Außer dem stabilsten Gleichgewicht können aber auch sogenannte metastabile Gleichgewichts- zustände bestehen. In diesen Zuständen hat das System zwar ein kleineres thermo- dynamisches Potential, als in allen benach- barten Zuständen, aber doch ein größeres, als im stabilsten Zustande. Der metastabile Zustand ist dementsprechend gegen kleine Störungen stabil, kann jedoch im allgemeinen durch stärkere Störung in den absolut stabilen übergeführt werden. In meta- stabilem Zustand ist z. B. eine Flüssigkeit, die oberhalb ihres Siedepunktes durch Vermeidung aller Störungen in flüssigem Aggregatzustand erhalten wird. Bei diesem Beispiel genügt eine mäßige Störung, den absolut stabilen Zustand (Verdampfung) her- beizuführen; im festen Aggregatzustande und hauptsächlich bei niedrigen Temperatu- ren ist jedoch zwischen stabilen und meta- stabilen Zuständen praktisch kaum ein Unterschied an Beständigkeit. Diese Tat- sache findet in der metallurgischen Technik zahlreiche Anwendungen. Das wichtigste Beispiel eines metastabilen Gleichgewichts liefert das seit uralter Zeit bekannte Härtungsverfahren des Stahls durch „Abschrecken", d. h. Erhitzung und rasche Abkühlung. Bei Eisen-Kohlenstofflegierun- gen etwa unter 2 % Kohlenstoffgehalt kommen zwei chemisch verschiedene Komponenten in Betracht: Eisen und eine Kohlenstoff- eisenverbindung von der Zusammensetzung Fe3C, welche Eisenkarbid oder schlechthin Karbid genannt wird. Das reine Eisen selbst kommt in drei verschiedenen allotropen Modifikationen vor, und zwar bei Tempera- turen oberhalb 900° als y-Eisen, zwischen 900 und 780° als ß- und unterhalb 780° als a-Eisen. Die beiden ersten Modifikationen sind hart, y-Eisen außerdem sehr spröde, a-Eisen weich und plastisch. Das y-Eisen bildet oberhalb der Umwandlungstemperatur eine feste Lösung mit Karbid, welche Mar- tensit genannt wird. Bei langsamer Ab- kühlung wandelt sich das y-Eisen in ß- bezw. a-Eisen um; die Umwandlungstempe- ratur in der Lösung variiert mit dem Kohlen- stoffgehalt und zwar ist ein Minimum der Um- wandlungstemperatur (eutektischer Punkt) bei etwa 0,85% Kohlenstoffgehalt vorhanden; dieses Minimum liegt bei 690°. Ist die Legie- rung reicher an Kohlenstoff, so besteht sie Festigkeit 1021 nach der Umwandlung aus dem Eutektikum (Mischkristalle aus a-Eisen und Karbid, Perlit genannt) und aus dem überschüssigen Karbid, welches als Zementit bezeichnet wird; ist sie kohlenstoffarm, so scheiden sich außer dem Eutektikum Eisenkristalle (Ferrit) aus. Dies sind die absolut stabilen Zustände; durch rasche Abkühlung kann man jedoch die Umwandlung unterschlagen und die feste Lösung aus Karbid und y-Eisen in metastabilem Zustand beibehalten. Das Material wird dann hart und spröde. Der metastabile Zustand kann durch Ausglühen und langsames Abkühlen in den stabilen übergeführt werden. Man kann aber auch einen beliebigen zwischenliegenden Härte- grad erreichen durch das sogenannte „An- lassen"', indem man mit der Erhitzung unterhalb der Umwandlungstemperatur bleibt. Dies beruht auf dem Umstand, daß in festem Aggregatzustande die Umwand- lung mit einer endlichen Geschwindigkeit stattfindet, die bei niedrigen Temperaturen praktisch Null ist und die mit der Temperatur zunimmt. Durch vorsichtige Erhitzung und Abkühlung kann man daher stets eine be- stimmte Menge Martensit in Perlit und Zementit bezw. Perlit und Eisen (Ferrit) umwandeln. Ein anderes Beispiel zum metastabilen Gleichgewicht liefert das durch rasche Ab- kühlung gewonnene, sogenannte weiße Guß- eisen (Hartguß), während das gewöhnliche graue Gußeisen absolut stabil ist. Das weiße Zinn mit metallischem Glanz ist unterhalb 20° ebenfalls metastabil; die stabile Modifikation ist das sogenannte graue Zinn, welches fast ganz pulverartig zerfällt (Zinnfäulnis). Die metastabile Mo- difikation ist aber so beständig, daß sie nur bei sehr niedrigen Temperaturen ohne be- sonders starken Anreiz (z. B. Stoß) in die stabile übergeht. 5. Festigkeit gegen einfache Bean- spruchungsarten. Als „einfache Bean- spruchung" gelten Zug, Druck, Biegung und Torsion, insbesondere werden aber in der Praxis die Stoffe auf Zug- und Druckfestig- keit geprüft. Es wird außerdem oft der Scherversuch als einfache Beanspruchung betrachtet; in der Wirklichkeit handelt es sich bei der Abscherung, sei es durch zwei Kanten oder durch Lochung ausgeführt, um einen sehr komplizierten Spannungs j zustand, den man kaum genau verfolgen kann. Diese Art der Beanspruchung hat also mehr für die Technologie Bedeutung, indem sie geeignet ist, über den nötigen Kraftaufwand beim Abscheren und Lochen Aufschluß zu geben. Große Wichtigkeit besitzt dagegen auch vom theoretischen Standpunkte aus der Härte versuch, d. h. die Prüfung des möglichst tragung ein Widerstandes gegen Eindringen fremder Körper (Eindringungsfestigkeit). Dieser Gegenstand soll jedoch in dem besonderen Artikel „Härte" 'behandelt werden. Die Vorrichtungen zur Ausführung von Festigkeitsversuchen werden als Festig- keitsmaschinen oder Material- prüfungsmaschinen bezeichnet. Die Kraft- übertragung geschiehte entweder durch mechanische Uebersetzung oder durch den Kolben einer hydraulischen Pumpe. Die Kraftmessung beruht zumeist auf dem Prinzip der Wage und zwar kommen die Hebelwage mit Laufgewicht oder die Nei- gungswage, bei kleineren Maschinen auch die Federwage in Betracht, Manchmal geschieht die Kraftmessung unmittelbar durch Messung des Druckes, der auf den Kolben der hydrau- lischen Pumpe wirkt. Dieses Meßver- fahren ist jedoch mit Ungenauigkeit behaftet wegen der Reibung, die an dem Kolben bezw. an den Liderungsflächen wirkt und nie genau bekannt ist. Man schaltet also zumeist eine reibungslose hydraulische Ueber- als solche dient z. B. die Meßdose mit elastischer Membran, bei der zwischen dem Pumpenkolben und Probekörper ein völlig abgeschlossener Flüssigkeitsraum ein- geschaltet wird; der Druck, der in diesem Kaum herrscht, liefert die Größe der Kraft. Als Abschluß für die Flüssigkeit dient eine elastische Membran, die so dünn ist, daß ihr elastischer Widerstand vernachlässigt werden kann. Bei anderen Maschinen wird der Druck durch hydraulische Uebersetzung auf eine Quecksilbersäule übertragen und durch diese unmittelbar gemessen. Ueber die Messung der Deformation vgl. den Artikel „Elastizität". Außer den normalen Festigkeitsmaschinen sind besondere Vorrichtungen konstruiert worden für sogenannte Dauerversuche und Stoß versuche (Schlagproben). Die Dauer- versuche haben den Zweck, die Widerstands- fähigkeit des Materials gegen wiederholte Belastung zu prüfen. Zumeist wird ein Be- lastungswechsel zwischen festen Grenzen vor- genommen und zwar so oft, bis der Probestab bricht. Man kann alle Beanspruchungsarten als Dauerversuche ausführen; man mißt da- bei die Belastungsgrenzen und zählt die An- zahl der zum Bruch notwendigen Wieder- holungen. Bei Stoßversuchen kommen Zug, Druck, besonders aber Biegung in Betracht; als Belastung dient entweder ein frei fallendes Gewicht oder ein Pendel. Gemessen wird die zum Bruch notwendige Arbeitsleistung. Bei Stoßversuchen mit wiederholter Be- lastung zählt man die Anzahl der Stöße, bis der Probekörper bricht, 5a) Zugfestigkeit. Als Zugfestigkeit des Materials bezeichnet man im allgemeinen die Spannung, die beim Zugversuch der 1022 Festigkeit Höchstlast entspricht. Diese Spannung wird zumeist auf den ursprünglichen Querschnitt bezogen; der so gerechnete Wert ist also kleiner als die tatsächlich herrschende Span- nung, da der Querschnitt sich während des Versuchs verringert. Außer der Zugfestigkeit pflegt man als Maß der Dehnbarkeit die sogenannte Bruchdehnung, d. h. die vor dem Bruch erreichte größte Verlängerung einer gewissen Meßstrecke anzugeben. Diese Bruchdehnung ist jedoch eine ziemlich willkürlich gewählte Größe, da bei zähen Stoffen die Deformation bis zum Bruch keineswegs gleichförmig über die Länge des Stabes sich verteilt, sondern nach Ueber- schreitung der Höchstlast die schwächste Stelle eine viel größere lokale Dehnung er- leidet. Diese Erscheinung wird wegen der mit der starken lokalen Dehnung ver- bundenen Verringerung des Querschnitts als „Einschnürung" (Kontraktion) bezeichnet. Die Einschnürung kann folgendermaßen er- klärt werden. Da das Volumen bei der bleibenden Formänderung nahezu konstant bleibt, so entspricht einer Dehnung e eine Verminderung des Querschnittes ungefähr im Verhältnis f :f0 = 1: 1 + e (f0 der ursprüngliche Querschnitt). Die Zugkraft P ist gleich dem Produkt Spannung x Querschnitt, d. h. P = fn:r- — ; diese Größe nimmt offenbar nur solange zu, bis die Spannung o rascher wächst, als der Querschnitt abnimmt; trifft dies nicht mehr zu, so muß die Gesamtbelast- ung bei wachsender Dehnung und wach- sender Spannung abnehmen. Wenn aber ein Querschnitt etwas schwächer ist, als die ande- ren, so erreicht das Produkt Spannung x Querschnitt in diesem früher sein Maximum als in den anderen Querschnitten, und von dem Moment an wird die Zugkraft offenbar abnehmen; eine unmittelbare Nachbarschaft des schwächsten Querschnittes erleidet also eine wachsende Dehnung unter abnehmender Belastung, während widerstandsfähigere Teile des Stabes sich gar nicht weiter dehnen, da sie gar nicht über das Maximum des Kraft- bedarfs hinübergelangt sind, und so bei Ab- nahme der Last entlastet werden. Die Höchst- last gilt also im allgemeinen als eine Grenze der gleichförmigen Dehnung. Die endgültige Bruchdehnung besteht aus der gleichförmigen Dehnung der gesamten Meßstrecke und aus der viel beträchtlicheren Dehnung der ein- geschnürten Stelle, so daß die wirkliche Dehn- barkeit des Stoffes bedeutend größer ist, als man aus der Bruchdehnuno- schließen würde. Ebenso kann aber die effektive Zugspannung im Moment des Bruches be- deutend größer sein, als die Zugfestigkeit, die der Höchstlast entspricht, da die wahre Zugfestigkeit durch das Verhältnis der Kraft, die im Moment des Bruches herrscht, zu dem eingeschnürten Querschnitt gegeben wird. Sie ist jedoch in dieser Weise schwer zu ermit- teln, da die Kraft im Moment des Bruches nicht mit der nötigen Genauigkeit bestimmt werden kann. Man hat auch vorgeschlagen, die wahre Zugfestigkeit in der Weise festzu- stellen, daß man die Zugstäbe mit Ein- kerbung versieht, da bei eingekerbten Stäben die Einschnürung gehindert wird. Da in diesem Falle der Bruch fast ohne Quer- schnittsverminderung erfolgt, würde die Bruchlast dividiert durch den kleinsten Querschnitt unmittelbar die wahre Zug- festigkeitliefern. In der Tat zeigen eingekerbte Stäbe eine größere Zugfestigkeit als zylin- drische; gleichzeitig zeigt sich aber, daß die Werte zu sehr schwanken, da die Festig- keit in hohem Maße von der Art der Ein- kerbung abhängt. Außer Zugfestigkeit und Bruchdehnung gibt man in der Praxis zumeist noch die Quer- schnittsverminderung, d. h. das Verhältnis | des eingeschnürten und des ursprünglichen I Querschnittes an. Diese Querschnittsver- minderung kann auch gewissermaßen als Maß der Dehnbarkeit betrachtet werden. Bei sehr zähen Stoffen lassen sich die Zugstäbe fast völlig zu Spitzen ausziehen, i bei sehr spröden Stoffen erhält man dagegen , eine zur Zugkraft senkrechte Bruchfläche und keine merkliche Aenderung des Querschnit- tes. Man nennt die letztere Art des Bruches, ' bei der eine glatte harte Bruchfläche senkrecht zur wirkenden größten Zug- spannung entsteht, „Tren- nungsbruch". Zwischen den erwähnten Grenz- fäüen gibt es verschiedene Uebergangsformen.Bei Fluß- eisen und Stahl erhält man z. B. im Innern des Stabes eine ebene Trennungsfläche, die jedoch an dem einen Bruchstück durch einen mehr oder weniger ausgebildeten Trichter, an dem anderen durch einen entsprechenden Kegel begrenzt wird (vgl. 8). Ueber den Einfluß der Temperatur auf die Zug- festigkeit und Bruch- dehnung sind besonders bei pj~ g Ejsenstab Metallen und Legierungen nach Zugversuch, viele Versuche ausgeführt Nach C. Bach, worden ; praktisch ist dieser Punkt sehr wichtig für alle Kon- struktionsteile, die im Betriebe hohen Temperaturen ausgesetzt (Dampfleitungs- rohre, Kesselbleche). Bisher ist jedoch für Fig. Festigkeit 1023 die Temperaturabhängigkeit keine allgemein gültige Gesetzmäßigkeit gefunden worden. Bei sehr hoher Temperatur findet man bei vielen Metallen eine sehr erhebliche Ab- nahme der Streckgrenze; dies ermöglicht die Bearbeitung im warmen (glühenden) Zu- stande. Während aber z. B. bei Bronze mit wachsender Temperatur die Zugfestig- keit und die Bruchdehnung gleichzeitig ab- nehmen, so daß Bronze bei etwa 400° voll- kommen spröde wird, nimmt bei Flußeisen die Zugfestigkeit erst zu und erst von etwa 250° an wieder ab; die Zunahme der Zug- festigkeit ist dabei mit Abnahme der Plastizität, die Abnahme der Zugfestigkeit mit Zunahme der Dehnbarkeit verbunden. Gußeisen erleidet bei wachsender Temperatur sehr erhebliche Verminderung an Zugfestig- keit. Einige Metalle wurden auch bei niedri- ger Temperatur untersucht. So fand De war, daß Eisen bei der Temperatur der siedenden Luft eine um 100%, Silber eine um 26% größere Festigkeit zeigt als bei Zimmer- temperatur. Quecksilber hat ungefähr dieselbe Festigkeit wie Blei bei gewöhnlicher Temperatur. 5b) Druck- und Knickfestigkeit. Plastische und zähe Stoffe verhalten sich und Druck im allgemeinen fast Weise, indem die Streckgrenze und beim Druckversuch nahezu Während aber beim Zugversuch der Querschnitt abnimmt, nimmt er beim Druckversuch zu und zwar oft in dem Maße, daß man überhaupt zu keinem Bruch ge- langt, sondern das Material nur mehr und mehr gestaucht wird. Das Stauchen von kleinen Zylindern aus reinem, sehr weichem Kupfer wird zuweilen zur Kraftmessung benutzt (z. B. zur Kontrolle von Festig- keitsmaschinen, zur Messung des Gasdruckes im Geschützrohre), nachdem man einmal die Beziehung zwischen Last und Zusammen- drückung genau bestimmt hat. Spröde Stoffe zeigen beim Druckversuch zu- meist einen sogenannten „Verschiebungs- bruch", indem die beiden Bruch- stücke an einer zur Kraftrichtung schiefen Fläche abgeschoben werden (Fig. 9). Die Bruchfläche des Verschiebungsbruches unter- scheidet sich schon äußerlich von einer Trennungsfläche dadurch, daß sie zumeist mit feinem Mehl bedeckt ist, während die Trennungsfläche hart ist. Sehr charakteri- stisch ist für den Druckversuch die Bildung von Druckkegeln (Fig. 10) (Druckpyramiden bei Würfeln und Prismen) anschließend an die Druckplatten, die die Kraftüber- tragung übermitteln. Der Bruch geht in diesen Fällen von den Kanten des Probe- körpers aus, die mit der Druckplatte in Be- gegen in beim gleich Zug gleicher Zug- ist. rührung stehen. Der Bruch entsteht dadurch, daß das Material an der Kegelfläche abge- schoben wird. Durch das Eindringen des Druckkegels entstehen allerdings Trennungs- flächen, die jedoch unr sekundärer Natur sind. Becht störend ist bei Druckversuchen an spröden Körpern die Reibung an den Druck- platten, wodurch die Verschiebung an den Druckplatten gehindert wird. Dies bewirkt erfahrungsge- mäß eine schein- bare Erhöhung derDruckfestig- keit. Versuche, die Reibung durch weiche Zwischenlagen auszuschalten oder durch Schmieren zu vermindern, haben zu keinen befriedigenden Resultaten ge- führt, da weiche Zwischenlagen oder Schmier- mittel sehr leicht in die Poren des Druckkörpers p]c eindringen, und eine Sprengung hervorrufen, wodurch die Druckfestigkeit erniedrigt wird. Durch den Einfluß der Reibung wird die scheinbare Druckfestigkeit eine Funktion vom Längenverhältnis des Probestabes. Die hierauf bezüglichen Versuche zeigen, daß die Druckfestigkeit z. B. bei zylindrischen Probe- stäben mit wachsendem Verhältnis -L (1 die Länge, d der Durchmesser des Probestabes) nur bis etwa , = 3 bis 4 erlieblich abnimmt, d Von dieser Grenze an bleibt die Höchstlast ziemlich konstant. Praktisch wird es also immer genügen, wenn man Stäbe von diesem Längenverhältnis wäldt. Eine weitere Ver- größerung der Länge ist mit der damit ver- bundenen Knickgefahr bedenklich. Die Druckversuche in der Praxis werden zumeist an Würfeln vorgenommen, sie liefern also einen zu großen Wert verglichen mit der wahren 1 Druckfestigkeit. Die Orientierung der Druckflächen zur Kraftrichtung ändert sich ebenfalls etwas mit der Länge des Probekörpers ; man kann aber doch annehmen, daß der Winkel, den man bei Druckversuchen an nicht allzukurzer Marmorzylinder nach Druckversuch. 1 1 IL' I Festigkeit Zylindern gewinnt, dem Material charak- teristisch ist. Wie dieser Winkel aus den allgemeinen Festigkeitstheorien abgeleitet wird, soll weiter unten dargelegt werden. Coulomb war der erste, der den Druck beim Druckversuch an spröden Stoffen als V HP l i ' ■, -''4M Fig. 10. Sandsteinkörper nach mit Kegelbildung. Druckversuch Verschiebungsbruch deutete. St. Venant war dagegen der Ansicht, daß für die Druck- festigkeit die Querdehnung maßgebend ist, d. h. der Bruch erfolgt, falls die Dehnung in der Querrichtung ein bestimmtes Maß er- reicht. Da er beim Zugversuch auch die Dehnung und nicht die Spannung — als maßgebend für den Bruch erachtete, so wäre nach seiner Annahme das Verhältnis der Zug- und der Druckfestigkeit gleich der Poisson sehen Konstante (Verhältnis zwi- schen Quer- und Längsdehnung). Diese Beziehung trifft im allgemeinen keineswegs zu; auch widerspricht der Charakter des Druckvorganges dieser Auffassung. Bei Druckbeanspruchung langer Stäbe kann die Zerstörung, lange bevor die Druck- festigkeit erreicht ist, durch Ausknickung erfolgen. Diese Erscheinung hängt damit zusammen, daß bei gewisser Belastung das Gleichgewicht des gedrückten Stabes labil wird (vgl. den Artikel „Elastizität"). Unter Zugrundelegung des Hookeschen Gesetzes für elastische Deformation kann man die Labilitätsgrenze leicht berechnen und man erhält bei einem Stabe von der Länge 1, der an beiden Enden festgehalten, aber drehbar- gelagert ist, für die kritische Belastung die sogenannte Euler sehe Formel: P = jt FE l2 (I kleinstes Trägheitsmoment des Quer- schnittes, E Elastizitätsmodul). Die der kritischen Belastung entsprechende Spannung ak = -p, wird als „Knickfestigkeit" be- zeichnet. Setzt man I == Fi2, wobei i der Trägheits- halbmesser genannt wird, so beträgt P 2 E Die Knickfestigkeit hängt also bei dem- selben Material nur von dem Verhältnis I ab, das zuweilen als „Schlankheit" bezeich- net wird. Diese Gleichung kann naturgemäß nur so lange stichhaltig bleiben, bis die Labilität bei Belastungen eintritt, die inner- halb der Elastizitätsgrenze fallen, da ja b^i der Ableitung elastisches Verhalten der des Materials Gleichung rein voraus- gesetzt wurde. Diese Voraussetzung wird namentlich bei sehr schlanken Stäben! j groß I in der Tat zutreffen. Die allgemeine Regel, daß die Knickfestigkeit nur von dem Schlankheitsverhältnis abhängt, bleibt aber auch für weniger schlanke Stäbe, bei denen die Knickung erst jenseits der Elastizitäts- grenze erfolgt, annähernd richtig. Mit Zu- grundelegung des empirisch festgestellten Formänderungsgesetzes kann man die Labi- litätsgrenze auch für die Knickung jenseits der Elastizitätsgrenze theoretisch berechnen. In der Praxis werden jedoch zumeist em- pirische Formeln vorgezogen; so wird z. B. für Flußeisen die Knickfestigkeit (in kg/cm2) als Funktion des Schlankheitsverhältnisses angenähert durch die einfache Beziehung nach Versuchen von Tetmajer ok= 3100 — 11. 1 gegeben. Die Labilitätsgrenze ist eine obere Grenze für die Tragfähigkeit auf Druck be- anspruchter Konstruktionen (z. B. bei Druck- gurten von eisernen Brücken, bei Säulen usw.), da bei der kritischen Belastung jede kleine Abweichung von der geraden Gestalt oder jede kleine Exzentrizität der Kraft- wirkung genügt, sehr beträchtliche Durch- biegungen hervorzurufen. Dabei muß es berücksichtigt werden, daß ursprünglich vorhandene Abweichungen von der geraden Gestalt oder eine Exzentrizität der Kraft- wirkung die Tragfähigkeit noch mehr ver- ringern können. Festigkeit 1025 5c) Biegungsfestigkeit. Beim Bie- 1 gungsversuch die beim Zugversuche auf- gungsversuch treten im Material vornehmlich j tretende lokale Einschnürung ausbleibt, Zug- und Druckspannungen auf, so daß | so liefert der Biegungsversuch richtigere man erwarten kann, daß das Verhalten des | Vergleichswerte für die Dehnbarkeit des Materials gegen Biegung durch das Verhalten i Materials als der Zugversuch („Kaltbiege- beim Zug- und beim Druckversuch bestimmt versuch"). Von gutem Flußeisen und Stahl ist. Innerhalb des Gültigkeitsbereiches des Hookeschen Gesetzes ist die Spannung pro- portional dem Abstand z von der neutralen Achse (vgl. den Artikel „Elastizität") und beträgt ~ E R ^. Fig. 11. (R Krümmungshalbmesser, E Elastizitäts- modul). Führt man die Beziehung zwischen Bie- l^^^^rll^iSllT1^ (J Trägheits" ! Krümmungshalknes^ gebogen werden kann. Bei weniger zähen wird gefordert, daß ein gerader Stab um eine scharfe Ecke mit möglichst kleinem moment des Querschnitts) JE M,, = R ein, so wird a = M,,z und die größte Spannung Mbe ömax — t wobei e den Abstand der äußersten Faser von der neutralen Achse bezeichnet. Man bezeichnet die Größe W = — als Widerstands- e moment des Querschnittes. Die größte Span- Mi, nung ist alsdann gleich dem Verhältnis - ' ; das Widerstandsmoment W hängt dabei nur von dem Querschnitt ab. Die Biegungs- Stoffen kann man als Vergleichswert für die Dehnbarkeit im allgemeinen den Winkel ansehen, den die beiden Schenkel des ge- bogenen Stabes — gleiche Abmessungen vor- ausgesetzt — ■ im Moment der ersten Riß- bildung einschließen. Bei spröden Stoffen ist weniger die Durchbiegung als die Bruchlast von Inter- esse. Der Bruch erfolgt im allgemeinen in den gezogenen Fasern, da die Zugfestigkeit zumeist bedeutend kleiner ist als die Druck- festigkeit (bei Holz tritt die Zerstörung zuerst in den gedrückten Fasern ein). Würde das Hookesche Gesetz bis zu dem Bruch seine Gültigkeit bewahren, so müßte im Moment des Bruches die mittels der Mb Formel omax = W ermittelte Spannung mit der Zugfestigkeit des Materials überein- i stimmen. Man kann aber leicht einsehen, elastizitatsgrenze wird im allgemeinen er- daß durch die Abweichungen vom Hooke- reicht, falls der Wert—'- die Zug- bezw. | sclJen Gesetz die zu der neutralen Achse W i näher liegenden Fasern verhältnismäßig Druckelastizitätsgrenze überschreitet. Jen- stärker herangezogen werden, als innerhalb seits der Elastizitätsgrenze wird die Span- der Elastizitätsgrenze, so daß bei gleichem nungsvertcilung von der oben angegebenen Biegungsmoment die größte Spannung in Spannungsverteilung natürlich abweichen. Wirklichkeit kleiner ausfällt als der Wert, Verhält sich der Stoff — • wie dies bei plasti- 1 den die Formel liefert. Infolgedessen ist der sehen und zähen Materialien durchaus der nach der Biegungsformel gerechnete schein- Fall ist — in gleicher Weise gegen Zug und bare Wert der Biegungsfestigkeit bei den Druck, so wird die Spannungsverteilung in i meisten spröden Stoffen erheblich größer als der in Figur 11 angedeuteten Weise ge- i die direkt ermittelte Zugfestigkeit (bei Guß- ändert. Verhält sich der Stoff verschieden eisen bis zweimal so groß) und außerdem beim Zug- und beim Druckversuch, so wird hängt sie von der Querschnittsform ab. außerdem die neutrale Achse gegen die Wird die größte Spannung mit Berücksich- Schwerpunktsachse verschoben. Die Ab- tigung des mittels eines Zug- und eines weichung vom Hookeschen Gesetze hat I Druckversuches empirisch festgestellten allenfalls zur Folge, daß denselben Deh- j Formänderungsgesetzes ermittelt, so stimmt nungen kleinere Spannungen und somit diese wahre Biegungsfestigkeit mit der derselben Krümmung kleinere Biegungs- Zugfestigkeit nahezu überein. momente entsprechen. Stäbe aus zähen Stoffen lassen sich ohne Bruch sehr stark verbiegen. Da beim Bie- 1 zäher und spröder Stoffe ebenfalls sehr 65 Sd) Torsionsfestigkeit. Beim Tor- sionsversuch tritt das verschiedene Verhalten Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 102G Festigkeit stark hervor. Bei zähen Stoffen ist zunächst die Elastizitätsgrenze von Interesse, d. h. das Drehmoment, bei dem bleibende Aenderungen auftreten. Die dieser Belastung entsprechende größte Schubspannung wird als Torsions- elastizitätsgrenze bezeichnet. Zugelastizitäts- grenze und Torsionselastizitätsgrenze verhalten sich bei plastischen und zähen Stoffen etwa wie 2:1. Die Anzahl der Ver- drehungen, die bei Stäben mit gleichem Querschnitt auf die gleiche Länge fallen, wenn die Verdrehung bis zum Bruche fort- gesetzt wird, kann ebenfalls als Vergleichs- wert für die Dehnbarkeit dienen. Der Bruch erfolgt bei zähen Stoffen senkrecht zur Stabsachse, d. h. in der Ebene, in der die Schubspannungen wirken; man hat also einen typischen Verschiebungsbruch vor sich. Bei spröden Stoffen entsteht dagegen ein Trennungsbruch; da die größte Zugspannung unter 45° zur Achsenrichtung geneigt ist, so ist die dazu senkrechte Trennungsfläche ebenfalls unter 45° zur Achse geneigt (vgl. Fig. 12). Nach erfolgter Rißbildung werden Querschnitts, Jp polares Trägheitsmoment), der Fig. 12. Torsionsversuch an einem Gußeisenrohr. Nach C. Bach. die beiden Bruchstücke in axialer Richtung voneinander abgeschoben, sodaß eine sekun- däre Verschiebungsfläche zustande kommt. Als Torsionsfestigkeit bezeichnet man schlechthin die größte Schubspannung, die nach dem Hook eschen Gesetze der Bruch- last entsprechen würde. Für kreisförmige Querschnitte gilt dann die Formel T Mtr. t Hiax — t Jp (Mt Torsionsmoment, r Halbmesser des Eine Berechnung der größten Spannung unter Berücksichtigung der Abweichungen vom Hook eschen Gesetze fehlt bisher. C. Bach hat an Gußeisenstäben das Ver- hältnis der auf Grund der elastischen Theorie gerechneten Schubspannung und der Zug- festigkeit ermittelt und die Abhängigkeit dieses Verhältnisses von der Querschnitts- form festgestellt. 6. Festigkeit gegen zusammengesetzte Beanspruchung. Allgemeine Festigkeits- theorien. Eine der Hauptaufgaben der Festigkeitslehre, deren Lösung erst die allgemeinste Grundlage der Festigkeits- berechnungen liefern würde, besteht in der Erforschung der Abhängigkeit der Elastizitätsgrenze und des Bruchs von der Art des Spannungszustandes. Diese Frage tritt auch schon bei den bisher betrach- teten einfachen Fällen hervor, sobald wir nach der Beziehung zwischen Zug-, Druck- und Torsionsfestigkeit fragen; notwendiger- weise muß sie aber in den Vordergrund treten, sobald wir zusammengesetzte Bean- spruchung, d. h. gleichzeitige Anwendung der bisher betrachteten Beanspruchungsarten in Betracht ziehen wollen. Fälle zusammen- gesetzter Beanspruchung (z. B. Torsion und Biegung) kommen in der Praxis sehr oft vor (z. B. bei verschiedenen Maschinen- teilen, Wellen, Achsen usw.). Aus Mangel experimenteller Grundlagen sind im Laufe der Zeit verschiedene Hypothesen aufgestellt worden. In der technischen Praxis ist zu- meist die Ansicht verbreitet, daß als Maß der Beanspruchung entweder die im Körper auftretende größte Spannung oder die größte Dehnung anzusprechen ist. Die erste An- nahme haben namentlich Lame und Clapey- ron, ferner Rankine ihren Festigkeits- berechnungen zugrunde gelegt, während die Annahme der größten Dehnung von Po ncelet und St. Venant herrührt. Nach den Versuchen über zusammengesetzte Bean- spruchung trifft jedoch keine dieser An- nahmen allgemein zu. Die Frage ist aller- dings bisher nur für zähe Stoffe einwandsfrei erledigt, während bei spröden Stoffen einst- weilen Zweifel darüber bestehen können, wodurch der Bruch bedingt ist. Bei plastischen und zähen Stoffen ist hauptsächlich die Abhängigkeit der Streckgrenze vom Spannungszustand von Interesse, da die Tragfähigkeit, wenn auch der Bruch erst bei größeren Belastungen eintritt, durch die mit beträchtlichen Form- änderungen verbundene Streckgrenze be- dingt wird. In neuester Zeit sind zahlreiche Versuche an Stäben aus Kupfer. Flußeisen und weichem Stahl angestellt worden. Die Stäbe wurden in der verschiedensten Weise ;keit 1027 kombinierten Belastungsarten unterworfen ; so wurde z. B. Zug-, Druck- und Bieguno; mit Torsion kombiniert, es wurden ferner Rohre gleichzeitig einem inneren Drucke und Zug bezw. Torsion unterworfen. Diese Versuche von denen hauptsächlich die sehr ausgedehn- ten Versuchsreihen von Guest zu erwähnen sind, führten zu dem Ergebnis, daß der Streckgrenze weder ein konstanter Wert der größten Spannung noch ein solcher der größten Dehnung entspricht; es ist vielmehr die größte Schubspannung, die in allen Fällen nahezu konstant ist. Ein Spannungszustand ist im allgemeinen durch die Werte der drei Hauptspannungen ol7 o2, o3 bestimmt. Sind diese drei Hauptspannungen nach der Größe geordnet, so ist die größte Schub- 3, d. h. gleich der Spannung gleich halben Differenz der extremen Haupt- spannungen; sie wirkt in einer Ebene, die durch die Richtungslinie der mittleren Haupt- spannung durchgeht und mit den beiden anderen Hauptspannungen einen Winkel von 45° einschließt. Beim einfachen Zug- und Druckversuch ist die größte Schubspannung gleich der Hälfte der größten Zng- bezw. Druckspannung, woraus folgt, daß die Zug- und die Druckelastizitätsgrenze gleich sind und sich beide zu der Torsionselastizitäts- grenze wie 2:1 verhalten. Nach der An- nahme der größten Hauptspannung würden sieb Zug- und Torsionselastizitätsgrenze wie 1:1 nach der Annahme der größten Dehnung wie 1:1 — v (r die Poissonsche Zahl) ver- halten. (Für Eisen etwa 1:0.7.) Die Ver- suche bestätigten das Verhältnis 2:1. Die Annahme der größten Schubspan- nung oder die damit gleichbedeutende An- nahme einer konstanten Differenz der extre- men Hauptspannungen („maximum stress- difference theory"), steht auch mit älteren Versuchen von Tresca über Ausfluß plasti- scher Stoffe durch Oeffnungen in Einklang. Tresca kam zu dem Resultat, daß das plastische Fließen einsetzt, sobald die Schub- spannung einen bestimmten festen Wert erreicht hat. Bei spröden Körpern muß zunächst der Fall des Verschiebungsbruches und des Trennungsbruches auseinandergehalten wer- den. Für den Verschiebungsbruch hat man früher nach Coulomb angenommen, daß ebenfalls die größte Schubspannung maß- gebend ist. Man nahm an, daß die Verschie- bung durch die Schubspannung gefördert und durch eine Art innere Reibung gehin- dert wird; der Bruch sollte erfolgen, falls die Schubspannung die Reibung überwindet. Nach dieser Vorstellung müßte die Bruch- fläche bei Verschiebungsbruch stets unter 45° zur Druckrichtung stehen. Dies trifft bei den spröden Körpern fast nie zu. Navier hat diese Auffassung durch die An- nahme modifiziert, daß die innere Reibung selbst durch den Druck auf die Verschiebungs- fläche, d. h. durch die Normalspannung, die auf die Verschiebungsfläche wirkt, vergrößert wird. Nimmt man an, daß die Reibung aus einem konstanten Teile x0 und aus einem der jeweiligen Normalspannung o proportio- nalen Betrage io besteht (f ist der „Reibungs- koeffizient"), so wird eine Verschiebung erfolgen, sobald t > r0 + fö. Wir wollen diese Betrachtung auf den Fall des einfachen Druckversuches anwenden. Es sei ein Stab vom Querschnitt F durch eine Kraft Q auf Druck beansprucht (vgl. Fig. 13) und wir wollen untersuchen, unter welcher Bedingung eine Verschiebung in irgend- einer Schnittebene AB erfolgen kann ; der Neigungswinkel zwischen der Ebene AB und dem senkrechten Querschnitt soll cp betragen. In der Schnittebene entsteht eine Normal- spannung und eine Schubspannung. Die resultierende der beiden muß die Kraft Q im Gleichgewicht halten. Da die Schnitt- F fläche - beträgt, so liefert die Schub- cos w F Spannung x eine Kraft von der Größe — — t, 1 - cos cp die Normalspann ung o eine von der Größe F - ö. COS Cp Aus der Komponentenzerlegung folgt F Q cos (j = - o 777777777777 Fig. 13. und oder cos Cp Q sin w = % * COS Cp Q 0 = ^r COS2 cp Q T=~F Das Gleichgewicht hört nach unserer An- nahme auf, wenn sin cp cos (p wird oder t > t0 + f o Q . Qf p sin cp cos cp > x0 + -p- cos2 cp 0^ F > (sin cp — f cos cp) cos cp 65* 1028 Festigkeit Der Keibungswiderstand wird offenbar in jener Ebene zuerst überschritten, für welche der Nenner den größten Wert hat; dies trifft für

L eigi, = 2t0[ Q /!+ sin a a F 1- sin Für a = o ergibt sich der Spezialfall der größten Schubspannung. Die Nävi ersehe Annahme hat Ch. Duguet zur Grundlage einer allgemeinen Festigkeitstheorie ausgestaltet. 0. Mohr hat die Theorie in der Richtung erweitert, daß er auf die Proportionalität der inneren Rei- bung mit der Normalspannung verzichtete und nur soviel voraussetzte, daß die Möglich- keit der Verschiebung in irgendeiner Ebene durch die in der betreffenden Ebene wirkende Schub- und Normalspannung bedingt sei: die Verschiebung soll erfolgen, falls die Tangentialspannung eine von der Normal- spannung abhängige Grenze überschreitet. Trotzdem diese Annahme als ziemlich all- gemein und sehr plausibel erscheint, be- deutet sie eine große Einschränkung der allgemeinen Möglichkeiten. Sobald nämlich auf die Verschiebung in einer Ebene nur die Normal- und die Schubspannung in be- zug auf die betreffende Ebene von Einfluß sind, so muß die erste Verschiebung stets in einer Ebene senkrecht zu der Ebene der beiden extremen Hauptspannungen erfolgen und infolgedessen ist die mittlere Haupt- spannung für den Bruch ohne Belang. Diese Hypothese ist bisher experimentell nur für zähe Stoffe bestätigt worden. Die Mohr sehe Theorie kann man auch in der Weise auffassen, daß der Reibungs- koeffizient f der inneren Reibung vom Spannungszustand abhängig ist. Druckver- suche unter allseitigem Druck zeigen, daß bei sonst spröden Stoffen unter hohem hydro- statischen Druck f sich zu dem Werte Null nähert, so daß die Verschiebung in einer Ebene nahezu unter 45° erfolgt und für die Elastizitätsgrenze nur die Differenz der beiden extremen Hauptspannungen maß- gebend wird. Dies steht im Einklang mit der bereits erwähnten Tatsache, daß die Körper unter hohem allseitigen Druck plastisch werden. Eine Bestätigung der Mohr sehen Auf- fassung kann man in den sogenannten „Fließ- figuren" und in den Bruchlinien erblicken, die bei zähen bezw. spröden Körpern nach Ueberschreitung der Elastizitätsgrenze auf- treten. Die Orientierung dieser Linien ent- spricht aller Wahrscheinlichkeit nach der Orientierung der Gleitflächen in denen die innere Reibung zuerst überwunden wird. Als Fließfiguren werden speziell zwei parallele Linienscharen bezeichnet, die bei einigen Materialien nach Ueberschreitung der Fließgrenze erscheinen. Es fragt sich natür- lich, weshalb einzelne ausgezeichnete Gleit- flächen sichtbar werden. Diese Frage ist noch nicht endgültig geklärt. Nach Ansicht einiger Autoren hängt es mit Fortpflanzung von Schwingungen zusammen; es erscheint aber wahrscheinlicher, daß es um eine Labilitäts- erscheinung sich handelt, wie bei der örtlichen Kontraktion. Man erhält nämlich gerade bei jenen Stoffen sehr ausgeprägte Fließfiguren, die eine ausgeprägte obere und untere Fließ- grenze zeigen. Wir haben gezeigt, daß die gleichförmige Deformation aufhört, falls die Belastung abnimmt. Geht also die Streckung unter abnehmender Belastung vor sich, wie es zwischen der oberen und unteren Streck- grenze der Fall ist, so treten notwendiger- weise jene Gleitflächen hervor, längs denen infolge kleiner Inhomogenitäten des Materials der Widerstand etwas geringer ist; erst bei weiterer Zunahme der Last ist die Möglich- keit gegeben, daß die Verschiebung wieder auf alle Gleitflächen gleichmäßig verteilt wird. Die Bedingungen des Trennungsbruches für spröde Körper sind bisher nicht voll- ständig geklärt worden. Man kann mit ge- wisser Wahrscheinlichkeit annehmen, daß für den Trennungsbruch der absolute Be- trag der größten Zugspannung maßgebend ist. Es gibt jedoch Versuche, die dieser An- nahme entschieden widersprechen. Zerreiß- versuche an sehr spröden Körpern, ausgeführt in einem Räume, in Welchem selbst erhöhter Druck herrschte, führten zu keinem kon- stanten Wert der Zugspannung, sondern zu einer konstanten Differenz der Zugspannung und des allseitigen Druckes (Voigt). Statt der absoluten Zugspannung erwies sich die Zugspannung relativ zu dem allseitigen Drucke als konstant. Dieser Punkt bedarf indessen einer weiteren Aufklärung. 7. Einfluß des Belastungswechsels. Von hohem praktischen Interesse ist der Ein- fluß des Belastungswechsels und der Be- lastungsgeschwindigkeit auf die Festigkeits- eigenschaften der Materialien, da in der Praxis viele Konstruktionsteile rasch wech- selnder und stoßartiger Beanspruchung unterworfen sind. Die ersten Versuche über den Einfluß wiederholter Beanspruchung hat A. Wo hier durchgeführt. Bei solchen „Dauer- versuchen" werden die Stäbe einer sehr großen Anzahl von wiederholten Beanspru- Festigkeit 1029 chungen zwischen gewissen konstanten Be- lastungsgrenzen unterworfen und der Be- lastnngswechsel so lange fortgesetzt, bis Bruch eintritt. Es zeigt sich, daß eine sehr große Anzahl von Wiederholungen auch dann Bruch hervorrufen kann, wenn die größte Belastung bedeutend unterhalb der Bruch- grenze des Materials liegt. Die Bruchgrenze kann durch eine genügende Anzahl von Wiederholungen sehr erheblich herunter- gedrückt werden. Wird z. B. ein Stab bis zu einer gewissen Belastung gezogen und wieder völlig entlastet, so ergeben sich zu verschiedenen Werten der oberen Grenze der Belastung bestimmte Werte für die Anzahl von Wiederholungen, die zum Bruche führen. Je niedriger die obere Belastungs- grenze, desto größer ist die Anzahl der er- forderlichen Wiederholungen. So fand z. B. Wo hl er bei einem Eisenstab folgende Werte für die gefährliche Anzahl. Obere Belastungsgrenze Anzahl der kg/cm2 Wiederholungen 3270 3000 2730 2460 2190 800 106 900 340 800 480 800 10 141 700 Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß unterhalb einer gewissen Belastung auch bei beliebig oft wiederholten Belastungen kein Bruch eintritt. So übersteigt z. B. bei einer Uhrfeder die jährliche Anzahl der wiederholten Belastungen 150000000, und erfahrungsgemäß büßt eine solche Feder an Tragfähigkeit nichts ein. Die Anzahl der gefährlichen Wieder- holungen hängt außer der oberen Grenze der Belastung auch von der unteren Grenze ab und zwar ist die Anzahl desto größer, je enger die Belastungsgrenzen gewählt werden. Ein Belastungswechsel zwischen der gleichen positiven und negativen Belastung ist z. B. viel gefährlicher, als wiederholte Belastung in einem Sinne. Was die Erklärung der Erscheinung an- belangt, so war man früher der Ansicht, daß durch die wiederholte Beanspruchung im Ge- füge des Materials wesentliche Aenderungen stattfinden müssen; diese Ansicht wurde hauptsächlich durch die Erfahrung ge- stützt, daß der Dauerversuch auch bei zähen Metallen oft eine glasige, muschel- artige Bruchfläche liefert, als wenn das Material seine Zähigkeit ganz verloren hätte. Die mikroskopische Untersuchung zeigt in- dessen, daß außer lokalen Störungen eigent- lich keine Gefügeänderungen vorhegen. Die Bruchgefahr wird dadurch hervorgerufen, daß die mikroskopischen Gleitflächen inner- halb der Kristalle durch die unzählige Wiederholung der Deformation schließlich in winzige Risse übergehen. Wenn dann eine kleine Diskontinuität vorhanden ist, so wird die geschwächte Stelle immer mehr ab- I gearbeitet, bis schließlich ein sichtbarer Riß entsteht. Dies steht mit der Tatsache in Ein- klang, daß Beanspruchungen unterhalb ge- wisser Grenzen auch bei beliebig zahlreicher Wiederholung unschädlich sind. Diese Grenze fällt wahrscheinlich mit der Belastung zu- sammen, bei der die mikroskopischen Gleit- flächen zuerst erscheinen. Aus diesem Sachverhalt folgt, daß der Bruch durch wiederholte Beanspruchung eigentlich nicht als Ermüdung betrachtet werden kann: der ganze Vorgang hat viel- mehr einen lokalen Charakter. Es ist aber klar, daß der Bruch begünstigt wird, falls Steilen vorhanden sind, in deren Umgebung besonders große Spannungen entstehen, wie dies bei vielen Konstruktionsteilen der Fall ist (bei gelochten Stäben, bei scharf ab- gerundeten Wellen usw.). In der Tat sind solche Konstruktionsteile viel empfindlicher gegen wiederholte Belastung. Ebenso ist sogenanntes „überhitztes Eisen" (Eisen, welches bei der Bearbeitung bis 1100° und höher erhitzt wurde), da seine Elastizitäts- grenze besonders niedrig liegt, der Dauer- beanspruchung nicht gewachsen. 8. Einfluß der Belastungsgeschwindig- keit. Stoßartige Belastung. Ein plastischer oder zäher Körper kann bei stoßartiger Be- lastung vollkommen spröd erscheinen. Sehr auffallend ist z. B. diese Erscheinung bei Pech. Dieses Material läßt sich bei lang- samer Belastung plastisch ausziehen, wäh- : rend es bei rascher Belastung wie ein spröder Körper ohne wesentliche Formänderung ; bricht. Bei Metallen wird die plastische De- \ formation durch stoßartige Belastung eben- falls wesentlich vermindert, dagegen die Kraft, die den Bruch hervorruft, vergrößert. Als Maß für die „dynamische Tragfähigkeit" betrachtet man statt der Kraft, die sehr schwer zu ermitteln ist, die Arbeit, die für die Zerstörung des Stabes aufgewendet werden muß. Der Probestab wird zumeist durch ein fallendes Gewicht oder durch ein Pendelwerk stoßweise auf Biegung beansprucht. Wählt man die Fallhöhe so groß, daß der Stab bricht, so liefert die Differenz zwischen der lebendigen Kraft, die der Fallhöhe ent- spricht, und der lebendigen Kraft, die dem belastenden Gewicht nach dem Schlage noch innewohnt, die zum Bruch aufgewendete Arbeit. Die Arbeitsmenge wird auf die Volumeinheit des Stabes bezogen. Die Probe- stäbe werden bei solchen Schlagversuchen zumeist mit Einkerbungen versehen, damit der Bruch in einem vorher bestimmten Querschnitt erfolgen soll. 1030 Festigkeit Festland Vergleicht man die Arbeit, die beim Schlagversuch verbraucht wird, mit der Arbeitsmenge, die bei dem langsam durch- geführten Festigkeitsversuch geleistet werden muß und die durch das Formänderungs- gesetz gegeben ist, so hat man einen Ver- gleich dafür, wie weit das betreffende Material dynamischen Beanspruchungen gewachsen ist. Die Prüfung der dynamischen Trag- fähigkeit ist besonders für Konstruktions- stoffe von Bedeutung, die bei rasch laufen- den Maschinen, bei Fahrzeugen usw. Ver- wendung finden sollen. Sehr wichtig ist der Umstand, daß gewisse Fehler in der Vorbehandlung von Metallen, die das Ma- terial für stoßartige Belastung ganz un- brauchbar machen (z. B. Ueberhitzen bei Kupfer und Eisen), durch gewöhnliche Festig- keitsversuche schwerlich entdeckt werden können, da die betreffenden Probestäbe nor- male Streckgrenze, und bei langsamer Bean- spruchung auch normale Bruchgrenze zeigen. Es sei noch erwähnt, daß eine wiederholte Belastung durch gleiche Stöße zum Bruch führen kann, auch wenn der Körper dem einzelnen Stoß Widerstand leisten kann. Es wurde insbesondere vorgeschlagen, die Brauchbarkeit von Steinen, die im Wege- bau Verwendung finden sollen, durch die Anzahl der zum Bruch erforderlichen Stöße zu prüfen (Föppl). Literatur (vgl. auch den Artikel „Elastizität"). 1. Lehr buch er der Festigkeitslehre : JL. Kavier, Resume des lecons sur l'application de la tnecanique, herausgegeben von St. Venan t , 2 Bde., Paris I864. — F. Grashof, Theorie der Elastizität und Festigkeit, 2. Aufl., Berlin 1S78. — Ch. Duguet, Deformation des corps solides, 2 Bde., Paris 1882185. — C. Bach, Elastizität und Festigkeit, Berlin 1889/90, 6. Aufl. 1911. — L. v. Tetmajer, Die angewandte Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Zürich 1889, 3. Aufl., Wien 1895. — J. liesal, Resistance des materiaux, Paris 1898. — J. A. Ewing, The strengt,}) of materials, Cambridge 1899, 2. Aufl. 1903. — A. Brauer, Festigkeitslehre, Leipzig 1905. — 2. Lehrbücher der Materialkunde und der Materialprüfung: W. C. Unwin, The testing of materials of construetion, London 1888. — A. Martens, Handbuch der Materialien- kunde für den Maschinenbau, L. Teil, Berlin 1898; LT. Teil A, von E. Heyn, Berlin 1912. — J. B. Johnson, The materials of construetion, 4. Aufl., New York 1905. — 8. 31 o nographien: C. Bach, Abhandlungen und Berichte, Stuttgart 1897. — O. Mohr, Abhandlungen aus dem Ge- biete der technischen Mechanik, Berlin 1906. — A. Considere-Hanff , Die Anwendung von Eisen und Stahl bei Konstruktionen, Wien 1888. — L. v. Tetmaier, Die Gesetze der Knickungsfestigkeit, 3. Aufl., Wien 1908. — 4. Kongreßschriften: Conimission des methodes d,' 'essai des materiaux de construetion. Offizieller Bericht, Bd. L bis IV, Paris 1894- — Congres international des methodes d'cssai des materiaux de construetion, Paris 1900. — Internationaler Verband für die Materialprüfung eil der Technik, I. bis VI. Kongreß. — 5. Mitteilungen aus Ver- suchsanstalten: Mitteilungen aus den Kgl. techn. Versuchsanstalten Berlin, von 1904 ab Kgl. Materialprüfungsamt in Groß- Lichterfelde. — Mitteilungen des mech.- techn. Laboratoriums München. Th. v. Kdrmdn. Festland. 1. Flächenverteilung von Land und Wasser. 2. Einteilung des Festlandes. 3. Gliederung des Festlandes. 4. Vertikaler Aufbau. 5. Relief- formen des Festlandes. 1. Flächenverteilung von Land und Wasser. Unter Festland wird der über den Meeresspiegel emporragende Teil der Gesteinshülle der Erde verstanden. Die bekannten Landmassen können heute zu 135 Mill. km2 geschätzt werden; unbekannt sind in der Arktis etwa 4, in der Antarktis etwa 19 Mill. km2. Es kann aber ange- nommen werden, daß das arktische Gebiet vollständig dem Meer, von dem antarktischen dagegen 14 Mill. km2 dem Land zuzu- sprechen sind. Es beträgt dann die Land- oberfläche rund 149 Mill. km2, die Wasser- oberfläche 361 Mill. km2. Das Verhältnis beider stellt sich also wie 5:12, genauer wie 29,2:70,8% oder wie 1:2,42. Die Verteilung von Land und Wasser ist ungleichmäßig. Auf der nördlichen Halbkugel liegen 39 % Land, auf der süd- lichen i9%; auf der östlichen 35% und auf der westlichen 20 %. Es befindet sich also die größte Ansammlung von Land im nordöstlichen Quadranten. Immerhin er- reicht es auch auf einer Halbkugel, deren Aequator die größte mögliche Fläche von Land umfaßt, und deren Pol in 47°15' N. Br. und 2°30' W. L., unweit der Loire-Mündung bei Croisic liegt, nur 48 %. Im Gegensatz zu dieser Landhalbkugel nimmt auf der Wasserhalbkugel mit einem Pol in 47°15' S. Br. und 177°30' 0. L., südöstlich von Neuseeland, das Meer 90,5 % ein. Nach Breitenzonen stellt sich das Verhältnis so, daß zwischen 70° und 40° N. Br. das Land mit 72 bis 52 % überwiegt. Nach einer lang- samen Abnahme ist es von 10° N. Br. bis 30° S. Br. mit etwa 23 % nahezu konstant, um dann rasch zu dem Landminimum von 1 % in 50° bis 60° S. Br. abzufallen. Das Landmaximum liegt zwischen 80° bis 90° S. Br. mit voraussichtlich 100 %. 2. Die Einteilung des Festlandes. Das Festland erhebt sich in vier Weltinseln Festland 1031 über dem Meeresspiegel, in der Antarktis, Australien, Amerika und Asien mit Europa und Afrika. Inselreihen verbinden Australien mit Asien, die Antarktis mit Amerika. Eurasien, d. h. Asien und Europa, und Amerika umgeben in einem nur durch ver- hältnismäßig schmale Meeresstraßen unter- brochenen Ring das arktische Mittelmeer. Nach Süden nimmt die Breite der Land- massen mehr und mehr ab, so daß sie endlich in Südamerika, Südafrika und Au- stralien mit Tasmanien keilförmig gegen den Meeresgürtel, der die Antarktis um- gibt, auslaufen. Am ausgeprägtesten macht sich dieses Auseinandertreten der Küsten in der Ostküste von Asien und Australien und in der Westküste von Amerika be- merkbar, die so beinahe einen größten Kreis bilden und zwischen sich den pazifischen Ozean einschließen. Die Landhalbkugel wird weiter durch den talförmigen atlan- tischen Ozean von der Beringstraße bis zum südlichen Wasserring in eine Ost- und Westhälfte, die alte und neue Welt, ge- trennt. Rechnet man die Antarktis zu dieser, so umfaßt sie 37 %, jene 63 % des festen Landes. Innerhalb der Osthälfte scheidet im Süden der indische Ozean Afrika von Australien. Aequatorial da- gegen verläuft ein durch die Einbruchs- becken des amerikanischen, romanischen und australasiatischen Mittelmeeres bezeich- neter, Guyots Bruchzone genannter Gür- tel, der die Nord- und Südkontinente voneinander trennt. So zerfällt die neue Welt in die beiden durch die schmale, zum Teil jugendliche Brücke von Zentralamerika verbundenen Kontinente von Nord- und Südamerika; die alte Welt in Eurasien, Australien und das durch den Isthmus von Sues angegliederte Afrika. Nur auf einer historischen und kulturellen Trennung be- ruht der kontinentale Charakter von Europa, das physikalisch eine Halbinsel von Asien ist. Der Meeresring endlich trennt im Süden die Antarktis ab. Mit Ausnahme der süd- lichen Hälfte von Südamerika sind Festland und Meer antipodisch angeordnet. Die Areale der sieben Kontinente sind: Mill. km2 Nordamerika 24,1 Südamerika 17,8 Antarktis 14,0 Die alte Welt umfaßt also 93, die neue Welt 56, die Nordkontinente 78, die Südkontinente 57, mit der Antarktis 71 Mill. km2. Diese Verteilung von Land und Wasser hat im Lauf der Erdgeschichte große Aende- rungen erfahren. So sind Festlandsverbin- dungen über den Nord- und Südatlantischen Mill. km Asien 44,2 Europa 10,0 Afrika 29,8 Australien 8,9 Ozean, zwischen Vorderindien und Süd- afrika und von Südamerika nach Asien verschwunden, im Gegensatz dazu sind aber auch Meere, die früher in größerer Aus- dehnung bestanden haben, wie die so- genannte „Thetys", ein zentrales Mittelmeer vom pazifischen Ozean über Zentralamerika und Südeuropa nach dem indischen Ozean, verkleinert worden. Es ist dabei allerdings bei der auffallenden Spärlichkeit eupelagi- scher Sedimente in den Gesteinen heutiger Kontinente zweifelhaft, ob von diesen Ver- änderungen auch die eigentlichen Tiefsee- räume betroffen worden sind. Es scheint, daß diese ziemlich permanent geblieben sind, und daß es sich bei den Ueberflutungen der Kontinente nur um Flachmeerbildungen von vorübergehender Dauer gehandelt hat. 3. Die kontinentale Gliederung. Bei jedem Kontinente unterscheidet man den Rumpf und die Glieder, die wieder aus Halbinseln und Inseln bestehen. Halb- inseln sind Stücke, die vom Rumpf mehr oder weniger deutlich durch Meeresgrenzen ab- getrennt sind. Sie können entstehen entweder infolge einer positiven Niveauverschiebung durch Abgliederung eines Teiles, in dem sich dann der Bau des Rumpfes fortsetzt (abgegliederte Halbinseln, z. B. Istrien), oder durch Angliederung eines fremden Teiles durch eine negative Niveauverschiebung (an- gegliederte Halbinseln, z. B. Vorderindien). Inseln sind kleine vom Meer umgebene Landstücke, die entweder vom Festland abgetrennt worden sind (festländische oder Kontinentalinseln), oder aber vom Meeres- grund aus emporgewachsen sind (ursprüng- liche Inseln). Nach der Lage unterscheidet man küsten- oder festlandnahe und ozeanische Inseln. Senkungen, Brucherscheinungen und die Erosion des Meeres sind die Gründe der Abtrennung; Hebung, Aufschüttung, vul- kanische Tätigkeit und Riffbildung durch Organismen die des Wachstums. Für die Zuspitzungen des Rumpfes der Kontinente wird der Name Endländer angewendet (Südafrika). Verbindungsstücke zwischen Kontinenten sind Zwischenländer (Zentralamerika), die im kleineren Maßstab als Landengen oder Isthmen bezeichnet werden (Isthmus von Sues). Das Maß der Gliederung eines Kontinentes wird gegeben durch den Vergleich des Flächen- inhaltes der Glieder zum Rumpf. In Prozenten der Gesamtfläche erhält man folgende Zahlen: (siehe oben nächste Seite.) Dagegen gibt die Küstenentwickelung das Verhältnis der Küstenlänge eines Kon- tinentes zum kleinsten möglichen Umfang S^gj S 300, 1032 Festland Halb- inseln Europa 27,0; Asien 17,9 Afrika 0,0 Australien 4,7 Nordamerika .... 8,5 Südamerika .... 0,3 Inseln Glieder 7,9' 6,i 2,1 14,6 17,0 0,8 34,9 24.0 2,1 19,3 25,5 1,1 bei gleicher Fläche. Wird dieser als 1 ge- setzt, so ergeben sich folgende Werte: Europa 3,55 Afrika 1,64 Asien 3,19 Nordamerika 4,86 Australien 2,01 Südamerika 1,96 Die für anthropogeographische Untersuchun- gen wichtige Meeresferne oder den mitt- leren Küstenabstand findet man da- durch, daß man in die Kontinente Kurven gleichen Küstenabstandes einzeichnet. Die so entstehenden Zonen werden ihrer Fläche nach ausgemessen und auf graphischem Weg der mittlere Abstand bestimmt. Europa . . . Asien .... Afrika .... Australien . . Nordamerika . Südamerika . Mittlerer Größter Küstenabstand in km 1550 34° 770 670 35o 440 540 2400 1800 920 1650 1600 M: G. 4,6 3,i 2,1 2,6 3,8 3,o 4- bau. ganze dene In den am Schluß ge- gebenen Verhältniszahlen ist der Einfluß der Größe des Kontinents ausgeschaltet. Der vertikale Auf- Gliedert man das Festland in verschie- Höhenstufen und be- rechnet deren Fläche, so erhält man folgende Werte, die in der vorletzten Spalte der untenstehenden Tabelle in Meeresspiegel nehmen also 78,5 % des Fest- landes ein, die Höhen über 1000 m nur 21,5%. Diese Verhältnisse werden am besten ver- ständlich durch die Konstruktion einer sogenannten hypsographischen Kurve, bei der die Flächen der einzelnen Höhen- stufen als Abszissen, die entsprechenden Höhen als Ordinaten abgetragen werden. Man erhält dadurch eine durch eine Kurve begrenzte Profilfläche, die dem Rauminhalt der Erhebungen entspricht. Man kann dann das Kulminationsgebiet von 1000 m an aufwärts bis zum Endpunkt in 8840 m, dem Mt. Everest im Himalaya, und die im Gegensatz dazu besonders von 200 m an flach abfallende Kontinentaltafel unterscheiden. Bei einer Verlängerung der Kurve unter den Meeresspiegel sieht man, daß die Kontinentaltafel erst bei —200 m ihr Ende findet. Diese Tiefenlinie bezeichnet den Rand der Kontinente gegen den Kontinentalabhang, der zwischen 2000 und 3000 m in die Tiefseetafel übergeht. Für die einzelnen Kontinente ergeben sich in drei Stufen — einer Hochstufe über 2000 m, einer Mittelstufe von 2000 m bis 200 m und einer Unterstufe unter 200 m — folgende Werte (in Prozenten der Fläche). Eu- Aus- Nord- Süd- Hochstufe Mittelstufe Unterstufe Asien Afrika tra- ame- arae- ropa lien rika rika i,5 M,1 2,4 0,8 6,0 9,0 41.7 60,5 82,2 63,2 61,6 48,4 56.8 25,4 15,4 36,0 32,4^42,6 Nur in Europa und Südamerikas überwiegt die Unterstufe, sonst überall besonders in Afrika die Mittelstufe. Die Hochstufe er- reicht nennenswerte Beträge nur in Asien und Südamerika. Die mittlere Höhe der Landmassen über dem Meeresniveau wird bisher zu 700 m angegeben, durch Hinzufügung der Antarktis wird der Wert auf rund 800 m MirHere Höhe + 800 _m +200 -1000 Hypsographische Kurve des festen Landes. Prozenten der Erdoberfläche, in der letzten I gesteigert. Für die einzelnen Kontinente in solchen des Festlandes gegeben sind: j sind die Zahlen folgende: 8840— 3000m = 5 Mill. km2 = 1% = 3,4% 3000-2000m = 6 „ „ = 1,2%= 4,0% 2000— 1000m = 21 „ „ = 4,1% = 14,1% 1000— 200m = 66 „ „ = 12,9% = 44,3% 200- 0m = 51 „ „ =10,0% =34,2% Die beiden Stufen von 1000 m bis zum Das Volumen des Festlandes beträgt dem- m m Europa 300 Nordamerika 700 Asien 950 Südamerika 5S0 Afrika 650 Antarktis 2000 Australien 350 Festland - - Fette, Oele, Seifen 1033 Kinach 104,3 MM. km3 (149.0,7) oder J1932 Muskatbutter, von denjenigen mit einem hohen Gehalt an flüchtigen Säuren, wie Kokosfett und Palmkernöl. Bei den tierischen Oelen unterscheidet man die Oele von Landtieren, wie Klauenöl, Talg- und Schmalzöl, welche vorwiegend Oelsäure enthalten, und die an stark unge- sättigten und trocknenden Säuren reichen Oele von Seetieren, welche meist auch Trane ge- nannt werden. Bei den festen tierischen Fetten unterscheidet man stearinreiche feste Fette, welche keine flüchtigen Fettsäuren enthalten, wie z. B. Rinder- und Hammeltalg, und Fette mit einem größeren Prozentsatz an flüchtigen Fettsäuren, wie sie beispiels- weise das Butterfett aufweist. Die außerordentliche Verschiedenheit der einzelnen Fette und Oele in physikalischer und chemischer Hinsicht beruht auf der Verschiedenheit und dem mehr oder weniger großen Betrag an einzelnen Fettsäuren, welche mit Glycerin verestert in dem einzel- nen Fett enthalten sind. Nach der um- kehrbaren Gleichung ,OH /OR C3H5^OH + 3ROH = C3H5: OR + 3H,0 OH OR Glycerin Fettsäure Normales Triglycerid entsteht aus Glycerin und Fettsäuren ein normales Glycerid, während umgekehrt auch die Fette unter bestimmten Bedingungen ganz oder teilweise in Glycerin und Fett- säuren gespalten werden, ein Vorgang, der von großer technischer Bedeutung ist und auf dem eine Reihe von Industrien, wie die Seifen- und Kerzenindustrie, beruhen (vgl. unten die Seifen). Die große Mehrzahl der natürlichen Fette besteht der Haupt- sache nach aus gemischten Glyceriden, indem mehrere Säuren mit dem dreiwertigen Alkohol Glycerin zu Estern zusammengetreten sind. So kennt man z. B. Oleodipalmitin, Oleodistearin (d. h. monoölsaures dipalmitin- saures Glycerin), aber auch neutrale Ester wie Tristearin, Tripalmitin und Triolein (dies sind die wichtigsten in den Fetten vorkommenden Verbindungen) sind aus natür- lichen Fetten in reinem Zustand gewonnen worden. Je nachdem die Fette mehr Stearin oder mehr Olein enthalten, erscheinen sie bei gewöhnlicher mittlerer Temperatur flüs- sig oder fest. Mono- und Diglyceride finden sich in den natürlichen Fetten nicht, sind aber synthetisch dargestellt worden, und ihre vorübergehende Existenz ist bei dem stufenweise erfolgenden Abbau der normalen Fette, Oele, Seifen 1 1.1:1:. Triglycerinester zu Diglyceriden, Mono- glyceriden und schließlich zu Glycerin und Fettsäure neuerdings mit Sicherheit nach- gewiesen worden. Die wichtigsten Fettsäuren, nach Gruppen welche in Fetten und Oelen nach- wurden, sind im folgenden auf- geführt. 1. Säuren der Zusammensetzung Essigsäure C2H402 (sehr selten), Butter- säure C4H802 (im Butterfett), Isovalerian- säure C5H10Ö2 (im Delphintran), Kapron- säure C6H12OÖ (im Kokosöl), Kaprylsäure C8H1602 (im Menschenfett und Kokosöl), Kaprinsäure Ci0H20O2 (im Palmkernöl und Kokosöl), Laurinsäure C12H2402 (im Kokosöl und Lorbeeröl), Myristinsäure C14H2802 (in der Muskatbutter). Fast in allen Fetten kommen dagegen vor: Palmitinsäure C16H3202 und Stearinsäure ferner Arachinsäure C Erdnußöl) und Bienenwachs). geordnet gewiesen ^lS-" 36^*2' ,0H40O2 (vor allem im Cerotinsäure *■ 26^52^ 2 (im 2. Säuren der Zusammensetzung Lnrlsn — 2^-'2 Tiglinsäure C5H802 (im Krotonöl), Physetöl- säure C16H30O2 (im Walrat), Bapinsäure C18H3402(im Riiböl) undErukasäureC22H4202 in dem gleichen Oel. Fast in allen Öelen, tierischen und pflanzlichen kommt ferner die zu dieser Gruppe gehörige Oel- s ä u r e Ci8H3402 vor. 3. Säuren der Zusammensetzung Linolsäure C18H3202, welche den Haupt- bestandteil der trocknenden Oele bildet. 4. Säuren der Zusammensetzung Onri2n — 6^2 Linolensäure C18H30O2, ebenfalls in den trocknenden Oelen und die isomere Jecorin- säure C18H3002 im japanischen Sardinen- tran. 5. Säuren der Zusammensetzung (hydroxylierte Säuren) Ricinolsäure C18H3403 (im Ricinusöl). 6. Säuren der Zusammensetzung (dihydroxylierte Säuren) wie Dioxystearin- säure C18H31(OH)202 (im Ricinusöl) und Lanocerinsäure C30H6'0O4 (im Wollfett). Vorkommen der Fette und Oele. a) In der Pflanze. Die pflanzlichen Fette und Oele finden sich in der Natur, sowohl bei höheren wie bei niedrigen Pflanzen gleich weit ver- breitet. Sie treten nicht nur in bestimmten Pflanzenteilen auf. sondern kommen in unterirdischen und oberirdischen Wurzeln, Blättern und selbst vereinzelt in Blüten- organen vor. Besonders häufig sind sie in Samen, wo sie allein oder meist mit anderen Substanzen zusammen als Reservestoffe ab- gesetzt werden, um dem heranwachsenden Embryo später bei der Keimung als erste Nahrung zu dienen. Bisweilen treten die fettigen Substanzen aber auch in solchen Pflanzenteilen auf, die ihrer Entstehung nach aber nicht mehr zum Samen, sondern schon zur Frucht zu rechnen sind. Dies ist z. B. der Fall bei der Olive, wo das den inneren Steinkern umgebende grünliche und saftige Fruchtfleisch reichliche Mengen eines gelben Oeles enthält. Ueber die Entstehung der Fette im Innern der einzelnen Pflanzenzellen sind genaue Tatsachen noch nicht bekannt und dürften bei der Schwierigkeit dieser Frage wohl auch nicht so bald aufgefunden werden. Wahrscheinlich kann die Bildung auf ver- schiedene Weise vor sich gehen, entweder durch Umwandlung von Kohlenhydraten, na- mentlich von Stärke, Glukose und Cellulose oder durch Spaltung und Zersetzung von Eiweißstoffen. Für die Oelgewinnung kommen, ent- sprechend ihrem größeren Fettgehalt, fast ausschließlich die Samen und Früchte der in den südlichen Ländern gewonnenen Pflan- zen in Betracht, während im gemäßigten Klima viel ölärmere Saaten geerntet werden. Aus den Tropen kommen beispielsweise die Kokos- und Palmkerne, der Ricinussamen, die Baumwollsaat usw. Im Samen selbst befindet sich das Oel in das Protoplasma eingelagert in der Form kleinster Kügelclien, neben Proteinkörnern. Im folgenden sind die Durchschnitts- zahlen des Fettgehalts einiger wichtiger Oelsaaten und Früchte angegeben: 0 /o Fruchtschalen der Kokosschale .... 4° — 45 Fruchtfleisch der Oelpalme £>5 — 72 Samenkeme der Oelpalme 45—5° Samen des Hanfs 3° — 35 Samen und Fruchtfleisch der Oliven 40 — 60 Samen der Erdnuß 45 — 5° Samen des Mohns 41 — 5° Leinsamen 35 — 42 Samen der Ricinusstaude 46 — 53 Samen von Kakao 44 — 47 Samen vom Butterbaum (Sheabutter) . 45 — 48 Samen von Sesam 5° — 55 Samen der Baumwolle 24 — 26 Sojabohne 15—23 b) Im Tierreich. Im Tierkörper sind die Fette meist in fester Form enthalten. Eine Ausnahme bilden 1036 Fette, Oele, Seifen jedoch die Seetiere, bei denen sich auch flüssige Oele finden. Das Fett ist im Tier- körper zum größten Teil in ausgedehnten Gewebsschichten, dem eigentlichen Fett- gewebe, abgelagert. Dieses Fettgewebe be- steht aus zahlreichen aneinander gereihten Zellen, die mit Fett erfüllt sind und von einer Membran umgeben werden. Letztere ist selbst sehr widerstandsfähig gegen chemische Einflüsse; sie wird hingegen vom Magensaft leicht verdaut. Im lebenden Organismus ist das Fett im flüssigen Zustand enthalten und erst nach dem Tode tritt Erstarrung ein. In den tierischen Fetten liegen meist Neutralfette vor, die im allgemeinen nur einen geringen Prozentsatz von freien Fett- säuren aufweisen, während bei den pflanz- lichen Fetten im Gegenteil das Auftreten freier Fettsäuren ziemlich verbreitet ist. Die tierischen Fette bestehen in der Haupt- sache aus gemischten Glyceriden der Ste- arin-, Palmitin- und Oelsäure, und nur in vereinzelten Fällen sind auch Glyceride flüchtiger Fettsäuren, nämlich der Butter-, Capron-, Capryl- und Caprinsäure, nach- gewiesen worden. Der wechselnde Ge- halt an Tristearin, Tripalmitin und Tri- olein bedingt auch hier die wechselnden chemischen und physikalischen Eigenschaf- ten, weiche gewissen, zum Teil bekannten, zum Teil noch unbekannten physiologi- schen Zwecken angepaßt sind. So bedingt ein größerer Gehalt eines Fettes an Olein, daß der Schmelzpunkt niedriger liegt, und daher sind auch die Fette der Kaltblüter reicher an Oelsäure. Von wesentlichem Einfluß auf die Menge des Fettgewebes und die Zusammensetzung des Fettes ist ferner bei den einzelnen Tier- gattungen die Fütterungsweise, sowie die äußeren Lebensbedingungen. Auch das Fett der verschiedenen Körperteile weist verschiedene Zusammensetzung auf. Ein technisch besonders wichtiges Mate- rial zur Gewinnung von Fetten stellen ferner die Knochen dar, die außer auf Fett noch auf Leim und Phosphatejjesonders verarbei- tet werden. Außer den Neutralfetten und Fett- säuren kommen im Tierkörper noch eine Reihe von Substanzen vor, welche den Fetten so ähnlich sind, daß sie gewöhnlich zu ihnen gerechnet werden. Es sind das die in ihrer Konstitution noch nicht voll- ständig aufgeklärten Cholesterine, die Leci- thine, Cerebroside und Protagone. Die Frage nach der Entstehung der Fette im tierischen Organismus ist ebenfalls noch, wie bei den Pflanzen, außerordentlich strittig, und die Anschauungen der Physiologen gehen darüber sehr auseinander. Sicher ist nur, daß der Organismus aus dem Fett der Nahrung sein Fettmaterial bezieht, das er als solches verbrennen oder aufstapeln kann. Ferner ist sicher, daß das Fett der Nahrung nicht die einzige Quelle des Körper- fettes ist und daß Fettbildung aus Kohlen- hydraten und Eiweißverbindungen möglich ist. Was die Verdauung und Resorption der Fette anbetrifft, so nimmt man an, daß diese vor allem unter dem Einfluß der Lipase, des fettspaltenden Ferments im Darm er- folgt, welche die Fette in Glycerin und freie Fettsäure zu zerlegen vermag. Andererseits tritt wiederum unter dem Einfluß der Schleim- häute des Dünndarms eine Rückbildung der Fette aus Glycerin und Fettsäure auf. Die wesentliche Fettverdauung findet erst im Darm selbst statt, in dem zunächst eine Emulgierung des Fettes vor sich geht, der dann eine Spaltung in Glycerin und Fett- säure folgt, während das durch Synthese entstandene Fett schließlich resorbiert wird. Der hohe Wert der Fette für die mensch- liche Nahrung beruht auf verschiedenen Ursachen; besonders wichtig ist der hohe Verbrennungswert derselben, der im Durch- schnitt 9,1 Calorien pro g beträgt, gegen- über 4,2 Cal. bei Eiweißkörpern und Kohle- hydraten. Dieser hohe Caloriengehalt der Fette, der dieselben zu einer vorzüglichen Energiequelle im tierischen Haushalt macht, erklärt es, warum die Bewohner kälterer Gegenden eine fettreichere Nahrung zu sich nehmen als die wärmerer Länder. Physio- logisch sehr wichtig ist ferner die Tatsache, daß die Fette auch die Kohlenhydrate beim Verbrennungsprozeß im Organismus weit- gehend vertreten können. Wenn eine dieser Nahrungsmittelgruppen dem Körper entzogen wird, so tritt die andere dafür ein. Entzieht man beide Gruppen, so greift der Organis- mus zunächst seinen Vorrat an Kohlehydra- ten an und dann erst die chemisch wider- standsfähigeren Fettbestände. Einen Ersatz der Eiweißkörper vermögen die Fette aber nicht zu liefern. Wird die Eiweißnahrung dem Körper völlig entzogen, so tritt ein Stickstoffzerfall ein, der durch Fette zwar herabgesetzt, aber nicht völlig aufgehalten werden kann. Ueber den Abbau der Fette im Organis- mus selbst ist sehr wenig bekannt, von der einzigen Tatsache abgesehen, daß dieser Abbau unter Bildung von Acetonverbin- dungen vor sich gehen kann. Eigenschaften der Fette und Oele. Was die Eigenschaften der Fette an- betrifft, so weisen die zahlreichen Vertreter dieser Gruppe neben einer Reihe allge- meiner Eigenschaften auch besondere Eigen- tümlichkeiten auf, welche durch die ver- schiedene Zusammensetzung und die mannig- Fette, Oele, Seifen 1037 faltigen Beimengungen bedingt sind. Reine Fette sind färb-, gerueh- und geschmacklos, während die natürlichen Fette und die aus den verschiedenen Rohstoffen isolierten Pro- dukte meist eine bestimmte Farbe und einen spezifischen Geruch aufweisen. Die Farbe der Fette, welche durch Pflanzen- farbstoffe hervorgerufen ist, schwankt von weiß und gelb bis rot (Palmöl) und braun (Cottonöl). Die Raffination der Pflanzenfette und -Oele hat vor allem die Aufgabe, diese Farbe sowie den Geruch zu entfernen, da vor allem in der Industrie der Speiseöle helle, geruchlose Oele verlangt werden. Das spezifische Gewicht der Fette liegt zwischen 0,91 bis 0,94, ist demnach niedriger als das des Wassers, während die Viskosität bedeutend größer ist. Setzt man die Vis- kosität des Wassers bei 17,5° = 1, so ergibt sich für Leinöl eine Viskosität von 9,7, für Olivenöl von 21,6 und für Ricinusöl von 203,3 (s. unten bei den Schmierölen). Die Konsistenz der Fette ist im allge- meinen um so größer, je höher der Schmelz- punkt hegt. Als obere und untere Grenzen für Fette und Oele gelten —27°, der Er- starrungspunkt des Nußöls, und ca. +55° der Schmelzpunkt des Hammeltalgs. Eine charakteristische Erscheinung, die übrigens bei vielen Fetten zu beobachten ist, stellt das Auftreten eines doppelten Schmelz- punktes dar; nach Böhmer beruht diese Erscheinung auf physikalischer Isomorphie oder Dimorphie und entspricht den Er- scheinungen beim Schwefel und bei de*1 Kiesel- säure. Die meisten Fette sind in Wasser prak- tisch unlöslich; eine Ausnahme bilden nur solche Fette, welche Fettsäuren von niedrigem Molekulargewicht enthalten, wie Butter, Kokosöl, Palmkernöl und andere. Anderer- seits besitzen die Fette jedoch ein gewisses Lösungsvermögen für Wasser, das beim Er- hitzen wieder entfernt werden kann. In kaltem Alkohol lösen sich die Fette mit Ausnahme von Ricinusöl, Kroton- und Olivenkernöl nur schwierig, während heißer Alkohol ein gutes Lösungsmittel für die meisten Fette darstellt. Weitere gute Fett- lösungsmittel sind Aether, Schwefelkohlen- stoff, Chloroform, Benzol, Trichloräthylen, Petroleum und Petroläther. Eine Ausnahme bildet hier wiederum das Ricinusöl, das in den beiden letztgenannten Lösungsmitteln nur schwer löslich ist. Ihrerseits aber lösen die Fette auch andere Substanzen wie Brom, Jod, Phosphor und Schwefel auf, und eine Reihe der bei derartigen Reaktionen ent- stehenden Verbindungen besitzt technische Bedeutung. Gegen Erhitzung verhalten sich die Fette sehr verschieden. Manche können bis auf 250° erwärmt werden, ohne sich zu ver- ändern; bei anderen tritt Polymerisation ein, wie z. B. beim Leinöl, Holzöl, Ricinusöl (vgl. unten die Firnisse). Bei stärkerem Erhitzen zerfallen die Fette unter gewöhn- lichem Drucke in Kohlenwasserstoffe, in Kohlensäure und Kohlenoxyd sowie Acrolein, das durch Zersetzung des Glycerins entsteht. Im Vakuum dagegen lassen sich einige Fette unzersetzt destillieren. Destilliert man dagegen unter Anwendung eines Druckes von 20 bis 25 Atm., so entstehen, wie Engler gezeigt hat, unter Umständen aus tierischen Fetten wie Fischtalg, unter Abspaltung von Kohlenoxyd und Kohlendioxyd petroleum- artige Kohlenwasserstoffe, das sogenannte synthetische Petroleum, das mit Schwefel- säure raffiniert, dem gewöhnlichen Leucht- petroleum gleicht. Konzentrierte Salpeter- säure wirkt stark oxydiernd auf Fette, wäh- rend konzentrierte Schwefelsäure gemischte Glyceride bildet, unter denen das bei der Einwirkung der Säure auf Ricinusöl ent- stehende sogenannte Türkisch-Rot-Oel von großem technischem Interesse ist. Unter Umständen wirkt die Schwefelsäure aber auch verseifend auf die Fette, wobei aus ungesättigten Säuren gesättigte Sulfosäuren entstehen, wie z. B. aus Oelsäure Sulfo- stearinsäure C1SH3^0.2(HS0?,), welche beim Behandeln mit Wasserdampf wiederum in feste Oxystearinsäure und Schwefelsäure ge- spalten wird. Die wichtige Spaltung der Fette durch Alkalien, Säuren und Fermente ist weiter unten in dem Kapitel „Seife" beschrieben. Gewinnungsmethoden der Fette und Oele. a) Die tierischen Fette. Die wichtigsten tierischen Fette sind der Talg, das Schweinefett und das Knochen- fett. Die Gewinnung der beiden ersteren im Großbetriebe beruht auf dem Prinzip des Ausschmelzens aus dem fetthaltigen Rohmatenal, das vor der Verarbeitung stets gereinigt und zerkleinert werden muß. Das in den Zellmembranen eingeschlossene Fett wird dann durch Temperaturerhöhung zum Schmelzen gebracht, wodurch die Zelle gesprengt wird und das Fett ausfließen kann. Die Erwärmung erfolgt dabei ent- weder indirekt (Trockenschmelze) mit direk- tem Feuer, im Wasserbad, mittels indirekten Dampfes und heißer Luft oder auch mittels direkten Dampfes. Die Gewinnung des Knochenfetts geschieht entweder durch Be- handlung der Knochen mit direktem Dampf in den Knochendämpfapparaten. wodurch das Fett ebenfalls zum Ausschmelzen ge- bracht wird, oder durch Extraktion mit organischen Fettlösungsmitteln. Letzteres 1038 Fette, Gele, Seifen Verfahren wird neuerdings besonders viel benutzt, weil die entfetteten Knochen sich dann ohne weiteres auf Leim und Knochen- mehl verarbeiten lassen. Die wichtigsten tierischen bei gewöhn- licher Temperatur flüssigen Fette und Oele sind das Fischfett, das Leberöl und der Tran, deren Gewinnung meist in ziemlich primitiver Weise durch Auskochen des Roh- materials mit Wasser erfolgt, wobei sich die Oele als obere Schicht abscheiden. Von sonstigen Fetten, die zum Teil aus Abfall- stoffen gewonnen werden, seien noch er- wähnt: die Lederfette aus Gerbereien, das Walkfett aus den seifenhaltigen Wasch- wässern der Spinnereien, die Abfallfette aus städtischen Abwässern usw. und Fette aus tierischen Kadavern. b) Die pflanzlichen Fette. Viel größere Bedeutung als die tierischen Fette haben aber gegenwärtig die pflanz- lichen Fette und Oele, besonders nach der Entdeckung zahlreicher Vertreter, welche aus tropischen Pflanzen gewonnen werden, erlangt. Man unterscheidet die Gewinnung aus Oelsaaten und Oelfrüchten. Im Gegen- satz zu den tierischen Fetten, welche leicht unter dem Einfluß der Atmosphärilien Zer- setzungen anheimfallen und deshalb un- mittelbar verarbeitet werden müssen, halten sich die ölhaltigen Samen vieler Pflanzen, die sogenannten Oelsaaten, bei geeigneter Lagerung monatelang, ohne zu verderben. Daher gelingt es, diese Saaten auf weite Ent- fernungen zu transportiere)], und besonders in den nördlichen Ländern beruht die tech- nisch hoch entwickelte Oelindustrie über- wiegend auf der Verarbeitung von tropischen Oelsaaten. Zur Gewinnung des Oeles aus dem Samen müssen die Saaten ebenfalls von Beimengungen befreit werden, bevor sie nach erfolgter Zerkleinerung und Entfernung der Schalen in den großen hydraulischen Oelpressen dem Preßverfahren unterworfen werden. Je nachdem es sich um die Ge- winnung von Speiseölen oder Gelen für technische Zwecke handelt, erfolgt die Pressung in der Kälte oder in der Wärme. Kalt gepreßte Oele sind stets viel reiner und enthalten nicht jene oft bedeutenden Mengen an Färb- und Futterstoffen, welche warm- gepreßte Oele zu Genußzwecken untauglich machen. Die Oelausbeute ist jedoch in der Wärme erheblich höher. Aber auch die in der Wärme ausgepreßten Oele können zu Speisezwecken Verwendung finden, falls sie einer chemischen Raffination unter- worfen werden, wobei vor allem durch Be- handlung mit Laugen vorhandene Fett- säuren entfernt werden. Der Rückstand bei der kalten und warmen Pressung, welcher je nach dem angewandten Verfahren noch mehr oder weniger Fett enthält, findet als Oelkuchen vielseitige Verwendung zu Fut- ter- und Düngezwecken, da die Oelkuchen stets bedeutende Mengen an Pflanzeneiweiß und Kohlenhydraten neben Fett enthalten. Im Gegensatz zu den Oelsaaten müssen die Oelfrüchte, wie z. B. die Oliven, an dem Ort ihrer Gewinnung selbst verarbeitet werden. Während die weitere Ausbildung der Oelgewinnungsverfahren aus Saaten und Früchten zurzeit nur wichtige ingenieur- technische Aufgaben enthält, bildet die Rei- nigung der Rohöle ein wichtiges chemisches Problem. Bei den Reinigungsmethoden hat man zu unterscheiden die Entfernung von mecha- nischen Verunreinigungen, welche entweder durch längeres Stehenlassen in Klärgefäßen erfolgt oder durch Filtration mit Filter- pressen unter Druck unter gleichzeitiger Anwendung von wasserentziehenden und -entfernenden Materialien wie Fullererde, Kieselgur, Alu miniumhydrosilikat, Knochen- kohle usw. Die stets in den Rohölen ent- haltenen Eiweißkörper, Pflanzenschleime und Harze werden mit Hilfe von Säuren, vor allem konzentrierter Schwefelsäure, oder alkalischen Laugen entfernt. Manche Fette müssen auch mit Hilfe von Oxydations- mitteln, wie Bichromaten, Permanganaten und Chlor gebleicht werden. Durch An- wendung dieser Chemikalien wird auch in manchen Fällen eine Geruchsverbesserung der Fette herbeigeführt, die besonders wich- tig ist für die aus Abfallstoffen gewonnenen Extraktionsfette. Im allgemeinen liefert die Behandlung der pflanzlichen Rohmate- rialien mit Extraktionsmitteln, wie Schwefel- kohlenstoff und Benzin, Di-, Tri- und Penta- chloräthylen und Tetrachlorkohlenstoff nicht so reine Oele wie das Preßverfahren, weil die genannten Lösungsmittel auch auf die oft unerwünschten Beimengungen lösend einwirken. Untersuchungsmethoden der Fette und Oele. a) Physikalische Untersuchung. Die physikalischen Eigenschaften sind ebenso wie die chemischen charakteristisch für die Oele und Fette und in den meisten Fällen genügend konstant, um als Merkmal für die Identifizierung zu dienen und die Entdeckung von Verfälschungen zu ermög- lichen. Es gelingt zwar häufig nicht mit Hilfe einer einzigen Konstanten den Nachweis für die Existenz eines Fettes zu erbringen, doch geben mehrere, besonders im Verein mit chemischen Untersuchungen wertvolle Aufschlüsse. Als physikalische Konstante kommen in Betracht: 1. das spezifische Fette, Oele, Seifen 1030 Gewicht, 2. der Schmelz-, Tropf- und Er- starrungspunkt, 3. der Licht brechungsquo- tient, 4. die Härte und Zähigkeit, 5. die Löslichkeit, 6. die Färbung, 7. das mikro- skopische Aussehen, 8. das optische Drelnums vermögen, 9. die Verbrennungswärme, 10. das elektrische Leitungsvermögen und 11. die Kapillarität. Am häufigsten benutzt man in der Praxis die Bestimmung des spezifischen Gewichtes, des Schmelz- und Erstarrungspunktes, sowie der Refraktion. Oele, welche für Schmierzwecke benutzt werden sollen, müssen vor allem auf ihre Zähigkeit untersucht werden. b) Chemische Untersuc h u n g. Die chemische Untersuchung dagegen hat vor allem die Aufgabe, den Gehalt eines Fettes an seinen einzelnen Bestand- teilen zu ermitteln und andererseits das Verhältnis der einzelnen Fette in Mischungen, die Menge der Zusätze bei Verfälschungen und die Reinheit zu bestimmen. Diese schwierige Aufgabe hat die technische Fett- analyse in neuerer Zeit mit großer Sicherheit gelöst. Die wichtigsten chemischen Metho- den, welche dabei benutzt werden, sollen im folgenden im Prinzip kurz dargelegt werden. Säurezahl. Die Bestimmung der Säure- zahl gibt an, wieviel Milligramme Kalihydrat zur Sättigung der in 1 g Fett enthaltenen freien Fettsäure erforderlich sind. Diese Zahl ist jedoch keine konstante, da sie vielmehr wesentlich von der Reinheit und vom Alter der Proben abhängig ist. Sie kann daher auch nicht zur Unterscheidung einzelner Fette herangezogen werden. Frische Fette sind meistens nahezu säurefrei. Beim Lagern aber bildet sich oft freie Säure infolge von Hydrolyse, welche sehr schnell voranschreitet, wenn die Oele oder Fette in Berührung mit Stoffen gelassen werden, die leicht in Gärung oder Fäulnis übergehen. Die tierischen Fette und Oele, insbesondere solche von Land- tieren, unterliegen der Zersetzung in freie Säure viel weniger als pflanzliche. Verseifungszahl. Die Verseifungszahl gibt an, wieviel Milligramm Kalihydrat zur vollständigen Verseifung von 1 g Fett er- forderlich sind. Die Verseifungszahl bietet ein einfaches Mittel, um einzelne Fette und Oele zu unterscheiden. Man unterscheidet die drei Klassen: 1. Fette mit niedriger Verseifungszahl, 171 bis 183, meistens " nahe 175: Rüböl- gruppe, Ricinusöl und Traubenkernöl. 2. Fette mit mittlerer Verseifungszahl, nahe 193: hierzu gehört die große Mehrzahl der Fette und Oele. 3. Fette und Oele mit hoher Verseifungs- zahl, 205 bis 290, die bedingt ist durch einen beträchtlichen Gehalt an flüchtigen Säuren: Butterfett, einzelne Trane, Kokosnußöl- gruppe. Jodzahl. Eine wichtige Konstante ist ferner die Jodzahl, welche angibt, wieviel Ge- wichtsprozente Halogen, berechnet als Jod, ein Fett unter bestimmten Versuchsverhält- nissen aufzunehmen vermag. Die Jodzahl bildet demnach ein Maß für den Gehalt eines Fettes an ungesättigten Fettsäuren. Letztere können sich nämlich sowohl in freiem Zu- stand, als in Form ihrer Glyceride mit Halogenen vereinigen. Die Menge des an- gelagerten Halogens entspricht bei Säuren mit einer Doppelbindung (Oelsäurereihe) zwei, mit zwei Doppelbindungen (Linol- säurereihe) vier, mit drei Doppelbindungen (Linolensäurereihe) sechs Atomen. Auf der Höhe der Jodzahl beruht auch die wichtige Einteilung derpflanzlichenOele in trocknende, halb trocknende und nicht trocknende. Als trocknende bezeichnet man die Oele von der Jodzahl 200 bis 120, wie Leinöl, Mohnöl und Holzöl. Halb trocknende Oele, wie Sesamöl, Baumwollsaatöl und Rüböl, haben eine Jodzahl von 120 bis etwa 95. Die Jodzahl der nicht trocknenden Oele, wie Olivenöl, Erdnußöl, Ricinusöl usw., liegt unterhalb 95. Reichert-Meißlsche Zahl. 1 >ie Reichert - Meißische Zahl gibt die Anzahl Kubikzentimeter x/io normaler Lauge an, welche zur Neutralisation der aus 5 g Fett nach dem Reichert sehen Destillations- verfahren abgeschiedenen flüchtigen wasser- löslichen Fettsäuren erforderlich sind. Da die meisten Fette sehr wenig flüchtige Säuren enthalten, liegt ihre Reichert- Meißlsche Zahl meist unterhalb 1. Eine hohe Zahl zeigen dagegen das Butterfett (26 bis 32), die Fette der Kokosnußölgruppe (5 bis 8) und Delphintran (60 bis 66). Audi ranzige Fette zeigen übrigens oft einen weit höheren Gehalt an flüchtigen Säuren als die entsprechenden frischen Fette. Die Reichert-Meißlsche Zahl ist von großer Wichtigkeit für die Untersuchung der Speise- fette und besonders der Butter, da sämt- liche Verfälschungen der Naturbutter diese Zahl erniedrigen. H e h n e r z a h 1. Die H e h n e r zahl gibt den Prozentgehalt eines Fettes an wasser- unlöslichen Fettsäuren an. Ihre Kenntnis ist besonders wichtig für die Bestimmung von Rohstoffen der Stearinindustrie und zur Beurteilung von Seilen. Die He hn er zahl der meisten Fette liegt nahe bei 95. Erheb- lich niedrigere Zahlen ergeben nur diejenigen Fette, deren Verseif ungs- und Reichert- Meißlsche Zahlen besonders hoch sind, wie z. B. Kokosfett 83,8—90,5, Palmkernfett 91, Butterfett 86 — 88 und Delphintran (vom Kopf) 66 3. Acetylzahl. Die Acetylzahl gibt die An- zahl von Milligramm Aetzalkali an, die zur Neutralisation der bei der Verseifung von 1 g 1040 Fette, Oele, Seifen acetylierter Fettsäuren bezw. acetylierten Fetts gebildeten Essigsäure erforderlich ist. Die Acetylzahl der meisten Fette und Fettsäuren ist gering und beträgt weniger als 10. Beim Altern und Ranzigwerden der Fette kann die Acetylzahl allerdings bedeutend steigen. Es liegt demnach keine Konstante, sondern eine Variable wie die Säurezahl vor. Sehr hohe Acetylzahlen haben die durch einen hohen Gehalt an Oxysäuren gekennzeich- neten Oele wie Ricinusöl (153 bis 156) und Traubenkernöl (144). Zum Nachweis dieser Oele ist daher die Acetylzahl sehr geeignet. Die quantitative Analyse von Fetten oder Fettgemischen, welche keine fremden Bestandteile, wie Harze, Mineralöle, Paraffin usw., enthalten, beschränkt sich meist auf die Bestimmung des Gehalts an folgenden Bestandteilen: 1. freie Fettsäuren, Neutralfett und mittleres Molekulargewicht der freien Fett- säuren, 2. nicht flüchtige und flüchtige Fett- säuren, 3. flüchtige und feste Fettsäuren, 4. Palmitinsäure, Stearinsäure, Arachin- säure und Oelsäure, 5. Oxyfettsäure, 6. Laktone, 7. Unverseifbares 8. Glycerin. Eine eingehende Beschreibung dieser Be- stimmungsmethoden liegt außerhalb des Kahmens dieses Artikels und ist in den in der Literatur genannten Handbüchern ent- halten. Verwendung der Fette und Oele. Die Verwendung der Fette und Oele ist eine außerordentlich mannigfaltige, so daß hier nur eine kurze Uebersicht ge- geben werden kann. Eine der ältesten Ver- wendungsarten ist diejenige als Leucht- mittel in Form von Brennöl, Talgkerzen und Stearinkerzen neben Walrat- und Wachs- kerzen. Viel wichtiger ist dagegen die Ver- wendung der pflanzlichen Fette, welche keine gesundheitsschädlichen Stoffe enthalten, zur Herstellung von Speiseölen und Speisefetten. Hierzu dienen vor allem Olivenöl, Erdnußöl, Baumwollsaatöl, Sesamöl, Mohnöl und in geringerem Maße Rüböl und Leinöl. In der Speisefett- und Margarineindu- strie findet ferner noch Talg, Kokosnußöl und Palmkernöl Verwendung. Neuerdings hat man durch Behandlung von minder- wertigen Fetten und Tranen mit Wasser- stoff bei Gegenwart von Katalysatoren wertvolle und geruchlose Produkte (z. B. ,,Talgol") von hohem Schmelzpunkt her- gestellt, welche immer mehr Verwendung in den obengenannten Industriezweigen finden. Einige Fette und Oele werden ferner als Schmiermittel benutzt, jedoch tritt die Bedeutung dieser Industrie immer mehr zurück gegenüber der zunehmenden Mineral- Schmierölindustrie (vgl. unten die Schmier- öle). Leinöl und andere trocknende Oele be- nutzt man vor allem zur Herstellung von Firnissen und Lacken, und endlich lassen sich fast alle Oele in der Seifen- fabrikation verwenden. Erwähnt seien endlich noch die sogenann- ten Gerberfette und Textilöle, unter denen das Türkisch-Rot-Oel, das beim Behandeln desRicinusöls mit konzentrierter Schwefelsäure entsteht, in der Färberei und im Zeugdruck viel benutzt wird, und eine Reihe von Kautschuksurrogaten, meist als Factis bezeichnet, welche bei der Ein- wirkung, von Schwefel oder Chlorschwefel auf Oele, wie Leinöl, Kottonöl, Ricinusöl, Trane usw., entstehen. Uebersicht der technisch wichtigen Fette und fette Oele. Im folgenden ist eine kurze Uebersicht über die technisch wichtigsten Fette und fetten Oele gegeben. Man unterscheidet danach: I. Pflanzliche nicht trocknende Oele und feste Fette. Olivenöl aus dem Fleich der Oliven, Oliven- kernöl, Erdnußöl, Ricinusöl, Traubenkernöl, Mandelöl, Kokosnußöl, Palmöl (aus dem Fleisch der Früchte), Palmkernöl, chinesischer Talg (Pflanzen wachs), Kakaobutter, Muskat- butter. II. Pflanzliche halbtrocknende Oele. Baumwollssaatöl (Cottonöl), Kapoköl, Sesam- öl, Maisöl, Leindotteröl, Bucheckernöl, Rüb- öl, Schwarz- und Weißsenfsaatöl. III. Pflanzliche trocknende Oele. Mohnöl, Sonnenblumenöl, Nußöl, Hanföl, Leinöl, chinesisches Mohnöl, Perillaöl usw. IV. Fette und Oele von Landtieren. Klauenfette, Knochenöle, Pferdefett, Rindstalg, Hammeltalg, Talgöl, Schweine- schmalz, Schmalzöl, Butterfett. V. Fette und Oele von Seetieren. Robben- und Walfischtran, Delphin- und Meerschweintran, Menhadentran, Sardinenöl, Dorschlebertran. Die wichtigsten Konstanten. Die wichtigsten Konstanten der haupt- sächlichsten Fette und Oele sind ferner noch in der folgenden Uebersichtstabelle zusammengestellt: Fette, Oele, Seifen 1041 Name des Oels Spez.-Gew. Kältepunkt u. Schmelzpunkt Versei- fungszahl Jod zahl lach Hübl- Waller Reichert- Meißlzahl Hehner- zahl Acetyl- zahl )livenül 0,914 — 0,919 1 einzelne — 50 ! 190 — 193 1 bei geringen noch fließend, meist nahe Sorten — 90 erstarrt, \ bei 190 0,920 — 0,925 (andere schon bei o° erstarrt 79-85 meist 82 o,3 (06) 4 94—96 4 — 10 )Hvenkernöl 0,918 — 0,920 1S2 — 188,5 87—88 — — 22,5 Srdnußöl 0,9165—0,920 0— 3° 189 — 194 86—98 0,5—1,6 94—96 3,4 Ücinusöl 0,960—0,974 —10 bis — 18° 176—183 82—88 1,1—2,8 — 146—156 [andelöl 0,916 — 0,920 —10 bis — 25° 190 — 196 93—102 — 96—97 5,8 (meist nahe an 191 vokosnußöl 0,925 — 0,938 ' erstarrt bei ! 246 — 258 8,6—9,4 5,6—7,4 82,4—90,5 0,9—12,3 14—23,1°, schmilzt bei 20,3 — 28° 3almöl (aus dem o,945—o,95'' schmilzt je 196 — 207 51—58 0,5—1,87 95—97,o 0,7—0,8 fleisch der Früchte) bei 980— ioo° 0,858 — 0,860 nach Alter und Ursprung zwi- schen 27 u. 43° Palmkernöl 0,941—0,952 schmilzt 241 — 250 zwischen 23° u. 30° 10—18 5-7 87,6—91,1 i,9— 4,s Kakaobutter 0,950—0,995 bei 50° 0,892 21 — 23° schmilzt zwischen 29—34,5° 192 — 194 34—37 0,3—1,6 94,'' Baumwollsaatöl 0,922 3-4° 191 — 198 meistens nahe bei 195 103 — 110 0,4—1 95,9—96,2 16,6 Sesamöl 0,922—0,9237 zwischen —3 und — 50 188—195 103 — 112 1,2 95,6—95,9 ",5 Maisöl 0.9215—0,9256 —10 bis — 20° 189—193 119— 123 o,33—2,5 83—96 7,8-8,75 Rüböl 0,9123—0,9175 meistens bei o° talgartig, 5- bis 10 stündige Kühlung und Bewegung nötig 171— 179 meistens bei 175 97— IQ5 0,25—0,4 95 6,3 Schwarzsenf saatöl 0,916 — 0,920 -5° . 174— 175 96 — 107 — — " Mohnöl 0,924—0,927 —15° meist noch flüssig, — 18° starr 190 — 198 134—143 0 95,2 13, 1 »Sonnenblumenöl 0,924 — 926 — 12° noch flüssig, — 17° teilw. erstarrt 188—194 122 — 125 95,o Hanföl 0,925—0,928 ■ — 15° noch flüssig —27,5 starr0 190 — 194 157— l66 140,5 7,5—2o Leinöl 0,9305—0,9352 — 150 flüssig —27,5° starr 190—195 meistens bei 182 171 — 190 O 95,5 8,5 Klauenfette und 0,914 — 0,910 je nach Her- 191— 203 schwankt O — ",3 Knochenöle stellung bezw. je nach Stearingehalt Stearin- weit über und gehalt unter o° zwischen 44—75 Rinds talg 0,943 — 952 27—35° 193 — 200 35—44 0,25—0,5 95—96 2,7-8,6 Hammeltalg o,937 — °,94° 32,9—41,0° 193— !95 35—4° 95,5 Schweineschmalz 0,931 — 0,938 27,1—29,9° 195—197 60,4—68,4 o,3—o,9 92,8—95,5 Robbentran 0,9249 — 0,9263 —2 bis — 30 189 — 196 127—152 0,14—0,44 92,8—95,5 Walfischtran 0,917 — 0,9272 unter — 2° 188—224 110 — 128 »•7—2,4 93,5 Menhadenöl 0,927 — 0,933 -4° — i 189 — 192 148 — 160 1,2 Sardinenöl 0,916 — 0,934 189 — 192 100 — 164 95,5—97 -A 1 X. ,1 - ™V,o-ff«-n RiTl.l in 66 1042 Fette, Oele, Seifen 2b) Trocknende Oele (Firnisse). Eine Reihe von Pflanzenölen besitzen, wie bereits erwähnt, die Eigenschaft, an der Luft, in dünner Schicht ausgebreitet, nach kurzer Zeit unter Aufnahme von Sauerstoff und Bildung harzartiger Massen einzutrock- nen, welche als Firnisse und zur Her- stellung von Lacken umfangreiche Ver- wendung finden. Zu diesen Oelen gehört in erster Reihe das- Leinöl, das aus dem Samen des Flachses gewonnen wird, das chinesische Holzöl, das Hanföl, Mohnöl, Sonnenblumenöl und endlich das Sojabohnenöl. Am meisten Benutzung findet das Leinöl, und an ihm sind auch die Erscheinungen der Trocknung, die ihrem chemischen Charakter nach immer noch nicht vollständig erklärt sind, vor allem studiert worden. Man nimmt jetzt an, daß das Trocknen der Oele auf Oxy- dation und Polymerisationsprozessen beruht, welche die doppelt und dreifach ungesättigten Fettsäureglyceride in den trocknenden Oelen erleiden. Dieser Oxydationsprozeß wird durch das Licht und auch durch die Anwesenheit kleiner Mengen katalytisch wirkender Blei-und Manganverbindungen, die man als Sikkative (Trockner) bezeichnet, erheblich beschleunigt. Die Herstellung der Firnisse erfolgt ent- weder durch Erhitzen der Oele auf hohe Temperatur (ca. 250°), wobei stets starkes Schäumen und Entwickelung von ähnlich wie Akrolein riechenden Substanzen erfolgt, oder bei niederer Temperatur, wenig über 100°, bei Anwesenheit von Linolaten oder Resinaten des Bleies oder Mangans. Die Art und Dauer der Erhitzung ist jedenfalls für die Qualität des gewonnenen Firnisses ebenso wie die Reinheit der betreffenden Oele von aus- schlaggebender Bedeutung (Näheres siehe im Artikel „Farben" bei den Lacken). 3. Aetherische Oele. Die ätherischen Oele unterscheiden sich von den fetten Oelen durch die Eigenschaft, daß sie auf Papier gebracht einen bald verschwindenden durchscheinenden Flecken hinterlassen und daß sie in ihrer überwiegenden Mehrzahl mit Wasserdämpfen vollständig flüchtig sind. Ferner sind diese chemisch meist recht kompliziert zusammengesetzten Oele durch einen hervorstechenden Geruch charakteri- siert, der ihre' umfangreiche Verwendung bedingt. Aetherische Oele finden sich in fast allen Pflanzenteilen, vornehmlich bei Phanerogamen, in den Kräutern, Blüten, Knospen, Blättern, Früchten, Fruchtschalen, Samen, Stengeln, Wurzeln, Hölzern, Rinden, Harzen und Balsamen. Meist sind die Oele in den Pflanzen fertig gebildet enthalten und erfüllen das innere Zellgewebe, den Zellsaft, oder sie treten in der Epidermis auf. Im allgemeinen liefern die einzelnen ölhaltigen Teile einer Pflanze das gleiche ätherische Oel. Eine bemerkenswerte Aus- nahme bildet jedoch u. a. der Ceylon-Zimt- strauch, dessen Rinde, Blätter und Wurzeln drei ganz verschiedene ätherische Oele liefern. Entstehung der ätherischen Oele. Ueber die Entstehung der ätherischen Oele in der Pflanze ist erst in der Neuzeit einiges bekannt geworden. Als ziemlich sicher darf man annehmen, daß die äthe- rischen Oele Abbauprodukte des pflanz- lichen Organismus sind, welche für den Stoffwechsel nicht weiter in Betracht kommen und daher zur Abscheidung ge- langen. Sein stark beeinflußt wird die Oelbildung auch durch photochemische Vor- gänge; so vermag das Sonnenlicht einen erheblichen Einfluß auf die Menge des in einzelnen Pflanzen enthaltenen Oeles aus- zuüben. Bei unter Lichtabschluß gezogenen Pflanzen nimmt der Gehalt an Oelen sowohl qualitativ wie quantitativ erheblich ab. Auch Witterungseinflüsse vermögen die Ent- wickelung der Pflanzen und die Eigen- schaften der ätherischen Oele erheblich zu beeinflussen. Dies gilt besonders für die aus Blüten und Früchten gewonnenen Oele. Ueber den Zweck der Oele für den pflanz- lichen Haushalt nimmt man neuerdings meist an, daß dieselben in erster Linie Schutzmittel gegen tierische Angriffe bieten. Bei den Blüten kommt als weiterer Zweck hinzu, daß die Oele Lockmittel für die In- sekten bieten, welche die auf entomophile Bestäubung angewiesenen Blüten besuchen. Interessante Ausblicke zur Frage der Entstehung der ätherischen Oele eröffnen die Arbeiten von F. Ehrlich.1) Dieser Forscher wies bereits vor einigen Jahren nach, daß Hefe mit größter Leichtigkeit aus der weitverbreiteten Aminosäure, dem Phenylglykokoll, den in größter Menge in den Riechstoffen der Rose vorkommenden Phenyläthylalkohol produziert. Er schloß hieraus, daß dieser und andere Riech- stoffe der Rose in ähnlicher Weise aus dem Pflanzeneiweiß und seinen Bestandteilen und Spaltungsprodukten hervorgehen. Selbst die Bildung komplizierterer ätherischer Oele und Riechstoffe sowie der Kamp her und der Terpene aus Eiweiß wird verständlich, wenn man annimmt, daß die zuerst an den Aminosäuren abgespaltenen stickstoffreien Verbindungen untereinander und mit anderen Pflanzenstoffen Kondensationen eingehen, und daß diese neu entstandenen Substanzen durch bestimmte Enzyme weiteren Spal- tungen unterliegen. Im Lichte dieser An- schauungen stellen sich die Riechstoffe in den höheren Pflanzen als für den Organismus 1) F. Ehrlich, Ueber die Bedeutung des Eiweißstoffwechsels für die Lebensvorgänge in der Pflanzenwelt (Breslauer Ladenburg- Rede 1911). In der Sammlung Chemischer und chemisch-technischer Vorträge (Ahrens u. Herz) Bd. XVII, 297 bis 310, Stuttgart 1911. Fette, Oele, Seifen 1043 unverwertbare Eiweißstoffwechselprodukte dar, welche ähnlich wie z. B. das Fuselöl bei der Hefegärung entstanden sind. Von chemischem wie von botanischem Interesse ist die Frage, ob innerhalb der- selben Pflanzenfamilie die einzelnen Arten dieselben oder ähnlich zusammengesetzte Oele hervorbringen. Dieses ist im allgemeinen nicht der Fall, obwohl z. B. die Oele der Koniferen, der Kruziferen und Alliumarten, sowie vieler Labiaten und Laurazeen durch ähnliche Oele charakterisiert sind. Klassifikation und Chemische Zu- sa nimensetzung. Line Klassifikation der ätherischen Oele nach rein chemischen Gesichtspunkten, unter Zugrundelegung der Hauptbestandteile, ist nicht möglich. Auch eine Unterscheidung nach dem Geruch ist undurchführbar, da der charakteristische Geruch meist erst durch das Zusammenwirken mehrerer Einzel- bestandteile entsteht, die keineswegs bei der großen Mehrzahl der ätherischen Oele gänz- lich bekannt sind. So benutzt man aus rein praktischen Gründen vielfach, da auch die botanischen Einteilungsmethoden versagen, eine Einteilung nach einem sehr äußerlichen Kennzeichen, nämlich nach dem Alphabet. Die genaue Kenntnis der chemischen Zusammensetzung gehört erst der neuesten Zeit an und ist in erster Reihe durch 0. Wallach und seine Schüler, ferner durch A. von Baeyer, Tiemann, Semmler, Bertram, Barbier, Bouveault, Gilde- meister, Hesse, Perkin, Walbaum u. a. gelördert worden. Durch diese Arbeiten hat sich herausgestellt, daß fast alle ätheri- schen Oele eine große Anzahl von chemischen Einzelverbindungen enthalten, deren Ab- scheidungsmethoden auch erst in neuerer Zeit bekannt geworden sind. So sind bei- spielsweise im Zitronenöl nicht weniger als 15 Körper (Limonen, Pinen, Phellandren, Campben, Citral, Citronellal, Octylaldehyd, Nonylaldehyd, Geraniol, Linalool, Terpineol, Geranylacetat, Linalylacetat, Methylhep- tenon und ein Sesquiterpen) sicher erkannt worden, während im Neroliöl ca. 18 bis 20 Be- standteile, darunter das stickstoffhaltige Indol und der Anthranilsäureester nachgewiesen worden sind. Bisher hat man im ganzen folgende Hauptklassen von Bestandteilen in den ätherischen Oelen nachgewiesen: 1. Methanderivate. Kohlenwasserstoffe, Alkohole, Aldehyde, Ke- tone, Säuren und Ester, Schwefel- und Stick- stoff Verbindungen. 2. Benzolderivate: Kohlenwasserstoffe, Phenole und Phenol- äther, Alkohole, Aldehyde, Ketone, Säuren und | Ester, Laktone, stickstoffhaltige und schwefel- haltige Verbindungen. 3. Hydroaromatische Reihe: Kohlenwasserstoffe, darunter die wichtige Klasse der eigentlichen Terpene G,0H16 und Ses- quiterpene, Alkohole, Aldehyde, Ketone, Oxyde, Säuren, Ester und Laktone. 4. Heterocyklische Reihe: Sauerstoffhaltige Ringe, z. B. Furfuranderi- vate und stickstoffhaltige Ringe, wie Pyrrol, Indol usw. Gewinnungsmethoden. Zur Oelgewinnung benutzt man drei Hauptmethoden : die Wasserdampf destillation, die Extraktion und die Pressung. Wasserdampfdestillation. Die am meisten angewandte und älteste Methode der Oelgewinnung, die Wasserdampfdestil- lation, beruht auf der Tatsache, daß die ätherischen Oele mit Wasserdämpfen flüchtig sind. Diese Verfahren sind in neuerer Zeit in apparativer Weise außerordentlich vervollkommnet worden, vor allem durch die Benutzung der Vakuumdestillation, welche in der Technik eine große Bedeutung erlangt hat, Extraktion. Die Methode der Extrak- ; tion zur Gewinnung ätherischer Oele, diegegen- ! wärtig noch, vor allem in Südfrankreich, aus- geübt wird, bezweckt hauptsächlich die Iso- lierung sehr feiner, gegen Wasserdämpfe emp- findlicher Blütenöle. Man benutzt drei ver- schiedene Formen bei der Extraktionsmethode. Entweder wird nämlich, bei der eigent- lichen Extraktion, das ätherische Oel den 1 Blüten mittels flüssiger, niedrig sieden- der Lösungsmittel, wie Aether, Chlormethyl und Schwefelkohlenstoff, entzogen und nach beendigter Extraktion das Lösungsmittel wieder verdampft. Bei dem Verfahren der sogenannten Mazeration werden die Blüten mit . warmem, sorgfältig gereinigtem tieri- schem Fett übergössen, welches das äthe- rische Oel aufnimmt. Die extrahierten Blüten werden dann entfernt und bis zur Sättigung des Fettes durch frische ersetzt, Nach diesem Verfahren erhält man die wohlriechenden Pomaden. Besonders wichtig ist endlich die dritte Form, das Verfahren der ,,enf leurage" das besonders in Grasse (Südfrankreich), ausgeübt wird. Hierbei werden die zu ex- trahierenden Blüten, vor allem Jasmin- und Tuberosenblüten, zwischen je zwei mit kaltem Fett bestrichene (ilasplatten aus- gebreitet, wo sie so lange verbleiben, bis sie ihren gesamten Duftstoff an die Fett- schichten abgegeben haben. Dann werden sie durch frische Blumen ersetzt, bis das Fett gesättigt ist, das zur Erhöhung der Absorptionsfähigkeit stets mit Spateln mehrfach umgearbeitet wird, wodurch immer neue Fetteile an die Oberfläche kommen. Die nach diesem Verfahren gewonnenen Pomaden sind außerordentlich wertvoll. Pressung. Endlich wird aus einigen sehr ölreichen Früchten der Citrusarten, aus Bergamotten, Zitronen, Pomeranzen usw. das ätherische Oel durch Pressung gewonnen. 