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Helene Böhlau Geſammelte Werke
Verlag Ullſtein & Co, Berlin / Wien und Egon Fleiſchel & Co, Berlin
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Alle Rechte, insbeſondere das der Überfegung vorbehalten. Copyright 1914 Ullſtein & Co.
Inhalt
Der Rangierbahnhof, Roman
Das Recht der Mutter, Roman
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pitied By Google
Der Rangierbahnhof
Roman
Gewidmet der Kuͤnſtlerin Olly Weiß, die es verſtand, das zarte Weſen der Blumen wiederzugeben, wie es aus Gottes Hand hervorging.
Sate hy Google
Erſtes Kapitel
m letzten Winkel des Reiches — dort, wo aus dem bayriſchen
Algaͤu die niedrigen Paͤſſe nach Vorarlberg fuͤhren, liegt lautloſe Daͤmmerung. Gewaltige Schneemaſſen bedecken das Hochtal und mitten darin liegt in einer erſtarrten Welt, von Schnee halb begraben, ein warmes Neſt, das einſame Gehoͤft Rohrmoos.
Liber der weitausgedehnten Felſenmaſſe, die das Hochtal oͤſtlich begrenzt, ſchimmert der erſte Tagesſchein, der ver; kuͤndet, daß hier über die Herrgottswaͤnde, die wie ein leichter, grauer Schatten aus dem Daͤmmerlicht ſich abheben, die Sonne, wenn ihre Stunde gekommen iſt, ſchauen wird. Erde und Himmel weiß, die ganze Atmoſphaͤre wie aus zarten Eiskriſtallen gewoben.
Die unabſehbaren Schneemaſſen, die feſtgewurzelte Kälte, die eiſige Daͤmmerung, all“ dieſe kalten, lebeusfeindlichen Maͤchte umgeben das warme Neſt mit ſolch unheimlicher Gewalt, als gelte es, dieſen Unterſchlupf von allerlei pul⸗ ſierendem Leben aufzuſaugen, jeden Tropfen, der ſich dort birgt, zu erſtarren. Alles aber, was ſich auf dem daͤmmerigen Hofe regt, atmet einen Überfluß von Wärme und Leben.
Aus den eisuͤberzogenen Stallfenſtern fällt der rotgelbe Schein der Laternen, bei deren Licht ſchon ſeit Stunden in den Staͤllen und draußen auf dem zertretenen, ſtrohunter⸗ miſchten Schnee hantiert wird.
Wird eine Tuͤr geöffnet, fo quillt warmer Dampf in die Kaͤlte hinaus und mit ihm die Brummchoͤre des Viehs.
Auf der Miſtſtatt dampft es. Die Pfoſten, welche das Erzeugnis des anſehnlichen Rohrmooſer Viehſtandes um⸗ geben, ſind durch dieſe warmen Daͤmpfe, die die großen Schneehauben auf ihnen tauen ließen, mit fußdicken, braͤun⸗ lichen Eiskruſten uͤberzogen, die in ſonderbaren Zapfen her⸗ unterhaͤngen. Aus der großen Futterſcheune duftet es nach
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gut eingebrachtem Heu, und der Geruch kräftiger Sommer; tage ſtroͤmt in den ſtarren Wintermorgen hinaus. Die Maͤgde und Knechte laufen uͤber den Hof, blaſen in die Haͤnde und ſtroͤmen auch warmen Dunſt und Dampf aus, der ſich ihnen als weißer Reif an Haar und Muͤtze feſtſetzt.
Alles was lebt, dampft auf Rohrmoos; die Pferde, die ein Knecht anſchirrt, blaſen ganze Wolken aus ihren Nuͤſtern, huͤllen ſich damit gegenſeitig ein, ſo daß ihnen Maͤhnen, Koͤpfe und Leiber wie in wogendem Nebel ſtecken.
An den großen, verdeckten Wilchgefaͤßen, die aus den Ställen in die Molkerei geſchafft werden, dampft das feuchtwarme Holz; jeder feuchte Strohhalm, der von den Knechten und Maͤgden aus den Staͤllen hinaus in den Schnee verſchleppt wird, laͤßt ein Weilchen eine zierlich ſich ringelnde Dunſtſaͤule wie ein kleines Opfer empor⸗ ſteigen.
Alles lebt der großen, meilenweiten Schneewucht zum Trotz doppelt maͤchtig.
In der einfachen Stube des Wohnhauſes ſitzen vier Per; ſonen bei der Lampe, deren Schein jetzt ſchon von der Tages⸗ daͤmmerung geſchwaͤcht wird, die weißblaͤulich zu den breiten Fenſtern des Zimmers eindringt.
Schinken, Eier, friſche Butter, Schwarzbrot und eine ſummende, brodelnde Kaffeemaſchine ſtehen auf dem weiß⸗ gedeckten Fruͤhſtuͤckstiſch und vier Perſonen ſitzen daran. Ludwig Gaſtelmeier, einſt Pächter, jetzt Beſitzer von Rohr; moos, ſchaut nachdenklich vor ſich hin, waͤhrend er mit einem Fidibus die Pfeife anzuͤndet.
Er iſt ein gedrungener Mann, der in einer maͤchtigen, braungehaͤkelten Weſte ſteckt. Man denkt unwillkuͤrlich bei ſeinem Anblick an allerlei Strapazen und Hantierungen, wie ſie zu landwirtſchaftlichem Betriebe gehoͤren.
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Sein Sohn Friedrich, der neben der Mutter und einem jungen, blonden Frauenzimmer ſitzt, gleicht ihm. Er iſt einen guten Kopf kleiner als der Vater, doch auch breit, gedrungen gebaut. Die Augen ſind die Augen des Alten, nur hat ſich eine fleiſchigere Naſe zwiſchen dieſelben geſchoben, ſo daß ſie nicht ſo nah zueinander haben ruͤcken koͤnnen, wie die des Vaters. |
Der Mund hat diefelbe feuchte Friſche, die auf den Lippen des Alten liegt, und die dem Geſicht ein merkwuͤrdig lebens⸗ volles Anſehen gibt.
Niemand ſpricht etwas Zuſammenhaͤngendes. Ein Raͤu⸗ ſpern, eine kurze Frage, eine kurze Antwort, das Einſchenken des Kaffees in die großen, weiten Taſſen unterbricht die Stille.
Der Sohn iſt offenbar im Reiſeanzug.
Sein Pelz haͤngt an der Wand zwiſchen einer Auswahl ſtark angerauchter Pfeifen, zwiſchen Baſtbuͤndeln, Hirſch⸗ geweihen, Leinwandſaͤckchen mit Saͤmereien, was alles im behaglichen Durcheinander ſich darſtellt.
„Da waͤren wir denn ſo weit,“ brummt der Alte, die Pfeife zwiſchen den Zähnen — „werden auch gleich die Sonne haben. Allons! mit der Lampe fort!“
„Siehſt du,“ faͤhrt er nach einer Pauſe fort und blaͤſt aus der Pfeife ein hellblaues, beſonders kraͤftiges Gewoͤlk, „ſiehſt du, — da iſt ſie!“
Der Sohn ſteht jetzt neben ihm.
Die weißen, eiſigen Nebel wogen maͤchtig an der langen Herrgotts wand hin; ein goldpurpurner Funken gluͤht zwiſchen der Wand und dem leuchtenden weißen Himmel, der Schnee verliert das tote Weiß und ſchimmert roſig golden. Da war fie hervorgeſprungen, die Sonne. Mit ihr zugleich huͤpfen tiefblaue Rieſenſchatten ins Land hinein.
Die große, beſchneite Tanne, die ihre Zweige von dem Schnee beſchwert an ſich gedruͤckt hatte, wie ein Soldat die
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Arme, wenn der Vorgeſetzte an ihm voruͤbergeht, wirft einen hellblauen, ſpitzen Schatten dem Hauſe zu, und dieſer Schatten ſieht aus wie der Geiſt der weißeingehuͤllten und beſchwerten Tanne, der von ihr abgeſprungen iſt, und ſich aus irgendeinem Grunde in den Schnee gelegt hat.
„So, da iſt ſie ſchon wieder in den Nebel gekrochen,“ ſagt der alte Gaſtelmeier, „der gefällt's auf Rohrmoos nicht — kann's ihr nicht verdenken. Da hat ſie geſehen, wie das biß⸗ chen Altſtall da druͤben ſtand und eine Kaͤſerei, daß Gott er⸗ barm! — da machten wir's eine Zeitlang damit, es blieb beim alten — dann wurde gebaut. Sie bekam einen Vieh⸗ ſtand zu ſehen im Lauf von zwanzig Jahren, wie hier herum keinen zweiten.
Sie kennt den alten Gaſtel meier, hat ihn hier dreißig Jahre jeden Morgen geſehen, hat geſehen, wie er es ſich ſauer werden ließ, hat dann ſpaͤter die Frau geſehen, wie ſie ſich plagen mußte. f
Sie hat auch geſehen, daß die beiden Leute einen Sohn hatten, und wird gedacht haben: Der kann lachen, die beiden Alten arbeiten fuͤr ihn wie die Pferde, der ſitzt einmal warm hier. Aber proſt Mahlzeit! Der laͤßt den Alten jetzt wieder einmal im Stich.“
Der Sohn hatte den Vater ruhig zu Ende ſprechen laſſen. Das war die Rede, die kam ſo oder ſo in allerlei Form jedes⸗ mal vor dem Abſchied, gerade als wenn der Vater ſie ſich ausgedacht und einſtudiert hätte. Immer fing er an, daß man meinen konnte, diesmal kommt er auf etwas an⸗ deres; — aber zuletzt da kam das „Proſt Mahlzeit“ — das Ende — die Unzufriedenheit, der Stachel, der im Herzen ſaß.
Nuf des Sohnes treuherzigem Geſicht lag ein Ausdruck der Niedergeſchlagenheit.
„& auch ſo gut, Onkel“, ſagte das junge, blonde Frauen⸗ zimmer. „Er tut halt, was er mag — und daß er's tun
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kann, das habt doch ihr gemacht!“ Dabei legte fie die Hand auf die Schulter der Mutter, die, uͤber ihren Strickſtrumpf gebeugt, waͤhrend der Rede des Vaters Traͤnen vergoſſen hatte.
„Ou tuſt dir jetzt leicht, Onkel, wenn du glaubſt, der Friedel koͤnnte ebenſogut hier bleiben wie dort, als wenn ein Menſch tun koͤnnte, was er nicht will. — Dich haͤtten s ſeiner Zeit in Muͤnchen in die Akademie ſtecken ſollen — Jeſus!“
„O, du!“ ſagte der ſtramme Alte, — „Nickel, was weißt denn du!”
„Daß man ſeine Leut“ in Ruh“ laſſen ſoll — was kannſt denn du jetzt machen? — Schimpfen? — Das wär’ net übel und die Frau zum Weinen bringen. — Und alles iſt ſoweit gut. — Er macht ſein Sach“ brav, und was er wollte, hat er erreicht — gerad wie du.“
„So?“ — der Alte ſchwieg und erwiderte nichts; er war aber nicht mehr ſchlecht gelaunt. Sie verſtand es mit ihm. Er ſchaute auch mit einem Blick auf ſie, als wollte er ſagen: Laß nur, wann du fo red’ft, laßt man ſich's (hon gefallen. — „Du Almkuh“, ſagte er.
„Die Weibsleut in der Stadt, die könnten mir paſſen“, fuhr er fort. „O, du grundguͤtiger Eſel!“ Mit dieſen Worten faßte er ſeinen Sohn an beiden Schultern und ſchaute ihn mit den ſcharfen, kriſtallhellen Augen an. „Ein junges Weib, das im Juni und Juli beim Kuß nicht nach Erdbeeren und Erdgeruch duftet, nach friſchem Laub und Heu — und Winters nicht nach Schnee und Luft und Kaͤlte — — pfui Teufel — ſo ein, ſo ein muffiges, ungeluͤftetes Weib, das bring“ du mir einmal nicht! — Das wenigſtens nicht! — Da, (dan ſie dir an — du Narr — ſo auf die Art.“
Er zeigte auf das Mädchen. Sie ſtand jetzt aufgerichtet vor dem Kaffeetiſch, groß und kraͤftig, roſig, blond und ruhig.
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„Keinen Stadtſchmutzfink — keinen Stubenrauch, keinen ſolchen parfuͤmierten Scharwenzel, wenn ich bitten darf.“
„Ou biſt ein ſchoͤner Burſch und die Maͤdel laufen dir nach, Junge — das tun ſie einmal nicht anders. Denk daran: ein Kuß, der nach Erdbeeren ſchmeckt, nach Erdgeruch und Sonne und friſcher Luft — das iſt, was der Alte von Liebes⸗ ſachen verfteht.” —
Der Sohn ſchaute laͤchelnd auf das Mädchen, das fo gleichmuͤtig daſtand und die Hand der Frau gefaßt hielt.
„Ja, ſieh ſie dir nur an“, meinte der Alte.
Da lachte das Mädchen. „Friedel, nu ſchau“, der möcht mich dir anpreiſen! — Ja, du,“ wendete ſie ſich zu ihrem Onkel, „ſo eine Almkuh, wie du ſagſt, die iſt nicht jedermanus Geſchmack. Laß ihn nur — der geht ſeinen Weg auch ohne dich und ohne uns.“
Die Mutter war, waͤhrend ihr Mann mit dem Jungen ſprach, den eigenen Gedanken gefolgt. Sie hatte gedacht, daß er in dieſem Zimmer geboren war, an die Jahre, waͤhrend denen ſein Bett neben dem ihren geſtanden hatte. Sie emp⸗ fand in der Erinnerung den weichen, friſchen Koͤrper, und wie er zu ihr jeden Morgen ins Bett gekrochen war, wie ſie ganz eins ſich mit ihm gefuͤhlt hatte, wie er ſie ge⸗ liebt hatte, wie ſie ſein alles geweſen, — wie alles da⸗ hingeht.
Sie dachte daran, wie ſo nach und nach und doch faſt mit einem Male ſeine Schultern mager, ſeine Beine lang und duͤnn wurden, nur das Haͤlschen blieb weich wie ein Maulwurfsfellchen, noch lange Zeit. Wie er ihr fremd wurde, auch nach und nach, und doch in der Erinnerung wie mit einem Male; wie ſie den geliebkoſten Koͤrper gar nicht mehr kannte, gar keinen Teil mehr an ihm hatte, wie ſeine Augen ihr fremd wurden und auch ſein Herz. |
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Und wie er ganz aus dem Haufe kam, nur hin und wieder heimkehrte, immer ein andrer mit neuen Erlebniſſen — immer derſelbe, ihr Friedel, ihr lieber kleiner Friedel, den ſie zaghaft an das Herz druͤckte. Sie wußte nicht recht, was an ihm ihr eigen war, und wußte nur das eine: ſie liebte ihn und hätte ihn mit Freuden überfchätten mögen. Sie war ſtolz auf ihn; aber was ihn fo recht freute, fo recht glad: lich machte, das wußte ſie nicht und konnte es ſich nicht vorſtellen. a
„Friedel,“ ſagte die Frau mit einer eigentuͤmlich befan⸗ genen, faſt ſchuͤchternen Stimme, die mit ihrer kraͤftigen, ſtarken Erſcheinung nicht in Einklang ſtand, „du gehſt deine eigenen Wege, Gott gibt ja manchen Menſchen eine Gabe, von der man nicht weiß, woher ſie gekommen iſt und wohin fie geht. Die ſchoͤnen Arbeiten, die du mir in München ge; macht, und all die Blaͤttchen, die du früher zuſammengekritzelt haft, bab’ ich immer gut aufgehoben und meine Frend’ dran ghabt; aber wenn es auch feine Richtigkeit hat,“ fuhr fie bes wegt fort, „wie weit ſo einem Talent zu trauen iſt, weiß man doch nicht.
Siehſt du, wenn du einmal fuͤhlen ſollteſt, daß du dich trotz allem getaͤuſcht Haft, komm zuruck — ohne Scham. Erinnerſt du dich, wie du als kleiner Bub“ dich auf der Tanne vor unſerm Hauſe verſtiegen hatteſt und nicht weiter konnteſt, und wie du nicht um Hilfe rufen wollteſt, und uns nach dir ſuchen ließeſt, bis der Vater dich endlich entdeckte und dich ganz armſelig wie du warſt, herunter⸗ holte?“ —
So etwas Ahnliches ſagte auch fie jedesmal beim Ab⸗
ſchied.
„Mutter, bis jetzt, ſo Gott will, hab“ ich mich nicht ver⸗ ſtiegen“, ſagte er, und er gab ihr die kraͤftige Hand und kuͤßte ſie auf den Mund, und die Frau ſchlang die Arme ihm um die Schultern.
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Der Vater trat an ihn heran und klopfte ihn auf den Maden. „Laß ihn nun, Alte, 's iſt Zeit. Wir muͤſſen jetzt wieder allein miteinander auskommen.“
Anna war in ihren Pelz gekrochen und hatte den Kopf knapp mit einem weißen Tuch umhuͤllt. In ihrem Geſicht allein war keine Unruhe und Erregung zu bemerken. „Nun, Friedel, waͤren wir ſo weit, der Schlitten iſt vor der Tuͤr und dein Koffer iſt auch ſchon aufgebunden“, ſagte ſie.
„Dann geh. — Mach's gut“, ſagte der Alte. Anna oͤffnete die Tare und ging voraus. Es lag in dem Weſen des Maͤdchens etwas Beruhigendes und Wohl⸗ tuendes.
Sie trug ein altes Pelzchen mit dunkelviolettem Wollſtoff überzogen. Es (ah aus wie ein Erbftäd, das man ihr gegeben hatte, als ſie groß genug geweſen war, und in das ſie unbe⸗ denklich Winter fuͤr Winter ſchluͤpfte, ohne irgendwelche andere Anforderungen an das Pelzchen zu ſtellen, als daß es ſeine Pflicht, ſie warm zu halten, erfuͤllte. Sie ſtieg in den Schlitten, waͤhrend Friedel noch den letzten Haͤndedruck mit den Eltern tauſchte.
Der alte Gaſtel meier hielt feine Pfeife feſt zwiſchen den Zaͤhnen, ſchuͤttelte den Kopf kaum merklich und ſchaute dem Sohn ſcheinbar teilnahmslos nach.
Die Leute vom Hof ſtanden ebenfalls ruhig und ſchwei⸗ gend.
Abſchied iſt immer eine boͤſe Sache.
In einem großen Bogen fuhr der Schlitten jetzt um die Dungſtatt und an dem mit maͤchtigen Eiszapfen behangenen ſtrohumbundenen Brunnen vorüber, auf deſſen Knauf mitten im Schnee ein Tannenbaͤumchen mit bunten Netzen, Roſen und Baͤndern behangen, geſteckt war, der einzige bunte Fleck rundum.
„Sieh, der Weihnachtsbaum“, ſagte das Maͤdchen und
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berührte die Schulter des Gefährten. Er follte noch einen Blick darauf werfen.
Der alte Sepp vorn auf einem Heubund machte jetzt einen gewaltigen Buckel, ſchnalzte mit der Zunge, und wie ein Vogel fuhr der Schlitten die im Sonnenlicht leuchtende Schneebahn hinaus uͤber die Hochebene hin. |
In Rohrmoos ging ein jedes wieder an fein Tages werk.
Der Schlitten aber fuhr jetzt talab unter einzelnſtehenden, ſchneegebeugten Edeltannen hin, zwiſchen den hohen, weißen Daͤmmen, die der maͤchtige Schneebrecher von Rohrmoos aufgeſchichtet hatte. |
Die knorrigen Latſchkiefern, das Unterholz, das Eichen⸗ geſtruͤppe, die niedern Nadelbaͤumchen, waren fo vergraben unter der ſchimmernden Laſt, daß man nicht ahnen konnte, was unter dem Schnee fuͤr ſonderbare Geſtalten ſteckten. Es war, als hockten uͤberſchneite Baͤrenfamilien in den tollſten Sprüngen erfroren unter dem Schnee, oder naͤrriſche Kerle, die miteinander ſchwatzten, zueinander gebeugt, oder tan⸗ zende Hexen, ſpringende Schweine, zuſammengekauerte Ge⸗ ſtalten aller Art. Eine ganze Raͤtſelwelt, von den weißen, leuchtenden Maſſen uͤberdeckt.
Die Luft war ſtill, kein Windchen regte ſich. Wenn der alte Sepp durch die heilige Stille die Peitſche ſchwang, rieſelte der Kriſtallſtaub von den Baͤumen.
Der junge Mann ſaß ſchweigend und ruhig um ſich ſchauend in den Schlitten zuruͤckgelehnt. Der Druck des Abſchiednehmens war von ihm gewichen, und er ließ es ſich wohl ſein. |
Das Stud Heimat, das da neben ihm (af, fehlen weder hindernd noch quaͤlend auf ſein Gemuͤt zu wirken.
Des Maͤdchens Blicke waren hin und wieder auf ihn ge⸗ richtet, aber nicht dringlich, nicht mit der Aufforderung, irgend etwas zu tun oder zu laſſen.
a Böhlau III. 17
„Sieh, daß du deine Strumpf ein biſſerl in Ordnung
haͤltſt“, ſagte fie nach langem Schweigen.
„Wie denn in Ordnung?“
„Wirſt ſchon wiſſen, was ich meine.“ Sie laͤchelte gut und heiter. „Das ſtellt ſich fo ein Menſch nicht vor, was fuͤr Not man mit ihm hat.“
„Große Not!“ ſagte er behaglich lachend. „Was du Not nennft |“
Sie lächelte ein wenig traurig — wie in Gedanken.
Dann waren ſie wieder ſtill miteinander und der Schlitten flog immer weiter, weiter wie ein Vogel.
Sie war eine gute Begleiterin, fle (torte ihn wirklich nicht, und er hatte nicht das Gefuͤhl, ſie unterhalten zu muͤſſen.
Es gibt Leute, die das Leben ihres Nebenmenſchen als den Hauptſtrom betrachten und ſich ſelbſt nur als Baͤchlein, das dem Strome nichts entzieht, ſondern ihm ſeine eigenen Wellen leiſe, unmerklich zutraͤgt. Und ſo ein Strom bemerkt es kaum, verfolgt ſeinen Lauf gedankenlos weiter. Moͤglich, daß er, wenn die ſtillen Wellen, die ihn ſtaͤrken, ein mal ausbleiben, den Verluſt bemerken wird.
„Sag“ einmal, Anne, du koͤnnteſt doch bald einmal wieder in die Stadt kommen?“
„Ja, wie ſoll ich denn abkommen?“ Und nach einer Pauſe fragte ſie weiter: „Aber du, mit deiner Wohnung, wie iſt denn das — gehſt du denn doch wieder in die alte?“
„Ich denk ſchon.“
„Nein, du mußt dir eine andere nehmen, ſei nicht ſo faul, Friedel. In der Salzſtraße ſtecken zu bleiben — wie kannſt du nur! Wie wir bei dir waren, verging mir Hoͤren und Sehen!“
„Da ſollteſt du einmal nachts da ſein. Das iſt, wenn man nicht wie ein Baͤr ſchlaͤft, zum aus der Haut fahren. Mir, gottlob, macht's nichts — nur ein paarmal — da wurde ich aber wuͤtend. — Wie du gelacht haben wuͤrdeſt,
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wenn du mich haͤtteſt (eben können! Stell dir vor, ich konnte nicht einſchlafen und hoͤrte die ganze Geſchichte, alles, was ſie da treiben — was man ſonſt ſo verſchlaͤft. — Ein ſolcher Bahnhof in der Nacht tft die Hoͤlle! — Stockdunkel — und aus der Dunkelheit Toͤne und ein Wuͤrgen und Arbeiten, ein Raſſeln und Wuͤten, Schreien und Pfeifen. Und in einem fort — in einem fort. Nie faͤngt's an und nie hoͤrt's auf. Sie werden nie fertig. Es hat ſo etwas Verzweifeltes — und immer wie in hoͤchſter Not — die Rufe klingen wie Un⸗ gluͤcksſchreie, das Raſſeln, als wenn etwas Entſetzliches ge⸗ ſchehen waͤre. Das Puffen und Stoßen, als wenn etwas Lebendiges zerquetſcht würde. — Man ſtellt ſich die graͤßlichſten Dinge vor und alles klingt wie ewige Aufregung, ewiges Uberangeſtrengtſein — erbarmungslos und ſinnlos. Als wenn Wahnſinnige toben und ſchieben und poltern und puffen und heulen und ſchreien und brauſen und pfeifen. — Man kommt in eine Spannung, in eine Wut! Es iſt, als wenn man das fuͤrchterlichſte Fieber hatte — und die draußen wuͤten fort — wuͤten fort ohne Ende. Jetzt hat's geklappt, gerollt, gepufft, ſich eingehaͤngt, gerade als wenn's fertig und zufrieden war’ — Gott bewahre — es geht von neuem los! — Da kommt wieder etwas Neues angewuͤtet, auge⸗ brauſt, angeheult. Große Geſchichte, dachte ich das erſte Mal — das werden wir gleich haben — verſtopfte mir die Ohren. Proſt Mahlzeit! Und dann wie ein Narr wickelte ich mir die Hoſen um den Kopf, fo feſt und fo dick wie's ging. Wie ein Warenballen! Und heiß! Aber durch jede Ritze drang das Gewuͤte — ſcheußlich! Das war die erſte Nacht — damals wollte ich natuͤrlich gleich ausziehen; aber da lachte meine Hauswirtin und ihre Tochter, und beide ſagten: „Ja, die erſte Nacht! Das hat aber gar nichts auf ſich. Wir haben uns ganz daran gewoͤhnt. Es iſt noch beſſer als manches andere. — Und ſchließlich Hört man’s gar nicht mehr, da kommt's einem vor wie die größte Stille.“
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„Das war das lange Mabel, die das geſagt hat — die wir bei dir ſahen?“ fragte Anna. „Jawohl, die Fanny.“
„Und du biſt geblieben?“
„Du weißt's ja.“
„Und haſt dann geſchlafen?“ |
„Kür gewöhnlich, ja. Manchmal nicht, dann hab“ ich ges hoͤrig geflucht.“
„Aber biſt geblieben?“
„Weshalb fragſt du denn?“
„Ja, weil ich nicht begreife, wie man in einem ſolchen Dols lenlaͤrm bleiben kann, ohne Grund.“
„Der Grund war, daß ich faul bin. Außerdem taten die Leute mir leid. — So fortgehen! — Und fie verſorgten mich auch gut.“
„So! Ou, fet nicht boͤs auf mich“, ſagte das Madden langſam und bedaͤchtig und ſah ihm gerade in die Augen. „Iſt das lange Maͤdel dein Schatz?“
„Du biſt einzig!“
„Weshalb nicht”, ſagte fle einfach. „Gefallen tat’ fie mir nicht; aber Geheimniſſe haben wir doch nie voreinander gehabt.“
„Übrigens iſt fie nicht mein Schatz. Sie möchte wohl. — Weißt du, die Frauenzimmer. — Wenn ich dich und die Mutter nicht kennen wuͤrde ... was man fo von Franuenzim⸗ mern zu ſehen bekommt — Gott weiß — wie ſoll ich ſagen. .“ Er ſchwieg und ſie blickte mit Aufmerkſamkeit auf ihn. „Weißt du, man ſagt doch ſo: das Weib ſoll rein ſein.“
„Ja, fie follen alle gut fein, die Weiber und die Männer — fie ſollten — fie find aber beide gute oder boͤſe Menſchen, oder reine oder ſchmutzige Menſchen — ſo.“
„Ja — na. Was ſagſt du dazu, wenn ein junges Frauen⸗ zimmer einen anredet, wie ſoll ich fagen... als wenn ſie verliebt wäre — fo — weißt du?“
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„Wie Sent, da wifpert fie dich auf der Straße an — oder wie?“
„Jawohl. Nennſt du das rein?“
„Wenn du ſo irgend etwas herausgreifſt — wie ſoll ich's da wiſſen. Da muͤßt ich erſt das Maͤdel kennen und genau erfahren, wie es gekommen iſt, daß ſie dich ſo anſpricht. Sie tut es doch nicht ſo aus heiler Haut, wenn es auch ſo aus⸗ ſieht, da iſt eine lange Geſchichte — vielleicht eine traurige Geſchichte. Aber zieh weg aus der Salzſtraße. Gar, wenn du weißt, daß das lange Maͤdel dein Schatz ſein moͤchte. Da blieb“ ich doch nicht, wenn ich wuͤßte, ein Mann will mein Schatz ſein, und ich mag nicht. Schau, ihr tut euch leicht.“
Sie ſprach ruhig und gerade heraus.
„Ja, ja, 's iſt (chon recht, ich zieh“ aus“, antwortete er und lachte gutmuͤtig. „Wenn ich aber wirklich einmal einen Schatz habe, muß ich's dir doch ſagen.“
„Abgemacht.“
Er reichte ihr die breite, feſte Hand hin.
„Und umgekehrt?“ fragte er.
Da ſchuͤttelte fie den Kopf. „Beicht“ du nur, von mir ers faͤhrſt du doch nichts.“
So fuhren ſie hin durch die ſchneeglitzernde Pracht.
„Hoͤre, Anna, fuͤhlſt du dich nicht verdammt einſam da oben?“
„Einſam kann man ſich uͤberall fuͤhlen. Weißt du, wenn man zufrieden iſt, fuͤhlt man ſich nicht einſam.“
„Stimmt“, ſagte er.
„Das aber koͤnnteſt du tun, ſchreiben, wenn es dir gerade paßt — alles — auch das Kleinſte. Wir leben immer mit dir fort da oben, und die langen Abende — weißt du — die Mutter ſagt dann: Wo er wohl jetzt iſt, was er wohl tut? So etwas. Du mußt halt ſo ein biſſel deutlicher ſchreiben
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und dabei an uns oben denken und an die ſtillen Abende auf Rohrmoos.“
Er verſprach es.
„Du“, ſagte ſie nach einer Weile. „Damals, wie wir bei dir in Muͤnchen waren, hat mir's nicht beſonders gefallen, wie die Maͤnner mit den Frauen und Maͤdchen fprechen.”
„Wieſo denn?“
„Unnatuͤrlich.“
„So.“
„Jawohl.“
„Es iſt ſo etwas dabei, als wenn ſie einen nicht fuͤr voll anſaͤhen.“
„Tun ſie auch nicht.“
„Und das ſagſt du fo —“
„Kann ich was dafür?”
„Und dann wieder dieſe Hoͤflichkeit und das Getu — man kommt ſich ganz albern dabei vor. Ich hatt’ ihnen ins Geſicht lachen koͤnnen und ich haͤtte es ihnen auch ſagen mögen.”
„Haͤtteſt du's doch getan.“
„Ja wie denn? Ich dachte immer, daß ſich die Maͤdchen nicht dagegen wehren! aber wie ſollten ſie denn? Eine allein? die haͤtten fie doch nur ausgelacht. — Du, lern’s nur nicht etwa ſo.“
„Sie wollen's ja aber.“
„Ah, geh. Die dummſten Gaͤnſ vielleicht. Wegen denen muͤſſen wir andern doch net...“
„Das iſt nun einmal ſo“, antwortete er wieder ruhig und behaglich.
„Du laͤßt dir auch ein biſſerl viel gefallen, danke mich“, begann ſie nach einer Weile wieder.
„Oho“, ſagte er.
„Ja, du biſt eben bequem.“
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„Du meinft, th hab' gern meine Kuh’? Stimmt — aber mit dem ‚Sefallenlaffen‘, — nein, da irrſt du dich!“
„Mit deinem Namen das Getu, das laͤßt du dir doch ruhig gefallen... ‚Baftelmeter‘, weshalb nennen fie dich denn fo? und dann „‚Waſtelmeier und ‚Büchfelmeler‘ und was alles hängen fie dir an — und „Comme il faut- Meier — ‚Spedmeier‘ |”
„So — na, große Geſchichte — das hat alles feine Bes deutung — was iff da weiter — man muß Spaß verſtehen. Buͤchſelmeier, das kommt davon, du weißt ja — ich lieb mein Sach’ beieinander. Das Herumfahrenlaſſen, das kann ich nicht leiden. Ordnung muß ſein. Ich geb“ zu, es gibt reichlich Buͤchſen und Buͤchſel bei mir und allerlei Dinge, die meines Dafuͤrhaltens ein ordentlicher Menſch beſitzen muß. Auch die übrigen Namen haben alle ihre Geſchichte; aber weshalb denn nicht? — Speckmeier, zum Beiſpiel. Der Schlankeſte bin ich nicht — und wenn ſie's ausſprechen, was mal iſt, da kann ich nicht Laͤrm ſchlagen.“
„Du biſt aber nicht fett“, ſagte fie.
„Weißt du, die Raſſe iſt gut, die beiden Alten machen mir nicht gerade Furcht, einmal auseinander zu fließen; aber man merkt mir's ſchon an, daß ich net ſtürmiſch bin.“
„Das biſt du nicht“, beſtaͤtigte ſie.
„Na, vielleicht mal in der Liebe — Herrgott noch einmal, bis jetzt bin ich ſoweit verſchont geblieben. Unberufen! Greulich, daß ein jeder es ausprobieren muß — alſo — ab⸗ warten.“
Sie laͤchelte.
„Du kommſt mir oft juͤnger vor, als ich bin“, ſagte ſie.
„Das iſt viel geſagt. Duͤmmer meinſt du wohl — danke.“
„Du weißt's ſchon, wie ich's meine.“
So fuhren die beiden jungen Leute plaudernd miteinander hin, dem Ziele zu.
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„Gottlob,“ ſagte er, „daß es außer meiner Mutter für mich noch ein Weib gibt und dazu ein junges Weib, mit dem man reden kann, ohne Furcht vor den verdammten Liebes⸗ geſchichten. Daß das euch Weibern fo in den Gliedern ſteckt! Es tt wirklich greulich.“
Sie errdtete bis unter die Haarwurzeln.
„Alſo abgemacht“, ſagte er, als er nach kurzem Auf⸗ und Niedergehen auf dem Perron der kleinen Station in ein leeres Coupe zweiter Klaſſe ſtieg. „Wenn ich einen Schatz hab', biſt du die erſte, die's erfährt, und gefällt er dir nicht, verabſchieden wir ihn.“
„Die Abmachung moͤcht ihr nicht gefallen, wenn ſie“s wüßte”, ſagte das junge Mädchen.
„J was? Übrigens ſei ruhig, du ſagteſt vorhin mit den Struͤmpfen — ich paß ſchon auf.“
„Du haſt diesmal zwei einzelne mitgebracht.“
„Teufel auch. Da ſind die Waſchweiber ſchuld daran. Ich werd’ ihnen (hon auf die Finger ſehen. Verlaß dich drauf.“
Da lachte fie über ihn. Der Zug kam in Bewegung; es keuchte, dampfte, brauſte, pfiff, droͤhnte, lautete.
Die Beſchreibung vom Rangierbahnhof kam ihr in den Sinn und ſie rief: „Du, mit der Salzſtraßen, daß du mir das nicht verſaͤumſt!“
„Gleich wird's gemacht!“ rief er ihr noch von weitem zu — und dann „Gruͤße, Grüße an die Alten oben“ — und fort war er.
Das junge Mädchen ſah dem Zuge nach, die Augen wurden ihr truͤb. — Zwei Tränen rollten die friſchen, von der Kälte geroͤteten Wangen herab.
„Der tut ſich leicht“, ſeufzte fie erregt. „Das hätt’ er jetzt ſehen ſollen! Herr, du mein Gott!“
Sie wiſchte ſich die Traͤnen weg und ging feſten Schrittes zum Schlitten.
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„Sepp“, fagte fie. ,Beforg’, was du zu beſorgen haft, und komm mir nach.“
Der Alte nickte und das Mädchen ging vorwaͤrts, leicht⸗ füßig, als mög’ das Herz ihr nach dem Abſchied kein Quent⸗ chen, und ſie trug doch ſchwer daran — Abſchiedsſchmerz iſt keine leichte Sache. Das haͤtte ihr aber einer jetzt anſehen follen !
„Mit dir, du dummer Bub, werd’ ich wohl fertig werden!“ ſagte fle im ſchnellen Gehen vor ſich hin. „War“ nicht abel.” Und da klang ein Jodler durch die friſche Kaͤlte in die Ein⸗ ſamkeit hinaus — fo ein Jodler, der alles, was das eins geengte Menſchenherz beſchwert, wie auf großen Fluͤgeln uͤber die ſtillen Berge und Täler traͤgt.
Zweites Kapitel
treffen den Friedel Gaſtelmeier in Muͤnchen wieder. Seinen Handkoffer hat er dem Portier auf dem Zentralbahnhof uͤbergeben und jetzt ſchlendert er in die Stadt hinein. Es iſt bei ihm abgemachte Sache. Das alte Quartier in der Salzſtraße nimmt er nicht wieder — kehrt überhaupt gar nicht mehr dahin zuruͤck. Weshalb ſoll er ſich der peinlichen Geſchichte ausſetzen, von den beiden Frauenzimmern ſich zu ver⸗ abſchieden? Und fort muß er, da iſt nichts zu machen. Er hat's ihr verſprochen. Und wahrhaftig, fie hat recht. Er hat ſich dort verhaͤtſcheln laſſen, es iſt ihm vortrefflich ergangen — ſie haben ihm alles an den Augen abgeſehen. Er hat fuͤr die Bequemlichkeit den verfluchten Laͤrm in Kauf genommen — und noch etwas. Er war ſo ein ſchlauer Vogel geweſen, der es ver⸗ ſtanden hatte, die Lockſpeiſe zu freſſen, ohne ſich in der Schlinge zu fangen.
„Na ja! Was ſoll man machen bet dieſem Menſchenhandel? übers Ohr hauen, wie das bei jedem Handel uͤblich iſt. Scheußlich, wie man in ſo etwas hineinkommt“, philo⸗ ſophierte er und ſchlenderte weiter. „Na ja, entweder man laͤßt ſich ausnuͤtzen oder man nuͤtzt aus. Es iſt da gar nichts zu machen. — Und diesmal ſoll mich der Teufel holen, wenn ich irgendwohin gehe, wo eine Tochter im Haus iſt. Aber wie ſie das alles durchſchaut hat, ſie, die nie von da oben herabkommt. In Liebesſachen haben die Weiber Ein⸗ gebungen.“
So kam er in Cafe Luitpold an, hatte vorher noch einen Dienſtmann in die Salzſtraße geſchickt, um die uͤbrigen Sachen holen zu laſſen, die er als vorſichtiger Mann wohlverpackt hinterlaſſen hatte. Im Cafe Luitpold wurde er an ſeinem Stammtiſch von einigen Kollegen begruͤßt.
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„Speckmeier! Comme il faut- Meier! Büchſelmeier, gruß Gott!“ |
„Da wären wir wieder.“ Damit rite er feinen Stuhl und faßte woblgemut Pofto.
Er ſtand trotz „Speck⸗ und Buͤchſelmeier“ in gutem Anſehen bei feinen Kameraden, die ihn für einen tuͤch⸗ tigen Kerl in jeder Beziehung hielten, und ſeine kleine Eigenheiten waren auch ein Vorzug, beſonders weil er durchaus Spaß verſtand. Er war ein praͤchtiger Kerl, darin ſtimmten fie alle uͤberein. Für einen Kuͤnſtler etwas pedantiſch, daher „Buͤchſelmeier“, aber gegen feine Kanter: ſchaft war eigentlich nichts einzuwenden. Er arbeitete ſimpel vor ſich hin, ohne viel Aufhebens. — Und was er fertig brachte, hatte auch ſo etwas Simples, Gutes. Er war Landſchafter, malte fleißig und verkaufte ſogar, und das will viel ſagen.
Nur in einem, da verſtand er keinen Spaß. Friedrich Gaſtel⸗ meier, der brave Burſche, hatte mit ſeinen achtundzwanzig Jahren es zu einer behaglichen Koͤrperfuͤlle gebracht — das war Tatſache, damit hatte er ſich abgefunden. Er fand auch, daß dieſe Fuͤlle ihn nicht abel kleidete, und hatte recht; aber eine andre Tatſache, die nahm er nicht fo tbl und einfach hin, es hatte ſich bei ihm fruͤhzeitig ein ganz anſehnliches Glaͤtzchen eingeſtellt. Davon wollte er nichts wiſſen. Er ge⸗ brauchte allerhand Haarmittel. Man erzaͤhlte ſich, daß er auch ſchon bei einem Haardoktor geweſen ſei — alles ver⸗ geblich; die Flaͤſchchen, die ſeine Haarmittel enthielten, ſtanden jedoch nicht mit den uͤbrigen auf ſeinem Waſchtiſch aufgepflanzt. Er hielt ſie verſchloſſen, denn er ſchaͤmte ſich ihrer. Was mit dem Glaͤtzchen zuſammenhing, war ſein wunder Punkt. Das hatten die Kollegen laͤngſt weg, denn ſie hatten einſt auch begonnen, das Glaͤtzchen ſpaßhaft zu nehmen, waren aber bei Freund Gaſtelmeier uͤbel an⸗ gekommen, der fein Glaͤtzchen verteidigte wie eine Ldwin
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ihr Junges. Es war in dieſer Beziehung die größte Vor⸗ ſicht geboten.
Und ſie waren vorſichtig, nachdem ſie in ſeinen Seelen⸗ zuſtand Einblick genommen hatten. Dieſen guten Menſchen zu kraͤnken, kam ihnen nicht bei, und ſie machten unter der Hand Fremde, die in ihrem Kreiſe auftauchten, auf Gaſtel⸗ meiers Eigentuͤmlichkeit aufmerkſam, um ſeine empfindliche Herzensſtelle vor unberufenen Fingern zu behuͤten. Dem kleinen Gaſtelmeier erging es allenthalben gut, denn er war gern geſehen.
Heute teilte er ſeinen Kollegen mit, daß er nicht in ſein altes Quartier zuruͤckkehren werde, bat zu gleicher Zeit die Kellnerin um die „Neueſten Nachrichten“ und war bald in die Inſerate vertieft.
„Buͤchſelmeier, aber nun ſuche dir die Bude einmal moͤglichſt nahe bei deinem Atelier, ſei ſo gut. Das iſt ja ein Unſinn, wie du dir die Sache eingerichtet haſt“, ſagte einer. „Alſo Schelling⸗ — Barer⸗— Bluͤtenſtraße — ſo etwas.“
„Gib einmal her.“ Gaſtelmeiers Gegenuͤber ſtrectte die Hand nach der Zeitung ans und nahm ſie an ſich. „So, jetzt paß auf. Werden wir gleich haben.“
Inzwiſchen nahm Gaſtelmeier die Einladung eines ſeiner Kollegen, bis ſich etwas gefunden, bei ihm auf der Stube zu wohnen, dankend an.
Sie ſuchten jetzt in den Inſeraten und es fand ſich etwas.
„Da gehſt du hin — zu allererſt. — Hoͤr mal: „Zu ver⸗ mieten!“ — alſo: „Es wird vermietet — noch einmal! Unpraktiſche Leute! — Alſo: „Es wird vermietet — ein Zim⸗ mer. Suͤdſeite, auf längere oder auch kuͤrzere Zeit, nach Be; lieben. Schaut ganz ins Grüne‘ — in dieſer Jahreszeit nicht übel — ,ift originell möbliert‘. — Weiter: , Preis nach den Verhaͤltniſſen des Mieters. Was ſagſt du dazu? Sollte
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man es nicht mit dieſer komiſchen Heiligen verſuchen — rieſig unpraktiſch!“
„Das hat eine alte, poetiſche Jungfer geſchrieben“, ſagte Buͤchſelmeier. „Da ware man ja auch vor einer Tochter fiber.”
„Moͤglich“, ſagte einer.
„Na, wollen ſehen“, meinte Gaſtelmeier. Und ſo ging er noch dieſen Tag in der letzten hellen Nachmittagsſtunde in die Bluͤtenſtraße, um beſagtes Zimmer in Angenſchein zu nehmen.
Drei Treppen hoch ſtieg er im Ruͤckgebaͤude, das frei und luftig in einem Garten lag.
„Drei Treppen — Ruͤckgebaͤude — na“ — brummte er zweifelhaft. Das war nicht ſo ganz, was er wollte, aber ſtill, ja das ſchien es zu ſein. Etwas ſteile Stufen. — In der Stadt liebte er ſeine Bequemlichkeit. Es waren im Hauſe meiſt Ateliers, nur im dritten Stock ſchien eine Familienwohnung zu ſein. Da ließ ſich vielleicht mit der Zeit etwas machen. Er koͤnnte auch ſein Atelier hierher verlegen. „Wollen ſehen.“ So ſtieg er Stufe fuͤr Stufe gemaͤchlich hinan und ſchellte endlich. Es war eine Klingel, die kaum einen Laut von ſich gab, als waͤre ſie heiſer oder als haͤtte man ihr etwas um⸗ gewickelt, um ihren Klang zu daͤmpfen.
Dieſer Umſtand fiel Gaſtelmeier auf, beſonders da er dreimal ſich bemerklich zu machen ſuchte — ohne Erfolg.
„Schließlich liegt da wer krank. Proſt Mahlzeit! Mach' daß du fortkommſt, Alter. Sonderbares Volk — erſt ein Inſerat, darauf umwickeln ſie das Laͤutwerk. Doͤs is nix.“
Mit dieſer tiefſinnigen Bemerkung wollte er eben ſich an⸗ ſchicken, die Treppe unverrichteter Sache wieder hinabzuſteigen, da tat ſich ganz unvermutet die Tuͤr auf und eine ſchmaͤchtige Perſon in mittleren Jahren, mit unruhigen Augen, in einem ſchwarzen, engen Gewand, ſtand vor ihm.
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„Was wuͤnſchen Sie, mein Herr“, fagte fie auf eine Weite, der er im ſtillen die Bezeichnung „madamig“ gab. Trotzdem ſie eng und ſchmaͤchtig gekleidet war, ſah er ſie im Geiſte vor ſich in weiter Krinoline mit einem Kleide, das aus lauter Garnierungen beſtand, einem hohen Federhut mit Fächer und einem tuͤrkiſchen Schal.
Eine ſo gekleidete gezierte Dame hatte er als Kind in einem Bilderbuche kennen gelernt, und die Stallmagd hatte ihm geſagt, daß das eine „Madame“ ſei. Seitdem wußte er, was eine „Madame“ war — und die da vor ihm ſtand, war eine „Madame“. Das ſtand feſt.
Sie hatte übrigens ein eigentuͤmlich vergeiſtertes, wenn nicht gar vergeiſtigtes Geſicht und ſah geſcheit und aufgeregt aus. „Dieſe Perſon kocht ſchlecht,“ dachte Speckmeier, „und naͤhrt ſich ſchlecht. Das werden die alten Fraͤulein wohl ſo an ſich haben.“
„Mein Fraulein, Sie haben ein Inſerat .”
„Jawohl, mein Herr“, unterbrach fie ihn mit Grandezza. „Bitte, treten Sie ein.“
„Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerkſam zu machen, daß Ihr Laͤutwerk nicht in Ordnung iſt. Da Sie Mieter erwarten, ſcheint mir das nicht ganz praktiſch zu ſein“, ſagte er, waͤhrend er der Dame durch einen dunkeln Korri⸗ dor folgte, und bekam zur Antwort, daß es allerdings in Ordnung ſei.
„Wir daͤmpfen die Glocke etwas ab“, ſagte die Dame. „Das Leben bringt genug Laͤrm und Unruhe mit ſich.“
„So“, ſagte Gaſtelmeier und dachte bei ſich: „Was hat denn ſo ein altes Fraͤulein unter Laͤrm und Unruhe zu leiden, wenn es im Garten, dritten Stock im Hinterhaus, wohnt, und nicht einen Rangierbahnhof gegenüber hat.“
Die unruhigen, großen Augen der Dame aber ſprachen auch nicht von Ruhe und Behagen.
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„So aͤltliche Fraulein, die machen immer Geſchichten und geben keine Ruhe und koͤnnten es ſo gut haben“, philo⸗ ſophierte er weiter in dem Thema, über das er nicht viel Erfahrung beſaß. Bisher hatte er ſich um aͤltliche Fraͤulein herzlich wenig Sorge gemacht.
„Bitte, treten Sie ein, das iſt das Zimmer.“
Er war bereit, einzutreten; aber die Tar zeigte (id vers ſchloſſen.
„Herrgott, wer wird nun den Schluͤſſel haben!“ ſagte die Dame ziemlich faſſungslos, als wenn dieſer Schluͤſſel un⸗ wiederbringlich in einen Abgrund geſtuͤrzt waͤre.
„Emil,“ rief ſie laut und ſo, als haͤtte ſie ſchon hundert⸗ tauſendmal auf die gleiche Art „Emil“ gerufen.
„Sie hat einen Emil“, dachte Saſtelmeier ohne weitere Kritik. | Aber Emil fam nicht.
„Bitte“, ſagte die Dame wieder ſehr fein, und diesmal ſollte es bedeuten, daß er etwas zu warten habe.
Sie verſchwand in der gegendberitegenden Tür und kam eine geraume Weile nicht wieder. Endlich öffnete ſich dies ſelbe Tare, der vergeiſtigte Kopf kam zum Vorſchein — und: „Bitte“, ſagte die Dame fo ausdrucksvoll, daß Gaſtel meier nicht im Zweifel war, daß er in die eben geöffnete Tar eins zutreten habe.
In dem Zimmer ſaß Emil, ein dicker Burſche von ſechzehn bis ſiebzehn Jahren; nachlaͤſſig hockte er auf einem alten Lehnſtuhl und hielt die Zeitung in der Hand.
„Emil, befinn’ dich doch!“ ſagte die Dame ganz veraͤngſtigt und erregt.
Emil hatte ſich bei dem Eintreten des Fremden er⸗ hoben.
„Mama,“ ſagte er, „den haſt du — da weiß ich nix.“
„Mama“ — das verwunderte Gaſtelmeier doch einiger⸗ maßen. Dieſe Unbefangenheit des alten Frauleins !
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Der dicke, blonde Knabe ließ ſich, nachdem er feiner Meinung nach genug geſtanden hatte, ſeufzend wieder nieder und ſagte: „Erwin oder Olly koͤnnten ihn auch etwa haben.“
„Auch noch einen Erwin und eine Olly!
Schließlich kam es Gaſtelmeier vor, als wenn es mit dem alten Fraͤulein eine noch nicht voͤllig ausgemachte Sache ſei. Weshalb ſollten es nicht auch ganz geordnete Verhaͤltniſſe ſein, in die er da geraten war; was man ſo geordnete Ver⸗ haͤltniſſe in einem gewiſſen Sinne nennt.
Die Dame aber bekam deshalb nichts Frauenhafteres fuͤr ihn. Sie fuhr immer noch herum und ſuchte nach dem Schluͤſ⸗ ſel, zog Schubfaͤcher auf, in denen es nicht beſonders ein⸗ ladend ausſah.
Aus einer Kommode hingen einige Baͤnder heraus und ein wirrer Klumpen, den allerhand Faͤden und Schnuͤrchen und Laͤppchen und Schnitzel gebildet hatten. Gewiß ein ſehr nuͤtzlicher Klumpen, denn es war fo ziemlich alles darin zu finden, was ein Frauenzimmer zu Flickereien brauchen konnte. Gaſtelmeier vertiefte ſich in dieſen Anblick und dachte dabei an das Heiligtum, das ſeiner Mutter Naͤhwerkzeuge und Materialien miteinander darſtellten, und es wurde ihm klar, daß das bewußte Juſerat in den „Neueſten Nachrichten“ nicht das rechte fuͤr ihn ſei.
Doch als er ſagen wollte, daß ſich die gnaͤdige Frau nicht weiter bemühen ſolle, er kaͤme ein andermal wieder, da fand ſich der Schluͤſſel. Sie hatte ihn in der Taſche. „Siehſt du“, ſagte Emil, der in aller Gemuͤtsruhe ſitzen geblieben war, weiſe, während feine Mutter zum größten Arger Gaſtel⸗ meters der Schluͤſſeljagd oblag.
„Schoͤne Zucht das“, dachte er.
„Das iſt das Leben!“ ſagte ſie. „Sie werden es auch noch kennen lernen, Serr...”
„Gaſtelmeier, mein Name iſt Gaſtelmeier. Verzeihen gnaͤdige Frau, daß ich verſaͤumte .”
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„Ste find Gefhäftsmann?” fragte die Dame. „Kunſtmaler, wie wir hier in München fo ſchoͤn ſagen.“ Ein „Bravo!“ war ihre Antwort.
„Das ſcheint ihr beſondere Freude zu machen“, dachte er.
„Nun kommen Sie — bitte.“
Jetzt wurde das Zimmer wirklich gezeigt und es war, mit ſeinem Blick in einen Garten, nicht uͤbel. Suͤdſeite allerdings nicht. Es lag nach Weſten. Originell eingerichtet, wie es im Inſerat hieß: das ſtimmte. Es war etwas Angenehmes in dem Raum zu ſpuͤren, etwas, das auf verfeinerten Lebens⸗ genuß hindeutete. Da hing allerhand und lag allerhand, was in gewoͤhnlichen „moͤblierten Zimmern“ nicht haͤngt und liegt. Die Moͤbel ſtanden ſo gewiſſermaßen unternehmend da, meiſt an Stellen, die wahrhaft kuͤhn gewaͤhlt waren. Das Zimmer hatte das, was Gaſtelmeier in ſeinem Atelier gern zuſtande gebracht hätte, was ihm aber nie gegluͤckt war und was er als vernuͤnftiger Mann laͤngſt aufge⸗ geben hatte.
Aber er war ſich ſeiner Sache ganz ſicher. Hier blieb er nicht. Die Leute waren ihm nicht behaglich. Eine Frau darf nicht wie ein altes Fraͤulein ausſehen, war ſeine Anſicht. Eine Frau muß gemuͤtlich ausſehen. Man muß ſich bei ihrem Aublick allerlei Angenehmes, Seelenberuhigendes vorſtellen koͤnnen, gut zubereitete Lieblingsſpeiſen, einen appetitlichen Waͤſcheſchrank, liebevoll ſauber gehaltene Betten, ungezaͤhlte Gutenachtkuͤſſe, die ſie ihren Kindern gegeben und von ihnen bekommen hat, ſoviel Pflege und Liebe, die ſie ihr Lebtag ausgeteilt hat: das muß alles ſo von ihr ausſtrahlen, wie das Licht vom Monde. Er dachte an ſeine Mutter, an die einfache Frau.
In feiner Kindheit hatte er das Gefühl gehabt, als Hätten die Muͤtter und der brennende Chriſtbaum etwas gemein miteinander. Und das hatte er nicht vergeſſen. Von einer Frau verlangte er — was er ſelbſt nicht in Worte faſſen konnte,
3 Böhlau III. 33
was ihm aber im Gefühl fet und klar lag. Er, der (imple Menſch, war ein Schwaͤrmer in bezug auf die Frauen und war darum immer enttaͤuſcht von ihnen.
Er hatte ſich laͤnger im Zimmer verweilt, als es unbedingt noͤtig geweſen waͤre, entſchuldigte ſich, machte einige nichts⸗ ſagende, unbeſtimmte Redensarten und empfahl ſich. Ehe er die Tuͤr hinter ſich ſchloß, fragte er noch nach dem Preiſe der Wohnung und wußte ſelbſt nicht, weshalb er das tat, denn er war feſt entſchloſſen, nicht zuruͤckzu⸗ kommen.
„Den Preis?“ Die unruhigen Augen ſahen ihn fragend an, als wollten ſie dieſen Preis von ihm ſelbſt erfahren. „Da hab' ich wirklich noch nicht nachgedacht. Ja, ich weiß nicht, die Stube iſt huͤbſch, — was gibt man denn ſo?“
Sie ſprach wie von etwas, was ſie gar nichts anging und unter ihrer Wuͤrde lag. Er laͤchelte und ſagte: „Na, ich denke, das wird ſich ſchon finden.“
Die Tuͤr ſchloß ſich und er hoͤrte noch, wie die ſeltſame Ver⸗ mieterin nach „Emil!“ rief.
„Der wird hoͤren!“ dachte Gaſtelmeier — „dieſen dicken, bequemen Froſch haben Sie ſich nett gezogen, verehrte Dame.“ Er ſtieg die Treppe weiter hinab. Jede Etage hatte eine Tuͤr, von der aus drei ſchmale Stufen direkt auf die Haupttreppe muͤndeten. In der erſten Etage ging es hinter dieſer Tuͤr ſehr munter zu. Lachende Maͤdchenſtimmen.
„Auch ein Atelier“, denkt Gaſtelmeier und ſteht gerade vor d er Tar.
Die tut ſich auf — und Gaſtelmeier weiß nicht, wie ihm geſchieht.
„Auch ein Atelier“, war für eine Weile fein letzter klarer Gedanke geweſen. Etwas iſt aus der Tuͤr geſtuͤrzt, die Stufen herabgeſtolpert, aber ihn hingefallen. Er hat ſich kaum auf den Beinen halten koͤnnen, iſt gegen das Gelaͤnder gepreßt,
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ein paar Stufen hinabgewankt mitſamt feiner Laſt, die auf ihn gefallen iſt.
„Tante Rebella, Tante Rebella, ums Himmels willen!“ ruft es aus verſchiedenen Kehlen. Koͤpfe zeigen ſich an der Tar. Jetzt kann Gaſtelmeier auch wieder um (ih ſchauen. Er iſt nicht mehr beſchwert. Neben ihm ſteht ein Madden, das aus dunklen Augen ihn entſetzt anſtarrt. Sie ſteht noch nicht wieder feſt auf den Fuͤßen — der eine hat ſich ihr im Kleide verwickelt und ſie hat ihn noch nicht wieder freibekom⸗ men. Aber in ihrer Rechten hoch erhoben haͤlt ſie eine große Palette voller Farben, von der im Fall ein Stuͤck abgebrochen iſt mitſamt den Farben — und das Sead liegt oder klebt vielmehr auf Gaſtelmeiers Schulter. Auch hat die Palette ſeine Wange geſtreift.
„Mein Gott“, ſagt das Maͤdchen. Traͤnen ſtehen ihr in den Augen. Sie iſt dunkelrot vor Schreck.
Eins der Mädel kommt jetzt aus der Tur und nimmt ihr die Palette aus der Hand.
„Tante Rebella hat ſich doch nichts getan?!“ rufen die andern.
„J bewahre“, ſagt das Maͤdel, die ihr die Palette ab⸗ genommen und die Kameradin auf die Fuͤße gebracht hat.
Gaſtelmeier hat feine fünf Sinne noch nicht wieder recht beiſammen — auch er fühlt ſich, gottlob, trotz aller Bers wirrung unzerbrochen.
„Das war nun ſo ein Eiſenbahnzuſammenſtoß, mein Fraͤulein. Aber mir ſcheint, wir ſind mit heiler Haut davon⸗ gekommen.“
„Ja, wir,“ meinte das junge Maͤdchen zaghaft, „aber Ihr Rock. Sehen Sie nur“, — dabei zeigte ſie mit bedenklichem Ausdruck auf das abgebrochene Stuck Palette, das noch auf Gaſtelmeiers Schulter klebte, und entfernte es vorſichtig mit ſpitzen Fingern.
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„Ich glaube,“ ſagte fie, „Sie muͤſſen zu uns mit hinauf; kommen, die Flecken werden Ihnen dann ganz gut ab⸗ gewaſchen.“
„Das Geſcheiteſte war’ es“, ſagte eine von den Malerinnen, die da herumſtanden.
Und ſo ſtiegen ſie miteinander die ſteilen Stufen hinauf, die Gaſtelmeier eben feſt entſchloſſen geweſen war, nicht wieder zu erſteigen.
Sie ſchwiegen beide.
„Rebella heißt fie,” dachte er, „alſo die Olly iſt's nicht — die Schweſter von Emil. Alſo auch eine Rebella gibt's da oben!“ Denn daß ſie zu der Inſeratenfamilie gehoͤrte, war ihm eine ausgemachte Sache. Sie ſtanden jetzt vor der Tuͤr, die ſich vor kurzem hinter Gaſtelmeier geſchloſſen hatte, und Rebella bearbeitete dieſe Tuͤr energiſch mit einer zarten, aber feſten, kleinen Fauſt. „Mama liebt die Klingelei nicht“, ſagte ſie zur Erklaͤrung.
Das wußte er bereits.
Jetzt aber hatte er Muße, die kleine Hexe zu betrachten; weder Mama noch Emil erſchienen, und die Trommelverſuche wurden eine geraume Zeit lang fortgeſetzt.
Rebella war eine liebliche und zugleich eigentuͤmliche Er⸗ ſcheinung. Bluͤtenjſung — zierlich — faſt ſchmaͤchtig — ein feines, blaſſes Geſicht, dunkles, lockiges Haar, das nachlaͤſſig in einen Knoten geſchlungen war, und dunkle, heiße lebhafte Augen, ſie erinnerten ihn ein wenig an die der Mutter — deren Augen aber waren blau und nicht warm, nur unruhig. Ihre Geſichtsform fiel ihm beſonders auf. Breite Stirn und dazu ein zierliches, ausgepraͤgtes Kinn, — ſo daß die Kon⸗ turen ſich von der Stirn gegen das Kinn hin ſchnell rundeten.
Ein Goetheſcher Vers fiel ihm ein:
Voll Locken kraus ein Haupt ſo rund.
„Der alte Goethe hat fuͤr alles geſorgt, auch fuͤr dieſen
kleinen Balg.“
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Er kannte auch die Fortſetzung des Verſes, denn er ſtand mit ſeinem Goethe auf einem guten Fuß; aber hier wendete er ſeine Kenntnis nicht weiter an. Sie war ihm zu unfriſiert, und außerdem hatten ihre Loͤckchen mit der Palette naͤhere Bekanntſchaft gemacht. Oben auf dem Scheitel waren ſie ihr farbig zuſammengeklebt, zwar nur ein paar Floͤckchen — und an der zierlichen Naſenſpitze ſaß ihr ein gelber Fleck, als haͤtte ſie unvorſichtig an einer Lilie gerochen. Er fuͤhlte ſich gewiſſermaßen gezwungen, die kleine Schweigſame zu betrachten, nicht nur weil er muͤßig daſtand. Sie hatte etwas nicht Alltaͤgliches, etwas Überraſchendes, gehörte zu den Raſſe⸗ menſchen mit den beweglichen Naſenfluͤgeln, den elaſtiſchen Muskeln, dem zarten, feſten Knochenbau.
Die Tuͤr wurde geoͤffnet, natuͤrlich von Madame, nicht von Emil, der ſaß jedenfalls uͤber ſeiner Zeitung.
„Mein Gott, laßt ihr mich lange klopfen“, ſagte das Maͤd⸗ chen mit etwas erregter Stimme.
„Und Sie, mein Herr?“ fragte die Offnende.
„Ich hatte das Gluͤck, von Ihrer Fraͤulein Tochter die Treppe hinabgeworfen zu werden.“
Ein unruhiger, vollkommen faſſungsloſer Blick heftete ſich auf die Tochter.
„Illy *
Alſo war es doch Olly.
„Ja,“ ſagte ſie, „ich bin auf dem Treppenabſatz vor der Tar hinuntergeſtolpert und habe ihn mit hinabgeriſſen.“
„Beruhigen Sie ſich, gnaͤdige Frau, es iſt ihr nichts ge⸗ ſchehen. Sie hat den Moment ſehr klug gewaͤhlt.“
„Ja, aber der Herr iſt mit Farbe vollgeſchmiert und die Palette iſt mir zerbrochen.“
Dieſe beiden Ungluͤcksfaͤlle berichtete das Maͤdchen auf eine trockene, ſachgemaͤße Weiſe, ſo daß Gaſtelmeier, der einiger⸗ maßen empfindlicher Natur oe ſich nicht beſonders geſchmei⸗ chelt fuͤhlte.
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Der Herr iſt vollgeſchmiert, die Palette zerbrochen. Das aͤrgerte ihn wirklich.
Jetzt ſagte die Dame, daß dieſer Vorfall kein gutes Zeichen ſei fuͤr die Mieter eines Zimmers.
„Oho“, meinte Gaſtelmeier.
„Sie haben das Zimmer gemietet?“ ſagte das junge Maͤd⸗ chen wieder trocken. „So, dann wundert mich nichts, bei uns geht's immer ſchief.“
„Emil!“ rief ſie jetzt — und o Wunder, Emil kam auf den erſten Ruf.
„Fuͤhre den Herrn in ſein Zimmer und bringe er alles, um die Olfleden auszuwaſchen.“ Auf Emils verwunderte Augen hin berichtete das junge Mädchen mit Gleichguͤltigkeit den Vorfall noch einmal in aller Kuͤrze.
„In ſein Zimmer“ — hatte ſie geſagt. Sie hielt ihn alſo ſchon fuͤr den rechtmaͤßigen Eigentuͤmer. Hoͤchſt unangenehm. Emil, der dicke Burſche, fluͤſterte ihr etwas zu und kicherte dabei wie ein Schulbube, der heimlich einen Streich er⸗ zaͤhlt.
„So“, ſagte das Madchen und wendete (ih an Gaſtel⸗ meier. „Das war alſo ein Mißverſtaͤndnis; ich glaubte, Sie waͤren der Mieter unſres Zimmers. Verzeihung.“
Sie ſah ihn mit den dunkeln, großen Augen einfach und vornehm an, daß es ihm nicht recht geheuer zumute wurde und er nicht wußte, was er des Zimmers wegen ſagen ſollte. Und es war ihm, als wenn der Teufel ſeine Zunge einſtweilen in Beſchlag genommen hatte, als wenn fie ganz ohne ſein eigenes Dazutun die bedenkliche Unter⸗ haltung fuͤhrte.
„Doch, mein Fraͤulein,“ ſagte ſeine Zunge aus eigenem Antrieb, „es war allerdings mein Vorhaben, das Zimmer zu mieten, wenn Sie keinen beſſeren Mieter dafuͤr wiſſen.“
Ohne ſein eigenes Zutun druͤckte ſich dieſe Zunge ſehr fad und vorlaut aus, kam ihm zuvor und hatte ihn nun gehoͤrig
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hineingeritten. Das war ja fo gut wie gemietet. Teufel auch!
Jetzt ſtanden ſie in „ſeinem“ Zimmer. Emil kam mit einem alten Broͤtchen und einer Flaſche Terpentin, die Mutter war nach einem Lappen fortgeſtuͤrzt, und nach geraumer Zeit waren die drei Perſonen, die Mutter, Emil und Olly, ge⸗ nannt Tante Rebella, mit ſeiner Perſon und ihren Flecken beſchaͤftigt.
„Ruhig Blut“, ſagte Emil einmal uͤbers andre. „Erſt mit dem alten Broͤtchen ordentlich abſchaben und trocken reiben, dann erſt mit dem Lappen, ſonſt verſchmiert ihr's.“
Er machte bei dieſer Prozedur einen recht vertrauenerwecken⸗ den Eindruck. „Ruhig Blut, ruhig Blut!“ aber mußte er einmal uͤbers andre ſagen, denn dem Temperament der beiden Damen ſchien das Terpentinoͤl und der Lappen weit mehr zuzuſagen als das trockene Broͤtchen. Waͤhrend dieſer Prozedur fuͤhlte ſich Gaſtelmeier immer mehr und mehr zur Familie gehoͤrig. Er erfuhr ihren Namen. Sie hießen Kovalski. Das heißt: Frau und Tochter und Emil hießen ſo, der Sohn aus erſter Ehe trug den Namen Oel. Der zweite Gatte der Dame war ein polniſcher Maler geweſen, der kurz nach der Geburt des dicken Emil das Zeitliche geſegnet hatte. Olly war zwanzig und der Juͤngſte wurde ſiebzehn.
Gaſtelmeier mußte ſogar den Rock ausziehen, weil Emil verſicherte, anders waͤre es gar nicht moͤglich.
„Gnaͤdige Frau“, unterbrach jener das eifrige Treiben. „Nun erbarmen Sie ſich auch der Haare und des Naͤschens ihres Fraͤulein Tochter.“
Mit demſelben Lappen wie er wurde nun auch die Übel; taͤterin gerieben und geputzt. Und die Verbindung zwiſchen Gaſtelmeier und Kovalskis ward immer enger. Es ſchien in bezug auf das Zimmer anſtaͤndigerweiſe gar nicht mehr zu entrinnen moͤglich zu ſein.
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„Verzeihen Sie“, ſagte Gaſtelmeier zu Fraͤulein Olly, waͤhrend er von Emils kurzen, derben Faͤuſten bearbeitet wurde. „Als wir auf dem Treppenabſatz vorhin vom Schickſal durcheinander geſchuͤttelt wurden,“ — feine Zunge, fo kam es ihm vor, ſprach immer noch aus eigenem Antriebe — „rief man Sie Rebella, und wenn ich nicht irre, Tante Rebella?“
Da hielt Emil ploͤtzlich mit dem Reiben inne, ſchlug ſich mit der Hand auf ſeinen kleinen, fetten Schenkel und rief im ſchnellſten Tempo: „Verflucht! verflucht! verflucht!“ als ob er ſich außerordentlich amuͤſiere.
Gaſtelmeier ſah ſich erſtaunt nach dem Gefuͤhlsausbruch hinter ſeiner Schulter um und blickte in ein Geſicht, das einem wohlgenaͤhrten kleinen Faun anzugehoͤren ſchien.
„Weshalb amuͤſieren Sie ſich denn ſo?“ fragte er den ausgelaſſenen Juͤngling. Es wurde ihm unter Emils Haͤnden unbehaglich.
„Ich dachte mir nur ſo“, antwortete Emil und ſah un⸗ glaublich ſpoͤttiſch aus.
„Das iſt einmal Emils Art ſo“, ſagte reſigniert die Mutter.
„Eine ſonderbare Art“, dachte Gaſtelmeier.
„Emil,“ ſagte das junge Maͤdchen, „ſei nicht albern und betrag“ dich vernünftig.”
„Betrag“ du dich“, war die Antwort.
„Du haſt wieder ſo ein Geſicht gemacht, daß man ie du mokierſt dich aber die ganze Welt“, fuhr fie fort, ohne fi im geringſten um die Anweſenheit des Mieters zu kuͤmmern. „Du wirſt einmal von irgendwem eine Ohrfeige bekommen.“
„So“, war die gemuͤtliche Antwort.
„Noch viel ſchlimmer,“ ſagte ſie, „die Menſchen werden dich nicht leiden koͤnnen.“
„Die Menſchen? Pfeif’ ich drauf!“
„Du ſagſt mir, weshalb du das Geſicht gemacht haſt.“
„Eben ſo.“
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„Nein, ich will's willen.” Sie ſprach feſt und ruhig. „Glaubſt du, ich laſſe mir irgend etwas bieten? — Du?!“
„Einfach — ich ſtellte mir vor, wer in unſerm Haus iſt oder bleibt, wird mit der Zeit ſchon erfahren, weshalb du Tante Rebella genannt wirft.”
„Weiter war's wieder nichts?“ fragte ſie ruhig.
„Nein.“
„Tant de bruit pour une omelette,“ ſagte ſie auf eine vornehm kuͤhle Weiſe.
„Sonderbar“, dachte Gaſtelmeier, „daß bei dieſem ener⸗ giſchen Verfahren der eigentuͤmliche Juͤngling ſeine Eigen⸗ heiten ſo gut konſervieren konnte.“
Zur Erklaͤrung dieſes Umſtandes erfuhr er bald darauf, daß Rebella zwei Jahre bei einer Tante verlebt hatte und ſeit kurzem zuruͤckgekehrt ſei. Waͤhrend ihrer Abweſenheit war Emil ins Kraut geſchoſſen.
Gaſtelmeier lernte auch noch in dieſer Stunde Erwin kennen, den Sohn aus der Oelſchen Ehe. Dieſer ſtellte ſich ihm als Schriftſteller vor und er ſtellte ſich nicht nur vor, ſondern produzierte ſich gewiſſermaßen damit, daß er vor ſeinem Eintritt ins Zimmer laut nach Olly und Mama rief, und gleich darauf, ohne deren Antwort abzuwarten, in die Tuͤr polterte: „Da haben wir die Beſcherung, hat mir auch dieſer Eſel den Roman zuruͤckgeſchickt — hab“ ich's nicht geſagt? Aber da hieß es immer: Schick nur — ſchick nur —
Nach dieſem Monolog trat ein langer, ſparriger Menſch von ſechs⸗ bis ſiebenundzwanzig Jahren, aufgeregt, rot im Geſicht, ins Zimmer, ſah einen Fremden, war außerordent⸗ lich verbläfft, (ah feine Mutter, die ein wahrhaft tragiſches Geſicht aufgeſetzt hatte und bleich und nervoͤs ſich auf einen Stuhl niederließ.
Emils altkluges: „Verflucht! — verflucht! — verflucht!“ ertoͤnte.
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„Um Gottes willen, Erwin, qual’ dich nicht ſo“, ſagte die Dame in nervoͤſer Erregung und fuͤgte noch allerlei hinzu, ohne ſo recht ſelbſt zu wiſſen, was ſie ſprach, entſchuldigte ſich vor Gaſtelmeier und ſtellte dieſem ſchließlich ihren Sohn vor, der weiſe in Gegenwart des Fremden ſeinen Arger zu unter⸗ druͤcken ſuchte.
Er hatte einen gut geſchnittenen Kopf, war voͤllig bartlos, hatte ein ſtark vorgeſchobenes Kinn, ſo daß die Lippen ſeines kleinen Mundes wie geſpannt zwiſchen Wangen und Kinn lagen. Seine Bewegungen waren eckig und haſtig. „So geht's, mein Herr“, ſagte er in ſcherzhaftem Ton. „Sie haben ſoeben den Dichter auf dornenvollem Pfad geſehen. Er hat auch ſeine guten Stunden.“
Das kam etwas geſchraubt heraus, als ſagte es ein ſchon beruͤhmter Menſch.
Gaſtelmeier war jetzt ſoweit wieder Außerlich hergeſtellt, daß er dieſer gewaltſam unterdruͤckten Familienſzene ents fliehen konnte; aber mit dem Bewußtſein, unabweisbar der rechtmaͤßige Herr des „originell moͤblierten Zimmers“ ge⸗ worden zu ſein.
Die Mutter des gepruͤften Schriftſtellers befand ſich in hochgrad iger Aufregung. Mit ſchwacher Stimme wandte ſie ſich an den ſich Empfehlenden:
„Mein Herr, glauben Sie mir, Mutter von drei Kunſt⸗ befliſſenen zu ſein, iſt keine Kleinigkeit. Dazu gehoͤren Nerven — Nerven — und wieder Nerven —“
„Mami“, ſagte das junge Mädchen, welches bisher ſchein⸗ bar teilnamslos dem ganzen Vorgang gefolgt war: „Ihr erwartet eben alle zu viel. Arbeiten auf Tod und Leben. — Das iſt's — weiter nichts furs erſte“, und die dunkeln Augen leuchteten von einem innern Feuer. Gaſtelmeier blickte ge⸗ ſpannt auf das Maͤdchen. Sie war in dieſem Augenblick voll Schoͤnheit und Entſchloſſenheit.
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Die Leute beaͤngſtigten ihn und taten ihm leid, und um ſie ein wenig auf andre Gedanken zu bringen, erzaͤhlte er ihnen von ſeiner vorigen Wohnung, beſchrieb ihnen den naͤcht⸗ lichen Rangierbahnhof, die Unruhe, den Laͤrm, der ihn eigentlich gar nicht ſo ſehr geſtoͤrt hatte, das Gewuͤhle und Gewuͤrge, und wie ſie nie fertig werden, in aller Ewigkeit nicht, auch wenn es manchmal ſo ſcheint, als waͤre alles zufrieden⸗ geſtellt und eingehakt; wie es immer von neuem, immer von neuem angeht, unaufhoͤrlich. Er erzaͤhlte es ſo, wie er es Annele auf der Fahrt von Rohrmoos nach der Station be⸗ ſchrieben hatte, und fuͤgte hinzu, daß ihm deshalb ein Zimmer, das in einen ſtillen Garten blicke, im Ruͤckgebaͤude läge, fo behage; er brachte ſich ſelbſt auf dieſe Weiſe in eine kuͤnſt⸗ liche Zufriedenheit mit ſeinem unfreiwillig erworbenen Be⸗ ſitztum.
Als er gerade inmitten ſeiner eifrigſten Rangierbahnhofs⸗ beſchreibung war, ließ Emil ſein altkluges: „Verflucht! ver⸗ flucht! verflucht! verflucht!“ los und ſchnitt ein ſo ſonderbar ironiſches Geſicht, daß es Gaſtelmeier außerordentlich un⸗ behaglich wurde, und er herzlich gern einige vaͤterlich gemeinte Worte an den Juͤngling gerichtet haͤtte, wenn es ihm nicht geratener erſchienen waͤre, die Familie mit nichts zu be⸗ unruhigen. Sie kam ihm vor wie der verwunſchene Teich, vor dem die Buben gewarnt werden, damit ſie nicht etwa mit Steinen hineinwerfen, weil es ſonſt im See wild zu toſen und zu toben beginnt auf eine Weiſe, die keinem Sterblichen gut tut. Aber er hatte doch gern gewußt, weshalb Emil, bei der Beſchreibung, die er der Familie zuliebe gemacht, ſeine ironiſche Maske aufgeſetzt hatte.
Frau Kovalski lud ihn zum Familientee ein, der ſeit ge⸗ raumer Zeit im Wohnzimmer ſtand und ihr ploͤtzlich wieder in die Erinnerung gekommen war. Man hatte ihn über die verſchiedenen raſch aufeinander folgenden Ungluͤcksfaͤlle vergeſſen. Olly war ja vorhin fo uͤbereilig aus der Atelier⸗
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für geſtuͤrzt, weil fie die Teeſtunde um ein Betraͤchtliches verſaͤumt hatte — und die Verſaͤumnis durch ein paar Spruͤnge gut machen wollte. Eile aber iſt des Teufels Werk.
Gaſtelmeier lehnte dankend den Mitgenuß des Tees, der jedenfalls ſtark gezogen hatte, ab und verabſchiedete ſich end⸗ guͤltig. Er haͤtte ſchon heute nacht in dem originell eingerich⸗ teten Zimmer ſchlafen koͤnnen. Dieſer Gedanke aber hatte etwas ſo Befremdliches fuͤr ihn, daß er ſich durchaus nicht auf ihn einließ.
Drittes Kapitel
riedrich Gaſtelmeier ſchwieg wohlweislich daruͤber, wie er
zu dem „originell moͤblierten“ Zimmer eigentlich gekom⸗ men war, als er an jenem Abend mit ſeinen Kollegen zuſam⸗ mentraf. Andern Tags zog er mit Sack und Pack in ſeine neue Wohnung.
Das Laͤutwerk war auch an dieſem Tage, an dem ſie doch ſeine Ankunft beſtimmt zu erwarten hatten, vollſtaͤndig heiſer, ſo daß wieder eine geraume Zeit verging, bis ſie ihn ſamt dem ſchimpfenden Dienſtmann, der den Koffer trug, einließen. Er wie der Dienſtmann hatten laͤngere Zeit vor dem Offnen und zwiſchen den verſchiedenſten Laͤutverſuchen gehoͤrt, wie jemand immer an der Tuͤr herumwirtſchaftete, und als ſchließlich geoͤffnet wurde, war es Emil, der oͤffnete. Gleich darauf hoͤrte Gaſtelmeier die nervoͤſe Stimme der Mutter aus einem der Wohnraͤume: „Emil!“
Emil bewegte ſich bedaͤchtig bis in das Wohnzimmer, und Gaſtelmeier konnte hoͤren, wie er in die Nebenſtube hinein⸗ ſagte: „Ruhig Blut, 's iſt nur der Maler.“ Und ein be⸗ friedigtes „So“ konnte er auch hoͤren, dann kam Emil wieder. Noch ehe Gaſtelmeier bis in ſein Zimmer gelangt war und den Dienſtmann verabſchiedet hatte, laͤutete es wieder unter⸗ druͤckt und heiſer.
„Verflucht! verflucht!“ murmelte Emil, das weitere „ver⸗ flucht“ ſchenkte er ſich dieſes Mal zugunſten eines „Bſt!“ als der Dienſtmann Miene machte, ſich in Bewegung zu ſetzen — „Bſt!“ Er ſchlich an die Tuͤr, ſchielte vorſichtig durch die Ritzen und das Guckloch, welches mit einem durchbrochenen Meſſingblaͤttchen uͤber deckt war.
Der Dienſtmann begriff die Situation augenſcheinlich und ſchmunzelte, auch Gaſtelmeier ſtand und ruͤhrte ſich nicht, war aber von dem Empfang beim Einzug in ſeine neue Wohnung nicht beſonders erbaut.
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Das war nichts für Comme il faut-Meier. Die heifere Klingel wurde wuͤtend und wuͤtender. Niemand regte ſich. Die drei verharrten ſo ſteif wie gefrorene Schellſiſche. Emil ſuchte die andern mit ſeinem Blick zu beſchwoͤren, ruhig zu bleiben, bis das heiſere Laͤutwerk ſich ausgetobt hätte, und es gelang ihm.
Nachdem der Stoͤrenfried draußen ſich endlich genug getan und zuletzt noch in feiner Wut der Tare einen tuͤchtigen Tritt verſetzt hatte, ſagte der Dienſtmann: „Doͤs wär g'ſchehn, 's koͤnnt halt der Metzger g' weſen fein mit fan Kaͤlbergriff.“ Damit ging er.
Die vergeiſtigte Dame rief wieder nach Emil, und Emil ſchlug ſich auf die kurzen, ſtrammen Schenkel und murmelte: „Miſtjauche — nichts als Miſtjauche.“
Dieſer etwas eigentuͤmlich gewaͤhlte Ausdruck kam ihm, wie es ſchien, aus tiefſter Seele. Gaſtelmeier hoͤrte es noch gerade, ehe er die Tuͤr des originell moͤblierten Zimmers hinter ſich ſchloß. Darauf begann er ſich einzurichten mit nicht ganz leichtem Herzen.
Ruhig ging es in dieſem Haufe nicht zu — da war etwas — etwas, was er ſelbſt noch nicht klar im Bewußtſein hatte, etwas Beaͤngſtigendes, Quaͤlendes, und das lag in der Luft, die ganze Wohnung war voll davon. Es war ihm nicht be⸗ haglich und er packte nur das Notwendigſte von ſeinen Sachen aus, um in kuͤrzeſter Friſt wieder auszuziehen.
Nachmittags um ſechs Uhr ließ er ſich durch die Auf⸗ waͤrterin bei ſeiner Hauswirtin melden, um ihr den offi⸗ ziellen Beſuch zu machen, den er ihr ſchuldig zu ſein glaubte. Er traf die Dame und Emil wieder, die übrigen waren nicht daheim. Emil ſaß verdroſſen am Tiſch und zeichnete. Die Lampe hatte er ſich nahegeruͤckt, ſie war bedeckt mit einem Lampenſchirm, der in ſinnreicher Weiſe aus einer alten Zeitung irgendwie zuſammengeſteckt war. Emil machte einen Buckel und ſah unbeſchreiblich ſchlaff und unluſtig aus. Die
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Mama ſaß auf dem Sofa und hatte ihr Kopfkiſſen aus dem Bett ſich hinter den Rüden geſtopft. Sie erhob ſich matt.
„Sie ſind leidend, gnaͤdige Frau?“ ſagte Gaſtelmeier.
„Sie waren Zeuge geſtern von einer der tauſend Auf⸗ regungen“, erwiderte ſie matt, doch in verbindlichem Ton. „Es iſt immer, als ſchluͤge der Blitz neben uns ein, man kommt mit dem Leben davon, aber wenn die Sache ſich fortwaͤhrend wiederholt, beſteht man ſchließlich nur noch aus alterierten Nerven. Nun, Sie werden es ſelbſt wiſſen, da auch Sie Kuͤnſtler find.”
Gaſtelmeier wußte nicht recht, wovon die Dame ſprach, ſchließlich fiel ihm die Geſchichte mit dem No; man ein.
„Das werden Sie doch nicht fo tragiſch nehmen, gnaͤdige Frau. Um Gottes willen, wenn alle Romane, die von jungen Leuten geſchrieben werden, auch gedruckt wuͤrden — davor moͤge uns der Himmel bewahren!“
„Ja, wenn das Leben aber davon abhaͤngt“, ſagte die Dame und blickte truͤb vor ſich hin.
„Das ſollte es freilich nicht,“ erwiderte Gaſtelmeier, „das Leben — von einem Roman!“
Sie verſicherte muͤde und abgeſpannt, daß dies bei ihrem Sohne Erwin der Fall ſei. „Er iſt, wie wir alle, auf ſein Talent angewieſen“, fagte fie wehmuͤtig.
Worin das Talent der Dame beſtand, war Gaſtelmeier nicht klar. Er hatte das Beduͤrfnis, gegen dieſe mit Kiſſen geſtuͤtzte, leibhaftige Nervoſitaͤt kraͤftig vorzugehen; aber er bezwang ſich.
Emil hatte laͤngſt aufgehört zu zeichnen und rekelte ſich im Stuhl. Er befand ſich in den ſchoͤnſten Flegeljahren und ge⸗ noß die Freiheiten dieſes Alters, wie es ſchien, aufs aus⸗ giebigſte. Gaſtelmeier ſchaute mit einem Blick auf ſeine Zeich⸗ nung und bemerkte, daß der junge Mann die eigene kleine
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fette Fauſt als Modell vor fich gehabt habe. Sie war feds; bis ſiebenmal in verſchiedenen Wendungen nebeneinander auf dem Papier zu ſehen.
„Aha!“ ſagte Gaſtelmeier. Emil nahm keine Notiz davon.
„Emil,“ ſagte die Mama, „Olly kommt gleich, ſei fleißig.“ Emil aͤchzte, machte wieder die Modellfauſt und begann laͤſſig und aufs hoͤchſte gelangweilt weiter zu arbeiten. a
„Iſt das Ihre eigene Idee?“ fragte Gaſtelmeier und zeigte auf die Fauſt.
„Ne,“ ſagte Emil, „Olly.“
Gaſtelmeier wußte nicht mehr recht, was er weiter ſagen ſollte. Die Leute waren verſtimmt und einſilbig. Er ſuchte nach einem Unterhaltungsſtoff.
„Emil,“ ſagte die Dame, „weißt du, wo Erwin hin iſt? — Er hat den ganzen Tag Kopfſchmerz gehabt, der arme Junge. Er iſt immer aufs tiefſte von einem Mißerfolg erſchuͤttert“, wendete ſie ſich an Gaſtelmeier.
„Auf'n Friedhof wird er gangen fein”, ſagte Emil muͤr⸗ riſch. Die Dame ſeufzte und ſagte nach einer Weile: „Sehen Sie, mein Herr, eine Seele von einem Menſchen, ein echter Dichter — man muß ihn gewaͤhren laſſen. Wenn es ſo im Leben, wie es oft der Fall iſt, drunter und druͤber geht, da macht er ſich in der Daͤmmerung, nun ſchon ſeit ſeiner Kind⸗ heit, auf und geht auf den Friedhof und ſchaut ſich die aus⸗ geſtellten Leichen an. Das iſt ſo ſein Mittel — da wird er ruhig. Es iſt ja in Muͤnchen nun einmal ſo gebraͤuchlich, daß die Leichen offen ausgeſtellt ſind. In den andern Staͤdten, wo wir gelebt haben, war das nicht ſo, aber ihm tut's wohl. Es hat eben alles auch ſein Gutes. Mich braͤchte keiner hin“, ſchloß die Dame und wickelte ſich feſter in ihren Schal.
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Draußen pochte es fest energiſch. „Olly“, ſagte Emil.
Es war Olly. Sie kam lebendig und friſch herein, etwas haſtig. Sie kam vom Aktzeichnen und wollte Tee trinken. Im erſten Augenblick bemerkte ſie Gaſtelmeier nicht und dann begrüßte fie ihn fo einfach und gleichmuͤtig, als ware er laͤngſt hier Familienmitglied.
Gaſtelmeier fand, daß ſie nicht beſonders viel Federleſens machte. Ehe fie ſich ihren Tee einſchenkte, beugte fie ſich über Emils Zeichnung, nahm ihm den Bleiſtift aus der Hand und, ohne etwas zu ſagen, packte ſie die Modellfauſt, ruͤckte ſie wie es ihr paßte, und uͤber Emils Schulter hinweg arbeitete ſie mit feſten ſichern Strichen in ſeine Zeichnung hinein. Sie hatte ihr Kaͤppchen noch auf und an der linken Hand noch den Handſchuh. Sie war kalt und friſch und ſtroͤmte Schneeluft aus. „Olly, du ſollſt nicht ſo eiſig ins Zimmer kommen, du kaͤlteſt es ganz aus.“
Olly hoͤrte, wie es ſchien, nicht. Die feſte, kleine Hand korri⸗ gierte eifrig weiter.
„Und bei dem Wetter! Du wirſt dich ſelbſt wieder einmal erfälten, dann haben wir's.“ Die Dame ſeufzte.
Gaſtelmeier empfand auch den Strom von Friſche, der von Olly ausging, und er dachte unwillkuͤrlich an die Abſchieds⸗ worte ſeines Vaters. Er ſchaute ihr zu, wie ſie arbeitete, ganz verſunken und in der unbequemen Stellung uͤber Emils Kopf hinweg. Der hatte es ihr allerdings leicht gemacht; den dicken Kopf mit dem dichten, blonden Haarfilz auf die Tiſchkaute gelegt, ſo daß er nicht ſehen konnte, wie ſeine Zeichnung ſich unter Ollys flinken Haͤnden veraͤnderte, ſo hockte er vor ihr.
Gaſtelmeier ſchaute ihr unverwandt zu. Das war Talent — das ſaß. Und fie zeichnete und zeichnete und vergaß alles um ſich her, den dicken Kopf und den Tee, und den Fremden.
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„Emil“, rief fie mit einem Male heftig: „Sieh her!“
Emil grunzte und beguckte ſich die Sache.
„Weshalb hatteſt du denn ſo gepatzt? Faul — faul — faul! Das iſt's. Wie ſitzt du denn? Wie kann ein Menſch ſo arbeiten? Mama, du haſt ihn wieder en wie einen Engerling dahaͤngen laſſen.“
„Engerling iſt gut“, dachte Gaſtelmeier. Er iſt wirklich ſo ein weißer, dicker Burſche ohne Glieder; es haͤngt alles an ihm herab, die Arme, die Beine, der Kopf. Zu ſeiner Verwunderung ſagte jetzt auch Emil: „Bravo! — Engerling! Sehr gut! Faltiger Elefant — Wachskerzen — Spitaler — und ſo weiter. Du haͤtteſt Unteroffizier werden ſollen.“
„Ja, ich wollte,“ fagte fie, „es fan’ einer über dich, fo ein rechter Teufel.“
Olly ſchenkte ſich Tee ein, ſetzte ſich auf die aͤußerſte Stuhl⸗ kante und nahm ſich ein Brötchen. Das Maͤdchen war von einer unglaublichen Lebendigkeit im Blick und in der Bewegung. Sie fehlen immer vollkommen munter und aufgeweckt zu ſein. Gaſtelmeier ſah ſie ſich mit Ver⸗ gnuͤgen an.
„So ein Pferd“, ſagte Emil zu ihr.
„Bitte,“ antwortete ſie ihm kuͤhl, „wen meinteſt du?“
„Na — das iſt auch gerecht. Die ſchimpft, wie's ihr paßt, ſie ſelber will aber mit Sammetpfoten angefaßt werden.“
„Allerdings“, ſagte Olly. „Das will ich auch!“
„Na, ja — ich meine ja auch mit dem Pferde nur: am Morgen rennſt du um acht Uhr ins Atelier und bleibſt bis Mittag, dann geht's wieder los und dazwiſchen galoppierſt du mit Kreuz⸗ und Seitenſpruͤngen wie in der Manege, dann laͤufſt du zum Aktzeichnen, und “— nun wandte er ſich an Gaſtelmeier — „wenn ſie heimkommt, iſt ſie ſo fidel wie der Teufel und ich muß es ausbaden. Dann kommt fie über mich.“
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Gaſtelmeier erfuhr auf feine Frage, daß Olly ihren Bruder für die Akademie vorbereite — aus Erſparnis. „Es iſt kein Eifer in ihm“, ſchloß ſie ihre Mitteilung.
Gaſtel meier fragte, weshalb er gerade die Malerei zum Beruf gewaͤhlt habe.
„Kuͤnſtler iſt das einzig Menſchenwuͤrdige“, ſagte die Dame zum erſten Male etwas lebhafter.
Emil raͤuſperte ſich: „Maler? — ebenſo, wie einer Juriſt wird.“
„Emil, ums Himmels willen, das iſt doch nicht ſo bei dir?“ rief Olly.
„Wer hat's denn behauptet?“ meinte Emil gemuͤts⸗ ruhig.
„Weshalb ſagſt du's dann?“
„Eben ſo.“
„Ja, was ſollte mein Sohn denn waͤhlen?“ ſetzte die Mutter wieder ein. „Die Kuͤnſtlerſchaft liegt ihm im Blute. Fuͤr was andres hat er auch keine Begabung. Aus dem Gymnaſinm haben wir ihn genommen ſobald als tunlich. Er braucht nicht zu dienen, er iſt nicht deutſcher Untertan.“
„Brillant fuͤrs Leben geſtellt“, ſagte Emil trocken und alt⸗ klug und ſetzte ſeine ironiſche Maske auf.
„Mein zweiter Gatte war Maler, wie Sie wiſſen?“
„Ja, Sie ſagten es ſchon, gnaͤdige Frau.“
„Kennen Sie ſein Schickſal?“ fragte ſie. „Wiſſen Sie, daß er zweiundzwanzig Jahre in den ſibiriſchen Bergwerken geweſen iſt?“ Das ſagte ſie gewiſſermaßen mit Genug⸗ tuung, wobei ſie den Kopf hob, als wollte ſie ſich die Tiberrafchung beſchauen, die ihre Worte dem Fremden verurſachten.
Gaſtelmeier, der mit dem Schickſal eines nach Sibirien Verbannten keine feſte Vorſtellung verband, entſprach nur ungenuͤgend der Erwartung.
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„Miſtjauche“, brummte Emil. „Um nichts beffer als Miſt⸗ jauche ſind die Menſchen.“ Er war aufgeſtanden und ging mit kurzen ſtrammen Schrittchen im Zimmer auf und nieder.
Die Tür tat ſich auf und Erwin, der Sohn aus Oelſcher Ehe, trat ein. Er ſah auffallend elend und hager aus, etwa wie ein Menſch, der vom Zahnaus ziehen kommt. Es tut nicht mehr weh, aber es hat weh getan. Man ſieht's ihm noch an.
„Biſt du ruhiger, mein Sohn?“ fagte die Mutter zaͤrtlich. „Wir leiden beide immer gleich — das muß dich troͤſten. Jedes Ja im Leben iſt ein Gluͤck und jedes Nein ein Ungluͤck. O — die zartbeſaiteten Naturen!“
„Erwin,“ ſagte Emil, „wir ſprachen eben von Papa.“
Erwin ſetzte ſich und ſchwieg.
„Ja, meinen zweiten Gatten hat das Schickſal ſchwer ge⸗ troffen; als junger Menſch von zwanzig Jahren iſt er als politiſcher Verbrecher in die Bergwerke gekommen, nach einem von den vielen polniſchen Aufſtaͤnden — wohin doch gleich zuerſt?“ Die Dame hatte den Namen vergeſſen.
„Nach Semiretſchinsk“, ſagte Emil ungeduldig. „Herr⸗ gott, Mama, weißt du denn das noch immer nicht?“
„Und, denken Sie ſich, Papa hat,“ fuhr er fort, „ehe er nach Semiretſchinsk kam, ganz genau getraͤumt, wie es dort ausſah — ein langes Blockhaus und noch ein elendes Haus und ein ewig langer Zaun und eine verkruͤppelte Birke und ein niedriger Schuppen und nichts weiter. Weit und breit Schnee, nur Schnee und Schnee, und der Himmel auch ſchnee⸗ weiß. Und wie ſie dahin gekommen ſind, hat er's nach ſeinem Traum erkannt und hat laut aufgeweint.“ Das erzaͤhlte Emil lebhaft, viel lebhafter als es Gaſtelmeier ihm haͤtte zutrauen koͤnnen.
„Spaͤter iſt er dann,“ fuhr die Dame zu erzaͤhlen fort, „von da weggekommen nach.. Hier fehlte die nähere Bes zeichnung wieder.
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Aber Emil half auch diesmal, gewiſſermaßen ent; ruͤſtet, aus. „Nach Werchne Kolimsk“, ſagte er und ging an ein kleines Pult, in dem alles, im Gegenſatz zu den uͤbrigen Dingen im Zimmer, ziemlich ordentlich lag. Aus dieſem Pult nahm er eine Landkarte, ſchob Taſſen und Teller auf dem Tiſch eifrig beiſeite und breitete die Karte aus.
„Hier war Papa“, ſagte er, „neun und ein halbes Jahr lang, dann kam er dahin — ſpaͤter hierher.“ Emil zeigte alle Orte auf der Karte. „Zweiundzwanzig Jahre lang hat's gedauert, dann haben fie ihn freigelaſſen und er konnte end⸗ lich nach Deutſchland ziehen, wohin er unterwegs war, als man ihn gefangen nahm. Denken Sie ſich, damals be⸗ gleitete ihn bereits ein Empfehlungsbrief an einen bekannten Muͤnchener Maler; dieſen Brief hat er zweiundzwanzig Jahre aufgehoben und hat ihn dann dem Sohne des Malers uͤber⸗ geben, der Vater war inzwiſchen geſtorben. Papa hatte fruͤher ſchon gemalt und iſt hier als älterer Mann noch auf die Akademie gegangen. Er hatte nur wenig Geld und war krank; aber er hat doch mit ſeiner Malerei verdient. Sehen Sie, da iſt etwas von Papa.“ Emil ging wieder an ſein Pult⸗ chen und brachte eine Mappe mit Skizzen. „Das ſind Bilder aus dem Elend“, ſagte er eifrig. „Das ſind alles Gefangene und Verbannte mit Ketten, wie ſie im Schnee ſtehen. Das hier tft ein Grenzſtein, da nehmen fie Abſchied voneinander. Die einen gehen dahin, die andern dorthin — ſie werfen ſich auf den Schnee und weinen und ſchreien und jam⸗ mern.“
Emil war ganz bewegt. Das Skizzenbuch war ſein Eigen⸗ tum. Olly blickte hinein und ſagte: „Schade, daß Papa ſich nicht hat beſſer ausbilden koͤnnen, er haͤtte etwas erreicht. In den Figuren liegt Talent.“
„Geh“, fagte Emil. „Wie er's gemacht hat, fo hat er's gemacht, da tft nichts zu kritiſieren.“
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„Mein Sohn Emil,” fagte die Mutter, auch jetzt mit matter
Stimme, „haͤugt mit Zärtlichkeit an feinem Vater, obgleich er ihn nie gekannt hat.“
„J wo, kannte oder nicht kannte, meinen Vater, den kenn“ ich“, platzte er patzig heraus in ſeinem Eifer. „Du kannteſt ihn doch und weißt nicht einmal, wo er im Elend geſteckt hat. Jedesmal muß ich dir's ſagen. Wo wo hat er geſteckt? Zus erſt in —? Na? — —“
Emil ſchaute fragend nach ſeiner Mutter, klopfte mit dem Bleiſtift auf den Tiſch und wartete auf die Antwort.
„Wieder nicht“, ſagte er. „Nun erfährft du's aber fo bald nicht wieder von mir.“ Er klappte das Skizzenheft zu und ſchloß es wieder ein. „Geld hat er keins gehabt,“ fuhr der dicke Burſche fort, „und krank iſt er geweſen. Haͤtte er Mama nicht gefunden, waͤr's ihm noch uͤbler gegangen. Aber in ſeiner langen Krankheit iſt auch Mamas Geld weniger ge⸗ worden, von tauſend Geſchichten — Miſtjauche! Wenn die Menſchen nicht ſo elend geweſen waͤren und ihm nicht bei jeder Gelegenheit mehr abgenommen haͤtten, als recht war, ſaͤßen wir jetzt anders da.“
„Jawohl“, ſagte Olly wieder und ſchaute entruͤſtet auf ihren Bruder; „Geld! Geld! und Wohlleben, wie euch und beſonders dir das im Blute ſteckt! Gottlob, daß kein Geld da iſt, ſonſt wuͤrdeſt du verfaulen bei lebendigem Leibe. Wir ſollen arbeiten. Arbeiten auf Leben und Tod — das iſt's!“ Dieſe Betenerungsformel ſchien das junge Geſchoͤpf zu lieben. Sie bediente ſich ihrer bei jeder Gelegenheit. „Und die Menſchen! Schimpf nur nicht immer auf die Menſchen. Biſt du etwa keiner? Wie ich das nicht hoͤren kann! Das iſt entſetzlich gruͤn von dir. Woher meinſt du denn, daß ſie ſo abſcheulich ſind? Weil es Papa ſchlecht ging und uns auch nicht beſonders? Natuͤrlich deshalb. Sie ſollen dir etwas ins Haus tragen, du willſt gehaͤtſchelt und gefuttert werden. Wofuͤr denn? Ja, das werden ſie aber bleiben laſſen. Mit
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Recht. Ich gerade finde, daß die Menſchen gut find; viel beſſer, als ſie zu ſein brauchten. Meinſt du etwa, die Natur waͤre nicht grauſam? Du? Eins frißt das andre immerzu und uͤberall. Und es gibt doch Menſchen, die wollen wenigſtens die andern nicht freſſen. Das iſt erſchrecklich viel — und denke doch, wie's ihnen geht. Gefragt wird keins, ob es leben will oder nicht — und dann kommt es in das Elend hinein, fo dumm, fo hilflos und arm, und muß mit allen Kräften arbeiten, um nicht zu verhungern, und die Krankheiten und die Kälte, und der Winter, daß er ſuͤndigen muß und geſtraft wird, und tauſend Noͤte und Qualen — und das Blindſein und das Alter und der Tod — was fuͤr gräßliches Zeug! Und es gibt doch Menſchen, die über alles hinaus gut ſind. Was meinſt du, ein Gott hat es leicht, gut ſein, aber ein Menſch — Emil, weißt du, ein Menſch!“
Das ſagte ſie ſo liebevoll und faßte in ihrem Eifer die Hand ihres Bruders, gewiſſermaßen, um ihn auch koͤrperlich zu ſich hinuͤberzuziehen.
„Ihr ſeid wieder von dem bißchen Pech mit Erwin ganz zuſammengekrochen. — Herrgott, wie man ſo wenig frei ſein kann! Und dich, du dicker Sack, geht's doch gar nichts an, daͤcht“ ich.“
„Oho“, ſagte Emil. „Sack iſt wieder gut.“
„Jeſus,“ meinte Olly, „wenn ein Kuͤnſtler nicht Zigeuner iſt! Ihr ſeid alle wie Kaufleute. Iſt kein Geſchaͤft gemacht, laßt ihr die Koͤpfe haͤngen. — Sie ſind aber doch bei ſo einer Art Zigeuner“, wendete ſie ſich jetzt zum erſten Male an Gaſtelmeier, der ganz verſunken dem jungen Geſchoͤpfe zu⸗ gehoͤrt hatte.
„J wo, bei Zigeunern“, ſagte Emil pfiffig und ſetzte die ſchlimmſte Maske auf, deren ſein bewegliches, fleiſchiges Ge⸗ ſicht faͤhig war.
„Doch“, ſagte Olly ſtreng.
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„Behuͤte“, antwortete der Bruder. „Ganz wo an⸗ ders.“
„Wo denn alſo?“ fragte Gaſtelmeier, amuͤſiert uͤber das wunderliche Geſchwiſterpaar.
„Wiſſen Sie noch, weshalb Sie aus Ihrer fruͤheren Woh⸗ nung ausgezogen ſind?“
„Jawohl,“ ſagte Gaſtelmeier, „ich habe es Ihnen ja, daͤcht“ ich, erzaͤhlt.“
„Wegen des Rangierbahnhofs; weil Sie dem Rangier⸗ bahnhof gegenüber wohnten, wegen der ſchauderhaften Uns ruhe — gelt? Wegen des ewigen Getriebs und Gezerrs, des ganzen Spektakels?“
„Ja“, ſagte Gaſtelmeier.
„Alſo. Und der Unterſchied hier, der iſt? Na? Drin ſtatt draußen. — Das hab’ ich gleich geſtern, als Sie's erzählten, gedacht.“
„So“, ſagte Gaſtelmeier, der nicht recht wußte, was er von all dieſen Dingen eigentlich denken ſollte. Es war ihm unbehaglich zumute und doch blieb er ſitzen und betrachtete mit Wohlgefallen das lebhafte junge Madden, das jetzt wieder eifrig an der Fauſt korrigierte. Dieſe Art Maͤdel war ihm noch nie vorgekommen.
Das heiſere Laͤutwerk erklang von neuem. Auf alle Ge⸗ ſichter trat Spannung.
„Verflucht! verflucht! verflucht!“ brummte Emil und ſchlug ſich auf die kleinen ſtrammen Schenkel.
Man ließ es zweimal laͤuten. Olly ſagte: „Das iſt Tante Zaͤnglein.“
„Ihre Stunde iſt's allerdings“, meinte die Mama. „Geh, mach auf, Emil.“ Sie erhob ſich nicht ſelbſt. Erwins zuruͤck⸗ geſchickter Roman hatte ſie zu ſehr angegriffen; ihre Schwaͤche aber kam Emils Erziehung, wie es ſchien, zugute. Er ging brummend hinaus.
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Draußen erhob fich kurz darauf ein munteres Altweiber⸗ lachen und eine ſcharfe, junge Maͤnnerſtimme redete drein.
„Da bringt ſie den ſparrigen Kerl wieder mit“, ſagte Olly.
„O Gott!“ ſeufzte die Mama.
Die Thr ging auf und ein flinkes, zierliches Perſoͤnchen trat ein, ein allerliebſtes, altes Weibchen, gefolgt von einem baumlangen Burſchen im Lodenrock. Er ſah wie ein Bergfer aus, trotzdem er die vollſtaͤndige Montur, Kniehoſen, Nagel⸗ ſchuhe, nicht trug und auch nicht in bloßen Knien ging. Er hatte ein hageres, langes, von der Natur nicht recht zu⸗ ſammengeſtelltes Geſicht, und eine vorſtehende, ſehr beweg⸗ liche Unterlippe.
„Fraͤulein Zaͤnglein, unſre Tante,“ ſtellte die Frau des Hauſes die Eingetretene vor, „und: Herr Kaufmann, ein Kollege meines Sohnes.“
„Tantes Erbſchleicher“, brummte Emil Gaſtelmeier ins Ohr. Er bezeigte Gaſtelmeier uͤberhaupt einiges Vertrauen, das hatte die Geſchichte mit dem Rangierbahnhofe ſchon be⸗ wieſen. Ein ſolcher Burſch wie Emil iſt fuͤr gewoͤhnlich wort⸗ karg und ſteckt voll verſchluckter und zu (pdt ausgebruͤteter Bemerkungen.
„Gu'n Tag, Genie!“ ſagte der ſparrige Menſch zu Erwin gewendet, waͤhrend er ſich auf einen Stuhl niederließ. „Wie ſteht's mit unſerm Roman? He?“
Die Dame machte eine abwehrende Handbewegung, die ſoviel heißen ſollte als: „Schonen Sie ihn. Es iſt nichts damit!“
Erwin Oel beſtaͤtigte ebenfalls ſtumm dieſe mimiſche Mit; teilung. |
„Donnerwetter!“ rief der junge Waldmenſch teilnahms⸗ voll, „iſt das eine Zucht! Das Beſte, was hervorgebracht wird, das ſtecken die Herren natuͤrlich in den Papierkorb. Ehe etwas nicht altbacken genug iſt für ihre ſchwachen Maͤgen,
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verdauen fie’s nicht. Immer gefaͤlligſt nach alten Muſtern. Nur nichts Neues!“ Er zog ein ſchiefes Maul, als ob es ihm eine ſchwere, unſichtbare Tabakspfeife herunterzoͤge, und ſchob die Unterlippe ſonderbar vor.
„Aha!“ dachte Gaſtelmaier. „Erwin Oel iſt alſo einer von den Neueſten.“ Gaſtelmeier gehoͤrte, wie ſchon geſagt, zu denen, die ſtill vor ſich hin arbeiten, ohne Schlagworte und Geſchrei.
Als wollte ſie ſeine Gedanken beſtaͤtigen, nahm die ver⸗ geiſtigte Dame das Wort: „Es iſt wirklich eine wertvolle Arbeit, gewiſſermaßen eine Prophetie, ein Ruf an die Menſch⸗ heit zur Umkehr.“
Gaſtelmeier ſchaute ſich Erwin mit erneutem Intereſſe an, wie demnach einer ausſieht, der einen Ruf an die Menſchheit ergehen läßt. — Ein grüner Junge! In Gaſtelmeier ſiedete es, dieſe Mutter war ein Verhaͤngnis fuͤr ihre Kinder. Er konnte etwas Verruͤcktes an einem Weibe nicht leiden. Die jungen Huͤhner, die hier ſo verſchroben ausgebruͤtet wurden, taten ihm leid. „Na!“ ſagte er zu Emil, „ſeid ihr denn ſo modern?“
Emil zuckte auf eine ſchaͤndlich blaſterte Weiſe die Achſeln, ſetzte ſein ironiſches Geſicht auf und brummte etwas, was ſoviel heißen ſollte wie: Miſtjauche! Wenn's aber noch etwas Ertraͤglicheres gibt, fo iſt's das Moderne. „Übrigens“, ſagte er laut, „was heißt modern?“
„Sagen Sie einmal, mein Sohn, wie alt ſind Sie eigent⸗ lich?“ |
Emil lachte wie ein Faun; fein „Verflucht! Verflucht! Vers flucht!“ kam an die Reihe und er ſchlug ſich aufs Schen⸗ kelchen.
„Iſt das eine Zucht!“ dachte jetzt Gaſtelmeier ganz wuͤtend.
„Die ſpinnen“, ſagte ein Stimmchen neben ihm, und als er ſich nach der Urheberin des Stimmchens umdrehte, ſah er
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in ein paar ſchelmiſch blickende Altweiberaͤuglein. Tante Zaͤnglein hatte ſich leiſe wie ein Fledermaͤuschen zu ihm hin gemacht. Sie hatte auch ein Geſichtchen wie eine Fledermaus, ſo zierlich und niedlich, und die blinkenden, kleinen, ſternen⸗ klaren Augen. „Die ſpinnen“, ſagte ſie noch einmal.
„Herr Gaſtelmeier,“ rief der ſparrige Juͤngling, „ich hab“ Sie mit meinem alten Schatz aus Salzburg noch nicht be⸗ kannt gemacht!“
„Sie ungezogener Menſch, Sie“, lachte das alte Weibchen.
Wie ſie aber zu lachen verſtand! Mein Gott, die kleine Alte lachte gern und ſchien jeden Windhauch zu benuͤtzen, um ihre Lachgloͤckchen klingen zu laſſen, ſo auch jetzt. Gaſtelmeier ſah ſich das keine, alte Fraͤulein naͤher an. Es war allerliebſt gekleidet, mit Geſchmack und Wohlgefallen an netten Dingen. Gaſtelmeiers Herz hatte ſie gleich gewonnen.
„Ah, das find Leut“, fagte fle. „Jetzt haben fle ſich geſtern geaͤrgert, mein Gott, es verlohnt ſich nicht der Muͤhe; heute ſind ſie alle außer Rand und Band. Aber, was ſagen Sie, nicht wahr, den Erwin naͤhmen auch Sie nicht mit nach Italien? Ich geh“ naͤmlich naͤchſter Zeit hin“, fuhr ſie lebhaft fort. „Irgendwen muß ich mitnehmen. J wo, ſo allein geh’ ich nicht wieder, wie's letzte Mal; aber fo eine Trauer⸗ weiden, wie den Erwin und dazu ſo ein Pulverfaß von Re⸗ volutionaͤr, wie er iſt — fo etwas möcht’ ich net mitnehmen. Deshalb find fie alle boͤs. Der lange Burſch da ſoll mit.“ Sie zwinkerte nach ihrem Begleiter hin, der mit Erwin, Olly und deren Mutter in ein hitziges Geſpraͤch aber Kunſt⸗ fragen geraten war. „Mein Gott, fo ein alt's Weiberl muß halt nehmen, was ſich bietet. Und was Junges muß es ſein. Wiſſen Sie, Altes hab“ ich ſelbſt genug. Und außerdem: er iſt ein armer Teufel. Ich wohne hier gerade gegenuͤber in der Schellingſtraße. Mein Garten geht denen hier bis unter die Fenſter. Das ſind Leut“, beteuerte ſie noch einmal und zwinkerte mit den Augelchen. „Mir macht's eine Herenfrend’,
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zuzuſchauen, wie geſchickt die ſich das Leben verderben. So ein Unſinn. Nein! Gott fteh’ ihnen bei! Ich hab“ mir das meine huͤbſch eingerichtet, wiſſen Sie, ſo ganz nach meinem Guſto. Das koͤnnen die hier nicht leiden. Jetzt hoͤren Sie nur, was ſie wieder haben, uͤber was ſie da wieder in Eifer geraten. Hoͤren Sie nur!“
Die kleine Alte ſetzte ſich in Poſitur, als wenn ſie in Ge⸗ maͤchlichkeit ein Schauſpiel betrachten wollte.
Sie hatten ſich alle während des wuͤtend⸗literariſchen Ge⸗ ſpraͤchs erhitzt. Naturalismus, modern, altbacken, neue Werte und ſo weiter. Das alles war wie Schneebaͤlle bei einer Schneeballſchlacht hin⸗ und hergeflogen mit ſchwindelerregen⸗ der Schnelligkeit. Erwin Oels nicht anzubringender Roman ſchien immer noch die Urſache dieſer Erhitzung zu ſein.
„Klimpern gehoͤrt zum Handwerk“, ſagte das Altchen ver⸗ gnuͤgt. Sie amuͤſierte ſich.
Die Frau vom Hauſe, ihr Erwin und der ſparrige Menſch waren uͤber den Roman eines bekannten Schriftſtellers her⸗ gefallen, der ſie alle drei entruͤſtete. Gaſtelmeier kannte ihn auch, es war nichts Erwaͤhnenswertes daran; aber der Autor war beruͤhmt. Eine hoͤchſt einfache Tatſache, die aber die drei Eifrigen in die groͤßte Wut verſetzte, ſo daß ſie nach allen Regeln der Kunſt zuerſt das Machwerk gruͤndlich abſchlachteten, und, als da nichts mehr zu tun uͤbrig blieb, ihr großer Zorn aber noch nicht geſtillt war, ſich uͤber den Autor ſelbſt her⸗ machten.
Erwins Kollege hatte das aufgebracht. Sie begannen den Autor ſelbſt zu ſchlachten. Und dieſer Autor war ein wohl⸗ beleibter, ſoignierter Lebemann, ein vornehmer Menſch, dem es im Leben vortrefflich erging. Das amuͤſierte die drei außerordentlich. Sie zerteilten ihn in Stuͤcke und beſtimmten dieſe zu verſchiedenen Gerichten. Emil lachte aus vollem Halſe, auch Olly amuͤſierte ſich. „Er verdient's nicht anders, wahrhaftig, er verdient's nicht anders“, ſagte fie.
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„Aber die Augen, feine Fiſchaugen, was machen wir mit denen?“ rief Emil ſtrahlend.
„Solche Fiſchaugen ſind zu nichts zu brauchen, das iſt Abfall!“
„Bravo!“ ſagt die Dame des Hauſes und konnte ſich vor Lachen kaum aufrecht erhalten.
Gaſtelmeier war entruͤſtet. So ein fanatiſches Weib! Er konnte auch den Witz von der Sache nicht einſehen. Eine Roheit — nichts andres! Und Olly, das junge Maͤdel, lachte mit. Er wendete ſich zu ihr und fragte: „Weshalb lachen Sie eigentlich?“
„Weil es komiſch iſt“, bekam er zur Antwort.
„Komiſch? — Na!“ ſagte Gaſtelmeier.
„Ein Menſch, der fo. ſchreibt, verdient's nicht anders. In der Kunſt ſollte ſtreng gerichtet werden, ſtrenger als bei einem Verbrechen“, ſagte ſie feſt und mit leuchtenden Augen.
„Die Olly iſt ein recht gutes Maͤdchen,“ wiſperte das Alt⸗ weiberſtimmchen wieder neben ihm, „aber ſpinnen tut ſie auch. Kunfiferen find fie eben alle miteinander. Jammerſchade. Und ich feh’ (hon, mein Kraftmenſch tft auch net viel beſſer. So dummes Zeng aufzubringen. Na, wart’, den lang“ ich mir, den nehm’ ich mir mal auf die Seite und mach“ ihm die Sache klar, dann ſollen Sie ſehen, der wird ſo zahm, daß er aus der Hand frißt. — Jodeln ſollen Sie ihn aber einmal hören. — Herr Kaufmann, jodeln Sie doch einmal.“
„Ja, mein Schatz“, ſagte er, „zu Befehl!“ machte wieder ein ſchiefes Maul, ſchob die Unterlippe vor und ſammelte ſich, wie es ſchien. Darauf begann er zu jodeln, daß die Scheiben klirrten. Er jodelte vortrefflich, ganz ausnahmsweiſe gut — fabelhaft.
„Sehen Sie,“ wiſperte das alte Weibchen, „das iſt mein Genuß. Das iſt für mich ſchoͤner als der ſchoͤnſte Geſang. Das iſt eine Kraft, an der man ſich aufrichten kann.“ Sie
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zwinkerte mit den Auglein. „Deſſentwegen, wegen dem Jo⸗ deln nehm’ ich ihn mit.“
Gaſtelmeier fand an dem alten, kleinen Fraͤulein immer mehr Gefallen, aber das reizende Geſchoͤpf, die Olly, hatte ihn verſtimmt. Freilich mußte er immer auf ſie ſchauen. Er verſtand fie nicht. Olly war eine neue Welt für ihn.
Wie ſie ſoweit friedlich beieinander ſaßen, geſchah mit einem Male ein Krach, ein Donner, ein Geklirr und Gepolter, daß alle zuſammenfuhren.
„Jeſſes Maria!“ rief das alte Weibchen entſetzt. „Was iſt denn das? Wer fehlt denn hier? — Emil.“
Dieſe praktiſche, wie es fehlen, vielgeuͤbte Umſchau hatte das alte Weibchen mit großer Geiſtesgegenwart ſofort unter⸗ nommen. Emil fehlte wirklich.
„Ach Gott!“ rief die jetzt ganz entgeiſterte Madame, „er hat nach Butter geſucht und hat den ganzen Rauchfang über dem Herd heruntergeriſſen. Großer, allmaͤchtiger Gott! — mit allen Sachen. Was andres kann es nicht ſein!“
„J wo“, fagte der ſparrige Juͤngling, dem die Erklarung unglaublich vorzukommen ſchien.
„Hab“ ich's nicht immer geſagt, das kommt von der Feres rei“, rief Tante Zaͤnglein. „So ein unſinniges, altmodiſches, modernes Ding uͤber einem Herd zu haben, das kann auch nur euch paſſieren. Die ganze Simpelei hing an einem Draht.“
Waͤhrend dies und noch verſchiedenes andre geaͤußert wurde, ſtuͤrzte die ganze Geſellſchaft hinaus, durch den Korridor in die Küche. Dort fand man ein Bild der Zerſtoͤ⸗ rung vor, das jeder Beſchreibung ſpottete. Es war wirklich der kuͤnſtliche Rauchfang, den irgend ein mittelalterlich ge⸗ finnter Stilbaufer Aber dem modernen Sparherde ſinnreich angebracht hatte, herabgeſtuͤrzt. Der Rauchfang hatte ſich uͤber den Herd geſtuͤlpt und alles, was auf dem Herd war, uͤberdeckt — und da war etwas, man roch es noch, etwas
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Gebratenes, Gezwiebeltes, und alles, was auf dem Bord des Rauchfangs ſtand, war mit heruntergepoltert und lag zerbrochen und zerquetſcht umher. Was irgend an der Wand hing, war herabgeſtreift, ein Chaos, und Emil war nicht zu bemerken.
Die entſetzte Mutter lehnte, unfaͤhig, irgend etwas Ver⸗ nuͤnftiges zu tun oder zu ſagen, an dem Tuͤrpfoſten.
Olly rief: „Emil!“
„Der Emil wird doch nicht drunter gekommen ſein?“ meint Tante Zaͤnglein. |
„J wo“, fagte der ſparrige Juͤngling und rüttelte mit Erwin, Gaſtelmeier und Olly an dem Ungluͤcksrauchfang; aber es war keine Möglichkeit, ihn in die Höhe zu bringen. Es war alles mit dem Herd feſt verkeilt.
„Da hat er ſich über euer Abendbrot geſtuͤlpt,“ ſagte Tante Zaͤnglein und ſchnuͤffelte mit dem Naͤschen, „vorhin roch es ſo gut nach Zwiebel. Was hattet ihr denn Feines? Das geht ja hoch her!“
„Lieber Himmel“, ſagte Frau Kovalski tragiſch. „Das waren die Beefſteaks, die ſollten uns wieder etwas zu Kraͤften bringen, die ſind nun auch verloren! Wo iſt denn Franziska hingelaufen? Weshalb hat fie fie nicht vordem aufge⸗ tragen?“
„Ja, als ob man bei euch irgend etwas vorher wiſſen koͤnnte!“ ſagte Tante Zaͤnglein.
Olly rief: „Gottlob, daß Emil wenigſtens nicht drun⸗ ter iſt.“
„Guck, Guck, der hat ſich aus dem Staub gemacht, der Lump“, lachte Tante Zanglein. Sie war laͤngſt wieder dabei, ſich zu vergnuͤgen. Die Hausfrau aber ſchien mehr Muͤhe als andre Sterbliche zu gebrauchen, ihre fünf Sinne iu einem ſolchen Falle wieder beiſammen zu bekommen. Sie war ganz auseinander und es arbeitete in ihrem Geſicht, als wollte ein Traͤnenſtrom hervorbrechen.
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Was war denn aber das? Ein ſonderbares Ziſchen und Wuͤten, ganz am Ende des Korridors, das man in der Auf⸗ regung erſt jetzt bemerkte. Alle ſpitzten die Ohren.
Mitten zwiſchen dieſen Geraͤuſchen, die mit dem Laͤrm, den ausſtroͤmender Dampf zu machen pflegt, eine große Ahn⸗ lichkeit hatten, rief jetzt Emils Stimme: „Erwin, du Eſel! Erwin!“ Das klang wuͤtend und angſtvoll und wie in hoͤchſter Gefahr.
„All maͤchtiger, mein Bad!“ ſchrie Erwin. „Das hab’ ich vergeſſen !“
Jetzt ſtuͤrzte er durch den engen Korridor und alle ihm nach an die zweite Ungluͤcksſtelle. Die (ah auch nicht abel aus. Der Badeofen, zum Zerplatzen überheist, daß der Dampf wuͤtend aus den Ventilen ziſchte. Und der Kran fuͤrs kalte Waſſer offen, das mit Vehemenz in eine Badewanne ſtuͤrzte, die ihren Überſchwall uͤber die Diele laufen ließ.
„Erwin, der Kran geht nicht zu!“ jammerte Emil mit wuͤtender, weinerlicher Stimme.
„Wo iſt denn die Zange, ohne die Zange geht's ja nicht mehr!“ rief Erwin.
„Ja, wo haſt's denn?“ gab Emil zuruͤck. „Wegen der iſt ja ſchon der Rauchfang herunter. Wer zum Teufel hat fie denn wieder verſchleppt!“
Erwin ſtand ratlos und unbeweglich.
Emil arbeitete immer noch mit feinen kleinen feſten Faͤuſten daran, den Kran umzudrehen, und war in heißen Dampf eingehuͤllt wie ein Poſaunenengel in Wolken. Da ſchob end⸗ lich der Kraftmenſch die verzweifelte Geſellſchaft auseinander und wuͤrgte in den Dampfwolken herum und, wie es ſchien, mit Erfolg, denn das Hineinſchießen des Waſſers in die übers rinnende Badewanne hoͤrte auf. Er brachte dann die Ge⸗ ſchichte ſo weit in Ordnung, daß wenigſtens einer weiteren Uberſchwemmung und einer Dampfkeſſelerploſion vorgebeugt war.
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Dr ma * _- wD rea
„Herr, mein Gott! Dieſer unfelige Roman!“ rief Frau Kovalski. Sie war nun von dem drohenden Weinkrampf, der ſich bei dem Anblick der Kuͤchenverwuͤſtung angekuͤndigt hatte, wirklich gepackt und ſuchte an Erwin Halt, der ſelber faſſungslos daſtand.
„Ein Ungluͤck bringt zehn andere mit ſich“, ſchluchzte ſie.
Tante Zaͤuglein amuͤſierte ſich (hon wieder. „Das kommt wirklich alles vom Roman“, ſagte fie eifrig zu Gaſtelmeier und zwinkerte pfiffig mit den Auglein. „Ich kenn“ das ſchon. Nach ſo einem Mißerfolg ſind ſie gedankenlos wie die Huͤhner.“
Gaſtelmeier ging heute ganz uͤberwaͤltigt zu Bette und mit dem feſten Entſchluß, ſo bald als tunlich ſich aus dem Staube zu machen. Da war ihm ſein veritabler Rangierbahnhof mit der guten Verpflegung doch lieber als dieſer, der auf geiſtigem Gebiet verzehnfachten Spektakel machte. Da war gar kein Zweifel, von hier mußte und wollte er fort.
5 Böhlau III. 65
Viertes Kapitel
RR in Mander.
Die Narrenwelle, die das Lebensmeer jedes Jahr breit uͤber die Stadt hinſpuͤlen laͤßt, ſpuͤlt auch dieſes Jahr bei ſchneidendem Maͤrzwind durch die Straßen und fuͤhrt allerlei wunderlich aufgeputztes, aufgeregtes Volk mit ſich, dem der eiſige Wind um die Naſe ſtreicht, oder die leichenhaft ſtarren Larven luͤftet, die bunten Lumpen um den Kopf ſchlaͤgt und den Spaß im Freien einigermaßen verdirbt. Trotzdem war den ganzen Tag ein Gelauf und Gerenne geweſen. Der Humor war von der Kaͤlte etwas ungelenk und froſtig geworden, mußte erſt die ſtarren Glieder recken, und von dieſer Anſtrengung wurde er dann etwas grob und unerfreulich. Es war notwendig, daß man ihn zum Auf⸗ tauen brachte. Das fuͤhlten alle und deshalb war ein ge⸗ waltiges Draͤngen nach den Cafés und Wirts haͤuſern und Bierkellern.
Es war auch (don laͤngſt dunkel auf den Straßen, und die Verkappten, Vermummten und Ausſtaffierten draͤngten zum Licht wie die Muͤckenſchwaͤrme. Sie wollten ſich ſehen laſſen und wollten ſehen. Und was draußen in der Kaͤlte und dem ſchneidenden Wind eingefroren war, das begann in den heißen, mit Tabaksrauch und Menſchendunſt er⸗ fuͤllten Raͤumen ſich auszubreiten: das wurde kuͤhn und unternehmend.
In den hellen, reichen Raͤumen des Café Luitpold ſitzen an den runden Marmortiſchen Paͤrchen aller Art und ſchauluſtige Leute, die den Menſchenſtrom an ſich voruͤberrauſchen laſſen, der durch das Café flutet, zur einen Tuͤr herein, zur andern wieder hinaus. In einer Ecke haben drei Perſonen Platz gefunden, ein junger Mann, dem die ganz naive Verliebtheit unbefangen aus den Augen ſieht. Ein armer, verliebter Menſch, ein Menſch, der uns nicht unbekannt iſt, den wir bis⸗
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her als ſehr vernünftig und reſpektabel kennen lernten, als durchaus comme il faut. Comme il faut-Meier! Seine beiden Nachbarinnen tragen ſchwarzſeidene Laͤrvchen. Die eine iſt in einem braunen, ſoliden Wollenkleid gekommen, die andre in einem ſchwarzſeidenen Faͤhnchen, das ſo reizvoll und eigenartig die junge Geſtalt umſchließt, ſo reizvoll, daß Gaſtelmeier das Perſoͤnchen wie durch einen leichten Nebel ſieht. Es iſt ihm ſelbſt nicht recht geheuer. Er wird ihn nicht los, dieſen Anblick, ob er ihn vor Augen hat oder nicht. Der arme Gaſtelmeier iſt bisher ſo gut durchs Leben gekommen und es ſcheint ihm auch, daß er jetzt noch gut damit aus⸗ kommt, ſogar beſonders gut. Sein Lebtag war es ihm klar, daß es mit dem Verlieben eine faule Geſchichte iſt. Jetzt denkt er nicht daran.
„Da iſt niemand, der mich kennt, ich tu“ das Maskerl einen Moment ab“, ſagt das junge Geſchoͤpf im ſchwarzſeidenen Faͤhnchen. Gaſtelmeier blickt traumverloren auf ſie, er will den erſten Blick in das enthuͤllte Geſicht tun.
Sie knuͤpft an ihrem Laͤrvchen. Es haͤngt ihr noch mit dem einen Gummiband, an dem das Knoͤpfchen iſt, im Haar feſt. Das Geſicht iſt frei. Lebensvolle, brennende Augen ſchauen in das Getuͤmmel, ganz verſunken und benommen.
Im Januar war es, als Gaſtelmeier nach jenem etwas lebhaften Abend feſt entſchloſſen war, den geiſtigen Rangier⸗ bahnhof fo bald als tunlich zu verlaſſen, und jetzt iſt's März und er ſteckt immer noch dort. Er iſt Hausfreund geworden. Das Maͤdel iſt ihm anvertraut.
Seine Kameraden haben die Sache laͤngſt durch⸗ ſchaut, haben anfangs geſchwiegen, ſpaͤter gelaͤchelt, noch ſpaͤter, zu ſpaͤt, freundſchaftlich gewarnt, dann wieder ge⸗ laͤchelt und die Achſeln gezuckt. Dem Gaſtelmeier war nicht mehr zu helfen, er hatte ſich fuͤrs erſte in der Schlinge gefangen.
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„Schau, Friedel, mich kennt erſt recht kein Menſch hier, da tu' ich's auch ab. Mid erſtickt 's halt.“
„Wenn du meinſt“, ſagte Gaſtelmeier, und das zweite Laͤrvchen fiel auch.
Das war die Anna aus Rohrmoos. Gaſtelmeier aber ſah nicht nach ihr. Seine Blicke hingen wie gebannt an dem eigenartig ſchoͤnen Geſchoͤpf neben ihm, das nur Augen fuͤr das Treiben um ſich her zu haben ſchien. Anne ſah mit einem langen Blick auf ihren guten Kameraden, mit ſo einem klaren, feſten Blick, in dem deutlich das Bewußtſein zu leſen ſtand: „Fuͤr dich iſt alles zu Ende.“
Die roſigen Wangen wurden bleicher, und ſie ſah nun auch auf das ſchoͤne Mädchen.
„So großartig brauchſt dich auch nicht zu verhalten, daß du ihn da ſitzen laͤßt wie einen Narren, du“, dachte Anne. Er vergab ſich etwas in ihren Augen, daß er ſich ſo verliebt zeigte. „Ihr tut's euch leicht, ihr Mannsleut“, dachte ſie wieder und laͤchelte. Ein Seufzer —
Jetzt, da niemand auf ſie achtete und ſie ſo einſam und verlaſſen neben dem Kameraden ſaß, den ſie ihr Lebtag als von ſich untrennbar betrachtet hatte — als einen, dem ſie nie einen Namen gegeben hatte, der fuͤr das elternloſe Maͤd⸗ chen Bruder und Freund war, an den alle ſchoͤnen Erinne⸗ rungen ſich knuͤpften, da konnten ihre Gedanken in dem engen erſtickenden Saal nicht mehr bleiben. Sie flogen hin⸗ aus in die ſtille Nacht, weit uͤber die Stadt hinaus in das ſtille, dunkle Rohrmoos. Da würde es ihr wohler — und weher.