66* 1044 Fette, Oele, Seifen Eigenschaften und Untersuchungs- methoden der ätherischen Oele. Mit wenigen Ausnahmen sind die äthe- rischen Oele bei gewöhnlicher Temperatur flüssig und meist gelblich bis wasserhell ge- färbt; doch gibt es auch einige goldgelbe, hell- bis dunkelbraune, grüne und blaue Oele. Zur Charakterisierung der einzelnen Oele sind besonders chemische neben physikalischen Untersuchungsmethoden im Gebrauch. Chemische Untersuchungsmetho- den. Die chemischen Untersuchungsmethoden erstrecken sich hauptsächlich auf die quanti- tative Bestimmung der einzelnen Bestand- teile jedes Ocls, sowie auf die Anwesenheit etwaiger Verfälschungsmitte]. Im einzelnen bestimmt man nach besonderen Methoden den etwaigen Gehalt an freier Säure, an Estern, an Alkoholen und Phenolen, Al- dehyden und Ketonen, Methoxyl- und Aeth- oxyl Verbindungen. Unter den Verfälschungs- mitteln ist besonders wichtig und häufig angewandt das Terpentin, der Spiritus, fette Oele, Mineralöle, Zedernholzöl und Kopaiva- balsam. Die vorzügliche Durchbildung der ana- lytischen Methoden, die vor allem der Firma Schimmel & Co. zu verdanken ist, hat jetzt im Handel die Beachtung ganz be- stimmter Normen für die Beurteilung der ätherischen Oele herbeigeführt, so daß gegen- wärtig Fälschungen ätherischer Oele meist ohne Schwierigkeit erkannt werden können. Physikalische Untersuchungs- methoden. Von den physikalischen Unter- suchungsmethoden ist besonders wichtig die Bestimmung des spezifischen Gewichts, des optischen Drehungs- und Brechungs- vermögens, des Erstarrungspunktes und des Siedeverhaltens, sowie die Untersuchung der Löslichkeit. Die Verwendung der ätherischen Oele. Die ätherischen Oele finden vor allem in der Parfümerie zur Herstellung bestimmter einfacherer Riechstoffe Verwendung, welche häufig erst von den übrigen Bestand- teilen der einzelnen Oele getrennt werden müssen. Eine Reihe von ätherischen Oelen werden übrigens auch auf synthetischem Wege hergestellt, und zwar durch Mischen der billigeren Einzelverbindungen, deren zweck- entsprechendes Mischungsverhältnis man aus der Analyse der natürlichen Oele kennen ge- lernt hatte. Eine Verdrängung der Naturpro- dukte durch die synthetischen Oele hat jedoch keineswegs stattgefunden, da mit der Verbilligung derselben der allgemeine Verbrauch sehr gestiegen ist. Zahlreiche Oele dienen ferner zur Herstellung kos- metischer Präparate, wie Mund-, Kopf- und Haarwassern, Haarölen, Zahnpasten und vor allem zur Parfümierung von Seifen. Eine Reihe von Oelen wie Kümmel, Wermut, Baldrian, Nelken- und Sandelholzöl finden Verwendung in der Medizin; das Terpentinöl bildet die Grundlage der Lack- und Firnisindustrie, und verschiedene Oele braucht man in der Likör- und Limonadenfabrikation, in der Konditorei usw. 4. Schmieröle. Die Aufgabe des Schmier- mittels — und zwar sowohl der pflanzlichen wie der mineralischen Schmieröle, besteht darin, die aneinandergleitenden Metallflächen der Maschinen und Fahrzeuge vor direkter Berührung, starker Reibung und Abnutzung zu schützen. Je vollkommener diese Auf- gabe unter den jeweiligen Temperatur-, Geschwindigkeits- und. Druck Verhältnissen gelöst wird, und je geringer die bei der Bewegung der Maschinenteile mit zu über- windende innere Reibung des Schmiermittels ist, um so wertvoller erscheint dasselbe in mechanischer Hinsicht. Bis zu den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts benutzte man zum Schmieren fast ausschließlich Pflanzen- und Tierfette, wie: Knochenöl, Spermacetiöl und Olivenöl, sowie Rüböl. Von diesen zeigen die drei erstgenannten nur geringe Veränderungen ihrer flüssigen Beschaffen- heit in dünner Schicht, während das Rüböl nach einiger Zeit in dünner Schicht klebrig wird. Gegenwärtig sind die Pflanzenöle zu Schmierzwecken sehr zurückgedrängt worden, sodaß sie nur in kleineren Betrieben Ver- wendung finden. Im Großhandel findet sich als Schmieröl fast nur noch das Knochen- öl, das schwer ranzig und sauer wird und infolgedessen Metallteile nicht angreift. Es wird daher mit Vorteil zum Schmieren von feinen mechanischen Werken, z. B. Uhren, benutzt. Ferner werden auch Mischungen von Pflanzenölen und Mineralölen benutzt. Man nennt diese Oele, welche durch Ein- blasen von Luft bei höherer Temperatur in Rüböl oder Kottonöl entstehen, Compound- öle. Durch den Oxydationsprozeß tritt eine erhebliche Erhöhung der Zähigkeit des Rüböls ein und gleichzeitig auch eine Er- höhung der Dichte. Außer diesen, auch als „geblasene" Oele bezeichneten Mischungen spielen die Pflanzenfette noch eine gewisse Rolle in der Fabrikation der „konsistenten Maschinenfette", welche im allgemeinen aus Kalkseifen von Fettsäuren und Mineral- ölen bestehen. 5. Mineralschmieröle. Viel größere Bedeutung haben dagegen neuerdings die mineralischen Schmieröle erlangt, welche chemisch zu einer ganz anderen Klasse als die fetten Oele gehören und im wesentlichen aus hochsiedenden Kohlen- wasserstoffen der Paraffinreihe bestehen. Sie entstehen bei der Destillation des rohen Erdöls und werden nach Abscheidung des Rohbenzins und des Leuchtpetroleums ge- sondert aufgefangen. Die über 300° sieden- Fette. Oele, Seifen 1045 den Fraktionen, deren Menge bei den ameri- kanischen Erdölen nur 10 bis 20 %, bei den russischen dagegen 55 bis 70 % und bei den deutschen Oelen sogar 70 bis 90 % be- tragen kann, müssen zur Verarbeitung auf Schmieröle noch besonders raffiniert werden. Zu diesem Zwecke werden sie im Vakuum oder mit überhitztem Wasserdampf destil- liert, da bei der direkten Destillation unter Atmosphärendruck eine teilweise Zersetzung und gleichzeitig eine Verringerung der Zähig- keit erfolgen würde. Bei der Destillation bleiben die schweren, dunklen Harze zurück, und es entstehen hellfarbige Oele, die auf chemischem Wege durch Behandlung mit konzentrierter Schwefelsaure und Natron- lauge weiter gereinigt werden. Je nach ihrer Zähigkeit finden diese Schmieröle Verwendung als Spindelöle, Maschinenöle, Dampfzylinder- öle usw. Zum Schmieren von Wagenachsen, z. B. auch bei den Eisenbahnen, verwendet man meist die nicht destillierten,nur mit Schwefel- säure und Natronlauge gereinigten, sehr dunklen Oele. Diese dürfen jedoch nur wenig Paraffin enthalten, da sie sonst der Gefahr der Erstarrung bei tiefer Temperatur ausgesetzt sind. Ebenso müssen auch die zur Schmierung von Eismaschinen verwandten Oele eine Temperatur bis — 20° ohne Ab- scheidung fester Produkte aushalten. Für diese Zwecke kämen fette Oele niemals in Betracht, da sie bei derartigen Tempera- turen stets talgartig erstarren würden. B e s t i m m u n g s m e t h o d e n d c r Schmieröle. Die wichtigsten Bestimmungsmethodenfür die Schmieröle, welche ja stets aus Gemischen zahlreicher Kohlenwasserstoffe bestehen, be- ziehen sich auf die Bestimmung der Zähigkeit, die meist mit dem von Ubbelohde ver- besserten Viskosimeter von Engler erfolgt, die Bestimmung des Flammpunktes und Brenn- punktes, des Gehaltes an freien Säuren, an ver- seifbaren Zumischungen und an fremden, un- verseifbaren Oelen, wie Harzöle und Stein- kohlenteeröle. Unter dem Flammpunkte eines Oeles versteht man die Temperatur, bei der das Oel solche Mengen brennbarer Dämpfe entwickelt, daß sie mit Luft gemischt bei Annäherung einer Flamme explodieren. Durch die Bestimmung des Flammpunktes erhält man einen gewissen Maßstab für die Verdampfbarkeit des Oeles. Ein Oel ist um so brauchbarer, je schwerer es verdampf- bar ist. Enthält es leichter verdampfbare Bestandteile, so ändert sich seine Zusammen- setzung während des Gebrauches, und außer- dem können die Oeldämpfe in Maschinen- räumen höchst lästig und feuergefährlich werden. Die Flammpunkte leichter Maschi- nenöle sollen nicht unter 145° und die von Dampfzylinderölen nicht unter 220° liegen. 6. Seifen. Die fundamentale Reaktion der Seifenfabrikation ist die „Verseifung" der Fette. Der Verseifungsvorgang be- steht darin, daß die Fette bei der Behandlung mit wässerigen Alkalilösungen in den drei- wertigen Alkohol Glycerin und in fett- saure Salze zerfallen. Die Fette vermögen sich in der Lauge nur in sehr geringer Menge zu lösen, so daß ein heterogenes System aus einer Fettschicht und aus einer wässerigen Lösung im Anfange des Pro- zesses vorliegt. der Fette im klein ist, muß Obwohl nun die Löslichkeit Wasser so verschwindend man doch annehmen, daß eine Lösung erfolgt und daß die Einwirkung des Alkalis auf das Fett nur in dieser homo- Die Geschwindig- TJm- genen Lösung stattfindet, keit, mit welcher ein Fett unter diesen ständen verseift wird, setzt sich dann aus zwei Teilen zusammen: erstens aus der Schnelligkeit der Auflösung des Fettes iu des wässerigen Phase und zweitens aus der Verseifungsgeschwindigkeit des gelösten Fettes in der homogenen Lösung. Das Wesentliche bei der Verseif ung der Fette ist die Spaltung des Fettmoleküls unter Aufnahme von Wasser in einen Alkohol und in Säuren bezw. in fettsaure Salze. Diese hydrolytische Zersetzung erfolgt durch Wasser allein bei niedrigen Temperaturen und Drucken nur in unbedeutendem Maße, wird aber bei Anwendung höherei- Tem- peraturen erheblich vermehrt. Will man die Hydrolyse der Fette allein durch Wasser bewirken, so muß man auch unter erhöhtem Druck arbeiten. Sehr Hydrolyse aber durch katalytisch wirken der neben den Alkalihydroxyden und Karbonaten auch andere Basen sowie Säuren und einige Enzyme tierischen und pflanzlichen Ursprungs hervorzuheben sind. Man bezeichnet mit dem Namen der Verseif ung gegenwärtig nicht nur die alkalische Fettspaltimg, sondern jede irgend- wie bewirkte Hydrolyse von Verbindungen, welche wie die Fette durch Kondensation von Alkoholen mit Säuren entstanden sind, der kinetische Verlauf der einfachen Ester seit langer ist, ist die Verseifung der erleichtert wird die Anwesenheit einiger Stoffe, von denen genauer Während aber Hydrolyse der Zeit bekannt Fette erst in den letzten Jahren untersucht worden, was sich dadurch er- klärt, daß die Fette mit dem Wasser und den wässerigen Lösungen wegen ihrer Schwerlöslichkeit ein heterogenes System bilden, dessen Untersuchung bedeutend grös- sere Schwierigkeiten verursachte. Das Ergebnis der neueren Arbeiten über die Verseifung von Fetten in alkoholischen Lösungen, sowie bei den wasserlöslichen Fetthomologen, z. B. den Glycerinestern der Essigsäure ist die Feststellung der Tat- sache, daß die Fettmoleküle bei der Ver- 1046 Fette, Oele, Seifen seifung nicht momentan in Glycerin und Fettsäure bezw. fettsaure Salze zerfallen; es treten vielmehr Zwischenprodukte auf, indem der Glycerintriester unter sukzes- siver Abspaltung je eines Moleküls Fett- säure zuerst einen Diester und dann einen Monoester liefert, der schließlich in freies Glycerin übergeht. Die Fettverseifung durchläuft also mehrere Stufen, aber jede Stufe für sich stellt die Verseifung eines einfachen Esters dar. Es bildet demnach die Theorie der Hydrolyse der einfachsten Ester in homogener Lösung auch die Grundlage für die Erkenntnis der homogenen und heterogenen Fettverseifung. Von den einzelnen Fettsäuren, welche in den zahlreichen Fetten und Oelen ent- halten sind, kommen als Seifenbildner alle diejenigen in Betracht, welche mindestens 8 Kohlenstoffatome im Molekül enthalten. Die Alkalisalze der niederen Fettsäuren weisen nämlich nicht jene für die Seifen charakteri- stischen Eigenschaften, vor allem die Wasch- wirkung und den kolloidalen Charakter, auf. Die im täglichen Leben mit dem Worte ,, Seife" bezeichneten Stoffe stellen jedoch keine definierten chemischen Verbindungen dar. Die Seifen im technischen Sinne sind vielmehr als kompliziert zusammengesetzte Adsorptionsverbindungen der fettsauren Al- kalisalze mit Wasser und verschiedenen Salzen aufzufassen. Man unterscheidet bei den Seifen vielfach die Kali- und Natron- seifen oder die weichen bezw. Schmierseifen und die harten Seifen. Diese Einteilung entspricht aber nur bis zu einem gewissen Grade den Tatsachen, da auch feste Kali- seifen bekannt sind. Zur Herstellung von Seifen aus Fetten benutzt man entweder Kalilauge oder Natron- lauge, zu denen in neuerer Zeit noch die Kar- bonate beider Alkalimetalle getreten sind. Diese finden aber vor allem dann Verwendung, wenn die Fette vorher bereits der Spaltung in Fettsäuren und Glycerin unterworfen wor- den sind. Die wichtigsten Methoden, nach denen die Fette in Fettsäuren und Glycerin ge- spalten werden, sind im folgenden, ihrer tech- nischen Wichtigkeit für die Seifenfabrikation entsprechend, im Prinzip aufgeführt: 1. Fettspaltung im Autoklaven. Während sich Fette beim Erhitzen unter Druck mit Wasser allein erst bei so hohen Temperaturen (über 200°) spalten lassen, daß hierbei gleichzeitig ein großer Teil der organischen Substanz zerstört wird, voll- zieht sich die Spaltung in Gegenwart kleiner Mengen von Kalk, Magnesia oder Zink- oxyd schon bei Temperaturen von 150 bis 160°. Man arbeitet meist mit dem letz- teren Oxyd und fügt der Fett-Wasseremulsion meist etwa y2 % Zinkoxyd und ebensoviel Zinkstaub zu. Die Spaltung geht dann bei G Atm. Druck in etwa 8 Stunden vor sich. Hierauf werden die Fettsäuren von dem spezifisch schwereren Glycerinwasser ge- trennt, mit Schwefelsäure zur Zersetzung der vorhandenen Zinkseife versetzt, mit Wasser gewaschen und entweder direkt auf Seifen unter Verwendung von Alkalikarbo- naten verarbeitet, oder erst einer Destil- lation unterworfen, die im Vakuum oder mit überhitztem Wasserdampf vorgenommen werden muß. 2. Fettspaltung nach Twitchell. Dieses Verfahren beruht auf der Tat- sache, daß eine Behandlung der Fette mit Schwefelsäure bei 100° Sulfosäuren der un- gesättigten Fettsäuren liefert. Entfernt man dann die Schwefelsäure, welche bei längerer Einwirkung die Fette zum Teil verkohlen würde, und kocht mit Wasser bei gewöhnlichem Druck, so bewirken die Sulfosäuren katalytisch eine fast vollständige Verseifung der Fette. Als Nachteil dieses Verfahrens muß jedoch hervorgehoben wer- den, daß eine starke Bräunung der Fette durch die anfangs zugegebene konzentrierte Schwefelsäure stattfindet und daß die aus den unbeständigen Sulfofettsäuren allmäh- lich beim Kochen abgespaltene Schwefel- säure einen großen Teil des gebildeten Gly- cerins zerstört. Um diese Uebelstände zu vermeiden, hat Twitchell nicht die Schwe- felsäure als solche den Fetten zugesetzt, sondern vorher eine geeignete Sulfosäure besonders hergestellt. In seinem „Reaktiv" benutzt er eine viel beständigere Sulfofett- säure, wie sie z. B. durch Vereinigung von Benzol, Oelsäure und Schwefelsäure ent- steht. Je nach der Art der Fette setzt er dann ein Drittel bis 3 % seines Reagenses zu und läßt die Masse ununterbrochen 12 bis 24 Stunden sieden. Auf diese Weise werden 90 bis 95 % der Fette gespalten und gleichzeitig ein Glycerinwasser erhalten, das weiter verarbeitet werden kann. 3. Fettspaltung durch Fermente. Die fermentative oder enzymatische Spal- tung, welche für die Zwecke der Technik von Connstein, Hoyer und Wartenberg ausgearbeitet wurde, beruht auf der von Green und Siegmund gemachten Beob- achtung, daß beim Zusammenreiben öl- haltiger Pflanzensamen mit Wasser durch Fermentwirkung freie Fettsäuren entstehen. Technisch verwendet man nur das Enzym des Ricinussamens, welcher mit Wasser zermahlen wird und der Gärung überlassen wird. Es scheidet sich dann ein das Ferment enthaltender dicker Rahm oben ab, welcher von der sauren Unterlauge getrennt werden kann. Bei der Herstellung von Fettsäuren Fette, Oele, Seifen 1047 gibt man 4 bis 10 % des Fermentes zu der mit 30 bis 40 % Wasser angesetzten Fett- emulsion und erwärmt auf etwa 35°. Als ,, Aktivator" gibt man dann noch meist 0,15 bis 0,2 % vom Fettgewicht an Mangan- sulfat hinzu. Nach 48 Stunden erhält man meist eine Spaltung von 90 % freier Fett- säure, worauf man mit indirektem Dampf auf ca. 80° erwärmt und etwas verdünnte Schwefelsäure zugibt. Durch Zugabe der letzteren Säure wird eine Trennung der Emulsion bewirkt in eine untere wässerige Glycerinsehieht, eine obere Fettsäureschicht und eine sogenannte Mittelschicht, auf deren tunlichste Verminderung man mit Erfolg hingestrebt hat. Sie beträgt heute bei Anwendung der Emulsion auch nur noch 2 bis 3 %. 4. Das Krebitz- Verfahren. Dieses Verfahren beruht auf der Um- setzung von Kalkseife mit kohlensaurem Alkali. Zur Herstellung einer geeigneten Kalkseife nach D.R.P. 155108 wird das auf etwa 100° erwärmte Neutralfett mit der äquivalenten Menge aus reinem Kalk her- gestellter Kalkmilch innig gemischt. Hier- bei bildet sich eine dicke Emulsion, die man der Ruhe überläßt. Es entsteht eine feste, jedoch leicht zerreibliche Kalkseife, Welche gemahlen und ausgewaschen wird, um das Glycerin zu entfernen, und dann mit Alkalikarbonat in der Siedehitze umgesetzt wird. Der durch doppelte Umsetzung entstehende kohlensaure Kalk setzt sich dann zu Boden und läßt sich ohne weiteres von der Unterlauge und der oben befind- lichen fertigen Seife trennen. Die Verseifung der Neutralfette muß dagegen mit Aetzlaugen erfolgen, und zwar je nach der Natur des Fettes mit ver- dünnterer oder mit starker Lauge. So erfordert z. B. der Talg eine verhältnismäßig dünne Alkalilösung von 8 bis 10° Baume, während sich Kokosöl und Palmkernöl nur mit konzentrierten Laugen verseifen lassen. Die Verseifung wird dabei gewöhnlich in der Siedehitze vorgenommen und die Er- wärmung mittels direkten Feuers oder besser mittels Dampf bewirkt. Wesentliche Vor- bedingung für den Eintritt der Verseifung ist eine innige Emulsion zwischen der Lauge und dem Fett. Um dies zu erreichen, wird zunächst mit dünnen, ca. 10 % starken Laugen ,, vorgesotten", worauf man all- mählich stärkere Lauge von ca. 35° Baume zufügt, bis „Verband" eingetreten ist. Man versteht hierunter den Uebergang der noch teilweise getrennten Fett- Seife-Laugen- masse zu einem homogenen Seifenleim. In diesem Augenblick ist die Verseifung soweit fortgeschritten, daß die gegenseitige Lösung der Massen möglich ist, und dieser Zeitpunkt macht sich oft dadurch erkenntlich, daß nunmehr der weitere Verseifungsprozeß mit solcher Heftigkeit unter Entwickelung von Wärme bezw. Dampf erfolgt, daß die Masse sehr hoch steigt und aus dem Kessel läuft, wenn nicht für einen genügenden Steigeraum gesorgt ist. Die Verseif ung der Fettsäuren erfolgt aus ökonomischen Ursachen meistens mittels Soda und beruht chemisch auf der Ver- drängung der Kohlensäure durch die etwas stärkere Fettsäure. Auch hierbei wird in der Siedehitze gearbeitet, indem man die Fettsäure langsam in die siedende Soda- lösung einlaufen läßt. Die Verseifung des nicht gespaltenen Fettes muß jedoch auch in diesem Falle mittels Aetzlaugen er- folgen. Man arbeitet stets mit einem sehr geringen Ueberschuß an freiem Alkalihydr- oxyd, um eine möglichst neutrale Seife zu erhalten. Neben der Verseifung auf warmem Wege spielt jedoch auch die sogenannte kalte Verseifung eine gewisse Rolle. Sie beruht auf der Fettverseifung im Zustand feinster Emulsion, wobei die Fette und Oele die Ge- stalt von kleinsten Kügelchen annehmen und der Lauge infolgedessen eine große An- griffsfläche bieten. Man benutzt diese Verseifungsmethode vornehmlich zur Er- zeugung der sogenannten kaltgerührten Toiletteseifen, die leider vielfach stark gefüllt werden, im Gegensatz zu einer nach den Regeln hergestellten Kernseife, die einen Gehalt von durchschnittlich 65% Fettsäure haben soll. Je nach der Art der Seife, welche man herstellen will, ist der Fettansatz ein ver- schiedener. Man unterscheidet dabei zwei Gruppen von Fetten, und zwar: 1. die an festen Fettsäuren reicheren Fette, wie Talg, Knochenfett, Palmkernöl, Palmöl, Kokosöl und andere, welche vornehmlich zur Her- stellung der Natronseifen dienen, und 2. die an Oelsäure und anderen flüssigen Fett- I säuren reichen Oele, wie Leinöl, Sesamöl, I Kottonöl, Bohnenöl usw., welche haupt- ! sächlich zur Schmierseifenfabrikation ver- wendet werden. In der Praxis benutzt man dabei niemals ein einzelnes Fett zur ; Seifengewinnung, sondern durchweg Ge- ! mische verschiedener Fette und Oele. Der nach der Verseifung der Fette im Siedekessel befindliche Seifenleim stellt eine kolloidale Seifenlösung in einem alkali- haltigen Lösungsmittel dar, aus welchem durch Zusatz von Elektrolyten die Seife izur Abscheidung gebracht werden kann. Da zu diesem Zwecke hauptsächlich das Kochsalz benutzt wird, so bezeichnet man diesen Vorgang von jeher als Aussalzen. Rührt man nämlich in den siedenden Seifen- 1048 Fette, Oele, Seifen leim solange festes Kochsalz ein, bis eine vollständige Trennung in zwei Schichten, den obenauf schwimmenden Seifenkern und die wässerige Kochsalz-, Glycerin- und freies Alkali enthaltende Unterlauge eingetreten ist, so erhält man die Kernseife, welche im wesentlichen aus fettsaurem Alkali be- steht. Je nach dem Wassergehalt unterschei- det man bei diesen Natronseifen Kernseifen auf Unterlauge, Kernseifen auf Leimnieder- schlag, Eschweger Seifen und Leimseifen. Die Unterschiede der Seifen liegen bei den fertigen Produkten in dem Fettgehalt bezw. den Ausbeuten, die 100 Teile des Fettan- satzes geben. Diese Ausbeute beträgt bei Kernseifen ca. 150 %, bei Eschweger Seifen ca. 200 bis 210% und bei Leimseifen 250 bis 500 %. Eine erhöhte Ausbeute erhält man auch durch das sogenannte Schleifen der Kern- seifen. Dasselbe besteht in dem Zufügen von Wasser und verdünnter Lauge zur Seife, welche einen Teil dieser Flüssigkeiten aufnimmt und gleichzeitig dadurch dünn- flüssiger wird. Halbkernseifen oder Eschweger Sei- fen sind wässerige Seifenlösungen, Seifen- leime, welchen bei der Siedetemperatur nur soviel Salz zugesetzt wurde, daß bei dieser Temperatur noch keine Abscheidung ein- trat. Beim Erkalten zerfällt dagegen auch dieses System in die zwei Phasen: Seifen- und Leimniederschlag. Leimseifen stellen dagegen erstarrte Lösungen von Seifen in salzhaltigen Medien dar. Das Existenzgebiet dieser Seifen findet nur eine Grenze in der Stabilität der fett- sauren Salze, da bei zu hohem Salzzusatz schließlich eine Aussalzung eintreten muß. Die Ausbeute an Seife schwankt bei diesem Produkt daher in den weitesten Grenzen, 250 bis 1000 und mehr Prozent. Die Leimseifen, welche erheblich gering- wertiger sind als die Kernseifen, schließen, wie aus ihrer Darstellung ersichtlich, alle Verunreinigungen, Unterlauge, Glycerin, Salze usw. in sich ein. Die Herstellung der verschiedenen im Handel vorkommenden weichen Seifen oder Schmierseifen, welche unter Verwendung von Kalilauge erzeugt werden, entspricht vollkommen der Herstellung der Natron- seife. Ein Unterschied besteht jedoch in bezug auf das benutzte Fettmaterial und in der Verwendung von Kalilauge allein oder in Gemengen mit Natronlauge. Neben den Seifen haben seit einer Reihe von Jahren Seifenpulver oder Wasch- pulver, d. h. Gemenge von Seifen mit Soda und neuerdings vielfach mit Bleich- mitteln, wie Superoxyden und vor allem Per- borat, Anwendung gefunden. Viel benutzt wird auch als Zusatz zur Seife das Natron- wasserglas. Einen besonderen Zweig der Seifen- fabrikation bildet ferner die Fabrikation der Toiletteseifen, welche meist von der Erzeugung von Haushaltseifen getrennt, in besonderen Fabriken ausgeübt wird. Man unterscheidet vornehmlich drei Arten von Toiletteseifen: die sogenannten pilierten Seifen, die Transparentseifen und die Kokos- seifen. Der Hauptwert der besseren Seifen liegt übrigens meist nicht in den Seifen selbst, sondern in den zugesetzten Parfüms. Am wichtigsten sind die pilierten Seifen, welche aus Kernseifen hergestellt werden. Zu diesem Zwecke wird die Kernseife, die nur aus den besten Rohmaterialien, meist Rindertalg neben geringen Mengen Kokosöl und anderen reinen Oelen, her- gestellt sein darf, in feine Späne gehobelt. Diese Späne werden bis auf 6 bis 8 % Wasser entwässert, gefärbt und parfümiert, dann in besonderen Maschinen gleichmäßig durch- geknetet und in der sogenannten Pilier- maschine zu einem festen Strange gepreßt, aus dem dann in Formenpressen die einzelnen Stücke hergestellt werden. Ueber die Wirkung der Seife als Reini- gungsmittel sind zahlreiche Theorien auf- gestellt worden, welche die Wirkung teils auf chemischem, teils auf physikalischem Ge- biet zu erklären suchen. Vielfach nahm man an, daß die reinigende Wirkung der Seifen vor allem dem bei der Berührung mit Wasser entstandenen hydrolytisch abgespaltenen Al- kalihydroxyd zuzuschreiben sei, welches den fettigen Schmutz der mit Seife behandelten Objekte fortnehme, während der Schaum durch Einhüllen dazu beitrage, ihn mechanisch zu entfernen. Der Glaube an die schmutz- lösende bezw. fettverseifende Wirkung des hydrolytisch abgespaltenen Alkalihydroxyds ist jedoch neuerdings recht in Mißkredit gekommen. In Anbetracht der ziemlich geringen Geschwindigkeit des Verseifungs- prozesses und der recht geringen Konzen- tration des hydrolytisch abgespaltenen Al- kalis ist jedenfalls an eine Verseifung von Neutralfett gar nicht zu denken, und eben- sowenig kann man das „Lösungsvermögen" der Seife für die Waschwirkung ohne wei- teres in Anspruch nehmen. So hat R. Hirsch nachgewiesen, daß ein größeres Lösungs- vermögen von Seifenlösungen für Neutralfette nicht bestehe, obschon andere Stoffe, wie Benzol, Terpentinöl und ätherische Oele sich in der Seifenlösung auflösen. Von Hirsch wurde auch gezeigt, daß man mit 10 ccm 5 prozentiger Seifenlösung, d. h. der für die Handwaschung unter gewöhn- lichen Umständen üblichen Menge, 1 ccm auf den Handflächen verriebenes Kokosöl entfernen kann, obwohl die Menge Seifen- Fette, Oele, Seifen - - Feuchtigkeit 1049 lösung noch nicht den hundertsten Teil dieser Oelmenge aufzulösen vermag. Hirsch schließt daher, daß die Hauptrolle bei der Waschwirkung' das Emulsions vermögen bilde. Die neueren Untersuchungen über das Waschvermögen der Seifenlösungen gehen nicht von chemischen, sondern von physikalischen Wirkungen aus und betonen vor allem die Bedeutung der Oberflächen- kräfte. Besonders ausführliche Untersuchungen über den Waschprozeß auf Grundlage der kolloidchemischen Auffassung der Seifen hat W. Spring angestellt. Nach ihm be- ruht die Waschwirkung auf der Bildung einer Adsorptionsverbindung mit dem weg- zuwaschenden Stoff, einer Verbindung, die jedes Adhäsionsvermögen verloren hat, welches ihre Komponenten noch vor der Vereinigung besaßen. Daß die Lösungen von Seifen in Wasser kolloidalen Charakter haben, wird jetzt allgemein angenommen. Einen interessanten Versuch, die Prozesse der Seifenfabrikation vom Standpunkt der Phasenlehre aus zu behandeln, hat Merklen in seinem Buch über die Kernseifen gemacht. Die Zu- lässigkeit dieser Betrachtungsweise erscheint jedoch zweifelhaft, da dieselbe zur Voraus- setzung hat, daß die Seife sich in wahrer Lösung befindet, so daß ihre aktive Masse der analytisch feststellbaren Konzentration entspricht, während gerade der kolloide Charakter der Seife, auf den Merklen selbst den größten Teil seiner eigentlichen technischen Betrachtungen aufbaut, zu dem Schlüsse führt, daß die Homogenität der Seifenlösung nur eine makroskopische ist und daß vielmehr tatsächlich mikrohetero- gene Gebilde vorliegen. Immerhin haben die Ausführungen von Merklen und neueren Betrachtungsweisen der Seifen von Gold- Schmidt und Leimdörfer den Weg ge- wiesen, auf dem die Industrie von dem bis- herigen Zustand des Empirismus zur wissen- schaftlichen Durchbildung der Seifenfabri- kation wird später gelangen können. Literatur. Zu za: G. Borneman, Die fetten Oele des Pflanzen- und Tierreichs. Weimar 1889. — C. Schädler, Technologie der Fette und Oele. 2. Aufl. Berlin 1892. — J. Lewkowitsch, Technologie und Analyse der Oele, Fette und Wachse. Braunschweig 1905. — G. Hefter, Technologie der Fette und Oele. 3 Bände. Berlin 1906. — JR. Benedikt und F. Ulzer, Analyse der Fette und Wachsarten. 5. Aufl. Berlin 1910. — C. Stiepel, Fette, Oele, Wachse. Leipzig 1911. — L. Vbbelohde, Handbuch der Chemie, Analyse und Technologie der Oele und Fette. 3 Bände. Leipzig 1908. -F. Erbau, Die An- wendimg von Fettstoffen in der Textilindustrie. Halle 1912. — J. Marenssohn, Laboratoriums- buch für die Industrie der Fette und Oele. Halle 1911. Zu 2 b : ,1. Seligmann und E. Ziehe, Handbuch der Lack- und Firnisinduslrie. Berlin 1910. Zu 3: F. W. Semmler, Die ätherischen Oele nach ihren Bestandteilen, unter Berück- sichtigung an- geschichtlichen Entwickelung. Leipzig 1905 bis 1907. E. Gildemeister und F. Hoffmann, Die ätherischen Oele. Berlin 1899. 2. Aufl. 1910. Halbjahrsberichte der Firma Schimmel & ('<>. in Miltitz bei Leip- zig. — A. Hesse, lieber die Entwickelung der ätherischen Oele in Deutschland in den letzten 25 Jahren. In der Festschrift für Otto Wallach. Göttingen 1909. — C. von Itechenberg, Theorie der Gewinnung und Trennung der ätherischen Oele durch Destillation. Leipzig- Miltitz 1910. — F. Mochussen, Aetherische Oele und Riechstoffe. Sammlung Göschen. Leipzig 1909. — A. Hesse, Bilder aus der Riechstoff- industrie. Zeitschrift für angewandte Chemie. 1912. S. 337 bis 365. ' — It. Leimbach, Die ätherischen Oele. Halle 19W. Zu 4 und 5: A. Volland, Die Fabrikation der Schmiermittel. Norrköping 1902. — Jf. Holde, Untersuchung der Mineralöle und Fette. 3. Aufl. Berlin 1909. Zu 6: Ha n d b ii eher de r S c ife nfa b r i - kation: Wiltner. 6. Aufl. Wien 1906. — Fischer. 8. Aufl. Leipzig 1904. — Engel- liardt. 2. Aufl. 3. Bd. Wien 1896. — C. Veite. 3. Aufl. Berlin 1903 bis 1906. — E. Marasza, L'industria saponiera. 2. Aufl. Mailand 1907. — L. Vbbelohde, Handbuch der Oele und Fette. Bd. 3. Seifenfabrikation. Leipzig 1911. — /''. Merklen, Die Kernseifen. Halle 1907. H. Grossmann. Feuchtigkeit. 1. Der atmosphärische Wasserdampf. 2. Ab- solute Luftleuchtigkeit. Sättigung. Taupunkt. Relative Luftfeuchtigkeit. 3. Zeitliche und räum- liche Verteilung der Luftfeuchtigkeit. 4. Nächt- liches Temperaturminimum. 5. Nebel, Staub und Ionen als Kondensationskerne. 6. Fallwinde, Föhn. 7. Hygrometer und Psychrometer. 1. Der atmosphärische Wasserdampf. Während die in der Atmosphäre vorhandenen Mengen von Stickstoff, Sauerstoff usw. keinen merklichen Aenderungen unterworfen sind, treten Kohlensäure und Wasserdampf in stetig wechselnden Beträgen auf. Wie die Kohlensäure durch mancherlei an der unteren Grenze des Luftmeeres stattfindende Vor- gänge vermehrt oder vermindert wird, wurde in dem Artikel „Atmosphäre" (Bd. I S. 573) gezeigt, Die Feuchtigkeit der Luft, d. h. der ihr beigemengte gasförmige Wasserdampf, erleidet Aenderungen, die nicht bloß in den untersten Luftschichten, sondern in der ganzen „Wolkenzone'' verlaufen, also bis zu beträchtlichen Höhen der Atmosphäre 1050 Feuchtigkeit reichen. Diese Aenderungen bestehen in Verdampfen und Kondensieren, im Wechsel zwischen flüssigem und gasförmigemAggregat- zustand, und sie bewirken eine Verteilung des Wasserdampfes in den verschiedenen Luftschichten, welche völlig verschieden von derjenigen ist, die sich bei gleichbleibender Dampfmenge und ohne Luftbewegungen, welche die Schichten mischen, einstellen würde. Wollte man aus dem am Boden gemessenen Dampfdruck und unter Voraus- setzung einer ruhenden unveränderlichen Dampfatmosphäre die ganze, in der Luft befindliche Dampf menge berechnen, so würde man etwa 5 bis 6 mal so viel Feuchtigkeit finden, als in Wirklichkeit gemäß den auf Bergen und bei Luftfahrten gewonnenen Beob- achtungen vorhanden ist. Durch die steten Aenderungen des Aggregatzustandes und durch die Luftbewegungen wird die Feuchtig- keit in den bodennahen Schichten zusammen- gedrängt, und ihre Menge nimmt nach oben hin viel rascher ab, als es im Gleichgewichts- zu stände zuträfe. 2. Absolute und relative Luftfeuchtig- keit. Sättigung. Taupunkt. Den in einem Räume herrschenden Feuchtigkeits- zustand bezeichnet man entweder durch Angabe der wirklich vorhandenen Dampf- menge oder durch Vergleichung des augen- blicklichen Zustandes mit demjenigen der Sättigung. Im ersteren Falle wird die absolute, im letzteren die relative Luft- feuchtigkeit angegeben. Als absolute Luftfeuchtigkeit oder Dampfdruck be- zeichnet man den in Millimetern Queck- silberhöhe gemessenen Druck, welchen der Wasserdampf ausübt; es ist dies also der- jenige Anteil am Barometerstand, welcher dem am Beobachtungsorte der Luft bei- gemengten Wasserdampf entspricht, wenn man den am Barometer abgelesenen Gesamt- druck als Summe der von allen einzelnen Luftbestandteilen ausgeübten Einzeldrucke ansieht. Die Zahl, welche den Dampf- druck in Millimetern Quecksilber mißt, gibt beinahe zugleich auch an, wieviel Gramm Wasserdampf in 1 Kubikmeter enthalten sind. Verwandte und gleichfalls die absolute Luftfeuchtigkeit enthaltende Bezeichnungen sind: spezifische Feuchtigkeit, nämlich Zahl der Gramme Wasserdampf, die in einem Kilogramm feuchter Luft enthalten sind, und Mischungsverhältnis, d. i. die Zahl der Gramme Wasserdampf, welche einem Kilogramm trockener Luft beige- mengt sind. Im Einzelfall kann die absolute Feuchtig- keit einen bestimmten Betrag nicht über- schreiten, der von der jeweiligen Temperatur ahhängt und mit ihr steigt. Ist die größte Dampf menge, welche bei der herrschenden Temperatur möglich ist, in einem Raum vorhanden, so nennen wir diesen Dampf gesättigt, und ebenso spricht man von gesättigter Luft, wenn ihr gesättigter Dampf beigemengt ist. Ist in einem geschlossenen Raum eine Eis- oder Wassermenge vorhanden, so erfüllt sie durch Verdampfen den ganzen Raum bis zur Sättigung mit Wasserdampf. In der nachfolgenden Tabelle sind für die einzelnen Temperaturen die zugehörigen Sättigungsdrucke angegeben, nämlich die Sättigungsdruck des Wasserdampfes. Nach Scheel und Heuse. Ann. d. Physik (4) 29, 723; 1909 und 31, 715; 1910 Grad mm Grad mm Grad mm -30 0,28 0 4,58 16 13,64 -25 o,47 1 4,93 17 i4,53 -20 o,77 2 5,29 18 15,48 -15 1,24 3 5,68 19 16,48 -14 1,36 4 6,10 20 i7,54 —13 i,49 5 6,54 21 18,66 —12 1,63 6 7,01 22 19,83 -11 1,78 7 7,5i 23 21,07 -10 i,95 8 8,05 24 22,38 - 9 2,13 9 8,61 25 23,76 — 8 2,32 10 9,21 26 25,22 — 7 2,53 11 9,84 27 26,75 - 6 2,76 12 10,52 28 28,36 - 5 3,oi 13 11,23 29 30,05 — 4 3,28 14 ",99 30 31,83 — 3 3,57 15 12,79 2 3,88 - i 4,22 höchsten Werte, welche in einem mit Wasser (bei Minustemperaturen mit Eis) in Berührung befindlichen Räume der Dampfdruck an- nehmen kann. Umgekehrt bedeuten die neben den einzelnen Drucken stehenden Sättigungstemperaturen die Grenze, unter welche die Temperatur nicht sinken kann, ohne daß der Dampfdruck zugleich unter den zugehörigen Wert fällt. Wird ein mit Dampf gesättigter Raum erwärmt, so entfernt er sich vom Sättigungszustande, kann noch mehr Dampf aufnehmen und, wenn verdampfbares Wasser vorhanden ist, wächst die absolute Feuchtigkeit bis zur wieder erreichten Sättigung. Wird derselbe mit Dampf gesättigte Raum abgekühlt, so entsteht tJebersättigung, und in der Regel, nämlich wenn Gelegenheit zur Kondensation vorhanden ist, geht so viel Dampf in flüssige Form über, daß der verbleibende Rest für die veränderte Sättigungsmenge ausreicht. Demgemäß bezeichnet man die Sättigungs- temperatur, welche einem bestimmten Dampf- druck entspricht, auch als Taupunkt, nämlich als die Grenze, bis zu welcher die dampfhaltige Luft abgekühlt werden kann, ehe Kondensation eintritt. Ueberhaupt ist für meteorologische Be- trachtungen die Beziehung der Luftfeuchtig- Feuchtigkeit 1051 keit zur herrschenden Temperatur so wichtig, daß man neben der absoluten Feuchtigkeit noch eine andere Bezeichnungsweise, welche jener Beziehung Rechnung trägt, verwendet. Es wird nämlich als relative Luftfeuchtig- keit die vorhandene Dampfmenge bezeichnet, wenn sie in Prozenten der zurzeit möglichen Sättigungsmenge ausgedrückt ist. Gesättigte Luft hat also 100 % relative Feuchtigkeit, und eine solche von 75 oder 50 % bedeutet, daß der vorhandene Dampfdruck nur drei Viertel oder die Hälfte desjenigen Betrages ausmacht, der bei der herrschenden Tempe- ratur zur Sättigung gehören würde. Die relative Luftfeuchtigkeit läßt also erkennen, wie weit der vorhandene Feuchtigkeits- zustand von der Sättigung entfernt ist, und während die absolute Feuchtigkeit so lange, als die Sättigung nicht erreicht wird, durch bloße Temperaturänderung nicht geändert wird, schwankt die relative Feuchtig- keit mit der Temperatur, und zwar im ent- gegengesetzten Sinne. Beim Erwärmen entfernt sich die Luft vom Sättigungs- zustande, beim Abkühlen nähert sie sich ihm, es muß also die relative Feuchtigkeit beim Erwärmen sinken, beim Abkühlen steigen. Als eine Bezeichnung, die der relativen Feuchtigkeit ähnlich ist, sei noch das Sätti- gungsdefizit erwähnt; so nennt man den Betrag, um welchen der vorhandene Dampf- druck hinter dem Sättigungsdruck (für die herrschende Temperatur) zurückbleibt, also den Unterschied zwischen Sättigungsdruck und absoluter Luftfeuchtigkeit. Würde die ganze in der Luft vorhandene Dampf menge in flüssige Form übergeführt und die Lufttemperatur durch die hierbei frei werdende, vorher gebundene Wärme erhöht, so entstünde die ergänzte oder äquivalente Temperatur, welche gleich- falls für den Feuchtigkeitszustand der Luft charakteristisch sein kann. Zur völligen Bezeichnung des Zustandes reicht freilich diese Größe nicht aus, weil die beiden Werte, auf denen sie beruht, Temperatur und Dampfdruck, sich unabhängig voneinander ändern, und eine äquivalente Temperatur auf sehr verschiedenen Wertepaaren jener beiden Größen beruhen kann. 3. Zeitliche und räumliche Verteilung der Luftfeuchtigkeit. Die zeitlichen Aenderungen der Luftfeuchtigkeit stehen in naher Beziehung zu denjenigen der Temperatur. Die absolute Feuchtigkeit zeigt im jährlichen wie im täglichen Gang Schwankungen, die sehr nahe mit den gleichzeitigen Temperaturschwankungen (Bd. I, S. 583" u. 588) zusammenfallen, weil die Steigerung der Temperatur gewöhnlich eine erhöhte Verdampfung, Sinken der Temperatur dagegen teilweise Kondensation des atmosphärischen Wasserdampfes er- zeugt. Nur in Binnengegenden mit starker Tagesschwankung der Temperatur pflegt zur wärmsten Tageszeit ein vorübergehendes Sinken des Dampfdrucks einzutreten, wahr- scheinlich veranlaßt durch den von der Mittagshitze erzeugten aufsteigenden Luft- ' ström, der den Wasserdampf der unteren Schichten emporführt. Die relative Luft- | feuchtigkeit wird von der Temperatur in doppelter Weise beeinflußt, einmal in der vorerwähnten Art, indem mit der Temperatur auch der Sättigungsdruck schwankt, und dann durch die Aenderungen des Dampf- druckes. Die erstere Einwirkung überwiegt an den in der Ebene und in Tälern gelegenen Orten, so daß dort überall der jährliche und tägliche Gang der relativen Feuchtigkeit nahezu die entgegengesetzten Aenderungen zeigt, wie der Temperaturgang. Auf Bergen dagegen und auch in den entsprechenden Höhen der freien Atmosphäre gleicht der Jahres- und Tagesgang der relativen Feuchtig- keit demjenigen der Temperatur, vielleicht, weil auf- und absteigende Ströme ihre Wir- kung in diesem Sinne üben. Die räumliche Verteilung der Luft- feuchtigkeit hängt gleichfalls von der Tem- peratur und außerdem von dem Vorhanden- sein verdampfbaren Wassers ab. Demnach finden wir in den Tropen die höchsten Beträge der absoluten Feuchtigkeit, und im übrigen größere Werte über den Meeren und an den Küsten, kleinere im Binnenlande. Die relative Feuchtigkeit weist im ganzen entgegengesetzte Verteilung auf wie die Tem- peratur. Merkwürdig ist die Einwirkung großer Städte auf die Feuchtigkeit, wie sie Kremser (Meteorol. Zeitschr. 25, 206, 1908) an Berliner, Breslauer u. a. Beobachtungen nachwies. Die absolute wie die relative Feuchtigkeit zeigten in der Stadt kleinere Werte, als nahe dabei auf dem Lande, und der Unterschied war im Durchschnitt wie im jährlichen und täglichen Gang um so größer, je höher die Temperatur lag. Zur Erklärung wird erwähnt, daß der von den Häusern oder auch von Steinpflaster und Asphalt bedeckte und durch Kanalisation entwässerte städtische Boden sehr viel weniger Niederschlagswasser aufnimmt, als. der mit Pflanzenwuchs bedeckte ländliche Boden, ! und daß demgemäß in der Stadt weniger Wasser verdampft. Wie die Gesamtmenge des atmosphärischen Wasserdampfes zur warmen Zeit überall größer ist, muß dasselbe auch für das Ueberwiegen der ländlichen über die städtische Luftfeuchtigkeit zu- treffen. Nach oben hin nehmen in der xVtmosphäre sowohl absolute wie relative Feuchtigkeit ab. jedoch nicht eben regelmäßig, sondern 1052 Feuchtigkeit nach Schichten geordnet, die namentlich in betreff der relativen Feuchtigkeit Un- 1 Stetigkeiten zeigen. Aus Berliner Luftfahrten sind für die verschiedenen Höhen und nach Jahreszeiten gesondert Mittelwerte der Feuch- tigkeit berechnet, die in der folgenden Tabelle wiedergegeben werden ; sie zeigen bei etwa \ 3000 m Höhe Unregelmäßigkeiten, welche auch bei der diesen Zahlen zugrunde liegenden Mittelbildung nicht verschwinden. Mittelwerte der absoluten Luftfeuchtigkeit über Berlin (Gramm im Kubikmeter). Nach Schubert, 21. Jahresbericht des Berliner Zweigvereins der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft 1904. Höhe Winter Frühling Sommer Herbst Jahr 20 4,3i 5,89 10,23 7,23 6,92 500 3,52 4,85 8,46 5,78 5,65 1000 2,87 3,93 6,95 4,68 4,61 1500 2,33 3,i6 5,70 3,79 3,74 2000 1,89 2,25 4,60 3,o8 3A3 2500 i,5i 2,05 3,7i 2,51 2,44 3000 1,21 1,64 2,98 2,04 i,97 4000 0,76 1,05 1,90 i,33 1,26 5000 0,46 0,69 1,16 0,84 o,79 6000 0,26 0,41 0,68 o,49 0,46 7000 0,14 0,21 o,34 0,25 0,24 8000 0,06 0,08 0,14 0,10 0,10 9000 0,01 0,02 0,03 0,02 0,02 Mittelwerte der relativen über Berlin (in Prozenten). Luftfeuchtigkeit Nach Sürine;, Wissenschaftliche Luftfahrten 3, 166, 1900. Höhe in m Frühling Sommer Herbst Winter Erdboden 75,i 70,1 80,8 82,6 500 71,6 69,5 7i,4 72,6 1000 69,3 77,3 75,6 58,0 1500 58,8 7°,9 69,7 49,9 2000 57,9 69,6 52,8 46,8 2500 62,5 64,8 55,o 49,3 3000 61,1 55,6 50,7 49,5 3500 50,1 54,9 49,6 41,0 4000 57,2 64,2 49,2 4°,5 4500 67,6 56,7 5i,8 39,o 5000 — - — 56,9 — Der Taupunkt muß, da der Dampfdruck nach oben kleiner wird, gleichfalls nach oben hin sinken. Nach Schubert (Meteorol. Zeitschr. 26, 390, 1909) sinkt im Gebirge der Taupunkt auf 100 m Erhebung um 0,5°, in der freien Atmosphäre rascher. Bei auf- steigender Luft im Trockenstadium (Bd. I, S. 592) nimmt auf je 100 m die Temperatur um 0,99°, der Taupunkt um 0,17° ab, so daß der Unterschied beider (Temperatur minus Taupunkt) dabei um 0,82° kleiner wird. Danach kann man aus Temperatur und Feuchtigkeit der unteren Luft die Höhe berechnen, in welcher beim Aufsteigen der Taupunkt erreicht wird und Kondensation und Wolkenbildung beginnen. Im Vergleich zum Gebirge sinkt in der freien Atmosphäre die Temperatur nach oben hin langsamer, der Taupunkt, wie erwähnt, rascher; die Differenz beider ist also im Gebirge kleiner und hat dort solche Werte, als wäre die Gebirgsluft aus niedrigeren Schichten der freien Atmosphäre im aufsteigenden Strom emporgeführt. Die Rechnung ergibt, daß die Temperatur und Feuchtigkeit der in 1000 resp. 2000 m Höhe im Gebirge be- findlichen Luft einem vorausgegangenen Aufsteigen an den Berghängen um 130 resp. 360 m entsprechen. 4. Das nächtliche Temperaturminimum. Eine praktische Anwendung derFeuchtigkeits- messungen beruht auf ihrer Beziehung zum nächtlichen Temperaturminimum. Wenn nämlich bei abendlicher oder nächtlicher Abkühlung der Taupunkt erreicht und dann der Luft noch mehr Wärme entzogen wird, so beginnt Kondensation der nun über die Sättigungsmenge hinaus vorhandenen Feuch- tigkeit. Hierbei wird die vorher gebundene Wärme frei und zwar im Betrage von etwa 600 Grammkalorien für je ein Gramm kondensierten Wassers, und dadurch wird der weiteren Abkühlung entgegengewirkt. Die Erfahrung bestätigt, daß die Temperatur nicht merklich unter den Taupunkt zu sinken pflegt. In ruhigen Nächten, wenn die am Beobachtungsorte vorhandene Luft nicht durch Wind fortgeführt wird, kann man den Betrag des am Abend bestimmten Taupunkts als untere Grenze der darauf- folgenden nächtlichen Abkühlung ansehen und daraufhin namentlich für die Frage nach etwa bevorstehendem Nachtfrost oft nützliche Antwort finden. 5. Nebel. Staub und Ionen als Kon- densationskerne. Beginnt aber die Luft- temperatur dennoch unter den Taupunkt zu sinken, so bildet sich als Ergebnis der Kondensation Nebel. Meistens ist dies die Wirkung starker Abkühlung des Bodens, die durch Ausstrahlung gegen den klaren Himmel entstanden ist und der untersten Luftschicht durch Leitung Wärme entzieht. Dann schreitet die Nebelbildung nach oben hin fort, sofern nämlich die Abkühlung rascher emporsteigt, als die Nebeltröpfchen fallen, und man spricht vom „Steigen des Nebels", während in Wirklichkeit nur die Kälte es ist, welche steigt. Dieser Vorgang pflegt in Hochdruckgebieten mit ihren klaren, ruhigen Nächten einzutreten, und der Boden wird dann gegen weitere Ausstrahlung durch die entstandene Nebelschicht geschützt. Eine andere Bildungsweise des Nebels besteht darin, daß kältere, dampfhaltige Luft über eine wärmere Wasserfläche weht und die Feuchtigkeit li).-):; Dämpfe nicht aufnehmen kann, welche vom Wasser aufsteigen und einen der höheren Wassertemperatur entsprechenden Druck haben. Dann wird der überschüssige Teil des Dampfes in der Luft kondensiert und bildet Nebel. Es ist nicht schwer, künstlich und im kleinen die atmosphärische Nebelbildung nachzuahmen. Dazu kann ein mit feuchter Luft gefülltes Glasgefäß dienen, in dem der Luftdruck einer raschen Verringerung aus- gesetzt wird, z. B. indem man in das im übrigen verschlossene Gefäß durch ein den Stopfen durchsetzendes Rohr einen Luft- strom mit kräftigem Druck einbläst, dann kurze Zeit die Temperatur sich ausgleichen läßt und hierauf die Oeffnung freimacht, so daß der innere Druck wieder auf den Betrag des äußeren sinkt. Hierbei sieht man in der Regel den Innenraum des Gefäßes sich mit Nebel erfüllen, der langsam herab- sinkt und bei erneuter Druckvermehrung sogleich wieder verschwindet. Die dynamische Abkühlung, welche mit der Druckverände- rung verbunden ist, erzeugt hierbei ebenso wie im aufsteigenden Luftstrom (Bd. 1, S. 591) die Kondensation. Aber die Ab- kühlung allein genügt nicht zum Erzielen dieser Wirkung, denn die Nebelbildung bleibt aus, wenn wir die im Gefäß befindliche Luft vorher durch feuchte Watte filtriert und dadurch staubfrei gemacht haben. Eine Erklärung dieser Staub Wirkung gibt Sir W. Thomson (Proc. Roy. Soc. Edinburgh 7, 63; 1870. Phil. Mag. (4), 42, 448; 1871) durch die Erwägung, daß die Verdampfung von einer Flüssigkeitsfläche um so leichter erfolgt, je weniger die Dampfteilchen in der Oberfläche der Flüssigkeit zurückge- halten werden, und daß in der konvex ge- krümmten Oberfläche der Tropfen die ein- zelnen Teilchen weniger Nachbarteilchen haben, die sie zurückhalten können, als in einer ebenen Fläche. Je stärker gekrümmt die Fläche (je kleiner der Tropfen) ist, um so leichter kann die Verdampfung geschehen, und wenn in staubfreier Luft zuerst un- endlich kleine Tröpfchen mit entsprechend starker Oberflächenkrümmung sich bilden, so vermögen sie nur bei sehr starker Ueber- sättigung zu bestehen. Sind dagegen Staub- teilchen vorhanden, so können diese als An- satzkerne dienen und Tröpfchen entstehen lassen, deren Krümmung geringer ist und die also Bestand haben. In der Atmosphäre ist der zur Nebel- und Wolkenbildung erforder- liche Staub stets vorhanden; über dem Lande aus Mineral- und Pflanzenteilen bestehend, auf der See aus Salzkörnchen als Resten verspritzter und verdampfter Wassertropfen. Aehnlich wie Staubteilchen können auch Ionen als Ansatzkerne wirken. In auf- steigender (oder sonst ausgedehnter) Luft beladen sich bei beginnender Uebersättigung zuerst die Staubteilchen mit Wassertropfen, bei weiterer Ausdehnung und dynamischer Abkühlung die negativen und zuletzt die positiven Ionen. Für Zimmertemperatur beginnt die Kondensation an den negativen Ionen, wenn das l,25fache, an den positiven, iwenn das 1.38fache Anfangsvolumen er- reicht ist, oder wenn der Dampfdruck auf das 4,2- resp. das Gfache des Sättigungs- druckes gestiegen ist. 6. Die Fallwinde. Der Föhn. Zu den durch Luftfeuchtigkeit beeinflußten Vor- gängen gehören die , ,F all w i n d e" , absteigende Luftströmungen, von denen namentlich der Föhn bekannt ist. Er pflegt als ein vom Gebirge herabwehender warmer und trockener Wind aufzutreten und wird in der Weise gedeutet, daß die auf der Windseite des Gebirges emporsteigenden Luftmassen vor Erreichung der Kammhöhe zum Taupunkt abgekühlt werden und dann einen Teil ihrer Feuchtigkeit als Niederschlag herausfallen las- sen. Dadurch werden sie nicht nur trockener, sondern erlangen vermöge der freiwerdenden Kondensationswäniie auch eine höhere Tem- peratur. Beim Herabfließen auf der Lee- seite steigt diese durch dynamische Er- wärmung noch weiter, während die relative Feuchtigkeit entsprechend geringer wird. In Figur 1 ist der Temperaturgang bei 1000 m - 500 m 12° 15° 18° Fig. 1. Temperatur der auf- und absteigenden Föhnluft. solcher Bewegung dargestellt, wobei die Höhe nach oben, die Temperatur nach rechts gezählt ist. In A beginnt das Aufsteigen mit entsprechender Abkühlung; in B ist der Taupunkt erreicht, und die Abkühlung wird nun infolge Freiwerdens von Konden- sationswärme langsamer; in C ist die Luft bis zur Höhe des Gebirgskammes gelangt, und beim nun beginnenden Absteigen bis 1) findet dynamische Erwärmung statt, so daß schließlich eine der Strecke AD ent- sprechende Temperaturerhöhung als Ergebnis 1054 Feuchtigkeit des Auf- und Absteigens übrig bleibt. Die Föhnluft zeichnet sich durch gesteigerte elektrische Leitfähigkeit, namentlich für posi- tive Elektrizität, aus. Man hat den Föhn nicht nur im Alpengebiet beobachtet, sondern auch in den Vogesen, im Riesengebirge, Thüringer Wald und in zahlreichen anderen Nicht immer gelangt die Föhn- Gegenden. luft bis in die Täler hinab, sondern fließt bei entsprechender Gebirgsform in der Höhe darüber hin. Auch in diesem Fall beobachtet merkwürdigerweise gewisse physiolo- man keit, Unbehagen, steigerte gische Erscheinungen, die für den Föhn charakteristisch sind: Kopfschmerzen, Mattig- bei Lungenleidenden ge- Neigung zur Lungenblutung u. a. Ohne Vorhandensein eines Gebirges kann gleichfalls Föhn auftreten, wenn die ge- schilderte Vertikalbewegung sich als Folge der Luftdruckverteilung ausbildet. In sol- chem Fall spricht man von antizyklonalem Föhn im Gegensatz zum Bergföhn. 7. Hygrometer und Psychrometer. Zur Messung der Luftfeuchtigkeit dienen Apparate, die man als Hygrometer oder Psychro- meter bezeichnet. Eine viel benutzte Art bilden die Kondensationshygrometer, bei denen eine blanke Fläche abgekühlt wird, bis sie beschlägt. Die Temperatur, bei welcher dies geschieht, ist der Taupunkt umgebenden Luft, und dessen Kenntnis Verbindung mit der der in Lufttemperatur läßt die abso- lute und rela- tive Feuchtig- keit finden. Ein Beispiel für diese Apparate ist das in Figur 2 allgebildete Danielische Hygrometer. Die mit Mus- selin umhüllte Glaskugel wird durchBetropfen mit Aether ab- gekühlt, so daß der Dampf- druck des innen befindlichen Aethers sinkt und von dem in der anderen Kugel befindlichen Aether ein Teil verdampft. Durch die entstehende Verdunstungskälte beschlägt die Außenfläche dieser zweiten Kugel, auf der zwecks genauer Wahrnehmung des entsprechenden Beschlags eine ringförmige „Goldzone" mit metallisch glänzendem Ueberzug angebracht ist. Das hierbei abgelesene innere Thermometer gibt den Taupunkt, das äußere die Lufttempe- ratur an. Fig. 2. Danielisches Hygrometer. Andere Apparate beruhen auf der Eigen- schaft vieler organischer Körper, mit wech- selnder relativer Feuchtigkeit ihre Gestalt zu ändern. Als Beispiel hierfür diene das Haarhygrometer (Fig. 3), in dem ein Fig. 3. Haarhygrometer. entfettetes Menschenhaar mit seinem oberen Ende befestigt, unten um die Achse des Zeigers gelegt und am untersten Ende durch ein kleines Gewicht belastet ist. Bei wach- sender relativer Feuchtigkeit verlängert sich das Haar und bewirkt dadurch entsprechende Einstellung des Zeigers an der Skala. Das Instrument arbeitet nur mit mäßiger Ge- nauigkeit, doch kann man es, wenigstens für hohe Feuchtigkeitsprozente, prüfen und nach Bedarf berichtigen, indem ein Musselin überspannter Rahmen naß in geschlossene Gehäuse des Apparates bracht wird. Dann ist die innen befindliche Luft alsbald mit Dampf gesättigt, und der Zeiger muß auf 100% stehen oder in seiner Stellung berichtigt werden. Genauer, als diese Apparate, erweist sich das August sehe Psychrometer (Fig. 4). Es besteht aus einem „trockenen" Thermo- meter zur Ermittelung der Lufttemperatur und einem „feuchten", dessen Gefäß einen dauernd feucht gehaltenen Ueberzug von Musselin trägt. Infolge der Verdunstungs- kälte steht das feuchte Thermometer tiefer, als das trockene, und zwar um so mehr, je weiter die Luft vom Sättigungszustande entfernt ist und je mehr Dampf sie also mit das fre- Feuchtigkeit — Fisch«' (Pisces) 1055 von der feuchten Hülle noch aufnehmen kann. Der als „psychro metrische Differenz" bezeichnete Unterschied im Stand beider Thermometer zusammen mit der Luft- Fh Augus tsclies Psychrometer. Assmann. Nach temperatur läßt die Feuchtigkeit berechnen. Sind t und f die Angaben des trockenen und feuchten Thermometers in Celsiusgraden, mf der zu t' gehörige Sättigungsdruck und b der Barometerstand, beide in Milli- metern, so ist die absolute Luftfeuchtigkeit: a = mf— V,(t — f)^-. Literatur. Die wichtigsten Spezialarbeitern, sind oben im Text, zitiert. Einige Lehr- und Hand- bücher der Wetterkunde sind am Schluß des Artikels ,, A t in o s j> h ä r e " zusammengestellt. 11. So r listet it. Feuerkugeln. Auch Sternschnuppen (vgl. den Artikel „Meteoriten"). Feuerstein, Flint. Konkretionen gallertartiger Kieselsäure, die allmählich in Quarz umgewandelt wird. Sie kommen hauptsächlich in der weißen Schreibkreide vor (Rügen, Champagne usw.i und sind ausgezeichnet durch große Härte (7) und splitterigen Bruch, daher ihre Verwen- dung zum Feuerschlagen, zu Waffen und Werkzeugen bei den prähistorischen Menschen. Oft umschließen sie Versteinerungen. Findlinge = Erratische Blöcke. So heißen durch das Eis aus ihrer Heimat weit fortgeschaffte Gesteinsblöcke (in Deutschland z. B. schwedische und finnische Gesteine in weiter Verbreitung). Man vergleiche die Artikel „Eiszeiten" und ..Quartärformation". Firn. Die Schneeansammlungen im Firnfeld, d. h. im Speisegebiet eines Gletschers. I >er Firnschnee ist durch seine ausgezeichnet (vgl. den Artikel „Eis" Grobkörnigheit Fische. Pisces. 1. Historisches. 2. Anatomie und Physiologie: a) Körperform, Lokomotion. b) Integument. c) Skelett, d) Muskulatur und elektrische Organe. e) Nervensystem, t) Sinnesorgane, g) Verdau- ungs- und Respirationstraktus. h) Kreislauf- organe, i) Cölom und Urogenitalsystem. 3. Em- bryologie. 4. Bionomie. 5. System, Verwandt- schaftsbeziehungen. G. Geographische Ver- breitung. i. Historisches. Der zoologische Be- griff der Fische umfaßt gegenwärtig wasser- bewohnende, wechselwarme craniote Wirbel- tiere, von meist gestreckter und seitlich kom- primierter Gestalt, stets mit medianen, durch Skelettstrahlen gestützten Flossen- säumen und meist mit analog gebildeten freien paarigen Gliedmaßen, mit in der Regel einfacher Herzkammer und -Vorkammer und mit Kiemen als definitiven Atmungsorganen; ihre Eier entwickeln sich meist im Freien, 1050 Fische (Pisces) dem Embryo fehlen Amnion und Allantois. Erst 1758 werden durch Linne (Syst.) Nat. 10. Aufl.) die (nur) lungenatmenden und viviparen Cetaceen (Artedi's „Plagiuri") ausgesondert (zugleich wird allerdings der Begriff der „Amphibia nantes" für eine An- zahl vordem mit Recht für echte Fische ge- haltener Gattungen — Petromyzon, Raja, Squalus, Chimaera, Lophius, Acipenser, Balistes, Syngnathus, Cyclo pterus u. a. - errichtet). Der Gesamtheit der Fische geben die meisten Autoren den Rang einer Klasse; Cope (1870), Gill (1872, 1893), Haeckel (1895) u. a. sondern die Cyclostomen als be- sondere Klasse von derjenigen der gnatho- stomen Fische ab. Die Hanptteilung in Knochen- und Knorpelfische, von Ray und Willughby (1686) eingeführt (im Grunde auf Aristo- teles zurückgehend), wird von Lacepede (1798 bis 1803) und Cuvier (1828) bewahrt. Nach den Schuppen unterscheidet Agassiz (1844) die Ordnungen Cyclo i des, Ctenoi- des, Ganoides und Placoides. Den Begriff der „Ganoiden" in neuer Fassung, basiert auf das Verhalten der Kreislauf- und Atmungsorgane, aufnehmend, stellt Joh. Müller (1846) 6 Subklassen auf: Dipnoi, Teleostei, Ganoidei, Elasmobranchii, Marsipobranchii, Leptocardii. Die letzte wird gegenwärtig wohl allgemein von den Fischen entfernt und der Gesamtheit der cranioten Wirbeltiere als Acrania gegen- übergestellt. Durch Gill (1872) gelangt der von Owen (1866) begründete Begriff „Teleostomi" (im Gegensatz zu den ganmenkauenden Knorpelfischen) zu Be- deutung, dem sich die Teleosteer (Knochen- fische s. str.) und die Ganoiden (in mehr oder minder weiter Fassung) einfügen. Die recenten Vertreter der letzteren gliedern sich nun meist in die Gruppen Chondro- ganoidea (Chondrostei, Knorpelganoiden — Joh. Müller 1846), Hyoganoidea (Ho lost ei, Knochenganoiden Joh. Müller 1846) und Branchioganoidea (Crossopterygier-Huxley). Als Abtei- lung der Ganoiden figurieren oft auch die Dipnoer (Agassiz, Günther 1880, Gill 1872), häufiger aber als selbständige Unter- klasse (Cope, Zittel 1887 bis 1890, 1895, Smith-Woodward 1889 bis 1895, u. a.) oder als Klasse (Haeckel 1895). Die folgende Darstellung wird es stets in erster Linie mit den Befunden bei Teleosteern und Elasmobranchiern zu tun haben, weil in diesen beiden Gruppen die reinen und gegen- sätzlichen Ausprägungen der im Fischtypus ent- haltenen Bildungsmöglichkeiten zutage treten. Das Verhalten der Ganoiden, als,, Zwischentypen" (s. unten S. 1099, 1104), wird großenteils von jenen aus verständlich; Cyclostomen und Dipnoer weisen dagegen gewisse Tendenzen auf, durch welche (ffe Euichthyes in Beziehung einerseits zu den Acraniern andererseits zu den Amphibien treten (s. S. 1105). 2. Anatomie und Physiologie. 2a) Kör- perform, Lokomotion. Der Fisch- körper bildet eine geschlossene Masse, in welcher Kopf, Rumpf und Schwanz äußer- lich nicht scharf abgesetzt sind; sie nähert sich meist einer Spindelgestalt (Fig lb, c), die aber ihre größte Höhe und Breite näher dem Vorderende erreicht und die durch eine vertikal mehr oder minder entfaltete Schwanz- flosse gestört wird. Im Vorderkörper ist die Mehrzahl der wichtigen inneren Organe konzentriert; der Schwanz ist vorwiegend muskulös. In der Regel (besonders bei Acanthopterygiern, den extremen Vertretern des Fischcharakters; vgl. Fig. ld, e), ist der Körper seitlich stark komprimiert; weniger ausgesprochen ist dies bei gewissen Physo- stomen (z. B. den Welsen, aber auch bei Bodenformen anderer Gruppen, z. B. Lo- phius), bei den Ganoiden und Elasmo- branchiern, unter welch letzteren sogar die äußerste dorsiventrale Abplattung erreicht wird (Rochen, Fig. la). Die paarigen Extre- mitäten, Brustflossen (P) und Bauch- flossen (V), sind allgemein schwach ent- wickelt (im Vergleich mit denen der Landtiere, welche als ,, Beine" die Körperlast tragen); es sind ruderartige Platten, deren vorderes Paar dicht hinter der Kiemenregion steht, während das hintere bald „abdominale" Lage einnimmt, bald „brüst-" oder „kehlständig" wird oder auch ganz schwindet (viele Tele- osteer); Brust- und Bauchflossen fehlen den Symbranchiden, Muraena, Nerophis, so- wie allen Cyclostomen. Demgegenüber sind die vertikalen Körperanhänge, unpaare Flos- sen, stets bedeutend entfaltet und meist in eine oder mehrere Rückenflossen (D), Schwanzflosse (C) und Afterflosse (A) gesondert (Fig. ld); eine bei Salmoniden und Siluriden auftretende hintere strahlenlose Rückenflosse wird als Fettflosse be- zeichnet (Fig. lc). Bei den Larven, bis- weilen auch bei den erwachsenen Tieren (Zoarces, Cepola), hängen sie fortlaufend zusammen. Die Schwanzflosse fehlt bei vielen sogenannten taenioformen Fischen (Tri- chiurus u. a.), sowie bei Hippocampus und Nerophis, wo ein „Greifschwanz" vor- liegt. - - Die Flossen sind zarte Hautsäume, die durch Skelettelemente verschiedener Art (s. u. S. 1069), bei Teleosteern durch knöcherne gegliederte oder ungegliederte Strahlen bezw. durch Stacheln gestützt werden. Isolierte Flossenstrahlen dienen u. a. als Wehrorgane („Stichlinge"), bei Lophius als Angelapparat, bei Trigla unclPeristethionzum Tasten und Kriechen. Der Mund liegt be den „Teleostomen" Fische (Pisces) 1051 in der Eegel terminal (Ausnahmen: Lori- cariiden, Agonus u. a.), bei den Elasmo- branchiern und Chondrosteern ist er unter- ständig, von einem mehr oder minder be- deutenden Rostruin überragt. Der After kennzeichnet meist äußerlich das hintere Ende der Leibeshöhle (und damit des „Rum- pfes"); in besonderen Fällen jedoch rückt er weit nach vorn (s. u. S. 1084). 7 FürdieLokomotion(vgl. Bd.I, S.1O80) sind die Flossen nur von nebensäch- I bewegen; ferner der Zitteraal und Ver- ! wandte, bei denen die sehr lange Analis, und : die Gymnarchinen, bei denen die Dor- i salis in gleicher Weise wirken; endlich die Rochen, die vermittelst wellenförmiger Be- wegungen der mächtigen mit den Körperseiten verwachsenen Brustflossen schwimmen. Bei den übrigen Fischen wird der hauptsächliche Antrieb gegeben durch transversale (durch von vorn nach hinten fortschreitende alternierende Kontraktionen des Seitenmuskels bedingte) Fig. Ib. Fig. lc. Fig. la. Fig. Id. Fig. le. Fig. 1. Charakteristische Umrisse: a) Raja radiata (Riickenansicht), b) Spinax niger, c) Salmo fario, d) Apogon trimaculatus, e) Psettus sebae (b — e Profile). licher Bedeutung; sie dienen teils zur Er- haltung des Gleichgewichts - - (der Schwer- punkt liegt meist über der Mitte!) - - teils zum Lenken oder Hemmen der Bewegung. Ausnahmen machen die Syngnathiden, die sich allein durch undulierende Bewe- gungen der Rücken- und Brustflossen fort- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III Undulationen des gesamten Körperstammes (Strasser, Zur Lehre von der Ortsbewegung der Fische, 1882). Auch die Plattfische schwimmen so; aber, wie in der Ruhelage, die Körperseiten horizontal stellend. Diese Exkursionen sind notwendig ausgiebiger bei langgestreckten niedrigen Formen, 67 1058 Fische (Pisces) ringfügiger (aber wirksamer) bei hohen und kurzen ; der die Eingeweide bergende Vorder- körper beteiligt sich an ihnen in geringerem Maße als der muskulöse Hinterkörper („Schwanz"). Der Lachs soll eine Geschwin- digkeit von 8 m in der Sekunde erreichen und auf seinen Wanderungen etwa 40 km innerhalb 24 Stunden zurücklegen. Von den „fliegenden Fischen" schnellt Exocoetus sich durch eine " Schwimm- bewegung aus dem Wasser, die großen Brustflossen nur als Fallschirm benutzend; Dactylopterus macht Flatterbeweguugen. Aehnliche Gewohnheiten hat auch ein afrika- nischer Süßwasserfisch, Pantodon buch- h o 1 z i ( Malacopterygier ). — Einzelne Knochenfische vermögen sich gut auf dem Lande zu bewegen: Periopht Kalmus (mit arm artig vortretenden Flossenwurzeln) läuft und klettert geschickt; Welse, wie Do ras und Callichthy s , unternehmen gemeinschaftlich weite Land Wanderungen; ähnlich Anabas, Ophiocephalus u. a. Ceratodus soll sich im Wasser auf den Vorderflosseu erheben (vgl. a. Fig. 48) und mit ihnen alternierende gangartige Bewegungen ausführen (Dean). Viele Teleosteer sind mit Haft ap paraten versehen, die ihnen im Kampf gegen Strö- mung und Wellenbewegung oder zu einer Art Lokomotionsparasitismus (Echeneis) dienen. Gobius und Cyclo pterus haben eine von den verwachsenen Bauchflossen gebildete, Lepadogaster eine kompli- ziertere ventrale Haftscheibe; die große Saugplatte von Echeneis liegt dem Schädel und vorderen Bückenabschnitt auf, sie entspricht in den wesentlichen Teilen ihrer Skelettstücke und Muskeln einer vorderen Kückenflosse. Die Loricariiden saugen sich mit dem Munde an; ähnlich, aber mehr zur Ausübung des fakultativen Parasitismus (s. S. 1096), die Petromyzonten; bei ge- birgsbewohnenden Cypriniden ( Gastro - myzon) und Siluriden (Pseudecheneis) kommen brustständige Haftscheiben vor, die an die der Froschlarven erinnern. Ueber Haftorgane der Larven siehe S. 1093. 2b) Integument. Die Hautdecke besteht aus der mehr- bis vielschichtigen Epidermis und dem bindegewebigen Corium. Erstere enthält außer indifferenten (Deck-)Zellen fast stets Schleimzellen, die in den tieferen Schichten entstehen und allmählich an die Obei fläche rücken, häufig auch seröse (acido- pliile) Drüsenzellen oder Kolbenzellen. Die Kolben zellen finden sich bei den Teleosteern mit Cycloidschuppen oder nackter Haut; es sind umfangreiche Gebilde mit einem oder mehreren zentral gelegenen Kernen, die unter Verdichtung ihres acido- philen feinkörnigen Inhalts nach außen rücken und endlich ausgestoßen werden. Aehnliche Elemente enthält die Haut von Petro myzon; den Selachiern fehlen sie. — Mit Ausfühi gang versehene einzellige acido- phile Drüsen finden sich bei vielen Teleosteern (Lepadogaster, Loricariiden, Syngnathiden u. a. m.); allgemein bei den Haien, denen Schleimdrüsen fehlen; bei den Kochen aber sind letztere zahlreich (Kwietniewski). Giftdrüsen, die zu gewissen Haut- stacheln (auf dem Kiemendeekel, Flossen- stacheln usw.) in Beziehung stehen, finden sich bei Scorpaena, Trachinus, Urano- scopus, bei Plotosus u. a. Siluriden, bei Trygon, Myliobatis u. a. m. Stets scheint es sich um Anhäufungen acidophiler Drüsenzellen zu handeln, die sich bisweilen als kompakte Massen von der Epidermis sondern und gelegentlich fakultative Aus- führgänge erhalten (Pawlowsky, Anatomi- scher Anzeiger, Vol. 34, 1909). — Bei den Myxinoiden findet sich jederseits eine Keihe großer von modifizierten Kolben- (,, Fadenkörper"-) und „Blasenzellen" erfüllter „Schleimsäcke" (Retzius, Biologische Untersuchungen, Bd. 12, 1905). — Bei Protopterus bildet das Sekret der Haut- drüsen einen das Tier während des Sommer- schlafes einhüllenden Kokon. Cilien trägt die Epidermis nur embryonal bei Selachiern. Häufig begrenzt die äußere Zellenschicht ein senkrecht gestreifter Cuti- cularsaum. Besondere Mächtigkeit erreicht die Cuticula am Saugnapf von Lepado- gaster; die Stachelchen auf der Haut von Discognathus und die Kappen der so- genannten Flammenzellen von Hippocam- pus sind hier wohl anzureihen. — Ver- hornung der oberflächlichen Lage (in leichtem Maße) tritt ein bei Salmo fario (Maurer), lokal an den Mundrändern von Ceratodus (Ayers, Jenaische Zeitschrift für Natur- wissenschaft, Vol. 18, 1885), an der Unter- lippe mancher Cypriniden (Pawlowsky, Zoologisches Jahrbuch, Abteilung für Ana- tomie, Vol. 31, 1911), in Form zähnchen- artiger Gebilde auf den Lippen von Pleco- stomus (Rauther, ibid.). Besondere rund- liche oder kegelförmige Hornbildungen bilden den sogenannten Perlausschlag brünstiger Cypriniden ; sie entstehen zum Teil an Stelle zugrundegehender Hautsinnesorgane (Maurer). - Die „Zähne" imVestibulum oris und auf der Zunge von Petromyzon bestellen aus kegelförmigen Massen ver- hornter Epidermiszellen, die sich über einer Cutispapille erheben; unter den funktio- nierenden bilden sich Ersatzzähne. Hauptsächlich der Epidermis zuzurech- nende Bildungen sind endlich die Leucht- organe. Sie finden sich vorwiegend bei Tiefsee-, aber auch bei Oberflächenfischen (Porichthys und den Carangiden Ano- malops und P h 0 t 0 blep har 0 n , bei Spinaciden und anderen pelagischen Se- Fische (Pisces) 1059 lachiern [Burckhardt, Ann. Mag. N. H. (7) Vol. 6, 1900]). Sie bestehen im wesentlichen aus einer Gruppe von Drüsenzellen, deren Sekret meist intracellulär leuchtet; dazu kommen oft eine linsenartige Zellengruppe. Reflektoren, Pigmenthüllen, gelegentlich auch Muskeln zur Bewegung des Organs (Chau- Modus u. a.). Das Leuchten ist wahrschein- lich kontinuierlich, nicht vom Willen ab- hängig, doch reflektorisch beeinflußbar. Diese meist kleinen, in Reihen an den Körperseiten (oft in sehr großer Zahl, bei Porichthys gegen 700; vgl. Fig. 30) stehenden Organe scheinen einen ähnlichen bionomischen Wert zu haben wie die Zeichnungen und Schmuck- farben der Bewohner erhellter Wasserzonen (Brauer), d. h. die Artgenossen einander kenntlich zu machen und zur Fortpflanzungs- zeit die Geschlechter anzuziehen. Bemerkens- wert ist indessen das Vorkommen von Leucht- bei blinden Fischen (Ipnops). solitäre Leuchtorgane, vielleicht Organen Größere zum Anlocken von Beutetieren geeignet, stehen auf verlängerten Flossenstrahlen bei Tiefsee-Pediculaten (Gigantactis), auf Bartfäden (Stomias), am unteren Augen- rand usw. Sie zeigen oft den Bau alveolärer Drüsen, mit wohlerhaltenem oder rudimen- tärem Ausführgang, in deren Lumen das Leuchtsekret sich sammelt (Näheres siehe bei Brauer, Wissenschaftliche Ergebnisse der Deutschen Tiefseeexpedition, Vol. 15, 1906; Gatti, Roma 1903; Greene, Journ. Morph. Vol. 15; Mangold, Arch. ges. Physiol. 1907; Steche, Zeitschr. wissensch. Zool. Vol. 93, 1909 u. a.). — Der Umstand, daß bei Porichthys Leuchtorgane und Endhügel (s. u.) in derselben Reihe alternieren, ja ein- ander vertreten, auch zum Teil in engem wechselseitigem Zusammenhange entstehen, scheint eine gewisse Verwandtschaft von bei- derlei Bildungen anzudeuten. Diese Annahme würde verständlich machen, daß so viele sehr verschiedenen systematischen Abteilungen zugehörige Tiefseefische gestaltlich sehr ausgebildet ähnliche Leuchtorgane Allerdings werden die kleinen Organe haben. kompakten nur von schwachen Hautnerven Ver- den Perlorganen. sorgt; Gatti vergleicht sie Das Corium sondert sich meist in eine äußere lockere Zone und eine innere, die aus derben parallelfaserigen Bindegewebs- bündeln gebildet ist, welche sich in ab- wechselnden Lagen diagonal kreuzen und oft von senkrecht zur Oberfläche auf- steigenden Strängen durchsetzt werden. Farbstoffzellen (Chromatophoren) he- gen vorwiegend in der lockeren subepider- malen Schicht; sie enthalten teils bräunliche oder schwarze Pigmente (Melanine), teils gelbe und rötliche (Li p 0 c h r 0 nie) : ,, I r i d 0 cy- ten", mit stark lichtbrechenden Körperchen (Guanin) erfüllt, bedingen ein mattes Weiß oder Silberglanz oder, in Verbindung mit den Chromatophoren, blaue und grüne Töne. Beide Arten von Chromatophoren sind von aus dem Sympathikus stammenden Fasern innerviert; Reizung bewirkt Zu- sammenballung, Erschlaffung das Aus- strömen des Pigments in die Zellfortsi>tze. In der Anordnung der Pigmentzellen finden sich häufig Beziehungen zur Körpermetamerie bezw. zur Hautinnervation (Rynberk). — Lebhafte Färbungen und Zeichnungen treten vorwiegend bei den geringe Tiefen be- wohnenden Teleosteern, besonders den tro- pischen (Chaetodontidae, Labridae u. a.) auf; Bodenformen sind meist protektiv gefärbt (wofern sie nicht besonders geschützt sind, wie der mit blauen Augenflecken ver- sehene Zitterroche); zu eigentlich imitatori- schen (Mimicry-) Wirkungen steigern sich diese Anpassungsfärbungen bei Scorpaeniden und Lophobranchiern; so nehmen die Seenadeln den Habitus von Seegrasblättern an, die gefüllte Bruttasche der $<$ gleicht auf- fallend den Blütenständen derselben (Heincke). Hochseefische haben meist leb- haften Silberglanz (Clupeiden, Regalecus Trachypterus u. a. m.), nächtliche Fische und Bewohner trüber schlammiger Gewässer (Welse u. a.) einförmig dunkle Töne, ähnlich die Tief Seefische; einzelne von letzteren (Barathronus), sowie Höhlenfische (Am- blyopsis), sind fast pigmentlos, manche pelagische Larven (Leptocephali) glasartig. Bei Elasmobranchiern herrschen dunkle gleichförmige Färbungen vor. Im allgemeinen ist bei den klares Wasser bewohnenden Fischen der Rücken dunkel, der Bauch hell gefärbt; einige Welse (Synoclontisarten), die zeitweilig mit dem Bauche nach oben schwim- men, verhalten sich umgekehrt. Bei den Platt- fischen ist die blinde, zum Boden gewandte Seite farblos, kann aber durch künstliche Beleuchtung von unten pigmenthaltig ge- macht werden. Sehr vollkommenes Vermögen des (protektiven) Farben- wechsels kommt vor allen den Plattfischen zu, derart, daß sie sich nicht nur jeweils dem Ton, sondern auch der Zeichnung des Grundes weitgehend anähneln (Sumner, Journ. exper. Zool. Vol. 10, 1911); an Forellen, Schmerlen, Lippfischen u. ä. m. hat man Beobachtungen über ein der Um- gebung entsprechendes Heller- oder Dunkler- werden bezw. Anpassung im Farbenton gemacht Reaktionen, die stets durch Gesichtsempfindungen vermittelt werden. Außer der reflektorischen Umlagerung der Pigmente scheint bisweilen auch eine adapta- tive Veränderung derselben unter direktem Lichteinfluß vorzukommen Secerov, Archiv für Entwickelungsmechanikj Bd. 28, 1909; seine Angaben werden neuerdings bestritten). Besondere Habitusveränderungen treten viel- 67* 1060 Fische (Pisces) fach in der Fortpflanzungszeit auf („Hoch- zeitskleider"), meist als lebhafte Schmuck- farben beim $ (bei den N er ophis- Arten beim $!), bei den Cypriniden als Ausschlag kleiner weißlicher Hornbildungen (Perl- organe); bisweilen betreffen die Verände- rungen aber auch Vergrößerung von Körper- anhängen (Flossenstrahlen) u. dg].; beim <$ von Lepidosiren bilden sich an der Bauch- flosse rote fadenförmige Emergenzen. Vornehmlich dem Corium gehören die Hartgebilde des Integuments der Lage nach an. Die Placoidorgane der Elasmo- branchier entstehen an der Grenze zwischen Epidermis und Corium, in Kontinuität mit der Basalmembran. Die jüngere Anlage besteht in einer papillenartigen Anhäufung von Coriumzellen (Odon toblasten, Sclero- blasten), welche die innere Epidermisfläche vorwölbt; in diesem Bezirk nehmen die basalen Epidermiszellen (Amelob lasten) Fig. 2 a. Fig. 2b. Fig. 2. Mustelus laevis. a) Längsschnitt durch einen Hautzahn. Nach O.Hertwig, Jenaische Zeit- schrift f. Nat., 1874. b) Anordnung der Placoid- schuppen in der Haut (die Richtung der Cutis- fasern rechts unten angedeutet, die Verzweigung der Odontoblastenausläufer nur in einem Haut- zahn ausgeführt); e Schmelz, d distaler Teil des Placoidorgans bezw. Dentin, b Basalplatte, epd Epidermis, p Pulpahöhle. hohe prismatische Gestalt an. Zwischen ihnen und dem bindegewebigen Zahnkeim wird Hartsubstanz abgeschieden: zu äußerst eine homogene Schmelzschicht (der die Basalmembran als Oberhäutchen aufliegt), innen eine knochenartige, zarte Fortsätze "der Odontoblasten einschließende und daher von feinen Röhrchen durchsetzte Masse (Dentin). Der fertige Zahn (Fig. 2 a) enthält eine von Bindegewebe, Gefäßen und Nerven erfüllte Pulpahöhle; seine nach hinten gerichtete Spitze durchbricht die Hautoberfläche; seine Basis erfährt meist eine Verbreiterung in Fonn einer rhombischen (aus osteoider Sub- stanz ohne Dentinstruktur bestehenden) Basalplatte. Derartige Hautzähne werden beständig nachgebildet; sie ordnen sich meist, den Zügen der Coriumfasern ent- sprechend, in diagonalen Reihen an (Fig. 2 b). Die Hautskelettelemente der Teleosteer entstehen fast stets in einigem Abstand von der Epidermis und sind allseitig von Binde- gewebe umhüllt; sie enthalten in der Regel einen den tieferen Coriumschichten zuge- hörigen Anteil in Form einer Platte aus echter Knochen- oder osteoider (zellenloser) Substanz, in welcher sich die Struktur des Coriums mehr oder minder deutlich erhält. Hierzu kommen oft distale Bestandteile, deren Beziehungen zu Hautzähnen nicht überall gut zu präzisieren sind. Bei der Mehrzahl tritt als Hautskelettelement die Schuppe auf, ein rundliches dünnes Knochen- plättchen, dessen Oberfläche zarte Leisten, in der Aufsicht als um eine Art Wirbel konzentrisch geordnete Linien erscheinend, trägt. Der Vorderrand ist grob gezackt oder gerundet, der Hinterrand glatt (Cy- cloidschuppen, Fig. 3a) oder mit mehr Fig. 3 a. Fische (Pisces) 1061 Wß. ' Wm : i htt\ /// i /// , Fig. 3 b. entsprechen (Hase). — Häufig kommt es durch Auflockerung des die Schuppen um- gebenden Gewebes zur Bildung sogenannter Schuppentaschen. Fig. 3. Teleosteerschuppen a) von Crenilabrus pavo, b) von Gobius capito, c) von Capros aper. oder minder zahlreichen soliden Zähnchen besetzt(Ctenoidschuppen, Fig.3, b und c). Vom Rand zum Wirbel laufen oft mehrere starke radiale Linien (Furchen). Die Schuppe besteht aus einer distalen homogenen Lage (Hyalodentinschicht) und einer dickeren inne- ren, entsprechend der tieferen Coriumschicht faserig strukturierten; jene, in den Radial- furchen unterbrochen, bildet allein die Ring- leisten und Zähnchen (Hase, Jenaische Zeit- schrift für Naturwissenschaft, Vol. 42, 1907. — Charakteristisch ist die sclirägeEinlagerung der Schuppen in die Haut, wobei sie sich „dach- ziegelartig" derart übereinanderschieben, daß der tiefer liegende Vorderteil jeder Schuppe von den beiden Nachbarn und von der voraufgehenden Schuppe bedeckt wird; sie nehmen quincunxiale Stellung ein, es können daher longitudinale, transversale und dia- gonale Reinen gelesen werden (vgl. Fig. ld). Dabei richtet sich die Anordnung meist nach der Gliederung des Seitenmuskels (Fig. 4), derart, daß jedem W-förmig geknickten Myomer eine (Gyprinus, Leuciscus) oder zwei (Tinea, Salmoniden) Schuppenreihen Fig. 4. Frontalschnitt durch die Haut eines jungen Leuciscus. Nach Hase, epd Epidermis, s Schuppe, c Corium, m Muskelsegment. Es fehlt bei den Teleosteern nicht an Hart- gebilden, die sich, sei es im Habitus, sei es in der Struktur, den Befunden bei Selachiern nähern. So finden sich auf den großen Knochenschuppen der Loricariiden und von Callichthys beweg- lich angebrachte echte Hautzähnehen. Die hohlkegelförmigen Ossifikationen von Cyclo - pterus, die teilweise zu größeren Komplexen verschmelzen, zeigen Dentinstruktur (Hase, Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft, Vol. 47, 1911), nicht aber die Entstehungsart echter Zähne. • Die Stachel- und zahnartigen Bildungen, die sich einzeln oder zu mehreren auf größeren Platten stehend \inter Pediculaten, Scombroiden (Diana), Trigliden, bei Centris- cus und Plectognathen finden (0. Hertwig, Morphologisches Jahrbuch, Vol. 7, 1882), ver- halten sich doch nach Struktur und Genese ab- weichend von echten Zähnen. Beachtenswert ist, daß im Beginn der Schuppengenese über der Skleroblastenanhäufung eine Erhöhung der ba- salen Epidermiszellen,ein „rudimentäres Schmelz- organ", vorübergehend auftritt (Hofer, Hase). Eigenartig verhält sich der Panzer der Syngnathiden (Fig. 5); er bestellt aus 7 (am epd Fig." 5. Querschnitt durch den Rumpf von Syngnathus; ch Chorda, n Neuralbogen, prtr Querfortsatz, sc Hautskelettschilder, int Darm, mc Myocommata (die Muskulatur doppelt schraf- fiert); die Leber ist grob, das Pankreas fein punktiert. 1062 Fische (Pisces) Schwanz 4) Längsreihen winklig geknickter Schilder, die eine derjenigen der Wirbel gleiche Zahl von Panzerringen biden; dabei greift der obere Flügel jedes Schildes über den unteren, der vordere Rand über den hinteren der Nach- barschilder. Die Schilder verbinden sich durch ineinander greifende Rinnen und Leisten. In den Lücken zwischen den Hauptschildern liegen meist kleine Zwischenschilder. Analoge Haut- skelettelemente finden sich bei Solenostoma, Centriscus und (nahtartig miteinander verbun- den) bei Amphisile. Die Beziehungen der Panzerbildungen bei Pegasus und den Ostra- ciontiden zu den vorigen sind noch nicht sicher zu beurteilen. Die Hautskelettelemente der als Ga- noiden zusammengefaßten Gruppen ent- stehen aus umfangreichen Coriumver- unter mehr oder Beteiligung echter knöcherungen , meist minder entschiedener Hautzähne. Bei Lepidosteus treten em bryonal, gesondert von der eigentlichen, der tieferen Coriumschicht angehörigen Schuppenanlage, Hautzälme auf, von welchen aus sich eine durch Glanz und Härte aus- gezeichnete Außenlage (Willi amsons „Ganoin"- Schicht) über die Schuppe aus- breitet; die Zähne selbst- verkümmern (Klaatsch, Morphologisches Jahrbuch Vol. 16, 1890). Die Schuppen sind rhombisch, übrigens wie die der Teleosteer geordnet, wenn- gleich mit weniger ausgiebiger wechselseitiger Deckung; vordere und obere Gelenkfortsätze dienen zu ihrer Verbindung. Die rezenten Crossopterygier (vgl. Fig. 54) verhalten sich ähnlich; außer den frei oberflächlich stehenden Zähnchen finden sich Reste solcher zwischen die Ganoinschicht und die proxi- malen vaskularisierten Knochenschichten ein- geschlossen (Cosminschicht). Amia hat normale Cycloidschuppen. Acipenser ist am Schwänze mit rhombischen Schuppen, sonst mit größeren bestachelten Schildern und kleineren Hautstacheln bedeckt, Spatu- laria nur mit letzteren: Coriumyerknöche- rungen, zwar ohne eigentliche Zahnstruktur, von Hertwig (Morphologisches Jahrbuch, Vol 2, p. 390), indessen als geweblicher Rück- bildung verfallene Plaeoidorgane aufgefaßt. Modifizierte Hautverknöcherungen, die den Vorderrand der unpaaren Flossen bedecken, werden als Flossenschindeln, Fulcra, be- zeichnet (vgl. Fig. 20). - - Die Schuppen der rezenten Dipno er eiinnern an cycloideTeleo- steerschuppen; Beteiligung der Epidermis bei ihrer Bildung ist nicht nachgewiesen und die auf ihnen stehenden soliden Höckerchen werden daher (und wegen des Mangels von Schmelz, Dentinstruktur usw.) nicht für Hautzähnen vergleichbar erachtet. Nackte Formen, solche, die das Haut- skelett ganz oder teilweise eingebüßt haben, finden sich in allen Hauptgruppen (Holo- cephalen, Torpedo; Polyodontiden; Silu- riden, Gymnotus [Electrophorus], Lepado- gaster u. a). Aller Hartgebilde entbehrt auch die Haut der Cyclostomen. Beachtens- wert ist, daß bei allen sogenannten elek- trischen Fischen das Hautskelett fehlt oder sehr reduziert ist. Im allgemeinen läßt sich ein reziprokes Verhältnis in der Entfaltung des Hautskeletts und der (acidophilen) Hautdrüsen bzw. Kolbenzellen feststellen. 2c) Skelett. Das Skelett gliedert sich in die Schädelkapsel (Neurocranium), die Kiefer- und Kiemenbogenstücke (Visceralschädel, Splanchnocranium), die Wirbelsäule und ihre Anhänge, die Extremitätengürtel und das Flossenskelett. Seiner geweblichen Be- schaffenheit nach ist das (Innen-) Skelett der Elasmobranchier und der Cyclostomen knorpelig, das der Teleosteer, Holosteer und Crossopterygier vorwiegend knöchern; bei den Dipnoern und Chondrosteern ist der Ersatz des knorpeligen durch das knöcherne Skelett sehr unvollkommen. Echter Knochen kommt dem Skelett der Dipnoer, Ganoiden und der meisten Physostomen (Siluriden, Cyprinoiden, Salmoniden, Clupeiden usw.) sowie dem von Thynnus zu; bei den übrigen Teleosteer n entbehrt das Knochengewebe der Knochenkörperchen, es besteht aus ,, osteoider Substanz" (Kölliker). — Als erstes embryonales Skelettgebilde tritt die Chorda dorsalis auf, ein axialer Ge- websstrang von epithelialer (entodermaler) Herkunft, der eine zarte elastische äußere und eine dicke faserige innere Scheide erhält, innerhalb welcher die Zellen sich zu dünnwandigen, mit Flüssigkeit er- füllten Kämmerchen umwandeln; so erlangt die Chorda bedeutende Rigidität. Meist wird sie später durch Wirbelbildungen mehr oder minder verdrängt. Der Schädel der Elasmobranchier (Fig. 6) ist eine wenig gegliederte, vorn spitz oder mit drei Rostralknorpeln — (einem ventro-medianen und zwei seitlich von den Nasenkapseln entspringenden, die meist nach vorn hin konvergieren) - - endende Knorpel- kapsel, hinten mit weiter Oeffnung zum Durchtritt des Rückenmarks, seitlich mit Nervenlöchern versehen; seitliche Höhlungen (Orbitae) nehmen die Augenbulbi, besondere Kapseln die Nasengruben und das Ohr- labyrinth auf. Der Schädelbasis, bezw. den ersten Wirbeln, schließen sich geglie- derte knorpelige „Visceralbögen" an, deren vorderster aus einem oberen (proximalen) Stück - - Palatoquadratum — und einem distalen Mandibula, Unterkiefer besteht. Bei den Rochen und einem Teil der Haie (s. S. 1098) ist dieser „Kieferbogen" nur vermittels eines knorpe- ligen Stiels mit der occipitalen Schädelregion Fische (Pisces) 1063 gelenkig verbunden, den man als ein proxi- males Stück des folgenden „Hyoiclbogens" betrachtet und daher als Hyo mandibulare bezeichnet („Hyostylie" Huxley). Bei anderen Haien bildet der Gaumenteil des Fig. 6. Schädel von Scymnus, Nach Gegen- bau r 1872. r Rostrum, pq Palatoquadratum, in Mandibel, 1 Labialknorpel („Prämaxillar"-, „Maxillar"- und „Prämandibular "-Knorpel), hvm Hyoniandi bulare , hy Hyoid (letztere Radien tragend). Palatoquadratum einen zu einer Verbindung mit der Basis desCraniums (Junctura ethnio- palatina) dienenden Fortsatz (Processus palatobasalis) aus, der Quadratteil oft einen ähnlichen postorbitalen; bei den Notidaniden tritt der letztere in eine mehr oder minder feste Verbindung mit dem Schädel, ohne daß zugleich eine lose Anlehnung an das Hyoid aufgegeben wird („Amphistylie"). Als weitere Teile des Hyoid- oder Zungenbein- bogens schließen sich dem Hyomandibulare distahvärts ein Ceratohyale und ein unpaares Basihyale an. Zwischen dem Palatoquadratum und dem Hyomandibulare finden sich 1 bis 4 sogenannte Spritzlochknorpel: sie werden meist als aufgefaßt, Radien (s. sie fehlen u.) nur des den Kieferbogens Notidaniden. Nach hinten vom Hyoid folgen meist 5 (bei Notidanoiden 6 bezw. 7) Paar Branchial- odei Kiemenbögen (Fig. 7), höchstens je aus 4 Gliedern (Pharyngo-, Epi-, Cerato- uncl Hypobranchiale) bestehend: sie sind ventral durch unpaare mediane Stücke verbunden, Copulae, deren Zahl ursprüng- lich wohl derjenigen der Bögen entsprach. bei allen bekannten Formen aber mehr oder minder bedeutende Reduktion erfährt, Bei den Holocephalen (Fig. 8) verwächst (unter Ausschaltung des Hyomandibulare) das Palatoquadratum mit dem Schädel, mit dem der ' Unterkiefer also direkt artikuliert („Autostylie"); die Kiemenbögen drängen sich unter dem Schädel zusammen: den Spritzlochknorpeln entspricht ein isoliertes Knorpelchen hinter dem Kiefergelenke (Hub- recht). - Vor dem Mandibularbogen hegen -—bei den Holocephalen besonders entfaltet — die Labialknorpel, meist ein vorderer oberer und ein oberer und ein unterer hinterer, welch letztere bogenförmig zu- sammenschließen; die oberen entsprechen der Lage nach Zwischen- und Oberkiefern der Teleostomen (Cuvier), Gegen baur (Kopfskelett der Selachier, 1872) deutete die Lippenknorpel als Reste prämandibularer Visceralbögen. Den Zahnbesatz des oberen (vorderen) Mundrandes trägt das Palato- quadratum. Der äußere konvexe Rand der Kiemenbögen ist mit einer Reihe von knorpeligen „Kiemenstrahlen" (Septal- radien) besetzt; sie sind bei den Rochen Fig. Gegen baur 18'< Kiemenskelett von He p ta n c hu s. Nach 2. c Copula, hy Hyoid, I bis VII Kiemenbögen, 1 bis 4 Glieder der Kiemenbögen. st r-v and Fig. 8. Schädel von Chimaera monstrosa (J. (Nach Hubrechl 1876). r Rostral-, n Nasal-, 1 Labialknorpel, m Mandibel, pq Palatoquadratum, aud Labyrinthregion, hy strahlen tragendes Haupt- stück i\rs Zungenbogens ; op Kiemendeckelplätte. st Stirnfortsatz. 1064 Fische (Pisces) durchschnittlich zahlreicher als bei Haien (28 bis 30 bei Rhynchobatus an einem Bogen, bei den Haien maximal etwa 20); bei den Holocephalen sind sie verkümmert; sie dienen den Kiemensepten (s. u.) zur Stütze. Am Hyoidbogen bilden sich durch basale Verwachsung der Radien häufig sogenannte Radienplatten (Fig. 6); dieselben dienen bei den Holocephalen dem „Kiemen- deckel" (der vielleicht eher der Branchiostegal- membran höherer Fische entspricht) zur Stütze (Fig. 8 op.). Besondere dorsale und ventrale Knorpelspangen, distal von den eigentlichen Visceralbögen gelegen und je- weils die Kiemenspalte zwischen ihnen oben und unten überbrückend, werden als „äußere Kiemenbögen" oder Extrabranchialia be- zeichnet; sie sind vielleicht auf modifizierte Kiemenstrahlen zurückzuführen (D o hrnu. a.) Die Wir bei (Fig. 9, w) sind trommel- bezw. sanduhrförmige, knorpelige, aber teilweise verkalkte Gebilde; sie entstehen voi wiegend Fig. 9. Schwanz- wirbel von Pristi- urus. Nach Hasse 1882 (schematisiert) ; w Wirbelkörper, n Neural-, h Hämal- bogen, i Intercalare, s Schlußstück. wo- durch Einwucherung mesodermalen Gewebes in die innere Chordascheide („Chorda-Centra", Gadow). Die primäre Verkalkungszone hat die Form eines Doppelkegels, dessen Spitze in der Wirbelmitte liegt; auf dem Querschnitt erscheint sie als einfacher, nahe der Chorda gelegener Ring (Cyclo- spondyli, Hasse); sekundär bilden sich weitere äußere Mäntel von verkalktem Knorpel (Tectospondyli), oder dieser tritt in radiären Lamellen auf (Asterospondyli, vgl. Fig. 10). Dorsal erheben sich von den Centra paarige, das Rückenmark seitlieh Fig. 10. Schematische Querschnitte von Haifisch- wirbeln. Nach Hasse 1879. Verkalkungszone (schwarz) bei a in Form eines (Cyclospondylus), bei b mit hinzutretenden äußern Kalkschichten (Tectospondylus), bei c mit radialen Lamellen (Asterospondylus). umgreifende obere oder Ne uralbögen, in der Schwanzregion ventral entsprechende (die Caudalarterie und -vene einschließende) untere oder Haemalbögen (Fig. 9). Zwischen je 2 Bögen schieben sich paarige Intercalarstücke ein, zwischen die paari- gen Bogenteile fügen sich unpaare Schluß- stücke (Neural- bezw. Haemaldornen). Gewöhnlich sitzen die Bogenstücke der verknorpelten Chordascheide getrennt auf, in gewissen Fällen jedoch (und zwar, nach Regan, bei denjenigen Haien besonders, bei denen die sekundären Verkalkungszonen schwach sind oder fehlen), verbinden sich die oberen und unteren Bogenbasen mit- einander, eine äußere Knorpellage rings um die Chordascheide bildend; dies Verhalten vermittelt den bei Teleostomen begegnenden Befund. Im Rumpf erscheinen an Stelle der Haemalbögen seitliche Wirbelfortsätze (Parapophysen), denen sich die proximalen Enden der Rippen —(„obere", die sich in das horizontale Seitenmuskelseptum erstrecken, denen der Amphibien und Amnioten homolog) — anlegen. Während in der Rumpf region bei den Plagiostomen auf jedes Myomer ein Wirbelzentrum mit je einem Paar von Bogen- und Intercalarstücken entfällt, kom- men in der Schwanzwirbelsäule je zwei Wirbel auf ein Myomer (Diplospondylie); in diesem Falle tragen nur ein oberes Bogen- und Intercalarstück um das andere die Löcher bezw. Kerben zum Durchtritt der Spinal- I nerven. Eine weitere Zunahme der Wirbelzahl in jedem Myomer läßt sich in der Schwanz- region der Holocephalen aus dem Verhalten der Spinalnerven zu den Bögen nachweisen (Polyspondylie). Der Schultergürtel (Fig. 11) und die (median vereinigten) Beckenstücke sind wenig gegliederte, mit der Wirbelsäule (außer bei Fig. 11. Schultergürtel (sb) und Brustflosse von Doppelkegels I Heptanchus. Nach Wiedersheim, Glied- maßenskelett der Wirbeltiere 1892. pr, m, mt Pro-, Meso- und Metapterygium, r, r' Radien, c Ceratotrichien (durchschnitten)* Fische (Pisces) 1065 den Rochen) nicht verbundene Knorpel. Dem ersteren schließen sich beweglich meist 3 den proximalen Teil der Extremität bildende Knorpel ■ — Pro-, Meso- und Metapterygium — an, diesen distalwärts eine größere Zahl knorpeliger, gewöhnlich 3-gliedriger Radialia; zum Teil treten diese auch aul' die Außenseite des Metapterygiums über (vgl. Fig. 11, r1), womit die Flosse sich dem biserialen, von gewissen Theoretikern für primitiv erachteten Bau („Archiptery- gium") nähert (vgl. unten S. 1070). Bei den Rochen legen sich das Pro- und das Meta- pterygium, nach vorn und hinten ausein- andergespreizt, den Körperseiten an; die Radien sind überaus zahlreich, vielgliedrig, am Ende gegabelt, Die distale Flossenfläche wird von sehr zahlreichen, die Knorpelradien beideiseits überlagernden sogenannten Horn- fäden oder Ceratotrichia gestützt (histio- chemisch stehen dieselben dem elastischen Gewebe nahe). Nicht sehr abweichend verhalten sich die unpaaren Flossen; die meist 3-teiligen Radien (deren proxi- male Glieder oft verschmelzen), erstrecken sich weit (besonders bei Holocephalen) in die freie Flosse hinein. — Die Männchen der Selachier besitzen ein hauptsächlich aus abgegliederten Teilen der Bauchflossen ge- bildetes Copulationsorgan. Das Schwanzende ist meist zur Horizontal- ebene unsymmetrisch gebaut, heterocerk (vgl. Fig. 1, b); in den größeren oberen Schwanzlappen setzt sich das Ende der Wirbelsäule fort. Diese Einrichtung ist am meisten bei Fischen mit unterständigem Maul (z. B. auch bei den Stören) ausgebildet, denen die Bewegung des oberen Schwanz- lappens wohl den Uebergang in eine halb- aufgerichtete Stellung erleichtert. Die Holocephalen haben ein einfach spitz zu- laufendes (diphycerkes) Schwanzende; ihre Wirbelsäule ist acentrisch, aus Knorpel- bögen, die den durch Kalkringe verstärkten Scheiden der uneingeschränkten Chorda auf- sitzen, gebildet. Bei den Tele os teer n treten zum embryo- nalen Knorpelskelett Knochenbildungen, teils im unmittelbaren Anschluß an den Knorpel als „primäre" oder Ersatz- knochen oder ohne solchen, im Bindegewebe entstehend und meist mehr oberflächliche Lage einnehmend, als „sekundäre", Haut- oder D e c k k n o c h e n ; die Grenzen von beider- lei Bildungen sind jedoch nicht völlig scharf; einzelne Knochen entstehen aus der Ver- schmelzung dei maier und perichondraler Anlagen, Deckknochen können sich dem Knorpel unvermittelt anlagern und bei topographisch als primäre anzusprechenden Knochen kann die knorpelige Grundlage in der Embryogenese unterdrückt sein, i Zur ersten Kategorie gehören am Schädel (vgl. Fig. 12 u. 13) die das Hinterhaupt- loch umgebenden Occipitalia (Basi- und Supraoccipitale, 2 Exoccipitalia); die das Labyrinth umschließenden Otica (Spheno- ticum. Pteroticum diese beiden oft durch Deckknochen : Postfrontale bezw. Squamosum vertreten — Epi-, Pro- und Opisthoticum) ; das B a s i p h e n o i d und Alisphenoide; Exethmoide [Prae- frontalia], Mesethmoid, Metapterygoid (mt pt). Als Deckknochen gelten die das Schädeldach bildenden paarigen Frontalia (fr), die ursprünglich ebenfalls mit medianer Naht zusammenstoßenden, bei den Acantho- pterygiern aber meist durch das Supra- occipitale geschiedenen, bisweilen auch mit den Frontalia vereinigten oder ganz unter- drückten Parietalia (p), die Nasalia, Fig. 12. Schädel von Salmo trutta. Nach Agassiz u. Vogt. Verweisungen im Text. Fig. 13. Unterfläche des Schädels von S a 1 m o trutta. Nach Agassiz u. Vogt, n Nasale, ee Prä- frontale , v Vomer, pa Parasphenoid , sph, pro, pto, oo Sphen-, Pro-, Pter- und Opisthoticum, occ b Basioccipitale, occl Ex- occipitale. der stets (sekundär) unpaare Vomer (der allerdings oft mit dem Knorpel der Ethmoidregion in die engsten Beziehungen tritt) — und das die Schädelbasis bekleidende langgestreckte Parasphenoid; ferner das Ecto- und Endopterygoid (pt), flache, zum Teil die Orbita bedeckende Sub- bezw. Praeorbitalia (o) und die Knochen des Kiemendeckels. Von letzteren ist das Oper ciliare (op) meist gelenkig mit dem Hyomandibulare verbunden; das Prae- operculum (pr) überlagert das letztere und das Quadratum und kann gelegentlich 1066 Fische (Pisces) mit ihnen verschmelzen (Siluriden); es ist als „Schleimkanalknochen" von Wichtigkeit. Das Interoperculnm (i) ist sehr regel- mäßig mit dem Articnlare des Unterkiefers ligamentös verbunden; das Suboperculum (s) fehlt bisweilen (Siluriden). Das Gelenk des Operculare kann Knorpelreste enthalten (Syngnathiden). „Hyostylie" ist bei-Tele- osteern die Regel; meist ist das stabförmige Hyo mandibulare (hm) mit dem Sphen- und Pteroticum gelenkig verbunden; bei den Loricariiden aber bildet es eine breite un- bewegliche Platte, bei Diodon verwächst es mit dem Schädel; die feste Verbindung mit dem Quadrat um (q) vermittelt ge- wöhnlich ein Symplecticum (sy; es fehlt den Siluriden und Muraeniden). Diese Knochen des Kiefersuspensoriums, das vor dem Quadratum gelegene Metapterygoid (mt pt), die Palati na, (die vorn mit der Ethmoidalregion in Gelenkverbindung treten), der Hyoidbogen und die Kiemenbögen ent- stehen auf knorpeliger Grundlage bezw. umschließen Knorpelstüeke. Von den Knochen des Unterkiefers ist das Articulare (a) ein Ersatz- oder ein Mischknochen, das Dentale (d), und das Angulare, stehen zum (Meckelsehen) Knorpel in weniger enger Beziehung; Ober -und Zwischenkiefer, Maxiilaria (mx) und Intermaxillaria (imx) entbehren knorpeliger Teile; bei den Physostomen bilden sie meist gemeinsam den oberen Mundrand, bei den Acantho- pterygiern u. a. liegen sie meist schräg hintereinander (Fig. 55); das Maxillare nimmt dann an der Begrenzuno; des Mundes oft nicht mehr teil und verliert die Be- zahnung; bei den Plectognathen verschmelzen Ober- und Zwischenkiefer mehr oder minder fest miteinander (Fig. 56). Auf die Beziehungen des knorpeligen Tentakelskeletts (bei Siluri- den u. a.) zu den Labialknorpeln der Elasmo- branchier u. a. kann nicht eingegangen werden (vgl. Pollard, Zool. Jahrb. Abt. f. Anat. Bd. 8. 1895). Der Hyoid- oder Hyalbogen (Zungenbein) umfaßt meist vier Glieder (Styl-, Epi-, Cerato-, Hypo- hyale), von denen sich das kurze oberste stets zwischen dem Hyomandibulare und dem Symplecticum anheftet; das Hypohyale besteht oft aus 2 nebeneinander liegenden Stücken (Fig. 14). Dazu kommt ein medianes copulaartiges Stück (Basi- oder Glosso- hyale), meist schließt sich den ventral vereinigten Enden nach hinten eine Sehnen- verknöcherung (Urohyale, Fig. 55 u) an; die mittleren Glieder sind mit Knochenstäben, Raclii branchiostegi (rbr), besetzt, welche die den Kiemendeckel ventralwärts vervoll- ständigende Kiemenhaut verstärken: sie entsprechen offenbar den Septalradien der Elasmobranchier. Dem konvexen Rand der mittleren der 4 Kiemenbogenglieder (Pharyngo-, Epi-, Cerato- und Hypo- b ran chialia) sind knorpelig-knöcherne Stäb- chen, Kiemen gräten, zweizeilig lose auf- gesetzt (bisweilen an der Basis fortlaufend durch Knorpel verbunden); sie fehlen dem letzten (V.) Bogen, der nur aus jederseits einem ungegliederten Stück („untere Schlundknochen") besteht. Ein wahr- scheinlich als Rest eines Kiemenbogens zwischen dem Hyoid- und dem I. (normalen) Kiemenbögen zu deutendes Skelettstück kommt bei Loricariiden vor (Weyenbergh; Rauther, Zool. Jahrb. Abt. f. Anat. Vol. 31, 1911). Die Innenfläche der Bögen trägt meist lose angebrachte stabförmige Fig. 14. Rechte Hälfte des Kiemenkorbs von Salmo triitta. Nach Agassiz u. Vogt, c Copulae, gh Glossohyale, hh, ch, eh, sth Hypo-, Cerato-, Epi- und Stylhyale; I— IV Kiemen- bögen, V untere Schlundknochen, 1 Hypo-, 2 Cerato-, 3 Epi-, 4 Pharyngobranchiale. Knochenbildungen (Siebfortsätze, siehe S. 1095) bezw. echte Zähnchen, die auf den unteren und den oberen Schlund - knochen (Pharyngobranchialia) sich bedeutend entfalten können (über die Bezalmung vgl. im übrigen S. 1077). Die Wirbel, stets außerhalb der Chorda- scheiden entstehend^, arch-centra",Gadow), sind sanduhrförmig, amphicöl; die Chorda wird intravertebral mehr oder minder voll- ständig verdrängt. Obere und untere Bögen entstehen von knorpeligen Anlagen aus, verschmelzen mit den Dornfortsätzen meist zu einheitlichen Gebilden; Intercalaria sind nicht gesondert. Zur wechselseitigen Ver- bindung der Wirbel dienen oft paarige Gelenkfortsätze (Zygapophysen). Die Rumpfwirbel tragen starke Querfortsätze (Parapophysen), denen sich meist untere Rippen (Pleuralbögen, zwischen Bauchfell und Muskulatur verlaufend) anlegen. Die oberen Rippen finden sich nur in Rudimenten Fische (Pisces) 1067 (Salmo, Clüpea); sie werden vertreten durch die mittleren der sogenanntenFleisch- gräten, die in 3 Paaren vorkommen können (Fig. 15). Bei einigen gepanzerten Formen Fig. 15. Rumpf- und Schwanzwirbel vom Lachs, am Ursprung der Bogen (n, h) durchschnitten. Nach Bruch 1875. sp Dornfortsätze, p Par- apophysen, pl (untere) Rippen, s, in obere und mittlere Fleischgräten. verkümmern die Rippen (vgl. Fig. 5, Syn- gnathus, wo mächtige Querfortsätze den Seitenschildern eine Stütze bieten). Auch bei den Teleosteern ist das ungegliederte Ende der Wirbelsäule (Urostyl) bezw. das Ende der Chorda meist schräg aufwärts gebogen, das Skelett der Schwanzflosse also, trotz äußerer Symmetrie dieser (Homocerkie, Fig. 1, c bis e), unsymmetrisch; der untere Schwanzlappen wird dann von vergrößerten, zu einer Knochenplatte (Hypurale) mehr oder minder völlig verschmolzenen Haemal- dornen der letzten Wirbel getragen (Fig. 16, hu). des Häufig sind infolge von Verkümmerung Wirbelsäulenendes (sekundär) symmetrische Schwanzflossen (Gephyrocerkie, Fig. 17). Den Hauptteil des Schultergürtels (Fig.18) bilden zwei bogenförmige medioventral ver- bundene Deckknochen, Cleithra (Gegen- baur); oft gewinnen sie durch andere Deckknochen (Supracleithrale, Posttempo- rale) Stützpunkte am Schädel (Pteroticum, Epioticum) ; bisweilen entspringt vom Clei- thrum nach innen und hinten ein säbel- förmiges ,,Postcoracoid" (Postclavicula, Fig. 56, pcl). Im primären knorpeligen Schulter- bogen entstellen zwei der Innen- und Hinter- fläche des Cleithrum fest ansitzende, als Scapula und Coracoid gedeutete Ver- knöcherungen, zu denen bei den Physo- stomen ein drittes bogenförmiges Stück kommt, das „Mesocoracoid". Reduktionen Fig. 17. Schwauzflossenskelett von Fierasfer. Nach Emery. n Neural-, h Hämalbögen, r Flossenträger, 1 Lepidotrichien, u Urostyl, hu Hypuralia. sei Fi* 16. Schwanzflossenskelett von Clupea pilchardus. Nach Whitehouse. Fig. 18. Schultergürtel von Merluccius, mediale Seite; sc Scapula, co Coracoid, cl Cleithrum, sei Supracleithra, p Radialia, 1 Knochenstrahlen. bezw. Verschmelzungen sind häufig. Bei den Siluroiden verbinden sich die Cleithra medioventral durch eine zackige Naht, ebenso die ihnen dicht anliegenden Coracoide. Distal schließen sich meist 5 Radialia an, 1068 Fische (Pisces) (bei Muraenolepis 10, bei Gymnotus und Anguilla 8, bei Lophius nur 2 sehr ver- längerte). Die freie Flosse wird haupt- sächlich von Knochenstrahlen gestützt; ihre gelenkige Beweglichkeit beruht auf der Ausbildung der distalen Radialstücke (s. u.). Die Beckenknochen sind ungegliederte Knochenstücke, entweder frei der Musku- latur eingelagert oder am Schultergürtel befestigt (Fig. 56 p). Das Skelett der unpaaren Flossen be- stellt aus 2-, seltener (bei Muraeniden, Osteoglossiden, Esoeiden u. a.) 3-gliede- rigen, bisweilen auch ungegliederten Flossen- trägern oder Radialia. Meist sind die ver- knöcherten proximalen Stücke mit den Dornfortsätzen verbunden; die distalen bilden kugelige Gelenkknorpel, denen die knöchernen Flossenstrahlen, Lepidotrichia, mit basal auseinanderweichenden Hälften aufsitzen (Fig. 22 c). Hornfäden erhalten sich nur am Rande der Flossen (einwärts von den Flossenstrahlhälften) und in der Fett- flosse der Salmoniden. Die Radialia treten nie in die Flosse selbst ein, sondern liegen tief im vertikalen Septum der Stamm- muskulatur. — ■ Die Knochenstrahlen sind hohle, je ein Paar median verbundene Rinnen darstellende Stäbe, aus einem Stück oder quer gegliedert, erstere entweder dünn und biegsam oder kräftiger und mehr oder minder starr (Fig. 1, d D); letztere entweder einfach oder distal mehrfach längsgespalten (Fig. 1, d D1, C, A); ,, wahre Stacheln" sind nach Kner (Sitzungsber. Akad. Wien 1860) „ungegliederte und ungeteilte Strahlen, deren Achse hohl ist"; die stachelartigen Strahlen der Physostomen lassen gewöhnlich ihre Entstehung aus Gliederstrahlen noch deutlich erkennen. Ueber die wichtigsten Modifikationen des Skeletts der Teleosteer vgl. den syste- matischen Teil (S. 1097). Bei den Chonclrostei (Fig. 19) treten an dem in ein ansehnliches Rostrum ver- längerten knorpeligen Schädel, sowie im Visceralskelett, nur wenige und schwache Verknöcherungen auf; die zahlreichen ober- flächlichen Schädeldeckknochen sind nicht durchweg mit denen der Teleosteer zu identifizieren. Der vordere Mundrand wird hauptsächlich von den vorn verwachsenen Palatoquadratknorpeln (an denen ein knö- chernes Quadratum, Pterygoid und Pala- tinum auftreten) gebildet ; schwache Maxiilaria sind vorhanden, Iutermaxillaria fehlen. Ein starkes Hyomandibulare, von dem sich distal ein unverknöchertes Symplecticum absondert, trägt den Kiefergaumenapparat, auf der Hinterseite ein Operculare. Das Achsenskelett besteht aus der zellen losen Chordascheide aufsitzenden oberen und unteren Bogen- und Intercalarstücken; Neu- ralbögen, -dornen und Rippen sind teilweise verknöchert; das Hinterende ist stark hetero- cerk (Fig. 20). Am knorpeligen Schulter- Fig. 19. Primordialcranium, anschließende Wirbel und Kieferapparat von Acipenser ruthenus. Nach J. Müller 1834. r Rostrum, olf Kapsel des Geruchsorgans, mt Maxillare, d Dentale, pt Pterygoid, sy Symplecticum, hy m Hyoman- dibulare, p sph Parasphenoid, co Rippen, ch Chorda, n Neurapophysen (die vordersten mit dem Cranium verwachsen, ein einheitliches Knorpel- rohr um die Chorda bildend), i Intercalaria, sp Dornfortsätze. Fig. 20. Schwanzskelett von Polyodon. Nach Whitehouse, Proc. Zool. Soc. 1910. ch Chorda, n Neural-, h Haemalbügen, 1 Lepidotrichien; diese und die Fulcra (f) proximal zurück- geschnitten. Fig. 21. Schultergürtel von Acipenser. Nach Gegen bau r 1895. cv Clavicula, cl Cleithrum, r knorpelige Radien, r' knöcherner Randstrahl. bogen treten zwei gesonderte Deckknochen (Fig. 21) auf, Claviculae und Cleithra; erstere Fische (Pisces) 1069 bewirken die mediane, Supracleithra die Verbindung mit dem Schädel. In den paarigen Flossen ist die Zahl der Radien gering, dn schwaches Metapterygium ist ausge- bildet; die freie Flosse ist von Lepido- trichien gestützt, der vordere Randstrahl mcächtig verstärkt. Bezüglich der Radien in den unpaaren Flossen vgl. Figur 22 a. Fig. 22. Radien der Rückenflosse a) von Polyodon folium, b) von Amia calva, c) von Pleuroneetes platessa. Nach Bridge 1896. d, m, pr distales, mittleres und proximales Trägerstück, 1 Knochen- strahlen (Lepidotrichien). Amia und Lepidosteus weisen am Schädel Ersatz- und Deckknochen in an- nähernd gleichen Zahl- und Lageverhält- nissen wie die Teleosteer auf. In der Kehl- region von Amia findet sich außer platten Kiemenhautstrahlen eine unpaare Kehlplatte. Bei Lepidosteus ist die Schnauze sehr verlängert, das Maxillare mehrfach geteilt; wie bei Amia läßt das Palatinum deutlich die Zusammensetzung aus einem dermalen und einem primären Anteil (Autopalatinum) erkennen (Fig. 26). Die Wirbel lassen bei Amia streckenweise ihre Doppelwertigkeit äußerlich deutlich erkennen (bogentragende Praecentra und Postcentra); bei Lepid- osteus kommt es, einzig unter den Fischen, zur Ausbildung opisthocoeler Wirbel ohne Chordarest; Intercalarknorpel finden sich aber auch hier noch. Im Schulterbogen sind die primären Verknöcherungen schwach oder fehlen (Amia); in den Brustflossen treten noch einige Radien zu einem Metapterygoid in Beziehung. Die Flossenträger (Fig. 22b) bewahren die Dreiteilung, verhalten sich topographisch aber wie bei Teleosteern. Bei den Polypteriden persistiert das Knorpelcranium in größerem Umfange; außer enchondralen Verknöcherungen treten eine große Zahl (zum Teil sehr atypischer) Deck- knochen daran auf (Fig. 23). Der Kiefer- apparat ist vollständig, das Gelenk hyostyl, doch ist die Beziehung des Hyomandibuläre zum Qnadratum wenig innig und zur Be- festigung des Gaumenapparates am Schädel tragen die Palatina und Pterygoide wesent- lich bei; ein Symplecticum fehlt. Ein Lippen- knorpel liegt am oberen Rande des Unter- kiefers. Die Kehlregion bedeckt 1 Paar Kehlplatten; 4 knöcherne Kiemenbögen sind vorhanden, 3 Kiemendeckelstücke (kein Interoperculum). Die knöchernen am- phicoelen Wirbel tragen außer den Pleural- bögen auch echte (knorpelig präformierte) obere Rippen. Am Schulterbogen sind Co- racoid und Scapula unbedeutend, von Deck- knochen außer Cleithra und Supracleithra Claviculae ausgebildet (Fig. 23 cv). In der i mx mx frp op sc/ Fig. 23. Schädel und Schultergürtel von Poly- pterus. Nach J. Müller 1844. mx Maxillare, imx Intermaxillare, fr p Frontoparietale, d Dentale, gu Kehlplatte, op Operculare, Prä- und Sub- operculare, cv Clavicula, cl Cleithrum, sei Post- clavicula, co Coracoid, sc Scapula, pr, ms, mt Pro-, Meso-, Metapterygoid, r Radien : die Knochen- strahlen der Brustflosse abgeschnitten. Basis der Brustflosse treten drei Verknöche- rungen auf, deren proximale Enden mit einem knorpeligen Zapfen des Schultergürtels ge- lenkig verbunden sind, und die wohl einem Pro-, Meso- und Metapterygoid entsprechen. Die Radialia sind sehr zahlreich, distal wird die Flosse von noch zahlreicheren Knochen- strahlen gestützt. Die Lepidotrichien der Rückenflösschen sind an ungegliederten Stacheln befestigt (Fig. 54V Bei den Dipnoern (Fig. 24) erhält sich das Knorpelcranium in beträchtlichem Um- fange; Ersatzknochen sind spärlich (Ex- occipitalia). Es herrscht Autostylie: das Hvo mandibulare ist rudimentär. Der Mangel der Ober- und Zwischenkiefer und des Dentale, das Auftreten von Lippenknorpeln (?) gemahnt an die niedern Fische; große Pterygopalatina bezw. Splenialia (auf der Innenfläche der Unterkieferknorpel) tragen die Zahnplatten (s. u.). Die Visceralbögen, liiTd Fische (Pisces) mit Ausnahme des Hyoid, sind schwach, unverknöchert, nicht gegliedert und strahlen- los; bemerkenswert ist wiederum ein Bogen vor der 1. Kiemenspalte (I1), der ventral mit dem gewöhnlich vordersten Kiemenbogen (I) verwachsen ist, ähn- lich wie der IV. mit dem V.; man hat ihn als ein Verschmelzungsprodukt der die Vorderwand der 1. Kiemenspalte besetzenden Siebfortsätze gedeutet (K. Für bringer 1904), doch kann die Ansicht, daß es sich um das Rudiment eines echten Kiemen- bogens handle, nicht für widerlegt gelten. cm sq Fig. 24. Kopfskelett und Vorderextremität von Protopterus. Nach Wiedersheim 1880. nas Nasale, so Supraorbitale, fp Frontoparietale, eo Exoccipitale, p pt Palatopterygoid, sq Squa- mosum, af Antorbitalfortsatz, cm Meckelscher Knorpel, hy Hyoid, I erster Kiemenbogen, br äußere Kiemen, r Hauptstrahl der Brustflosse (** Reste von Nebenstrahlen), kr Kopfrippe, cl Clavicula; die Opercularia sind entfernt. Copulae fehlen. Es sind zwei Kiemendeckel- knochen vorhanden, von denen der obere als Operculare, der untere, mit dem Unter- kiefer ligamentös verbundene, als Inter- operculum gedeutet wird; beide sind distal von Knorpelstückchen unterlagert, die mög- licherweise Hyoidradien repräsentieren. Die Wirbelsäule ist acentrisch, doch findet Invasion mesodermaler Zellen in die Chorda- scheiden statt; das Hinterende ist gerade, fadenförmig, knorpelig, im ganzen ähnlich wie bei Holocephalen, doch scheint auch hier nicht die Diphycerkie, sondern Heterocerkie der ursprüngliche Zustand (Parker, Dean); zwischen den Bögen finden sich kleine Intercalaria. Nur untere Rippen (Pleural- bögen) sind vorhanden. Am Schultergürtel ist das Vorhandensein von Claviculae zu vermerken. Eigenartig verhalten sich die paarigen Flossen, die einen gegliederten Hauptstrahl, bei Ceratodus mit biserialen Nebenstrahlen, enthalten. In die unpaaren Flossen ragen endoskeletale Radien weit hinein, distal treten eigentümliche, zwischen Cerato - und Lepidotrichien vermittelnde Camptotrichien (Goodrich) hinzu. Als gemeinsame osteologische Charaktere, welche die Ganoiden mit Einschluß der Dipnoer von den Teleosteern scheiden und zugleich Beziehungen zu den Amphibien andeuten, verdienen noch vermerkt zu werden der Mangel des Supraoecipitale, die Paarigkeit des (bei Dipnoern rudimen- tären) Vomer, das Vorhandensein von Splenialia am Unterkiefer; neben bestehender Hyostylie des Kiefergaumenapparates ist meist (außer bei den Stören, wo der letztere offenbar verkümmert ist) eine Pterygoid- verbindung mit dem Schädel von Bedeutung (Fig. 26 mp), die bei Dipnoern auch auf den Quadratteil jenes sich ausdehnt. Das Skelett der Cyclostomen trägt den Stempel einer rudimentären Bildung, wenn- gleich ihm Teile zukommen, die bei den übrigen Fischen fehlen oder wenig ent- wickelt sind. Die Chorda bleibt unein- geschränkt, mit zellenlosen Scheiden; sie trägt unvollkommene obere und untere Bögen, je zwei auf ein Segment (Petromy- zon, Fig. 25n); bei Myxine fehlen die Bögen. Die Schädelkapsel ist knorpelig, bei Pe- tromyzon oben, bei Myxine auch seitlich häutig; sie schließt hinten mit derLabyrinth- der IX. und X. Gehirnnerv regio n ab, /s ls' olf and Fig. 25. Kopf- und Kiemenskelett von Petro- myzon. Nach W. K. Parker 1883. olf Nasen- kapsel, and Labyrinthkapsel, so Suborbitalbogen, hy Hyoidbogen, ls ls' obere Lippenknorpel (ls' = Meckelscher Knorpel?), li untere Lippen- knorpel, cc Ringknorpel (mit Hornzähnen), 1dm Anhang desselben, gl Zungenknorpel, abr Kiemen- korb, obr äußere Kiemenüffnungen, ch Chorda, n Neural bögen. treten hinter ihr aus. Geruchsorgan und Labyrinth haben knorpelige Kapseln ; Analoga des Hyoids, des Palatoquadratum (so), des Meckelschen Knorpels usw. sind zu identi- fizieren versucht worden (Huxley u. a.); mehrere „Labialknorpel" stützen die Mund- ränder, ein starker gegliederter Knorpel- balken (Basihyale?) die Zunge. Die Kiemen haben bei Petromyzon ein Gerüst aus ungegliederten längsverbundenen Knorpel- spangen, die lateralwärts von den Gefäßen liegen und über deren Homologie mit den Kiemenbogen oder den Außenknorpeln der Fische (Pisces) 1071 Selachier noch Zweifel bestehen; ein schalen- förmiger Knorpel am Ende des „Kiemen- korbs" umgibt das Pericard; bei Myxinoiden bestehen vom Kiemenskelett nur geringe Reste. Die Flossen werden durch Knorpel- strahlen (= Neuraldornen ?) gestützt, deren Basen bei Myxine am Schwanzende zu einer vertikalen Platte verschmelzen. Als von besonders hohem taxonomischen Wert erweist sich das Verhalten des Kiefer- apparats zum Schädel und dein nächst- folgenden „Visceralbogen"; nach der oben ge- gebenen Darstellung würden in dieser Hinsicht die Teleosteer, Holosteer, Chondrosteer und Polypteriden mit den meisten Plagiostomen fast völlige Uebereinstimmung zeigen, indem bei allen das proximalste Glied des Ilvoid- bogens zum „Kiefer stiel" wird; nur die Holo- cephalen und Dipnoer, bei denen der Kieferstiel verkümmert wäre, würden abseits stehen. Dem- gegenüber ist aber nicht zu verkennen, daß das sogenannte Hyomandibulare vieler haiartiger Plagiostomen weder in seiner ligamentösen Be- festigung am ventralen Segment des „Mandi- bularbogens", noch in seiner Gelenkung am Schädel (hinter der Ohrkapsel) mit dem Hyo- mandibulare der Teleostomen genau überein- letzteren stimmt; dem Pteroticumgelenk der entspricht eher die Verbindungsstelle des Pa- latoquadratum mit dem Postorbitalfortsatz des Craniums bei den amphistylen Notidaniden; in dem funktionierenden „Kieferstiel" der hyo- stylen Haie sieht daher Pollard (Anatom. Anz.. Vol. 10, 1894) das Stylhyale, das Hyomandibu- lare sucht er in dem dorsalen postorbitalen Fort- satz des Palatoquadratum (von dem sich auch bei nicht amphistylen Formen noch Reste er- halten, s. Fig. 6). Ein solches Aufgehen des Hyomandibulare in das Palatoquadratum (also sekundäre Autostylie) könnte etwa beiDipnoern und Holocephalen in Frage kommen, wo zugleich der ganze Palatoquadratkomplex mit dem Schädel verschmilzt und das Spritzloch verdrängt wird; allerdings meint Schauinsland (Zoologica 1903) bei den letzteren das Hyo- mandibulare in dem kräftigen Epihyale zu er- kennen und bei den ersteren verschmilzt es nach Krawetz (Bull. Soc. Imp. Nat. Moseou 1910) mit der Gehörkapsel. Die Homologisierung des | Postorbitalfortsatzes der Notidaniden mit dem Hyomandibulare der Teleostomen verbietet sich j schon darum, weil das Spritzloch hinter jenem, ' aber vo r diesem (bei Chondrosteern und Polypteri- ! den) gelegen ist; jener entspricht topographisch am ehesten der bei den Teleostomen vom Meta- pterygoid eingenommenen Region ; insofern ist es sehr bemerkenswert, daß das Metapterygoid, das bei den Teleosteern dem Hyomandibulare vorn meist dicht angelagert ist, bei Amia und Lepidosteus (Fig. 26) ein selbständiges Gelenk am Prooticum besitzt, so daß also auch hier ' noch ein „amphistyler" Zustand besteht (selbst bei Teleosteern finden sich gelegentliche An- klänge an dieses Verhalten). Wahrscheinlich ist also, daß das Hyomandibulare bei den meisten Haien entweder zugunsten einer diesem Meta- pterygoidgelenk analogen Verbindung mehr oder minder unterdrückt oder mit den (2) proxi- malen Gliedern des Hyoid verschmolzen ist: bei vielen Rochen sind jenes wie diese noch völlig selbständig (Raja), bei Torpedo ist die Doppel- natur des „Hyomandibulare" deutlich erkenn- bar, ebenso bei manchen Haien, nur bei den Notidaniden scheint diese kaum nachweislich; funktionell ist der Kieferstiel hier jedenfalls durcli den Postorbitalfortsatz des Quadratums ersetzt. Wenn also auch Fusionen des Hyomandibulare mit dem Hyoidbogen vorkommen, so ist jenes doch wohl nicht als eine Abgliederung ' von diesem zu betrachten; in diesem Sinne sprechen auch embryologische Beobachtungen (Dohrn); das Hyomandibulare gehört mit dem Symplec- ticum, Quadratum und Articulare eng zusammen (mit denen es auch bei den Land wirbeltieren zum Mittelohr, dem Analogon des Spritzlochkanals, die Beziehungen bewahrt). Sicher scheint, daß die Selachier die Tendenz bekunden, das Hyo- mandibulare als Kieferträger auszuschalten, im Gegensatz zu den Teleostomen, und daß dies neben vielen anderen ein Punkt ist, in dem sie sich mehr als diese den Amphibien annähern. Fig. 26. Gaumenknochen und Kiefersuspen- sorium von Lepidosteus osseus, von der Außenseite. Nach van Wijhe. ap Auto-, dp Dermopalatinum, q Quadratum, ep Endo-, mp Metapterygoid, hm Hyomandibulare, sy Sym- plecticum, io Inter-, pro Praeoperculum. 2d) Muskulatur und elektrische Organe. Der umfänglichste und für die Lokomotion wichtigste Muskelkomplex ist der sogenannte Seitenrumpfmuskel, der durch ein im Niveau der Seitenlinie verlaufendes horizontales Septum (das den Cyclostomen fehlt) - in eine dorsale und eine ventrale Portion geschieden wird; beide zerfallen, der Zahl der Wirbel ent- sprechend, in Myomere von der Form nach hinten sich zuspitzender ineinander- geschobener Hohlkegel (vgl. Fig. 5): die bindegewebigen Scheidewände (Myocom- mata) derselben, zwischen denen sich die meist parallel längsverlaufenden Muskel- fasern ausspannen, erscheinen nach Ent- fernung der Haut oberflächlich als winklig geknickte Linien (vgl. Fig. 50). Der Seiten- muskel heftet sich vorn an Knorpel- bezw. Knochenfortsätze des Schädels (Supra- occipitale, Squamosum, Epioticum). Von der Hauptmasse des Seitenmuskels ist bei Haien und Knorpelganoiden durch ein sublaterales Interstitium ein Bauchmuskel gesondert, dessen Fasern seitlich einen schrä- gen Verlauf (von hinten oben nach vorn unten), ventral einen geraden longitudinalen Verlauf zeigen; er befestigt sich vorn (als gerader Halsmuskel) am Hyoid; in die Schwanz- ist er nicht weit zu verfoleen. Bei region 1072 Fische (Pisces) den Teleosteern ist dieser Muskel teilweise von der ventralen Portion des (dorsalen) Seitenmuskels überlagert, deren Fasern eben- falls schrägen Verlauf (aber von vorn oben nach hinten unten) annehmen ; gerade Bauch- muskeln erscheinen als selbständige Stränge; unter der Seitenlinie verläuft hier gewöhnlich nach außen vom Seitenmuskel ein beson- derer schmaler Seitenlinienmuskel. Proto- pterus verhält sich hinsichtlich der Bauch- muskeln wie die Teleosteer (vgl. Knauer, Arb. d. Zool. Inst. Wien Vol. 18, 1910). In den Flossen der Teleosteer treten zu jedem Knochenstrahl gewöhnlich jederseits 2, meist vondenFlossenträgernentspringendeMuskeln, ein Aufrichter und ein Niederleger, in Be- ziehung; außerdem oberflächliche Muskeln. Die Muskeln der freien paarigen Flossen entstammen ventralen sogenannten Muskel- sprossen der Rumpfmyotome. — Die Musku- latur der Kiefer und Kiemenbögen leitet sich embryogenetisch großenteils von den Seitenplatten her und untersteht, im Gegen- satz zur spinalen des Rumpfes, den Nervi Trigeminus, Facialis, Glossopharyngeus und Vagus. Bei den Cyclostomen überlagert die Rumpfmuskulatur die Kiemenregion und erstreckt sich bis nahe ans Vorderende; bei Myxine alternieren die Myomere beider Seiten (wie bei Amphioxus). Ueber die Muskeln der Augen, der Schwimmblase und des Darms siehe bei diesen. Durch eine kräftige Hautmuskulatur, deren Ausbildung wohl mit der Fähigkeit dieser Tiere, sich durch Luftaufnahme auf- zublähen, zusammenhängt, sind die Tetr- odonten merkwürdig (Wiedersheim, Fest- schrift für Kölliker 1887). Elektrische Organe. ElektrischeOrgane finden sich beiverschieclenenFischen alsKom- plexe von innervierten Kästchen oder Platten mit gallertigem Inhalt; meist sind sie. ihrer Entwickelungsweise nach, mit Sicherheit als modifizierte Partien der Muskulatur zu erkennen (Babuchin). Bei Torpedo (Zitterroche) bilden die Kästchen (zu je etwa 400) vertikale Säulen zwischen dem Kopf und der Brustflosse (jederseits etwa 600), die vom Trigeminus und Vagus inner- viert werden. In den die ventrale Seite des Schwanzes (etwa 4/s der Gesamtlänge) einnehmenden Organen von Gymnotus (Electrophorus, Zitteraal) folgen sich die Platten in der Längsrichtung, die (spinalen) Nerven treten je an die hintere Fläche heran, um hier mit feinen Netzen zu endigen (Ballowitz). Schwach elektrische Organe ähnlicher Art finden sich im Schwanz von Raja clavata (Keulenroche), von Mormyrus und Gymnarchus. Stets wird diejenige Fläche der Kästchen bezw. Säulen, an die der Nerv herantritt, negativ, die entgegengesetzte positiv elektrisch; daher Organs einzigen löst gleichzeitige Berührung der Ober- und Unterseite bei T o r p e d o , des Vorder- und Hin- terendes bei Gymnotus, die Entladung aus. Beim Zitterwels (Malapterurus electricus) umhüllt das Organ, einer Speckschicht gleich dicht unter der Haut liegend, mantelförmig den Körper; es leitet sich hier möglicherweise vom Integument her (nach Fritsch von den Kolbenzellen). Obwohl auch hier die Nerven an der Hinter- seite der Platten enden, geht der Schlag von vorn nach hinten: nach Garten (Verh.d.Ges. deutscher Naturforscher u.Aerzte 1911) würde dies der Richtung der in Hautdrüsen auf- tretenden Sekretionsströme — von der freien Oberfläche gegen die Nervenendigung hin - entsprechen. Der Nerv des ganz entspringt jederseits von einer kolossalen Ganglienzelle im Rückenmark Ein eigenartiges elektrisches Organ liegt bei Astroscopus in der erweiterten Orbita (Dahlgren und Silvester, Anat. Anz. Vol. 29, 1906). Die elektrischen Schläge von Gymnotus und Malapterurus sind stark genug um kleinere Tiere (Frösche, Fische) zu töten; sie sind auch für größere schmerzhaft; der Nutzen der elektrischen Organe für die damit ausgestatteten Tiere dürfte hauptsächlich in der Abhaltung von Feinden bestehen. 2e) Nervensystem, a) Gehirn. Die Abteilungen des Gehirns sind mehr oder minder horizontal hintereinander geordnet; von ihnen sind das Mittel-, Hinter- und Nachhirn meist relativ bedeutender als das Vorderhirn entfaltet. Bei den Haien (Fig. 27) erscheinen die Vorderhirnhälften oft fast zu einer unpaaren Masse verbunden; vorn gehen sie in mächtige paarige Riechlappen über. Vom Zwischen- hirn geht dorsalwärts eine sehr langgestreckte Epiphysis ( Zirbelschlauch ) mit in das Schädeldach eingelassenem Endbläschen aus. ventral das Infundibulum mit der Hypo- physis und dem Saccus vasculosus (soge- nannte ,,Infundibulardrüse"). Das Mittel- hirn wird von dem sehr mächtigen Hinter- oder Kleinhirn zum Teil überdeckt; das Nachhirn (Medulla oblongata) ist meist ansehnlich entfaltet. Die Teleosteer (Fig. 28) zeichnen sich durch die Reduktion des Vorderhirnmantels (Pallium) zu einer die paarigen Basal- ganglien (Corpora striata) bedeckenden epi- thelialen Lamelle aus (Rabl-Rückhard; Studnicka sieht in dieser nur die Dach- platte des primären Vorderhirns, in den Basalganglien die Homoloe;a der Hemi- sphären; nach F. Fuchs [1908] kommen solche aber den Teleosteern überhaupt nicht zu). Die verhältnismäßig kleinen Riech- lappen sitzen dem Vorderhirn unmittelbar oder vermittelst stielartiger Zwischenstücke Fische (Pisces) 1073 auf. Außer der Epiphysis ist, dicht vor ihr, ein, hinten überlagert es mehr oder weniger das ein Parietalorgan, wenngleich in rudimen- i Nachhirn (Rautengrube). Das Kleinhirn ist im allgemeinen bei beweglichen Formen höher tärem Zustande, erhalten. Bei Tiefseefischen (Argyropelecus, Cyclo- thone) enden diese Fortsätze mit bläschen- förmigen Anschwellungen ; eigentliche parie- Fig. 27. Gehirn von Galeuscanis. lo Lobus olfactorius, v Vorderhirn, z Zwischen-, m Mittel-, h Hinter-, n Nachhirn; no Nervus opticus, n tr N. trigeminus, ng N. glossopharyngeus, nv N. vaffus. Nach Rohon. tale Sinnesorgane (vgl. Handrick, Gierse, Morph. kommen aber nicht vor Zoologica 13. Bd. 1901, Jahrb. 32. Bd. 1904). als bei trägen ausgebildet; es scheint Ein- drücke aus verschiedenen Sinnesgebieten zu assoziieren und als Regulationszentrum loko- motorischer Innervationen einen ähnlichen physiologischen Rang wie das Großhirn der Landwirbeltiere einzunehmen (Franz); excessive Entfaltung erlangt es bei den Mormyriden. Das Gehirn der Ganoiden neigt sich in der Reduktion des nervösen Palliums, der Lagerung des Hinterhirns u. a. denTeleosteern zu. In mancher Hinsicht eigenartig verhalten sich die Crossopterygier; so kommuniziert hier noch postembryonal die Hypophysis mit der Mundhöhle; die Infundibulardrüse be- steht aus engen Tubuli; die Zirbel stellt einen weiten epithelialen Sack dar; die Bil- dung des Vorder- und des Hinterhirns (Valvula cerebelli) ist teleosteermäßig. Die . Dipnoer (Fig. 29) nehmen im Gehirnbau eine vermittelnde Stellung zwischen Selachiern und Am- phibien ein (B ur civ- il ar dt); die über- wiegenden, fast völlig gesonderten Vorder- hirnhemisphären haben ein nervöses, nur bei Ceratodus teilweise ependyma- töses Pallium; das Mittelhirn ist bei Ceratodus paarig, sonst unpaar; das Kleinhirn unbedeu- tend; ein Saccus vas- culosus scheint zu Ein Scheitelloch erhält sich bei Callichthys. Der Saccus vasculosus ist bei Meeres-, be- sonders bei Tiefsee- fischen und pelagischen fehlen (wie bei Uro Larven (Aallarven u.a.) delen). sehr groß, klein bei Süßwasserfischen; er enthält eigenartige Sinneszellen und wird daher neuerdings als Sinnesorgan (für Tiefen- wahrnehmung ?) ge- deutet (Boeke, Dam- mermann). Das stets paarige Mittelhirn stellt bestehende Beschrän- den ansehnlichsten kung des Vorderhirns Hirnteil dar. Das eben- auf die zum Riech- falls voluminöse Hinter- organ in Beziehung oder Kleinhirn schiebt stehendenTeile, Lobus sich nach vorn hin in olfactorius und Corpus striatum, ins Extrem die Höhle des vorigen geführt zeigen (Edinger). Nicht nur das (als Valvula cerebelli) Vorderhirndach, sondern auch dasjenige des Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 68 von Be- Fig. 28. Gehirn Salmo fario, Bezeichnungen wie in Fig. 27; median hinter dem Vorderhirn die Epiphysis. Nach Agassiz und Vogt. Die Cyclostomen weisen auch im Ge- hirnbau einfache, aber zweifellos zum Teil auf Rückbildung be- ruhende Verhältnisse auf, die im wesent- lichen die bei den Teleosteern bereits 29. Gehirn von Protopterus. zb Epi- physis, se Saccus endo- lymphaticus (sonst glei- che Bezeichnungen wie inFig.27).NachBurck- hardt 1892. 1074 Fische (Pisces) Mittelhirns verharren auf epithelialem Aus- bildung sgr ad; auch das Kleinhirn ist sehr re- duziert, besonders bei Myxine; bei letzterer sind die Ventrikel äußerst eingeschränkt, die Plexus chorioidei des Hirndaches sehr schwach entwickelt und auch der Saccus vasculosus fehlt. Besonderes Interesse beansprucht bei Petromyzon das Bestehenbleiben bläschen- förmiger, durch besondere Nerven mit dem Zwischenhirn verbundener Reste des Parietal- organs und der Epiphysis, von denen ins- besondere letztere hier noch deutliche Zeichen ihrer früheren Bedeutung als Sehorgan (Parietalauge) trägt (Sinneszellen in der pigmentierten inneren, linsenartige Aus- bildung der äußeren Wand). ß) Rückenmark. Das Rückenmark er- streckt sich bei den Fischen meist durch die ganze Länge des Rückgratkanals; bisweilen löst es sich indessen nach kurzer Erstreckung in eine Cauda equina auf (Lophius, Plecto- gnathen). Die Anordnung der zelligen und faserigen Substanz ist nicht so allgemein fixiert wie bei den höheren Wirbeltieren. Gehirn und Rückenmark füllen den Schädel- hohlraum bzw. den Rückgratkanal bei weitem nicht aus; sie sind von lockerem, an Lymph- räumen und Fett reichem Bindegewebe um- schlossen; (die Dura mater des Gehirns ist vom inneren Periost nicht gesondert; das innere lockere Gewebe — Pia mater — bildet stellen- weise gefäßreiche, vielgefaltete, z. T. in die Ventrikel eingestülpte Decken, Telae chorioi- deae). Ueber dem Rückenmark verläuft ein weiter ununterbrochener Lymphkanal. y) ■Gehirnnerven. Die Nervi olfactorii sind in Anbetracht der geringen Entfernung der Riechlappen bzw. Bulbi vom Geruchs- organ meist sehr kurz. Bei vielen Se- lachiern, bei den Dipnoern und bei Amia tritt jeclerseits zum Geruchsorgan noch ein Nerv in Beziehung, der median im Sep- tum der Vorderhirnhälften entspringt: Nervus terminalis. Die Optici bilden bei den Ganoiden ein -echtes Chiasma , bei Teleosteern meist eine einfache Kreuzung (bei Clupeiden unter Durchbohrung des einen Nerven durch den anderen) stets ohne Faseraustausch ; ihre zentrale Endigung finden sie im Dach des Mittelhirns (Lobi optici). Der Oeulomotorius, Abducens und wohl auch der Trochlearis entsprechen ven- tralen (motorischen) Spinalnervenwurzeln. Eine Besonderheit, (welche die Fische nur mit den aquatilen Amphibien teilen), stellen die mächtigen , die Nervenhügel bezw. Seitenorgane (s. u.) versorgenden Aeste dar: die Rami ophthalmicus superficialis, buccalis und mandibularis des Facialis und der gleich- falls diesem (nicht dem Vagus) zuzuordnende Nervus lateralis; alle diese entspringen dem gleichen zentralen Gebiet wie der Acusticus. Auch die die Kiemenmuskulatur versorgenden Vagusäste sind besonders stark ausgebildet. Mit dem verlängerten Mark verbinden sich eine wechselnde Zahl von Spinalnerven, deren vorderster den Hypoglossus reprä- sentiert. 6) Spinalnerven. Die Spinalnerven ent- springen beidenTeleosteern in jedem Segment mit paarigen oberen und unteren Wurzeln: bei den Elasmobranchiern, Cyclostomen und Dipnoern wechseln das obere und das untere Wurzelpaar in aufeinanderfolgenden Seg- menten ab. Bei den Petromyzonten (nicht aber den Myxinoiden), bleiben dorsale und ventrale Wurzeln völlig getrennt (wie bei Amphioxus). — Ein Grenzstrang des Sym- pathicus ist bei den Teleosteern wohl aus- gebildet, bei den Selachiern, mehr noch bei den Cyclostomen, unvollkommen. 2f) Sinnesorgane, a) Geruchsorgane. Das Geruchsorgan besteht in der Regel aus wenig tiefen paarigen Gruben, deren Grund mit dem oft reich und in wechselnder Anord- nung gefalteten Riechepithel bekleidet ist, — ohne Verbindung mit der Mund- und Rachen- höhle. Bei den Selachiern liegen sie fast stets auf der Unterseite des Rostrums, ihre Oeffnungen werden von Hautlappen derart überdeckt, daß je eine vordere Ein- und eine hintere Ausströmungsöffnung freigelassen werden; von letzterer führt oft eine Furche (Nasolabialrinne) zum Munde. Bei Chi- maera umschließt eine gemeinsame Falte den Mund und die Geruchsgrube; bei den Dipnoern liegen beide Nasenöffnungen inner- halb der Mundränder; (embryonal tritt bei ihnen ein dem der Selachier entsprechender Zustand auf). Bei den Teleosteern und Ganoiden wird die Nasenhöhle nie vom Inspirationsstrom berührt; sie liegt auf der Oberseite der Schnauze und ist fast stets (Ausnahmen: Chromidae, Labridae, Gasterosteus) mit einer vorderen (oft am Ende einer röhren- förmigen Erhebung liegenden) und einer hinteren Oeff nung versehen. Bei Polypterus ist das Riechorgan in 6 radiäre Fächer ge- teilt, zu denen noch eine Vorhöhle kommt. Auch bei Teleosteern, besonders Acantho- pterygiern, stehen mit der Riechgrube oft umfangreiche, meist mit indifferentem Epithel ausgekleidete, bei gewissen Pleuro- nectiden u. a. aber schleimabsondernde Blindsäcke in Verbindung, die häufig, der Einwirkung benachbarter Skelettstücke unterliegend, wohl den Wasserwechsel im Riechorgan begünstigen; bei den Aalen u. a. erfolgt dieser durch Cilienschlag, bei Cypriniden u. a. durch Ableitung von Wasser in das vorderste Nasenloch durch eine hinter diesem stehende Hautfalte bei der Fort- bewegung (Burne, Proc. Zool. Soc. London 1909). Bei den Tetrodonten endet der Riech- Fische (Pisces) 1075 nerv bald an einer flachen Hauteinsenkung (Tetrodon papua), bald an einem durch- bohrten oder gespaltenen Tentakel. Das Riechepithel tritt hier in knospenförmigen Bezirken auf (Wiedersheim, Festschrift für Kölliker 1887); ähnlich fand es Blaue (Arch. Anat. Physiol. 1884) bei Belone, Trigla, Exocoetus u. a. m.; stets enthalten diese Gebilde aber primäre (direkt in Nerven- fasern übergehende) Sinneszellen. Kom- munikation der Nasen- mit der Mundhöhle wird in einigen Fällen angegeben, so für Cynoglossus semilaevis (Kyle, Journ. Linn. Soc. London XXVII), Astroscopus guttatus (Dahlgren, Science Vol. 27) und gewisse Muraenoiden (Chilorhinus, Ichthyopus, nach Lütken 1852). Die Cyclostomen zeichnen sich durch ein Geruchsorgan mit unpaarer dorsaler Oeffnung und distalem Abschnitt (Nasen- gang) aus, die Riechsäckchen der olfacto- rischen Region sind indessen symmetrisch zu einem medianen Septum geordnet, wie denn auch Nervi und Lobi olfactorii paarig bleiben; das Riechepithel bildet durch in- differentes Epithel voneinander geschiedene Bezirke (Lubosch). Bei Myxinoiden ist der Nasengang innen nicht blind geschlossen, sondern gewinnt eine Oeffnung in die Mund- höhle. Embryonal entsteht das Geruchs- organ aus der Verschmelzung paariger An- lagen („Plakoden" Kupffers) mit einer unpaaren, die wohl der ,, Flimmergrube" des Amphioxus entspricht; der von der Nasenhöhle nach hinten bis zur Infundibular- region des Gehirns auswachsende Nasen- kanal entspricht der Hypophysis, deren Anlage schon frühzeitig sich mit der des Geruchsorgans vereinigt. ß) Geschmacksorgane. Geschmacks- organe treten in Form knospenförmiger Gruppen von (sekundären) Sinneszellen (Sinnesknospen, becherförmige Organe) auf, insbesondere an den Mundrändern, auf den Bartfäden, wo solche vorhanden, aber auch sonst zerstreut in der äußeren Haut, ferner in der Mund- und Rachenhöhle, selbst im Oesophagus (Störe, Syngnathiden). Die Scheidung von Geruchs- und Geschmacks- reaktionen macht bei Wassertieren begreiflicher- weise Schwierigkeiten; es scheinen aber die Ge- schmacksknospen nur auf mehr oder minder nahe Berührung mit löslichen Stoffen zu reagieren, während die Nase eine Witterung auf weitere Strecken hin erlaubt. So vermögen Fische ver- borgene Nahrung aufzufinden; nicht mehr in- dessen, sobald die Funktion der Nasenschleim- haut ausgeschaltet wird (Parker, Copeland). y) Sehorgane. Der Augenbulbus hat oft eine abgeflachte Vorderwand, doch nicht immer eine flache Cornea. Die Linse ist kugelig, periskopisch, nicht formverän dcr- bch, von hohem Brechungsindex (1,05). Die Pupille ist meist sehr weit, der Iris- ausschnitt läßt sowohl die Randstrahlen der Linse, als auch meist völlig ungebrochenes Licht eintreten. Helligkeitsadaptation wird (bei Teleosteern) vornehmlich durch Wande- rung des Retinapigments bewirkt. Die Sklera ist meist knorpelig, bei Teleosteern oft teilweis verknöchert, bei den Selachiern durch eine knorpelige „Bulbusstütze" mit dem Cranium gelenkig verbunden. Einwärts von ihr ist der Bulbus der Teleosteer von einer (durch Einlagerung von Guanin- kristallen) silberglänzenden Haut, Argentea, umgeben. Bei vielen Teleosteern und bei Amia tritt zwischen der Sklera und der pigmentierten Chorioidea eine sogenannte Chorioidealdrüse auf, ein Wundernetz, das Blut aus der Arteria ophthalmica magna empfängt und in die Chorioidea abgibt, von wo die Venen wieder in die „Drüse" zurückkehren. Ihr Auftreten scheint daher bis zu einem gewissen Grade vom Vorhanden- sein^ einer Pseudobranchie (s. u.) abhängig, und umgekehrt (Joh. Müller); doch gilt diese Beziehung nicht ausnahmslos; mög- licherweise stellt das Gefäßnetz der Cho- rioidealdrüse den Feberrest einer (vor der Spritzlochkieme gelegenen) Kieme dar. In der Retina überwiegen die Stäbchen, Zapfen fehlen in vielen Fällen, durchweg bei Selachiern und Cyclostomen; eine Fovea centralis ist bisweilen ausgeprägt (sehr gut bei Lophobranchiern, wo sie, nach Carriere, nur sehr lange Zapfen enthält). Bei den Teleosteern springt eine binde- gewebige, pigmentierte, Gefäße und Nerven führende Falte (Processus falciformis) der Augenspalte entlang ins Augeninnere vor; sie setzt sich in einen glatte Muskel- fasern enthaltenden Strang fort (Campanula Halleri, Musculus retractor lentis), der sich an den unteren Rand der oben durch das Ligamentum Suspensorium gehaltenen Linse heftet. Das ruhende Auge ist für das Sehen in der Nähe eingestellt, es aecommodiert für die Feme, indem durch Kontraktion des Linsenmuskels die Linse nach innen und hinten gezogen, also der Retina genähert wird (Th. Beer). Bei den Selachiern ist der Linsenmuskel rudimentär, Accommodation nicht nachweisbar. Bisweilen tritt hier eine lichtreflektierende Schicht hinter der Retina, ein Tapetum lucidum, auf (übrigens auch bei gewissen Teleosteern, z. B. Abramis u. a., besonders bei den Tiefseeformen). Bei Protopterus fehlen der Linsen- muskel, die Chorioidea und die Argentea; über Accommodation ist nichts bekannt; auch beim Stör scheint sie zu mangeln. — Die Augen der Cyclostomen sind in der Regel klein, bei den parasitischen Myxinoiden unter der Haut verborgen und im Bau auf 68* 1076 Fische (Pisces) niederer Stufe verharrend (vgl. S. 1092);; ihre Nerven und Muskeln degenerieren. Augendrüsen fehlen stets ; der Bewegung des Bulbus dienen, wie gewöhnlich, 4 gerade und 2 schiefe Muskeln, von denen jene oft in einem besonderen Knochenkanal (Myodom) eingeschlossen; stets scheinen beide Augen unabhängig voneinander beweglich. Augen - einigen lider fehlen im allgemeinen; bei Teleosteern jedoch (Salmoniden, Clupeiden, Caranx, vgl. Fig. 31) legen sich unbewegliche Hautfalten von vorn oder hinten her über die corneale Fläche des Bulbus hinweg. Ein Teil der Selachier besitzt eine durch Muskeln bewegliche Nickhaut (Car- charias, Galeus, Zygaena, Mustelus, Scyllium); die Homologie derselben mit der Nickhaut der tetrapoden Wirbeltiere ist noch zweifelhaft; beachtenswert ist, daß bei den genannten Haien das Spritzloch klein ist oder fehlt und seine Muskulatur verkümmert ist; es scheint also zwischen der Ausbildung dieser und der der Nick*haut ein reziprokes Verhältnis zu bestehen; die Nickhautmuskeln sollen sich von denen des Spritzloches herleiten (Harm an, Journ. Anat. Physiol. Vol. 34, 1900). Bei Periophthalmus, der auf dem Lande Insekten jagt, also wohl in der Luft scharf sieht, sind die kugelig vortretenden Augen mit unteren Augenlidern versehen; die Augen sind emmetropisch und accommodieren für die Nähe (Heß, Vergleichende Physiologie des Gesichts- sinnes 1912). Das Auge von Anableps tetroph- thalmus ragt beim Schwimmen zur Hälfte aus dem Wasser und ist demgemäß in eine zum Sehen im Wasser und eine zum Sehen in Luft geeignete, durch Cornea- und Linsenkrümmung von jener verschiedene Abteilung zerlegt (Schneider- v. Orelli 1907). Verkümmerung der Augen findet sich durch- weg bei Höhlenfischen (Amblyopsis, Thyphl- ichthys, Troglichthys, Lucifuga, Stygi- cola), obwohl ihre Wohnorte nicht völlig lichtlos sind (cf. Eigen mann, Publ. Carnegie Inst. 1909); selten bei Tiefseefischen (Bara- thronus). Die Augen der letzteren sind oft teleskopartig verlängert, die Sehachsen parallel nach vorn oder oben gerichtet; ihre Linse ist sehr groß, die Iris rudimentär, die Cornea hoch gewölbt; nur am Augengrunde ist die Retina wohl ausgebildet (Hauptretina) und enthält hier sehr zahlreiche sehr lange Stäbchen (meist keine Zapfen); oft sind Nebenretinae vorhanden; das Ganze stellt eine Anpassung an das Sehen bei geringsten Lichtintensitäten dar (cf. Brauer, 1. c). Die Frage nach dem Farbenunterscheidungs- vermögen scheint noch offen; nach Heß (1. c.) verhalten sich die Fische wie ein total Farben- blinder, nach V. Bauer (Pflügers Archiv, Vol. 133) haben die Farben außer den Helligkeits- werten spezifische Reizwirkungen („Rotscheu" bei Atherina, „Vorliebe für Blau" bei Box). Aus dem Verhalten der Chromatophoren bei Phoxinus schließt v. Frisch (Zool. Jahrb., Abt. f. Physiol. Vol. 32, 1912), daß Rot und Gelb in besonderer Weise, nicht nur ihrem Hellig- keitswert nach, empfunden werden: nur über rotem oder gelbem Grunde erfolgt die Expan- sion der roten Chromatophoren und damit das Auftreten blutroter Flecke, niemals aber über grauem Grunde von gleichviel welcher Helligkeit. d) Ohrlabyrinth und Nervenhügel. Das Labyrinth besteht aus dem Sacculus und dem TJtriculus mit den 3 Bogengängen; der Ductus endolymphaticus, bei den Teleosteern verkümmert, mündet bei den Selachiern frei nach außen; bei Ceratodus erhält er sich embryonal längere Zeit, bei Protopterus legt sich sein in viele Divertikel zerteiltes Ende über die Rauten- grube (Fig. 29). Endorgane des Nervus acus- ticus (VIII) finden sich in den Ampullen der Bogengänge (Cristae acusticae) , im Utriculus (Macula acustica recessus utri- culi, M. neglecta) und im Sacculus (Mac. ac. sacculi ; oft, besonders bei allen Tele- osteern, eine Papilla lagenae in beson- derer Ausbuchtung als letzter Rest der Ge- hörschnecke). Die spezifischen (sekundären) Sinneszellen der Maculae acusticae sind von plumper Gestalt, nur etwa die halbe Länge der zwischen ihnen befindlichen indifferenten Stützzellen erreichend, am freien Ende mit starren Haaren (bezw. Haarbüscheln) ver- sehen. Ueber den M. sacculi und utriculi liegen gallertige cuticulare Abscheidungen, die bei den Selachiern kleine Kalkkörperehen enthalten, bei den Teleosteern zu großen harten Körpern, Otolithen, werden. Schall- übertragende Einrichtungen, die denen der höherenWirbeltiere entsprächen, fehlen; (über die Verbindung des Labyrinths mit der Schwimmblase s. u. bei dieser). — Von den Cyclostomen hat Petromyzon nur 2 Bogen- gänge, die bei Myxine sich zu einem ver- binden. Das Labyrinth der Fische gilt haupt- sächlich als Organ der reflektorischen Gleich- gewichtserhaltung und übt zudem einen be- ständigen Einfluß auf den Tonus der Rumpf- muskulatur aus (Ewald); Parker (1903) beobachtete bei Fundulus als Reaktion auf ins Wasser übertragene Schallschwingungen bestimmte Flossenbewegungen, die nach Durchschneidung der Nervi acustici unter- blieben; im allgemeinen wird das Hör- vermögen der Fische bezweifelt. Das System der vornehmlich in der Seitenlinie lokalisierten Sinnesorgane weist manche Aehnlichkeiten mit dem Ohr- labyrinth auf; die Endorgane bilden den Maculae acusticae vergleichbare Sinnes- epithelplatten oder knospenartige Komplexe („Endhügel") von Sinneszellen; letztere gleichen in Form, Lage, Haarbesatz, durch- aus denen im Labyrinth; cuticulare (aber nicht verkalkte) „Cupulae terminales" ent- Fische (Pisces) 1077 sprechen den Otolithen. Die Endorgane, meist seginental geordnet, sind entweder in besondere, ins Corinm eingebettete Haut- kanäle („Schleimkanäle") eingeschlossen, oder sie stehen frei im Niveau der Epidermis; häufig liegen ein Teil in Kanälen, die übrigen frei. Die Organreihen, bezw. die sie be- herbergenden Kanäle folgen bestimmten Zügen, deren wichtigste am Rumpf jederseits eine Längs-, die sogenannte „Seitenlinie" (oder deren mehrere), am Kopf ein Supra- orbital-. Infraorbital- und ein Mandibular- sowie ein transversaler Occipitalast sind. Die Kopfkanäle sind häufig von Deck- knochen des Schädels, die Rumpfkanäle von Schuppen (bei Chimaera von Knorpel- ringen), umschlossen; sie öffnen sich mit kurzen Seitenkanälchen nach außen. Die Innervation der Endorgane erfolgt teils (in den Kopfkanälen) durch den Facialis, teils durch den zur gleichen Gruppe zu rechnenden Nervus lateralis. Modifizierte Bestandteile des Seitenkanalsystems werden bei den Rochen als Sa vi sehe Bläschen, bei den Haien als Loren zini- sche Ampullen, bei den Ga- noiden als Nervens äckchen bezeichnet; sie sind auf die Kopfregion beschränkt. Bei den Rochen erlangt das Schleimkanal- system, über die Brustflossen sich ausbrei-' tend, oft eine sehr komplizierte Ausbildung. Besonderer Reichtum an Endorganen dieses Systems geht nicht notwendig mit reicher Ent- öler Schleimkanäle Hand in Hand und So finden sich häutig bei rudimen- tärem Kanalsystem mehrere Längs- und zahlreiche Querreihen freier Seitenorgane (z. B. bei Go- biiden, vgl. Porichthys, Figur 30); das Kanal- system seinerseits erlangt unter Teleosteern z. B. bei Trachurus (Caranx) reichste Entfaltung: Bildung verzweigter Seitenäste, Hinzutreten un- gewöhnlicher Hauptstämme dorsomedian auf dem Kopfe und jederseits längs der Rückenflosse (Fig. 31). — Häufig erhalten sich, als Rudimente der embryonalen Epithelleiste, in der sich die Endorgane differenzieren, diese verbindende Zellstränge; bisweilen (Fierasfer, Echeneis, Julis) erscheinen dieselben kanalartig; mit den Schleimkanälen haben sie aber nichts zu tun. Man hält die Seitenorgane gegenwärtig für Rezeptoren strömender Wasserbewegung (Hof er, nach Befunden am Hecht); indessen fand Parker (Bull. Bur. Fish. Washington 1905), daß sie auf Vibrationen von geringer Frequenz, nicht aber auf Druck oder Strömungen reagieren; beach- tenswert ist ferner, daß Fische nach Verlust des Labyrinths auf starke Schallwirkungen rea- gieren (Kreidl) und daß auch geblendete Fische festen Körpern sicher ausweichen, also über eine Art von „Tasten in die Ferne" verfügen. Be- sondere Endapparate, die auf grobe Berührungen von Seiten fester Körper reagieren, kommen bei Fischen wohl kaum vor; die Bartfäden, Ten- takel usw. verdanken ihre Empfindlichkeit hauptsächlich dem Reichtum an Sinnesknospen, dienen also mehr einem „Abschmecken" der Umgebung. Die tasterartigen isolierten Flossen- strahlen von Trigla und Peristhetion sind sehr reich an Nerven, doch enden diese wohl frei, ohne spezifische Endorgane (nach Jourdan bei Peristhetion, nach Zincone bei Trigla dagegen mit spindelförmigen intraepithelialen Zellen). Beachtenswert ist, daß bei Amphibien mit dem Uebergang zum Landleben „Tasttlecken" (mit im Corium liegendem nervösem Endappa- rat) sich an die Stelle der degenerierenden Endhügel setzen (Maurer). 2g) Verdauungs- und Respirations- tractus. Der Verdauungs- und Respira- tionstractus gliedert sich in Mund- und Rachenhöhle, Schlund, Magen — diese können als Vorderdarm zusammengefaßt werden — ■ Fig. 30. Porichthys notatus Girard. Kopfkanäle punk- tiert, freie Endhügel schwarz. Kreischen Leuchtorgane (letztere nur zum Teil erkennbar). Nach Greene 1900. faltung umgekehrt Fig. 31. Trachurus (Caranx) trachurus. Kopf- und Seitenkanäle. Mitteldarm und Enddarm. Zum Vorderdarm treten Kiemen, Lungen oder Schwimmblasen, zum Mitteldarm Appendices, Leber und Pancreas, zum Enddarm bei einigen die Harn- und Geschlechtsorgane in Beziehung. a) Bezahnung. Die Bezahnung be- schränkt sich sehr oft nicht auf die Mund- ränder bezw. die Kiefer. Die Zähne an dem meist querschlitzförmigen Maul der Haie (vgl. Fig. 6) gleichen oft den Hautzähnen (s. o.), sind indessen meist größer; in gewissen Fällen (Cestracion u. a.) sind sie nicht spitz, son- dern nehmen die Beschaffenheit flacher Pflasterzähne an. Beständiger Ersatz findet von einer an den Kieferrändern einwuchernden Epithelplatte, „Zahnleiste''", aus statt. Die Zähne stehen meist in mehreren gleichzeitig tätigen transversalen Reihen, dehnen sich übrigens nach hinten oft auf den Rachen bis zum Schlundbeginn aus. Die Teleosteer können Zähne nicht nur auf den Kieferknochen (Intermaxillare, Maxillare, Dentale, Spleniale), sondern so ziemlich auf allen an der Begrenzung der Mund- und Rachenhöhle teilnehmenden 1078 Fische (Pisces) Knochen tragen (Vomer, Palatinnm, Ptery- j goid, Parasphenoid, Entoglossum, Kiemen- bögen, besonders auf den oberen und unteren I Schlundknochen). Die Beziehungen der harten j Papillen am Eingang in den Oesophagus bei I Stromateus u. a. zu wahren Zähnen sind! unklar. Die Teleosteerzähne haben meist j die Form nach hinten gekrümmter (bisweilen ! - Lophius - - umlegbarer) spitzer Haken, dienen also weniger zum Zerkleinern als zum Erfassen der Beute. Die Zähne auf den Schlundknochen sind indessen oft mahl- zahnartig (Cypriniden, Scariden), die Kiefer- zähne gelegentlich meißeiförmig (Bali st es Fig. 56, Spariden); bei den Scariden und den gymnodonten Plectognathen verschmelzen mehrere aufeinanderfolgende Generationen von Zähnen mehr oder minder vollständig zu scharfkantigen schnabelähnlichen Kau- werkzeugen, mit denen diese Fische hart- schalige Nahrungstiere zerbeißen. Anderer- seits finden sich Fische mit borstenartig feinen, biegsamen Zähnen (Chaetodonten, Loricariiden). Gänzlich zahnlos sind die Syngnathiden und Coregonus. Die Zähne der Teleosteer entstehen meist in senkrecht zur Oberfläche gestellten Epidermislamellen ; bisweilen (Bali st es) tritt indessen eine Zahnleiste auf (Ghigi, Arch. zool. Vol. 2). Die Bezahnung bei Crossopterygiern und Holosteern gleicht der bei Teleosteern. Den erwachsenen Stören fehlen Zähne, Scaphirhynchus und Polyodon kommen sie zu. Die Dipnoer tragen auf dem Vomer, dem Pterygopalatinum und dem Spleniale je eine scharfkantige mehrhöckerige, durch Concrescenz zahlreicher röhrenförmiger Einzelzähne entstandene Zahnplatte; topo- graphisch entsprechen diese den zahntragen- den Bezirken der Selachier. Ganz ähnlich verhalten sich die Holocephalen; doch ist Concrescenz von Einzelzähnen hier embryo- logisch nicht nachweisbar; die Platten bestehen aus spongiöser osteoider Substanz, sind schmelzlos, schließen aber weiche Dentin- massen ein (Schauinsland 1903). Die Zunge der Fische ist nie muskulös; sie stellt einen vom Glossohyale gestützten, bisweilen zahntragenden Wulst am Mundhöhlenboden dar (Fig. 12 u.l4,gh). ZusammengesetzteMundhöhlen- drüsen fehlen durchweg, außer bei Petromyzon ; dagegen sind einzellige acidophile und Becherzellen nicht ungewöhnlich. Die Vorverdauung der Nahrung durch Kauen und Speichelwirkung muß also bei den Fischen durchschnittlich un- bedeutend sein. — Hautsäume um die Kiefer- ränder zeichnen die „Lippfische" (Labridae) aus; flache eigentliche Lippen, denen der Frosch- larven gleichend, finden sich bei Loricariiden und gewissen Cypriniden. Bei den Petromyzonten umschließen am Bande gefranste Lippen eine trichterförmige Mundbucht (Vestibulum), welche als Saugscheibe dient und wie die raspelartige Zunge konische Hornzähne trägt (s. oben S. 1058). ß) Kiemen system. von den Kiemenspalten Vorderdarmregion läßt sich abgrenzen. Die führen bei den die durch Septen Die seitlich durchbrochene als Rache n inneren Kiemenspalten Selachiern in Taschen, (Fig. 32 a, s) voneinander getrennt sind und durch äußere Kiemen- schlitze ins Freie münden ; bei den Teleosteern in eine geräumige, außen vom Kiemendeckel (Fig. 32b, op) und der Kiemenmembran (Membrana branchiostega) umschlossene Kiemenhöhle, welch letztere jederseits eine mehr oder minder weite äußere Kiemenöffnung hat. Im ersteren Falle sind die eigentlich respiratorischen Bezirke, die Kiemenblättchen (Fig. 32, b) entlang a Fig. 32. a) Horizontal- schnitt durch den Pha- rynx eines Haifisches, b) eines Teleosteers. Nach Gegen baur. c) Kiemenapparat von Myxine. Nach J. Müller. 1 Zunge, b Kiemenblättchen, br Kiemensack, p br Porus branchialis, s Kiemen- septum, oe Oesophagus, h Herz (von dem die ventrale Aorta mit den zuführenden Kiemenge- fäßen ausgeht). ihrem dem zuführenden Gefäß entsprechen- den Rande mit den Septen verwachsen ; den letzteren dienen die schon oben erwähnten, mehr oder minder zahlreichen knorpeligen „Kiemenstrahlen" zur Stütze. Bei den Teleosteern sind die Kiemenblättchen nur an der Basis angeheftet, sie sitzen dem Bogen- rand 2-zeilig (alternierend) auf. Zwischen beiden Befunden vermitteln die Chimaeren und Dipnoer, bei denen die Septen halb zu- rückgebildet, die Blättchen also nur teilweise angewachsen sind; zugleich legt sich hier ein dem Hyoid angeschlossener Kiemendeckel über sie hinweg. Auch bei Chlamvdo- Fische (Pisces) 1079 selachus findet sich in der teilweisen Ueber- deckung der hinteren Kiemensepten durch die vorderen, besonders die der Hyoide, eine Hinneigung- zn diesem Znstand. Die Chondrosteer und Knochenganoiden ver- halten sich in der Hauptsache wie die Teleosteer; mit den Septen schwinden die den Selachiern eigentümlichen Radien; statt ihrer finden sich wie bei den Teleosteern knorpelige bezw. verknöcherte Kiemen- gräten (s. o. S. 1066), die in die Blättchen selbst eindringen und die durch besondere Muskelchen gegen die Kiemenbögen beweg- lich sind. Jedes Kiemenblättchen ist auf den Seiten, die es seinen Nachbarn in der Reihe zukehrt, mit zarten Querlamellen besetzt; in diesen löst sich das zuführende Gefäß auf in ein von charakteristischen, senkrecht zur Oberfläche gestellten Pfeiler- zellen durchsetztes Lacunennetz, aus dem ein abführendes Gefäß hervorgeht. Die Blättchen sind arm an Bindegewebe, von meist sehr niedrigem Epithel bekleidet. Die „büschelförmigen" Kiemen der Syn- gnathiden unterscheiden sich von den ge- wöhnlichen nur durch die geringe Zahl der breiten, mit schmalerem Stiel festsitzenden Blättchen. In der Regel finden sich 5 Kiemen- spalten (6 bei Hexanchus, Chlamydo- selachus und Pliotrema, 7 bei Heptan- chus; mehr bei Cyclostomen, s. u.). Rück- bildungen sind bei Teleosteern nicht selten, so kommen den Pediculaten nur 2, 2% oder 3 Kiemen zu, fast gänzlicher Schwund der Blättchen liegt bei A m p h i p n o u s vor ; bei den Scariden führt die Spalte zwischen dem IV. und V. Bogen in einen geschlosse- nen Blindsack, gewissermaßen eine Backen- tasche, welche die einer Art Wiederkäuung durch die Schlundzähne unterliegende Nahrung aufnimmt. Bei Protopterus sind die Blättchen am I. und II. Bogen reduziert, doch ziehen sich hier die Blättchen der hinteren Reihe am IV. Bogen auf die Hinterwand der letzten (5.) Kiemen- spalte hinüber. Bei Elasmobranchiern trägt die Vorderwand der 1. Tasche, deren vordere Begrenzung der Hyoidbogen bildet, eine Blättchenreihe; die entsprechende Halb- kieme findet sich auch bei den Acipenseriden und bei Lepidosteus, hier nach ihrer Lage Opercularkieme genannt, und bei den Di- pnoern;beiLepidosteus und Protopterus empfängt sie venöses Blut aus dem Truncus arteriosus, bei Ceratodus dagegen arterielles aus einer ventralen Forlsetzung der ab- führenden Arterie des I. Kiemenbogens; ähnlich verhält sie sich (nach H. Virchow, entgegen älteren Angaben Joh. Müllers) bei Acipenser; in beiden Fällen büßt sie also ihre Bedeutung für die Atmung ein. Bei Amia und den Teleosteern fehlt die Opercularkieme ganz, was wohl damit zu- sammenhängt, daß der Hyoidbogen hier aus der Reihe der Kiemenbögen herausgerückt und mit seinen Anhängen ganz zu einem Schutz- und mechanischen Hilfsorgan der eigentlichen Atmungswerkzeuge geworden ist. Bei den Plagiostomen führt, meist nahe hinter dem Auge mündend, als sogenanntes Spritzloch (Spiraculum), ein enger Kanal vom Rachen nach außen, der als Rest einer Kiemenspalte zwischen Mandibular- und Hyoidbogen aufgefaßt wird und der auch in der Regel an seiner Vorderwand eine rudimentäre Kieme enthält. Von dieser Spritzloch kieme kann sich ein Rudiment auch bei fehlendem Spritzloch erhalten (Carcharias). umgekehrt kann auch ein Spritzloch ohne Kieme bestehen (Scym- nus, Lamna, Myliobatis, Trygon). Das Spritzloch fehlt allen Holocephalen und Dipnoern, erhält sich aber bei den Chondr- ostiern (außer Scaphirhynchus) und den Crossopterygiern (hier ohne Kieme). Bei den Teleosteern und Holosteern tritt ein Spritzlochgang nur embryonal auf, schwindet aber frühzeitig, an der Stelle der inneren Mündung gelegentlich Blindsackbildungen zurücklassend; die Spritzlochkieme erhält sich indessen meist als ansehnliches Gebilde, als sogenannte Pseudobranchie, die auch hier vor der Spritzlochanlage entsteht (Dohrn), später aber über die mediale Fläche des Hyomanclibulare nach hinten rückt und dann oft dorsal der opercularen (Hyoid-)Wand der 1. Kiemenspalte ange- lagert erscheint. Die Pseudobranchie emp- fängt arterielles Blut, meist aus der Arteria hyomandibularis, ist also niemals respira- torisch tätig. Sie besteht entweder aus einer größeren Zahl freier Blättchen, deren Struktur von derjenigen der respirierenden Kiemen nur in untergeordneten Punkten (Vereinfachung des Lacunennetzes, bedeu- tendere Höhe des Epithels) abweicht, oder dieselben sind unter das Rachenepithel ver- senkt und miteinander verwachsen (bedeckte oder „drüsige" Pseudobranchie). Die Pseudo- branchie fehlt den Siluriden, Mormyriden, Muraeniden, Symbranchiden, sehr selten bei Acanthopterygiern; Lepidosteus hat die Pseudobranchie zusammen mit der Oper- cularkieme. • Näheres über die Blutver- sorgung der Kiemen siehe unter „Kreislauf- organe" (S. 1084). Die Inspiration erfolgt bei den genannten (gnathostomen) Gruppen durch Erweiterung der Mundhöhle, bei den Fischen mit einem Kienien- deckel auch der Kiemenhöhle, unter Abhebung des Deckels; die äußeren Kiemenöffnungen bleiben hierbei, sei es durch die Ränder der Kiemensep- ten, sei es durch die Branchiostegalmemhran, ver- schlossen (nur bei den Rochen dienen die sehr weiten Spritzlöclier zum Eintritt des Atem- wassers). Bei der Exspiration verengert sich die 1080 Fische (Pisces) Mundhöhle ; das Wasser wird , da der Austritt durch den Mund durch besondere, vom Dach und Boden der Mundhöhle vorspringende Atem- klappen automatisch verhindert wird, durch die Kiemenspalten in die Kiemenhöhle getrieben und strömt durch die äußeren Kiemenöffnungen ab (einzelnes s. bei Baglioni, Zeitschr. allg. Phys., Vol. 7). Bei den Cyclostomen liegen die (ange- wachsenen) Kiemenblättchen in beutel- artigen Räumen (7 bei Petromyzon, bei Myxinoiden — Bdellostoma polytrema ■ — bis zu 14), die durch enge Oeffnungen einerseits nach außen (und zwar bei Myxine vermittels längerer, in einen Porus bran- chialis zusammenlaufender Kanäle, vgl. Fig. 32 c), andererseits in den Darm (Myxinoiden) bezw. in einen besonderen, aber vorn mit diesem sich verbindenden Längskanal, den „Wassergang", münden (Petromyzon). Die Anlagen der Spritzlochgänge brechen nie nach außen durch; von ihnen aus entwickelt sich die circorale Wimperrinne („Pseudobranchial- rinne") der Ammocoeten (Dohrn), die wiederum bei Amphioxus und den Tunicaten ihr Analogon hat. — Im Zusammenhang mit der Verwendung des Mundes als Haftorgan erfolgt auch die Inspiration bei den Petro- myzonten durch die äußeren Kiemenlöcher, bei Myxine durch den Nasengang. Die physiologische Bedeutung eines Kanals, der bei den Myxinoiden links hinter den Kiemen- säcken vom Oesophagus direkt nach außen oder zum Porus branchialis führt („Ductus oesophageo-cutaneus"), ist unbekannt. Daß die (inneren) Kiemen bei allen Fischen (und den Amphibien) homologe Bildungen sind, kann nach dem anatomischen Befund kaum ernsthaft bezweifelt werden. Die Bildung der Kiemen beginnt embryonal mit der Sonderung von 6 Paaren seitlicher Divertikel des Vorderdarms (deren erstes zu den Spritzlochgängen wird); ihnen kommen entsprechende Einsenkungen von außen her entgegen, und durch die Vereinigung beider entstehen die offenen Kiemenspalten. Nach Goette (1901) sind nun nur die beutelartigen Kiemenräume der Cyclostomen und die Spritzlochgänge entodermalen Darmtaschen zugehörig, nicht aber die Interseptalräume der Plagiostomen; es seien daher auch nur die Cyclostomenkiemen und die Pseudo- branchieneehte„Darmkiemen" alle übrigen an ihre Stelle getretene „Hautkiemen". Hinsichtlich der „ectoclermalen" oder „ento- dermalen" Natur der Plagiostomen- und Teleosteerkiemen verhalten sich neuere Autoren teils unentschieden (Marcus 1908), teils bestehen zwischen ihren Angaben diametrale Widersprüche (Moroff, Greil). Gewöhnlich erstrecken sich die Kiemen- blättchen über den die Kiemenspalte, durch die das Atemwasser streicht, begleitenden I Teil des Kiemenbogens (Cerato- und Epi ' branchiale) ; bisweilen aber erhalten sich mehr dorsale selbständige Komplexe von Blättchen, sei es als Luftatmungsorgane (s.u.), i sei es als äußere Kiemen, die außerhalb des Kiemendeckels frei flottieren. Letztere finden sich fast nur als larvale Atmungs- organe, und zwar in 4 Paaren bei den Larven der dipneumonen Dipnoer (Fig. 49), von denen 3 (zum IL, III. und IV. Aortenbogen gehörig) sich beim erwachsenen Proto- pterus erhalten (Fig. 24). Die Polypterus- Larven (Fig. 48), auch die erwachsenen P. lapradei, besitzen eine große kammförmige Außenkieme, die wohl dem Hyoidbogen angehört. -- Die frei aus den Kiemenspalten herausragenden Kiemenfäden der Selachier- und einiger Teleosteerembryonen (Gymn- archus, Heterotis, Cobitis) sind nicht mit ihnen zu identifizieren, sondern sind verlängerte Blättchen der inneren Kiemen und dienen wahrscheinlich nicht sowohl zur Atmung, als zur Resorption perivitelliner bezw. intrauteriner Ernährungsflüssigkeiten (Fig. 44). Als (branchioide) Luftatmungsorgane, teils eine mehr oder minder geräumige Atemhöhle auskleidend, teils baumförmige oder aus gekräuselten Lamellen bestehende, oberhalb der Kiemenbögen angebrachte Skelettstücke überziehend, finden sich Kom- plexe flächenhaft miteinander verwachsener Kiemenblättchen bei Siluriden (Sacco- branchus, Ciarias), den Osphromeniden (sogenannte Labyrinthfische) und Ana- bas (Fig. 51). Bei Saccobranchus, wo sie sich, in den Seitenrumpfmuskel oberflächlich eingebettet, bis zum Beginn der Schwanz- region erstrecken, gehören sie dem IV. Aorten- bogen zu und sind ganz analog den gewöhn- lichen Kiemen in den Kreislauf eingeschaltet (Rauther, Ergebn. u. Fortschr. d. Zool. Vol. 2, 1910); bei den Labyrinthfischen empfangen sie Blut aus den abführenden Kiemengefäßen des I. und IL Bogens und geben es an die Jugularvenen ab (Hen- ninger). Der vikariierenden Luftatmung dienen bei Fischen, die zum Aufenthalt in ver- botenem Wasser oder auf dem Lande be- fähigt sind, außer den genannten Organen und unten noch zu erwähnenden, gewisse reich vascularisierte Bezirke der Mund- schleimhaut (Ophiocephalus) oder neben dieser eben solche der Kiemenhöhle und der äußeren Haut (Periophthalmus). Welcher Kategorie die Atemsäcke von A m p h i p n o u s , die Kiemenanhänge von Heterotis, Luto- deira und Citharinus zuzuweisen sind, ist bislang nicht ganz sicher zu entscheiden; die bei vielen herbivoren Characiniden sich findenden hornförmigen Kiemenanhänge sind wahrscheinlich wie die Blindtaschen von Fische (Pisces) 1081 Scar us sekundär in den Dienst der Nahrungs- verarbeitung getreten. Zur Physiologie der Atmung vgl. „Kreislauf Organe" S. 1086. Die Schilddrüse (Glandula thyreoidea) besteht meist aus einer Anhäufung ge- schlossener epithelialer Follikel um die Aorta ascendens oder vor dem Abgang der ersten Kiemenarterien von dieser; bei den Neunaugenlarven (Ammocoetes) erscheint sie als eine mit dem Pharynx in offener Verbindung stehende ventrale Einsenkung, deren gefaltete Wand 4 Reihen von Schleim- drüsen enthält. Die Thymus findet sich bei den Tele- osteern als Verdickung der hinteren medialen Wand der Kiemenhöhle oberhalb der Kiemen- bögen, bei den Selachiern jederseits oberhalb der Kiemenbögen; sie entsteht aus epitheli- alen Wucherungen am dorsalen Rand der Kiementaschen ; eigentliche Lymphzellen scheint sie nicht zu erzeugen. y) Lungen u n d S c h w i m m - blase. Mit dem Kiemensystem stehen die pneumatischen Anhänge des Darms, Schwimmblase und Lungen, in gewisser morphologischer Beziehung; auf embryo- logischen Beobachtungen fußend hat man dieselben als eigenartig fortgebildete Kiemen- taschen gedeutet (Goette, Spengel). Die Schwimmblase liegt stets über dem Darm und mündet, wofern ein offener Luftgang vorhanden, fast ausnahmslos (vgl. unten) an der oberen Schlundwand; die Lungen münden stets mit kurzem oder längerem Gange an der unteren Schlundwand; ihre Anlage und ihr ursprünglicher Platz ist ventral, doch werden sie gelegentlich aus statischen Gründen dorsalwärts verlagert (Dipnoer). Der Eingang beider Organe kann (bei Ganoiden) muskulös und mit eine Art Kehlkopf bildenden fibrösen Teilen versehen sein und Spuren dieser können gleichzeitig dorsal und ventral vorhanden sein (bei Lepidosiren, s. Wiedersheim, Zool. Jahrb. Suppl. Bd. VII, 1904). Es sind demnach wohl Lungen und Schwimm- blase für zweierlei (nicht-homologe) Morphen zu halten, wenn sie auch in gestaltlicher wie funktioneller Hinsicht in sehr nahen Beziehungen zueinander stehen (in analoger Weise wie etwa die ventralen „inneren" und die dorsalen „äußeren'- Kiemen). Die embryonale Anlage der Lungen er- scheint an der ventralen Wand des Vorder- darms als einfache mediane Ausstülpung, bei Ceratodus „etwas rechts von der Median- ebene" (Greil); bei Polypterus wächst sie caudalwärts in paarige Blindsäcke aus, von denen der rechte sich beträchtlich rascher und größer ausbildet; auch nach vorn von der Glottis erstrecken sich paarige horn- förmige Fortsätze. Die Anlage der Schwimm- blase erscheint als Einsenkung der dorsalen Schlundwand, ihr hinterer Teil schnürt sich vom Darm ab und wird zur Schwimmblase, der vordere zum Luftgang. Auch die Schwimmblasenanlage erscheint bald nach rechts (Ami a, Rhodeus, Cyprinus), bald nach links (Salmo, Gymnarchus) etwas verschoben (Greil). Diese Befunde erschei- nen nicht hinreichend, um, zugunsten der Annahme einer Homologie der Lungen und Schwimmblasen, das Argument ihrer typi- schen Lageverschiedenheit zu entkräften; nach Boas sollten die Lungen aus Schwimm- blasen entstanden sein.indemdiesesich längs- spalteten, wonach die Hälften, um den Darm wandernd, ventral wieder zur Vereinigung gelangten; nach Sagemehl, dem neuer- dings Goette beipflichtet, entspräche die Lunge von Polypterus der Urform, deren Weiterbildung einerseits zu den Lungen der Landwirbeltiere, andererseits durch Wande- rung dorsalwärts und Rückbildung der linken Hälfte zu dem Zustand der Schwimmblase führte. Lungen. Die Lungen sind meist paarige Säcke, glattwandig bei den Crossopterygiern, alveolär bei den Dipnoern. Im letzteren Falle darf als sicher, im ersten als sehr wahrschein- lich gelten, daß sie, sei es zeitweilig (Sommer- schlaf von Protopterus), sei es dauernd, als supplementäre Luftatmungsorgane dienen. Sie erhalten bei Protopterus Blut aus der Aorta, bei Ceratodus und Polypterus aus dem IV. abführenden Kiemengefäß (vgl. „Kreislauforgane"), also stets solches, das bereits die Kiemenkapillaren passiert hat. Schwimmblase. Die Schwimmblase erscheint meist als unpaarer, bisweilen durch Einschnürungen in mehrere hintereinander- liegende Abteilungen gesonderter Sack, selten mit Andeutung ursprünglich paariger Be- schaffenheit (Holostei, Gymnarchus). Bei manchen Sciaeniden ist sie durch seitliche Blindsäcke vermannigf altigt. Von der Regel der dorsalen Einmündung in den Darm weichen Macrodon, Lebi- asina und Erythrinus, mit links münden- dem Luftgang, ab; geringere Verschiebungen der Mündungsstelle nach links oder rechts sind nicht selten (Rowntree, Trans. Linn. Soc. (2) Vol. 9, 1903). Bei einigen Clupeiden und Characiniden mündet der Luftgang in den Magen (Fig. 34); bei Clu- peiden besteht außer der Kommunikation mit dem Vorderdarm eine Oeffnnng nach außen hinter dem After. Die Mehrzahl der Teleosteer („Physoclisten") verliert den offenen Luftgang; nach Moreau erhält die Schwimmblase von Caranx eine Oeff- nung in die rechte Kiemenhöhle: bisweilen schwindet die Schwimmblase ganz, so bei Bodenformen (Symbranchii , Pleuronec- tiden), aber auch bei manchen der besten Schwimmer (Scomber, Thynnus, Animo- 1082 Fische (Pisces) dytes). Den Elasmobranchiern scheint sie selbst in Spuren zn fehlen; die Bedeutung einer dorsalen und paariger ventraler Schleim- hauttaschen im Schlund von Mus t eins (P.Mayer, Mitt. d. zool.Stat.NeapelVol.il, 1894) ist fraglich. Die Wand der Schwimmblase ist in der Regel eben, mit glatten Muskelfasern versehen und von dünnem Epithel aus- gekleidet; nur an gewissen reich vascu- larisierten Stellen verdickt sich das Epi- thel, bisweilen Tubuli bildend, zur so- genannten ,, Gasdrüse"; man nimmt an, daß diese das Schwimmblasengas liefert, doch kommen den meisten Physostomen (Salmoniden, Cypriniden) diese „roten Körper" nicht zu, sondern nur denen mit fast unwegsamem Luftgang (Esox, An- gin IIa), eigentlich drüsige nur den Physo- clisten. Die Gasentleerung kann bei den Physostomen direkt geschehen; bei den Physoclisten soll das ,,Oval"(Corningl888, Jäger 1903) oder eine besondere hintere Kammer (Syngnathus, Opsanus), Bezirke, an denen die Gefäße dicht unter dem zarten Epithel sich ausbreiten, die Re- sorption ermöglichen: das Oval kann durch eine muskuläre Ringfalte vom übrigen Schwimmblasenraum abgeschlossen werden, und zwar tritt dies ein, sobald die Ver- mehrung des Gasinhaltes (bei Zunahme des auf dem Fisch lastenden Drucks) not- wendig wird (Woodland, Anat. Anz. Vol. 40, 1912). Das Blut gelangt zu der Gasdrüse durch einen Ast der Arteria coeliaca, doch ist derselben meist ein arteriell-venöses Wunder- netz vorgeschaltet , das von den in das Drüsenepithel eindringenden Gefäßen mehr oder minder vollkommen gesondert bleiben kann (Anguilla, Syngnathus) und welches das Blut im Hin- und im Rück- strömen (zur Pfortader) zu passieren hat. Das Oval bezw. die hintere Kammer, oder wo beide nicht ausgebildet sind (Salmo), der hintere Teil der Schwimmblase überhaupt, erhalten Blut aus der Aorta und geben es an die Cardinalvene ab. Das Schwimmblasengas ist ein Gemenge von 0, N und C02, in dem bei Physostomen der N überwiegt (ca. 87%), bei Physoclisten der 0 (Perca: 65%, Tiefseefische bis 80%,!). Das frisch aus dem Blute abgeschiedene Gas enthält mehr 0 (80% nach Bohr) als nach längerem Ver- weilen in der Blase. Die Angaben, daß der 0 durch Zerstörung von Erythrocyten im Bereich der Gasdrüse verfügbar gemacht werde, werden bestritten (Wood land I.e.). Bei Asphyxie ver- mindert sich der Ö- Gehalt in der Schwimmblase; «ler Aal soll beim Aufenthalt auf dem Lande den O-Vorrat der Schwimmblase veratmen. — Die elastische Schwimmblase entspricht zu- und ab- nehmendem äußerem Druck durch Verkleinerung bezw. Ausdehnung; dabei nimmt auch das Vo- umen des Fischkörpers ab oder zu, so daß er im ersten Falle zu sinken, im letzteren zu steigen strebt. Bei wechselndem Druck, z. B. beim Uebergang in höhere oder tiefere Wasserschichten, vermag der Fisch daher sein Gleichgewicht mit dem Wasser nur zu bewahren durch aktive Er- haltung seines normalen Schwimmblasen volumens, also durch Gassekretion bezw. -resorption, Gas- abgabe nach außen, oder auch vermittelst der Muskulatur der Schwimmblasenwand; durch erstere Mittel kann natürlich nur langsam (im Verlauf mehrerer Stunden) eine Anpassung an veränderte Druckverhältnisse erzielt werden. Druckverminderung löst im allgemeinen reflek- torisch Schwimmbewegungen, die den Fisch nach unten, Drucksteigerung solche, die ihn nach oben zu bringen geeignet sind, aus; man hat daraufhin die Schwimmblase als Vermitte- lungsapparat von Reizen, als „Sinnesorgan", angesprochen, wodurch dem Fisch das Verweilen in der ihm bionomisch angemessenen Wasserzone ermöglicht werde (Baglioni, Zeitschr. f. allg. Phys., Vol. 8, 1908). In mehreren Familien zeigt die Schwimm- blase Beziehungen zum Gehörorgan; ent- weder derart, daß vordere Ausläufer sich nur häutig verschlossenen Oeffnungen der knöchernen Labyrinthkapsel (Serranidae, Sparidae, Gadidae) oder Auswüchsen des Utriculus (Clupeiden) an- legen, oder vermittelst einer Reihe beweglich verbundener, von den vordersten Wirbeln ab- gegliederter Knöchelchen, des „Weberschen Apparats" (Siluridae, Gymnotidae, Chara- cinidae, Cyprinidae). Von diesen Knöchelchen ist das größte (Tripus = Rippe des 3. Wir- bels) mit der dorsalen Schwimmblasenwand und andererseits durch Ligament mit einem Knöchelchen (Scaphium = Neuralbogen des 1. Wirbels) verbunden, das eine Öffnung in der Wand eines unpaaren perilymphatischen Sinus verschließt; so können Volumänderungen der Schwimmblase Bewegungen der Perilymphe, in- direkt wohl auch der Endolymphe, verursachen (Bridge und Haddon). Dabei verliert die Schwimmblase unter Umständen ganz ihre hydrostatische Bedeutung und verharrt nur in Form kleiner paariger, bis auf einen dicht der jiußeren Haut anliegenden Bezirk völlig von Knochenhülsen umschlossener Säckchen (Lori- cariiden, Cobitiden); so wird sie in der Tat aus- schließlich zu einem Druckschwankungen dem Labyrinth übermittelnden Organ (Bloch, Jenai- sche Zeitschr. f. Nat., Vol. 34, 1900). In gewissen Fällen dient die Schwimmblase als Luftatmungsorgan, so bei Lepidosteus, Amia, Gymnarchus, Erythrinus, Sudis(vgl. auch unten ,, Kreislauf organe"!). Direkte Luft- aufnahme mag auch bei anderen Fischen mit sehr kurzem und weitem Luftgang (wie Heterotis) stattfinden. Für die Ansicht, daß die ursprüng- liche Funktion auch der Schwimmblase die re- spiratorische gewesen sei, spricht u. a. der noch in großer Verbreitung anzutreffende zellige (alveoläre) Bau derselben (so außer den ge- nannten bei Polyodon, Arapaima, Chiro- centrus, Doras u. a. m.). — Bei einer großen Anzahl von Fischen übernimmt die Schwimm- blase die Nebenfunktion eines Lautorgans, indem Einrichtungen ausgebildet werden, um ihren Gasinhalt in Vibration zu versetzen; dies geschieht, indem sich Teile der Rumpf muskulatur Fische (Pisces) 1083 der Schwimmblasenwand anheften, entweder direkt (Micropogon, Platystoma) oder unter Vermittlung modifizierter " sprungfederartiger Skelettstücke (Auchenipterus ; vgl. Bridge und Haddon, Phil. Trans., Vol. 184, 1893). Auch als Resonator anderer Muskel- oder Reibungs- geräusche (Balistes) wird die Schwimmblase bisweilen zu einem Hilfsorgan bei den Laut- äußerungen. d) Eingeweide. Der Schlund ist ein meist kurzes Rohr mit längsgefalteter Wand, ausgekleidet mit schleimzellenreichem Epithel und von quergestreifter Muskulatur umhüllt. Magen. Der Magen stellt sich als Erweite- rung des hintersten Vorderdarmteils dar, in deren Wand tubulöse Drüsen eingelagert sind. Er isl schlauchförmig, oft winklig geknickt, oder ein Blindsack, dessen Ein- und Aus- gangsöffnung (Cardia und Pylorus) nahe beieinander liegen (Figg. 33, 34). Ein besonders muskulöser ,, Kaumagen" findet dch kürzeres, bei Schlamm- oder Pflanzenfressern ein langes und entsprechend reich gewundenes Rohr. Besonders lang und inSpiraldrehungen gelegt ist er bei den Loricariiden (Fig. 35) und den phytophagen Characiniden (bei Citharinus 5 mal so lang wie der Körper). Bei den Elasniobranchiern erfährt er regel- mäßig eine spiralige Drehung; die dieselbe zum Ausdruck bringenden Windungen schließen aber fest aneinander und das Peritoneum zieht glatt über sie hinweg, sodaß dieser Darmabschnitt als dickes, äußerlich gerades, innen von einer Spiral- falte oder -klappe durchsetztes Rohr („Spiraldarm") erscheint. Bei einigen Haien (Fig. 33) und vielen Rochen ist die Spiral- falte auf den hinteren Darmteil beschränkt. Wohlausgebildete Spiralklappen haben auch die Dipnoer, Chondrosteer und Crosso- pterygier, rudimentäre die Holosteer und Petromyzonten. Ob ihnen die spiraligen Schleimhautfalten von Chirocentrus und anderen Teleosteern (Salmoniden, Clupeiden) an die Seite zu stellen sind, ist fraglich. Der hinterste Abschnitt des Mitteldarms ist im f)DP Fig. 33. Darmkanal von Spinax niger. st Magen , pp Pars pylorica desselben, d ch Ductus choledochus, sp Spiraldarm, r Enddarm, a fingerförmiger An- hang. Nach Redeke 1900. Fig. 34. Eingeweide von Clupea harengus; br Kiemen, st Magen, hinten in den Ductus pneumaticus übergehend, int Mitteldarm, app Pförtneranhänge, m Milz, vn Schwimmblase, t Hoden, gp Geschlechts- öffnung, davor der After. Holocephalen, unter sich bei der herbi- voren Heterotis, einigen Mugil u. a. Der Magen fehlt den Dipnoern und den den Teleosteern den Cypriniden (außer Nemachilus barba- tulus), Labriden, Scariden, einem Teil der Gobiiden, Blenniiden u. a. (Jacobs hagen, Jenaische Zeitschr. f. Nat. Vol. 47, 1911); meist also bei solchen, die Mikroorganismen aufnehmen oder bei denen die Nahrung schon durch einen ausgiebigen Kauakt vermittelst der Schlundzähne wo hl vorbereitet wird. Bei den carnivoren Fischen wird die oft leicht erweitert und durch eine von der Schleimhaut gebildete Ringfalte vom vordem geschieden („Ampulle" Pilliets). Die Darmschleimhaut bildet meist netz- artig untereinander verbundene Falten. Längs- und Ringmuskeln (ausnahmsweise, bei magenlosen Cypriniden und Plattfischen, quergestreifte) sind vorhanden. In den Beginn des Mitteldarms münden bei den Teleosteern meist (nie bei den magenlosen!) kurze Blindschläuche, Appendices pylo- ricae (Fig. 34 app.), in mehr oder minder hoher Zahl (bis ca. 800, bei Merlangus carbonarius); bei Meletta und Chato- essus erstrecken sie sich, in metameren Nahrung unzerkleinert verschluckt und erst Gruppen, über einen längeren Darmbezirk. bei längerem Verweilen im Magen in eine Den Elasmobranchiem fehlen sie (mit Aus- breiartige Masse aufgelöst. Der Darmkanal nähme von Laeinargus); in Rudimenten der halbparasitischen Cyclostomen ist sehr einfach gebaut, ein Magen fehlt. Kommen sie den ausgebildet (aber Crossoptervgiern, wohl um einen oder wenige Mitteldarm. Der Mitteldarm ist bei den Ausmündungskanäle gruppier! und äußerlich Fleischfressern unter den Teleosteern ein zu einem kompakten Körper verbunden), 1084 Fische (Pisces) den Stören und Lepidosteus zu. — Selten findet sich ein Kranz von kurzen Blind- därmen am Ende des Mitteldarms (Box). Der Mitteldarm funktioniert bei den Cobi- tiden, Callichthys, Monopterusu. a. neben- her als Luftatmungsorgan; in diesem Falle dringen Kapillaren bis dicht unter die Epithel- oberfläche vor. Die Atemluft wird durch den Mund aufgenommen und durch den After ent- lassen. Einen ähnlichen Funktionswechsel er- fährt der Magen bei gewissen Loricariiden (Fig. 35); bei den gymnodonten Plectognathen Fig. 35. Darm von Otocinclus. int Mitteldarm, st Magen, r Enddarm, oes Oesophagus. („Kugelfische") wird er zu einem über die ganze Bauchfläche sich ausdehnenden aufblasbaren Luftsack; gefüllt zwingt er den Fisch auf dem Rücken zu treiben, macht ihn aber durch die gleichzeitig bewirkte Spreizung der Hautstacheln für seine Feinde unangreifbar; zur Atmung hat er keine direkten Beziehungen. Leber. Die Leber ist eine umfangreiche, in mehrere Lappen zerfallende Drüse, deren Ausführgänge in den Stiel der Gallenblase (Ductus cysticus) münden, der dann als Ductus choledochus in den Mitteldarm, nahe hinter dem Pylorus, bei den Teleosteern vor, zwischen, hinter den Pförtneranhängen oder (Naseus) in einen von diesen, mündet. Die Leber der Fische ist eine netzig-tubulöse Drüse; diejenige von Ceratodus weist im feineren Bau Aehnlichkeit mit der Amphibien- leber auf (Bluntschli). Die Leber der Pe- tromyzon-Larven ist von sehr einfachem Bau, aus verzweigten Tubuli bestehend; bei der Metamorphose degeneriert sie, die Gallengänge, Gallenblase und der Mün- dungskanal in den Darm gehen verloren. Pankreas. DasPankreas, wohl allgemein vorhanden, ist entweder kompakt oder es besteht aus zerstreuten, dem Mesenterium eingelagerten und dem Lauf der Gefäße folgenden, oft in das Lebergewebe ein- gebetteten Follikeln. Bei Protopterus ist die Bauchspeicheldrüse in die Darmwand selbst eingelagert ; ähnlich bei P e t r o m y z o n , doch scheint dies pankreasartige Organ mehr den „Langerhansschen Inseln", die auch bei den Fischen im Pancreasgewebe nach- gewiesen sind, zu entsprechen (Oppel). En d darin. Der Enddarm der Teleosteer ist vom Mi teldarm oft nur undeutlich ge- schieden. Bei den Elasmobranchiern nimmt er einen kurzen Blindschlauch („finger- förmiges Organ", Fig. 33) auf. After. Der After liegt meist am hinteren Ende der Leibeshöhle, am Beginn des als Schwanz bezeichneten Körperabschnittes. Ausnahmsweise, so bei Fierasfer, der ein gleichsam sessiles Leben im Enddarm der Holothurien führt, bei Gymnotus electri- cus, wo die zum hauptsächlichen Bewegungs- organ gewordene Analis eine ungewöhnliche Ausdehnung beansprucht, wieder aus anderen Gründen bei den Amblyopsiden (s. u. bei Brutpflege!), ist er bis an die Kehle nach vorn verlagert. Ueber das Vorkommen einer „Kloake" s. unten S. 1088. 2I1) Kreislauforgane, et) Herz. Die nutritorischen und respiratorischen Gefäß- bezirke bilden bei den Fischen in der Regel ein einziges geschlossenes Kreislaufsystem (Fig. 37). Der einfache Herzvorhof (Atrium) empfängt das C02-reiche Körper- blut aus dem Sinus venosus, dieser aus hinteren und vorderen Cardinal venen, deren kurzem queren Verbindungsstück (Ductus Cuvieri) sich die Extremitätenvenen an- schließen; das mit Assimilationsprodukten beladene vom Darm zurückströmende Blut gelangt zunächst durch die Pfortader in die Leber, von hier durch Lebervenen eben- falls zum Venensinus. Auch die Niere hat meist ihren Pfortaderkreislauf, der ihr venöses Blut aus der Vena caudalis zuführt; sie gibt ihr Blut an die Cardinalvene ab. Die Herzkammer ist, wie der Vor- hof, einfach; nach vorn schließt sich ihr bei den Elasmobranchiern ein aus quer- gestreifter Muskulatur gebildeter, mit mehreren Reihen taschenförmiger Klappen ausgestatteter Conus arteriosus an; der- selbe erhält sich, etwas vereinfacht, bei den Chondrosteern, Crossopterygiern (9 Klappen- reihen bei Polypterus), Dipnoern und Hol- osteern, bei Teleosteern nur gelegentlich als eine (Osteoglossum, Notopterus) oder zwei (B u t i r i n u s) Klappenreihen ein- schließendes Rudiment (Fig. 36). Statt seiner findet sich bei Teleosteern, schwächer bei Holosteern, auch bei Cyclostomen, eine zwiebeiförmige, nur mit glatten Muskel- fasern ausgestattete Verstärkung des Aorten- ursprunges („Bulbus aortae"). Aus dem Conus bezw. Bulbus gelangt das (C02-reiche oder „venöse") Blut in die unter den Copulae verlaufende Aorta ascen- dens; dieselbe gibt eine den Bögen ent- sprechende Zahl vonzuführen den Kiemen- gefäßen beiderseits ab, deren Zweige sich in den Fiedern der Kiemenblättchen auf- lösen; die sich sammelnden abführenden Kiemengefäße verbinden sich bei Te- Fische (Pisces) 1085 leostomen oberhalb der Kiemenb'ögen j euer- seits zu Längsstämmen; durch deren hintere Vereinigung zur Aorta descendens und durch eine vordere Querverbindung kommt meist ein sogenannter Circulus cepha- licus zustande, von dem aus Arterien zu den Kopi'organen (Arteria carotis int. und ext.) abtreten. Das abführende Gefäß des IL Bogens setzt sich gewöhnlich ventral- wärts in eine Arterie zur unteren Mund- und Rachenwand und zum Herzen fort (Hypobranchialarterie). Bei den Selaehiern entsprechen jedem Kiemenbogen 2 (mehr- fach anastomosierende) abführende Gefäße, von denen das vordere jedes Bogens sich a b c Fig. 36. Längsschnitte durch das Herz a) eines Selachiers, b) von Amia, c) eines Teleostee.rs. Schematisch, a Vorhof, s Venensinus, v Ven- trikel, b Bulbus aortae; der Conus schraffiert. Nach Boas. mit dem hinteren des voraufgehenden je- weils zu einem Epibranchialgefäß verbindet, das hier in eine unpaare der Kopfregion angehörige Fortsetzung der dorsalen Aorta mündet (Fig. 37 ao'). Bei Chlamydo- selachus und den Holocephalen sind die abführenden Gefäße einfach, die Dipnoer dagegen bewahren sie doppelt; auch bei Teleosteern finden sie sich gelegentlich (Saccobranchus) teilweise verdoppelt. - Die Aorta descendens, unter der Wirbel- säule nach hinten, als Arteria caudalis bis ans Schwanzende verlaufend, gibt paarige Arterien an die Extremitäten, Nieren und Gonaden, unpaare (A. coeliaca, A. mesen- terica) an den Darm und seine Anhänge ab. Wo eine Hyoid- oder Opercularkieme funktio- niert, empfängt sie ebenfalls „venöses" Blut aus der Aorta ascendens (Elasmobranchier, Proto- pterus, Lepidosteus). Bei den Teleosteern bildet sich das entsprechende Gefäß (Arteria hyoidea), der zweite der 6 embryonal angelegten Aortenbögen, frühzeitig zurück; die vor dem Hyoidbogen veraufende Arteria hyomandibularis gewinnt Anschluß an das ventrale Ende des ab- führenden Gefäßes des I. Bogens und gibt den Zusammenhang mit dem Truncus arteriosus auf (Maurer); von ihr wird die Pseudobranchie mit Fig. 37. Gefäßsystem von Mustelus. Ventral- ansicht, die Kiemengefäße rechts nach außen zurückgeschlagen, dabei die zuführenden (a) am Ursprung durchtrennt; r abführende Kiemen- gefäße, ps Spritzlochkieme, ac, pc vordere und hintere Carotis, ao, ao' Aorta, abr Arteria brachialis ahbr A. hypobranchialis, a il A. iüaea, ac A. caudalis; rpc, Jpc rechte und linke hintere Cardinalvene, vj Jugularvene, de Ductus Cu- vieri, vp Pfortader, np Nierenpfortader, lv Lateralvene, int Darm, h Leber, n Niere, g Gonade. Venen hell. Arterien schwarz, Herz (v) und zuführende Kiemengefäße schraffiert. Nach Figuren von T. J. Parker. 1086 Fische (Pisces) Blut versorgt, doch erhält dieselbe oft zugleich einen Ast vom Cireulus cephalicus, oder es bleibt nur diese letztere Verbindung bestehen (Esox); von der Pseudobranchie gelangt das Blut durch die Arteria ophthalmica magna nur zur Chorioi- dealdrüse des Auges und durch diese zur Chorioi- dea. In ähnlicher Weise empfängt die Spritz- lochkieme der Selachier arterielles Blut von der vordersten Halbkieme her; ihr abführendes Gefäß, obwohl es auch einen Ast zum Auge sendet, kommuniziert aber mit den inneren Carotiden. Die Schwimmblase erhält arterielles Blut meistaus der Aorta (durch die Arteria coeliaca und Inter- costalarterien, vgl. o. S. 1082), bei Amia vom IV. abführenden Kiemengefäß ; sie gibt es hier an die Vena hepatica ab. — Bei Poly- pterus sind trotz Vorhandenseins der Lunge alle Kiemenbügen mit respiratorischen Wunder- netzen ausgestattet; das IV. abführende Ge- fäß, mit dem III. kommunizierend, sendet die Arterie zur Lunge. Das Lungenblut kehrt durch paarige Venen, die nahe dem Sinus venosus in die Lebervenen münden, zum Herzen zurück. Die Außenkieme empfängt venöses Blut aus einem dem zur Operkularkieme gehenden ähn- lichen Gefäß (Arteria hyoidea). Eine Sonderstellung nehmen die Dipnoer ein, da bei ihnen das in der Lunge mit Sauerstoff an- gereicherte Blut durch eine Pulmonalvene in die durch ein wulstiges Septum von der rechten, in welche der Sinus venosus mündet, unvollkommen geschiedene linke Vorhofhälfte geführt wird. Auch im Conus bleiben die Blutsorten durch ein aus einer vergrößerten Klappenreihe gebildetes Längsseptum so geschieden, daß den vorderen Kiemenbögen mehr arterielles, den hinteren venöses Blut zugeführt wird. Ersteres geht bei Protopterus (Fig. 38) durch die der re- rEuN. Fig. 38. Kiemenzirkulation von Protopterus. ao zuführendes Gefäß der opercularen Blättchen- reihe, a I bis IV zuführende Kiemengefäße, ae Fortsetzungen derselben zu den äußeren Kie- men; r III und IV abführende Kiemengefäße (doppelt, nach neueren Befunden); ad dorsale Aorta, ap Pulmonalarterie. Nach Peters 1845. spiratorischen Wundernetze entbehrenden Bögen I und II direkt zur Aorta; letzteres gelangt hier- hin bezw. in die Lungenarterie erst nach Pas- sierung der inneren und äußeren Kiemenblätt- chen. So ergibt sich hier ein unvollkommener doppelter Kreislauf. Ein unvollkommenes Vor- hofseptum findet sich auch bei Chimaera (Ray Lankester, Trans. Zool. Soc. 1879). Hinneigungen zur Sonderung eines eigenen respiratorischen vom Körperkreislauf finden sich ferner bei verschiedenen Teleosteern mit akzessorischen Luftatmungsorganen. So er- hält das Kiemenlabyrinth der Osphromeniden Blut aus den abführenden Gefäßen des I. und IL Bogens und entsendet es, oxygenisiert, durch die Jugularvenen direkt zum Herzen (Henninger, Zool. Jahrb., Abt. f. Anat., Vol. 25, 1907); ganz ähnlich sind der respirierende Rachenbezirk von Ophiocephalus und die Atemsäcke von Amphipnous in den Kreis- lauf eingeschaltet; wobei sich, beiletzterem weiter- gehend als bei ersterem, durch Unterdrückung der Kiemenkapillaren echte „Aortenbögen" aus- bilden (Hyrtl). Bei Otocinclus gelangt von dem als Lunge dienenden Magen, bei gewissen Erythrinus und bei Sudis von der zelligen Schwimmblase (Jobert, Ann. Sc. nat. (6), Zool., Vol. 5 u. 7) arterielles Blut direkt zum Herzen. Bei Gymnarchus erhält die Schwimmblase Blut aus dem III. und IV. (nicht an der Bildung der Aortenwurzeln beteiligten) abführenden Kiemengefäß; das aus ihr durch eine Vene zurückgeführte arterielle Blut soll in der linken Herzhälfte von dem aus dem (rechten) Ductus Cuvieri zugeführten venösen gesondert bleiben (Assheton). Das Herz der Fische wirkt vorwiegend als Druckpumpe; da aber schon beim Passieren der Kiemenkapillaren, (die zwar an Feinheit denen der Lungen nachstehen), die dem Blute erteilte Beschleunigung teil- weise verbraucht wird, so sind verschiedene andere Faktoren in den Dienst der Blut- bewegung gezogen: die durch kontraktionen hervorgerufenen minderungen im Perikard, die auf das Venenblut wirken sollen, die Atem a. (vgl. Schön lein, Zeitschr. die Herz- Druckver- ansaugend bewegungen u f. Biologie 1896, Kolff, Arch. ges. Phys Vol. 122, 1908). - - Die Blutkörperchen sind stets kernhaltig, bei den Ccylostomen kreis- rund, sonst oval, 0,005 bis 0,023 mm groß. Die Arterialisierung des Blutes erfolgt nor- malerweise in den Kiemenblättchen durch Diffusion des im Wasser gelösten Sauerstoffs. DasO-Bedürfnis der Fische ist im allgemeinen sehr gering; nach Winterstein (Arch. ges. Physiol. Vol. 125, 1908) vermag Leuciscus noch bei einem O-Druck von 2,2% Atm. (einem O-Gehalt von 0,7 ccm pro Liter entsprechend) zu leben, erträgt aber durch- aus nicht völlige O-Entziehung; gegen Zu- nahme des COa-Druckes sind Fische sehr empfindlich. Mark (Bull. Mus. Comp. Zool. Vol. 19, 1890) vertritt nach Studien an Lepidosteus die Ansicht, daß die Schwimm- blase hier wesentlich der O-Versorgung, die Kiemen der CCVAbscheidung dienen. Fiseln' (Pisces) 1081 ß) Lymphgefäßsystem. Auf das Lymphgefäßsystem kann nicht näher einge- gangen werden ; es steht mit dem Venensystem meist ausgiebig in offener Verbindung. Bei den Cyclostomen scheinen besondere Lymph- gefäße ganz zu fehlen, die Venen treten mit weiten Sinus direkt in Verbindung (Mo z e j k o) ; angesichts der embryologisch nachgewiesenen Entstehung des Lymphgefäß- aus dem Venen- system darf dieser Zustand wohl als Ent- wickelungshemmung betrachtet werden. Bei Selachiern kommen, nach P. Mayer, in der Haut konstante Lymphbahnen nicht vor, desgleichen keine besonderen Chylus- gefäße am Darm; der Chylus wird von Venen aufgenommen, die sich streckenweise durch besondere Sphincteren von der all- gemeinen Zirkulation abschließen können. Lymphherzen finden sich im Schwanz vieler Teleosteer (Favaro); auch die Atembe- wegungen sollen den Uebergang der Lymphe aus den Kopfsinus in die Jugularvenen beeinflussen (Jossifov). Die Milz findet sich in der Regel in der Nähe des Magens ; bei den Elasmobranchiern zerfällt sie oft in mehrere Portionen; bei den Dipnoern und Cyclostomen ist sie nicht als besonderes Organ individualisiert, sondern wird durch lymphoides Gewebe in der Darm- bezw. Magenwand selbst vertreten. 2i) Cölom und Urogenitalsystem. a) Kör per höhlen. Als Körperhöhlen sind zu unterscheiden die das Herz einschließende Pericardialhöhle und die abdominale, eigentlicheLeib es höhle. Ein Zwerchfell fehlt. Bei den Myxinoiden und beim Stör steht das Perikard mit der Abdominalhöhle in offener Verbindung. Bei gewissen Selachiern (meist, aber nicht ausschließlich, solchen ohne offene Nephrostomen, s. u.), den Holocephalen. Ceratodus, den Ganoiden, sowie einigen Teleosteern (Salmoniden, Mormyriden), kom- men porenförmige Durchbrechungen der Leibeswand nahe der Urogenitalöffnung vor; die Bedeutung dieser ,, Abdominalporen" ist ungewiß. ß) Exkretionsorgane. Nieren. Die Exkretionsorgane sind bemerkenswert durch das häufige Bestehenbleiben mehr oder minder umfangreicher Teile der sogenannten Vorniere; das hauptsächliche Exkretions- organ ist die Urniere. Die Urniere der Selachier, deren vorderer Teil als sogenannte Geschlechtsniere zum Hoden in Beziehung tritt, besitzt ge- wöhnlich Kanälchen mit ins Cölom sich öffnenden trichterförmigen Mündungen, Nephrostomen (Ausnahmen : C a r c har i as, Mustelus, Raja u. a.). In jedem Falle treten die Kanälchen zu Malpighi sehen Körperchen in Beziehung, die einen arteriellen Gefäßknäuel (Glomerulus) umschließen. Die segmentale Anordnung wird im definitiven Zustande aufgegeben. Die Vorniere tritt nur in rudimentärer Form auf. Die Harnleiter münden in eine Kloake. Bei den Teleosteern ist die Vorniere oft völlig degeneriert; sie besteht aber dauernd bei Fierasfer (Emery), Dactylopterus, Zoarces und Lepadogaster. Auch die Urniere, an der ein vorderer, mittlerer und hinterer Abschnitt unterschieden wird, kann sich posteardial bedeutend entfalten (Cypri- niden, Siluriden). Offene Trichter kom- men nie vor; bisweilen schwinden selbst die Urnierenglomeruli (L o p h i u s , nach Audi g e), es kann in solchem Falle der Vornieren- glomus zum funktionell (als Filtrations- apparat) wichtigsten Teil der Niere werden (mehrere Lepadogaster-Arten, nach Gruitel); die Seenadeln haben nur rechts wenige blind geschlossene Harnkanälchen, keinen Glomus oder Glomeruli (Huot). Die Harnleiter vereinigen sich meist zu einer Harnblase, deren Ausführgang (Urethra) hinter den Gonoducten, meist getrennt von diesen und dem Darm, ausmündet. Bei den Chondrostei, Holostei und Crosso- pterygii wird eine geringe Zahl von Vor- nierenkanälchen angelegt (8 bis 11 bei Ami a, 5 bei Polypterus, von denen sich 2 lange erhalten), deren Trichter bald ins Cölom, bald in eine besondere Vornierenkammer münden. Calamoichthys bietet den Fall des Nebeneinanderbestehens von Vor- und Urnierenkanälen in einigen Leibesseg- menten; gewöhnlich sind sie durch einen kleineren oder größeren Zwischenraum von- einander getrennt. Offene bewimperte Nephrostomen der Urniere bestehen bei den Stören und bei Amia. — Bei den Dipnoern werden jederseits 2 Vornierentrichter an- gelegt, die in eine vom Cölom unvollkommen gesonderte Vornierenkammer münden. Die Urnierenkanälchen haben keine offenen Ne- phrostomen; die Harnleiter münden hier in eine Kloake, unabhängig von ihnen ist eine „Harnblase", die vielleicht dem finger- förmigen Blindsack der Selachier homolog ist.