Jetzt kannte ſie die Einſamkeit mit einem Male. Die ſchwere, herzbedruͤckende Einſamkeit. Sie fuͤrchtete ſich, in ihr altes Heim zuruͤckzukehren, und hier wollte ſie auch fort, je eher je lieber — das — nein — das tat bis in den Grund der Seele weh, das mit anzuſehen — das war menſchen⸗
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unmöglih. Es war ihr gerade, als wenn ihr jemand alle Lichter, die ihre Welt erleuchteten, vor den Augen ausblieſe. Es wurde dunkler und dunkler und oͤder und oͤder und fuͤr immer und ewig. Unter dem runden Marmortiſche faltete ſie die Haͤnde und ſaß ſtill und gebeugt, vom Ungluͤck ges troffen da.
Einem uͤbermuͤtigen Menſchen, der an ihrem Stuhl vor; uͤberging, gefiel das blonde Maͤdchen, und in der Masken⸗ laune legte er den Arm um ihre Schulter und verſuchte fie zu kuͤſſen.
Da ſprang ſie mit einem Schreckenslaut auf und ſah ganz entſetzt um ſich her. „Herr, mein Gott!“ rief ſie.
Der Übermuͤtige lachte laut und verſchwand mit einem Satz in der Menge, denn Gaſtelmeier ſetzte ein ſehr wuͤrdiges und ernſtes Geſicht auf.
„Ach du, gehen wir“, ſagte Anna.
„Deswegen?“ fluͤſterte ihr Gaſtelmeier laͤchelnd zu. — „Wart nur, ich paß beſſer auf dich auf.“
Gleich darauf ſprach er mit Olly, die von einem wahren Eifer belebt war, alles zu ſehen und alles zu hoͤren was es irgend gab.
„Sehen Sie dahin, ach, ſehen Sie dahin — Herr Gaſtel⸗ meier, bitte!“ So rief ſie alle Augenblicke. Nun ſagte ſie: „Wie gut von Ihnen, daß Sie mich mitgenommen haben! Sagen Sie ſelbſt, wann ſieht ein Maͤdchen, wie die Men⸗ ſchen ſich eigentlich bewegen; an den Modellen doch wohl nicht?“
„Iſt Ihnen denn das wirklich ſo eine Freude?“ ſagte Gaſtelmeier.
„Freude? — Nein, Freude nicht. Notwendigkeit! Glau⸗ ben Sie mir, ich bin nach ſolchen Dingen verſchmachtet.“
„So ein kleines, vergnuͤgungsſuͤchtiges Fraͤulein!“
Da wurde das ſchoͤne Maͤdchen ganz erregt, die dunkeln
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Augen ſtrahlten. Man fühlte, fle konnte nicht recht zu Worte kommen.
„Nein —!“ ſagte ſie — „da haben Sie mich mißverſtanden. In Ihrem Sinne macht mir's kein Vergnuͤgen, — anders! Ich ſehe die Dinge und lerne und lerne, wiſſen Sie, ſo mit ganzer Seele! Ich fuͤhle dann: ſo kann man etwas leiſten, ſo mitten im Leben, nie wie bei uns Frauen, wir ſtehen immer abſeits. Was kann man da... Ich will ſehen, wie die Menſchen leben. Verſtehen Sie mich doch.“ Sie legte im Eifer ihre Hand auf die ſeine, wie um an ſeinem Verſtaͤndnis zu ruͤtteln. „Iſt denn das ſo ſchwer zu begreifen? Ich bin Kuͤnſtler wie Sie Kuͤnſtler ſind. Und Sie glauben nicht, wie eine Frau nach dem Leben und der Wahrheit haſchen muß. Sie bekommt nie die Wahrheit zu ſehen!“
Olly machte Aufſehen. Allerlei Masken ſammelten ſich um den Tiſch und banden mit ihr an. Gaſtelmeier wollte bei jeder Gelegenheit ritterlich ſeiner Dame beiſtehen.
„Laſſen Sie, laſſen Sie!“ bat ſie und legte ihre Hand auf ſeinen Arm, gewiſſermaßen, um ihn zu verhindern, auf⸗ zuſtehen. Dann plauderte und lachte ſie weiter mit den andern und ging auf alle Scherze ein.
Ein Paar ließ ſich neben ihr nieder, wie es fi chien, ein Akademiker als Koͤchin verkleidet und ein zweiter als Ge⸗ richtsvollzieher. Der letztere fragte ſie, wer ſie ſei.
„Ein Malermadel“, antwortete ſie.
„Das Madel von ein Maler, oder malſt ſelbſt?“
„Ich mal’ (hon ſelbſt.“
„Da iff net viel bei dir zu holen! Malermadl? A vers ſchmierte Leinwand, an Zahnbuͤrſchtel, wanns eins haft, a Malſchuͤrzen und a Luiz Gwandl — dein beſt's haft an, net?“
„Geltens“, ſagte Olly mit lachenden, ſtrahlenden Augen. „Morgen kommt ſchon einer zu uns, wenn auch du net.“ Sie wandte ſich vom Pſeudo⸗Gerichtsvollzieher lachend zu
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Gaſtelmeier. „Es kommt wirklich einer, komiſch.“ Gaſtel⸗ meier ſah fie ganz verbluͤfft an.
„So“, ſagte die Maske. „Da nimm dich in acht, daß er dich nicht mitnimmt, du mit deinen unſinnigen Augen, wann ich fam’, das wär’ das erſte.“
„Geltens,“ ſagte Olly wieder, „das ſollte dir aber net übel bekommen.“ |
„Sehr einfach,“ meinte die Maske zu feinem Genoſſen ges wendet, „da muͤſſen wir zu dieſem kleinen Teufel unſern dreſſierten Löwen mitbringen.“ Darüber lachte Olly wieder unbaͤndig. Sie lachte über alles.
„Laſſen Sie doch dieſe Leute“, fluͤſterte Gaſtelmeier ihr er; regt zu. — „Schließlich, angenehm kann es Ihnen doch nicht ſein, wenn der Kerl zudringlich wird.“
„Aber gleichgültig. Sehen Sie nur, der eine ſieht ganz wie eine Gans aus, wenn er die Augen ſo verliebt verdreht. Nicht hier iſt Maskerade, ſondern die ganze Zeit draußen iſt Maskerade. Heut find die Leute, wie es ihnen bequem iff und paßt, und das ſind erſt Bewegungen, was man hier ſieht, alles andre iſt Marionette. Wie ich Ihnen danke, daß Sie mich mitgenommen haben!“
„Ich glaube, Fraͤulein Olly,“ ſagte Gaſtelmeier unwirſch, „Sie ſtudierten noch, wenn ſo ein Kerl Ihnen einen Kuß geben wuͤrde?“
„Freilich!“ ſagte ſie. „Mich ginge der Kuß ja nichts an.“
„Na“, meinte Gaſtelmeier, der am liebſten das Maͤdchen am Arm genommen und aus dem Saal gefuͤhrt haͤtte.
„Hat Sie ein Hund ſchon gekuͤßt?“ fragte Olly, „ſo was man von einem Hund kuͤſſen nennt. Das iſt unangenehm und man ſieht zu, daß es nicht geſchieht.“ Ihre Augen hatten ſchon wieder etwas in der Menge entdeckt, was ihre Auf⸗ merkſamkeit ganz in Anſpruch nahm. „Nein,“ ſagte ſie wie zu ſich ſelbſt, „wie ſoll man Kuͤnſtler ſein, wenn man das Leben nicht kennt!“
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Gaſtelmeier wendete fih an Anne und fagte leiſe: „Denk nicht ſchlecht von ihr. Du ſollteſt ſie einmal zu Hauſe ſehen, fo ein braves Mädel. Sie iſt nicht wie die meiſten andern, und ſie malt wirklich brillant, da koͤnnte ſich jeder Mann freuen, wenn er's ſo fertig braͤchte. Aber weißt du: — es iſt doch ſchad“ an einem Maͤdel.“ |
„Schad“?“ fragte Annele. „Ich mein’, ich verſteh“ fie, beſſer als du ſogar. Das iſt nicht (had’. Sie iſt ein mutiges Mädchen.”
Das fagte Annele und das Herz tat ihr dabei weh, als wollte es zerbrechen — aber ſie mußte es ſagen.
„Du, das wundert mich von dir. Ich dachte, die Art muͤßte dir mißfallen“, erwiderte er darauf.
Annele brach das Geſpraͤch ab und ſchaute in das Ge⸗ tuͤmmel hinein, als wenn fle etwas ſaͤhe; fie fab aber nichts, was um ſie vorging, nur immer die eine einzige Ode, in der ſie von nun an, wie es ihr ſchien, fuͤr immer zu leben haͤtte.
„Wie iſt denn das mit dem Gerichtsvollzieher?“ fragte fie nach einer Weile leiſe.
„Was meinſt du denn?“ fluͤſterte Gaſtelmeier.
„Sie ſagte doch, es kaͤme morgen einer zu ihnen. War das ein Spaß?“
„Unmoͤglich“, meinte Gaſtelmeier; bei ſich aber dachte er: „Weshalb nicht. Bei uns geſchieht ja allerlei derartiges.“
„Fraͤulein Olly,“ wendete er ſich wieder leiſe an dieſe, die eben eine Pauſe im Plaudern gemacht hatte, „was war denn das vorhin mit dem Gerichts vollzieher?“
„Was denn? — Daf morgen einer zu uns kommt? — Im Ernſt. Er holt nur ein paar Sachen“, ſagte Olly ſeelen⸗ ruhig. „Wegen der Metzgerrechnung. Der Menſch will nicht laͤnger warten.“
„Ach ſo“, meinte Gaſtelmeier mit nicht ganz natuͤrlicher Seelenruhe.
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„Dieſe vollkommene Wurſchtigkeit“, wie er in feinem Innern ſich ausdruͤckte, aͤrgerte ihn und doch hatte er wieder ein ſonderbares Gefuͤhl der Bewunderung, wenn er an den Rieſenfleiß des Mädchens dachte — und an Erwin, den guten Jungen, der wie ein Raſender weiter komponierte an Dingen, die ihm nie ein Buchhaͤndler abnehmen wuͤrde, der Rufe aller Art an die Menſchheit zur Umkehr in petto hatte, der ſich in Romanen empoͤrte, empoͤrte uͤber Dinge, mit denen alle Welt zufrieden war; und mit all dem Fleiß und all dem Hetzen konnten ſie nicht ihr ruhiges Stuͤckchen Brot verdienen und zogen wie in eine Gluͤckſeligkeit in dieſes furchtloſe Treiben auch noch Emil, den armen Burſchen, mit hinein. Ollys Talent war auch durchaus nicht brav und den Menſchen wohlgefaͤllig. Es war eigenartig, nicht einſchmeichelnd.
„Armes Ding“, dachte Gaſtelmeier. Er haͤtte das ſchoͤne, zarte Geſchoͤpf in ſeine Arme nehmen und ſie aus dem ſeelenverzehrenden Treiben hinaustragen moͤgen. Er fuͤhlte ſich ſo ganz als den ſtarken Mann und ſah in ihr das ſchwache Weib. Wohin ſollte der jetzige Zuſtand fuͤh⸗ ren? Er ſah ſie in Not und Elend, den zarten Koͤrper ge⸗ brochen von Überarbeitung, Hunger und Elend — und er konnte ſie ſich doch nicht mutlos vorſtellen, und nicht ohne Feuer und Lebenskraft. Er ſah ſie in allen Lagen, und er konnte ſie ſich nicht gedankenlos und nicht ſchlecht vorſtellen und auch nicht verzagt. Noch nie hatte ein Weib ihn ſo er⸗ regt, noch nie hatte er uͤber ein Weib ſo nachgedacht, das Geiſtige ſo empfunden. Bisher hatte nur Friſche der Jugend auf ihn gewirkt. Aber hier — ja, die Jugend liebte er auch hier; aber dieſer junge, ſchoͤne Koͤrper ſchien die leichte Halle von etwas ihm Unbekannten zu fein, das hier für ihn zum erſten Male das Koͤrperliche durchleuchtete.
Ja, zum erſten Male. Bisher waren fuͤr ihn alle Weiber Koͤrper mit etwas Herz geweſen, mit ſo viel Herz, als gerade
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notwendig — und dies Herz war ihm als etwas unfäglich Lang; weiliges erſchienen. Und nur das ganz junge Weib war fuͤr ihn Weib; wo er dieſe Jugend nicht mehr antraf, war fuͤr ihn auch das Weib nicht mehr vorhanden, etwas andres war an deſſen Stelle getreten, etwas Unerfreuliches. Seine Mut⸗ ter hatte er geliebt, weil ſie eben ſeine Mutter war. Annele war ihm lieb, weil ſie zu ihm gehoͤrte. Ein fremdes Volk waren ſie ihm alle geweſen, eine unter ihm ſtehende Menſchen⸗ kaſte, etwas, was ihn vorderhand gottlob nichts anging, von dem er ſich aber Ideale zu machen liebte, an die er ſelbſt nicht recht glaubte. Und das Ideal, das er ſich gemacht hatte, pfropfte er allen auf, mit denen er in Beruͤhrung kam. Auch hier bei Olly wollte er es verſuchen, aber er wußte nicht recht damit fertig zu werden.
Übrigens hatte er ſich dieſen Abend anders vorgeſtellt. Das Maͤdchen hatte nur Augen fuͤr das, was um ſie her vorging, und er hätte ſich gerade vor Annele gern zeigen wollen. Daß Olly ihm ſoweit gut geſinnt war, wußte er, und ſo ein Abend war eigentlich die Gelegenheit, ſeinem freundlichen Verhaͤltnis zu ihr eine etwas andre Richtung zu geben, eine Richtung, die er ſehnlichſt herbeiwuͤnſchte. Als ſie beieinander ſaßen und der Strom immer neuer Mas⸗ ken ſich an ihnen voruͤberwaͤlzte, wendete ſich Olly zu ihm, nachdem ſie laͤngere Zeit ſtillgeſeſſen, und ſagte: „Ich habe eine große Bitte an Sie, Herr Gaſtel meier.“
„Nun?“ fragte Gaſtelmeier geſpannt. Er war wie elektriſch geladen, jede Verbindung mit Olly ließ ihn Funken ſpruͤhen, die ihm das Herz fuͤr einen Augenblick erleichterten.
„Fuͤhren Sie uns in die Zentralſaͤle. Ich muß das auch ſehen.“
Da war es ihm aber, als habe er einen Schlag ins Geſicht bekommen. Das haͤtte ſein Ideal, das er ſich vom Weibe ge⸗ macht hatte, nie geſagt. Sein Ideal hätte überhaupt nichts davon gewußt, daß Zentralfäle exiſtieren, wenigſtens von
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jenen Faſchingsbaͤllen hatte es nichts gewußt, und hätte es etwas gewußt, ſo haͤtte es dies doch nie und nimmermehr einem maͤnnlichen Weſen eingeſtanden.
Aber Olly kuͤmmerte ſich um ſein Ideal, wie es ſchien, nicht im geringſten. „Kommen Sie“, ſagte ſie eifrig.
„Nein, Fraͤulein Olly, das geht nicht,“ antwortete er, nach⸗ dem er ſich von ſeinem Schreck erholt hatte, „und ich muß mich wundern, wie Sie uͤberhaupt auf dieſe Idee kommen.“ Er fette eine gewiſſermaßen vaͤterlich wuͤrdige Miene auf.
„Sie find etwas begriffsſtutzig, mein Herr!“ ſagte Olly komiſch und ungeduldig. „Ich moͤchte wiſſen, wie oft ich es Ihnen erklaͤren muß.“
„Ach ſo“, meinte Gaſtelmeier, der die Kuͤnſtlerſchaft Ollys immer vergaß. Dies mal ſah er es, mochte es nun fein wie es wollte, für feine Pflicht an, Ollys Wunſch nicht zu erfüllen. Das war ja uͤberhaupt kein Wunſch, der zu beruͤckſichtigen waͤre. Ins Geſicht haͤtte er ſich ſchlagen muͤſſen, wenn er ein junges, unſchuldiges Maͤdchen aus anſtaͤndiger Familie zu einem ſolchen Ball haͤtte fuͤhren wollen, er, Gaſtel⸗ meter |
Im Laufe einer halben Stunde befanden fie ſich alle drei einmätig miteinander auf dem Weg nach den Zentralfälen. Die Maͤdchen hatten ihre Laͤrvchen wieder vorgebunden, — den Ausſchlag zu dieſem Entſchluß hatte Annele gegeben, Gaſtel⸗ meiers gutes, einfaches Annele. „Gehen wir doch“, hatte ſie geſagt, „wenn fie es will, weshalb denn nicht — wenn fie’s zu ihrer Malerei braucht? Ich kann mich nicht anders ausdruͤcken,“ fuhr ſie ruhig und bedaͤchtig fort, „wenn ich eine Kuh malen koͤnnte, wuͤrde ich ſie auch nicht waͤhrend der Stallfuͤtterung malen, ſondern wenn ſie auf der Weide iſt.“
„So,“ ſagte Gaſtelmeier, „die Weiber halten immer zu⸗ einander.“ |
„Was anders wie im Luitpold wird's ja doch wohl auch nicht fein,” ſagte fle. „Rechte Kälber ſind's. Jedes macht
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fo feine Spruͤnge. Ein biſſel Freiheit — dann iſt's bei Menſch und Vieh das Gleiche.
Olly und Annerl fanden ſich ganz gut zueinander. Und Annerl war tapfer. Gerade weil Olly es war, durch die ihr ſo weh geſchah, gerade deshalb mußte ſie ihr beiſtehen.
„Ich halt' mich feſt an dir“, ſagte Annerl zu Gaſtelmeier, als fie die ſteile, ſteinere Treppe zu den Zentralfälen hinauf⸗ ſtiegen. |
„Tu“ das nur, und Sie auch, Fraulein Olly.“
Die ganze Treppe entlang ſtanden truͤbſelig alte verdorrte Tannen, die hatten ſchon den ganzen Winter als Schmuck gedient und verloren jetzt die braunen Nadeln. In den Korridoren, wo die Menſchen eng an den Zweigen voruͤber⸗ ſtreiften, waren die trockenen Baͤume zu Beſen geworden. Zwiſchen dieſem elenden Feſtſchmuck draͤngte die Menſchen⸗ menge ein und aus, Maͤnner und Frauen, lauter junge Frauen in meiſt ſchwarzen, eleganten Kleidern mit bloßen Armen und Schultern. Faſt alle hatten ihr ſchwarzſeidenes Larochen vor und eine ſonderbare Kopfbedeckung. Unſere drei hatten ſchon genug derlei Geſtalten im Café Luitpold geſehen.
Annele hielt ſich eng an Gaſtelmeier feſt. „Nicht du, du nimmſt mir's net uͤbel, wenn ich mich feſt halt“?“ ſagte ſie noch einmal. Und es lag etwas in dieſer Frage, das jedem andern aufgefallen waͤre, nur Gaſtelmeier nicht, der be⸗ unruhigt und erregt mit ſeinen beiden Schutzbefohlenen vor⸗ waͤrts ſtrebte.
„Alſo ihr wollt wirklich?“ fragte er noch einmal.
Annele antwortete nicht, aber Olly ſagte ruhig und be⸗ ſtimmt: „Ja.“
Jetzt traten ſie ein. Es war gerade Tanzpauſe und die Paare gingen, wie auf jedem andern Ball, in langem Zug durch den Saal und plauderten. Auch hier waren die Waͤnde
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mit hohen, verdorrten, zum Teil kahlen Tannen jaͤmmerlich verunziert. Annele hielt Gaſtelmeier weniger feſt. Es war ſo wie überall, ſogar in Obersdorf im großen Wirtsſaal: wenn fie da im Winter ein paarmal tanzen ließen, war's auch nicht anders. Die Frauenzimmer hier hingen ſich zwar etwas ſehr zutunlich den Herren an den Arm; das hatten ſie im „Luitpold“ auch getan. Ihre Toilette war freilich anders wie die der Honoratiorendamen in Obersdorf. Wie ihnen alles ſaß und ſtand, welche Grazie, welche Vornehmheit, oder doch fo etwas aͤhnliches wie Vornehmheit! Anna mußte einigen von ihnen ganz bewundernd nachblicken. Andre ſahen wieder unerfreulich aus, in lumpigen, kurz geſchuͤrzten Mas⸗ kenkleidern.
Alle drei waren ganz ruhig miteinander gegangen. Jetzt kam ihnen ein armſeliger Buͤrgersmann entgegen, ein krank und verkommen ausſehender Menſch, ein Handwerker im Sonntagsſtaat; der ging auf Olly zu, hob ihr den Schleier vom Laͤrvchen und wollte ihr einen darren Tannenzweig, den er zwiſchen den Fingern hielt, in den Mund ſchieben: „Da friß!“ ſagte er.
Gaſtelmeier riß das Maͤdchen naͤher an ſich.
„Selt, das magſt net!“ rief der armſelige Menſch und wollte vor Lachen platzen. „Brauchen & denn alle zwei? Ver⸗ gunnen & mir net den Käfer?”
Gaſtelmeier zog ſeine beiden Maͤdchen mit ſich. Da be⸗ gann die Muſik, einen Walzer, und der Tanz ging los. Die Paare ſchmiegten ſich zaͤrtlich aneinander.
„Iſt das ein ſchwuͤles Treiben hier“, ſagte Annele.
„Wollt ihr was trinken?“ fragte Gaſtelmeier.
„Hier nicht um die Welt“, erwiderte ſie. „Sie auch nicht?“
Olly ſchuͤttelte den Kopf. Sie hatte nicht Zeit zu antworten ſie ſchaute angeſtrengt, ſprach nichts und ſah nur — ganz verſunken.
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Bevor eine Quadrille begann, flanden fie alle drei in einer ziemlich ſtillen Ecke, die aber bald von allerlei Paͤrchen Aber; ſchwemmt war, daß ſich die drei in der groͤßten Enge befanden. Olly hatte fuͤr einen Augenblick Gaſtelmeiers Arm los⸗ gelaſſen. Das hatte ein ſehr erhitzter Herr, dem der Zy⸗ linder faſt im Nacken ſaß, benuͤtzt, ſie mit affektierter Hoͤflichkeit und einem laͤcherlich tiefen Buͤckling zum Tan; zu holen.
„Mignon“, fagte er wie zu einer Katze, und auch er vers ſuchte das Schleierchen uͤber Ollys Lippen zu luͤften. Da legte Olly den Arm in den ſeinen und ließ ſich zum Tanz führen.
Annele hatte es früher als Gaſtelmeier geſehen und ſtieß einen kleinen Schreckenslaut aus.
„Iſt das die soeur?” fragte der Herr und neigte ſich vertraulich zu Olly, ſpitzte die Finger und warf Annele eine Kußhand zu — zum Troſt gewiſſermaßen.
Er hatte aufgeworfene Lippen, glaͤnzend braune Knopf⸗ augen und war ſehr echauffiert. Er führte Olly an ihren Platz und die Muſik begann.
War der Walzer ſchon zaͤrtlicher Natur geweſen, ſo war es die Onadrille erſt recht. Die Pärchen druͤckten und kuͤßten ſich untereinander, daß es nur ſo eine Art hatte, und in weiße Schultern und Arme wurde gekniffen, daß die roten Male zu ſehen waren.
Olly gegenuͤber biß ein junges Ding mit den glaͤnzend weißen Perlenzaͤhnchen ihren Taͤnzer in die fette Wange — Olly ſchuͤttelte ſich vor Ekel.
„Rühren Sie mich nicht an,“ fluͤſterte fie ihrem Tanger empoͤrt zu, als auch er Miene machte, vertraulich zu werden, und „rühren Sie mich nicht an“, flüfterte fie wild und zornig wieder und wieder.
Das ſchien den feinen Herrn außerordentlich zu amuͤſieren, er tat wenigſtens ſo, behandelte ſeine Dame mit affektierter
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Höflichkeit und Hochachtung. — Und Olly ſah die erhitzten Geſichter, die ſinnlich ſtieren Augen, die leidenſchaftlichen Be⸗ wegungen, hörte das Sohlen und Aufkreiſchen; zuletzt ſah ſie eine unglaubliche Umwandlung, es war ihr, als ſei ſie nicht mehr unter Menſchen, ſondern unter einer Horde wilder, wuͤtender Affen.
Kaum war ſie frei, ſo bahnte ſie ſich den Weg zu Gaſtel⸗ meier und Annele. Und als ſie vor Gaſtelmeier ſtand, war deſſen gutmuͤtiges, roſiges Geſicht fahl und er (ah fie mit einem ſtarren Ausdruck an.
„Hat er Sie gekuͤßt?“ fragte Annele. Olly ſchuͤttelte den Kopf.
„Das haͤtte er gebuͤßt“, ſagte ihr Beſchuͤtzer verbiſſen.
Olly zitterte vor Erſchoͤpfung, ihr ſchwindelte und ſie faßte Anneles Arm, denn Gaſtelmeier machte keinerlei Miene, ihr den ſeinigen zu bieten.
„Ich glaub', du meinſt ſchon wieder, ſie haͤtt's zum Ver⸗ gnuͤgen getan?“ ſagte Annele. „Net wahr?“
„Auf ſo komplizierte Geſchichten,“ ſagte Gaſtelmeier kuͤhl, „bin ich nicht eingerichtet.“
Olly hob jetzt den Kopf, ſie hatte bisher auf Gaſtelmeier ſcheinbar nicht geachtet und war ganz befangen geweſen.
„Ihnen iſt es unangenehm, daß ich da mitgetanzt habe“, ſagte ſie ruhig, „und Sie haben mir Ihren Arm deshalb nicht gegeben? — Sagen Sie mal, haben Sie Freunde, die hier öfters die Zeit verbringen?“
Gaſtelmeier tat, als uͤberhoͤrte er die Frage.
„Sagen Sie's doch“, wiederholte ſie.
„Freunde? Jawohl?“ erwiderte er kurz.
„Denen geben Sie dann auch nicht die Hand?“
„Mein Gott“, ſagte Gaſtelmeier. „Das iſt naturlich etwas andres.“
„Natuͤrlich“, ſagte Olly. „Kommen die Freunde zu ihrem Vergnuͤgen hierher?“
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„Jedenfalls.“
„Und oft?“
„Oho, was iſt denn das fuͤr ein Verhoͤr?“
„Ich moͤchte wiſſen, wie oft etwa“, fuhr ſie ruhig zu fragen fort. |
„Wenn es ihnen paßt und fle nichts andres zu tun haben, kommen fie in der Faſchingszeit wahrſcheinlich oft hierher“, erwiderte er.
„Womwoͤglich alle Abende, fo lang es dauert — jahres lang?“
„Meinetwegen,“ fagte Gaſtelmeier, „was geht's mich an?“
„Die Hand wuͤrde ich ihnen dann allerdings nicht geben, und ihre Kleider wuͤrden mich ekeln, und ſie ſelbſt wuͤrde ich verachten — wiſſen Sie, verachten — das iſt's.“
„J wo“, ſagte Gaſtelmeier. „Es koͤnnen die beſten Bur⸗ ſchen ſein; danach darf man nicht gehen bei einem Manne.“
„Auch dann nicht, wenn ſie ſich hier wirklich und wahrhaftig vergnuͤgen, wenn ſie ſich hier im Schmutz gewaͤlzt haben, auch dann nicht? — Und wenn es ein Mädchen auch nur geſehen hat, ohne jeden andern Anteil der Seele als Ekel und Ver⸗ achtung, dann glauben Sie, ſie ſei ſchmutzig geworden, es ſei etwas haͤngen geblieben? Sie wagen es, ihr die Hand zu entziehen? Ich habe es wohl bemerkt.“
Olly hatte bebend geſprochen. „Gehen Sie — gehen Sie — fo einen ungerechten Schutz brauch“ ich nicht. Ich bin mir wahrlich Schutz genug. Was ich ſehen wollte, hab“ ich ges ſehen. Wiſſen Sie, wir Frauen werden, wenn wir Figuren⸗ maler find, leicht (uf — ein Wunder!“ — Sie zuckte die Achſel. „Wir anſtaͤndigen Frauen bekommen das Leben ſo ſuͤß vorgemalt — fo ſuͤß und harmlos. Es iſt alles fo wunder; bar in Ordnung, es ſind alles ſolche wuͤrdevolle Muſter⸗ maͤnner, ſo vortreffliche Verlobte und Ehemaͤnner, ſanft wie die Laͤmmer. Wir bekommen die Leute nur immer zu ſehen, wie ber Direktor feine Scaler beim Examen. Meinetwegen
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— aber in der Kunſt will ich nicht ſuͤß werden. Ich will nicht. Wahrheit will ich! Und wenn Sie mich drum verachten, ver⸗ achten Sie mich! Und wenn Sie Ihren Arm einziehen, ziehen Sie ihn ein! Ich brauch“ ihn nicht!“
Damit war ſie auf und davon gegangen durch das Ge⸗ draͤnge — und im Gedraͤnge verſchwunden. Gaſtel meier und Annele eilten ihr nach.
„Da durch die Tar iſt fle 'nausgeſchloffen“, rief Annele. Sie bahnten ſich durch die tanzenden Paare den Weg und ſtanden draußen, vor der ſteilen, ſteinernen Treppe.
„Da iſt ſie nicht mehr!“ ſagte Annele.
„In der Garderobe“, meinte Gaſtelmeier ganz faſſungslos.
„J wo, die iſt fort!“ erklaͤrte Annele beſtimmt. „Gehn wir g'ſchwind in die Garderob“ und holen wir die Sachen!“
Gaſtelmeier ſtuͤrzte fort und kam bald mit den Sachen fuͤr alle drei zuruͤck.
„Die haſt du wenigſtens ſchnell derwiſcht“, meinte ſie, und nun liefen ſie miteinander die ſteile, mit Straßenſchmutz bedeckte Treppe hinab, an den vertrockneten Baͤumen vor⸗ uͤber, hinaus ins Freie.
Gaſtelmeier nahm einen Wagen, half Annele hinein, gab dem Kutſcher Anweiſung, und nun ging's vorwaͤrts, waͤhrend jedes der zwei zu einem Fenſter hinausſchaute. So mußten ſie das ſchoͤne gekraͤnkte Geſchoͤpf auf ſeinem Heimweg ein⸗ holen und entdecken. Der eiſige Maͤrzwind hatte Schnee ge⸗ bracht und ſpielte mit den Flocken, trieb ſie vor ſich her, wehte ſie von den Daͤchern herab, tuͤrmte ſie an den Straßenecken auf, klebte ſie an die Haͤuſerwaͤnde wie eine dichte Decke und trieb tauſenderlei Unfug mit ſeinem Spielzeug. Und in dieſes Treiben war das arme, zarte Ding hineingeraten.
„Nicht zu ſchnell fahren,“ rief Annele dem Kutſcher zu, „damit wir ſie nicht uͤberſehen.“
„Sie wird doch auch den Weg nach Hauſe zu gegangen fein?” fragte Gaſtelmeier ſchuͤchtern.
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„Freilich“, fagte Annele. Und als fie über den Odeons⸗ platz fuhren, ſah ſie einen kleinen, ſchwarzen Schatten an dem Hofgartentor.
„Da iſt ſie!“ rief ſie dem Kutſcher zu, und kaum daß ſie gehalten hatten, ſprang ſie hinaus.
„Gelt, du bleibſt drin, ſonſt erſchrickt ſie“, fluͤſterte ſie ihm zu und ſtapfte gleich darauf durch den Schnee.
Der kleine Schatten verſchwand nicht.
„Da haben wir Sie doch eingeholt“, ſagte Annele und legte ihr den Mantel um die Schulter. Sie fuͤhlte dabei, wie der zarte Koͤrper zitterte.
Olly ſprach kein Wort. Die beiden Maͤdchen gingen mit⸗ einander dem Wagen zu und auf dieſem Wege ſagte Annele zu ihrer Begleiterin: „Seien Sie nicht boͤs auf ihn. Feuer im Herzen, Rauch im Kopf. So ſteht's, glaub’ ich, mit ihm.“
Olly erwiderte nichts, aber fie zuckte leicht zuſammen. Von Mama und Tante Zaͤnglein hatte fie (hon manche Anſpie⸗ lung hoͤren muͤſſen. Sie hatten ihr von Gaſtelmeiers ſoliden Verhaͤltniſſen geſprochen, von dem Gluͤck fuͤr die Familie. Die Mama hatte bei dieſen Andeutungen geſtrahlt. Sie hatten Olly damit gereizt und erregt. „Geld ins Haus! Geld ins Haus! Das iſt's im Grunde doch, was fie alle wollen. Das allein!“ hatte ſie zornig gedacht. „Wie wenig ernſt iſt es ihnen allen mit der Kunſt, und Mama am we⸗ nigſten, trotz ihrer vielen Worte, trotzdem ſie uns hinein⸗ gehetzt hat!“ — „Und du wirſt ruhig bei ihm Kuͤnſtlerin bleiben duͤrfen — das iſt auch zu bedenken“, hatten ſie ihr geſagt. „Geld iſt genug dazu da, Verliebtheit auch. So etwas trifft ſich nicht leicht wieder.“ Das war Tante Zaͤng⸗ leins Stimme, die das geſagt hatte.
Als ſie in den Wagen ſtieg, half ihr eine Hand, die ſie zart und ſchuͤchtern beruͤhrte, ſo zart und vorſichtig, als wenn ſie eine Puppe oder ein Heiligtum waͤre, und der zarte Griff dieſer Hand tat ihr wohl, trotzdem ſie noch voller Zorn
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war. Sie fühlte ſich mit einem Male fo geborgen wie nie in ihrem Leben. |
„Bring“ fie nur hinauf“, ſagte Annele, als der Wagen in der Bluͤtenſtraße hielt. „Wich fuͤhrt der Kutſcher ganz ſicher nach Haus.“
Und als die Haustuͤr hinter den zweien ſich geſchloſſen hatte, fuhr die dritte einſam dahin mit einem Herzen, das zum Zerſpringen voll Leid war, und ging dann eine finſtere Treppe hinauf und in das Gaſtſtuͤbchen ihrer alten Tante, bei der ſie die letzten Faſchingstage einlogiert war, und in dieſem Stäbchen verbrachte fie eine bittere, ſchwere Nacht.
ine Nacht, anders wie jede andere Nacht ihres Lebens,
verbrachte auch Olly, eine Nacht des Überlegens und For; (hens, des Erwaͤgens. Das kam dieſem Kopf befremdlich vor, uͤber Lebensfragen zu bruͤten.
„Er verſteht mich nicht“, ſagte ſie ſich und lag mit weit offenen Augen im Bette. „Aber er iſt gut und hat mich lieb. Es ſcheint, die Menſchen verſtehen einander uͤberhaupt gar nicht. Mama — verſteht die mich etwa, oder Erwin oder Emil? Tante Zaͤnglein? Das darf man ſcheint's nicht erwarten, das Verſtehen. — Moͤchte wiſſen, wer einander verſteht.“
Seine Stimme hatte ſie von Anfang an gern gehabt. Und wie er ſie heute angefaßt hatte, um ihr in den Wagen zu helfen, das hat ihr tiefen Eindruck gemacht, wie zart, wie freundlich, wie... ja, wie denn? Niemand hatte fie noch fo beruͤhrt, da lag alles darin in dieſer Beruͤhrung, auch die Bitte um Verzeihung und eine große Liebe, und daß ſie fuͤr ihn etwas Wertvolles ſei, — ja, ganz wie ſie zuerſt gedacht hatte, daß ſie fuͤr ihn ein Heiligtum ſei. Wie ihr das den ganzen Koͤrper wie mit Wohlbehagen durchrieſelte: Je⸗ mandes Heiligtum ſein!
Er wuͤrde auf den Knien vor ihr liegen — nein — das wuͤrde er nicht tun — gewiß nicht. Wie laͤcherlich muͤßte
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das auch ausſehen! Sie wuͤrde ihm dann gerade auf feine Glatze ſehen.
Als er mit ihr die Treppe hinaufgegangen war, hatte er ihr mit einem Male beide Haͤnde gekuͤßt, mitten auf der Treppe. So ein verliebter Mann it komiſch. — Aber das mißfiel ihr nicht an ihm. Es war ſo angenehm komiſch. Sie ſah ihm gern zu.
„Ja, wenn er mich bei meiner Arbeit laͤßt, wenn es ſo bleibt, wie es iff — beinah fo — dann... ja dann. Von daheim fort? — O ja, weshalb nicht?“ dachte fie.
Sie fuͤhlte, daß es ihr nicht ſchwer waͤre. Sie wuͤrden miteinander nach Paris reiſen, und ſie wuͤrde eine Zeitlang dort lernen. — Herrgott, das hatte ſie immer ſo brennend gewuͤnſcht. Dort konnte ſie finden, was ihr noch fehlte. Schade, daß die zu Hauſe es gar zu gern wollten — ſchade.
Weshalb dies ſchade ſei, war ihr nicht ganz klar, aber es war ſchade. Es war ihr, als wenn ein Reiz fehlte, und ſie ſuchte dieſen Mangel darin, daß ſie mit ihrem „Ja“ Wuͤnſche der Familie erfuͤllte, die ihr ſelbſt nicht aus der Seele ge⸗ ſprochen waren. Wo etwas herausſchaut — das iſt immer das beſte. Geld ins Haus! Das lag verdeckt von großen Worten uͤber allem, was ſie leiſteten und taten. Das war die Triebfeder fuͤr das hetzende Treiben im ganzen Hauſe, der Grund des literariſchen Martyriums von Erwin, der Grund, weshalb Emil mit in das Elend gezogen wurde, weshalb die Mutter Olly ihr Lebtag geſteigert und zum Fleiß angefeuert hatte. Noch immer das leichteſte, nobelſte Mittel, Geld zu ver⸗ dienen, (ah die Mama in der Kunſt. Der Gelderwerb war's; fie hofften, mit all der Qual Geld zu verdienen!
Das hatte Olly ſchon laͤngſt herausgefuͤhlt, das war's, was fie empoͤrte, was fie den Ihrigen entfremdete. Ihr war karg leben kein quaͤlender Gedanke, — gar nicht. Den Ihrigen war er entſetzlich.
Sie ſah das ſtrahlende Geſicht der Mutter bei einer ge⸗ wiſſen Nachricht und fuͤhlte einen zornigen Arger.
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Fünftes Kapitel
lles war nun ſchon voruͤber, alles Erwarten, unendliche
Naivetaͤten und Torheiten, ein gut Teil Kaͤmpfe, Ents taͤuſchungen, Braut⸗ und Braͤutigamsſtimmung. Sie hatten im Mai, zur groͤßten Zufriedenheit der Familie in der Bluͤten⸗ ſtraße, geheiratet — und nun war es ſchon Weihnachten, der Sommer war voruͤber und mit dieſer Wandlung waren allerhand menſchliche Wandlungen vorgegangen.
Wie einen Traum hatte ſie Verliebtheit, Verlobung und die Hochzeit uͤber ſich ergehen laſſen. Es hatten ihr Betrach⸗ tungen gefehlt, die ein ganz in geſunden Verhaͤltniſſen ſtehendes Maͤdchen gemacht haben wuͤrde, es hatten ihr auch die ſuͤßbraͤutlichen, daͤmmerhaften Gefühle gefehlt. Sie hatte bisher eine Sehnſucht nach Liebe kaum empfunden. Ihre Seele war immer ausgefuͤllt geweſen, ſo ganz und voll aus⸗ gefällt. Dieſe „Liebesgeſchichte“, wie fie ſich in ihren Ges danken ausdruͤckte, war eigentlich etwas Unnoͤtiges. Sie fand kaum Platz in ihr.
Waͤhrend der ganzen Zeit ihrer Verlobung war ſie einen Druck, der Aber ihrem Gemuͤte lag, nie ganz losgeworden, ſo einen etwas bangen Druck, wie ſie ihn fruͤher wohl aͤhnlich nach einem uͤbereilten Kauf empfunden hatte. Dies Gefuͤhl war ihr bekannt genug, denn ſolange ſie denken konnte, war jedesmal, ſowie ſie Geld hatte, etwas gekauft worden, fuͤr das ſie eigentlich keine Verwendung fand.
Waͤhrend der Zeit ihrer Verlobung hatte ſie auch oͤfter einen Traum gehabt, den ſie hin und wieder traͤumte, immer, wenn ein Beſitz ſie bedruͤckte: Raͤume voll Sachen, voll lauter Sachen und Lumpen. Alles vollgepfropft, von oben bis unten — beaͤngſtigende Maſſen, und alles ihr gehoͤrig, und ſie ſollte es unterbringen und ordnen. Die Sachen quollen und quollen und wurden mehr und mehr. Sie wußten ſich nicht zu raten und zu helfen. Die Lumpenmaſſen wuchſen um fie her und
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verbauten ihr Licht und Luft, es wurde enger und enger, fie erdruͤckten ſie.
Das war ein Traum, der die kleine Tagesempfindung ins Rieſenhafte verzerrte. Und fie erwachte nach dieſem Traum immer ſeelenbedrückt und erſchüttert von einem unbeſtimmten Grauen. Es fiel ihr auf, daß ſie dieſen Traum waͤhrend ihrer Verlobungszeit oͤfters hatte; aber fie dachte nicht daruber nach. Sie war eben noch gar nicht dahingekommen, uͤber das Leben nachzudenken. Es kam, wie es ihr ſchien, alles von ſelbſt, und machte ſich alles von ſelbſt, es lebte ſich von ſelbſt. Ihre Gedanken gehörten alle ihrer Kunſt; da waren ſie geſchaͤftig wie die Ameiſen, da bauten und bohrten ſie und arbeiteten und kaͤmpften. — Hatte ſie dieſe Verlobung erſtrebt? Nie! Und ſie hatte ſich gemacht.
Es waren alle moͤglichen Annehmlichkeiten gekommen. Olly war mit einem Male wie in eine leichtere heitere Luft verſetzt. Blumen — überall Blumen für fle. — Jedermann war mit ihr, als waͤre ſie neugeboren, ganz anders als mit der unverlobten Olly. Man hoͤrte mehr auf ſie. Auf ihre Wuͤnſche wurde Ruͤckſicht genommen, ſo wie fruͤher, wenn ſie ihren Namenstag hatte. Und er? Daß ein Menſch ſo ununterbrochen gut und gluͤckſelig ſein konnte, ſo ein Menſch mit einer Glatze! — und wegen ihr! — Großer Gott, wegen ihr?
Sie traͤumte das Leben. Es war noch kein Leben aus Fleiſch und Blut. Waͤhrend der ganzen Verlobungszeit blieb ſie bei ihren feſten Arbeitsſtunden und duldete auch nicht, daß Gaſtelmeier fruͤher aus ſeinem Atelier kam, um ganz ſtill und artig hinter ihrem Stuhl zu ſitzen und ihr bei der Arbeit zuzuſchauen. Sie wollte das nicht.
„Keine Eingriffe, nein, nein, keine Eingriffe in mein Recht!“ ſagte ſie ihm dann lachend. „Du weißt es ja — die Be⸗ dingung: wir heiraten einander — du weißt doch, unter wel⸗
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cher Bedingung?“ Dann ſah fie fragend und geſpannt auf ihn. „Daß ich bei dir arbeiten darf?“
Sie wollte ihre Antwort.
Und er ſchloß ſie in ſeine Arme und bedeckte ſie mit Kuͤſſen. „Freilich, freilich, mein Schatz“, ſagte er und dachte wohl⸗ gelaunt und leichten Herzens: „Laß nur erſt einmal alles kommen, was kommen wird.“
Er dachte an ihr erſtes Kindchen und ſah ein Bild vor ſich, ſo unbeſchreiblich entzuͤckend fuͤr ihn, daß er das Maͤdchen gar nicht aus den Armen ließ. Er ſah im Geiſte, wie warm, wie muͤtterlich dieſe jungen, dunkeln Augen einmal glaͤnzen wuͤrden. Er wollte ein Heim haben! ein Heim! ſo warm, ſo ſicher — ſo ganz nach ſeinem Sinn. Er wollte ſie verpflanzen, dieſes blumenhafte Weſen. Sie ſollte gedeihen in einer beſſeren Luft, in geſunden Verhaͤltniſſen, bei ihm, im Schutze ſeiner Liebe.
Er wollte ſie einer verzehrenden Zukunft entreißen. Er bachte: „Wenn ich ſie nicht heiratete — was wuͤrde wohl aus ihr? Faͤnde ſich einer, der den Mut haͤtte, ſich mit dieſen Leuten, dem Maͤdel zulieb, zu verſchwaͤgern? Und wenn ſich keiner faͤnde, wurde wirklich dieſe Kunſt fie begluͤcken koͤnnen, bieſe wuͤtende Kunſt, wie ſie ſie auffaßt, die keinen Frieden und kein Genuͤge kennt? Und wenn die Arbeit mit dem Er⸗ folg in keinem Einklang ſtuͤnde? Wuͤrdeſt du die Kraft haben, armes Geſchoͤpfchen?“ dachte er zaͤrtlich, „und Entbehrung und ewige Kargheit?“
O, ſie ſollte es gut haben und er wollte es gut haben. Die zu Hauſe ſollten wahrlich nicht recht behalten mit ihrer Un⸗ zufriedenheit. Wenn ihm Annele nicht beigeſtanden haͤtte, er waͤre mit ſeinem guten Alten wegen dieſer N in Unfrieden gekommen.
So aber war der alte Frieden halbwegs erhalten ges blieben.
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m Hochzeitstag während der Trauungsrede — als ihr der
Geiſtliche mit ernſten, ſchweren Worten kam, mit Worten, die fo ſchroff und feſt wie Felſen ſtanden, fo duͤſter und fremd, die ſie mit dem heitern, harmloſen Weſen, das die ganze Sache bisher fuͤr ſie gehabt hatte, gar nicht in Einklang bringen konnte — da war ſie innerlich erſtarrt vor Schreck und Grauen. Was hatte ſie eigentlich getan? Was fuͤr ein furchtbarer Schritt war das? Weshalb hatte man nicht fruͤher mit ihr ſo geſprochen, als es noch Zeit war? Weshalb nicht? — |
Eine unnennbare nervoͤſe Angſt hatte fie gepackt. Ihr ſchwindelte; durch den weißen, duftigen Schleier, der ihr halb übers Geſicht fiel, ſah fie wie durch einen weißen Nebel die Geſtalten der Hochzeitsgaͤſte, ſah ihre Mutter faſſungslos in Traͤnen aufgeloͤſt, fo haltlos wie immer; das verbluͤffte Geſicht Emils — und Erwins Geſicht, dieſes kraftloſe Geſicht, und Tante Zaͤnglein, die ſich immer amuͤſierte — und die fremden Verwandten.
Kuͤhle Geſichter. — Annele war die einzige, die ſie nicht ſehen konnte. Da war kein Geſicht, das ihr geſagt haͤtte: Komm her zu mir, ich will dich erquicken, ich will dir helfen, — keins.
Der Mann neben ihr? Das war ja das Schreckliche! Wie ſtanden ſie zueinander? Unzertrennlich! — Er gehoͤrte zu ihr fuͤr ewig und ſie zu ihm — und noch nie war er ihr ſo fremd erſchienen. Sie erſchauerte und zitterte und wollte ſich ſtuͤtzen, — aber nicht auf ihn, auf ſich ſelbſt — und ſie hielt ſich feſt und krampfhaft mit eigenen Kraͤften. „Nein, ich will mein eigen ſein“, fluͤſterte ſie unhoͤrbar, unbewußt — und er zog ſie zu ſich heran, weil er mit Schrecken ihre tiefe Blaͤſſe gewahrte, und wieder war es die ſanfte, liebevolle Art ſie zu halten, die ihr dabei Troſt gewaͤhrte. Aber er hielt ſie nun doch als ſein Eigentum, ſo oder ſo.
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Eine unnennbare Furcht hatte fich ihrer bemaͤchtigt, eine Furcht vor allem, was kommen follte — und ein Zorn dars uͤber, wie man ſie hatte hinleben laſſen bisher, wahrhaftig ohne ein einziges, vernuͤnftiges Wort! Nie den Kern beruͤhrt, immer gedankenlos! Und nun kamen dieſe Gedanken, dieſe nie beruͤhrten Gedanken, dieſe dunkeln Ahnungen, dieſe Furcht, dieſes Bangen, durch duͤſtere fremde Worte geweckt. Auf Orgeltoͤnen kamen ſie heran, ſchwer, maͤchtig, erdruͤckend, in wuͤſtem Durcheinander — und ſchwollen an wie Waſſer⸗ wogen, und fliegen ihr bis aus Herz und höher und hoͤher, bis zum Erſticken.
Dann war Stille. — Die Feier war zu Ende, Kuͤſſe und Traͤnen, feierliche, ſachgemaͤße und geruͤhrte Geſichter, ein Weinkrampf der Mama, ſo ein Durcheinander von un⸗ klaren Außerungen aufgeregter Gefuͤhle — und ſie hing am Arm ihres Mannes, der dieſen Arm feſt an ſich gedruͤckt hielt. Es war alles wie ein wirrer Traum, ſo bang, ſo we⸗ ſenlos.
Sie aber wollte eine Gewißheit, eine einzige Gewißheit in dieſem Gefuͤhlsuͤberſchwall, und ſie neigte ſich zum Ohr des tiefbewegten Mannes und fluͤſterte ihm erregt zu: „Eins fag mir — nur das eine: Laͤßt du mich arbeiten? Bleibt's dabei?“ Sie fragte ſo angſtvoll.
„Olly,“ hatte er ganz erſtaunt gefluͤſtert, „Kind! Weißt du jetzt nichts andres; weißt du wirklich jetzt nichts andres?“
„Nein, antworte“, bat ſie flehentlich.
„Arbeite“, ſagte er, „ſo viel du willſt, weshalb nicht?“
Es war nicht, was ſie hoͤren wollte. Das rechte Wort war es nicht. Aber was war das rechte Wort? Sie haͤtte es ſelbſt nicht gewußt. Sie wollte Lebensklarheit — und Lebens⸗ klarheit war ihr nur das eine, ihre Kunſt. Ein Weg, den ſie
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gehen konnte, der fie ihrer Kunſt näher und näher führte — und was hatte fie getan! — Hinderniſſe über Hinderniſſe ſich ſelbſt aufgetuͤrmt, in einem Rauſch des Wohlbehagens. Es hatte ihr das „Geliebtſein“ wohlgetan. Die herbe Luft um ſie her war mit einem Male fruͤhlingsweich geworden; ihr war zumute geweſen, als waͤre ſie durch ſeine Liebe etwas Beſſeres geworden, etwas Zarteres, und das alles, ohne daß ſie ſelbſt dieſe Liebe recht erwidert hatte. Sie hatte ſie geduldet, ſie war ihr angenehm.
Und nun, welche Verantwortung, welcher Schritt! Wie ein Schleier war es ihr von den Augen gefallen. Dumpf, in Gedanken verſunken, ſaß ſie damals neben ihm im Wagen, der fie von der Kirche in die Bluͤtenſtraße zu den Gaͤſten zuruͤck⸗ führte — dumpf und gruͤbelnd, ohne jenes braͤutlich⸗ſuͤße Gluͤck, das ihr junger Gatte in ihrem Schweigen vermutete und anbetete.
Die ſonderbare Frage nach der Trauung lag ihm aber trotzdem ſchwer im Sinn. „Was ſollte das ſein?“ dachte er bei ſich. „Weshalb fragte ſie gerade das und nichts andres? Was dachte ſie ſich wohl dabei?“ Forſchend blickte er auf das ſchoͤne, bleiche Geſchoͤpf neben ſich, das in ſeinem weißen Kleide, wie es ihm ſchien, ſcheu und zaghaft in den Wagen⸗ kiſſen lehnte.
Er ſelbſt hatte ihr den Stoff zu dieſem weißen Kleide ge⸗ ſchenkt und ſie, die kleine Perſon, hatte ihn ſich ſelbſt zu⸗ geſchnitten, dieſen koſtbaren Stoff! Und die flinken, ver⸗ wegenen Haͤnde hatten etwas zuſtande gebracht, was ſo wenig einem ehrbaren ſteif⸗jungfraͤulichen, weiß⸗atlaſſenen Braut⸗ kleide gleichſah — etwas ſo wundervoll Reizvolles, etwas ſo leichtmuͤtig Lebensfrohes, was ſich dem jungen Körper wie zu ihm gehörig anſchmiegte: weite Armel, die im Ruͤcken zuruͤckgenommen waren, die Taille loſe wie nur umgeſteckt, aber das Ganze von einer reizenden Eleganz und Lebens⸗
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freudigkeit — alles, nur kein Brautkleid. Und wie es genaͤht war! Annele hatte ſich daruͤber etwas ausgelaſſen. Kein Menſch außer Olly haͤtte es tragen koͤnnen. Tante Zaͤnglein hatte ſich über den „Lumpen“, als fie es liegen ſah, totlachen wollen, wie es Olly aber trug, ſagte ſie: „Alle Achtung! Aber — aber — aber — aber.“ Weiter hatte ſich Tante Zaͤng⸗ lein uͤber dieſen Fall nicht vernehmen laſſen. Sie hatte be⸗ deutungsvoll das Naͤschen kraus gezogen, mit den Auglein gezwinkert, wie ſie es immer tat, wenn etwas ſie alterierte und zugleich amuͤſierte.
Später aber hatte fie ſich doch nicht enthalten koͤnnen, ihrem Freund Gaſtelmeier bei Gelegenheit zu ſagen: „Haben Sie ſich Ollys Brautkleid angeſchaut? Da ſteht eine ganze Geſchichte dadrin und darum und daran. Leſen Sie nur: — kuͤnſtleriſch. Wenn's gut geht, wird's ein ſehr luſtiger Haus⸗ halt! — und eine Frau, ein Engel von einer Frau, leicht⸗ lebig, lieb, voller Einfälle, ganz koͤſtlich! Wenn's Ihnen glädt, verliebt, und wie verliebt! Ja, ſolche Frauen, wenn ſie erſt erwacht ſind, verſtehen Sie? Aber, aber — Temperament iſt in dem Kleid. Gluͤcksſehnſucht zum Naͤrriſchwerden — kuͤnſtleriſch — das iſt das erſte. All dieſe luſtigen Dinge miteinander verbrennen die Suppe, und Gott gnade der ganzen Geſchichte! — So geht's, wenn's luſtig geht und Geld da iſt; aber der Himmel behuͤt Sie, wenn's nicht luſtig geht. Willen Sie, ich habe ſchon manche Brautkleider geſehen.“ Sie zwinkerte mit dem Augelchen und zog das Naͤschen kraus. — „Aber fo eins!“
Gaſtelmeier hatte noch nie ſo ein allerliebſtes altes Ge⸗ ſchoͤpfchen gekannt. Er ließ fie immer plaudern, ohne fie ernſt zu nehmen. Ihr langer Reiſegefaͤhrte, der mit ihr nach Ita⸗ lien gehen ſollte, um ihr vorzujodeln, nannte ſie das alte Nixerl. Das geſiel Gaſtelmeier.
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amals, als Olly in ihrem Maͤdchenſtuͤbchen das Braut⸗
kleid ablegte, um ſich fuͤr die Hochzeitsreiſe anzukleiden, hatte fie die Tar hinter ſich geſchloſſen. Es war in der Stunde der erſten Mai⸗Abenddaͤmmerung. Ganz gelaſſen ruͤckte ſie ihren Toiletteſpiegel zur Hand, ließ ſich auf einen Stuhl davor nieder und nahm langſam Kranz und Schleier aus dem Haar. Ein Spitzenkragen lag reich gefaltet um ihren Hals und ließ den Anſatz dieſes ſchoͤnen Haͤlschens frei. Sie faltete die Haͤnde ineinander und ſah ihr Spiegelbild an. Das Licht war weich und golden.
„Doch ein herrliches Geſchoͤpf!“ ſagte ſie und war in den eigenen Anblick ganz verſunken. „Schade — das iſt's — ſchade.“ Sie traͤumte und gruͤbelte und ſah unverwandt ſich ſelbſt im Spiegel an. Sie hatte das fruͤher oft ſchon ge⸗ tan und immer in aller Gemaͤchlichkeit, einfach ohne alles Verſtecken. Sie liebte ihr Geſicht, ihre Geſtalt, ihre Haͤnde. — Es war ihr das alles ſympathiſch und ſie hatte ſich dankbar ihrer Schoͤnheit gefreut. Dieſe Schoͤnheit war ihr Eigen⸗ tum. Sie kannte ſie und wußte ſie zu beurteilen. Wie ein Kunſtwerk betrachtete ſie ſich ſelbſt. Fuͤr dieſes Geſicht hatte ſie in ſtillen Stunden alles Gluͤck der Erde zuſammen⸗ getraͤumt. |
Ruhm — das war das erſte. Wie fie danach duͤrſtete! Wie wuͤrden dieſe Augen blicken, dann, wenn das Große geſchehen ſein wuͤrde, wenn Ruhm und Ehre ihr erſt zuge⸗ fallen waren! Ruhm, das, was man Ruhm nennt: von den Menſchen gekannt und bewundert zu ſein! Den einzigen Lohn fuͤr das heiße Streben! Und weshalb nicht? Was waren ſie alle, die mit ihr arbeiteten, die mit ihr begonnen hatten, gegen fie! Sie war ihnen allen voraus, weit vorans. Aber man lebt wie im Traum, die Dinge verwandeln ſich einem vor den Augen wie im Traum — und wie in einem ſolchen Traum war es geſchehen, daß ſie neugierig und leicht⸗ ſinnig hatte verſuchen wollen, wie das Geliebtwerden der
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armen Seele tut — das Geltebtwerden! Und fo war fie dumpf diefem Wunſche gefolgt, Schritt für Schritt, und es war alles in ſchoͤnſter Ordnung vor ſich gegangen und doch alles im tiefſten Traum.
Die dumpfen Orgeltoͤne, die ſchwerwiegenden Worte brauſten ihr immer noch im Kopfe. Die Verantwortung lag auf ihr, die war nicht abzuſchuͤtteln — der nuͤchterne Mann mit der Glatze, den gluͤckſtrahlenden Augen, den fidelen Bez wegungen, der war nicht mehr von ihr fortzudenken. Sie war nicht mehr allein. Schrecklich! Wie es ſie durchrieſelte!
Sie ſchaute unverwandt ihr Spiegelbild an. Wie blaß ſie war! Einen geſpannten Zug um die Lippen, die Augen ſo weich und groß, wie nach Hilfe ausſchauend. Sie beobachtete dieſen Ausdruck wie etwas Fremdes.
Wie unverantwortlich hatte ſie gehandelt, wie toͤricht! Welche Laſt hatte ſie auf ſich genommen, und weshalb?
Es war der Herzenszug nach Zaͤrtlichkeit geweſen, der ſie dazu getrieben — auch dumpf — kaum bewußt.
Sie liebte eine ſuͤße, ruhige Zaͤrtlichkeit. Niemand von den Ihrigen hatte es verſtanden, ihr die zu gewaͤhren. Haͤtte ſie jemand zu Hauſe in der Daͤmmerſtunde an ſich gezogen und ſie zart geliebkoſt, wie man ein Kaͤtzchen auf den Schoß nimmt und ſtreichelt, dann waͤre das Sonderbare nicht geſchehen — vielleicht nicht geſchehen, daß des kleinen Mannes weicher Haͤndedruck, das Von⸗ihm⸗ beruͤhrt⸗werden, als ware fie ein Heiligtum, ihr das Herz geſchmolzen haͤtte.
Aber dieſe Heiligtumszaͤrtlichkeit hatte fie an ihm während ihres Brautſtandes vermißt, dieſe ſchuͤtzende, ſchirmende Zärtlichkeit. Heiße Kuͤſſe, ſtuͤrmiſche Liebe, das war es nicht, wonach ihr Herz verlangte, nein, jener weiche Hauch der Zaͤrtlichkeit, der faſt geiſtig iſt, der Leib und Seele verllaͤrt.
„Unbegreiflich!“ ſagte fle zu ſich ſelbſt. Und jetzt ſah fie ein Aufleuchten in ihren Augen. Das innere Seelenfeuer, das fie wohl kannte, bei deſſen Flackern fie ſich glücklich,
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groß und ſtark gefühlt hatte. Durch alles und aber alles hinaus aus Ziel! Iſt die Laſt des Lebens größer geworden, dann ſoll es auch die Anſtrengung werden, der Kampf auf Leben und Tod.
„Es nuͤtzt dir nichts, du guter Menſch,“ ſagte ſie, „daß wir jetzt nicht nach Paris gehen; du willſt eine echte, rechte Hochzeitsreiſe, und fuͤrchteſt dich, daß eine gewiſſe Olly... Jawohl, wir kennen dich! Das mit Paris verſprachſt du — und haſt's gebrochen, das heißt, du haſt's verſchoben, du kluger Menſch!“ Sie laͤchelte. „Das hilft dir alles nichts. Nach Paris kommen wir noch, und glaub’ ja nicht, daß ich von meinem eigenſten Weg abweiche — nein, nein, mein Junge!“
Da ſtand ſie auf und legte langſam Stuͤck fuͤr Stuͤck ihres Brautſchmucks ab. Laͤchelnd ſah ſie die zuſammengeheftete Taille an, die großen weiten Stiche. „Stimmt,“ ſagte ſie, „leichtſinnig zuſammengeflickt. Rieſig leichtſinnig!“ — Sie legte die Taille achtlos beiſeite. „Aber ſchlecht bin ich nicht,“ ſagte ſie nach einer Weile ernſt, „was ich tun kann, tue ich. Du weißt nicht, was du dir geheiratet haſt, du guter Menſch; aber ſo ſchlimm, wie's werden koͤnnte, ſoll's weiß Gott nicht werden, das ſchwoͤr“ ich dir, hier mit mir allein ſchwoͤr“ ich dir das.“
Das ſagte ſie ernſt und ruͤckte ihren Spiegel beiſeite, um in dem engen Zimmer mehr Platz zum Ankleiden zu bekommen.
ie ſchon geſagt, feierliche und toͤrichte Stunden, Stim⸗ mungen aller Art, zaͤrtliche und wehmuͤtige Flitter⸗ wochenſtimmungen, Verdruß und Verſoͤhnung, auch Lange⸗ weile und Kummer, alles, was ein junges Paar in der erſten Zeit der Ehe durchzuleben hat, lag mit dem erſten Sommer ihrer Ehe hinter ihnen. Sie hatten Erlebniſſe aller Art hinter ſich. Gaſtelmeier meinte, in ſechs Jahren ſei bei ihm bisher nicht ſo viel paſſiert,
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wie in den ſechs Monaten feit feiner Verheiratung, laͤcher⸗ lich viel!
Auf der Hochzeitsreiſe hatte er ſich vorgeſtellt, daß er nach Herzensluſt bummeln wuͤrde und ſie mit ihm; er hatte ſich aber geirrt. Sie hatte angeſtrengt gearbeitet von fruͤh bis zum Abend, Tag fuͤr Tag, unermuͤdlich. Sie waren mit⸗ einander am Morgen mit ihren Malgeraͤtſchaften ausgeruͤckt, und er hatte zum erſten Male im Leben Gelegenheit, den beduͤrfnisloſen, unzerreißbaren Fleiß gewiſſer Frauennaturen zu beobachten, ihr Nicht⸗rechts⸗und⸗links⸗ſchauen bei der Ars beit. Freilich, lieber haͤtte er dieſe Beobachtung nicht gerade jetzt an ſeinem eigenen jungen Weibe gemacht. Unendlich viel lieber waͤre er mit ihr bergauf und bergab vogelfrei in die ſchoͤne Welt gezogen; aber da war etwas, das ſeinen Willen brach, etwas Unbezwingliches. Ein paarmal hatte er es durch⸗ geſetzt: ſie waren miteinander gewandert, aber es war nicht die rechte Freudigkeit dabei geweſen. Sie war auch nicht be⸗ ſonders gut zu Fuß, ermuͤdete ſchnell und ſchien bei allem, was ſie ſah, praͤokkupiert zu ſein. Sie genoß die Natur nicht naiv und einfach, verarbeitete im Geiſte immer, was ſie ſah, und war immer von dem Triebe erregt, wie ſie wiedergeben wuͤrde, was ſie ſah. Sie kannte kein Ausſpannen, kein Ver⸗ geſſen. Wenn ein Weib ſich einer Sache wirklich hingibt, gibt ſie ſich grenzenlos hin. Das liegt in der Natur des Weibes: ſie gibt ſich der Kunſt hin, wie ſie ſich der Liebe hin⸗ gibt, auf Tod und Leben!
Er hatte es ſich nicht vorſtellen koͤnnen, daß Olly dieſe Arbeits⸗ kraft hatte, und doch, wenn er ſah, wie ſie vorgeſchritten war in ihrer Kunſt bei ihrer ruͤhrenden Jugend, ſo mußte er an heiße Arbeitsſtunden, an einen heiligen Eifer glauben. Wie hatte er ſelbſt mit zwanzig Jahren ſich behaglich an das Stu⸗ dieren gemacht! Was war er mit zwanzig Jahren geweſen, was hatte er gekonnt? Mein Gott, wenn er ſich mit Olly verglich! Er hatte arbeiten, aber auch das Leben genießen
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wollen. Das ganze Leben lag damals vor ihm. Er konnte wie ein Verſchwender damit umgehen und hatte es gruͤndlich getan — und hier bei dieſem jungen Weibe war ihm zumute, als arbeite ſie wie ein zum Tode Verurteilter, der ein großes Werk noch zu guter Letzt mit Hangen und Bangen zuſtande bringen will. Ja, ſo war es; er hatte dieſen peinigenden Ein⸗ druck von ihrer Art zu arbeiten. Dabei war ſie liebenswuͤrdig, geduldig, war fein ſuͤßes, kleines Weib. Er fühlte ſich in keiner Weiſe enttaͤuſcht. Er hatte ihr nichts vorzuwerfen. — Doch! Sie war ihm gewiſſermaßen fremd geblieben. Er ge⸗ woͤhnte ſich nicht an ſie. Sie erregte ihn. Sie war das Weib nicht, das in der Perſon ihres Mannes aufgeht.
In der erſten Zeit ihrer Ehe ſagte er manchmal zu ihr: „Wenn ich dich doch einmal ganz haͤtte — deine ganze Seele und deine Gedanken! Ou biſt nicht wie eine verheiratete Frau, ſondern wie ein leichtſinniges Maͤdchen, die im Arme des einen an den andern denkt. Dieſer andre iſt deine Kunſt.“
„Du wußteſt es ja“, erwiderte fie ihm darauf. — —
In München hatten fie ſich ein Neſt eingerichtet, ein Atelier und ein paar Zimmerchen. Sie wollten beide in demſelben Atelier arbeiten ſo lange, bis einmal die Einnahmen reichlicher floͤſſen. Vor der Hochzeit war das Noͤtigſte beſorgt worden, aber erſt nach ihrer Quridtunft von der Reiſe machten ſie ſich daran, das neue Heim behaglich auszuſtaffieren. Olly (chien dies wirklich Vergnuͤgen zu machen. Sie ſtoͤberte alle moͤg⸗ lichen Dinge auf, die andre Leute nie finden, zahlte auch nicht unvernünftig, und Gaſtelmeier war gluͤckſelig, wie klug fie ſich der Sache annahm; aber eilig geſchah alles, fie wirt⸗ ſchaftete von fruͤh bis abends, rannte zu den Antiquaren, es war kein Halten. Es lautete alle Naſenlang, und Dienſt⸗ maͤnner brachten etwas angeſchleppt; es polterte, haͤmmerte unaufhoͤrlich, als ware kein Augenblick Zeit zu verlieren.
„Sag' einmal, mein Schatz, weshalb denn fo eilig?“ fragte Gaſtelmeier.
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„Ja, was meinſt du, wieviel Zeit (oll ich damit verlieren?“ antwortete ſie.
Als aber alles ſoweit fertig ſchien und Gaſtelmeier ganz bereit war, nun behaglich aufzuatmen, kam er nicht dazu. Er hatte auf vollkommene Windſtille gerechnet und wollte es ſich nun in ſeinen vier Waͤnden wirklich gemuͤtlich machen; aber, was es nur war, mit dieſem „ſich gemuͤtlich machen“ ſchien er immer noch warten zu muͤſſen.
Sie hatten noch kein einziges Mal, ſo lange ſie nun daheim waren, etwas wirklich Vernuͤnftiges gegeſſen. — Waͤhrend der Wirtſchaftstage ſchien dies Gaſtelmeier ganz erklaͤrlich, trotzdem er ſich nicht gerade wohl dabei befand. Er war in ſeinem Reſtaurant, in dem er als Junggeſelle geſpeiſt hatte, verwoͤhnt worden. Man hatte fuͤr ihn und einige ſeiner Kol⸗ legen taͤglich ein beſtimmtes Fleiſchſtuͤck auf eine beſondere Weiſe als Vorſpeiſe, wie er es daheim gewoͤhnt war, zubereitet. Er war etwas Gourmet auf ſeine Weiſe und hatte ſich mit der Wirtin auf guten Fuß zu ſetzen gewußt, ſo daß er wirk⸗ lich wohlverſorgt geweſen und gut gediehen war. Seine Zunge war außerordentlich empfindlich und bei dem geringſten Ver⸗ ſehen hatte er ſich dort ganz gehoͤrig beklagt. Dieſer Mittags⸗ tiſch, dem er praͤſidierte, hatte waͤhrend ſeines Regiments einen guten Ruf erlangt.
Olly in ihrer Beduͤrfnisloſigkeit hatte die Kuͤchenfrage ſehr naiv genommen. Zu Hauſe war ſie auch an nichts beſonders Ausgekluͤgeltes und Wohlzubereitetes gewöhnt. Sie hatten es uͤber ſo eine Art „Schlangenfraß“, wie ſie in Muͤnchen ſagen, nie hinausgebracht, eine Art, ſich zu naͤhren, wie ſie in den Familien uͤblich iſt, in denen die Frau keinen Sinn fuͤr Kuͤche und Haushaltung hat. Die meiſten Menſchen koͤnnen bei einem ſo gleichguͤltigen, langweiligen, ſeelenloſen Sich⸗voll⸗fuͤllen⸗muͤſſen gedeihen; aber junge Maͤnner, die beim Eintritt in die Ehe ſich zu ſolch einer traurigen Ernaͤh⸗ rungsweiſe verurteilt ſehen, werden mißmutig, aͤrgerlich,
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unritterlich, die Lebensfreudigkeit wird ihnen ausgeblaſen. Sie haben das beſſere Leben in den Reſtaurants waͤhrend ihres Junggeſellentums kennen gelernt und koͤnnen ver⸗ gleichen.
Olly hatte ſich eine Koͤchin gemietet, ohne viel Federleſens zu machen. Sie ahnte gar nicht, welch wichtiges Geſchoͤpf die Koͤchin im Grunde iff. Die Köchin aber ahnte ſehr bald, daß das Schickſal ſie wohl gebettet hatte, daß ſie Herrin auf ihrem Gebiete war, und daß das kleine Weſen neben ihr im Haushalt nicht viel zu bedeuten hatte.
Olly arbeitete von fruͤh bis zum Abend, nachmittags be⸗ ſuchte ſie einen Aktkurſus, zwiſchendurch griff ſie pflichttren im Haushalt mit zu, — aber wie im Dunkeln und ganz planlos. Sie verſuchte zum Abendeſſen etwas zu kochen, weil die Koͤchin um dieſe Stunde gewoͤhnlich ihren eigenen Intereſſen nachging. Sie hatte eine Idee, ſie wollte ein Ge⸗ richt zuſtande bringen, das ihr vorſchwebte. Da fehlten die Eier. — Mein Gott, und die Köchin war nicht da! — Sie kam auf etwas andres, da fehlte das Mehl.
Sie war muͤde, abgearbeitet. Es haͤtte alles behaglich fuͤr ſie beſorgt ſein muͤſſen, nun mußte ſie ſelbſt ſorgen. Und ſie wußte ſich nicht zu helfen, es wirbelte ihr im Kopf; was fie anfaßte, war nicht in Ordnung. Sie begann zu kochen mit dem, was ſie vorfand, ein Phantaſiegericht, das ſich zu⸗ erſt ganz gut anließ, ſchließlich verkleiſterte oder zuſammen⸗ rann und eine Ahnlichkeit mit Palettenſchaͤbs bekam, der von allen uͤbriggebliebenen Farben, wenn ſie auf der Palette zu⸗ ſammengekratzt werden, ſich bildet; trotz aller ſchoͤnen Cou⸗ leuren, aus denen er beſteht, immer ein unerfreuliches, ſchmutziggraues Gemenge.
Ganz fo ließen ſich ihre Milchs, Fleiſch⸗, Mehl⸗, Kartoffel⸗ und Gemuͤſegehaͤckſel an, die ſie in Abweſenheit ihrer leicht⸗ ſinnigen Koͤchin bereitete, und die ſie manchmal in Schreck und Beſchaͤmung, nachdem ſie traurige Erfahrungen damit
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gemacht hatte, von der Pfanne ab ins Feuer ſchob, wo ihr Gericht als trauriger Klumpen verkohlte, waͤhrend ihr Gatte im Zimmer auf und nieder ging, und ſie einen hoͤhniſch pruͤ⸗ fenden Blick der Koͤchin aushalten mußte, der ihr den Mut benahm, die pflichtvergeſſene Perſon auszuſchelten. Sie ſagte dann nur zaghaft im Gefuͤhl ihrer Unſicherheit: „Ach, bitte, waͤren Sie ſo gut und liefen ſchnell zum Metzger, aber bitte recht ſchnell!“ Sie wagte ſich dann nicht ins Zimmer hinein, bis irgend etwas Eßbares im Hauſe war. Und dabei war ſie ſo muͤde.
Von ihrem dreizehnten Jahre an hatte ſie angeſtrengte Arbeit gekannt. Von dieſer Zeit an hatte man ſie ſtudieren laſſen; ein Freund ihres Vaters, ein bekannter Maler, der das Talent des Kindes entdeckt, hatte ſie ſelbſt ausgebildet. So war ihr das Leben des jungen Maͤdchens voͤllig fremd geblieben. In ihrem Gefuͤhlsleben war ſie Kind geblieben und Kuͤnſtler geworden, rein und leidenſchaftlich.
Das Leben und ſeine Anforderungen verwirrten ſie; ſie hatte in nichts einen Überblick, denn ſie trug die Dinge, die außerhalb ihrer Kunſt ſtanden, nicht mit ſich in den Ge⸗ danken. Sie ſprangen immer wie aus einem Nebel hervor, wenn ſie dicht vor ihnen ſtand, und erſchreckten ſie. Da war das Mittageſſen, das immer herankam, wie ein Schreck⸗ geſpenſt. „Herr Gott, (hon fo ſpaͤt!“ — Was war geſchehen, was nicht geſchehen, was hatte ſie mit der Koͤchin ausgemacht, was nicht? Was gab's? Wie hatte ſie's gemacht? Was hatte ſie alles vergeſſen? Da war ja noch ſo gut wie gar nichts! Was nun? Hundert Fragen und jede Frage ein Schreck — und mitten aus der Arbeit herausgeriſſen! Und ihr Mann? Hatte er nicht ſchon nach der Uhr geſehen? Wes⸗ halb hatte er nichts geſagt? Sie fragte ihn: „Weshalb ſagteſt du nicht, daß es ſchon ſo ſpaͤt iſt?“
„Weil ich das unſinnige Auffahren nicht leiden kann.“ Er war boͤſe. Und alles in Unordnung.
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Die Waͤſche! Das Wirtſchaftsbuch, die Zimmer reinigen! Das Geldausgeben! Die Zeiteinteilung! Das Heizen! Die unendlich vielen Mahlzeiten! All das waren Geſpenſter, die aus dem Nebel ſprangen und fie immer von neuem entſetzten.
Und wie ſie ſich muͤhte und quaͤlte! Dabei malte ſie ihr erſtes Bild nach einem bezahlten Modell, rannte abends in den Aktkurſus und war voller Hangen und Bangen, traͤumte von Ruhm und Gluͤck und ging wie in der Luft vor innerer gluͤckſeliger Arbeitserregung. Emil, ihren Bruder, unter⸗ richtete ſie auch noch und ließ ihn nicht aus den Augen. Sie war die Peitſche fuͤr ſeine Faulheit und ermuͤdete nicht und blieb bei Laune und betete, daß es Gott ihr doch erleichtern moͤchte mit Emil, daß er Eifer und Pflichtgefuͤhl in ihm er⸗ wecken moͤchte, ihm ſo viel Kraft geben moͤge, daß wenigſtens etwas zuſtande kaͤme.
Ja, das waren bewegte Zeiten und kein Wunder, daß Gaſtelmeier nach Ruhe ausſchaute.
nd da war etwas, das in Ollys Seele als unſaͤgliche Bangigkeit aufſtieg, das wie eine dunkle Furcht nachts uͤber ihr lag, wie ein geheimnisvolles Grauen, das ſie ſich aus den Gedanken fortarbeitete am Tag, das ſie im Gebet zu ihrem Gott trieb. „Mein Gott, mein Gott! Nein — nein, noch nicht!“ Und heiße Traͤnen floſſen deshalb, heiße, verſteckte Traͤnen. Niemand ſollte fragen duͤrfen. — Schweigen, ſchweigen. — Sie arbeitete doppelt angeſtrengt. — „Wie ein zum Tode Verurteilter“, dachte Gaſtelmeier wieder. Ja, ſie arbeitete in Angſt und Bangen. Gaſtel meier ſelbſt mußte (ich geſtehen, vor⸗ trefflich, uͤberraſchend. Aber er geſtand es ſich ſchweren Her⸗ zens, halb unwillig, und Olly empfand, daß er nicht mit ihr lebte. Das freilich hatte ſie noch nie von einem Menſchen verlangt. Ihr Gluͤck, ihr eigentliches Leben lag in der Zukunft.
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Dann, wenn der Ruhm fam, dann, dann — dann wollte ſie leben.
— Aber jetzt — da war nur ein Gedanke und der erdruͤckte ihr die Seele. Sie fuͤrchtete — glaubte — ahnte und es wurde ihr mehr und mehr zur Gewißheit.
nd es kam ein Abend, da ſaßen fie miteinander im noch
nicht erhellten Zimmer. Das Feuer kniſterte im Ofen. Draußen ſchneite es, und ſie hockte zuſammengekauert in der Sofaecke. Sie war aus der Stadt gekommen durch Schnee⸗ geſtoͤber, aus dem Aktkurſus. Wie atemlos ſie gearbeitet hatte — und wie muͤde ſie war! Kalt, durch und durch kalt, die Fuͤße naß, und ſie hatte nicht die Kraft Struͤmpfe und Schuhe zu wechſeln. Sie fuͤhlte ſich krank und ganz unter dem Oruck einer Bangigkeit, die ſie nicht bezwingen konnte. Gaſtel⸗ meier ſaß am Fenſter.
„Olly, haſt du deine Schuhe gewechſelt?“ fragte er.
„Nein.“
„Weshalb nicht?“
„Ich bin ſo muͤde“, ſagte ſie und fing zu weinen an.
Da war er bei ihr. „Was iſt denn, mein armes Kind?“ fragte er und kniete vor ihr nieder.
Ja, jetzt kniete er, wie ſie es ſich einmal vorgeſtellt hatte, und ſie ſah gerade auf ſeine Glatze, die im Daͤmmerlicht glaͤnzte; das kam ihr komiſch und oͤde und langweilig vor — troſtlos mit einem Male.
Er faßte ihre Fuͤße an. „Wie naß!“ ſagte er. „Komm, ich zieh“ dir deine Schuhe aus.“
Sie ruͤhrte ſich nicht und er knoͤpfte ungeſchickt die Stiefe⸗ lettchen auf, zog ihr die naſſen Struͤmpfe von den Fuͤßen und befuͤhlte die eiskalten Fuͤße. Er rieb ſie, holte eine Decke und wickelte die Fuͤßchen hinein. „Komm, leg dich doch be⸗ quemer“, ſagte er.
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Er blieb vor ihr knien und ſtreichelte fie, und es war, als wenn er ſprechen wollte. Er ſagte aber nichts und es verging eine Weile, waͤhrend der es ganz ſtill im Zimmer war, nur das Steinkohlenfeuer kniſterte leiſe. Endlich (chien er zu dem, was er ſagen wollte, gekommen zu ſein. Er bog ſich ganz uͤber ſie hin, ganz zu ihrem Ohr. „Olly, kleine Frau,“ ſagte er, „verſchweigſt du mir etwas — etwas — Olly, etwas?“
Er war ſehr bewegt und hielt ſie wie damals ſo liebevoll und zart, als wäre fie ein Heiligtum. Er fluͤſterte ihr wieder ins Ohr. Da brach ein Traͤnenſtrom aus Ollys Augen, ſo gewaltſam und heiß und ſchmerzvoll, und er bekam keine Antwort; ihr ganzer Koͤrper war erſchuͤttert, und er faßte ihre Haͤnde und fragte noch einmal dieſelbe Frage und bekam eine ſtumme Antwort, die ihn ganz verwandelte.
„Olly,“ rief er gluͤckſelig, „nun wird alles gut!“ Er ſtrahlte, wie das gewoͤhnlich iſt bei dem erſten Wunder, und hielt ſie in ſeinen Armen an ſich gedruͤckt, ohne darauf zu achten, daß das Geſchoͤpf, das ihn eben mit einem Kopfnicken fo begluͤckt hatte, ſich in Jammer und Angſt und Lebensverwirrung Leib und Seele zerquaͤlte.
Wie ſollte es werden? Sie fuͤhlte ſich ſo hilflos, ſo macht⸗ los. Die ſchweren, erdruͤckenden Worte am Traualtar brauſten ihr wieder wie Orgeltoͤne durch den Kopf. Es uͤber⸗ ſtieg alles ihre Kraͤfte. Jetzt ſchon! — Das Leben draͤngte ſich fo uͤbermaͤchtig ein und trieb fie in die Enge, aus ihrem Paradies, aus der Luft, in der ſie allein leben konnte. Sie ſah nur Ungluͤck und Troſtloſigkeit, Kampf und Qual — und Gaſtelmeier war gluͤckſelig, ſchwatzte auf ſie ein und war kreuzfidel. Sie wendete ſich ab. Er tat ihr leid und kam ihr ſo komiſch vor. Er mißfiel ihr. Dann dachte ſie wieder: „Er iſt ein armer Menſch!“
Sie dachte das alles in einer unſinnigen Erregung. Und dieſe ſelbe Nacht erkrankte ſie ſchwer.
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Sechſtes Kapitel
¢ ie Seele des Geſchoͤpfchens, das ſich dem irdiſchen Jammertale hatte zuwenden wollen, war zuruͤckge⸗ ſchauert und vor ihrer Erdenwanderung behuͤtet worden.
Olly lag krank und matt in ihren Kiſſen. In der erſten Zeit hatte ſie das dumpfe, druͤckende Gefuͤhl, als haͤtte ſie das Daſein dem Geſchoͤpfchen nicht gegoͤnnt. — Sie war dabei, ſich in ſchmerzliche, uutzloſe Gefühle krampfhaft hineinzu⸗ ruͤtteln. Aber nein, nein, das ſollte nicht Macht uͤber ſie be⸗ kommen. Die Gedanken wurden wieder frei und ruhig. Es war gut ſo.
Es ſtand ihr klar vor der Seele, wie ſie von der bangen Er⸗ wartung zu Boden gedradt war, wie fie ſich fo ſchwach, fo hilflos, ſo unfaͤhig gefuͤhlt hatte, wie ihr die Anforderungen des Lebens wie Waſſerwogen uͤber den Kopf zuſammen⸗ zuſtuͤrzen gedroht haͤtten. Sie empfand, wie alles elendes Stuͤckwerk geworden waͤre — alles.
Jetzt hatte ihr das Schickſal Zeit gegoͤnnt. Wie wollte ſie dieſe ausnuͤtzen! Ehrlich und ernſt in allen Dingen, und er ſollte auch nicht ſo viel Grund haben, uͤber ſie zu klagen, nein, ſie wollte lernen. Und ihre Arbeit? Welches Feuer, welche Freudigkeit, welche Sehnſucht lebte doch in ihr! Sie war ſo ganz erfuͤllt und ganz Ungeduld, wieder zu beginnen. Er, der gute Menſch, war niedergedruͤckt, er hatte ſich ſo gefreut, und konnte ſich nicht genug tun, zu troͤſten und immer wieder zu troͤſten, war voller Aufmerkſamkeit und Ruͤckſicht und Zartheit. Olly nahm den Troſt wortlos hin, ſie fuͤhlte, er konnte ſie nicht verſtehen, wenn ſie ihm ſagen wuͤrde, wie ſie empfand. Weshalb ſollte er ſie denn auch verſtehen? Sie verlangte das von keinem Menſchen. Sie war noch immer ganz davon uͤberzeugt, daß einer den andern eben nicht ver⸗ ſteht, daß jeder Menſch im Grunde einſam lebt. So litt ſie nicht unter dieſem Schweigen und Verſchweigen.
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Sie gehoͤrte noch nicht zu den Unverſtandenen, die ſich herumquaͤlen und die noͤrgeln, weil ſie wollen, daß andre voll⸗ kommen die Wichtigkeit ihrer Seelenzuſtaͤnde mitempfinden. Sie war noch kein ſo armſeliges Toͤpfchen, das glaubt, die ganze Welt muͤſſe es beſchauen wie einen ſpeienden Krater, und das enttaͤuſcht und wuͤtend iſt, wenn es ganz unbemerkt uͤber ſeinem Feuerchen ziſcht und brodelt. Sie war wie ein Bach, der noch nie uͤber ſeine Ufer getreten iſt.
In ihrem Verſchweigen aber lag noch etwas andres: Sie hatte das beſtimmte Gefuͤhl, daß, wenn ſie ihm alles ſagen wollte, er ſie fuͤr ſchlecht halten wuͤrde und ſie ihm nicht be⸗ greiflich machen koͤnnte, daß dem nicht ſo ſei.
Annele war waͤhrend Ollys Krankſein gekommen, um die Wirtſchaft zu fuͤhren. Gaſtelmeier hatte ſie darum gebeten. Es war behaglich und friedlich, als waͤre ein guter Geiſt im Haus. Gaſtelmeier wurde wieder ganz vergnuͤgt, es ſchmeckte ihm gut. Annele kochte heimatliche Gerichte. Gaſtelmeier ſprach mit ihr wie mit einem guten Freund, er ſchuͤttete ihr ſein Herz aus. Er ſprach uͤber Olly, wie es ſo oft unbehaglich bei ihnen ſei, wie ſie fuͤr nichts als fuͤr ihre Malerei Sinn habe und eig entlich gar nichts andres verſtaͤnde.
„Und ſiehſt du, Annele, ich hab“ auch geglaubt, daß ſie jetzt viel trauriger (ein: wuͤrde.“
Annele hatte ihn ruhig und ernſt angehoͤrt. Sie ſtanden miteinander im Atelier in der Daͤmmerſtunde. Ollys Staf⸗ felei war beiſeite geſchoben und Gaſtelmeier hatte eine ſeiner ſimpeln kleinen Landſchaften auf der ſeinigen ſtehen, eine jener Landſchaften, die er immer ungefaͤhr aͤhnlich wiederholte und fuͤr die er immer Abnehmer fand.
„Friedel“, ſagte Annele. „Wie haſt du dir denn nur alles gedacht, was meinſt denn? Was fuͤr ein Wunder ſoll eigent⸗ lich ein Frauenzimmer ſein?“
„Na, wie denn?“ fragte er. „Was verlang’ ich denn? — — Ein Wunder?“ f
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„Du haſt ja gewußt, daß fie Malerin tft, und du warſt ſelbſt ganz erſtaunt daruͤber, was ſie konnte. Du, mit zwanzig Jahren, warſt denn du ſo weit?“
„J wo“, ſagte Gaſtelmeier. „Olly tft fleißig wie eine Ver⸗ zweifelte. Wahrhaftig, man kommt außer Atem, wenn man ihr nur zuſchaut.“
„Wenn du mit zwanzig Jahren fo weit wie Olly haͤtteſt ſein ſollen,“ unterbrach ſie ihn, „und dann noch eine gute Koͤchin und ein Haus in Ordnung halten — und denk' doch — in allen Stuͤcken fir und fertig — ſtell dir's vor. Und jetzt jammerſt du noch, daß ſie nicht traurig genug iſt! Geh mir! überleg“ doch. Kinder gibt's genug, aber net viel Eltern. Mein Gott, was wart denn ihr für Eltern fürs erſte?“
„Friedel, ſei vernuͤnftig!“ fuhr Annele fort, „ſchau, uns oben in Rohrmoos waͤr's hart, wenn du net gluͤcklich waͤrſt, aber ein biſſel Klugheit gehoͤrt dazu, ganz aus heiler Haut kann eins net gluͤcklich ſein.“
„Jetzt kommt's wieder drauf hinaus, daß du mich fuͤr einen Eſel haͤltſt“, ſagte Gaſtelmeier.
„Ah geh!“ meinte Annele; „aber ich weiß ſchon, uͤber uns denkt ihr Mannsleut einfach nicht nach. Ein Frauenzimmer muß immer etwas Fertiges ſein, weißt du; daß es halt nach und nach wird, wie ihr auch, faͤllt euch net ein.“
„Was du da ſagſt, iſt ſo ohne nicht“, war Gaſtelmeiers Antwort. „Du biſt ein geſcheites Maͤdel, Annele, aber ich mein’ ſchon, ernſt biſt du geworden, du biſt der Fratz von ehedem nicht mehr.“
„Du, Friedel, ein Fratz war ich nie. Ich bin immer ſehr ruhig geweſen, ſoviel ich weiß.“
„Ruhig, ja, aber heiterer, ſo wie die ſchoͤnen, ſtillen Tage in Rohrmoos.“
„Gerade ſo wahrſcheinlich,“ ſagte ſie, „denn ich bin ein Stuͤck von Rohrmoos geworden. Man wird ſo, wie die Um⸗ gebung iſt, in der man lebt.“
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„Mein Gott,“ ſagte Gaſtelmeier, „da werde ich mit der Zeit ein kleiner Privatrangierbahnhof werden.“ Er erzaͤhlte Annele, wie Emil, ſein Schwager, Ollys Familie getauft hatte, und fragte ſie, ob ſie ſich erinnerte, wie er ihr den Rangierbahnhof, neben dem er gewohnt, damals beſchrieben habe.
„Ja“, ſagte ſie ernſt. „Ich ſelbſt hab“ dich damals gebeten, fortzuziehen.“
„Jawohl. Siehſt du, ſo einen kleinen Rangierbahnhof machen wir uns hier wieder zurecht, ſo einen Ableger von dem aus der Bluͤtenſtraße. Bei uns gibt es, gerade wie in der Bluͤtenſtraße, immer etwas zu bereden und zu rangieren. Da gehen wir im Zimmer auf und ab, gerade wie die ſeelen⸗ volle Mama und ihr Erwin und Emil und Olly fruͤher da⸗ heim — und rangieren. Das heißt: bereden und beſchließen, das Leben von vorn anzufangen, oder wir bereden und ran⸗ gieren eine wundervolle Zeiteinteilung, die nie eingehalten wird; immer faſſen wir allerhand Entſchluͤſſe und beſchließen, alles anders zu machen wie bisher, und ſind ganz geruͤhrt und voller Hoffnung, wollen zu allererſt immer die Koͤchin fortſchicken. Von allen Dingen aber geſchieht nichts, als daß wir eben rangieren — immer wieder rangieren — und weißt du, ganz wie in der Bluͤtenſtraße. Ich kann es ſchon ganz gut — ſcheußlich!
„Weißt du, wenn wir Geld genug haͤtten und die arme Olly koͤnnte im langen, weißen Kleid hier ſtehen und malen, und ich koͤnnte ihr den Arm geben und ſie zur Zeit zu Tiſche führen, und der Diener ſtaͤnde da und riß die Flageltdren vor uns auf — Olly koͤnnte wie ſo ein ſchoͤner Engel ganz im Jenſeits leben, weißt du, ſo wie es ſich eigentlich fuͤr ſo ein Geſchoͤpf gehört. — Herr Gott im Himmel, das ware mit ihr ein Leben! Du ahnſt gar nicht, wie reizend ſie iſt.
„Weißt du, zwei ſo lange, weiße Kleider hat ſie ſich machen laſſen, ſie wollte daheim immer weiß gehen. Haben wir aber wegen dieſen Kleidern rangiert! Sie kam nie damit zu⸗
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ſtande. Sie waren immer beide ſchmutzig. Die Köchin wuſch ſie ihr nie zur Zeit und benahm ſich uͤberhaupt immer, als waͤre es eine Frechheit von uns, zu verlangen, daß die langen Kleider gebuͤgelt und gewaſchen ſein ſollten. Sie tat es ein⸗ fach nicht, vergaß es abſichtlich. Dann haben wir verſucht, ſie bei einer Waͤſcherin waſchen zu laſſen, das wurde zu teuer; dann ſind wir noch auf chemiſche Waͤſche gekommen, das erſt! Es ging auf keine Weiſe. Jetzt liegen ſie irgendwo. Ich haͤtte es ihr gar zu gern gegoͤnnt, daß es uns gelungen waͤre. Wenn ſie ſo neben mir im Atelier ſtand, ſo weiß und zart, und ar⸗ beitete, weißt du, mit einem Eifer, da war mir's immer zu⸗ mute, als ſollte ich aufſtehen und ihr den Kleiderſaum kuͤſſen oder die Lockenſpitzchen. Es hat mir gar keine Ruhe gelaſſen, es war etwas zu ungewohnt Suͤßes.“
Annele hörte ihm ſtill zu, dann ſagte fie: „Was ich euch helfen kann, das tu ich gern. Eh“ ich geh', muß ich euch wenigſtens eine andre Köchin finden.“
„Ans Gehen denkſt du doch noch nicht, Annele?“
„Bald“, ſagte ſie. „Sie brauchen mich oben.“ Ein leichter Seufzer bewegte ihre Bruſt, ſo ein Seufzer, der aus einem ſtarken, ſtillen, wehen Herzen kommt.
„Schade,“ ſagte Gaſtelmeier, „ſchade.“
Df svete hatte wirklich die kleine Wirtſchaft der beiden in eine einfache, gute Ordnung gebracht, ganz ſtill und unmerk⸗ lich, hatte eine neue Koͤchin eingeſetzt, Olly Ausgabebuͤcher eingerichtet, ihren Waͤſcheſchrank aufgeraͤumt, die Speiſe⸗ kammer bequem hergerichtet, die Schluͤſſel fuͤr die ver⸗ ſchiedenen Schraͤnke mit kleinen Etiketten verſehen und an einen Ring angereiht. Sie hatte ihr eine Tafel zum Waͤſche⸗ aufſchreiben auf den Schreibtiſch gelegt, den Griffel daran gebunden. Ja, ſie hatte ihr einen Speiſezettel fuͤr den ganzen Monat gemacht, den ſie immer nur bis auf einige Anderungen
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umzukehren brauchte, und fie hatte der Köchin ausführlich Anweiſungen gegeben. Olly war ihr fo dankbar und vers ſprach ihr, alles heilig zu halten.
„Tu das, Olly,“ hatte das Mädchen zu ihr geſagt. „Mach' ihn gluͤcklich. Er iſt ein guter, guter Menſch.“ Sie hatte das ſo weich und ernſt geſagt, daß Olly ihr unwillkuͤrlich in die Augen blickte; die waren aber ruhig und klar, wenn auch keine frohe Augen. Sie waren ſo verſtaͤndig.
Und erſt in der Einſamkeit, als ſie im fortrollenden Coupé ſaß, wurden dieſe verſtaͤndigen Augen unverſtaͤndig, wie das arme Herz es wollte, und weinten heiße Traͤnen unter fremden Leuten.
s ſchien wirklich, als waͤre ein guter Geiſt im Hauſe geweſen und haͤtte Segen gebracht. Es war etwas mehr Frie⸗ den, alles ging glatter und ruhiger. Olly war gut und liebens⸗ wuͤrdig wie ein Kind. Wie ſie zum erſten Male wieder an ihre Staffelei trat und ihr Modell in die Stellung gebracht hatte, wie vor einigen Wochen, hatte ſie die Augen voller Traͤnen. Sie wußte ſelbſt nicht, weshalb eigentlich, ſie war ſo froh, wieder zu beginnen, ſo ergriffen, und das Gefuͤhl, mit ganzer Kraft weitergehen zu duͤrfen, dem Ziele zu, erſchuͤt⸗ terte ſie. Doch ſie fuͤhlte ſich noch immer nicht recht wohl. So kam Weihnachten heran. Sie hatte eine Woche vor Weihnachten ihre Arbeit wieder begonnen, und in dieſer Woche war ein Porträt, vielmehr eine Studie von ihr, in den Kunſtverein geſchickt, zum erſten Male — Tante Zaͤng⸗ lein hatte ihr dazu Modell geſeſſen. Ein altes Weibchen im daͤmmerigen Zimmer am Fenſter. Tante Zaͤnglein kehrte dem Fenſter den Ruͤcken zu und das Licht floß an ihr gewiſſer⸗ maßen voruͤber, ſie nur ſtreifend. Das Geſicht lag zu ihrem großen Arger ganz im Schatten. Außerdem waren noch ein paar kleinere Arbeiten von Olly hingeſchickt, die ſie auf der Reiſe im Freien gemacht hatte
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und von denen ihr alter Lehrer gewuͤnſcht hatte, daß fie fie ausſtellen ſollte. Er war ſehr zufrieden damit geweſen.
Olly war die ganze Zeit uͤber in innerſter Aufregung. Es war das erſtemal, — die erſte Verbindung zwiſchen ihr und der Welt. Sie wollte dieſe Erregung nicht zeigen, aber ſie klopfte ihr in den Adern, ſie ließ ihr keine Ruhe, ſie fand keinen Frieden bei der Arbeit. Sie war ganz ruhelos und machte ſich allerlei im Hauſe zu tun.
Gaſtelmeier beobachtete ſie und ſagte ſich: „Jetzt hat ſie Angſt und quaͤlt ſich, das arme Ding.“ Zu ihr ſagte er: „Weißt du, ftell’ dir nur net vor, daß mit dieſer Ausſtellerei jetzt irgend etwas herauskommt, das iſt grenzenlos wurſcht, ob einer davon kraͤht oder nicht kraͤht, ob er gut kraͤht oder da ſchlecht kraͤht.“
„Gewiß“, ſagte Olly, aber ſie ſagte es nur. Sie haßte ſich ſelbſt, daß ſie ſo albern war. Sie fuͤhlte ſich unſinnig erregt.
„Erzaͤhl' mir, was deine Freunde von den Sachen meinen“, ſagte ſie einmal wieder.
„Weißt du, wenn wir zuſammenkommen, ſimpeln wir grundſaͤtzlich nicht Kunſt“, antwortete Gaſtelmeier. „Und ehe fie ſich um die Arbeit von einem Frauenzimmer kuͤmmern, ja, das ſtellſt du dir ganz anders vor. Wenn einer uͤber⸗ haupt was fast, iſt's hoͤchſtens: ‚Gaſtelmeier, die Dinger von deiner Frau find net abel‘ — das tft viel, ſehr viel ſogar! — Ich glaub' nicht, daß das einer ſagt, aber moͤg⸗ lich iſt s.“
lly ging am Morgen des heiligen Abends mit Emil aus. Sie wollten miteinander einen Weihnachtskarpfen kaufen — und ſie ging hauptſaͤchlich, um ſich zu zerſtreuen. Sie kauften einen wundervollen Goldkarpfen, groß und ſchwer, und trugen ihn in einem Marktnetz nach Hauſe, denn ſie hatten nicht gewollt, daß der Fiſcher vor ihren Augen das Tier
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tötete. Emil trug ihn und der Karpfen ſchnickte hin und wieder ganz gewaltig, immer unvermutet. Gewoͤhnlich lag er ſtill und gekruͤmmt in ſeinem Netz.
Auf dem Marienplatz ſtanden die Weihnachtsbaͤume auf⸗ gereiht, ein ganzer Wald. Weihnachtsduft, eilende Menſchen, Schnee auf den Daͤchern.
„Olly, jetzt machſt du auch Geſchichten, zu Weihnachten auszuſtellen, das haͤtteſt du auch nicht gebraucht; aber du biſt wenigſtens nicht wie Erwin und Mama“, ſagte Emil auf feine brummige Weiſe. „Heut“ find fie daheim wie des Kuckucks, ſeit fle am Morgen in den ‚Neueften‘ über dich das geleſen haben. Gottlob, daß du nicht wie die andern biſt. Dir ſcheint's wenigſtens wurſcht zu fein.”
„Was denn?“ ſagte Olly wie erſtickt. Sie hatte heute nach der Zeitung gefragt, aber ihr Mann hatte ihr geſagt, daß ſie nicht gekommen waͤre. Er wußte alſo — er hatte es ihr verheimlicht. — Da war es gekommen.
„Weißt du's gar net?“ fragte Emil und ſah ſeine Schweſter an, der die Qual, die ſie litt, in den Augen geſchrieben ſtand. „J wo, du wirft wohl außer dir fein wegen fo einer Lum⸗ perei! — Gar net.“
Olly war ſtehen geblieben, ihr ſchwindelte, ſie ſagte kein Wort, ſie fragte nicht, ſie ging unwillkuͤrlich weiter. Wes⸗ halb ſollte ſie fragen?
Wie ihr auf einmal die Kaͤlte bis ins innerſte Mark ging! Wie troſtlos war alles — ſo winterlich, ſo tot, das Hetzen der Leute, der Laͤrm auf der Straße — alles haͤßlich! Und wie ſie fror!
Am Karlstor ſagte ſie, nachdem ſie bisher ganz ſtumm gegangen war: „Wir wollen einen Wagen nehmen.“
„Meinetwegen, wenn du ſo uͤppig ſein willſt.“ Und ſie ſtiegen mit ihrem Fiſch ein.
„Deine Lippen ſind ganz weiß“, ſagte Emil.
„Albern.“
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„Doch.“
„Nein,“ fagte Olly, „es tft mir ganz gleichguͤltig. Mögen fie ſagen, was fie wollen, meinetwegen. Haͤßlich if’ oft genug, was ich mache, abſtoßend, aber es lebt — ja es lebt eben, — da moͤgen ſie ſagen, was ſie wollen.“
„Affektiert , gemacht (ager fie”, brummte Emil.
Da fuhr Olly auf und dicke Traͤnen ſtanden ihr in den Augen. „Das iſt's nicht!“ rief fie. „Sie werden es (hon ſehen! das, das iſt's nicht! Aber die Gaͤnſe im Atelier haben es auch geleſen. Die werden eine Freude haben — die .. Die goͤnnen's mir.“
„Verflucht! Verflucht! Verflucht! Verflucht!“ platzte jetzt Emil heraus und er ſchlug ſich mit der einen Hand aufs Schenkelchen, mit der andern hielt er den Fiſch im Netze feſt. Er dachte, daß Gaſtelmeier nicht ſehr erbaut ſein wuͤrde, daß er Olly die Geſchichte verraten hatte — und die Gaͤnſe im Atelier aͤrgerten auch ihn.
„Weißt du, ein andermal gelingt's beſſer. Na — na — ich meine, gelingt's beſſer, du weißt ſchon, dem Eſel, der kritiſiert hat! Es kommt vielleicht ein andrer dran. Erwin hat heute morgen in der erſten Wut hinſtuͤrzen wollen, ich weiß nicht, er wollte Skandal machen. Mama wollte auch hin, ſie wollte auch Skandal machen. Sie waren ganz deſperat — verruͤckt. Ich habe immer dazwiſchen ſchreien muͤſſen. Sie ſind uͤbrigens nicht dort geweſen. Sie wußten nicht wohin — und fo aufs Geratewohl auf die Straße laufen. Na — und Tante Zaͤnglein kam auch dazu und hat ſich uͤber die ganze Wirtſchaft wieder einmal amuͤſiert und ſagte immer: „Das kommt davon, weshalb hat fie mein Geſicht nicht mit gemacht! Das iſt freilich geſucht, einen Menſchen zu malen und mein Geſicht ins Dunkel zu ſtecken, gerade als wenn ich mich ſchaͤmte, mein Geſicht ſehen zu laſſen. Ein nettes Portraͤt ohne Geſicht. Meine Bekannten, denen ich geſagt hatte, ich waͤre auf der Kunſtausſtellung zu ſehen, haben ſich
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auch gar nicht genug verwundern Finnen!‘ — Tante Zaͤng⸗ lein war ganz aufgebracht.“
Emil erzaͤhlte die komiſche Seite von der Geſchichte. Er wußte, wie ſehr Olly das Komiſche liebte. Aber iſt einmal die Wunde geſchlagen, ſo iſt ſie geſchlagen, da iſt nichts zu machen; auch wenn man den Schmerz verbeißt und laͤchelt — er iſt einmal da, und die Bewegungen ſind ſchmerzbeladen, und es iſt nicht wie ſonſt.
Es war nicht gutzumachen, das fuͤhlte auch Emil, als er ſeine Schweſter anſah. „Verflucht! Verflucht! Verflucht! Verflucht!“ Sie ſah ſo elend aus, ſo zart, ſo arm. Erwin und Mama hatten ihm eigentlich noch nie recht leid getan, wenn ſie bei einem Mißerfolg Geſchrei machten, aber hier, das ſtumme Weh, ging ihm zu Herzen.
„Na da halt Ruh“, ſagte er zu ſeinem Fiſch, weil er ſonſt nichts zu ſagen wußte.
Daheim erzaͤhlte er Gaſtelmeier, was er angerichtet, und er zeigte ihm auch den Fiſch.
„Da weiß ſie's alſo, und grad zu Weihnachten! Verflucht! Verflucht!“
Er hatte dieſen ſchoͤnen Gefuͤhlsausdruck Emil unwill⸗ kuͤrlich abgelernt und gebrauchte ihn im ſelben Augenblick, als auch Emil ſich wieder feiner bedienen wollte, Beide ſahen ſich verſtaͤndnisvoll an. Dieſe Schwaͤger kamen uͤberhaupt gut miteinander aus.
„Wir reden nicht mehr davon, wenn fie nicht anfängt“, ſagte Gaſtelmeier.
Sie fing nicht an, benahm ſich, als waͤre nichts geſchehen. Den Fiſch ließen ſie in einem großen Waſſerſchaff ſchwimmen, in dem es ihm ſehr wohl zu ſein ſchien. Auch ſah er wunder⸗ huͤbſch darin aus.
Als die Koͤchin ihn abſchlachten wollte, verbot Olly dies. „Nein, er ſoll leben“, ſagte ſie.
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„Na und?“ fragte die Köchin und lachte und dachte bet (id: „Die ſpinnt einmal wieder!“
„Nimm gruͤne Heringe, das ſind auch Fiſche“, ſagte Emil, der in der Kuͤche gerade beim Karpfen war.
„Alſo bringen Sie gruͤne Heringe“, ſagte Olly.
„Da heißt's aber laufen, Koͤchin,“ meinte Emil, „die kriegt man ſpaͤter nicht mehr, ich weiß ſchon, wir haben ſie immer gewollt, aber nie bekommen. Laufen Sie ſchnell!“ Er ſpritzte ſie mit dem Karpfenwaſſer gewiſſermaßen zur Kuͤche hinaus.
Emil war ſehr familiaͤr und flegelhaft mit jeder Koͤchin, die ſie daheim gehabt hatten. Das machte, er war immer der Kamerad der Koͤchin geweſen, er als der Wirtſchaftlichſte im Haus, und dann ſah er in den Koͤchinnen Geſchoͤpfe, die zu ſeinem Gaudium da waren. Er ſpielte ihnen allerhand Streiche, ſpritzte ſie mit Waſſer, warf ihnen die Aſche in die Kuͤche, die Kohlen die Treppe herab, wenn ſie den Kohlen⸗ kaſten den halben Tag vor der Korridortuͤre ſtehen ließen, ſchrieb ihnen Ungezogenheiten mit Kreide auf den Kuͤchen⸗ tiſch, rahmte langbewaͤhrte Eierflecken auf Toͤpfen und Taſſen mit Tinte ein und ſchrieb das Datum, an dem ſo ein Fleck entſtanden war, darunter. Oder er legte einen großen Zettel unter ſchlecht abgewaſchene Taſſen, Schuͤſſeln oder Toͤpfe und ſchrieb darauf: „Dieſe Toͤpfe find ungebraucht!!!“ Dar⸗ unter ſchrieb er: „Reinlichkeit!!“ dick unterſtrichen, und: „Laſſen Sie den Zettel liegen, den brauch“ ich doch noch ein paarmal.“
Er war der Gefuͤrchtete bei den Koͤchinnen geweſen, ohne ihn wäre die Wirtſchaft in der Bluͤtenſtraße odllig in ſich zuſammengefallen.
Auch jetzt brachte die Koͤchin richtig die gruͤnen Heringe zum heiligen Abend. Sie war aber ſehr ſchlechter Laune. „Was iſt das fuͤr ein Weihnachten“, ſagte ſie zur Koͤchin von der untern Etage. „Meine Gnaͤdige ſcheint an nix zu glauben.
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Backen hat (’ net laſſen, für die ganze Weihnachten net. Gruͤne Heringe haben wir am Abend, ſonſt nix.“ Einen Weih⸗ nachtsbaum hatten ſie, den zaͤhlte die Koͤchin nicht mit, und Olly putzte ihn am Nachmittag ſtill und gleichguͤltig auf.
Ja, wenn man den Schmerz verbeißt, den eine Wunde uns macht und wenn man auch laͤchelt und ſpricht, die Bewe⸗ gungen bleiben gehemmt und ſchmerzen faſt und es iſt nicht wie ſonſt. Welche Muͤhe hatte ſie, das Baͤumchen zu putzen, wie ſchwer wurde es ihr, wie lang dauerte es — und wie muͤde — wie muͤde! Es lag ihr wie Blei in den Gliedern.
Eine Redensart ihrer Mutter kam ihr nicht aus dem Kopf. Jedes Nein iſt Ungluͤck, jedes Ja iſt Gluͤck. Sie hatte das nie leiden koͤnnen. Doch war es ſo. Wie hatte ſie dieſes Niedergedruͤcktſein, dieſes Verzweifeltſein daheim gehaßt, wie erbaͤrmlich war's ihr erſchienen! Nun lag es auch ihr in den Gliedern, — wie ein Fluch.
So ein boͤſer Anfang zum Ruhm. Wie hatte ſie ſich immer frei und ſtolz gefuͤhlt, ſo unantaſtbar! Mißerfolge, mein Gott, die waren naturlich. Sie hatte immer damit gerechnet. Sie hatte die andern verurteilt, die ſich einen voruͤber⸗ gehenden Erfolg oder Mißerfolg ſo zu Herzen nahmen, daß ſie blind und taub fuͤr alles um ſich her wurden, und nun war ſie gerade ſo, beim erſtenmal gleich! Sie war wie in einen grauen Nebel geraten. Jawohl, uͤber etwas von oben herab urteilen und ſelbſt darin ſtecken, das ſind zweierlei Dinge. — Sie ſchaͤmte ſich ihrer Haͤrte, wenn ſie an fruͤher dachte. Alle ihre Gedanken kamen ihr wie gebrandmarkt vor. Es waren die Gedanken einer Blamierten. Alles war ihr an ſich ſelbſt reizlos geworden, armſelig, bedeutungslos, nicht berechtigt zu exiſtieren. Und warum? Weil irgendein Unbekannter über ihre Sachen etwas Unguͤnſtiges ge; ſchrieben hatte, was ſie noch nicht einmal recht wußte. Wie und was er geſchrieben, war ihr gleich. Und ein erfolgloſer Kuͤnſtler, der niemand hat, der an ihn glaubt, als ſich ſelbſt,
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was iſt das für eine armſelige Kreatur; einer, der auf ſchlechte
Kritiken ſchimpft, ſich reinwaſchen will, erklaͤren will, wie recht er hat, wie vortrefflich alles iſt, was er ſchafft, und wie dumm die ſind, die es nicht begreifen!
So etwas werden zu koͤnnen!
Nein, jeden Schlag ſtumm hinnehmen, nie klagen, nie ſich verteidigen — nicht einmal an ſich ſelbſt ſtumm glauben wollte ſie, um ſicher zu ſein, nie eine Taktloſigkeit zu begehen, wie die daheim. Totſchlagen laſſen wollte ſie ſich Seele und Koͤrper ohne zu zucken.
Der Fluch der Kunſt, der die Schwachen beugt, lag auf ihr. Ja, fle ſteckte plotzlich wie mitten im grauen Nebel, und dieſer umgab nicht nur ſie. Von ihr aus verbreitete er ſich im ganzen Haus, loͤſchte die Weihnachtsfreude aus, legte ſich dem ehr⸗ lichen Gaſtelmeier wie eine ſchwere Laſt aufs Herz. Es waren die erſten Weihnachten, die er nicht daheim in Rohrmoos feierte.
Weihnachten auf Rohrmoos! In der Heiligenabend⸗ daͤmmerung ſtieg ihm das ſehnſuchtsvolle Bild auf. Welch ein Treiben — welch ein Duft; Weihnachtskuchen! Weihnachts⸗ bier! Weihnachtskarpfen! Weihnachtsgebaͤck aller Art, feines und grobes, alles in Haufen, alles Duft ausſtroͤmend, das Rennen und Laufen auf dem Hof, das hurtige Arbeiten in den von Laternen erhellten Staͤllen, um fertig zu werden und das Feiertagsgewand anzulegen! — Und im Wohn⸗ zimmer die gute Mutter, mit der großen, weißen Schuͤrze, die den Leuten die Beſcherung herrichtete und in wollenen Socken, Joppen, Roͤcken, Pfefferkuchen und Nuͤſſen und Apfeln faſt begraben war, und Annele, die jetzt auch gerade den Chriſtbaum putzt, zufällig zur ſelben Zeit wie Olly. Er wußte das, die Zeiteinteilung am heiligen Abend war un⸗ verruͤckbar, ein Jahr wie das andre, — und der Vater, der ſich an ſeinem Sekretaͤr mit den Geldpaͤckchen zu ſchaffen machte, auf jedes ein Siegel druͤckte und den Namen des
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Empfängers mit der ſteifen, ungeuͤbten Schrift darauf ſchrieb. Das war ein Weihnachten! — Draußen der tiefe, weiße Schnee und die ſtillen Berge, drinnen im Haus die ruͤhrige Feſt⸗ freude. — Und hier bei ihm? Wenn alles noch ſo geweſen waͤre, wie vor wenigen Wochen, ſo haͤtte er ſich auf naͤchſte Weihnachten gefreut und mit dieſen vorlieb genommen; aber ſo wie es jetzt war, kam es ihm truͤbſelig vor.
Der Arzt hatte nicht erlaubt, daß er mit Olly nach Rohr⸗ moos reiſte. Hätten fie nur nicht gefragt! Das arme, ſtille, gedruͤckte Geſchoͤpf am Chriſtbaum, war denn das Olly — ſeine liebreizende Olly?
Er ſah ihr bange zu. Sollte er mit ihr von der dummen Geſchichte reden, die ſie ſich ſo ſehr zu Herzen nahm? Er wagte es nicht, er hatte Furcht davor und meinte auch, daß es beſſer ſei, zu ſchweigen, als daran zu ruͤhren. So ſtanden fie, ſich gegenſeitig ganz fremd, vor dem Chriſtbaum und ſchauten ihn ſich miteinander an. Er war nur mit blaßroſa Roſen beſteckt, ſehr ſchoͤn, aber kein eigentlicher Weihnachtsbaum. Gaſtelmeier hatte noch nie ſo einen geſehen.
„Du haſt ja gar nichts daran gehaͤngt, Olly. Annele machte immer bunte Netze und ſteckte allerlei hinein, und es hing alles dick voll Gebaͤck, das die Mutter mit uralten Holzfoͤrm⸗ chen ſelbſt gebacken hatte.“
Olly ſah ihn ganz verwundert an. Sie fuͤhlte ſich auch etwas gekraͤnkt, daß er ihren Weihnachtsbaum nicht ſchoͤn zu finden ſchien; fo hatte fie ihn Jahr für Jahr als ganz kleines Maͤdel daheim aufgeputzt und hatte fruͤher gemeint, daß es ſo etwas Schoͤnes wie ihren Baum nicht mehr geben koͤnnte, einen Buſch ſo voll Roſen, wie man ihn nur im Traume ſehen konnte. Aber das war ganz gleichguͤltig jetzt. Sie fuͤhlte es nur ſo nebenbei. Es kam ihr vor, als haͤtte ſie gar keine Berechtigung mehr zu fuͤhlen, als waͤre ſie vernichtet. Und geradeſo nebenbei dachte ſie, daß er auch ſeinen Weihnachts⸗
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baum liebe, wie er ihn gewohnt war, und es tat ihr leid, daß ſie ihn nicht darum gefragt hatte.
Aber wie dumpf war alles, was fie dachte. — So alfo ſtellte ſie ſich an, wenn ihr etwas in die Quere gegangen war? So? Schlimmer als die andern? Ja, aber es war ihr nicht irgend etwas Beliebiges in die Quere gegangen, ſondern ſie war mit dem erſten Schritt ins wahre, einzige Leben in einen Abgrund geſtuͤrzt und lag nun tief unten, wie zerſchmettert. Wie ſie ſo ins Maßloſe hineinfuͤhlte! Sie empfand das ſelbſt; aber ſie war nun einmal fortgeriſſen.
Gaſtelmeier hing ſeinen ſehnſuͤchtigen und truͤben Ge⸗ danken weiter nach. Der Arzt hatte mit ihm uͤber Olly ge⸗ ſprochen. Er hatte gefragt, an was Ollys Vater geſtorben ſei: „Wie jeder dritte Pole wohl an der Schwindſucht“, hatte er geantwortet, ſo — er hoͤrte ſich noch, es lag darin die ganze Gleichguͤltigkeit, die er fuͤr Ollys Familie hatte. An was er geſtorben war, wußte er nicht. Es war ihm dem Arzte gegenuͤber unangenehm, daß er ſich ſo hatte gehen laſſen, und er hatte von der Tuͤr aus in Ollys Zimmer, wo dieſe im Bette lag hineingerufen: „Olly, an was iſt dein Vater eigentlich geſtorben?“
„Bſt“, hatte der Arzt gemacht, um ihn zuruͤckzuhalten. Es war zu ſpaͤt. Wie dumm, ſie an ſo etwas zu er⸗ innern!
Olly aber antwortete ruhig und matt, er hoͤrte ſie noch, wie ſie es ſagte: „Papa ſtarb an einer Kehlkopfkrankheit.“
Sie hatte es ſo leiſe geſagt, daß es nur Gaſtelmeier hatte hoͤren koͤnnen. Das referierte er dem Arzt: „An einer Kehl⸗ kopfkrankheit.“
„So — fo”, hatte der geſagt und war, nachdem er noch einige Anordnungen gegeben, fortgegangen.
Wie kam er jetzt darauf, ganz unvermittelt? Er hatte ſich damals dumm benommen, das war ihm fatal, jetzt noch — und was war es denn weiter? Eine Gedankenloſigkeit!
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Außerdem war etwas Truͤbſeliges in dieſer Erinnerung, in Ollys Stimme, in allem. Wie ſie das ſo geſagt hatte, — ſelbſt krank. Es wollten keine frohen Gedanken kommen, ſo eine bleierne Stimmung, keine Freudigkeit, nicht einmal zu Weihnachten, und ſie liebten ſich — und es haͤtte ſo ſchoͤn ſein koͤnnen!
Aus der Kuͤche kamen auch keine verlockenden feſtlichen Ge⸗ ruͤche. „Karpfen haben wir doch?“ ſagte Gaſtelmeier und ſog einen ſonderbaren, un vermuteten Duft ein, der mit ber Köchin eben ins Zimmer gekommen war.
„Der Fiſch iſt ſo ſchoͤn,“ ſagte Olly befangen, „ich wollte nicht — draußen im Waſſer ſchwimmt er. — Gruͤne Heringe ſind auch Fiſche. Nicht wahr, Sie backen ſie gut?“ wendete ſie ſich fragend und bittend an die Koͤchin.
„Na,“ ſagte Gaſtelmeier, „das iſt auch das erſtemal! Dieſe Ausſicht hatte ihm vollends alle Laune verdorben und noch eine andre: Die vergeiſtigte Mama, Erwin, Emil, Tante Zaͤnglein und der lange, ſparrige Menſch kamen natuͤrlich, um Weihnacht mitzufeiern, um die gruͤnen Heringe mit eſſen zu helfen, der ganze Rangierbahnhof! Das war ein Weihnachten, ohne Saft und Kraft, ganz ohne Herz!
Und ſie kamen, ſo gedruͤckt und wehleidig. Es war das erſtemal, daß ſie wieder ſeit Ollys Krankheit alle beiſammen waren. Die vergeiſtigte Madame erſchien ganz in der Rolle der mitfühlenden Mutter. Sie hatte jetzt zwei, um die fie hangen und bangen konnte. Erwin hatte ihr kuͤrzlich erſt wieder den Genuß bereitet, nach Herzensluſt jammern und die Nerven ſtrapazieren zu koͤnnen. Es gelang ihm ſo gut wie nichts oder wenigſtens ſehr wenig. Sie fuͤhrte, waͤhrend der Weihnachtsbaum brannte, mit Erwin und dem ſparrigen Menſchen ein literariſches Geſpraͤch, und ſo hoͤrten und ſahen ſie nichts.
„Na, komm“, ſagte Tante Zaͤnglein zu Olly. „Du Pech⸗ prinzeß, fallt denn bei euch keines einmal aus der Rolle — erſt
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das eine, dann das andre, in etwas follte der Menſch doch Gluͤck haben. — Da haſt du wenigſtens etwas fuͤr den Arger“, und ſie gab Olly ein kleines Paͤckchen in die Hand; darauf ſtand in der zierlichen Schrift des Weibchens: „Fuͤr das Por⸗ traͤt ohne Geſicht.“ — — Und wie es nun kam!? Von dieſem Augenblick an ſchlug Ollys Stimmung um.
„Kein Gluͤck?“ ſagte ſie lachend, „Tante Zaͤnglein, ſo? Denkſt du, daß ich mich quaͤle? — Gar nicht. — Kein Gluͤck? Glad (age ich dir, die Halle und Fülle, wart’ nur! Aber kein ſo miſerables Gluͤck wird es ſein, da einmal, dort einmal — ſo im großen Zug, verſtehſt du? Mit einem Schlag iſt mir's, als wuͤrde es ſo, wie ich will. Arbeiten — und dann der Lohn, und einen Lohn, wie ich ihn mir denke. Am Arbeiten ſoll's nicht fehlen! Und wenn ich dann bin, wo ich ſein will, dann heißt es ſich oben halten,“ lachte ſie, „und jemand haben, den man liebt!“ Das war die alte Olly, das freie, ſtolze Maͤd⸗ chen, das an ſich und ſeine Schoͤnheit und ſeine Kraft und ſein Koͤnnen glaubte. — „Weißt du, Tante Zaͤnglein, wie ich arbeiten kann? Herrgott, wenn du das wuͤßteſt!“
„Schau“, ſagte das kleine Weibchen, „ſo eine Frau, ſo ein Maͤdel! Das iſt einmal etwas! So gefaͤllſt du mir. Endlich eine! Die Truͤbſal ſpritzen, das ſind ſcheußliche Leute, denen gluͤckt auch nichts.“
Wie umgewandelt war die Stimmung mit einem Male. Olly wurde ſo uͤbermuͤtig, daß die andern auch aufſchauten. Gaſtelmeier war vergnuͤgt, ſo konnte ſich ſein Weihnachten im eigenen Heim doch auch ſehen laſſen und brauchte ſich nicht zu verkriechen vor dem, was er „Weihnachten“ nannte.
Die gruͤnen Heringe ſchmeckten ganz gut; Gaſtelmeier ſpendierte ein paar Flaſchen guten Weißwein, den er von daheim geſchickt bekommen hatte, und der Rangierbahnhof feierte wirklich Weihnachten und hielt einmal Ruhe.
Und draußen in der Kuͤche ſchwamm der Goldkarpfen,
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das ſchoͤne Weihnachtstier, und freute fich feines Lebens im Waſſerſchaff.
„Ich danke dir, kleine Olly“, ſagte Gaſtelmeier zaͤrtlich und umarmte ſeine junge Frau in ganz fideler Stimmung.
„Iſt nichts zu danken“, erwiderte ſie ihm ehrlich. „Ich kann nichts dafuͤr.“
„Deſto beſſer“, meinte er.
„Mimm, mein armes Juͤngelchen,“ fo nannte fle ihn, und ſie druͤckte ihr Geſicht an ſeinen Hals, „es iſt ein großes Un⸗ gluͤck far dich, daß du mich geheiratet haft.”
„Dummes Zeug!“ ſagte er.
„Ganz gewiß — du tuſt mir leid.“ Sie ſagte dad zärtlich und wie uͤberlegen zu ihm, ſo einfach, daß es ihm einen wun⸗ derlichen Eindruck machte. Es war, als wenn wieder eine dunkle Wolke uͤber die Sonne, die eben erſt aus dem Nebel gekrochen, hingezogen waͤre.
„Du biſt ſo heiß und ſo erregt, Olly“, ſagte er beſorgt.
„Ein biſſel erkaͤltet.“
Das hatte die vergeiſtigte Madame aufgefangen. „Olly, dein Hals,“ ſagte ſie wie außer ſich, „du ſprichſt ja wieder ganz heiſer! Wo haſt du dir das geholt?“
Die Vergeiſtigte war jetzt in ihr Fahrwaſſer hineingekom⸗ men und ſo aͤngſtlich und aufgeregt, wie nur zu wuͤnſchen. Sie machte ein großes Aufheben von Ollys Heiſerkeit.
„Ihr ſollt ſehen, das wird ſie dieſen Winter nicht wieder los, das iſt die alte Halsgeſchichte. Und bei dem dummen Fiſchkauf hat ſie ſich das geholt. Und nicht einmal zu eſſen bekommen haben wir ihn! Was ſoll der Fiſch draußen im Waſſer?“
„Leben, nur leben“, ſagte Olly ruhig.
Siebentes Kapitel
ritter Weihnachtsfeiertag. Olly iſt nicht wohl, die Er⸗
kaͤltung vom heiligen Abend hat ſich geſteigert; aber unbekuͤmmert darum, arbeitet ſie im Atelier. Sie hat ein Modell. Ein vierſchroͤtiges Bauernmaͤdchen haͤlt das Kinn in die Hand, den Arm auf das Knie geſtuͤtzt, und blickt vor ſich hin, ſo ſchlaͤfrig und ſtumpf, wie nur ein Modell, das ſtundenlang ſich ſchon ruhig haͤlt, blicken kann.
Auf Ollys Bild ſitzt ein Madchen unter einem Apfelbaum, der hie und da noch bluͤht. Es iſt ſchon zu Ende mit der Bluͤte⸗ zeit. Das Laub iſt ausgebrochen, und die abgebluͤhten Blu⸗ menblaͤtter geben den Zweigen etwas Braͤunliches, Verbliche⸗ nes. Olly hat von ihrer Reiſe Studien zu dieſem Baume mitgebracht und auch die Idee zu dem Bilde. Ein blaſſer, nebliger Maiabend, feucht und kuͤhl. Der Baum ſteht auf dem Felde, auf dem das Maͤdchen hart gearbeitet hat. Hecken, Wieſenflaͤche, Weiden, Abendnebel. Das Mädchen ſitzt muͤd und mattgearbeitet. Es iſt, als hoͤrte ſie auf einen Vogel, der im Baum ſingt, oder auf von fern heruͤberklingende Abendglocken. In der Haltung ſoll ſich die Ermattung eines kraͤftigen Menſchen und ein ſtilles Beobachten und Umſich⸗ ſchauen auspraͤgen, ſo ein ſchlaͤfriges, gleichguͤltiges, zufrie⸗ denes Beobachten von irgend etwas, ein Sichausſpannen nach der Arbeit.
Und Olly war gluͤcklich, das Modell zu dem Bilde gefunden zu haben. Die ſtarken Glieder des Maͤdchens ſanken, wenn es eine Weile geſeſſen hatte, ſo zuſammen, als haͤtte es die haͤrteſte Arbeit hinter ſich. Sie bekamen trotz ihrer Kraft etwas Weiches, Unbehilfliches, wie es die Glieder eines ſchlaͤfrigen Kindes haben.
Gaſtelmeier kam nach Hauſe. Olly winkte ihn zu ſich heran und fluͤſterte ihm zu: „Mimm, es liegt eine Poeſie in ihr.“
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„Na, weißt du,“ ſagte Gaſtelmeier, „ich bin nu mal für dieſe Art muffliche Poeſie nicht beſonders eingenommen. — Aber ganz gut — ſehr gut. Na ja! Übrigens, es hat wirklich einer, wie ich dir's vorher geſagt habe, mich wegen deines Bildes angeſprochen. Wenn du dich's erinnerſt? ,Gaftels meier, die Dinger von deiner Frau find net übel.‘ Weißt du noch?“ Olly nickte, ganz in ihre Arbeit vertieft. „Grad“ von dem iſt's das reine Wunder, du kannſt dir's hoch anrechnen. Es iſt der Koͤppert!“
„Ach nein!“ rief Olly, wie von einem maͤrchenhaften Gluͤck ganz uͤberwaͤltigt, und legte ihre Palette aus der Hand.
„Na, er hat es halt, wie er ſo iſt, auf ſeine Weiſe in den Bart gebrummt. Das waͤr mir uͤbrigens nicht der Rechte.“
„Wie kannſt du das ſagen, Mimm!“
„Kennſt du ihn?“ fragte er.
„Perſoͤnlich nicht; aber ſeine Arbeiten. Solang ich weiß, waren die immer das, was ich liebe. Eigentlich der einzige in Deutſchland, der ganz das iſt, was ich fuͤrs Beſte halte.“ Olly war tief erregt, ihre Wangen gluͤhten. „Mimm, iſt es auch wahrhaftig wahr?“ fragte ſie noch einmal und ſah ge⸗ ſpannt auf ihn. „War's Spaß?“
„Nein, Herrgott noch einmal! Was iſt denn da ſo Extras dran? Er hat's einfach geſagt.“
„Siehſt du, er iſt der einzige, der das Leben ſo ganz nimmt, wie es iff — fo nur die Wahrheit, ohne alles Dazutun, und ſo tief. Wie habe ich den Menſchen immer beneidet!“ Sie fiel ihrem Mann mit einer heftigen Bewegung um den Hals. „Alſo er hat's wirklich geſagt?“ Sie mußte huſten und richtete ſich auf. „Neulich war ich in der Pinakothek bei den alten Sachen. Wie hab“ ich ſie — viele davon — immer angebetet, was hab’ ich da far Stunden verlebt und wie tu“ ich's noch! Aber weißt du, bei den wundervollen, braunen Schwarten war mir's auf einmal, als ich an Koͤpperts einfache Menſchen mit dem alltaͤglichen tiefen Menſchenausdruck, an ſeine matte
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Sonne, an feine graue Luft dachte, als wenn ich in einem engen, vornehmen Zimmer atmen muͤßte, darin eingeſperrt war’ — und Koͤppert, der hatte die reine friſche Luft und die Freiheit.“
„Olly,“ ſagte Gaſtelmeier, „mußt du denn immer gleich oben hinaus? Du armes Haſcherl machſt dich krank.“
„J wo! Daß du ihn nicht ſo verſtehſt, wie ich ihn verſtehe, Mimm, wie ſchade!“
„Weißt du, liebes Kind, ich bin etwas ruhiger und ver⸗ nünftiger in dieſer Beziehung als du. Er ſelbſt wird id einfach mit der Zeit aͤndern. Was er jetzt iſt, bleibt er nicht.“
„Doch — doch, Mimm, ſo wahr ich lebe — du mußt ihn um Gottes willen nicht unter die gemachten Leute zaͤhlen, die modern ſein wollen und gar nicht wiſſen, um was es ſich handelt, die die Mode mitmachen und die Mode wechſeln. Daß ich dir das ſagen muß! Er iſt goldecht.“
„Von dem Goͤtzendienſt wußt ich ja gar nichts.“
„Mimm, aͤrgere mich nicht.“
„Argern?“ lachte er. „Aber du haſt mich nicht ausreden laſſen. Er kommt heute nachmittag und will uns beſuchen und ſich deine Sachen anſehen.“
Olly erſchrak offenbar, ſie griff nach der Palette und war ganz verwirrt. Sie ſchwieg, wollte wieder zu arbeiten an⸗ fangen — die Hand zitterte ihr. Gaſtelmeier ſah auf ſie hin. Sie legte die Palette wieder nieder. „Jetzt geht's nicht“, ſagte ſie.