-- Bei den Petromyzonten werden f> Vor- nieren kanälchen angelegt (im 4. bis 9. Seg- ment), doch deutet die Entstehungsweise des Vornierengangs von der Splanchnopleura aus auf eine ursprüngliche Erstreckung dieses Systems weiter caudalwärts; die Kanälchen sehen nach Ausbildung der Urniere (bei der Larve) zugrunde; die Urnierenkanälchen beginnen blind mit Malpighi-schen Körperchen; die Vor- bezw. Urnierens'änse münden zunächst in den Enddarm, im definitiven Zustand hinter diesem in den ürogenitalsinus. Bei den Myxinoiden erhalten sich (lauernd Reste der Vorniere, deren Trichter sich ins Pericard öffnen. Die Anlasen der Vorniere reichen bei Bdellostoma anfänglich bis vor die 1088 Fische fPisces) Kiemenregion, später bilden sie sieh im Be- reich der letzteren zurück, immerhin erinnert dies embryonale Verhalten an den bei Amphi- oxus permanenten Zustand (vgl. Bd.I S.362). y) Urogenitalsystem. Hoden. Ova- rien. Die Fische sind in der Regel getrennt- geschlechtlich. Hoden oder Ovarien liegen entweder frei, der dorsalen Cölomwand an- geheftet oder sie bilden sackförmige Hohl- organe. Ersteres gilt für die Elasmo- b ran einer, deren Hoden ihren Inhalt durch die Kanälchen des vorderen Urnieren- abschnitts (s. o.) entleeren, während die weit vorn liegenden Ovarien die Eier durch das ins Cölom mündende Ostium des Müller- schen Ganges (Ovidukts, s. u. S. 1090) nach außen entlassen (sie verhalten sich hierin also prinzipiell wie die Amphibien, s. Bd. I, S. 328). Stets (außer bei den Holocephalen) münden die Gonodukte mit den Harnleitern und dem Enddarm in einen gemeinsamen Raum, die Kloake. Bei Laemargus borea- lis fehlen in beiden Geschlechtern eigent- liche Gonodukte; deren Stelle scheinen hier die Abdominal- poren zu vertreten. Unter den Teleo- steern haben nur die Salmoniden, Galaxi- iden, Muraeniden, und wenige andere freie Gonaden, deren Pro- dukte durch mehr oder minder ausgebil- dete trichterartige Pe- ritonealfalten zu den hinter dem After ge- legenen Genitalporen (nicht Abdominal- poren!) geleitet wer- den (Fig. 39). Bei der Mehrzahl gehen die langen sackförmig - ov ov int-\ Fig. 39. Weibliche Ge- schlechtsorgane von Mallotus villo su s. ov Ovarien, p Peritoneal - trichter, int Darm, a After, pg Genital-, pu Urethralöffnung. Nach M. Weber, Morpho- logisches Jahrbuch , Vol. 12. geschlossenen Ovarien nach hinten allmäh- lich in Ovidukte, ana- log die Hoden (Fig. 34) in Samenleiter über, die, zu einem unpaaren Gang ver- schmolzen, hinter dem After, oft auf einer Urogenitalpapille. münden (die Beziehungen dieser Gonodukte zu denen der Selachier und Amnioten sind noch strittig; ontogenetisch zeigen sie keine Beziehungen zu den Nieren- systemen: nach B. Haller wären die Peritonealtrichter der Salmoniden gleich- wohl Müllerschen Gängen homolog). Nur Eileiter ein Selachiern). Polypterus ausnahmsweise (bei gewissen Loricariiden und bei Hippocampus) münden sie mit dem Darm und den Harnleitern gemeinsam, häufiger nur mit den letzteren vereinigt. Von den Holostei hat Lepidosteus sackförmige. Amia freiliegende Ovarien; die trichterförmigen Ovidukte dieser und der Sturionen haben keine Beziehung zur Vorniere, sind also wahrscheinlich keine Müllerschen Gänge; die Hoden indessen bewahren die Verbindung mit dem caudalen Nierenabschnitt. Bei den Dipnoern ver- hält sich der Hoden ebenso, dagegen ist der Müllerscher Gang (wie bei Der männliche Apparat von nähert sich sehr dem der Teleosteer, der Samenleiter mündet erst in den Endabschnitt des Harnleiters: ähnlich verhält sich der kurze Ovidukt, dessen weites Ostium die ins Cölom fallenden Eier des freiliegenden Ovars aufnimmt. Die Gonaden der Cyclostomen sind unpaar, freiliegend, Eier und Spermien werden aus der Leibes- höhle durch Genitalporen, die in einen Urogenitalsinus münden, entleert. Wie im Mangel der Urogenitalverbindung, so stimmen Teleosteer und Cyclostomen in der Hinneigung zum Hermaphroditismus überein. In den Gonaden von Myxine kommen Eier und Spermien zugleich vor, doch sind stets überwiegend männliche oder weibliche Tiere zu unterscheiden, auch sterile kommen vor (Schreiner). Unter den Teleosteern ist Zwittertum konstant bei Serranus und Chrysophrys, häufig bei Pagellus, Box, Charax u. a., als Anomalie bei Gadus, Clupea, Scomber, Perca u. a. m. anzutreffen (M. Weber). In der Regel werden die Eier frei ins Wassei abgelegt und in diesem befruchtet. Nicht wenige Fische aber sind vivipar, so viele Selachier (Mustelus, Carcharias u. a.) und Teleosteer (Zoarces, Clinus, Cyprinodonten, Embiotociden u. a.). Die Er- nährung der Embryonen erfolgt bei jenen im erweiterten und mit Zotten versehenen hinteren Abschnitt des Eileiters (sogenannten Uterus), bisweilen vermittels placentaartiger, von dem gefäßreichen Dottersack aus- gehender Bildungen („Dottersackplacenta"); bei den Teleosteern im Ovarialsack selbst, sei es innerhalb, sei es außerhalb der Follikel (Zoarces) durch von diesen gelieferte ]Nähr- flüssigkeiten (vgl. Stuhlmann, Abhandl. d. naturw. Vereins Hamburg, Vol. io, 1887). Bei Lucifuga und Stygicola entstehen die Eier in Nestern von mehreren Hunderten; von diesen gelangt aber je nur ein Ei zur Reife, die übrigen degenerieren und werden von jenem bezw. dem Embryo als Nähr- material verbraucht; es entwickeln sich gleichzeitig 2 — 15 Embryonen (Eigenmann und Lane 1909). — Die Elasmobranchier. Fische (Pisces) 1089 deren Eier stets im Eileiter befruchtet wer- den (auch bei den Oviparen, mit einer Aus- nahme, s. u.) besitzen stets Begattungs- organe, die in mehr oder minder engen Beziehungen zu den Bauchflossen stehen und mit akzessorischen Drüsen ver- sehen sind. Bei den Teleosteern bestehen die Begattungswerkzeuge aus modifizierten Strahlen der Afterflosse (so bei Cyprin- odonten, wo sie zur Uebertragung eines Spermapakets ■ — Spermatophore — in die Geschlechtsöffnung des $ dienen) oder sie erscheinen als vergrößerte, oft ziemlich komplizierte Urogenitalpapillen (Clinus, Stygicola u. a.). Die Beteiligung der erektilen Afterflosse von Polypterus bei einem Begattungsakt wird vermutet, ist aber nicht erwiesen. — Weiteres über Begattungs- und über Brutpflegegewohn- heiten siehe unter „Bionomie" (S. 1096). 3. Embryologie. 3a) Geschlechts- produkte. Hinsichtlich der Größe, Dotter- begabung und Schutzeinrichtungen der Eier bestehen beträchtliche Verschiedenheiten. Sehr große und dotterreiche Eier, in geringer Menge, bringen die Selachier hervor (Fig. 40a); sie sind von mannigfaltig gestalteten hornartigen „sekundären" Schalen um- schlossen, die von einem bestimmten Ab- schnitt des Eileiters, der Schalendrüse, geliefert werden. Nur Laemargus borealis ohne Hornschalen ab, die Körpers des ? befruchtet intrauterine Entwickelung die Schalen zart und gehen vor der Geburt ziurrunde legt kleine Eier außerhalb des werden. Wo statthat, sind meist schon (Scymnus, Acanthias); zwischen dem Ei und der Hornschale befindet sich eine Eiweißschicht. — Die Eier der Ganoiden Fig. 40. Eier a) von Scyllium sp. (1:2). Nach Günther, b) von Myxine glutinosa (natür- liche Größe). Nach Dean. und üipnoer sowie die der Petromyzonten sind klein und ziemlich dotterarm, die der Myxinoiden dagegen wiederum sehr dotter- reich (2 bis 3 cm lang), von derber gelblicher Schale umgeben, an beiden Enden mit Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. ankerförmigen, ihre wechselseitige Verbin- dung bewirkenden Fortsätzen versehen (Fig. 40b) — Die nur von der („primären") Eimembran umgebenen, meist kugeligen Eier der Teleosteer schwanken in der Größe meist zwischen 6 mm (Lachs) und 1 mm (Hering); die größten, von 17 bis 18 mm, dürfte Arius commersoni erzeugen. Im allgemeinen kann hier gelten, daß kleinere Eier in um so größerer Menge (beim Kabljau mehrere Millionen, bei größeren Süßwasser- fischen immerhin mehrere Hunderttausend), sehr dotterreiche oder solche, die sich im mütterlichen Körper oder unter besonderer Pflege entwickeln, in geringer Zahl (1000 bis 2000 bei der Forelle, 60 bis 80 beim Stich- ling) hervorgebracht werden. Sie sind teils Grundeier, teils pelagische; in letzteren finden sich zur Verringerung des spezifischen Ge- wichts Oeleinschlüsse (Heringe, Plattfische u. v. a.), bei ersteren oft Einrichtungen zur Befestigung. Die Eimembran besitzt eine Oeffnung zum Durchtritt des Spermiums (Micropyle); nach der Befruchtung ent- steht zwischen der Eimembran und der Eizelle ein mit Flüssigkeit erfüllter „peri- vitelliner Raum". Polyspermie kommt bei Teleosteern nicht vor, regelmäßig aber bei Plagiostomen und Holocephalen (vgl. den Artikel „Ei und Eibildung"). 3b) Entwickelung. Die Verschiedenheit der ersten Entwickelungsvorgänge ist vor- wiegend durch den verschiedenen Dotter- gehalt der Eier bedingt. Die Furchung ist partiell (discoidal) bei den Elasmobranchiern (mit Ausnahme von Cestracion und, nach Deans Auffassung, auch von Chimaera), Teleosteern, Holosteern und Myxinoiden, jedoch in ungleichem Maße; totale inäquale Furchung findet sich bei den Petromyzonten (Fig. 46), Acipenseriden und Dipnoern; total und in den ersten Stadien nahezu äqual ist sie bei Polypterus (Budgett-Kerr). — Bei den Plagiostomen liegt der um- fänglichen Nahrungsdottermasse eine Keim- scheibe von durchschnittlich 2 mm Durch- messer auf, welche die beiden Vorkerne enthält. Die ersten Blastomeren sind un- vollkommen vom Dotter gesondert, später besteht das Blastoderm aus oberflächlichen Schichten von freien und einer tieferen Schicht mit dem Dotter zusammenhängender Blasto- meren; zwischen ihnen entsteht die Fur- chungshöhle. Die Dottermasse enthält während dessen zahlreiche sehr große Kerne, teils ausgewanderte Blastodermkerne, teils Kerne überzähliger (nicht zur Befruchtung gelangter) Spermien, die nach vollzogener Befruchtung aus der Keimscheibe in den Dotter gedrängt werden und sich dort ganz analog der ersteren Art von Periblastkernen verhalten. An dem Blastodermrande, der dem Hinterende des werdenden Embryos 69 1090 Fische (Pisces) entspricht, erfolgt die Urdarmeinstülpung, Urnierengang, der die aus dem Verbindungs- die zur Bildung der in einen axialen Teil und stück von Urwirbeln und Seitenplatten in periphere Räume gesonderten Gastral höhle führt (Fig. 41); sie sind dorsal vom eigentlichen Entoderm, ventral von der (Nephrotom) hervorgegangenen Urnieren- kanälchen aufnimmt; nur die letzteren erhalten Glomeruli und üben die Nieren- Entoderm, ungefurchten Dottermasse begrenzt, zwischen funktion aus ; beim $ degenerieren die vor- ihnen liegt der letzteren das (mit dem j dersten (1 bis 9) Urnierenkanälchen, beim Entoderm zunächst fortlaufend verbundene] ^treten sie als Nebenhoden zum Geschlechts- organ als dessen ausführendes Kanalsystem in Beziehung. Die Urgeschlechtszellen liegen vor- nehmlich im proximalen Blatt der Seitenplatten (Splanchno- pleura), später auf den „Keim- drüsenfalten" jederseits neben dem dorsalen Mesenterium. Das Binde- und Skelettgewebe entstammt dem an der Grenze von Urwirbeln und Seitenplatten aus dem Mesoderm auswuchern- den Mesenchym. Die Urwirbel (Myo- tonie) geben wesentlich der Rumpf- muskulatur den Ursprung, in die Ex- tremitätenanlagen entsenden sie Muskel- knospen, aus denen die Flossenmuskulatur Fig. 41. Medianschnitt der Gastrula von Torpedo, fh Rest der Furchungshöhle, der sich noch auf dem in Figur 42 dar- gestellten Stadium als Blastocölknopf äußerlich bemerkbar macht; gh Gastralhöhle; Dotter bezw. Periblast schraffiert. Nach H. E. und F. Ziegler. hervorgeht; das Verhalten dieser Knospen und ihm zuzurechnende) Dotterepithel dicht auf. Das Mesoderm wuchert entlang einer rinnenförmigen Einsenkung teils aus dem axialen Entoderm (Mesodermstreifen), teils aus dem peripheren aus. Median sondert sich aus ersterem die Chorda durch einen (wenig deutlichen) Faltungsvorgang aus. Ein nach der Chorda und unter dieser sich abschnürender Gewebsstrang, die Hypo- chorda, erinnert an die Epibranchialrinne des Amphioxus, dehnt sich aber allerdings weit über den respiratorischen Darmabschnitt nach hinten aus. Das Rückenmark (Medullär - rohr) bildet sich durch deutliche Aufwärts- faltung und dorsomediane Verlötung der Ränder der Medullarplatte; der dem Gehirn entsprechende Teil schließt sich oft erst nach- dem schon die Ausstülpung der Augenblasen begonnen hat (Squalus). Durch mediane Verwachsung der das Hinterende der Medullarrinne flankierenden Schwanzlappen des Blastoderms über dem Blastoporus entsteht der Canalis neurentericus. Die Spinalganglien entstehen von die Ränder der Medullarplatte begleitenden Nerven- 1 und das Auftreten eines modifizierten Epithel- leisten aus, von denselben auch die Streifs zwischen den Anlagen der Brust- meisten Gehirnnerven (außer Oculomotorius, | und Bauchflossen sprechen für einen ur- Trochlearis, Abducens und Hypoglossus, die | sprünglichen Zusammenhang letzterer. Das nach Art der ventralen Wurzeln des Rücken- Herz entsteht marks selbständig aus dem Medullarrohr auswachsen). Das axiale Mesoderm sondert sich in die metameren Urwirbel und die Seitenplatten, in welch letzteren die Leibes- lagen; seine höhle auftritt (Fig. 43); am oberen Rande Muskulatur von derselben entstehen in der vorderen Körper- der Splanchno- region wenige Kanälchen, die Vorniere pleura her. Das repräsentierend. Ihre distalen Enden ver- periphere Meso- einigen sich zum Vornierengang; derselbe sondert sich später in 2 Gänge, den Müller- schen Gang, der mit dem durch Verschmel- zung der inneren Vornierenmündungen ent- standenen Ostium abdominale in Verbindung bleibt und beim $ als Oviduct dient, und den Fig. 42. Blastoderm von Torpedo mit vor- geschrittener Embryonalanlage, mh Mittelhirn, kg Kiemenregion, sl Schwanzlappen; das Me- dullarrohr ist hinten noch nicht geschlossen; k Blastocölknopf, bl Blutinseln Nach Ziegler. aus paarigen mesenchyma- tischen An- derm bildet zu- nächst am Blastoderm- rande rundliche Verdickungen; diese .,Blut- Fig. 43. Querschnitt durch den in Figur 42 abgebildeten Embryo in der durch die punktierte Linie markierten Ebene, ec Ektoderm, m Me- dullarrohr, eh Chorda, d Darmhöhle, my Myotom, sp Seitenplatten. Nach Ziegler. Fische (Pisces) 1091 inseln" (Fig. 42 bl) bilden sich in Gefäßwan- dungenund Blutkörperchen um und liefern das Gefäßnetz des Dottersackes ; dieses empfängt Blut aus einer an der rechten Vorniere aus der Aorta entspringenden, vor dem Kopfe sich gabelnden Dotterarterie und sendet es durch zwei, nach vollständiger Umwachsung des Dottersacks durch das Blastoderm sich zu einer verbindende, in die Subintestinal- vene mündende Dottervenen zum Herzen zurück; die Dottervene wird später zur Pfortader der Leber. Indem das gastrale sich von dem Dotterentoderm sondert, zieht sich das Verbindungsstück des Dotter- sacks mit dem Darm zu einem langen, hinter der Leberanlage in den Darm mündenden Dottergang aus; der im Cölom gelegene Teil dieses Gangs erweitert sich vorübergehend zu einem inneren Dottersack; von hier gelangt der Dotter in den Spiraldarm, wo er resorbiert wird. Bei Chimaera enthält der Dottersack nur einen Teil des Dotters, die Hauptmasse unterliegt einer Fragmentation, wird auf- gelöst und vornehmlich durch die äußeren Kiemenfäden des Embryo (Fig. 44) auf- gesogen (Dean). Fig. 44. Aelterer^ Embryo (6 cm) von Callo- rhynchus. ds Dottersack (abgeschnitten), r Ro- strum, v Bauchflosse; die Brustflosse durch die Kiemenfäden zum Teil verdeckt. Nach Schau - insland. a b Fig. 45. Ei von Crenilabrus. A unbefruchtet, B V/i Stunde nach der Befruchtung. Schema- tisiert, ch Eimembran, do Dotter, ks Keim- scheibe, bl Blastoderm, p Periblast. Nach J. H. List, Auch bei den Teleosteern verdickt sich die zarte, die Dotterkugel einhüllende Plasmaschicht einseitig zu einer Keim- scheibe (Fig. 45a, ks); in dieser allein spielt sich der Furchungsprozeß ab, der zu einer zunächst ein-, später mehr- schichtigen Blastomerenplatte (Fig. 451)1 führt, deren randständige Elemente mit dem Dotter in Verbindung bleiben, wäh- rend die zentralen sich von ihm unter Bildung einer flachen Furchungshöhle ab- heben; hauptsächlich von den Randzellen aus findet die Bildung der Periblastkerne statt, die in einer mit dem Dotter ohne scharfe Grenze zusammenhängenden unge- furchten Plasmamasse liegen, sich hier unter Bildung mehrpoliger Mitosen oder amitotisch vermehren und nach bedeutender Größen- zunahme endlich degenerieren. Das Blasto- derm ist außen von einer flachen kernhaltigen ,, Deckschicht" überzogen, die am Rande in den „Keimwall" des Periblasts übergeht. Bei der sogenannten Gastrulation schlägt sich der hintere und mediane Teil des Blasto- dermrands nach innen gegen den Periblast ein, eine offene Einsenkung und eine Gastral- höhle entstehen nicht, die Deckschicht zieht glatt über die anzunehmende Invaginations- stelle fort. In Anbetracht der geringeren Größe der Dotterkugel erfolgt ihre Um- wachsung auf viel früheren Stadien als bei den Selachiern. Das Rückenmark bildet sich durch Ausschaltung einer soliden Zell- platte aus dem Ektoderm, die erst nach ihrer Trennung von diesem, zuerst im Bezirk des primären Vorderhirns, ein Lumen ge- winnt, Das Entoderm, die Chorda und das Mesoderm sondern sich durch Abspaltungs- prozesse aus der invaginierten unteren Schichte des Blastoderms. Aus dem Ento- derm bildet sich der Darmkanal, zunächst als solider Strang, der Periblast nimmt nicht daran teil; nur in der Gegend der Leber- anlage bleibt der Darm mit der Dotterkugel unmittelbar in Berührung, doch wird in der Regel der Dotter nicht in den Darm aufgenommen, sondern durch die Dotter- gefäße resorbiert. Ein gestielter Dottersack entsteht nur ausnahmsweise bei dem auch sonst sich in mancher Hinsicht aberrant (amphibienmäßig, nach As s he ton) ver- haltenden — Gymnarchus. Eine Lichtung im postanalen Darm und ein Canalis neur- entericus treten nie auf; am Ende des ersteren erscheint frühzeitig, aber vorüber- gehend, eine Höhlung, die Kupffersche Blase. Die Urwirbel erhalten nie ein Lumen, im Kopf bezirk zeigt das ^Iesoderm nie Segmentation: vom unteren Ende der Ur- segmente aus entstehen medialwärts die (mesenehymatischen) Skierotome, die das skeletogene Gewebe liefern. Der Dottersack erhält Blut, das von der Vena subintestinalis zuerst der Leber zugeführt wurde, von dieser her; die Dottervene geht über die linke Seite des Dottersacks zum Sinus venosus. Im Bereich der vordersten Urwirbel (3. bis 7.) schnürt sich jederseits vom medialen Rand der Seitenplatten ein Divertikel ab, die Vornieren kammer, mehreren verschmolzenen 69* 1092 Fische (Pisces) Vornierenkanälchen entsprechend; in die- selbe stülpt sich ein Glomns ein, der von einem Aortenast gespeist wird; die Vornierengänge schnüren sich von den Seitenplatten ab und münden auch hier zunächst in den Enddarm; ein Divertikel des letzteren, nahe ihrer Einmündung, bildet die Harnblase, die sich später vom Enddarm entfernt. Mit dem Vornierengang treten auch die Urnieren- kanälchen in Verbindung; zur Abspaltung eines Müll er sehen Gangs kommt es nicht; die Vorniere bildet sich in der Regel post- embryonal zurück. Von den Ganoiden schließt sich den Teleosteern zunächst Lepidosteus, dann Amia an. Bei letzterer durchschneiden einige Furchen (die 1. bis 3.) die Dottermasse. Bei der Gastrulation wird eine niedrige Urdarmhöhle sichtbar, hinsichtlich der Deck- schicht des Blastoderms, der Periblast- bildung, der soliden Anlage des Medullar- rohrs usw. besteht naher Anschluß an die Knochenfische. — Die Acipenseriden und Dipnoer zeigen in den ersten Entwickelungs- vorgängen ausgesprochene Hinneigung zum Verhalten der Amphibien. Die Eier des Störs sind bräunlich pigmentiert, mit mehreren Micropylen versehen und von einer dünnen Schleimhülle umgeben: hinter dem ein- dringenden Spermium bleibt (wie bei Am- phibien) eine Pigmentbahn zurück, deren Verlauf die 1. Furchungsebene bestimmt. Die Zerklüftung der vegetativen Eihäute ist unvollkommen. Die Blastula zeigt eine geräumige Furchungshöle; bei der Gastrula besteht eine zunächst halbkreis-, dann kreis- förmig einen Dotterpfropf umschließende Blastoporusmündung. Das Medullarrohr bildet sich unter deutlicher rinnenförmiger Einsenk ung der Medullarplatte; es besteht ein Canalis neurentericus, in dem eine Er- weiterung an die Kupffersche Blase er- innert. Das Verhalten des Dottersackes ist ähnlich wie bei Teleosteern. — Bei Ceratodus scheint innere Befruchtung statt- zufinden; die Eier haben eine im Wasser aufquellende Gallerthülle und sind am animalen Pol stärker pigmentiert; ebenso sind Furchung, Gastrulation und Mesoderm- bildung denen der Amphibien ähnlich. Die Eier von Lepidosiren sind dotterreicher, die ersten Entwickelungsvorgänge daher denen von Amia ähnlicher; das Medullarrohr wird solid angelegt, der Canalis neur- entericus fehlt. — Das Ei von Polypterus (J. Gr. Kerr 1907) ist am animalen Pol stark pigmentiert, die Furchung total, ad- äqual; bei den Gastrulae ragt die Dotter- zellenmasse knopfartig weit aus dem Blasto- porus hervor. Das Mesoderm sondert sich vom Enteroderm durch Delamination; die Chorda wird entlang einer rinnenförmigen Einsenkung aus der dorsalen Urdarmwand ausgeschaltet; unter ihr erscheint eine vakuo- lisierte und mit einer dünnen Cuticula be- kleidete Hypochorda. Ein langer postanaler Darm ist vorhanden, bleibt aber ohne Lichtung. Das Zentralnervensystem bildet sich durch deutliche rinnenartige Einfaltung der Medullarplatte, vor dem Schluß des Rohrs erscheinen bereits Andeutungen der Augenblasen und des Infundibulum. Früh- zeitig erscheinen präorale Haftgruben, deren Epithel sich von Entodermdivertikeln her- leitet; das Arteriensystem bildet zuerst den die ebenfalls sehr früh erscheinende Außen- kieme versorgenden IL (hyoidalen) Aorten- bogen aus. Auch bei den Petromyzonten (Fig. 46 und 47) gleichen Blastula und Gastrula einiger- Fig. 46. Furchungs Stadien von Petro myzon. Nach M Schnitze. Fig. 47. Aeltere Gastrula von Petromyzon. g Gastralhöhle, p Blastoporus,ec verdicktes Ekto- derm (Anlage des Medullarrohrs); das Eiitod erm ist punktiert. Nach A. Goette. maßen denen der Amphibien. Das Medullar- rohr aber wird solid angelegt und erhält erst später ein Lumen; Chorda und Mesoderm- streifen sondern sich als einheitlicher Zell- komplex von der Urdarmwand ab: letztere erhalten frühzeitig einen Hohlraum, doch scheint eine Mesodermbildung von eigent- lichen Urdarmdivertikeln aus (wie bei Amphioxus) nicht vorzukommen. Das \rorderende nimmt bald schlankere, das hintere durch Anhäufung des Dotters eine plumpe Gestalt an, die ausschlüpfenden Embryonen bezw. Larven gleichen auf- fallend denen von Ceratodus. — Im Ei der Myxinoiden liegt eine Keimscheibe unter der Micropyle, in der die Furchungen allein ablaufen und von der, wie bei den Teleosteern, die Bildung eines Periblasts ausgeht; eine Furchungshöhle tritt nicht auf, eben- sowenig eine LTrdarmhöhle. Die Umwachsung des Dotters durch das Blastoderm erfolgt rascher von dessen Hinterrand aus. an dem sich die Embryonalanlage bildet. Das Medullarrohr wird vorn hohl, hinten solid angelegt, eine Kupffersche Blase ist vor- handen, kein Canalis neurentericus, Die Bildung der Augenblase verläuft wie ge- wöhnlich, eine Linsenanlage tritt auf, Fische (Pisces) 1093 schwindet aber bald wieder. Die jungen Larven von ca. 4,5 cm besitzen noch einen großen Dottersack, sonst sind sie den er- wachsenen Fischen ähnlich. Ueber die Nierensysteme der Ganoiden undCyclostomen siehe oben den anatomischen Abschnitt: ebendort finden sich jeweils andere Angaben zur Organogenie. Die Selachier und Myxinoiden verlassen das Ei (bezw. den Uterus, bei den viviparen Arten) in sehr ausgebildetem Zustande. Bei den übrigen Gruppen pflegen die aus- schlüpfenden Tiere noch mehr oder minder von den erwachsenen abzuweichen, denen sie also erst durch eine Metamorphose sich angleichen. Petromyzon planeri lebt 3 bis 4 Jahre als Larve (Ammocoetes, Querder), die von der erwachsenen Form durch die Bildung des Mundes, des Kiemen- apparates, der Augen u. a. abweicht. Die kaulquappenähnlichen, noch einen großen Rest des Dottersacks enthaltenden Larven der Holosteer zeichnen sich u. a. durch einen fortlaufenden medianen Flossensaum und Haftorgane am Vorderende aus; bei denen der Störe entwickeln sich an der Stelle der Haftorgane später die Bartfäden. Die Larve von Polypterus (Fig. 48) besitzt ebenfalls die präoralen Haftgruben, trägt aber außer- dem eine große kammförmige Außenkieme dicht hinter dem Spritzloch. Noch mehr sind die Dipnoerlarven (Fig. 49) denen der Fig. 48. Larve von Polypterus. Vorderflossen am Grund aufgestützt. Nach Budgett. Fig. 49. Larve von Protopterus. ex Brust- und Baucht'Iossen, h Haftorgan. Nach Bud- gett. Amphibien ähnlich; die der Dipneumones haben 4 Paar gefiederter Außenkiemen, und brustständige Haftapparate (denen von Ceratodus fehlt beides). - Bei den Tele- osteern treten positive Larvencharaktere seltener auf, so etwa äußere Kiemenfäden (vgl. oben S. 1080) bei Gymnarchus und Heterotis, kopfständige (präorale) Haftorgane (denen der Ganoidenlarven ähn- lich) bei Sarcodaces und Hyperopisus (Budgett 1903). Veränderungen in der Form und Ausdehnung der Flossen, in der Be- schaffenheit der Körperbedeckungen usw. sind indessen nicht selten ; die seitlich stark kompri- mierten glashellen Larven der Aale (Lepto- cephali, Fig. 50) leben in der Tiefsee und Fig. 50. Leptocephalus grassii. Nach Eigen- niann und Konnedy. verwandeln sich, während sie die Wanderung in die Flüsse (s. u.) vollenden. Aehnliche Larven kommen bei Albula(Malacopterygi er) vor. Die pelagisch lebenden Larven der Plattfische sind symmetrisch; erst gegen das Ende des Larvenlebens wandert das eine Auge auf die im benthonischen Leben nach oben gekehrte Seite. 4. Bionomie. 4a) Wohnort. Lebens- bedingungen. Die Fische bewohnen die süßen und salzigen Gewässer, im Meere bis gegen die Pole und in die größten Tiefen vordringend, in den Gebirgen bis zu fast 4000 m Höhe aufsteigend (südamerikanische Cyprinodonten). Weist so die Gesamtheit eine außerordentliche Mannigfaltigkeit des Aufenthalts und der Lebensweise auf, so zeigen die Gattungen und Arten sich einem bestimmten Lebens kreise (in der Art des Nahrungserwerbes und dem Veihältnis zu den jeweiligen physikalischen Bedingungen) meist derart angepaßt, daß ihrer Ausbreitung jenseits desselben feste Schranken entgegen- zustehen scheinen. a) Süß- und Salzwasser. Osmotischer Druck. Nach dem Wohnbezirk lassen sich Meeres- und Süßwasserfische sondern; unter jenen scheiden sich wieder Hochsee- und Tiefseefische von den bei weitem zahl- reicheren Küstenfischen; unter diesen bildet die Bewohnerschaft stehender oder träge fließender schlammiger Gewässer, größerer Seen, der Bäche und Flüsse, jeweils besondere Charaktere aus. In beiden Gruppen lassen sich eigentlich nektonische oder pelagische Formen namhaft machen und solche, die den Aufenthalt nahe am Boden vorziehen (benthonische). Den größten Fischreichtum beherbergen die küstennahen Meeresteile. Die Elasmobranchier leben fast ausschließlich im Meere. Von den Teleosteern sind etwa zwei Drittel der Arten marin ; die wichtigsten Familien, deren Mitglieder ausschließlich oder vorwiegend im Süßwasser vor- kommen, sind die Mormyriden, Osteoglos- siden, Characiniden, Gymnotiden,Cypriniden, Siluriden, Symbranchiden, Esoeiden, also vorwiegend , .altertümliche" Physostomen; 1094 Fische (Pisces) doch auch die Ophiocephaliden, Labyrinthici und Mastacembeliden sind hier zu nennen. Mit Ausnahme von Acipenser ganz aufs Süßwasser beschränkt sind alle Ganoiden und Dipnoer. Die Elasmobranchier haben ein mit dem Meerwasser isotonisches Blut- serum (wobei der in diesem aufgespeicherte Harnstoff einen Teil des äußeren Salzdrucks trägt); bei den marinen Teleosteern ist der osmotische Druck des Blutserums stets geringer als der des umgebenden Mediums (Dekhuyzen, Bergens Mus. Aarbog 1905). Nicht wenige Fische scheinen gegen den Wechsel von Salz- und Süßwasser gleich- gültig. So vertauschen viele ,, Wanderfische" (s. u.) periodisch Meer und Binnengewässer; auch sonst dringen gelegentlich echte Meeres- fische (Pleuronectiden, Tetrodon, einige Haie und Rochen) in die Ströme, Flußfische (Arius) ins Meer vor. Die Stichlinge (Gasterosteus aculeatus und pungitius) sind in Süß- und Salzwasser gleich heimisch. Aus derartigen weniger empfindlichen Formen setzt sich vornehmlich die Fischfauna des Brackwassers zusammen. Die salzarme Ostsee beherbergt neben echten Meeres- fischen zahlreiche Einwanderer aus den Flüssen; indessen zeigen sich bei vielen Vertretern beider Gruppen Verkümmerungs- merkmale. Die Arten bezw. Gattungen einer Familie bekunden oft hinsichtlich der Wohnorte sehr verschiedene Neigungen. So kann man über die eigentliche „Heimat" der Salmoniden im Zweifel sein; denn einige wechseln periodisch zwischen Meer- und Süßwasser, andere sind ganz auf dieses, wie- der andere auf jenes beschränkt, einzelne sind Tief seeformen, Osmerus ist ein Brackwasser- bewohner. Von der Gattung Coregonus lebt oxyrhynehus in der Ost- und Nordsee, steigt aber zum Laichen in die Flüsse auf, albula in finnischen, skandinavischen und niederdeutschen Seen, fera in tiefen Alpen- seen, als eine geringfügig abgeänderte Varietät (lavaretus) auch in der östlichen Ostsee, maraena in dieser benachbarten Landseen; wartmanni und macrophthalmus finden sich im Bodensee, acronius und hiemalis nur in oberbayerischen Seen; man nimmt an, daß es sich bei den lacustrischen Coregonen um Relikte handelt, die während der Eiszeit von der Ostsee her ihre damals noch zu- sammenhängenden Wohngebiete erreicht haben (Thienemann). Von den besonders schmiegsamen Cyprinodonten leben viele in dürftigen Süßwasseransammlungen (Gräben u. dergl.), Anableps in den Aestuarien tropischer Flüsse, andere in abflußlosen Salzseen (Cyprinodon), sogar in bis 30° C warmen salzhaltigen Quellen. ß) Temperatur. Unter den das Wohn- gebiet bestimmenden physikalischen Faktoren ist der wichtigste die Temperatur. Ausge- sprochene Warmwasserfische sind z. B. die Chaetodontidae, Labridae u. a., Kaltwasser- fische die Salmoniden, Gadiden u. a. Aus der Gebundenheit an gewisse Temperaturzonen ergibt sich die meist viel größere ost-westliche als nord-südliche Ausbreitung der Arten; so sind die Esoeiden, Galaxiiden,Gasterosteiden je auf einen schmalen Breitengürtel be- schränkt, der über die verschiedensten Strom- gebiete quer hinweggeht. Die Tiefseefische leben dauernd bei einer Temperatur von wenig über 0°. Gewisse Küstenfische und Be- wohner kleiner Binnengewässer sind starke Temperaturschwankungen zu ertragen fähig (eurytherm). y) Druck. Die Druckverhältnisse, unter denen die Tiefseefische und die Fische flacher Binnengewässer leben, sind ebenfalls enorm gegensätzlich; doch sind die Individuen rasche und ausgiebigere Druckveränderungen zu ertragen nicht imstande (am wenigsten die mit geschlossener Schwimmblase); viel- mehr scheint jede Art an eine bestimmte Tiefenzone angepaßt zu sein und nur wenige sind imstande, größere und geringe Tiefen rasch zu vertauschen. Licht. Auf das Licht reagieren dieFische teils durch ihr Farbenkleid (siehe S. 1059), teils durch Ausbildung der Sehorgane, in beiderlei Hinsicht eine strenge Abhängig- keit von den örtlichen Verhältnissen be- kundend. Die Augen degenerieren regelmäßig bei den Höhlenfischen, während sie bei den Tief Seefischen sich meist in besonderer Weise umbilden (s. oben S. 1076); bei Bewohnern klarer und durchleuchteter Gewässer sind sie besser ausgebildet als bei denen trüben und schlammigen Wassers (Aale, Welse). d) Wanderungen. Die Wanderungen stehen meist in Beziehung zum Fortpflan- zungsgeschäft. Die Störe (außer Scaphi- rhynchus), Neunaugen, Maifische, Lachse leben im Meere, laichen aber in Flüssen. Die Lachse (Salmo salar) beginnen im Frühjahr ihren Aufstieg in die Flüsse und erreichen die Oberläufe derselben zu Beginn des Winters; während des Wanderns bringen sie die Geschlechtsprodukte zur Reife, nehmen aber keine Nahrung auf, sondern zehren von den während des Aufenthalts im Meere angesammelten Reservestoffen ; das Laichen erfolgt an flachen Stellen kiesiger Bäche; in diesen wächst auch die Brut auf, um erst nach etwa 16 Monaten (als ,,Salm- linge") den Eltern ins Meer zu folgen. Acipenser sturio dringt im Rhein bis Speyer, A. ruthenus in der Donau bis Ulm vor. Petromyzon marinus wandert im Rhein bis Basel, in der Elbe bis nach Böhmen. Bei den Heringen und anderen Clupeiden, bei den Makrelen und Thunfischen u. a. macht der gleiche Trieb sich noch insofern bemerkbar, als sie zum Laichen aus tieferen Fische (Pisces) 1095 und landfernen Meeresbezirken in Schwärmen die flacheren und küstennahen, bisweilen selbst brackige Gewässer aufsuchen. Aehn- liches gilt für gewisse lacustrische Salmoniden (Coregonus); bei gewissen Flußfischen führt der Wandertrieb nur noch zu einem Auf- und Absteigen, ohne daß das Meer erreicht wird (Petromyzon fluviatilis, Salmo fario). Entgegen den vorigen streben die Schellfische (Gadus aeglefinus) in der Nordsee zum Laichen den tieferen nördlichen Gebieten zu. Die Schollen (Pleuronectes platessa) suchen nach Beendigung des pelagischen Larvenlebens zuerst flache und küstennahe, in den folgenden Jahren immer tiefere Wasserbezirke auf (bis über 40 m), doch nähern sie sich im Winter stets der Küste; nach Heincke ist das Nahrungs- bedürfnis Ursache dieser Ortsveränderungen, die Laichplätze liegen auf hoher See. Die Flundern (Pleuronectes flesus) verbringen einen Teil ihres Jugendlebens in den Flüssen, laichen aber im Meer. Die Aale (Anguilla) leben bis zum Eintritt der Fortpflanzungs- fähigkeit (die SS 5 bis 6, die $$ 7 bis 8 Jahre) in Binnengewässern. Danach wandern sie, eine silberhelle Tönung annehmend und wie die Lachse jede Nahrung verschmähend, stromab ins Meer, wo sie erst die volle Geschlechtsreife erlangen; hier findet in ca. 1000 m Tiefe (bei den nordeuropäischen Aalen also in beträchtlich küstenfernen Teilen des Atlantischen Ozeans) das Laichen statt (J. Schmidt); nur hier wurden bisher die jüngsten Leptocephali (s. o. S. 1093) erbeutet; diese wandern wiederum Küsten bezw. Flüssen zu, die sie, je deren Entfernung von der Brutstätte, mehr oder minder langer Zeit und zufolge mehr oder minder völlig metamorpho- siert erreichen; in diesem Stadium sind sie als „Montee" bekannt. — Ein Teil der „bathypelagischen" Tiefseefische führt, an- scheinend vorwiegend zur Nachtzeit, perio- dische Wanderungen in vertikaler Rieh- aus, e) L a n d w a n cl e r u n g e n. Ihrer Be- deutung nach nicht völlig verständlich sind bis jetzt die Landwanderungen tropischer Süßwasserfische. Einige (Ciarias, Doras, Callichthys) sollen sie bei drohen- der Austrocknung ihrer Wohnorte unter- nehmen, um größere Wasseransammlungen aufzusuchen; andere (Anabas, Ophio- cephalus) sollen nur nachts und nach starken Regenfällen über Land wandern. Einige Fische scheinen spontan, ohne gerade zu wandern, das Wasser zeitweilig zu ver- lassen (Loricaria); Periophthalmus jagl sogar Insekten auf dem feuchten Strande. Viele tropische Fische (Siluriden, Ophio- cephalus u. a. m.) überstehen die Zeit der Dürre im Schlamm vergraben, die Dipnoer den nach nach dem- tung halten einen förmlichen „Sommerschlaf" in einem erhärteten Schlammgehäuse. — Für die meisten Fische mit respirierenden Schwimmblasen oder akzessorischeiiAtmungs- einrichtungen (Labyrinthfische u. a., vgl. Fig. 51) wurde gezeigt, daß sie direkter Luft- aufnahme durchaus bedürfen und rasch zu gründe gehen, sobald sie an dieser verhindert werden, selbst wenn ihnen gut durchlüftetes Wasser zur Kiemenatmung geboten wird. Dagegen sind sie in feuchter Luft, also unter Ausschaltung der Kiemenatmung, stunden-, ja tagelang zu leben befähigt. Fig. 61. Kopf des Kletterfisches (Anabas scandens). Mit geöffneter Labyrinthtasche (lt). 1 Labyrinthlamellen, br I. Kiemen bogen. Nach Henninger. 4b) Nahrung. Die Nahrung der Fische ist vorwiegend animalisch; auch bei solchen, die vegetabilische Stoffe oder „Schlamm" aufnehmen, sind die unter diesen enthaltenen Kleintiere für die Ernährung am wichtigsten. Reine Pflanzenfresser finden sich häufiger im Süßwasser (Ceratodus, ein Teil der Characiniden und Cypriniden), als im Meere (Box, Naseus u. a,). Einige Fische er- beuten über dem Wasser schwebende Insek- ten („Luftnahrung"): Forellen, Album us, Toxotes. Unter den übrigen nähren sich ein Teil von größeren Wassertieren, ins- besondere wieder von Fischen, andere von hartschaligen Mollusken, Knistern. Korallen (Scariden, Plectognathen, unter den Selachiern Heterodontus und Myliobatis), sehr viele von schwebenden Kleintieren (Plancton), etliche sogar von kleinsten Lebewesen, wie Diatomeen usw. (Loricariiden). Vorwiegend räuberisch sind die Haie, doch gerade die größten unter ihnen (Selache maxinia, Rhinodon) nähren sich von Kleintieren. Das Mittel zur Gewinnung dieser Kleintier- nahrung bieten bei Knorpel- und Knochen- fischen die auf dem Innenrand der Kiemen- bögen stehenden Siebfortsätze; sie bilden ein jeweils gröberes oder feineres Sieb oder Kiemenfilter, in welchem das hindurch- streichende Atemwasser die größeren oder kleineren Nahrungsorganismen zurückläßt (vgl. Zander, Zeitschr. f. wiss. Zool. Vol. 84, 1906). Pristiophorus und Pristis be- 1096 Fische (Pisces) nutzen ihre mächtigen bezahnten Rostra wohl zum Aufwühlen des Grundes, um darin verborgene Kleintiere zu erbeuten; ähnlich wahrscheinlich Polyodon und Psephurus. Unter die Parasiten sind allenfalls nur Petro- myzon und die Myxinoiden zu rechnen, die größere Fische anfressen bezw. sich in sie ein- bohren. Fierasfer, der den Enddarm der Holothurien bewohnt, nährt sich von den durch deren Exkremente angelockten Tieren. Einige Fische (Nomeus), besonders Jugendstadien (Caranx), suchen, anschei- nend zum Schutz, die Gesellschaft von Nesseltieren (Siphonophoren, Medusen) auf; Minous inermis lebt in „Symbiose" mit einem auf seiner Haut proliferierenden Hydroidpolypen. Unter den eigentümlichsten Ernährungs- bedingungen leben die Tiefseefische; bei dem Mangel an pflanzlichem und tierischem Plancton sind sie, abgesehen von ihren Wohnortsgenossen, auf die herabsinkenden Leichen größerer Tiere angewiesen: sie sind häufig durch ganz unverhältnismäßige Größe des Rachens und des Magens ausgezeichnet (Fig. 52). Auf andere Eigentümlichkeiten der Tiefseefische wurde schon bei jeweiliger Gelegenheit hingewiesen (s. insbesondere Färbung, Augen, Leuchtorgane); hier sei noch an die gewöhnlich außerordentliche Zartheit ihres Skeletts und die Schwäche der Muskulatur erinnert. Fig. 52. Eurypharynx pelecanoides. Nach Goode und Bean. 4c) Fortpflanzung. Die Eier werden meist ins Wasser abgelegt und dort besamt ; viele machen freischwebend (pelagisch) ihre Entwickelung durch, andere werden am Boden, an Wasserpflanzen u. dergl. befestigt (Cypriniden). Bei der Begattung der Selachier umschlingt das S das 2, das eine Pterygopodium wird in dessen Kloake ein- geführt und dort durch seine gespreizten End- glieder fixiert. Bei Cyprinodonten (Glarid- ichthys) erfaßt das S die Urogenitalpapille des 2 mit dem klammerartigen Ende des Be- gattungsorgans (s. S. 1089) und über eine Rinne des letzteren wird eine Spermatophore in den Ovidukt befördert. Sekundäre Ge- schlechtsmerkmale (außer den schon er- wähnten Brunstfärbungen, s. S. 1060) werden bei den Chimaeren von dem bestachelten Stirnfortsatz des S (Fig. 8 st) repräsentiert ; bei den Rochen finden sich Unterschiede in der Bestachelung beim S und 2; auch die Haiitzähnchen der Loricariiden sollen beim S stärker entwickelt sein. Bei den Cyprino- donten stehen die SS den 22 beträchtlich in der Größe nach. Der Eierablage und Be- samung gehen oft Werbespiele, auch Wett- kämpfe der SS voraus (Betta pugnax). „Hochzeitskleider" wurden schon er- wähnt: selten treten Lautäußerungen auf („Trommelkonzerte" südamerikanischer Welse, Sorensen). 4d) Brutpflege. Brutpflege wird am häufigsten geübt durch Nestbau; in ein- fachster Weise (Anlegung einer Grube) von den Salmoniden; kunstvoller, im einzelnen nach verschiedener Methode, meist unter Ver- wendung von Pflanzenteilen, von den Stich- lingen, Antennarius, Callichthys, Chaetostomus,Heterotis,Gymnarchus, Dipnoern, Amia u. a. Die Gobiiden legen die Eier in eine Grube; die sie mit einer umgekehrten Muschelschale bedecken; der Seestichling verbindet Pflanzenteile ver- mittelst aus der Niere abgesonderter Schleim- faden; das Nest der Labyrinthfische besteht i aus Luftblasen, die von einem erhärtenden Mundsekret umhüllt und verbunden werden. Das S bewacht meist die Brut. Apogon, Osteogeniosus, Arius (S), Tilapia (2) u. a. Cichliden, tragen die Eier bis zum Aus- schlüpfen der Jungen im Maul; die Am- blyopsiden in den Kiemenhöhlen (womit bei den letzteren wahrscheinlich die Ver- lagerung des Genitalporus, dem auch der After gefolgt ist, weit nach vorn bis an die Kehle zusammenhängt; Eigenmann). Aspred o (2) trägt die Eier am Bauche an vaskulari- sierten Stielen befestigt; ähnlich Solen o- stoma (2), aber in einer von den Bauch- flossen gebildeten Tasche ; bei den Syngna- thiden übernehmen die SS m ähnlicher Weise (mit Ausnahme von Nerophis, wo die Eier frei an der Bauchhaut haften, unter Bildung einer besonderen hinter dem After ge- legenen Bruttasche) die Brutpflege. Das 2 des Bitterlings (Rhodeus amarus) depo- niert seine Eier vermittelst einer langen Lege- röhre in den Kiemen von Flußmuscheln (Anodonta), über deren Mantel das S das Sperma entleert. - - Vivipar sind die Mehr- zahl der Haie und zahlreiche Teleosteer (Zoarces, die Höhlenfische Stygicola und Lucifuga, viele Cyprinodon'ten, die Enibiotociden , Sebastes, Coniephorus ein Tiefenfisch des Baikalsees — , die Süßwasserarten von Hemiramphus — unter diesen merkwürdigerweise wieder einige Höhlenformen). 4 e) Körpergröße. Die Körpergröße schwankt in weiten Grenzen. Die Elasmo- branchier sind durchschnittlich von be- Fische (Pisces) 1097 deutender Größe; Selache maxima (10m), Rhinodon typicum (16 m), Rochen wie Dicerobatis giornae, stellen die größten bekannten Formen dar. Die Tele- osteer sind durchschnittlich von geringer Größe; das Maximum erreichen sie mit Arapaima gigas (4,5 m), dem sich Formen wie der Thun (bis 3 m) und Orthagoriscus mola (2 m lang und ebenso hoch) anreihen. Andererseits repräsentiert ein Gobiide (Mistichthys luzonensis, 12 bis 14 mm lang) das kleinste erwachsene Wirbeltier. Auch die Teleosteerlarven sind bemerkens- wert als kleinste freilebende Wirbeltiere. Die Ganoiden halten auch im Körperumfang wiederum etwa die Mitte zwischen den Selachiern und Teleosteern. 4f) Aehnliche bionomische Charak- tere bei systematischer Verschieden- heit. Ein Phänomen, auf das hier kurz hin- gewiesen sei, ist die Ausbildung ähnlicher bionomischer Charaktere bei Vertretern weit getrennter systematischer Abteilungen. Einer der frappantesten Fälle ist die Habitus- ähnlichkeit gewisser Mormyriden und Gym- notiden, die neben anderem eine rüsselförmige Schnauze zur Entnahme ihrer Nahrungstiere aus schlammigem Boden übereinstimmend ausgebildet haben. Auf der Südhalbkugel sind die Forellen durch Galaxiiden , im indischen Hochgebirge durch Cypriniden (Schizothorax) vertreten, die sich ihnen auch im Aussehen mehr oder minder an- gleichen. Der „AaP'-Charakter wird, außer bei den Anguilliden und Muraeniden, in ver- schiedenen Gruppen erreicht, so bei Sym- branchiden, Gymnotus, Mastacembelus, Muraenolepis, Calamoichthys u. a. Weiter kann hier diesen Erscheinungen nicht nachgegangen werden. 5. System. Verwandtschaftsbeziehun- gen. I. Unterklasse: Cyclostomata Du- meril (Marsipobranchii Bonap.). Wurm- förmige nackthäutige Fische ohne paarige Flossen, mit unvollkommenem, im Kiefer- und Kiemenapparat eigenartig umgebildeten Skelett, persistenter Chorda, unpaarer Nasenöffnung; mit einem Saugmund ohne eigentliche Kiefer, Kiemen in sackförmigen Räumen (7 und mehr Paare), Darm ohne Magen und Appendices, Genitalporen zur Entleerung der Geschlechtsprodukte. 1. Ordnung: Petromyzontes (Hypero- artii Bonap.). Nasengang innen geschlossen, Saugmund und Zunge mit Hornzähnen besetzt, 7 Kiemensäcke mit besonderem Wassergang verbunden, Darm mit schwacher Spiralfalte; Eier klein, Entwickelung mit Metamorphose. Eine Familie: Petromyzontidae. Petro- niyzon marinus, Meerlamprete (Fig. 53), P. fluviatilis, Flußneunauge, P. branehialis (planen), Bachneunauge, in Europa, Asien und Nord- amerika. Mordacia und Geotria in Chile und Tasmanien. 2. Ordnung: Myxinoides (Hyperotreti Bonap.). Nasengang den Gaumen durch- bohrend, Mund von 4 Bartfäden umstellt, ohne Lippen, kammförmige Zähne auf der I Zunge, ein medianer Zahn am Gaumen; die Kiemensäcke münden einwärts direkt in den Darm, keine Spiralfalte; Eier groß, hornschalig; Bewohner der kalten Meere, in Seefischen schmarotzend. Eine Familie: Myxinidae. Myxine glu- tinosa Inger, Schleimfisch, in nördlichen Meeren ; Bdellostoma im südlichen Pazifik. II. Unterklasse : E 1 a s m 0 b r a n c h i i Bonap. (Chondropterygii Cuv.). Fische von be- deutenderer Körpergröße, mit Hautzähnen (Placoidorganen) bedeckt oder nackt, mit unpaaren und paarigen Flossen; Knorpel- Fig. 53. Petromyzon marinus. Nach Goode und Bean. skelett, dessen Wirbel die Chorda unter Durchbrechung der Scheiden verdrängen. Kiemen an durch Radien gestützten Septen, meist in vollständigen Taschen; keine Schwimmblase, Darm mit Spiralfalte; Conus arteriosus mit mehreren Klappen- reihen; Eileiter ein Müller scher Gang; beim $ eine Geschlechtsniere, stets ein Begattungsorgan; die großen Eier werden im Eileiter befruchtet; Enddarm, Harn- und Geschlechtswege münden in eine Cloake. j Meeresfische. 1. Ordnung: Plagiostomi Cuv. Schädel ! hyostyl oder amphistyl; querer Mundspalt, j mit modifizierten Placoidzälmen bewehrt; , 5 bis 7 direkt nach außen führende Kiemen- spalten und meist Spritzlöcher; ausgeprägte ; Heterocerkie. — Die folgende Einteilung ent- spricht im wesentlichen der vonRegan (Proc. Zool. Soc. London 1906) angegebenen. 1. Unterordnung: Selachioidei (Pleuro- tremata), Haie ; Plagiostomen mit gestrecktem, walzenförmigem Körper, seitlichen Kiemen- spalten vor den Brustflossen. a) Xotidanoidei ; Haie mit mehr als 5 Kiemenspalten, einer D*) ohne Stachel, der A gegenüber (die Bildung von Wirbelkörpern ist mehr oder minder unterdrückt; sofern sie statthat, herrscht Diplospondylie). *) Ueber die Bedeutung der Abkürzungen s. S. 1056. 1098 Fische (Pisces) 1. Farn. Chlamydoselachidae. Nur eine lebende Art: Chlaniydoselachus anguineus, ein aalförmiger, weit verbreiteter Tiei'seehai, mit kurzem Rostrum, fast endständigem Mund, seitlichen Nasenöffnungen, sehr kleinem dorsalen Spritzloch; die äußeren Oeffnungen der 6 Kiemen- spalten sind von den Hinterrändern der Septen überdeckt; das Palatoquadratum ist durch ein Ligament in der Orbita, hinten an einem großen „Hyomandibulare" (Epihyale?) befestigt, der Postorbitalfortsatz erreicht nicht den Schädel. 2. Farn. Notidanidae. Mund unterständig, Schädel amphistyl. Notidanus griseus (Hexan- chus) mit 6, cinereus (Heptanchus) mit 7 Kiemen- spalten, im Atlantik und Mittelmeer. b) Galeoidei; Haie mit 5 Kiemenspalten, Cranium vorn in 3 Rostralknorpel endigend, Palatoquadratum nur am Hyomandibulare be- festigt, die hinteren Kiemenspalten meist über der Basis der P, 2 D ohne Stacheln, A vorhanden. 3. Farn. Lamnidae. Nasenlöcher nicht mit dem Munde kommunizierend, Spritzlöcher klein oder fehlend. Große pelagische (zum Teil Tief- see-) Haie. — Lamna cornubica, Heringshai, im Atlantik. Carcharodon rondeletii (bis 13 m lang), tropisch und subtropisch. Alopecias vuipes, Fuchshai (gegen 4 m), im Atlantik und Pazifik. Selache (Cetorhinus) maxima, Riesenhai (bis 10 m), im Nordatlantik und Südpazifik. Nahe verwandt ist Odontaspis. 4. Farn. Rhinodontidae. Rostralknorpel nicht konvergent; Mund und Nasen Öffnungen am Vorderende der kurzen und breiten Schnauze, durch Rinnen verbunden, Gebiß kleinzähnig, Schwanz mit seitlichen Kielen, Grube vor der C. — Rhinodon typicum (bis 16 m lang), anschei- nend in allen wärmeren Meeren. Gingylostoma. 5. Farn. Scylliidae. Zähne klein, in mehreren Reihen gleichzeitig funktionierend, rudimentäre Nickhaut vorhanden. Kleine Haie der Litoralregion, Schaltierfresser. — ■ Scyllium (Katzenhaie), Chiloscyllium, Pristiurus u. a. 6. Farn. Carchariidae. Rostrum sehr lang, Mund halbmondförmig, keine iNasolabial- rinnen, Spritzlöcher klein oder fehlend, Nick- haut wohl ausgebildet; mittelgroße Haie, vivipar. — Carcharias glaueus, Blauhai (4,5 m), in wär- meren Meeren; Galeus canis, Hundshai (1,5 m), weit verbreitet; Zygaena malleus, Hammerhai (bis 4 m), in warmen Meeren. Mustelus laevis, Glatthai, mehrere andere Arten im Atlantik, Mittelmeer usw. c) Squaloidei; Haie mit solidem Rostrum, Palatoquadratum außer mit dem Hyomandi- bulare mit dem Cranium prä- oder postorbital mehr oder minder fest verbunden; meist 5 seit- liche Kiemenspalten. 7. Farn. Heterodontidae. (Cestracionidae). 2 D mit Stacheln, A vorhanden, Rostrum kurz, Nasenöffnungen unterseits, im Gebiß konische bis flache Zähne, Palatoquadratum der Schädel- basis breit angelehnt (fossile Verwandte, wie Hybodus, sind echt amphistyl). ■ — Heterodontus (Cestracion), mehrere Arten im Pazifik, Schal- tierfresser. 8. Farn. Spinacidae. 2 ü, meist mit Stacheln, A fehlt, Mundspalt wenig gekrümmt, daneben jederseits eine tiefe Grube, Palato- quadratum mit kräftigem Postorbitalfortsatz, aber ohne feste Verbindung mit dem Schädel. Kiemenspalten eng; Viviparität die Regel. — Centrina, im Mittelmeer und Atlantik; Acanthias, Dornhaie, in den gemäßigten südlichen und nördlichen Meeren. Spinax (Fig. lb), mit ähn- licher Verbreitung. Centrophorus; Scymnus; Laemavgus borealis, Grönlandhai. 9. Farn. Rhinidae. 2 D auf dem Schwänze, j A fehlt, Körper abgeflacht, der Rochenform sich nähernd, P breit, ihre Basis bedeckt die Kiemen- öffnungen; Mund- und Nasenöffnungen fast endständig, kein Rostrum; Palatoquadratum mit großem Postorbitalfortsatz, Gebiß mit kegelförmigen Zähnen. — Rhina squatina, Meer- engel, vivipar, in tropischen und gemäßigten Meeren. 10. Farn. Pristiophoridae. 2 D vor- handen, A fehlt; Rostrum sehr lang, beide Ränder mit großen Hautzähnen besetzt, mit 2 Barteln unterseits. Palatoquadratum präorbital am Schädel befestigt. — Pristiophorus, mehrere Arten der „Sägehaie" in den australischen und japa- nischen Meeren. Pliotrema, mit 6 Kiemenspalten. NB. Die 3 zuletzt aufgeführten Familien ge- hören nahe zusammen und schließen sich im Wirbelbau, Mangel der A, u. a. den Rochen an; die Rhinidae werden von einigen Autoren über- haupt zu diesen gestellt; die Pristiophoriden teilen mit den Rochen u. a. das charakteristische Occipitalgelenk (vgl. hierüber, insbesondere die Beziehungen zu Pristis, L. Hoff mann, Zool. Jahrb., Abt. f. Anat., Vol. 33, 1912). 2. Unterordnung: Batoidei, Rochen. Plagiostomen mit breitem, flachem, vom schlankeren Schwanzteil meist scharf abge- setzten Vorderkörper, P mit diesem ver- wachsen, A fehlt, D, wenn vorhanden, auf dem Schwänze; Kiemenspalten ventral. — Stets sind große Spritzlöcher (dorsal hinter dem Auge, vgl. Fig. la) vorhanden, niemals Augenlider; das Palatoquadratum ist vom Schädel frei, das Hyomandibulare meist mächtig ausgebildet und vom Hyoid- bogen unabhängig. a) Rhinoraji (Jaekel); Rochen mit großem knorpeligem Rostrum; Beckengürtel mit paarigen Epipubisfortsätzen. 1. Farn. Pristidae. Körper gestreckt (haiähnlich), Schwanz nicht scharf abgesetzt, P frei, 2 D, Rostrum lang, abgeflacht, sägeartig mit großen seitlichen, in Alveolen des Rostral- knorpels sitzenden Hautzähnen besetzt, ohne Barteln; Bezahnung schwach. — Pristis, Säge- roche, in warmen Meeren. 2. Farn. Rhinobatidae. Körper gestreckt (haiähnlich), Rostrum lang, vorn abgerundet, von den P nicht erreicht, 2 I), C gut entwickelt, | seitliche Längsfalten am Schwanz. — Rhino- batus, Rhynchobatus u. a., in warmen Meeren. b) Rochen ohne medianen Rostral- knorpel, mit mächtigen Präorbitalknorpeln; Becken wie bei a: Narco batoidei. 3. Farn. Torpedinidae. P mit dem Rumpf zu einer kreisrunden Scheibe verwachsen, Schwanz kurz, mit Seitenfalten, 2 D, C gut ent- wickelt, Haut nackt, zwischen der P und dem Schädel jederseits ein elektrisches Organ. — Torpedo, Zitterroche ; T. ocellata und T. marmorata Fische (Pisces) 1090 im Mittelmeer, andere Gattungen tropisch und subtropisch. c) Rochen ohne knorpeliges Rostrum, Beckengürtel mit medianem Fortsatz: Dasybatoidei. 4. Farn. Rajidae. P bilden mit dem Rumpf eine etwa rhombische Scheibe, V tief ein- geschnitten, Schwanz lang, mit Seitenfalten, schwach elektrische Organe enthaltend; 2 sehr kleine D, C oft verkümmert, in der Haut Rauhig- keiten und größere Stacheln. Bewohner der nördlichen und südlichen gemäßigten Meere; europäisch u. a. : Raja batis, Glattroche, clavata, Keulenroche, radiata, Sternroche (Fig. la). 5. Farn. Trygonidae. Rumpf eine breite Scheibe, P vor dem Rostrum zusammenlaufend, Schwanz lang, ohne Seitenfalten, an Stelle der D oft gezähnte Stacheln. — Urogymnus, Trygon, Urolophus, Pteroplatea; T. pastinaca, Stech- roche, sehr weit verbreitet, auch in der Nordsee. 6. Farn. Myliobatidae. Rumpf sehr breit, P flügeiförmig, besondere Kopfanhänge von ihnen abgegliedert, 1 D, Gebiß mit Pflaster- zähnen; vivipar; große, zum Teil riesige Rochen der wärmeren Meere. — Myliobatis aquila, Adlerroche; Aetobatis; Rhinoptera; Oeratoptera und Dicerobatis („Teufelsrochen"). NB. Hasse (1879) legte der Einteilung der Plagiostomen die Wirbelstruktur (s. S. 1064) zugrunde; seine Cyclospondyli umfassen die Spinaciden, die Asterospondyli die übrigen Haie außer den Notidaniden, Rhiniden und Pristio- phoriden; die beiden letzten nebst den Rochen sind Tectospondyli. 2. Ordnung: Holocephala. Schädel autostyl, Gaumen und Mandibel Zahnplatten tragend; nur 4 Kiemenspalten, von einem Kiemendeckel überdeckt, Septen reduziert; Achsenskelett mit persistierender Chorda, acentrisch: Hinterende diphycerk oder schwach heterocerk. Eine Familie: Chimaeridae. Placoidschuppen reduziert, meist nur in der Jugend vorhanden, o mit erektilem Stirnanhang; Fortpflanzung durch hornschalige Eier. — Chimaera (monstrosa, colliei, affinis) vorwiegend der gemäßigten nörd- lichen, Callorhynchus (antarcticus) der südlichen Zone angehörig, Harriotta im Pazifik. III. Unterklasse: Ganoidei (Agassi z, J. Müller). Fische mit knorpelig-knöchernem Skelett, Hautskelett aus Cutisverknöche- rungen, bisweilen unter Beteiligung von Placoidorganen, gebildet; Flossen vorwiegend durch Lepidotrichien gestützt; Kiemen halb- frei, Deckel mehr oder minder gut aus- gebildet; Opercularkieme meist, oft auch ein Spritzloch vorhanden; Vorderdarm mit Schwimmblase oder Lungen, Mitteldarm mit Appendices und Spiralklappe. Herz mit Conus arteriosus, oft auch mit Arterien- bulbus; meist bestellt Urogenitalverbindung: keine innere Befruchtung. Wenige rezente Vertreter, fast ausschließlich im Süßwasser (NB. Die ,,Ganoiden" werden hier mit Günther (1886) im weiten Sinne, auch die vgl. übrigens Dipnoer begreifend, gefaßt: S. 1104). _ a) Ganoiden mit unvollkommenem Kieferskelett (palatognathe). 1. Ordnung Dipnoi, Lurchfische. Mit rundlichen Schuppen bekleidete Ganoiden, mit knorpelig-knöchernem Skelett, unein- geschränkter Chorda, ohne Wii beikör per, diphycerk ; paarige Flossen, aus Haupt- und biserialen Nebenstrahlen bestehend; Ober- und Zwischenkiefer fehlen, Zahnplatten finden sich am Vomer, Pterygopalatinum und Spleniale; kein Rostrum, Nasenöff- nungen innerhalb des Mundrandes; Lungen vorhanden, das Atrium unvollkommen geteilt. a) Dipneumones: Farn. Lepidosirenidae, mit paarigen Lungen; Nebenstrahlen der Flossen wenig entwickelt, Larven (Fig. 49) mit äußeren Kiemen und brustständigen Haftorganen. — Lepidosiren paradoxa, Schuppenmolch, im Gebiet des Amazonenstroms; Protopterus annec- tens, mit 3 Paar äußeren Kiemen, afrikanisch. ß) Monopneumones: Farn. Ceratodidae, mit unpaarer Lunge, Flossen breit, ruderförmig, Larven ohne äußere Kiemen und Haftorgane. Ceratodus forsten, in Queensland (Mary- und Burnett-River). b) Ganoiden mit vollkommenem Kiefer- skelett (teleostome). 2. Ordnung Chondrostei, Knorpel- ganoiden. Mit unvollkommen verknöcher- tem Skelett, großem knorpeligem Rostrum, knöchernen Maxiilaria, uneingeschränkter Chorda, ausgeprägter Heterocerkie; Fulcra vor den unpaaren Flossen; Nasenöffnungen auf der Oberseite der Schnauze, Schwimm- blase vorhanden, meist auch Spritzlöcher; Larven mit präoralem Haftorgan. Farn. Acipenseridae ; Körper mit 5 Reihen von Knochenschildern gepanzert, Mund vorstreckbar, zahnlos, 4 Barteln unterseits am Rostrum, 4 Kiemen und Operkularkieme. — ■ Acipenser sturio, Stör, in Westeuropa und Ost- amerika, A. ruthenus, Sterlet, A. huso, Hausen, im Stromgebiet des Schwarzen Meeres, A. sinen- sis usw. Scaphirhynchus , ohne Spritzloch, 4 Arten in Zentralasien und im Mississippi. Farn. Polyodontidae ; Haut nackt oder mit kleinen Knochensternen versehn; Mundspalt transversal, kleine Zähne enthaltend, von mäch- tigem Rostrum überragt; 4% Kiemen, keine operkulare. — Polyodon folium, Löffelstor, mit flachem Rostrum, im Mississippi; Psephurus gladius, mit kegelförmigem Rostrum, in China. Fig. 54. Polypterus arnaudii. Nach Dumeril. 3. Ordnung Crossopterygii Huxley (Polypteroidei Gthr.). -Mit Rhomben- schuppen, stark verknöchertem Skelett, knöcherner Wirbelsäule; ohne Branchio- 1100 Fische (Pisces) stegalstrahlen; Spritzlöcher vorhanden, sowie paarige Lungen; After nahe dem Schwanz- ende; Larven mit einem Paar äußerer Kiemen (Fig. 48). Einzige recente Familie: Polypteridae; D in zahlreiche, an Stachelstrahlen befestigte Floßchen aufgelöst, keine Fulcra. — • Polypterus, mehrere Arten im Nil und in westatrikanischen Flüssen (Fig. 54); Calamoichthys, aalförmig, ohne V, Altcalabar. 4. Ordnung Holostei (Lepiclosteidei Gthr.). Mit sehr vollständig verknöchertem Skelett, ohne Spritzloch, mit zelliger Schwimmblase; Larven mit präoralem Haft- organ. Farn. Lepidosteidae. Schuppen rhom- bisch, mit schmelzartiger Außenschicht, Flossen mit Fulcra, 4 Kiemen und Operkularkieme, Schnauze langgestreckt, stark bezahnt. — Lepid- osteus, Knochenhecht, mehrere Arten (L. osseus usw.) in- Nord- und Mittelamerika und Cuba. Farn. Amiidae. Schuppen zykloid, keine Fulcra, 4 Kiemen, keine Operkularkieme, Schwimmblase vorn in 2 Hörner geteilt. — Amia calva, Schlammfisch, in Nordamerika. IV. Unterklassse: Teleostei (J. Müller)- Fische mit vorwiegend knöchernem Skelett, dessen Wirbel außerhalb der Chordascheiden entstehen; homocerk oder gephyrocerk; Haut in der Regel beschuppt, selten nackt, Flossen durch Lepidotrichien gestützt; Kiemen frei, stets ein Kiemendeckel, meist eine Schwimm- blase; Darm ohne Spiralfalte, meist mit Pförtneranhängen ; Conus arteriosus zugunsten des Aortenbulbus zurückgebildet; Gonaden frei oder sackförmig, keine Urogenital- verbindung; die Eier werden gewöhnlich nach der Ablage besamt. Die Knochenfische wurden von Artedi nach der Flossenbeschaffenheit in Acanthoptery- gier und Malacopterygier, von Linne nach der Flossenstellung in Apodes, Abdominales, Jugu- lares und Thoracic! eingeteilt (einige aber den „Amphibia nantes" überwiesen); Cuvier be- nutzte beiderlei Merkmale (Acanthoptery- giens — ■ Malacopterygiens abdominaux, subbrachiens, apodes), stellte aber die Plecto- gnathen und Lophobranchier ganz abseits; Agassiz rechnet diese beiden Gruppen (sowie die Welse) den Ganoiden zu. Joh. Müller läßt sie an ihrem isolierten Platz; die übrigen Teleosteer scheidet er in Acanthopterygier, Anacanthinen (die Gadoiden, Ophidiiden und Pleuronectiden umfassend), die Pharyngognathen (mit ver- wachsenen unteren Schlundknochen) und Physo- stomen. Günther schließt sich seinem System nahe an, trennt aber die physostomen Scombr- esociden von den übrigen Pharyngognathen (den physoelisten und stachelflossigen Labriden und Chromiden). Die nachfolgend gegebene Gruppierung ist die von Boulenger (1904) vor- geschlagene. 1. Ordnung Malacopt er ygii. Schwimm- vorhanden, mit offenem Luftgang; Kiemendeckel gut ausgebildet, Schulter- gürtel mit Mesocoracoid, am Schädel be- , festigt, Flossen stachellos, die Bauchflossen abdominal. Vordere Wirbel getrennt ; Schwimmblase mit dem Labyrinth in Ver- bindung, aber ohne Web ersehe Knöchelchen. Farn. Mormyridae. Schnauze verlängert, oft rüsselartig mit kleiner Mund Öffnung, Oper- cularknochen unter der Haut verborgen, enge Kiemenspalten; am Schwänze jederseits ein schwachelektrisches Organ. In Binnengewässern Afrikas. — Mormyrus, Hyperopisus, Gymnarchus. Farn. Albulidae; Albula (Butirinus) ist bemerkenswert durch einen Conus arteriosus mit 2 Klappenreihen. — Hierher auch die Hyodontidae und Notopteridae, nord- amerikanische bezw. afrikanisch -indische Süß- wasserfische. Farn. Osteoglossidae. Körper mit großen gefelderten Schuppen bedeckt, Kopf nackt; Kiemenspalten weit, keine Pseudo- branchie; Süßwasserfische. — Arapaima gigas, in Brasilien; Osteoglossum, je 1 Art in Südamerika, Borneo und Queensland ; Heterotis mit suprabran- chialem Luftatmungsorgan ( Kiemenschnecke), im Nil und westafrikanischen Flüssen. Farn. Clupeidae. Körper beschuppt, Kopf nackt; Kiemenspalten sehr weit, Pseudo- branchie meist vorhanden, Opercularstücke voll- zählig; keine Fettflosse; meist Meeresfische. — Engraulis encrasicholus, Anchovis; Clupea haren- gus, Hering, Cl. sprattus, Sprotte, Cl. alosa, Mai- fisch, Cl. finta, Finte, Cl. pilchardus, Pilchard, Sardine usw.; Chatoessus; Meletta; Flops; Luto- deira tisw. — Der naheverwandte Chirocentnxs dorab ist durch eine spiralige Faltenbildung der Darmschleimhaut ausgezeichnet. Farn. Salmonidae. Körper beschuppt, Kopf nackt, Kiemendeckel vollständig, Pseudo- branchie vorhanden; hinter der D eine Fettflosse; Gonaden frei, als Gonodukte funktionieren Peritonealtrichter (Fig. 39). Vorwiegend im Süßwasser. — • Salmo salar, Lachs, S. fario, Bach- forelle (Fig. lc), S. lacustris, Seeforelle, S. trutta, Meerforelle, S. salvelinus, Saibling, S. hucho, Huchen, Donaulachs; Osmerus eperlanus, Stint; Coregonus albula, kleine Maräne, C. wartmanni, Blaufelchen, C. lavaretus, große Maräne, C. hiemalis, Kilch, C. oxyrhynchus, Schnäpel; Thymallus vulgaris, Aesche; Mallotus u. a. Die Alepocephalidae (Alepocephalus, Bathytroctcs) und Stomiatidae (Stomias, Chauliodus, Astronesthes, Argyropelecus) sind Tief seeformen. 2. Ordnung: Ostariophysi. Schwimm- blase in der Regel mit offenem Luftgang, Schultergürtel am Schädel befestigt, mit Mesocoracoid; stachelartige Strahlen der Rücken- und Bauchflossen durch Verschmel- zung der Segmente von Gliederstrahlen gebildet; die vordersten 4 Wirbel stark modifiziert, oft miteinander verschmolzen, die Kette der Web er sehen Knöchelchen tragend, durch welche die Schwimmblase mit dem Ohr kommuniziert. Fast durchweg Süßwasserbewohner. Farn. Characinidae. Körper beschuppt, Mund bezahnt, nicht vorstreckbar, ohne Barteln. Fische (Pisc<>>) 1101 Ueberaus artenreiche Familie mit teils carnivoren, teils herbivoren Vertretern im tropischen Afrika und Amerika. — Wichtigste Genera: Macrodon, Erythrinus, Curimatus, Citharinus, Leporinus, Nannocharax, Alestes, Tetragonopterus, Hydro- cyon, Sarcodaces, Xenocharax, Serrasalmo. Farn. Gymnotidae. Mund bezahnt, meist von Ober-und Zwischenkiefern begrenzt, nicht vor- streckbar; Körper der Aalform sich nähernd, V fehlen, D und C rudimentär, A sehr lang, da der After kehlständig. In Binnengewässern des tropischen Amerika. — Gymnotus (Electro- phorus) electricus, Zitteraal mit starken elek- trischen Organen; Sternarchus u. a. mit mehr oder minder verlängerter Schnauze, ähnlich den (afrikanischen) Mormyren. Farn. Cyprinidae. Mund zahnlos, oben meist nur von den Zwischenkiefern begrenzt, vorstreckbar, untere Schlundknochen groß, ein- oder mehrreihig mit Zähnen besetzt, keine Fett- flosse, Darm ohne Appendices, Schwimmblase meist groß, in 2 bis 3 Abteilungen zerlegt, Ovarien geschlossen. In Binnengewässern der warmen und gemäßigten Zonen, in Afrika spärlich, in Südamerika und Australien fehlend. — a) Catostominae (Catostomus, Sclerognathus). b) Cyprininae, zahlreiche Gattungen, einhei- misch: Cyprinus carpio, Karpfen, Carassius vul- garis, Karausche (Abart: auratus, Goldfisch), Barbus barbus, Barbe, Gobio, Leuciscus „Weiß- fische", Idus melanotns, Alant (Abart: Gold- orfe), Scardinius erythrophthalmus, Rotfeder, Squalius cephalus, Döbel, S. leuciscus, Hasel, Telestesagassizi, Strömer, Phoxinuslae vis, Elritze, Tinea vulgaris, Schleie, Chondrostoma nasus, Nase, Rhodeus amarus, Bitterling, Abramis brama, Blei, A. vimba u. a., Aspius rapax Rapfen, Alburnus lucidus, Ukelei, Leucaspius u* a. m. c) Cobitidinae, Schwimmblase reduziert, in Knochenkapseln eingeschlossen: Misgurnus fos- silis, Schlammbeißer, Nemachilus barbatula, Schmerle, Cobitis taenia, Steinbeißer, d) Homa- lopterinae, mit rudimentärer Schwimmblase, südasiatische Gebirgsfische , meist mit Haft- organen: Homaloptera, Gastromyzon. — (Zur Einteilung der Cyprinoiden vgl. Regan, Ann, Mag. Nat. Hist, (8), Vol. 8, 1911.) Farn. Siluridae. Haut nackt oder mit großen Knochen tafeln bedeckt, Mund nicht vor- stülpbar, von Bartfäden umgeben („Nemato- gnathi"),vonden bezahnten Unter-und Zwischen- kiefern begrenzt, Maxillaria rudimentär, kein Subopercnlum, nur ein Pterygoid; bisweilen eine Fettflosse, Darm ohne Appendices. Zahlreiche Gattungen, vorwiegend in Binnengewässern warmer Länder, a) Clariinae, mit baumför- migen Kiemenanhängen: Ciarias, Heterobran- chus. b) Silurinae: Silurus glanis, WTels, in Mitteleuropa und Westasien; Saccobranchus, mit suprabranchialem Luftsack; Schübe, Eutropius, Wallago, Neosilurus u. a. c) Bagrinae : Bagrus, Amiurus („Zwergwelse", nordamerikanisch), Arius. d) Doradinae: Doras, Synodontis. e) Malopterurinae : Malopterurus electricus, Zitterwels, im Nil. f) Callichthyinae : Callich- thys, südamerikanisch. — (Zur Einteilung der Siluroiden vgl. Eigen mann, Calif. Acad. Sc, 1890, und Regan, Ann. Mag. Nat. Hist. (8). Vol. 8, 1911.) Farn. Loricariidae. Welsartige, mit zahn- in Meeren und Binnengewässern tragenden Knochenschildern gepanzerte Fische mit unter ständigem, von breiten Lippen um- gebenem Maul; ohne Parapophysen, mit fest- sitzenden Rippen; Schwimmblase auf kleine paarige, in Knochenkapseln eingeschlossene Säckchen beschränkt. — Loricaria cataphraeta, Harnischwels, Chaetostomus, Plecostomus, Oto- cinclus, Arges usw., sämtlich in Südamerika. Ebendort die ihnen verwandten, aber den Si- luriden näherstehenden Aspredidae (Aspredo). 3. Ordnung Symbranchii. Aalförmig, ohne paarige Flossen, mit getrennten vorderen Wirbeln, ohne Webersche Knöchelchen, mit nur einer medioventralen äußeren Kiemen- öffnung, ohne Schwimmblase. DieSymbranchidae, mit normalen Kiemen und am Schädel befestigtem Schultergürtel, um- fassen 3 teils indische, teils amerikanische Arten. Die Amphipnoidae haben verkümmerte Kie- men, akzessorische Luftatmungsorgane, einen freien Schultergürtel. Amphipnous und Mono- pterus, indische Süßwasserfische. 4. Ordnung Ap o d e s. Meist eine Schwimm- blase mit offenem Luftgang vorhanden; Zwischenkiefer fehlen: wenn Maxillaria vor- handen, sind sie median durch das mit dem Vomer verschmolzene Ethmoid getrennt. Schultergürtel frei , ohne Mesocoracoid; Flossen ohne Stacheln, V fehlen; keine Web ersehen Knöchelchen, vordere Wirbel getrennt, aller Zonen. am. Muraenidae; ohne Zunge und Ober- kiefer, innere Kiemenöffnungen eng, Meeresbe- wohner. — Muraena, über 80 Arten (M. helena im Mittelmeer). Farn. Anguillidae; mit Zunge und Ober- kiefern, innere Kiemenötfnungen weit. — ■ An- guilla vulgaris, Flußaal; Conger, Meeraale; viele in der Tiefsee: N.emichthvs, Saccopharynx, Eury- pharynx (Fig. 52), Cyema usw. 5. Ordnung Haplomi. Schwimmblase mit (meist) offenem Luftgang, Kiemendeckel vollständig, Scliultergürtel am Schädel be- festigt, ohne Mesocoracoid; Flossen gewöhn- lich ohne, selten mit einigen Stacheln, V abdominal, bisweilen fehlend; keine Web er sehen Knöchelchen. Farn. Esocidae. Körper beschuppt, ohne Fettflosse, D auf dem Schwanzabschnitt; Darm ohne Appendices , Pseudobranchie vorhanden. Esox lucius, Hecht, in Nordeuropa und -amerika. Fam. Galaxiidae. Körper nackt, keine Fettflosse, D gegenüber der A, keine Pseudo- branchie, Appendices vorhanden; die Eier fallen in die Bauchhöhle, wie bei den Salmoniden, denen die G. auch im Habitus und Laichgewohn- heiten gleichen und die sie in der südlichen ge- mäßigten Zone vertreten. — Galaxias, Neo- channa. Fam. Scopelidae. Isackt oder beschuppt, mit Fettflosse ; pelagisch und abyssal. — Scopelus, Saums, Paralepis usw. Fam. Cyprinodontidae, Zahnkarpfen. Kopf und Körper beschuppt; Mund ohne Barteln, wie bei den Karpfen vorstreckbar, nur von den HOL' Fische (Pisces) Der Schwimmblasengang bildet Bewohner der der wärmeren bezahnten Zwischen- und Unterkiefern begrenzt; keine Fettflosse sich meist frühzeitig zurück. Binnengewässer (auch salziger Zonen, durchweg von geringer Größe, einige vivipar. — Fundulus; Orestias; Cyprinodon; Anableps tetrophthalmus, Vierauge, in Mün- dungsgebieten südamerikanischer Flüsse; Poe- cilia; Mollienesia; Glaridichthys usw. Den Amblyopsidae gehören Amblyopsis spelaeus (Kentucky) und andere blinde Höhlen- fische an. — ■ Die Stephanoberycidae, Tiefsee- fische ohne Stacheln in D und A, sind in mancher Hinsicht den Beryciden ähnlich; Stephanoberyx, Malacosarcus. 6. Ordnung Heteromi. Schwimmblase ohne offenen Gang; Kiemendeckel voll- ständig, Parietalia die Frontalia vom Supra- occipitale trennend; Schultergürtel ohne Mesocoracoid, am Supraoccipitale oder Epi- oticum aufgehängt, Posttemporale klein oder durch ein Ligament ersetzt, V abdominal oder fehlend. Die Gruppe umfaßt 2 auf die Tiefsee be- schränkte Familien „von dunklen Verwandt- schaftsbeziehungen" (Boulenger), Halosau- ridae und Notacanthidae , und die Fieras- feridae, nackthäutige pigmentarme Fische, ohne V, mit kehlständigem After, pseudopara- sitisch in Holothurien lebend. Schädel von Syngnathus acus; so Supraoccipitale, fr Frontale, eth Mesethmoid, ep, sq, sp Epi-, Pter- und Sphenoticum, pt Posttemporale, o Operculare (an dessen hinterem Rand das Suboperculum hervorsieht), pr Praeoper- culum, q Quadratum, m Mandibel, mx Zwischen- und Oberkiefer, pl Palatinum, v Vomer, o Praeorbitalia, hy Hyoid, u Urohyale. 7. Ordnung Castosteomi. Schwimm- blase ohne Luftgang (selten ganz fehlend), Parietalia, wenn vorhanden, durch das Supraoccipitale getrennt; Schultergürtel am Schädel befestigt, mit meist sehr großem Coracoid, ohne Mesocoracoid, V, wenn vorhanden, abdominal oder die Becken- knochen am Schultergürtel befestigt. a) Selenichthyes. — Farn. Lamprididae mit nur einer Art: Lampris luna, pelagisch, weit verbreitet; ihre Stellung ist unsicher, Reg an (Proc. Zool. Soc. London 1907) bildet aus L., kegelförmig, Schuppen an den Körperseiten schilderartig, vor der D isolierte Stacheln. — Gasterosteus aculeatus, gemeiner Stichling, G. pungitius Zwergstichling. G. spinachia Meer- stichling. Die Aulostomidae (Aulostoma, Fistularia) und Centriscidae (Centriscus, Amphisile) sind durch die Röhrenform der Schnauze, Zahnlosigkeit, Modifikation der 4 bis 6 ersten Wirbel und eigenartige Integument- verhältnisse ausgezeichnet. c) Lophobranchii, „Büschelkiemer" (Cu- vier). Das Kiemenskelett ist schwach ausge- bildet, die Bogenstücke unvollzählig. — • Farn. Syngnathidae. Schnauze lang, röhrenförmig, hauptsächlich durch die verlängerten Symplec- tica, Quadrata, Praeopercularia, dorsal vom Mes- ethmoid gebildet, seitlich von großen Orbital- knochen bedeckt (Fig. 55); Mund zahnlos, Haut mit Knochenschildern gepanzert, Kiemen- blättchen wenig zahlreich, groß, mit schmaler Basis, V fehlen, Wirbel ohne Gelenkfortsätze, die drei ersten nahtartig verbunden. — ■ Syngna- thus, Siphonostoma, Seenadeln ; Nerophis, Schlan- gennadel und Hippocampus, Seepferdchen, ohne C, mit Greifschwanz. — Die Solenostomidae, die in wenigen Arten den indischen Ocean be- wohnen, mit V, 2 D, nähern sich mehr den Centriscidae. — ■ Hierher gehören wohl auch die Pegasidae (Pegasus draco), die andererseits zu den Scleroparei Beziehungen zeigen. NB. Jungersen stellt auch Gasterosteus zu den Scleroparei und faßt mit Reg an die übrigen unter b genannten Fa- milien und die Lophobranchier als Solenich thyes zusammen. 8. Ordnung Percesoces. Schwimmblase, wenn vor- handen, ohne Luftgang; Parie- talia durch das Supraoccipitale getrennt; Schultergürtel am Schädel aufgehängt, ohne Mesocoracoid; V, wenn vor- handen, abdominal, jedenfalls die Beckenknochen mit dem Schultergürtel nicht fest ver- bunden. Farn. Scombresocidae. Obe- rer Mundrand von Zwischen- und Oberkiefern begrenzt, untere Schlundknochen vereinigt, Flossen Die meistenim Meere, einige im Süß- vivipar, mit Kopulationsorgan. - den Veliferidae, Lophotidae (vgl. S. „Allotriognathi". b) Hemibranchii. dae. Mund endständig, Trachypteridae 1103) die und Unterordnung — Farn. Gastro stei- bezahnt, Schnauze kurz, I ohne Stacheln wasser, diese Belone acus, Hornhecht ; Hemirhamphus ; Scombr > esox saurus, Makrelenhecht; Exocoetus, „flie- gende Fische". Farn. Mugilidae. 2 D., die vordere stache- lig, Bezahnung rudimentär, statt der Seitenlinie Kanälchen auf allen Schuppen. — Mugil capito, Meeräsche u. a. Die Am mo d y tid ae (Sandaale), Äther in idae Sphyraenidae (Pfeilhechte), Stromateidae u.a. enthalten wenig nahe untereinander verwandte Meeresfische. — Die Ophiocephalidae sind tropische Süßwasserfische mit stachellosen un- paaren Flossen, ausgezeichnet durch ein pharyn- geales Luftatmungsorgan ; Ophiocephalus, Schlangenköpfe. Hierher stellt Boulenger auch die. barschähnlichen, mit echten Labyrinthor- ganen ausgestatteten Anabantidae; Anabas Fische (Pisces) 1103 scandens, Kletterfisch, in Süßwassern Ostindiens (vgl. Fig. 51). 9. Ordnung Anacanthini. Schwimm- blase ohne Luftgang, Parietalia durch das Supraoccipitale, Prootieum und Exocci- pitale durch das vergrößerte Opisthoticum geschieden. Schultergürtel am Schädel auf- gehängt, ohne Mesocoracoid; V unter oder vor den P, Beckenknochen hinter der Schultergürtelsymphyse, nur lose durch Liga- ment mit ihr verbunden. Flossen stachellos, C ohne ausgedehntes Hypurale, symmetrisch. Fast nur marin. Fam. Macruridae, Tiefseefische ohne eigentliche C, mit unterständigem Mund. — Ma- crurus, Bathygadus, Lyconus. Fam. Gadidae; Mund endständig, vor- streckbar, Körper mit Cycloidschuppen bedeckt, 2 bis 3 D, weite Kiemenöffnungen ; meist in kalten Meeren und der Tiefsee. — Gadus morrhua, Dorsch, Kabeljau, G. aeglefinus, Schellfisch, G. merlangus, Wittling, G. virens, Köhler u.a.; Merluccius vulgaris, Hechtdorsch; Motella, See- quappen; Lota vulgaris, Quappe, im Süßwasser. Die Muraenolepidae konvergieren im Bau der P (10 Radialia) und in der Beschuppung gegen die Anguillidae. 10. Ordnung A c a n t h o p t e r y g i i. Schwimmblase meist ohne offenen Gang, Kiemendeckel vollständig, Supraoccipitale berührt die Frontalia; Schultergürtel am Schädel aufgehängt, ohne Mesocoracoid, V brüst- oder kehlständig; mehr oder minder fest mit dem Schultergürtel verbunden; Kiemenöffnung meist groß, vor der Basis der P. Stacheln sind nicht ausnahmslos vor- handen. Formenreichste Abteilung, in mehrere Untergruppen gesondert (deren kurze Charakteristik hier die der sehr zahlreichen Familien vertreten mag). a) Perciformes. Stachlige D ausgebildet, V brustständig, Körper seitlich mehr oder minder zusammengedrückt. Bei den Berycidae u. a. kommt noch ein offener Luftgang vor. — Per- cidae (Perca fluviatilis, Flußbarsch, Acerina cernua, Kaulbarsch, Lucioperca Sandra, Zander usw.); Toxotidae; Serranidae (Serranus, Sägebarsche, Polyprion, Riesenbarsche, Lates, Apogon [Fig. ld], Chilodipterus); Cepolidae; Sciaenidae (Sciaena aquila, Adlerfisch, Um- brina cirrhosa, Umberfisch, Pogonias chromis Trommelfisch, Corvina nigra, Rabenfisch); Pristipomatidae (Pristipoma, Dentex usw.); Sparidae (Cantharus, Sargus, Gaißbrassen, Pagellus, Seebrassen, Chrysophrys, Goldbrassen); Pomacentridae, Chaetodontidae [Squami- pinnes, Schuppenflosser] (Chaetodon, Chelmo usw.); Scorpididae (Psettus, Fig. le); Caproi- dae; Osphromenidae (bilden mit Anabas die „Labyrinthici" Cuviers: Osphromenus, Tri- chogaster, Macropodus u.a.m.); Embiotocidae : Cichlidae [Chromides]; Acanthuridae ; Mulli- d ae (Mullus barbatus,M. surmuletus, Meerbarben) ; Labridae Lippfische (Labrus, Crenilabrus, Epibulus, Corisusw.); Scaridae, Papageifische. b) Scombriformes. Stachelige D, wenn gesondert, mit kurzen schwachen Stacheln, V brustständig, C wenn gut ausgebildet tief ge- gabelt. -- Carangidae (Caranx, Stöcker, Nau- crates ductor, Lotsenfisch); Scombridae (Scom- ber, Makrele, Thynnus, Thun); Trichiuridae (Trichiurus) ; Xiphiidae (Xiphias gladius, Schwertfisch), Coryphaenidae (Coryphaena Goldmakrele). c) Zeorhombi. Sehr stark seitlich kompri- miert, meist unsymmetrisch. Zeidae (Zeus faber, Petersfisch); Pleuronectidae , Plattfische, , mit unsymmetrischem Kopf, beide Augen auf j einer Seite, Mund protractil, keine Schwimmblase (Hippoglossus vulgaris, Heilbutt; Rhombus maximus, Steinbutt, laevis, Glattbutt; Pleuro- nectes platessa, Goldbutt, flesus, Flunder, liman- da, Kliesche, cynoglossus, Hundszunge; Solea vulgaris, Seezunge usw.). d) Kurtif ormes: nur eine sehr aberrante Art, Kurtus indicus. e) Gobiif ormes. Stachelige D, wenn vor- handen, mit wenigen biegsamen Stacheln, V brustständig, auch fehlend; Präoperculum ohne Knochenstütze; After auf stark vorragender Papille. Gobiidae (Gobius niger, minutus u.a., Meergrundeln). Periophthalmus, Boleophthal- mus. f) Discocephali. Die stachelige D zu einer über dem Schädel und dem Vorderrücken liegen- den Haftscheibe umgebildet. — Echeneidae (Echeneis, Schiffshalter). g) Scleroparei. Präoperculum mit dem vergrößerten 2. Suborbital knochen verbunden, V brustständig. Scorpaenidae (Scorpaena porcus, Meereber, Sebastes); Cottidae (Cottus gobio im Süßwasser, C. scorpius, bubalis, qua- dricornis, Seeskorpione); Cyclopteridae (Cyclo- pterus lumpus, Seehase); Agonidae (Agonus, Peristhetionj, Triglidae (Trigla, Seeschwalbe, Knurrhahn, Schwimmblase mit offenem Luft- gang!); Dactylopteridae (Dactylopterus, Flughahn ) ; Co m e pho r i d a e . h) Jugulares. Präoperculum ohne Stütze, Kiemenöffnung vor der fast senkrechten Basis der P, V kehlständig. — Trachinidae (Trachinus); Uranoscopidae (Uranoscopus), Gobiesocidae (Gobiesox, Lepadogaster), Blenniidae, Schleimfische (Blennius, Centro- notus, Anarrhichas), Zoarcidae (Zoarces vi- viparus, Aalmutter; Lucifuga und Stygicola in Höhlengewässern Kubas ). i) Taeniosomi. Bandförmig, mit brust- ständigen V, vorderste Strahlen der sehr langen D oft verlängert, A kurz oder fehlend, Basis der P wagerecht; Hoch- oder Tiefseefische. - Trachypteridae (Trachypterus, Regalecus); Lophotidae (vgl. S. 1102). 11. Ordnung Opisthomi. Kein offener Schwimmblasengang, Kiemendeckel voll- ständig, unter der Haut verborgen, das Supraoccipitale berührt die Frontalia, die Parietalia scheidend; Schultergürtel an der Wirbelsäule aufgehängt, weit hinter dem Schädel, ohne Mesocoracoid, unpaare Flossen mit Stacheln, V fehlen. Fam. Mastacembelidae ; aalförmige Süß- wasserfische, meist der indischen Region ange- hörig, einige in Syrien und Westafrika (Masta- cembelus, Rhynchobdella). 1104 Fische (Pisces) 12. Ordnung Pediculati, Armflosser. Kein offener Schwimmblasengang, Oper- culum groß, unter der Haut verborgen, das Supraoccipitale berührt die Frontalia, die Parietalia trennend; Schultergürtel am Schädel aufgehängt, ohne Mesocoracoid; keine Kippen, V kehlständig; Kiemen- öffnungen enge Schlitze mehr oder minder hinter der Basis der P: Körper nackt oder mit Stacheln und knöchernen Tuberkeln be- deckt. Farn. Lophiidae; Kopf groß, breit, Mund sehr weit, stark bezahnt; Haut nackt, stachelige D vorhanden. — Lophius piscatorius, Seeteufel. Die Ceratiidae (Ceratias, Melanocetus), Mal- thidae, Gigantactidae sind meist Tiefsee- bewohner; von den Antennariidae lebt Anten- narius pelagisch zwischen schwimmender Vege- tation (Sargassomeer). Fig. 56. Schädel und Extremitätengürtel von Balistes. hm Hyomandibulare, mt Metaptery- goid, pt Ektopterygoid, n Nasale, hy Hyoid, r br Kiemenhautstrahlen, cl Cleithrum, p cl Post- cleithrale, p Beckenknochen (an dessen hinterem Ende ein bezahnter Stachel das Rudiment der Ventralis repräsentiert); die übrigen Bezeich- nungen wie in Figur 55. Nach Hollard. 13. Ordnung Plectognathi. Schwimm- blase ohne Luftgang, die Kiemenöffnungen sehr eng, die Kiemendeckelknochen mehr oder minder verkümmert: das Supraoccipi- tale berührt die Frontalia, trennt die Parietalia; Ober- und Zwischenkiefer oft fest verbunden (Fig. 56 mx): Schultergürtel am Schädel befestigt, keine Kippen. V brust- ständig, oft verkümmert, Beckenknochen, wenn vorhanden, mehr oder weniger coossifi- ziert; Körper mit rhombischen Schuppen, Knochenschildern oder -dornen bedeckt, oder nackt. Sämtlich den wärmeren Meeren angehörend. a) Sclerodermi, mit deutlich gesonderten Kieferzähnen, mit Resten der stacheligen D und der V. (Fig. 56). — Triacanthidae (Triacan- thus), Balistidae (Balistes, Drückerfisch), Os- traciontidae, Kofferfische, mit festgefügtem Knochenpanzer. b) Gymnodontes, Zwischen- und Ober- kiefer fest verwachsen, Zähne zu einem schnabel- artigen Gebilde verschmolzen, stachelige D | und V fehlen. — Tetrodontidae (Tetrodon), j Diodontidae (Diodon Igelfisch), Molidae (Orthagoriscus mola, Sonnenfisch; Tiefenform von bisweilen mächtigen Dimensionen). Die Verwandtschaftsbeziehungen der Fische bringt das System in der gegen- wärtigen Form nur undeutlich zum Ausdruck, insofern als es eine größere Zahl koordinierter Abteilungen verschiedener Stufe aufstellt, I ohne deren dynamische Bedeutung hervor- i zuheben. In letzterer Hinsicht scheinen der Charakter des Teleosteers und des Chondro- pterygiers beherrschend, während die je nur wenige recente Vertreter einschließenden Gruppen der „Ganoiden" Vermischungen teils jener beiden, teils des Fisch- und Amphibientypus aufweisen. Im ganzen verhalten sich die Chondropterygier, ins- besondere die Haie, der allgemeinen Wirbel- tierorganisation mehr konform als die Teleosteer; man ist daher geneigt, sie so- wohl der Wurzel des Fischstammes als am nächsten stehend zu betrachten, als auch von ihnen ähnlichen Stammformen eines- teils die Teleosteer durch Vermittelung der Knorpel- und Knochenganoiden, anderen- teils durch Vermittelung von dipnoerartigen Formen die Amphibien genealogisch abzu- leiten; die mannigfachen diesem Versuch entgegenstehenden Schwierigkeiten geben zu vielen Meinungsverschiedenheiten der Auto- ren im einzelnen Anlaß. Innerhalb derElasmobranchier bezeichnen j Hai und Roche wieder eine polare Differen- i zierung, doch bestehen zwischen beiden ver- mittelnde Formen (Rhina, Pristiophorus iPristis, Rhinobatis); darüber, wie weit deren Mischcharaktere jeweils verwandt- schaftliche Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen, wie weit sie „Konvergenz" ausdrücken, besteht keine Einigkeit; all- gemein aber ist angenommen, daß die Rochen von haiartigen Vorfahren abzuleiten sind. Die Holocephalen gehören den generellsten Merkmalen nach zu den Elasmobranchiern, in manchen Zügen (Bezahnung, Lippen- knorpel, Kiefergelenk, Urogenitalsystem) nähern sie sich den Cestraciontiden (Dean); andererseits weisen sie viele Affinitäten mit den Dipnoern auf (Autostylie, Bau des Achsen- und des Flossenskeletts, Bezahnung, ! Kiemenapparat u. a. m.); Huxley (1876) erachtete sogar ihre Differenz von den Pla- giostomen für größer als die zwischen Tele- osteern und Ganoiden. Der Terminus „Ganoiden" ist oben bei- behalten worden als Sammelbegriff, nicht (mit Kner) im Sinne einer natürlichen Einheit: von den dort zusammengefaßten Formen tendieren die Dipnoer mehr gegen den Charakter der Elasmobranchier, die Chondrosteer, Crossopterygier und Holosteer Fische (Pisces) 1105 in verschiedenem Maße gegen den der Tele- osteer (am meisten Amia; indessen bestehen zwischen Teleosteern und Ganoiden mehrere Berührungen, so daß mindestens wohl an eine „polyphyletische" Abstammung jener von diesen zu denken wäre). Kner und Bleeker glaubten unter den Ganoiden die „Protypen sämtlicher Hauptgruppen und großen Familien" der Teleosteer zu erkennen. Andererseits finden sich unter den Ganoiden Annäherungen an den Amphibientypus, so bei den Crossopterygiern und den Dipnoern, welche letzteren auf Grund vieler wichtiger Charaktere (Lungen, Außenkiemen, unvoll- Ziehungen über Kreuz bilden für die Auf- stellung eines allgemein verbindlichen Tele- osteersystems eine gewisse Schwierigkeit. — ■ Als die den Knorpelfischen bezw. Ganoiden am nächsten stehenden Teleosteer sind ohne Zweifel die Malacopterygier und Ostario- physen anzusehen, die daher im historischen Sinne auch wohl als die ältesten oder kon- servativsten bezeichnet werden; von letzte- ren sind die Siluriden geradezu als Zwischen- formen von Teleosteern und Ganoiden (Coccosteus, Cephalaspis) in Anspruch genommen worden (Huxley); die eigen- artigen Integumentverhältnisse, das stete kommene Kreislaufscheidung, Autostylie usw.) Fehlen eines knöchernen Sympleeticums, die sicherlich als „die den Amphibien verwandt- schaftlich weitaus am nächsten stehende Gruppe" bezeichnet zu werden verdienen (Semon, Zool. Anz. Bd. 24 1901). Doch fehlt es unter den Teleosteern (Panzerwelse) nicht ganz an gelegentlichen Berührungs- punkten mit Amphibien. Auch in der Gesamtheit der Knochen- fische macht sich eine polare Gegensätz- lichkeit bemerkbar, die im System durch eine Zweiteilung (Physostomen — Physo- clisten u. ä.) zum Ausdruck zu bringen öfters versucht worden ist; niedrigere Körperform, abdominale Stellung der Bauchflossen, Mangel echter Stacheln und offener Schwimmblasen- gang scheinen die eine, hohe Körperform, stachelige Flossen, Verlageiung der Bauch- flossen nach vorn, blindgesehlossene Schwimm- blase die andere Hauptgestaltungsrichtung zu bezeichnen. Doch entspricht allen diesen Merkmalen je nur eine geringere Familien, andere weisen eine derselben auf (z. B. die als Percesoces und Anacanthini vereinigten), etliche nehmen eine sehr aberrante Stellung ein (Plectognathen). Wenn man daher auch hier zur Aufstellung einer größeren Zahl koordinierter Unter- ordnungen geschritten ist, so können diese doch nur zum kleinen Teil als natürliche Einheiten betrachtet werden, so etwa die Malacopterygier, Ostariophysen, Acanthopterygier, Pediculaten, andere Zahl von Vermischung Apodes, Plecto- gnathen : sonst nirgends enger umschließen nur wenige, anzuschließende Formen (Symbranchii, Opisthomi, Heteromi) oder sie sind Sammelgruppen von untereinander wenig nahe verbundenen Formen, deren Affinitäten in verschiedene Richtungen weisen. So zeigen unter den Haplomi die Galaxiiden mannigfache Berührungspunkte mit den Salmoniden, die Cyprinodonten mit Malacopterygiern und Scombresociden, die Stephanoberyciden mit den Beryciden; Anabas unter den Percesoces steht den barschartigen Osphromeniden ganz nahe; die Batrachidae vermitteln zwischen Acantho- pterygiern und Pediculaten, die Acanthuridae den Plectognathen zu. Solche Be- nt'iaoi Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band m. Unvollständigkeit des Opercularapparates, die feste Verbindung des Posttemporale mit den Schädelknochen, das Vorhandensein des eigentümlichen Rostralknochens u. a. m. rechtfertigen es mindestens, den Welsen (inklusive Loricariiden) einen sehr selb- ständigen Platz anzuweisen. Die Haupt- masse der Teleosteer bildet nach der phylo- genetischen Auffassung einen vom Stamm der höheren Vertebraten sich weit abwenden- den und in eigenartigen Spezialisierungen blind endenden Ast. Die Cyclostomen weisen durch den Mangel paariger Flossen, die große Zahl von Kiementaschen, Verkümmerung der höheren Sinnesorgane, den Zustand der Schilddrüse bei A m in 0 c 0 e t e s , Unpaarigkeit des Geruchs- organs u. a. (vgl. S. 1072, 1075, 1080, 1081, 1088), zu den Leptocauliern hinüber (mit denen sie Owen als „Dermatopteri", Haeckel als „Monorhina" vereinigt). Andererseits er- innert die Mundbildung der Petromyzonten an die der Froschlarven (Huxley, Journ. Anat. Phys. Vol. 10, 1876); Goette (Ent- wiekelung des Flußneunauges 1890) glaubte Rudimente von Lungen nachweisen zu können und empfahl, die Neunaugen mit den Amphibien „auch im System näher zusammenzustellen". Unzweifelhaft sind die Cyclostomen nicht Repräsentanten einer „primitiven" kieferlosen Stufe der Wirbel- tierorganisation, sondern degenerierte bezw. larvoide Nachkommen gnathostomer Ichthy- opsiden (Dohrn). 6. Die geographische Verbreitung der Fische steht in Abhängigkeit vom Klima (Temperatur) und faciellen Verhältnissen. Da die Süßwasserfische den klimatischen Einflüssen am meisten ausgesetzt und zu- gleich durch Landmassen und Meere in der Ausbreitung gehemmt sind, so lassen sie sich am ehesten gutbegrenzten tiergeogra- phischen Regionen zuordnen; Günther unterscheidet deren 7, die sich auf 3 Haupt- klimazonen verteilen: a) Nördliche Zone, gekennzeichnet durch Chondrostei, zahlreiche Cypiiniden, 70 1106 Fische (Pisces) Salmoniden, Esoeiden, spärliche Simriden. Die (1.) paläarktische (europäisch -asia- tische) und die (2.) nordamerikanische Region haben unterscheidende Charakter- züge im Vorkommen von Holostei hier, ihrem Fehlen dort, Vorkommen von Barben und Cobitiden dort, ihrem Fehlen hier. b) Aequatorialzone, gekennzeichnet durch Reichtum an Siluriden; die (3.) indi- sche und die (4.) afrikanische Region ha- ben Reichtum an Cypriniden und Labyrinth- fischen gemein; ersterer fehlen Dipnoer und Ganoiden; Ophiocephaliden, Mastacembe- liden und Cobitiden sind dort zahlreich; in Afrika fehlen dieselben oder sind spärlich, dagegen finden sich hier Dipnoer (Pro- topteru s), Polypteriden, Mormyriden. Der Cypriniden und Labyrinthici entbehren die (5.) tropisch-amerikanische und die (6.) tropisch-pazifische Region; Cha- rakterformen der ersteren, die in dieser fehlen, sind die Chromiden, Characiniden, Gymno- tiden, Loricariiden; in beiden Dipnoer (Le- pidosiren bezw. Ceratodus). c) Südliche Zone; Haplochitoniden und Galaxiiden vertreten zumeist die Sal- moniden und Esoces ; Siluriden treten zurück, Cypriniden fehlen. Die (7.) antarktische Region zerfällt in 3 ichthyologisch wenig verschiedene Subregionen: die tasmanische, neuseeländische und patagonische. Nächstdem erweisen sich die Meeres fische des Litorals durch Klimazonen im Verein mit Landmassen und tiefen Meeres- räumen am strengsten an Regionen ge- bunden. So ergeben sich mehr oder minder selbständige Litoralfaunen: 1. die des ark- tischen Ozeans; 2. die des gemäßigten nord- atlantischen Ozeans (gegliedert in das west- europäische, das nordamerikanische und das mediterrane Gebiet); 3. die des gemäßigten Stillen Ozeans (gegliedert in das Gebiet von Kamtschatka, das kalifornische und das japanische); 4. die der tropisch atlan- tischen Küste Amerikas; 5. die des indo- pazifischen Ozeans; 6. die der tropisch pazifischen Küste Amerikas; 7. die süd- afrikanische, australische und südamerika- nische der gemäßigten Zone; 8. die des antarktischen Ozeans. Die Litoralfaunen gleichartiger Klimazonen lassen eine be- beutende Aehnlichkeit ihrer Zusammen- setzung erkennen (z. B. die der gegenüber- liegenden atlantischen Küsten von Europa und Nordamerika); besonders auffallend ist die Aehnlichkeit bei den verschiedenen Ozeanen zugekehrten Küsten desselben Kon- tinents, für deren Bewohnerschaft die Mög- lichkeit eines Austausches jedenfalls seit sehr langen Zeiträumen nicht mehr besteht; so an der pazifischen und atlantischen Küste Amerikas; die japanische und die Mittel- meerfauna haben nicht nur sehr viele iden- tische Gattungen, sondern selbst Arten, welche zudem an den amerikanischen Küsten der gleichen Zone durchaus fehlen (Günther, vgl. a. D. S. Jordan, Science Vol. 14, 1901). Die Fischfauna der Hoch- und Tiefsee läßt, angesichts der ihr gebotenen sehr gleichförmigen Bedingungen und des Mangels an topographischen Ausbreitungshinder- nissen, keine strengeren regionalen Begren- zungen erkennen. Die pelagischen und abyssalen Fische sind vielfach Kosmopoliten; viele Formen, welche die Tiefen der warmen und gemäßigten Meere bewohnen, erscheinen in den kalten Zonen oberflächlich. Nach Brauer haben indessen von der Tiefsee- gattung Macrurus nur wenige Arten wirklich kosmopolitische Verbreitung, die weitaus meisten bewohnen ein beschränktes Gebiet; das gleiche gilt für Vertreter mehrerer anderer Tiefseegattungen ; es läßt sich annehmen, daß die Einwanderung derselben vom Litoral aus erfolgt ist, nachdem hier schon eine Auf- spaltung in zahlreiche Arten erfolgt war und daß das Wohngebiet dieser also noch in Abhängigkeit von ihren Entstehungsgebieten steht. An der Zusammensetzung der Tiefsee- fauna beteiligen sich die Myxinoiden, die Elasmobranchier (relativ spärlich) und die Teleosteer (Muraenidae, Halosauridae, Alepo- cephalidae, Salmonidae, Stomiatidae, Sco- pelidae, zahlreiche Anacanthinen u. a. m.). Wenn die Verschiedenheit der Fisch- faunen durch langwährende Isolierung in- folge klimatischer und facieller Verhältnisse hinreichend verständlich wird, so setzen andererseits einzelneAehnlichkeiten in der Be- wohnerschaft weit entlegener Gebiete, für welche ein Formenaustausch seit ungeheuren Zeiträumen ausgeschlossen erscheint, in Er- staunen. So kommt von den Dipnoern Ceratodus in Queensland vor, Proto- pterus im tropischen Afrika, der nahe ver- wandte Lepidosiren im Gebiet des Ama- zonenstroms. Sehr ähnlich sind die Osteo- glossiden zerstreut (die aber auch im ostindischen Archipel einen Vertreter haben). Ebenso auffällig ist das Vorkommen von Polyodon im Mississippi, des verwandten Psephurus im Yang-ste-kiang; ähnlich verteilen sich die Scaphirhynchus-Arten. Umbra krameri kommt in Ungarn, die einzige andere Art (limi) in den Vereinigten Staaten vor. Agonus tritt in der nördlichen gemäßigten Zone bis zum Eismeer und an der chilenischen Küste auf. Retropinna 1 auf Neu-Seeland ist der einzige Salmonide der südlichen Halbkugel. Auch einzelne I Arten haben derart sporadische Verbreitung i (Lates calcarif er in Indien und in Queens- land ; Rhode us amarus in Europa und im Amur-Fluß, nicht in Sibirien). Da es sich meist um Süßwasserformen handelt, ist Fische (Pisces) — Fische (Paläontologie) 1107 die Erklärung dieser Verbreitungsverhält- nisse durch Wanderung oder Verschleppung recht schwierig. Sie scheinen vielmehr auf ursprünglich ungeheuer weite zusammen- hängende Wohngebiete der betreffenden sy- stematischen Einheiten hinzuweisen. Andererseits finden sich gelegentlich scharfe Grenzen der faunistischen Verteilung, wo in der Gegenwart ein fortlaufender Uebergang durch die örtlichen Bedingungen viel weniger behindert scheint. So ist das Fehlen der Cypriniden im tropischen Amerika und der pazifischen Region angesichts ihrer reichen Entfaltung in Nordamerika und Indien merkwürdig; zwischen der „cypri- noiden" indischen und der „acyprinoiäen" tropisch-pazifischen Region verläuft die Grenze („Wallacesche Linie") von den Philippinen zwischen den großen Sunda- inseln hindurch, Celebes und Lombock der letzteren zuteilend. Für andere Fische, wie die Siluriden, hat diese Grenze aber keine Bedeutung. Auf die geologischen Vorgänge, die man zur Erklärung dieses Verhaltens herangezogen hat, kann hier nicht einge- gangen werden. — Hier sei ferner darauf hin- gewiesen, daß selbst in kleineren zusammen- hängenden Meeresräumen (wie Ost- und Nordsee) sich zahlreiche Rassen ausbilden, die ziemlich streng an der Oertlichkeit haften (so bei der Scholle, dem Hering, den Gadiden); selbst die Wanderfische scheinen ihr Ursprungsgebiet immer wieder aufzu- suchen. Die Fischfaunen ozeanischer Inseln er- weisen sich denen der nächstbenachbarten Festländer im allgemeinen ähnlich, d. h. sie weisen meist generisch, wenn auch nicht spezifisch identische Formen auf. Und zwar sind dies meist solche, die Brack- bezw. Salzwasser nicht scheuen und deren Wandern über mäßige Meeresstrecken daher nicht unwahrscheinlich ist. Sehr landferne, kleinere und geologisch junge Inseln ent- behren der Süßwasserfische. Literatur. L. Agassiz, Rccherclies sur les poissons fossiles, Neuchätel 1833 ä IS44. — L. Agassiz und C. Vogt, Anatomie des Salmones. Mem. Soc. Sc. Neuchätel I845. — G. A. Boulenger, Systematic aecount 0/ Teleostei. Cambridge Not. Bist. 1004. — A. Brauer, Die Tiefsee- ' fische. Ergebnisse der Deutschen Tiefsee- expedition, Vol. 15, 1906 bis 1908. — T. W. Bridge, Fishes. Cambridge Nat. Hist. W04. — I Cuvier und Valenciennes, Uistoire naturelle' des Poissons, 22 Vols. Paris 1828 a I848. — B. Dean, Fishes living and fossil. 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London 1876. — Jordan und Evermann, The Fishes cm lange Skelettchen gefunden: fPalaeospondylus Gunni Traq. (Fig. Die von H. Traquair und W. J. and J. 2). B. Fig. 2. fPalaeospondylus Gunni Traq. A nach Serienschnitten konstruiertes Wachs- modell, ca. 5 mal vergrößert. NachSollas. Aus Zittel. B. Rekonstruktion nach Traquair. Kopf von der Ventralseite; c Cirren, pa Gehör- kapsel, tp Nasalregion, x postoccipitale An- hänge. Unterdevon, Oldred; Caithness, Schott- land. Aus Jaekel. Das fossile Material besonders paläo- zoischer, zum Teil auch noch mesozoischer Ablagerungen hat uns eine Fülle von Fisch- typen geliefert, welche den heute lebenden fremdartig gegenüberstehen, zum Teil so fremd, daß eine bestimmte Einreihung in das System der lebenden Fische unmöglich ist. z. Die Unterklassen und Ordnungen der Fische. Nach Ausscheidung des Leptocardier- typus Amphioxus werden die Fische hier - soweit sie unter Berücksichtigung: der fossilen Formen mit der im zoologischen Teil gebrauchten Systematik in Einklang zu bringen sind • - in 6 Unterklassen aufgeteilt: Cyclostomi, fPla- codermi, f Arthrodira, Elasmobranchii, Dipnoi, Teleostomi. J. Sollas genauer untersuchten Reste sind zum Teil in kohliger Substanz, zum] Teil verkalkt erhalten. Am Vorderende des Kopfes, der länger als breit ist, steht ein (den Mund? umgebender) Kranz von kurzen Cirren; hinter einer breiten Orbital- region (?) machen sich große Gehörkapseln bemerkbar. Andeutungen von Hyoman- dibular- und Mandibularbildungen, von 4 (?) Kiemenbogen werden angenommen. Am Hinterende der Kopfregion ragen 2 längliche Anhänge („Postoccipitalplatten", ? Brustflossen) nach hinten vor. In der Wirbelsäule werden ringförmige Zentra er- kannt; sie tragen obere Bögen mit niedrigen Dornfortsätzen, in der Schwanzregion auch 1110 Fische (Paläontologie) untere Bögen. Die Schwanzflosse ist lang, diphyzerk-oxyzerk, mit niedrigen Flossen- trägern. Von Rippen, Schuppen, paarigen Flossen ist nichts sicheres bekannt. Aus sehr viel späterer Zeit, aus der jüngst- oberkarbonischen Gaskohle von Nyrschan in Böhmen, nennt J aekel den zweiten, cyclostomen-ähnlichen Typus fossiler Fische : f Hypospondylus bohemicus. Vorn am Kopf des ca. 8 cm langen Körpers stehen eigenartige Fortsätze; Jaekel will die 3 Schädelregionen und Mundbögen sowie 4 (?) Kiemenbögen unterscheiden können; von den Wirbeln sind nach ihm paarige Hypozentra und paarige obere Bögen prisma- tisch verkalkt erhalten. Auch hier ist die allein vorhandene oder erhaltene Schwanz- flosse diphyzerk-oxyzerk. WederfPalaeospondylusnochf Hypo- spondylus lassen sich ungezwungen in bestimmte genetische Beziehungen zu den heute lebenden Cyclostomen bringen. In bezug auf die Ausbildung der Schädelregion und namentlich der Wirbelsäule erscheinen sie wesentlich höher differenziert. Wenn die Skelettbildungen der Cyclostomen in der Tat auf regressiven Anpassungs-Umfor- mungsvorgängen beruhen (wie das z. B. Dollo und Jaekel aussprechen), so würden f Palaeospondylus und fHypospon- dylus weniger weit vorgeschrittene Stadien solcher Umformungswege darstellen. B. Unterklasse fPlacodermi (fOstraco- dermi). IfAntiarchi kommen ventrale, den queren Mundspalt hinten begleitende Platten vor, die als dermale Belegplatten einer Mandibel ge- deutet werden könnten). Der Mangel eines festeren, inneren Stützskeletts wird wett gemacht durch die Ausbildung recht sehr verschiedenartiger äußerer Schutzskelette: ein dermaler Schuppenpanzer, dessen Ele- mente sehr verschiedenartigen histologischen Bau aufweisen, kann in der Vorderregion des Körpers zu einer größeren oder geringeren Zahl von oft sehr festen Panzerplatten werden, welche hier den Körper wie mit einem festgefügten Küraß umgeben, während die Hinterregion des Körpers von kleineren, feineren Schuppen bedeckt ist. Die Elemente des Placodermenpanzers mit den dermalen Belegknochen des Teleostomenkopfes und den Elementen des Schultergürtels zu homo- logisieren, ist nicht möglich. Histologie der Panzerelemente. Die kleinen, ± spindelförmigen „Schuppen" I der fAnaspida scheinen dicht gewesen zu sein. Sehr verschiedenartig ist die Panzerung der f Heterostraci. Bei manchen (fThe- ' lodus, fLanarkia) trägt die Haut kleine, flache bis kegelförmige, an das Chagrin der Haie erinnernde Schuppen: ein Dentinmantel — zum Teil von Vitrodentin überzogen — umgibt eine Pulpahöhle (Fig. 3). Bei anderen Ordnungen : 1. fAnaspida, Hetero- straci, 3. f Osteostraei, 4. f Antiarchi (Ober- silur, Devon). Als fPlacodermen oder Panzerfische (mit Ausschluß der devonischen f Arthrodira) wird mit L. Agassiz eine Menge sehr ver- schiedenartig gebauter, recht absonderlich gestalteter Fische zusammengefaßt, die teils aus marinen Gesteinen des Obersilur und Devon, häufiger aber aus limnischen Ab- lagerungen des Devon (Oldred) Europas, in geringerer Zahl auch aus Nordamerika bekannt geworden sind. Gemeinsam ist allen diesen Formen das Fehlen paariger Flossen; der Lokomotion diente ganz allein die heterozerke, sonst recht verschieden gestaltete Schwanzflosse. Allen Placodermen fehlen Verfestigungen der wohl weich, knor- pelig gewesenen Wirbelsäule und der Extre- mitätengürtel.1) Ebenso fehlen Zähne und ver- festigte Kieferbildungen, besonders des Man- dibularbogens ; diePlacodermen werden darum auch öfters als f Agnat ha den übrigen Fischen gegenübergestellt (nur bei den x) Nur bei dein antiarchen fBothriolepis sind im Schwanz Andeutungen von Verknöche- rungen von Dornfortsätzen und Hämapophysen( ?) zu erkennen. Fig. 3. fThe eine Schuppe, p Pulpa, vd lodus sp. Vertikalschliff durch 90 mal vergrößert, d Dentin, Vitrodentin. Obersilur. Nach Rose. Aus v. Stromer. sind die Hautschuppen zu einer ver- schieden großen Zahl von Platten zusammen- gewachsen. Diese lassen bei den f Pteras- pidae 3 Schichten erkennen: die basale Isopedinschicht aus dünnen, parallelen Lagen mit langspindelförmigen Knochenkörperchen; eine mittlere Schicht, deren ^ homogene Grundmasse ein Haufwerk von groben Zellen und Kanälen enthält ; die dritte, äußere Schicht besteht aus zum Teil mit dünner schmelz- artiger Substanz überzogenen Dentinleisten, zwischen denen feine, nach außen ganz enge Kanäle entlang ziehen, welche mit den Zellen und Kanälen der Mittelschicht durch „Pri- mitivröhrchen" in Verbindung stehen (Fig. 4). Fische (Paläontologie) 1111 Die Panzerplatten der fOsteostraci besitzen ebenfalls 3 verschieden struierte Lagen: der unteren Isopedinschicht mit zahlreichen, lang spindelförmigen Knochen- Fig. 4. fCyathaspis(?) Schmidti E. Gein. Schliff durch den Rand des Dorsalschildes, 40 mal vergrößert, a geschichtete Innenlage, Iso- pedinschicht, b großzellige Mittelschicht, c Außen- schicht mit durchschnittenen Dentinleisten. Ober- silur: Gotland. Nach G. Lindström. Aus v. Stromer gerückte Rücken- oder Afterflosse. Am Hinterende des Kopfabschnitts steht eine Schrägreihe von Kiemenlöchern (?). Bei ^Lasanius kennt man hinter dem Kopf acht geknickte Knochen(?)