„Es iſt auch hohe Zeit zum Eſſen“, meinte Gaſtelmeier ſeelenruhig.
„Das iſt doch net moͤglich“, ſagte ſie.
„Wo iſt denn deine Uhr, Olly? Die ſollte doch immer neben dir liegen, damit du zeitig vor dem Eſſen aufhoͤrſt.“
„Wo iſt ſie denn?“ fragte Olly geiſtesabweſend. „Gar net aufgezogen, ich weiß. Sie iſt hinters Bett gefallen — vor ein paar Tagen.“
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„Da haſt du fie liegen laſſen?“
„Weil ich keinen Stock hatte, ſie liegt ganz zu hinterſt.“
„Das iſt ja recht nett.“
„Mimm, brumme nicht,“ bat ſie.
Gaſtelmeier ahnte und wußte, daß es mit dem Eſſen noch einige Zeit dauern werde. Er warf ſich auf ſeine Chaiſelongue und nahm ein Buch zur Hand. Olly ſchickte das Modell fort, rief nach heißem Waſſer und Seife zum Pinſelwaſchen, und als die Koͤchin damit hereinkam, ſagte ſie: „Bitte, eilen Sie ſich doch heute etwas mit dem Eſſen; was gibt's denn eigent⸗ lich? Bitte, recht raſch.“
„Eine nette Hausfrau,“ dachte Gaſtelmeier, der zugehoͤrt hatte. Er fuͤhlte ſich nicht beſonders guter Laune, war hungrig, hatte Appetit auf etwas Extras und wußte im voraus, daß dieſer Appetit unbefriedigt bleiben wuͤrde.
Als endlich das Eſſen aufgetragen wurde und die Koͤchin die Liebenswuͤrdigkeit hatte, dieſes Geſchaͤft in der ſchmutzigen Kuͤchenſchuͤrze zu beſorgen, hob Gaſtelmeier den Deckel von einer Schuͤſſel: „Wiſſen moͤcht i, was 's heut fuͤr ein Schlan⸗ genfraß iſt!“ ſagte er gereizt. Olly achtete nicht darauf. „Na, was fuͤr ein Schlangenfraß iſt's denn?“ fragte er noch einmal.
„Weiß net, Mimm.“ Sie war immer noch in einer wunder⸗ lichen Erregung und ruͤhrte vom Eſſen kaum etwas an. „Mimm, wann kommt er denn?“
„Herrgott noch einmal! — Da iſt ja eine nette Bombe ins Haus gefallen! Olly, nimm dich zuſammen. Dieſe ewigen Aufregereien, wohin ſollen die führen? Du ißt nix. Und mit ſo einem Huſten. Heiſer biſt du! Ins Bett gehoͤrſt du! Weißt du, ich beſtell' ihn ab — der kann auch ein ander⸗ mal kommen.“
„Nein — nein“, ſagte ſie erregt. „Wenn nun einmal ein Gluͤck kommt! Mimm, wie kannſt du? Das tuſt du nicht!“ Sie ſtand auf und ſah ihn angſtvoll an.
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„Das tt ja zum Teufel holen, Kleine, fo ein Laem um nix. Mag er kommen. — Aber ſag einmal, iſt denn der Karpf noch immer draußen im Waſſerſchaff? Wie lang ſoll er denn eigentlich dableiben? Ich daͤchte, der taͤte beſſer daran, ſtatt dieſes ſcheußlichen Hammelfleiſches zu uns huͤbſch blau ge⸗ ſotten hereinzukommen.“ Gaſtelmeier lief das Waſſer im Munde zuſammen, waͤhrend er ſich ſeinen Karpfen, wie er ihn liebte, vorſtellte. „Zum Beiſpiel: von mir gar net zu reden, dir taͤte ſo ein Stuͤck Karpfen jetzt wirklich gut.“
„Nein, nein, Mimm,“ proteſtierte fie, „damit wird's nichts; ich weiß ſchon, du willſt ihm ans Leben — das leid“ ich aber nicht. Er iſt ſchon ganz zahm.“
„So. — Meinſt du, daß er dann weniger gut ſchmeckt?“
„Ja, — ich koͤnnte keinen Biſſen von ihm eſſen.“
„Mir aber macht ſeine Zahmheit nichts aus — liebe Olly, ich daͤchte, unſer Menu wär’ nicht fo reichhaltig, daß wir es mit anzuſehen brauchten, wie das beſte Stuͤck vom ganzen Jahr ſinn⸗ und zwecklos ſich in der Kuͤche amuͤſiert.“
„Du Raubtier“, ſagte Olly.
„Ach was, Raubtier bei der Eſſerei! Du kannſt darauf ſchwoͤren, wenn's niemand tut, koch ich mir den frechen Bur⸗ ſchen ſelbſt.“
„Mimm — nein!“ ſagte Olly, legte ihren Kopf an ſeinen Hals und ſtreichelte ihm die Glatze, den wunden Punkt feiner Perſoͤnlichkeit. Das liebte fle zu tun, er aber liebte es durchaus nicht. „Laß ihn mir. Du, laß den Karpfen in Ruh!“
„Ja, wenn du dafuͤr ſorgſt, daß ich was Anſtaͤndiges zu eſſen bekomme; nach noch ſo einem Schlangenfraß, wie wir heut' einen hatten, geht's ihm ſicher ans Leben.“
„Beim erſten? — Beim dritten, Mimm! Drei muͤſſen es immer ſein, bei allen Dingen.“
„Meinetwegen, aber dann auch auf die Minute, alſo mor⸗ gen, uͤbermorgen und noch einmal — dann.“
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Die Köchin kam herein. „Sie muͤſſen jetzt ſehr gut kochen“, ſagte Olly. „Wenn dreimal ſo ſchlechtes Eſſen iſt wie heute, dann will der Herr ſich den Karpfen ſelbſt kochen. Alſo bitte, paſſen Sie auf. Sehr gut muß alles ſein. Hoͤren Sie?“
„Jawohl“, ſagte die Koͤchin und lachte. Sie amuͤſierte ſich koͤſtlich hier im Haus. Auch dieſe Koͤchin tat wieder voll⸗ kommen, was ihr beliebte.
Nach Tiſche legte Gaſtelmeier ſich zu einem Nachmittags⸗ ſchlaͤfchen hin. Olly warnte ihn und ſagte: „Tu's nicht, Mimm, du wirft gu fett.“
„Was geht's dich an?“ erwiderte er, „da werd“ ich we⸗ nigſtens vom Schlafen fett — vom Eſſen ſchwerlich.“
„Ja, willſt du denn durchaus fett werden?“
„Ja“, bruͤllte Gaſtelmeier im tiefſten Bruſtton. „Ich will mein Behagen!“
„Die Speckſeiten mit ſich herumtragen, als wenn das Be⸗ hagen waͤre!“
„Freilich iſt's das!“
„Aber ich will keinen fetten Mann!“
Sie nahm ihn an einem Fuß und wollte ihn vom Sofa herunterziehen.
„Verdammte Kroͤte!“ ſchrie er. „Halt Ruh!“
Sie wirtſchaftete mit ihm herum, verſuchte auf alle Art ihn vom Sofa zu werfen, huſtete dabei und ihre Stimme hatte einen eigentuͤmlich heiſeren Klang. Ihre Wangen gluͤhten.
„Du biſt ja krank, Olly, halt Ruh!“ ſagte er. Sie war aber wie ein Kind, zudringlich und ausgelaſſen und riß und zerrte an ihm herum. „Du Faß!“ ſagte ſie.
„Pfui, Olly!“
„Meinſt du etwa nicht?“
Es war ihm ſchaͤndlich unbequem, dieſe Unvernunft nach Tiſche; aber dieſes reizende, maͤdchenhafte Frauchen ſein eigen! Sie kam auf bie tollſten Ideen und ſchwatzte und ſpek⸗
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takelte mit ihm. „Pfui, deine Stimme,“ ſagte er, „heiſer wie ein Rabe!“
„Wirklich?“ meinte fie ganz betreten. „Mimm, iſt's fo ſchlimm? Kann ich mich ſehen laſſen?“
„Aha! Soll ich ihn abbeſtellen?“
„Nein, nein, Mimm! Das Gluͤck muß man halten. Aber dumm iſt's, Mimm, daß ich fo eine Stimme heute haben muß — ſo dumm. In allen Dingen Ungluͤck! Immer das⸗ ſelbe. Das war von jeher ſo; immer, wenn ich mich freute, kam etwas dazwiſchen, immer ein Schnupfen, eine Heiſer⸗ keit oder ſo was. — Gibt's denn nichts dafuͤr?“
„Ja, halt Ruh! das iſt das beſte!“
„Nein, nein, dann roſtet die Stimme ein — und ich kann auch gar nicht!“
„Herrgott, ſo ein Frauenzimmer!“
„Wart, Mimm, ich weiß was!“ Fort war ſie und kam mit einer Palette und Pinſeln wieder. Sie ſtellte ſich hinter ihn. „So, ſie ſcheint wieder arbeiten zu wollen und hat ſich aus⸗ getobt“, dachte Gaſtelmeier und reckte ſich behaglich zurecht. Da fuͤhlte er auf ſeiner Glatze ein eigentuͤmliches, ganz an⸗ genehmes Streichen und Kitzeln. Was aber waͤre ihm auf ſeiner Platte angenehm geweſen, außer ein neuer Haar⸗ wuchs? „Olly, was treibſt du?“ fragte er.
„Ich mal dir Haare“, ſagte ſie, „wunderbare Haare!“
Jetzt riß ihm die Geduld. „Dir iſt nichts heilig“, brummte er, ſtand auf und ging aus dem Zimmer; Olly aber lief ihm nach. Er wollte ſich grollend auf ſein Bett legen. Sie ließ ihm aber keine Ruhe. „Lieber, lieber Mimm, ſei wieder gut.“ Sie ſchmeichelte ſo lange und bat und verſprach, bis er ihr endlich verzieh.
„Aber Mimm, es ſind noch von den Haaren welche oben!“
„Olly!“ fuhr er ſie boͤſe an.
„Mimm, er iſt doch eigentlich der einzige Menſch in Muͤn⸗ chen, der ein Geſicht hat.“
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„Wer?“
„Koͤppert!“
„So, und was hab’ ich denn da gefaͤlligſt,“ fragte Gaſtel⸗ meier, „wenn nur er ein Geſicht hat?“
„Eine Kartoffel, Mimm.“
„Raͤum“ etwas auf“, ſagte er, „und geh nun.“ Jetzt war er wirklich boͤſe. Diesmal aber bemerkte ſie es nicht. Sie dachte daran, ſich umzukleiden. Das erſchien ihr aber dumm und weibiſch und ſie wollte wahr ſein, nicht fuͤr ihn vor⸗ bereitet. Sie war deſſen auch ſicher, daß ſie nichts trug, was ſie nicht kleidete. Etwas, was nicht zu ihr gehoͤrte, konnte ſie nicht einen Tag an ſich dulden. Alles mußte leicht ſein, an⸗ ſchmiegend, ſo eine Art Haut.
nd Koͤppert kam um vier Uhr, pünktlich wie er geſagt hatte. Als er eingetreten war und beide begruͤßt hatte, ſagte er: „Gaſtelmeier, was meinſt du, darf ich meinen Hund mit hereinnehmen, den Aſtralhund?“ Freilich!“
Er ging hinaus mit großen, leichten Schritten und kam mit ſeinem Hund, einer gelben, ſtruppigen iſtriſchen Bracke, wieder herein. Der Hund ſchaute auf ihn hin mit ſo einem großen Blick, in dem eine tiefe Freundſchaft lag. Sie ſchienen im beſten Einvernehmen miteinander zu ſein.
„Aſtralhund?“ fragte Olly laͤchelnd und ſtrich dem Hund uͤber den Ruͤcken. |
„Schauen Sie uns an“, ſagte Koͤppert.
Es war etwas Ahnliches zwiſchen den beiden. Beide hager, energiſch, aufmerkſam; auch er hatte den Blick, den die Bracken haben.
„Verſtehen Sie's?“
„Ja, ich weiß nicht“, ſagte Olly. „Ein Aſtralkoͤrper; ſoll das nicht ſo unſer zweiter Koͤrper ſein, der uͤberall mit uns geht?“
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„Stimmt“, fagte Köppert. — „Kuſch, druͤck dich.“
Sie kamen bald miteinander tief ins Geſpraͤch. Koͤppert ließ ſich Ollys Arbeiten zeigen und lobte vieles. Von einem Kopfe ſagte er: „Reife, gute Arbeit — und wie alt koͤnnen Sie denn ſein? Zwanzig, zweiundzwanzig?“
„Ja.“
„Und ich alter Menſch bin ſechsunddreißig und haͤtte den Kopf net beſſer machen koͤnnen. Bei wem haben Sie ge⸗ lernt?“
Olly ſagte es. Sie war ſo gluͤckſelig. Jetzt kam es ja, das Gluͤck. Von wem auf der Welt waͤre ſie lieber gelobt worden als gerade von Koͤppert. Und fo wahr und ehrlich, wie er es tat! Sie durfte ihm glauben. Sie ſelbſt ſprach wenig, das Wenige aber ganz verklaͤrt.
„Sie ſind etwas heiſer“, ſagte Koͤppert.
„Leider.“ Sie wurde dunkelrot, es bedruͤckte und beſchaͤmte ſie, dieſe Stimme. Mit einmal war's ihr wie ein Ungluͤck, daß ſie ſo gehemmt ſprach. Sie fuͤhlte ſich gequaͤlt, krank mitten in ihrem Jubel.
Koͤppert merkte ihre Verſtimmung. „Roheit,“ ſagte er, „ich habe Sie jetzt daran erinnert. Na, ſo etwas vergeht. Sie ſind ein ganz gluͤckliches Geſchoͤpf, ſehe ich, ein gutes Talent, einen guten Mann — und ganz jung.“ Fuͤr ſich dachte er: und ſo ein ruͤhrendes Huͤhnchen, ſo ein huͤbſcher, netter Kerl.
Sie waren im beſten Geſpraͤch, da klingelte es. Ollys Mut⸗ ter, Erwin und Emil kamen. Über Ollys Geſicht ging es wie ein Schatten. Die Stunde war geftirt.
Die Neuangekommenen kannten Koͤppert dem Namen nach ſehr wohl. Seine Werke waren ſchon oft bei ihnen Gegenſtand ſchoͤngeiſtiger Unterhaltung geweſen. Sie hatten ihn ſchon nach allen Richtungen hin kritiſiert, waren ſeinet⸗ wegen oͤfters hart aneinander gekommen, denn ihre Haupt⸗
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leidenſchaft war nun eben, literariſch und kuͤnſtleriſch zu kannegießern. Frau Kovalski war hochbefriedigt, bei ihrem Schwiegerſohne einen ſo intereſſanten Mann zu treffen. Und ſie ſtellte ſich mit ihm ſogleich auf einen gewiſſermaßen kollegialiſchen Fuß, ſprach mit ihm in Kunſtausdruͤcken — die neuen Worte ſchwirrten auf Köppert zu, wie Fliegen, deren er ſich vorderhand nicht erwehren konnte. Sie wollte ihm imponieren und außerdem betrach⸗ tete ſie ihn als einen der Ihrigen. Sie hatte ſogar das dunkle Gefuͤhl, als haͤtte ſie ihn gewiſſermaßen mit „kreieren“ helfen. Alles, was Kunſt war, und was ſich gar moderne Kunſt nannte, war ihr Departement. Von alle⸗ dem wußte er aber nichts und dachte nur: „Was iſt denn das fuͤr ein Huhn?“
Sie fingen jetzt im Chor an, uͤber die Verfolgung, die die moderne Kunſt zu erdulden habe, zu lamentieren, alle drei — Emil auch mit. „Verflucht! Verflucht! Verflucht! — Die Menſchen ſind Miſtjauche! — um nichts beſſer als Miſt⸗ jauche!“
„Erlauben Sie!“ ſagte Koͤppert und wendete ſich nach be⸗ harrlichem Stillſchweigen an die Mutter des vorlauten Juͤng⸗ lings, „erſtens kenne ich eine moderne Kunſt gar nicht. Ich weiß nicht, was Sie darunter verſtehen. Zweitens: ein Menſch, wie ich, verſteht von Kunſt uͤberhaupt nichts; Sie koͤnnen mich totſchlagen, ich wuͤßte nichts daruͤber zu ſagen. Ich bin erſtaunt, was Sie alles wiſſen, gnaͤdige Frau. Und drittens! Was iſt das fuͤr ein ungebackenes Broͤtchen, was da hinten ſitzt und mitſpricht?“
„Wie denn?“ fragte ſie.
„Das halbgebackene Brot da, an einer Seite angebrannt und an der andern noch Teig.“
Die vergeiſtigte Dame, Erwin und Emil ſchauten ganz verbluͤfft drein, es ergab ſich aber, daß Koͤppert Emil meinte.
„Wie alt ſind Sie, mein Sohn?“ fragte er.
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„Er iſt ſiebzehn, mein Herr,“ erwiderte die Dame, „für ſein Alter merkwuͤrdig entwickelt.“
„O weh!“ ſagte Koͤppert. „Das iſt ein Zeichen der Zeit. Wer ſagt das doch: die Kinder find erſt jetzt erfunden worden? Fruͤher wußte man gar nichts von ihnen, man hoͤrte ſie unter Erwachſenen nicht. Wie lange zaͤhlt Ihr Herr Sohn ſchon unter die Menſchen und tut ſo ausgezeichnete Aus⸗ ſpruͤche? Und iſt Weltveraͤchter? Verzeihen Sie, gnaͤdige Frau, die Freiheit, die ich mir nehme. Bei ſolcher Gelegen⸗ heit ſetze ich naͤmlich wie der Uhu mein Federohr auf. Warten Sie, mein Soͤhnchen,“ fuhr er fort, „wie waͤr's, wenn Sie ein biſſel unter meine Fuchtel kaͤmen? Was wollen wir denn werden?“
„Maler“, antwortete Emil kleinlaut.
„So. Proſte Mahlzeit, und werden vorerſt Kunſtmaͤzen und Kunſtkritiker? O, du heiliges unausgebackenes Brot! Weiß Gott, ich würde die Knute einführen!”
„Koͤppert, Koppert!” ſagte Gaſtelmeier wie ermahnend.
Da lachte Koͤppert kurz auf. „Nun werde ich mich heute abend wieder ohrfeigen können; fo eine Art Teufel ſollte immer die Hände gebunden haben. — Ein Uhu mit dem Federohr!“ — Dabei flocht er ſeine mageren, energiſchen Finger ineinander.
„Nein, Sie ſollen reden“, ſagte Ollys leiſes, heiſeres Stimmchen.
„So,“ lachte Koͤppert wieder; „aber ganz manierlich und liebenswuͤrdig. Haben Sie ſich nicht uͤber mich ge⸗ aͤrgert?“
„Nein“, erwiderte Olly.
„Bravo.“
„Sie ſind alſo gegen die Erziehung, die die Kinder wie Menſchen behandelt? Menſch zum Menſchen?“ fragte die vergeiſtigte Dame hoͤflich und gewaͤhlt, wie man einen groben, beruͤhmten Mann immer fragen muß.
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„Was Menſchen?“ fuhr Köppert wieder auf. ,,Sind’s denn Menſchen? Gefaͤlligſt? Einen Menſchen, der noch keiner iſt, als Menſchen behandeln, iſt das Mittel, daß er nie einer wird. Punktum — totſchießen!“
„Ja freilich“, ſagte die vergeiſtigte Dame. Es wurde ihr ſchwer, der ſprunghaften, zerſtuͤckten Unterhaltung des viel⸗ beſprochenen Koͤppert zu folgen. Er ſprach undeutlich und murmelte alles in den dichten Schnurrbart hinein; ſo ging ihr zum Gluͤck das meiſte verloren, ſie kam aber auch nicht zur Erkenntnis, daß Köppert ſehr wenig Neigung hatte, ſich mit ihr ſchoͤngeiſtig zu unterhalten. Sie ließ ihn nicht los.
Endlich wendete er ſich von ihr ab und Olly zu, und die beiden ſprachen miteinander leiſe und fuͤr die andern un⸗ deutlich. Er ſprach mit ihr von ihrer Kunſt, und ihre Augen ſtrahlten in einem fieberhaften, ſeligen Feuer. Er bog ſich zu ihr hin, um ihr das Sprechen zu erleichtern.
Es war die Stunde, in der zum erſtenmal ein Menſch mit ihr ſprach, von dem ſie fuͤhlte, daß er ſie verſtand. Weshalb eigentlich? Sie wußte es ſelbſt nicht zu ſagen. Seine Worte waren fuͤr ſie lebendig und in ihren Worten, dieſen armen, heiſern Worten, lag auch ein Leben, das er in ihr erweckt hatte. Sie ſprach zum erſten Male nicht ins Leere hinein. So war es: ſie fuͤhlte, daß ſie bisher das, was ihr am heiligſten war, immer ins Leere geſprochen hatte, wie in eine große Einſam⸗ keit hinein. Und jetzt auf einmal ein Widerhall — zum erſten Male. Fruͤher hatte ſie gedacht: die Menſchen ſind eben ein⸗ ſam, jeder iſt im Grunde einſam — und nun doch nicht, nicht alle, nicht immer. Und war ſie denn immer wirklich einſam geweſen? Bewahre. Nur bis zu einem Punkt ihrer Seele war nie ein Menſchenwort gedrungen. Und dann war es auch der Erfolg, daß er ſie gelobt hatte, — die Anerkennung. Haͤtte er ſie getadelt, waͤre ſie wie vernichtet geweſen, ſo er⸗ ſchien es ihr; aber jetzt, welches Leben, welche Lebenshoffnung!
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Wie eine weite Sonnenbahn lag mit einem Male alles vor the. Das war eine Stunde!
Sie (ah zwar fo alltäglich aus, wie irgendeine andre. Emil ſaß da und brummte; er war wütend auf Köppert. Erwin und die Mutter fuͤhrten ein literariſches Geſpraͤch trotzig allein. Es war ihnen unmoͤglich, wenn ſie in Geſell⸗ ſchaft ſaßen, ſich nicht ſchoͤngeiſtig zu betaͤtigen. Sie taten dann gewiſſermaßen, als waͤren ſie nicht Mutter und Sohn, ſie taten fremd miteinander.
Gaſtelmeier ſetzte ſeinen Gaͤſten Wein vor, nahm ſein Zigarrenetut aus der Bruſttaſche und reichte es Koͤppert. „Bitte, Koͤppert, bediene dich, kuhwarme Zigarren.“
„So ein Menſch!“ ſagte Koͤppert zu Gaſtelmeier, „wo nimmſt du eigentlich den Mut zu dergleichen her? Und außer⸗ dem?“ Er blinzelte auf Olly hin. „Natürlich, ein Ehemann — eine Rothaut.“
Das Maͤdchen kam in das daͤmmerige Zimmer herein⸗ geſchlichen und meldete den Doktor an.
„Kommt der denn immer noch zu euch?“ fragte Frau Kovalski.
„Er hat mich heute auf der Straße nach Olly ge⸗ fragt, da habe ich ihm von ihrer Heiſerkeit geſagt und ſo weiter, daß ſie bei ihrem Fieber arbeitet“, ſagte Gaſtel⸗ meier.
Der alte Doktor trat ein. „Nun, Frauchen“, begruͤßte er Olly. Gaſtelmeier ruͤckte ihm einen Stuhl zurecht.
Olly war tief erregt. Das Gluͤck, das Koͤppert ihr gebracht hatte, ließ ihr das Blut durch die Adern ſtuͤrmen; ihr war, als wenn von den Fuͤßen her Flammen durch ihren ganzen Koͤrper ſchluͤgen, freudige, erregte Flammen. Da war nun das Gluͤck, und es ſchien ihr, als waͤre es nicht leicht zu ertragen. Es beengte ihr die Bruſt, trieb ihr das Blut zu Kopf. Sie war ſo beunruhigt und wendete ſich wieder zu Koͤppert und ſagte: „War es Ihnen auch ſo, als der erſte
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Menſch, willen Sie, einer, dem Sie ganz vertrauen, Ihnen ſagte, daß — — Sie haben mir doch geſagt, daß meine Ar⸗ beiten gut ſind?“ unterbrach fle fih und (haute mit großen Augen auf ihn.
„Ja, gut — mehr als das“, antwortete Koͤppert und blickte teilnahmvoll auf ſie hin.
„War es Ihnen da auch ſo — beinah qualvoll gluͤckſelig zumute?“
„J wo,“ ſagte Koͤppert, „laſſen Sie die Eſel reden, was ſie wollen, einen wie den andern! Was geht Sie das eigentlich an? Aber laſſen Sie's gut fein, ich verſteh“ ſchon, wir find nun einmal ſolche Narren, daß wir uns von andern das Lebenslicht anbrennen und ausblaſen laſſen. Wenn uns die verdammte Kunſt hat, gehoͤren wir den andern, nicht mehr uns ſelbſt, — die koͤnnen machen mit uns, was ſie wollen; das iſt ſo eine Einrichtung. — Aber das darf nicht ſein! So ein Hunde⸗ und Sklavenleben! Ich habe die Frechheit, an mich ſelbſt zu glauben, ich bin mir ſelbſt die Hauptſache. Da ſagt doch, was Ihr wollt — Ihr —! Denken Sie fo. Einfach: die andern gehen Sie nichts an. So allein iſt die Kunſt ge⸗ ſund, und wie kann man ſonſt ein anſtaͤndiger Kerl bleiben? Auf ſich ſelbſt hoͤren, auf niemand anders, das iſt die einzige Rettung.“
„Ja,“ erwiderte Olly treuherzig; „aber zwiſchen dieſes ruhige Überlegen kommen Stuͤrme und werfen alles durchs einander.“
„Stuͤrme im Waſchbecken“, brummte Koͤppert. „Wir nehmen uns viel zu wichtig. Überfegen wir uns in Raupen und Inſekten. — Was ſind wir denn anders? Stellen Sie ſich ſo ein Inſekt vor — und den Summs darin — komiſch! Und was meinen Sie — der da oben,“ Koͤppert zwinkerte zur Decke hinauf, „kennt ſich zwiſchen einer Handvoll Raͤupchen und einer Handvoll Leut“ laͤngſt net mehr recht aus.“
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Olly ſah ihn ernſt an. „Ja, wahrſcheinlich iſt es gut, fo zu denken,“ ſagte ſie; „aber man muͤßte es erſt lernen.“
Sie hatten beide leiſe miteinander geſprochen. Koͤppert immer noch zu ihr hingeneigt, damit ſie ſich beim Sprechen nicht anſtrengen ſollte.
„Nun, Frauchen,“ ſagte der Doktor, „wir haben auch ein Wort miteinander zu reden.“ Er bot ihr wie im Scherz ſeinen Arm, und ſie gingen miteinander in das Neben⸗ zimmer.
oͤppert und der Arzt verabſchiedeten ſich miteinander. Der Arzt ſagte vorher zu Olly: „Frauchen, morgen, wenn Sie huͤbſch ruhig ſind, muß ich ſchon noch einmal kommen — was? Wir muͤſſen das Haͤlschen uns ordentlich anſehen.“ Dann gingen ſie.
„So eine Art Seelchen hat der Gaſtelmeier erwiſcht,“ ſagte Koͤppert zum Arzt, als ſie in die Winterkaͤlte hinaustraten, „ich habe ſeine Frau zum erſtenmal heut geſehen.“
„Frau?“ erwiderte der alte Doktor, der mit Koͤppert gut bekannt war, „Frau“ iſt das nicht — das hat nichts von „Frau“.“
„Ein armes Seelchen“, meinte Koͤppert. „Wie kommt der Gaſtel meier eigentlich zu ihr und fie zu ihm?“
„Sie iſt Todeskandidatin“, ſagte der Arzt trocken.
„Wie, das Seelchen?“ fragte Koͤppert.
„Im Vertrauen, ja. Es iſt mir herausgerutſcht — oben wiſſen von gar nichts noch — alſo unter uns. Mir iſt's ſchon laͤngſt klar; eine abſchließende Unterſuchung iſt zwar noch nicht vorgenommen, aber es wird nicht viel anders aus⸗ ſehen, als ich jetzt annehmen muß.“
„So ein ahnungsloſes Geſchoͤpf“, ſagte Koͤppert.
„Soll's auch bleiben, ſo lange als moͤglich. Die wird ihrem Mann noch genug zu raten aufgeben — Herrgott noch einmal! Ich habe das Geſicht geſehen, als es vor ein paar
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Wochen hieß, fie brauchte vorderhand nicht mehr zu bes fuͤrchten, Mutter zu werden, — das heißt, ich ſagte damals nicht ‚befürchten‘, ſondern teilte es ihr ſchonend mit, wie man das ſo nennt. Dies Geſicht! Die vollkommene Erloͤſung! Nur einen Augenblick war der Ausdruck ganz klar. Ich habe ihn nie aͤhnlich bei einer Frau geſehen. Sie hat nichts als ihre verdammte Kunſt im Kopf. Es hat ihr davor gegraut, daß fie ihre Kraft nicht mehr für ſich ganz allein haben ſollt und nun — das wird eine nette Geſchichte werden. Mir tut der Mann leid. — Alſo, ganz unter uns.“
Sie trennten ſich, und jeder ging ſeines Weges.
Oben bei Gaſtelmeiers wurde indes von Koͤppert ge⸗ ſprochen.
„Originell, ſehr originell,“ ſagte Frau Kovalski, „aber etwas abſpringend, und ſpricht ſo undeutlich.“
„Ein frecher Menſch“, ſagte Emil. Sie ſagten alle etwas. Olly ſchwieg. Fuͤr ſie war er ein gottgeſandter Menſch. „Ihren Meſſias“ hatte Mimm ihn vorher ſpottend genannt. Ja, ihr Meſſias. Mimm hatte ganz recht gehabt. Sie hatte jetzt jemand, fuͤr den ſie arbeitete. Der Ruhm, der geſtaltloſe Ruhm, hatte fuͤrs erſte Koͤpperts Geſicht bekommen.
Ehe ihre Mutter und die Bruͤder ſich heute verabſchiedeten, nahm Olly Emil beiſeite und ſagte: „Morgen wollen wir beide miteinander den Karpfen in die Iſar tragen. Komm ſo fruͤh du kannſt. Wenn wir's nicht tun, holt Mimm ihn doch.“
„Du ſollſt ja aber nicht ausgehen“, ſagte Emil.
„J wo! Weißt du, wir fahren. Du beſorgſt die Droſchke, und wir ſtecken den Karpfen wieder in ſein Netz. Du mußt kommen, wenn Mimm zu ſeinen Schuͤlern geht, von neun bis zehn.“
„Na, mir iſt's recht. Ich koͤnnte ihn ja auch allein fort⸗ bringen.“
„Nein, ich will mit, ich will's ſehen.“
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nd wie die beiden es verabredet hatten, fo geſchah es.
Es war ein ſonnenklarer, windiger Januartag, kriſtallhell, da fuhren ſie mit ihrem Fiſch der Iſar zu. Niemand wußte davon. Olly hatte auch die Koͤchin aus dem Hauſe geſchickt, damit ſie den Karpfen in aller Ruhe aus dem Schaff in ſein Netz ſtecken konnten. Jetzt hielt ſie ihn unter ihrem Winter⸗ mantel verborgen. Wie feſt und geſund er war und wie er ſchnickte! Im Wagen gab ſie ihn Emil wieder zu halten. Sie fuhren bis uͤber die Maximilians bruͤcke, ſtiegen dann aus und bogen in die Iſaranlagen ein.
Es war bitterkalt und der Wind ſchneidig. Olly ſchuͤttelte ſich vor Froſt — die Zaͤhne klapperten ihr. „Wie du frierſt“, ſagte Emil. „Es war am Ende doch dumm, daß wir ge⸗ gangen find. Ich lauf voraus und ſteck ihn raſch ins Waſſer.“
„Nein, laß mich's ſehen.“
So gingen ſie miteinander weiter. Olly war ploͤtzlich muͤde. Sie kamen nur langſam vorwaͤrts. „Ich weiß nicht, was mir tft”, meinte fie. „Es iſt wieder die bleierne Müdigkeit. So mit einem Mal.“
„Na, das kam ja immer ſchon fruͤher,“ ſagte Emil, „das hat wohl nichts zu ſagen. Komm nur.“
Jetzt ſtanden ſie miteinander unten an der Iſar. Die floß ſo klar und durchſichtig und eiſigkalt vor ihren Fuͤßen hin, und der Wind ſtrich daruͤber und drang ihnen durch die Kleider. Der Fiſch ſchnickte ganz gewaltig, es war, als wenn er die Freiheit witterte.
„Ob's ihm nun gerade hier in der Iſar behagt?“ ſagte Emil. „Ich glaube, da unten fließt das Waſſer ruhiger, da kann er ſich beſſer aufhalten, das iſt ſo wie eine Art Teich. Weißt du, ein Karpf liebt das Ruhige und Sumpfige.“
Sie gingen miteinander dem Wind entgegen. Olly war ganz kraftlos und hielt ſich an Emils Rockaͤrmel. Emil wirt⸗ ſchaftete im Netz mit beiden Haͤnden an dem Karpfen herum. „Jetzt haben wir ihn“, ſagte er. Der Karpfen glaͤnzte in der
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Sonne und unter dem blauen Himmel wie ein großes Stuͤck Gold.
„Jetzt! Paß auf!“ Emil bog ſich weit vor, und Olly ſah, wie der Fiſch wie ein Pfeil, goldglaͤnzend, in das Waſſer ſchoß. Ein kleiner Wirbel — ein Huſchen — ein glaͤnzender Streif — und er war verſchwunden.
„Da faͤhrt er hin“, ſagte Emil.
„Der iſt nun frei“, meinte Olly, „und geſund.“
„Jawohl,“ beſtaͤtigte Emil, „dem fehlt nix.“ |
Jetzt mußte der Weg wieder erftiegen werden. „Verflucht! Verflucht! Verflucht! Du biſt aber nett muͤde.“
Sie kamen gar nicht vorwaͤrts. „Wir muͤſſen uns ein bißchen ſetzen“, ſagte ſie. „Ich weiß nicht, was iſt denn das nur?“
So brauchten ſie laͤngere Zeit. Olly konnte kaum ſprechen vor Heiſerkeit. Und Emil lief jetzt nach einer Droſchke voraus. „Was iſt denn mit ihr?“ dachte er unterwegs.
Als fie miteinander in der Droſchke ſaßen, wurde Olly von einem inneren Froſt geſchuͤttelt, und Emil ſchaute ihr ganz verbluͤfft zu. „Das iſt eine dumme Geſchichte“, dachte er.
Daheim legte ſie ſich auf ihr Sofa, Wangen und Kopf gluͤhten. Emil blieb bei ihr, trotzdem ſie immer von neuem ſagte: „So geh doch, dummer Junge. Du mußt an deine Arbeit — Faulpelz! Nun waͤrſt du wieder einmal froh, fuͤr drei Pfennig Urfach’ zu haben zum Bummeln.“
„Nein, nein, wir haͤtten nicht gehen ſollen, Olly“, meinte Emil ganz bedruͤckt. „Ich wollte, Mimm haͤtte den Karpfen im Magen. Das wär’ beſſer geweſen. Du kannſt das Sen⸗ timentale doch nicht leiden. Die Karpfengeſchichte iſt aber ſchaͤndlich ſentimental.“
„Nein“, ſagte Olly. „Gar nicht.“
An dieſem ſelben Tage kam der Doktor, wie er geſagt hatte, und nahm die erſte eingehende Unterſuchung vor. Gaſtelmeier ſtand betroffen dabei. Als er Olly unter den
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Haͤnden des Arztes fah, fo hilflos unter einer fremden Macht — da legte ſich es ihm wie eine dunkle Wolke uͤber die Seele. Was war denn das? Es draͤngte ſich etwas bei ihnen ein, etwas Dunkles, Unerwartetes, etwas, auf das nicht ge⸗ rechnet war.
Der Arzt ſagte, daß alles, was jetzt nicht ſo ganz in Ord⸗ nung ſei, ſich geben werde. Er ſprach von Ruhe und Pflege, ſchimpfte uͤber den Unſinn, daß Olly bei dem Winde heute ausgefahren war. Sie ſollte jetzt daheim bleiben wochen⸗ lang, jedenfalls ohne aͤrztliche Erlaubnis nicht ausgehen.
„Na, was iſt's denn?“ fragte Gaſtelmeier hart, um ſeine Sorge zu verbergen.
„Was wird's denn ſein?“ ſagte der Arzt. „Wir haben da ein ſehr zartes Frauchen, das eine Weile noch gepflegt werden muß. Wenn fie vernuͤnftig iſt, macht ſich alles gut.“ Er hieß Olly ſich ruhig auf das Sofa legen. Emil breitete ihr eine Decke über die Kniee. „So, mein Kind, fo werden Sie jetzt ganz ruhig und friedlich bleiben. Sie haben Fieber, und ich ſollte Sie eigentlich zu Bett ſchicken; aber ich weiß, wir haben es mit einem unruhigen Geiſt zu tun.“
Olly aͤußerte ſich in keiner Weiſe. Sie lag ſtill und matt da und ſchien ſich nach der Anſtrengung des Tages doch recht unwohl zu fuͤhlen. In der Daͤmmerſtunde aber kam Koͤppert unerwartet. Als das Maͤdchen ihn meldete, flog es wie ein Sonnenſtrahl uͤber Ollys Geſicht, und auch Gaſtelmeier kam er wie gerufen.
Olly wollte ſich erheben, aber Koͤppert ging auf ſie zu und druͤckte ſie zart und freundlich wie ein krankes Kind in die Kiſſen zuruͤck, ſo einfach und natuͤrlich und ohne ein Wort dabei zu ſagen. Er legte ihr auch die Decke wieder uͤber die Kniee — geſchickt und ſorgſam. Es war keine Spur von Fremd⸗ heit bei ihm zu ſpuͤren: dann ſetzte er ſich neben Ollys Lager und erzaͤhlte dies und jenes, und kam auch wieder auf ihre Bilder zu ſprechen und machte ihr allerlei Vorſchlaͤge. Er
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ſprach zu ihr wie zu ſeinesgleichen, ohne alles Goͤnnertum, wie der Kuͤnſtler zum Kuͤnſtler.
„Sonderbar,“ ſagte Olly, „weshalb ſind Sie ſo gut zu mir? Halten Sie mich wirklich für etwas — etwas — ich weiß nicht — darf ich's nennen?“ ö
„Ja“, ſagte Koͤppert.
„Kür ein Talent?“ Wie klang die arme Stimme tonlos, zaghaft und heiſer.
„Ja“, ſagte Koͤppert.
„Und deshalb ſind Sie wieder gekommen, um es mir noch einmal zu ſagen?“ |
„Na ja.“
„Nun heißt es raſch geſund werden!“ ſagte ſie, und die Augen leuchteten ihr in einem fieberhaften Gluͤck.
„Ruhig — ruhig! Sie wiſſen doch noch. Erinnern Sie ſich — ,Ynfett'. Erinnern Sie ſich“s?“
„Ja, ja“, fluͤſterte Olly. „Man muß es erſt lernen, fo zu denken.“
Koͤppert wohnte bei ſeiner alten Mutter und hatte ihr, auf die Frage, wohin er ginge, geſagt: „Zu einem armen Seelchen.“
„Na, was das nun heißen ſoll? Da wird er wieder ſo etwas aufgetrieben haben,“ hatte die alte Frau gedacht, „irgendeinen Unſinn.“
Achtes Kapitel
n einer Nacht erwachte Olly in tiefer Dunkelheit. Sie
hatten ihr das Bett auf dem Schlafſofa im geheizten Zimmer gemacht. Es war eine ungewohnte Art zu liegen für fie und ein ungewohnter Raum. Sie erwachte voll kommen verwirrt und wußte ſich nicht zurecht zu finden. Wo lag ſie? In welchem Zimmer? Sie ſtarrte vor ſich hin, ratlos und angſtvoll, wollte nach den Streichhoͤlzern an ihrem Bett ſuchen, kam nicht damit zurecht. Das Blut ſtieg ihr zu Kopf, das Herz ſchlug ihr, Haͤnde und Fuͤße brannten. Im Hals empfand ſie, was ſie ſchon lange empfunden, — etwas Fremdes.
Es war da etwas, was nicht ſein ſollte, etwas Unertraͤg⸗ liches, ein Koͤrper, ein Splitter, etwas, das heraus mußte, etwas, das ihr Angſt machte. Es war ihr, als muͤßte ſie in dieſer Verwirrung erſticken. Sie ertaſtete die Wand, und mit einem Ruck war alles in Ordnung.
Jetzt ſah ſie auch die Fenſter. Es ſchimmerte von draußen ein kaum merkliches, mattes Licht herein. Sie atmete auf; aber die Laſt, die ſich waͤhrend der Verwirrung ihr auf die Bruſt gewaͤlzt hatte, blieb. Die dunkeln Gedanken kamen, die Gedanken, die vom Licht verſcheucht werden, die aber in der Nacht ſich wie Raubvoͤgel auf die ſtuͤrzen, die der Schlaf flieht. Mit ihren großen, dunkeln Fluͤgeln kommen ſie heran⸗ geflogen, maͤchtig, lautlos, und ſenken ſich auf die arme Seele nieder, die ſich wie ein Haſe zuſammenduckt, wenn der Uhu uͤber ihm iſt.
So kauern tauſend und abertauſend armer Seelen ſchlaf⸗ los in dunkler Nacht, und irgendein Entſetzen hat die Krallen in ſie eingedruͤckt und ſchlaͤgt mit den Rieſenfluͤgeln brauſend und betaͤubend uͤber ihnen. Und Scharen ſolcher urwelt⸗ licher Rieſennachtvoͤgel gibt es. Scharen, die ſeit Anbeginn nachts ihre Jagd auf die Menſchen machen.
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Sie zögern mit dem Todesſtreich. Die Herzensangſt, die ſie unter ſich zappeln fuͤhlen, macht ihnen Spaß. Sie weiden ſich an der Todesangſt ihrer Opfer — und ſie vergnuͤgen ſich daran, bis das Tageslicht ſie verſcheucht. Aber ſie kommen wieder und immer wieder.
Über der kleinen, armen Haſenſeele in der dunkeln Stube ſchwebte jetzt der grauenhafteſte Unhold und quaͤlte ſein Opfer.
„Mimm!“ rief Olly in Todesangſt, mit einer ganz herz⸗ zerriſſenen Stimme und ſo heiſer und krank und zitternd. „Mimm!“ noch einmal. Er hoͤrte nicht. Er lag in der Neben⸗ ſtube und ſchlief ſo feſt.
„Mimm!“ klang es wieder, und jetzt mit einer Bangigkeit, daß ſie ſich ſelbſt vor ihrer Stimme fuͤrchtete.
„Was denn, Olly?“ rief er ſchlaftrunken.
„Bitte, Mimm, bring“ Licht.“
Es dauerte eine geraume Weile, bis er in ſeinem grauen, ſteifen Schlafrock und mit einem Licht eintrat. „Was iſt denn los, Olly?“
Sie lag ſtumm da, ohne zu antworten. Der Mann im Schlafrock fuͤhlte ein Paar große, aͤngſtliche Augen auf ſich gerichtet. Was faͤllt ihr denn nur ein? Es war das erſtemal in ſeinem Leben, daß ſeine Nachtruhe durch die Qual eines andern geſtoͤrt wurde. Das war unbequem. Aber er nahm ſich zuſammen und ſprach ſehr freundlich und ſchlaͤfrig mit ihr.
„Na, was iſt denn, mein Herzblatt?“
„WMimm,“ ſagte fie, „Mimm.“ Weiter kam fie nicht. Aber er ſah, wie ihr zwei große Traͤnen uͤber die Wangen rollten. „Mimm, ich bring's zu nichts — es wird nichts mit allem.“
„Herrgott, in deine Haͤnde!“ dachte Gaſtelmeier. „Jetzt fängt das Rangieren auch nachts an. Natürlich nachts, das iſt ja das Eigentliche. — Himmliſche Chriſtine!“
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Er ſtand ſtumm da, denn außer zu dieſem eben berichteten Gedankengang war er zu nichts fähig. Sie tat ihm ſehr leid, daß ſie nicht ſchlafen konnte und ſich, wie es ſchien, nicht wohl fuͤhlte; aber was ſollte er dabei tun?
„Wimm, ich bin ſehr krank.“
„Dummes Zeug“, ſagte er. „Bis heute iſt dir das doch nicht eingefallen, nun mit einem Mal. Dieſer verdammte Menſch, der Doktor, das haben wir von ſeiner Unterſucherei.“
„Ja, mit dem Hals. — Papa iſt auch daran geſtorben“, ſagte Olly eigentuͤmlich kuͤhl.
„Na, und da meinſt du, weil du ein biſſerl Hals⸗ ſchmerz haſt, es geht auch gleich zu Ende. Du kleiner Narr.“ Er taͤtſchelte ihr die Wange; aber es war ihm nicht behaglich zumute. „Iſt es dir denn ſehr ſchlecht?“ fragte er.
„Nein, nur ſo angſt.“
„Unſinn.“
„Mimm, ob du eine Ahnung haſt, was mir meine Arbeit iſt?“ fragte ſie.
„Das dacht’ ich, muͤßt“ ich wiſſen, du.“
„Du weißt nichts. Ich moͤchte noch ein paar Jahre leben.“
„Na, das wirſt du ja doch auch“, lachte er.
„Haft du gehört, was Köppert von mir ſagt?“
„Das laͤßt dich nicht ſchlafen, du Eitelkeit?“
„Nein“, ſagte ſie.
„Schaͤm“ dich.“
„Wenn ich einmal beruͤhmt bin, werd“ ich unendlich ge⸗ duldig fein — aber bis dahin —“
„Werden wir rangieren“, fuͤgte Gaſtelmeier hinzu.
„Was meinſt du damit?“
„Gar nichts.“
„Ach, Mimm!“
„Geh, ſchlaf nun.“ Er wollte ſich wieder aufmachen, in ſein Zimmer zu gehen.
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„Bleib noch“, bat Olly angſtvoll.
„Was iſt denn nur?“ fragte er. „Das kannſt du mir ja, dacht’ ich, alles morgen ſagen.“
Wieder ſah er Traͤnen uͤber ihre Wangen rollen. Er war zu barſch geweſen. Aber das mußte ſie ſich abgewoͤhnen. Wahrhaftig, er kam ſich wie eine Kindermuhme vor. Das war nichts fuͤr ihn. Nachts auch ſo eine Wirtſchaft, und wenn er ſich nicht etwas auf die Hinterbeine ſtellte, gewoͤhnt ſie ſich womoͤglich dieſe naͤchtlichen Unterhaltungen an. „Alſo ſchlaf jetzt“, ſagte er kurz.
„Mimm, weißt du noch, als du mir damals in den Wagen halfſt, war deine kleine, dicke Pfote ſo ſanft und ſorgſam. Lach“ mich nicht aus; — aber damals haſt du eigentlich mein Herz gewonnen.“
„So“, ſagte Gaſtelmeier. Er wußte nicht recht, was er darauf erwidern ſollte. Er war rieſig ſchlaͤfrig. „Weißt du, Olly, das iſt wirklich nur moͤglich in der allererſten Ver⸗ liebtheit.“
„Schade,“ ſagte fie, „es war fo huͤbſch. Sag wenigſtens noch etwas Gutes.“
„Na, was denn?“
„Irgend etwas. Sag', daß ales gut wird.“
„Na, ja, es iſt ja ſchon alles gut.“ Er klopfte ihr auf die Wange und wollte nun endlich gehen.
„Laß das Licht hier brennen“, bat ſie ihn.
„Mach's aber aus, Olly, vergiß nicht.“
„Ich vergeß nicht. Morgen möcht’ ich aber ein Nachtlicht haben.“
„Dann beſorg's dir, mein Kind.“ Damit ſchluͤrfte er ab. Sie hoͤrte das Bett krachen, als er ſich ſchwer und halb ſchon wieder im Schlaf hineinwarf. Sie aber ſtand auf und holte aus einem Schiebkaſten, den ſie behutſam aufzog, ein Spiegel⸗ chen und ſchaute mit blinzelnden Augen und geoͤffnetem
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Mund den armen Hals an, in dem das Fremde ſteckte. „Das mit geht's nicht“, dachte ſie. „Er hat ja auch ein Extra⸗ ſpiegelchen gehabt.“
Matt und muͤde legte ſie ſich wieder und ſchaute ins Licht — und wagte nicht, es zu loͤſchen, weil ſie ſich vor der Dunkelheit fuͤrchtete und vor neuer Angſt und Qual.
Aber endlich wurden die Augen wieder ſchwer, das Un⸗ behagen dumpfer. Sie loͤſchte das Licht mit den Finger⸗ ſpitzen, um ſich nicht bewegen zu muͤſſen, und ſchlief ein, ſo ſchnell, daß der uralte Vogel, der die ſchlafloſen Kranken nachts beſucht und aͤngſtigt, nicht Zeit hatte, ſich auf ſie nieder⸗ zulaſſen.
m andern Morgen kleidete ſie ſich haſtig an und blieb den ganzen Vormittag ſtumm uͤber ihrer Arbeit. Sie ar⸗ beitete mit heißen Wangen und feuchter Stirn. Ihre Hand war nicht ſicher, ſie zitterte, und es machte ihr Muͤhe, die Palette zu halten. Das war die ganze letzte Zeit ſchon ſo geweſen, heute aber war es bedeutungsvoller als ſonſt. Sie fuͤhlte es mehr, ſie war darauf auf⸗ merkſam gemacht worden. Dennoch arbeitete ſie an⸗ haltender als ſonſt. Es war aber kein frohes Arbeiten wie fruͤher, ſondern ein Kampf gegen einen Rieſen, der unſichtbar, wie im grauen Nebel ſteckte, deſſen Fauſt aber ſchwer auf ihr lag. | Sie hatte ſeit ihrer Krankheit (hon oͤfters während des Malens eine ſonderbare Schwaͤche gefuͤhlt. Die Haut wurde feucht, wie uͤbergoſſen. Jeder Lufthauch machte ſie dann er⸗ ſchauern, durch das geſchloſſene Atelierfenſter ſchien ihr ein eiſiger Zug zu dringen. Und ſie hatte ſich nicht anders helfen koͤnnen, als damit, daß ſie ſich umzog und haſtig einfeuerte. Heute kam es wieder ſchlimmer als je. Die Arbeitswut und der Eifer aber, der ſie gepackt hatte, war ſtaͤrker als alles. Sie ſtemmte ſich gegen die Schwaͤche, gegen die feuchte Kaͤlte.
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Sie fühlte bei jeder Bewegung, wie ihr das Leinen an ber Haut klebte. Das Haar lag ihr auch feucht auf der Stirn; aber fie hielt nicht inne, biß die Zähne aufeinander und ar⸗ beitete weiter.
Und während fie arbeitete, hörte fie Koͤppert ſprechen, fo deutlich, als wäre er im Zimmer. Er ſprach von ihrer Arbeit. Er lobte, er ſagte alles noch einmal, was er ihr ſchon geſagt hatte. Das Bild hatte ihm gefallen. Die Haltung des Maͤd⸗ chens hielt er fuͤr vollkommen gut, die ſprach aus, was ſie
ausſprechen ſollte: das Dumpfe, das Muͤdgearbeitete, das
Ausruhen, das Menſchliche, das Einfache. Er hatte es ganz verſtanden.
Und wie ſie das Menſchliche, das Einfache, das Tiefwahre liebte! Mit welcher Leidenſchaftlichkeit, mit welchem Jubel gab ſie es wieder! Und mit welchem Jubel fuͤhlte ſie ſich verſtanden, — und von dem verſtanden, der ihr der Meiſter war, der ſie durch ſeine Werke dieſen tiefinnerlichen Weg hatte finden laſſen!
„So redet doch von Schoͤnheit, redet doch und ſucht ſie uͤber den Menſchen und uͤber den Wolken und ſtolpert dar⸗ uͤber. Und uͤberall iſt ſie — und ſo ruͤhrend und ſo geheim⸗ nisvoll, ſo ganz fuͤrs Herz! — Ja, man ſieht einen Menſchen und denkt gar nichts dabei. Von dem, was ſchoͤn iſt, iſt er weit entfernt. Und mit einem Mal, wenn man ſich in ihn hineindenkt, iſt er ſo ſchoͤn, ſo unnachahmlich, ſo voller Ausdruck, ſo ganz Menſch, ganz Geſchichte ſeines Daſeins.“
So hatte er geſprochen. Und ſie dachte jedes ſeiner Worte wieder zu erhaſchen. Sie tauchten vor ihr auf wie die frühen Sterne am daͤmmerigen Abendhimmel, ein Stern nach dem andern. — Einer — dann noch einer, dann wieder einer. Und mehr und mehr. Den Worten nachjagen, die ein Menſch geſprochen, mit einer Wonne nachjagen, daß ihrer keins ver⸗ loren ging — ja, das war Leben. Und zum allererſtenmal!
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Hatte fle fich je aus innigſtem Bedürfnis ein Wort zuruͤck⸗ gerufen, das irgendein Menſch geſprochen? Nie. Und jetzt mit welcher Luſt, welcher Tollheit, als wenn es Perlen waͤren, die ihr davonrollen wollten. Und ſie wurde nicht muͤde und arbeitete dabei mit einer Haſt, einer Inbrunſt, einem Jubel. — Wie unheimlich! Es rann ihr uͤber die Stirn ein Tropfen an der Schlaͤfe herab, ſo, als waͤre ſie in Sommerhitze einen Berg hinaufgeklommen — und es war Winter, und im Atelier war's kuͤhl. Das innere Feuer ließ nach, und wie ein krankes Kind, das vom Spiel ermuͤdet iſt, legte ſie ſich nieder, das Geſicht in die Arme vergraben.
„Soll ich gehen?“ fragte das Modell.
„Nein, bleiben.“ Und es dauert nicht lange, da war ſie wieder an der Arbeit, hatte ſich aber ein dickes Tuch umgelegt und es wie eine Kapuze uͤber den Kopf gezogen.
Am Nachmittag kam Koͤppert wieder. Er traf ſie noch bei der Arbeit. Sie hatte ſie nur unterbrochen, um haſtig zu Mittag zu eſſen. |
„Nun, gottlob!“ ſagte Gaſtelmeier, „nun wird ja wohl endlich Ruhe werden.“ Und es wurde Ruhe. Koͤppert be⸗ ſtand darauf, daß Olly ſich auf das Sofa legte, und er und Gaſtelmeier ſetzten ſich zu ihr.
Wie ſie geborgen war, und wie in einer Feſtfreude! Das Gluͤck kam wahr und wahrhaftig!
„Deine Frau iſt zu fleißig, Gaſtelmeier.“
„Jawohl“, ſagte der arme, geprüfte Ehemann. „Da iſt eine Lokomotive eher aufzuhalten als ſo ein Frauenzimmer. Das verſuch' mal einer.“
„Was — ſoll denn fo ein Hühnchen, fo ſchwer —“
„J wo, Huͤhnchen“, unterbrach ihn Gaſtelmeier. „Nein, wahrhaftig, Koͤppert, red“ gefaͤlligſt von den Frauenzimmern gar nicht mit. Wart erſt!“
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„DO du!“ ſagte Olly zu ihrem Mann, „was weißt denn du, kleiner Mimm.“
„Ich? na, weißt du, Olly — reden wir nicht davon.“
„Ich weiß, ich bin eine ungemuͤtliche Perſon“, ſagte Olly und ſtrich Mimm uͤber den Rockaͤrmel. „Mimm muͤßte eine ganz andre haben, er iſt ſo gemuͤtlich. — Herrgott, und daß ich jetzt krank bin! Weshalb hat mich das nun gerad“ ge⸗ troffen, gerad jetzt!“
„Sagen Sie mal,“ fragte Koͤppert, „haben Sie jemals gehoͤrt, daß einer ſagt, wenn etwas Gutes kommt: Herr⸗ gott, weshalb trifft mich's gerade? Haben Sie das?“
„Nein“, ſagte Olly, „nie!“
„Aber wenn etwas Boͤſes kommt, ſagt's jeder. — Weshalb trifft mich 's nun gerade? Verſtehen Sie? ich meine — —“
„Das wär’ fo eine Frage für deine Mama, Olly,“ warf Gaſtelmeier dazwiſchen, „die wuͤrde diſputieren, Herr du meine Güte, ich Hör’ fie ordentlich: Kant ſagt — und fo weiter.“
„Gut, daß niemand da iſt, verzeihen Sie, jemand, der nichts andres weiß, als: Kant ſagt — Schopenhauer ſagt und fo weiter. — Zum⸗aus⸗der⸗Haut⸗fahren! Zum Beiſpiel, Kant iſt einfach ein Julklapp, man muß ihn nur kennen, dieſen Menſchen“, ſagte Koͤppert.
„Oho!“ ſagte Gaſtelmeier, etwas von oben herab. Er kannte ſeinen Goethe, wie wir wiſſen, und von Schopen⸗ hauer wußte er, wie alle gebildeten Leute, daß er in einem Kapitel großartig uͤber die Weiber losgezogen war. „Wieſo iſt Kant ein Julklapp? Weißt du, Köppert, es gibt Dinge, an die wagt man ſich meines Dafuͤrhaltens nicht ſo ohne weiteres heran.“
„Moͤcht“ wiſſen, weshalb nicht, Kant iff und bleibt ein Julklapp, da hilft ihm gar nichts. Jeder halbwegs Ver⸗ nuͤnftige muß das einſehen.“
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„Wiſſen Sie“, wendete er ſich an Olly, die nicht recht ver; ſtand, was er mit dem Wort ſagen wollte, „die Weihnachts⸗ geſchichte? — Julklapp — das iſt ein Gebrauch fo im Norden droben — irgendwo. Es wird eine große Kiſte zum Fenſter hereingeſchoben, die wird mit unſinniger Mah’ aufgemacht, da iſt ein Sack in der Kiſte, und in dem Sack wieder ein Sack, und in dem Sack wieder ein Sack — und ſo fort bis in die Unendlichkeit; — und im letzten Sack iſt ein Buͤndel, und in dem Buͤndel wieder ein Buͤndel, und im letzten Buͤndel Lappen, und in den Lappen Papiere, und in den Papieren wieder Papiere, und in den Papieren eine Schachtel, und in der Schachtel Schachteln, immer eine kleiner als die andre, und in dem allerallerletzten Schaͤchtelchen: Na? — was iſt da drin gefaͤlligſt? Gar nichts — ſo ein Zettelchen, und da ſteht was drauf — und man denkt Gott weiß was — und was iſt's? — ‚Grüß Gott! — fo etwas, was jeder (hon weiß. — So iff Kant, genau fo. Kennen Sie Kant?“
„Nein“, ſagte Olly und lachte.
„Na alſo? Es iſt mein voller Ernſt. Wenn ich nur von den ſogenannten großen Tieren nichts mehr zu hoͤren brauchte! Die verdummen ſchließlich mit ihrem bißchen Weisheit die ganze Welt. Kein Menſch denkt mehr, ſondern jeder ſagt: Kant ſagt — Schopenhauer ſagt, und ſo weiter — die reine Peſt! Die paar Firmenſchilder, die ſich die Menſchheit an⸗ geheftet, damit ſoll der ganze Sums gemacht ſein. Die ſollen alles tun — und zum Dahinterverkriechen ſind ſie auch famos. Schade, daß ihr keine Freßgenies gehabt habt, die Jahrtauſende vordem euch ſchon alles vorgekaut haben. Das möcht’ euch paſſen? He? Proſte Mahlzeit, die würde gefaͤlligſt niemand zitieren. Selber eſſen macht fett.“
„Gewiß“, ſagte Olly lachend.
„Jetzt moͤcht ich wirklich wiſſen,“ fuhr Koͤppert lebhaft fort, „ſowie einer im lieben Deutſchland fuͤr drei Pfennig Bildung, das heißt, ſo viel wie noͤtig Firmenſchilder aus⸗
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gehängt hat, daß man moͤglichſt von feiner Perſon nichts mehr zu ſehen bekommt; ob der noch ein vernuͤnftiges, nicht geſtohlenes Wort ſpricht? — Gott bewahre. Wenn er ſpa⸗ zieren geht, und er will irgend jemand mitteilen, daß er ſich von dem Anblick der Natur angenehm gekitzelt fuͤhlt, ſo wert’ ich, daß er ſagt: Sieh“ mal fo etwas — der reine Millet, oder der reine Dagman⸗Bouveret, oder der reine Boͤcklin! — Er wird irgendwen zitieren — einen Namen, verſteht ſich —“
„Nu, fag mal, Köppert,” fragte Gaſtelmeier, „weshalb eigentlich haſt du dich jetzt ereifert? Kein Menſch hat irgend etwas gefagt.”
„Nein,“ erwiderte Koͤppert, „niemand. Aber ſieh dich ge⸗ faͤlligſt einmal im Zimmer um, eine gewiſſe kleine Perſon hat ihren Spaß daran gehabt — ſieh doch. Als ob es nichts waͤre, wenn ſo ein Seelchen zum Lachen kommt. Oder etwa nicht?“ Er fuhr ſich durch den Haarſchopf. „Meinſt du, es iſt verdienſtlicher, eine Kanone abzuſchießen? Oder es iſt ver⸗ bienftlicher, eine Vorleſung zu halten, oder vor fuͤnfhundert Eſeln das hohe C zu ſingen, oder auf dem Seil zu tanzen? Was iſt eigentlich vernuͤnftiger? Weißt du, Gaſtelmeier, wenn du deine Frau vergnuͤgen willſt, ſei kein zu großer Biedermann. Das iſt nichts fuͤr Weiber!“
„Oho,“ meinte Gaſtelmeier, „ich ſagte dir (hon, Kdppert, was weißt denn du von den Weibern? Heirate eine, wenn du's wiſſen willſt — vorher red’ net.“
„Weiß er's denn?“ fragte Koͤppert und kniff die Augen zuſammen. |
„Er weiß gar nichts“, lachte Olly. „„Die! Weiber, das iff überhaupt ein ſehr komiſcher Sammelname“, fuhr fie fort. „Wer ,die Weiber ſehr gut zu kennen glaubt, kennt ‚bag‘ Weib gewiß nicht. — Jawohl, Mimm. Und wiſſen Sie, noch etwas —“
„Na?“ ſagte Koͤppert.
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„Es gibt jetzt etwas, das hat es noch nie gegeben, fo wie ich's meine: — das moderne Weib, und das iſt immer in der Einzahl. Verſtehen Sie?“
„Nein — nein, das hab“ ich noch nicht verſtanden.“ Er fuhr ſich mit ſeinem energiſch geformten Zeigefinger uͤber die Stirn bis zur Naſenwurzel. „Sie ſollen es mir auch nicht erklaͤren — nicht viel reden. Paſſen Sie auf, ob ich's hab'. Natürlich iſt's das Weib, das die Haͤnde nach Dingen aus⸗ ſtreckt, die wir Scheuſaͤler ihm jahrtauſendelang vorenthalten haben.“
Er murmelte immer, man verſtand ihn nicht leicht, dazu ſprach er undeutlich aus.
„So, was ſich ‚moderne Frau‘ nennt, meinen Sie? Sie ſagten doch ‚moderne Frau“? — Da, ſtell“ ich mir vor, iſt ein Hunger, ein Verſchmachten nach: ſagen wir ganz trocken — ſie will Selbſtaͤndigkeit und Heraustreten aus den Maſſen. Da kocht es in den kleinen Toͤpfchen, als brodelte Genie darin, mag auch hie und da vorhanden fein; weshalb nicht? Im ganzen aber wirft die Natur Blaſen auf, es will etwas werden. Natürlich kocht es überall. Wir Manns bilder wer⸗ den Gott weiß was, Maler, Mediziner, alles mögliche. Da gibt es keine Hinderniſſe, da iſt Windſtille, alles in Ord⸗ nung.“
Koͤppert fuhr ſich wieder uͤber die Stirn bis zur Naſen⸗ wurzel; man haͤtte meinen ſollen, er haͤtte ſich ſchon im Lauf der Jahre eine foͤrmliche Rinne gegraben. „Das Weib aber, das Weib in der Einzahl,“ murmelte er, „da iſt die Sache anders. Es greift nach etwas, zitternd vor Kraft und Wollen. Es iſt eine Heldin, es kaͤmpft und hat keinen Boden unter den Fuͤßen, muß erſt jede Handbreit Boden erkaͤmpfen. Das iſt eine Unmoͤglichkeit, ſcheint es, aber ſie macht's moͤglich, naturlich mit wunderlichen Spruͤngen. Lacht nur über fie. Sie rechnet auch mit dem Lachen. Aber aufhalten! Teufel auch, das kann ſie nicht vertragen. Sie will eben vorwaͤrts.
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Punktum. Iſt das fo ungefähr der Sums? Sie wird ein Daͤmon, wenn ſie aufgehalten wird!“
„Wahrhaftig“, ſagte Olly. „Und wiſſen Sie noch etwas. Sie hat Durſt nach Ruhm. Ich kann es nicht anders ſagen. Es graut ihr davor, wie ein Hund zu ſterben. Tauſende von Maͤnnern haben Ruhm errungen; ſie will die Wonne auch haben, und ihr Ruhmdurſt iſt fürs erſte größer als eurer. Sie will's natuͤrlich fuͤr ſich erreichen; aber doch nicht nur für ſich. Mit dem, was ich erreicht habe, able ich euch alle. Ihr haͤttet es auch gekonnt, viele von euch — und beſſer.
Verſtehen Sie mich auch?“ fragte ſie heiſer. Und wunder⸗ licherweiſe ſtanden ihr Traͤnen in den Augen.
Sie war vom Sofa aufgeſtanden und ging im Zimmer auf und nieder. „Ja,“ ſagte ſie mit zitternder Stimme, „alles Aufhalten iff Qual. Sie haben ganz recht. — Und krank fein! Wiſſen Sie, krank fein, das iſt's.“
„Und ſo was“, meinte Gaſtelmeier im Scherz, „ſo was hat man geheiratet. Ja, ſiehſt du, Koͤppert.“
„Armer Mann“, ſagte Olly erregt und mit gluͤhenden Wangen. „Du biſt an etwas Schoͤnes gekommen.“
„Ruhig, ruhig“, brummte Kdppert. „Inſekt — einfach Inſekt — erinnern Sie ſich's noch? Der da oben kennt ſich laͤngſt nicht mehr zwiſchen einer Handvoll Leuten und einer Handvoll Raͤupchen aus. Alſo wozu der Sums? Na, wozu? Trauerſpiele auffuͤhren hat keinen Sinn, abſolut nicht. Hoͤren wir endlich damit auf, dem Schickſal immer wieder den Gefallen zu tun. Nicht wahr? Na, alſo.“ Er fuhr ſich durch den Haarſchopf. „Neulich ging ich nachts an der Tuͤrkenkaſern“ vorüber, da ſtanden zwei beſoffene Kerle, der eine droſch auf den andern, hob den Arm, um auszuholen, und brummte: „Sag“ du noch einmal Lallenſtedt — bu!‘ Na, und der andre ſagte: „Lallenſtedt' ganz gehorſam. Bums, da hatte er's. — ‚Sag noch einmal Lallenſtedt, du!“ „Na — — Lallenſtedt' ſagte der andre. Bums, da hatte er's wieder.
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Und noch einmal, und fo ging's fort, es war immer dads ſelbe, gerad’ wie zwiſchen uns und dem Schickſal. Es will, wir follen ‚Lallenftedt‘ ſagen — und wir fagen „Lallenſtedt', ſo oft es von uns verlangt wird, und werden jedesmal ge⸗ hauen. Weshalb machen wir ihm eigentlich immer den Spaß? Wenn wir's Maul hielten, wuͤrde es ſchon muͤrb werden und uns in Ruhe laſſen. Maul halten, das iſt auch eine Art Erloͤſungswerk fuͤr die Menſchheit.“
„Ich verfteh’ Sie“, fagte Olly immer noch tief erregt. „Aber Sie ſind geſund. Sie haben gut reden.“
„Und was denn! Sie werden auch wieder geſund“, ſagte Koͤppert.
„Vielleicht — vielleicht auch nicht. Weshalb ſoll mich gerade das Boͤſe nicht treffen? Sagten Sie's nicht?“
„So, das hab' ich dumm gemacht, ſo ein Schafskopf“, erwiderte Koͤppert und ſchlug ſich vor die Stirn. „Aber wie Sie auch auf alles hereinfallen!“ Das unregelmaͤßige Ge⸗ ſicht mit den geſcheiten Zuͤgen nahm einen wunderlich weichen, jungen Ausdruck an. „So ein Teufel! Komme her, um Sie auf frohe Gedanken zu bringen, und hetze Sie, Gott weiß wie.“
„Na, Kinder, gebt Ruh jetzt“, ſagte Gaſtelmeier.
„Gefuͤhlsflohjagd!“ brummte Koͤppert vor ſich hin und war mit ſeinen Gedanken irgendwo.
„Weißt du, Koͤppert,“ ſagte Gaſtelmeier, als Olly in das Nebenzimmer gegangen war, „meine Frau iſt jetzt in einer unglaublichen Stimmung, ich verfteh’ gar nicht, was iſt denn eigentlich los?
Olly!“ rief er. Sie kam.
„Denk dir, was fie mit einem Weihnachts karpfen gemacht hat. Weißt du's? Erſt für teures Geld gekauft und dann in die Iſar gelaſſen!“
„Marlitt?“ fragte Koͤppert freundlich ſchlau laͤchelnd und kniff dabei die Augen zuſammen. „Das iſt Marlitt, ſo etwas.
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Herrgott, wozu? Machen Sie damit die Welt beſſer? Ein; fach Gefuͤhlsflohjagd. Macht euch doch das Leben nicht ſo unſinnig ſchwer, Inſekten! Gnaͤdige Frau, der Karpfen iſt zum Eſſen da. Punktum. Naͤchſten Sommer wollten wir miteinander ſiſchen gehen. Das Raubtier in uns muß hin und wieder etwas zu tun bekommen, das Altjuͤngferliche in uns muß fort. Das ſetzt ſich ſonſt an und frißt ſich ein. So wird nie ein gewiegtes Huhn aus uns. Wiſſen Sie, wie ein ſchoͤner, ſtrammer, lebensluſtiger Karpfen ſich erwiſchen laͤßt?“
„Nein“, ſagte Olly.
„Alſo, ſo ein Karpfen iſt auch ein gewiegtes Huhn. An einem warmen, truͤben Tag wirft man die Angel aus. Ein Teich; breite, gruͤne Blaͤtterfladen ſchwimmen drauf, welche die Suͤßlichkeitspoeten uns eben fo verekelt haben, daß ein anſtaͤndiger Menſch ſie nicht mehr zu nennen wagt. Na alſo Seeroſen.“ Koͤppert fuhr ſich zum Zeitvertreib einmal wieder durch den Haarſchopf. „Die ſind gut fuͤr den Karpfen, wie ein Dach liegen ſie uͤber dem Waſſer und halten die Sonne ab. Er iſt Sybarit. Jetzt kommt er, friſch und vergnuͤgt und denkt ſich irgend was. Er bummelt oder Gott weiß, was er treiben will. Er iſt im ſchoͤnſten Lebensalter, uͤbermuͤtig, unternehmend, ein Prachtkerl! Jetzt merkt er was. „Halt fill,“ denkt er, ‚was iff denn das? — Aha! Nun (haut er ſich die Geſchichte an und ſtreicht unter den großen Blaͤttern hin und her. Er traut nicht und moͤchte doch. Er iſt rieſig aufgeregt und tanzt und ſchnalzt und faͤhrt mit dem Schnaͤuz⸗ chen an die Luft. Und immer die netten Schnalztoͤne. So ein Prachtkerl, friſch wie's Leben! Er wird ganz des Kuckucks — und uͤberlegt. Er hat gerade einen Appetit auf ſo etwas und iſt ſo fidel, ſo zufrieden. Ein Fruͤhſtuͤckchen koͤnnte nicht ſchaden. Es iſt ihm immer vortrefflich ergangen. Schließ⸗ lich, wie das Ding ſich fo durchaus vertrauens wuͤrdig verhält, meinte er, daß man es verſuchen ſollte. Er ſchnappt, und der Haken ſitzt feſt. Das hat er nun davon.
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Und jetzt geht der Tanz los. „Pfui Teufel!“ denkt er und ſtuͤrzt wie ein Pfeil mitſamt dem Haken in die Tiefe und ver⸗ graͤbt ſich in den Schlamm. Die Verzweiflung hat ihn mit einem Schlag gepackt. Er wuͤhlt ſich ſo tief hinein, als er kann. Das kennt man ſchon, er macht's immer ſo. Die Angel iſt darauf eingerichtet. Im Schlamm haͤlt er ſich ganz ſtill und geduldig und verbeißt den Schmerz. Denn der oben zuckt und zerrt und quaͤlt ihn auf alle Art. Er ſoll bald heraus. Aber er liegt wie ein Held und ruͤhrt ſich nicht. Der Übermut iſt ihm freilich vergangen; aber ein Stuck Kraft und Seelenſtaͤrke iſt in ihm, um die man ihn beneiden koͤnnte. Das geht unbegreiflich lang ſo fort. Der oben immer gezuckt und gezerrt, und der unten immer ganz ſtill abgewartet und ausgehalten und den Schmerz verbiſſen.
Jetzt mit einem Male tut er einen Schlag auf Tod und Leben, einen Rieſenſchlag. Er iſt ganz Muskel, ganz Willen, ganz Verzweiflung. Auf dieſen Schlag hat der oben immer ganz kuͤhl gewartet. Der kennt das ſchon. Sie nennen den klugen, verzweifelten Streich den Karpfenſchlag. Oft genug gelingt's auch, die Schnur reißt, und er hat ſich frei gemacht. Gelingt's nicht, reißt die Schnur nicht, ſo war's umſonſt, dann iſt er mit einem Mal ganz geduldig und weiſe und laͤßt ſich heraufziehen wie ein Lamm. Er hat dann alles auf⸗ gegeben und fügt ſich. — Um nichts ſchlechter macht er's wie die großartigſte Menſchenſeele. Alle Hochachtung!“
Olly hatte Koͤppert geſpannt zugehoͤrt. „Nun freut mich's erſt recht,“ meinte ſie, „daß ich meinen dicken Freund in Frei⸗ heit geſetzt habe, trotz dem Karpfenſchlag geſchehen noch un⸗ erwartete Dinge fuͤr alle Geſchoͤpfe. Daß wir Sie kennen lernten, war auch unerwartet.“
„Olly iſt koͤſtlich!“ rief Gaſtelmeier. „Ja, Köppert, du weißt nicht, wir muͤſſen uns naͤchſtens ſo eine Art Tempel fuͤr dich einrichten. Du haſt hier eine fanatiſche Anhaͤngerin.“
„Und wenn Sie müßten, wie ich Sie beneide“, ſagte Olly.
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„Sie ſtehen fo kühl da, als wenn nichts auf der Welt Ihnen etwas anhaben koͤnnte — und ſo geſund, wie Sie ausſehen, ſo feſt und leicht. Sie ſind gewiß ſehr ſtark.“
„Weshalb nicht? Glauben Sie, ich war in Ihrem Alter ſo weit wie Sie? Ich bin ein alter Kerl jetzt. — Schauen Sie — Eſelsfarbe. Wir gewiegten Hühner bummeln foloffal.”
„Ja, aber Sie leben! Sie ſchauen ganz anders ins Leben hinein. Das merk ich.“
„Na, warten Sie, wir gehen naͤchſtes Fruͤhjahr miteinander Karpfen fiſchen. Sie follen das alles ſelbſt erleben, wie er ſo friſch und ſeelenvergnuͤgt und jung daherkommt, das Schnaͤuzchen reckt — die netten Schnalztoͤne — und wie er ſich endlich im Haken faͤngt, wie er verzweifelt in den Schlamm ſtuͤrzt und ſich vergraͤbt, den Schmerz verbeißt, die brave Heldenſeele, wie er gequaͤlt wird, und dann — den Karpfen⸗ ſchlag — die Hoffnungsloſigkeit und Weisheit und Er⸗ gebung. — Großartig! Das muͤſſen Sie ſelbſt erleben.“
Da (ah Koͤppert in ein Paar große, zornige, tränenerfüllte Augen. „Selbſt erleben — ich fuͤrchte auch“, ſagte Olly zitternd erregt. „Glauben Sie, daß es mich nach dieſer Hoffnungs⸗ loſigkeit und Weisheit und Ergebung verlangt? — Glaube Sie?“ |
Sie ſchluchzte auf. Er ſah einen Augenblick in ein ganz verzweifeltes Geſicht. Dann ſtuͤrzte ſie fort und warf die Tuͤre hinter ſich zu.
Und im andern Zimmer lag ſie auf den Knien und weinte wild und zornig und verzweifelt.
Neuntes Kapitel
wei Tage waren vergangen, und Koͤppert war nicht in der
Daͤmmerſtunde gekommen. Sie hatte auf ihn gewartet von Minute zu Minute, gewartet, wie ſie nie irgend etwas zuvor erwartet hatte. Den erſten Tag hatte ſie bis zu der Stunde, die ihn bringen ſollte, krampfhaft gearbeitet. Den zweiten Tag war ihr das nicht moͤglich geweſen. Sie ließ das Modell zu Mittag gehen und hockte ſich mit einem Buch in ihre Sofaecke.
Sie fuͤhlte ſich nicht wohl, eine elende Schwaͤche lag uͤber ihr und die Erwartung wie ein Fieber, das ihr jeden Nerv zittern und beben ließ. Kommt er? Kommt er nicht? Das war alles, was ihre Gedanken beſchaͤftigte. Nicht einen Augen⸗ blick wurde ſie frei von der Qual.
Wimm fam von Zeit zu Zeit aus dem Atelier von feiner Arbeit, um nach ihr zu ſehen. Er fragte ſie jedesmal, wie es ihr ginge, und machte ein ſo komiſches Geſicht dazu. Es war ihm ganz neu, ſich um jemand zu ſorgen, und ſein Kommen tat Olly jedesmal weh. Es war ihr immer, als riſſe er ſie aus einem tiefen Schlaf. Sie bebte in jedem Empfinden und blieb ganz ſtumm, um dem armen Mimm nicht gereizt zu antworten.
Statt Koͤppert kam am zweiten Nachmittag in der Daͤmmerſtunde der Arzt. Auch er ſcheuchte ſie aus einem tiefen, traumaͤhnlichen Zuſtand auf. Sie hatte im Geiſt fortwaͤhrend mit Koͤppert geſprochen. Was hatte ſie ihm alles erzaͤhlt? Sie hat ihm ihr Krankſein geklagt; aber nicht verzweifelt, nicht bang — ganz kuͤhl. Es war nichts Erſchreckendes, wenn fie mit ihm daruber ſprach. Sie hatte ihm von ihrer Arbeit vorgeplaudert und von Mimm und von ihrer Kindheit. Kleine Geſchichten, die ſie wahrſcheinlich nie gewagt haͤtte, ihm wirklich zu er⸗ zahlen.
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7
Da war eine, uͤber die lachten ſie in Ollys Vorſtellung beide miteinander. Als ſie bei ihrer alten Tante wohnte und zu Weihnachten und Oſtern nach Hauſe reiſte, fuhr ſie jedes⸗ mal derſelbe alte Kutſcher nach der Bahn und brachte nach einiger Zeit ſeine Rechnung, auf der ſtand regelmaͤßig zu leſen: „Eine Furie nach der Bahn“.
Sie erzaͤhlte ihm von ihrer Verlobung, von daheim. Wie in einem Bilderbuch blaͤtterte ſie in ihrem Leben — und alles ſollte er erfahren, mitſehen. Es war ein ſonderbares fieberhaftes, inniges Sichmitteilen.
Vom Arzt wurde ſie daraus aufgeſcheucht.
„Ich weiß ſchon“, ſagte Olly zu ihm in ihrer erregten Weiſe. „Mit mir ſteht's ſchlecht.“
„Oho“, lachte der alte Doktor behaglich.
„Doch. Laſſen Sie's nur. Jetzt kommen eine Menge ſchoͤne Redensarten, ich weiß ſchon. Wenn man ſo etwas im Hals hat wie ich, das iſt immer eine dumme Geſchichte. — Wie war's mit Papa? — Ganz dasſelbe.“
Sie ſagte das lauernd, bis aufs aͤußerſte geſpannt, aber aͤußerlich vollkommen kuͤhl und wie im Scherz. Es war ihr eben eingefallen, im Augenblick erſt, es ſo zu machen.
„Was, dumme Geſchichte!“ ſagte der Doktor. „Wenn Sie ſich gut halten und alle Vorſchriften befolgen und vernuͤnftig ſind, da macht ſich alles —“
„Ja, aber es iſt doch wie bei Papa“, erwiderte ſie, wieder ruhig und ſachgemaͤß und als waͤre fuͤr ſie kein Zweifel mehr.
„Na, und warum? Das wär’ net übel, wenn alles ſo ausgehen muͤßte wie bei Ihrem Herrn Papa.“
„So, alſo es iſt dasſelbe?“ ſagte ſie uͤberwaͤltigt — faſſungs⸗ los. Ihre Stimme konnte den Gefuͤhlsausdruck nicht ver⸗ bergen, und die Frage klang ſchreiend heiſer. Es kamen Toͤne, uͤber die ſie keine Macht hatte.
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Sie war vom Sofa aufgeſtanden und ſtarrte den Arzt an. Die Haͤnde hielt ſie ineinander gepreßt.
„Frauchen! Ruhig Blut“, brummte der Doktor und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Was iſt denn nu? Na? — Gar nichts. So jung wie Sie ſind. Und ich ſag's ja, wenn Sie vernuͤnftig ſind und ſich gut halten und mir folgen — Sie ſollen ſehen!“
Olly hatte ſich wieder in ihre Sofaecke gekauert und ſchuͤt⸗ telte zu allem, was der Doktor ihr zum Troſt vorbrachte, den Kopf.
„Außerdem“, ſagte ſie, nachdem ſie eine Weile ſtumm da⸗ geſeſſen hatte, „bin ich nicht vernuͤnftig. Damit rechnen Sie bei mir nicht. Wie lange denken Sie, daß ich noch arbeiten kann?“ Sie fragte es mit zuckendem Mund. In ihren Augen lag ein unbaͤndiger, verzweiflungsvoller Trotz.
„Sie ſollen vernuͤnftig und maßvoll arbeiten, mein Kind. Haben Sie je einen Menſchen geſehen, der gewußt haͤtte, wie lange er noch arbeiten oder ſonſt irgend etwas tun darf? — Wie?“
„Redensarten find auch eine Medizin, lieber Doktor; aber bitte, geben Sie mir die nicht.“ Ihr Geſicht war ganz von Traͤnen überflutet, und fie faßte die Haͤnde des alten Herrn.
„Alſo: die Hauptſache iſt, ſich ruhig halten. Vergeſſen Sie das nicht. Sind Sie denn ſo ganz allein? Wo iſt denn Ihr Mann?“
„Im Atelier“, ſagte ſie. „Er arbeitet!“ Das war wieder ſo ein heiſerer Aufſchrei. „Er arbeitet.“
„Ruhig, ruhig, mein Kind“, fagte der Arzt wieder. „Gut, Sie halten es fuͤr Redensart, dafuͤr kann ich nichts; aber ich ſag's Ihnen, allein in Ihrer Gemuͤtsruhe und Heiter⸗ keit liegt Ihre Heilung. Sie haben den guten, lieben Mann, die vergnuͤgte Seele, laſſen Sie ſich von dem helfen und helfen Sie ihm.“
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Sie blickte vor ſich hin, wie in einen gleichmäßigen dichten Nebel, der mit einem Schlag ihr alles Leben uͤberdeckt hatte. Der Arzt ſprach lange noch auf ſie ein. Sie hoͤrte nicht mehr auf ihn.
„Leben Sie wohl einſtweilen, kleine Frau, ich ſchicke Ihnen Ihren Mann.“
Olly ruͤhrte ſich nicht. Sie hatte ganz mechaniſch dem Arzt die Hand gereicht. Jetzt blieb ſie eine ganze Weile allein. Sie dachte an den Karpfen. — Wie der Angelhaken feſtſitzt, wie der Karpfen ſich in den Schlamm vergraͤbt. — Ja — tief hinein. Über ihm der Schlamm und über dem Schlamm das Waſſer — ſo ſchwer liegt das Ungluͤck, das ihn traf, über ihm. Über dem Waſſer ſcheint die helle Sonne, die geht ihn nichts an.
Als Gaſtelmeier zu ihr hereinkam, war er ſehr freundlich und ſehr bewegt. „Ahnlich wie nach der Trauung“, dachte Olly. Sie beobachtete ihn ganz kuͤhl. Niemand ging ſie eigent⸗ lich mehr etwas an. Sie mußte mit ſich allein fertig werden. Der Karpfen ſaß unten im Schlamm, mußte tauſend Schmer⸗ zen verbeißen, der oben riß an ihm und quaͤlte ihn und zuckte an der Schnur. Die uͤbrigen Karpfen ſchwammen luſtig und guter Dinge weiter und ließen ſich's wohl ſein. Der im Schlamm war ein ganz andres Tier als die Kameraden ge⸗ worden. Sie verſtanden ihn nicht mehr — und er verſtand ſie nicht mehr.
In dieſer Nacht ſchlief ſie keinen Augenblick, rief aber auch nicht nach Mimm. Wozu?
Sie ſtarrte in gleichmaͤßigen, dicken Nebel, der ſich ihr noch mit keiner Geſtalt belebte. Er war ſo dicht, daß ſie die Hand nicht vor den Augen ſehen konnte. Der Nebel aber war die vollkommene Hoffnungsloſigkeit, die mit einem Mal uͤber ſie hergefallen war. Die hatte etwas Einſchlaͤferndes, etwas Erſtarrendes; ohne den wahren Schlaf zu bringen, brachte fie fo ein dumpfes, lebenabgewandtes Bruͤten.
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Am andern Morgen fam Mimm und fragte, wie fle ges ſchlafen haͤtte.
„Ganz gut“, ſagte ſie. Da freute er ſich.
Sie hatte, wie es ihr ſchien, gar nicht das Bedürfnis, ſich mitzuteilen. Daruͤber verwunderte ſie ſich ſelbſt. Es war gut ſo — ganz gleichguͤltig im Grunde. „Ob das anhalten wuͤrde?“ fragte ſie ſich.
Sie arbeitete, und es ging ſogar etwas beſſer wie geſtern. „Wenigſtens“, dachte ſie, „werde ich zu den Menſchen gehoͤren, die krank fortarbeiten.“ Sie dachte an allerlei Leute, von denen ſie wußte, daß ſie beruͤhmt wurden, trotzdem ſie krank waren.
Das war ein Troſt — mehr als Troſt, das war ein An⸗ feuern der Kräfte, das hatte etwas Begeiſterndes. Ja, fle wollte kaͤmpfen, und ſie arbeitete bis zur Atemloſigkeit. Und heute — ganz unverhofft kam Koͤppert. „Weshalb eigentlich ſollte er kommen?“ hatte ſie tagsuͤber gedacht. Dreimal war er dageweſen, unverhofft, dann war er weg⸗ geblieben, wahrſcheinlich fuͤr immer. Sie hatte ihm außer⸗ dem eine Szene gemacht. Wahrſcheinlich fuͤrchtete er ſich vor ihr. Kein Wunder. Das ſeelenverzehrende Warten war wie von ihr genommen. Aus dem dichten Nebel, der ſie ſeit geſtern umgab, war bisher nichts auf⸗ getaucht als ein: ſie wollte arbeiten, arbeiten, vor allen Dingen arbeiten.
Als das Mädchen aber Herrn Koͤppert meldete, konnte fie ſich vor freudigem Schreck nicht auf den Fuͤßen halten. Es durchzitterte ihr den ganzen Koͤrper.
„Mimm,)“ rief fie, „Herr Koͤppert kommt!“
„Was?“ rief Gaſtelmeier aus dem Nebenzimmer. Da war Koͤppert aber ſchon eingetreten.
Sie ſtreckte ihm beide Haͤnde entgegen. Das war ihre Art nicht, die Leute zu empfangen. Aber hier war es ganz naturlich. Es war eben der Gruß für Koͤppert,
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far niemand ſonſt. Ste begrüßte ihn fo unverſtellt glad: felig, wie ihn bisher eigentlich nur fein Hund begruͤßt hatte.
„Armes Seelchen!“ dachte er und faßte die ſchlanken, heißen Haͤnde ſo zart an und fuͤhrte das bewegte, kranke Geſchoͤpf zu einem Platz zum Ruhen und fuͤhlte, wie er ihr wohltat. Er hatte ſein Lebtag viel mit Tieren ſich zu tun gemacht und verſtand ſich daher auf unverſtellte Gefuͤhls⸗ ausbruͤche. Seine juͤngeren Bruͤder, wie er ſie nannte, hatten ihn nie in Ungewißheit gelaſſen. Das Seelchen hatte eine helle Freude, wenn er kam.
„Wiſſen Sie,“ ſagte ihm Olly, „daß ich ſehr krank bin?“
„Nein“, ſagte er. „Was heißt ſehr krank? Wir ſind alle ſehr krank. Das Leben iſt eine lange Krankheit. Wir glauben nur, daß wir geſund ſind.“
„Bitte,“ ſagte Olly, „mit mir muͤſſen Sie wenigſtens ganz einfach ſprechen. Ich weiß, es wird jeder reden, als wenn gar nichts waͤre, — tun Sie das nicht.“
Gaſtelmeier trat ein: „Gruͤß Gott, Kdppert.”
„Ach, Mimm,“ ſagte fie, „Mimm!“ — und lachte.
Sie ſaßen nun wieder alle drei beieinander, und es kam eine ruhige, gute Stimmung. Emil fand ſich auch ein.
„Ah, das einſeitig gebackene Brötchen”, ſagte Köppert lachend, als er eintrat.
„Laſſen Sie ihn, er iſt ſo gut,“ meinte Olly, „nur ſo ein Faulpelz, denken Sie, geſund und kraͤftig; aber ohne allen Eifer. Ich weiß nicht, ſollte es noch kommen? Sie glauben nicht, wie mir's am Herzen liegt. Was ſoll aus ihm werden?“
„Na, er iſt ein bißchen ſchwammig“, ſagte Koͤppert. „Hat er Knochen?“ |
„Ich glaube nicht viele“, meinte Olly.
„Sehnen natuͤrlich auch nicht?“
„die gar nicht.“
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„Dann laſſen Sie ihn ums Himmels willen nicht Maler werden. Er ſieht aus, als wenn er gegen ein Sinekuͤrchen nicht abgeneigt war’. Das möcht’ ihm paſſen. Er ſchriebe dann alle Tage oder alle vierzehn Tage zwei Zeilen, die von der boͤſen Welt handeln.“
„Freilich“, meinte Olly und ſagte dazu: „Verflucht! — Verflucht! — Verflucht !“
„Zu ſonſt was hat er nicht Luſt?“
„Zu gar nichts, Maler will er werden, weil er meint, er kann dann ſo daherhocken mit dem Bleiſtift in der Hand — und das bißchen Eſſen wuͤrde ſchon von irgendwoher kom⸗ men.“
„Geht er kneipen?“
„Bewahre, er denkt, das koſtet Geld. Nicht leichtſinnig ſein! Je weniger du brauchſt, um ſo weniger mußt du dich anſtrengen. Wenn Sie wuͤßten, er hat mich ſchon manchmal bis zur Tobſucht gebracht — aber er iſt ſo gut.“
Emil beſorgte das Abendeſſen, trieb draußen die Koͤchin an auf ſeine Weiſe, ſpritzte ſie mit Waſſer zur Kuͤche hinaus und zur Treppe hinab, wenn ſie etwas holen ſollte, und drohte, ihr die Haare mit Aſche zu bewerfen, wenn ſie nicht zur Zeit fertig waͤre. In das Zimmer kam er moͤglichſt wenig, denn er hatte einen großartigen Arger auf Koͤppert.
Den ganzen Abend lag ein ruhiges Behagen uͤber der Geſellſchaft. Das Abendeſſen war gut und puͤnktlich beſorgt. |
„Schau, ſchau“, ſagte Gaſtelmeier. „Emil! Na, Olly, dein Bruder, wie kommt denn der mit unſerm Drachen aus, und wir net?“
„Das verſteht er,“ ſagte Olly — „und wie!“
Sie war fo friedlich, fo gleichmaͤßig geſtimmt. Koͤppert erzaͤhlte allerhand Jagd⸗ und Tiergeſchichten, lebendig und friſch, und fie hörte andaͤchtig zu, wie ein Kind, dem Maͤr⸗
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chen erzähle werden. Die ganze Welt war für fie nicht mehr vorhanden, nur einzig die kluge Stimme. Gaſtelmeier be⸗ gleitete Koͤppert dieſen Abend, ſie wollten noch ein Glas Bier miteinander trinken. Emil ging nach Hauſe. Das Maͤdchen machte das Bett auf dem Schlafſofa zurecht — und Olly blieb ganz allein.
Sie wanderte im Zimmer auf und nieder. Nach dem muntern Reden, der leichten Stimmung ſchien ihr die Ein⸗ ſamkeit ganz eigentuͤmlich bedruͤckend. Der dicke Nebel der Hoffnungsloſigkeit lag mit einem Mal wieder über ihr. Das Fieber, das jeden Abend ſich einſtellte, brannte ihr wieder in Fuͤßen und Haͤnden — und mehr als das brannte die Sehnſucht nach Koͤppert in ihrer Seele. Er hatte alles mit ſich genommen, ihre Ruhe, ihre Faſſung, ihr Vertrauen auf eine Arbeitskraft, die Krankheit und Schwäche überwindet — alles. Es war ihr zumute, als ſollte ſie ohne ihn ver⸗ ſchmachten, als haͤtte er ihr auch Luft und Licht mitgenommen.
Ganz atemlos lehnte ſie ſich an den großen, weißen Kachel⸗ ofen und preßte den Kopf mit beiden Haͤnden. Es war ihr zumute, als ſtaͤnde ihr ganzes Weſen in Flammen. Und wie war es gekommen, wie denn? — „Herrgott — ich liebe ihn!“ ſagte ſie heftig. Dann war ſie ganz ſtill und be⸗ wegungslos.
Wie eingebrannt war Köpperts Bild in ihrer Seele. Das unregelmaͤßige Geſicht, die lebendigen grauen Augen, in denen unverſteckt die Gefuͤhle zu leſen waren, die leichte, ſehnige Geſtalt. Man ſah an jeder Bewegung, daß er ge⸗ ſcheit war. Der Koͤrper war ihm von ſeinem geiſtigen Weſen kraͤftig durchdrungen. Ja, ſie hatte ſchon fruͤher geſagt, als ſie ihn nur vom Sehen kannte: „Er iſt der einzige Menſch hier, der ein Geſicht hat.“ |
Jetzt (ah fle ihn vor fic, fo ganz wie er war. Sie fog durſtig ſeine Zuͤge, ſeine Stimme ein. Sie hielt ihn an den Haͤnden, und es war, als wenn ſie zu ihm ſagte: „Verlaß
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mich nicht, bleib.“ Das erſchuͤtterte fie bis ins Tiefſte. — Und Mimm? Sie konnte kaum atmen. Wie unnobel — wie ſcheußlich, ſich von Mimm fuͤttern zu laſſen, Mimm zu quaͤlen, ihn ſchlecht zu verſorgen, ſeine Liebhabereien nicht zu beachten, ſeinen Lieblingsſpeiſen nicht nachzufragen, alles von ihm anzunehmen, ihn gleichguͤltig beiſeite laſſen, immer nur an ſich denken — einem andern mit jedem Gedanken nach⸗ hängen! — War das nicht gemeine Betruͤgerei?
Das war ein elendes Geſchaͤft, was Mimm gemacht hatte. Sie hatte es bisher nie ſo gefuͤhlt! aber mit einem Male uͤberſah ſie, daß er gar kein Behagen an ihrer Seite gefunden. Wie ruͤhrend war es, daß er ſich heute Abend uͤber Emils gutgelungenes Nachteſſen ſo gefreut hatte — und wie liebens⸗ wuͤrdig war er in dem ganzen Durcheinander, das ſie ihm gebracht! Was fuͤr Sorgen hatte er ſich aufgeladen — und fuͤr wen?
Olly brannte in Fieber und Erregung. Sie ſollte fort von Mimm gehen — irgendwohin und arbeiten, nichts als ar⸗ beiten, das waͤre das einzige — das rechte. Entweder: an ſich ſelbſt denken und fuͤr ſich ſelbſt leben — oder: an andre denken und fuͤr andre leben. So eine gemeine Seele, die betruͤgt! Sie hatte nie daruͤber nachgedacht, heute zum allererſten Mal. Ja, ſie hatte mit Mimm einen ganz be⸗ truͤgeriſchen Handel geſchloſſen. Alles genommen und nichts gegeben — gar nichts gegeben, ſondern nur immer von neuem genommen und genommen, mit einer Roheit und Gedankenloſigkeit — die haͤtte ſie nie in ſich geſucht. Mit welcher Angſt, mit welcher Verzweiflung hatte ſie gefuͤrchtet, Mutter zu werden. Sie hatte nur und einzig an ſich dabei gedacht, nicht an Mimm und nicht an das Kindchen. Sie hatte ſich immer noch fuͤr ihren eigenen Herrn gehalten, und das war ſie nicht mehr. Ihre Arbeit, der Weg zum Ruhm war ihr die Hauptſache. Mimm war das ſehr gleichguͤltig, der wollte eine gute Frau, und die hatte er nicht.
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Und nun? Jetzt gerade hörte dieſe Blindheit auf, jetzt, wo ſie jede Kraft, jeden Hauch von Kraft an ihre Kunſt wenden wollte, jetzt, wo fle jede Minute ausnuͤtzen wollte, drängten ſich tauſend Dinge ein.
So ſtand ſie mit gefalteten Haͤnden und mit geſenktem Kopf ganz faſſungslos, ganz erdruͤckt. Der Nebel, der über ſie gefallen war, der dichte, troſtloſe Nebel, belebte ſich nun mit Geſtalten, die ſie bis aufs Blut aͤngſtigten. Ihre Arbeit, der lange Weg zum Ruhm, die unerfüllten Pflichten, der falſche Handel, den ſie unbewußt eingegangen — und Koͤppert — und Mimm — und das Krankſein — und das fruͤhe Sterben, das geſtaltlos, aber grauenhaft unſichtbar in dem ſchweren Nebel lauert.
„Das iſt zuviel, Herr, mein Gott!“ jammerte ſie auf. Und durch allen Jammer hindurch und uͤber allen peinigenden Gedanken und Erlebniſſen die Sehnſucht nach Koͤppert. Sie ſah ihn immer vor ſich, und immer ſtreckte ſie beide Haͤnde nach ihm aus. Er war der einzige, der ſie retten konnte, der einzige, der ihr Ruhe gab. Er war das Leben — und ſie wollte leben!
Trotzig ſprang ſie auf und ging durchs Zimmer, und die bittere, verzehrende Lebensſehnſucht derer, die um das Leben betrogen ſind, wuͤhlte ihr im Herzen. — Wenn ſie dachte, daß ſie ihn nicht mehr ſehen und hoͤren ſollte — nie mehr! Und auch die Arbeit aufgeben, und das heiße, lebendige Streben — und nur den Kaufpreis abverdienen, den Mimm fuͤr fie ges geben, da fuhr eine ſolche verzweiflungsvolle Empoͤrung durch ihr ganzes Weſen, daß ſie an ihren Haaren riß, das Taſchentuch, das naß von Traͤnen war, in Streifen riß, ſich auf den Boden niederwarf und heißer ſchuchzte und ſchrie. Worte fand ſie nicht mehr, Gedanken auch nicht — nur eine fieberhafte Empoͤrung, eine ſinnloſe Wut, wie ein wildes Tier, das gegen feine Kaͤfigſtaͤbe ſchlaͤgt.
Und dann kam wieder der bittere Kampf, das Mitleiden,
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das fie Mimms wegen fühlte, das Bewußtſein des Bes trugs, ja Betrugs, wie ſollte man es anders nennen, und das druͤckte ſich ihr wie ein Brandmal in die Seele.
Mimm kam ſpaͤt nach Hauſe und fand ſeine Frau in einem Zuſtand der tiefſten Erſchoͤpfung. Sie kauerte noch auf dem Boden, als er eintrat.
„Olly!“ rief er ganz beſtuͤrzt und kniete zu ihr nieder und richtete fie auf — und ba fühlte fie wieder ‚bie ſorgſame Pfote, die ihr Herz gewonnen hatte. Und da fie in ihrer Er⸗ regtheit wie ein Menſch ohne Haut war, dem alles die innerſten Nerven trifft, wurde ſie davon ſo bewegt, daß ſie von neuem in heiße Tränen aus brach und ſich bitterlich vor Mimm ans klagte, ganz vernichtet, und vor ihm demuͤtigte.
Mimm war ganz gluͤcklich und freudig erregt, wie es eine kindliche Seele iſt, die an eines Menſchen ploͤtzliche Umkehr glaubt. Er troͤſtete ſie und ſuchte ſie zu beruhigen. „Siehſt du, Ollychen, nun wird alles gut“, ſagte er einmal uͤbers andremal.
Das aͤrgerte ſie aber, und ſie ſagte bitter: „Du meinſt alſo, das ich das Malen laſſe?“
„Na — na, bewahre, einſchraͤnken, ein biſſel einſchraͤnken. Das wird dir nur gut ſein.“
Seine Ruhe und Zufriedenheit quaͤlte ſie. Nach der haſtigen, ſtundenlangen Erregung ſchuͤttelte ſie jetzt das Fieber. Mimm half ihr beim Entkleiden und behandelte ſie ſo ſorgſam wie ein kleines Kind; aber das Herz war ihm ſchwer. Was der Doktor ihm von Ollys Geſundheitszuſtand geſagt hatte, lag duͤſter auf ihm. Es war ſo etwas Feierliches, Trauriges, Unbegreifliches. Eine ganz geſunde, friſche Frau wuͤrde er nie wieder an ihr haben, ſo eine Haͤuslichkeit, von der er ge⸗ traͤumt hatte, war fuͤr immer verloren. Wenn ſich die arme Olly auch Muͤhe geben wuͤrde, wie koͤnnte es denn werden? Eine Frau muß geſund ſein, das iſt das erſte. Und das wuͤ⸗ tende Arbeiten, wobei fie nicht hörte und (ah!
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Wie ruͤhrend, wie gut fie eben war, fie wollte das Defte, wie ihn das begluͤckt hatte! Jetzt lag ſie in ihren Kiſſen, lieblich, aber wie eine Pflanze, die mitten im Aufbluͤhen vom Froſt beruͤhrt iſt. Die Kraft, die Strammheit war hin, etwas Leidendes, Mattes war uͤber ſie gekommen, unmerklich faſt; aber es war da. Die glaͤnzenden, verweinten Augen ſchauten ſo unſtet, ſo ohne Ermuͤdung. Gaſtelmeier atmete ſchwer auf. Er dachte an den Abſchied von daheim, Weihnachten vor einem Jahr, an das, was ſein Alter daheim von Liebes⸗ ſachen verſtand, und es wurde ihm ſchwer und ſchwerer ums Herz.
Olly klagte wegen allerlei Beſchwerden. Sie fühlte ſich ſehr unwohl, war ſo beunruhigt und gequaͤlt; und immer hatte ſie es mit dem Karpfen zu tun, der ſich mit ſeiner Qual in den Schlamm verkrochen hat.
„Laß das doch“, ſagte Gaſtelmeier, dem es dabei nicht wohl zumute wurde. Da ſchwieg ſie.
„Geh ſchlafen, Mimm“, ſagte ſie nach einer Weile.
Sie lag ruhig, mit offenen Augen, und wußte nun ſchon, was ihr die Nacht bevorſtand. Qualen! Die Wiederholung alles deſſen, was ſie eben erſt durchkaͤmpft hatte.
Die großen Rieſenvoͤgel ſchlugen ſchon mit den Fittichen. Lautlos und maͤchtig ſchwebten ſie uͤber ihr. Sie kaͤmpften noch miteinander, wer auf die arme Haſenſeele ſich herab⸗ ſtuͤrzen follte. |
Der Rieſendaͤmon war (don mit den Krallen auf ihrer Bruſt und wollte den gemaͤchlichen Tanz beginnen, da ge⸗ fellte ſich zu ihm ein zweiter, der die bittere Erkenntnis, vom Leben betrogen zu ſein, brachte, und noch einer, der mit ſeinen Klauen die Stelle aufriß, wo der verzehrende Ehrgeiz ſaß, und wieder einer, der an verſaͤumte Pflichten mahnte.
Es war eine ganze Schar, die auf ſie herabſtuͤrzte, Rieſen⸗ unholde, daß man meinen ſollte, ſie waͤren erſchaffen, um auf irgendeinem gewaltigen Stern gewaltige Kreaturen zu
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quaͤlen und zu bekaͤmpfen, und hätten ſich auf unſre kleine Erde nur verirrt, um nun ihre daͤmoniſchen Kräfte an uns laͤcherlich kleinen Seelen zu verſchwenden.
Olly lag wie erſtarrt, ließ alles uͤber ſich ergehen. Durch das entſetzliche Chaos aber, dem ſie preisgegeben war, ſah ein unregelmaͤßiges, geſcheites Geſicht auf ſie nieder, ein Geſicht, das ſie Zug fuͤr Zug mit aller Kraft feſtzuhalten ſuchte, auf das ſie hinblickte wie auf eine Seligkeit, mitten im Elend. Das Geſicht war ihr Halt, ihre Rettung. Es ſtrahlte von ihm Kraft aus zum Widerſtehen, Kraft zu ſiegen und zu uͤber⸗ winden. Und dieſes Himmelsgeſchenk, das wie ein Licht uͤber all dem Aberwaͤltigenden, Unheimlichen, das fie umgab, auf; ſtieg, ſollte ſie von ſich weiſen? So ſinnlos — ſo unfrei — ſo niedrig! Nein danken! — danken! danken!
Es wurde ihr licht. Gott hatte ihn geſchickt, ihr gutes Schick⸗ ſal. Sie ſollte nicht ganz verzweifeln.
Und ſie ſtreckte ihm wieder die Arme entgegen in ihrer Not, und wie hellſehend, als ſchaute und fuͤhlte ſie ein wirk⸗ liches Begebnis, empfand ſie, wie er dieſe hilfeſuchenden Haͤnde hielt und ſie ſelbſt an ſich zog. Und ſie ſchmiegte ſich feſt — feft an feine Bruſt, und er ſprach zu ihr als Menſch zum Menſchen. Da war es ihr wohl, und als der erſte blaſſe Schimmer des Morgens am Fenſter aufdaͤmmerte, kam auch der Schlaf, der langerſehnte.
as Leben ſpann ſich weiter.
In dem jungen Haushalt war die Freudigkeit ausge⸗ loͤſcht. Der Arzt kam alle zwei, drei Tage und ſchaute nach ſeiner Patientin. Sie war den ganzen Winter uͤber nicht aus dem Haus gekommen. Gaſtelmeier hatte unruhige Naͤchte nach freudloſen Tagen kennen gelernt. Eine ungeheure Ent⸗ taͤuſchung lag aber ihm und es war ihm nicht wohl in feiner Haut. Die Eindruͤcke, die Olly ihm nachts brachte, lagen wie
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Zentnerſchwere über ihm. Sie litt oft an qualvollem Luft⸗ mangel, Beaͤngſtigungen kamen uͤber ſie, die Todesangſt in ihrer furchtbarſten Geſtalt; dann hielt fie den armen Mimm umklammert und wand ſich in ſeinen Armen und mit weit aufgeriſſenen Augen (haute fie ihn an — und er mußte aus⸗ halten und den Jammer anſehen und anhoͤren.
„Mimm, mein Bild!“ rang es ſich muͤhſelig in ſolchen Stunden von ihren Lippen.
„Na, laß doch, laß doch!“ ſagte er dann.
„Ja, laß doch, laß doch!“ fluͤſterte ſie heiſer, erſtickt, voller Trotz und Verzweiflung.
„Ach, Mimm, du Armer!“
Er fand das rechte Wort nie.
Im arbeitete an einem Bilde, das zur internationalen
Ausſtellung fertig werden ſollte. Das Maͤdchen unter dem verbluͤhten Apfelbaum hatte ſie verkauft. Reproduktionen waren danach gemacht, es war beſprochen worden. Koͤppert hatte die erſte Beſprechung ins Haus gebracht.
Gaſtel meier erinnerte ſich, wie er ſie ihr damals in die Hand druͤckte, fo von ungefähr, ohne ein Wort zu fagens aber mit einem Ausdruck von froher Teilnahme. Er er⸗ innerte ſich, wie Olly las, wie das Geſicht aufſtrahlte, — wie ſie Koͤppert anblickte mit großen, ausdrucksvollen Augen. Koͤppert, nicht ihn, hatte ſie angeſehen. Er erinnerte ſich, wie ſie mit einem Male auflebte. Ein Wunder! Die Krank⸗ heit war wie von ihr fortgeweht. Sie lebte auf, ſie war die alte Olly.
Ein gluͤcklicher Tag! Wie entzuͤckend fle ausſah! Übers muͤtig, vom Gluͤck berauſcht.
Und Koͤppert, der gute, wunderliche Menſch! Er hatte ihn immer fuͤr einen ſonderbaren Kauz gehalten und fuͤr einen Biedermann durch und durch, hatte einen gehoͤrigen Reſpekt
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vor ihm gehabt, vor feinem Können; aber er war ihm ein ungemuͤtlicher Burſche geblieben, borſtig, ſtreitſuͤchtig, ſelbſt⸗ bewußt — nun hatte er ihn ganz anders kennen gelernt.
Weiß Gott, das brachte Mimm nicht fertig, ſo ganz ein⸗ zugehen auf die Wuͤnſche des kranken Geſchoͤpfchens, ſo ſich ihr widmen! Fabelhaft, wie Koͤppert ihr, wenn er neben ihr vor der Staffelei ſtand, mit ein paar Worten helfen konnte! Immer traf er den Nagel auf den Kopf. Und wie ſie ihn ver⸗ ſtand! So eine Art, zu arbeiten und zu lehren, hatte Gaſtel⸗ meier noch nicht geſehen. Was er vom Lehren wußte, war ein beſchwerliches Kriechen, fortwaͤhrendes Mißverſtanden⸗ werden, gleichguͤltiges Eingreifen. Die beiden arbeiten mit einer Spannung, einem vollkommenen Wachſein, fo nervoͤs wie zwei Vollblutpferde. Und wie kam ſie vorwaͤrts! Ganz erſtaunlich.
„Halt fie doch lieber zuruͤck, fie uͤbernimmt ſich“, hatte Gaſtelmeier ihm ein paarmal geſagt.
„Weshalb?“ hatte Koͤppert gefragt. Und in dieſem „Wes⸗ halb“ lag alles. Es lag ihr Todesurteil darin und zugleich: „Goͤnnſt du's ihr nicht?“
Ruͤhrend war es anzuſehen, wie Olly ſich in dieſer Zeit der Wirtſchaft auf ihre Weiſe annahm, kindiſch und unbeholfen zwar; aber ſie zeigte den beſten Willen. Sie verſtand, ſo eine Art kleine Kuchen aus Eierſchaum zu backen; auf einen Bogen Papier wurde der Schaum getropft und im Ofenrohr gebacken. Dieſes Backwerk richtete ſie im Zimmer mit der groͤßten Umſtaͤndlichkeit her. Ein einziges Mal brachte ſie es wirklich zuſtande und war ganz gluͤcklich daruͤber und ſagte im Eifer: „Nicht wahr, Mimm, das gefällt dir, fo magſt du's? Alles im Haus gebacken, das iſt fo behaglich. So warſt du's auch daheim gewoͤhnt, alter Mimm.“
Mimm fuͤrchtete die Faſſung zu verlieren, nickte Olly zu und ging zur Tuͤr hinaus, ſo ein trauriges, fades Eier⸗ ſchaumkuͤchlein, das Symbol ſeiner Enttaͤuſchung, noch
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zwiſchen den Zähnen. Sie hatte ihm eins nach dem andern in den Mund geſtopft. Er griff nach Hut und Aberzieher, es litt ihn nicht mehr im Hauſe.
Was hatte er fuͤr ein Heim, ſo etwas Laͤcherliches, Ver⸗ ruͤcktes, Troſtloſes!
m ganzen und großen ging es aber ganz leidlich und aS beſſer als vordem.
In der Kuͤche wirtſchaftete ſeit Wochen ſchon Emil auf ſeine vortreffliche Weiſe; er nahm auch das Haushaltungs buch an ſich und fuͤhrte es pflichttreu. Er wohnte dann ganz bei ſeiner Schweſter, damit dieſe ſeine Zeichenſtudien beſſer uͤberwachen konnte, und ſaß, wenn er nicht draußen in der Kuͤche ſein Weſen trieb, in Ollys Wohnzimmer und zeichnete muffig und unzufrieden. Wenn Olly matt, mit fliegendem Atem, im vollen Fieber aus dem Atelier kam und gearbeitet hatte bis auf die letzten Kraͤfte und ſich nun niederlegen mußte, da ruhten ihre Blicke auf Emil, der in ſeinem behaglichen Fett ſo traͤg und indolent daſaß, und eine wahre Wut packte ſie da. Einmal erfaßte der Zorn ſie dermaßen, daß ſie wankend, mit Traͤnen in den Augen, aufſtand und Emil eine unvermutete Ohrfeige gab.
„Proſt“, ſagte Emil und guckte ganz verbluͤfft auf. „Na, weißt, Olly, mit deinen Kraͤften ſteht's gottlob net uͤbel.“
Da ſtand ſie ganz beſchaͤmt vor ſeiner Gutmuͤtigkeit. „Waͤrſt du doch nicht ſo faul“, ſagte ſie heiſer. Zu gleicher Zeit aber fuͤhlte ſie mit einer jammervollen Verzweiflung, daß Emil ſie ſchon aufgegeben hatte. Sie gehoͤrte nicht mehr zu den Lebenden. Sie durfte beleidigen und beleidigte nicht mehr. Eine Roͤte ſchoß ihr ins Geſicht, gleich darauf wurde ſie bleich und wankend, das Haar feucht, eine ſchreckliche Schwaͤche uͤberkam ſie.
Emil ſchaute auf ſie hin, legte ihr den Arm um die Schul⸗ tern und fuͤhrte ſie zum Sofa, kauerte vor ſie nieder und ſie
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fühlte ein verhaltenes Zucken. Er weinte, verftedt an ihrer Bruſt, wie um eine Tote.
Sie ließ ihn weinen, ohne ſich zu ruͤhren, ein entſetzliches Grauſen durchrieſelte ſie. War es denn ſo nah?
Nein, nein, es war ja erſt der erſte Anfang der Krankheit. Man ſah ſie ihr noch kaum an. Sie war nicht abgemagert. Ja, Qual war da; — aber doch, — es war erſt der Anfang. — Der Anfang von was? — Von entſetzlichen Dingen — und dann — und dann? —
Es war ihr, als ſchnuͤrte ſich ihr die Bruſt zuſammen. „Wann kommt Koͤppert?“ fragte fie. „Iſt es noch nicht fo weit?“
Zehntes Kapitel
in feuchtes, rauhes Frühjahr iſt gekommen und von den
knoſpenden, regentriefenden Baͤumen herab, unter grauem Himmel, toͤnt das Amſellied, dieſe Seelentoͤne, die Erinne⸗ rung und Sehnſucht bringen, die am Herzen ruͤtteln und den Kinderſeelen Fruͤhlingswonne ſchaffen. Dieſe urwelt⸗ lichen Stimmchen, die uns erfaſſen und uus in das Neu⸗ erwachen mit hineinreißen, auch dann, wenn wir todmatt ſind, wenn wir der Weltverjuͤngung entfliehen moͤchten, weil nur der Jammer in uns wieder jung wird. Das Fruͤhlingsamſellied unter grauem Himmel von knoſpen⸗ den, regentriefenden Baͤumen herab, reißt erbarmungslos alles, was lebt, was Ohren zu hoͤren und ein Herz hat, mitzuempfinden, in den Verjuͤngungsſtrom hinein. Denen aber, die um ihr Leben betrogen ſind, tut es weh zum Aufſchreien.
Olly hat mit Mimm und Emil in den Iſarauen die erſte Ausfahrt gemacht. Aufs aͤußerſte erſchoͤpft, iſt fie daheim wieder angelangt, liegt auf dem Sofa und ſieht mit großen Augen ſtarr vor ſich hin.
Emil deckt den Teetiſch, ſtellt einen großen Strauß Himmel⸗ ſchluͤſſel darauf und ſcheint die erſte Ausfahrt feiern zu wollen.
Mimm ſetzt ſich auch zum Tee; aber die Feier will nicht in Gang kommen. Olly liegt teilnahmslos, und nur durch ein Zeichen gibt ſie zu verſtehen, daß man ihr Ruhe laſſen ſoll.
Der junge Duft der friſchen Himmelsſchluͤſſel dringt kaum merklich durchs Zimmer. Sie empfindet ihn und er tut ihr weh, weh, wie alles und jedes.
Mimm macht ſich zum Ausgehen fertig. Ehe er geht, ſtreicht er Olly uͤber das Haar. — „Geht's denn beſſer?“
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Wie dies unnötige Fragen ihr an der Seele reißt! — Jetzt iſt ſie allein. Sie regt ſich nicht. In ihr kaͤmpft und bebt es; der große Fruͤhlingsſchmerz liegt uͤber ihr, der in den Verlorenen, in denen, die das Leben ausgeſtoßen hat, wuͤhlt und zerrt.
Es ſchellt. — Emil kommt ins Zimmer geſchlichen. „Olly, Koͤppert iſt da. Willſt du ihn ſehen?“ Sie nickt.
„Darf ich?“ fragt Koͤppert, ehe er eintritt.
Ein heiſeres, kaum hoͤrbares „Ja.“
Er ſetzt ſich ihrem Sofa gegenuͤber. Beide ſind ſtill. Ollys Augen ruhen auf ihm. „Wir iſt bang“, fagte fie voͤllig ſtimmlos. Es klingt gleichguͤltig und ohne Ausdruck.
Koͤppert kann nicht ruhig bleiben. Er iſt bleicher geworden, ſeine hagere Geſtalt dehnt und dreht ſich gewiſſermaßen. Dieſe ausdrucksloſe Verzweiflung hat es ihm angetan. „Ich habe Ihnen da was mitgebracht,“ ſagte er — „auch ein Seelchen — etwas, was Sie nicht kennen — wetten?“ — Er zieht ein Pappſchaͤchtelchen aus feiner Taſche, halt es vorſichtig in der Hand. In die Pappe ſind Löcher gebohrt.
„Lebendig?“ fragt Olly. Er nickt.
„Ein Vogel?“
„Beinah. Paſſen Sie auf, ob Sie's kennen.“ Vorſichtig
öffnet er die Schachtel und nimmt ein in ein Leinwand⸗ laͤppchen gewickeltes graues Weſen heraus.
„Ein Fledermaͤuschen“, fluͤſterte Olly.
„Jawohl. Zuſammengelegt wie ein Regenſchirm. Sehen Sie ſich's nur an.“ Er Halt es auf der flachen Hand und zeigt ihr's hin. „Jeder Eſel meint, er kennt ſo ein Seelchen ins und auswendig. Gott bewahre, das koͤnnt“ jeder ſagen. Der kleine, zart pulſierende Schatten mit dem wundervollen Elfengeſichtchen, ſchauen Sie nur — die Edelſteinaugen! Diefe Zartheit im Naschen und im Schnaͤuzchen, die winzigen Zaͤhne und die großartigen Rieſenohren! Nicht? — ſchaut
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fie nicht aus wie eine kleine Pfruͤndnerin in der Haube? Nicht wahr, neu? Das kannten wir noch nicht?“ Er lachte etwas auf.
Es reckte die Fluͤgel ein wenig. Olly befuͤhlte es. „Ein Hauch“, meinte ſie.
„Nun, und wie ſteht's mit der Kunſt?“ ſagte Koͤppert. „Ich meine: wir, wir Neuen, wie ſoll ich ſagen, wir kennen das Fledermaͤuschen! Zum Beiſpiel: Sie und ich etwa — wir durchgegluͤhten Seelen. Wir malen’s, wollen’s wenig⸗ ſtens malen, bis in die feinſten Geheimniſſe, wie es pulſiert. Es ſieht nicht aus wie eine Fledermaus, ſagen die andern, die eine Fledermaus hoͤchſtens aus Bilderbuͤchern kennen, eher wie ein zuſammengeklappter Regenſchirm. — Affektiert. — Wo ſieht's fo aus? Niemals. — Jawohl, kennt ihr's denn? — Wer wird eine Fledermaus nicht kennen? ſagen ſie. Punktum. — Ich aber ſage: Die Fledermaus iſt ihnen ganz Geheimnis. Gerad’ wie der Menſch auch. Sagen Sie ſelbſt, wann ſteht je einer ſo niedertraͤchtig ſuperklar da, wie die Leute ihn gemalt haben wollen und wie ſie ihn ge⸗ malt bekommen? Immer geheimnisvoll. — Lichter, Schat⸗ ten, Fleiſch, Fett, alles unbeſtimmt ineinander zitternd — dort wieder wie in Fels gehauen, hier wie im Nebel, jetzt ſtrahlend, jetzt verſchwommen — aufs und niederwogend. Grau. Blendend. In allen Farben. Fahl. Eine wilde Jagd.
Jetzt ſchauen wir ganz ruhig und warten’s ab, und — halt ſtill — haben's — aber in einem Moment, der ſo in⸗ tim, ſo erhaſcht, ſo uͤberrumpelt iſt, daß die andern ihn uͤber⸗ haupt nie geſehen haben, ſowenig, wie ſie das Fledermaͤus⸗ chen je ſahen, darum ſag ich: Wir erfaſſen das Fledermaͤus⸗ chen, wir lehren euch die wunderliche Erde wie neu kennen, an der ihr vorbeilauft und davon redet, als kenntet ihr ſie.
„Darf ich's zum Fenſter hinaustun?“
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Er hatte das Tierchen, während er ſprach, immer zart in den hohlen Haͤnden gehalten, damit ſie ſich das Koͤpfchen beſchauen konnte. Er oͤffnete das Fenſter ein wenig. Das Tierchen ſaß ihm auf der Hand, krabbelte hin und her, ganz vertraulich. „Schlimm haſt du's nicht mit mir gemacht“, dachte es vielleicht. Ein pfeifendes, piependes Toͤnchen und fort war es. |
„Auch ein Fruͤhlingsbote“, ſagte er und ſchloß das Fenſter. „Es iſt mir ins Atelier geflogen. Übrigens, weil wir gerad dabei ſind. Es iſt fabelhaft, was fuͤr Fortſchritte Sie gemacht haben, ſeit wir uns kennen — rein fabelhaft! Ja, mir hat's was Unbegreifliches. Offen geſagt: ich hab's einem Weibe nicht zugetraut. Eine Feuerſeele! Sie werden eine große Kuͤnſtlerin. Sie ſind eine. Bei uus iſt keine Schmeichelei. Sie dringen unglaublich fein ein — ſo was ich ſagte — in die Geheimniſſe, die andre nicht ſehen.“
Er hatte nicht auf Olly geſchaut, als er ſprach, ſondern irgendwohin, nach der Decke oder auf den Fußboden, wie das ſeine Art war, wenn er etwas Gutes zu ſagen hatte. Jetzt hob er den Blick und ſah ein Geſicht vor ſich voller Gluͤck⸗ ſeligkeit. Das arme, ſchmerzbeladene, kranke Geſicht von vorher war mit einem Schlag veraͤndert. Hoffnungsloſig⸗ keit, verbiſſene Qual, fortwaͤhrendes gehetztes Überanges ſtrengtſein, alles hatte ſich verkrochen, wie die Nacht vor der Sonne. .
Das Gluͤck war da, rein und groß. Sie hob die Haͤnde und faßte die ſeinigen und ſagte wie er vorhin, aber bebend vor Bewegung: „Auch ein Fruͤhlingsbote! Wie ſoll ich Ihnen danken!“
Koͤppert wußte wieder nicht, was er ſagen ſollte, fuhr ſich durch den Haarſchopf, zog die Schultern in die Höhe, „Mir danken? — oho — hoho.“ —
Er war ganz erſchuͤttert, daß ſie in ihrem Elend ſo un⸗ geheuer gluͤcklich war. Und er brummte allerlei zerhacktes
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Zeug vor ſich hin, aus dem kein Menſch klug werden konnte. Und es war ihm, als ſaͤhe er es, wie eine Rieſenfauſt über den Berg griff und roh und gleichguͤltig das herrliche Ge⸗ ſchoͤpf mit der Feuerſeele zerquetſchte vor ſeinen Augen. „Und ſo ſcheußlich muß ſie mir zugrunde gehen!“
Er wendete ſich ab, reckte und ſtreckte ſich, machte die ſonder⸗ barſten Grimaſſen — und atmete tief auf, um die Bruſt frei zu bekommen.
„Wie Sie turnen?“ ſagte Olly tonlos und muͤhſelig und laͤchelte ihn immer noch ſtrahlend an. Da machte der un⸗ ruhige Geiſt noch einen letzten, energiſchen Schlenker mit dem Arm. „Dieſe Huͤhner, die Weiber“, ſagte er. „Sie wiſſen ja, wie ich denke. Ewig kleinlich, am Geringfuͤgigſten kleben, engherzig, ſchlau, berechnend. Ah! — nie ein reines Feuer, was ihnen einmal durch die Seele fuͤhre und alles nieder⸗ brennte, alle Lumperei, — nie und nimmer! Eine ewige Dumpfheit.
„Ich weiß ſchon, ich weiß ſchon, ereifern Sie ſich nicht“, wehrte er ab, als Olly ſprechen wollte. „Sie — Sie — na — Ausnahmsweib. Einfach guter Kamerad mit einer Helden; ſeele. Anfangs glaubte ich Daͤmon.“ Er lehnte ſich wieder in den Stuhl zuruͤck. „Gottlob, nein.“ Er fuhr ſich uͤber den Haarſchopf. „Ja,“ ſagte er, „ſo wundervoll zu einem Weibe ſtehen, ſo ganz ſimpel — Menſch zum Menſchen — und nicht Raubtier. Dieſe Huͤhner, fie koͤnnten“s haben, wenn ſie wollten, weshalb nicht? Aber nein! Mit dem bißchen Weib⸗ſein muß herumgeprahlt werden, als wenn fie ein Koͤnigreich an den Mann zu bringen haͤtten.“
Er ſchaute wieder zur Decke, denn er ſtand wahrſcheinlich im Begriff, etwas Sonderbares zu ſagen. „So einen Ka⸗ meraden zu haben, wie ich jetzt,“ murmelte er, „ja, das könnt’ ein jeder wollen, war’ net übel — das iſt für Auserwaͤhlte. Verſtehen Sie, das iſt eine Belohnung, die eben nicht fuͤr jeden iſt.“
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Er hatte die Beine übereinander geſchlagen, bewegte die Fußſpitze hin und her und betrachtete dieſe ſehr aufmerkſam.
„Ich hab“ einmal die ganze Nacht auf einem Stoppelfeld zugebracht. Wiſſen Sie — das iſt ſehr leicht geſagt. Teuflifch ! eine Art Lager, um tobſuͤchtig zu werden. Glauben Sie, daß es moͤglich iſt, die Stacheln mit ſo 65 Kilo niederzu⸗ drucken? Kein Gedanke, dieſe vegetabiliſchen Borſten ſtehen kerzengerade und bohren und kratzen und ſtechen — find eins fach unbezwinglich, rauh, roh, rapauzig wie 's Leben — und eine lange Nacht und immer von einer Seite zur andern.“
„Als Soldat?“ fragte Olly.
„Als ganz gewoͤhnlicher Menſch“, erwiderte er. „So um fuͤnf Uhr morgens, da war's genug. Ich kann etwas ver⸗ tragen eigentlich. Endlich nervoͤs wie ein Vollblutpferd, einfach wuͤtend. Ich geh hinunter zum Strand, es war an der See. Ein grauer Morgen. — Ich warf die Kleider ab — und nun hinein — ganz langſam. — Nach den rapauzigen Borſten dieſe Weichheit! Herrgott noch einmal! Dabei war's kalt; aber eine Weichheit! — weich wie mit Mutter⸗ haͤnden ſtrich mir's am Koͤrper hin — ſo wie Mutterhaͤnde eigentlich fein ſollten!“ Er reckte ſich wie im Arger — „ja — follten !
So iff mir's nach den Borſten, auf denen man fid fein Lebtag zu waͤlzen hat, wenn wir beide miteinander ſind. Eine Weichheit! Da iſt nichts, was ſticht und reibt. Ich ver⸗ geſſe, daß ich Raubtier bin — keine Reue, keine Wut — ganz einfach Kameradſchaft. Worte!“ brummte er, „das iſt auch nicht das rechte Wort“, und er ſchaute immer noch nach ſeiner Fußſpitze.
Ollys Blick aber hatte aufmerkſam und tief bewegt an ihm gehangen. „Ach, geben Sie mir die Hand“, ſagte ſie.
Und er faßte ihre beiden heißen, oueananers Haͤnde und ſah ihr gerade in die Augen.
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„Weshalb fagen Sie das zu mir? Um mich gluͤcklich zu machen?“
„Man ſagt einander viel zu wenig Gutes“, meinte er.
Sie hatte etwas ganz Verklaͤrtes. Ein Friede lag uͤber dem Geſicht, der Koͤppert ſeltſam beruͤhrte, und ſie behielt ſeine Hand in den ihrigen.
„Ich danke Ihnen“, ſagte ſie leiſe. „Iſt das eine wunderbare Sache, daß Sie zu uus gekommen find! Minn ſagte den erſten Tag, als Sie kamen: ‚Dein Meſſias kommt. Ihre Werke waren mir Offenbarungen — das wiſſen Sie. — Und nun — nun!“ Sie konnte nicht weiter ſprechen, ſah ihn aber an mit einem Aus⸗ druck, als laͤge ſie vor ihm auf den Knien und kuͤßte ihm die Haͤnde.
Sie waren beide jetzt ſtill. Emil brachte die Lampe herein. „Er iſt ſo gut“, fluͤſterte ſie.