-stäbe, die viel- leicht einen Kiemenkorb andeuten (fEu- phanerops A. S. Woodw. aus dem jüngeren Oldred [Devon] von Kanada mag auch hierher gehören). 2. Ordnung. f Heterostraci, Ray Lankester (f Pteraspidomorphi, Good- rich). Obersilur, unteres Devon (Fig. 6 bis 8). Familien: fCoelolepidae (Obersilur, Devon), ?f Gemünde nidae1) (Unterdevon), f Drepanaspidae (Unterdevon), fPtera- spidae (Obersilur, Unterdevon). Die 20 bis 50 cm langen Fische sind durch die meist breite, niedergedrückte Vorder- region ihres Körpers und durch die sehr viel schlankere und häufig scharf abgesetzte Hinterregion mit verschieden ausgebildetem heterozerkem Schwanz rochenähnlich ge- staltet. Eine irgendwie sichere Scheidung von Kopf- und Brustregion ist nicht durchzuführen. Die Hautpanzerung besteht aus abgeflachten welche dicht aneinander körperchen liegt eine mit groben Zellen und Kanälen erfüllte Mittelschicht auf, und dieser die äußere Osteodentinschicht mit Knochenkörperchen und mit einem Ueberzug bis kegelförmigen dentinösen von schmelzartiger Substanz. In den Panzerplatten der fAntiarchi zeigen die drei Lagen durch- weg das Vorhandensein von Knochenkörperchen. Die Histologie der Panzerung der Placo- dermen zeigt also die verschiedensten Stufen von dichter ( ?) Struktur über placoidähnliche Dentinschüppchen zu Knochenplatten. 1. Ordnung. jAnaspida, Traquair. (fCoelolepidae [Fig Schüppchen, gelagert sind Fig. 5. fBirkenia elegans Traq. Rekonstruktion von Traquair, natürliche Größe, d Rückenflosse (nach Ja ekel Afterflosse); amHinter- rande des Kopfpanzers eine Reihe Kiemenlöcher. Obersilur; Lanark- shire, Schottland. Aus Zittel. Obersilur (Fig. 5) Aus dem jüngeren Obersilur und aus den Uebergangsschichten zum devonischen Oldred von Lanarkshire (Südschottland) und aus Norwegen wurden durch R. H. Traquair zierliche spindelförmige Fischchen ohne paarige Flossen, mit ausgesprochen hetero- zerkem, tief ausgeschnittenem Schwanz be- schrieben: fBirkenia Traq. und fLasa- nius Traq. Bei fBirkenia (Fig. 5) ist der Schuppenpanzer besser bekannt: die Kopfregion (mit rundlicher Orbita ?) ist von schlank spindelförmigen Schuppen bedeckt, die sich zu verschieden gerichteten Systemen (? Anfang zur Differenzierung verschiedener Platten) gruppieren; auf den Flanken sind die hohen Schuppen in bis 5 Längsreihen ge- ordnet ; dorsal oder ventral steht eine Median- reihe von Stachelschuppen (J aekel deutet als Rücken, was Traquair Bauch nannte); gegenüber liegt eine niedrige, nach hinten System polygonaler die in der Vorderregio Anzahl größerer Mittel 3. u. 6]), oder aus einem Täfelchen, zwischen ion des Körpers eine und Seitenplatten Fig. 6. fThelodus scoticus Traq. Dorsal- seite, Rekonstruktion von Traquair. Obersilur, Downton; Logan water, Lanarksliire, Schott- land. Aus Zittel. eingesenkt sind (fDrepanaspidae, Fig. 7); oder die Vorderregion ist von wenigen, l) Vielleicht Elasmobranchier — nach frag- lichen Andeutungen eines inneren Skeletts. 1112 Fische (Paläontologie) :£ massiven Panzerplatten — 1( ?) bis 7 die Lage der Kiemenbögen hinweisen, ebenso dorsalen, 1 ventralen — wie in ein festes eine Reihe paariger Eindrücke auf der Futteral eingeschlossen, während die Ab- Innenseite des Rückenschildes bei dem Pter- dominalregion von feineren, zum Teil rhombiy aspiden fCyathaspis. Ein Loch in den hinteren Seitenplatten von fPteraspis wird als Kiemen- öffnung gedeutet. Bei denf Coe - lolepiden und f Pteraspiden sind kleine seitliche, ziemlich weit vorn liegende Augen er- kannt worden; bei fDrepan- aspis wurden solche in rand- lich ventraler Lage ange- nommen, doch L. Dollo konnte es wahrscheinlich machen, daß diese Form blind war. Auf der Innenseite der Rückenpanzerung wurde bei den f Pteraspidae eine median liegende kleine Grube bemerkt, welche der Lage der Epiphyse (der Pinealdrüse, des „dritten Auges") entsprechen mag. Reihen von kleinen Poren auf dem Dorsalpanzer von fPter- aspis werden mit einem Seitenliniensystem in Verbin- dung gebracht. Nach der Körperform und dem epibatischen Bau der heterozerken Schwanzflosse (mit stärkeren oberen Lappen) waren die meisten f Heterostraci Schwimmformen, die wohl vor- wiegend in flachem, durch- lichtetem Wasser in der Nähe des Bodens lebten, und deren Schwanzflosse sie im wesentlichen abwärts trieb ; auch die ventrale Lage des Maulspalts spricht für Lebens- weise in der Nähe des Bodens. fDrepanas- pis darf um seiner Blindheit willen und nach dem Bau der dem vagilen Benthos an- mit dem Vorderende seines Körpers den Boden aufgewühlt haben. Auch fPteraspis war trotz seines mehr spindelförmigen Körpers wohl im wesent- lichen an die Bodennähe gebunden ; das ven- trale Maul, das starke, doch wohl den Boden aufpflügende Rostrum sprechen dafür. Wenn die als f Heterostraci zusammen- gefaßten Fische eine genetische Einheit repräsentieren, dann ist bei ihnen wohl Umformung und An- Fig. 7. fDrepanaspis gemündensis Schlüt. Rekonstruk- tion von Traquair, ca. 1/3 natürliche Größe. A Dorsal-, B Ventralseite; avl vordere Ventrolateralplatte, c mittlere Dorsalplatte, el äußere Labialplatte, m ,, Mentalplatte", vor- dere Mittelplatte, mo mittlere Ventralplatte, pl hintere Seitenplatte, pvl hintere Ventrolateralplatte, r Rostrale, x Or- bitalplatte (mit Auge?). Unterdevon, Bundenbach Aus Zittel. [Eifel. Fig. 8. fPterapsis rostrata Ag. Rekonstruktion von A. Sm. Wood ward; Seitenansicht, ca. 1/3 natürliche Größe. Unterstes Oldred, Passagebeds; Heret'ordshire. Aus Zittel. sehen Schuppen bedeckt war (f Pteraspidae, Fig. 8). Die heterozerke Schwanzflosse ist tief ausgeschnitten (f Coelolepidae) oder fächerförmig, hinten kaum gebuchtet (f Drepanaspidae), oder (vielleicht) hetero- zerk-oxyzerk (f Pteraspidae). Bei fThe- lodus (f Coelolepidae) ist eine kleine drei- seitige Rückenflosse nachgewiesen. Ueber weitere Organisationsdetails ist sehr wenig bekannt, fDrepanaspis hat einen queren Mundspalt nahe dem Vorder- rande der Ventralseite; bei den f Pter- aspidae muß der Mundspalt ebenfalls ven- tral, Schwanzflosse gehört haben, aber infolge des großen Rostrums weiter folgender Gang der vom vorderen Körperpol entfernt gelegen passung anzunehmen (zum Teil nach Dollo): haben. Flache Querrippung der vorderen Aus leichter beweglichen, weil nur mit Körperregion von fThelodus kann auf ; kleinen Schuppen (Hautzähnchen) gepan- Fische (Paläontologie) 1113 zerten, nektonischen Sehwimmtieren, den fCoelolepidae mit randlich liegenden Augen, wurden auf der einen Seite die gröber gepanzerten, rein benthonisch lebenden 7 D r e p a n aspi d ae , auf der anderen Fig. 9. fAteleapsis tessellata Traq. Auf 1/s verkleinerte Rekonstruktion des Umrisses der Oberseite, vor den genäherten Augen eine kleine antorbitale, hinter ihnen eine große post- orbitale Grube, Schwanz gedreht, im Profil gesehen. Die Panzerung besteht aus ^ gedornten Schuppen. Obersilur; Lanarkshire, Schottland. Seite die schwerstgepanzertenf P t er as pi dae, welche aber trotz ihrer schweren Panzerung kaum schon als reine Benthostiere anzusehen sind, da sie noch ausgesprochen seitlich liegende Augen haben. Dief Heterostraci entstammen zum Teil den an echten Meerestieren armen (± brak- kisch gewordenen) Gebieten des jüngsten Ober- mit den meisten Rochenformen wird noch erhöht durch die Lage der Augen: nahe aneinander gerückt stehen sie auf der Mitte der Kopfoberseite. Die Schwanzflosse ist heterozerk-oxyzerk mit dreiseitigem unterem Segel; von einzelnen ist eine dreiseitige Rückenflosse bekannt. Die Panzerung ist, wie bei den f Hetero- straci, in verschiedenen Stadien der Ver- festigung zu erkennen (Histologie s. oben). Bei den f Ateleaspidae (Fig. 9) ist der breite Vorderteil mit lappigen, gerundeten, hinteren Seitenecken von polygonalen Plätt- chen bedeckt, Rumpf und Schwanz von hohen rhombischen Schuppen. Bei den übrigen Familien ist der Panzer der Vorderregion starr. Die Vorderregion der fCephalaspidae (fCephalaspis Ag. [Fig. 10], fThyestes Eichw. = Auchenaspis Egert., fEu- keraspis R. Lank., f Didymaspis Egert.) wird meist von einem einzigen parabolischen, flachen Schild bedeckt, dessen Hinterecken (auch der mediane Hinterrand) in größere Hörner ausgezogen sind; unter dem kantigen, flachen Rand greift dieser Rückenschild 'ephalapsis Lyelli Unterdevon, Oldred Ab- Rekonstruktion von v. Forfarshire, Schottland . Stromer natürliche (iniße. Aus v. Stromer. silur (Schottland), zum Teil küstennächsten Regionen des marinen Obersilur in Skandi- navien, Galizien, Podolien, Nordamerika, ferner den Flachmeerbildungen des rheini- schen Unterdevon und den limnischen Ab- lagerungen des älteren Oldred (Devon) Europas und Nordamerikas. 3. Ordnung, f Osteostraci, Ray Lan- kester (f Aspidocephali, Brandt; fCe- phalaspidomorphi, Goodrich) (Fig. 9 bis 11). Familien: f Ateleaspidae (Obersilur), fCephalaspidae (Obersilur, Unterdevon), fTremataspidae (Obersilur). Aus den zum Teil nicht mehr rein marinen Ablagerungen des jüngeren Obersilur Schott- lands, des Baltikums und aus dem Oldred von Schottland und Kanada kennt man eine Anzahl von Panzerfischen, welche durch die breite niedergedrückte Vorderregion, durch die meist scharf abgesetzte und schlanke Hinterregion wieder bis zu gewissem Grade den Rochen (auch manchen Panzerwelsen) ähnlich gestaltet sind; die Aehnlichkeit etwas auf die sonst ungepanzerte Unter- seite über. Der Aufbau des Schildes durch Zusammenwachsen aus zahlreichen Täfel- chen ist bei fCephalaspis selbst klar zu erkennen; bei fThyestes ist eine Anzahl von medianen Rückenschuppen mit dem Kopfschilde verschweißt. Der höhere Rumpf von fünfseitigem Querschnitt tragt bis in die Schwanzregion Reihen hoher Schuppen, die zum Teil in der Vorderregion ebenfalls als durch Konkreszenz kleinerer entstanden erkennbar sind; vor der Rückenflosse liegt dachziegelartig eine Medianreihe stärkerer Schuppen. Bei denf Tremataspidae (f Trematas- pis Fr. Schm., Fig. 11) setzt der ovale Rückenschild auch über die Unterseite und bildet so ein einheitliches Futteral, auf dessen Unterseite in einen weiten Aus- schnitt hinter dembreiten, queren, ventralen, aber nahe dem Vorderende gelegenen Maul- spalt ein Mosaik unregelmäßigerer Platten eingefügt ist, Eigentümlich ist bei fCephalaspis ein 1114 Fische (Paläontologie) Paar lappenartiger Anhänge am Hinter- mittleren Lage des Rückenpanzers zusammen ; rande des Dorsalschildes neben den Hörnern sie können also keine paarigen Flossen desselben. Sie sind geschuppt, hängen nach sein (Schutz für Kiemen?). A. Smith Wo od ward direkt 15v mit der In der kleinen Interorbitalplatte der A B Fig.* 11. fTremataspis Schmidti Schrenk. Rekonstruktion von Patten. A Dorsalseite mit prä- und postorbitalen sowie 2 Paaren seitlicher Gruben, mit Schleimkanälen, B Ventralseite, Plattenmosaik hinter dem queren Maulspalt, Kiemenlöcher ( ?) am Vorderrande der Rumpf platte, C Flankenansicht. Jüngstes Obersilur; Rotziküll, Oesel, Russische Ostseeprovinzen. Aus Zittel. Fig. 12. f Pterichtys Milleri Ag. A und B Rekonstruktion der Ober- und Unterseite nach Traquair, C Seitenansicht mit vorgestelltem „Ruderorgan" nach Abel. ca. % natürliche Größe. Mittlerer Oldred, Devon; Schottland. Kopf platten: ag angulare, 1 laterale, locc seitliche occipi- tale, mocc mittlere occipitale, pm mittlere präorbitale, ptm mittlere postorbitale Platte. Hals- brustpanzer, Oberseite: adl vordere dorsolaterale (Operculare), amd vordere dorsomediale (Nuchale), pdl hintere dorsolaterale (Cleithrale), pmd hintere dorsomediale (Postnuchale) Platte. -Unterseite: avl vordere ventrolaterale (Claviculare), ran mentale, mo mittlere ventrale (Inter- clavicula), pvl hintere ventrolaterale (Postclaviculare), sl semilunare Platte. Ruderorgan: a, ar, c, m, t vordere, obere, seitliche, terminale Platten. A, B aus Zittel, C aus Abel. Fische (Paläontolog Ulf) fTremataspidae ist die Andeutung einer Epiphyse gegeben. Eine mediane Grube oder Öeffnung vor den Augen wird als Riech- grube gedeutet. Die Deutung einer medianen Grube hinter den Augen und paariger seitlicher Gruben mit getäfeltem Grunde bei den f Tremataspiden und ähnlich struierter Felder bei den f Cephalas- p i d e n , sowie einzelner Poren ist ganz unsicher. Andeutungen des Kiemenapparates sind erkennbar: Eindrücke auf der Innen- seite des Dorsalschildes und Einschnitte am ventralen Umschlag von fCephalaspis, eine Reihe von Löchern rechts und links zwischen dem ventralen Schilde und dem postoralen Plattenmosaik beif Tremata spis (Patten wollte hier Ansatzstellen gegliederter Füße sehen). Auf dem Dorsalschild von fTremataspis wies Patten verzweigte Schleimkanäle nach. Die ganze Form und Organisation der fOsteostraci läßt sie als Grundfische er- kennen; Form und Bau des Rückenschildes wie der Schwanzflosse von fCephalaspis sprechen für wühlende Lebensweise. Durch die Aehnlichkeit des Dorsalschildes von fCephalaspis -mit dem Cephalon mancher fTrilobiten (f Asaphidae) oder des Xiphosuren Limulus ist wohl haupt- sächlich der Versuch Pattens, Stein m an ns und anderer hervorgerufen, die f Osteostraken als Nachkommen der f Trilobiten oder xi- phosurenartiger Arthropoden zu erklären. Weder die Histologie der Panzer noch irgendein Annahme stützen. Vielleicht besteht zwischen den f Hetero- straken und f Osteostraken durch fThelodus und fAteleaspis Verwandtschaft? Wenn weiter die 3 Familien der f Osteostraken nicht nur durch gleiche Lebensweise kon- vergent geworden sind, und wenn auf gleiche Histologie der Panzerung nähere Verwandt- schaft mit zu begründen ist, dann könnten die fCephalaspidae wie die fTre- mataspidae unter dem Prinzip vor- schreitender Verfestigung des Panzers (welche für im Schlamm wühlende Lebensweise be- sonders vorteilhaft werden mußte) aus fAteleaspis oder aus diesem ähnlichen Formen hervorgegangen sein. 4. Ordnung, f Antiarchi, Cope (f Pter- ichthyomorphi, Goodr.) (Fig. 12). Familie: f Asterolepidae (fAstero- lepis Eichw., fPterichthys Ag., fBo- thriolepis Eichw., f Microbrachium Traq.). Devon. Wesentlich weitergehende Differenzierung dei Panzerung als die Angehörigen der vorigen Ordnungen kennzeichnet die devonischen f Antiarchi (Fig. 12). Eine größere Anzahl von massiven Knochenplatten bedeckt einen vorderen, ± gerundet vierseitigen Kopf- Organisationsdetail kann solche abschnitt, dessen runde Augenöffnungen nahe der Mittellinie auf der Oberseite sitzen. Vom Kopfpanzer scharf getrennt folgt ein viel umfangreicherer, im Querschnitt ± fünf- seitiger Rumpf- oder Halsbrustpanzer aus 2 Gürteln massiver Knochenplatten; an den vorderen Gürtel gelenken die eigentümlichen, von zahlreichen kräftigen Platten um- schlossenen, zugespitzten Seitenanhänge, die „Ruderorgane". Die Panzerplatten sind auf der Oberseite höckerig bis maschig verziert; die Ränder der „Ruderorgane" können mit spitzen Zacken besetzt sein. Der hintere, der Rumpf-Schwanzabschnitt, ist bei fPterichthys und fAsterolepis mit ± gerundeten, skulpturierten Schuppen bedeckt (bei f Bothriolepis nackt?). Der Rücken trägt eine kurze, dreiseitige (bei ifBothriolepis lappige?) Flosse, deren Vorderrand mit kräftigen Fulkren besetzt ist. Der Schwanz läuft in eine schlanke, heterozerk-oxyzerke Flosse mit dreiseitigem unterem Segel aus. Die Panzerung der Kopfoberseite besteht aus einer mittleren Reihe von 4 unpaaren Platten und aus je 4 paarigen Seitenplatten, für welche Traquair und andere indifferente Lagebezeichnungen wählten, während Jaekel sie mit den Knochen des Schädeldaches der übrigen Fische resp. auch der f S t e g o - cephalen homologisiert. Topographisch läßt sich das wohl durchführen, für ein wirkliches Homologisieren fehlt aber jede sichere Grundlage. Zwischen den runden Augenöffnungen liegt ± lose eine kleine, 4seitige Platte (os clubium P an der, median plate Traq., Frontale Jaek.) mit einer Epiphysengrube. Ein gelenkartiger Vorsprung an der inneren hinteren Seitenplatte des Kopfes gibt die einzige Verbindung zwischen Kopf- und Halsbrustpanzer, zwischen denen beiden ein enger Spalt klafft, durch welchen vielleicht Wasser Zutritt zu den Kiemen hatte ( ?). Je 5 Platten 1 dorsale, 2 laterale und 2 \ entrolaterale — bilden die beiden Gürtel des Halsbrustpanzers; Die Seiten- und Ventralplatten will Jaekel mit den Knochen des Operkularapparates und des Schultergürtels der Fische homologisieren; eine zwischen beiden Gürteln liegende, rhombische Ventralplatte nennt er Inter- clavicula, Auch diese Homologisierungen stoßen auf Schwierigkeiten; die beiden dorsalen Platten mußte Jaekel mit in- differenten Namen — Nuchale und Post- nuchale — belegen. Die Panzerplatten stoßen in schrägen, bei verschiedenen Gattungen verschieden ge- richteten Ueberlagerungsflächen aneinander. Ueber die lateralen Halsrumpfplatten ziehen gerade Schleimkanäle, welche auf den Platten des Kopfpanzers in nicht unerheblich 1116 Fische (Paläontologie) anderer Weise verlaufen als sie es sonst bei Fischen tun. Vor den vorderen Ventralplatten liegen quergestellte Plättchenpaare (Semilunar- und Mentalplatten), deren Beziehungen zum Maulspalt unsicher sind. J aekel glaubte einmal bei einem schottischen fAsterolepis Spuren unbezahnter Kiefer und einen kurzen Maulspalt zu sehen. "Weit vorn an den vorderen Ventrolateral- platten(Claviculae J aekel) gelenken durch ein höchst eigenartiges, in gleicher Weise bei Wirbeltieren nicht wieder beobachtetes „Sperrgelenk" die „Ruderorgane". In einer ovalen Grube der Halsplatte trägt eine schräg- längsgestellte Knochenleiste einen helmartigen Gelenkkopf. Dieser wird von den + halbkreis- förmigen Fortsätzen der oberen und unteren „Gelenkplatten" (ar Fig. 12 A, B)des proxi- malen Anhangteils umfaßt. Nerven- und Ge- fäßlöcher in der Halsplatte vermitteln den Konnex zwischen den Weichteilen desKörpers und den von den Panzerplatten des Anhangs eingeschlossenen. Der ganze Anhang konnte bei der genannten Gelenkungsart im wesent- lichen nur vorwärts und rückwärts bewegt werden und zwar in nicht allzu viel von der Horizontalen abweichender Richtung. Der Distalteil des Ruderorgans war in einem „Ellenbogengelenk" gegen den proximalen beweglich, doch nur in der Horizontalebene Als wirkliche den Tieren kaum irgendwie gedient haben. Ebensowenig werden die fAntiarchi mit ihrer Hilfe gar auf geknickten „Ellenbogen" gekrochen sein (Simroth nahm das an). Zum Teil mögen sie lediglich als Balance- mittel gedient haben; dann könnten sie wohl auch die Bedeutung von Schreckwaffen oder Waffen überhaupt gehabt haben; vielleicht dienten sie auch zum Festhalten von Beute- tieren ? Weder mit Armen, noch mit Brust- flossen lassen sich die Ruderorgane unge- zwungen homologisieren. J aekel meint, sie könnten aus den Hörnern des Kopfschildes der f Cephalaspidae oder aus den Hinter- ecken der f Drepanaspidae geworden sein. Goodrich vergleicht sie mit den lappigen Anhängen am Hinterrande des Cephal- aspidenschildes. Die phyletische Stellung der fAnti- archi wird höchst verschieden aufgefaßt. E. D. Cope sah in ihnen Verwandte der Tuni- katen. Wie manche älteren Autoren, hält sie Patten mit den fOsteostraci für Ab- kömmlinge von Arthropoden und bringt sie in Verbindung mit fTrilobiten, Xipho- suren, f Gigantostraken. Ihrem ganzen Bau nach sind sie Wirbeltiere. Nur das bleibt zu diskutieren, ob sie als echte Fische oder etwa nur als fischähnliche andere Wirbel- Ihre Beziehungen f Heterostraci? Wenigstens sich aus der größeren und meist nur wenig weit Ruderorgane können diese Anhänge irgendwie zu den fOsteostraci können trotz der sehr ähnlichen Histologie des Panzers keine allzu engen sein; denn die gleiche Lage der Augen wie bei fCephalaspis kann kaum anders denn als Resultat gleicher Anpassung gedeutet werden. Vielleicht stehen sie in engeren Beziehungen zu den ließe Zahl der Panzer- platten das entnehmen. Die fAntiarchi waren — das Seiten- liniensystem würde dafür sprechen, selbst wenn die Rücken- und Schwanzflossen von fAsterolepis z. B. unbekannt wären Wasserbewohner. Ihre flache Ventralseite, ihre nahe der Kopfmitte sitzenden Augen be- weisen sie als Grundfische. Ihre Kiefer- und Zahnlosigkeit kennzeichnet sie (trotz der spitz gestachelten „Ruderorgane") als Fried- fische, die im wesentlichsten wohl nur von Kleinorganismen des Bodens lebten. Die meisten Funde der höchstens wohl ca. 40 cm messenden Formen entstammen dem devonischen Oldred Schottlands, der russischen Ostseeprovinzen und des südöst- lichen Kanada. Ganz vereinzelte Funde wurden im marinen Mitteldevon des rheini- schen Schiefergebirges, etwas zahlreichere in den marinen Domanikschiefern des Ober- devon im Timan gemacht. C. Unterklasse: fArthrodira, Cope (f Coccosteomorphi, Goodr.) (Fig. 13 bis 17). Als Zeit- und zum Teil auch als Orts- genossen der f antiarchen Placodermen begegnet uns ein diesen in vielem ähnelnder Fischtyp, die fArthrodira. Meist grobe Knochenplatten panzern den Kopf und den bei den meisten durch einen ± weiten dorsalen Spalt geschiedenen Hals-Brust- abschnitt; der in einen schlanken Schwanz mit diphyzerkem oder (?) heterozerkem Flossensaiim auslaufende Rumpf scheint nackt gewesen zu sein, oder er war bei man- chen durch dünne Schuppen geschützt. Der Besitz von „Kiefern" mit schneidenden und gezackten Rändern, seltener mit flach gestellten „Zahnplatten", Verkalkungen der oberen und unteren Bögen der knorpeligen Wirbelsäule, der — nicht unbestrittene - Besitz von paarigen Flossen zeichnet sie besonders aus. Die gewaltigsten Fische des Paläozoikums gehören zu den fArthrodira. Bei f Dinich- thys und f Titanichthys sind Schädel- panzer von mehr als 1 m Länge und noch größerer Breite gemessen; andere Formen sind mittelgroße bis kleine Fische. Die Knochenplatten des Kopfpanzers1) tiere aufzufassen seien. l) Die Angaben über die Panzerung sind im wesentlichen nach der bestbekannten Gattung fCoccosteus gemacht. Fische (Paläontologie) 1117 :/:■■ Fig. 13. fCoccosteus decipiens Ag. Rekon- struktion des Skeletts von v. Stromer (größten- teils nach Jaekel und Traquair), kaum y2 na- türliche Größe (Be"cken und Afterflossenbasis un- sicher). Unterdevon, üldred; Schottland. Aus v. Stromer. werden meist mit Lagebezeichnun- gen benannt; Jaekel homologi- siert sie mit den Elementen des normalen Fisch- schädels: In der Mediane liegen teils un- paare Platten: hintere Mittel- platte (Supraocci- pitale), Pineal- platte (Frontale) mit Epiphysenloch oder -grübe, Ro- stralplatte (Eth- moidale, Nasale), teils paarige: Cen- tralia (Parietalia) zwischen der hin- teren Mittelplatte und dem Pineale. Seitlich liegen paarige Platten: hinten rechts und links Exoccipitale (Epioticum), Mar- ginale (Supratem- porale): in der Umrahmung der Orbita rechts und links : Präorbitale (Präfrontale), Post- orbitale oder auch Centrale 2 (Post- frontale), Suborbi- tale oder Maxillare ( Jugale). Die meist recht großen Augenhöhlen lie- weit vorn; Male ist ein grober, meist wohl vierteiliger Skle- ren einige rotikaring nachge- wiesen. Die Ro- stralplatte kann wie bei fCocco- steus und Oxy- osteus ;£ weit vorgestreckt sein (mit Nasenöffnun- gen? versehen). Besonders auf- fallend sind am Kopfskelett der- ni.i lc Knochen- 1 platten („Gna- thalia"), die nach Lage und Ausbil- dung als Kiefer fungierten. Unter der großen Suborbi- talplatte (oft Maxillare genannt) liegen 2 dem Maxillare und Prämaxillare (oder den Vomeres und Palatina) gleichgelagerte Knochen. Zu ihnen tritt ein ' „Unter- kiefer": rechts und links je ein großer Knochen; sie stoßen in einer, bei manchen gezackten, Symphyse zusammen, in der sie nach Hussakof beweglich waren. Diesem letzteren Knochenpaar wurde meist die Unterkiefernatur abgesprochen; Jaekel aber glaubt an einem f Pholidosteus Friedeli ein Articulare (als Aequivalent des Meckel- schen Knorpels, nur außen schwach ver- knöchert), ein Angulare und Spleniale nach- gewiesen zu haben. Trifft das zu, dann ist Fig. 14. fPachyosteus bulla Jaek. Kopt- panzer von oben, mit Plattenbezeichnung nach Jaekel: E Epioticum, F Frontale, J Jugale, N Nasale, (Js Supraoccipitale, P Parietale, Prf Präfrontale oder Lacrimale, Ptf Postfrontale. Marines Oberdevon; Wildungen. Nach Jaekel. Aus Zittel. Fig. 15. f Diniehthys intermedius Newb. Kieferapparat rechts, von außen. Stark ver- kleinert, a vordere, p hintere Zahnplatte des Oberkiefers, md Mandibel. so Suborbitalplatte mit Schleimkanälen. Oberdevon; Ohio. Nach A. Sm. Wood ward. Aus Zittel. echte Unterkieferbildung zweifellos. Eigen- tümlich ist die Bezahnung der Kiefer: nicht dentinöse Zahnbildungen, sondern ledig- lich Zuschärfungen und Zackungen der Knochenränder sind beobachtet; die Zähne der „Oberkiefer" greifen über die der„Unter- kiefer" hinüber. Das meist schneidende 1118 Fische (Paläontologie) Gebiß ist bei manchen (jMylostoma) durch Ausbildung von breiten Platten zu einem knackenden, quetschenden geworden. Der (bei f Macropetalichthys und einigen anderen nicht nachgewiesene und nach Eastman hier wohl auch fehlende) Hals-Brustpanzer zeigt auf der Ventral- seite auffallende Aehnlichkeit mit dem der f Antiarcha. Dorsal ist nur eine Platte vor- handen (mittlere Dorsalplatte, das Nuchale o.e. ßt.e. Fig. 16. fHomosteus Milleri Ag. Kopf- und Halsbrustpanzer, 1/9 natürliche Größe. A, B, C unbestimmte Knochen, adl vordere dorso- laterale (Collare), ae ethmoidale oder nasale, c zentrale oder parietale, eo äußere occipitale oder epioticale, md mittlere dorsale (Nuchale), mo mittlere occipitale, pdl hintere dorsolaterale (Supracleithrale), po präorbitale, pte pineale oder frontale, pto postorbitale Platte. Devon, mittleres Oldred ; Caithness, Schottland. Nach Traquair. Aus Zittel. oder Cervicale Jaekels), die hinten auf ihrer Unterseite einen vertikalen Fortsatz tragen kann, über welchem Jaekel eine Nacken- flosse konstruiert. Darunter folgen 2 Paare seitlicher Platten: oben vorn ein größeres Collare, dahinter das kleinere Supra- scapulare oder Supracleithrale Jaekels; darunter vorn das größere Cleithrale oder Operculare Jaekels und hinten das an seinem Hinterrande tief ausgeschnittene Scapulare oder Cleithrale Jaekels. Ventral liegen zwei größere Plattenpaare, die vorderen und hinteren Ventrolateralia (Claviculae und Postclaviculae Jaekels), sie umschließen eine ± rhombische Mittelplatte (Interclaci- vula), und zwischen das vordere Plattenpaar ist von vorne her eine mehr fünfseitige Medianplatte (Präclavicula) eingeschoben. Vor diesem Plattensystem lagert auf der Ventralseite ein Paar spangenförmiger Knochen, die quergestellten Interlateralia (Jaekels Jugularia). Die von Jaekel vorgenommene Homologisierung der Platten des Hals-Brustpanzers mit den Elementen des Schultergürtels der Fische liegt natür- lich nach Lage der Knochenplatten nahe, sie bleibt hier aber ebenso hypothetisch wie bei den f Antiarchi. Zwischen Clavicula und Cleithrum Jaekels schiebt sich nahe dem Vorderrande des Hals-Brustgürtels ein kürzerer oder längerer, ungeteilter Knochen- stab ein (Jaekels Spinale). Vielfach wird dieser mit dem „Ruderorgan" der f Anti- archi homologisiert; Jaekel brachte ihn einmal auch mit Radii branchiostegi in Ver- bindung. Bei manchen Formen (f Acanth- aspis, fPhlyctaenaspis) liegt der Seiten- stachel zum größten Teil seiner Länge den „Claviculae" an. Zwischen dem Kopf- und Hals-Brust- panzer existiert eine Gelenkverbindung: Am Vorderrand des Collare greift ein vor- gestreckter Gelenkkopf in eine entsprechende Grube am Hinterrande des „Epioticum". Ueber dieser Gelenkstelle klafft ein verschieden breiter Nackenspalt in der Panzerung, aus dem eine zum Teil recht erhebliche Beweg- lichkeit des Kopfabschnittes in der Richtung der Symmetrieebene gefolgert werden kann. Die Panzerplatten sind meist gekörnelt bis feinhöckerig verziert; bei manchen, wie bei f Titanich thys sind sie glatt und waren dann wohl von der Körperhaut überzogen. Ueber die Platten des Schädels zieht vom Collare her ein kompliziertes, bei ver- schiedenen Gattungen verschieden struiertes Seitenliniensystem hin. Von der knorpelig angelegten Wirbel- säule sind obere und untere, verkalkte Bögen mit neuralen und hämalen Fortsätzen bekannt (f Coccosteus, f Dinichthys). Eine Jaekelsche Rekonstruktion gibt auch Rippen an, von denen sonst nichts nach- gewiesen ist. Gegliederte Strahlen der Rücken- flosse sind bekannt. Aus dem weiten, hinteren Ausschnitt des Hals-Brustpanzers folgert Jaekel die Exi- stenz paariger Brustflossen, und einmal will er sogar eine gegliederte, beschuppte Flossenachse erkannt haben; Belege hierfür sind bislang nicht publiziert. Weiter hinten, resp. in recht verschiedener Lage hinter dem Hals-Brustpanzer sind i spateiförmige Platten beobachtet worden, welche meist als Becken gedeutet wurden. Strahlen unterhalb dieser Platten sollen die Existenz von Bauch- flossen beweisen. Das hohe Becken sollte, mit der Wirbelsäule in Verbindung stehend, nach Jaekel auf eine Benutzung der Hinter- extremität zurückweisen, welche ähnlich war, wie bei den Tetrapoden. Ein bei fCoccosteus beobachtetes, weiter zurück- liegendes Plättchen wird als Träger einer Analflosse gedeutet. Bashford Dean bestritt die Existenz eines Beckens, paariger Flossen überhaupt ; er sah in den diskutierten Platten, nach ihrer mit den dermalen Panzer- knochen übereinstimmenden Struktur, Reste eines Hautpanzers und nicht Teile eines Fische (Paläontologie) 1119 inneren Skelettes. Die Form von Rumpf und Schwanz bleibt nach allem recht wenig sicher zu beurteilen. Es ist nur wahrschein- lich, daß einem relativ kurzen Rumpf ein langgezogener, wenn auch kaum peitschen- förmiger Schwanz (wie ihn Jaekel einmal rekonstruierte) folgte; über den Rücken zog eine ziemlich hohe Rückenflosse; die Form der wahrscheinlich diphyzerken Schwanzflosse ist unbekannt. Die verschiedene Ausbildung der von den meisten Formen nur mehr oder weniger unvollständig erhaltenen Panzerung läßt die Unterscheidung von 2 Ordnungen zu: 1. f Anarthrodira Dean. Hier fehlt die Hals - Brustpanzerung entweder voll- kommen oder sie ist mit dem Kopfpanzer verwachsen (?). In der Mediane des Kopf- panzers treten nur unpaare Knochen auf (hintere Mittelplatte und Pineale, oder auch noch das Rostrale), durch welche die Centralia (Parietalia) beiseite gedrängt sind, f Macro- petalichthys Norw. u. Ow. (Mitteldevon der Eifel und von Nordamerika). PfAstero- steus Newb. (Devon, Nordamerika). 2. Ordnung: f Arthrodira s. str. Kopf- und Hals-Brustpanzer sind deutlich ausge- bildet und getrennt. Im Kopfpanzer schieben sich die paarigen Centralia (Parietalia), manchmal auch die präorbitalen Platten zwischen die hintere Mittel- und die Pineal- platte. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der f Arthrodiren gehört hierher. Nach der verschiedenen Ausbildung der Panzerung lassen sich die vielen Typen in eine Anzahl von Familien ordnen, welche aber nicht besonders scharf zu definieren sind. Bei Fig. 17. fRhinosteus Traquairi Jaek. .Ma- rines Oberdevon, Wildungen. Rekonstruktion von Jaekel (Flossenformen unsicher!). Y2 natürliche Größe. fAcanthaspis Jaek. und fPhlyctaen- aspis Traq. sind die kräftigen Seiten- stacheln fast ganz an die vorderen Ventro- lateralplatten gelegt. Ungemein zahlreich sind besonders aus dem oberen Devon der Gegend von Wildungen Formen bekannt ge- worden, welche sich ± enge anfCoccosteus Ag., Fig. 13, anschließen (f Brachydirus v. Koen., f Pachyosteus (Fig. 14),'fOxy- osteus, fRhinosteus Jaek. (Fig. 17) u. a. m.). Aus dem Devon Nordamerikas (seltener aus Europa) sind die Riesenformen von fDinichthys Newb. und fTita- nichthys Newb. bekannt. Im nordame- rikanischen Devon treten auch die durch wenige Pflasterzähne besonders ausgezeich- neten, wenigen Arten von fMylostoma Newb. auf. f Homosteus Asm. (Fig. 15) hat einen wenig gegen den Hals-Brust- panzer beweglichem Kopfpanzer, besonders große hintere Kopfplatten, große Orbitae, an deren Umrandung auch die Centralia (Parietalia) teilnehmen (Devon, Europa). f Ptyctodontidae A. Sm. Woods. Aus dem Devon Nordamerikas und Europas sind verschiedentlich große, seitlich komprimierte Zahnplatten bekannt geworden, welche teils an die „Kiefer" von f Arthrodiren, teils an die Zähne von Chimaeriden (durch das Vor- kommen von Tritoren, Reibinseln) erinnern fPtyctodus, f Rhynchodus Newb., f Rham- phodus Jaek. Von letzterer Gattung konnte Jaekel einen „Schultergürtel" beschreiben, der durch ein Collare, großes Cleithrum, große Cla- vicula und durch einen zwischen Cleithrum und Clavicula eingeschalteten Seiteiistachel viele Uebereinstimmung mitdem Hals-Brustpanzer der f Arthrodira aufweist. Diese Reste wurden teils direkt zu den Chimaeriden gestellt, teils mit den Stören in Verbindung gebracht; nach L. Dollo sind sie am besten an die f Arthro- dira anzuschließen. Die f Arthrodiren waren teils Bewohner der Oldredgebiete des Devons, teils aber sind sie auch aus echten Meeresablagerungen der Devonzeit bekannt geworden. Nament- lich im marinen Devon des rechtsrheinischen Schiefergebirges, besonders im oberen Devon der Gegend von Wildungen, wurde eine Menge von f Arthrodiren, vorwiegend Ver- wandte von fCoccosteus, gefunden. Als Anpassung an das Leben im Meer ist bei diesen Formen die Panzerung dünner, wesent- lich leichter als bei den aus dem Oldred der russischen Ostseeprovinzen, Schottlands und Nordamerikas bekannten Formen ; immer- hin kommen auch in marinen Gesteinen gröber gepanzerte Reste vor, wie die großen, dicken "Panzerplatten von f Aspidichthys Newb. aus dem Devon des Sauerlandes beweisen. Bei den Formen der Oldredfazies scheint die vordere Körperregion im allge- meinen niedergedrückter gewesen zu sein, als bei denen aus rein marinen Bildungen. Die systematische Stellung der f Arthro- dira ist eine ganz ungemein umstrittene. Ab- gesehen davon, daß sie gar nicht den Fischen zu- gerechnet worden sind, wurde es versucht, sie mit den verschiedensten Gruppen von Fischen 1120 Fische (Paläontologie) in Verbindung zu bringen, bei welchen Versuchen manche der Autoren sich lebhaften Wechsels ihrer Ansichten befleißigten. Sie wurden mit den Teleostomen in Verbindung gebracht (Huxley, Traquair, Täte Regan) mit den Chimae- riden (z. B. von Jaekel), mit den Dipnoern (Newberry, Eastman), mit den Stören (Jaekel), mit den fAntiarchi unter den fPlacodermen (M'Coy, Pander, Huxley, Jaekel, Regan', Hussakof). Die Verbindung mit den Dipnoern wurde in jüngerer Zeit besonders von Eastman auf Grund der Bezahnung von fMylostoma leb- haftest befürwortet. Die Aehnlichkeit der Zahn- platten dieser Arthrodiren mit denen der Dipnoer beweistausschließlich gleiche Ernährung, das Zerknacken hartschaliger Beutetiere; die aus Trabekulardentin gebauten Zähne der Di- pnoer sind etwas durchaus anders als die Kau- platten von fMylostoma. Die vermutete Hyostylie der fArthrodiren müßte erst er- wiesen werden. Auch die Aehnlichkeit des Schädel- daches des lebenden Ceratodus mit dem von fDinichthys ist nicht zu hoch anzuschlagen, wenn man an die sehr zahlreichen Platten denkt, welche den Schädel eines devonischen Dipnoers (fDipterus) bedecken. Schließlich ist nichts den paarigen Flossen der Dipnoer im Bau gleichen- des bei den fArthrodiren nachgewiesen. Für etwaige Beziehungen zu Chimaeriden ist, selbst von der Panzerung der fArthrodiren abgesehen, nichts irgendwie Beweisendes zu er- gründen. Die Möglichkeit, daß die fArthrodira irgendwie mit den f Pia c oder mi verwandt seien, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wennwohl es schwer ist, selbst zu den ihnen äußerlich ähnlichsten fAntiarchi bestimmte Verbindungslinien zu konstruieren. Bei beiden ist die Hals-Brustpanzerung sehr ähnlich, aber wie das ,, Ruderorgan'1 der f Asterolepiden zu dem Seitenstachel der fArthrodira, die Kiefer- losigkeit der ersteren zu den Kieferbildungen der letzteren in natürliche Beziehung zu bringen wäre, ist vorläufig ganz ungeklärt. Am richtigsten dürfte es sein, die fArthro- dira als eine selbständige Unterklasse der Fische aufzufassen, welche durch ähnliche Lebensweise, als Grundbewohner, in Form und Panzerung den f Asterolepiden unter den fPlacodermen^ konvergent geworden sind. D. Unterklasse: Elasmobranchii, Bona]). (Chondropterygii, Cuv.). Die hier als Elasmobranchier im weiteren Sinne (vgl. Zoologischer Teil, S. 1097) zu- sammengefaßten Fische gehören mit zu den ältesten Vertretern des Fischstammes, welche uns bekannt sind: Als fOnchus Ag. wurden aus dem Obersilur einige „Ichthyodorulithen", Flossenstacheln, beschrieben, welche ver- mutlich dem alten Haityp fAcanthodes angehören. Eindeutige Reste sind seit dem Devon bekannt. Die Elasmobranchier sind dadurch von Interesse, daß manche ihrer Gattungen recht langlebig sind: fAcan- thodes vom Silur bis zum Perm, N o t i d a n u s und andere vom Jura bis jetzt. Die hier vereinigten Ordnungen sind: 1. fAcanthodi, 2. f Ichthyotomi, 3. Plagio- stomi, 4. Holocephali. a) Ordnung: fAcanthodi, Agassiz (Obersilur — Perm) (Fig. 18, 19, 20). Fig. 18. fAcanthodes Mitchelli Eg. Natür- liche Größe. Unterdevon, Oldred; Farnell, Schottland. Nach Egerton. Aus Zittel. Fig. 19. fAcanthodes gracilis Beyr. Rumpf- schuppen, vergrößert, a Außenseite, b Innen- seite, c isolierte Schuppe. Perm, Rotliegendes. Aus Zittel. Die zierlichen Fischchen von 5 bis ca. 25 cm Länge mit spindelförmigem Körper sind von den übrigen Elasmobranchiern durch manche ganz besonderen Merkmale unterschieden. Der Körper ist mit einem dichten Pflaster kleiner, kaum stecknadelkopfgroßer, dicker, ± rhombischer Schuppen bedeckt, welche ganz wesentlich von den Placoidschuppen der Haie abweichen: Ihnen fehlt die Pulpa; sie werden aus parallelen Lagen dentin- ähnlicher Substanz (ohne Knochenzellen) aufgebaut, in welche feinste, wenig ver- zweigte Kanälchen dringen; ihre Außenlage wird von Schichten ganoinartigen Charakters, nicht von Schmelz gebildet. Diese Schuppen bedecken zum Teil auch die Flossen; auf dem Kopf werden sie durch ein dichtes Mosaik etwas größerer, ± rundlicher Schuppen ersetzt (bei fAcanthodes). Am stumpfschnauzigen Kopf sitzt der lange Maulspalt fast terminal. Das Auge ist von einem Sklerotikaring aus wenigen, dentinähnlichen Platten umgeben. Außer einer heterozerken, epibatischen Schwanz- flosse treten 1 oder 2 Rückenflossen auf, 1 Afterflosse und meist kräftig ent- wickelte Brust- und Bauchflossen. Mit Fische (Paläontologie) 1121 Ausnahme der Schwanzflosse ist der Vorder- rand der ± dreiseitigen Flossen von einem kräftigen Flossenstachel, von gleicher Struk- tur wie die Schuppen, gestützt. Spekulativ nach der Richtung der „Seitenfaltentheorie" wurde öfters der Umstand ausgenutzt, daß bei mehreren f Acanthodiern zwischen Brust- und Bauchflosse überzählige Flossenstacheln vorkommen. Am hyostylen Schädel, der etwas genauer nur von fAcanthodes bekannt ist, fallen wenigstens bei der jüngsten Art, fAcantho- des Bronni aus dem Perm, Palatoquadrat- und Mandibularknorpel dadurch auf, daß sie in getrennten Stücken verkalkt sind, zu denen am Unterkiefer noch ein als Spleniale (Devon), fAcanthodopsis Haue. u. Atth. (Oberkarbon). Dief Ischnacanthidae haben 2 Rücken- flossen, keine überzähligen Flossenstacheln, f Ischnacanthus Powr. (Devon). Für die f Diplacanthidae sind außer 2 Rückenflossen ein bis mehrere Paare von überzähligen Stacheln zwischen Brust- und Bauchflosse charakteristisch. fDiplacan- thus, fClimatius Fig. 20, fParexus Ag. (Devon). Zum überwiegendsten Teil entstammen die f Acanthodier den devonischen Oldred- ablagerungen Europas; sehr viel seltener sind sie in denen Nordamerikas. Nur wenige fAcanthodes und fAcanthodopsis sind mm-"- ' IIP Fig. 20. fClimatius Macnicoli Powr. sp. Wo od ward. Devon, Oldred ; Aus Abel. Schottland. Nach A. Sm. (J aekel), Ceratohyale (A. Sm. Wood- ward), „extramandibulärer" Stachel (0. M. Reis) gedeuteter Dermal,,knochen" auf- tritt. Die spitzigen Zähnchen sind den Kiefer- rändern fest aufgewachsen. Fünf Kiemen- bögen sind nachgewiesen, und fünf Kiemen- spalten ohne Opercularapparat wahrschein- lich. An der Wirbelsäule sind Spuren ver- kalkter oberer und unterer Bögen erkannt. Im Schultergürtel sind bogen- und platten- artige Elemente beobachtet, die ihrer Lage nach als claviculare und cleithrale Bildungen gedeutet wurden. Spuren von Flossen- strahlen wurden bei fAcanthodes er- kannt. Ueber die Flanken zieht eine deutliche Seitenlinie. Nach der Zahl der Rückenflossen und nach dem Fehlen resp. Auftreten über- Flossenstacheln lassen sich die Gattungen in 3 Familien ein- reihen. Die fAcanthodidae besitzen nur eine Rückenflosse, überzählige Flossenstacheln kommen bei ihnen nicht vor. fAcanthodes Ag., Fig. 18, 19, Devon bis Perm (?f Onchus Ag. Obersilur), f Cheiracanthus Ag. zähliger wenigen aus dem Karbon bekannt, fAcanthodes kommt dann noch im Rotliegenden (Unter- perm) Deutschlands vor. — Die sicher deutbaren Reste (abgesehen von ober- silurischen Flossenstacheln) lassen nach ihrem Vorkommen die fAcanthodi als wohl ausschließliche Bewohner von Binnenge- wässern der Landfesten ansprechen. Während früher die f Acanthodier gewöhnlich als Ganoiden klassifiziert wurden (man vergleiche die sehr ähnliche Beschuppung des devonischen f Palaeonisciden f Cheirolepis), werden sie heute, da ihnen ein Operkularapparat und die für Ganoiden normalen Kieferbelagknochen fehlen, trotz ihres abweichend struiertenSchuppen- kleides als Elasmobranchier gedeutet. Hier müssen sie aber als ein ganz besonderer Seiten- zweig — » aus einer noch unbekannten Wurzel — aufgefaßt werden, welcher weder denf Ichthyo- tomi des Paläozoikums, noch den Plagio- stomi wirklich nahegestellt werden kann. b) Ordnung: f Ichthyotomi, Cope (fProselachii, Döderlein), Devon bis Perm. (Fig. 21, 22). Zwei Typen paläozoischer Haie mit ± spindelförmigem Körper, mit langem, fast terminalem Maulspalt,- mit heterozerk- epibatischem oder diphyzerkem Schwanz, mit wenig verkalktem Innenskelett, ohne Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 71 1122 Fische (Paläontologie) deutliche Gliederung der Wirbelsäule, zeich- nen sich durch lappenförmige paarige Flossen aus, an deren langer, gegliederter Achse (Metapterygyum) die Flossenstrahlen ^ deut- lich archipterygial angeordnet sind. Die Beckenflosse der Männchen läuft in ein Pterygopodium (Begattungsstachel) aus. Flossenstacheln fehlen. Die zackigen Zähne, in Querbändern angeordnet, funktionieren und folgen einander in der dem Revolver- gebiß echter Haie entsprechenden Weise. Unterordnungen: j Cladoselachii, fPleur- acanthi. 1. Unterordnung: f Cladoselachii (Pleuropterygii) (Fig. 21). Fig. 21. fClados- clache Fyleri Newb. Unterseite, Rekonstruktion von Ja ekel, l/6 natür- liche Größe. a Mandibel, b Auge mit Sklerotikaring, c Kiemenbügen, (1 Brustflosse mit parallelen Strahlen und mit gegliederter langer Achse (e), f Becken, g Bauch- flosse mit geglie- derter langer Achseh (? Pterygopodium); die Seitenkiele am Schwanz sind nicht sezeichnet. Ober- devon, Clevelahd- shales; Ohio. Aus v. Stromer. Aus dem marinen Oberdevon von Ohio (Cleveland Shales) sind zahlreiche Reste des etwa 60 bis 150 cm langen Haies f Clado- selache Dean bekannt, über dessen eigen- artige Organisation besonders B.Dean in mehreren Publikationen berichtete. Der schlank spindelförmige Körper mit stumpfer Schnauze, mit weit vorn liegenden, von einem Sklerotikaring aus zahlreichen Plätt- chen umgebenen Augen läuft in eine kurze, hohe, hinten vertikal abgeschnittene Schwanz- flosse aus, vor welcher eine Hautfalte rechts und links je einen Horizontalkiel am Schwanz- flossenstiel bildet. Eine höhere vordere, eine niedrigere hintere Rückenflosse sind vor- handen. Die paarigen Flossen sind i drei- seitig lappenförmig; die Afterflosse ist nicht nachgewiesen. Die Haut trägt kleine Placoid- i Schüppchen. B.Dean erkannte Spuren oberer ver- kalkter Bögen. Ein schlankes Hyomandi- bulare hinter dem Palatoquadratum spricht für Hyo- oder Amphistylie des Mandibular- knorpels. Nach hinten an Größe etwas abnehmende Kiemenbögen sind erkennbar. Der Schultergürtel wird durch hohe breite (geteilte?) Knorpelspangen gebildet. In der breitlappig dreiseitigen, weder vorn noch hinten (?) vom Körper abgesetzten Brustflosse ist die Achse ein großes Meta- pterygium, welches nachhintenineinelängere Reihe von Knorpelsegmenten ausläuft. Vor dem Metapterygium stößt an den coracoidalen ( ?) Teil des Schulterbogens eine Anzahl kurzer Knorpelstrahlen (welche dem Meso-_ und Propterygium entsprechen). Die nahezu parallelen ungegliederten Strahlen der Flossen liegen vor und unter dem Metapteiygium; an das zweite Segment der Achse sind nur noch wenige kurze Strahlen angegliedert. An die Beckenspange ist eine ganz analog gebaute, aber sehr wesentlich niedrigere Flosse gelenkt, in deren Basis noch An- deutungen eines propterygialen Knorpels erkennbar sind, und deren Achse (nur beim Männchen) in ein schlankes Pterygopodium ausläuft. Der Bau dieser Flossen läßt sie als ein uniseriales Archipterygium auffassen. Für B.Dean und andere wurde die Aus- bildung der paarigen Flossen von fClado- selache wichtig als Beweismittel für die Entstehung paariger Gliedmaßen aus Seiten- falten. ' In den unpaaren Rückenflossen sind den paarigen Flossen analoge, parallele Strahlen vorhanden. Die auffällig hohe, kurze Schwanzflosse ist — manchen Tele- ostiern ähnelnd — äußerlich homozerk, innerlich deutlichst heterozerk. Ueber dem steil aufwärts gebogenen Ende der Wirbelsäule stehen kurze breite Epuralia; das untere Schwanzsegel wird von langen Hypuralien durchzogen. Die Zähne sind mehrspitzig; eine mittlere Spitze ist besonders hoch; auch die vordere und hintere können erheblichere Höhe er- reichen. Zahlreiche, meist nur auf isolierte Zähne, J seltener auf Reste uniserial gebauter paariger I Flossen gegründete Gattungen des Karbon und Perm Europas und Nordamerikas — ; aus marinen wie limnischen Ablagerungen — ■ stehen wohl in allerengsten Beziehungen zu IfCladoselache, so fCladodus Ag., fSymmorium Cope, fPhoebodus St. J. |u. W., fDicentrodus Traq., fChon- drenchelys Traq. (?). 2. Unterordnung: fPleuracanthi (Ichthyotomi im engeren Sinne) (Fig. 22). Fische (Paläontologie) 1123 Nackthäutige — bis über 1/2 m lange — Haie des Karbon und Perm, besonders aus Süß- und Brackwasserablagerungen, mit stumpfer Schnauze, fast terminalem Maul- spalt, meist mit beweglichem, langem, mit Zähnchen besetztem Nackenstachel, mit langer Rückenflosse, die nur durch eine schwache Kerbung von der langen, diphyzerk- oxyzerken Schwanzflosse getrennt ist, er- scheinen durch die deutlichere Archiptery- — die in der Brustflosse deutlich biserial von i ge- gliederten Strahlen begleitet — durch stärkere Verkalkung des Innenskeletts höher spezia- lisiert als die f Cladoselachii. Am Schädel inseriert das große Palato- quadratum zwischen der Postorbital- und der Epiotikalecke, hinter ihm ein schlankes Hyomandibulare, das mit Kiemenstrahlen besetzt ist. Fünf nach hinten kleiner giumform der paarigen Flossen gegliederte Achse ist wenigstens Gattungen: fDiplodus Ag., fDittodus, fAganodus Ow., oder auf isolierte Stacheln begründete: f Orthacanthus Ag., fComp- sacanthus Newb. u. a. m. anzuschließen. B. D ean will genetische Beziehungen zwischen den fCladoselachii und den fAcanthodi konstruieren; aber die letzteren sind in ihren meisten Organisationsdetails in einer Richtung spezialisiert, welche aus dem Bau von fClado- selache z. B. nicht wohl abgeleitet werden kann. c) Ordnung Plagiostomi Cuv. (Se- lachii ant), vgl. Zool. Teil S. 1097. Die Vorläufer der in den Meeren der Jetztzeit weit verbreiteten, formenreichen Haie und Rochen lassen sich mindestens seit den Zeiten des Unterkarbon nachweisen. Zwar kennen wir aus dem Devon, selbst aus dem Obersilur, Flossen- und Kopf- stacheln, „Ichthyodorulithen" — wie sie Buckland nannte — , welche Haien und : ■■ . ■ Fig. 22. fPleuracanthus sessilis Jord. sp. Rekonstruktion des Skeletts nach Jaekel, V4 natürliche Größe. Unterperm, Rotliegendes; Saarbrücken. Aus Jaekel. werdende Kiemenbögen sind vorhanden. In der Wirbelsäule sind obere und untere Bögen mit Fortsätzen verkalkt. Der lange, fast vollständig einheitliche, unpaare Flossen- saum wird von gegliederten, knorpeligen Trägern gestützt; deren je 2 auf ein Wirbel- säulensegment kommen. Der Schulter- gürtel erscheint gegliedert — rechts und links je dreiteilig — . Die vorderen Strahlen der lappigen — aber jetzt vom Körper deutlich abgesetzten — Brust- und Bauchflosse inserieren am Schultergürtel, resp. an dem nach hinten spateiförmig verbreiterten Beckenknorpel. Das Metapterygium der Beckenflossen läuft beim Männchen in ein Pterygopodium aus. Zwischen Becken und Schwanzflosse stehen 2 kurze, schlank lappen- förmige Flossen (2 Anales oder Analis und 1 Caudalis ?), welche durch gegliederte Knorpel- strahlen gestützt werden, die sich an die hämalen Bogen der Wirbelsäule anfügen. Die Zähne tragen auf dicker, breiter Basis 2 ;£ schlanke Spitzen, zwischen denen ein kleiner Mittelzacken sitzt. An die bestbekannte Gattung fPleur- acanthus Ag. (Xenacanthus Beyr.) (Fig. 22) aus dem limnischen Oberkarbon und Unterperm von Frankreich, Deutschland, Böhmen, England, Texas sind eine Anzahl meist nur nach isolierten Zähnen bekannte Haiverwandten angehört haben müssen; doch mit Ausnahme mancher wohl auf fAcanthodi zurückzuführender Stacheln (und der Vorkommnisse von fCladoselache) lassen sich diese Reste, für die vielfältig verschiedene Namen im Gange sind, keinen bestimmten morphologischen Einheiten ein- ordnen. Erst mit dem Vorkommen von Gebißresten im Unterkar b on werden Anhaltspunkte zu mehr oder weniger sicherem Vergleich mit den modernen Plagiostomen gewonnen, wenn- wohl auch damit noch keineswegs für alle Funde eindeutige Einreihung in die Familien und Unterordnungen der Haie ermöglicht wird; so bleiben z. B. die als f Cochliodon- tidae, f Psammodontidae, fPetalodon- tidae bezeichneten Formen nach ihren den lebenden Haien ganz fremd gegenüberstehen- den Gebißtypen in ihrer systematisch-phyle- tischen Stellung durchaus unsicher. Meistens sind nur isolierte Zähne oder Gebißteile fossil überliefert, dann Flossen- und Kopfstacheln, Placoidzähnchen der Haut, Koprolithen (Kotballen), seltener sind voll- ständigere Reste, welche u. a. über die ver- schieden weitgehende Verkalkung des Knorpel- skeletts unterrichten. Besonders vollständige Körper sind aus dem oberen Lias (Posido- nomyenschiefer) Württembergs, aus dem 71* 1124 Fische (Paläontologie) oberen Mahn (lithographische Schiefer) von Solnhofen in Bayern, Nusplingen in Württem- berg, Cirin in Frankreich und aus dem Eozän des Mte. Bolca bekannt: fHybodus, Squatina, Bhinobatis und wenige andere. Die Scheidung der Plagiostomen in Selachi- oidei (Squaloidei, Haie) und Batoidei (Rochen), ursprünglich nach der Körperform, dann nach Ausbildung und Lage der Kiemen- spalten vorgenommen, ist — abgesehen davon, daß eine ganze Menge fossiler Reste aus dem Karbon und Perm keiner dieser beiden „Unterordnungen" sicher einzureihen ist — keine streng natürliche. Dollo, Jaekel betonten, daß die Plagiostomen je nach der Lebensweise als nektonische Schwim- mer die spindelförmige Gestalt der Haie, als Bodenfische die niedergedrückte, rhombischem Umriß zustrebende Rochenform annehmen, resp. ihre Körperform umändern. Der von Hasse betonte Wert der verschieden- artigen Verkalkung der Wirbelsäule (diplo-, zyklo-, tecti-, asterospondyle Wirbel; vgl. Zoolog. Teil, S. 1064, Fig. 10) für die Systematik der Haie ist nicht ganz zu vernachlässigen. Aber natürliche Gruppen lassen sich auf Grund der Wirbelverkalkungen nicht begründen; so hat fHybodus keine Verkalkungen von Wirbel- körpern, während die sonst ihm nächst- stehenden Cestracionidae asterospondyle, zum Teil zyklospondyle Wirbelkörper haben ; die den echten Haien zugehörende Squatina hat ebenso wie die echten Rochen tectispondyle Wirbel. Gleiche Art der Wirbelverkalkung ist von ver- schiedenen Reihen der Plagiostomen erworben worden. Da vollständigere Skelette, die u. a. auch über die Ausbildung des Kopfskeletts genügend orientieren, große Seltenheiten sind, ist eine wirklich natürliche Systematik der fossilen und lebenden Plagiostomen heute noch nicht möglich. Wir können im wesentlichen nur eine Anzahl nebeneinander stehender Gruppen unterscheiden. 1. Hauptgruppe: Selachioidei, Haie; vgl. Zool. Teil S. 1097. a) Haie mit mehr als fünf Kiemen- spalten. 1. Gruppe: Notidanoidei (Jura bis jetzt). Von den hier vereinigten Haien sind Reste derNotidanidae,NotidanusCuv. (Fig. 23) seit dem unteren Jura bekannt, welche in ihren Gebißformen (schief gezähnte Kamm- zähne im Unterkiefer, unregelmäßiger ge- zackte Zähne im Oberkiefer, je eine Reihe kleinerer symmetrische ■ Symphysenzähne oben und unten) den lebenden Heptanchus und Hexanchus mit 7 resp. 6 Kiemenspalten vollkommen entsprechen (s. Zool. Teil S. 1063, 1064. Fig. 7, 11). Chlamydoselachiidae, Chlamydoselachus Garm. mit 6 Kiemen- spalten, kennt man erst seit dem Jung- tertiär (Pliozän von Toskana). Die Diplospondylie der Wirbelsäule, die Amphistylie des Schädels (bei Heptanchus zur Autostylie, bei Chlamydoselachus mehr zur reinen Hyostylie hinneigend), die fast terminale Lage des Maulspaltes wird neben der Zahl der Kiemenspalten als Beweis für die Altertümlichkeit dieser Formen an- gesehen, unter welchen Chlamydoselachus Fig. 23. Notidanus fexi- mius Wagn. A oberer Seitenzahn von innen, B unterer Seitenzahn von außen. Oberster Malm, Jura; Schnait- heim, Württemberg. Aus v. Stromer. wegen der schlanken Aalgestalt und der schlanken heterozerk-oxyzerken Schwanz- flosse die Endform einer langen Entwicke- lungsreihe darstellt (Dollo). Vielleicht besteht zwischen den paläozoischen fClado- selachiidae und den Notidanoidei, be- sonders Chlamydoselachus, verwandt- schaftliche Beziehung. Allerdings fehlt es an Hinweisen auf Zwischenformen im Gebiß zwischen f Cladoselachiern und Notidanus, während die schmelzlosen dreispitzigen Zähne von jCladoselache den mit Schmelz über- zogenen von Chlamydoselachus morpho- logisch erheblich näher stehen. Den Weg zur Umformung der Brustflosse, des „Pleuropterygiums" oder richtiger des uni- serialen Archipterygiums, der f Cladoselachii in das normale Hai-Ichthyopterygium der Notidanoidei wird durch die Brustflosse des karbonischen Cladoselachiers fSymmorium Cope gezeigt: Verschmelzung der Segmente des Metapterygium und Verwachsung der vorderen proximalen Knorpelstrahlen zum Meso- und Propterygium. b) Haie mit fünf oder weniger als fünf seitlichen Kiemenspalten. 2. Gruppe: Squaloidei; vgl. Zool. Teil S. 1098. 1. Untergruppe: Heterodonti. Familien: f Hybodontidae (Karbon bis Kreide); Cestracionidae (Karbon?, Trias bis jetzt); PfEdestidae (Karbon, Perm) (Fig. 24—29). Mit dem lebenden Cestracion Cuv. läßt sich eine erhebliche Anzahl fossiler, heterozerker Haie in morphologische Ver- bindung bringen, die kein oder nur ein kurzes, massives Rostrum besitzen, deren Schädel amphi- bis hyostyl ist, welche wie Cestra- cion, wenn auch nicht immer in gleich scharfem Gegensatz, in der Symphysenregion anders gestaltete Zähne besitzen als in dem ± vielreihigen, locker bis dicht gefügten Fische ( Paläontologie ) 1 1 25 Pflaster von ursprünglich höckerigen Zähnen Kopf stacheln („Sphenonehus") der Männchen, auf dem Mandibular- und Palatoquadrat- mit Zähnen, deren ± schlanke Basis eine knorpel, deren Wirbelsäule unverkalkte bis höhere, stumpfe Mittelzacke und mehrere zyklo- und asterosponclyle Wirbelkörper niedrigere Seitenzacken trägt.1) Aehnliche besaß, und deren 2 Rücken- flossen durch kräftige, ver- schieden verzierte und bewehrte Flossenstacheln gestützt sind. jHybodontidae. Schon im Unterkarbon kommen quer verlängerte, wie Bergrücken modellierte Zähne vor, fOro- dus Ag. und andere, die wohl zu im allgemeinen ähnlichen Pflastern auf den Kiefern ver- einigt waren wiebeiCestracion. Reihen ± schlankhügelförmiger Zähne mit fein gerilltem Schmelz und mit zarter Längs- kante von Schmelz kennzeichnen die Gattung fAcrodus Ag., (Fig. 24) (Muschelkalk bis Kreide) ohne verkalkte Wirbelzentra. Durch mehrere vollständigere Exemplare aus den Posido- nomyenschiefern des Oberlias ,laite*- B oben gesehen, y2 natürliche Größe. Zahn von der Seite und von oben, liehe Größe. Unterlias; Lyme England. Aus Zittel. von B ein natür- regis, P */#■:'■ ':w c d e * g^ Fig. 25. f Hybodus Hauff iE. Fraas. Skelett mit Abdruck des Körperumrisses und mit Resten von Weichteilen, Schädel etwas schräg gesehen, Vs natürliche Größe, a kurzes Rostrum, dahinter prä- frontale Lücke, b Labialknorpel, c Palatoquadratum mit kurzem prä- und postorbitalem Fort- satz, d Unterkiefer, e Hyo mandibulare, f Kiemenbögen, g Brustgürtel mit basalen und radialen Knospen der Brustflosse, h Rippen, i Magenregion mit Beuteresten, k Bauchflosse, 1 After- flosse, m unteres Segel der Schwanzflosse, o erste, p zweite Rückenflosse mit Flossenstachel, Knorpelplatte und Knorpelstrahlen, q obere, u untere Bögen der Wirbelsäule. Oberer Lias, Posidonomyenschiefer; Holzmaden, Württemberg (Tübinger Museum). Nach Koken. Aus v. Stromer. Württembergs und aus den lithographischen Schiefern des oberen Malm Bayerns ist neben sehr zahlreichen Funden von Zähnen und Flossenstacheln fHybodusAg. (Fig. 25, 26) (Muschelkalk bis Unterkreide) bekannt: bis 1,5 m lange, plump spindelförmige Haie mit langer, heterozerker Caudalis und weit hinten liegender kleiner Analis; in der Wirbelsäule sind nur obere und untere Bögen und vorn auch Rippen verkalkt; das Kopf- skelett ist deutlich amphistyl mit grobem Hyomandibulare, mit groben, hakenförmigen Gebißform hat fSynechodus A. Sm. Woodw. (Kreide), aber die Zähne sind komprimierter, länger, und die Wirbelsäule ist asterospondyl. Dicke, grobe, oben flach vier- seitige Zähne mit feinrunzeliger Krone bilde- ten auf den Kiefern von fStrophodus Ag. J) Eines der Exemplare von fHybodus Hauffi E. Fraas aus dem Posidonomyenschiefer Württembergs läßt seine Todesursache erkennen: es hat ca. 250 Belemniten gefressen, deren finger- lange Kalkrostren wohlgepackt in der Magen- region liegen (Naturalienkabinet Stuttgart). 1126 Fische (Paläontologie) (Fig. 27) ein grobes Pflaster (Jura, Unter- kreide); sehr große, mit groben Perlen besetzte Flossenstacheln (f Asteracanthus Ag.) ge- Fig. 26. fHybodus carinatus Ag. Stachel einer Kückenflosse, 2/3 natürliche Größe, b im Fleisch steckender Basalteil, p Rinne der Hinterseite für den Vorderrand des Flossenknorpels, z Zähnchen am freien Hinterrande. Unterer Lias; Lyme regis, England. Ans v. Stromer. ittHl Ulm Fig. 27. f Strophodus reticulatus Ag. Zahn von oben und von der Seite; natürliche Größe. Kimeridge: Tonnere, Yonne, Frankreich. Ans Zittel. hören dazu. Die aus dem deutschen Kupfer- schiefer als fWodnika Mstr. bezeichneten Haireste (Flossenstacheln, leicht gewölbte Pflasterzähne, Flossen- und Hautreste) ge- hören ebenfalls zu den fHybodonten. Cestracionidae sind mindestens seit der Trias bekannt: fPalaeobates H. v. M. (Muschelkalk) mit flachgewölbten Dentin- zahnkronen. f Palaeospinax Egert (Lias) mit schlankspitzigen Symphysenzähnen hat zyklo- bis asterospondyle Wirbelkörper. Dem lebenden Cestracion Cuv. (Kreide bis jetzt) mit asterospondylen Wirbelkörpern steht aus dem oberen Jura besonders nahe f Paracestracion Kok. mit Symphysen- zähnen ohne Nebenzacken. — Im marinen Unterkarbon Nordamerikas sind eigentüm- liche Gebißformen gefunden worden, fCam- podus de Kon. (Fig. 28), welche durch das Zahnpflaster der Mandibelflächen lebhaft an Cestracion gemahnen, aber in der Sym- physe eine spiralgestellte Keihe sehr grober, winkelig gebogener Zähne mit kräftig vor- tretender Mittelspitze besitzen. Die Deutung dieser eigenartigen Symphysenzähne als Waffe liegt zunächst, Abel sieht aber in ihnen ein Hilfsmittel zum Losreißen von hartschaliger Beute, Muscheln usw., die nach dem Zahnpflaster der Kiefer (Reibgebiß) dem Tiere als Nahrung diente. fEdestidae. Unter diesem Namen werden höchst eigenartige Gebilde zu- sammengefaßt, die aus marinen und lim- nischen Ablagerungen des Oberkarbon und Perm Nordamerikas, Europas, Westaustra- liens bekannt geworden sind: bilateral sym- metrische, dreieckige, an den Rändern ge- kerbte, schmelzbedeckte Zähne oder Stacheln mit ± großen, aus Vasodentin gebauten Wurzeln, zum Teil mit verkalktem Knorpel. ii ; t - Fig. 28. fCampodus variabilis Newb. a. Worth. sp. Kombination einer symphysealen Zahnspirale von Cedar Creek (Nebraska) mit Unter- kieferästen von Topeka (Kansas). Nach East- man, ca. Vs natürliche Größe. 2. Cestracion Francisci Gir. Unterkiefer, verkleinert, rezent; Pazifischer Ozean. Nach Eastman. Ans Zittel. Die Wurzeln sind ± eng miteinander ver- wachsen, wodurch bogenförmig (fEdestus Leidy Fig. 29, jToxoprion Hay) bis in loser Spirale — wie einfCrioceras (Ammonit) eingerollte Körper (fHelicoprion Karp., Fig. 29, f Lissoprion Hay) entstehen. Die Dinge müssen der Symmetrieebene des Tieres angehört haben. Karpinsky, Eastman, Jaekel deuteten sie als reifenförmig an- geordnete, nicht ausfallende Symphysenzähne des Ober- oder Unterkiefers; Leidy, B. Dean, P. Hay u. a. sehen hierin Stacheln, welche vor oder statt einer Rückenflosse aus- Fische (Paläontologie) 1127 . Spina- sind bis zur gebildet und bei f Helicoprion z. B. seit- lich neben die Flosse gedrängt sein sollten. Die metamere Ausbildung dieser Zahngruppen läßt die Deutung als vorgeschobene Median- reihe von Symphysen- zähnen, welche als Waffe dienten, durch- aus zu. Der Anschluß der fEdestiden an die Heterodonti ist noch unsicher. 2. Untergruppe : Spinacidi. Familien: Spinacidae (Kreide bis jetzt), Pristi- ophoridae (Kreide?, Jungtertiär bis jetzt). Die heute lebenden Gattungen der cidae Oberkreide zurückzu- verfolgen (Centro- phorus M. u. H., Acanthias Bonap.), und von den den Pr i s ti - dae unter den Kochen konvergenten Pristi- ophoridae, mit langem, an den Seiten- rändern mit verschieden großen Hautzähnen be- wehrtem Rostrum, ist Pristiophorus selbst in der Oberkreide des Libanon (?) resp. seit dem Jungtertiär be- kannt. 3. Untergruppe : Rhinae. Familie Squatinidae (Rhini- dae) (Oberjura bis jetzt), vgl. Zool. Teil S. 1093/ Haie von Rochen- form, auch mit tekti- spondylen Wirbeln, aber ohne Rostrum, mit spitzkegelförmigen Zähnen, mit großen Brustflossen, die vorn nicht mit dem Kopf verwachsen sind, so daß die Kiemenspalten j zum Teil noch seitlich austreten, kommen im Oberjura (im lithographischen Schiefer von Bayern, Württemberg und von Cirin in Frankreich), in der Oberkreide Westfalens und des Libanon in ausgezeichneten Skeletten vor, die sich in nichts wesentlichem von der lebenden Squatina Aldov. (Rhina KL), (Fig. 30) unterscheiden. 3. Gruppe: Galeoidei; vgl. Zool. Teil S. 1098. Familien: Scylliidae (Oberjura bis jetzt), Lamnidae(Mitteljura bis jetzt),Carcharii- dae (Kreide bis jetzt), Rhinodontidae (Tertiär bis jetzt). Spindelförmige Haie mit dreiteiligem Fig. 29 oben: Stacheln, 2/5 y2 fEdestus crenulatus Hay. Mediane Zähne oder natürliche Größe. Oberkarbon; Illinois U. S. A. Nach Hay. Aus Zittel. Fig. 29 unten: fHelicoprion Bessonowi Karp. „Spiralorgan", natürliche Größe. Unterperm, Artinskstufe; Krasnoufimsk, Gouv. Perm. Nach Karpinsky. Aus Zittel. Rostralknorpel, mit hyostylem Kopfskelett, asterospondylen Wirbelkörpern, mit scharf- schneidenden ± dreieckigen bis schlank klingenförmigen Zähnen auf verschieden gestalteter meist zweiteiliger Wurzel — ■ die Mehrzahl der lebenden echten Haie um- fassend — lassen sich in einzelnen Gattungen der Lamnidae (fOrthacodus Ag.) und Scylliidae (fPalaeoscyllium Wagn. und Pristiurus Bonap.) bis in den Mittel- resp. Oberjura zurückverfolgen. Die meist isoliert Zähne sind die häufigsten Hai- gefundenen 1128 Fische (Paläontologie) reste der Kreide und des Tertiär, von denen manche auf riesige Formen schließen lassen: fOxyrhina Mantelli ' Ag. (Oberkreide), Carcharodon megalodon Ag. (Tertiär), dessen Zähne bis 15 cm hoch sind. Ver- hältnismäßig nur wenige Gattungen sind ausgestorben. Wie, auf welchem Wege und wann etwa aus den geologisch älteren Squaloidei die Formen der Galeoidei abgezweigt sein mögen — darüber gibt das fossile Material keinerlei sichere Aus- kunft und ebensowenig darüber, wie etwa die Squaloiden von anderen Elasmobranchiern ab- zuleiten seien, möglicherweise von den fClado- Fig. 30. f Squatina alifera Mstr. sp. Ober- jura, lithographischer Schiefer; Eichstätt, Bayern. Aus Zittel. selachii (f Ichthyotomi), welche zeitlich (und auch morphologisch?) allein für die Verbindung mit anderen Typen in Betracht kommen könnten. Formengruppen unsicherer syste- matischer Stellung:! Cochliodontidae, fPsammodontidae, fPetalodontidae. Aus dem Karbon und Perm sind Reib- gebisse, Kopfstacheln, seltener Reste der Körperformen von Plagiostomen bekannt, deren Einordnung in die übrigen Haigruppen größten Schwierigkeiten begegnet. Die Ge- bisse deuten auf konchifrage, benthonische Fische, die in wenigen Fällen beobachtete rochenähnliche Körperform spricht in gleichem Sinne. Als fCochliodontidae werden Gebiß- formen bezeichnet, welche aus wenigen, ± gewölbten, gewöhnlich von wenigen Querfalten überzogenen, unten hohlen Zähnen aus Vasodentin bestehen. Jederseits sitzt im Kiefer ein größerer Hauptzahn, vor ihm 2 bis mehrere kleinere Zähne. Zahnersatz kann nicht stattgefunden haben. fCochliodus Ag. (Fig. 31) (Unterkarbon), fPsephodus Fig. 31. fCochlio- dus contortusAg. Unsymmetrisch ge- wölbte Zahnplatten in natürlicher Lage, 7 4 natürlicherGr öße. Marines Unterkar- bon; Armagh, Ir- land. Aus v. Stromer. Ag. (Unterkarbon), fStreblodus Ag. u.ra. m. ■ — Nach Owen und A. Sm. Woodward sind solche Zähne durch Konkreszenz be- nachbarter und aufeinander folgender Zähne cestracionartiger Gebisse entstanden; dann könnten die f Cochliodonten als Ver- wandte der Heterodonti gedeutet werden. — Jaekel faßt die f Cochliodonten mit ver- schiedenartig ausgebildeten, seitlichen Kopf- stacheln als f Trachyacanthidae zu- sammen. Diesen rechnet er auch den ganz eigenartigen kleinen Fisch fMenaspis ar- mata Ew. (Fig. 32) aus dem Kupferschiefer zu : Eine Form von rochenförmigem Habitus mit hohlen, groben, vorderen Seitenstacheln am Kopf, mit 3 Paaren gebogener, langer dor- saler Kopfstacheln, mit Längsreihen dorniger Stacheln und grober Placoidschuppen auf dem ganzen Körper, mit flachen, dreiseitigen Reibzähnen im Maul. Jaekel bringt seine f Trachyacanthidae mit den Holocephalen in Verbindung, denen sie durch das Fehlen des Zahnwechels ja in der Tat ähneln. fPsammodontidae (Unterkarbon). Flache, ± vierseitige Zähne aus Vasodentin mit punktierter oder fein gerunzelter Ober- fläche sind in einer bis mehreren Reihen zu einem Reibzahnpflaster zusammengefügt, welches dem Gebiß der Myliobatidae unter den Rochen ähnlich zu deuten ist. f Psani- modus Ag., fCopodus Dav., f Archaeo- batis Newb. Letzterer Typ muß nach einem Gebiß von f Archaeobatis gigas Newb. mit Zähnen von 10 x 15 cm Riesen- größe erreicht haben. Fische ( Paläontologie) 1129 , vs 1 m ,. ■• ■-»: ■ ■*»<: Fig. 32. fMenaspis armata Thüringen. Ew. "A Oberperm, Zechstein, Kupferschiefer: 3 natürlicher Größe. Aus Ja ekel. Martinsschacht, fPetalodontidae (Unterkarbon bis Perm). Die in mehreren Längs- und Quei- reihen angeordneten, verschieden gebogenen Zähne tragen auf einer ± hohen Wurzel eine meist scharf abgeschnürte, quergestellte Krone aus Vasodentin mit Schmelzmantel; Ausstoßen von Zähnen findet nicht statt. fPetalodus Ow. (Karbon), fPoly- rhizodus M'Coy mit vielfach gespaltener Wurzel (Karbon), f Pristod us Dav. u. a. m. Vonf Janas sa Mstr. (Fig. 33) aus dem per- mischen Kupferschiefer Deutschlands ist die Körperform ziemlich gut bekannt: sie gleicht durch die großen, vorn vom Kopf scharf abgesetzten Brustflossen der Gestalt einer Squatina. In dem Gebiß aus 5 bis 7 Längs- und etwa 10 Querreihen von S-förmig gebogenen Zähnen mit quergeriefter Ober- fläche legt sich jeder neu in Funktion tretende Zahn von hinten her auf die älteren seiner Reihe, welche nicht ausfallen. Alle diese Formen mögen in näheren oder ferneren Beziehungen zu den Heterodonti stehen; sicheres über ihre Zusammengehörigkeit, ihre Herkunft und ihre etwaigen Beziehungen zu späteren Rochenformen oder auch zu den Holocephalen läßt sich jedoch nicht aussagen. 2. Hauptgruppe : Zool. Teil S. 1098. Batoidei, Rochen; Außer einer systematisch ganz unsicheren Rochenform ( ?) fTamiobatis vetustus Eastm. aus dem Oberdevon von Kentucky, außer den rochenförmigen Plagiostomen des jüngeren Paläozoikum (f Janassa, fMen- aspis usw.) und den sich engstens an die S q u a - loidei anschließenden Squatinidae ist der echte Rochentyp (mit ventralen Kiemen- spalten, mit ausgeprägtester Hyostylie des Kieferapparates, mit flachgedrücktem Körper, mit fast immer tektispondylen Wirbeln) seit dem Jura in mindestens zwei größeren Formenkreisen entfaltet. 1. Gruppe: Rhinoraji Jaekel, (Pa- chyura, Gull). Die großen Brustflossen stoßen nur seitlich an das ± große Rostrum; das Zahnpflaster besteht aus meist kleinen, höckerigen bis spitzigen Zähnen aus Pulpo- dentin mit zweiteiliger Wurzel; der Schwanz mit 2 Rückenflossen und lappiger, hetero- zerker Schwanzflosse (auch mit Seitenkielen) ist meist nicht scharf vom Rumpf abgesetzt. Familien: Rhinobatidae, Pristidae, Rajidae. Von den Rhinobatidae ist Rhinobatis Bloch (Spathobatis Thioll.) (Fig. 34) mit langem, ± spitzigem Rostrum seit dem oberen Jura bekannt; prachtvolle, die ganze Form wiedergebende Skelette mit Hautresten und Flossen wurden in Ablagerungen der lithographischen Schiefer gefunden, ebenso in der oberen Kreide des Libanon und im Eozän des Mte. Bolca. f Belemnobatis Thioll. mit kurz gerundetem Rostrum, mit Flossenstacheln an den beiden, dem Schwanz aufsitzenden Dorsales ist aus dem litho- graphischen Schiefer von Cirin (Frankreich) bekannt. Trigonorhina und Rhyncho- batus M. u. H. kennt man seit dem Tertiär. Die aus der oberen Kreide (fSclero- rhynchus atavus A. Sm. Woodw., Fig. 35, Libanon) und seit dem Tertiär (fPropristis Dam., PristisLath.) bekannten Pristidae, die Sägefische mit langem Rostrum, dessen Seiten mit in Alveolen steckenden Placoid- 1 zahnen bewehrt sind, mit schlankem hai- förmigem Körper sind höchstwahrscheinlich ein an nektonisches Leben angepaßter Seiten- zweig der Rhinobatidae. 1130 Fische (Paläontologie) Rajidae sind mit Raja Cuv. fossil seit der oberen Kreide (Libanon) bekannt; dort kommt mit Raja fexpansa Dav. die torpedoähnlich geformte Gattung f Cyclo - batis Egert. vor. Untergruppe: Narcobati; vgl. Zool. Teil S. 1098. Familie Torpedinidae. Die Torpedinidae mit reduziertem durch Torpedo (Narcobates) fgigantea seit dem Eozän (Mte. Bolca) bekannt. 2. Gruppe: Centrobati, Jaekel(Masti- cura, Gill; Dasybatoidei); vgl. Zool. Teil, S. 1099. Die Brustflossen wachsen vor dem Kopf zusammen; der Schwanz ist von der rhom- bischen Rumpfscheibe meist scharf abgesetzt, Fig. 33. f Janassa bituminosa Schloth. A Bauchseite, 1/3 natürliche Größe, a undeutlich be- grenzte Kopfregion, b und c obere und untere Hälfte des Gebisses, d ? Lippenknorpel, e Unterkiefer, f Reste des Schultergürtels, g Brustflosse, h Darminhalt?, i „Lauffinger", vorderer abgegliederter Strahl der Bauchflosse k, 1 Schwanzrest. B Längsschnitt durch das Gebiß, a Aussenseite der Zähne, b „Schneide", c quergestreifte Oberseite, d Wurzel des jüngsten Oberkieferzahnes, e jüngster Unterkieferzahn, f Unterkiefer. Aus v. Stromer, z. T. nach Jaekel. Rostrum (vgl. Narcine Heul.), vermutlich j peitschenförmig, er unterliegt der Reduktion von den Rhinoraji direkt abzuleiten, sind | (Pteroplatea); die Zähne aus Vasodentin Fische (Paläontologie) 1131 bilden ein meist enggefügtes Reibpflaster. Familien: Trygonidae.f Ptychod on tidae, Myliobatidae. Von den T r y g o n i d a e (mit zweiwurzeligen Rhinobatis fniirabilis Wagn. (fbugesiacus Thioll.) <$ ca. Vio natürlicher Größe. Oberster Jura, lithographischer Schiefer; Eichstätt, Bayern. Aus Zittel. Zähnen) sind einzelne Reste seit der Kreide bekannt. Trygon Adans. selbst wurde in schönen Exemplaren im Eozän des Mte. Bolca, in einzelnen Zähnen und Hautschildern öfters im jüngeren Tertiär gefunden. rPtvehodontidae. Aus der jüngeren Kreide sind ± hochbuckelige, quergeriefte und gerunzelte Zähne mit vierseitiger Wurzel bekannt fPtychodus Ag. (Fig. 36) fHemiptychodus Jaek. -, welche in mehreren Reihen ein grobes Zahnpflaster auf dem vorderen Teile der Kiefer bilden: Reste der Wirbelsäule zeigen zyklospondvlen Bau. Die verschiedenen Gattungen der Mylio- batidae mit ihren zum Teil riesigen Formen, mit massivem, verschiedenartig zusammen- gesetztem Pflaster aus flachen sechs- bis fünf- seitigen Zähnen sind seit dem Eocän bekannt. Aus der Körperform, aus der mehr randlichen bis mehr medianen Lage der Augen ergeben sich die verschiedenen Rochentypen als Fische, welche mehr oder weniger weit an benthonisches Leben angepaßt sind, oder zu nektonischer Lebensweise zurückkehren ; letzteres zeigen mehr oder weniger deutlich die Pristidae und die Myliobatiden Ceratoptera und Cephaloptera (L. Dollo). Ueber die Herkunft der Rochen herrscht Ungewißheit. Die Centrobatidae mögen mit den Heterodonti - - etwa f Strophodus unter den f Hybodontidae verwandt sein, wenigstens hat das Zahnpflaster dieser Haie gewisse Aehn- lichkelt mit dem der Centrobatiden. Ob die Rhinoraji aus gleicher Wurzel entstammen, ist völlig ungewiß. d) Ordnung: Holocephali. Lias bis jetzt; s. Zool.Teil, S. 1099. Nachdem die ganz unvollkommen be- kannten fPtyctodontidae des Devon auf Grund des Halspanzers von f Rhamphodus von L. Dollo den fArthrodira (s. S. 1117) zugerechnet werden, lassen sich die ältesten, den Holocephalen ohne Bedenken einzu- reihenden, fossilen Reste erst aus dem unte- ren Lias feststellen. Unter den im ganzen nicht häufigen Funden wiegen Zähne vor. die sich nach ihrer Form, nach der Ausbildung und Zahl der Reibflächen unterscheiden lassen. Selten sind vollständigere Funde, welche über den Gesamthabitus der fossilen Formen orientieren. Einigemale wurden auch fossile Eikapseln von Holocephalen gefunden. Beachtenswert erscheint es, daß bei manchen mesozoischen Resten Plaeoid- schuppen der Haut in größerer Zahl nach- weisbar waren, als sie bei heute lebenden Formen vorkommen. Dann ist ferner die Verschmelzung der vorderen Teile der Wirbel- säule weniger weit vorgeschritten; Becken- gürtel und Bauchflossen erscheinen bei den fossilen weniger modifiziert. Mit die älteste Form fSqualoraja Ril (Fig. 37) kam in der s dem unteren Lias von England vorgezogene äußeren Form, durch besonders Rostralregion (mit dreige- gabeltem Rostralknorpel) den heute in atlantischen und nordpazifischen Gewässern lebenden Harriottia Goode u. Bean nahe, 1132 Fische (Paläontologie) aber auf der Stirn saß ein langer, innen kleinen, konischen und radialgefurchten Pia- hohler Stachel (aus verkalktem Faser- coidschuppen bedacht, knorpel); vor der Rückenflosse fehlte der Den heute in atlantischen und pazifischen Stachel. Wässern lebenden Chimaeriden (vgl. Fig. 35. fSclerorhynchus atavuspA. Sm. W. Obere Kreide; Libanon. Nach A. Sm. Wood- "ward. Aus Abel. Fig. 36. A fPtychodus decurrens Ag. Re- konstruierter Unterkiefer. Oberkreide; Sussex, England. Nach Traquair. Aus v. Stromer. B fPtych. platygyrus Ag. 1 von oben, 2 von der Seite. Grünsand, Cenoman, Oberkreide; Regensburg. Aus Zittel. Unter den f Myriacanthidae des Lias und Malm — mit höckerigen, paarigen Hautplatten auf Stirn (und Unterkiefer?) mit drei Paar oberen, einem Paar unteren Zahnplatten und einem Symphysenzahn, mit langem Rückenflossenstachel — ist fAcanthorhina E. Fraas (Oberlias, Württemberg) durch einen langen, mit Zacken besetzten, zugespitzten, verkalkten Rostral- knorpel besonders ausgezeichnet. Bei fChi- maeropsis Zitt. (Malm) ist die Haut mit Zool. Teil S. 1063, Fig. 8) nahestehende Formen sind öfters fossil gefunden worden: f Ischyodus Egert (Fig. 38) (Dogger .bis Kreide), f Ale todus Jaek. (Dogger), fEda- phodon Buckl. (Kreide bis Oligocän), f Brachymylus, fPachymylus A. Sm. (st- m P< 7 Fig. 37. fSqualoraja polyspondyla Ag. Verkleinerte Rekonstruktion eines <$, von oben. 1 paarige Lippen(?)knorpel, 0 Augenhöhle, p Knorpel der Brustflossen, zwischen und vor ihnen die ± verwachsenen vordersten Wirbel, pl schütter über denKörper verstreute, gröberePlaeoid Schüpp- chen, r dreiteiliger Rostralknorpe), st Stirn- stachel, v Beckengürtel mit Pterygopodien und vorderen Begattungsstacheln. Untere Lias; England. Nach B. Dean. Aus v. Stromer. Fische (Paläontologie) 1133 Woodw. (Malm), f Elasmodectes Newt. (Malm, Kreide), fElasmodus Egert. (Alt- tertiär), Chimaera L. (Pliocän). Meist sind nur Zahnplatten mit verschieden angeord- neten Reibhügeln bekannt; fossile Eikapseln aus dem Dogger Schwabens werden zu f Aletodus gestellt. Vollständigere Exem- plare von flschyodus sind aus den litho- graphischen Schiefern Bayerns bekannt; Fig. 38. flschyodus avitus H. v. M. Zahn- platten des Ober- und Unterkiefers von der Seite. Oberster Malm, Jura, lithographischer Schiefer. Eichstätt, Bayern. Nach Rieß. Aus v. Stromer. sie zeigen im allgemeinen 'den Habitus von Chimaera, aber das Rostrum ist wesentlich mehr vorgezogen, und der haken- förmige, mit Zähnchen besetzte Stirnstachel des Männchens ist um vieles kräftiger als bei Chimaera. Von Callorhynchi- den sind vereinzelte Reste seit der Kreide (Neuseeland) bekannt. Durch ihr sehr kom- pliziertes Schleimkanal- system in der Kopfober- fläche, durch die Auto- stylie des Schädels, die starke Entwicklung der Rostralknorpel, durch die von unten nachwachsen- den, eigenartigen Zähne mit ihren Reibbuckeln, durch die Bedeckung des äußerlich nur einen Kiemenspaltes durch ein vom Hyoidbogen aus- gehendes Operculum, durch die ringförmigen Verkal- kungen der Wirbelsäule sind die Holocephalen be- sonders spezialisiert. Ihre Verbindung mit den übrigenElasmobranchiernist nicht eindeutig festzustellen. Sie mögen mit den durch das Fehlen des Zahnersatzes charakteri- sierten fCochliodontidae (S. 1128) des Paläo- zoikums in genetischer Verbindung stehen, und möglicherweise entstammen manche der so- genannten Ichthyodorulithen älterer paläo- zoischer Ablagerungen von Holocephalen oder ihnen nahen Formen. Trifft das zu, dann wären die Holocephalen eine schon sehr alte, besonders „gerichtete" Abzweigung des Elasmobranchier- stammes. Mit Ausnahme der an Oberflächenwasser gebundenen Chimaera Colliei bewohnen heute alle Holocephalen größere, zum Teil sehr erhebliche Tiefen der Ozeane (bis über 2000 m); aus dem seltenen Vorkommen der fossilen Reste meist in Flachwasserbildungen ließe es sich wohl entnehmen, daß tieferes, strand- ferneres Meer schon seit langen Zeiten das eigentliche Wohngebiet der Holocephalen ist. E. Unterklasse Dipnoi. Lurchfische; vgl. Zool. Teil S. 1099 (Fig. 39 bis 41). In den drei heute in Süßwässern der Südkontinente lebenden Lungenfischen Ceratodus, Protopterus und Lepido- siren haben wir die letzten und durch ihre schlanke bis aalförmige Gestalt mit diphy- zerkem Schwanzflossensaum wie durch die zum Teil bis auf die Achse reduzierten Archipte- rygien in den paarigen Flossen besonders spe- zialisierten Ausläufer eines der langlebigsten und in vielem konservativsten Fischstämme. Im tieferen Unterdevon, in der Fazies des alten roten Sandsteins treten die ersten1) Dipnoer unvermittelt auf :fDipterusSedgw. u. Murch. (Fig. 39) (mit einigen Verwandten auf dasDevon der Nordhemisphäre beschränkt, häufig in Schottland). In den schmelz- Fis;. 39. ciennesi Sedgw. fDipterus Valen- a. Murch. A verkleinerte Rekonstruktion von Traquair, B Vorderteil der Schädel Unterseite; n, n' Nasengang, ps Parasphenoid, pt Palatinum, q Quadratum, z Gaumenzähne. Unterdevon, Oldred; Nordschottland. Aaus Zittel. B aus v. Stromer. glänzenden Belegknochen des Kopfes treten x) Das Vorkommen von Dipnoern im Ober- silur Portugals (fCtenodus? nach F. Priem) ist ganz unsicher, vielleicht ist aber das unvoll- kommen bekannte fCtenopleuron nere- pisense G. F. Matth. aus dem Obersilur von St. John N. B. ein Dipnoer? 1134 Fische (Paläontologie) Fig. 40. Umformungsreihe der Dipnoi: Dorsalis 1 u. 2, die heterozerk-epibatische Cau- dalis und Analis werden allmählich zu einem diphyzerken Flossensauru, die ganze Gestalt wird allmählich aalförmig (g und h) und die paarigen Flossen werden ± fadenförmig reduziert. afDipterus Valenciennesi S. u. M. Unteres Unterdevon, Oldred; Schottland, b fDipterus macropterus Traq. Oberes Unterdevon, Old- red; Schottland, c fScaunienacia curta Whiteav. Unteres Oberdevon, Oldred; Kanada, d f Phaneropleuron Anderssoni Huxl. Oberes Oberdevon, Oldred; Schottland. efUro- nemus lobatus Ag. Unterkarbon; Schottland, f Ceratodus Forsteri Krefft. Lebend; Queensland, Australien, g Protopterus an- nectens Ow. Lebend; Afrika, h Lepido- siren paradoxa Fitz. Lebend; Südamerika, überzählige Platten auf und zwar sowohl in der Mediane zwischen den Parietalia und Frontalia, als — in größerer Zahl — zwischen diesen und den die Orbitae um- säumenden Platten und dem großen Oper- kularapparat ; paarige, kräftige Gularplatten liegen der Unterseite des Unterkiefers auf. Auf dem Pterygopalatinknorpel und auf dem Spleniale sitzen große, ± dreiseitige, Reib- zahnplatten mit zahlreichen, gehöckerten Radialwülsten, welche — wie in der Ontogenie von Ceratodus (Fig. 40 f, 41) zuerkennen — durch Konkreszenz kleinerer Kegelzähnchen entstanden sind. Der Rumpf ist mit kräftigen, schmelzglänzenclen, feinstgekörnelten, imbri- zierten Schuppen bedeckt. Bei diesen alten Formen sind noch zwei distinkte Rücken- flossen, eine heterozerk-epibatische Caudalis, eine kleine Analis ausgebildet. Schon bei den f Phaneropleuridae des Oberdevon (fScaumenacia Whiteav., Fig. 40 c, und -j-Phaneropleuron Huxl, Fig. 40 d. — mit isolierten kleinen Zähnen auf den Kiefer- rändern neben den Zahnplatten) findet eine allmähliche Umlagerungund ein Verfließender Sg=i B '^N Fig. 41. Ceratodus frunciatus Plien. Zahn- platten A des Gaumens von unten, B des Unter- kiefers von oben gesehen; oben die linke, unten die rechte ergänzt, Lettenkohle, Obertrias; Württemberg. Nach Teller. Aus v. Stromer. unpaaren Flossen in derRichtungeines ungeteil- ten diphyzerken Flossensaumes statt, der dann bei dem unterkarbonischen f UronemusAg. (Fig. 40e) fertiggestellt ist, und über die karbon- permischen f Ctenodontidae (fCtenodus Ag. mit dicntstehenden, gehöckerten Quer- wülsten auf den Reibzähnen, ohne Gular- platten) zu den meso-kaenozoischen Cerato- dontidae und den kaenozoischen Lepido- sirenidae persistiert. Vorläufer des leben- den Ceratodus (Epi- oder Neoceratodus) Forsteri Krefft sind seit der Untertrias bekannt. Bei Ceratodus ist die Zahl der Deckknochen des Kopfskeletts gegenüber der der fDipteridae stark reduziert: Fische (Paläontologie) 1 135 2 mediane unpaare Platten, die occipitale und „ethmoidale", 2 paarige laterale (Prae- frontalia und Postorbitalia), wenige zirkum- orbitale Platten und je ein Postfrontale bedecken den knorpeligen Schädel, — eine Reduktion der Plattenzahl, welche übrigens schon bei den paläozoischen fPhanero- pleuron und fCtenodus eingeleitet ist. Bionomisch waren die Dipnoer aller Zeiten im wesentlichen auf Wässer der Landfesten beschränkt. Das ganz vereinzelte Vorkommen von jDipterus und f Palae- daphus Ben. im marinen Devon Belgiens und des rheinischen Schiefergebirges, von Ceratodus in manchen Gesteinen aus Binnenmeeren der Trias und des Jura, und wenige andere marine Vorkommnisse be- stätigen eigentlich nur, daß diese Formen Fremdlinge in den Meeren waren. Die größte Blüte der Dipnoi fällt in die Zeit des oberen Devon. Bis zur Trias waren sie -- nach den bekannt gewordenen Funden — auf die Nord- hemisphäre beschränkt; erst seit der Trias ist ihre Abwanderung nach den Südkonti- nenten festgestellt. Die systematische Stellung der Dipnoer wird recht verschieden gedeutet. Allein um der Autostylie des Kopfskeletts willen, sie den Holocephalen oder den fArthrodiren (bei welchen die Autostylie noch nicht erwiesen ist) nahe zu stellen, entbehrt genügender Beweis- kraft. Ihrem Hautskelett nach (Schuppen mit Kosminschicht) haben sie Beziehungen zu den Crossopterygiern, mit denen sie bis zu ge- wissem Grade auch der Bau der paarigen Flossen verbindet (s. unten). Sie mögen darum den Teleostomen, denen sie von vielen auch direkt eingereiht werden, nächstverwandt sein. Da aber bei ihrem mit den Crossopterygiern gleichzeitigen ersten Auftreten, über die Art der Verbindung zwischen beiden Gruppen bestimmtes nicht ausgesagt werden kann, sind die Dipnoi hier als selbständige Unterklasse aufgefaßt, welche durch frühzeitige Erwerbung ( ?) der Auto- stylie und Beibehaltung ( ?) des Archipterygiums neben der Umbildung der Schwimmblase be- sonders spezialisiert erscheint. F. Unterklasse Teleostomi. Die im zoologischen Teil (S. 1099) als getrennte Unterklassen aufgeführten Ganoidei (dort auch die Dipnoi und Crossopterygii umfassend) und Teleostei werden hier unter Berücksichti- gung des fossilen Materiales, wie heute von den meisten Ichthyologen, als Teleostomi vereinigt. Die weitaus überwiegendste Menge aller leben- den Meeres- und Süßwasserfische gehört hierher, ebenso in nahezu gleichem Verhältnis die der fossilen. Nachdem Skelett der paarigen Flossen können, und zwar auf Grund weitest zurückliegender Trennung, die beiden Ueberordnungen der Cros- sopterygii Huxl. und der Actinopterygii A. Smith Wood w. unterschieden werden, welche letzteren die zwei nicht streng getrennten Ord- nungen der G a n o i d e n im engeren Sinne und Teleosteer umfassen. 1. Ueberordnung und Ordnung. Crosso- pterygii Huxl.; vgl. zool. Teil, S. 1099. Die paarigen Flossen der heute allein durch die Polypteriden des tropischen Afrika vertretenen Fische sind durch den Besitz beschuppter Achsen ausgezeichnet, in wel- chen — besonders in der Brustflosse — ein gegliedertes, ± deutlich auf ein Archiptery- gium zu beziehendes Achsenskelett nachzu- weisen resp. anzunehmen ist. In verschiedensten Stadien der Verknöche- rung ist die Wirbelsäule bekannt. Während schon manche paläozoische Formen (f Rhi- zodontidae, Devon-Karbon) ringförmig verknöcherte Zentra besitzen, zeigen andere (f Holoptychiidae, Devon), selbst noch mesozoische Formen (f Coelacanthidae, Karbon-Kreide) lediglich Verknöcherungen der oberen und unteren Bögen; die lebenden Polypteriden weisen dann wieder weit- gehende Verknöcherung auf: Vollwirbel mit amphizölen Zentren. Den Kopf, dessen Knorpelskelett ver- schieden weit verknöchern kann, bedecken schmelzglänzende, meist ± rauh skulpturierte Belegknochen. In Zahl und Form entsprechen sie in vielem denen eines normalen Ganoiden- schädels. Bei manchen paläozoischen Typen, den fRhizodontidae, mehr noch bei den fOsteolepidae herrscht die Neigung der vorderen, medianen, paarigen Elemente — ■ zum Teil mit Einschluß der Frontalia zu einer einheitlichen fronto-ethmoidalen Platte zu verschmelzen. Zahlreiche über- zählige Platten können die medianen paarigen Platten seitlich begleiten und zwischen der Umrahmung der Orbitae und dem gewöhnlich recht groß ausgebildeten Opercularapparat auftreten, der meist aus Operculum, Sub- und Präoperculum gebildet wird. Meist sind auch supra- resp. posttemporale Platten vorhanden. Ein Paar großer Gularplatten liegt auf der Unterseite des Unterkiefers; meist tritt dazu eine unpaare, mediane Platte und bei vielen paläozoischen Formen eine größere Zahl seitlicher Gularplättchen, welche aber nicht wie bei Actinopterygiern als Kiemenhautstrahlen ausgebildet sind. — Das Kiefergelenk ist typisch hyostyl. - - Die Kieferränder sind mit* Kegelzähnen besetzt, zu denen auf anderen Teilen des Maules, z. B. auf Splenialknochen, noch weitere Zähne kommen können. Häufig sind ein- zelne der letzteren größer, als Fangzähne, ausgebildet : und eigentümlich ist bei manchen alten Formen (fHoloptychiidae) die „dendrodonte" Struktur der Zähne: von zahlreichen, groben Vertikalkanälen der Mitte strahlen zum Rande vielfach verzweigte Dentinröhrchen; hierdurch sowie infolge von Einfaltungen der Schmelzwand erinnert das Strukturbild an das der Zähne triadi- 1136 Fische (Paläontologie) scher Labyrinthodonten (vgl. den Artikel •j-Stegocephalen). Eigenartig ist bei dem devonischen fOny-j chodus das Vorkommen eines symphysealen Knochens im Unterkiefer, der — gekrümmt bis __ hat, wie spiral gebogen — mit einer Reihe schlanker g?-p0lypterus bbgener Zähne besetzt ist; das erinnert an die symphysealen Zahngruppen mancher paläo- zoischer Plagiostomen (f Campodus, fEdesti- dae? vgl. S. 1126/27). Hin und wieder (f Osteolepidae e. p., f Glyptopomidae) liegt in der Grenze der Frontalia ein kleines Pinealforamen. Die Belegknochen des Schultergürtels, Cleithrum, wozu Supraclavicula, Clavicula und ?Infraclavicula treten können, stoßen beobachtet wurden, kaum so ableiten, wie Gegenbaur das zeichnerisch konstruierte. Die Bauch flösse — gewöhnlich die kleinere, beiCalamoichthys ganz reduziert aus fEusthenopteron und zu schließen ist, wohl durch- Fig. 42. f Holoptychius Flemingi Ag. konstruktion von Traquair. Oberdevon, Aus Zittel. gängig ein einfacheres Achsenskelett besessen. Unpaare Flossen sind primär in der Zahl von 2 Dorsales, 1 Caudalis, 1 Analis vorhanden. Die heterozerk-epibatische spitz auslaufende Caudalis (f Holoptychius, fOsteolepis) wird häufig und in verschie- dener Weise ± diphyzerk: wie ein kurzes, breites, hinten etwas zugespitztes Kuderblatt (fDiplopterus, f Glyptopomus) oder ge- rundet (Polypteri- dae), oder so, daß die nach hinten spitzig ausgezogenen oberen und unteren Segel und ein axialer Fortsatz die Flosse dreizackig machen (fTristichopterus, fEusthenopteron), resp. ragt eine kleine, axiale Pinselflosse V8 natürliche Größe. Re- Oldred; Fife, Schottland. bei manchen oben an supra rale Platten. resp. posttempo- über den hohen oberen und unteren Saum hinaus (f Coelacanthidae). Einmal, bei dem winzigen, sonst wenig bekannten, devoni- Erheblich schwankt die Form der Brust- schen f Tarrasius, ist das Zusammenfließen flössen. Die alten f Holoptychiidae (Fig. der unparen Flossen zu einem ungeteilten 42) zeigen sie in Gestalt einer schlanken, Saum festgestellt. Die endoskelettalen zugespitzten archipterygialen Flosse mit bi- \ Träger der Lepidotrichien in den unpaaren serial geordneten Lepidotrichien, bei anderen Flossen sind, soweit bekannt, meist in nur (fGlyptopomus) ist sie ähnlich geformt, geringer Zahl vorhanden; nur im oberen und aber kürzer; häufig ist sie ± lappenförmig unteren Segel der Caudalis von fCoela- mit fächerförmig gestellten Lepidotrichien c an t lüden wird die Zahl der Träger und (f Osteolepidae e. p., fCoelacanthidae, Lepidotrichien gleich, und in der aus einem Polypteridae), wieder bei anderen ist sie ungeteilt mit der Schwanzflosse zusammen- hinten ± gerade abgestutzt und wird so hängenden Saum hervorgehenden eigenartigen m Umriß trotz der beschuppten Achse Rückenflosse der Polypteridae ist die Zahl einem normalen Actinopterygium ähnlich, der Träger und der groben Schuppen mit den Von nur sehr wenigen ist das Achsenskelett be- Fähnchen aus Lepidotrichien (vgl. Zool. Teil, kannt. Bei dem devonischen fEustheno- g_ ^Q99, Fig. 54) gleich. Die Schuppen der Crossopterygier sind rhombische oder ± zykloidisch geformte pteron z. B. ist eine wenig gliedrige mediale Achse mit wenigen präaxialen und redu- zierteren postaxialen Radien vorhanden. Für das ganz eigenartige Achsenskelett der Polypteridae (vgl. Zool. Teil, S. 1069, Fig. 23), wo ein stabförmiges „Pro- und Metapterygium" mit dazwischen liegender Kos moid schuppen, die außen verschieden verziert sein können. Die Polypteridae nehmen, wie auch in anderem, durch den Ganoinüberzug ihrer Schuppen eine Sonder- stellung ein. Das Seitenliniensystem „mesbpterygialer", zentral verknöcherter setzt von den Rumpfflanken auf die Beleg- Knorpelplatte an ein distinktes Scapulare knochen des Kopfes über und zeigt hier einen und Coracoideum gelenkend, eine Bogenreihe se}ir komplizierten Verlauf, kräftiger Basalradien der lappenförmigen Flosse tragen, ist unter älteren Formen kein wenigstens vorbereitendes Stadium bekannt läßt sich dieses Skelett von dem der fCoel acanthidae, wo nur einmal Reste eines Basipterygiums und präaxialer Radien Die hier zusammengefaßten Crossoptery- gier lassen sich in eine Anzahl von Familien- gruppen, Unterordnungen, bringen, welche unter- einander zum Teil so wenig Zusammenhänge erkennen lassen, daß Goodrich z. B. sie als ganz selbständige „Divisionen" der Teleostomen auf- Fische (Paläontologie) 1131 faßte. In der Tat ist unser Wissen über diese Fische so unvollständig, daß die Zusammen- fassung als eine Ordnung nur eine provisorische Ausflucht bedeutet. Einigermaßen natürlich er- scheint die Aufstellung von 4 „Unterordnungen" : f Holoptychii, f Osteolepidi, f Coelacanthidi, Po- lyp teridi. A. Smith Wo od ward's und Cope's Ein- teilung in Haplistia (fTarrasius), Rhipidi- stia (f Holoptychii, f Osteolepidi), f Aetinistia (f Coelacanthidi) und Cladistia (Polypteridi) nach dem Verhältnis der Träger zu den Strahlen in den unpaaren Flossen klärt ebensowenig die phyletischen Beziehungen wie Goodriclvs Ver- teilung der Crossopterygier auf 3 Divisionen f Osteolepidoti (f Holoptychii, f Osteolepidi), f Coelacanthini, Polypterini, welche er je als der Gesamtheit der Actinopterygii systema- tisch gleichwertig auffaßte. l.Unterordnungf Holoptychii: zum Teil recht großwüchsig werdende Fische mit zykloidischen, skulpturierten Schuppen, mit zahlreichen seitlichen Gularplatteh, ohne Pinealforamen. Familien: fHoloptychi- idae, f Rhizodontidae. f Holoptychiidae: Brustflossen schlank zu- gespitzt mit langer, beschuppter Achse, mit biserial geordneten Lepidotrichien ; Schwanz- Zwischen den f Osteolepidi und fHolo- ptichii vermittelnde Formen sind unbe- kannt; die Verschmelzung der vorderen Schädeldeckknochen bei den f Rhizodon- J tidae und fOsteolepidae kann nur als parallele Entwickelung aufgefaßt werden. Familien: fGlyptopomidae, f Oste- olepidae. fGlyptopomidae: Sehr schlanke Fische mit skulpturierten, rhomboidischen Schuppen, mit kurz zugespitzter, noch biserial gebauter Brustflosse; beide Dorsales liegen weit hinten, sie korrespondieren mit der Ventralis und Analis, die Schuppen reichen ± weit auf diese Flossen hinauf; Schwanzflosse kurz zugespitzt, diphyzerk; vordere Schädeldeckknochen nicht verwachsen; die mittlere Gularplatte fehlt. fGlyptopomus Ag. (f Glyptolaemus Huxl.), Fig. 43, Devon. fOsteolepidae: Die rhombischen Schuppen und die Deckknochen sind glatt; die vorderen Schädeldeckknochen sind verwachsen, an der Basis der unpaaren Flossen kommen größere Schuppen, und an den Vorderrändern der Dorsales Fulkra vor. f Osteolepis Ag. (Devon), Fig. 44, hat eine heterozerke, f DiplopterusAg.(Devon) eine kurze, zugespitzt spateiförmige, hetero-diphy- zerke Schwanzflosse; bei f Megalichthys Ag. (Karbon, Perm) fehlt das Pinealforamen. Fig. 43. f Glyptopomus Kinnairdi Huxl. Oberdevon, Oldred ; Schottland. Verkleinert. Die hier hinten stumpfe Schwanzflosse ist nach anderen Rekonstruktionen kurz zugespitzt. Aus Abel. flösse schlank heterozerk-epibatisch; Zähne den- drodont; Wirbelsäule ohne Verknöcherung der Zentra. f Holoptychius Ag. (f Glyptolepis Ag., fDendrodus Ow.), Fig. 42, Devon. f Rhizodontidae: zum Teil sehr groß werdende Fische mit kurzer, hinten ^ gerade ab- gestutzter Brustflosse mit weniggliedrigem, modi- fiziert archipterygialem Achsenskelett; Schwanz- flosse hoch, dreizipflig, selten hetero-diphyzerk, meist diphyzerk; Wirbeizen tra zum Teil ring- förmig verknöchert; Zähne unten längsgefaltet; vordere Deckknochen des Kopfes ± verwachsen. f Tristichopterus Eg., f Eusthenopteron Whiteav. Devon; fRhizodus Ow., fRhizo- dopsis Newb., Karbon. Den fHoloptychii ist wohl auch die unvoll- kommen bekannte Gattung fünychodus Newb. (Devon) mit bezahntem Symphysen- knochen zuzurechnen. 