„Jawohl,“ ſagte Koͤppert, „er hat ſo etwas wie Herz. Deshalb iſt er aber doch faul und ein halbgebackenes Broͤt⸗ chen, wenn er uͤber Dinge ſpricht, die ihn nichts angehen.“ Er lachte Emil zu.
„Oho“, ſagte Emil, ſchlug ſich aufs Knie und ging wieder zur Tar hinaus.
„Morgen kommt der Doktor, um wieder eine Unterſuchung zu machen. Gott weiß, was er da findet! Kommen Sie, bitte, nachmittags.“ Sie ſagte das bebend. Koͤppert mußte ſich ganz zu ihr hinneigen, um ſie zu verſtehen. .
Sie machte eine Pauſe, dann fuhr fie fort: „Es war’ gut, wenn Sie kaͤmen. Mimm verliert immer ganz den Kopf. Und Mama! — mein Gott, wenn Mama doch nicht tame! Aber ſie ſind immer alle da, — die beſte iſt noch Tante Zaͤng⸗ lein, aber die iſt ſo ein kleiner Irrwiſch. Sie ſchaut ſich alles an — ich weiß nicht wie — ſo kuͤhl. Ich bin grenzenlos allein, wenn ſie alle aufgeregt ſind. Niemand denkt an mich, jedes an ſich. Wie man das ſpuͤrt, wenn man ſo krank iſt!
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Diefe Einſamkeit! Emil — Emil iſt gut. Alſo Sie kom⸗ men?“
Als Koͤppert ging, dankte ſie ihm noch einmal mit einem Ausdruck, den er ſein Lebtag nicht vergeſſen ſollte.
Sie war wieder allein und lag ſtill und unbeweglich wie vordem, ehe Koͤppert gekommen war; aber den großen Fruͤh⸗ lingsſchmerz hatte er von ihr genommen und ihr etwas dafuͤr gegeben: Herzensfrieden und das ſichere, warme Sommer⸗ glad der Gegenwart. Die Sehnſucht, das Werdenwollen, das Qualen und Ringen und Kämpfen, das die Freude an dem, was ſchon iſt, erſtickt, hatte er ihr zuruͤckgedaͤmmt, und ſie ſah, vielleicht auch nur auf Augenblicke, daß ſchon etwas geworden war, von den Dingen, die ſie ſo heiß erſtrebte.
Gaſtelmeier kam zuruͤck. „Nun, wie geht's, Frauchen?“ fragte er.
Da ſchlang ſie den Arm um ſeinen Hals und ſagte tonlos und heiſer: „Mimm, hoͤrſt du, Koͤppert iſt mein Kamerad. Er hat mir's eben gefagt.”
„Na, Koͤppert iff ein guter Menſch“, erwiderte Mimm.
as war alles geſchehen und durchgekaͤmpft, als Koͤppert am andern Tage kam!
Er verſuchte zu klingeln. Die Klingel gab keinen Laut von ſich. Sie hatte ihn gebeten zu kommen und er war ge⸗ kommen und ging nicht wieder. Sollte ſie umſonſt warten?
Er klopft. Niemand hoͤrt. Er lauſcht, klopft wieder — da in der Kuͤche wurde geklappt und gewirtſchaftet. Er klopft von neuem. Jetzt kommt jemand. Die Koͤchin oͤffnet und ſchaut ihn verbluͤfft an.
„Was ſoll das?“ fragt er.
„J mein’ ſchon, Herr Koͤppert, daß Sie heut’ net herein koͤnnen. Die Nacht iſt's fo viel ſchlimm gegangen. Der Doktor hat ſie ſchneiden muͤſſen — ja. Weiß net, was das
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noch werden mag. An ſilberns Roͤhrel hat er ihr in 'n Hals geſteckt. Reden kann ſ' nimmer. Der Emil ſagt: „Dauern kaun f’ noch lang. Aber i mein“ ſchon, a Freud“ wird f’ nimmer viel dran hab' n.“
Koͤppert ſtand regungslos.
„J mein“ ſchon“, fing die Köchin wieder an und ſah auf den hageren, ſtarren Menſchen.
„Gehen Sie, ſagen Sie, daß ich da bin.“
Er dachte an ihre ruͤhrenden, hilfeſuchenden Worte.
„Ja, aber,“ meinte die Köchin, „drinnen find ſ“ ganz auseinand.“
„Gehen Sie.“
Als er in das ihm ſo bekannte Zimmer trat, in dem fein Kamerad ihn ſeit Monaten ehrlich beglüdt empfangen hatte, war es ihm zumute, als oͤffnete er die Tuͤr zu einem Garten, den er am Abend unberuͤhrt und voller Bluͤten und Kraͤuter verlaſſen hatte — und am Morgen iſt alles zertreten und zerſtampft, als haͤtten Daͤmonen darin gehauſt.
Bleich trat er ein; die hagere Geſtalt wie zugeſpitzt von innerer Erregung, die ſehnigen Haͤnde ineinander gekrampft, die Augen ſpaͤhend. Jerſtoͤrung, wohin er ſieht. Die Anmut des Raumes fortgewiſcht. Jeder Stuhl, der im Weg ſteht, zeugt von verzweifelten, vom Ungluͤck gepackten Menſchen. Eine rieſige Unordnung im Zimmer — Sachen, Sachen und wieder Sachen, ſinnlos hingeworfene Sachen.
Gaſtelmeier ſteht am Fenſter, ſtarrt auf die Straße hin⸗ aus, dreht ſich nicht um, als er die Tuͤr gehen hoͤrt. Ollys Mutter ſitzt auf dem Sofa. Sie ſieht zerzauſt aus, ſo un⸗ muͤtterlich wie moͤglich, keine Troſtbringerin, eine Troſt⸗ bettlerin; neben ihr Erwin zuſammengekauert.
Wie ſitzen dieſe Leute da!
Auf dem Sofa, auf dem irgendwer die Nacht geſchlafen haben muß, liegt noch das Bettlaken ausgebreitet. Auf der
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Erde ſteht ein Waſchgeſchirr, auf einem Stuhl das Fruͤh⸗ ſtuͤckszeug noch. Eine Taſſe iſt umgeſtuͤrzt, der Inhalt hat ſich auf den Fußboden ergoſſen: auf allen Gegenſtaͤnden Staub, vor dem Ofen Aſche und Kohlen durcheinander. Dort Verbandzeug, auf dem Tiſch eine Schale mit blutigem Waſſer, blutbefleckte Tuͤcher, Waſſer, Flaſchen.
Koͤppert erroͤtet, es tut ihm weh. — Wenn das Seelchen das wuͤßte! Seine Augen bohren ſich wahrhaft in die nervoͤs verzauſte Mutter. „Auf, alte Naͤrrin!“ ſagen dieſe heftigen Blicke. „Was biſt du denn? Erwirb dir endlich das Recht zu leben — greif an! Was gehen deine Nerven dich an, laß ſie meinetwegen an dir herumhaͤngen — aber tu deine Pflicht!“
Er war ſinnlos wuͤtend, Koͤppert. Wie zugeſpitzt er aus⸗ ſah! Er hatte den Sumpf, aus dem das Seelchen ſtammte, laͤngſt kennen gelernt, dieſe Menſchen, die die ſchwachen, ers baͤrmlichen Arme nach der Kunſt ausſtreckten, die Kunſt als noblen Broterwerb betrachteten, dieſe Schwaͤchlinge, die nicht wußten, wie fle mit dem Leben auch nur auf die elendſte Weiſe fertig werden ſollten, und mit dem Martyrium der Kunſt ſpielten. Aus dieſem Sumpf, der nur Blaſen aufwirft, war dennoch eine Heldenſeele aufgeſtiegen, eine Prachtſeele, die bis zum Tod voller Schaffenskraft und Feuer war, die alles uͤberwand. Und dieſe Seele lag fetzt verſtuͤmmelt, blutend zugerichtet, aufgegeben, und die Blaſen machten ſich wichtig und blieſen ſich auf bis zum Platzen.
Die ihm ſo verhaßte Dame wollte ihn wehmutsvoll an⸗ reden und begann etwas Hochtrabendes. Er wendete ſich ab. „Nun — nun — nun“, ſagte er zu Gaſtelmeier und ruͤhrte ihn an der Schulter an.
„Das iſt ein Leben. Wenn du wuͤßteſt,“ murmelte der, „eine Hölle!"
„Tun Sie die Tücher fort — und die Waſſerſchale“, ſagte Koͤppert ruhig zu Frau Kovalski.
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„Wozu?“ fagte Gaſtelmeier, „laßt nur alles fliehen und liegen, wie es liegt in dieſem Ungluͤckshaus; überhaupt, wozu hier etwas anruͤhren?“
„Verlier“ den Kopf nicht,“ ſagte Koͤppert, „armer Kerl!“
„Ja, das iſt's, was ich vom Leben erhofft habe!“
Gaſtelmeier preßte den Kopf an die Glasſcheibe. Er ſtand verzweifelt und verbittert da. Seiner behaglichen Perſon ging's ſchlecht, ihm war alles verpfufcht, ihm geſchah das Entſetzliche — uͤber ſich ſelbſt kam er nicht hinaus, und ſein Schmerz war daher bitter, bitter wie Galle und von dem Mitleid für andre unverduͤnnt. Freilich hatte er Mitleid mit der Armen — aber daß er Mitleid haben mußte, das war's, was ihm weher tat, als das Mitleiden ſelbſt. Er ſah drollig aus. Seine Beinkleider hatten eine Art und Weiſe zu ſitzen, die durchaus nicht zu der verzweifelten Stimmung paßte. Der Sitzteil dieſer weiten Beinkleider hatte die Eigen⸗ tuͤmlichkeit, wie eine Art Schmetterlingsnetz an ſeiner ge⸗ knickten Geſtalt herabzuhaͤngen.
„Dieſe Hölle heut nacht, Köppert, fo etwas geht über die Kräfte, die einem Menſchen zur Verfügung geſtellt find.” Er murmelte unverſtaͤndlich. Beide Hände hatte er in den Hoſentaſchen. Er ſah wie breitgedruͤckt vom Schickſal aus.
„Es iſt Hoffnung, daß ſie noch leben kann, aber Köppert — ſiehſt du — ganz ohne Stimme — weißt du? — und geſund? — Nie wieder eine geſunde Frau.“
Die Augen ſtanden ihm voll Traͤnen, er hatte ſchon viel geweint und ſchnuͤffelte etwas. „Seit wir verheiratet ſind, eine ewige Unruhe — nie Frieden. So reizend, ſo lieb, wie ſie war — und doch nicht, wie es haͤtte ſein koͤnnen. Und nun — das!“
Er mußte ſprechen. Er konnte ſeine Gedanken nicht mehr zuruͤckhalten und ging neben dem langen, hageren Köppert, der ſeinen eigenen Gedanken, wie es ſchien, nachging, auf und nieder.
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„Wenn ich denke, ich zog damals wegen dem Rangierbahn⸗ hof aus der Salzſtraße; — aber was iſt ein Rangierbahnhof gegen das Leben, wenn nicht alles iſt, wie es fein follte! Siehſt du, Koͤppert — und es war nicht alles, wie es ſein ſollte,“ ſagte er in ſeiner Bewegung wieder, „es war nicht alles, wie es fein ſollte. Schon in der Bluͤtenſtraße fing’s an. Da rangierten ſie und kamen mit nichts zurecht. Ich weiß nicht, wie ſie's machten. Es war ein ewiges, geiſtiges Gepolter im Haus, ein ewiges Raſſeln und Schnaufen und Wuͤrgen, keine Seelenruhe. Sie waren immer geheizt wie die Lokomotiven. Siehſt du, — die Kunſt, — Koͤppert, ich hab’ immer gemeint, daß fie etwas ganz Harmloſes wäre, eine ſtille Beſchaͤftigung, — aber das iſt ſie ja gar nicht — oder fie iſt's nicht mehr, ich weiß nicht. Eine laͤrmende Mas ſchine, die Unfrieden und Unbehagen ins Haus bringt. Und wenn das Haus nicht groß genug iſt und die Kraͤfte, die die Maſchine leiten, nicht ſtark genug und nicht geuͤbt genug — und die Maſchine kommt ins Rennen — und die Schrauben halten nicht, wie fie ſollten — fo rennt fie alles aber den Haufen und wuͤtet das ganze Haus zuſammen. Es gehoͤrt Rieſenkraft dazu, um mit dieſer Teufelsmaſchine jetzt aus⸗ zukommen. Die Schwachen ſollten ſich nicht daran vergreifen.“
In Gaſtelmeiers Hirn hatte ſich der Vergleich, den Emil einmal gebraucht hatte, mit der Zeit eingeaͤtzt. Er hatte im fluͤſternden Ton unaufhaltſam geſprochen, hatte nicht auf ſeine Schwiegermutter und den Schwager geachtet und nicht auf Koͤppert; es war ihm gleichguͤltig, wer zugegen war. Was er ſagte, mußte er ſagen — und er haͤtte ſo viel mehr ſagen koͤnnen. — Aber ſchon das Wenige war eine Erleichte⸗ rung. „Und“, fuhr er fort, wobei wieder zwei große Traͤnen uͤber die behaglichen Wangen liefen, „was iſt hier rangiert worden — hier — Koͤppert, — bei aller Liebe! Glaub mir, rangiert von fruͤh bis in die Nacht — und nachts — nachts! Diefe Naͤchte! Da hat Olly die Teufels maſchine geheizt und
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uͤberheizt. Sie wollte ans Ziel, fie mußte auf Leben und Tod! Das mit anzuſehen! Wahrhaftig, ich habe nicht geglaubt, daß man mit einer Frau ſo etwas erleben kann. Man haͤlt die Frauen auch fuͤr ſo harmlos?! Ich wenigſtens tat das; — aber ſie ſind es nicht.“
„Nein,“ ſagte Koͤppert, „das ſind ſie nicht. Wo liegt deine Frau?“
„Ja, wirklich, — ich weiß nicht, ob du ſie ſehen kannſt, ſie liegt natuͤrlich zu Bett“, ſagte Gaſtelmeier unſicher. „Ich weiß nicht.“
„Sag's ihr, daß ich da bin. Wer iſt bei ihr?“ fragte Koͤppert.
„Jetzt Emil, ſpaͤter bekommen wir eine Rote⸗Kreuz⸗Schweſter. Weißt du, da ſind Dinge mit dem Verband zu machen.“ Er ging ungeſchickt vorſichtig in ſeinen weiten, geſtickten Haus⸗ ſchuhen voraus in das Nebenzimmer.
Als Koͤppert bei Olly in Gaſtelmeiers Begleitung eintrat, ſtand Emil, der neben ihrem Bett geſeſſen hatte, auf und fluͤſterte ſeinem Schwager ins Ohr: „Komm, es iſt gut, wenn Koͤppert mit ihr ſpricht.“
„Jawohl“, ſagte Gaſtelmeier.
Koͤppert ſah, daß zwei bleiche Haͤnde ſich ihm entgegen⸗ ſtreckten — hilfeſuchend, als laͤge der arme Kamerad nicht in ſeinen Kiſſen, ſondern als triebe er in einem reißenden Strome von ihm ab.
Er faßte die hilfeſuchenden Haͤnde. Da machte ſie die eine Hand los und zeigte nach ihrem Hals. Die Augen bohrten ſich verzweifelnd in Koͤpperts Augen. Sie wollte ſprechen. Es war, als packte den ganzen Koͤrper ein Krampf. Solch eine Unruhe! Solch ein Verlangen! Sie wollte ſich mit⸗ teilen. Sie mußte ſich mitteilen, es war ſo unendlich viel geſchehen. Sie war nun ganz zum Kruͤppel geworden — ſtumm — zerſchnitten! Und das Leben⸗ wollen! Und der Lebensjammer! 9
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„Ruhig — ruhig“, ſagte Koͤppert und legte den Arm um ihre Schulter. Sie lag etwas aufgerichtet.
So hielt er ſie. Das tat ihr wohl — fuͤr einen Augenblick. Dann zog der Jammer wieder uͤber das Geſicht wie ein Regenſchauer.
„Ich weiß alles, was Sie denken“, ſagte Koͤppert. „Sehen Sie mir nur in die Augen.“
»Und fie fab ihn folgſam an, flare unverwandt, und er hielt ihren Blick aus und las den ganzen bittern Kampf, das ganze Elend, wie in den Augen eines ſterbenden Tieres.
Eine große, ſtumme Beichte. Ihr Koͤrper zitterte, ihre Bruſt hob ſich im Kampf. So ſaßen ſie lange unveraͤndert.
Jetzt kamen die heißen, heißen Traͤnen, das ganze Geſicht war gebadet. Und er hielt ſie und hoͤrte die ſtumme, ernſte Beichte weiter. Sein Geſicht war ſo geſpannt, er war ſo ganz ihr hingegeben, daß ſie in Wahrheit mit ihm zu ſprechen glauben konnte. Ihr Jammer floß wortlos ganz in ſeine Seele über und er fühlte jeden Schauer, der fie durchfuhr.
Ganz offen und ehrlich und ohne alles Mit⸗ſich⸗ſelbſt⸗Ver⸗ ſtecken ſpielen ... das war das Weib, das er liebte.
Zermartert, ſeeliſch und koͤrperlich, zu Tode verwundet, ganz aufgegeben und aus dem Leben geſtoßen, ſo lag ſie in ſeinen Armen — und nicht einmal ſein eigen. Armſelig und ſtumm, wie ein ſterbendes Tier. So mußte er lieben lernen.
Raffiniert! Teufliſch! Wenn er das hinſterbende, junge Weib nicht haͤtte in ihrer Angſt und Qual ſtuͤtzen und halten muͤſſen, er waͤre aufgeſprungen und haͤtte die Haͤnde inein⸗ ander gekrampft, waͤre im Zimmer hin und her geraſt im laͤcherlichen Kampf gegen das Schickſal. Das Schickſal und er haͤtten es genau miteinander gemacht wie die beiden Kerle an der Tuͤrkenkaſerne in Muͤnchen: „Sag“ Lallenſtedt.“ — „Lallenſtedt“ — darauf prompt der Schlag. Koͤppert aber ſagte nicht Lallenſtedt, trotz aller Aufforderungen des Schickſals nicht, und hielt feinen armen Kameraden behut⸗
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fam, ſtuͤtzte ihn, damit er beſſer aufrecht figen konnte. Er verbiß ſeine Qual.
„Ich weiß alles — ich weiß alles — alles“, fluͤſterte er ihr wieder zu in einem Ton, als ſpraͤche er mit ſeinem todkranken, treuen Hund, von dem er keine Antwort erwarten duͤrfte und den er mit jedem Hauch ſeiner Stimme troͤſten wollte. So innig, ſo naiv — ſo ganz ihm zugewendet, wie der Menſch zum Menſchen den Ton kaum ſtimmen kann. „Du willſt leben — du willſt es haben, wie die andern — und beſſer — jawohl beſſer — groͤßer und weiter! Du dachteſt dir dein Leben wundervoll? Nicht wahr?“
Sie hoͤrte mit großen Augen zu. Er hatte gefuͤhlt, wie ſie bei der Anrede zuſammengeſchreckt war und wie ein reiner Gluͤcksſtrahl uͤber ihr Geſicht huſchte, fuͤr einen Augenblick die Todesbangigkeit verſcheuchte.
Dies „Du“! Dies Einander⸗nah⸗geruͤckt⸗ſein!
Jetzt hingen ihre Blicke an ihm wie gebannt.
„Du meinſt, es iſt jetzt alles aus, kommſt dir entſetzlich betrogen vor? Sehr begreiflich. Von ſolchen Gedanken laͤßt du dich zerreißen?“
„Ja — ja“, ſagten die armen Augen.
wor’ mich,“ ſagte er leiſe, „vielleicht Haft du mehr gelebt, als irgendeine andre, und lebſt mehr, als irgendeine. Denke — allein ſeit wir uns kennen: Da iſt ſo ein Menſch gekommen, Tag fuͤr Tag, der hat vor dir ausgepackt, was er nur aus⸗ zupacken hatte, und wie haben wir einander verſtanden! Meinft du, fo etwas gibt es oft in dieſer Welt, da laufen fie aneinander voruͤber wie die Tiere, brummen ſich etwas zu vom Futter, vom Wetter, von ihrem Befinden! von den beſten Weideplaͤtzen — und aus iſt's. Wir aber! Denk doch!
Und wie verſtehen wir uns in Dingen, fuͤr die man eigent⸗ lich keinen Gefährten finder! Und denk', wie du gewachſen biſt. Ich fag’ dir! s. Erſtaunlich. Du biſt eine fo feine, feine
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Kreatur. Kuͤnſtler durch und durch. Stell’ dir vor, wie fie wuͤrgen und hetzen, und wie ſteifleinen es iſt, was die meiſten zuwege bringen. Denk nur. Und wie wundervoll wir mit⸗ einander gearbeitet haben. Denk an all das und daß du einen Kameraden haſt, — wenn du alles wuͤßteſt! — dem du außer feiner Arbeit das erſte menſchliche Gut biſt. Stell’ dir den rapauzigen Waldmenſchen vor — und wie gut er's mit dir meint. Na, als wenn das alles nichts waͤre.“
Er ſprach weiter und weiter. Mit jedem Wort wollte er ihr Troſt bringen, vergaß ſich ſelbſt, wie eine Mutter, die ihr krankes Kind einwiegen will, der eigenen Müdigkeit vers gißt. Er ſprach ganz einfach ohne alle Spruͤnge und Sonder⸗ barkeiten und dachte nur einzig: Sie ſoll in ihrem Jammer die weiche Hand ſpuͤren.
Und ſie ſpuͤrte ſie. Mit großen Augen nahm ſie ſeine Worte auf, wie eine verdurſtete Pflanze den Regen. Sie fühlte ſich ſicher bei ihm; wie oft hatte er ſchon Qual und Jammer von ihr verſcheucht, nur damit, daß er da war und mit ihr von Gott weiß was ſprach! Und heute, wo er mit feiner heilenden Hand die furchtbare Wunde beruͤhrte!
Sie machte ihre Hand jetzt langſam von ihm los und zeigte nach dem Tiſch vor ihrem Bett. Da hatte Emil weiße Zettel hingelegt und einen wundervoll geſpitzten Bleiſtift. Koͤppert reichte ihr, was ſie verlangte, und gab ihr auch den Pappdeckel, der als Schreibunterlage nebenbei lag.
Olly hielt die matte Hand lange ruhig, dann ſchrieb ſie mit zitternden Fingern: „Weißt du noch, mein Kamerad, der Karpfenſchlag? Heute nacht und heute morgen — das war mein Karpfenſchlag — tief im tiefſten Grund und Schlamm — ganz einſam — vielleicht kommt auch bei mir nun die Weisheit, und daß ich geduldig werde.“ —
Koͤppert nahm ihr den Zettel aus der Hand und las ihn und in den Augen ſtanden ihm die nicht mehr zuruͤckzuhal⸗ tenden Tränen. Und er fiel vor ihrem Bett auf die Knie
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und kuͤßte ihr die Hande und preßte fie wieder und wieder an die Lippen. Dabei konnte er nicht Herr ſeiner Traͤnen werden. :
„So ein Eſel,“ ſagte er, „ſo ein großer Eſel!“ Und verbarg ſeinen Kopf in den Kiſſen. Aber er riß ſich aus der Qual und ſagte: „Wenn du ſo gut und klug biſt, wird alles gut werden.“
Sie ſchuͤttelte den Kopf und nahm wieder den Stift in die Hand und ſchrieb kaum leſerlich: „Keine Hoffnung wecken — um Gottes willen nicht.“
Er las, legte beide Zettel in ſeine Brieftaſche. „Nein,“ ſagte er, „kleine Hoffnung und keine Hoffnungsloſigkeit. Wir wollen uus an die Gegenwart halten.“
Er ſetzte ſich wieder zu ihr und ſie gab ihm beide Haͤnde.
Es wird daͤmmerig. Der Fenſterfluͤgel ſteht ein wenig ges oͤffnet und unter dem feuchten, grauen Himmel klingt draußen, aus einem Garten herauf, das Amſellied, das die Herzen in den großen Verjuͤngungsſtrom einzutauchen ladet. Sie hoͤren es beide — halten ſich an den Haͤnden und haͤngen mit den Blicken feſt aneinander.
Jetzt kritzelte (te wieder auf einen Zettel: „Ein Glad ohne Neu’ — alles durch dich, mein Kamerad.“
Er ſtrich ihr uͤber die Hand. Sie ſolle ruhig, ganz ruhig ſein. Die Amſel draußen brach ab — ſetzte wieder an — die urweltlichen, zarten Toͤne wurden leiſe, wie traͤumeriſch, ſchwollen an, ſehnſuͤchtiger, banger — ſeelenbeklemmend. Das wonnevolle Fruͤhlingsweh lag uͤber der Erde.
Die beiden im ſtillen Zimmer hielten einander immer noch bei den Haͤnden, und ſie ſuchte ſeine Blicke. Sie lebte von ſeinen Blicken.
Dann kritzelte ſie wieder; aber die eine Hand des Kameraden behielt fie in der ihren und klammerte ſich feſt daran, während ſie ſchrieb — ſo feſt und bang, als fuͤrchtete ſie, daß er gehen wuͤrde.
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Ja — und er fühlte auch, er durfte nicht gehen. Er mußte nun bleiben. Sei es, wie es wolle. Er dachte, dachte dumpf, wie er es am beſten einrichten koͤnnte, er wollte mit Mimm ſprechen. Er durfte ſie jetzt nicht verlaſſen. Inzwiſchen kritzelte ſie, langſam, immer ausruhend.
Wenn er nicht bei ihr waͤre, wie wuͤrde ſie nach ſeinem Troſt ſuchen in ihrer Seeleneinſamkeit! Sie fuͤrchtete ſich ohne ihn. Es grauſte ihr bei dem Gedanken, daß er gehen wuͤrde. Das wußte er — er mußte bleiben.
Sie kritzelte langſam, langſam — draußen das Amſel⸗ lied.
Sie ſchaute ihn an, er folle den Zettel leſen.— —
„Nehmt das Entſetzen von mir, die ſchwere, naſſe Erde — den engen Sarg — das Grauſen — die tote Einſamkeit. Begrabt mich nicht!!! Das Feuer tft beſſer. Verbrennt all das, was ſo viel ſein wollte — ſo viel! Das unbeſchreiblich Lebendige — das Ruhmſuͤchtige — das Toͤrichte, das was ſo gern — ſo unausſprechlich gern gelebt haͤtte.“
Er hat geleſen und ſieht fie an, treu und feſt. Sie kann ſich auf ihn verlaſſen.
Jetzt greift ſie nach einem Flaͤſchchen, das neben ihr ſteht.
„Willſt du einnehmen?“
Sie nickt.
„Soll ich's dir geben? Haft du kein Loͤffelchen?“
Sie hat es ſchon aus dem Flaͤſchchen getrunken. Jetzt liegt ſie ſtill. Koͤppert wundert ſich, daß niemand kommt. Aber es iſt gut ſo.
Die Daͤmmerung ſinkt tiefer und tiefer. Olly wird un⸗ ruhig, wirft ſich hin und her, ihr Blick wird ſo bang, ſo un⸗ endlich bang. Sie fuͤhlt ſich gequaͤlt.
Dann wird ſie ruhig und der Ausdruck, wie es ihm ſcheint, faſt heiter. Wieder greift ſie nach dem Stift und er reicht ihr einen Zettel hin. Sie kritzelt im Halblicht: „Und weißt
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du — ſelbſt nach dem Karpfenſchlag, mein Kamerad, auch wenn der Karpfen ganz ergeben iſt, kann doch noch Unver⸗ hofftes geſchehen. Unſer dicker Freund, der Goldkarpfen, hatte alles aufgegeben, ſeinen Karpfenſchlag gemacht — war geduldig geworden — und die Freiheit kam! Ich ſeh“ ihn noch — wie ein Goldſtreif, huſch, ins freie Waſſer — fort war er, und froh und geſund.“
Er lieſt den Zettel, legt ihn zu den andern in die Brief⸗ taſche — und wendet ſich ab. Die Tuͤr oͤffnet ſich, Emil kommt leiſe herein und bringt Licht.
Er ſchleicht an Ollys Bett. „Ollychen, was haft du denn? * fragt er ſonderbar und ſtellt die verhaͤngte Lampe auf den Tiſch.
„Ollychen?“ Er fragt ganz ruhig und doch angſtvoll.
Jetzt blickt Koͤppert auf fie hin. Es iff eine Veränderung mit ihr vorgegangen. Die Augen ſind halb geſchloſſen, es liegt etwas Schweres auf ihr — wie eine ungeheure Schlaͤf⸗ rigkeit.
„Ollychen, was haft du denn?“ fragte Emil wieder.
Sie winkt ſchwer mit der Hand.
Auf ihrem Bette liegt noch das Flaͤſchchen. Emil greift danach. Er haͤlt es — haͤlt es und ſchaut — darauf hin. „Es wird ihr doch nicht ſchaden“, ſagte er fluͤſternd. „Sie hat da aus dem falſchen Flaͤſchchen genommen und gewiß wieder getrunken. Das macht ſie immer mit aller Medizin. Ihr Schlafmittel — und — iſt leer.“
Er gibt Koͤppert das Flaͤſchchen. Der ſieht kuͤhl darauf hin — dann mit einem langen Blick auf ſeinen Kameraden — und beugt ſich uͤber ſie und ſieht in das Geſicht, uͤber dem der ſchwere, tiefe Schlaf ſchon liegt — und ſieht auf das, was das Schickſal ihm bisher an Menſchengluͤck geboten — in welcher Geſtalt!
Wit Qual beladen — und doch — wochen⸗, monatelang hatte ihm die Gluͤcksflamme gebrannt. Immer gefaͤhrdet,
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erſtickt zu werden, wie eine Flamme, über die giftige Nebel ſich legen. Aber ſie hatte gebrannt. Es war das echte Feuer geweſen.
Die Rieſenfauſt hatte uͤber den Berg gelangt und druͤckte den goͤttlichen Funken aus. Da war nichts zu machen.
Er erhob ſich aus der tiefgebuͤckten Stellung. Und noch ein langer, tiefer Blick auf das Geſicht in den weißen Kiſſen, fuͤr ihn das Geſicht der Geſichter.
In den tiefen Schlaf hat ſie das Bild vom geretteten Gold⸗ karpfen mitgenommen, den huſchenden Goldſtreifen im freien Waſſer. Die unverhoffte Freiheit — die Voffuung. Das war gut ſo— —
„Merkwuͤrdig, barmherzig!“ dachte er.
„Ich werde zum Arzt gehen“, ſagte Koͤppert und ging leiſe hinaus.
Da ſaß Freund Gaſtelmeier vor dem Tiſch, die Arme auf⸗ geſtuͤtzt, den Kopf in den Armen vergraben und war eins geſchlafen.
Koͤppert ſchlich an ihm voruͤber.
s war alles vorbei, der Tod und das erſte Entſetzen, die ſchreckliche Kiſte mit dem Zinnſarg, die Reiſe — alles. Über Ollys armen Mimm waren die Wogen zuſammen⸗ geſchlagen, und Koͤppert ſaß zu Hause mit ſeiner Mutter — allein. Die alte Frau ſtrickte.
„Ich erfahr“ da,“ fagte fie, „du biſt bei einer Verbrennung mit dabei geweſen? Durch fremde Leute natürlich erfahr ich s.“
Koͤppert ſaß muͤde gearbeitet, ſtumm, und ſchnitzelte ge⸗ dankenlos an einem Stuͤckchen Holz. Das fahle, ſtarke Haar, das ſein Kamerad geliebt hatte, das unregelmaͤßige Geſicht, die klugen, grauen Augen, die feſte, leichte Geſtalt — Arbeitskraft von fruͤh bis abend — alles wie zuvor — aber eine Verdroſſenheit — eine ſo ſchwere Verdroſſenheit.
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„Ou,“ ſagte die alte Frau, weil fie keine Antwort bes kam, noch einmal, „wie war's denn? Es ſoll ja greulich ſe in.“
„Gar nicht“, ſagte er kurz.
„Ou ſollſt ja alles gemacht haben, alles, und wie ſie die Kiſte zum Bahnhof gebracht haben. Alſo eine wirkliche Kiſte, — da warſt du auch dabei. Wie kommſt du denn dazu?“
„Einfach“... Er ſprach nicht aus, ging im Zimmer auf und nieder, fuhr ſich durch den Haarſchopf und zuckte mit den Schultern.
„Wie iſt es denn?“ fragte die alte Frau weiter und ſtrickte, „wie iſt denn das mit der Aſche? — Wie ſieht denn das aus? — Du —? Du erzaͤhlſt einem auch gar nichts.“
„Wie das ausſieht?“ fuhr Köppert auf und ſtand vor ſeiner Mutter, die Finger ineinander gekrampft, grau, hager, ſo zugeſpitzt, ſonderbar, ſo in ſich ſelbſt verkrochen.
Die alte Frau ſtrickte weiter, zaͤhlte ab und merkte nicht auf ihren Sohn. „Ja, wie iſt's denn?“ fragte ſie noch ein⸗ mal behaglich unter dem Zaͤhlen und ſteckte ſich eine Strick⸗ nadel durch die Haube. „Iſt's denn eine Blechbuͤchſe — ich hab’ fo gehört. Wie eine Blechbuͤchſe?“
„Nun ja, Mutter — eine Blechbuͤchſe — verloͤtet — ganz wie Bohnen — das iſt das Ende.“
5 *
m letzten Winkel des Reiches, dort, wo aus dem bays as riſchen Algaͤu die niedrigen Paͤſſe in die benachbarte Schweiz führen, liegt ein Hochtal. Die goldene Fruͤhlingsabend⸗ ſtunde leuchtet daruͤber hin. Die Herrgottswaͤnde ſtrahlen das Licht der untergehenden Sonne zuruck. Fruͤhlingswonne in jedem Gras, in jedem Kraut, in jeder Blume, im Moos, in jedem Laut, in jedem Duft. Wie Dankopfer ſteigt der Odem des neuen Lebens zum Himmel. Die Luft ſonnen⸗ durchleuchtet. Alles ſtrahlend, funkelnd, jauchzend — lebendig.
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Daſeinswonne für jede Kreatur. Der Winter vergeſſen, der Tod vergeſſen! Leben uͤber Leben!
Es quillt, es ſtroͤmt, es ſproßt und breitet ſich aus. Die Gebirgswaͤſſer ſprudeln und toſen. Die gruͤnen, ſchwer⸗ belaubten Wipfel wiegen die neue Laſt. Die ſchwarze Erde ſchickt ungezaͤhlte bunte, duftende Geſtalten zum Tageslicht. Die Welt iſt neu — das Leben iſt neu. Jeder Atemzug Ge⸗ ſundheit und Freude.
Am Weg, der zum einſamen Gehoͤft Rohrmoos fuͤhrt, ſteht ein Maͤdchen, blond, roſig — ernſt, aber als waͤren Fruͤhlingskraͤfte auch uͤber ſie ausgegoſſen. Sie erwartet jemanden. — Den Weg herauf muß er kommen. — Und er kommt. —
Endlich!
Sie hat lange gewartet, lang ausgeſchaut. Zwei Wan⸗ derer ſind an der Wegbiegung aufgetaucht. Jetzt geht ſie ihnen langſam und ruhig entgegen.
„Friedel“, ſagt ſie im warmen Herzenston, als ſie bei ihm tft. Helle Tränen ſtehen ihr in den Augen.
Der Mann findet kein Willkommens wort, er reicht ihr ſtumm die Hand.
„Friedel“, ſagt ſie wieder. „Friedel“, ſo troͤſtend, ſo warm: er iſt ja heimgekommen!
Jetzt hebt er den Kopf und faßt ſeinen Begleiter bei der Hand und ſagt: „Emil bleibt ganz bei uns oben, der hat auch die Kunſt uͤber Bord geworfen.“
Das Maͤdchen druͤckt auch dieſem die Hand.
Und fie gehen alle drei wortlos durch die lebens maͤchtigen Fruͤhlingsgewalten, die alle geſunden Kreaturen Winter und Tod vergeſſen laſſen.
Das Recht der Mutter
Roman
Er ſt es Bu ch
Erſtes Kapitel
Noc als gruͤner Burſche ſchrieb Ker, das heißt der Student Omitri Alexändrowitſch Ker⸗Aſowsky in fein Tagebuch: St. Petersburg, den 2. / 14. April.
Ich ſetze keinen Fuß mehr in die Univerſitaͤt. Was bekomme ich dort zu hoͤren? Es iſt wahrlich nicht des Hingehens wert. Tag fuͤr Tag entſetzlich wichtige Mienen, aber die Weisheit der Herren fließt tropfenweiſe. Tagtaͤglich ein ſparſam zu⸗ gemeſſenes Tropfchen, da, wo ich in vollen Zügen trinken moͤchte. Und wie ſie vortragen! wie ſie vortragen! Semeſter fuͤr Semeſter immer dieſelben Witze an derſelben Stelle, die älteren Studenten kennen die Witze alle im voraus. Man denkt unwillkuͤrlich: morgen kommt es! ja morgen! immer derſelbe Quatſch. Und das nennen die Herren Philoſophie! Entweder wiſſen ſie nichts mehr zu ſagen, oder ſie wagen es nicht. Das iſt nur bei uns in Rußland moͤglich. Dazu der ewige Winter, wir haben April. In Deutſchland iſt es voller Fruͤhling.
Was ſoll ich hier?
Ich gehe nach Deutſchland.
Wenn es mir einmal beſtimmt war, uͤber dieſen Planeten als Menſch zu wandern, ſo will ich es nicht getan haben, ohne das Hoͤchſte kennen zu lernen, was die Erde uns Menſchen bietet.
Wanderer ſind wir alle; ich will ſehend wandern.
II. / 23. April.
Mein lieber Schwager und Vormund Sztipann Sztipanno⸗ witſch iff ganz einverſtanden. Er hat ſehr liebenswuͤrdig gus
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geſtimmt, hat fofort die nötigen Mittel angewieſen und hat mich laͤchelnd ermahnt, nicht gar zu ſparſam zu ſein, und das wuͤrde ja wohl die paar Monate bis zu meiner Muͤndigkeits⸗ erklaͤrung reichen; dann könnte ich ja über das Ganze ſelbſt verfuͤgen.
Ich weiß nicht, was ich gegen ihn habe. Er iſt immer liebenswuͤrdig und hoͤflich gegen mich, aber ich mag ihn nicht. Man ſagt ihm nach, daß er die Bauern ſchinde. Auch mein Bruder, der General im Kaukaſus, iſt, ſo lang wie ich denken kann, mit ihm verzankt.
Meine Schweſter Anna Alexandrowna umarmte und kuͤßte mich und konnte ſich nicht enthalten zu ſagen: „Papa war ſehr liebenswuͤrdig gegen dich, obgleich du doch von ſeiner dritten Frau biſt, und kein Menſch dachte daran, daß er ſich noch einmal verheiraten wuͤrde. Freifraͤulein von Luͤtzerode⸗ Stefanitz, Stiftsdame aus Waitzenbach ober Hammelburg bei Schweinfurt... reichs unmittelbar .. und allen res gierenden Haͤuſern ebenbuͤrtig! Warum hat ſie denn nicht einen deutſchen Koͤnig geheiratet, ſtatt unſeren armen Papa?“
Aber, liebe Anna, ſage ich, das ſcheint mir doch ganz und gar Papas Sache geweſen zu fein.
„Nun natürlich! Warum biſt du denn gleich fo empfind⸗ lich? Wie ein echter Deutſcher; du haſt ja eine deutſche Mama und eine deutſche Kindermuhme gehabt. Alles deutſch. Unſer armer Papa. Ich ſage ja gar nichts, und du biſt ja ſelbſt bald muͤndig. Aber du weißt doch, daß deine Mama gar nichts gehabt hat, nur Diplome, Diplome, Diplome — ich glanbe auch gar Gouvernantendiplome. Geh doch lieber nach Paris. Ein junger Mann muß austoben. Aber wie du willſt. Wenn du durchaus ſtudieren willſt, nun gut, ſo geh nach Jena oder wie es heißt, und ſtudiere. Offizier willſt du ja nicht werden. Adieu, mein lieber Junge! Du kannſt dort tun, was du willſt, nur bitte, trinke kein Bier — das iſt ſo, wie ſoll ich ſagen — unfein. Man kriegt ſo eine deutſche
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Geſtalt — fo dick. Man hat mir gefagt, alle Deutſchen ſehen aus wie Kartoffeln. Sie laufen alle herum ohne Taille, wie Billardkugeln. Adieu, mein lieber Dmitri! und kauf dir ein huͤbſches Reitpferd. Ich weiß gar nicht, ob es in Deutſch⸗ land huͤbſche Pferde gibt, alles Bierfaß!“
Was fuͤr friſche lebendige Kinder ſind doch meine Nichten und Neffen: Daaſcha, Szaaſcha, Maaſcha, Paaſcha, Jaaſcha! Sie klettern alle an mir herum. Alle in ruſſiſchen, weiß⸗ ſeidenen Hemden, roten Hoſen und roten Guͤrteln. Jede will etwas haben, ich ſoll jedem was mitbringen, die Alteſte will durchaus noch ein Bruͤderchen. Ja, haſt du denn noch nicht genug? Nein, ſagt ſie, die hauen mich alle! So? und da willſt du wohl einen ſolchen haben, den du hauen kannſt? Ja, antwortet ſie und lacht.
Ich nehme niemand von den Leuten mit, ich gehe ganz allein.
An Bord der „Schönen Louiſe“. | 14,/26. April. s iſt das erſte Schiff, das abgeht. Aber trotz aller Uns bequemlichkeiten iſt es mir hier lieber als im Waggon. Die Newa iſt zwar ſeit einigen Tagen eisfrei, aber wir haben noch vollen Winter. Alles weiß.
Schoͤne Geſchichten, mit Jermak, dem gutſcher!
Sollte er recht haben mit Sztipann Sztipannowitſch? Es wird nicht ſo ſchlimm werden!
Auf dem Weg vom Gut hierher lag ich behaglich verwahrt und halb traͤumend im Schlitten und blinzelte durch die bereiften Augenwimpern, bald nach dem dampfenden Drei⸗ geſpann, bald rechts und links ins luſtige Schneegeftöber und dachte an den Frühling in Deutſchland.
„Baarin, Herr!“ begann der Kutſcher.
„Nun?“
„He, du Schimmel, munter, munter “
„Was willſt du?“
„Du gehſt ins Ausland, Herr, nicht? Nach Germanien, in das Land, wo ſie nicht Ruſſiſch ſprechen?“
„Freilich, was weiter?“
„He, du Strauchdieb, glaubſt wohl, man kennt dich nicht!“ und er hieb auf das Handpferd ein.
„Laß nur gut ſein, laß ſie verſchnaufen.“
„Das weiß ich beſſer, Herr. Der Schimmel da iſt ein Gauner, ein Hebraͤer, eine Hundeſeele, blinzelt immer zuruck, ob ich vielleicht einmal einnicke. Wartet nur, Bruͤderchen, ich kenn“ euch alle!“ Und er hieb von neuem auf die Pferde ein, fo daß wir pfeilſchnell über die friſche Schneebahn bins flogen.
„Gerade ſo habe ich deine Schweſter gefahren, Herr.“
„Wen, ſagſt du?“
„Je nun, deine aͤlteſte Schweſter Jekatirina Alexandrowna. Es iſt freilich lange her, und ich war noch ein ruͤſtiger Kerl. Du wirſt nichts davon wiſſen, Herr, denn du warſt ja kaum auf der Welt. Herrgott, Herrgott, wie die Zeit vergeht! Jekatirina Alexandrowna! — Wo mag ſie jetzt fein? Glaub“ mir, Herr, das war ein herrliches Maͤdchen. Eine Schoͤnheit, Herr, glaub’ mir, ein Engelsangeſicht. Sie hat mir einen Pelz geſchenkt, der Pope koͤnnte auf ſolch einen Pelz ſtolz ſein — und ich Hund, ich habe ihn verſoffen.“
„Was erzaͤhlſt du da fuͤr Geſchichten? Schweig doch lieber.“
„Wahrheit, Herr!“
„Deine Schweſter ging auch ins Ausland wie bu, Herr, und hatte ein Buͤbchen mit, ein Puͤppchen, — ſo klein — ich ſage dir, nicht groͤßer als meine Fauſthandſchuhe — und ein Geſichtchen! wie von Wachs, das reine Wachs, und das quaͤkte ſo jaͤmmerlich — ich habe laut weinen muͤſſen, wie ich deine Schweſter fuhr. — — Wir find nämlich heimlich ausgeriſſen, mußt du wiſſen, Herr. In der Nacht. Und dein Bruder
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hat mich hinterher gehörig pruͤgeln laſſen. Ach du lieber Gott, was tuen Pruͤgel? Nichts, rein gar nichts. Jekatirina Alexandrowna war fort. Sie hatte es mir befohlen, ſie nach Petersburg zu fahren, zum Schiff. Warum iſt ſie denn nicht wieder gekommen? — Sag’ mal, Herr, kennſt du deine Schweſter Jekatirina Alexandrowna?“
Es war mir hoͤchſt peinlich, den Alten fo reden zu hören. Er ſprach mit baͤuriſcher Offenheit von einer Schmach in unſerer Familie. Ich erinnere mich: Ich hatte als Knabe auf dem Boden des Schloſſes ein Paſtellbild aufgeſtoͤbert — ein junges Maͤdchen in Bauerntracht — verſtaubt, mit gebroche⸗ nem Rahmen und zerſplittertem Glas, unter einem Haufen Geruͤmpel halb vergraben. Als ich es aber triumphierend der Schweſter Anna brachte, befahl ſie mir, es augenblicklich wieder dahin zu ſchaffen, wo ich's herhaͤtte. Aber ich ließ das Bild nicht aus den Augen und erfuhr von den Dienſt⸗ leuten, daß es meine aͤlteſte Schweſter ſei, Jekatirina, daß ſie verſtoßen fet, und daß fie in Dentſchland wohne. Sie fet dort noch weiter gefallen, hieß es und haͤtte unter ihrem Stande, einen Herrn Müller, geheiratet, worauf fie dann abgefunden worden fet. Was bei uns mit peinlichſtem Zartgefuͤhl auch nur mit einer Silbe anzudeuten vermieden wurde — ſo lange Jahre, wovon ich ſelbſt ſoviel wie gar nichts wußte, das er⸗ frechte ſich der Alte geradeaus mir ins Geſicht zu erzaͤhlen. Ich ahnte laͤngſt, daß ſich an den Namen der aͤlteſten Schweſter eine ſchwere Schmach unſerer Familie knuͤpfte. Jetzt, als ich die Beſtaͤtigung aus dem Munde des Alten hoͤrte, durchfuhr es mich wie ein Schlag, und ich rief ihm voll tiefen Ver⸗ druſſes zu:
„Halt's Maul, Alter!“
Der Alte ſchwieg — wir flogen nur ſo uͤber die ſchneeige Flaͤche, — dann nach einer Weile zuͤgelte er die Pferde, ließ ſie im Schritt verſchnaufen, ſetzte ſich bequem zurecht und wandte mir ſein baͤrtiges, weißbereiftes Geſicht zu.
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„Sieh mal hin, Herr, dort geht ein Jude.“
Der Jude, ein rieſiger Kerl mit buſchigen Brauen, zog die Muͤtze und gruͤßte demuͤtig. Der Alte ſchmunzelte über das ganze Geſicht, fuhr mit der Hand herunter, holte die Ecke ſeines Kaftans hervor, formte in aller Geſchwindigkeit aus dem Zipfel ein Ding, das ein Schweinsohr darſtellen ſollte, und fuchtelte damit gegen den Juden.
„Hebraͤer!“ ſchrie er, „he Schweinsohr, Schweinsohr, Schweins ohr!“ und lenkte die Pferde fo plotzlich zur Seite, daß der Jude mit einem jähen Satz vom Wege in den tiefen Schnee ausweichen mußte.
„Laß doch deine Poſſen“, rief ich dem Alten zu.
„Was willſt du, Herr?“ entgegnete er gelaſſen, „ich hab“ es immer ſo gehalten, es war ja ein Jude! Haſt du geſehen, Herr, wie er ſpringen mußte? — Wie ein Haſe!“
Nach geraumer Weile ſprach er weiter:
„So was ware gewiß nicht bei den Inden geſchehen. — Glaubſt du nicht, Herr?“
„Was denn?“
„Gewißlich nicht, das ſind andere Leute, dieſe Juden!“
„Was willſt du denn mit deinen Juden?“
„Andere Leute als wir. Alle ordentlich, keine Saͤufer. Und haͤngen wie Kletten aneinander, und einer verlaͤßt den andern nicht, und verlaſſen auch ihre Kinder nicht. — Ja, andere Leute, als wie wir.“
„Seit wann lobſt du denn die Juden?“
„Alles, was recht iſt, Herr. Ich bin ein rechtglaͤubiger Chriſt und hab' alle Sonntag meinen Juden verhauen. Ich hab’ immer welche erwiſcht. Jetzt tuen es die jungen Burſchen, und mein Sohn iſt auch dabei. Und der iſt doch auch kein Jüngling mehr, und dann werden es meine Enkel tun. Und das muß auch fo fein, denn die Juden haben den Erloͤſer ges kreuzigt. — Und meinen Sohn hat doch deine Schweſter Jekatirina Alexandrowna aus der Taufe gehoben, und war
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doch ſelbſt noch ein halbes Kind. Das weißt du doch, gnaͤdiger Herr? au
Ich ließ den Alten ſchwatzen, er war ja doch nicht zu halten.
„Du lieber Gott, das iſt (hon lange her, wer will denn das genau wiſſen, aber dreißig Jahre ſind es her. Wie geſagt, Herr, deine Schweſter war ſelbſt noch ein halbes Kind, aber klug war ſie und ſchoͤn, wahrhaft ein wahres Engelsangeſicht. Und was ſie ſagte, das blieb geſagt, und was ſie tat, das war getan. Sie konnte alles. Du haͤtteſt ſie nur ſehen ſollen, wie ſie ſolch ein Dreigeſpann meiſterte! Wie nichts! Und es hatte ſie doch niemand gelehrt. Es war ein richtig ruſſiſches Kind! Immer luſtig und guter Dinge, lachte und ſang den ganzen Tag.
So gingen die Jahre hin — auch du wirſt es erleben,
Omitri Alexändrowitſch! Da kam eines Fruͤhjahrs zu Oſtern fold ein Petersburger Fant, ſchnauzbaͤrtig und ein Krauskopf, auch nicht ganz jung, der malte alle die Herrſchaften, der malte überhaupt alles, den ganzen Tag, und ſchrieb alle Haͤuſer und Baͤume ab. Nur Heiligenbilder konnte er nicht malen, denn er war ein Jude, fo wahr Gott lebt, ein Jude, oder ein Deutſcher, oder ein Katholik. Nun haͤtteſt du aber die Herrin ſehen ſollen, die war gleich ganz weg von ihm, und laſen den ganzen Tag, oder malten und ritten, und Jekatirina Alexandrowna war wie umgewandelt, hing an ſeinem Munde, und allerlei Dummheiten brachte er ihr bei. Sie mußte rings in die Doͤrfer und mußte die Bauern leſen lehren und Tag und Nacht zu armen Kranken laufen und derlei mehr! Als ob ſich das fuͤr eine Herrſchaft ſchickte.
Und als er fortging, Herr, da war unſere Jekatirina Alexandrowna wie zuſammengebrochen ... wie hin, das war ein Jammer: Wenn ich ſpaͤt abends aus der Schenke kam und alles war ſchon totenſtill, da ſtand meine Herrin am offenen
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Fenſter und weinte und ſchluchzte, daß mir das Herz im Leibe zerreißen wollte. Oder ſie ſchlich am Waſſer auf und ab. Da hab’ ich fle nach Haufe gebracht uud hab’ fo manche Nacht wie ein Hund vor ihrem Fenſter auf bloßer Erde ges ſchlafen.
.. . Na, es kam der Winter und verging... Jekatirina Alexandrowna war nach Petersburg gegangen. — So, gegen das Fruͤhjahr — wie heute — kam fie aufs Gut zuruck und brachte ein Kindchen mit und ſagte, es waͤre nicht ihr's, und wollte ſo friedlich weiterleben, als ob gar nichts geſchehen waͤre. Ja, wenn dein Vater gelebt haͤtte, der wuͤrde das Kind⸗ chen wohl aufgenommen haben, den aber hatten ſie gerade in den Sarg gelegt und ihn der Erde und der Auferſtehung übergeben. Du, Dmitri Alexandrowiſch, haͤtteſt auch nicht geduldet, daß deiner leiblichen Schweſter Unrecht geſchehe. — Aber du warſt ſelbſt kaum geboren, warſt ſelbſt noch ein zartes Kind, ſechs Wochen alt und noch bei der Amme und der deut⸗ ſchen Kindermuhme. Unerforſchliche Wege Gottes! — deine Brüder verſtießen die Schweſter und ſagten ſich von ihr los; und es war kein Mitleid bei ihnen zu finden.
Da ſind wir denn in der Nacht fort; gerade wie ich dich heute fahre, Herr, ſo hab“ ich deine Schweſter und das Kindlein gefahren. Die wollte auch ins Ausland grad’ wie du. Da hab’ ich ihr zugeredet und geſagt: Jekatirina Alexandrowna, gehe nicht von uns. — Ich will fort, dahin, wo beſſere Mens (hen find.‘ — Gehe nicht, mein Toͤchterchen, gehe nicht! — Ich kann ja nicht anders, Jermak, antwortete fie und weinte, ‚bier will mich ja niemand mehr. — Ach, du hei⸗ lige Mutter Gottes, ſie hatte recht. Es hat ihr niemand geholfen und niemand ein gutes Wort gegeben, was konnte ſie tun?
Dort im Walde habe ich gehalten, denn das Kindchen ſchrie. Da haben wir es beide gefuͤttert. Da ſagte die Herrin zu mir: Es lacht ja gar nicht, Jermak. Da hab’ ich fie getroͤſtet und
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hab’ ihr geſagt: Warte nur ein klein wenig, Jekatirina Alexandrowna, bald wird das Wuͤrmchen dich kennen und bald lachen; warte nur ein klein wenig, meine liebe Herrin. |
Dann mußte ich fie ans Schiff fahren, am Newaufer, gerade wie ich dich heute hinfahren werde. Damals gab es noch keine Bahnen. Als fie aber ausſtieg, da hab' ich mich nochmals vor ihr auf die Erde geworfen, hab’ ihr die Füße gekuͤßt und hab’ ihr geſagt: Gehe nicht von uns, Jekatirina Alexandrowna, Muͤtterchen, gehe nicht von uns, mein blaues Taͤubchen, du wirſt Elend erdulden in der Fremde, mein Engel. Bleib bei uns und erzieh das Kind rechtglaͤubig. Aber fie weinte und fagte nur: „Ich gehe zu beſſeren Mens ſchen.
So ging ſie und hatte nicht einmal einen Pelz mit, nur ein Koͤrbchen — ſo groß — und nichts mehr. Aber ich habe dem Kinde ein Bildnis der kaſaniſchen Gottesgebärerin mit; gegeben.
Acht Tage bin ich nicht nach Hauſe gekehrt und habe mich mit den Pferden in Petersburg herumgetrieben. Da iſt denn der Pelz, den mir Jekatirina Alexandrowna geſchenkt hat, drauf gegangen, und dein Bruder hat mich pruͤgeln laſſen. Herrgott! was find Pruͤgel?“ —
Nach einer Weile begann der Alte wieder:
„Es war unrecht von dir, Herr, daß du mir vorhin den Mund verbotſt. Solch ein junger Herr, wie du biſt, ſoll gar nicht mitreden uͤber Dinge, die er nicht verſteht. Solange wir jung ſind, ſind wir alle dumm. Erſt das Alter macht klug, Herr, und vor Gott ſind wir alle gleich, Herren und Diener, Suͤnder und Gerechte, und es ſoll ſich niemand uͤber⸗ heben. Es iſt freilich eine große Schande, wenn ein Maͤd⸗ chen ein Kind hat und dazu bei ſo vornehmen Leuten, wie ihr ſeid. Aber chriſtlich iſt es nicht, die Seinen zu verlaſſen, wenn
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fle in Not find, wie ihr es getan habt mit Jekatirina Alex⸗ ändrowna.“
Ich ſagte kurz:
„Es geſchieht jedem, was recht iſt und was er ver⸗ dient.“
„Verſuͤndige dich nicht, Dmitri Alexandrowitsch denn es ſteht geſchrieben: ‚ber Menſch ſoll kein Tier fein, und nur das Schwein frißt fein eigenes Fleiſch und Blut“, und darum duͤrfen auch die Juden kein Schwein anrühren, wir aber, wir Chriſtenmenſchen, was tun wir? ... Es iſt freilich eine große Schande, wenn ein Maͤdchen ein Kind hat — eine große Schande —, vor den Menſchen, aber nicht vor Gott. Und was Gott zuläßt, das will er .. . Ich weiß wohl, was die Leute ſagen, aber das ſind gottloſe Leute, Neider. Gute Menſchen reden gut, und Gott haßt nicht den armen Suͤnder. Und ſelbſt wenn es in heiligen Schriften geſchrieben ſtuͤnde, es tft nicht wahr! Das iſt Wenſchenſatzung, Gottes Wille iſt anders. — Und die Popen wiſſen gar nichts zu ſagen, ſie wollen bloß das große Wort behalten und wollen ihre Ge⸗ buͤhren; ſie tragen ihre Haare lang, aber lange Haare, kurzer Verſtand.
Höre mich einmal an, Dmitri Alexändrowitſch:
Wenn einmal von dir ein Maͤdchen, was Gott verhuͤten möge, ein Kindchen haben ſollte — fag’ mal, Herr — wuͤrdeſt du ihr darum gram ſein? Oder wuͤrdeſt du ſagen koͤnnen, ich bin nicht ſchuld, nur das Mädchen allein iſt ſchuld . und wenn du's taͤteſt, waͤrſt du da nicht ein Hund? .... Und wenn du das Madchen verließeſt, waͤrſt du's nicht wert, daß man dir ins Angeſicht ſpie? — Aber die neidiſchen Menſchen fallen gleich uͤber das Maͤdchen her, wie die Woͤlfe uͤber ein geſtuͤrztes Pferd, und zerreißen es mit ihren Zaͤhnen.
Hat uns Chriſten der heilige Joſeph nicht ſelbſt ein Bei⸗ ſpiel gegeben? und iſt die heilige Mutter Gottes nicht eine
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Jungfrau? Und der Erloͤſer ſelbſt hatte keinen Vater auf Erden.
Gottes Barmherzigkeit iſt groß, ſonſt hätte Gott die Mens ſchen ſchon alle vom Erdboden vertilgt, weil ſie ſein Beiſpiel nicht achten; und verdrehen es und verderben es. Und wenn es ein Geſetz iſt, ſo iſt es ein ſchlechtes Geſetz. Alle Geſetze ſind menſchlich, ſie kommen und gehen und wechſeln, wie die Menſchen. — Der alte Pope ſtirbt, und es kommt ein neuer, und der predigt anders als der alte. — Gottes Allmacht ruft den Zaren ab, und es kommt ein junger Zar, ein herrlicher Zar, der uͤbt groͤßere Barmherzigkeit und gibt mildere Ge⸗ ſetze, und die alten Geſetze gelten nicht mehr.
Dies alles iſt Wahrheit, wahrhaftige Wahrheit — und wenn dies nicht Wahrheit iſt, nicht wahrhaftige Wahrheit, ſo wider⸗ ſprich mir, Herr, und unterrichte mich und belehre mich und berichtige mich.
O Menſchen, Menſchen, boͤſe Menſchen .
Sag“ mal an, Herr, wo wohnt denn eigentlich deine Schweſter? Lebt ſie in Berlin? oder in Paris? oder in Deutſchland? oder in Germanien? Nun, du wirſt es ſchon wiſſen, wo ſie lebt, du wirſt ſie ſchon finden.
Aber antworte mir, Herr, du wirſt doch deine Schweſter im Elend aufſuchen?
Wenn du bei ihr biſt, fo fage zu ihr: der alte Jermak lebt noch und laͤßt dich demuͤtig gruͤßen, Herrin; und ſieh zu, ob das kleine Wuͤrmchen gedeiht, und ob ſie es hat taufen laſſen, rechtglaͤubig, und ob es das heilige Gottesbild noch traͤgt, das ich ihm mitgegeben habe, das Bildnis von der heiligen Mutter Gottes von Kaſan! Und bring ſie wieder hierher, zu uns nach Rußland. Wir wollen ſie empfangen wie eine Zarin und wollen ein Feſt im Dorf veranſtalten und ein Gelage, da ſoll keiner nuͤchtern bleiben! und wollen ihr Wohl trinken nicht in gemeinem Branntwein, nein, in gereinigtem Brannt⸗ wein, und alt und jung ſoll dabei ſein. Kommt alle beide
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im Winter wieder zu uns zuruͤck, wenn bei uns in Rußland der Schnee wieder faͤllt, denn draußen, da ſollen ſie im Winter keinen Schnee haben. Was iſt ein Winter ohne Schnee ? Und wie kann das ein Menſch aushalten?
Nun weiß ich aber nicht, ob ich dir trauen ſoll, Herr, oder nicht. — Wenn du nach deinen Brüdern geraͤtſt, fo wirſt du auch ſchlecht und wirſt deine Schweſter verlaſſen wie ſie; denn ich habe es ihnen allen beiden geſagt, wie ich es dir heute ſage, und keiner von den beiden hat Jekatirina Alexandrowna wiedergebracht. Sie waren ſchlecht, und der eine lebt noch! — Sztipann Sztipannowitſch, dein Vormund, wird dich um Haus und Hof bringen, ehe du muͤndig biſt.
Nun, tu“ ferner nach deinem Willen, Herr, der Wille iſt dein, und wir Elenden vermoͤgen nichts, und was der Arme redet, iſt in den Wind geſprochen, und Gottes Auge iſt überall!
Schau einmal hin, Herr, dort über den Nebel da ftehft du ſchon Petersburg, da blinken ſchon die Kuppeln des heiligen Tempels Iſaak, und die Sonne ſcheint darauf!
Heda, meine Pferdchen, greift aus!
Herr Gott im Himmel! wie iſt doch Rußland ſo groß und ſo weit. Viele Tage kannſt du fahren, immer gerade aus, ober nach rechts oder nach links, und es hat nie ein Ende. Und immer wechſeln ab dunkle Waͤlder und gruͤne Wieſen und goldene Roggenfelder, du faͤhrſt durch kleine Baͤche mitten hindurch und kommſt an maͤchtige Stroͤme und uͤber weite Ebenen und hohe Berge. Aus einem kleinen Doͤrſchen faͤhrſt du aus, und ſchon blinken dir in der Ferne goldene Kuppeln. Tauſend goldene Kuppeln von Archangelsk bis Kaſan und tauſend bis Nowgorod, und tauſend ſind in Moskau, dem Muͤtterchen, allein!... Rings herum draußen, da wohnen die Türken und Schweden und alle die Verworfenen, Uns glaͤubige und Heiden, und auch ſchwarze Voͤlker, ſchwarz wie der Teufel. Aber niemand wird dir je etwas anhaben
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fönnen, du mein heiliges Rußland! Weder bie Franzoſen, noch die Englaͤnder! Du haſt ſie alle geſchlagen. Vor uns haben Helden gelebt und nach uns werden Helden kommen, dich allezeit zu verteidigen.
Horche hin!
Aus allen Kuppeln, da laͤuten die Glocken zur Ehre Gottes, des Hoͤchſten! Alles hat Gott Rußland verliehen, Gold und Silber und Roggenfelder, und uͤber alles herrſcht ein recht⸗ glaͤubiger Zar! Gott erhalte ihn!
Hurrah, ihr meine ruſſiſchen Pferdchen!“
1. Mai, 8 Uhr, an Bord der „Schönen Louiſe.“ Swinemuͤnde, Deutſchland in Sicht!
Zweites Kapitel
Jena, 4. Mai.
ier Tage hatte uns die Oſtſee geſchaukelt, als wir in das
enge Fahrwaſſer der Swine einlenkten und vor Swine⸗ muͤnde anlegten. Ich betrat deutſchen Boden. Das Wetter hatte ſich in dieſen Tagen allmaͤhlich freundlicher geſtaltet. Am blauen Himmel zogen leichte Woͤlkchen, und ein milder Winb ſtrich uͤber die in vollem Lenzesſchmuck prangende Land⸗ ſchaft. Niedrige beſcheidene Haͤuschen, von wildem Wein umrankt, Obſtbaͤume in voller Bluͤte, Deutſch redende Men⸗ ſchen. Was mir als Knabe vorgeſchwebt, war zur Wirklichkeit geworden. Deutſchland! Das Land der Dichter und Denker, der tiefen Liebe und Treue. Das Land des umfaſſenden Wiſſens, ehrlicher Arbeit, das Land der Biederkeit und Redlichkeit! Goethes Land! Ich empfand alles wie ein Wunder.
Gegen Abend langten wir in Stettin an, und noch in der⸗ ſelben Nacht war ich in Berlin und ſah auf die menſchen⸗ leere Straße ‚Unter den Linden“. In den Tagen auf der See waren mir die Worte des alten Jermak immer wieder von neuem durch den Kopf gegangen und hatten in mir den Entſchluß gezeitigt, die Schweſter aufzuſuchen. Und zwar gleich. Ehe der Zug mich tags darauf weiter fuͤhrte, hatte ich nur wenig Zeit, mich umzuſehen. So kurz mein Blick war, den ich auf Berlin werfen konnte, er genügte mir, die Über; zeugung zu geben, daß ich eine neue Welt betreten hatte, und ich ſagte mir mit Verwunderung, daß hier jeder Stein intelligent liege.
Es war meiner Mutter Heimatland, durch das ich fuhr — ich ſtand ihm nahe.