2. Unterordnung fOsteolepidi, Jaek. Meist schlanke, kleinere Fische mit rhom- bischen bis rhomboidischen Schuppen, mit ± kurzer Achse der Brustflossen mit ± welt verwachsenen vorderen Kopfdeckknochen, meist mit Pinealforamen, selten mit ring- förmig verknöcherten Wirbelzentren. — Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band I Die Vereinigung der fGlyptopomidae und fOsteolepidae hat lediglich auf Grund der Beschuppung, des gewöhnlich vorhandenen Pine- alforamens und der Neigung zur Unterdrük- kung der seitlichen Gularplattenreihen statt- gefunden. Vielleicht ist der winzige, ungenügend bekannte, fTarrasius Traq. (Unterkarbon, Schottland) mit diphyzerkem Flossensaum ohne distinkte Dorsales und Analis hier anzuschließen? A. Smith Wood ward gründete auf ihn die beson- dere Untergattung fH a p 1 i s ti a. 3. Unterordnung f Coelacanthidi. Den beiden vorigen Gruppen stehen ganz iso- liert gegenüber die vom (Devon?) Karbon bis in die Kreide verbreiteten Fische, die sich um f Coelacanthus und fUndina ordnen. Wrährend ihre unverknöcherte Wirbelsäule als primitiverer Charakter auf- zufassen ist, erweisen sich andere Merkmale als Anzeichen weitgehender Spezialisierung zum Teil stark progressiver Natur, so die übereinstimmende Zahl der Träger und Strahlen im oberen und unteren langen der Schwanzflosse, die reduzierte 72 Segel II. 1138 Fische (Paläontologie) Zahl der Kopfdeckknochen, das Operculum ohne (?) Suboperculum, die Verwachsung von Hyomandibulare mit Quadratum und Ptery goid. Die paarigen Flossen mit ganz kurzer Calamoichthys Smith. konstruieren. Wenige Reste tens bekannt. Familie : Polypteridae. sind aus dem Eozän Aegyp- Polypterus Geoffr., Fig. 44. fOsteolepis macrolepidotus Ag. struktion von Traquair. Devon, mittlerer Aus Zittel. Verkleinerte Rekon- Oldred: Schottland. fUndina acutidens 0. M. Reis. Skelettkonstruktion von Reis, 1/i natürliche Größe, a Afterflosse, c diphyzerke Schwanzflosse mit Pinselflosse, d, d' Dorsalis 1 und 2, m fossile Muskelsubstanz, p Brustflosse, s Schwimmblase mit verkalkter Wand, v Bauchflosse, W Wirbelsäule (ohne verknöcherte Zentra). graphischer Schiefer; Solnhofen, Bayern. Verbreitung. Die Crossopterygier treten (ab- gesehen von isolierten, an f Holoptychius erinnernden Schuppen, fEriptychius americanus Wale, sehr fraglichen untersilurischen Alters, von Canyon City) zuerst im unteren Devon der Nordhemisphäre auf; und zwar gehören sie hier vorwiegendst der Oldred- fazies an, zu deren wich- tigsten Charakterfossilien die fUsteolepidi und fHoloptychii (diese be- sonders im Oberdevon) zu zählen sind. Wohl sind auch Vorkommnisse aus marinen Ablagerungen be- kannt, doch diese stellen sich erst ein wenig häufiger im Oberdevon ein. Erst unter den fCoelacan- thiden des Mesozoikum werden marine Vorkomm- nisse die Norm (z. B. fUndina, fMacro- poma). Die Polypte- riden sind dann wieder an Wässer des Landes ge- bunden. - - Repräsentieren die Crossopterygier einen Stamm, dann wird aus der Art des Vorkommens der fossilen Formen ihr unbe- friedigendes systematisch-phyletisches Bild klar: Ihre Stammesentwicklung war im wesentlichen an Süßwässer der Landfesten gebunden, von deren Sedimenten naturgemäß nur lückenhafte Ueber- lieferung berichtet. Nur ein Ast. die fCoela- canthiden, scheint zu reinem Meeresleben überzugehen. Und die jüngsten, so unvermittelt dastehenden Polypteriden mögen von ihren Oberster Jura, litho- Aus v. Stromer. Achse und die Dorsales wie die Analis sind lappenförmig, ± oval: und ganz eigenartig sind die einfachen oder gabelig geteilten Endoskelettalplatten, welche die Dorsales und die Analis stützen. Eine besondere Note erhalten die f Coelacanthiden durch die Verfestigung der Schwimmblasenwand mit- tels Reinen verkalkter Blätter. Der ziemlich hohe Körper war mit dünnen zykloidischen I ersten Anfängen ah, welche vielleicht den fOsteo Schuppen bedeckt. - - Familie fCoelacan- lepiden näher standen, dauernd an Süßwässer ge- thidae: f Coelacanthus Ag., Karbon bis bunden gewesen s Trias(?); f Graphiurus Kner, fDiplurus Newb., Trias; fUndina Ms tr., Jura, Fig. 45; fMacropoma Ag., Kreide. 4. Unterordnung Polyp teridi (Zoolo- gischer Teil, S. 1093, 1099, 1100). Wieder eine ganz isolierte Stellung nehmen die Poly- pteriden ein mit ihren rhombischen, mit Ganoin bedeckten Schuppen, durch ihr weit verknöchertes Innenskelett mit am- phicölen Vollwirbeln, ihre besondere Aus- bildung des Brustflossenskeletts (Zoologischer Teil, S. 1069, Fig. 23) und den eigenartigen Bau der Rückenflosse, durch die zahlreichen überzähligen Platten zwischen Schädeldach und Wangen bei fehlenden seitlichen Gular- platten. Zu keinem der übrigen Crossoptery- giertypen lassen sich bestimmte Verbindungen 2. Ueberordnung. Actinopterygii A. Sm. Woodw. (Ganoidei und Tele- ostei). Die paarigen Flossen der Ganoiden im engeren Sinne und der Knochenfische zeigen nicht die „lappige" Form derCrossopterygier- flossen. Ihr axiales (basales) Skelett ist weitgehend reduziert in den paarigen Flossen der Störe und in den Brustflossen der übrigen Ganoiden, ganz unterdrückt ist es in den Bauchflossen der holosteiden Ganoiden und der Teleosteer. Die Stelle der seitlichen Gularplättchen wird von Branchiostegal- strahlen eingenommen. Nicht selten, werden besonders von Teleosteern fossile Gehör- steinchen, Otolithen, gefunden, deren Fische (Paläontologie) 1139 Einreihung in bestimmte Gattungen nament- lich Koke n gelungen ist. 1. Ordnung: Ganoidei, Schmelz- schupper, vgl. Zoologischer Teil, S. 1099 (Chondrostei), S. 1100 (Holostei). Die heute in nur wenigen Typen (Störe, Löffelstöre, Amia und Lepidostens) lebenden Schmelzschupper waren im Paläozoikum und der Trias die alleinherrsehenden Actinopterygier; vom Jura an wurden sie langsam durch die Tele- osteer ersetzt. Abgesehen von anatomischen Merkmalen des ' Weichkörpers liegen die besonderen, paläonto- logisch verwertbaren, wenn auch nicht scharf abgrenzenden Charakteristika der Ganoiden in der Ausbildung ihres Schuppenkleides, ihres Innenskelettes und in der Ausbildung der Flossen. Zwei „Kohorten" lassen sich je nach Kombina- tionen varianter Ausbildung dieser Charaktere unterscheiden, die Chondrostei (mit den heute lebenden Stören und Löffelstören) und die sich mehrfach den Knochenfischen nähernden Holo- stei (mit Amia und Lepidostens). Die normalen Ganoidschuppen sind rhombisch, greifen an ihren Vorder- und Hinderrändern ± weit übereinander. Der Aufbau der Schuppen aus i dichter knöcherner (Isopedin-) Basis und aufliegender schmelzähnlicher Ganoinschicht ■ ist kon- zentrischsehalis: jede Isopedinlage geht nach oben in eine Ganoinlage über: in der Ueber- gangszone kann sich (bei paläozoischen f He- terocerci, Chondrostei) eine an verzweigten horizontalen Kanälen reiche Lage und hier- über noch eine Kosmin- oder Dentinartige Lage zwischen Knochen und Ganoin ein- schalten. Die echten Ganoidschuppen wer- den in ihrer Knochenbasis von : schrägen Kanälen durchzogen. Eine verdickte Kno- chenleiste der Basis (,, Hautrippen'1 bildend) kann über den Rand der einen Schuppe in eine entsprechende Aushöhlung am Unter- rande der benachbarten greifen; das ergibt bei der Mehrzahl der Ganoiden eine Gelen- kung und Verfestigung des häufig sehr massiven Schuppenpanzers. Auf mehreren Stammlinien der Ganoiden greift in ver- sehiedener Weise Reduktion resp. Umfor- mung der Schuppen ein. Bei den Chon- drostei (bereits bei wenigen f Heterocerci) verschwinden die Rumpfschuppen bei den Chondrosteidae, Accipenseridae and Polyodonticlae bis auf die Schuppen der hinteren Schwanzregion oder, wie ähnlich auch bei den f B e 1 o n o r h y n c h i d a e, bis auf Reihen von ganoinlosen Knochenschildern. Außer seltenem Verschwinden der Schuppen kommt - selten bei f Heterocerci, häufiger bei den -j- Holost ei — Umbildung der rhombischen Schuppen zu zykloidischen vor unter Rück- bildung der Ganoin- und Knochenlage und unter Aufgeben der Gelenkung. Die ursprünglich knorpelige Wirbel- säule mit persistierender Chorda kann ganz knorpelig bleiben (Störe) oder ± weit ver- knöchern. Bei den Chondrostei beschränkt sich die Verknöcherung auf obere und untere Bögen, Fortsätze und Flossenträger. Bei den Holostei findet verschiedenartigste Ver- knöcherung statt: Verknöcherung nur der oberen und unteren Bögen (mit Fortsätzen und Rippen) führt zur Bildung von Nackt- wirbeln (f Pycnodonti); bogenförmige Hy- pocentra und Pleurocentra können ventral und dorsal die Chorda umgeben Halb- wirbel, bei vielen Orthoganoiden und Amioiden; Hypo- und Pleurocentra können zu Ringen auswachsen, die getrennt ± hinter- einander liegen oder miteinander verschmel- zen Hold- oder Ringwirbel, wieder bei vielen f Orthoganoiden und Amioiden; weitergehende Verknöcherung führt zur Bil- dung von Vollwirbeln mit amphizölen (fOligopleuridae, Amiidae), bei den Lepidosteidae mit opisthozölen Wirbel- körpern. Häufig ist die Yerknöchernng der Wirbelsäule im Schwanz eine vorgeschrittenere als im Rumpf, doch kommt auch das Umgekehrte vor. Bei den Holostei entspricht (mit Ausnahme von Lepi- dosteus) im allgemeinen stärkere Yerknöchernng der Wirbelsäule vorschreitender Reduktion der Ganoidschuppen (Schwächung des Schutz-, Stärkung des Stützskeletts!); bei den Chondro- stei hat diese Relation nicht statt. Mit stärkerer Yerknöchernng der Wirbel- säule geht gewöhnlich stärkere Verknöche- rung des Knorpelcraniums Hand in Hand (bei vielen Holostei). Die Deck- und äußeren Ersatzknochen des Seh äd eis sind meist schmelzglänzend. Hin- ter den paarigen Elementen des Schädeldaches (Nasalia, Frontalia, Parietalia ohne Pineal- löch) liegen post- und supratemporale Platten, in verschieden großer Zahl treten zirkum- und suborbitale Platten auf, außer- dem Squamosa, Maxillaria, Praemaxillaria, Ethmoideum und, nicht konstant, Prae- uncl Postfrontalia, ferner Supramaxillaria. Bei den Accipenseridae (Chondrostei) und den fPycnodonti (Holostei) kommen überzählige "mediane Platten vor, ebenso ± zahlreiche rostrale oder ethmoidale, und bei Lepidostens (Holostei) präoperku- lare und maxillare Platten. Im Operkular- apparat der Holostei (hier meist mit In- teroperculum) tritt das Praeoperculum all- mählich in ± innige Verbindung mit den Pterygopalatinen und dem Mandibularbogen. Die ursprünglich zahlreichen Branchioste- galia werden sowohl bei den Chondrostei (Chondrosteoidei) wie auch bei manchen Holostei ± weit reduziert. Meist ist eine unpaare Gularplatte vorhanden. Die Interelavicula im Schultergürtel 79* 1140 Fische (Paläontologie) der Chondrostei wird bei den Holostei mit dem Cleithrum vereinigt. Die Vorderränder aller Flossen können mit Fulkren besetzt sein; bei abgeleiteten resp. mehr zu den Teleosteern neigenden Gruppen tritt der Fulkrenbesatz zurück. In der Dorsalis und Analis ist bei den Chondrostei die Zahl der Strahlen zumeist größer als die der Träger, und diese wieder größer als die der zugehörigen Segmente der Wirbelsäule; bei den Holostei werden wie bei den Knochenfischen die Zahlen der Strahlen, Träger und Flossen gleich. Die Schwanzflosse ist (? aus ursprüng- lich diphyzerkem Flossensaum hervorgehend [Dollo]) bei den Chondrostei anfangs schlank unten weit nach vorn reichende Bogenzone; mittlere paarige Gularplatten fehlen. Der oben an Posttemporalia angegliederte Schul- tergürtel hat noch eine distinkte Interclavi- cula. Die Chorda persistiert ; nur Bögen und Fortsätze und die Flossenträger, deren Zahl in der Dorsalis und Analis kleiner ist als die Zahl der meist mit Ganoin überzogenen Strahlen, können verknöchern. Spitzige Zähnchen sitzen auf den Kieferrändern. Fa- milien: fPalaeoniscidae (Unterdevon bis Jura), f Catopteridae (Trias), fPlaty- somidae (Karbon, Perm). fPalaeoniscidae. Aus der Oldredfazies des schottischen Unterdevon (und aus dem Devon Kanadas) ist der erste der meist schlan- Fig. 46. fCheirolepis Traiin ward. V4 natürlicher Größe Ag. Rekonstruktion von Traquair und A. Sm. Wood Unteres Oldred, Mitteldevon; Schottland. Aus Jaekel. heterozerk-epibatisch ; dieser innerlich hetero- zerke Bau bleibt meist deutlich erhalten, aber die äußere Form kann namentlich bei den Holostei in verschiedener Weise hemi- heterozerk, homozerk bis (sekundär) diphy- zerk werden. 1. Kohorte. Chondrostei (Unterord- nungen: fHeterocerci, Chondrosteoidei, ?f Be- lonorhynchidi). 1. Unterordnung. f Heterocerci. Unterdevon-Jura (Fig. 46, 47). Als Ausgangsformen der Ganoiden sind die fHeterocerci aufzufassen : Meist spindel- förmige Fische mit ausgeprägtester Hetero- zerkie (das untere Segel der Schwanzflosse ist hinten ± tief ausgeschnitten, in seinem vorderen Teil hoch; das obere Segel wird durch eine Reihe von Fulkren ersetzt, welche der beschuppten Schwanzachse aufliegen). Die gewöhnlich rhombischen Schuppen sind durch eine gefäßreiche und eine kosminartige \ Lage zwischen der Knochenbasis und der Ganoinschicht von den normalen Ganoicl- schuppen unterschieden ; die Schuppenreihen des aufwärts gebogenen Schwanzes sind abweichend von denen des Rumpfes geordnet. ! Die Vorderränder der Flossen sind meist mit kräftigen Fulkren besetzt. In den schmelzglänzenden Belegknochen des Kopfes bildet der große Operkularapparat (ohne 1 Interoperculum) mit zahlreichen groben Branchiostegalstrahlen eine stark gekrümmte. ken Paläonisciden bekannt: fCheirolepis Ag., Fig. 46, ein Fisch, dessen rhombische Schuppen, auffallend klein, an das Schuppen- kleid des alten Haies fAcanthodes erinnern. Häufiger werden die Paläonisciden mit nor- mal großen Rhombenschuppen im Karbon (fNematoptychius, fRhadinichthys, fCanobius Traq., f Eurylepis Newb., f Elonichthys Gieb.) und besonders im Perm, dessen Süßwasser- und Binnenmeerbecken sie in großer Zahl bevölkerten (f Amblypterus Ag., fElonichthys Gieb., fPygopterus Ag., f AcrolepisAg. und namentlich f Palaeoniscus Bl., Fig. 47). Auch in den Brack- und Süßwasser - wie in den Meeresbildungen der kontinentalen Trias von Europa, Nordamerika, Südafrika und Australien, also in weitester Verbreitung sind sie bekannt (fGyrolepis Ag., f Atherstonia A. Sm. W., fHeliehthys Broom, fMyrio- lepis Eg.). Vereinzelt gehen sie noch in die Meere des Jura (fOentrolepis Eg., fOxygna- thus Ag.), wo der kleinwüchsige fCoccolepis Ag. durch die Erwerbung zykloidischer Schuppen auffällt, die übrigens schon einmal früher vor- kommen bei f Trissolepis Fr. (Perm, Böhmen). Neben schlanken kommen auch einzelne hoch- wüchsige dann an die f P 1 a t y s 0 m i d a e er- innernde Typen vor: f Cleithrolepis Eg. , fHydropessum Broom (Trias, Australien, Südafrika). f Catopteridae. Enge schließen sich an die fPaläoniscidae fCatopterus Red f. und fDic- tyopyge Eg. aus der kontinentalen Trias der Nord- und Südhemisphäre; schlankgestreckte Fische mit äußerlich ± homozerkem Schwanz, dessen Achse weniger weit beschuppt ist. Fische (Paläontologie) 1141 fPlatysomidae. Im Karbon und Perm treten zu den fPaläonisciden die ihnen nächst- verwandten fPlatysomiden: hoch werdende, seitlich stark komprimierte Fische, meist mit ; hohen Rhombenschuppen ; Dorsalis und Analis werden zu langgestreckten, vorne erhöhten Schwanz kräftigere Bögen ausgebildet; der Ganoinbelag der feingegliederten Flossen - strahlen ist dünn. Die Polyodontidae mit Reduktion der Schädelknochen, weitestgehender mir mächtigem Fig. 47. fPalaeoniscus Freieslebeni Ag. Oberperm, Zechstein, Kupferschiefer; Thüringen. Y2 natürlicher Größe. Nach Traquair. Aus Jaekel. Die vordere, stumpfe Begrenzung des Mandibulare ist beim Druck ausgeblieben. Zoologisehen Flossensäumen; die sonst wie bei den fPaläo- nisciden gebaute Caudalis ist hinten sehr tief gebuchtet und kann ein besonders langes unteres Segel herausbüden, wobei die Umrißform der Flosse ± homozerk wird. Die Zähne sind niedrig stumpf konisch. fEurynotus Ag., fMeso- lepis Young zeigen "den Uebergang von schlanken Paläonisciden zu den hohen f Platy- somus Ag. und fCheirodus Traq. (letzterer ohne Bauchflossen ?, in der Form lebhaft an den lebenden Teleosteer f Psettus erinnernd), f Pla- t y s o m u s ist neben f P a 1 a e o n i s c u s der häufigste Fisch des deutschen Kupferschiefers (Oberperm); der dort ebenfalls vorkommende fDorypterus Germ, fällt durch die Reduktion seines Schuppen- kleides bis auf wenige, nach oben in schlanke Fäden ausgezogene Ventralschuppen auf. 2. Unterordnung. Chondrosteoidei (Störe, Knorpelganoiden) ; vgl. Teil S. 1068, Fig 19—21, S. 1099. Nach Traquair und A. Smith Wood- ward sind von den fHeterocerci, speziell wohl von den fPalae onis cid ae, bei welchen in fPhanerosteon Traq. des Karbon bereits eine Reduktion des Schuppenpanzers vorkommt, die Störe im weiteren Sinne, die fdiondrosteidae, Accipenseridae und Polyodontidae geworden. fChondro- steus Ag. aus dem Unterlias und fGy- rosteus Ag. (Oberlias) von England zeigen wohl den eingeschlagenen reduktiven Weg: Bis auf den mit rhombischen Schuppen be- deckten Schwanz ist der Körper nackt, die vorderen und ein Teil der seitlichen Beleg- knochen des Kopfes sind ganz reduziert, dasVisceralskelett ist nur schwach ausgebildet; in dem (doch wohl ventral gelegenen) Maul fehlen Zähne; eine größere Zahl kräftiger Branchiostegalstrahlen und eine distinkte Interclavicula ergeben aber noch Ueber- einstimmungen mit den f Palaeonisciden; an der knorpeligen Wirbelsäule sind im Knorpelrostrum, ohne Branchiostegalstrahlen sind wohl bis zur Kreide zurück zu verfolgen (f Pholidurus A. Sm. W.i, während die ältesten Reste der A c cip en s er ida e (mit neu erworbenen ?, sehr zahlreichen, überzähligen Belegknochen des Schädels) aus dem Eozän bekannt sind. 3. Unterordnung. fBelonorhynchidi. A. Smith Wo od ward rechnet den Chon- drostei noch die f Belonorhynchiden zu: sehr schlanke Fische, welche durch die Reduktion des Schuppenkleides bis auf 4 Längsreihen — je eine dorsal, ventral und lateral -- eine ge- wisse Parallele zu den Accipenseriden bilden. Ihr Schädel, mit im Alter verwachsenen Deckknochen, ist in eine sehr schlanke Schnauze ausgezogen, deren Kiefer mit spitzen Zähnen besetzt sind; der Operkular- apparat ist stark reduziert, Branchiostegal- strahlen fehlen; die paarigen Flossen sind klein. Dorsalis und Analis mit mehr Strahlen als Trägern liegen weit hinten, sind meist kurz und hoch; die hinten fast senkrecht abgeschnittene, dreiseitige Schwanzflosse ist diphyzerk; Fulcra fehlen. Die Chorda persistiert, aber Bögen, Fortsätze (die oberen mit Zygapophysen!) und Rippen sind ver- knöchert. Durch die teils primitiven, teils vorgeschrittenen Merkmale ist die Stellung der fBelonorhynchidae ganz unsicher; 0. M. Reis wollte sie zu den Crossopterygiern stellen, f Saurichthys Ag., Trias; fBelo- norhynchus Br., Fig. 48, Trias, Lias. 2. Kohorte. Holostei (Unterordnungen; f Orthoganoidei, fPycnodonti, fAs- pidorhynchoidei, fAmioidei, fLepi- dosteidei); vgl. Zoologischen Teil S. 1100. Die in progressiver Entwickelung des Innenskeletts und in der Umbildung der Schuppen zu zykloidischen, sowie in der Gestaltung der Schwanzflosse Teleosteer- charaktere gewinnenden Holostei sind der 1142 Fische (Paläontologie) jüngere, erst seit dem Perm bekannte Stamm der Ganoiden. Nach der Ausbildung der Schuppen, der Schwanzflosse, des Ful- krenbesatzes der Flossen und des Gebisses hierher gehörender Flugfisch. — Nächstverwandt ist die Fam. f Lepidotidae (Sphaerodontidae) aus Trias bis Kreide, mit einem Eeibgebiß aus ± unregelmäßigen Reihen halbkugeliger Zahn- Fig. 48. f Belonorhynchus gigas A. Sm. Woodw. Verkleinerte Rekonstruktion von A. Sm. Wood ward. Obertrias (?), Hawkesburyformation; NS-Wales. Aus Abel. lassen sich 5 Unterordnungen in ihnen unter- scheiden, deren phyletische Beziehungen untereinander allerdings nicht eindeutig fest- stehen. 1. Unterordnung. fOrthoganoidei, Koken ( L e p i d o s~t e i , Huxl. e. p., f M e s og a n o i d e i , W. K. Greg.). Echte rhombische Ganoidschuppen be- krönen auf Gaumen, Oberkiefer und Unterkiefer und mit spitzigen bis schneidenden Zähnchen im Zwischenkiefer und auf den Kieferrändern (f Colo- bodus Ag., f Sargodon Plien. Trias; fLepi- dotus Ag., Fig. 49, mit zahlreichen Arten, unter denen einzelne riesige, jungjurassische einen un- gemein schweren Schuppenpanzer besitzen, Ober- trias bis Unterkreide). — Meist schlank gestreckte Formen mit sehr langer, oft über den ganzen Fig. 49. fLepidotus vensis Blv. 1/5 natürliche Holzmaden, Württemberg. Oröße. Oberlias, Aus Jaekel. Posidonomyensehief er ; decken den Körper; alle Flossen können Fulkrenbesatz haben; die Schwanzflosse ist innerlich stets scharf heterozerk, mit kurz beschupptem oberem Lappen, ihre äußere Form nähert sich ^ weit dei Homozerkie; die Wirbelsäule kann zu Halb- bis Ring- wirbeln verknöchern. Perm bis Kreide, i f Acentrophorus Traq., ein winziges Fisch- chen aus dem Perm Englands (und aus der , Trias ?), ist der älteste bekannte Vertreter I der wohl sicher auf heterozerke f Paläonisciden zurückzuführenden Fam. f S e m i o n o t i d a e (Perm-Lias), in der ± spindelförmige (fSe-| mionotus Ag., Fig. 1, fSerrolepis Qu., fCrenilepis Dam. Trias) bis hochwüchsig werdende Fische (fDapedius Ag. Obertrias, | Lias; f Tetragonolepis Br. -- von fast kreis- förmigem Umriß und mit sehr hohen Schuppen auf den Flanken -- Lias) vereinigt werden; ihre Schwanzflosse ist hinten wenig eingebuchtet bis gerade abgeschnitten; ihre Kiefer sind mit pitzigen Zähnchen besetzt (darum auch „Styl- odontidae" genannt); fDollopterus Ab. aus dem Muschelkalk, mit mächtigen Brustflossen ist ein Rücken verlaufender Dorsalis, mit fast gleich- lappiger Caudalis, mit ± reduzierten Fulkren, mit kräftigen schlanken Zähnen auf Gaumen, Vomer und Kiefern enthält die Fam. fMacro- semiidae , Trias bis Oberkreide (fSegnonotus Eg. Rhät; f Histionotus Eg., f Macrosemius Ag. mit dorsal und ventral reduzierter Beschup- pung, f Üphiopsis Ag. Jura; f Petalopteryx Pict. Kreide). — Ebenfalls schlanke Rhomben- schuppen, zum Teil mit hohen Schuppen auf den Flanken, doch mit kurzer Dorsalis, mit kleiner Analis. meist mit tief ausgeschnittener Caudalis, mit schwachen Fulkren und mit spitzigen Zähn- chen umfaßt die Fam. f Pholidophoridae, Trias, Jura (f Pholidophorus Ag. Trias, Jura; f Pholidopleurus Br. Trias; f Pleuropholis Eg. Jura; die triadischen f Thoracopterus Br. und f Gigantopterus Ab., Fig. 50, waren nach ihren mächtigen Brustflossen Plugfische; f Archaeonemus A. Sm. W. Übertrias? hatte zykloidische Schuppen). 2. Unterordnung. fPycnodonti, Jura bis Eozän. Von den fOrthoganoidei (ob von den Fische (Paläontologie) 1143 f Lepidotidae?) sind wohl die durch ihre meist sehr hohe Körperform den fPlaty- somiden konvergenten fPycnodonti ab- zuleiten: hohe, bei fMicrodon hinten feh- lende Rhombenschuppen bedecken die Flan- ken; Dorsalis und Analis werden zu langen Säumen, Pectoralis und Ventralis werden klein, ziemlich weit nach oben resp. vorn ver- lagert; der Operkularapparat wird reduziert, viele überzählige Deckplatten treten im Kopfskelett auf; die Gularplatte fehlt; ein Reibgebiß ans regelmäßigen Reihen ± ge- Fig. 50. f Thoracopterns Niederristi Bronn. Fossiler Flugtisch, Farn. fPholido- phoridae. Obertrias, Raiblerschichten; Raibl und Lunz, Oesterreich. Rekonstruktion von (). Abel. Fig." 51. fGyrodus hexagonus Blv. sp. Rekonstruktion in Schwimmstellung nach F. Hennig; Vi natürlicher Größe. Oberster Jura, lithographischer Schiefer; Solnhot'en, Bayern. Aus .(aekel. 1144 Fische (Paläontologie) runzelter Zähne sitzt dem Vomer und den Splenialia auf; wenige kegel- bis meißel- besatz der Flossen wird ± reduziert. Die Gularplatte bleibt erhalten. Vermutlich förmige Zähne stehen vorn auf den kleinen stehen die Amioideen den f Catopteridae Dentalia und Praemaxillen. Als Eiffe ab- 1 (f Heterocerci) nahe und sind mit den übrigen Fig. 52. f Aspidorhynchus acutirostris Ag. Rekonstruktion von P. Aßmann, x/s natür lieber Größe. Oberster Jura, lithographischer Schiefer: Solnhofen, Bayern. Aus Jaekel. Fig. 53. fEugnathus orthostomus Ag. Rekonstruktion von A. Sin. Woodward, ca. Vi natürlicher Größe. Unterlias; Dorsetshire, England. Ans Jaekel. großwüehsigen f Microdon Ag. 51, fMesturus Heck., fCoccodus Wagn. weidende Fische deutet Teil sehr (f Gyrodus Ag., Fig fMesodon Wagn., Jura; fCoelodus Pict., Kreide; fPycnodus Ag., Eozän) 3. Unterordnung, f Aspidorhynchoi- dei; Jura, Kreide. Vielleicht sind von den f Orthoganoiden auch die f Aspidorhynchiden abzuleiten: Sehr schlanke, in der Form den -f Belono- rhynchiden konvergente Fische mit wenigen Reihen hoher Schuppen auf den Flanken, mit viel niedrigeren am Rücken und Bauch, mit kleiner Dorsalis und Analis, mit tief aus- geschnittener, gleichlappiger Schwanzflosse ; ohne Gularplatte. Der Schädel ist in eine langspitzige Schnauze ausgezogen ; dem meist kürzeren Unterkiefer ist ein Praemandibulare eingefügt (f Aspidorhynchus Ag., Fig. 52, Jura, fBelonostomus Ag., Jura, Kreide). 4. Unterordnung. Amioidei. Seit der oberen Trias gehen neben den f Orthoganoiden und ihren Derivaten die Amioidei her: Vorwiegend schlanke Raub- fische mit kräftigem Hechelgebiß, deren Schuppen dünner, zykloidisch werden und deren Wirbelsäule mehr und mehr ver- knöchert. Die Schwanzflosse, innerlich heterozerk, wird äußerlich homozerk, hinten ausgeschnitten bis gerundet. Der Fulkren- Hennig die zum Holostei gar nicht direkt genetisch ver- Pvcnodonten banden. Die Fam. fEugnathidae (Trias bis Kreide) enthält die ursprünglichsten Amioideen mit Nackt- bis Halb- und Hohl wirbeln (fPtycholepis Ag., Caturus Ag. Trias, Jura; fEugnathus Ag., Fig. 53. f Eurycormus Ag. Jura; f Lo- phrostomus Eg. Kreide). -- Mit den fEugna- thiden vom Lias bis in die Kreide vergesellschaftet und ihnen äußerlich wie im Bau der Wirbelsäule ähnlich ist die Fam.fPachycormidae: Schlanke Raubfische, deren Vomer und Ethmoid zu einem I Rostrum verlängert ist, mit sehr zahlreichen Branchiostegalien mit meist sehr hoher, hinten tief gebuchtoter gleichlappiger Schwanzflosse und i mit schlanken großen, groben Brustflossen, (f Pachycormus Ag., f Hypsocormus Wagn. Jura; f Protosphyraena Leid., Kreide, mit lang dornförmigem Rostrum, mit riesiger Pecto- ralis und Caudalis, deren vordere grobe Strahlen miteinander fest verwachsen, wurde häufig als Teleosteer aufgefaßt.) — Fam. Amiidae (Megaluridae) (Zoologischer Teil S. 1100) mit dünnen zykloidischen Schuppen; meist mit langer Dorsalis; mit innerlich heterozerker, hinten gerundeter Caudalis, Fulcra nur an den unpaaren Flossen oder ganz fehlend; Rumpf mit knöchernen, amphizölen Wirbel- zentren, Schwanz mit Ringwirbeln, deren Hypo- und Pleurozentra noch nicht verwachsen sind (fMegalurus Ag., fLiodesmus Wagn. Jura; IfAmiopsis Kner Kreide; Amia L. Tertiär, Jetzt). — Die Fam. f Oligopleuridae (Ober- jura, Oberkreide) — mit vollständig verknöcher- ter Wirbelsäule, in der mit Ausnahme des ersten Fische (Paläontologie) 1145 Wirbels Hypo- und Pleurozentra nicht mehr getrennt sind: mit zykloidischen, dünnen Schup- pen; mit hinten gebuchteter äußerlich homo- zerker Caudalis, mit schwachen Fulkren - - also mit Formen, die fast vollständige Teleosteer sind, wird von manchen den f Ürthoganoiden, von anderen den Amioideen zugerechnet (füligo- pleurus Thioll. Oberjura; fOenoscopus Costa, Jura, Kreide; Spathiurus Dav. Kreide). 5. Unterordnung. Lepidosteoidei (Ginglymodi, Cope); s. Zoologischen Teil S. 1071, Fig. 26, S. 1100. Die heute in Süßwässern Nord- und Zentral- amerikas lebenden Knochenhechte mit rhom- bischen Ganoidschuppen, opisthozölen Wirbeln, mit weit verlängerter Schnauze, mit gerundeter, im wesentlichen durch Verlagerung der Analis 2 entstandener Schwanzflosse (Dollo) sind in einzelnen Resten (Lepidosteus Lac: fClastes Cope) seit dem Eozän bekannt; ihre Stellung zu den übrigen Ganoiden ist ungeklärt. Bionomie der Ganoiden. Von den wenigen rezenten Ganoiden sind Amia in Nordamerika, Lepidosteus in Nord- und Zentralamerika, die Löffelstöre Polyodon in Nordamerika, Psephurus in China, der Stör Scaphirhynchus in Nordamerika und China, Süßwasserbewohner, während die Accipens er- Arten sowohl in den Meeren wie Süßwässern der Nordhemisphäre zu Hause sind. Aus der Vorzeit ist w^ohl die überwiegende Menge der Ganoiden aus marinen Ablagerungen bekannt. Aus diesen Momenten wird gewöhnlich der Schluß ge- zogen: die" lebenden Ganoiden sind in die kontinentalen Gewässer gedrängte Nach- kommen mariner Typen der Vorzeit. Der Schluß ist jedenfalls nicht unbedingt richtig. Die Wohnsitze der ältesten Ganoiden (f Chei- rolepis) waren ausschließlich, die der übrigen paläozoischen und der triadischen Formen ganz vorwiegend Wässer kontinentaler Ge- biete, teils auch Binnenmeere, in denen aber die Ganoiden sicher nicht autochthon waren (Meer des Kupferschiefers!). Erst im Jura scheint reichlichere, aber nicht vollständige Abwanderung in die Meere Platz gegriffen zu haben. Sehr wahrscheinlich sind die heute lebenden Formen mit ihren ganz un- vollständig bekannten Stammbäumen solche, deren Ahnen mehr oder weniger dauernd an kontinentale Gewässer gebunden waren. Die recht sehr lückenhafte Geschichte der Gano- idenstämme überhaupt würde ihre Erklärung darin finden, daß die eigentliche Entfaltung der Ganoiden sich in Kontinentalgebieten vollzog. 2. Ordnung. Teleostei, Knochenfische. Die Geschichte der in gewaltiger, durch jede neue Expedition vermehrter Formen- fülle die heutigen Meere und Süßwässer be- völkernden Knochenfische (Zoologischer Teil, S. 1100 — 1104) zu verfolgen, gebricht es an Raum, aber auch an genügend vollständigem und sicherem Material. Es sei hervorgehoben, daß im Bereich der Ganoiden verschiedentliche Umprägungen nach der Richtung der Teleosteer vorkamen, so bei den fPholidophoriden, in den fOligo- pleuriden, Amiiden, daß andererseits bei sonst echten Knochenfischen (Malacopterygiern), den fLeptolepiden des Jura die Zykloid- schuppen noch einen deutlichen Ganoid- belag besitzen. Die Grenzen zwischen beiden Teleostomentypen sind, besonders auf Grund des fossilen Materials, keineswegs scharfe, — ■ doch bestimmte genetische Linien von den Ganoiden zu den Teleosteern zu ziehen, ist heute noch nicht angängig. Weiter als bis in den unteren Jura lassen sich die Teleosteer, (neben den Holocephalen ?) der jugendlichste der Fischstämme, nicht zurückverfolgen. Hier ist es die Unterord- nung Malacopterygii, welche zuerst auf- tritt: die weitverbreiteten jLeptolepidae, nahe verwandt mit den seit der Unterkreide bekannten Clupeidae. In größerer Zahl treten dazu in der Kreide die Elopidae, Albulidae, Saurodontidae, Ctenotris- sidae, die mächtigen Raubfischformen der f Ichthyodectidae. In der Kreide, beson- ders in der oberen, sind dann bereits mehrere andere Unterordnungen vertreten: die Ha- plomi, Heteromi, die Percesoces und die Acanthopterygii. Im Alttertiär tauchen die ersten Ostariophysi auf und die Symbranchii, Apodes, Catosteomi, die Anacanthini, die Pediculati und Plectognathi. Seit dem Jungtertiär hat die Teleosteerfauna - - abgesehen von geo- graphischen Verschiebungen - - keine irgend- wie wesentliche Umprägung erfahren. 3. Geschichte, geologische Verbreitung und Bedeutung der Fische. Bei seinem ersten noch spärlichen Bekanntwerden im jüngeren Über- silur1) zeigt der Fischstamm bereits die voll- kommen scharfe Scheidung in fPlacodermi und Elasmobranchii (und auch Dipnoi?). Wesentlich größer ist dann die Differenzierung der ältesten devonischen Fische: Cyclo- j stomi?, f Arthrodira, Dipnoi, Crossoptery- gii, Ganoidei treten hinzu. Mögen auch ein- zelne anatomische Merkmale auf eine ursprüng- liche Einheit von Elasmobranchiern, Dipnoern, Crossopterygiern, Ganoiden hindeuten, das fossile Material zeigt uns alle verschiedenen Unter- stämme unvermittelt nebeneinander, und ledig- lich das spätere Werden von Rochen aus Haien. von Teleosteern aus Ganoiden erscheint palä- ontologisch genügend verbürgt. l) Abgesehen von den Haizähnchen fPa- laeodus im Tremadoc Rußlands und von den fraglich untersilurischen (? devonischen) Resten von Canvon City. Co!. 1140 Fische (Paläontologie) Zeitliche Verbreitung der Fische g ja — ~ D O Unter-1 Mittel- Devon Ober- ) Karbon in Ph .5! c3 5 'S Tertiär Quartär A. Cyclostomi, S. 1109 B. fPlacodermi, S. 1110 fAnaspida, S. 1111 fHeterostraci,S.1112 fOsteostraci, S. 1113 fAntiarchi, S. 1115 C. fArthrodira, S. 1117 D. Elasmobranchii , S. 1120 fAcanthodi, S. 1120 flchthyotomi, S. 1121 Plagio stomi , S. 1123 Holocepha li, S. 1131 E. Dipnoi, S. 1133 F. Teleostomi, S. 1135 Crossopterygii, S.1135 Actinopterygii,S.1138 Ganoidei, S. 1139 Teleostei S. 1145 r ? ? — "l ? > ? ? ? 1 p 1 1 1 1 1' ll li 1 Die weitgehende Differenzierung des Fisch- stammes schon in den ältesten Fischfaunen drängt zu dem Schluß: Diese als älteste bekannten verschiedenen Fischtypen sind bereits sehr weit vom Ursprung der Fische entfernt; es muß eine sehr lange uns unbekannte Vorgeschichte des Fischstammes angenommen werden. Wie ist das zu erklären ? Wo spielte sich die Vorgeschichte der Fische ab? Gewöhnlich wird, wie für ältestes Leben überhaupt, der Anfang der Fische im Meere gedacht. Dann ist es auffallend, daß in Sedimenten kambrischer und bis weit ins Obersilur reichender Meere nichts (Wesentliches) von Fischen gefunden ist. Das ist um so auffallender, als bei den sehr vielartigen Fazies der Marinbildungen jener Zeiten Gesteine genug bekannt sind, in welchen Fische sehr wohl erhalten sein könnten, selbst wenn sie Hartgebilde nur in geringfügigstem Maße besessen hätten.1) Nur eine Erklärung ist möglich: Die Heimat der ersten Fische war nicht das Meer, sondern das Land, die Gewässer alter Kontinente.2) Beweis: das geologische ') Man denke an die Burgess-shales des Mittel- kambriums von Britisch Kolumbia, in denen Wal- cott die zartesten Details von Anneliden, Chaeto- gnathen, Holothurien, Medusen, Phyllopoden er- kannte, oder an die Graptolithenschiefer, in wel- chen auch zarteste Fischreste wie in petrographisch analogen marinen Gesteinen späterer Zeiten er- haltbar gewesen wären. Vorkommen der ältesten Fischreste. Die Bone- beds mit Fischresten im Ludlow des englischen Obersilur, die Fische-Skorpione-fGigantostraken- führenden Ablagerungen des Obersilur von Lanarkshire und der Pentlandhills von Schott- land, die fischführenden Gesteine des Öbersilur Podoliens, des polnischen Mittelgebirges, Got- lands, von Oesel, Nordamerikas, von Portugal sind zum Teil nicht mehr rein marine Bildungen, stets aber solche größter Landnähe, und zwar der großen, alten, im Obersilur anwachsenden kanadisch-nordatlantisch-fennoskandischen Kon- tinentalmasse und der alten iberischen Meseta. Dort, in Landgewässern (deren Sedimente uns nicht erhalten sind) heimische Fische wurden wohl unter dem Einfluß der im jüngeren Ober- silur vorbereiteten „kaledonischen'" Gebirgs- faltung in Randgebiete der Meere und in mehr oder weniger abgeschnürte, brackisch werdende Becken gedrängt, zum Teil wohl einfach ins Meer geschwemmt.3) 2) Nicht, daß ich meine, die Ahnen der Fische müßten vierfüßige Kriechtiere des Lande: gewesen sein (vgl. Simroth). 3) Der russische Glaukonitsand mit f Pal aeo- dus ist eine Küstenbildung des Tremadocmeeres; sein Gesteinsmaterial entstammt dem Lande Fennoskandia, von dort wurde es und mit ihm wohl auch die Fischzähnchen dem Meere zu- goschwemmt. Fische (Paläontologie) — Fittig 1147 erst im Karbon blieb noch ein f Ichthyotomi Sind die Fischreste von Canyon City, Col. wirklich untersUurischen Alters, dann bedeutet die ganze Art ihres Vorkommens die Existenz eines silurischen Landes von Oldredcharakter an dessen Küste (Brachiopoden, Cephalopoden bezeugen marinen Einschlag) das rote, fisch- führende Gestein aus terrigenem Material auf- gehäuft wurde. Das in den kontinentalen Bildungen der Oldred- fazies reichlichere Vorkommen von Fischen als im marinen Devon spricht in gleichem Sinne. Noch waren die Fische in den Meeren nicht hei- misch geworden. Mehr und mehr wurden sie es und Perm; abe'r auch damals Teil der Haie (fAcanthodi, e. p., Plagiostomi e. p.), die meisten Dipnoer, Crossopterygier, viele Ganoiden in den Wässern des Landes.1) Eigent- lich erst vom Mesozoikum ab - - besonders seit dem Jura, als durch die Teleosteer, die Rochen (und Holocephalen), durch zahlreichere neue Haitypen die „Modernisierung" der Fische ein- setzte — ist reichlicheres Abwandern von Fischen in die Meere verbürgt: Die Plagiostomen,2) Holocephalen, ein Teil der Crossoptery- gier, zahlreiche Ganoiden, die Teleosteer des Jura sind wenigstens nur aus Marinablage- rungen bekannt. Dabei dürften für die direkten Vorfahren der heute lebenden Dipnoer, Crosso- pterygier und Ganoiden die Gewässer der Land- festen dauernd die Wohnsitze geblieben sein. Mit der geologisch zu begründenden Annahme, daß die Urentwickelung der Fische in Landgebieten vor sich ging, fällt die — übrigens morphologisch nicht zu stützende — Ansicht Pattens, Stein- manns u. a., die Fische seien aus den marinen fTrilobiten hervorgegangen (vgl. den Artikel „Crustacea", Bd. II, S. 772—788). Leider vermag aber das fossile Material keinen positiven Aufschluß über die Abstammung der Fische zu geben; sie stehen allen Evertebraten gegenüber unvermittelt da (ebenso aber auch den übrigen Vertebraten, vgl. d. Artikel „fStego- cephalen'1). Ebensowenig löst das Fossilmaterial die Frage nach dem Ursprung der paarigen Flossen. Manches, die Flossen der f Diplacanthiden, des oberdevonischen Haies f Ciadoselache, läßt sich sehr wohl für das Werden der paarigen [ Flossen aus Seitenfalten verwerten (Bal- four, Thacher, Mivart, Wiedersheim n. a), und f Ciadoselache läßt auch er- kennen, wie etwa aus dem ,,Pleuro- oder Pty- chopterygium" das biseriale „Archipterygium der Dipnoer und Crossopterygier (das allerdings schon im Unterdevon fertig vorhanden gewesen sein muß) und aus diesem das ,,Actinopterygium"' der Ganoiden und Teleosteer, auf der anderen Seite die paarigen Flossen der Elasmobranchier werden oder geworden sein könnten. Ueberraschend ist das Fehlen paariger Flossen bei den fPlaco der men. Zum Teil brauchten sie solche nicht dank ihrer niedergedrückten Form mit seitlichen Rand säumen (fHeterostraci, f Osteostraci), aber auch den schlank spindel- förmigen f Anaspida des Obersilur fehlen diese wichtigsten Mittel zur Erhaltung des Gleich- gewichts beim Schwimmen, sie besaßen dazu nur eine kleine, dorsale oder ventrale Median- flosse. Sind diese sehr alten — Formen hierin primitiv oder degeneriert? Alle ältesten Fischtypen besitzen eine lietero- zerke Schwanzflosse (Ausnahme: fPalaeo- spondylus) von epibatischer Funktion (? mit Ausnahme der f Anaspida): sie müssen darum vorwiegend an die Tiefen der Gewässer gebunden gewesen sein, oder es wog bei ihnen der Zwang zum Abwärtssteigen vor. Auf diese heterozerk- epibatische Schwanzflosse (die vielleicht aus einem diphyzerken Saum hervorging?) sind alle übrigen, durch verschiedene Anpassungsvorgänge modifizierten Schwanzflossenformen zurückzu- führen. In der Geschichte des Fischstammes, die voll- ständig zu schreiben das höchst lückenhafte, fossile Material (das meiste stammt nur aus Eu- ropa und Nordamerika) nicht erlaubt, fallen einzelne Zeiten in besonderer Weise auf: Mit der Grenzzeit Devon-Karbon verschwinden die f Phacod ermen und f Arthrod iren, die Blüte- zeit der Dipnoer und Crossopterygier ist vorüber; die eisten echten Haie erscheinen und die Ganoiden blühen auf. Mit der Grenzzeit Perm-Trias verschwinden die altertümlichen d er Pia gio st o men, und in den Zeiten von Jura und Kreide spielt sich der -- immer energischer werdende — Ersatz der Ganoiden durch die seit dem Tertiär neben den Haien weit vorherrschen- den Teleosteer ab. Geologisch besonders wichtig sind nament- lich die devonischen f PI acoder m i und f Ar thr o- dira als die vorwiegendsten Charakteristika der Faunen der Oldredlazies. In späteren Forma- tionen lassen sich manche Fischfaunen (z. B. im Kupferschiefer des Perm, in den Posidono- myenschiefern des Lias, in manchen Kreide- lind Tertiärablagerungen) zur Deutung Mono- mischer Verhältnisse einzelner Gebiete der Vor- zeit verwerten. Manche Vorkommnisse, wie die der triadischen Dipnoer und Ganoiden sind von Bedeutung für die Feststellung von einstigen Zusammenhängen alter Kontinentalgebiete. Literatur. Zusammenstellungen in K. . I. v. Zittel, Grundzüge der Paläontologie. Abt. II: Vertebrata (Bearbeitung der Fische von E. Koke»), 1911. — E. Stromer v. Reichenbach, Lehrbuch der Paläozoologie, 2, 1912. — E. G. Goodrich, Vertebrata Craniata, I (in Ray La nk est er, Treatise on Zoolor/)/, P. IX), 1909. J. F. Pompeckj. x) Solche Formen, wie z. B. f Janassa, f Menaspis (S. 1129) des Kupferschiefers im Perm erscheinen nach ihrem Bau unter Berücksiehti- gung der physikalischen und chemischen Ver- hältnisse des Kupf erschief ermeeres durchaus als Fremdlinge, die nur aus Kontinentalwässern ver- Rudolf. schwemmt sein können. ' Geboren am (5. Dezember 1835 in Hamburg, 2) Aber es sei betont, daß die Haie auch heute ; gestorben am 19. November 19LO in Straßburg, nicht ausschließliche Meeresbewohner sind, war von 1876 bis 1902 als Universitätsprofessor Fittig 1148 Fittig — Fixsternsystem mit großem Erfolge tätig, nachdem er in Göt- tingen als Schüler Wöhlers seine akademische Laufbahn 1860 begonnen und in Tübingen 1870 fortgesetzt hatte. Seine Hauptleistungen sind in zahlreichen Abhandlungen niedergelegt, die er teils allein, teils mit Schülern veröffentlicht hat. Sie finden sich meist in Liebigs Annalen sowie in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft, sind auch in dem von seinem Schüler Fichter geschriebenen Nekrolog (Ber. 44, 1339) sorgfältig zusammengestellt. Hier gewinnt man auch Einblick in Fittigs Wesen und Wirken. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt im Laboratorium. Seine Experimentaluntersuchungen gelten nur der organischen Chemie, die er zunächst im Bereiche der zyklischen Verbindungen mächtig gefördert hat. Es seien seine synthetischen Ar- beiten über die Homologen des Benzols, über eine Reihe neuer Kohlenwasserstoffe, namentlich Phenanthren, Fluoranthren und Diphenyl heraus- gehoben. In die letzten zwei Jahrzehnte seiner Tätigkeit fallen die schönen, umfassenden Unter- suchungen über ungesättigte Säuren, durch deren gründliche Erforschung Fittig zu den wichtig- sten Ergebnissen geführt wurde, so zu seinen Arbeiten über Stereoisomerie und zu den Um- lagerangen solcher Säuren, über Laktone und Dilaktone, sowie über Ketonsäuren. E. von Meyer. Fixsternsystem. 1. Definition. 2. Der Sternenhimmel: a) Ein- teilung in Sternbilder; Bezeichnung der Stern- bilder und einzelner Sterne, b) Einteilung der Sterne in Größenklassen. c) Verteilung der Sterne an der Himmelskugel; Milchstraße, d) Die Koordinatensysteme zur Angabe des Sternortes, e) Lagenänderung der Koordinaten- systeme durch die Präzession. 3. Ort und Be- wegung der Sterne im Raum: a) Entfernung der Sterne; ihre Parallaxe, b) Aberration, c) Be- wegung senkrecht zur Gesichtslinie. d) Be- wegung in der Gesichtslinie. 4. Chemisch- Scorpion # Antares • ***♦• 1. 2. 3. 4. 5. 6. Größe veränderlich Sternhaufen, Nebelfleck Fig. 1. Nördlicher Sternenhimmel. Fixsternsystem 1149 physikalisches Verhalten der Sterne: a) Ein- teilung der Sterne nach ihren Spektren, b) Farbe der Sterne, c) Temperatur der Sterne, d) Ver- änderliche Sterne, e) Neue Sterne. 5. Physisch zusammengehörige Sterne: a) Doppelsterne und mehrfache Sterne. b) Sternhauten; Gruppen weit auseinander stehender Sterne, c) Nebel. 6. Bau des Universums. i. Definition. Unter dem Fixsternsystem verstellt man die Gesamtheit der an der scheinbaren Himmelskugel ihren Ort nicht ändernden Sterne im Gegensatz zu den von Tag zu Tag ihren Ort ändernden Wandel- sternen, d. i. den Planeten mit ihren Monden und den Kometen. Infolge der Drehung der Erde um ihre Achse von West nach Ost scheinen die Fixsterne im Laufe eines Tages eine Um- drehung von Ost nach West auszuführen. Die Achse, um welche sich das Himmels- gewölbe zu drehen scheint, fällt zusammen mit der verlängert gedachten Erdachse. Sie trifft die Himmelskugel im Nordpol und Südpol, von denen der erstere etwas über 1° von aUrsae miliaris, dem sogenannten Polarstern, abliegt, während der letztere in das Sternbild des Oläanien fällt, welches keinen leicht in die Augen fallenden Stern besitzt. Die Fixsterne erscheinen, wie ihr Name besagt, an der sich scheinbar drehenden Himmelskugel angeheftet, so daß die Figuren, welche gewisse Sterne miteinander bilden, immer dieselben bleiben. Ueber die gering- 1 fügige Ortsveränderung durch Eigenbewegung s. unter 3 c. 2. Der Sternenhimmel. 2a) Einteilung i inSternbilder: Bezeichnung der Stern- bilder und einzelner Sterne. Besonders auf Grund mythologischer Sagen hat man '< schon im Altertum benachbarte Sterne zu Sternbildern zusammengefaßt. Für den in der nördlichen gemäßigten Zone nicht sichtbaren 1. 2. 3. 4. 5. 6. Größe veränderlich Sternhaufen. Nebelfleck Fig. 2» Südlicher Sternenhimmel. 1150 Fixsternsystem Teil des Südhimmels hat namentlich Lacaille (1713 bis 1762) gelegentlich seines Aufenthalts am Kap der guten Hoffnung die Einteilung in Sternbilder besorgt, wobei er, wie die auf der beistehenden Karte des südlichen Sternenhimmels angegebenen Namen be- weisen, wenig Geschmack und poetischen Sinn entwickelte. Für die besonders hellen Sterne sind lateinische, griechische und hauptsächlich arabische Namen im Gebrauch. Bayer (1572 bis 1625, Rechtsanwalt in Augsburg) führte die Bezeichnung durch griechische und lateinische Buchstaben mit Hinzufügung des Sternbildes ein; die schwä- cheren, mit bloßem Auge noch sichtbaren Sterne eines Sternbildes, welche keine Buch- staben mehr erhalten konnten, sind von Flamsteed (1646 bis 1719, Direktor dei Greenwicher Sternwarte) mit Zahlen ver- sehen worden. Zur Bezeichnung eines teleskopischen Sternes bedient man sich, wenn er in einem Sternkatalog vorkommt, der Nummer, unter welcher er dort aufgeführt ist, oder, wenn er noch nirgends katalogisiert ist, der Angabe seines Ortes an der Himmels- kugel (s. unter 2d). 2 b) Einteilung der Sterne in Größenklassen. Nach ihrer Helligkeit teilt man die Sterne schon seit den Zeiten der alten Griechen in verschiedene Größen- klassen, so daß man die hellsten Sterne als solche 1. Größe, die in mondlosen Nächten mit bloßen Augen gerade noch erkennbaren als Sterne 6. Größe bezeichnet. Nach Er- findung des Fernrohres wurde die Einteilung in Größenklassen auch auf die teleskopischen Sterne ausgedehnt, in besonders großem Maß- stab und mit besonderer Zuverlässigkeit der Schätzungen von Argelander (1799 bis 1875, Direktor der Sternwarte zu Bonn) und seinen Gehilfen Schoenfeld (1828 bis 1891, zuletzt Direktor der Sternwarte zu Bonn) und Krueger (1832 bis 1896, zuletzt Direktor der Sternwarte zu Kiel) bei Herstellung der Bonner Durchmusterung des nördlichen Himmels, die von Schoenfeld später bis 23° südlicher Deklination fortgesetzt wurde, so daß in dem Gesamtwerk von über 450000 Sternen Helligkeitsschätzungen nach sehr einheitlichem System vorliegen. Photometrische Untersuchungen haben ergeben, daß das Helligkeitsverhältnis der Sterne zweier aufeinander folgender Größen- klassen 2,512 ist, d. h. ein Stern irgendeiner Größenklasse sendet 2,512 mal soviel Licht aus als ein Stern der nächsten Größenklasse. Nur die erste Größenklasse macht hier eine Ausnahme, indem man in sie alle Sterne, die heller als 2. Größe sind, hineingebracht hat. Bei genauen Größenangaben ist man genötigt, unter Beibehaltung des Helligkeitsverhält- nisses 2,512 die Größe der hellsten Sterne durch negative Zahlen auszudrücken; so ist die Größe von Sirius gleich — 1,7 und von dem nur in südlicheren Breiten sichtbaren Canopus gleich — 1,0. Für die Sonne hat man die Größe — 26,5 gefunden. Von den zahlreichen Photometern, welche es gibt, sind für große Sternhelligkeitskataloge nur drei benutzt worden, nämlich von Picke- ring (Direktor der Harvard- Sternwarte in Cambridge, Mass.) für die Harvard Photo- metry das Meridianphofometer, bei welchem in zwei mit gleichen Objektiven versehene, in der Ostwestriehtimg horizontal liegende Rohre durch zwei unter 45° gegen die Fernrohrachse geneigte Spiegel der den Meridian gerade passierende, zu untersuchende Stern und der polnahe Vergleichstern, bei Pickering ), Ursae minoris, reflektiert werden, worauf durch Anwendung eines Nicols und eines doppeltbrechenden achro- matisierten Kalkspatprismas die beiden Stern- bilder auf gleiche Helligkeit gebracht werden : ferner ist benutzt worden von Pritchard (1809 bis 1893, Direktor der Universitätsstern- warte in Oxford) für die Uranometria novaOxoniensis das aus einem keilförmigen Stück Rauchglas bestehende Keilphoto- meter, das vor dem Okular so weit seitlich verschoben wird, bis der zu prüfende Stern gerade unsichtbar wird; und endlich von Müller und Kempf auf dem Astrophysikali- schen Observatorium in Potsdam für diePots- damerDurchmusterung des nördlichen Himmels das von Zöllner (1834 bis 1882, Professor der physikalischen Astronomie in Leipzig) erfundene, nach ihm benannte Photometer, bei dem der Vergleichstern durch eine künstliche Lichtquelle erzeugt und durch Polarisationsprismen mit dem zu untersuchenden Stern auf gleiche Helligkeit gebracht wird. Die von der photographischen Platte entnommenen Sterngiößen, welche meist durch Ausmessung der Durchmesser der Sternbildchen erhalten werden, können von den visuell gefundenen oft bedeutend ab- weichen, weil bei der Erzeugung des photo- graphischen Bildes ganz andere Strahlen wirksam sind als bei der Erzeugung des visuellen Bildes. Bezeichnet man mit mt und m2 die Größenklassen zweier Sterne, mit Dx und D2 die Durchmesser ihrer photo- graphischen Bilder und mit a und ß Werte, welche für dieselbe photographische Platte konstant sind, so ist nach Charlier (Direktor der Steinwarte in Lund) mx — m2 = a(logD2 — log Dx) und nach Scheiner (Hauptobservator am Astrophysikalischen Observatorium in Potsdam) für nicht allzu große Helligkeitsdifferenzen mx — m2 = /5(D2 — D^, welche beide Formeln übrigens nur als Interpolationsformeln ohne physi- Fixsternsystem 1151 kaiische Bedeutung aufzufassen sind. Am besten wird man die weißen, dem ersten Spektraltypus angehörenden Sterne benutzen, um die Konstanten a und ß zu bestimmen. Sterne vom III. Typus (s. unter 4 a) pflegen dann wegen ihrer rötlichen Farbe freilich im Durchschnitt photographisch um 2,5 Größenklassen schwächer gefunden zu werden als visuell. 2c) Verteilung der Sterne an der Himmelskugel; Milchstraße. Die Ver- teilung der Sterne an der Himmelskugel ist eine sehr ungleiche. Während gewisse Stellen nicht nur an hellen, sondern auch an teleskopischen Sternen arm sind, sind andere Stellen außerordentlich reich besetzt, so be- sonders das aus zahllosen kleinen, für das unbewaffnete Auge nicht unterscheidbaren Sternen bestehende, die ganze Himmelskugel umspannende Band, die Milchstraße. Sie schlingt sich zwischen Orion und den Zwil- lingen hindurch nach dem Fuhrmann und dem Perseus, wo sie einen Zweig nach den Plejaden und Hyaclen sendet; dann wendet sie sich nach der Cassiopeia und dem Schwan, hier eine ganz besondere Helligkeit entfaltend. In zwei Aeste geteilt zieht sie sich nunmehr nach Süden, wo beim Skorpion und Schützen die Wiedervereinigung der beiden Aeste stattfindet. Im südlichen Kreuz und im Schiff hat die Milchstraße wieder besonders helle Stellen, gegen welche die benachbarten, auffallend sternarmen Stellen, die Kohlen- sacke, durch ihre Dunkelheit stark abstechen. Auch auf der südlichen Halbkugel hat die Milchstraße mehrere Ausläufer; zwei als Magelhaenssche Wolken bezeichnete, dem Aussehen nach ihr durchaus angehörige Teilstücke liegen weit von ihr getrennt. Vom Schiff aus wendet sie sich wieder nach Norden auf das Sternbild der .Zivillinge zu. Die Zahl aller Sterne bis einschließlich der 6. Größenklasse, also aller mit bloßen Augen sichtbaren Sterne beträgt 5719, wovon 2916 auf die nördliche, 2803 auf die südliche Halbkugel des Himmels entfallen. Die Zahl der Sterne wächst aber stark von einer Größenklasse zur anderen; so ist die Zahl der Sterne der nördlichen Halbkugel bis zur 9. Größe nach der Bonner Durch- musterung bereits 203 649. Wollten wir j annehmen, der Kaum sei bis ins Unendliche mit Sternen besetzt und das Licht erfahre bei der Durchdringung des Raumes keine j Absorption, so müßte, wie Olbers (1758 bis I 1840, Arzt und Astronom in Bremen) her- vorhob, der nächtliche Himmel uns als eine leuchtende Fläche erscheinen. Vermutlich erfährt aber das Licht im Weltenraum eine Absorption und wird auch wohl bisweilen durch dunkle Körper abgefangen, namentlich aber dürfte sich das Sternenmeer nicht ins Angabe Unendliche erstrecken, wir werden es viel- mehr mit einer endlichen Zahl von Sternen zu tun haben. Die Zahl Hundert Millionen ist aber, wie uns die photographischen Aufnahmen lehren, wohl nicht zu hoch gegriffen, und außer den leuchtenden Sternen mag es nicht weniger dunkle, erloschene Himmelskörper geben. Figur 3 zeigt eine allerdings sehr sternreiche Gegend im Stern- bild des Schlangenträgers. Bei längerer Exposition oder bei größerer Empfindlich- keit der Platte würden sich gewiß noch, mehr Sterne abgebildet haben. 2d) Die Koordinatensysteme zur des Sternortes. Zur Angabe eines Sternortes bedient man sich meist der Koordinaten: Rektaszension und Dekli- nation, welche den für die Bezeichnung eines Ortes auf der Erde üblichen Koordinaten : geographische Länge und Breite entsprechen. Die Kreise, welche durch die beiden Pole der Himmelskugel gehen, heißen Meridiane oder, weil auf ihnen die Deklinationen ge- messen werden, Deklinationskreise, der um 90° von den Polen abstehende Kreis der Himmels aqua toi und parallel zu diesem liegende Kreise Parallelkreise. Unter Deklination versteht man den Winkelabstand eines Sternes vom Aequator, wobei man nördliche und südliche Deklination unter- scheidet, die als positive und negative be- zeichnet zu werden pflegen. Die Rekt- aszensionen werden — wie die geographischen Längen auf der Erdkugel — auf dem Aequator gemessen und zwar von West nach Ost von 0 bis 360 Grad, also von Norden aus gesehen entgegengesetzt dem Laufe des Uhrzeigers. Als Anfangspunkt der Zählung dient hierbei der Widderpunkt oder Frühlings-Tag- und-Nachtgleichenpunkt, wo die Sonne, welche im Laufe eines Jahres einen den Aequator unter 23 H° schneidenden Groß- kreis, die sogenannte Ekliptik, am Himmels- gewölbe beschreibt, von der Südseite des Aequators auf die Nordseite übergeht, mit anderen Worten: ihr Ort am Frühlings- anfang. Statt in Bogenmaß gibt man in der Astronomie die Rektaszension häufig in Zeit an, weil man die Rektaszensionen mit Hilfe der Sternzeituhren, welche im Moment des Durchganges des Widderpunktes durch den Meridian null Uhr zeigen, zu messen pflegt. Für die Umwandlung von Bogenmaß und Zeitmaß ineinander hat man, wenn mit h, m, s die Stunde, Zeitminute und Zeit- sekunde bezeichnet werden: 24h = 360» folglich lh = ■ 15°; 1«= 4'" 1'»= 15': r.=4« 1« = 15'/; 1" == 0.067 1152 Fixsternsystem Auf die Ekliptik als Grundebeue bezieht Erdachse liegenden Pole der Himmelskugel sich das Koordinatensystem der Längen ihre Lage und infolgedessen natürlich auch und Breiten, deren erstere vom Widder- der Himmelsäquator. Es beschreiben die Pole punkt in der Ekliptik in demselben Sinne wie I des Aequators um die Pole der Ekliptik Fig. 3. Milchstraße bei 9 Ophiuchi. die Rektaszensionen von 0 bis 360 Grad gezählt werden. Die Azimute und Höhen endlich haben den Horizont zur Grundebene, und zwar zählt man die Azimute vom Südpunkt oder Nord- punkt des Horizontes an meist nur von 0 bis 180 Grad, indem man östliches und westliches Azimut unterscheidet. 2e) Lagenänderung der Koordi- natensysteme durch die Präzession. Da die Erdachse eine als Präzession be- zeichnete kegelförmige Bewegung ausführt, so ändern auch die in der Verlängerung der während 26 000 Jahren Kreise von 23 y2° Halbmesser. Die Schnittpunkte des Aequa- tors und der Ekliptik gehen demzufolge jährlich um 50" auf der letzteren zurück, wobei die Neigung der beiden Kreise zueinander im wesentlichen dieselbe bleibt. Da aber für die Deklination die Lage des Aequators und für die Rektaszension außerdem noch die Lage des Widderpunktes maßgebend ist, so muß bei genauerer Angabe eines Sternortes noch hinzugefügt werden, für welche Zeit Rektaszension und Deklination gelten. Es ist z. B. für Arliunts (a Bootis) die Rektaszension a und die Deklination d am Jahresanfang am Jahresanfang 1900,0: a = 212° 46' 30" = 14*'. llm 6,0*; ö = + 19° 42' 11' 1920,0: a= 213° 0' 10" = 3 4*. 12^ 0,7*; <5 = + 19° 35' 54' Fixsternsystem 1153 Die periodischen Lagenänderungen des Aequators, durch welche die Sternkoordinaten sich natürlich auch um einige Bogensekunden ändern, werden als Nutation bezeichnet. Durch Prä Zession und Nutation erfährt, wie nochmals hervorgehoben sei, nur das Ko- ordinatensystem, nicht aber die gegenseitige Lage der Sterne eine Aenderung. 3. Ort und Bewegung der Sterne im Raum. 3a) Entfernung der Sterne; ihre Parallaxe. Zur Bestimmung der Entfernung eines Sternes muß man den Winkel messen, um welchen man die Richtung des Fernrohres zu ändern hat, wenn man den Stern zu zwei, ein halbes Jahr auseinander liegenden Zeiten beobachtet, so daß die Erde bei den beiden Beobachtungen in E und E' (s. Fig. 4) auf entgegengesetzten Seiten von der Sonne S steht und PS senk- recht auf EE' ist. Die beiden Richtungen EP und E'P sind offenbar um den doppelten Winkel p von- einander ver- schieden, unter welchem vom Stern P aus die Entfernung SE der Erde von erscheint und den man die des Sternes nennt, Fig. 4. Fixsternparallaxe der Sonne Parallaxe Die vergeblichen Bemühungen zur Auf- findung einer Sternparallaxe wurden früher als ein Einwurf gegen die Kopernikanische Lehre von der Bewegung der Erde um die Sonne angeführt. Den ersten nicht als illusorisch anzusehenden Wert einer Parall- axe fand Bessel (1784 bis 1846, Direktor der Sternwarte zu Königsberg i. Pr.) ums Jahr 1838 bei dem durch seine große Eigen- bewegung (s. 3 c) auf eine geringe Ent- fernung hinweisenden und darum von ihm gewählten Stern 67 Cygni; er fand als Re- sultat 0,"35, während spätere Bestimmungen 0,"50 ergaben. Die von Bessel befolgte Methode bestand darin, daß er mit seinem Heliometer, einem Fernrohr, dessen Objektiv in zwei aneinander verschiebbare Hälften geteilt ist, die Abstände des zu untersuchen- den Sternes von mehreren benachbarten Sternen ausmaß; aus den über mehrere Jahre sich erstreckenden Beobachtungen erkannte er dann eine Ortsveränderung des Sternes von der Periode eines Jahres. Heute wird die Photographie mit Erfolg für solche Unter- suchungen verwandt, Man findet auf diese Weise allerdings immer nur die relative Parallaxe eines Sternes gegen seine Nachbar- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. Sterne, von denen möglicherweise der eine oder andere selbst eine Parallaxe zeigt. Bis jetzt sind von etwa 200 Sternen Parall- axenbestimmungen ausgeführt worden. Ein Stern, der senkrecht über der Ekliptik, also im Pol der Ekliptik steht, wird der Parallaxe zufolge während eines Jalires einen Kreis mit dem Halbmesser p an der Himmelskugel beschreiben, ein in der Ekliptik liegender Stern wird auf einem kleinen Bogen von der Größe 2p hin- und zurück- gehen, die zwischen der Ekliptik und ihren Polen liegenden Sterne werden jährlich eine Ellipse beschreiben, deren halbe große Achse gleich p und deren halbe kleine Achse, wie leicht zu sehen, gleich p sin/3 ist, wenn mit ß die Breite des Sternes bezeichnet wird. Ein Stern von der Parallaxe 1" hat offenbar, wenn R den Erdbahnhalbmesser bezeichnet, die Entfernung R.cosecl", oder wenn man unter einem Lichtjahr die Ent- fernung versteht, welche das Licht, dessen Geschwindigkeit bekanntlich 300 000 km in der Sekunde beträgt, in einem Jahre zurücklegt, die Entfernung von 3,3 Licht- jahren. Auffallend ist, daß mehrere sehr helle Sterne wie ArHur eine außerordentlich geringe, mit Sicherheit gar nicht zu ver- bürgende Parallaxe haben, also unmeßbar weit entfernt sind. Im folgenden ist für eine Anzahl von Sternen die Parallaxe und die Entfernung in Lichtjahren angegeben; auch ist gleich die unter 3 c und 3d zur Sprache kommende Bewegung der Sterne senkrecht und parallel zur Gesichtslinie hinzugefügt. (Tabelle siehe nächste Seite.) Bei a Aurigae {Capeila), ß Geminorum, (Pollu.r). aOrionis (Beteigeitze), aLeonis (Regulus), a Cygni (Deveb) hat man eine Parallaxe mit Sicherheit nicht nachweisen können. Bei letztgenanntem Stern wurde zwar eine, wenn auch nicht sicher zu ver- bürgende jährliche Aenderung der Ent- fernung gegen die Nachbarsterne gefunden, aber in dem entgegengesetzten Sinne als man erwartet hatte. Die Parallaxe ergab sich zu — 0,"01, d. h. der Stern befindet sich, wenn man dem Resultat überhaupt Ver- trauen beimessen will, weiter von uns ent- fernt als die Vergleichsterne. Der Welten- raum ist, wie die geringen Werte der Parall- axe erkennen lassen, nur sehr spärlich mit Himmelskörpern besetzt; gibt man der Sonne die Größe eines Senfkornes, so ist aCenfauri, der nächste uns bekannte Fix- stern, hundert Kilometer von ihr entfernt zu denken. Um den Durchschnittswert der Parall- axe einer größeren Zahl von Sternen zu finden, deren Eigenbewegung fs. 3 c) 73 1154 Fixsternsystem Name des Sternes Größe Rekt- aszension 1900 Dekli- nation 1900 Parallaxe Ent- fernung in Licht- jahren Eigen - bewegung Ge- schwin- digkeit in der Gesichts- linie Lalande 21185 .... a Canis majoris (Sirius) a Canis niinoris (Prokyon) Cordobaer Zonenkatalog 5h 243 a Aquilae (Atair) . . . Groombridgc 1830 . . . cc Lyrae (Wega) . . . u Bootis (Arkturus) . . 1 7,5 1 1 8 5,5 1 7 1 1 141133m 10 58 6 41 7 34 5 8 21 2 19 46 11 47 iS 34 14 11 — 6o°25' + 3638 —16 35 + 5 29 —44 58 + 38 15 + 836 + 38 26 + 3841 + 19 42 o,"75 0,40 o,37 o,33 0,31 0,30 0,23 0,15 o,oS 0,03 4,3 8 9 10 11 11 22 41 109 3,"6i 4,76 i,3i 1,25 8,72 5,20 0,66 7,04 o,35 2,28 — 22 km — 8 — 4 +242 — 62 — 33 — 95 -'l bekannt ist, hat Kapteyn, Vorsteher des astronomischen Laboratoriums in Groningen, folgende Erwägung angestellt. Die Eigen- bewegung eines Sternes setzt sich zusammen aus der zur Gesichtslinie senkrechten Kom- ponente seiner ihm selbst zukommenden Bewegung und aus der parallaktischen Ver- schiebung, welche er durch die Bewegung des Sonnensystems erfährt. Bei einer großen Anzahl über den Himmel verstreuter Sterne, etwa der einer bestimmten Größenklasse, werden die den Sternen selbst angehörenden Bewegungen nach allen Richtungen hin zielen und sich bei der Summierung auf- heben, so daß sich der von der Sonnen- bewegung abhängige Teil, die parallaktische Verschiebung, daraus ableiten läßt. Da man aber die Bewegung der Sonne im Raum kennt, so kann man aus der parallaktischen Verschiebung die durchschnittliche Ent- fernung der in Betracht gezogenen Sterne berechnen. Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser Methode ist, daß die einzelnen Sterne einer Größenklasse nicht allzusehr von ihrem Mittelwert abweichen; denn nur in diesem Fall hat die Bildung eines Mittelwertes einen Sinn. Kapteyn fand folgende Durch- schnittsparallaxen für die Sterne der ver- schiedenen Größenklassen: röße Parallaxe Größe Parallaxe 1,0 o,"o59 6,0 o,"oi4 2,0 0,044 7,o 0,010 3,o 0,033 8,0 0,008 4,° 0,025 9,0 0,006 5,o 0,019 10,0 o.oo.v 3b) Aberration. Da der Lichtstrahl, welcher uns allein von der Sternenwelt Kunde gibt, nicht geringe Zeit braucht, um von dort zu uns zu gelangen, so gehören die Ereignisse, welche wir an den Sternen beobachten, wie plötzliches Aufleuchten u. dgl., in Wirklichkeit schon längst vergangenen Zeiten, vielleicht einem früheren Jahrtausend an. Auch können wir von einem Stern, nach dem wir blicken, nicht behaupten, daß er dort stehe, sondern nur, daß er sich zu der Zeit, als der uns jetzt treffende Lichtstrahl von ihm ausging, dort befunden habe. Aber auch diese durch die Beobachtung gegebene Richtung nach jenem damaligen Ort bedarf noch einer Verbesserung, weil die Geschwindigkeit des Lichtes zwar 10 000 mal so groß ist wie die Geschwindigkeit der Erde in ihrer Bahn, aber doch nicht unendlich groß im Vergleich zu ihr. In Figur 5 sei ST ein von einem, Fixstern ausgegangener, senkrecht auf die Richtung B A Fig. 5. Aberration. AB der Erdbewegung fallender Lichtstrahl. Er treffe mit der Erde im Punkte B zu- sammen. Eine Sekunde vorher möge er noch in T, die Erde in A gewesen sein. Man ward daher dem Fernrohr in A die j Richtung AT geben müssen, damit bei Bewegung der Erde von A nach B der von T nach B gehende Lichtstrahl immer in der Achse des parallel sich verschiebenden Fern- rohres bleibe. Das Fernrohr hat daher in B die Richtung BT', wenn der von S kommende Fixsternsystem 1155 Lichtstrahl das Auge des Beobachters in B trifft. Man bezeichnet diese scheinbare Ablenkung des Lichtstrahles, der zufolge das Fernrohr aus dessen wahrer Richtung etwas nach der Seite hin, nach welcher sich die Erde bewegt, geneigt werden muß, als die Aberration des Lichtes. Fällt, wie in Figur 5 angenommen, der Lichtstrahl senkrecht auf die Bewegungs- lichtung der Erde, so hat die Aberration ihren größten Betrag von 20,"47, .aTBT' in der Figur. Ist die Bewegung der Erde direkt auf den Ort hin gerichtet, aus welcher der Lichtstrahl kommt, so braucht das Fern- rohr aus dieser Richtung nicht abgelenkt zu werden, die Aberration ist gleich Null. Fällt der Lichtstrahl schiefwinklig auf die Richtung der Erdbewegung ein, so ist das Fernrohr um einen zwischen 20,"47 und 0" liegenden Betrag nach der Richtung, in welcher sich die Erde bewegt, zu neigen. Ein im Pol der Ekliptik stehender Stern wird, weil seine Strahlen stets senkrecht auf die Richtung der Erdbewegung fallen, auch stets um 20,"47 von seinem wahren Ort abgelenkt erscheinen und daher, während die Erde im Laufe eines Jahres einen Kreis um die Sonne beschreibt, an der Himmelskugel einen Kreis von 20,"47 Halbmesser zurück- legen. Ein in der Ekliptik liegender Stern wird während eines Jahres in einer geraden Linie hin und her gehen, im Maximum 20, "47 vom wahren Ort abweichend, und ein zwischen Ekliptik und deren Pol befindlicher Stern wird während des Jahres eine Ellipse von der halben großen Achse 20, "47 und von der halben kleinen Achse 20,"47.sin ß be- schreiben, wenn unter ß die Breite des Sternes verstanden wird. Die Erscheinung hat viel Aehnlichkeit mit der parallaktischen Verschiebung. In beiden Fällen geschieht die Bewegung des Sternes um seinen eigentlichen Ort, wenn er nördlich von der Ekliptik liegt, im Sinne der Drehung des Uhrzeigers, und im ent- gegengesetzten Sinn, wenn er südlich von der Ekliptik liegt. Die Richtungen, in welchen die Verschiebungen bei Aberration und Parallaxe erfolgen, sind aber um 90° verschieden. Auch die Gesehwindio;keit eines durch [ die Erdrotation um die Erdachse bewegten Ortes, welche, wenn mit cp die geographische Breite bezeichnet wird, ' ,„Ä ^— 8b 400 =0,464 cos (p Kilometer in derSekunde beträgt, darf bei exakten Beobachtungen nicht als unendlich klein gegen die Lichtgeschwindig- keit betrachtet werden. Ein in der Meridian- ebene liegender Strahl erscheint um 0,"319cosop nach Osten hin abgelenkt. Ein Stern be- schreibt der täglichen Aberration zufolge während eines Tages eine Ellipse am Himmel von der halben großen Achse 0",319cos

..0 Rektaszension Große 1900 Deklination 1900 Eigen bewegnng C'ordobaer Zonenkatalog 5h .243 Groombridqe 18Sn Lacaille 9352 Cordobaer Gen. Kat. 32 416 . . s 6 7-5 8,5 5-5 5I1 8m 11 47 22 59 0 0 21 2 -44°5S' + 38 -2" — 36 21 —37 5i + 3815 8",7 7,o 6,9 6,2 5,2 Unter den 47 bisher gefundenen Sternen, 1,"5 ist, befinden sich nur zwei Sterne erster deren jährliche Eigenbewegung größer als Größe, nämlich aCentmin mit 3,"7 73* und 1156 Fixsternsystem a Bootis mit 2", 3. Immerhin spricht dieser Umstand nicht gegen die Annahme, daß die helleren Sterne im allgemeinen die uns näheren sind, weil es eben sehr viel mehr schwächere Sterne gibt als helle. Starke Eigenbewegungen kommen jedenfalls selten vor, eine Ab- zahlung ergab unter 9300 Sternen nur 26, die sich um, mehr als 20" im Jahrhundert bewegen. Weiß man die Entfernung eines Sternes von bekannter Eigenbewegung, so läßt sich die zur Gesichtslinie senkrechte Komponente seiner Geschwindigkeit angeben. Der Stern Cordobaer Zonenkatalog 5h,243 hat z. B. eine Entfernung von 10,5 Lichtjahren und bewegt sich jährlich 8,"7 am Himmel; seine Ge- schwindigkeit senkrecht zur Gesichtslinie beträgt daher 134 km in der Sekunde. Groombridge 1830 hat bei einer Entfernung von 22 Lichtjahren und bei einer jährlichen Eigenbewegung von 7,"0 eine Geschwindig- keit senkrecht zur Gesichtslinie von 225 km in der Sekunde. 3d)Bewegung in der Gesichtslinie. Die Bestimmung dieser Bewegungskompo- nente der Fixsterne ermöglicht das Doppler- sche Prinzip. Erhalten wir nämlich von einer, beispielsweise aus glühendem Natrium bestehenden Lichtquelle, wenn sie sich in Ruhe befindet, 509 Billionen Lichtwellen in der Sekunde, so erhalten wir, wenn sie sich auf uns zu bewegt, eine größere, und wenn sie sich von uns weg bewegt, eine geringere Anzahl Lichtwellen. Die im gelben Teil eines Sternspektrums auftretende D- Linie wird daher, wenn die Lichtquelle sich nähert, etwas nach dem blauen, im ent- gegengesetzten Fall nach dem roten Ende des Spektrums verschoben sein. Umgekehrt läßt sich aus der Größe der Verschiebung der Spektrallinien die Geschwindigkeit, mit der die Lichtquelle sich der Erde nähert oder von ihr entfernt, berechnen. In dem unter 3 a gegebenen Täfelchen sind den dort aufgeführten Sternen ihre auf die Sonne bezogenen, in Kilometern ausge- drückten Geschwindigkeiten in der Gesichts- linie beigefügt, wobei das Pluszeichen eine Vergrößerung der Entfernung zwischen Stern und Sonne, das Minuszeichen eine Verminde- rung bezeichnen soll. Die bis jetzt bestimmten 1700 Ge- schwindigkeiten in der Gesichtslinie haben sich von ziemlich der gleichen Größe ergeben wie die in der dazu senkrechten Richtung. Die größten bisher bekannt gewordenen Werte von + 242, - - 132, + 100", — 95 km besitzen die Sterne Cordobaer Zonenkatalog 5h,243, Lacaille 8362, Lacaille 2057 und Groombridge 1830. Kennt man die beiden senkrecht auf- einander stehenden Geschwindigkeits- komponenten, so ist es natürlich ein leichtes, Größe und Richtuno; der Resultante zu finden. Für Cordobaer Zonenkatalog 5h,24.i ergibt sich 277 km, für Groombridge 1830 244 km als Geschwindigkeit in der Sekunde. 4. Chemisch-physikalisches Verhalten der Sterne. 4a) Einteilung der Sterne auf Grund ihrer Spektren. Die auf den Fixsternen vorkommenden chemischen Elemente dürften genau die nämlichen sein, welche auch auf der Sonne und auf der Erde vorkommen. Wenigstens gleicht z. B. das Spektrum von a Aurigae bis ins kleinste dem Sonnenspektrum. Bei anderen Sternen hat man allerdings eine größere Anzahl Spektrallinien nicht oder nicht mit Sicher- heit mit Linien bekannter Elemente identi- fizieren können, doch dürften sie weniger fremden Elementen ihren Ursprung verdanken als den eigenartigen auf jenen Himmels- körpern herrschenden Bedingungen, unter welche wir in unseren Laboratorien die Elemente noch nicht zu bringen verstehen. Daß in den äußerst hohen Temperaturen der Fixsterne die Elemente alle dissoziiert vor- kämen, ist nicht anzunehmen, vielmehr werden sich dort diejenigen Verbindungen gebildet haben und beständig sein, welche unter Wärmeentwickelung entstehen. Nach ihrem durch das Spektroskop er- schlossenen, vielleicht oft nur für erschlossen gehaltenen, physikalischen Zustand sind die 1 Sterne von verschiedenen Astrophysikern, insbesondere von Secchi (1818 bis 1878, Direktor der Sternwarte des Collegio Romano in Rom), Vogel (1841 bis 1907, Direktor des Astrophysikalischen Observatoriums in Potsdam), Sehe in er, Lockyer (Direktor des Solar Physics Observatory in South Kensington), Pickering in Klassen ein- geteilt worden. Die in Deutschland bisher meist gebrauchte Vogelsche Einteilung, welche in ihren drei Klassen sich dem ver- mutlichen Entwickelungsgang der Sterne anzupassen sucht, während die Unterabtei- lungen einander koordiniert sein sollen, ist die folgende: I. Klasse. Sie umfaßt die weißen Sterne, d. h. diejenigen, welche sich im Zustande höchster Glühhitze befinden. Infolge Ueber- wiegens der chemisch wirksamen Strahlen tritt das violette Ende des Spektrums stark hervor. Drei Unterabteilungen: Ia) Die Absorptionslinien des Wasser- stoffs (C, F, Hy, h) sind stark und breit, während die anderen, dem Calcium, Natrium, Magnesium, hauptsächlich aber dem Eisen angehörigen Metallinien in geringer Zahl und nur schwach angedeutet vorkommen. Heliumlinien nicht vorhanden. Beispiele: Sirius, Wega, aLeonis, ß Librae, aOphiuchi. Fixsternsystem 1157 1 b) Die Wasaerstofflinien sind vorhanden, aber weniger scharf und in der Mitte auf- gehellt. Sie erscheinen etwa gleich breit und Ende des Spektrunis hin scharf, nach dem roten hin unscharf begrenzt sind, ce Herculis, a Orionis, ß Pegasi. II lila Illb 660 630 600 580 56o 5»»o 52o 5oo )(8o Fig. 6. Typische Spektren Vogelscher Spektralklassen. Die Zahlen geben die Wellenlängen in ftft an. genannten Hierher gehören die gelb- scharf begrenzt wie die wenigen anderen Linien, des Heliums, Calciums, Siliciums, Magnesiums und Eisens, ß, y, e Orionis, a Cygni. Ic) Die Wasserstofflinien sind hell, ebenso die Linien der unter Ib noch Metalle, y Cassio-peiae. IL Klasse liehen Sterne. Diese sind von Atmosphären umgeben, die schon kräftiger absorbieren, so daß die Fraunhoferschen Linien gut zu erkennen sind. Das violette Ende des Spektrums nicht mehr so stark überwiegend. IIa) Das kontinuierliche Spektrum ent- hält besonders im Grün und Gelb kräftige und scharfe Absorptionslinien. Die Wasser- stofflinien nicht ganz so intensiv und breit wie bei Klasse I. Sonne, Gapella, Arcturus, AI cht ar an. IIb) Wolf-Rayet-Sterne. Es ist ein kontinuierliches Spektrum mit den Fraunhoferschen Linien vorhanden, da- neben aber einzelne helle Linien, deren Zugehörigkeit teilweise noch nicht bekannt ist. T Coronae, E Geminorum, y Velorum. III. Klasse. Sie enthält die rötlichen Sterne. Diese befinden sich in verhältnis- mäßig niedriger Gluthitze, ihre Atmosphären üben eine starke, sich durch kräftige Banden verratende Absorption aus. III a) Die Fraunhoferschen Linien sind zahlreich und intensiv. Daneben treten Absorptionsbanden auf, die nach dem violetten III b) Die Absorption überwiegt voll- ständig. Das violette Ende des Spektrums ist sehr schwach, die Absorptionsbanden, umgekehrt wie bei III a, scharf nach der roten, unscharf nach der violetten Seite hin begrenzt. Schwächere rote Sterne. Die Secchi sehen Spektralklassen die fünfte ist von Pickering hinzugefügt — stimmen mit den Vogelschen Klassen bezw. Unterabteilungen in folgender Weise überein: Vogel Ia IIa lila Illb Ic Secchi I II III IV V Die Sterne vom Typus Ib werden, weil in ihrem Spektrum die Heliumlinien auf- treten, oft Heliumsterne oder auch nach dem Sternbild, in dem sie hauptsächlich vor- kommen, Orion st er ne genannt. Bis jetzt sind etwa 1000 bekannt, Sie liegen in Gruppen vereinigt nahe der Milchstraße und sind von uns weit entfernt. Nach L. Boß (Direktor des Dudley Observatory in Albany, N. Y.) steht innerhalb einer Kugel, die einer Parall- axe von 0,"015 entspricht, also einen Halb- messer von 220 Lichtjahren hat, kein Helium- stern. Ihre durchschnittliche Eigenbewegung beträgt nur 5" im Jahrhundert und kommt wohl allein durch die Bewegung unseres Sonnensystems zustande. Auch ihre Be- wegung in der Gesichtslinie ist gering be- funden worden, durchschnittlich in der Se- kunde 6 km gegen das System der Sterne, während die rötlichen Sterne im allgemeinen 1158 Fixsternsystem größere Geschwindigkeiten senkrecht zur Gesichtslinie und in derselben zeigen, in letzterer Bichtung 16 bis 17 km gegen das System der Sterne. Man hat daher den Schluß gezogen, daß die jüngsten Sterne, als welche man die Heliumsterne ansieht, keine oder nur eine geringe Geschwindigkeit haben, daß diese aber wächst während der folgenden Entwickelungsstadien der Sterne. Die Aufhellung in der Mitte der Linien bei den Orionsternen dürfte sich durch die Annahme erklären lassen, daß die Höhe der Atmosphäre von gleicher Ordnung ist wie der Durchmesser des leuchtenden Kernes. Der Teil der Atmosphäre, welcher von uns aus gesehen vor dem Kern liegt, wird ab- sorbierend wirken, der andere Teil aber, welcher über die Scheibe des Kernes hinaus- ragt, ein Spektrum mit hellen Linien liefern. Gewisse Sterne, welche eine unmeßbare Parallaxe haben, leuchten doch sehr in- tensiv, darunter selbst rötliche Sterne, wie ArJcturus, die sich also nicht in höchster Glühhitze befinden. Da die Flächenhelligkeit bei ihnen nicht gar bedeutend sein kann, so muß wenigstens ihre Oberfläche sehr groß sein, damit sie jene große Lichtmenge aus- senden kann. Es mögen daher solche Sterne mehrere hundertmal unsere Sonne an Größe und erst recht an Masse übertreffen. Sterne von dem interessanten Typus IIb wurden zuerst entdeckt 1867 von den Astronomen Wolf und Rayet in Paris. Die bis jetzt bekannten, 55 an der Zahl, sind bis auf einen, y Velorum, der 3. Größe ist, schwache Sterne und liegen ganz nahe der Milchstraße. Bei Lockyer haben die einzelnen Klassen, welche mit denen Vogels nahezu identisch sind, entsprechend seinen Ansichten über die Entwickelung der Himmelskörper eine andere Anordnung. E. Pickering lehnte sich bei seiner Ein- teilung der Sternspektren an Secchi an und erhielt durch Spaltung der Klassen I und II im ganzen 16 Klassen, die mit Buchstaben bezeichnet wurden. Später etwas umge- ändert, wodurch die Buchstaben eine sonder- bare Aufeinanderfolge bekommen haben, ist die jetzt meist gebräuchliche sogenannte Draperklassifikation der Spektren die folgende : Klasse 0: Hauptsächlich helle Linien im Spektrum. Wolf- Rayet- Sterne. Klasse B: Einige Heliumlinien haben dieselbe Intensität wie die Wasserstoff- linien. Orion- oder Heliumsterne. Klasse A: Die stärksten Linien sind die Wasserstofflinien. Die Calciumlinie K und die Sonnenlinien sind schwach. Sirius- sterne. Klasse F: Die Calciumlinien H und K und die Sonnenlinien sind kräftiger als die Wasserstofflinien. <5 Aquilae. Klasse G: Die Calciumlinien H und K und die Liniengruppe G besonders auffallend. Sonnensterne, a Aurigae. Klasse K: Die Calciumlinien H, K, g und die Gruppe G sehr kräftig. Die Intensität des kontinuierlichen Spektrums nimmt nach den kleineren Wellenlängen bedeutend ab. a Bootis. Klasse M: Wie bei Klasse K; außerdem treten Banden im blaugrünen und grünen Teil des Spektrums auf. Klasse N: Absorptionsbanden, scharf auf der roten, unscharf auf der violetten Seite begrenzt. Klasse P: Planetarische Nebel. Klasse Q: Spektren, die sich in die anderen Klassen nicht einreihen lassen. Die Spektren, welche Uebergänge zwischen den Klassen darstellen, werden durch an- gehängte Ziffern '. bis 9 charakterisiert, so B und A, aber an A liegendes daß z. B. B3 ein zwischen an B wesentlich näher als Spektrum bezeichnet. Die Beziehung zwischen der Vo gelschen und der eben angeführten von Pickering und Miß Cannon für den Draperkatalog der Sternspektren benutzten Einteilung ist durch folgendes Täf eichen gegeben: Vogel Ia Ib Ia— IIa IIa IIb IIa— III a III a Pickering-Cannon . . A B F G 0 K M III b N. Vgl. auch den skopie". 4b) Farbe der Sterne. Nur Weiß, Gelb und Rot nebst den dazwischen liegenden Uebergängen kommen als Farben der Sterne vor. Die bisweilen bei Doppelsternen für die eine Komponente derselben angegebene Farbe Blau oder Grün ist dem Beobachter Artikel „Spektro- zusammen, indem ein weißer Stern infolge der Abkühlung durch Ausstrahlung die gelbe nur durch Kontrastwirkung vorgetäuscht worden. Nach Vogel hängt die Farbe eines Sternes mit seinem Entwickelungszustand und dann die rote Farbe annimmt. Sirius, Wega, Atair sind weiß, Capeila gelblich, Aldebaran, Arldur und Antares rot. Einer der rötesten Sterne ist ßCephei, der von W. Herschel (1738 bis 1822, Privatastronom des Königs Georg III. von England) als Granat stern bezeichnet wurde, ein Stern 5. bis 6. Größe, der, wie das häufig mit den roten Sternen der Fall ist, zu den unter 4d Fixsternsystem 1159 zu besprechenden Veränderlichen ge- hört. Eine Farbenänderung, wie sie nach den heutigen Ansichten von der physikalischen Entwickelung der Sterne im Laufe großer Zeiträume eintreten muß, ist bisher noch nicht beobachtet worden. Die vermutete Farben- änderung des Sirius, der jetzt weiß ist und früher rötlich gewesen sein soll, ist nach Schiaparelli (1835 bis 1910, Direktor der Sternwarte zu Mailand) auf falsche Inter- pretation einiger Stellen von Schriftstellern des Altertums zurückzuführen. Ein periodi- scher Farbenwechsel wird von a Ursae majoris behauptet, doch bedarf er wohl noch der Bestätigung. Dagegen ist bei den neuen Sternen der Farbenwechsel eine fast regel- mäßige Begleiterscheinung (s. 4e). 4c) Temperatur der Sterne. Auf die Verschiedenheit der Temperaturen der Sterne deutet schon die Verschiedenheit der Farben. Die Erfahrungen des täglichen Lebens sagen uns schon, daß wir den weißen Sternen die höchste Temperatur zuzuschreiben haben, eine geringere den gelben und noch eine niedrigere den roten. Wissenschaftlich ist diese Annahme begründet durch das Wien- sche Verschiebungsgesetz, welches be- sagt, daß für den sogenannten schwarzen Körper das Produkt aus der absoluten Temperatur und der Wellenlänge des Intensi- tätsmaximums im Emissionsspektrum eine Konstante ist. Nun sind die Fixsterne allerdings keine „schwarzen Körper", Körper nämlich, welche alle auf sie fallenden Strahlen zu absorbieren imstande sind, dabei aber, wie zur Vermeidung eines Mißverständnisses hinzugefügt sei, nichts weniger als von dunkler Farbe zu sein brauchen; immerhin dürften sie sich hinsichtlich ihres Absorptions- und Emissionsvermögens nicht so weit vom schwarzen Körper entfernen, daß das Wien- sche Verschiebungsgesetz nicht wenigstens in den gröbsten Zügen auf sie angewandt werden könnte. Durch Messung der Strahlungsintensität der verschiedenen Wellenlängen in den Spektren von über hundert Fixsternen und An- wendung des eine Beziehung zwischen Strah- lungsintensität, Temperatur und Wellenlänge gebenden P 1 an c k s c h e n S t r a hl u ngs- gesetzes haben Wilsing und Scheiner auf dem Astrophysikalischen Observatorium zu Potsdam die Temperatur dieser Sterne bestimmt unter der Annahme, daß sie sich wie schwarze Körper verhielten. Im Mittel ergaben sich für die Sterne der drei Vo gel- schen Spektralklassen die Temperaturen 9500, 5500 und 3200 Grad. Für einige jener Sterne, nämlich a Andromedae, ö Aquilac und y\ Pegasi sind auch auf der Wiener Sternwarte von Hnatek die Temperaturen bestimmt worden, wobei sich eine befriedigende Uebereinstimmung ergab. Es waren die in Potsdam gefundenen Temperaturen der drei Sterne 8000, 6400 und 4200 Grad und die in Wien gefundenen Temperaturen 8490, 6150 und 4000 Grad. Für die Temperatur der Sonne nehmen die Physiker als besten Wert jetzt 5600 Grad an. - 4d) Veränderliche Sterne. Bei vielen Fixsternen hat man periodische Helligkeits- änderungen wahrgenommen. Als erster von diesen, deren jetzt über 1000 bekannt sind, wurde o Ceti im Jahr 1596 vom friesischen Pfarrer David Fabricius entdeckt. Der bisher von ihm nicht wahrgenommene Stern leuchtete damals als Stern 2. Größe auf, wurde im nächsten Jahr aber nicht mehr gesehen. Erst später fand man, daß die Mira Ceti, wie der Stern auch genannt wurde, in einer Periode von durchschnittlich 332 Tagen in sehr unregelmäßiger Weise ihre Helligkeit ändert, indem sie von der 8. oder 9. Größe, ihrer Minimalhelligkeit, einmal bis zur 2., ein andermal aber nur bis zur 4. oder 5. Größe emporsteigt. In schroffem Gegensatz zu dem erst- entdeckten steht durch die Kürze seiner Periode und die Regelmäßigkeit seines Licht- wechsels der an zweiter Stelle entdeckte Veränderliche ß Persei oder Algol. Mon- tanari (1633 bis 1687, Professor der Astro- nomie in Bologna und Padua) stellte im Jahr 1667 seine Veränderlichkeit fest, seine Periode und den Verlauf der Helligkeits- änderung erkannte erst 1782 Goodricke (1765 [ ?] bis 1786, in York, England). 2 Tage 12 Stunden leuchtet Algol als Stern 2,3. Größe, sinkt dann in 4'2 Stunden zur 3,5. Größe herab und steigt in weiteren 41:> Stunden wieder auf seine Maximalhelligkeit. Aus der Verbindung von zeitlich weit auseinander liegenden Beobachtungen läßt sich die Periode des Lichtwechsels Algols bis auf Bruchteile der Sekunde sicher bestimmen. Sie beträgt 2d 20h 48m 51s,l, hat sich aber im Laufe der Jahrzehnte bisweilen um einige Sekunden bald verkürzt, bald verlängert und betrug z. B. zu Goodrickes Zeiten bis 1832 2d 20h 48« 58s?5. In der letzten Zeit sind, besonders mit Hilfe der Photographie, in manchen Jahren über hundert Veränderliche entdeckt worden, so daß die von Argelan der vorgeschlagene Bezeichnungsweise, wonach die Veränder- lichen, wenn sie nicht bereits von Bayer oder Flamsteed mit Buchstaben oder Zahlen versehen sind, die letzten Buchstaben des Alphabets von R an unter Hinzufügung des Namens des Sternbildes erhalten sollen, längst nicht mehr genügt, weshalb man zu der Kombination zweier Buchstaben wie RR, RS usw. übergegangen ist. Besonders 1160 Fixsternsystem haben sich manche kugelförmige Stern- haufen, ebenso dieMagelhaens sehen Wolken, außerordentlich reich an Veränderlichen ge- zeigt. Veränderliche, welche für gewöhnlich in ihrer größten Helligkeit strahlen und nur während kürzerer Zeit die normale Helligkeit einbüßen, werden nach ihrem ebenerwähnten Vertreter Algolsterne, dagegen diejenigen, welche für gewöhnlich ihre geringste Hellig- keit besitzen,Antalgolsterne genannt. Von den 88 zurzeit bekannten Algolsternen haben 64 eine Periode von weniger als 5 Tagen, X Carinae sogar von nur 13 Stunden. Die größte Periode unter den Algolsternen, nämlich von 262 Tagen, hat RZOphiuchi; 243 Tage verweilt er in seiner Maximal- helligkeit, 19 Tage braucht er zu seinem Lichtwechsel. Antalgolsterne kommen be- sonders in Sternhaufen vor. Die 15 außer- halb derselben bis jetzt gefundenen haben sämtlich Perioden von weniger als einem Tag. Zu bedenken ist hierbei allerdings, daß kurzperiodische Steine viel eher Aussicht haben als veränderlich erkannt zu werden als langperiodische. Bei den Sternen, welche ihre Helligkeit fortwährend ändern, unterscheidet man solche vom Typus £Geminorum, die sich durch gleichlang andauerndes Ansteigen und Sinken der Helligkeit auszeichnen, dann solche vom ö Cephei-T ypus, bei denen die Helligkeits- zunahme rascher erfolgt als die Helligkeits- abnahme, ferner solche vom ß Lyrae-Typus, die außer einem Hauptminimum noch ein Nebenminimum besitzen, und solche vom Mira-T y p u s , deren Licht Wechsel nicht immer die gleiche Helligkeitsgrenze innehält; auch die Periode ist nicht immer konstant, sondern schwankt häufig um einen mittleren Wert; bei Mira selbst ist sie im Durchschnitt gleich 332 Tagen, beträgt aber mitunter auch 320 und 370 Tage. Endlich sind noch die Veränderlichen zu erwähnen, bei denen sowohl der Bereich der Helligkeitsschwankung wie die Dauer der Periode ganz unregelmäßig ist. Hierher gehören die nur geringen Helligkeitsände- rungen unterworfenen Sterne a Cassiopeiae, a Herculis, aOrionis und der wegen seiner roten Farbe als Granatstern bezeichnete ju Cephei ; dann aber auch R Coronae, welcher von der 6. Größe, die er jahrelang besitzt, unerwartet in wenigen Wochen um 3 bis 9 Größenklassen herabsinkt, um dann nach einer nicht im voraus angebbaren Zeit wieder bis zur 6. Größe anzusteigen. Der ebenfalls hierher gehörige Stern r\ Argus erleidet seit 1867 als Stern 6. bis 7. Größe nur geringe Helligkeitsschwankungen, früher war er jedoch jahrelang 4. oder auch 2. Größe und wurde bisweilen einer der allerhellsten Sterne, so 1827, 1837 und namentlich 1843, wo er nur dem Sirius nachstand. Der Stern von der kürzesten bis jetzt gefundenen Periode ist XXCygni, welcher wahrscheinlich dem ö Cephei-Ty\ms angehört; seine Periode beträgt 3h14,2m. Die Ursache der Helligkeitsschwankungen der Veränderlichen dürfte nicht für alle diese Sterne die nämliche sein. Bei Algol kommen sie. wie Vogel und Schein er um das Jahr 1890 spektroskopisch nachgewiesen haben, durch die Bewegung eines dunklen Begleiters um den Hauptstern zustande. Die photographischen Spektrenaufnahmen zeigen nämlich Linienverschiebungen von zeitlich derselben Periode wie der Licht- wechsel, so zwar, daß zu den um x/4 und 3/4 Periode vom Minimum abliegenden Zeiten eine Annäherung bezw. Entfernung des Sternes angezeigt wird, indem im ersteren Falle die Linien eine Verschiebung nach dem blauen und im zweiten Falle nach dem roten Ende des Spektrums erfahren. Die Geschwindig- keit des hellen Sternes um den Schwerpunkt des aus ihm und dem dunklen Begleiter bestehenden Systems ergab sich zu 42 km in der Sekunde. Unter der Annahme gleicher Dichtigkeit beider Körper findet man ferner den Durchmesser des hellen Körpers den Durchmesser des dunklen Körpers die Entfernung der Mittelpunkte der beiden Körper die Masse des hellen Körpers die Masse des dunklen Körpers = 1569000 km = 1177000 km = 5562000 km = 0,588 Sonnenmasse = 0,248 Sonnenmasse Der Durchmesser der Sonne beträgt, wie zum Vergleich hinzugefügt sei, 1 383 000 km. Ein dunkler Begleiter dürfte wohl bei sämtlichen Algolsternen die Ursache des Lichtwechsels sein. Ist der Begleiter nicht vollständig dunkel, so muß nicht nur bei seinem Vortreten vor den Hauptstern, sondern auch bei seinem Dabintertreten eine Licht- schwächung eintreten. Ein solches sekundäres Minimum findet sich bei den Sternen vom Typus des Veränderlichen ß Lyme, welcher übrigens auch spektroskopisch als Doppel- stern erkannt worden ist. Da bei diesem Stern jedoch keine längere Zeit konstant bleibende Maximalhelligkeit vorkommt, so ist man zu weiteren Annahmen gezwungen, etwa daß die beiden einander fast berührenden Körper infolge der Flutwirkung, welche sie aufeinander ausüben, von der Kugelgestalt stark abweichen. Fixsternsystem 1161 Während zur Bestimmung der Bewegung Algoh ein Vergleichspektrum nötig ist, um die Linienverschiebung nachzuweisen und zu messen, verrät sich die Doppelsternnatur eines aus zwei hellen Komponenten be- stehenden spektroskopischen Doppelsternes durch eine periodische Verdoppelung seiner Spektrallinien, und nur, wenn außer der Bestimmung der relativen Geschwindigkeit beider Komponenten auch ihre Geschwindig- keit gegen die Erde gefunden werden soll, ist ebenfalls ein Vergleichspektrum nötig. Auffälligerweise gehören die Spektren der Algolsterne, soweit sie bekannt sind, alle der ersten Spektralklasse an. Wenn die Zwischenzeiten zwischen den beiden Minima von ungleicher Länge sind, wie bei YCygni, so bietet sich die Annahme dar, daß die Körper sich in elliptischen Bahnen um ihren gemeinsamen Schwerpunkt bewegen, oder was auf dasselbe hinauskommt, daß die relative Bewegung des einen gegen den anderen eine Ellipse ist. Eine Aenderung der Periode des Lichtwechsels läßt sich dann weiter durch eine Drehung der großen Achse dieser Ellipse, wie sie durch die Störung seitens eines dritten Körpers hervorgebracht zu werden pflegt, ungezwungen erklären. Bei YCygni vollendet nach Duner (em. Direktor der Sternwarte zu Upsala) die große Achse der Ellipse eine volle Umdrehung in 41 Jahren. Fällt die von der Erde nach dem Doppel- stern gerichtete Visierlinie nicht nahezu in die Ebene der Doppelsternbahn, so wird selbst eine nur teilweise Bedeckung des einen Sternes durch den anderen nicht eintreten, wie das z. B. bei a Virginia (Spica) der Fall ist, dessen Doppelsternnatur von Vogel durch Beobachtung einer periodischen Ver- schiebung der Spektrallinien entdeckt wurde. Bei ß Aurigae sind es zwei Komponenten von gleicher Helligkeit, welche um ihren gemeinsamen Schwerpunkt kreisen, ohne daß jedoch für uns einer vor den anderen tritt und dadurch Helligkeits- schwankungen hervor- ruft. Von den in Figur 7 wiedergegebenen, auf dem Potsdamer Astro- physikalisehen Obser- vatorium aufgenomme- nen Spektren von ß Aurigae entspricht das obere der Zeit, wo beide Sterne sich senkrecht zum Visionsradius be- wegen, während das untere, die Spektral- linien verdoppelt zeigen- | de Spektrum offenbar zu einer Zeit aufge- j nommen wurde, wo die Bewegung im Vi- sionsradius erfolgte und für beide Kompo- | nenten verschieden gerichtet war. Die zwei ! besonders kräftigen Linien sind die Calcium- linien H und K. Auch den in die Richtung der Gesichts- linie fallenden Teil der Bewegung des Schwer- punktes eines spektroskopischen Doppel- sternes kann man aus den Messungen der Linienvei Schiebungen ableiten. — Bei ß Persei (Algol) und aUrsae minori? (Polarstern), welch letzterer ebenfalls ein spektro- skopischer Doppelstern ist, findet eine perio- dische Radialbewegung des Schwerpunktes in 1,9 bezw. 12 Jahren statt, was auf einen dritten Körper hinweist, um welchen der spektroskopische Doppelstern herumläuft. Ferner haben sich auch die dem ö Cephci- und dem 'Q Gemmorum-Ty^us angehörenden Veränderlichen, so weit eine spektroskopische Untersuchung möglich war, als Doppelsterne erwiesen, deren Umlaufszeit gleich der Periode j des Lichtwechsels ist. Da aber immer nur I das Spektrum eines Sternes zu erkennen ist, so muß der andere der beiden Sterne min- destens sehr schwach sein. Das Helligkeits- maximum fällt - - anders wie bei den Algol - und ß Lyrae-Sternen mit der Zeit der größten auf uns zu gerichteten Geschwindig- keit zusammen, das Helligkeitsminimum mit der Zeit der größten von uns fort gerichteten Geschwindigkeit. Wie nun aber der Licht- wechsel zustande kommt, ist eine noch nicht befriedigend gelöste Frage. Höchst auffällig ist die neuerdings bei 11 spektroskopischen Doppelsternen ge- fundene Tatsache, daß bei ihnen die Calcium- , linien H und K eine konstante, die übrigen Linien aber eine veränderliche Geschwindig- i keit ergeben. Ob jene konstante Geschwindig- ! keit gleich der des Systems ist, ist nicht sicher. Hart mann, welcher 1902 als erster auf dem Potsdamer Observatorium bei dem Fis Linienverdoppclung im Spektrum von ß Aurigae. 1162 Fixsternsystem. schwach veränderlichen Stern dOrionis jene Eigentümlichkeit der Calcinmlinien nachwies, meinte, daß die letzteren nicht dem Spektrum '' des Sternes, sondern eines zwischen uns und | dem Stern liegenden Nebels von Calcium- dampf angehörten. Zehn von den elf Sternen sind Helinmsterne, der elfte, ■& Virginis, zur Klasse Ia gehörig, hat ein ähnliches Spektrum. Die Sterne vom Mira- Typus zeigen ein sehr charakteristisches, aus Absorptions- banden und hellen, nach dem Violett etwas verschobenen Linien bestehendes Spektrum. Eine veränderliche Geschwindigkeit in Rich- tung der Gesichtslinie läßt sich jedoch nicht erkennen, so daß die Sterne dieses Typus als einfache angesehen werden müssen. Was die Ursache des Lichtwechsels anlangt, so könnte man an dunkle, auf der Oberfläche der Sterne auftretende Flecken denken, wie wir sie auf der Sonne als Sonnenflecken zu sehen gewohnt sind. Würden die Sonnen- flecken, deren Auftreten bekanntlich an eine Periode von 11 Jahren gebunden ist, einen beträchtlicheren Teil der Sonnenoberfläche einnehmen, so würde unsere Sonne jedenfalls als ein veränderlicher Stern erscheinen, dessen Helligkeitsminimum in die Zeit der größten Fleckenhäufigkeit fiele. Die Beobachtung der veränderlichen Sterne geschieht gewöhnlich mittels der Ar gel and er- sehen Stufenschätzungsmethode, näm- lich durch Schätzung des Helligkeitsunter- schiedes des Veränderlichen gegen benach- barte Sterne von nur wenig verschiedener Helligkeit in Stufen von etwa x 10 Größen- klasse. Zur Ableitung der Periode des Licht- wechsels ist es wenigstens bei den Veränder- lichen von kurzer Periode nötig, die Ver- schiedenheit der Zeiten zu beseitigen, welche der Lichtstrahl vom Stern zur Erde braucht, wenn diese einmal auf der einen, nach ihm hin liegenden, das andere Mal auf der anderen Seite von der Sonne steht, Man pflegt zu diesem Zweck die Beobachtungen auf den Sonnenmittelpunkt zu reduzieren, d. h. die Beobachtungszeiten so anzugeben, als ob die Beobachtungen vom Mittelpunkt der Sonne aus stattgefunden hätten. 4e) Neue Sterne. An die veränder- lichen Sterne schließen sich engstens an die sogenannten neuen Sterne, die plötzlich an Stellen des Himmels auftauchen, wo früher nachweislich kein Stern zu sehen war. Natürlich ist der Stern nicht urplötzlich dahin versetzt worden, sondern nur durch eine über ihn hereingebrochene Katastrophe zum Aufleuchten gekommen. Sehen wir von älte- ren, namentlich bezüglich des Sternortes un- sicheren Nachrichten ab, so verbleiben 19 seit 1572 entdeckte neue Sterne übrig, welche Zahl sich jedoch künftig etwas rascher ver- größern dürfte, nachdem in den Jahren 1893 bis 1899 von Mrs. Fleming auf der Harvard- Sternwarte in Cambridge, Mass., durch Vergleichung photographischer Auf- nahmen nicht weniger als fünf neue Sterne entdeckt worden sind. Bisweilen kann man zweifelhaft sein, ob man es nur mit einem sehr unregelmäßig Veränderlichen oder mit einem neuen Stern zu tun hat. Manche in früherer und auch in neuerer Zeit aufgetauchte neue Sterne gehören den wunderbarsten Himmelserscheinungen an, so die Nova Cassiopeiae von 1572, welche Tycho Brahes (1546 bis 1601, besonders auf der von ihm gegründeten Sternwarte Uranienburg auf Hven, zuletzt in Prag tätig) Interesse für die Astronomie erweckte, den Sirius an Helligkeit übertraf, von 1574 an aber nicht mehr zu sehen war. Anfangs von weißer Farbe wurde sie dann gelblich, später rot und zuletzt wieder weiß. Der im Jahr 1600 entdeckte neue Stern P Cygni wurde von Kepler (1571 bis 1630) 1602 als Stern 3. Größe gesehen und erreichte, nachdem er 1621 verschwunden war, jene Größe 1655 wieder. Ein zweites Verschwinden fand 1660, ein weiteres Aufleuchten, jedoch nicht in dem Maße wie früher, 1665 statt, und seit 1677 bis auf den heutigen Tag ist er unverändert von 5. Größe, während sonst die neuen Sterne bald wieder unsichtbar zu werden pflegen. Die Nova Andromedae, welche im Jahre 1885 im Andromeda- Nebel als Stern 7. Größe aufleuchtete und nach wenigen Monaten wieder verschwand, war jedenfalls kein sich nur auf jenen Nebel projizierender Stern, vielmehr scheint gerade zwischen neuen Sternen und Nebelmassen ein enger Zu- sammenhang zu bestehen, worauf auch die Nova Aurigae vom, Jahre 1892 und die Nova Persei vom Jahre 1901 hinweisen. Der erstere, am 23. Januar 1892 von Ander- son (Geistlicher in Edinburgh) entdeckte Stern hatte bereits, wie photographische Aufnahmen jener Gegend aus früheren Monaten zeigen, sein Maximum überschritten. Denn während er am 2. November 1891 jedenfalls schwächer als 11. und am 1. De- zember schwächer als 6. Größe war, da Sterne von diesen Helligkeiten sich auf den damals zufällig aufgenommenen Platten befinden, so war er am 10. Dezember von 5,4. und am 18. Dezember von 4,4. Größe. Nach seiner Entdeckung am 23. Januar 1892, wo er nur noch 5,2. Größe war, nahm er weiter ab und war am 26. April auch mit den stärksten Fernrohren nicht mehr zu sehen, bis er am 17. August 1892 als Stern 10. bis 11. Größe wieder auftauchte und zwar von einem Nebel umgeben. Später verschwand er wieder. Die Nova Persei, welche seit Tvchos Fixsternsystem 11G3 ■m -s * ■ ... ■ ■ » ■ . M :••■■ k . • ■ 1— JiBHIfa' — :. -/*•' ~/0' -r a' 1 'l II r« — 1-1 6' ->h' +10' "i Zeiten jedenfalls die interessanteste Erschei- ausbreitende Licht zu uns reflektierten nung dieser Art ist, wurde ebenfalls von I und auf diese Weise uns sichtbar würden. Anderson, außerdem allerdings noch von j Diese Hypothese stimmte recht gut zu der 13 andeien Personen, in der Nacht vom Annahme v. Seelige rs (Direktor der Stem- 21. auf den 22. Februar 1901 entdeckt und zu 2,7. Größe geschätzt, nachdem sie zwei Tage vorher, wie eine photographische Auf- nahme jener Gegend er- weist, noch nicht 11. Größe gewesen war. Am 23. Fe- bruar erreichte sie die Helligkeit von Capella, also die 0,2. Größe und nahm vom 24. oder 25. Fe- bruar an wieder ab. Von Mitte März an, als sie bereits auf die 4. Größe gesunken war, erlitt sie Helligkeits- schwankungen von 3,5. bis 5,3. Größe, 5 Wochen lang, nahm dann weiter ab und blieb vom September 1901 konstant 6,6. Größe. Im August fand Wolf in Heidelberg photographisch, daß der Stern von einem Nebel umgeben sei, und im November konstatierte Per r ine auf der Lick- sternwarte in Kalifornien, daß der Nebel sich in je 6 Wochen um 1' weiter bewege. Die Figuren 8 und 9, welche die photographischen Aufnahmen des Nebels um die Nova vom 20. September und 13. November 1901 wiedergeben, lassen diese Bewegung deutlich er- kennen. Da die Parallaxe des Sterns sich nur zu 0,"03 ergeben hatte und daraus, wenn man das Resultat nicht überhaupt als illu- sorisch betrachten will, eine mit der Lichtgeschwindig- keit vergleichbare fort- schreitende Bewegung des Nebels sich ergeben würde, so stellte Kapteyn die Hypothese auf, daß diese Geschwindigkeit des Nebels nur scheinbar sei, daß wir in Wirklichkeit nur andere und andere Teile eines ruhenden Nebels sähen, die das von dem aufleuchtenden Stern sich Fig. 9. Nebel um die Nova Persei am 13. November 1901. Fig. 8. Nebel um die Nova Persei am 20. September 1901. U •10- -5 T " Ct. ??- *fv- ., ',■> /■' ..." J ♦8'- -iij U -30' -6' -ß' -Z >*' ^W «IT m 11(34 Fixsternsystem warte zu München), daß das Aufleuchten eines neuen Sternes durch das Eindringen eines dunklen Weltkörpers in einen Nebel oder in kosmische Staubmassen verursacht werde, indem durch die Hemmung der Be- wegung die für das Aufleuchten nötige Wärme erzeugt werde. Sehr gegen Kapteyns Ansicht spricht aber der Umstand, daß der Nebel (s. die Figuren 8 und 9) bei seiner Ortsveränderung seine durch einige gut begrenzte Ausläufer sehr charakteristische Gestalt und die Helligkeitsunterschiede der einzelnen Stellen beibehalten hat, was sich ungezwungen nur durch eine tatsächliche Fortbewegung der Nebelmassen erklären läßt. Die Nebelmassen wurden allmählich schwächer und schwächer und verschwanden dann ganz. Aus der beobachteten Verschie- bung der Spektrallinien hat sich ergeben, daß die Nova Persei sich mit einer Ge- schwindigkeit von 5 km in der Sekunde von uns entfernte. Das Spektrum der neuen Sterne stellt sich als ein kontinuierliches dar, auf dem sich — abgesehen von dem Fall des in dem An- dromeda-THebel aufgetauchten neuen Sternes — helle und dunkle Linien abheben. Neben den meisten hellen (Emissions-) Linien kommen an deren brechbarerer Seite die Linien desselben Elementes auch dunkel vor. Der neue Stern im Andromeda-Nebel besaß bloß ein kontinuierliches Spektrum. Deutet man die Verschiebung der Spektral- linien als durch die Bewegung des Sternes verursacht, so kommt man auf Geschwindig- keiten von über 1000 km in der Sekunde. Wenn die Helligkeit der Nova abnimmt, so verschwindet das kontinuierliche Spek- trum und das verbleibende Linienspektrum gleicht bezüglich der Lage der Linien dem der Nebelflecke, nur daß die Linien hier schmaler sind. Schließlich tritt wieder ein schwaches kontinuierliches Spektrum auf, so daß das Nora- Spektrum dem eines Wolf- Rayel - Sternes gleicht. Die Linien weisen auf das Vorkommen von Wasserstoff, Helium, Natrium, Calcium, Magnesium, Silicium hin. Im Spektrum der Nova Geminorum von 1912 sind auf der Bonner Sternwarte mit ziem- licher Sicherheit die radioaktiven Elemente Uran, Radium, Emanation und Helium nachgewiesen worden. Für die Erklärung mancher rätselhafter Erscheinungen bei den neuen Sternen wäre eine Bestätigung dieser Beobachtung natürlich von größter Wichtig- keit. 5. Physisch zusammengehörige Sterne. 5a) Doppelsterne und mehrfache Sterne. Die Sterne, die wir am Himmel sehen, stehen im allgemeinen so weit auseinander, daß keiner auf den anderen einen merklichen Einfluß ausüben dürfte. Dagegen muß es von vornherein als äußerst unwahrscheinlich angesehen werden, daß die im Fernrohr oft besonders nahe beieinander stehenden Sterne nur durch die Perspektive uns so benachbart erschienen, ohne in physischem Zusammenhang miteinander zu stehen. Chr. Mayer (1719 bis 1783, Leiter der Sternwarte zu Mannheim) suchte als erster durch Be- stimmung des Rektaszensions- und Dekli- nationsunterschiedes der beiden Kompo- nenten, wie die einzelnen Sterne eines Doppelsternsystems genannt werden, eine Aenderung ihrer gegenseitigen Lage im Laufe der Jahre nachzuweisen. Später machten sich um dieses Gebiet der Astro- nomie W. Herschel und besonders W. Struve (1793 bis 1864, Direktor der Sternwarte zu Dorpat und später zu Pulkowo) verdient, welch letzterer in drei Katalogen von etwa 3000 Doppelsternen die Entfernung der beiden Komponenten und die Richtung ihrer Verbindungslinie gab. Bei vielen dieser Sternpaare ist eine Aenderung der gegen- seitigen Lage bis jetzt noch nicht wahr- genommen woiden, da bei großen Entfer- nungen der Komponenten - - die Struve- schen Kataloge enthalten solche bis zu 32" — I die Umlaufszeit viele tausend Jahre be- tragen mag. Manche dieser Sternpaare sind vielleicht auch nur optische, nicht physische Doppelsterne. Dagegen hat man bei den engen Doppelsternen in vielen Fällen schon eine Bewegung der Komponenten umeinander konstatiert, immerhin aber nur bei 300 von 17000 jetzt bekannten Doppelsternen. In den letzten Jahrzehnten haben besonders die Astronomen Burnham, Artken, Hussey auf der Licksternwarte in Kali- fornien durch Auffindung vieler sehr enger Doppelsterne, von etwa 0,"1 Distanz, unsere Kenntnis in dieser Beziehung sehr vermehrt. So haben sie namentlich oft bei hellen Sternen sehr schwache Begleiter gefunden. Man möchte daher, namentlich auch im Hinblick auf die über 300 bis jetzt ent- deckten spektroskopischen Doppelsterne, ge- neigt sein, die Doppelsternnatur bei den Himmelskörpern nicht als einen Ausnahme- fall, sondern eher als die Regel anzusehen. Daß namentlich helle Sterne als Doppel- sterne bekannt sind, dürfte von ihrer größeren Nähe herrühren. Die schwachen Sterne stellen im allgemeinen zu weit, als daß wir mit den jetzigen optischen Hilfsmitteln ihre Komponenten trennen könnten. Auch unser Sonnensystem mag früher, als der Planet Jupiter sich noch im glühenden Zustand befand, von anderen Sternen aus als Doppelsternsystem erschienen sein. Da nach dem Newtonschen Gravitations- gesetz, das wir gerade auf Grund der an den Doppelsternen gemachten Erfahrungen für Fixsternsystem 1165 die ganze Fixsternwelt als gültig annehmen dürfen, ein Doppelsternsystem nur dann als solches bestehen kann, wenn beide Körper sieh um den gemeinsamen Schwerpunkt in Ellipsen bewegen, so muß die Verbin- dungslinie der beiden Sterne im Laufe der Zeit ihre Größe und Richtung ändern. Es ist nun die Aufgabe des Astronomen, aus diesen Aenderungen die Ellipse, welche einer der beiden Sterne um den anderen, als ruhend angenommenen Stern beschreibt, ihrer Lage und Gestalt nach zu bestimmen. Kennt man von einem Doppelstern die Parallaxe, also seine Entfernung von uns, so kann man die halbe große Achse der Bahnellipse, welche ein Körper um den anderen beschreibt und welche man zu- nächst in Bogensekunden erhält, auch in Längeneinheiten ausdrücken. Als solche pflegt man die Entfernung der Erde von der Sonne zu nehmen. Weiter findet man dann aber auch, wenn man die Dimensionen und die Umlaufszeit des Doppelsternsystems mit den entsprechenden Größen unseres Sonnen- 1 Systems vergleicht, wie viel Sonnenmassen die Masse des Doppelsterns gleichkommt, und mißt man nicht nur die relative Lage ! der Komponenten, sondern auch die Lage wenigstens einer derselben gegen einen be- nachbarten Fixstern, so erhält man noch die Lage des Schwerpunktes des Doppelstern- systems. Das Verhältnis aber der beiden Strecken, in welche durch den Schwerpunkt die Entfernung der beiden Komponenten geteilt wird, ist gleich dem der Massen der letzteren. Bis jetzt hat man bei 5 Doppel- sternen diese Bestimmungen ausgeführt und die im folgenden Täf eichen zusammen- gestellten Werte erhalten, wobei p die Parallaxe, a die mittlere Entfernung der beiden Komponenten in Bogenmaß, a die- selbe in Einheiten der Entfernung der Erde von der Sonne, U die Umlaufszeit in Jahren und m1 und m2 die in Einheiten der Sonnen- masse ausgedrückten Massen der einzelnen Komponenten sind. Name des Sternes Größe der| Kompo- | neu ten U m, in, a Centauri . . . Sirius | Ursae major is. £ Herculis . . . 70 Ophiuchi . , o i -i,7 9 4 5 3 6,5 4,5 6 o, 75 o,37 0,17 0,17 0,17 i7,"65 23,5 78,8 1,1 7,55 20,4 49,3 2,5 2,51 14,8 59,8 0,4 i,35 7,9 34,5 0,3 4,5ö 26,8 87,9 i,4 Hieraus sowie aus den Bestimmungen der Gesamtmassen anderer Doppelsterne scheint der Schluß erlaubt, daß die Massen der Doppelsternkomponenten im allgemeinen von der Größenordnung der Sonnenmasse sind. Dagegen stehen die Massen keineswegs im Verhältnis der Helligkeiten, wie man es annähernd vielleicht erwarten sollte. So unterscheidet sich die hellere Komponente von a Centauri um eine Größenklasse von der schwächeren, sendet also 2,5 mal so viel Licht aus wie diese, sie übertrifft sie aber kaum an Masse. Besonders auffallend ist der Unterschied zwischen dem Helligkeits- und dem Massenverhältnis bei Sirius. Der hellere Stern leuchtet etwa 20 000 mal so stark wie der schwächere, hat aber nur das 2,5 fache seiner Masse. Wie wir unter 4d gesehen haben, besteht auch bei Algol und den anderen veränderlichen Sternen dieses Typus eine ebensolche Verschiedenheit zwi- schen Helligkeits- und Massenverhältnis. Daß im, Gegensatz zu diesen Resultaten die hellen roten Sterne nach den in 4a an- gestellten Erwägungen wahrscheinlich Massen besitzen, welche sehr viel größer sind als die Sonnenmasse, sei, obwohl dort bereits be- sprochen, doch hier nicht unerwähnt ge- lassen. 1,0 1,0 °,5 0,1 1.1 Die Entdeckung der Doppelsternnatur \ von Sirius und Prokyon verdanken wir den scharfsinnigen Untersuchungen Bessels, ' welcher aus den über längere Jahre sich erstreckenden Positionsbestimmungen dieser Sterne eine unregelmäßige die er Eigenbewegung derselben erkannte, für die er als Grund die Störungen durch einen Begleiter angab. Seine Behauptung wurde vielfach ange- fochten und erst nach seinem Tod als richtig erwiesen; im Jahre 1862 fand der Optiker A. G. Clark (1832 bis 1897 in Cambridgeport, Mass.) den Begleiter des Sirius als ein Sternchen von etwa 9. Größe in 10" Abstand vom Hauptstern und im Jahre 1896 Schaeberle auf der Licksternwarte mit dem Refraktor von 91 cm Objektivöffnung und 18 m Brennweite den Begleiter des Prokyon als Sternchen 13. Größe in 41/2" Ab- stand. Die größte und kleinste Entfernung des #mws-Begleiters vom Hauptstern beträgt 12" und 3", seine Umlaufszeit ist 49,3 Jahre, während die des Prokyon-Begleitevs etwa 40 Jahre betragen dürfte. Wie bei Sirius sind auch bei anderen Doppelsternen die Bahnen meist stark exzentrisch. Störungen durch einen dritten, jedoch nicht sichtbaren Körper sind jedenfalls, welche bei den Doppelsternen uns es 1166 Fixsternsystem | Ursae majoris und £ Herculis eine immer wieder hervortretende Abweichung der beob- achteten Stellung der Komponenten von der vorausberechneten verursachen. Wir brauchen das um so weniger zu bezweifeln, als wir auch drei- und noch mehrfache Sternsysteme kennen. Aus drei Komponenten besteht z. B. e Hydrae und £ Cancri, ebenso nach dem in 4 a Gesagten ß Per sei (Algol) und a Ursae minoris ( Polarstem) . e Lyme ist ein Doppelstern, dessen beide um 208" ausein- ander stehende Komponenten wieder Doppel- sterne von 3" und 2" Abstand sind. Ebenso sind die beiden Komponenten des visuellen Doppelsterns aGeminorum wieder spektro- skopische Doppelsterne. Die Verteilung der Doppelsterne an der Himmelskugel ist gleich der der Steine überhaupt, was uns wieder darauf hinweist, daß wir in den Doppel- und mehrfachen Sternen wohl kaum einen Ausnahmefall der Sternbildung zu erblicken haben. überdies die Sterne von äußerst geringer Helligkeit, etwa von 15. oder 16. Größe sind, man die Sternnatur des Haufens gar nicht mehr erkennen kann. Einen schönen Anblick gewährt der abgebildete noch große Sternhaufen schöneren der kometenartiger in Figur 10 im Herkules, einen schon mit bloßen Augen als Fleck von der Helligkeit eines Sternes 4,5. Größe sichtbare, einen Durchmesser von 15' besitzende Sternhaufen co Centauri auf der südlichen Halbkugel. Bei Besprechung der Veränderlichen unter 4d ist schon darauf hingewiesen, daß in den Sternhaufen zahlreiche Veränderliche gefunden worden sind; so haben sich bei co Centauri von 3000 Sternen 128 als ver- änderlich herausgestellt. Ein mit guten Augen in sieben einzelne Sterne bereits zu trennender Sternhaufen ist die bekannte Plejadengruppe. Das Fernrohr läßt natürlich sehr viel mehr Sterne erkennen. Eine Ver- gleichung der von Bessel vorgenomme- nen Ausmessung dieses Sternhaufens mit den 50 und 65 Jahre später von Elkin auf dem Yale Observatory in New Haven, Conn., aus- geführten zeigte, daß von den 51 den drei Ausmessungen gemein samen Sternen 4ö die Fig. 10. Der große Sternhaufen im Herkules 5b) Sternhaufen; Gruppen weit aus- einander stehender Sterne. Auch Systeme von Hunderten und Tausenden einzelner Sterne finden wir häufig am Himmel, die sogenannten Sternhaufen, die vergleich- bar unserem Sonnensystem, nur viel kom- plizierter gebaut, eine Welt für sich im großen Fixsternsystem bilden. Nur nach dem Rand des Sternhaufens hin können wir einzelne Sterne unterscheiden, nach innen zu sind die Sterne zu einem unauflösbaren Knäuel zusammengedrängt, so daß, wenn als gleiche Eigenbewegung besitzen wie AlTcyone, der hellste, mittlere Plejadenstern, während 6 Sterne still stehen, sich also nur auf jene Stelle des Himmels projizieren, ohne dem System der Plejaden anzugehören. Auch die Bewegung in der Ge- sichtslinie hat sich bei jenen Sternen, soweit sie daraufhin unter- sucht werden konnten, nahe gleich herausgestellt. Dem Liebhaber der Astronomie wohl- bekannte Sternhaufen sind die Praesepe oder Krippe im Sternbild des Kreises und die Hyaden im Slier. Eine über 200 Quadratgrad sich aus- breitende Gruppe von Sternen, zu denen auch mehrere Hyadensterne gehören, streben wie L. Boß (Direktor des Dudley Observatory zu Albany, N. Y.) aus ihren Eigenbewegungen gefunden, nach einem bestimmten Punkt Fixsternsystem 11G7 des Himmelsgewölbes hin. Figur 11 gibt die Richtungund Größe der Eigenbewegungen, die letztere für 50 000 Jahre, an. Die Kon- vergenz nach RA. = 92°, nur eine schein- bare, durch die Perspektive vorge- täuschte, in Wirk- lichkeit laufen die 41 Sterne parallel. Der Durchmesser Dekl. -^ ll' -<2i° -19' -.17° -13* -.11' -4 9» 56 48 40 32 24 0 4» 52 44 Sternen im Stier richtung. mit Bewegungs- ge- nicht daraufhin noch ist, dürften diesem untersucht System an jedoch worden gehören. Nach Ed dingt on (Astronom der Green- wicher Sternwarte) haben auch 16 Helium- sterne im Perscus eine gleiche Bewegung. Die in den letzten Jahren aufgestellte, großes Aufsehen erregende Behauptung Kapteyns, daß zwei °;roße Sternströme in der Ebene der Milchstraße in entgegen- gesetzter Richtung durcheinander hindurch fluteten, hat sich als nicht haltbar heraus- gestellt. 5c) Nebel. Wenn die Sterne eines Sternhaufens von so geringer Größe sind. daß sie nicht mehr als solche erkannt werden können, so macht der Sternhaufen den Eindruck eines Nebels. Bisweilen verrät uns das kontinuierliche, Absorptionslinien zeigende Spektrum, daß wir es mit feurig- flüssigen oder doch im, Zustande größerer Dichte befindlichen, von einer Gashülle umgebenen Körpern zu tun haben, oft aber deutet das Spektrum in der Tat darauf hin, daß ein gasförmiges Gebilde vorliegt: es besteht in diesem Fall aus hellen Linien auf sehr schwachem, kontinuierlichen Unter- auf der Erde nicht vorkommenden Element, welchem man den Namen Nebulium ge- geben hat. an. In der Regel sind auch die Wasserstofflinien F und Hy von den Wellen- längen 4861 und 4341 vorhanden. In sehr vielen Fällen Iäß1 uns wegen der Schwäche des Objektes das Spektroskop im Stich, so daß wir über die Natur desselben keine sichere Entscheidung treffen können. Aus diesem Grunde pflegen Sternhaufen und Nebel gemeinsam in den Nebelkatalogen auf- geführt zu werden. Mit der Vervollkommnung des Fernrohres hat die Zahl der bekannten Nebel natürlich Fig. 12. Ringnebel in der Leier. 1168 Fixsternsystem stets Schritt gehalten. Zurzeit kennt man verschiedene sein, kreisrund mit und ohne gegen 6000 Sternhaufen und Nebelflecken, Verdichtung nach der Mitte hin, elliptisch, von denen etwa 15 bis 20 mit bloßen Augen ringförmig, spiralig, spindelförmig oder auch zu sehen sein mögen. ganz unregelmäßig. Die Nebel, welche den Die Formen der Nebel können sehr Eindruck eines mangelhaft fokussierten Sternes machen, werden nach W. Herschel planetarische Nebel genannt. Von den ring- förmigen sei der Ring- nebel in der Leier, von den spiraligen , in sehr großer Zahl vor- kommenden,der Spiral- nebel im Großen Bären und von den unregel- mäßig gestalteten der Onow-Nebel als Beispiel in den Figuren 12 bis 14 wiedergegeben. Bei den Spiralnebeln (s. Fig. 13) gehen von zwei gegenüber liegen- den Stellen der zentralen Verdichtung nach ent- gegengesetzten Rich- tungen Arme aus; das Bild ähnelt sehr einem in Gang kommenden Feuerrad. Die Spiralform Fig. Spiralnebel im Großen Bären. Fig. 14. Orion-Nebel. Fixsternsystem 1169 der Nebel scheint, wie namentlich viele pho- tographische Nebelaufnahmen erkennen lassen, sehr verbreitet zu sein. Auch viele spindelförmig erscheinende Nebel dürften Spiralnebel sein, deren eigentliche Form nur nicht hervortritt, weil wir sie von der Seite sehen. Eine Eigenbewegung (senkrecht zur Ge- sichtslinie) der Nebel hat wegen der Un- sicherheit der Positionsbestimmung dieser verschwommenen Gebilde bisher nicht nach- gewiesen werden können, wohl aber sind von 14 solcher Objekte die Geschwindigkeiten in der Gesichtslinie gemessen worden. Auf die Sonne bezogen liegen sie zwischen — 66 und rf-48 km in der Sekunde, sind also von gleicher Größenordnung wie die Ge- schwindigkeiten der Fixsterne gegen die Sonne. Gegen das Fixsternsvstem fand Keeler (1857 bis 1900, Direktor des Lick Observatory auf Mt. Hamilton, Cal.) als durchschnittliche Geschwindigkeit im Visions- radius von 12 planetarischen Nebeln 25 km, für den unregelmäßig geformten Onow-Nebel, der sich mit 17,4 km Geschwindigkeit vom Sonnensystem wegbewegt, den Wert Null, wenn als Zielpunkt der Sonnenbewegung der Punkt RA. = 270°, Dekl. = + 30°, und die Geschwindigkeit der Sonne zu 19,5 km angenommen wurde. Der allerdings nur aus 1 2 Einzelwerten abgeleitete Durchschnitts- wert von 25 km für die Geschwindigkeit der planetarischen Nebel gegen das Fixstern- system erscheint auffällig groß, wenn man der in 4 a erwähnten Ansicht mancher Astrophysiker beipflichtet, daß die Sterne im Laufe ihrer Entwickelung eine immer größere Geschwindigkeit annehmen, so daß die Heliumsterne 6 und die rötlichen Sterne 16 bis 17 km relativ zum Fixsternsystem zurücklegen: denn die planetarischen Nebel dürften eine frühere Stufe der Entwickelung als die Heliumsterne darstellen. Es ist aber wohl überhaupt noch recht fraglich, ob die , Entwickelung der Sterne immer in der j Richtung von den Heliumsternen zu den roten Sternen fortschreitet. Denn die Helium- sterne müssen doch auch erst auf irgendeine Weise entstanden sein, und wenn wir nach einer Möglichkeit dafür suchen, so bleibt uns ' nur die Antwort, daß sie früher kälter waren und erst durch Attraktion der sie etwa umgebenden Nebelmassen oder durch Kon- traktion ihres Volumens so heiß geworden sind. Daß ein so weit ausgedehnter, unregel- mäßig gestalteter Nebel wie der große On'on- Nebel sich in relativer Ruhe zum Fixsternsystem befindet, möchte von vorn- herein recht wahrscheinlich erscheinen. Die einzelnen Partien des Orion- Nebels haben übrigens verschiedene Radialge- ! Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III schwindigkeiten gezeigt, so daß im Lauf langer Zeiträume das Aussehen des Nebels jedenfalls ein anderes werden wird, während bisher trotz der instabilen Form, die er zeigt, noch keine Veränderung nachgewiesen worden ist, so sehr auch die Zeichnungen verschiedener Beobachter und selbst die Photographien infolge der verschiedenen Expositionszeiten und der verschieden emp- findlichen Platten voneinander abweichen. In zwei Fällen jedoch, bei dem 1852 von Hin d (1823 bis 1895, Astronom an einer englischen Privatsternwarte, später Super- intendent des Nautical Almanac) ent- deckten Nebel im Stier (R.A. = = 4^ 16,1m;- Dekl. - + 19°17' für 1900), Nr. 1555 des Drey er sehen Nebelkataloges, und bei dem unmittelbar daneben stehenden, Nr. 1554 desselben Kataloges, sind zweifellos Aende- rungen in der Sichtbarkeit festgestellt worden. Beide Nebel sind immer lichtschwächer ge- worden, der erstere vielleicht mit einigen Helligkeitsschwankungen; 1900 konnte er am großen Refraktor der Licksternwarte als äußerst schwaches Objekt gesehen werden, der zweite Nebel ist ganz verschwunden. Aus der Tatsache, daß die Nebel uns Licht zusenden, dürfen wir noch nicht auf eine hohe Temperatur derselben schließen; diese wird nicht viel über der Temperatur des Weltraumes liegen. Wie bei unseren Laboratoriumsversuchen stark verdünnte Gase leichter zum Leuchten zu bringen sind als Gase unter vollem Luftdruck, so wird dies noch viel mehr der Fall sein mit den eine äußerst geringe Dichte besitzenden Nebel- gasen im Weltenraum. Wodurch das Leuchten der Nebel hervorgebracht wird, ist freilich eine offene Frage. Jedenfalls senden sie uns eigenes Licht zu. Nach v. Seeliger dürfte es auch Wolken kosmischen Staubes geben, welche uns reflektiertes Licht zu- schicken oder uns auch bisweilen des Lichtes dahinterstehender Sterne berauben. Auf solche dunkle, vorgelagerte Massen führt v. Seeliger die sogenannten Sternhöhlen zurück, sternleere oder sternarme Stellen in nächster Nähe von besonders sternreichen Partien und helleuchtenden Sternen, wie in Figur 3 die Umgebung von &Ophiuchi sie uns zeigt. M. Wolf, Direktor der Stern- warte zu Heidelberg, ist dagegen der Mei- nuno-, daß die früher in den Sternhöhlen befindliche Masse von den benachbarten zufällig dichteren Partien angezogen worden sei oder auch die Masse eines jenen Weg entlang gelaufenen Sternes vermehrt habe. Während die großen unregelmäßigen Nebel, so die im Orion, Schützen und Schwan, und die meisten planetarischen Nebel in der Nähe der Milchstraße vorkommen, ist im allgemeinen die Häufigkeit der Nebel 74 1170 Fixsternsystem um so größer, je weiter sie von der Milch- straße abstehen, in der Nähe ihrer Pole also am größten. Eine starke Anhäufung von Nebeln und Sternhaufen findet in den Magelhaensschen Wolken statt. Bis vor wenigen Jahrzehnten hat man die Nebel für außerhalb unseres Fixstern- systems liegende Gebilde gehalten, welche im Begriff seien, sich zu selbständigen Fixsternsystemen zu entwickeln. Diese j Meinung mußte man jedoch aufgeben, als besonders durch die Photographie ein Zu- sammenhang von Fixsternen und Nebeln erwiesen wurde. Helle Sterne, z. B. die Maja und Merope in den Plejaden schließen sicli an Nebelmassen an. aus denen sie ge- bildet zu sein scheinen, und über der ganzen Plejadengruppe liegt noch ein, nur bei mehrstündiger Exposition auf der photo- graphischen Platte erscheinender Nebel- schleier, der jedenfalls das Material für diese Gestirne hergegeben hat; die Nova Andro- medae von 1885, die Nova Aurigae von 1892 und die Nova Persei von 1901 haben in Beziehung zu Nebeln gestanden, die Ge- schwindigkeit der Nebel in der Gesichts- linie hat sich bei 14 solcher Gebdde von gleicher Größenordnung ergeben wie bei den Fixsternen — die Geschwindigkeit senkrecht zur Gesichtslinie hat wegen der Unsicherheit der Positionsbestimmung dieser diffusen Objekte bisher noch nicht bestimmt werden können --der Orion- Nebel entfernt sich mit der gleichen Geschwindigkeit von 17 km von uns, welche auch in ihm liegenden Sternen zukommt; es treten ferner, wie Schein er aus photographischen Aufnahmen des Onow-Nebels gefunden hat, Wieder- holungen gewisser Stellungen von Sternen zu Nebelpartien auf, indem z. B. an jedem Ende von zwei halbkreisförmigen Nebel- streifen sich ein Stern befindet; alles das deutet auf einen Zusammenhang zwischen Sternen und Nebeln hin, mit anderen Worten: der von unserem Fixsternsystem einge- nommene Raum enthält über weite Gebiete sich erstreckende Nebelmassen. Einige Astronomen halten allerdings, worauf unter 6. zurückzukommen sein wird, an der An- sicht fest, daß wenigstens gewisse Sternhaufen und Nebel, z. B. die Spiralnebel, außerhalb des Fixsternsystems liegen. 6. Der Bau des Universums. Eines der höchsten Ziele der Astronomie ist die Kennt- nis vom Bau des Universums. Nun kennen wir zwar mit befriedigender Genauigkeit die Verteilung der Sterne, Sternhaufen und Nebel an der Himmelskugel, wir kennen ferner das Verhältnis der den einzelnen Größen- und den einzelnen Spektralklassen angehörigen Sterne, wir kennen von 10000 Sternen ihre jährliche Bewegung an der Himmelskugel und von 1700 Sternen ihre Geschwindigkeit in der Gesichtslinie, aber nur von 200 Sternen ist bisher die Parallaxe gemessen, die Entfernung also bekannt. Durchschnittswerte der Parallaxe für die Sterne der verschiedenen Größenklassen hat, wie in 3a angegeben, Kapteyn abgeleitet. Dabei ist aber stillschweigend vorausgesetzt, daß den Sternen jeder einzelnen Größen- klasse eine bestimmte Entfernung eigentüm- lich ist, von der nur selten größere Abwei- chungen vorkommen, was von vornherein jedoch keineswegs feststeht. Wegen der verhältnismäßig geringen An- zahl der direkt bestimmten Parallaxen ist man in der Tat genötigt, eine Hypothese über die Beziehung zwischen Sternhelligkeit und Entfernung zu machen, um die Anord- nung der Sterne im Räume abzuleiten, wenn man nicht, wie anfänglich W. Herschel, für diese selbst gleich eine Hypothese auf- stellen will. Herschel suchte nämlich anfangs unter der Annahme einer gleich- mäßigen räumlichen Verteilung der Sterne die Ausdehnung des Fixsternsystems zu bestimmen. Er zählte zu diesem Zweck die Sterne, welche er im Gesichtsfeld seines großen Fernrohres erblickte, das er, um gleich- sam Stichproben zu machen, nach mehreren Tausend Stellen des Himmels richtete. Sah er nach der einen Richtung achtmal so viel Sterne als nach der anderen, so schloß er, daß sich nach jener Richtung das Stern- system doppelt so weit ausdehne als nach der letzteren, denn bei gleich dichter Ver- teilung muß die Anzahl der Sterne, welche sich in dem vom Fernrohr überblickten kegelförmigen Raum bis zu einer gewissen Entfernung befinden, dem Rauminhalt des bis zu dieser Entfernung reichenden Kegels proportional sein. Die verschiedene Helligkeit der Sterne blieb bei der Annahme der gleich- mäßigen räumlichen Verteilung ganz un- berücksichtigt. Ferner war es ein Mangel, der dieser Annahme anhaftete, daß nach ihr die Sterne in der Mitte nicht dichter standen als an den Grenzen, wo die Besetzung des Raumes mit Sternen auf einmal aufhörte, während doch die Sternhaufen, die Herschel für selbständige, außerhalb des unserigen liegende und ihm gleichwertige Fixstern- i Systeme hielt, nach der Mitte eine Ver- dichtung zeigten. Daher ließ Herschel seine erste Hypothese fallen und nahm die , Helligkeit der Sterne zum Maßstab für ihre Entfernung, indem er die Annahme gleicher absoluter Leuchtkraft sämtlicher Sterne machte, eine Annahme, die abgesehen von ihrer sonstigen Unwahrscheinlichkeit durch I das verschiedene spektroskopische Verhalten der Sterne widerlegt wird. Auch W. Struve ging bei seinen Unter- Fixsternsystem 1171 suchungen über die Anordnung der Sterne von dieser Hypothese aus. Da ein Stern irgendwelcher Größenklasse uns nur 0,4mal so viel Licht zusendet als ein Stern der vorhergehenden Größenklasse, so muß er, gleiche Leuchtkraft vorausgesetzt, 1,6 mal so weit entfernt sein als letzterer. Aus der Größenklasse, bis zu welcher Her sc hei mit seinem 20 füßigen Teleskop kommen konnte, ließ sich so berechnen, daß die schwäch- sten mit dem Fernrohr sichtbaren Sterne 664 mal so weit entfernt seien als die Sterne 1. Größe. Sollten aber bei gleicher Verteilung der Sterne im Raum ihre Entfernungen überall dieselben sein, wie sie sich für die helleren Sterne ergaben, so hätte Herschel etwa 30 mal so viel Sterne mit dem Fern- rohr sehen müssen, als es nach seinen „Stern- eichungen", wie er die stichprobenartigen Sternabzählungen nannte, der Fall war. Struve schloß daher auf eine Absorption des Lichtes im Weltenraume, die in der Tat wohl auch statthaben mag, fdurch die höchst wahrscheinlich nicht zutreffenden, am aller- wenigsten gleichzeitig zutreffenden Annahmen gleicher Leuchtkraft und gleichmäßiger Ver- teilung der Sterne, auf welche sich Struve hier stützt,"; aber nicht als erwiesen gelten kann. Besser wird man umgekehrt sagen: Die Zunahme der Zahl der schwachen Sterne erfolgt zu langsam, als daß man eine gleich- mäßige räumliche Verteilung und gleiche Leuchtkraft der Sterne annehmen könnte. Auch zwischenliegende dunkle Nebel- oder Staubmassen wird man wohl nicht für das ungenügend rasche Anwachsen der Stern- häufigkeit bei den schwächeren Größen- klassen verantwortlich machen wollen, um die beiden von vornherein unwahrschein- lichen Hypothesen gleichzeitig zu retten. Als ein gesichertes Resultat der Stern- abzählung hat sich ergeben: Nach der Milchstraße nimmt die Zahl dei Sterne jeder Größenklasse zu; bei den helleren Sternen allerdings kaum merklich, bei den schwä- cheren aber in einem um so stärkeren Ver- hältnis, je geringer die Helligkeit ist. Die hellen Sterne bis zur 6. Größenklasse sind weniger zur Milchstraße als zu einem diese in der Cassiopeia und im südlichen Kreuz unter 19° schneidenden Kreise symmetrisch gelegen. Die große Zahl der schwachen Sterne in dei Milchstraße mag zum Teil auf eine größere Sterndichte jener Gegenden hin- weisen, großenteils aber ist sie gewiß be- dingt durch eine bedeutendere Ausdehnung in jener Ebene, so daß wir unserem Stern- system eine linsenförmige Gestalt zuer- kennen weiden. Während W. Herschel und unter den heutigen Astronomen z. B. See, Professor am U. S. Naval Observatory in Mare Island, Cal., diesem linsenförmigen Körper einen Durchmesser in seiner Mittelebene von einigen Millionen Lichtjahren gibt, kommt v. Seeliger unter der Annahme, daß die Sterne der verschiedenen Größenklassen in unserem Fixsternsystem überall in demselben Verhältnis gemischt vorkommen und daß es Sterne von etwa lOOOmal so großer Leuchtkraft wie die Sonne kaum gebe, zu dem Resultat, daß jener Durchmesser nur gegen 10000 Lichtjahre betrage, die Zahl der Sterne des nach außen ziemlich scharf abgegrenzten Haufens aber einige Zehner von Millionen. Was den Bau des Universums mehr im einzelnen anbelangt, so hat Strato noff, Astronom der Taschkenter Sternwarte, ge- funden, daß die Verteilung der Sterne der verschiedenen* Größenklassen eine verschiedene ist, Für die Sterne bis 8,5. Größe bildet die Milchstraße noch nicht die Symmetrieebene, auch sind die Gegenden um die Pole der Milchstraße noch nicht die sternärmsten für diese Größenklassen. Auf der nördlichen Halbkugel besitzt die Milchstraße drei wolkenartige Sternanhäufungen, die sich mit ihren Rändern berühren, nämlich im Schwan, im Fuhrmann und in den Zwillingen bis zum Einhorn. Unsere Sonne würde der ersten dieser stellaren Wolken an- gehören. Nach dem niederländischen Astronomen Easton in Amsterdam ist die Milchstraße von spiraligem Bau; ihr Zentrum, von dem die verschiedenen, nicht alle in einer Ebene liegenden Aeste ausgehen, wird von uns aus in der Richtung nach dem Seh trau hin ge- sehen; diesem hellen Teil der Milchstraße sind wir näher als dem gegenüberliegenden durch den Großen Hund und das Einhorn gehenden, viel weniger hellen Teil. Figur lö gibt eine schematische Ansicht vom Bau unseres Fixsternsystems nach Easton; der Mittelpunkt S soll den Sonnen- ort bezeichnen. Ob der spiralige Bau unseres Fixstern- systems, wenn er wirklich richtig erkannt sein sollte, uns ein genügender Grund sein muß, die Spiralnebel als besondere, der unserigen gleiche Fixsternwelten anzusehen, wie es von manchen Astronomen geschieht, ist gewiß noch sehr fraglich. Man wird den Spiralnebeln nicht gern eine Sonderstellung einräumen wollen, nachdem man die übrigen Nebel als innerhalb unserer Fixsternwelt liegend erkannt hat, Und ein gleiches gilt von den Sternhaufen. Es hindert nichts an- zunehmen, daß die Struktur des großen Ganzen auch die Struktur einzelner Teile sei. Wohl mögen, durch weite Zwischenräume von unserem Fixsternsystem getrennt, noch 74* 1172 Fixsternsystem andere solche Systeme vorkommen, von denen uns aber bisher keine Kunde ge- worden ist. Der Bau des Weltalls ist offenbar ziemlich verwickelt, erscheint uns namentlich so, die wir mitten in dem Gewirre stehen, so fr ■ß' ,ä y\ ' '// 7'0/y. - 4- \ o o Hm r WfW- * * & |3 fr- - -K. - - etujo |\| Fig. 15. Struktur des Fixsternsystems nach Easton. daß uns der Ueberblick erschwert ist. Noch stehen wir am Anfang unserer Erkenntnis, einen wesentlichen Fortschritt dürfen wir erwarten durch umfangreiche Parallaxen- bestimmungen, wie sie jetzt nach zwei Methoden geplant werden, nämlich für hellere Sterne durch Beobachtung von Meridiandurchgängen mit dem die persön- liche Gleichung nahezu ausschaltenden un- persönlichen Repsoldschen Mikro- meter und für schwächere Sterne durch die von Kapteyn vorgeschlagene und auch mehrfach schon mit Erfolg ausgeführte photographische Methode, bei der dieselbe Platte im Laufe eines Jahres dreimal, ohne mittlerweile entwickelt zu werden, exponiert wird, so daß die stärkeren Parallaxen und Eigenbewegungen durch die von den übrigen abweichende Stellung der drei Stern- punkte leicht herausgefunden werden kann. Dann wird ein fester Boden für die Er- forschung des Baues unserer Fixsternwelt geschaffen sein. Von hier aus wird man auch vielleicht einmal imstande sein, etwas Sicheres über die Entwickelung des Universums zu sagen. Jedenfalls dürfen wir in unserem Fixstern- system nicht eine fertige, auf dem Höhepunkt ihrer Entwickelung stehende Welt sehen. Die Sterne befinden sich in den verschieden- sten Entwickelungsstadien, zum Teil in höchster Weißglut, zum Teil in Rotglut, 1 zum Teil endlich im Zustande der Er- ! starrung, ohne alles Leuchtvermögen, in seltenen Fällen, gelegentlich der Bedeckung I eines hellen Steines, uns überhaupt wahr- nehmbar. Die Frage, ob die Entwickelung im Sinne einer Erkaltung oder einer Tempe- raturzunahme der Himmelskörper erfolgt, dürfte dahin zu beantworten sein, daß bald das eine, bald das andere der Fall sein mag, je nachdem der Himmelskörper frei im Weltenraum steht oder ob er um ihn lagernde Nebelmasse an sich zieht, in welchem Maß seine Zusammenziehung der Temperatur- abnahme durch Ausstrahlung entgegenwirkt, ob chemische Verbindungen auf ihm unter Wärmeentwickelung zerfallen usw. Vielleicht verdichten sich nicht bloß Nebel zu Sonnen, sondern es lösen sich auch Sonnen oder erkaltete Körper, wie es bei der Erscheinung neuer Sterne der Fall sein mag, in Nebel auf. Das Universum wird sich immer im Zustande des Werdens, der Veränderung befinden, genau so wie heute. Ein so langer Bestand unserem Fixstern- system aber auch gewährleistet sein mag, so muß es doch nach unseren heutigen physikalischen Anschauungen durch seine Ausstrahlung in den Weltenraum an Energie verlieren. Daß es, in welcher Form immer, seit Ewigkeit bestanden hat, werden wir wohl annehmen müssen. Wenn die Energie des Systems aber stetig abnimmt, so muß sie in früherer Zeit jeden noch so hohen Wert einmal gehabt haben. Um sowohl diese Folgerung zu vermeiden, als auch an den dauernden Verlust von Energie nicht glauben zu müssen, kann man, wie manche Physiker es tun, die Annahme machen, die von unseren Fixsternen ausgehenden Strahlen gingen nicht in den unendlichen Welten- raum hinaus, sondern erführen an der Grenze des unser Fixsternsystem erfüllenden Aethers eine Reflexion, oder man kann den Raum als endlich annehmen, ihm eine Krümmung zuschreiben, so daß die Strahlen wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Literatur. Populäre Werke: Newcomb- Engelmann, Populäre Astronomie, herausge- geben von Kempf. 1911. — Newcombs Astro- nomie für jedermann, bearbeitet von Sc hör r und Graff. 1910. — Littrow- Weiss, Wunder des Himmels. 1897. — W. Meyer, Das Weltge- bäude. 1S9S. — Scheiner, Populäre Astrophysik. 1908. — lieber die Koordinatensysteme an der Himmelskugel, Präzession, Parallaxe, Aberration, Eigcnbewegnng s. die Lehrbücher der sphäri- schen Astronomie von Brünnow, Herr- Tinter, Chauvenet, de Ball. — Spezial- werke: Müller, Die Photometrie der Gestirne. 1897. — Scheiner, Die Spektralanalyse der Gestirne. 1890. — Kobold, Der Bau des Fixstern- systems. 1906. — See, Researches on the Evo- lution of Stellar Systems. 1896 und 1910. — Fixsternsystem — Flächenmessung 1173 Einige grundlegende Arbeiten : W. Herschelf Pliilos. frans., Vol. 75, 79, 92, 107, 107. — Seeliger, Räumliche Verteilung der Fix- sterne. Abh. d. bayer. Ak. d. Wiss. 1898 und 1909. — Derselbe, Räumliche Verteilung der Sterne im schematischen Sternsystem. Sitzber. d. bayer. Ak. d. Wiss. 1911. — Anding, Kritische Unter- suchungen über die Betvegung der Sonne durch den Weltraum. 1901 und 1910. — L. Boss, Convergent of a moving Cluster in Taurus. Aslron. Journ. 26. — B. Boss, Community of Motion among Several Stars of Large Proper- Motion. Astron. Journ. 27. — Derselbe, Systematic Proper- Motions of Stars of Type B. Astron. Journ. 26. — Kapteyn, Die mittlere Ge- schwindigkeit der Sterne, die Quantität der Sonnenbeivegung und die mittlere Parallaxe der Sterne von verschiedener Größe. Astr. Nachr., Bd. 146. — Verselbe, On the Distribution of Cusmic Velocities. Publ. Astr. Labor. Groningen, Nr. 5. — Derselbe, On the mean Parallax of Stars of determined Proper- Motion and Magnitude. Publ. Astr. Labor. Groningen, Nr. 8. — Eddington, Stellar Distributions and Movements. The Observatory, 1911. O. Knopf. Wir legen ein gewöhnliches cartesisches xy-Koordinatensystem zugrunde und es sei zwischen zwei Punkten A und B (s. Fig. 1) eine Kurve gegeben. Sei es analytisch durch eine Gleichung y=f(x), durch eine größere Anzahl von Punkten, oder fertig gezeichnet, Sind xa und xb die Abszissen der Punkte A und B, so entsteht zunächst die Aufgabe, den Flächeninhalt J zu be- stimmen, der von der Kurve, der x-Achse und den beiden Ordinaten x=xa und x=Xb eingeschlossen wird. Ist y = f(x) die Gleichung der Kurve, die stets als vorhanden angenommen werden kann auch wenn die Kurve anders gegeben ist, so ist die mathematische Formulierung des Problems die Auswertung des Integrals: D J=/f(x).dx Fizeau Armand Hippolyte Louis. Geboren um 23. September 1819 in Paris, ge- storben am 18. September 1896 in Venteuil. Seit 1860 war er Mitglied der Akademie in Paris, seit 1878 Mitglied des Längenbureaus. Seine bekanntesten Forschungen beschäftigen sich mit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichts, wie überhaupt der Untersuchung von Licht- und Wärmestrahlen; gemeinsam mit Foucault veröffentlichte er Messungen im Ultrarot. 1864 konstruierte er ein Dilatometer \ind unternahm damit Messungen der thermischen Ausdehnung der Körper, insbesondere der Kristalle. E. Drude. (wobei f(x) im Intervall A bis B als eindeutig angenommen ist). Es liegt zunächst nahe, das Integral durch eine endliche Summe zu approxi- mieren. Dazu wird das Intervall xa bis Xb in eine gerade Anzahl n gleicher Teile von der Länge h geteilt. Die Abszissen der End- punkte der Teilintervalle seien xa xx x2 . . . Xu— 2 xn— 1 xn, wenn der Einfachheit halber für Xb jetzt x„ geschrieben wird. Die zu- gehörigen Ordinaten der Kurve an den Stellen xa xx x„ seien y0 jx y 2 yn-i yn. Bezeichnet man nun mit z/x ein Inter- vall von der Länge 2h, so erhält man eine Approximation für den Flächeninhalt J, wenn man der Reihe nach die Rechtecke addiert, deren Basis gleich Ax und deren Höhe gleich der Ordinate in der Mitte der Basis An ist. Man hat die Summe zu bilden: J1==.jx . iy1+y3+y„+ - -yn-3+yn-i} wobei also nur über die Vi mit ungeradem Index i zu summieren ist. Flächenmessung. 1. Ausmessung krummlinig begrenzter ebener Figuren: a) Summation der Ordinaten. b) Simpsonsche Regel, c) Auszählen. 2. Plani- meter: a) Allgemeines kinematisches Prinzip, b) Polarplanimeter. c) Schneidenplanimeter Prytz. 3. Ausmessung krummer Oberflächen. 1. Ausmessung krummlinig begrenzter ebener Figuren. ia) Summation der Ordinaten. Der allgemeine Fall einer krummlinig begrenzten Fläche erfordert (so- fern wir zunächst vom Gebrauch von Plani- metern absehen) die Erledigung folgender Der so erhaltene Näherungswert ix ist spezielleren Aufgabe: offenbar zu groß (zu klein), wenn die Kurve 1174 Flächenmessung zwischen den Punkten A und B dauernd nach unten (oben) konkav gestaltet ist. Wechselt die Kurve in dem Intervall aber das Vorzeichen der Krümmung (s. die punktierte Kurve zwischen A und B in Fig. 1), so kann diese Näherung J, recht genau sein. Natürlich steigt die Genauigkeit mit der Anzahl n der Teilintervalle. ib) Simpsonsche Regel. Die als Simpsonsche Regel bezeichnete Methode basiert auf dem Gedanken — eine Eintei- lung in n Teilintervalle wie oben voraus- gesetzt — , die gegebene Kurve durch Stücke von Parabelbögen zu ersetzen, und den hiervon umschlossenen Flächeninhalt J2 streng auszuwerten. Durch einen Parabelbogen ersetzt wird jedesmal ein Teil der Kurve zwischen zwei aufeinanderfolgenden Punkten mit Ab- szissen von geradem Index, also über der Basis der vorher benutzten Rechtecke. Z. B. zwischen den Punkten P (x4 y4) und Q (x6 y„). Die Parabel soll hierbei folgende Bedin- gungen erfüllen: 1. Ihre Achse soll parallel der y-Achse sein. Ihre Gleichung hat daher die Form: jy=a+bx+ex2. Die Analogie mit der Entwickelung einer Funktion in eine Potenzreihe wird dabei evident. 2. Die Parabel soll durch die Kurven- punkte (x4 y4) und (x6 y6) hindurchgehen. Ferner auch durch den mittleren Kurvenpunkt (x5 y.,). Dadurch ist sie bestimmt, hat allerdings an den drei Punkten eine etwas andere Rich- tung als die gegebene y6 Kurve. Der Flächeninhalt unter dem Parabelbogen PQ (s. Fig. 2) besteht nun erstens aus dem Inhalt des Tra- pezes, das aus der Basis jx=\: — x4 und der Sehne PQ gebildet wird. Bezeichnen wir diesen Inhalt des „Sehnen- trapezes" mit S\ so ist bekannten Satze das unter dem Parabelbogen liegende Flächenstück. Um dieses Flächen- stück ist das Sehnentrapez zu vermehren, um den gesamten zwischen dem Parabelbogen und der x-Achse liegenden Flächenstreifen zu erhalten. Dessen Inhalt wird also: j2'=S'+2/3.(T'— S'). Um den gesamten Flächeninhalt J2 zu er- halten, der von den einzelnen Parabelbögen begrenzt wird, sind die einzelnen Sehnen- und Tangententrapeze der Teilintervalle zu summieren. Die Summe S der Sehnentrapeze wird: ,-4+Yn-2 s=^x.|— 2— + -<>- + ...+ + yn-2+yn : d. h. >7o y«h y4 ys o x4 x5 Fig. 2. S'=^x.~-.(y4+y6). Li Die Tangente an die Parabel im Punkte (x5 y5) ist der Sehne PQ parallel und z/x.y5 =T ist der Inhalt des „Tangententrapezes", das unten durch ^x und oben durch diese Tangente begrenzt wird. Die Differenz T'-S' ist der Inhalt des kleinen Parallelogramms zwischen Sehne und Tangente und 2/a hiervon ist nach einem S=zfx. ~ +y2+y4 + . .. -fyn_4+yn-^ +y}. Die Summe T der Tangententrapeze wird: T=*Jx.{yl+y3+ . . . Vn-3 + yn-i]. Der Inhalt J2 wird: J2=S+2/3.(T-S) Meistens findet man den hieraus hervor- gehenden Ausdruck: j2=^.(S + 2T)= J .(yfl + 4y,+ 2y2+4y3+ . . . +2yn-4 + 4yn-3 + 2yn-2 + 4yn-I + yn3 als Simpsonsche Regel angegeben. Es empfiehlt sich jedoch, S und T ge- sondert zu berechnen, da die Differenz • (T— S) einen ungefähren Ueberblick über die Genauigkeit gewährt. Genauere Ueberlegungen zeigen, daß der Fehler der Simpsonschen Regel auf h*_ 180 wo y„" und y,'/' die dritten Ableitungen von y=f(x) am Anfang und Ende des Inter- valls* AB sind. Um eine Kontrolle der Genauigkeit zu gewinnen, verfährt man daher so. daß man das zu messende Intervall zuerst in n Teile von der Breite h teilt und die Rechnung durchführt. Das Ergebnis sei J2. Darauf nimmt man die doppelte Anzahl 2n von Teilintervallen mit der Breite 2 . Ist der Fehler beim ersten Male e, so ver- e (j'o'—Jn') abgeschätzt werden kann, kleinert er sich auf den 16. Teil 16' Gibt die zweite Rechnung als Inhalt J2*, so ist ungefähr der 16. Teil der Differenz (J2— J2*) der Fehler von J,*. Die Rechnung, die bei der Flächenmessung Flächenmessung 1175 auszuführen ist, besteht in der Addition der Werte y. Diese läßt sich bequem durch- führen, sofern die Kurve y=f(x) gezeichnet vorliegt, wenn man sich eines Meßrädchens , „Kurvimeter" genannt, bedient. Dies besteht aus einem kleinen Rade mit ge- eignetem Handgriff und einem Zählwerk, das die Umdrehungen des Rades registriert. Mit diesem Rade werden die Ordinaten in der richtigen Reihenfolge der Reihe nach durchlaufen, worauf ihre Summe am Zähl- werk abgelesen werden kann. Ist ein solches Instrument nicht zur Hand, so empfiehlt es sich, die einzelnen Ordinaten mittels Bleistiftstrichen auf einem genügend langen Papierstreifen hinterein- ander zu markieren und erst die gesamte Länge zu messen. Die Simpsonsche Regel bleibt auch anwendbar bei der Messung von Flächen, die allseitig von krummlinigen Kurven be- grenzt werden. Man zieht eine Schar äqui- dist anter paralleler Geraden über die Fläche und summiert deren Längen in analoger Weise wie vorher. Mitunter ist es vorteilhaft, das Flächenstück mit transparentem Milli- meterpapier zu überdecken, um dadurch ohne weitere Zeichenarbeit die parallelen Geraden zu erhalten. Die Wahl des Abstandes h der Parallel" geraden richtet sich nach den Krümmungs- verhältnissen der Randkurve. Ist deren Ver- lauf ein glatter, so genügt eine größere Inter- vallbreite h. Man muß abschätzen, ob die Approximation der Randkurve durch die Parabelsegmente der Breite 2h eine genügend genaue ist. Es kann auch zweckmäßig sein, einzelne Teile der zu messenden Fläche mit verschiedenen Intervallbreiten zu behandeln. ic) Auszählen. Zeigt die Randkurve einen sehr unruhigen Verlauf, so kommt man bisweilen genauer und schneller zum Ziel, durch ,, Auszählen" des Flächeninhal- tes. Liegt die Kurve bereits auf Milli- meterpapier gezeichnet vor, so teilt man die Fläche zunächst in möglichst große Recht- ecke ein und zählt schließlich die von dieser Einteilung übrig gelassenen Quadratmilli- meter einzeln zusammen, wobei man die unmittelbar an der Randkurve liegenden Quadrate nach Augenmaß als voll rechnet oder wegläßt. Ist die Kurve auf gewöhnlichem Papier gezeichnet, so kann man auszählen, indem man sie mit transparentem Millimeterpapier bedeckt. 2. Planimeter. 2a) Allgemeines kinematisches Prinzip. Die Theorie der Planimeter gründet sich am zweck- mäßigsten auf das Prinzip des von einem in der Ebene frei beweglichen Vektor über- strichenen Flächenraumes (s. Fig. 3). Es sei AB ein Vektor von der Länge p. Dieser werde von einer Anfangslage AB aus in eine unendlich benachbarte Lage AiB, überführt. Diese infinitesimale Verschiebung läßt sich so auffassen, daß der Punkt A des Vektors um ein Stück da nach Ax geschoben M (f-0 Fig. 3. und dazu die Richtung des Vektors um einen Winkel d

+ n . (p2+ r2— 2p . d . cos <5}. Es ließen sich demnach ohne Schwierig- keiten Planimeter bauen, bei denen p2_|_r2 — 2pd.cos (5=0 ist, die also stets den Flächeninhalt an der Rollendrehung ablesen lassen. Eine erhebliche Fehlerquelle kann bei den Polarplanimetern in ungleichmäßiger Be- schaffenheit der Papieroberfläche entstehen, da die Drehung der Rolle hierdurch un- günstig beeinflußt wird. Es sind deshalb Konstruktionen aus- geführt, die diesen Uebelstand vermeiden. Die Auswertung des Integrals /p. sin a.da erfolgt hierbei durch Mechanismen, bei denen nur Metallteile aufeinander rollen und gleiten. Von der großen Anzahl von hierher- gehörigen Konstruktionen sei das „Scheiben- planimeter" und das „Kugelrollplanimeter" (beide von Co r ad i -Zürich) genannt. Instru- mente von sehr großer Genauigkeit. 2c) Schneidenplanimeter Prytz. Einen ganz anderen Gedanken verfolgt die Konstruktion des „Schneidenplanime- ters", die von dem Dänen Prytz herrührt. Auch hierbei ist der Vektor AB durch eine Stange realisiert, die am Ende B einen Führstift trägt. Das Ende A ist als Schneide ausgebildet, in deren Ebene die Stange liegt und die leicht in das Papier hineingedrückt wird (s. Fig. 5). Das In- A B F = -Ö-iVST -■■ V mW : V' I Fig. 14. Kernteilung von Ceratium hirundinella. Nach Lauterborn. Aus Doflein. Fig. 15. Kernteilung von Noctiluca miliaris. Nach C a 1 k i n s. Aus Gurwitsch, laten besitzt nur einen Kern, nur wenige For- men (Multicilia lacustris, die Calonym- phiden) sind während des vegetativen Lebens vielkernig (polyenergid). Die Angehörigen 4. Die Bewegungsorganellen derFlagel- laten. Die Flagellen oder Geißeln sind so- wohl nach ihrer Zahl wie nach ihrer Anord- nung von großer Wichtigkeit für die Syste- matik der ganzen Klasse wie der einzelnen Gattungen und Familien. Sind neben einer großen Geißel noch eine oder mehrere kleinere vorhanden, so spricht man von Haupt- und Nebengeißeln. Nach rück- wärts gerichtete Geißeln werden als Schlepp- geißeln bezeichnet. Es sind das sehr lange, meist ziemlich starre Fäden, die beim Schwimmen nachgeschleppt werden und als Steuer, wohl auch zur Verankerung an andere Gegenstände dienen. Bei der Gat- tung Bicosoeca (Fig. 16) ist die Schlepp- geißel direkt zu einem Stiele umgewandelt, auf dem das Flagellat festsitzt. Meistens finden sich die Geißeln am Vorderende inseriert und werden mit Ausnahme der er- wähnten Schleppgeißeln bei der Bewegung nach vorn gerichtet. Bei einzelnen Gattungen wie Nephroselmis und Protochrysis (Fig. 17) sind sie auf die Seite gerückt, ebenso bei fast der ganzen Gruppe der Dinoflagellaten. Von größter systematischer Bedeutung ist die Insertion der Geißeln im Körper. 1?. „. ,. Nach Schaudinn, Prowazek und Hart- Laguter6b. ^SpglXl ^^^1^ um " I ---\ Gammen die Geißeln genetisch vom wandelt. 1 Geißel 2 Gehäuse, 3 pulsierende ! Kern ,bezw- Zentnol ab, und es lassen sich Vakuole, 4 kragenartiger Saum. 5 Kern. Nach nach letzterem auf Grund der Genese und Lauterborn. Aus Lang. (Insertion 4 Typen aufstellen. Flagellata 1185 Der erste einfachste Typus ist der, daß die Geißel direkt vom Zentriol ausgeht. In diesem Fall kann die Genese einfach als eine heteropole Teilung des Zentriols (gleichgültig ob es im Binnenkörper oder Außenkern lokali- siert ist) aufgefaßt werden, wobei die Zentrodesmose des auseinanderrückenden Tochterzentriols direkt zur Geißel wird (Fig. 18, 1). DieserTypus kommt haupt- sächlich bei den Rhizo- mastiginen vor.ist aber auch gelegentlich bei Spongo- m onas beobachtet worden, wo die Geißeln direkt von den Zentriolen während der Mitose auswachsen (Fig. 34b). Bei dem zweiten Typus der Geißelinsertion entsteht durch die hetero- pole Teilung desCaryosoms zunächst ein Basalkorn, das häufig durch eine Zentrodesmose (in diesem Falle Rhizoplast genannt) noch verbunden ist. Durch Teilung des Basalkornes Fig. 17. Proto- chrysis phaeo- phycearum. Nach Pascher. mit dem Kern eine nochmalige entsteht dann die Rhizoplast kann oder tedweise den. Bei der Geißel später wieder Teiluns; (Fig. oder 18, 2). früher eingeschmolzen geht wer- ein- dem den neuge- Der bei den fachsten Formen die Geißel mitsamt Basalkorn verloren, um dann von beiden Tochterkernen aus wieder bildet zu werden. Bei den höheren Formen kann das Basalkorn vom Kerne unabhängig werden (durch Einschmelzung des Rhizo- plasts) und sich selbständig teilen (Cyatho- monas usw.). Ja es kann sogar bei der Kernteilung die führende Rolle spielen und als Zentriol der Kernspindel funktionieren, wie das beim vierten Kerntyp (s. Fig. 13) schon erläutert wurde. Die alten Geißeln werden hierbei von dem einen Tochtertier über- nommen (eventuell auf beide unregelmäßig verteilt) und in dem anderen vom Basalkorn wieder neugebildet. Dieser zweite Typus der Geißelinser- tion ist der am weitesten ver- breitete. Er findet sich bei sämtlichen Protomonadinen, Polymastiginen, Chromomonadinen Phytomonadinen. Von besonderem Interesse ist der dritte Typus des Geißelbaues der Flagellaten, der Rhizoplasten mit dem Caryosom eines Kernes in Verbindung steht. Dieser Kern ist aber nicht wie im ersten Falle der einzige Hauptkern, der dem ursprünglichen Kern der Flagellaten entspricht, sondern ein be- sonderer vom Hauptkern unabhängiger Geißelkern (Kinetonukleus oder Blepharo- plast) (Fig. 18, 3). Wie Schau dinn zuerst gezeigt hat, entsteht nach der Befruchtung aus dem einen Kern durch heteropole Mitose an dem großen Pole der Hauptkern, am kleineren dieser zweite lokomotorische Kern (s. Artikel „P r 0 t 0 z 0 a" Fig. 12). Die Bildung des Geißelkernes geschieht somit durch die erste heteropole Mitose, bei der jedoch beide Abkömmlinge dauernd ihren Kerncharakter bewahren, während beim zweiten Typus das eine Teilprodukt bis auf das Zentriol (Basalkorn) reduziert ist. Von dem Geißelkern aus wird dann in derselben Weise wie beim zweiten Typus vom ur- sprünglichen Kerne aus die Geißel durch zwei heteropole Mitosen mit reduzierten Zentren gebildet, so daß in diesem Falle die Geißel erst das Produkt der dritten Teilung darstellt. Bei der Teilung teilt sich der Geißelkern und der Hauptkern ge- sondert durch Mitose, die alte Geißel wird von dem einen Tochtertier übernommen, während in dem anderen vom Kinetonukleus eine neue gebildet wird. Auch der vierte Typus der Geißelbildung ist wohl auf eine dreifache Teilung des loko- motorischen Zentrums zurückzuführen, je- doch mit dem Unterschiede, daß schon die erste Teilung nur einen reduzierten Kern, ein Basalkorn liefert (Fig. 18, 4). Die Genese dieses Typus ist noch nicht klar gelegt. Die Geißel entspringt in diesem Falle wie im zweiten und dritten von einem Basalkorn, das 1 2 3 4 Fig. 18. Schema der Geißelinsertion bei den Flagellaten. und aber im Innern des Körpers durch eine Fibrille (Zentrodesmose) mit einem tief im Plasma liegenden zweiten Basalkorn ver- bunden ist. Der ganze Geißelapparat ist sich nur bei den Binucleaten (Trypanosomen wie beim dritten Typ vollkommen vom Kerne und Verwandten) findet. Hier entspringt unabhängig und wird bei der Fortpflanzung wie beim zweiten Typus die Geißel von einem von dem einen Tochtertier übernommen, Basalkorn, das seinerseits häufig durch einen während das andere nach Teilung des Basal- Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 75 1186 Flagellata körpers von diesem aus sich einen neuen Geißelapparat bildet. Der Geißeltyp kommt bei den Euglenoideen eventuell auch bei Chilomonas vor. Die hier vorgetragenen Auffassungen von der Genese des Geißelapparates der Flagel- laten sind noch nicht allgemein anerkannt und es muß zugestanden werden, daß bei der großen Schwierigkeit der Aufklärung dieser kleinen Verhältnisse manches noch nicht sicher erwiesen ist. Das gilt besonders für die Entstehung des vierten Geißeltypus, während andererseits die Entstehung des zweiten und dritten an einigen, wenn auch wenigen Beispielen sicher nachgewiesen ist. Der Vorteil unserer Auffassung liegt vor allem darin, daß sie gestattet alle vorliegenden Beobachtungen in einfachster Weise einheit- lich zu verstehen. Auch Bau und Funktion der Geißeln erklärt sich leicht aus der hier allgemein an- genommenen Art ihrer Entstehung. Bei der heteropolen Teilung des Zentriols entsteht eine Zentrodesmose, ein langer elastischer Faden (Gelfaden), der gegen die Zelloberfläche wächst und diese in einen dünnen Ueberzug aus- stülpt. Soweit dieser Gelfaden im Innern des Flagellaten körpers verläuft, wirkt er als festes formgebendes Element wie die Achsenstäbe, die nichts anderes sind als nicht freiwerdende ganz im Innern der Zelle verlaufende Zentrodesmen. Wird die Fibrille jedoch länger, so daß sie die Oberfläche zu einem dünnen Ueberzug mit auszieht, so wird sie zur Geißel, der Bewegungsorganelle. Letztere besteht also aus einer (oder mehreren) festen elastischen Fibrillen und einem dünnen Ueberzug aus flüssigem Protoplasma. Ein solcher Bau ist für einige größere Geißeln Bütschli, Prowazek u. a. nach- ziehe Artikel ,,P r o t o z o a" 5). Die dünne Protoplasmaschicht besitzt eine relativ große Oberfläche und reagiert daher sehr leicht und kräftig auf Aenderungen der Oberflächenspannung, sei es, daß dieselben aus dem umgebenden Medium stammen oder aus der Zelle selbst, wo sie durch Stoffwechselprozesse an den Verankerungsstellen der Geißeln, den Kernen oder Basalkörnern hervorgerufen werden können. Der dadurch ausgelösten Proto- plasmaströmung wirkt die elastische Fibrille als Antagonist entgegen, so daß aus dem Zusammenwirken beider die schwingende Bewegung der Geißeln resultiert. Durch verschiedene Ausbildung der Fibrillen und Vei wendung mehrerer Fibrillen in bestimmter Anordnung kann dann die Bewegung einer Geißel in ganz bestimmt geordneter Weise zustande kommen. Wächst eine Geißelfibrille von einem tiefer im Plasma gelegenen Basalkorn oder Kinetonukleus aus nicht direkt aus der Ober- fläche heraus, sondern parallel zur Längs- achse der Zelle knapp unter der Oberfläche hin, so entstehen sogenannte ondulierende Membranen, die bei der Bewegung dünne Protoplasmalamellen aus dem Körper heraus- ziehen. Sie finden sich nur bei parasitischen Formen. Undulierende Membranen können auchnochin anderer Weise durch Verschmelzen einer Schleppgeißel mit dem Körper zustande kommen (Trypanoplasma und Tricho- monas). Viele Flagellaten können auch zeitweilig auf festen Unterlagen kriechende Bewegungen ausführen und zwar nackte Formen mit Hilfe von Pseudopodien, andere mit Hilfe der Schleppgeißel oder metabolischer Kon- traktionen. Die Geißeln können auch zeit- weilig vollkommen verloren gehen, so daß die Formen ganz nach Art von Amöben leben. Derartig amöboide Formen finden sich nicht nur bei Rhizomastiginen, sondern auch gelegentlich bei niederen Protomo- nadinen und, wie Scherffel und Pascher neuerdings gezeigt haben, ziemlich häufig bei Chrysomonaden. Bei letzteren kommen bemerkenswerterweise sowohl lobose und filose als retikulose Pseudopodien mit Körnchenströmung vor. von gewiesen Fig 5. Fortpflanzung, Befruchtung und Entwickelung. Die Fortpflanzung (vgl. auch den Artikel,, Fortpflanzung") findet fast allgemein bei den Flagellaten durch Zweiteilung im freibeweglichen Zustand statt, seltener durch ein- oder mehrfache Teilungen innerhalb von Cysten. Bei allen Euflagel- laten handelt es sich dabei um Längsteilung (Fig. 19), bei den Dinoflagellaten meist um Querteilung. In den Fällen, in denen bei Eu- flagellaten Querteilungen beschrieben sind (meist Gehäuse besitzende Formen), liegen nur scheinbar solche vor, da hier während der Teilung eine Drehung der Tiere um 90° innerhalb des Gehäuses oder der alten Pellicula stattfindet. Der Körperteilung geht die Teilung des Kernes (eventuell auch der Basalkörper) voran. Genaueres über das Verhalten des Geißelapparates bei der Teilung wurde schon oben mitgeteilt. Zell- mund und kontraktile Vakuole werden in der Regel von dem einen Tochtertier über- nommen und in dem anderen im Plasma neu- gebildet. Die Chromatophoren und, wenn solche vorhanden, die Pyrenoide vermehren sich dagegen, soweit bekannt, nur durch Teilung und werden bei der Durchschnürung des Körpers dann mit verteilt. In einzelnen Gruppen kommen speziell bei parasitischen Formen (Binucleaten und Hypermastiginen) auch multiple Teilungen (Schizogonien) vor (Fig. 20). Bei N 0 c t i 1 u c a findet sich eine multiple Knospung (genaueres s. S. 1225). Flagellata 1187 Befruchtungsvorgänge sind bei Flagel- laten ziemlich selten nachgewiesen; nur bei den Phytomonaden (Volvocales) finden sich und können allgemein Befruchtungsakte durch Prowazek bekannt. Hier encystiert sich ein einziges Individuum. Die Produkte der ersten Kernteilung rücken auf gegenüber- liegende Seiten, bilden durch zwei weitere ab c Fig. 19. Längsteilung von Cyathomonas fcruncata. Nach Hartmann und Chagas. jederzeit leicht beobachtet werden. Hier- Teilungen je zwei zugrundegehende Reduk- bei treffen wir alle Uebergänge von isogamer tionskerne und verschmelzen dann mitein- Hologamie bis zu Merogamie und Oogamie (vgl. den xVrtikel „Algen"). Der einfachste Fig. 20. Multiple Teilung von Try- panosoma lewisi. Nach Wa siele wski und Senn. Befruchtungsvorgang bei den übrigen Flagel- laten ist von Dobell bei der Euglenoidee Copromonas nachgewiesen (Fig. 21). Es kopulieren zwei erwachsene Individuen (iso- game Hologamie), wobei die Kerne. durch zwei Teilungen sich reduzieren und die Re- duktionskerne im Plasma der Gameten resor- biert werden. Unter Verlust der Geißel encystiert sich dann die Zygote. Bei Protomonadinen (resp. Chrysomonaden) ist eine entsprechende Befruchtung von Pro- wazek und Martin für Monasarten be- schrieben, während bei Bodo lacertae Prowazek eine leicht anisogame Hologamie beobachtet hat, wobei in der Cystozygote nachher eine mehrfache metagame Teilung stattfindet. Auch für Trypanosomen ist ähnliche anisogame Kopulation angegeben, aber noch nicht ganz sichergestellt und viel- fach angezweifelt. Bei den Endgliedern der Binucleatenreihe, deren b m h Ö zu Zugehörigkeit den Flagellaten aber vielfach noch bestritten extreme Fig. "21. Hologame Kopulation Co pro monas*subl ilis Dobell. Aus Doflein. (isogam) von Nach Dobell. wird, findet sich dagegen eine Oogamie (Näheres s. S. 1205). Auch eine typische Autogamie ist unter den Flagellaten beiTrichomastix lacertae ander (Fig. 22). Bei Dinoflagellaten hat Dubosq neuerdings eine Merogamie be- obachtet (über die eventuelle Merogamie 75* 1188 Flagellata bei Ehizomastiginen und Trichonymphiden s. unten S. 1189 u. 1210). Die aus früherer Zeit stammende Angabe einer Konjugation bei Noctiluca (Cystoflagellate) mit folgender multipler Knospung ist der Nachprüfung bedürftig, und es werden sich wahrschein- lich dabei die aus der letzteren hervorgehen- d e f Fig. 22. Autogamie bei T r i c h o m a s ti x 1 a c e r t a e. a und b erste Kernteilung, und Auseinander- rücken der Kerne um den Glykogenkörper, c und d Reduktionsteilungen, e Aufeinanderrücken der Gametenkerne, f Zygote mit Synkaryon. Nach Prowazek. Aus Hartmann. den Schwärmer als Gameten erweisen, es wird also wie bei Dinoflagellaten eine Mero- gamie vorliegen. In der Regel sind bei den Flagellaten die Fortpflanzungs- und Befruchtungsvor- gänge nur lose verknüpft, so daß kein fest- gelegter Generationswechsel zustande kommt. Nur bei einigen Formen (speziell Parasiten) mit komplizierterer Vermehrung (Schizogo nie, spezifische Gametenbildung und besondere metagame Fortpflanzung) kommt es durch extreme Anpassung verschiedener Ver- mehrungsweisen an besondere biologische Verhältnisse zu einem solchen, der meist durch Verbindung mit einem Wirtswechsel noch weitere Komplikation erfährt. B. Systematischer Teil. I. Subklasse Euflagellata. Während die Dino- und Cystoflagellaten einheitliche hoch spezialisierte Gruppen dar- stellen, die sich gut charakterisieren und scharf abgrenzen lassen, bieten dieEuflagellaten oder Flagellaten im eigentlichen Sinne den denkbar größten Formenreichtum mit extremer Ver- schiedenheit der inneren und äußeren Organi- sation und Lebensweise. Beschaffenheit der Oberfläche, Organisation der Stoff- wechselorganellen (Schlund, Vakuolen, Chro- matophoren usw.), Kern- und Geißelapparat weisen fast sämtliche innerhalb der ganzen Klasse der Flagellaten vorkommenden Mög- lichkeiten auf, so daß zur Gesamtcharakte- ' ristik der Subklasse Euflagellaten nur die allgemeinen Charaktere der Klasse heran- ] gezogen werden können. Die einseitig differenzierte Ausbildung der Organisation, wie bei Dino- und Cystoflagellaten fehlt noch, dagegen finden sich bei den einzelnen Grup- pen, die zueinander vielfach deutliche Be- ziehungen aufweisen, mannigfaltige Wege in der Entwickelung eingeschlagen. Trotz dieser Sachlage gelingt es, auf Grund der Organisation von Kern und Geißelapparat, sowie der sonstigen Organellen, vor allem der Oberflächenbeschaffenheit und der Stoff- wechselorganellen (Schlund, Chromato- phoren usw.), die Formen in ein einigermaßen natürliches System einzureihen. Wir teilen die Euflagellaten in folgende Ordnungen: i. Rhizomastigina Bütschli. 2. Protomonadina Blochmann em. Hart- mann und Chagas. 3. Binucleata Hartmann. 4. Hypermastigina Grassi. 5. Chromomonadina Klebs. a) Chrysomonadina Stein. b) Cryptomonadina Stein. 6. Chloromonadina Klebs. 7. Euglenoidina Stein em. Klebs. 8. Phytomonadina Bütschli. Diese Einteilung stellt einen weiteren Ausbau des Systems von Klebs dar, wie es Hartmann und Chagas speziell unter Berücksichtigung der Cytologie vorgeschla- gen haben. In den Hauptpunkten stimmt es mit dem System von Senn überein, der mehr unter Berücksichtigung der Oberfläche und der Stoffwechselorganellen eine Revision vorgenommen hatte. Die wichtigsten Ver- änderungen betreffen die schon von Bütschli angenommene Aufstellung einer besonderen Ordnung (Rhizomastigina Bütschli) für die Mastigamöben, die Zusammenziehung der beiden Ordnungen der Protomonadina und Polymastigina als Protomonadina und die Abtrennung der Trypanosomen und Verwandten von den Protomonadinen und ihre Zusammenziehung mit einem Teil der früher zu den Sporozoen gerechneten Hämo- sporidien als Binucleata. Dem Vorschlage Grassis folgend sind zudem noch die hoch- komplizierten parasitischen Flagellaten aus Termiten usw., die bisher meist als Tricho- nymphiden bezeichnet und den Flagellaten nur als Anhang angereiht wurden, als beson- dere Ordnung Hypermastigina hinzu- gefügt. Die 4 ersten Ordnungen besitzen eine rein animalische oder parasitische Lebens- weise und haben nie Chromatophoren, die letzten ernähren sich ausschließlich oder Flagellata 1189 vorwiegend nach Art der Pflanzen. Die Phytomonadina führen in lückenloser Ent- wickelung zu den Grünalgen über und finden in die- sem Handbuch im Artikel „Algen" ihre Fig. 23. Mastigamoeba aspera F. E. Schulze. Nach F. E. Schulze. Aus R. Hertwig. Darstellung. i. Ordnung Rhizomastigina Bütschli. Die Rhizo- mastiginen sind charakterisiert durch eine voll- kommen nackte Oberfläche und die damit verbun- dene Fähigkeit sich durch Ausbildung von Pseudopodien nach Art der Amöben zu bewegen und Nahrung aufzunehmen, sowie durch den gleichzeitigen Besitz von Geißeln. Die ganze Gruppe ist nichts weniger als einheit- lich; nur ganz wenige Formen sind genauer untersucht, so daß weitere Forschungen hier erst Aufklärung und Ordnung schaffen werden. Meist handelt es sich um Amöben mit einer Geißel, doch sind auch zwei- und drei- geißelige Formen beschrieben. Die Geißel wird beim Kriechen bald nach vorn gerichtet, bald nachgeschleppt, bald dient sie zum Schwimmen, bald ist sie nur als Tastorgan ausgebildet und das Tier bewegt sich nur amöboid. Vielfach steht sie mit dem Kern in direkter Beziehung (Fig. 23), d.h. entspringt , direkt aus dessen lokomotorischer Kompo- nente; bei anderen Formen wird völlige Unab- hängigkeit von dem Kern angegeben. Die Pseudopodien werden beim Schwimmen ent- weder beibehalten oder aber eingezogen. ©*7 Fig. 24. Zeugungskreis von Mast.igella vitrea Gold seh m. 1 vegetatives Individuum. 2 das- selbe fressend, 3 dasselbe schwimmend, 3a und b Vermehrung, 4a bis 9a Makrogameten - bildung, 4b bis 9b Mikrogametenbildung, .10 bis 11 Kopulation, 12, 12a und 12b metagame Vermehrung, 13 und 14 Wachstumstadien. Nach Goldschmidt. Aus Doflein. 1190 Flagellata Manche Arten weisen beim Schwimmen eine ganz bestimmte Gestalt ani'. Charakteristisch für mehrere Arten ist das Vorkommen von Klebkörnern, dentoplasmatischen Gebilden von verschiedener Form, denen eine Bedeutung bei der Bewegung und der Bewältigung der Beute zukommt. Außerdem finden sie auch Verwendung bei der Bildung der Cystenmem- bran. Der Kern ist bei kleineren Formen ein einfacher Caryosom- oder Pseudocaryosom- kern, bei größeren ist der Kernbau kompli- zierter und bildet eine Mitose mit distinkten Chromosomen. Die Fortpflanzung geschieht durch Teilung im amöboiden Zustande. Von zwei großenFormen(Mastigina setosa und Mastigella vitrea) ist von Goldschmidt eine komplizierte Entwickelung beschrieben worden mit Bildung von vielen Mikro- und Makrogameten innerhalb verschiedener Cysten und nach der Kopulation folgender besonderer metagamerVermehrung(Fig. 24). DieGameten- kerne sollen dabei aus Chromidien im Proto- plasma der Gameten entstehen und der eigentliche Kern soll als somatischer Kern zu- grunde gehen (s. Fig. 24, -i bis <>). Falls es sich hier nicht um eine Verwechselung mit Para- siten handelt, so müssen wir in diesen Arten Endglieder einer langen Entwickelung sehen ; doch besteht kein Grund, sie dieser Entwicke- lung wegen von den Flagellaten zu trennen und den Rhizopoden anzureihen Die Systematik der noch sehr im argen. Cytologisch Arten untersucht. Im folgenden seien einige in loser Aneinanderreihung be- schrieben. liegt nur wenige Rhizomastiginen sind Gattung Mastigamoeba F. E. Schulze. Rhizomastiginen mit einer direkt vom Kern entspringenden Geißel und meist deutlicher Sonderling von Ekto- und Ento- plasma. Die Oberfläche ist oft mit feinen Borsten besetzt. Mastigamoeba asper a F. E. Schulze (Fig. 23). Gattung Mastigella vitrea Goldschmidt (Fig. 24). Der Körper dieser Form ist voll- kommen durchsichtig. Die Geißel ist über körperlang, kann aber in eine röhrenartige Scheide zurückgezogen werden und ist dann borstenartig. Sie wird nicht zum Schwimmen benutzt. Ueber ihre Genese ist leider nichts bekannt. Die Kernteilung ist mitotisch. Stäbchenartige Klebekörner sind vorhanden. Größe bis 150 ju. Auch für diese Form gibt Goldschmidt eine komplizierte geschlecht- liche Entwickelung an (s. oben Fig. 24). Mastigina Frenzel. Formen mit einer aus dem Kern ent- springenden Geißel. Eine dicke Pellicula vor- handen. Körper walzenförmig, ohne finger- förmige Pseudopodien, Bewegung rollend. Mastigina setosa Goldschmidt. Die Körperoberfläche dieser Form ist dicht mit langen Borsten besetzt, die die dicke Pellicula durchbohren und im Ekto- plasma mit einem Knopf endigen. Sie sollen durch Auswachsen der Klebekörner entstehen. Größe bis 140 //. Geschlechtliche Prozesse wurden von Goldschmidt angegeben. Gattung Mastigella Frenzel. Stark amöboide Formen mit einer oder mehreren Geißeln, die frei im Plasma endigen, ohne in Beziehung zum Kern zu treten. N H- ' -'•- .J*~> Fig. 25. Cercobodo spez a vegetativ, b aus Rio de Janeiro. Teilung. Original. Gattung Cercobodo Krassilstschick. Amöbenartige Organismen mit zwei Gei- ßeln, von denen die eine zum Schwimmen, die andere als Schleppgeißel dient. Die Geißeln Flagellata 1191 entspringen von zwei direkt der Kernmem- bran innen anliegenden Basalkörnern, die zu- gleich die Zentriolen sind (Fig. 25). Im frei- schwimmenden Zustand besitzt Cercobodo gestreckte Gestalt, ohne Pseudopodien. Gattung Wasielewskia n. g. Kleine, in ihrer systematischen Stellung nicht ganz klare Formen. Sie leben den größten Teil ihres vegetativen Zustandes als amöbenartige Organismen ohne Geißeln und sind dann von echten Vahlkampfien (s. den Artikel „Rhizopoda") nicht zu unterscheiden. Nur vorübergehend und auf kurze Zeit bilden sie Flagellatenstadien mit 2 Geißeln. Die Kernteilung verläuft nach dem ersten Typus, wie er sowohl bei Protomonadinen wie auch bei Vahlkampfien üblich ist. Die Geißelinsertion ist die des zweiten Typus, es entspringt also die Geißel von einem Basalkorn, das mit dem Caryosom des Hauptkerns zuweilen durch einen Rhizo- plasten verbunden ist. Die Vermehrung findet nur im Amöbenzustand statt. Ge- schlechtliche Vorgänge sind nicht bekannt. Vielleicht handelt es sich hier richtiger um rückgebildete Protomonadinen. Gattung Trimastigamoeba Whitmore. Aehnlich wie die vorige Gattung, jedoch mit 3 Geißeln. Trimastigamoeba phi- lippinensis Whitmore (Fig. 26). Im Flagellatenzustand länglich oval mit etwas zugespitztem Vorder- und breitem Hinter- ende. Eine dritte Geißel als Schleppgeißel. Fig. 26. Trimastigamoeba philippensis Withmore. Nach Withmore. Zu den Rhizomastiginen werden ferner vielfach noch eine Anzahl Gattungen gestellt, deren Natur jedoch nicht aufgeklärt ist, so die Gattung Multicilia mit zahlreichen über die ganze Oberfläche verteilten Geißeln, ferner die Gattungen Pteridomonas und Actinomonas, erstere mit einem Kranz von einrollbaren, borstenartigen Cilien (?) an der Basis der einen Geißel, letztere mit feinen strahlenförmigen Pseudopodien. Diese drei Gattungen stehen wohl in keiner näheren Be- ziehung zu den typischen Rhizomastiginen; die beiden letzten erinnern noch am meisten an gewisse Rhizopodien aufweisende Chryso- monaden. Die meist ebenfalls zu den Mastigamöben gezählte zweigeißelige Dimorpha mutans Gruber ist ihrer ganzen sonstigen Organi- sation nach eine typische Heliozoe und stimmt nach eigenen gelegentlichen Beobachtungen cytologisch vollkommen mit Acantho- cystiden überein. 2. Ordnung Protomonadina Blochmann em. Hartman n und Chagas. Die Protomonadinen stellen eine Gruppe kleiner und kleinster Formen dar. Sie be- sitzen sämtlich den zweitenTyp der Geißelinser- tion, d. h. die Geißeln entspringen von einem oder mehreren Basalkörnern, die mit dem lokomotorischen Zentrum des Kernes, zu dem sie in genetischer Beziehung stehen, durch einen Rhizoplasten verbunden sein können. Sie gehen vielfach bei der Teilung zu- grunde und werden dann wieder neu ge- bildet. Bei den höheren Formen bleiben sie jedoch erhalten, werden mitverteilt und vom Basalkorn aus ergänzt. Letztere teilen sich dabei selbständig, ja sie können direkt als Tei- lungszentren des Kernes fungieren (Monas termo, Trichomonas). Auch im Kernbau weichen diese Formen etwas ab. Während wir im allgemeinen bei den Protomonadinen den ersten Kerntypus haben, zeigen dieTrichomo- naden den vierten Typus (vgl. Fig. 13). Die Nahrungsaufnahme findet nur an be- sonders ausgebildeten Mundstellen statt; sie wird zuweilen durch Schlund- oder Kragen- bildungen unterstützt. Kontraktile Vakuolen sind in Ein- oder Zweizahl vorhanden. Die Pellicula ist zart und gestattet manchmal noch amöboide Bewegungen. Weit verbreitet sind Gehäuse- und Gallertausscheidung, ebenso Koloniebildung. Bei manchen dieser Formen dient die Schleppgeißel zum Fest- halten im Gehäuse; undulierende Membranen kommen bei parasitischen Formen vor. Chromatophoren finden sich in der ganzen Ordnung nicht. Der großen Mehrzahl der Protomonadinen mit einfachem Bau steht eine Anzahl von Formen gegenüber, die eine eigentümliche Doppelbildung zeigen. Sie besitzen sämtliche Zellorganellen mit Einschluß des Kernes doppelt (Familie Distomatidae). Die Formen werden daher als diplozoe Protomo- nadinen sämtlichen übrigen Familien als monozoen gegenübergestellt. Senn trennt sie sogar als besondere Ordnung von den Protomonadinen ab. Da sie jedoch cyto- logisch sowie in der sonstigen Ausbildung der Organellen sich (mit Ausnahme der Doppelnatur) von den Protomonadinen in nichts unterscheiden, ziehen wir ihre Ein- reihung bei diesen vor. Die weitere syste- 1192 Flagellata a. monozoa. 1. Cerco- monadidae. 2. Craspedo- monadidae. 3. Monadidae. ® 5. Arnphi- monadidae. 6. Trimasti- gidae. 7. Tetramiti- dae. matische Gliederung findet auf Grund der resp. Bildung von Pseudopodien. Die Basal- Zahl und Art der Geißeln statt und ist am körner stehen durch einen Rhizoplast mit besten aus nachfolgendem Schema (Fig. 27) dem Caryosom des typischen Caryosomkernes zu ersehen: in Verbindung. Ruhecysten vorhanden, Sexualität unbekannt. Gattung Cercomonas Duj. em. Hartmann und Chagas, Formen mit langausgezogenem Hinter- ende, das durch einen vom Caryosom aus- gehenden Achsenstab bedingt ist. Cercomonas parva Hartmann und Chagas (s. Fig. 1 S. 1179). Bis 20 jli große Form; Körper verhältnismäßig stark amöboid. Bei der Teilung, die sehr primitiv verläuft, werden Achsenstab und Geißeleingeschmolzen. Die Geißel wird dann vom Kern (Zentriol) aus neu gebildet, während der Achsenstab wahrscheinlich die erhalten bleibende Zentro- desmose zwischen den beiden Tochterkernen ist. 2. Familie Craspedomonadidae Stein. Sehr kleine Monas - ähnliche Flagel- laten. Am Vorderende besitzen sie 1 oder 2 geschlossene protoplasmatische Kragen, die der Nahrungsaufnahme dienen; die Nahrung wird an der äußeren Basis des Kragens von einer Empfangsvakuole aufgenommen; die Defäkation findet durch den Kragen statt. Die Pellicula ist auch hier sehr zart und erlaubt zuweilen amöboide Bewegung. Die Kern- und Geißelverhältnisse sind die- selben wie bei den andern einfachen Proto- monadinen (Fig. 27). Zum Teil sind die 4. Bodonidae. b. diplozoa. 8. Distoniatidae. Fig. 27. Schema der Familien der Proto- monadinen. a) monozoa. i. Familie Cercomonadidae Kent em. Bütschli. Eingeißelige Formen von ovaler oder länglicher Gestalt, Nahrungsaufnahme am Vorderende, doch ist kein Schlund ausgebildet, sondern die Aufnahme erfolgt durch Vakuolen- bildung an der Geißelbasis oder durch Pseudopodien. Die Pellicula ist sehr zart und erlaubt daher weitgehende Metabolie Fig. 29. Diplo- sigopsis entzii France. Nach France. Aus Lau er Fig. 28. Monosiga ovata. Nach Hart mann und Chagas. Craspedomonadiden freischwimmende, zum Teil festsitzende Formen. Koloniebildung und Bildung gelatinöser oder chitiniger Ge- häuse ist sehr häufig. Die Teilung ist wie bei allen Euflagellaten eine Längsteilung; Flagellata 119c Kragen der Länge bei ihr wird auch der nach durchgeschnürt. Die Einteilung erfolgt nach der Anzahl der Kragen und der Bildung von Gehäusen und Kolonien. Als Beispiel seien genannt: Monosiga ovata S. K. Mit oder ohne kurzen protoplasmatischen deutender Befähigung zur bildung (Fig. 28). Diplosigopsis entzii France (Fig. 29), ebenfalls einzellebende Form mit 2 Kragen und chitinigem Gehäuse. Polyoeca dichotoma Kent; kolonie- bildende Form mit Gehäuse. Stiel mit be- Pseudopodien- Augenfleck, zuweilen Leukosin als Stoff- wechselprodukt. Diese Formen (vielleicht die ganze Familie) sind wohl farblos gewordene Chrysomonadinen, mit denen sie auch im Bau ihrer Cysten (Fig. 31) übereinstimmen (Scherffell). Für Monas vivipara und Monas termo ist bei der Cystenbildung Kopulation beobachtet, eine isogame Holo- gamie. Die Zellen sind nackt oder scheiden eine schleimige Hülle aus, Koloniebildung auf gallertigen Stielen. Gattung Monas Stein. Nackte einzellebende Flagellaten mit Fig. 31. Kopulationscyste von Monas termo. Nach Martin. Fig. 30. Monas termo Ehr. Teiluiigsstadien. Nach Martin. 3. Familie Monadidae Stein em. Senn. Einzeln oder zu Kolonien vereinigte Flagellaten mit einer langen Hauptseißel am Vorderende, neben der meist 1 oder 2 kleine Nebengeißeln sich finden. An der Geißelbasis befindet sich eine Mund- stelle zur Aufnahme geformter Nahrung; über dieser Mundstelle zuweilen noch ein kurzer lippenartiger Fortsatz. Geißelinser- tion und Kern Verhältnisse liegen meist wie bei den bisher besprochenen Familien. Doch kommt hier auch schon eine abgeleitetere Form des Kernbaues und der Geißelinsertion vor. Dabei liegt die lokomotorische Kern- komponentenichtimCaryosom, sondern findet sich in Form einer Platte an der an dieser Stelle zu einem Fortsatz ausgezogenen Kern- membran (Monas gelatinös a, nach Nag- le r) oder aber das Basalkorn fungiert als Zentriol bei der Kernteilung (Monas [Oico- monas] termo, nach Martin; Fig. 30). Bei manchen Formen findet sich ein roter schwach amöboidem Körper; am Hinterende öfter ein fadenförmiges Pseudopodium, mit dem sich die Zelle festsetzt, einzeln und koloniebildend. Monas termo Ehrenb. Körper oval bis kugelig, 0 bis 9 pt groß, am Vorder- ende lippenartig vorgezogen. Eine Geißel an der Basis der Lippe entspringend. Teilung und Copulation siehe oben. In verschmutzten Gewässern häufig. Monas vivipara Ehrenberg, einzel- lebend und freischwimmend. Besitzt einen roten Augenfleck und eine schleimige Hülle. 1 Haupt- und 2 Nebengeißeln. Gattung Anthophysa Bony. Koloniebildend auf biegsamen, meist braun gefärbten Gallertstielen. Bei einer Art der Gattung (Anthophysa stein i i) findet sich ein Augenfleck. Bei starker Beleuchtung lösen sich die Kolonien von den Stielen und schwimmen frei umher. 1194 Flagellata Anthophysa vegetans 0. F. M. Köpfchenförmige Kolonien (Individuen mit 1 Nebengeißel) auf verzweigten Gallert- stielen. 4. Familie Bodonidae Bütschli. Die Familie ist in letzter Zeit sehr umstritten worden. Neuere cytologische Arbeiten zeigten nämlich, daß unter dem Namen Bodo bisher zwei verschiedene Flagel- laten zusammengefaßt waren. Einmal echte Bodoarten mit einem einzigen Kern, dann aber auch äußerlich ganz ähnlich aussehende Arten, die sich jedoch von den ersteren durch den Besitz eines zweiten Kernes, des Geißel- kernes, scharf unterscheiden. Für die letzteren Formen wurde die Gattung Prowazekia neu geschaffen und der Ordnung der Binu- cleaten eingefügt. Diese Einteilung ist noch nicht von allen Forschern angenommen, kann aber nach den bisherigen Untersuchungen als gesichert gelten. Andere Forscher, z. B. Doflein, erkennen die Berechtigung der facher plasmatischer Fortsatz ist ist die bisher als 3- oder angesehene parasitische Costia einzureihen. Dagegen 4-geißliche Form wohl hier Gattung Bodo Stein. Bodo lacertae Grassi (Fig. 32). Die Form ist im Enddarm der Eidechsen regel- mäßig in großer Zahl anzutreffen. Sie besitzt eine lanzett- oder keil- förmige Gestalt und der hintere Abschnitt ihres Körpers ist von rechts nach links zu einer halben bis ganzen Spirale gedreht. Sie kommt in 2 Typen vor: einem mehr schlanken mit bläschenförmigem neuen Gattung zwar an, lassen sie aber zu- sammen mit einem Teil der übrigen zwei- Kern und einem kernigen Formen in der Familie der Bodoni- den. Es ist aber wohl vorzuziehen, die Gattungen Prowazekia, Trypanoplasma von hier zu entfernen und mit den übrigen zweikernigen Formen der Ordnung der Binu- cleaten zu vereinigen. Hiernach sind die Bodoniden bis 30// lange, einkernige Flagellaten, mit 2 Geißeln, einer Schwimm- geißel und einer sehr langen Schleppgeißel. Die äußere Gestalt ist im allgemeinen ziemlich fest, doch ist für manche Arten auch TJebergang in amöboide Formen angegeben. Einige Arten leben parasitisch, aber auch freilebende Arten sind bekannt. Häufig kommt bei echten Bodoniden neben dem Kern noch ein zweiter mit Kernfarbstoffen sich intensiv färbender Körper vor; nähere Prüfung hat aber ergeben, daß es sich hier um einen glykogenartigen Reservestoff- körper handelt. Gehäusebildung ist von 2 Gattungen bekannt. Dieselben weichen durch die Bildung eines lippenartigen Fort- satzes oder einer kurzen plasmatischen Membran etwas von der Gattung Bodo ab, weshalb sie von Senn und anderen als eigene Familie der Bicosoecidae betrachtet werden. Ihrer ganzen Organisation nach sind sie aber echte Bodoniden (Lauter- born, Prowazek). Sie sitzen einzeln oder zu Kolonien vereinigt in Gehäusen, die oft gestielt sind. Am Grunde des Gehäuses sind sie mit der Schleppgeißel befestigt, Ob die Gattung Poteriodendron hierher gehört, ist nicht ganz sicher, da noch nicht nach- gewiesen ist, ob der Stiel, auf dem die Zellen in ihremGehäuse festsitzen, wie bei Bicosoeca die Schleppgeißel oder ein ein- mehr gedrungenen mit kompakterem Kern und so- genanntem Chro- midialkörper. Die erstere Form ver- mehrt sich in kugeligen Ver- mehrungscysten, die zweite Form durch Längsteilung in freibeweglichem Zustande. Ueber Kopulation und Ver- oben S. metagame mehrung Fig. 32. Bodo lacertae Grassi.i a Form ohne Glykogenkörper. Nach Prowazek. Aus Hart- mann. 1187. Gattung Bicosoeca Clark. Ovale metabolische Formen mit lippen- förmigem kontraktilem Fortsatz am Vorder- ende. Schleppgeißel als Stiel umgewandelt. Einzeln und koloniebildend. Bicosoeca socialis Lauterborn (siehe Fig. 16. S. 1184). Koloniebildende Form. Gattung Costia Leclerg. Costia negatrix (Henneguy; Fig. 33). Für Costia sind bisher zum Teil 3, zum Teil 4 Geißeln angegeben; nach unveröffent- lichten Untersuchungen von G. Entz jun. ist es jedoch eine zweigeißliche Form und die höheren Geißelzahlen beziehen sich auf frühe Teilungsstadien. Die Gestalt ist etwa oval, nach vorn dorsoventral abgeplattet. Auf der Ventralseite liegt am Vorderende Flagellata 1195 eine große tiefe Grube, die zusammen- gefaltet werden kann und so das Tier an seinem Wirt befestigt. Beim Schwimmen werden die Geißeln nach- geschleppt; sie sind von ungleicher Länge und Funktion. Costia ist ein gefürchteter Parasit unserer Süßwasserfische. Sie bedecken in großen Massen die Haut und nähren sich hier von zerfallenden Epithel- zellen. Die Infektion verläuft meist tödlich. Im freien Wasser geht der Parasit, der an das Leben in der Epidermis offenbar sehr angepaßt ist, bald zugrunde. sogar werfen und in diesem Zustand einige Zeit Gattung Spongomonas Stein. Bildet aus körniger Gallerte bestehende große Kolonien von verschiedener Form (siehe Fig. 3, S. 1180). Verlassen die einzel- nen Tiere ihre Hüllen, so zeigen sie sich sehr amöboid mit spitzen, fadigen Pseudo- podien, können sogar ihre Geißeln ab- werfen verweilen (Fig. 34a) Spongomonas uvella Stein. Bis 3 cm große kugelige oder sackförmige Kolonien. Kernteilung siehe Fig. 10, S. 1182. Die Geißeln werden vor der Teilung abge- worfen und entstehen von neuem aus dem Kern, eventuell schon auf dem Stadium der Aequatorialplatte von den Zentriolen aus (Fig. 34 b). Fig. 33. Costia negatrix. Nach einer unveröffent- lichten von G Abbildung Entz iun. 5. Familie Amphi- monadidae Kent cm. Bütschli. Die Amphimonadiden unterscheiden sich von den sonst gleich organi- sierten Monadiden durch den Besitz zweier gleich langer, nach vorn gerichteter Geißeln. Außer mit den Monadiden und Bodoniden dürften sie auch mit den zweigeißeligen Formen der Chrysomonaden verwandt sein. Soweit sie nicht in Gehäusen leben, sind sie zu stark metabolischen und amöboiden Bewegungen befähigt. Die Nahrungsauf- nahme geschieht durch Vakuolenbildung. Gattung Diplomita Kent. Diplomita socialis Kent. Gehäuse- bewohnende, gestielte Form mit rotem Augen- fleck (verwandt mit den Chrysomonaden). Fig. 34. Spongomonas uvella. a amöboide Form, b Geißelform, Kern in Teilung. Nach Hartmann und Chagas. 6. Familie Trimastigidae Senn. Formen mit 3 Geißeln, die am Vorder- ende entspringen. Die Familie wird in mehrere Gattungen eingeteilt, doch sind sämtliche hierher- gehörende Formen sehr wenig untersucht und in ihrer systematischen Stellung durchaus zweifelhaft. Eine sichere Trimastigide ist wohl Dal- li ngeria und Tri- mastix marina Kent, ferner das kürzlich von AI exe - ieff beschriebene Flagellat aus dem Darm eines Fisches Trimitus motellae Fig. 35). 7. Familie Tetra- mitidae Bütschli. Ausgezeichnet durch den Besitz von vier am Vorderende ent- springenden Geißeln. Eine davon kann als Schleppgeißel oder als undulierende Mem- bran ausgebildet sein. Der Körper ist nackt und daher stark meta- bol. Koloniebildung kommt in dieser Fa- milie nicht vor. Ge- schlechtliche Vorgänge sind mit Sicherheit nur bei Trichomastix lacertae beschrie- ben, die sich als Auto- gamie darstellen (vgl. Fig. 23. S. 1188). Fig. 35. Trimitus motellaeAlexeieff. Nach Alexeieff. 1196 Flagellata Gattung Monocercomonas Grassi. Parasiten aus dem Darm verschiedener Tiere (Insekten, Reptilien, Amphibien). Formen mit 4 Geißeln und 1 Achsenstab. Monocer- comonas me- lolonthae Grassi (Fig.36). Parasit aus der Larve von Me- lolontha. Der Achsenstab wird von den Basalkörnern aus gebildet. Gattung Trichomonas Donne. Hochentwik- kelte und sehr Fig. 36. Monocercomonas spezialisierte melolonthae Grassi. Nach Darmparasiten, Jollos. Aus Doflein. ausgezeichnet durch 3 nach vorn gerichtete Geißeln und eine spiralig über den Körper nach hinten verlaufende undulierende Membran. Die Membran ist durch eine Fibrille und eine aus einer Körnerreihe bestehende chromatische Basis gestützt. Von den Basalkörpern geht ein aus 2 Fibrillen zusammengesetzter Achsen- stab aus. Der Kern besitzt einen starken Außenkern und nur zeitweise ein Caryo- som (Pseudocaryosom). Die undulierende Membran kann unter schädigenden Ein- flüssen sehr leicht vom Körper losgelöst werden und als 4. Geißel erscheinen oder auch ganz abgestoßen werden. Häufig werden auch normalerweise sämtliche Geis- sein abgeworfen, und das Tier, dessen Körper sowieso sehr metabol ist, bewegt sich amöboid. Neuerdings sind auch Formen mit 4 Geißeln und einer undulieren- den Membran beschrieben worden (AI exe - ieff). Bei der Kernteilung werden bestimmte Chromosomen (8) ausgebildet und die Pole der Spindel werden von den Basalkörnern eingenommen, die durch eine Zentrodesmose verbunden sind. Letztere wird dann ein- geschmolzen und durch eine besondere Tei- lung der Basalkörper werden die neuen Achsenstäbe gebildet (siehe Fig. 13, S. 1183). Am Vorder ende liegt ein sichelförmiges Cyto- stom. Geschlechtliche Vorgänge sind bisher mit Sicherheit nicht beobachtet. Tricho- monaden sind als Darmparasiten außer- ordentlich verbreitet. Pathogene Bedeutung kommt ihnen wohl nicht zu. Von den sehr zahlreichen Arten seien ge- nannt: Trichomonas hominis Donne. Harmloser Darmparasit des Menschen, vor allem bei alkalischer Reaktion des Darm- inhaltes in Mengen vorkommend. Trichomonas vaginalis Davaine. Ebenfalls ein menschlicher Parasit, Er findet sich im Schleim der Vagina bei saurer Reaktion. Vereinzelt wird er auch in der männlichen Urethra gefunden als Begleit- erscheinung anderer Erkrankungen. Bei Frauen findet er sich in etwa 30 bis 40%; er bildet einfache Dauercysten. Trichomonas muris (siehe Fig. 13). Sie findet sich stets im Blinddarm der Maus, oft in solchen Massen, daß der ganze Inhalt aus Trichomonaden zu bestehen scheint. Gattung Tricho- mastix Blochmann. Aehnlich organi- siert wie die Gattung / Trichomonas; an Stelle der undulie- renden Membran be- sitztTrichomastix eine Schleppgeißel, auch sonst ist sie einfacher gebaut ; der Stützapparat für die undulierende Membran fehlt, da ja hier dieselbe durch eine freie Schlepp- geißel ersetzt ist. Trichomas tix lacertae Bütschli (Fig. 37). Häufig in der Kloake bei Eid- echsen. Autogamie Fig. 37. Trichomastix lacertae Bütschli. Nach Prowazek. Aus Hartmann. siehe Fig. 23, S. 1188. Gattung Fanapepea Prowazek. Fanapepea besitzt einen Trichomonas- ähnlichen Bau; doch läuft bei ihm die un- dulierende Membran nicht über den ganzen Körper, sondern befindet sich in dem — sehr großen — Cytostom. Fanapepea mesnili Wenyon. Wurde im Darm des Menschen gefunden. Auch bei Batrachiern kommen Angehörige der Gattung vor. b) diplozoa. 8. Familie Distomatidae Klebs. Die Distomatiden stellen eine durch ihre meist bizarre Gestalt sehr auffallende Gruppe dar. Es sind bei ihnen in merkwürdiger Weise mehrere oder alle Zellelemente ver- doppelt, so daß sie den Eindruck machen, als seien sie aus 2 Zellen zusammengesetzt. Ueber die Bedeutung dieser Erscheinung ist nichts bekannt. Sie besitzen 2 bis 8 Geißeln, die stets in 2 gleiche Gruppen ver- teilt an symmetrischen Stellen der Zelle sitzen. Flagellata 119< Gattung Trigonomonas Klebs. Trigonomonas compressa (Fig. 38). Freilebende Form von Klebs Octomitus intestinalis Duj.(Fig.40). Schlanke Art aus dem Darm von Batrachiern dreieckiger Gestalt, stark abgeflacht, vorn breit und Fig. 38. Trigono- monas compressa Klebs. Nach Klebs. Aus Senn. abgerundet, hinten zugespitzt. Beiderseits je 3 ungleich lange Geißeln und an jeder Seite 1 Cytostom. Der Kern wird als in der Mitte bisquitförmig eingeschnürt angegeben: es wird sich wohl sicher um 2 Kerne handeln. Gattung Trepomonas Duj. Von eigenartiger Gestalt. Jederseits 4 Geißeln, 1 lange und 3 kurze symmetrisch in den beiden Mundtaschen angeordnet. Die 2 Mundtaschen liegen auf verschiedenen Seiten des Tieres; wenn also die rechte Tasche dem Beschauer zugekehrt ist, liegt die linke unten. 2 Kerne schon von Bütschli und Dangeard be- schrieben. Trep o mo- n a s a g i 1 i s Duj. Mit den Charakteren der Gattung. Frei- lebend. Trepo mo - nas intesti- nalis Ale xe - ieff (Fig. 39). Darmparasit. Fig 39. Trepomonas intestinalis Alexeieff. Nach Alexeieff. Gattung Octomitus Prowazek. Kleine meist längliche Flagellaten, zuweilen sehr metabolisch. i\.m Vorderende entspringen von getrennten Basalkörper- gruppen je 3 Geißeln und je 1 Achsenstab. Die Achsenstäbe ziehen durch den ganzen Körper und treten hinten als Schleppgeißeln aus. Unter den Basalkörpern im Vorderende 2 Kerne, durch einen Rhizoplasten mit ihnen verbunden. Da die Darmparasiten-Arten aus Säugetieren häufig mit Lamblien zu- sammen vorkommen, hat man auf eine Zusammengehörigkeit zwischen beiden ge- schlossen und Octomitus für die Jugend- form der Lamblia gehalten. Bei der großen Aehnlichkeit in der Organisation ist das sehr wohl möglich, doch ist es bis jetzt nicht nachgewiesen. Fig. 40. Octomitus intestinalis. Nach Alexeieff. und Tritonen. Bei der Kernteilung teilen sich beide Kerne gleichzeitig. Das Verhalten der Geißeln während der Teilung ist nicht klar. Die freilebenden Gattungen Hexamitus und Urophagus sind ebenso organisiert, jedoch mit zwei in der hinteren Körper- partie auf gegenüberliegenden Seiten be- findlichen Mundöffnungen. ( iattung Lamblia Blanchard. Breite Flagellaten mit bilateralsymmetri- schem Bau. Die Gestalt ist etwa birnförmig und wird durch ein kompliziertes Fibrillen- system erreicht. Auf der Ventralseite findet sich am Vorderende eine napfartige Ver- tiefung, die sogenannte Sauggrube. Mit ihr saugt sich das Tier auf dem Dünndarm- epithel fest. Die Organisationsverhältnisse sind dieselben wie bei Octomitus, doch ist die Anordnung der Geißeln eine andere; hierdurch wird eben die komplizierte Ge- stalt erreicht. Die Lagerung der Geißeln und Fibrillen sieht man am besten in der Figur 2, S. 1180. Abweichend von Octomitus ist das Vorkommen eines Chromidialkörprrs. Ueber seine Zusammensetzung und Herkunft ist nichts bekannt; es handelt sich, da er in den Cysten resorbiert wird, wahrscheinlich um Reservestoffe. Teilung im freien Zustand ist nicht beobachtet, doch finden sich wahr- scheinlich Befruchtungsprozesse mit nach- folgender Vermehrung in den Cysten. Lamblia intestinalis Lambl. Im Dünndarm des Menschen. Bei der Encystie- rung kopulieren nach Schaudinn und Prowazek zwei Tiere; die weiteren Vor- gänge sind nicht bekannt. 1198 Flagellata Lamblia muris Bensen. Im Dünn- darm der Maus. Hier encystiert sich nur ein Tier, in der Cyste findet eventuell ein autogamer Befruchtungsprozeß statt. Lamblia sanguinis Gonder. Im Herz- blut eines blauen Falken. 3. Ordnung Binucleata Hartmann. Unter diesem Namen faßte Hart mann alle durch den Besitz zweier verschie- dener Kerne, eines Haupt- und eines Geißel- kernes (Kinetonukleus) ausgezeichneten Fla- gellaten zusammen unter Einbeziehung der bisher als Sporozoen betrachteten Hämo- sporidien. Wenn letztere auch durch ihren intrazellulären Parasitismus in roten Blut- körperchen keine Geißel mehr aufweisen und nicht mehr ohne weiteres den Eindruck von Flagellaten machen, so erweisen sie doch durch den zeitweiligen Besitz eines Kineto- nukleus und durch das Auftreten von Flagel- latenstadien ihre Zugehörigkeit zu den Binucleaten (neuerdings vielfach bestritten). Die typischen und einfachsten Vertreter der Familie sind kleine Flagellaten, die äußerlich einfachen Protomonadinen gleichen. Sie unterscheiden sich von diesen aber scharf dadurch, daß das Basalkorn ihrer Geißel nicht wie dort direkt aus dem Kern abstammt, sondern daß zwischen beide, wie gesagt, noch ein zweiter selbständiger Kern eingeschaltet ist, der Kinetonukleus (Blepharoplast), dem die Aufgabe der Geißel- bildung zufällt. Ueber die Genese der Geißel wurde oben (S. 1185) schon berichtet (3. Geißeltyp). An der Spitze auswachsender Geißeln kann man häufig noch eine knopf- artige Verdickung sehen, das die Geißel liefernde Teilprodukt des Basalkornes(Fig. 41 ) ; Fig. 41. Teilung von Haupt- und Geißelkern und Entstehung der 2. Geißel bei Trypanosomen. Nach Rosenbusch. bei manchen Leptomonaden ist diese Ver- dickung des Geißelendes sogar dauernd auf gewissen Stadien zu sehen. Bei der Teilung - - die Teilung der ein- fachen Formen ist eine typische Längs- teilung teilen sich Kern und Kineto- nukleus gesondert und unabhängig vonein- ander auf mitotischem Wege. Die alte Geißel bleibt dabei erhalten und wird von der einen Tochterzelle übernommen (Fig. 41). Das Basalkorn fungiert häufig als Zentriol der Kinetonukleusspindel. Die Desmose der Kinetonukleusteilung kann als Achsenstab nach der Teilung erhalten bleiben. Schon bei den einfachen typischen Flagellaten- formen können neben Längsteilungen auch multiple Teilungen vorkommen (Tr. lewisi, siehe Fig. 20, S. 1187), bei den abgeleiteten, meist geißellosen Formen ist das die Regel. Sämtliche Binucleaten - mit Ausnahme der freilebenden Gattung Prowazekia - sind extreme Parasiten mit osmotischer Ernährung. Dieser Parasitismus hat zu allerhand Anpassungserscheinungen geführt, die ihr Ende darin erreichen, daß bei den entwickeltsten Formen (intrazelluläre Parasiten) ein teilweiser oder gar ganzer Ver- lust derFlagellatenorganisation eintritt. Diese Rückbildung des Geißelapparates läßt sich stufenweise bei den einzelnen Gattungen ver- folgen. Er geht meist mit der Ausbildung multipler Vermehrung Hand in Hand. Bei den primitiven Familien (Trypanosomiden und Babesien) sind einfache Befruchtungs- vorgänge beschrieben, aber noch nicht ganz sichergestellt; bei den extrem entwickel- ten Halteridien und Plasmodien findet sich allgemein hochausgebildete Oogamie verbunden mit einem ausgeprägten Genera- tions- und Wirtswechsel (näheres s. unten S. 1205). Diese Entwickelungstendenzen machen sich in der ganzen Binucleatenreihe bemerkbar und liefern so Schritt für Schritt alle Uebergänge von den einfachen Lepto- monasformen bis zu den komplizierten, auf den ersten Anblick an Coccidien erinnernden Hämosporidien. 1. Familie Trypanoplasmidae Hartmann und Sollos. Die Familie umfaßt zwei Gattungen, von denen die eine zahlreiche Blut- und Darm- parasiten niederer Tiere enthält, während die andere die einzige freilebende Gattung der Binucleaten darstellt. Im Gegensatz zu allen anderen Angehörigen der Ordnung sind die Trypanoplasmiden durch den Besitz von zwei Geißeln ausgezeichnet, einer Schwimmgeißel und einer Schleppgeißel, die bei den parasitischen Arten zur undulie- renden Membran geworden ist. Geschlecht- liche Vorgänge sind von den freilebenden Formen nicht bekannt geworden, von den anderen sind sie mehrfach beschrieben, bisher aber noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen. Phylogenetische Beziehungen bestehen viel- leicht zu den Bodoniden (s. dort S. 1194). Gattung Prowazekia Hartmann und Chagas. Freilebende oder halbparasitische Orga- nismen von Bodo-artigem Habitus mit Aufnahme fester Nahrung, durch den Flagellata 1190 Besitz eines Kinetonukleus aber deutlich von echten Bodoarten unterschieden. Pro- wazekia arten kommen häufig in den Fäzes des Menschen und vieler Tiere vor; meist haben sie wohl nur in Cystenform den Darm passiert, und entwickeln sich erst in den abgelegten Fäkalien, doch ist es nicht aus- geschlossen, daß sie gelegentlich auch schon im Darm in vegetativem Zustand leben. Bei der Encystierung bleiben die Geißeln meist erhalten. Prowazekia asiatica Whitmore (Fig. 42) stammt aus mensch- lichen Fäzes. Fig. 42. Prowazekia asiatica C as teil ani und Chalmers. a vegetative Form, b Cyste. Nach Withmore. Gattung Trypanoplasma Lav. und Mesnil. vorige Gattung hier als Ebenfalls zweigeißelige Formen, wie die Doch ist die Schleppgeißel undulierende Membran teilweise mit dem Körper ver- schmolzen und wird erst im letzten Drittel oder am Hinterende des Körpers zur freien Geißel. Die Pellicula ist ziemlich dünn und erlaubt deshalb weit- gehende metabolische Bewegungen, so daß die Gestalt der Try- panoplasmen eine recht mannigfache ist. Der Kinetonukleus ist groß und stark färbbar. Trypanoplasmen sind in großer Anzahl als Blut- und Darmpara- siten von Fischen be- schrieben und weit ver- breitet; sie kommen Fig. 43. p 1 a s m a Nach Trypano heli eis. Jollos. aber auch in zahlreichen niederen Tieren vor. Die Uebertragung der Fischtrypano- ; plasmen geschieht durch Fischegel, in denen auch Kopulation stattfinden soll. Doch sind diese Angaben bisher nicht bestätigt. Trypanoplasma borrelli Lav. u. Mes- nil im Blut von Süßwasserfischen. Trypanoplasma intestinalis Leger. Kleine Form aus Oesophagus und Magen von Seefischen (Box salpa). Trypanoplasma helicis Leidv (Fig. 43). Häufiger Parasit im Recepta- kulum der Weinbergsschnecke. 2. Familie Trypanosomidae Doflein. Die Trypanosomiden haben unter ihren Vertretern eine ganze Reihe von Erregern gefürchteter Seuchen des Menschen und seiner Haustiere. Sie erfreuen sich deshalb eines weitgehenden Interesses und spielen auch in der medizinischen Literatur eine bedeutende Rolle. In ihren einfachsten und typischen For- men sind sie eingeißelige Flagellaten, doch macht sich schon hier die durch den Para- sitismus bedingte und in der Binucleatenreihe bis zum Extrem ausgebildete Anpassung gel- tend, die letzten Glieder der Trypano so men- reihe sind vollkommen intrazelluläre Para- siten, die für gewöhnlich im Wirbeltierkörper überhaupt keine Geißeln mehr bilden, deren Flagellatennatur aber noch unverkennbar ist. Die Trypanosomiden sind zum größten Teil Blutparasiten warmblütiger Tiere, vielfach aber auch Darmparasiten niederer Tiere. So- weit sie Blutparasiten sind, besitzen die Trypanosomiden einen Generations- und Wirtswechsel. Kopulation und andere sexuelle Vorgänge wurden sehr häufig be- schrieben, sind aber bis jetzt in keinem Falle einwandfrei nachgewiesen. Gattung Leptomonas Kent ein. Chatton und Allilaire. Kleine eingeißelige Flagellaten, mit ein- facher, vomKinetonukleus ausgehender Geißel. Der Geißelkern liegt gewöhnlich im Vorder- ende des Tieres, kann aber seine Lage ver- ändern und bis ins Hinterende zurückweichen. Die Geißel wird dabei mit ins Plasma zurück- gezogen und es einstehen so die sogenannten „Leptotrypanosomen" oder „Trypanoidfor- men", deren Aussehen für die zugehörige Art charakteristisch sein soll. Außerdem kommen noch geißellose „gregarinenähnliche" Stadien vor. Die Verbreitung geschieht durch Cysten, doch ist auch „Vererbung" durch germina- tive Infektion (Lept. melophagia) be- schrieben. Leptomonaden werden sehr häufig im Darm von Insekten • blutsaugenden und 12U0 Flagellata nicht blutsaügenden - - gefunden, aber auch bei zahlreichen anderen Wirbellosen; eine Art kommt sogar in Pflanzen (L. da vidi Lafont, in Euphorbien) vor. Leptomonas campanulata Leger. Darmparasit der Larven von Ghironomus plumosus L. Ihre „gregarinenähnlichen" Stadien zeigen, wie die anderer Arten auch, den Blepharoplasten und den intrazellulären Teil der Geißel mit großer Deutlichkeit (Fig. 44). Fig. 44. Leptomonas campanulata Leger. Gregarinenartige Stadien auf dem Darmepithel einer Chironomus -Larve, c Nach Leger. Ans Doflein Teilungsstadium. Leptomonas jaculum Leger (Fig. 45). Die Art lebt im Darm des Wasser- m teilen. Dadurch macht sie nur während kurzer Zeit den Eindruck einer typischen Lepto- monade. Sie bildet wohl eine Ueberleitung der Leptomonaden zur folgenden Gattung. Bei dieser Art sind auch Dauercysten be- kannt. Gattung Herpetomonas Kent em. Prowazek. Aehnlich wie Leptomonas jaculum während eines Teiles ihres Lebenszyklus eine aus zwei Fibrillen zusammengesetzte Geißel hat, besitzt Herpetomonas während ihres ganzen Lebens zwei einander parallele Geißel- fibrillen, die durch einen Plasmasaum ver- bunden sind. Auf Teilungsstadien finden sich dementsprechend 4 Geißelfibrillen. Herpetomonas muscae domesticae Burnett em. Prow. (Fig. 46). Häufiger Parasit der Stubenfliege und einiger anderer Fliegen. Der Kinetonukleus ist mit den Basal- körnern der Geißelfibrillen durch zwei dicke Rhizoplasten verbunden. Vom Kinetonukleus nach hinten geht ein Achsenstab. Gattung Trypanosoma Gruby. Die Trypanosomen sind sämtlich Blut- parasiten von Wirbeltieren und zum Teil Erreger schwerer Krankheiten. Sie besitzen einen ausgesprochenen Wirtswechsel und nehmen im Ueberträger leptomonasartige Formen an. Man darf wohl annehmen, daß sie ursprünglich Darmparasiten eben dieser Ueberträger waren, während die Wirbeltiere, in deren Blut sie leben, nur Zwischenwirte sind. Während, wie gesagt, die Trypanosomen im Darm des Ueberträgers (und in künst- lichen Kulturen) wie Leptomonaden aus- sehen, haben sie im Blut eine ganz andere Gestalt (Fig. 47). Der Kinetonukleus wandert /. Fig. 46. Herpeto- ; monas muscae Fig. 45. Leptomonas domesticae Burn. jaculum Leger. Nach Nach Prowazek. Berliner. Aus Doflein. skorpions, Nepa cinerea, und ist beson- ders dadurch interessant, daß sich der Kineto- nukleus schon sehr früh teilt, auch die Geißel des Tochtertieres schon auszuwachsen beginnt, lange ehe Kern und Plasma sich a o Fig. 47. Trypanosoma p a d d a e Thiroux. a Blutform, b Kultur- form. Nach Brumpt. Aus Doflein. Fig. 48. Trypano- soma lewisi. Nach Rosenbusch. an das Hinterende des Tieres und die Geißel durchzieht nunmehr den ganzen Körper. Während aber bei den Trypanoidformen der Flagellata 1201 Leptomonaden die Geißel im Innern des Plasmas liegen bleibt und sich bei der Be- wegung der ganze Körper wellenförmig vorbiegt, tritt hier die Geißel dicht unter den Periplast und bildet so eine undulierende Membran. Unter dem Periplast laufen bei manchen Arten nach Angabe vieler Autoren Fibrillen, sogenannte Myoneme. Vermutlich handelt es sich nur um Streifungen des Periplastes. Die Teilung verläuft als Längs- oder multiple Teilung. Dabei teilen sich sowohl der Hauptkern als der Kinetonukleus, die beide Caryosomkerne sind mitotisch (s. Fig. 41). Vom Kinetonukleus wird die Geißel des Tochtertieres neu gebildet durch Aus- wachsen. Eine Spaltung der alten Geißel, wie sie von manchen Autoren angegeben wird, kommt nicht vor. Ueber das Befruchtungsproblem bei den Trypanosomiden gibt es eine eigene, umfang- reiche Literatur, doch ist ein sicherer Be- fruchtungsakt bisher für keine einzige Form bewiesen, wenn auch Beobachtungen vor- liegen, die ihn wahrscheinlich machen. So treten vor allem im Ueberträger große plumpe Formen mit den Charakteren weib- licher Zellen (reservestoffhaltiges Plasma) und sehr schlanke mit denen männlicher Zellen (starke Geißelapparate, wenig Plasma) auf. Vielfach hat man auch aus dem Um- stände, daß die Ueberträger der Trypano- somen, wenn sie an einem infizierten Tiere gesogen haben, zunächst eine nichtinfektiöse Periode durchmachen, geschlossen, daß wäh- rend dieser Zeit im Ueberträger ein Sexual- akt und eine besondere Entwickelung statt- finde. Nöllerwies aber nach, daß im Hunde- floh, der als Ueberträger des Trypano- soma lewisi ebenfalls eine nichtinfektiöse Periode hat, keine geschlechtliche Ent- wickelung der Trypanosomen im Darm stattfindet; die Infektion erfolgt hier auch nicht durch den Stich, sondern durch die mit den Fäces abgehenden Trypanosomen, die von der Ratte aufgeleckt werden. Die Zeit zwischen der Aufnahme und der Wieder- abgabe der Trypanosomen beträgt bis ende, rundem oder stabförmigem Kineto- nukleus. Ueberträger ist die Rattenlaus. Haematopinus spinosus, doch kommen auch Flöhe in Betracht. Trypanosoma brucei Plimm. u. Bradford, mit abgestutzten Hinterende und rundem Geißelkern. Moiphologisch von den folgenden pathogenen Arten nicht zu unterscheiden. Der Erreger der gefürchteten Nagana oder Tsetsekrankheit, die in einigen Gegenden Afrikas die Viehbestände voll- Gattung Trypano- Arten sich morpho- unterscheiden, seien 5 Tage. Dagegen geschieht die Uebertragung vonTrypanosoma brucei und gambiense durch den Stich der infizierten Glossinen, bei denen die Trypanosomen in die Speichel- drüse eindringen, nachdem sie zuvor im Darm eine Entwickelung (Sexualität?) durchgemacht haben. Als Vertreter der soma, deren einzelne logisch sehr wen genannt: Trypanosoma lewisi Kent (Fig. 48). Anscheinend harmloser Parasit aus dem Blute der Ratten mit spitzem Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. Fig. 49. Trypanosoma gambiense Button, a aus dem Blut infizierter Affen, b und e aus Glossinen. Nach Minehin. Aus Doflein. kommen ausgerottet hat. Ueberträger sind besonders Glossina morsitans und Glos- sina fusca, doch kommen auch noch einige verwandte Arten in Betracht. Trypanosoma evansi Steel. Der vorigen außerordentlich nahestehende Form, die in Asien bei Pferden und Rindern eine als Surra bekannte Krankheit erregt. Trypanosoma equiperdum Doflein. Interessant durch seine Uebertragung, die beim Coitus (also ohne Ueberträger) statt- findet, doch kommen auch Infektionen auf anderem Wege zustande. Erreger der Dourine oder Beschälseuche der Pferde. Trypanosoma gambiense Dutton. (Fig. 49). Dieser Parasit des Menschen er- zeugt die aus Afrika schon lange bekannte Schlafkrankheit, die in der letzten Zeit, wegen ihrer außerordentlich zunehmenden Verbreitung, große Wichtigkeit erlangt hat. Hinter- eifriger Ueberträger ist besonders Glossina pal- palis. auch andere Arten (morsitans, fusca). Als Reservoire für die Krankheit kommen Antilopen in Betracht, die Trypano- soma gambiense, ohne schwer zu erkranken, längere Zeit im Blut haben können und die Krankheit so auch in menschenfreien Gegenden aufrecht erhalten können. Ge- schlechtliche Vorgänge sind, wie bei allen Trypanosomen, auch hier nicht mit Sicher- heit beobachtet, trotz ausgedehnter und Untersuchungen. TG 1202 Flagellata Trypanosoma equinura Voges. Aus- gezeichnet durch sehr kleinen punktförmigen Geißelkern. Der Erreger des Mal de Caderas oder der Kreuzlähme, der in Südamerika sehr viel Pferde erliegen. Die natürliche Infektion ist unbekannt. Außer diesen als Menschen- und Haus- tierparasiten durch ihre Pathogenität wich- tigen Trypanosomen sind noch aus vielen anderen Säugetieren Trypanosomen be- schrieben, auch aus Vögeln, Reptilien und Fischen, denen jedoch sämtlich keine patho- gene Bedeutuni;: zukommt und die zum Schizogonie großen Teil noch wenig untersucht sind. teilung statt, sondern durch im geißellosen Zustand, und zwar ein- mal durch große Schizogonien intra- zellulär in Lunge, Herzmuskel und Ge- hirn, wobei stets deutlich ein Kinetonukleus zu sehen ist (Fig. 51); dann durch kleine Fig. 52. Schizotry- panum cruci Chagas. Schizogonie ohne Geißelkern aus Lungen- kapillaren. Nach Chagas. ■ if'i f t % a Fig. 50. Schizo- trypanum cruci Chagas, a auf dem Blutkörper, b freie Blutform, c Form aus dem Darm der Wanze Conorhinus, (I Form aus dem Blut des Affen Calli- tbrix, sog. männliche Form. Nach Chagas. Gattung Schizotrypanum Chagas. Den ersten" Schritt zur Reduktion des Be- wegungsapparates und zur Ausbildung eines typischen Generationswechsels, den Cha- rakteren der sogenannten „Hämosporidien", tut unter den Trypanosomiden die Gattung Schizotrypanum. Aus kleinen geißel- und kinetonuk- leuslosen Stadien wächst dieser Pa- rasit intraglobu- lär zu typischen Trypanosomen heran und erst diese verlassen dann das rote Blutkörperchen, in oder auf dem sie herangewach- sen sind, um frei im Blute zu leben wie die anderen Trypanosomen kuglige Schizogonien unter Bildung von8Mero- zoiten in Lungenkapillaren. Im letzteren Fall wird entweder der Kinetonukleus zum Beginn der Abkugelung eliminiert und die Teilspröß- linge besitzen dann nur einen Kern, oder der Kinetonukleus bleibt erhalten und die Teilsprößlinge besitzen je 2 Kerne. Viel- leicht sind das Anzeichen eines sexuellen Dimorphismus. Auf jeden Fall haben wir hier ein typisches Trypanosoma, das j in seinen intrazellulären Stadien keine Geißel besitzt, zum Teil sogar auf diesen Stadien den Kinetonukleus eingebüßt hat. Im | Darm des Ueberträgers erscheint es (wahr- scheinlich nach Kopulation) als typisches chrithidiaartiges Flagellat, das sich durch Längsteilung vermehrt (Fig. 50 c). Schizotrypanum cruci Chagas. Ein menschlicher Parasit, der in Brasilien eine schwere Krankheit, besonders bei Kindern, erzeugt. Der Ueberträger ist eine Wanze, Conorhinus megistus Burm. Künstliche Infektion ist bei mehreren Laboratoriums- tieren Fig. 51. Schizotrypanum cruci Chagas. Multiple Vermehrung in einer. Endo- thelzelle der Lunge. Nach Hartmann. (Fig. 50 a, b). Die Vermehrung findet nicht durch einfache Längs- gelungen. Gattung Leishmania R. Ross. Endgültig an Zellparasitismus angepaßt haben sich die Leihsmanien. Sie kommen im ganzen Körper ihres Wirtes nicht mehr frei vor, sondern liegen als länglich-ovale Gebilde, mit deutlichem Geißelkern, in Leukocyten und Endothelien der Milz und im Knochenmark; im peripheren Blut finden sie sich nur selten. In künstlichen Kulturen, die leicht gelingen — auch im Darm des Ueberträgers — , verwandeln sie sich aber in typische Flagellaten vom Leptomonastyp und vermehren sich durch Längsteilung (Fig. 53). Leishmania donovani Lav. u. Mesn. Der Parasit kommt in fast allen Organen des Menschen vor, bei dem er eine schwere, sehr oft tödliche, Krankheit verursacht, die man mit dem Namen Kala-Azar bezeichnet. Die Uebertragung auf Tiere ist Die Uebertragung von soll durch Wanzen, nicht gelungen. Mensch zu Mensch Cimex rotundatus Flagellata 1203 nach P a 1 1 o n , Conorhinus ruh r o - fasciatus nach Donovan, geschehen. Asien, Aegypten usw. wW Fig. 59. Geschlechtliche Generation von Haemoprotens columbae. A junger Gametocyt in Erythrocyten, B, C Heranwachsen des Mikrogametocyten, D dessen Reifung (Bildung der Makrogameten), B1A Ct, Dj die entsprechenden Stadien des Makrogametocyten, E Kopulation, F bis J Ookinetenbildung. Nach Aragao. Aus Doflein. und Saumgeißel aufweisen. Je ein Mikro- gamet dringt in einen Makrogameten ein und unter Verschmelzung der Gametenkerne wandelt sich die kugelige Zygote in ein wurmförmiges Stadium, den sogenannten Ookineten, der ein Teil des Plasmas mit den Reduktionskernen und dem Pigment ab- schnürt (Fig. 59). Die Ookineten wandeln sich nun bei der Gattung Halteridium nach Schaudinn (von Mayer experimentell bestätigt) in trypanosomenartige Flagellaten (siehe Artikel „Protozoa" Fig. 12), vermehren sich hier durch Längsteilung und können nach längerer nicht infektiöser Periode — auf das Ver- halten der Parasiten während derselben kann hier nicht eingegangen werden frische Vögel infizieren. Bei der Gattung Haemoproteus soll die Umwandlung der Ookineten in Flagellaten fehlen und die Neuinfektion direkt durch die Ookineten vor sich gehen (Aragao). Auch durch ihre ungeschlechtliche Ver- mehrung im Vogelkörper sollen sich die beiden Gattungen erheblich verschieden ver- halten (s. unten). Gattung Halteridium Labbe (?). Unter diesem Namen wären die Glieder der Familie zu vereinigen, die in ihrem Entwickelungskreis Flagellatenformen auf- weisen. Die Entwicklung der Trypanosomen- form aus der unbeweglichen Form ist seit Schaudinn nicht wieder beobachtet worden, doch sind seine Angaben mit der Behauptung, er sei durch Mischinfektion von Halteridium und Trypanosoma getäuscht worden, nicht Halteridien leichternd mühelos Flagellaten- formen erhalten; auch im Darm von Mücken sind diese Formen öfters beobachtet worden. Ueber die ungeschlechtliche Vermehrung im Vogelkörper ist nichts Sicheres bekannt. Halteridium noctuae Celli und Sanfelice ist die Art, auf die sich Schau- dinn s Angaben beziehen. Die oben be- schriebene Befruchtung und Weiterentwicke- lung in Flagellaten findet nach Schaudinn in Culexarten statt, Halteridium syrnii Mayer. Dieses Halteridium zeichnet sich nach Mayer dadurch aus, daß bereits die ganz jungen, noch pigmentfreien Formen einen Kineto- nukleus besitzen. Mayer, der sich auf experimentelle Untersuchungen beschränkte, gelang es, aus ganz geringen Blutmengen, die er vorher mikroskopisch auf das Fehlen von Trypanosomen genau untersucht hatte, Flagellaten sowohl auf Blutagar als auch direkt unter dem Deckglas zu züchten und so die Zugehörigkeit der Trypanosomen- formen zur Entwickelung des Halteridiums zu beweisen. Auch im Darm von Culex annulatus und Stegomyia calopus konnte er Ookineten und Flagellatenformen beobachten. Doch ist es zweifelhaft, ob die Mücken überhaupt als natürliche Ueber- träger in Frage kommen, da eine In- fektion durch Mücken seither nicht erzielt werden konnte. Gattung Haemoproteus Kruse. Im Gegensatze zu Halteridium soll es hier auf keinem Entwickelungsstadium (mit Ausnahme der Makrogameten) zur Aus- 1206 Flagellata bildung von Schwärmstadien kommen. Die Vermehrung findet durch große typische Schizogonien in Leukocyten oder Endothelien statt, und zwar ausnahmslos im Vogel, während im Ueberträger einzig und allein die Kopulation und Ookinetenbildung vor sich gehen soll. Die Schizogonie erinnert an die der Theilerien sowie auch an die von Schizotrypanum und Leishmania (s. Fig. 51 u. 53), wodurch die phylogene- tische Entwickelung derselben klar zutage tritt, Haemoproteus columbae Celli und Sanfelice. Die Stadien im peripheren Blut der Tauben stimmen mit den analogen Stadien von Halteridium ganz überein. Die Befruchtung findet im Darm des TJeber- trägers (Lynchien) statt und gleicht eben- falls vollkommen der Halteridienbefruch- tung. Damit soll jedoch die Entwickelung im Ueberträger abgeschlossen sein und der Ookinet soll nach Abstoßung seines Pig- mentes durch den Stich des Lynchia wieder in die Blutbahn der Taube gelangen. Etwa 14 Tage nach dem Stich kommt es in mono- nukleären Leukocyten (oder Endothelien), die sich an der Wand eines Lungengefäßes festgeheftet haben, zu Schizogonien, die in den stark hypertrophischen Leukocyten- zellen bis 60 ju große Cysten mit Merozoiten ergeben. Durch Platzen der Cysten findet dann eine Uebersehwemmung des Blutes mit diesen kleinen Formen statt, die sich in I Erythrocyten festsetzen und dort wieder zu Gameten heranwachsen. In den Cysten sollen sich schon Andeutungen einer späteren Geschlechtsdifferenzierung finden. 5. Familie Leucocytozoidae Hartmann und Jollos. Diese Familie, bei der nach Angaben Schau dinns gleichfalls ein Wechsel zwischen Flagellatenstadien und sogenannten Sporo- zoenformen vorkommt, ist vor allem durch ihre Geschlechtsgeneration gekennzeichnet, die im Gegensatz zu den Halteridien nicht in Erythrocyten, sondern in kernhaltigen Ery- throblasten sich findet, die meist eine merk- würdige spindelförmige Gestalt aufweisen, doch gibt es auch runde Wirtszellen. Den Geschlechtsformen fehlt hier auch das Pig- ment (Fig. 60). Sonst ist die Organisation derselben sowie die Befruchtung die gleiche, nur bilden die Mikrogametocyten eine größere Zahl (16) von Mikrogameten. Der Oouinet wandelt sich aber (im Darm von Culex) nicht wie bei Halteridium direkt in ein Flagella- tum, sondern wächst unter starker Kernver- mehrung zu einem vielfach gewundenen Schlauch heran und bildet unter Zurück- lassung eines großen Restkörpers zahlreiche kleine sehr schlanke Trypanosomen (Fig. 61). Diese metagame multiple Vermehrung kann als Sporogonie bezeichnet werden. Nach- dem diese Flagellaten die Darmwand durch- bohrt haben, gelangen sie beim Stechakt wieder ins Blut des Vogels. Schaudinns Annahme über den Wechsel von Trypano- somenformen mit geißellosen und seine Er- klärung der spindelförmigen Geschlechts- stadien als geißellose Trypanosomenform, die die Erythroblasten in sich aufge- nommen haben, besteht wohl nicht zu Recht, desgleichen seine Angaben über die Vermehrungim Vogelkörper. Doch ist letztere bisher nicht aufgeklärt und es liegt nur eine kurze, noch unbestätigte Angabe von Fant ham über Schizogonie bei Leucocyto- zoon lovati vor. Auch die angeführten Beobachtungen S c h a u d i n n s über die Entwickelung in Fig. 60. Leucocy- tozoon ziemanni. Gametocyten. P Pa- rasit, Er Kern der Wirtszelle. Nach •Luhe. JA»*/ Fig. 61. Leucocytozoon ziemanni. Ookinet (a) mit darauffolgender Sporogonie im Darm von Culex. Nach Schaudinn. Aus Doflein. Flagellata 1207 der Mücke sind bisher nicht bestätigt. Es J Kinetonukleus angegeben, auch Züchtung wurde zwar vielfach das Vorkommen eines | von Flagellaten aus Leucocytozoonblut, ver- 5 6 ♦*<§?■. 23 20 19 21 22 Fig. 62. Entwickelungskreis von Plasmodium vivax. Nähere Erklärung im Text. Aus IT a r tniann. 1208 Flagellata schiedene Untersucher vertreten aber die Ansicht, daß der „Kinetonukleus" ein aus dem Kern ausgestoßenes Carysom sei ( W o o d - cook) und die Züchtungsversuche sind ebenfalls nicht beweisend, da in diesen Fällen eine Mischinfektion nicht mit genügender Sicherheit ausgeschlossen war. Von Reiche- now und Woodcook wird neuerdings die Hämogregarinennatur der Leucocytozoen vertreten; vorderhand scheint uns aber ihre Zugehörigkeit zu den Binucleaten nicht widerlegt. Leucocytozoon ziemanni Laveran. Parasit aus dem Blut von Raubvögeln. Die oben wiedergegebenen Beobachtungen Schaudinns beziehen sich auf diese Art. 6. Familie Plasmodiidae. Die letzte Stufe in der geschilderten Entwickelungsreihe der Binucleaten haben die Plasmodiden erreicht. Bei ihnen kommen in der Regel, mit Ausnahme der Mikro- gameten und gelegentlich der Merozoiten bei Proteosoma, keine Flagellatenstadien mehr vor und auch der Geißelkern findet sich nur vereinzelt. Dagegen ist der Gene- rations- und Wirtswechsel bei ihnen am augenfälligsten. Ihre Entwickelung gliedert sich in drei Abschnitte, 1. die ungeschlecht- liche Entwickelung in Form von Schizogonie innerhalb der Erythrocyten der Wirbeltiere, 2. Ausbildung der Geschlechtsformen daselbst und deren Kopulation im Darm des Ueber- trägers (Culex und An opheles arten) und 3. die ungeschlechtliche Vermehrung im Ueberträger durch Sporogonie (Fig. 62). Bei den Schizogonie- und Geschlechtsformen findet die Bildung von Pigment statt, das durch Umwandlung des verdauten Hämo- globins entsteht. Die Schizogonie ähnelt der kleinen Schizogonieform von Schizo- trypanum (Fig. 62, 1—7), die Ausbildung der Geschlechtsformen und die Befruchtung voll- zieht sich in derselben Weise wie bei den Halteridien und Leucocytozoen (Fig. 62, s— 17). Die Ookineten wandern hier aber durch die Darmwand und kugeln sich innerhalb der Tunica elastico-muscularis ab, durch das starke Wachstum sehr hervorgewölbt wird und einer Cyste erlangt (Oocyste) (Fig. 62, 21— 2:,). Das Wachstum des Parasiten geschieht in der Längsrichtung; er knäuelt sich unter gleich- zeitiger Kernvermehrung auf, ähnlich wie der Ookinet von Leucocytozoon im Darm, und er- scheint daher auf Schnitten in einzelne kern- haltige Plasmaelemente zerlegt. Nach einer weiteren Vermehrung der Kerne zerfallen die Plasmamassen unter Zurücklassung eines Restkörpers in eine große Anzahl von Sporozoiten. Durch Bersten der sogenannten Oocyste gelangen sie in die Leibeshöhle der Mücke und sammeln sich später in den wobei letztere des Parasiten das Aussehen Speicheldrüsen an (Fig. 62, 27). Durch den Stich der Mücke werden sie mit dem Sekret der Speicheldrüse in das Blut übergeimpft. Diese Sporogonie vollzieht sich unter gün- stigen Entwickelungsbedingungen (Tempe- ratur usw.) in 8 bis 9 Tagen. Gattung Proteosoma Labbe. Vogelparasiten, die außer bei den Mikro- gameten noch gelegentlich bei den Mero- zoiten Geißeln entwickeln. Doch ist auf fast allen Stadien ein Kinetonukleus vor- handen (Fig. 63). Neuerdings wird die Ver- Fig. 63. Proteosoma praecox Grassi und Fei. a junger Agamet mit Geißel, b Makro- gametocyt mit Kern und Blepharopkst, c Mikro- gamet mit Kern, Blepharoplast and undulieren- <> :- - Stylochrysalis und Derepyxis mit gestielten Gehäusen ent- sprechen der Gattung Chrysopyxis bei den Chromuliniden. Gattung Hymenomonas Stei Die Gattung ist aus- gezeichnet durch den Be- sitz einer weichen Hülle (Pellicula), inner- halb welcher das Proto- plasma der Zelle zu selb- ständiger Bewegung fähig ist, welche aber bei der Teilung doch mit durch- geschnürt wird (Hymeno- monas roseola [Stein], Fig. 77). Fig. 75. Chrysosphaerella longispina Lauterborn. Nach Lauterborn. Aus Lang. 2. Familie Hymenomonadidae Senn. Die Familie umfaßt sämtliche Chryso- monaden mit 2 gleichen Geißeln, die wie die Chromulini dae von niederen nackten Formen zu beschälten höher organisierten aufsteigen. Gattung Syncrypta Ehrenb. Syncrypta volvox (Ehr.) Die nur mit zarterPellicula versehenen verkehrt eiförmigen Individuen sind durch Gallerte zu äußer- lich volvoxartigen Kolonien vereinigt (Fig. 76). Fig. 77. Hy- menomonas roseola Stein. iNach Klebs. Aus Oltmanns. Fig. 76. Syncrypta volvox Ehr. Aus Oltmanns. Nach Stein. Gattung Synura Ehrenb. Die mit dem schwanz- artig ausgezogenen Hinter- ende zu Kolonien vereinig- ten Individuen besitzen eine hautartige Hülle (Pelli- cula), aus der die Zellen vor der Teilung nackt herausschlüpfen und sich meist im Palmella- stadium vermehren. Auch amöboide Formen mit rückgebildeter Geißel kommen dabei vor (Pascher). 3. Familie Ochromonadidae Senn. Hierher gehören die Chrysomonaden mit einer Haupt- und einer Nebengeißel. Sie schließen sich eng an die eingeißeligen Chromulinidae an. Gattung Ochromonas Wyssotzki. Einzellebende Formen mit zarter Pellicula, oft wie Chrysamoeba in amöboiden Zustand über- gehend. Ochromonas mutabilis Klebs (Fig. 78). Gattung Uroglena Ehr. Uroglena volvox bildet wie Syncrypta volvocineenartige Kolo- nien. Gattung Dinobryon Ehr. Die Gattung ist ausge- zeichnet durch den Besitz von becherartigen Ge- Fig. 78. Ochro' monas muta- bilis Klebs. Nach Senn. Flagellata 1217 hausen, in der die Zellen mit dem stiel- artig ausgezogenen Hinterende festsitzen. Nach der Teilung schlüpft in der Regel nur eine Tochterzelle aus, bleibt aber am oberen Ende des Gehäuses hängen und bildet ein neues Gehäuse. Auf diese Weise können dann Kolonien entstehen. gebührt ihnen auch keine besondere im System der Flagellaten, ja daher Unterklasse bei ihrer Uebereinstimmnng mit Chromu liniden kaum eine besondere Familie, die nur aus praktischem Interesse zugestanden sei. Beispiel: Distephanus speculum Ehr. (siehe Fig. 6, S. 1181). Ka— . e Fig. 79. Dinobryon sertularia Aus Oltmanns. Ehr. Es werden neuerdings eine große Anzahl von Untergattungen, Arten und Varietäten unterschieden. Ehr. (Fig. 79). Borgert. Dinobryon sertularia 4. Familie Silicoflagellidae Die marinen Silicoflagellaten stimmen im Bau der Zellen ganz mit primitiven Chromuli- niden überein und unterscheiden sich nur durch den Besitz eines gegitterten Kieselskelettes. Deshalb an eine Verwandtschaft mit Radio- larien zu denken, liegt nicht der geringste Grund vor. Es sind typische Chrysomonaden ; Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III. 5. Familie Coccolithophoridae Lohmann. Die ebenfalls rein marinen, im Plankton vorkommenden Coccolithophoriden sind Chrysomonaden mit 1 oder 2 Geißeln, die durch den Besitz eines eigentümlichen Gehäuses charakterisiert sind, das aus so- genanntenCoccolithen, mannigfach gestalteten Scheiben von kohlensaurem Kalk zusammen- gesetzt ist. Obwohl es sich vermutlich um eine polyphyletische Gruppe handelt (Vor- kommen von ein- und zweigeißeligenFormen), sind dieselben in ihren sekundären Merkmalen (Schalenbau) so einheitlich, daß man sie als geschlossenes Ganzes behandelt. Die 8 Gattun- gen werden nur nach ihrer Schale unterschie- den (Loh mann). Hier sei nur als Beispiel eine der Formen genannt (Syracosphaera pulchra Lohm., siehe Fig. 5, S. 1180). 2. Unterordnung Cryptomonadina Stein ein. Pascher. Die Cryptomonaden sind im Gegensatz zu den Chrysomonaden stets dorsiventral ge- baut und besitzen eine bestimmt orientierte Furche, die oft mit kleinen Körnchen (Tricho- cysten?) besetzt ist und meist über das Apikaiende hinweggeht, damit den Formen eine apikale Ausrandung gibt und unsymme- trisch zur Mediane liegt. Bei den vorgeschritte- nen Formen senkt sich diese Furche median zu einem verschiedentlich ausgebildeten Schlünde ein. Chromatophoren vorhanden oder feh- lend, doch auch im letzteren Falle wird bei Chilomo nas keine geformte Nahrung aufge- nommen und das für die Unterordnung charak- teristische Stoffwechselprodukt, nämlich echte Stärke, gebildet. Bei den primitiven Formen findet sich noch keine echte Stärke, dageg< n amyloide Körner. Alle Formen besitzen zwei bandförmige Geißeln, von denen die eine ganz wenig kürzer ist als die andere. Geißel- insertion nach dem zweiten Typus, Kern nieist mit stark ausgebildetem Außenkern. Der Umfang der Unterordnung ist hier im Anschluß an Pascher weiter gefaßt, als es bisher meist üblich war, indem Formen, die früher als Chrysomonaden galten, hierher gestellt werden. Gattung Cryptochrysis Pascher. Form mit zarter Pellicula, mit Furche, aber ohne Schlund, mit 2 meist gelappten Chromatophoren. Assimilat amyloide Körner. Teilung im beweglichen Zustand. Crypto- 77 1218 Flagellata cömmutata Art einzige chrysis Pascher (Fig. 80). Wyssotzkia bicili- ata Wyss. Aehnliche Art, doch mit sehr metabolischem Körper und gleichzeitiger tierischer Ernährung. Vermehrung Fig. 80. Crypto- chrysis phaeo- p h y c o r u m Pascher. Nach Pascher. im unbeweglichen Zu- stand. Früher meist zu den Chrvsomonaden ge- stellt. Gattung,' Protochrysis Pascher. Diese Gattung ist ausgezeichnet dadurch, daß die Furche in die Aequatorialebene herabgerutscht ist und die Geißeln somit seitlich stehen. Sie kann als ein Ausgangs- punkt für die Entwickelung der Dino- flagellaten angesehen werden. Einzige Art Protochrysis phaeophvcearum Pasch (siehe Fig. 17, S. 1185). Gattung Cryptomonas. Typische Cryptomonaden mit derber, oft gestreifter Pellicula und deutlichem Schlund. Assimilat echte Stärke. Hierher gehören auch die meisten Zooxanthellen, die symbiotisch in niederen Tieren (Radio- larien, Foraminiferen usw.) leben, so z. B. Cryptomonas schaudinni in der Fora- minifere Peneroplis pertusus (Fig. 81). Fig. 81. Cryptomonas schaudinni Winter. Nach Winter. Aus Doflein. Gattung Chroomonas Hansg. em. Pascher. Verhältnismäßig primitive Formen mit 1 bis 2 blaugrünen bis blauen Chromato- phoren, z. B. Chroomonas baltica. Gattung Rhodomonas Karsten. Parallele Gattung mit rotbraunen Chro- matophoren. Gattung Cyathomonas Fromental Typische Cryptomonade mit fester Pelli- cula und deutlichem Schlund mit sogenann- tem Schlündring. Ohne Chromatophoren mit tierischer Ernährung. Die einzige Art Cyathomonas truncata (siehe Fig. 7, S. 1181 und Fig. 19, S. 1187) wurde vielfach zu den Protomonadinen gestellt, ist aber neuerdings durch Uleha als echte Crypto- monade erwiesen. Gattung Chilomonas Ehrenb. Chilomonas paramaecium Ehrenb. ist eine langgestreckte Cryptomonade mit tiefem Schlund, aus dessen Grunde die Geißeln entspringen und der mit besonderen Körnern (Trichocysten) ausgekleidet ist. Ernährung saprophytisch, doch im Plasma viele Stärke- körner. Vermehrung durch Längsteilung im beweglichen Zustand. An diese typischen Cryptomonaden sind nun auch nach Pascher eine Reihe von Formen anzuschließen, die den größten Teil ihres Lebens im unbeweglichen, gallertigen Ruhezustand verbringen und größere Lager, ja völlig algenähnliche Kolonien bilden. Sie wurden früher meist den Chrysomonaden angegliedert, finden aber, wie Pascher gezeigt hat, ihre richtige Stellung hier; sie werden von Pascher als Familie der Phaeocapsidae zusammengefaßt. Hier seien nur einige Typen kurz beschrieben. Gattung Phaeocystis Lagerh. Phaeocystis poucheti Lag., eine marine Planktonform, bildet Kolonien in Form stark gelappter Blasen, die im Innern Flüssigkeit enthalten. Die ruhenden Zellen können sich teilen und dann ausschwärmen, um neuen Kolonien den Ursprung zu geben. DerFlagellatenzustand ist noch nicht genauer untersucht, zeigt aber nach den vorliegenden Abbildungen Cryptomonadencharakter. Bei der im Süßwasser auf Cladophoren angeheftete scheibenartige Kolonien bilden- den Naegeliella flagellifera und dem auf feuchter Erde usw. in Form gallertiger Massen auftretenden Phaeococcus c le- rne n ti Borzi ist der Cryptomonaden- charakter der Schwärmer noch deutlicher. Gattung Phaeothamnion Lagerh. Bei dieser Gattung, die im Süßwasser auf Cladophoren sich findet, weisen die Kolonien schon ganz den Charakter von Fadenalgen auf und es ist Geschmacksache, ob man sie noch als Flagellat oder als niedersten Ver- treter der Braunalgen betrachten will. Die Schwärmer besitzen Cryptomonadenorgani- sation. Nach Borzi können die Individuen der Kolonie nach Abrundung auch zwei bis vier Schwärmer (Gameten) bilden, die kopulieren (Fig. 82). Flagellata 1219 ende entspringen. Unter der Pellicula findet sich ein Alveolarsaum. Vermehrung in Gallertcysten. Gattung Rhaphidomonas Stein. Der Körper dieser Gattung ist eiförmig, stark zusammengedrückt, wenig metabol. Fig. 82. Phaeothamnion confervicolum Lag. 1 kleine Kolonie Schwärmer bildend, 2 Bildung von Gameten. Nach Borzi. Ans Oltmanns. Ordnung Chromomonadina Klebs. Die Chromomonadina sind eine kleine, nur wenige Formen umfassende Gruppe, die aber infolge ihrer eigentümlichen Organisation und mangels deutlicher Uebergangsformen zu anderen Gruppen mit Klebs als besondere Ordnung zu betrachten ist. Die hierher gehörigen Formen haben eine deutliche aber zarte Pellicula und sind mehr oder weniger metabol. Sie besitzen zahlreiche scheibenförmige Chromatophoren (mit Aus- nahme der apochromatischen Thaumato- mastix), jedoch kein Stigma. Als Assimi- lationsprodukt findet sich fettes Oel. Am Vorderende neben der Geißel befindet sich ein System von 2 bis 3 Vakuolen. Die Er- nährung ist holophytisch oder saprophy tisch. Es sind 2 ungleich große Geißeln vor- handen und große Kerne nach Euglenaart. Die Vermehrung findet im Ruhezustand statt, die Cysten besitzen oft eine Gallert- hülle. Die ganze Gruppe ist noch sehr wenig erforscht. 54' m f§M4t Fig. 84. Rha- phidomonas seinen Stein. Nach Stein. Aus Senn. Gattung Vacuolaria Cienk. Vacuolaria virescens (Fig. 83) hat einen birnförmigen stark metabolen Körper (56 bis 138 li), eine Vorder- und eine Schlepp- geißel, die aus einer Vertiefung am Vorder- Fig. 83. Vacuolaria virescens Cienk. Nach Senn. Gegenüber der vorigen ist sie durch den Besitz von Trichocysten am Vorderende gekennzeichnet, Rhaphidomonas seinen Ehr. (Fig. 84). Gattung Thaumatomastix Lauterborn. Thaumatomastix setifera Lauterb. Farblose Art, abgeplattet, mit feinen Borsten auf der Pellicula, vermag von der Ventral- seite plötzlich feine Pseudopodien zu ent- senden, die wahrscheinlich im Dienste der Nahrungsaufnahme stellen. 7. Ordnung Euglenoidina Ivlebs. Die Euglenoidina sind sehr hoch ent- wickelte Flagellaten, die durch eine feste, oft gestreifte oder skulpturierte Plasma- membran, ein kompliziertes, aus Haupt- und Nebenvakuolen bestehendes Vakuolen- system und das Vorkommen von Paramylon ausgezeichnet sind. Außerdem kommt noch fettes Oel als Stoffwechselprodukt vor. Der Körper ist meist metabol, doch ist auch hierbei die Pellicula, durch Einlagerung spiral verlaufender Fibrillen gefestigt; auch 77* 1220 Flagellata vollkommen starre Formen sind sehr häufig. Grüne Chromatophoren vorhanden oder fehlend, bei vielen Formen ein rotes Stigma. Bei Formen mit Aufnahme fester Nahrung findet sich ein Mund. Die 1 bis 2 Geißeln sind am Vorderende in einer Grube, bei Formen mit Schlund am Grunde des- selben inseriert. Die Kerne sind fast durch- weg vom 3. Kerntypus, der direkt der Euglenidentypus genannt werden kann (s. allg. Teil S. 1182). Ernährung holophytisch, saprophytiseh oder tierisch. Kopulation nur bei der nicht typischen Form Copromonas be- obachtet. i. Familie Euglenidae Ehrenberg. Ein- bis zweigeißelige Formen mit grünen Chromatophoren und rotem Augenfleck. Ernährung in der Hauptsache holophytisch, doch besteht Neigung für organische Stoffe. Häufig rotierende Bewegung, auch spiralige Drehung der Körperachse. Gattung Eutreptia Perty. Spindelförmige, hinten zugespitzte Ge- stalt mit 2 gleichlangen Geißeln. Lebhafte Körpermetabolie. Membran zartgestreift, die Chromatophoren sind scheibenförmig. Das Vakuolensystem besteht aus mehreren pulsierenden Nebenvakuolen, die in die Hauptvakuole einmünden. Eutreptia viridis in Süß- und Salz- wasser. Gattung Euglena Ehrbg. Ebenfalls metabole Formen von spindel- bis bandförmiger Gestalt. Plas- mamembran ziemlich derb und meist spiralig gestreift durch Einlagerung elasti- scher Fibrillen. Chromatophoren von ver- schiedener Gestalt, die bei Kultur in starken organischen Nährlösungen oder im Dunkeln zu Leukoplasten reduziert werden. Eine Geißel, die aber mit zwei „Geißelwurzeln" im Plasma verankert ist. Die zweite Geißelwurzel entspricht wahr- scheinlich einerzweitenrückgebildeten Geißel. Teilung meist in abgekugeltem Zustand. Euglena viridis Ehr. (Fig. 85), mit sternförmigem Chromatophor und spindel- förmiger Gestalt. Euglena oxyuris Sc hm. mit scheiben- förmigen Chromatophoren und spiralig ge- drehter Gestalt. Euglena sanguinea durch Ausbildung eines roten Farbstoffes häufig blutrot ge färbt; mit grünen Chromatophoren. infolge der starken Ausbildung der Plasma - membran nicht möglich. Scheibenförmige Chromatophoren. Phacus pleuronectus Nitsch (Fig. 86). Fig. 85. Euglena viridis Ehr. Nach Senn. Fig. 86. Phacus pleuronectus Nitzsch. Nach Senn. Gattung Trachelomonas Ehrbg. Freischwimmende Form mit festem Ge- das nur eine Oeffnung zum Durchtritt der Geißel besitzt. Nach der Teilung verläßt ein Tochtertier das Gehäuse in nacktem Zustand, um darauf selbst ein Gehäuse zu bilden, das zunächst noch weich ist, bald aber förmige] erstarrt und durch Einlagerung von Eisen- salzen braun gefärbt Metabolie braun gefärbt wird, innerhalb der Hülle lebhaft. Trachelomonas hispida Stein (siehe . 4, S. 1180) mit stacheligem Gehäuse. Fig Gattung Phacus Nitzsch. Stark abgeplattete Gestalt mit deutlich spiralig gestreifter Pellicula, Metabolie ist 2, Familie Astasiidae Bütschli. Farblose, in ihrer Organisation den Euglenen sehr nahestehende Formen, mit einer langen, oder einer langen und einer kurzen stummeiförmigen Geißel. Ernährung saprophytiseh, Teilung im Geißelzustand. Süßwasser-, marine und parasitische Arten. Gattung Astasia Duj. Spindelförmig mit stark metaboler Be- wegung, farblos, eine Geißel, Plasmamembran meist gestreift. Kern im hinteren Körper- abschnitt. Astasia Seh mar da (Fig. 87). margaritifera Gattung Distigma Ehrbg. Unterscheidet sich von Astasia durch den Besitz einer zweiten kurzen Geißel und noch stärkere Körpermetabolie. Distigma p r o t e u s E h r b g. mit zentral gelegenem Kern. Flagellata 1221 3. Familie Peranemidae Stein. Etwas abweichende Formen mit sapro- phytischer oder tierischer Ernährung-. Mei- stens Differenzierung in Bauch- und Dorsal- seite. Auf ersterer liegt die spaltförmige Mundöffnung; selten liegt sie terminal. Die Tiere kriechen meist auf der Bauchseite, nur wenige schwimmen unter Rotation des Körpers. Zuweilen ist ein Schlundorgan vorhanden, das bei Entosiphon vorge- stülpt werden kann. Die Familie ist wahr- scheinlich nicht ganz einheitlich. Nach Zahl und Anordnung der Geißeln und der Art der Oberfläche teilt Senn die Peranemidae in mehrere Unterfamilien seien hier genannt: Gattung Entosiphon Stein. Ovale, nur mit 2 Geißeln. wenig abgeplattete Form Mundöffnung fast ter- Von den Gattungen minal mit langem, vorstreckbarem ..Stab- organ'". Entosiphon sulcatum Duj. (siehe Fig. S. S. 1181). Gattung Heteronema Stein. Ebenfalls zweigeißlig, doch wird die Schwimmgeißel nur am Vorderende bewegt, die hintere Geißel ist sehr kurz. Metabol, Membran meist schraubig gestreift. Hetero- nema klebsii Senn (Fig. 88). Körper langgestreckt, spiralig gedreht, Kern groß. Gattung Anisonema Duj. Zwei Geißeln, von denen die eine, in ihrer ganzen Länge schlagend, nach vorn gehalten wird, während die zweite als Schleppgeißel funktioniert. Plasmamembran glatt oder gestreift. Auf der Bauchseite verläuft eine Längsfurche, in der die Mund- öffnung liegt. Anisonema acinu s D u j. mit euglenaartigem Kern. Vakuolensystem links. Fig. 87. Astasia iritifi Nach margaritifera Schmarda. Senn. Fig. 88 11 e in a S . IT et (MO - k 1 e b s i i enn. Gattung Petalomonas Stein. Ebenfalls nach Senn Vertreter einer besonderen Unterfamilie. Nur eine Geißel, die bei der Bewegung nach vorn gestreckt und nur an der sich verjüngenden Spitze bewegt wird. Formbeständig, Membran nicht gestreift. Abgeplattete, unsymmetrische Formen von oft bizarrer Gestalt. Gattung Peranema (Ehr.) Stein. Vertreter der gleichen Unterfamilie der Peranemidae. Die Geißel wird ruhig nach vorn gehalten und nur die Spitze führt rotierende Bewegungen aus. Die Geißel entspringt am Grunde des tiefen Schlundes von einem Basalkorn, daneben eine zweite Geißelfibrille, die aber nur bis zur Mund- öffnung reicht und mit einem Knopf endet (Fig. 89). Plasmamembran ziemlich fest Fig. 89. Schlundregion mit In- sertion der Geißeln und Stab- organ von Peranema t r i c h o - p h 0 r u m . Nach II a r t m a 11 n und Chagas. : ... und spiralig gestreift. Metabol. Peranema trichophorum Stein. Süßwasser. Gattung Scytomonas Stein. Der nicht metabole Körper isi oval bis länglich, die Geißel rotiert nur an der Spitze. Plasmamembran fest, nicht gestreift. Scyto- monas ist die einzige Euglenoide, bei der Kopulation sicher beobachtet ist. Kein mit großem Caryosom, Augenkera wenig ausgebildet. Scytomonas subtilis Dobell. Teilung im freibeweglichen Zustand. Der Kern soll sich dabei amitotisch teilen. In den Kulturen kommt regelmäßig Kopulation 1222 Flagellata vor, worauf die Zygote eine Dauercyste bildet. Aus Froschkot. Scytomonas major Berliner. Aehn- liehe, aber größere Form. Bei der Kern- teilung bildet das Caryosom eine Spindel mit Zentriolen und Aequatorialplatte, während der Außenkern anscheinend regellos verteilt wird. Er bildet dabei Pseuclopolplatten. II. Subklasse Dinoflagellata Bütschli. Die Dinoflagellaten oder Peridineen bilden trotz ihrer außerordentlichen Mannigfaltig- keit in der äußeren Gestaltung eine einheit- liche, gut abgegrenzte Gruppe, die durch ihre Geißelverhältnisse und den Kernbau, bei den typischen Formen außerdem durch die besondere Gestaltung der Oberfläche (Furchenstruktur und Zellulosepanzer) cha- rakterisiert sind. Es finden sich zwei ungleiche Geißeln, die bei den Prorocentriden am Vor- derende, bei den übrigen typischen Formen jedoch ähnlich wie bei der Cryptomonacle Protochrysis (s. Fig. 17, S. 1185) von der Seite (Bauchseite) entspringen, wobei eine, die Längsgeißel in einer Furche der Ober- fläche (Längsfurche) nach rückwärts ge- richtet ist, während die zweite, die Quer- geißel, in der sogenannten Querfurche sich um den Körper schlingt. Letztere führt in ihrer Furche nur schlängelnde Wellen- bewegungen aus, erstere schlägt peitschen- förmig. Die typischen Peridineen besitzen eine konstante Gestalt, an der eine Bauch- und Kückenseite, sowie ein apikaler (vorderer) und antapikaler Pol unterschieden werden. Die Oberfläche ist nur bei den Gymnodinien nackt resp. weist nur eine feine Pellicula oder dünne Zellulosemembran auf, bei allen übrigen Formen finden sich feste Panzer, die zwar nicht reine Zellulosereaktion geben, aber doch vorwiegend aus Zellulose bestehen. Der Zellulosepanzer ist oft mit mannigfaltigen Fortsätzen (Seh webe Vorrichtungen) ausge- stattet; Abbildungen und Beschreibungen davon finden sich in dem Artikel „Plank- ton". Bei Gymnodinien kommen auch geißel- lose Formen vor, die nur noch gelegentlich oder überhaupt keine Flagellaten- (Schwär- mer-) Stadien bilden; auch die Furchen- struktur kann rückgebildet sein. Derartige Formen können einen vollkommen algen- artigen Habitus annehmen. Eine dieser Formen Pyrocystis erscheint durch Gallert- einlagerung im erwachsenen Zustand als große geißellose Kugeln, die sehr an das Cystoflagellat Noctiluca erinnern, wohl von solchen Formen abzuleiten ist. meisten Formen sind holophytisch und sitzen viele kleine, sehr zarte Chromato- phoren; doch kommt auch tierische Er- nährung vor und neuerdings sind eine An- zahl parasitischer Formen bekannt geworden. das Die be- Das Vakuolensystem (s. Fig. 9, S. 1181) sowie Kernbau und Kernteilung (s. Fig. 14) wurden schon im Allgemeinen Teil beschrieben. Die Vermehrung findet im beweglichen oder ruhenden Stadium durch ein- oder mehrmalige Teilung statt, und zwar bei Prorocentriden und Dinophysiden durch Längsteilung, bei Gymnodinien und Peri- diniden durch Querteilung, resp. schiefe Teilung. In manchen Fällen findet eine ein- oder mehrmalige Teilung im Innern der alten Membran oder von Gallertcysten statt, und die „Schwärmer" bilden dabei neue Mem- branen aus. Bei Pyrocystis lunula teilt sich der Körper innerhalb seiner Hülle, der „Muttercyste", in 16 Teile, die zu den so- genannten gehörnten Cysten (Fig. 90 c) wer- den. Nach Zerreißen der Mutterevste ent- e~ c Wl-JI Fig. 90. Pyrocystis lunula Schutt, a Mutter- cyste, b Stadium mit 4 Teilprodukten, c ge- , hörnte Cyste, d dieselbe nach Bildung der 8 Gym- nodiniumschwärmer. Nach Dopiel. Aus Doflein. stehen in diesen 8 (selten nur 1, 2 oder 4) Gymnodien, die ausschwärmen (Fig. 90 d). Man vermutet in ihnen Gameten, doch ist Flagellata 1223 nichts Sicheres über Befruchtungsyorgänge be- kannt ; dagegen ist für ein parasitisches Gym- nodium eine derartige Gametenbildung und Befruchtung beobachtet. Für Ceratium hirundinella ist von Zederbauer eine Hologamie nach Austritt aus dem Panzer an- gegeben worden ; doch kann es sich auch um eine zufällige Plasmogamie handeln. Die Dinoflagellaten werden eingeteilt in 4 Familien: 1. Prorocentridae Schutt. 2. Gymnodinidae Bergh, 3. Peridinidae Bergh, 4. Dinophysidae Bergh u. Stein. Die 3 letzten Familien werden vielfach als Ordnung D in if er a zusammengefaßt und der 1. als Ordnung Adinicla gegenübergestellt. i. Farn. Prorocentridae Schutt. Dinoflagellaten ohne Furchenstruktur mit 2 Geißeln am Vorderende, von denen die eine gerade nach vorwärts gerichtet ist, die andere seitlich wellenförmig sich herumschlingt (Quergeißel). Feste Membran aus 2 gleichen Zelluloseschalen, die in der Sagittalebene (Gürtelebene) mit zugeschärften Rändern übereinandergreifen. Am Vorderende an einer der Schalen eine Ausrandung als Geißel- spalte. Fortpflanzung durch Längsteilung in der Gürtelebene, wobei je ein Tochtertier eine Schalenhälfte mitbekommt und die andere dann neubildet. Marine Planktonformen. Gattung Exuviaella Cienkowsky. Oval, schwach abgeplattet. Zwei große plattenförmige oder viele kleine scheiben- förmige gelbe Chromatophoren. E. marina Cienk. (Fig. 91). A / Fig. 92. Proro centrum micans Ehr. A von der Flache, ß von der Naht- seite. Nach Schutt. Ans Oltmanns. 2. Farn. Gymnodinidae Bergh. Typische Dinoflagellaten mit Furchen- struktur und in der Längsfurche auf der Bauchseite nahe beieinander entspringender Längs- und Quergeißel. Querfurche oft schraubig. Oberfläche entweder nackt (manchmal amöboid) oder mit feiner Mem- bran. Fortpflanzung Querteilung im beweg- lichen Zustand oder in Cysten. Marin, Süß- wasser und parasitisch. ( iattung Gymnodinium Stein. Mit den Charakteren der Familie (Fig. 93). Gattung Pyrocystis Murray. Im erwachsenen Zustand geißellose, stark gallertige Kugel. Vermehrung s. oben S. 1222 und Fig. 90. Gattung Polykritos Bütschli. Polvenergide Formen, die durch eine Art Koloniebildung Ketten von unvollkommen getrennten (2, 4 oder 8) Individuen mit ent- Fig. 91. Exuviaella marina Cienk. A von der Fläche, B von der Nahtseite. Nach Schutt. Aus Oltmanns. Fig. 93. Gymnodinien. 1 und 2 Gymn. rhomboides Schutt von der Rücken- (1) und Bauch (2) seite, 3 G. spicale Bergh, qf Querfurche lf Längsfurche. Nach Schritt. Aus Oltmanns. , Prorocentrum Ehrenberg. Gattung Herzförmig, stark abgeplattet. Neben der Geißelspalte zahnartiger Fortsatz. Pr. mi- cans Ehr. (Fig. 92). sprechenden Geißelpaaren, aber nur 2 Kernen bildet (Fig. 94). Gattung Blastodinium Chatton. Geißellos, parasitisch im Darm pelagischer 1224 Flagellata vr.p. Fig. 94. Polykri- tos schwartzi Bütschli. Bauch- seite. Konstante Ein- schnürung zwischen den Individuen, lf Längsgeißel, lrp Po- rus der Längsgeißel - spalte, n Kerne, trfl Quergeißel, trfp Quergeißelporus. Nach Kofoid. Aus D o f 1 e i n . Copepoden. Bildet durch eigenartige Ver- mehrung innerhalb der ursprünglichen Mem- bran merkwürdige Kolonien, deren Einzel- individuen als kleine Gymnodinien aus- schwärmen. 3. Farn. Peridinidae Bergh. Typische Dinoflagellaten mit Furchen- struktur und aus einzelnen Platten bestehen- dem Zellulosepanzer. Die Querfurche liegt in einer besonderen Platte, der Ringtafel (Fig. 95), welche zusammen mit der die Längsfurche enthaltenden Schloßtafel den Gürtelpanzer bildet. In der Schloßtafel die Geißelspalte. Auch die übrigen Platten der sogenannten Ober- und Fjnterschale sind in für die Arten charakteristischer Zahl und Anordnung aus- gebildet. Vermehrung durch schiefe Teilung, wobei der Panzer schief aufreißt und jedes Tochtertier eine Hälfte erhält, während der Rest neugebildet wird (Fig. 96). Von den zahlreichen Gattungen seien genannt: Gattnng Goniodoma Stein. Regelmäßige polyedrische Form, tiefe Ring- furche etwa in der Mitte. Marin. G. acumi- natum Ehr. (Fig. 95). Gattung Ceratium Schrank. Deckelplatten zu langen Hörnern gezogen. Kettenbildung verbreitet. C, rundine IIa, Süßwasser (Fig. 96). aus- hi- schl II! Fig. 95. Goniodoma acuininatum Ehr. Von der Bauchseite, g Gürtelpanzer mit Quer- furche, schl Schloßplatte, d Deckeltafeln, gsp Geißelspalte. Nach Schutt. Aus Oltmanns. Fig. 96. Ceratium hirundinella. Teilungs- stadien. Aus Oltmanns. 4. Farn. Dinophysidae Stein u. Bergh. Dinoflagellaten mit Furchenstruktur; Querfurche weit nach vorn verschoben. Zellulosepanzer durch eine Sagittalnaht in. 2 Hälften geteilt. Ober- und Unterschale sonst nicht aus einzelnen Platten zusammen- gesetzt. Vermehrung durch Längsteilung in der Sagittalnaht, Von den zahlreichen, oft mit bizarren Fortsätzen ausgestatteten For- men sei hier nur Dinophysis acuta Ehr. als Beispiel erwähnt (Fig. 97). III. Subklasse Cystoflagellata Häckel. Diese Klasse umfaßt nur drei Gattungen mit je einer Art, die durch reichliche Gallert- Flagellata 1225 Fig. 97. Dinophysis acuta Ehr. a von der Seite, b vom Rücken. Nach Schutt. Aus Oltmanns. einlagerung in die von einer kräftigen Pelli- cula umschlossene Zelle eine für Flagellaten enorme Größe erreicht haben. Sie besitzen eine Geißel, die nicht mehr der Fortbewegung dient. Chromatophoren sind nicht vorhanden, sie ernähren sich animalisch. Alle drei Formen sind marine Planktonformen. Wegen ihrer großen Verschiedenheit seien im fol- genden die beiden einzeln betrachtet. bekanntesten Formen Gattung Noctiluca Sur. Noctiluca miliaris (Fig. 98), die einzige Art weist einen kugeligen Körper von 1 bis 1,5 mm Durchmesser auf, der aber nur zum kleinsten Teil aus Protoplasma be- steht, das in Form von reichlich sich tiplen Kno verästelnden Strängen (ähnlich wie Pflanzen- zellen) die nach außen durch eine feste Pelli- cula abgegrenzte Kugel durchzieht, wäh- rend der Rest mit gallertiger Substanz aus- gefüllt ist. Nur an dem oberen Pol findet sich eine größere Ansammlung von Proto- plasma, das sogenannte Zentralplasma, in welches der Kern eingelagert ist und von dem aus die übrigen Plasmastränge strahlig aus- laufen. An diesem Pole befindet sich auch eine leichte Einstülpung der Pellicula, das Peristom, an dessen Grunde eine spalt- förmige Mundöffnung liegt. Im Vorder- ende des Peristoms entspringt ein tentakel- artiges Organ, das eine Querstreifung auf- weist, die sogenannte Bandgeißel. Mit einer Flagellatengeißel hat dieses Organ nichts zu tun. Eine echte Geißel findet sich dagegen an der Peristomwand, doch führt sie nur sehr schwache Bewegungen ans und dient ver- mutlich zur Nahrungsaufnahme. Der Kern ist außerordentlich groß, neben ihm findet sich ein in einer großen Sphäre liegendes Zentriol. Genaueres über Bau und Teilung des Kernes s. im allgemeinen Teil S. 1184. Noctiluca ernährt sich von allerhand Protozoen, sowie kleinen Metazoen (Cope- poden). Von Fortpflanzungsvorgängen ist sowohl eine einfache Längsteilung, als auch eine multiple Knospung mit Bildung kleiner Schwärmer bekannt. Die früher angegebene Konjugation, sowie Kopulation erwachsener Tiere ist nicht sicher gestellt, da es sich um Teilungsstadien oder Plasmogamien han- deln kann. Eventuell sind die bei der mul- spung entstehenden Schwärmer \ # * ■ • « • " - / Fig. 98. Noctiluca miliaris Sur. A vegetatives Individuum, B bis D Schwärmerbildung, E, F Schwärmer. Aus Doflein. 1226 Flagellata Fluoreszenz die Gameten. Ein Tier bildet 250 bis 500 derartige Schwärmer, die eine Art Quer- furche, eine nach hinten gerichtete Geißel, sowie einen merkwürdigen Fortsatz aufweisen, der vermutlich später zur Bandgeißel wird. Die Geißel wird vom Zentriol aus gebildet. Die ganze Gestalt der Schwärmer erinnert sehr an Gymnodinien. N o c t i 1 u c a ist eine kosmopolitische Form, die manchmal in ungeheuren Mengen auf- tritt. Ihren Namen hat sie von ihrer Fähig- keit zu phosphoreszieren (Meerleuchten). Gattung Leptodiscus R. Hertwig. Leptodiscus medusoides (Fig. 99) ist bisher nur in Messina gefunden. Der Körper — Senn, Flagellaten in: Engler und Prandil, Natürliche Pflanzenfamilien. Leipzig. — Ferner die einschlägigen Artikel in Kolle-Wasser- mann, Handbuch der pathogenen Mikro- organismen, 2. Aufl. Jena 1912 u. 1913. M. Hartmann und H. Schüssler, Flexur Fig. 99. Leptodiscus medusoides R. Hert- wig. Optischer Durchschnitt (oben), von der Fläche (unten), f Geißel, m Mund, n Kern, o Zuleitung zum Mund, p Protoplasmastrang. Nach R. Hertwig. hat die Form einer leicht gewölbten Scheibe oder Schale, ähnlich dem einer Meduse. An der höchsten Stelle der Wölbung liegt das Zentralplasma mit Kern. Neben dem Kern findet sich eine Mundöffnung, auf der andern Seite ein Kanal, an dessen Grunde die kleine Geißel entspringt. Die Tiere schwimmen nach Art der Medusen durch Rückstoß, in- dem die Peripherie der Scheibe sich rhyth- misch kontrahiert. Diese Kontraktion soll bedingt sein durch Myoneme, die auf der konkaven Seite verlaufen. Literatur. Zusammen fassen de größere Werke, in denen sich die weitere Literatur findet : Bütschli, Protozoen II, in : Bronn, Klassen und Ord- nungen des Tierreiches, 1882 bis 1887. — Dof- lein, Lehrbuch der Protozoenkunde, 3. Aufl. Jena 1911 (hier die neuere Literatur ziemlich voll- ständig). Lang, Vergleichende Anatomie, 2. Aufl., 1. Lief., Protozoa. Jena 1901. — Oltmanns, Morphologie und Biologie der Algen. Jena 1904- — V. Prowazek, Handbuch der pathogenen Protozoen. Leipzig 1907 bis 1913. = Scliichtenbiegung (vgl. den Artikel Schichtenbau"). Flourens Marie Jean Pierre. 1794 bis 1867, Professor der vergleichen- den Anatomie in Paris, einer der berühm- testen Experimentalphysiologen der Neuzeit. Er wurde geboren in Mauveilhon bei Beziers (Departement Herault), lebte seit 1848 in Paris als Privatmann und war ständiger Sekretär des Instituts. Seine Arbeiten betreffen u. a. die Entwickelungsgeschichte, die Hirnphysiologie und die Ernährung der Knochen. 1837 entdeckte er als „point vital" das respiratorische Zentrum. Flourens war auch ein bedeutender Schrift- steller und Stilist. Die Titel einiger seiner Schriften lauten: Cours sur la generation, l'ovologie et l'em- bryologie etc. (Paris 1836); Recherches experimen- tales sur les proprietes et les fonetions du Systeme nerveux etc.; Theorie experimentale de la for- mation des os (1847). Literatur. Biogr. Lex. ed. Paget. J. Fagel. Flöz. Früher Synonym für „Schicht" (Flöz- gebirge = geschichtete Gesteine), heute nur noch angewendet für technisch-wichtige Schichten oder Lager (Steinkohlenflöz. Kupferschieferflöz usw.). Fluoreszenz. 1. Fundamentalerscheinung. 2. Erregung der Fluoreszenz. Stokes' Regel. 3. Absorption und Fluoreszenz. Sichtbare und ultraviolette Fluo- reszenz. 4. Beobachtung der Fluoreszenz. 5. Ul- traviolette Fluoreszenz des Benzols. 6. Einfluß der Substituenten auf die Fluoreszenz der Benzol- verbindungen. 7. Einfluß der Salzbildung auf die Fluoreszenz. 8. Einfluß des Lösungsmittels auf die Fluoreszenz. 9. Fluoreszenz bei nicht- aromatischen Verbindungen. 10. Fluoreszenz bei anorganischen Stoffen. 11. Elektroato- mistische Deutung der Fluoreszenzerscheinungen, Fluoreszenz 1227 i. Fundamentalerscheinung. Die Fluor- eszenz gehört wie die mit ihr verwandte Phos- phoreszenz zu den Lumineszenzerscheinungen (vgl. die Artikel ,,Lu m i n es z e n z" und „Phosphoreszenz"), bei denen die Strah- lungsvorgänge ohne entsprechende Tempera- tursteigerung vor sich gehen und für die das Kirchhof f sehe Gesetz von Ab- sorption und Emission keine Gültigkeit hat. Fluoreszenz nennt man die eigenartige Lichtemission, die gewisse Stoffe bei Beleuch- tung mit starken Lichtquellen zeigen und die momentan wieder verschwindet, falls die erregende Lichtquelle entfernt wird. Die von der Lichtquelle getroffenen Körper werden somit unter dem Einfluß des Licht- feldes gewissermaßen selbstleuchtend. Zur Beobachtung der Fundamentalerscheinung der Fluoreszenz erzeugt man durch Sonnen- licht oder eine andere helle Lichtquelle mit Hilfe einer Sammellinse einen Strahlenkegel in der zu untersuchenden Substanz, z. B. einer Lösung. Ist letztere optisch leer, d. h. frei von schwebenden Teilchen, so ist bei Abwesenheit von Fluoreszenz der Strahlen- gang innerhalb des Körpers nicht zu beob- achten. Bei fluoreszenzfähigen Stoffen hin- gegen geht von dem Strahlenkegel Licht bestimmter Farbe, das Fluoreszenzlicht aus, das nicht polarisiert ist und sich dadurch von dem in optisch nicht leeren, d. h. trüben Medien auftretendem Opaleszenzlicht unter- scheidet. Charakteristisch für diese Strahlungs- vorgänge ist, daß das in den fluoreszierenden Körper eindringende Licht nicht einfach absorbiert und in Wärme verwandelt, son- dern teilweise als Licht von anderer Brech- barkeit abgegeben wird. Die Eigenschaft der Fluoreszenz ist nicht an einen bestimmten Aggregatzustand ge- bunden. Von festen Stoffen sei Flußspat ge- nannt, von dem die Erscheinung ihren Namen erhalten hat, ferner Anthracen, das in reinem Zustande prächtig blau fluoresziert. Mit fluoreszierenden Lösungen, die die organische Chemie in sehr großer Zahl kennt, werden wir uns noch eingehend zu beschäftigen haben. Stoffe, die in gasförmigem Zustande .fluores- zenzfähig sind, kennt man im Jod, sowie verschiedenen Metallen, wie Natrium und Quecksilber. Fluoreszenz ist ferner so- wohl bei indifferenten Stoffen als auch bei Elektrolyten aufgefunden; als Beispiele für erstere seien die Lösungen gewisser Kohlen- wasserstoffe in Alkohol, Aether usw., für letztere die wässerigen Lösungen des Fluo- reszeinnatriums, des salzsauren Fluorindins und ähnliche genannt. Eine vollständige Zusammenstellunü; der fluoreszierenden Stoffe findet man in dem von H. Konen bearbeiteten Artikel Fluores- zenz in Kays er s Handbuch der Spektro- skopie, Bd. 4. In den Fällen der fluoreszierenden Lö- sungen genügen häufig äußerst geringe Konzentrationen zur Ausbildung eines deut- lichen Effektes. Fluoreszein und Eosin verraten in wässeriger Lösung noch Fluores- zenz bei Konzentrationen, wo der Nachweis dieser Stoffe durch andere Methoden kaum oder doch nur ganz unsicher gelingt; so ist Eosin in molekularen Konzentrationen von ca. 10^10noch nachweisbar (lg/Mol. in 10000 Mill. Liter Wasser). Bekanntlich macht man von dieser Eigenschaft Anwendung zur Untersuchung des Laufes unterirdischer Quellen. Bis vor wenigen Jahren hatten die Fluoreszenzerscheinungen lediglich physika- lische Bedeutung, den Chemiker interessierten sie nur insofern, als er sie zur Charakteri- sierung und Identifizierung chemischer Indi- viduen benutzen konnte. Diese Sachlage hat sich jedoch geändert, nachdem Bezie- hungen zwischen dem Bau des chemischen Moleküls und der Eigenschaft zu fluores- zieren aufgefunden wurden. In diesem Artikel soll vorwiegend eine Darstellung der chemischen Seite des Problems gegeben, die physikalische Seite nur berührt werden; eine eingehendere Berücksichtigung der letzteren findet man im Artikel „Lumines- zenz". Bei der höher entwickelten Syste- matik der organisch-chemischen Verbin- dungen werden vorwiegend diese zu be- rücksichtigen sein. 2. Erregung der Fluoreszenz ; Stokes' Regel. Genaue spektralanalytische Unter- suchungen ergaben einen wichtigen Zusam- menhang /wischen der Natur des erregenden und des ausgestrahlten Lichtes. Wie zahl- reiche Versuche besonders mit fluoreszierenden Lösungen gezeigt haben, sind es die stärker brechbaren Strahlen, die blauen, violetten und ultravioletten, die die Emission des Fluoreszenzlichtes bewirken, während die weniger brechbaren, z. B. gelben und roten Strahlen, die Erscheinung nicht hervorrufen. Diese Tatsache wurde schon von Stokes (1852) aufgefunden und nach ihm die S I o k es sehe Regel benannt; wie spätere suchungen erwiesen, ist ohne Ausnahme, indem l'nter- sie jedoch nicht eine Reihe stark kurz- err egl farbiger Stoffe häufig auch durch welligere Strahlen zur Fluoreszenz werden können als dvr Wellenlänge des ans gesandten FTuoreszenzlichtes entspricht. In der Regel handelt es sich bei der Erscheinung jedoch um eine Verwandlung der in den Stoff eindringenden Strahlen von großer Brech- barkeit in solche von geringerer Brechbar- keit. 3. Absorption und Fluoreszenz. Sicht- bare und ultraviolette Fluoreszenz. Als 1228 Fluoreszenz weitere direkte Folgerung aus den Ver- suchen sind die ohne Ausnahme geltenden Beziehungen zwischen Absorption und Fluo- reszenz zu erwähnen: Stets ist mit einer Fluoreszenz auch Absorption des Lichtes verknüpft. Alle für unser Auge farblosen Stoffe, die etwa in Lösung violette oder blauviolette Fluoreszenz zeigen, besitzen Ab- sorption im Ultraviolett. Die in der Durch- sicht gelben Stoffe mit meist grüner Fluores- zenz zeigen Absorption in Blau, rote Stoffe fluoreszieren meist gelb, während blaue, d. h. in Gelb absorbierende Stoffe meist rotes Fluoreszenzlicht aussenden (s. die folgende Tabelle). Farbe im durch- Absorption fallenden Lichte im Fluoreszenz- farbe Beispiel farblos gelborange rot blau Ultraviolett Blau Grün Gelb violettblau grün gelb rot schwefelsaures Chinin, Anthracen Fluorescein Dimethylnapht-Eurhodin Fluorindin in Salzsäure Wird das Fluoreszenzlicht spektral zer- legt, so zeigen sich entweder eine oder mehrere Banden, die in der Regel bei einer bestimmten Wellenlänge ein Maximum der Intensität besitzen. Diesem Maximum entspricht ein Minimum der Absorptionskurve, d. h. in der Intensität des durch den Stoff unter ähnlichen Bedingungen hindurchgelassenen Lichtes, das zugleich gegenüber dem Fluores- zenzmaximum nach der Seite der kürzeren Wellen verschoben ist, wie beistehende Skizze schematisch erläutern soll, wo auf den Ordinaten die Intensitäten des emit- tierten und absorbierten Lichtes aufgetragen sind. In ähnlicher Weise wie die Absorption nicht auf den verhältnismäßig kleinen, \ \ \ \ \ 0,5 n I Fluoreszenz-Spektrum 0,6 u II Absorptions-Spektrum Fi ff. unserem Auge zugänglichen Teile des Spek- trums beschränkt ist, werden wir auch eine Ausdehnung des Fluoreszenzlichtes zu beiden Seiten des sichtbaren Teils des Spektrums erwarten. Eine Fluoreszenz im Ultrarot scheint mit Sicherheit noch nicht aufgefunden zu sein; doch ist sie, wie wohl zuerst Kauff- mann dargetan hat, unter Berücksich- tigung der Beziehungen zwischen Konstitu- tion und Fluoreszenz noch in manchen Fällen zu erwarten. Eine ultraviolette Fluoreszenz ist kürzlich von Stark aufgefunden worden und zwar auf Grund bestimmter Anschauungen über die Entstehung der Emissionsspektren im Sinne der Elektronentheorie. Nach Stark wird die Fluoreszenz bedingt durch Absorption in einem nach Rot abschattierten Bandenspektrum und allen fluoreszierenden Stoffen ist die Eigenschaft gemeinsam, typisch selektiv zu absorbieren. In der Tat ergibt eine Durchmusterung der sicht- bar fluoreszierenden, chemisch einheitlichen Stoffe, daß alle Absorptionsbanden besitzen, die teils im Sichtbaren, teils im Ultravioletten liegen. 4. Beobachtung der Fluoreszenz. Zur subjektiven Beobachtung der Fluoreszenz- erscheinungen sind zahlreiche Vorrichtungen beschrieben; die Beobachtungen werden nur dann schwierig, wenn es sich um äußerst schwache Strahlungen handelt. Zur Beob- achtung der Lage der Fluoreszenz wird das ausgesandte Licht spektral zerlegt und das Fluoreszenzspektruin zweckmäßig photogra- phiert. Aus den früher mitgeteilten Tat- sachen ergibt sich zugleich eine Regel für die Beobachtung der Fluoreszenzerschei- nungen: man wird in der Mehrzahl der Fälle eine an ultravioletten Strahlen reiche Licht- quelle wählen und das sichtbare Licht möglichst ausschalten. Sehr vollkommen ist das bei den von H. Lehmann konstru- ierten Ultra violett-Lichtfiltern erreicht. Zur Erregung ultravioletter Fluoreszenz bedient man sich der Quecksilber-(Quarz-)Bogenlampe oder des Zink- und Aluminiumfunkens (weiteres s. im Artikel „Lumines- zenz"). 5. Ultraviolette Fluoreszenz des Ben- zols. Die interessanteste Anwendung des eben berührten Prinzips von Stark ist die Entdeckung der Fluoreszenz des Benzols im ultravioletten Teilendes Spektrums, auf die, wie später noch näher zu begründen sein wird, eine befriedigende Systematik der Fluoreszenzerscheinungen nach chemischen Gesichtspunkten begründet werden konnte. Fluoreszenz 1229 * Wie die Untersuchungen von Hartley bewiesen haben, ist das für die sichtbaren Strahlen völlig durchlässige Benzol in reinem Zustande so gut wie undurchlässig für die kürzeren ultravioletten Strahlen und zeigt in sehr verdünnten Lösungen mit geeigneten durchlässigen Medien, wie Alkohol, typische Absorptionsbanden. Auch ein- fache Derivate des Benzols, wie die Dioxy- benzole, Benzophenon, Phtalsäure, ferner die dem Benzol nahestehenden Verbindungen, wie Naphtalin und Anthracen, weisen, wie die Untersuchung von Stark und R. Meyer lehrte, die gleichen Beziehungen zwischen Fluoreszenz und Absorption auf: Substanz Absorptionsspektrum Fluoreszenzspektrum x) Benzol Naphtalin Anthracen Brenzcatechin Resorcin Hydrochinon 7 Bänder 233— 271« « 4 Bänder 242— 320 uu 4 Bänder 320—380 uu Band 242— 291 uu Band 242— 287 uu Band 257— 317 uu 4 Bänder 267— 310 uu 9 Bänder 314— 357 uu 4 Bänder 380-450 uu Band 288— 404 uu Band 292— 430 uu Band 313— 450 uu In allen Fällen erscheinen die Fluoreszenz- banden gegenüber den Absorptionsbanden entsprechend der Stokesschen Regel nach dem weniger brechbaren Ende des Spektrums verschoben. Nach den Untersuchungen von Stark und seinen Mitarbeitern ist die Fluoreszenz a. die Lichtemission im bedingt natürlich keine Dioxybenzolen u. Ultraviolett liegt. prinzipielle Scheidung dieser Stoffe von denen mit sichtbarer Fluoreszenz. Denn wie die Untersuchung des Benzols, Naphtalins und Anthracens ergab, werden mit zunehmen- der Kondensation, d. h. mit zunehmendem Absorptions- Bände r Fluoreszenz-Banden Benzol . . Naphthalin Anthracen . 260 300 3-10 380 420 460 uu 233—271 ini 4 242—320 4 320— 3SO rsf YvT rrr\ <~\ 7^ r\f\ Fig. 2. als eine gemeinsame Eigenschaft vieler Benzol- derivate erkannt worden. Daß bei manchen Verbindungen, wie Naphtalin, Anilin, den x) Nach einer neueren, sehr sorgfältigen Unter- suchung vonE. Dickson (Zeitschr. f. wiss. Phot., 1912, Bd. io) sind die Fluoreszenzspektra einiger aromatischer Kohlenwasserstoffe kompli- zierter als in der obigen Tabelle angegeben, so zeigt Benzol 6 Banden, deren Kanten zwischen den Wellenlängen 259,9 und 291,0 liegen, Naphtalin gab ein aus 14 schmalen Banden bestehendes Fluoreszenzspektrum zwischen ;.:300,0 und 365,4, Triphenylmethan lieferte ein sehr charakteristisches kurz- und langwelliges Spektrum, im kurzwelligen Gebiet 4 Banden (1:268,6 bis 283,2), im langwelligen Gebiet 4 Banden (1:371,7 bis 425,8). Die abweichenden Beobachtungen der früheren Beobachter erklären sich wohl zum Teil durch die verschiedene Er- regung der Fluoreszenz. Stark benutzt den Quecksilberbogen, Dickson Zinkfunken, bei denen die Linien zwischen 2000 und 2100 A bis E wesentlich energiereicher sind als beim Queck- silberbogen. Kohlenstoffgehalt die Fluoreszenzbanden aus dem Ultraviolett ganz allmählich verschoben, bis sie in das Sichtbare gelangen (s. Figur 2).2j Wie in anderen Fällen ändert sich die Fluores- zenz durch eine rein konstitutive Aenderung in ähnlicher Weise wie die Lichtabsorpti Bei den nahen Beziehungen zwischen Fluoreszenz und Lichtabsorption war zu erwarten, daß erstere Eigenschaft auch in vielen Beziehungen zur chemischen Konsti- tution der Verbindungen stehen mußte. In der Tat ergaben die Untersuchungen über sichtbare Fluoreszenz, die allerdings in der Regel mehr einen rein qualitativen Charakter trugen, daß derartige Beziehungen exi- stieren. Der erste, welcher aus der großen Zahl Einzeltatsachen über Fluoreszenz bei reu Gesetzmäßig- versuchte, war von organischen Verbindim keifen herauszuschälen ) Für obige Figur gelten die Bemerkungen der vorigen Fußnote 1230 Fluoreszenz R. Meyer. Wie die Chromophore die Farbe organischer Verbindungen bedingen, so sollte Fluoreszenz durch die Anwesenheit ganz bestimmter Atomgruppen im Molekül der strahlungsfähigen Stoffe entstehen, die er als Flu orop höre bezeichnete. Als der- artige Gruppen betrachtete er gewisse sechs- gliedrige, meist heterozyklische Ringe, wie den Pyron- (I), Azin- ' (II), Oxazin (III), Thiazinring (IV), sowie die im Anthracen und Acridin enthaltenen Ringe (V) und (VI). N N C C 0 I N II 0 III N C|/\c ( Sc C ci r S IV c\ ( > i T c\i> N VI ler wird hervorg ehoben, daß das CH HC HC H CH N Pyridin, nicht fluoreszierend Acridin, blau fluoreszierend. Lumineszenz (z. B. durch Teslastrahlen) der Benzolring, den sich Kauffmann in bezug auf die Verteilung der doppelten und ein- fachen Bindungen nicht als starr, sondern als beweglich denkt. In Anlehnung an v. Baeyer unterscheidet Kauffmann drei Grenzzustände des Benzols, die durch die Diagonal- (I), die Dewarsche (II) und die Kekulesche Formel (III) zum Ausdruck gebracht werden können. l\ 1 II III Vor- handensein des Fluorophors allein noch keine Fluoreszenz bedingt, daß diese viel- mehr erst zustande kommt, wenn die fluoro- phoren Gruppen zwischen anderen, dichteren Atomkomplexen gelagert sind, z. B. : Aehnlich sind die von H. Kauffmann entwickelten Ansichten über die Bezie- hungen zwischen Konstitution und Fluores- zenz. Er nennt in direkter Anlehnung an die Terminologie, die bei den bekannten Beziehungen zwischen Farbe und chemischer Konstitution gebräuchlich ist, die in den fluoreszierenden Verbindungen enthaltenen Ringe Luminophore: diese sollen die Eigenschaft besitzen, durch gewisse Energie- arten, wie Tesla- und Radiunistrahlen, nicht jedoch durch Licht zur Lichtemission angeregt werden zu können, und an und für sich nicht fluoreszenzfällig zu sein. Diese letzte Eigenschaft wird den Luminophoren erst durch die Anwesenheit anderer Atomgruppen verliehen, die Kauffmann Fluorogene nennt. In vielen Fällen ist der Träger der Je nach der Natur der Substituenten kommt dem Benzolderivat eine jener Formeln zu, oder, was wahrscheinlicher ist, sie ent- spricht einem zwischen den obigen extremen Grenzzuständen liegenden Zustand. Die auxochrom wirkenden Amino- und Hydroxylgruppen oder diealkylsubstituierten Gruppen (NH2— NHR— NR2; OH— OR) haben die Tendenz, den der Dewarschen Formel entsprechenden Zustand herbei- zuführen, in dem die Verbindungen einzig und allein lumineszenzfähig sein sollen. So zeigen Dimethyl-p-pheiiylendiamin, Hy- drochinondimethyläther, Anilin u. a. kräftige Lumineszenz unter dem Einfluß von Tesla- strahlen. Befinden sich die Benzolderivate aber erst im Dewarschen Zustand, so kann durch Einführung geeigneter Gruppen (COOH, C:C, CN usw.), der Fluorogene, die Ver- bindung fluoreszenzfällig werden. In der blau fluoreszierenden Anthranilsäure o-C„H4.NH2 . COOH soll beispielsweise Anilin denLumino- phor darstellen, der durch die Anwesenheit I der flnorogenen Karboxylgruppe zur sicht- baren Fluoreszenz angeregt worden ist. Bei aller Bedeutung dieser zusammen- fassenden Darstellungen der Fluoreszenz- phänomene war eine einwandfreie Klassi- fikation derselben erst seit der interessanten Beobachtung Starks möglich, daß Benzol ultraviolette Fluoreszenz besitzt, und daß diese durch Einführung bestimmter Gruppen bis in das Gebiet des Sichtbaren verschoben werden kann. Durch Stark sowie R.Meyer u. a. ist die Fluoreszenz als eine gemeinsame Eigenschaft vieler Benzolderivate erkannt worden und dieser Befund ist von ent- scheidender Bedeutung für die Beziehungen zwischen Fluoreszenz und chemischer Kon- stitution. Da nun, wie zahlreiche Untersuchungen gelehrt haben, gerade das Absorptionsspek- trum einer in Ultraviolett selektiv absor- bierenden Verbindung sich chemischen Ver- im Molekül gegenüber als be- änderungen Fluoreszenz 12,51 sonders empfindlich erweist, so war zu er- warten, daß ähnliches auch für das ultra- violette Fluoreszenzspektruni gelten würde; in der Tat ist das durch verschiedene Unter- suchungen bestätigt, auch viele Fälle sicht- barer Fluoreszenz sind erst unter Berück- sichtigung des ultravioletten Gebietes ver- ständlich geworden, das auch an dieser Stelle eingehender zu betrachten ist. 6. Einfluß der Substituenten auf die Fluoreszenz der Benzolverbindungen. Wie sich das Absorptionsspektrum einer chemi- schen Verbindung (z. B. des im Ultraviolett absorbierenden Benzols) ändert, falls man andere Gruppen einführt, so reagiert auch das Fluoreszenzspektrum in empfindlicher Weise auf jede konstitutive Aenderung. Be- schränken wir uns zunächst auf einfachere Substitutionsprodukte des Benzols, so wird durch jede Substitution der Charakter der Benzolfluoreszenz geändert, in der Regel verschmelzen die verschiedenen Banden zu einem einzigen Bande unter gleichzeitiger Verschiebung des ganzen Fluoreszenzspek- trums nach Rot. Gruppen, die derartig wirken, kann man bathoflore nennen; es ist natürlich auch der Fall möglich, daß eine bestehende Fluoreszenz durch einen chemi- schen Eingriff nach kürzeren Wellen ver- schoben wird; derartige Gruppen sind als hypsoflore zu bezeichnen. Außer der Veränderung der spektralen Lage, d. h. der Fluoreszenzfarbe, verändert jede Sub- stitution in der Regel auch die Intensitäts- verteilung in der Fluoreszenzbande. Gruppen, die die Intensität vergrößern, mögen auxo- flore, Gruppen, die die entgegengesetzte Wirkung ausüben, diminoflore genannt werden.'. Atomkomplexe, die eine bestehende Fluoreszenz am meisten beeinflussen und die sowohl eine bathoflore als auxoflore Wirkung ausüben, sind, wie gleich hervor- gehoben werden möge, die auxochromen Amino- und Hydroxylgruppen, ferner die substituierten Komplexe, wie NHCH N(CH3)2, OCH3 usw. ::• Nun besteht hinsichtlich der Wirkung der Gruppen ein wesentlicher Unterschied, der sich genügend durch ihre chemische Natur erklärt, und durch den wieder die Beziehungen zwischen Fluoreszenz und Ab- sorption hervortreten : die Einführung ge- sättigter Gruppen wie der Alkyle verstärkt die Intensität der Fluoreszenz, diese wirken somit als auxoflore Gruppen, während die Lage der Benzolfluoreszenz nicht wesentlich beeinflußt wird. Die Halogene bewirken ebenfalls nur geringe Verschiebung der Fluoreszenz, gleichzeitig aber eine Schwä- chung der Intensität, die mit dem Atom- gewicht des Halogens vom Fluor zum Jod zunimmt. Wesentlich anders ist die Wirkung un- igesättigter Gruppen, als solche müssen OCH, NH2, CN, CH:CH2, die sämtlich auxoflor wirken, ferner die diminoflore Karboxylgruppe angesehen werden: in allen diesen Fällen werden die Fluoreszenz- (und konform damit auch die Absorptions-) Banden wesentlich nach längeren Wellen verschoben. Schließlich soll noch erwähnt werden. daß bei Anwesenheit mehrerer Substituenten häufig ein additives Verhalten beobachtel ist; gleichzeitige Anwesenheit mehrerer un- gesättigter Gruppen kann allerdings Ano- malien hervorrufen. Auf eine derartige Anomalie möge hier noch aufmerksam ge- macht werden : Die Nitrogruppe gehört, worauf schon R. Meyer und H. Kauffmann aufmerksam machten, zu den Gruppen, die bei Einführung in ein fluoreszierendes System (z. B. aroma- tischen Kohlenwasserstoff) im allgemeinen die Fluoreszenz vernichten, was wohl mit den chromophoren Eigenschaften dieser Gruppe zusammenhängt; Nitrobenzol, Nitro- toluol u. a. zeigen keine Spur ultravioletter Fluoreszenz. Ebenso wirken NOyhaltige Gruppen wie die Pikrylgruppe : C6H2(NO«)3. Um so auffälliger ist die Tatsache, daß es Nitroverbindungen gibt, die selbst im Sicht- baren äußerst starke Fluoreszenz aufweisen, wie Pikrylbiguanid und ähnliche Verbin- dungen, ferner m-Nitrodimethylanilin. Es liegt nahe, derartige Effekte durch das Zusammenwirken der Nitrogruppe und der anderen (meist Amino-) Gruppen im Molekül durch Absättigung von Residual- affinitäten zu erklären, und es ist zu er- warten, daß man durch Untersuchung der- artiger unerwarteter Fluoreszenzerschei- nungen die Affinitätsäußerungen ungesä 1 1 igt er Gruppen erfolgreich wird studieren können. Beispiele. 1. Als Beispiele sichtbar fluoreszierender Amino und Hydro xyl- Verbindungen mögen die Amino- und Oxy- benzoesäuren genannt werden. Die Benzoe- säure besitzt schwache ultraviolette Fluor- eszenz, durch Einführung einer Aminogruppe in o-Stellung wird die Strahlung in das sichtbare Gebiet gerückt. Die Hydroxylverbindungen der Benzoe- säuren fluoreszieren besonders stark und im sichtbaren Gebiete in alkalischer Lösung; die Eigenschaft der Fluoreszenz ist somit den zweiwertigen Anionen o-C0H4.O.C02" und m-C H4.Ö.CO," eigen. Viele fluoreszierende Verbindungen leiten sich vom Hydrochinon ab, so Hydro chinondi- und -tetrakarbonsäure, ferner deren Ester, wie : 1232 Fluoreszenz OCH, COOH OCH3 Von komplizierteren Verbindungen sei Hydro- chinontetrakarbonsäureanhydrid Oll 0. ,0C OC cox CO ;0 OH genannt, das sich mit gelber Farbe und roter Fluoreszenz löst, während der Ester OCH, 0< ,oc oc- co \ 0 CO OCH, merkwürdigerweise keine Fluorescenz zeigt. In allen diesen Fällen werden die auxofloren Wirkungen der Amino- und Hydroxyl- gruppen durch die Karboxylgruppen oder die in ihnen enthaltenen ungesättigten C = O-Gruppen unterstützt; in der Reihe des Naphthalins und Anthracens vermögen Aminogruppen allein schon sichtbare Fluores- zenz hervorzurufen: a- und ß-Naphtylamin fluoreszieren beide violett. Im Gegensatz zum Benzol liegen beim Naphtalin die Fluoreszenzbanden der Grenze des Sicht- baren sehr viel näher. 2. Aethylen bin düngen können unter Umständen zu starker Fluoreszenz Veran- lassung geben. Diese Bindungen können wir in Verkettung mit Benzolresten in den stark fluoreszierenden hochmolekularen Kohlenwasserstoffen, wie Anthracen: annehmen, wahrscheinlich wird die Wirkung hier wie in anderen Fällen durch zyklische Anordnung wesentlich unterstützt. Fluores- zierende, die Aethylenbindung enthaltende Stoffe sind ferner Stilben, sowie die besonders von Elbs und seinen Schülern untersuchten Stilbenderivate: CH.O- \ NH2 ferner Tetraphenyläthylen : -C = C H H C = C- H H OCH, C6H5 CfiH 7 'XCbH; \c == c C6H5 und Diphenylbutadien: C6H5CH = CH 6-^5 C6H5CH = CH Kauf f mann rechnet auch die Cumarone in diese Kategorie, z ,CH Indole und B.: % CCH, und NH a-Methylindol /2-methylcuniaron, die die Aethylenbindung und die Auxo- chrome NH und 0 in zyklischer Bindung enthalten. Zweifellos bedingt in allen diesen Fällen der ungesättigte Charakter der Aethylen- bindung die auxofloren Eigenschaften; denn Reduktion von RCH :CHR zu RCH2— CH2R hat fast durchwegs Verschwinden der sicht- baren Fluoreszenz im Gefolge. Besonders wirksam zeigt sich die Vei- bindung des Benzolrings mit dem Pyronring : CO worauf auch von Stark und Meyer hin- gewiesen wurde. Benzophenon: C6H5COCeH5 fluoresziert im äußersten Ultraviolett (285 bis 380 jLiju) Xanthon: C6H4/ >C6H4 -0/ schon teilweise im sichtbaren (360 bis 430), während die Fluoreszenzbande des Dioxy- xanthons : /C0\ OHC,H / >C6H3OH x0 fast völlig im Sichtbaren liegt (400 bis 470). Die Pyron- und Xanthonderivate fluores- zieren besonders in Lösung von konzentrierter Schwefelsäure, in denen jedenfalls Sulfate wie: Fluoreszenz 1233 CO C6H >CÄ 4\ ^Q±1i x0 /\ H S04H anzunehmen sind. Hier hat also Salzbildung den entgegengesetzten Effekt, wie bei der Aminobenzosäure. Der Pyronring ist auch im Fluoreszein und diesem nahestehenden Verbindungen H.CO, NaO anzunehmen, in denen zugleich noch eine p-chinoide Bindung vorhanden ist. Eine große Zahl fluoreszierender Ver- bindungen enthält die Azometlüngruppe .C = N. in zyklischer Bindung, so viele vom Acridin derivierende Basen, ferner das durch prächtige Fluoreszenz ausgezeichnete Fluor- indin : ■CN -COOH starke blaue Fluoreszenz. Weitere Beispiele findet man in der Zu- sammenstellung Kauffmanns. 3. Eine gesonderte Behandlung verlangt die Cyangruppe. Benzonitril C6H5.CN und Homologe, sowie a- und /5-Naphtonitril Ci0H7.CN besitzen nach Messungen von Ley und v. Engelhardt sehr starke ultra- violette Fluoreszenz von etwa gleicher Inten- sität wie Anilin. Auch in Seitenketten cyansubstituierte Benzolderivate, wie Benzyl- cyanid C6H5.CH2.CN zeigen deutliche Fluoreszenz im Ultraviolett; Cyantriphenyl- methan (C6H5)3C.CN fluoresziert äußerst stark; Dicyanstilben C6H5.C=C.C0H5 fluo- CN CN resziert stärker als Stilben : C6H5.C = C.C6H5 H H Man könnte darandenken, die Cyangruppe mit der Aminogruppe in Parallele zu stellen, d. h. in ihr eine kräftige auxoflore Gruppe zu sehen. Damit stimmt jedoch das Ver- halten gewisser Verbindungen nicht überein, die außer der Cyangruppe noch andere Sub- stituenten, z. B. die Karboxylgruppe ent- halten, denn wir haben: Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Band III \/xCOOH fluoresziert nicht oder äußerst schwach. Nach Ansicht des Referenten ist die An- nahme wahrscheinlicher, daß die Cyangruppe mit Aethylengruppen (die im Benzol, Naph- talin, Stilben usw. enthalten sind) ein neues fluorophores System bildet, etwa: -C = C — C^N das durch Substituenten wie die Karboxyl- gruppe ähnlich beeinflußt wird, wie die in Benzolverbindungen vorhandenen Fluoro- phore. Wie bei den Beziehungen zwischen Farbe und Konstitution sind die auxochromen resp. auxofloren Gruppen besonders wirk- sam, wenn sie im Fluorophor, z. B. dem Benzolring, in bestimmter Anordnung vor- handen sind. Die hier erkannten Regel- mäßigkeiten hat Kauf f mann in seinem Verteilungssatz der Auxochrome zum Aus- druck gebracht. Sind 2 Auxochrome A (z. B. ÖH- und NH.rGruppen) und 1 Fluo- rogen Fl (z. B. — COOH) vorhanden, so tritt Fluoreszenz auf bei unsymmetrischer Ver- teilung, z. B. bei häufig Fl Ist e i n Auxochrom vorhanden, so ist A fluoreszenzfähig, nicht aber Es erscheint noch der Hinweis wichtig, daß das dem Benzol chemisch nahe stehende Pyridin sowohl als solches als auch in Form der Salze keine Spur ultravioletter Fluorezsenz aufweist, dagegen erscheint die Fluorezsenz durch Einführung einer Amino- gruppe; a-Aminopyridin fluoresziert intensiv. Die Fluoreszenzphänomene bei Naphtalin und seinen Derivaten bieten teils analoge, teils in gewisser Beziehung neuartige Er- scheinungen, die in dem eigenartigen Ring- 78 1234 Fluoreszenz Systeme des Kohlenwasserstoffs (mit seiner charakteristischen schmalbandigen Fluores- zenz) begründet sind; so sind im Absorptions- und Fluoreszenzspektruni bei a- und ß- substituierten Naphtalinderivaten charakte- ristische Unterschiede vorhanden. 7. Einfluß der Salzbildung auf die Fluoreszenz. In einigen Fällen (Karbon- säuren, Phenole, Amine) bewirkt Salzbildung typische Veränderungen der Fluoreszenz- erscheinungen, die in der Regel zu Aende- rungen im Absorptionsspektrum parallel gehen, häufig jedoch viel augenscheinlicher als diese die Natur der durch die Salzbildung vor sich gehenden innermolekularen Ver- änderungen erkennen lassen; es mögen diese Verhältnisse bei den aromatischen Aminen besprochen werden, wo sie besonders deutlich zutage treten. Durch Salzsäurezusatz wird die Anilin- fluoreszenz stark geschwächt und bei ge- nügendem Säurezusatz verschwindet das typische Fluoreszenzband vollständig; die Benzol-Fluoreszenz-Banden erscheinen jedoch bei den bisherigen Versuchsanordnungen nicht, wahrscheinlich infolge sehr geringer Inten- sität des emittierten Lichtes. Weit cha- rakteristischer sind die Erscheinungen bei a-Naphtylamin (Figur 3). Auf C 31 +~ c -1 N c Cb N (/] Ol C o 3 ^ZSatfgi ^ncLfHh ^^mrfrWn 2000 5 3000 5 <+00O Schwingungszahlen Fig. 3. Zusatz von Salzsäure zur alkoholischen Lösung des Amins beobachtet man folgen- des: Bei gleichen Molekülen von Säure und Base erfährt die breite Fluoreszenz- bande des Amins (a), die teilweise im Violett liegt, eine geringe Verschiebung nach Ultra- violett neben einer deutlichen Schwächung ihrer Intensität; außerdem tritt bei ca. 2700 bis 3100 eine zweite Bande auf (b), die sich, wie Figur 3 zeigt, auf Zusatz einer größeren Menge Salzsäure (1 Mol. Amin: 10 Mol. Säure) in mehrere Einzelbanden auflöst, während die erste Bande zwischen 2000 und 2700 eine weitere Intensitäts- schwächung erlitten hat. Ueberwiegt die Säure noch mehr, so tritt die Aminbande noch mehr zurück, während zwischen 2750 und 3160 neun Banden zum Vorschein kommen (d), die nach Gestalt und Intensitäts- verteilung identisch sind mit den Naph- talinbanden (e); charakteristisch ist, daß die Banden beim Chlorhydrat gegenüber denen beim Kohlenwasserstoff eine deut- liche Verschiebung nach Rot erlitten haben. Durch die Salzbildung wird die Aminogruppe gewissermaßen ausgeschaltet; sie wirkt nicht mehr wie eine ungesättigte reaktionsfähige Gruppe, sondern wie ein mehr indifferentes Radikal; das Salz verhält sich in optischer Beziehung ähnlich wie der Kohlenwasser- stoff. Die allmähliche Schwächung der Inten- sität der breiten Fluoreszenzbande durch Säurezusatz hängt zweifellos mit der all- mählichen Zurückdrängung der Hydrolyse des Chlorhydrats: C10H7NH2HCl+H2O ^ C10H7NH2H2O + HCl durch steigenden Säureüberschuß zusammen. Gleichzeitig mit dem Verschwinden jener Fluoreszenzbande tritt eine Verschiebung der Absorptionsbanden der aromatischen Amine nach Ultraviolett auf Säurezusatz ein. In ähnlicher Weise wie bei den Aminen (durch Säurezusatz) scheint sich der hypso- flore Einfluß der Salzbildung bei den Karbonsäuren durch Zusatz von Alkali zu äußern. 8. Einfluß des Lösungsmittels auf die Fluoreszenz. Wie wiederholt festgestellt worden ist, ist die Lichtabsorption je nach der chemischen Natur des absorbierenden Stoffes mehr oder weniger vom Lösungs- mittel abhängig. Am geringsten scheint dieser Einfluß bei den stark selektiv ab- sorbierenden Kohlenwasserstoffen vom Typus des Benzols zu sein, weit größer ist er bei den auch chemisch reaktiveren Aminen. Bekanntlich gilt für die Beeinflussung der Farbe durch das Lösungsmittel in manchen Fällen die sogenannte Kundtsche Regel, daß die Absorptionsstreifen um so mehr nach dem roten Ende verschoben werden, je stärker das Lösungsmittel für den betreffenden Absorptionsbereich dispergiert. Bei dem nahen Zusammenhange zwischen Absorption und Fluoreszenz lag es nahe, diese Regel auch für die Aenderung der Fluorescenz mit dem Lösungsmittel zu prüfen. Wie die Versuche ergaben, besitzt die Regel in manchen Fällen Gültigkeit, in anderen versagt sie ganz ähnlich wie bei der Absorption. Die Ausnahmen der Regel erklärt Wiedemann sachgemäß durch Be- rücksichtigung der chemischen Seite des Lösungsvorganges, daß nämlich Ver- bindungen, die der gelöste Stoff mit dem Lösungsmittel bildet (Hydrate, Alkoholate Fluoreszenz 1235 usw.), die Dämpfung der im Lösungsmittel fluoreszierenden Moleküle in komplizierter Weise beeinflussen können. In einigen Fällen geht die Fluoreszenz- farbe (und damit die Lösungsfarbe) der Dielektrizitätskonstante des Lösungsmittels parallel, ohne daß aber durchwegs gültige Beziehungen vorhanden sind. Stoffe, deren Fluoreszenz auffällig durch die Natur des Mediums verändert wird, sind gewisse Aminoverbindungen, be- sonders die häufig untersuchten Dimethyl- naphteurhodin und Aniinophenylazimino- benzol, die sich sehr gut zur Demonstration der Erscheinung eignen. Diniethylnaphteurhodin Aminoplienylaziminobenzol Lösungs- Fluoreszenz- Lösungs- Fluoreszenz- mittel färbe mittel färbe Ligroin grün Chloroform blauviolett Aether grüngelb Aether blau Pyridin gelb Alkohol blaugrün Aethylalkohol orange Wasser grün Methylalkohol rotorange — — Neuerdings ist dieser Fluoreszenzwechsel mit dem Lösungsmittel auch bei stickstoff- freien Verbindungen beobachtet worden; er ist z. B. deutlich bei Diphenylmaleinsäure- anhydrid vorhanden. Ueber Temperatur- einfluß vgl. den Artikel „Lumineszenz'^ 9. Fluoreszenz bei nichtaromatischen Verbindungen. Die Meinzahl der fluores- zierenden Verbindungen leiten sich vom Benzol und höhermolekularen Kohlenwasser- stoffen mit sogenannten kondensierten Benzolkernen ab. Jedoch ist das Benzol nicht das einzige fluoreszierende System, wie Beobachtungen bei Derivaten hydrierter Benzole undPyridine, z.B. Succinylobernstein- ester, Hydrocollidindikarbonsäureester u. a. beweisen. Eine Verbindung mit starker sichtbarer Fluoreszenz, die keinen Benzol- kern enthält, ist der von W. Wislicenus dargestellte Aethylencyanidoxalester, dem nach Dieckmann die Konstitution eines Amino - cyan - furankarbonsäureesters kommt : zu- HC -C.NH5 NC, / 0 .C=C.COOC2H5. Nach Ley und Fischer zeigen Derivate des Maleinsäureimids, die im Ultraviolett bis Violett selektiv absorbieren, deutlich grüne Fluoreszenz, die einfachste Verbin- dung dieser Art ist das Chlor-amino-malein- imid: 3 2 1 CEC— C - 0 ^>NH H2N.C-C = 0. CH3.CO.CO.( düngen und Für das Zustandekommen der Fluoreszenz ist neben der Aminogruppe wahrscheinlich die zwischen den Atomen 1 bis 6 liegende zweifache Konjugation der Doppelbindungen ausschlaggebend. Besonderes Interesse verdienen neuere Beobachtungen von Stark und Gelbke, die die schon früher von Stark und Steubing gemachten Beobachtungen bestätigen und ergänzen, daß auch typische aliphatische und nicht zyklische Verbindungen mit be- stimmter selektiver Absorption durch ge- eignete Lichtquellen zu sichtbarer und ultra- violetter Fluoreszenz angeregt werden können. Zu diesen gehören Ketone, wie Aceton und Homologe, ferner Diketone, z. B. Diacetyl 3 und verwandte Verbin- zwar besitzen diese überein- stimmend zwei Absorptions- und zwei Fluores- zenzbanden; von letzteren liegt die eine im Ultraviolett im Gebiete der kurzwelligen Absorptionsbande, die andere im Gebiete längerer Wellen. Bei Aceton liegen die Absorptionsmaxima bei ca. 360 und 280 up (das erste Band tritt erst bei sehr großen Schichtdicken auf und war bisher übersehen), die Fluoreszenzbanden bei 260 bis 320 und 325 bis 460 pp. Entsprechend der von Stark vertretenen Ansicht über die Natur des Bandenspektrums sind die beiden Absorptionsbanden derartig gekoppelt, daß Absorption des Lichtes in der kurzwelligen Bande sowohl in dieser wie in der langwelligen Fluoreszenz im Ge- folge hat, während kein wesentlicher Fluores- zenzeffekt zu beobachten ist, falls nur Licht in der langwelligen Bande zur Absorption gebracht wird. Durch Nichtbeachtung dieses Unistandes war bisher die Fluoreszenz des Acetons unbemerkt geblieben. 10. Fluoreszenz bei anorganischen Stoffen. Gegenüber dem ungeheuren Heere der fluoreszierenden organischen Verbin- dungen ist die Zahl der anorganischen Stoffe mit deutlicher Fluoreszenz bisherigen Be- obachtungen zufolge nur klein. Auf die Fluoreszenz der Dämpfe von Quecksilber, Natrium, Kalium, Rubidium, von Jodu. a.. sowie auf die bezüglichen Untersuchungen von Wiedemann, G. C Schmidt und Wood wird im Artikel „Lumineszenz" hingewiesen. Die Fluoreszenz bestimmter Varietäten des Flußspates ist wahrschein- lich durch äußerst geringe Mengen einer Verunreinigung bedingt, die im Flußspat in Form einer festen Lösung vorhanden ist. Ziemlich starke Fluoreszenz weisen einige Uranylverbindungen und nach Soret auch einige Salze seltener Erden (Erbium, Didym, Lanthan u. a.) in Lösung auf. 11. Elektroatomistische Deutung der Fluoreszenzerscheinungen. Die Beobach- 78* 1236 Fluoreszenz tung, daß schon Stoffe von denkbar ein- fachster Konstitution, nämlich einatomige Gase wie Quecksilberdampf u. a. fluores- zenzfällig sind, weist ciarauf hin, daß es sich bei der Erscheinung um einen inner- atomistischen Vorgang handeln wird und in der Tat sind alle Versuche die Fluoreszenz letzten Endes auf Grund von chemischen Umlagerungen oder Tautomeriephänomenen zu erklären, als gescheitert anzusehen. Die speziellen theoretischen Anschauungen über Fluoreszenz müssen im Artikel „Lumines- zenz" nachgesehen werden; an dieser Stelle sollen nur die neueren Versuche berührt werden, Absorption und Fluoreszenz mit Hilfe einer elektroatomistischen Vorstellung dem Verständnis näher zu bringen, die gerade für den Chemiker besonderes Interesse bean- spruchen. Auf den genetischen Zusammen- hang zwischen Fluoreszenz und selektiver Absorption wurde schon früher hingewiesen. Letztere Eigenschaft wird chemisch durch die Existenz bestimmter Atomgruppierungen im Molekül des absorbierenden Stoffes zu erklären versucht, der sogenannte Chromo- phore z. B. der Gruppen C : 0, CH :HC, N :N, N :0, u. a. (näheres s. im Artikel „Absorp- tion"). An den Atomen derartiger chromo- phorer Gruppen nimmt nun Stark besonders bewegliche, sogenannte gelockerte Valenzelek- tronen an und betrachtet diese als Zentren der Emission und Absorption im Banden- spektrum. Bei der teilweisen Loslösung eines Valenzelektrons von seiner positiven Atomsphäre und der Wiedervereinigung wer- den Linien emittiert, die eine Doppelbande konstituieren, von denen die eine nach rot, die zugehörige Bande nach ultraviolett zu abschattiert ist. Die Absorption in kurz- welligen, nach rot abschattierten Banden ist allgemein von Fluoreszenz in diesen so- wie in den mit ihnen verkoppelten lang- welligen, nach Ultraviolett abschattierten Banden begleitet. Unter diesen Umständen wird somit ein Chromophor zugleich ein Fluorophor. Literatur. Neuere zusammenfass ende Dar- Stellungen: H. Kauffmann, Die Beziehun- gen zwischen Fluoreszenz und chemischer Kon- stitution (1906); enthält die wichtigeren älteren und neueren Arbeiten über sichtbare Fluores- zenz, soweit sie die chemische Seite des Problems betreffen. — Derselbe, Valenzlehre 1911. — H. Konen, in Kays er s Handbuch der S/>ektroskopie, Bd. IV (hier ist besonders die Literatur der sichtbar fluoreszierenden Vrrbin- dungen sehr eingehend berücksichtigt). — H. Ley, Zeitschrift für angewandte Chemie 21, 2027, 1908. Ultraviolette Fluoreszenz : J. Stark, Physikalische Zeitschrift 8, 81. — J. StarTc und Meyer, Physikalische Zeitschrift 8, 250. — J. Stark, ebenda g, So. bing, ebenda 9, 661. kaiische Zeitschrift 10, — J. Stark und Steu- — J. Stark, Physi- 6I4. — Derselbe, Jahr- buch der Radioaktivität und Elektronik 9, 15. Gelbke, Physikalische Zeitschrift 13, 584. - H. Ley und v. Engelhardt, Berl. Ber. 41, 2988. — Dieselben, Zeitschrift für physikalische Chemie 74, 1. — H. Ley und Gräfe, Zeit- schrift für wissenschaftliche Photographie 8, 291,.. — Siehe ferner die Zusammenstellung von P. Ruggli, Die Valenzhypothese von J. Stark vom chemischen Standpunkt. Sammlung che- mischer und chemisch-technischer Vorträge 1912. H. Ley. G. Pätz'sche ßucbtlr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Mit w 8 SIll üsi mmm III; § ri_f\_f W Wir! I» ■üii In i« BS! fr IIB ' iiilil' ilillilP^ |S; fit liHSHil! §11- IIP mm ml mu [{§§