Jekatirina Alexandrowna, meine aͤlteſte Stiefſchweſter, von der Jermak ſo wunderlich geſprochen, lebt auch in Deutſch⸗ land, das wußte ich, aber wo in Deutſchland? Man ſprach
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ſpoͤttiſch von ihr, daß fle ‚fndierte‘ in einem verlorenen Bauernneſt, einer ſogenannten Univerſitaͤtsſtadt. Gut! Viel⸗ leicht iſt es Jena.
Den erſten Abend, als ich in dem winzigen Neſt, das ſo angenehm zwiſchen ſonderbar geformten Bergen liegt, im Gaſthof zum Baͤren ſaß und es mir wohl ſein ließ — das Neſt gefiel mir, heimelte mich an — es war fo deutſch — genau ſo wie ich „deutſch“ mir vorgeſtellt hatte — da kam mir ein duͤnnes, abgegriffenes Heft in die Hand, das auf dem Tiſch im Speiſezimmer lag, das Adreßbuch, ich ſah hinein und erfuhr ſo, gleich eine halbe Stunde nach meiner An⸗ kunft, am allererſten Abend, daß meine Schweſter wirklich hier — gerade hier lebte. — Unter den zwei Dutzend, Namens Muͤller, war richtig eine Katharina, verwitwete Muͤller, und jedermann wußte von ihr, daß ſie eine ruſſiſche Fuͤrſtin (et.
Jermak, der ernſte Jermak wuͤrde fagen: „Wunderbare Fuͤgung Gottes.“ ö
Und ich machte mich ohne Zögern auf.
Ich marſchierte durch die Straͤßchen, ſchoͤne alte Baͤume, alte Mauern, alte Haͤuſer — alles im Fruͤhlingsſchmuck — die Luft weich, das Leben heiter, ſo etwas wie zwanglos, alles laͤcherlich richtig „deutſch“. Auf dem Marktplatz ſaßen Studenten am Tiſche, im Freien, tranken und ſangen.
Meine Schweſter wohnte ein Stuͤck draußen vor der Stadt.
Ich fand mich ganz gut zurecht. Das Haus lag in einer Seitenſtraße der alten Chauſſee nach Weimar.
Bald ſtand ich vor dem Hauſe — dies mußte es ſein — mitten in einem Garten lag es. Wie ich bei dem ſternen⸗ hellen Himmel ſehen konnte, war es ein einfaches Landhaus mit einem hohen Ziegeldach. An dem Gartentor taſtete ich nach einer Glocke.
Aus einem großen Ausbau uͤber dem Dach ſchimmerte ein Lichtſchein.
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Es blieb lange alles ſtill. Niemand kam, mir zu öffnen.
Endlich tat ſich im erſten Stock ein Fenſter auf — und eine harte, angenehme Stimme rief deutſch, doch unverkennbar in unſerem ruſſiſchen Deutſch:
„Wer iſt da — bitte zu ſagen.“
Mir klopfte das Herz, und ich wußte nicht recht, was ich antworten ſollte.
„Nun?“ rief es noch einmal.
„Dein Bruder!“ rief ich.
„Weſſen Bruder?“
„Nun, dein Bruder aus Petersburg.“
„Geh“ nur wieder fort, ich hab“ keinen Bruder.”
Das Fenſter ſchloß ſich heftig, und es waͤhrte eine ganze Weile, da hoͤrte ich, wie das Fenſter wieder geoͤff⸗ net wurde.
„Jekatirina Alexandrowna“, rief ich.
„Nun, wer iſt es denn?“
„Omitri.“
„Was für ein Dmitri?“
„Von Papas dritter Frau.“
„Der Deutſchen?“
„Ja, der Deutſchen.“
„Alſo das Baby der Stiftsdame?“
„Ja, ja!“
„Das Tier ſchlaͤft ſchon.“
„Welches Tier?“
„Ich kann dir das Tor nicht aufmachen!“
„Ich ſteige uͤber, wart!“
Dabei ſchwang ich mich auf den Zaun zum Überſteigen und ſaß rittlings auf dem Torpfoſten und (haute ſehr bedenk⸗ lich nach allerlei Spitzen und Stacheln, die das Tor mit teufliſcher Raffinerie flankierten.
„Dmitri?“ rief es noch einmal fragend.
„Ja wohl, Dmitri!“
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Es folgte eine lange Pauſe.
„Jekatirina Alexandrowna!“ rief ich ungeduldig. „Ich bitte, entſchließe dich, ob du mich überhaupt hereinlaͤßt. Ich ſitze hoͤchſt unbequem auf deinem verdammten Stachel; zaun. . — — Gut alſo, ich werde morgen in aller Form um eine Audienz nachſuchen. Meine Empfehlung!“
„Nun, fo komme ans Haus, ich will aufſchließen !“
Ich ſtieg aͤußerſt behutſam in den Garten herunter.
„Scheußliches Frauenzimmer“, ſagte ich halblaut, als ich trotz aller Vorſicht wieder in einen Stachel gegriffen hatte.
Ein Lichtſchein fiel durch den Ritz unter der Tuͤr. Der Schluͤſſel drehte ſich langſam im Schloß.
Ich trat ein. In der aͤußerſten Ecke des Vorſaals ſtand eine mittelhohe Geſtalt in ſchwarzem Kleide und auf dem er⸗ grauten Haar ein ſchwarzes Spitzentuch, in der Linken einen Stock und in der Rechten ein blitzendes Ding, wahrhaftig! ein Revolver! Sie ſtand vor der Portiere einer halbgeoͤff⸗ neten Tuͤr, offenbar um ſich unter Umſtaͤnden den Ruͤckzug zu ſichern.
Dies ſollte nun ſehr gefaͤhrlich ausſehen, aber ein Pudel, ein wunderſchoͤnes braungeſchecktes Tier, der fi bis dahin ganz ſtill verhalten hatte und wie auf etwas Beſonderes gewartet zu haben ſchien, war offenbar uͤber die Situation ganz anderer Meinung als ſeine Herrin und nahm alles für einen ganz außerordentlichen Spaß. Er ſprang hin und her, wedelte ans Leibeskraͤften, warf ſich auf die Vorderpfoten und blaͤffte ſeine Herrin kreuz⸗ fidel an.
„Couche- toi! canaille!“
Dann wendete ſie ſich zu mir mit herriſcher Stimme:
„Nimm das Licht und geh die Treppe voran. Geh nur voran!“ wiederholte fie haſtig, als ich zoͤgerte, „du biſt doch auch ein Spitzbube wie alle andern!“
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Ich gehorchte lachend, und die Schweſter humpelte hinter; drein, bei jedem Schritt den Stock ſchwer auflegend.
„Halt!“ rief ſie auf halber Treppe und blieb ſchwer atmend ſtehen. „Ich habe dich ins Haus gelaſſen unter der Be⸗ dingung, daß ich nichts von dort hoͤre! Ich meine unſer Rußland. Keine Silbe! Nichts von den Brüdern — Nichts von der Schweſter, nichts vom Schwager, nichts von der ganzen Sippſchaft! — Ich will nichts von ihnen hoͤren, nichts von Rußland, nichts von Petersburg, nichts vom Gut! — Nichts vom Geld, oder Erbſchaft, oder Verſoͤhnung! Will nichts wiſſen, hoͤren — Kanaille! Alles Kanaille! Ich kann nicht, ich will nicht! Ich hab' genug!“ — „Gott ſei gelobt,“ ſetzte ſie etwas ruhiger hinzu, „ich bin zwanzig Jahr ohne euch ausgekommen.“ Auf dem Treppenabſatz ſtand ſie wieder ſtill.
„Warte mal,“ ſagte ſie aufatmend, „du wirſt doch gerade ſolch ein Narr ſein wie alle anderen und wiſſen wollen, wie es mit dem Kinde tft. Gut. So tft es: das Kind iſt nicht mein.
Ich fag’ das dir, wie ich's deinen Bruͤdern ſagte — es geht niemand etwas an, und wenn ich zehn Kinder haͤtte. Ob ihr es glaubt oder nicht glaubt — gleichgültig — ab⸗ getan.“
Jekatirina tappte die Treppe weiter in die Hoͤhe.
„Wohl aus der Art geſchlagen — heh? — Ware nicht übel — deutſches Blut alfo — dann nimm dich nur in acht — du — hoͤrſt du!“
Ich wendete mich um: — „Vor wem in acht? Vor dir in acht?“
„Nein,“ ſagte Jekatirina, „vor deinen lieben Verwandten in Rußland.“
Wir hatten den erſten Stock erreicht.
„Hoͤher hinauf!“ ſagte Jekatirina, blieb aber wieder ſtehen. „übrigens, um alles abgetan zu haben, — das Kind iſt (hon
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zwanzig Jahre tot — oder dreißig, ich weiß nicht, Zeit ift nichts, und gehoͤrt wirſt du haben, daß ich hier in Deutſchland verheiratet war — dieſe Heirat iſt wie uͤblich, das heißt un⸗ gluͤcklich, ausgefallen. Gottlob! Ich habe ein ſchnelles Ende gemacht. — Nun iſt auch er laͤngſt tot. — Ich bin allein — und das iſt gut ſo — iſt mir recht — ſehr recht. Ich heiße Frau Muͤller, nicht wahr, huͤbſch?“
Jetzt waren wir im zweiten Stock, der mir eine Art aus⸗ gebauter Bodenraum gu fein ſchien.
Meine Schweſter oͤffnete eine Tuͤr, und wir ſtanden in einem hohen turmartigen Raum, mit Buͤcherregalen an den Waͤnden, mit Oberlicht, eine große Offnung, durch welche die Sterne hereinblickten und die friſche Luft einſtroͤmte, ein maͤchtiges Glasfenſter war zuruͤckgeſchlagen —
Und unter der Offnung, da ſtand ein prachtvolles, aſtro⸗ nomiſches Fernrohr und blinkte und ſchimmerte und war auf⸗ gerichtet und geſtellt —
„Stell' dich fo — fo — — fo — ſage ich!“ Meine Schweſter fuhr mich ungeduldig an. —
„Nicht anruͤhren — nicht verruͤcken.“
Und ich beugte mich ein wenig — und ſah klar und deutlich auf tiefſchwarzem Grunde den blitzenden Jupiter und ſeine vier Moͤndchen — zum erſtenmal in meinem Leben.
„Dabei haſt du mich vorhin geſtoͤrt“, ſagte meine Schweſter. „Jetzt feb’ dich.“ Wir ſprachen dann ruhiger miteinander — und ich ſchaute mich in dem ſtillen Raume um. Die Sterne blickten zu uns hernieder. Es brannte eine Lampe, dicht ver⸗ deckt, mit großem, gruͤnem Schirm. Meine Schweſter ſaß zuruͤckgelehnt auf einer Chaiſelongue, und ich ging im Raum auf und nieder — und wußte nicht recht, wovon ich reden ſollte.
„Du gehoͤrſt alſo zu den Menſchen, die im e hin und herlaufen — fo — ſo!“ — fagte fie.
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Sie ſaß zuruͤckgelehnt, faſt liegend, und ſah auf mid, Innigkeit, Bedauern und Mitleid im Blicke, dann erhob ſie ſich ſchwer, trat an den Tiſch, ſchlug den Deckel eines Buches zuruͤck und wies mit dem Finger auf das vorgeheftete Bildnis eines Mannes mit großer Stirne, von ſpaͤrlichen Haaren affenartig eingerahmt, mit klugblickenden Augen und rieſigem Maul.
„Kennſt du den?“ fragte ſie und ſah mich eigentuͤm⸗ lich an.
Ich las: „Arthur Schoppenhauer.“
„Nicht Schoppenhauer, — Schopenhauer“, ſagte ſie.
„Nein, ich kenne ihn nicht, was iſt's mit dem?“
„Was mit dem iſt? nun, wenig und viel, wie man es nimmt! Ein alter Mann, der ſich und andern das Leben ſauer gemacht hat. Ein deutſcher Baͤr von klaſſiſcher Grob⸗ heit. Ein Zaͤnker, der in jedermann ſeinen Feind wittert, immer bereit, um ſich zu hauen und jeden zu Boden zu ſchla⸗ gen, der anderer Meinung ſein will als er. Immer in Angſt und auf der Wehr, halb Haſe, halb biſſiger Koͤter. Einer, der ſich wie Preiskaͤmpfer zum Fauſtkampf ſein Lebelang zur Philoſophie trainiert hat. Weißt du, — ein Einſiedler, der die Menſchen nicht entbehren kann. Einer, der ſehr ſtolz darauf iſt, daß er Spaniſch kann, denn Latein und Griechiſch — koͤnnen andere auch; ein Deutſcher, der ſich ſcheut, deutſch zu ſein, und prahlt, von Niederlaͤndern abzuſtammen, ein Menſch, wie andere auch, der in Ermangelung von etwas Beſſerem Buͤcher ſchreibt, der ſeine Kapitelchen mit Über⸗ ſchriften aus allen Sprachen verſieht, der audere nieder⸗ donnert und ſich uͤberhebt, der ſich krank aͤrgert, daß ihn alle Welt links liegen laͤßt und daß ſich kaum einer findet, der in ihm, wofür er ſich ſelbſt halt, das Licht der Welt erblickt. Ein Menſchenfeind, der ſeinen Pudel hoͤher wert haͤlt als die beſten Freunde, der jede Dummheit unbarmherzig an den Pranger ſtellt, der nur ein Ziel hat, ſeine Weisheit ſicherzuſtellen, der
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zu kurz trifft oder übers Ziel hinaus und nur hin und wieder ins Schwarze, groß auf einem Gebiet, auf anderem kleinlich, kurzſichtig, albern bis zur Kinderei.
Auf einen Gedanken verſeſſen, wird er blind und taub gegen alles andere, was ihm nicht in den Kram paßt. Ein Philoſoph, der keine Ader eines Weiſen an ſich hat.“
„Nun und weiter?“
„— Weiter! — Du wirſt dich ja (hon etwas unter den Alten umgetan haben. Und wenn es dir ſo ergangen iſt wie mir, da wirſt du dich erſchreckt haben, daß die groͤßten unter ihnen voll ſind von ſchoͤnen Redensarten, voll von Irrtuͤmern, haltloſen Vorausſetzungen, falſchen Schluͤſſen, leerem Ge⸗ ſchwaͤtz, und daß nur hin und wieder ein Gedanke die Nacht erhellt wie ein Blitz, ein Gedanke, wie von einem Gott ein⸗ gegeben, der dich im Innerſten packt — der dir den Blick oͤffnet in eine Welt, die nicht die unſere if, — dann kommen wieder andere, die erklaͤren ſolche Gedanken, loben oder wiberſprechen, zwaͤngen ſie in ein Syſtem und treten ſie breit und ruhen nicht eher, bis alles Leben daraus gewichen iſt. Du ſiehſt mit Staunen, wie dann an ſolchen Wechſelbaͤlgen ſich die ganze Menſchheit erbaut und Jahrtauſende an miß⸗ verſtandenem, verlogenem Unſinn widerkaͤut.
Muͤhſelig draͤngt ſich dann hier und dort die Wahrheit ans Tageslicht, und ein neues Koͤrnchen kommt wohl auch dazu. So baut es ſich unendlich langſam weiter. Die Quelle fließt unendlich ſpaͤrlich; wen es nach Weisheit duͤrſtet, der muß ſich mit wenig Tropfen begnuͤgen. Was von Plato, Ariſtoteles bis auf Kant vom tiefſten menſchlichen Wiſſen geſchrieben worden, iſt — verſteh mich recht — vom hoͤchſten Standpunkt — bis auf wenige Ausnahmen, nicht der Rede wert. Viele geiſtreiche Einfälle und viele tiefe Gedanken, viel Gruͤbelei, wenig lichtvolle Klarheit.
Nun, ſieh mal, dieſer Alte hier, Schopenhauer, hat es unternommen, alles Gedachte zuſammenzufaſſen, das Raͤtſel
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der Welt zu loͤſen, tft ihm näher gekommen als irgendein anderer.“ So ſprach ſie noch vielerlei — aber ich war ſehr muͤde.
Wermäk langweilt mich. Wie mag er meine Adreſſe bes
kommen haben? Er will durchaus wiſſen, wie es meiner Schweſter Kaatya, dem Engelsangeſicht, geht und wie es mit dem Wuͤrmchen ſteht. Nun, — das Wuͤrmchen iſt tot, aber von dem Engelsangeſicht will ich ihm ſchreiben, um ihn loszuwerden.
Mens Schweſter, daß ich's ſage, hat ganz mein Herz ge⸗ wonnen. Ich gehe tagtaͤglich zu ihr, tagtaͤglich. Sie iſt immer von derſelben Liebenswuͤrdigkeit, immer von derſelben göttlichen Grobheit und Uberhebung. Wir werden nicht made, bald Schopenhauer und Kant, bald einen der alten Philo⸗ ſophen durchzuhecheln und uns gegenſeitig zu beweiſen, was fuͤr dumme Leute, bei aller wunderbaren Tiefe ihrer Ge⸗ danken, ſie doch im Grunde geweſen. Wo wir beide ſelbſt hin⸗ gehoͤren, daruͤber ſind wir uns offenbar noch nicht recht klar. Vollends mit unbeſchreiblich hoheitsvoller, ſouveraͤner Verachtung wird alles Lebende behandelt, Hartmann, Nietzſche uſw. Sunt pueri, pueri, pueri, puerilia tractant! Es find Kinder, Kinder, Kinder und treiben Kindereien.
Das ſage nicht ich, meine Schweſter.
Im Herbſt gehe ich nach Paris.
Nach einem Jahr Wieder Jena. 1. Mai. ieder mal Fruͤhling. Wieder mal Mai. Von Paris will ich gar nichts ſagen, jeder Eſel weiß was Kluges daruͤber zu ſchwatzen oder zu ſchreiben. Aber ich weiß, wenn ich das naͤchſtemal wieder von Jena gehe, ſo gehe ich
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weit fort, fort aus Europa! Es ift nichts hier — ich wenig; ſtens finde nichts. Wenn es auf Erden Weisheit gibt, ſo iſt es in Uraſien! Buddha, die Veden! Ceylon, Indien, Tibet! Jetzt heißt es: Sanskrit
2. Mai. kam wie gewoͤhnlich zu Mittag zu ihr — und wie ge⸗ 1 kam ſie mir mit ihrem Stock entgegen geholpert, reichte mir die Hand und ſagte: „Dmitri, ich freue mich, dich zu ſehen. — Wie ſteht 8? Wann wird ſich die Beſtialitaͤt gar herrlich offenbaren?“
„An wem?“
„Nun an dir?“
„Noch nicht, Kaatya — noch nicht — noch immer nicht.“
Ich kannte ihre Frage ſchon.
— Und ſie fragt nicht aus Scherz. — Sie erwartet Gott weiß was von mir — ſie iſt verbittert, die Arme — nein, nicht verbittert — es iſt etwas anderes — ich bin mir ſelbſt noch immer nicht klar daruͤber. —
Diesmal ſetzte ſie zu ihrer Frage noch hinzu:
„Hoͤre, Dmitri — wenn du mich zehnmal auf einer Gemein⸗ heit ertappſt, ſo fordere ich von dir ſo viel Vertrauen, daß du den eigenen Augen weniger trauſt als meinem Wort — wir werden uns mit der Zeit ſchon verſtehen.“
„Gut,“ antwortete ich, „aber ich verſtehe dich ſchon jetzt!“
„So,“ — jetzt lachte ſie — „du verſtehſt mich ſchon? da muͤßteſt du erſtaunt ſein, wenn du wirklich ſolch einen Men⸗ ſchen gefunden haͤtteſt! Wenn dieſer Menſch ein altes Weib waͤre — auch dann — Aber ſo iſt's, mein gruͤner Dmitri.“ (Meine liebe Schweſter Jekatirina bleibt bei ihrer maͤßigen Grobheit.) „Zwiſchen dem: „Ich verſteh's ſchon! — dem ſchulmaͤßigen kapieren und dem Selbſt⸗ erleben iſt eine ges waltige Kluft. Wirſt es ſchon ſpaͤter begreifen.“
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Als wir einander bet Tiſch gegenuͤberſaßen und bie Hans: haͤlterin, die ſie „das Tier“ nennt, ſervierte, nahm Jekatirina ihren Stock in die Hand, klopfte mit dem breiten ſilbernen Knopf dreimal auf den Tiſch.
„Aufmerken,“ ſagte ſie, „damit du dich morgen nicht irgendwie verſagſt, morgen gibt's dir zu Ehren ein Feſt hier bei mir — da werde ich dich mit der Menagerie, die hier ge⸗ zuͤchtet wird, bekannt machen. Es iſt fo eine Maxime von mir, die Nebenbeſtien, die mich etwas angehen, des Jahres hin und wieder bei mir eſſen zu laſſen — lieber laß ich ſie meine Faſanen freſſen, als daß ſie mich ſelbſt auffreſſen — abfuͤttern nennt man das. Ich hab's den ganzen Winter ſchon ver⸗ ſaͤumt und muß es nachholen, ſonſt nehmen ſie mir's uͤbel. Man muß das tun, wenn man es irgend kann, um Ruh“ zu haben und aͤſtimiert zu werden. Auf ſeine Krippe iſt ein jedes Tier leidlich zu ſprechen, und mit gutem Futter kommt man jeder Kreatur bei.“
„Wahrhaftig, Kaatpa,“ ſagte ich ihr, „du ſollteſt dich doch ſchaͤmen, ſolche Anſichten zu haben.“ — Es entfuhr mir dies fo, als ich mir vorſtellte, während ſie ſprach, daß fie trotz ihres Alters und ihres außerordentlich gealterten Ausſehens meine Schweſter ſei, und ich als Bruder das Recht habe, mit ihr familiär zu reden, was wohl meiſt etwas weniger höflich heißen mag; aber es gab mir eine Befriedigung, dies zu verſuchen — es war mir ein nie gekoſtetes Vergnuͤgen.
„Dho“, ſagte fie und fab mich an und lachte wieder fo herzlich, wie ich nicht dachte, daß dieſe verbitterte Frau es zu Wege bringen koͤnnte — und da ſah ich, wie ſchoͤn meine alte Schweſter war — was fuͤr gute Raſſe, eine vornehme Perſon in jeder Bewegung — dieſe Frau Muͤller. Ihre ſtarken Redensarten, die ſie zu lieben ſcheint, verunſtalten ſie nicht, ziehen ſie nicht herab. Ich freute mich, als ich dies wahrnahm — denn ich muß geſtehen, meine alte Schweſter Kaatya ſteht meinem Herzen nah.
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Und wunderbar, auch in ihr mochte bei meiner unhoͤflichen Anrede ein aͤhnliches Gefuͤhl auftauchen wie bei mir. Sie lehnte ſich in den Stuhl zuruͤck und ſagte: „Es iſt ſonder⸗ bar, ich denke jetzt an einen alten Menſchen, der ſagte, als feine Mutter geſtorben war: ‚Das iſt das traurigſte, nun lebt kein Menſch auf Erden mehr, der mich alten Kerl einmal ‚Du Efel‘ nennen könnte. — Ja, das Einſamſtehen auf Erden will ertragen fein!‘ — — Siehſt du, ich erzähl” dir immer ſo dumme deutſche Anekdoten. Aber was meinteſt du eigentlich damit, daß ich mich ſchaͤmen ſollte, Dmitri, — Weil ich die Wahrheit ſagte?“ — |
„— Das mit dem Freſſen? Wie kannſt du das ehren⸗ ruͤhrig ſinden — Weißt du denn nicht, auf was die ganze Welt beruht? Auf freſſen und gefreſſen werden. — Die Natur hat keine ethiſchen Momente — alles iſt freſſen — alles iſt gefreſſen werden.
Eine wunderſchoͤne Welt, Bruͤderchen! Denkt man an irgendein lebendes Weſen, fo muß man denken, was frife’s ? von welchen Nebengeſchoͤpfen maͤſtet ſich's? und von wem wird's wieder gefreſſen? und ſo denke ich auch bei meinen Oberlandesgerichtsraͤten und den Profeſſoren und ders gleichen — was freſſen ſie? was dinieren ſie? was ſoupieren fie? was für Mitgeſchoͤpfe ſetze ich ihnen vor? — Das macht mir eben Spaß: Nun möcht’ ich doch wiſſen, hat unſere liebe Erde, unſere geſegnete Natur ein Gott oder ein Teufel ge⸗ ſchaffen? Da iſt beſonders einer unter meiner Geſellſchaft, ein beruͤhmter Dichter, der ſich bemuͤht, ſeine Baͤrenhaftigkeit ab⸗ zuſtreifen, und ein außerordentlich feiner Menſch geworden iſt. So etwas, deſſen Waͤſche engliſch iſt, allerlei an ihm franzoͤſiſch, das Schuhwerk wieder engliſch, Zahnbuͤrſte und dergleichen auch engliſch — das Ganze iſt, glaub“ ich, aus Hamburg, aber ſeine Frau aus Finnland. Die ſind hierher zu uns uͤbergeſiedelt, als du in Paris warſt. Siehſt du, das haͤngt alles ſo ein bißchen mit Rußland zuſammen. Er hat
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es in Eleganz und Feinheit weiter gebracht als je ein Deutſcher vor ihm — ein Menſch, der mir außerordentlichen Spaß macht, du wirſt ja ſehen, ſo ein — Dichter. Im Auslande ſind die Deutſchen uͤbrigens viel harmloſer als in der Heimat. Die Deutſchen im Auslande ſind angenehme Leute, ſehr ange⸗ nehme Leute. Das weißt du ja!“
„Aber Kaatya, dein Gaſt zu ſein iſt doch eine kweifelhafte Ehre!“
„Freilich,“ ſagte meine Schweſter, „ich lade ſie ja auch nur zu meinem Vergnügen ein; dafür bekommen ſie ihr Futter — du wirſt ja ſehen — uͤbrigens mein Tier kocht vor⸗ zuͤglich, man ißt gut bei mir. — Und jetzt geh, lies etwas; ich will mich eine Weile ſchlafen legen.“
Sie erhob ſich ſchwer, ſtuͤtzte ſich auf ihren ſchwarzen Stock, reichte mir die Hand, eine ſchlanke Hand, die ich kuͤßte.— — Und ich dachte dabei, daß Jekatirina Alexändrowna eine raͤtſelhafte Frau ſei — aber ich fuͤhlte mich bei ihr ſo ſicher, wie noch nirgends, ſolange ich lebe. — Und es macht mir Freude, daß wir zueinander gehören. — Ja, und wie ich ſchon erwähnte, ihr ſelbſt ſcheint es lieb zu ſein, wieder einmal einen Menſchen im Haus zu haben, der ſie etwas angeht. — Schade, daß ſie von Rußland nichts hoͤren will — ich möchte ihr von Jermak erzaͤhlen, — der hat naͤmlich wieder geſchrieben — ſchon vor ein paar Wochen.
Ein unverſchaͤmter Brief!
„Geliebter Herr Dmitri Merändromitich !
Als Du noch ganz klein warſt, da biſt Du einmal in den Graben gefallen, der vor unſerm Dorfteich abfließt. Du biſt ſelbſt wieder herausgekrochen — aber da haͤtteſt Du Dich einmal anſehen ſollen: Dein ſchoͤnes weißes Hemd und der rotſeidene Guͤrtel uͤber und uͤber beſchmutzt! Und die Stulpen⸗ ſtiefel voll Schlamm — und die Haare und Augen ganz ver⸗ kleiſtert — voll Kot.
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Jetzt merk Dir's: fo beſchmutzt kommt Ihr mir alle vor, trotzdem daß Ihr Edelleute ſeid, darum weil Ihr Eure Schweſter in Stich laßt.
Hab“ ich es Dir nicht auf die Seele gebunden, daß Du Deine Schweſter auffuchen ſollteſt und fie wieder mit ihrem Wuͤrmchen zu uns zuruͤckbringen. 7
Herr Gott, Herr Gott! Was für Menſchen! Verfolgen ſich, ſtatt ſich zu lieben, und ſagen: Das iſt geſetzlich.
Ich bin nur ein armer Bauer und ein Saͤufer — Gott hat es ſo gewollt — ich bin nicht gelehrt, und das Schreiben wird mir ſauer.
Wenn ich ein großer Herr waͤre und ein Zar, ich wuͤrde die Welt von oberſt zu unterſt kehren. Alle Popen fort, denn die luͤgen und machen uns das Leben voll Gram und hetzen uns gegeneinander — und nur Gott im Himmel ſoll herrſchen.
Gott bewahre uns vor ihnen! In geiſtlichem Gewande und im Tempel Gottes, da ſehen ſie ja recht gut aus.
Ob ſie wohl uͤberall ſo ſind, oder nur bei uns im heiligen Rußland?
Ich kenne auch Tataren, die muͤſſen ſich den Kopf ſcheren, damit ſie keine Laͤuſe haben, und muͤſſen ſich alle Tage fuͤnf⸗ mal waſchen, und alles muß an ihnen rein ſein. Sie glauben auch an Jeſus Chriſtus, den Heiland, aber noch mehr an Muhamed, der hat noch groͤßere Wunder verrichtet, ſagen ſie. Wem ſoll man nun glauben?
Sie duͤrfen auch viele Weiber haben; aber Wein kommt nicht über ihre Lippen, und es gibt keine Saͤufer unter ihnen. Ou biſt jetzt lange fort, weit in der Welt, um alles zu wiſſen und zu lernen. Du haſt ein ehrliches Herz, das weiß ich. Und wenn Du dann wiederkommſt und haſt alles geſehn und ge⸗ lernt, dann mußt Du mir ſagen, wer recht hat und wo die Wahrheit iſt.
Wen koͤnnte ich hier fragen? — Sie luͤgen alle.
15 Boblan III. 225
Dann kannſt Du mir auch fagen, ob es in Germanien auch ſo iſt.
Oder kannſt Du mir ſagen, ob es ſonſt auf der Welt einen Fleck gibt, wo Gerechtigkeit iſt?
Ob Du mich gleich nicht achteſt, weil ich ein Bauer bin und alt und ungelehrt.
Ich verbleibe Dein unterwuͤrſiger Diener
Jermak.
4. Mai. katirina hat ihre Geſellſchaft gegeben. Es war wirklich erbaulich! Draußen ein ſtuͤrmiſcher Abend, die Luft mild
und weich — der Sturm kam in vollen Stößen über die weiten Bergruͤcken her, und als wollte er ſich in ſeiner ganzen Breite durch die engen alten Straͤßchen zwaͤngen, ſo fuhr er hinein, fuͤllte ſie aus von unten bis an die Giebel — rannte an jeden Vorſprung an, ruͤttelte an den Dachrinnen, riß und ſchleuderte, zerrte an allem und jedem, klappte und wirtſchaftete. Ich bin, bis ich zu Schweſter Kaatya herauf⸗ gehen mußte, auf und nieder durch Gaſſen und Gaͤßchen ge⸗ ſtiegen. So gefaͤllt mir die kleine Stadt, ſo dachte ich mir's von jeher — fo gefällt mir Deutſchland: eng und heimlich, fo traͤumt man ſich's, fo iſt 's echt — nicht anders — Hein; buͤrgerlich. Ich habe den Leuten in die Fenſter geſchaut — Baͤckergeſellen ſah ich mit Meiſter und Meiſterin, mit Kind und Kegel beim Abendmahl ſitzen. Alle weiß eingeſtaͤubt und durchwaͤrmt, geſund und rot — durch die Fenſterritzen roch es nach warmem Mehl.
Hier im alten Neſt ſtecken an 600 Studenten — in jedem Giebelhaus ſind ein halbes Dutzend einquartiert. Alles ſteckt voll. — Man merkt's faſt der Luft im alten Staͤdtchen an, es iſt eine luſtige Luft. Entfernt ſingt und johlt es ununter⸗ brochen beinah“ Tag und Nacht — die Töne klingen vom Sturme zerriſſen hin und wieder durch die Straͤßchen. Die
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hellen Fenſter ſehen alle einladend aus, wie erleuchtete Fenſter in einem Bilderbuche.
Waͤre jetzt ein gewiſſer guter Menſch hier! waͤre der Peter Fuhks hier — dann wuͤrde ich einen wundervollen Abendgang mit ihm gemacht haben. Der Fuhks waͤre ganz verruͤckt ge⸗ weſen. Ich feh’ und Höre thn im Geiſte. Er hätte ein Ges ſchrei gemacht uͤber alles und jedes! — Ich ſehe ihn mit ſeinen langen Armen und Beinen umherflankieren — die unſinnige Sehnſucht, die er hat, nach Deutſchland zu kommen! Es waͤre ein Freudenfeſt fuͤr ihn geweſen — ich haͤtte meine Not mit ihm gehabt. Und ich wollte, er waͤre da.
Welch ein Staͤdtchen! Das Leben ſieht ſich von hier aus ſo harmlos an — ſo, als koͤnnte es keiner Kreatur etwas zu⸗ leide tun. Alle meine Anſichten vom Leben kommen mir hier übertrieben vor. Das Bild des Elends von Millionen und Millionen, das in meiner Seele wie eingebrannt zu ſein ſchien, ſieht unwahrſcheinlich aus — wie ein Traum. Ich fuͤhl's, hier vergißt man die Welt. Man ſollte die Feuer⸗ koͤpfe nicht nach Sibirien ſchicken — beſſer — viel beſſer nach kleinen deutſchen Staͤdtchen, da wuͤrden ſie ausheilen, da wuͤrden ſie ungefaͤhrlich.
Zehn Jahr in dieſen Gaͤßchen, zwiſchen dieſen heitern Bergen, bei der Unmaſſe Bier und den vielen Profeſſoren, in engen, geordneten Verhaͤltniſſen, engen Gedanken und Lehr⸗Tretmuͤhlen — wahrhaftig, keine Faſer waͤre von dem mehr in mir, was mir jetzt noch einzig wert zu leben ſcheint — einzig und allein — der Opfermut, der den Mißhandelten helfen möchte, den Unterdruͤckten helfen, der keine Tugend tft. — Das würde ſich hier bald legen — ich wuͤrde mich ſchaͤmen, ich würde alles von obenher belaͤcheln!
Ein Hoch auf Kaatya, mein Schweſterchen — die iſt ſtaͤrker als alle — ſtaͤrker als ich ſein wuͤrde — da iſt nichts verblaßt — da iſt nichts beeinflußt — da iſt Natur geblieben. Und wie lang ſteckt ſie nun hier!
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Ich kann ihr von mir, meinen Plänen, meinen Gedanken noch nicht reden — erſt dann, wenn fie Grund hat, mir ganz zu vertrauen.
Als ich zu meinem Schweſterchen heraufkam, war ſie ſchon mitten unter ihren Gaͤſten.
Sie wanderte mit ihrem Stocke von Gruppe zu Gruppe.
Was ſoll ich von dieſer Geſellſchaft ſagen?
Komiſche Leute!
Statt des „Tieres“ gingen weißbaumwollene Handſchuhe, auf plumpe Burſchen geſteckt, ein und aus und trugen Er⸗ friſchungen.
Meine Schweſter Kaatya ſchien ſich wirklich auf die Be⸗ wirtung der Gaͤſte zu verſtehen, wenn ich von der Auswahl von Likoͤren und Delikateſſen auf die bevorſtehende Mahl⸗ zeit ſchließe.
Kaatya nahm mich an der Hand und wir ſtanden gleich darauf vor einer kleinen, haͤßlichen, auffallend magern Frau.
Neben ihr ein unterſetzter blonder Mann mit rotem Ge⸗ ſicht, ihr Gatte.
Meine Schweſter ſtellte mich vor:
„Ou haſt hier die Ehre, die Eltern der zwoͤlf Apoſtel kennen zu lernen. — Nicht wahr?“ wendete ſie ſich an die gelbe magere Frau.
„Bitte, bitte, Durchlaucht, zu viel Ehre, ſo hoch haben wir uus denn doch noch nicht verſtiegen“, ſagte der Mann mit dem roten Geſicht außerordentlich hoͤflich.
Kaatya ſagte ſehr liebenswuͤrdig:
„Sie koͤnnen ſich die Durchlaucht ſparen, lieber Herr Pro⸗ feſſor,, Frau Möller‘ genügt vollkommen.“
„O, weshalb, Ehre dem Ehre gebuͤhrt, es macht ſich ſo huͤbſch“, erwiderte die kleine Dame ſtatt des Gatten mit un⸗ heimlicher, jugendlicher Schalkhaftigkeit.
„Eine kleine, kluge Frau“, ſagte meine Schweſter.
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„Und wenn du die Ehre haben wirft, Herrn und Frau Profeſſor Majunke kennen zu lernen, wirſt du ein Raͤtſel geloͤſt finden: wahre Froͤmmigkeit und heiterer Lebensgenuß. Man trifft das nicht oft beieinander. — Ich mache mein Kompliment.“
„O bitte — bitte“, ſagte Frau Profeſſor Majunke.
„Und nicht wahr, Sie werden auch gleich Ihr Ziegenlied ſingen — jetzt ſchon, ſtatt erſt um Mitternacht — kommen Sie — das iſt ſo huͤbſch, und Dmitri muß es hoͤren, er wird in Petersburg davon erzählen.”
Das Ehepaar ſtand ſchon waͤhrend der ganzen Zeit vor dem geoͤffneten Fluͤgel. Jetzt ſchlug die Frau ein paar Akkorde und begann nach dem Takte einer Melodie zu meckern wie eine Ziege, und zwar die erſte Stimme, und der Gatte fiel mit der zweiten ein — und ſo meckerten ſie wirklich meiſter⸗ haft. Und Jekatirina legte ihren Arm in den meinigen und hoͤrte befriedigt zu:
„Siehſt du — hoͤrſt du“ — ſagte ſie einigemal, und nicht nur ſie allein hoͤrte zu, alle miteinander hatten im Nu das Inſtrument umdraͤngt, es herrſchte begeiſtertes Schweigen, und die beiden meckerten nach Herzensluſt — der Gatte ſtieß mit dem Kopfe, und die Gattin preßte die Augen hervor, machte einen langen, duͤnnen Hals. Die Herren lachten, daß ihnen die Traͤnen herabrollten, und die Damen mochten insgeſamt bedauern, nicht etwas aͤhnliches leiſten zu koͤnnen, denn die magere Frau gewann die Herzen im Sturm und hatte ſie wohl ſchon oft auf dieſe Weiſe gewonnen.
„Koͤſtlich! koͤſtlich!“ hoͤrte man von allen Seiten. „Bei ſo vortrefflichen Leuten dieſe Heiterkeit!“
Der duͤnnen, gelben Frau und dem Gatten ſchien keine dieſer Lobeserhebungen verloren zu gehen.
Sie hoͤrten alles.
Es wurde wirklich ganz ausgezeichnet lebhaft.. Meine Schweſter Kaatya horchte hier und dort — die Unterhal⸗
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tung bekam in einer Ede des Zimmers einen wiſſenſchaftlichen Charakter. Die Herren ſprachen wuͤrdig und ruhig. Jeder von ihnen hoͤrte ſich gern reden und langweilte die andern. Meine Schweſter Kaatya hoͤrte hier doppelt aufmerkſam zu, bemerkte ich. Nach einer Weile beruͤhrte ſie die Schulter des eleganten Dichters mit dem Knopf ihres Stockes.
„Ah, Durchlaucht, verehrte Durchlaucht!“
„Ich hoͤre Ihnen zu,“ ſagte meine Schweſter Kaatya, „und wundre mich, wie man ſo viel uͤber eine Sache reden kann, die ſo einfach iſt.“
„Das ſcheint Ihnen ſo, verehrteſte Durchlaucht“.
Meine Schweſter Kaatya aber ließ ſich nicht irremachen.
„Sehen Sie, das iſt einfach fo: Alles möchte freſſen und nicht gefreſſen werden — alles auf der Welt. Aber es kommt immer fo: Eins frißt, und das andere wird gefreſſen.“
Das klang alles ſehr komiſch, wie das meine Schweſter deutſch ſagte.
„Der Peſſimiſt, Sie ſprachen doch davon, ſteht eben auf der Seite derer, die gefreſſen werden, der Optimiſt auf der Seite derer, die freſſen; und die ſich freſſend wiſſen, nennen ſich konſervativ — und die ſich gefreſſen fuͤhlen, nennen ſich liberal. Das iſt die ganze Geſchichte.“
Die Herren maßen meine Schweſter Kaatya mit erſtaun⸗ ten Blicken — wie einen Eindringling in ihren geheiligten Zirkel.
„Sie ſind es nicht gewohnt, auf irgend etwas, was ein Weib ſagt, Wert zu legen“, ſagte meine Schweſter zu mir und legte wieder ihren Arm in den meinigen — als ſpazierten wir miteinander in einem zoologiſchen Garten und haͤtten vor irgendeinem Kaͤfig geſtanden.
Und da faͤllt mir noch etwas ein, Dmitri, eine Frau, die denkt, macht hier in Deutſchland ungefaͤhr den Eindruck wie ein abgerichteter Affe — hat auch ungefaͤhr dieſelbe Stellung in der Geſellſchaft. Fuͤr eine Frau iſt das gar nicht uͤbel!
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oder für einen Affen iſt das alles mögliche. Mir iſt's gleich, guͤltig, ich ſtehe uͤber dem ganzen Troͤdel, geht mich nichts an — bin ein altes, zufriedenes Weib — — und ein alter freier Menſch. Aber die jungen Weiber — für die Feuerſeelen — die gibt's ja doch auch hier hie und da, trotzdem alles ge⸗ ſchehen tft, um fie völlig auszuroden — für die iſt's ſchwer.
Gehen mich aber auch nichts an. Hol’ alles der Teufel, mir iſt's gleichguͤltig, ich ſchau“ zu.
Verſtehſt du, weshalb fie alle Optimiſten find? —
Ich ſage dir: alle Achtung vor den Peſſimiſten — ich meine nicht im gewoͤhnlichen Sinn, daß ſie unzufriedene muͤrriſche Leute ſind — wie man von ihnen ſagt. Ich lobe ſie deshalb, weil ſie es ſind, in denen das Mitleid ſteckt. Sie ſtehen auf der Seite der Opfer, ſie fuͤhlen mit denen, die gefreſſen werden — ſie leiden mit ihnen. —
Die andern aber koͤnnen ſich aus dem Bann des Vorteils, ihre Nebengeſchoͤpfe nach Luft freſſen zu dürfen, nicht frei machen. Wer, glaubſt du, hat das Gute auf Erden ange⸗ ſtrebt und geſchaffen? Die auf der Seite der Freſſer — oder die anderen?“
„Die andern, Kaatya — und zu welchen, glaubſt du, daß ich zum Beiſpiel gehoͤre?“
„Das muß ſich zeigen, mein Junge.“
„Es ſoll ſich zeigen“, ſagte ich ihr und reichte ihr meine Hand.
„Bravo! Wollen ſehen.“
Es iſt von Jekatirinas Geſellſchaft wirklich nicht viel mehr zu erwähnen — und ich habe dieſe Geſchichten eigentlich nur zu dem Zwecke in mein Buch eingeſchrieben, um mir das Bild meiner Schweſter feſtzuhalten.
Ich glaube ſicher, ſie iſt ein Original.
Die Frau des beruͤhmten Dichters, des Henneberg, ſo ſchoͤn ſie iſt, behagt mir wenig. Das einzige, daß man mit the über Rußland plaudern kann.
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Ihre Familie will zum Sommer hierher nach Jena toms men. Der Vater iſt ſchwer krank und hofft Heilung von den hieſigen Beruͤhmtheiten.
Es ſind Deutſche in Finnland — Wiborg, glaub ich.
Wieder ein Brief.
Jena, den 8. arum haſt Du, geliebter Herr Dmitri Alexöndrowitſch, bis heute Dein Verſprechen nicht erfüllt, mir von
Deiner Schweſter Jekatirina Alexandrowna zu berichten?
Warum haſt Du fie nicht zuruͤckgebracht mit ihrem Kinds lein, hierher in unſer Dorf, zu uns auf Dein Stammgut?
Was haͤlt Dich ab, Deine Pflicht zu tun, jetzt, da doch Dein letzter Bruder Alexander Alexändrowitſch, der General, tot iſt, nun Du doch alleiniger Herr biſt und alleiniger Erbe der Herrſchaft Deines Vaters? der Herrſchaft hier bei St. Peters⸗ burg, die Doͤrfer Murino und Malinowka und Dein Landhaus am Pargolowſchen See und die Dörfer auf der ſchwarzen Erde und am Prut und an der Matuſchka Wolga und wo Ihr ſonſt noch im heiligen Rußland Haͤuſer und Doͤrfer und Guͤter habt.
Wir blicken alle auf zu Dir, und Du vergißt uns Waiſen.
Und laͤßt Sztipann Sztipannowitſch fae Dich ſchalten und walten.
Der Miſchka, mein Schweſterſohn, iſt wiedergekommen, der zwanzig Jahr im Kaukaſus unter Deinem Bruder ge⸗ dient hat. Der hat mir berichtet, warum Dein Bruder ge⸗ ſtorben iſt, denn von Sztipann Sztipannowitſch erfahren wir gar nichts, nur daß er im Januar nach Tiflis gereiſt war.
Es hat auch in den Zeitungen geſtanden, wie Dein Bruder beim Manoͤver bei Derbent vom Pferde geſchoſſen worden iſt.
Ich weiß etwas anderes, denn er hat alle, Offiziere und Soldaten, Tſcherkeſſen und Rechtglaͤubige, geſchunden. Wir laſſen uns alles gefallen, aber eine Tſcherkeſſenkugel fehlt nicht.
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Ich war auch im Kaukaſus, da find unendlich hohe Berge, alles Fels und Geſtein, das faͤllt immer wieder herunter, und reißende Baͤche ſchaffen es immer weiter fort ins flache Land. Ich weiß es nicht, ob es ſo iſt: aber einmal, einmal wird alles Geſtein heruntergefallen fein, und alle Täler wer⸗ den ansgefuͤllt ſein, und wo die Berge geſtanden ſind, wird alles ſchoͤnes, ebenes Fruchtland ſein; aber ob die Menſchen beſſer werden, das weiß ich nicht.
Alexander Alex öndrowitſch iſt in hohen Ehren begraben worden. Alle Orden ſind ihm vorgetragen worden. Aber nachgeweint hat ihm niemand.
Sztipann Sztipannowitſch iſt auch hingekommen, hat das Haus verkaufen laſſen und hat alle auseinandergejagt, denn Alexander Alexandrowitſch hat kein Weib und kein Kind hinter⸗ laſſen. Da iſt denn auch Miſchka, mein Schweſterſohn, fort⸗ gejagt worden und iſt hierher wiedergekommen, und noch zwei ſind mit ihm gekommen und haben mir alles er⸗ zaͤhlt. Jetzt komm' Du zu uns zuruͤck, Dein Erbe zu vers walten.
Der alte Staroſta iſt geſtorben. Gott im Himmel bab’ ihn ſelig. Es war meiner toten Frau Bruder und noch nicht einer von den ſchlimmſten. Jetzt hat Sztipann Sztipannowitſch einen jungen Fant eiageſetzt, den haben wir waͤhlen muͤſſen.
Dem unreinen verſoffenen Hund, unſerem Popen, ſind alle Kirchenbuͤcher verbrannt. Sztipann Sztipannowitſch ſagt, wir Bauern haͤtten es getan. Warum haͤtten wir es tun ſollen? Vielleicht wollte er es ſelbſt ſo.
Sztipann Sztipannowitſch ſchindet uns Bauern ſehr.
Geſchieht dies mit Deinem Wiſſen und Willen?
Jetzt komm her, Dein Erbe zu verwalten. Und wenn Du nicht kommſt, Dein Erbe zu verwalten, ſo wirſt Du betteln gehen.
Dein unterwürfiger Diener Jermak.“
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Im Januar war Sztipann Sztipannowitſch in Tiflis? Alſo iſt Alexander im Januar geſtorben und ich erfahre bis heute, in vier Monaten, nichts? Entweder iſt es eine Phanta⸗ fie des alten Jermak oder —— —
Ich will gleich jetzt an Sztipann Sztipannowitſch ſchreiben und mir in aller Form Aufklaͤrung erbitten.
8 15. Mai.
Acht Tage kein Brief, kein Telegramm.
16. Mai.
Ein kanges Schreiben. Alexander iſt im Januar in Derbent geſtorben. Sonſt nur Ausfluͤchte und Entſchuldigungen und dabei allerlei dumme Redensarten, als ginge mich die ganze Sache nichts an. Sonderbarer Kumpan, mein Herr Schwager. Tut, als ob alles auch ohne mich getan werden koͤnnte. Er beantwortet nicht eine einzige von meinen Fragen, ſpricht nicht von meinem Bruder, ſondern vom General, ſeinem Schwager; ſpricht von der großen Arbeitslaſt, die ihm durch den betruͤbenden Fall in der Familie zugefallen iſt, und über die Schwierigkeiten der Verwaltung, und wie ſehr ſich Anna Alexandrowna den Tod zu Herzen genommen hat, und von mir iſt mit keinem Wort die Rede — nur legt er, wie einem Bettler, einen lumpigen Wechſel auf Mendelsſohn, Berlin, bei, da ich vermutlich Geld brauche!!
Dem General wird ein Denkmal in der Familiengruft auf Wolkowa geſetzt. Schoͤn! Ich habe nichts gegen das Denkmal. Ich habe den Bruder nie gekannt, und gehoͤrt habe ich nur, daß er ſtark trinke und ſehr luſtig lebe, — daß er ſehr gegen die dritte Heirat Papas mit meiner Mutter war und mit Papa ſich vollkommen brouillierte.
Damals war er mit Sztipann Sztipannowitſch ein Herz und eine Seele, dann haben ſie ſich verzankt, und darum iſt er auch nach Papas Tode, glaube ich, nie nach Petersburg gekommen, wenigſtens nicht zu Sztipann Sztipannowitſch. So viel ich mich erinnere, habe ich ihn noch als Knabe nur ein⸗
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mal zufällig geſehen. Ich habe nichts gegen das Denkmal, aber man haͤtte mich doch fragen koͤnnen.
Sztipann Sztipannowitſch tut aber fo, als wenn er zu ent; ſcheiden hatte. Ja, wer iſt denn Papas Erbe? Sztipann Sztipannowitſch oder ich? Ich weiß nicht, warum ich ihn nie ge⸗ gemocht habe? Er iſt mir immer verdaͤchtig vorgekommen, und ich koͤnnte ihm allerlei zutrauen.
Ich ſchreibe noch einmal und verlange klare Antwort. In⸗ deſſen mache ich mich gefaßt. .
23. Mat.
Abe, ſchoͤner Mai! Ade, mein Jena! — Ich muß nach Petersburg.
Drittes Kapitel
Gantt Petersburg, den 16./28. Mat. Sidvann Sztipannowitſch weicht mir aus, es iſt gar kein Zweifel. Er iſt unwohl — beſchaͤftigt — oder ſonſt was, und wenn er mir Rede ſtehen ſoll, laͤßt er ſich abrufen.
Ich will den Rat Jermäks befolgen und will morgen, Sonntag aufs Gut — dort kann er mir nicht ans weichen.
18./30. Mai.
Es iſt alſo klar: Sztipann Sztipannowitſch will den Vers ſuch machen, mich beiſeite zu ſchieben. Es iſt eine komplette Spitzbuͤberei; aber ſie ſoll ihm nicht gelingen.
Kahl — ein ſchoͤner Morgen, heute früh, als wir fuhren! Die Sonne ſchon hoch am Himmel, und nachdem wir aus dem Geraſſel der Stadt heraus find, alles friedlich und till, Lerchengeſang und Glockengelaͤute.
Mein Jermak, wider feine Gewohnheit, ganz ſtill.
Wie wir durch die Doppelallee von Balſampappeln, uͤber den Damm, der mitten durch den See fuͤhrt, hinfahren, zeigt er plöglich mit der Peitſche gegen das Schloß.
„Schau mal hin, Dmitri Alexandrowitſch — das wußt“ ich — fie haben uns bemerkt. — Da reitet er fort mit Mikolka, ſeinem Koſaken. Mag er nur reiten, wohin er will! Mir ſoll er nicht entgehen!“
Meine Schweſter, Anna Alexandrowna, empfängt mich auf der Veranda. Die ganze Schar der Nichten und Neffen hat ſich mir angehängt. Nur die Amme mit dem Juͤngſten laͤßt ſich von Jermäk langſam ſpazieren fahren, und der Alteſte fehlt, vielleicht weil er fuͤr irgendeine Schlingelei im Ka⸗ dettenkorps den Sonntagsurlaub nicht bekommen hat.
Aber Anna Alexändrowna ſchickt alle miteinander mit Gonvernante und Kindermaͤdchen in den Park.
„Nun, Omitri,“ ſagt fie zu mir, „ſetz“ dich dahin, ich weiß ſchon, weshalb du gekommen biſt.“
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„Willſt du Tee?“ und laͤßt fervteren. Meine Schweſter liegt auf der Chaiſelongue in grauer Seide und im Pelz⸗ jädchen von Zobel. Sie iſt wirklich noch eine ſchoͤne Frau.
„Warum machſt du denn ſolche Dummheiten?“ ſagt ſie.
„Was für Dummheiten???
„Nun, kommſt her und willſt allerlei.“
„Ja, was will ich denn?“
„Nun, Sztipann Sztipannowitſch wird ſchon alles eins richten. — Warum trinkſt du deinen Tee nicht? Ja, — Sztipann Sztipannowitſch wird ſchon alles einrichten.“
„Warum habt ihr mir denn nicht geſchrieben, daß Alex⸗ ander geſtorben iſt?“
„Ach, mein Gott, das iſt ſehr ſchade — ſehr ſchade, — der arme Alexander. Weißt du, man ſagt, ein Tſcherkeſſe hat ihn erſchoſſen. — Weißt du, er hat ſolche Geſchichten ge⸗ macht — der arme Alexander. Das Denkmal wird ſehr ſchoͤn, in voller Generalsuniform; ich habe es ſchon geſehen, — von weißem Marmor. Weißt du, es macht der beruͤhmte Petroff.“
„Schoͤn,“ ſagte ich — „aber ihr haͤttet mich doch benach⸗ richtigen ſollen.“
„Ach, lieber Junge, das war gar nicht noͤtig. — Du ſollſt doch ſtudieren. Und Sztipann Sztipannowitſch ſchickt dir ſo viel du willſt.“
„Das iſt ſehr huͤbſch von Sztipann Sztipannowitſch; aber ich bin muͤndig.“
„Ach was — muͤndig, — laß doch nur Sztipann Sztipan⸗ nowitſch machen.“
„Aber ich bin gerade hier hergekommen, um es ſelbſt zu machen.“
„Ach, aber das iſt komiſch von dir.“
„Komiſch?“
„Sztipann Sztipannowitſch wird alles einrichten und dir Geld ſchicken.“
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„Weißt du, liebe Anna, fo kommen wir nicht weiter. Ich will es dir ruhig ſagen. Ich bin nach Petersburg gekommen, um das Erbe zu uͤbernehmen und ſelbſt zu verwalten.“
„Ja, mein lieber Junge, ich weiß noch gar nicht, wieviel du kriegſt.“
„Du weißt es vielleicht nicht; aber das Teſtament weiß es.“
„Das Teſtament iſt gar nicht gültig, ſagt Sztipann Szti⸗ pannowitſch.“
„Nicht guͤltig? Warum denn nicht?“
„Ja, weißt du, weil deine Mama die dritte Frau war.“
„Was weiter?“
„Und die dritte Frau iſt bei uns gar nicht guͤltig, und Papa war ſchon ſo alt. Und deine Mama hatte ja auch nichts. Weißt du, nur ſo ein bißchen deutſchen Schmuck. Und die dritte Frau — das iſt komiſch. Bei den Danilewſkis war es eben, ſo, — da haben die Kinder der dritten Frau auch nichts be⸗ kommen.“
„Wo iff das Teſtament?“
„Das weiß ich nicht, das weiß Sztipann Sztipannowitſch . ich glaube, er iſt gar nicht da.“
„Du meinſt alſo, die Ehe mit Mama iſt gar nicht guͤltig?“
„Ich weiß gar nicht, was ich ſagen ſoll. Aber alle ſagen ſo.“
„Und das Teſtament, meinſt du, iſt gar nicht mehr da? — Aber da werden ja wohl die Kirchenbuͤcher da ſein und die Zeugen bei der Trauung.“
Schweſter Anna ſchweigt.
„Oder glaubſt du, daß ſie auch nicht mehr zu finden ſind?“
„Frag“ doch ſelbſt nach“, ſagt Anna und wird rot.
Die kleine Maaſcha iſt der Gouvernante entſprungen, kommt hereingeſchluͤpft und ſchmiegt ſich an die Mama.
Draußen haben die Kinder die Ponies anſchirren laſſen und jagen uͤber den Raſen.
Ich muß doch endlich meinen Tee austrinken, er ſchmeckt ganz komiſch — nach gar nichts.
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„Du meinſt alfo, liebe Anna, daß ich am vernuͤnftigſten taͤte, auf die Erbſchaft zu verzichten?“
„Ach, mein lieber Junge, das iſt nett von dir. Ich habe dich immer ſo lieb gehabt. Weißt du, wir haben furchtbare Ausgaben, und alles iſt ſo teuer. Hier das Gut — und die Haͤuſer in Petersburg — und die andern Sachen — und der zweite Sohn muß ins Kadettenkorps — und der aͤlteſte wird jetzt Leutnant. Sztipann Sztipannowitſch kommt gar nicht aus.
Er hat ja ſelbſt kein Vergnuͤgen, nur die dumme Gage — und dann hat er noch Schulden — ich weiß gar nicht, wo er die her hat, ich glaube, von fruͤher, oder er hat geſpielt; ich weiß gar nicht, wo er das Geld gelaſſen hat. Siehſt du, mein lieber Junge, du biſt jung und gelehrt. — Alle ſagen, es iſt nur gut, wenn du arbeiteſt — und Sztipann Sztipannowitſch gibt dir, ſo viel du brauchſt. Und du kannſt alles behalten, die Equipage und das Reitpferd, und du kannſt auch hierher kommen, ſooft du willſt.“
Ich ſtand auf.
„Du meinſt alſo, daß ich Bettler werden ſoll, damit Sztipann Sztipannowitſch ſeine Schulden bezahlen kann?“
„Ach was, Bettler — keine Idee — Bettler!“
„Nun, ich meine ſo ein unterſtuͤtzter Bettler!
Und zu dem Zweck hat Sztipann Sztipannowitſch das Teſtament verſchwinden laſſen? — Und die andern Papiere werden auch nicht zu finden ſein? — Und eigentlich nenne ich mich auch mit Unrecht nach dem Vater? nicht wahr? — Und was ich bekomme, bekomme ich aus Gnade und Barmherzig⸗ keit? Von Sztipann Sztipannowitſch, der ſo edel an mir handelt! Und deshalb habt Ihr mich den Tod von Alexander nicht wiſſen laſſen? Und das hat Sztipann Sztipannowitſch alles ſo eingerichtet? Und du hilfſt ihm zu alledem? Und weißt du denn, wie man das alles nennt? Das iſt gemeiner Betrug!“
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Schweſter Anna fieht mich ſtrafend an; dann (pride fie:
„Siehſt du, nun wirft du unartig — nun kannſt du gehen. — Mach doch nicht ſolche Dummheiten! Man kann ja Sztipann Sztipannowitſch nicht verklagen — und du haſt ja auch gar nicht das Geld dazu.“
Die kleine Maaſcha, die merkt, daß etwas vorgeht, weint leiſe in ſich hinein.
„Komm, liebe kleine Maaſcha,“ fag’ ich zu ihr, „komm, begleite mich zum Wagen.“
Schweſter Anna wird doch unruhig.
„Dmitri!“ ruft fie, „mach“ doch nicht folche dummheiten Das ſind ja Dummheiten, Dmitri. Dmitri, ſei doch ver⸗ nuͤnftig!“
„Leb“ wohl.“
ein Jermäk und ich find von Haus zu Haus im Dorf gefahren.
Der Staroſt iſt tot. Der alte Pope ſtumpfſinnig. Der Spitzbube, der Diakon, weiß ſich an nichts zu erinnern. Die Kirchenbuͤcher find (eit dem letzten Brand im Schloß fort, verbrannt und keine Kopien vorhanden.
Jermak ſchlaͤgt mir vor, Sztipaunn Sztipannowitſch zu ers ſchlagen.
16. Juni.
Es iſt zum verruͤckt werden. Ich fahre tagtaͤglich von einem zum andern. Jeder macht Aus fluͤchte. Keiner will was mit Sztipann Sztipannowitſch zu tun haben.
Ich habe ihm zum drittenmal geſchrieben — natürlich keine Antwort.
22. Juni.
Nichts! Nichts! — Wunderbare Tage draußen, hier im Haus entſetzlich. — Ich will fort, um zu Vernunft zu kommen.
Und was alles uͤber mich geſprochen wird!
Ich will die Familie ungluͤcklich machen l!
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2. Juli.
Ich laufe ſeit einem Monat ganz vergeblich herum. Es ſind lauter feige Schufte. Kaum wird es klar, daß es gegen Sztipannowitſch geht, fo ziehen fie ſich zuruͤck, verſteckt oder grob. Es wagt niemand zu mir zu ſtehen! „Es fehlen Be⸗ weiſe!“ „Es iſt nicht moͤglich!“
Geſtern zum erſtenmal hat mich einer angehoͤrt, der Advokat, uns gegenuͤber. Aber heute hab“ ich das ſichere Gefuͤhl, daß er mich nur aushorchen wollte, der Herr Franzoſe!
Ich bin am Ende meiner Weisheit; ich finde niemanden.
Ich will den guten Rat Jermaks befolgen und Peter Fuhks aufſuchen. Sein Vater it Winkeladvofat.
3. Juli, mein Geburtstag.
Peter Fuhks wohnt in der Rieſenkaſerne an der Polizei⸗ bruͤcke. Ich trete ins Tor; niemand zu ſehen, der mir Aus⸗ kunft geben könnte. Im Hof wird Holz ausgeladen. Eine ganze Reihe ſtraffhaariger Kerle in bunten Hemden und Balls ſchuhen fuͤhren die Birkenſcheite auf kleinen Schubkarren vom Holzkahne ein. Der Eigentuͤmer vermietet die achtzig Wohnungen ſeines Rieſenhauſes mit freiem Holz. Da iſt nun offenbar die erſte Holzbarke eingetroffen, und der Winter⸗ vorrat ſoll im Hof aufgeſtapelt und je nach dem Mietzins ſehr gerecht verteilt werden.
Aber die Hauseinwohner ſind aus fruͤheren Jahren ge⸗ witzigt. Schon ſeit Wochen iſt die Holzbarke ſignaliſtert, und achtzig Parteien ſind heute entſchloſſen, ſich ihr Anrecht auf Holz mit Liſt oder Gewalt zu ſichern. Da hat ſich denn eine ganz regelrechte Schlacht entwickelt. Die kurzen Scheite fliegen hinuͤber und heruͤber. Aber was vermoͤchten acht tatariſche Hausknechte gegen hundert ruſſiſche Burſchen, Koͤche, Kutſcher und Diener und Weiber! Im Nu ſind die Tataren an die Wand gedruckt, blockiert, kampfunfaͤhig ges
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macht, und der Hof von jedem Splitter Holz geſaͤubert. Dort in der Ecke des Hofes hat ſich die mit ſchweren Eiſen⸗ platten beſchlagene Tuͤr aufgetan, und ein feiſter Rieſe in blauem Kaftan, hochſchulterig, mit ſchwammigem Geſicht, lugt vorſichtig heraus. Es iſt der Hausherr. Er iſt ganz bleich vor Aufregung, ſchlottert in den Knien und atmet ſchwer.
„Hundeſoͤhne, Hundeſoͤhne! Gott fet mir gnaͤbig“, iſt alles, was er zu ſagen vermag. Ich trete an ihn heran und frage nach Peter Fuhks. Der Rieſe zieht ehrerbietig die fette Muͤtze und ſagt mit piepender Stimme: „Belieben Sie naͤher zu treten“, und noͤtigt mich in ein kleines, finſteres Loch. Er, der Beſitzer dieſes Rieſenhauſes, in der denkbar guͤnſtigſten Lage St. Petersburgs, Wechſler und Millionaͤr, hat fein Wechſelſtuͤbchen unter der Treppe eingerichtet! Das einzige Licht dringt durch die Offnung uͤber dem Ladentiſch. Die Offnung führt nach der Straße, dem Newt Proſpekt. Rechts und links haͤngen über der Lade vergitterte Glasſchraͤnkchen, und drin glaͤnzen als Lockſpeiſe Geldrollen und neue Hundert⸗ Rubel⸗Scheine, mit Silber und Gold gefüllte Holzſchalen. Hinter dem Ladentiſche ſitzt ein hochaufgeſchoſſener Juͤngling mit ſtraffen, gerad“ beſchnittenen Haaren, mit großen, abs ſtehenden Fledermausohren unter der dick wattierten Mabe und mit auffallend bloͤdem Ansdruck im knochigen Geſicht; auf feinem Schoß ſchlaͤft ein Kater. Der Wechſler bietet mir den einzigen Stuhl. „Piotr Petröwwitſch Fuhks“, (age er. „Sehr wohl...” Es iſt hier, trotz der druͤckenden Hitze draußen, feuchtkalt wie in einem Keller, kahl, ſchmutzig und dunkel wie in einem Gefaͤngnis. Eiſerne Kiſten mit maͤchtigen Schloͤſſern davor, ein Tiſch, darauf dicke Buͤcher mit zerſtoßenen Ecken, daneben der dampfende Sſamowar. Gegenüber ein Sofa mit ſchwarzem, zerſchliſſenem, aus Roßhaar geflochtenem Bezug, offenbar zugleich ſein Schlaf⸗ lager, denn zu Füßen desſelben liegt ein wirrer Haufen
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geflidter Wattdecken, und ein ekelhafter Dunſt ſteigt von ihnen auf.
„Piotr Petröwwitſch Fuhks! Meinen Euer Hochgeboren Piotr Petroͤwwitſch Fuhks, den Alteren, den Winkeladvo⸗ katen, oder Pjotr Petröwwitſch Fuhks, den Jüngeren? Kann ich Euer Hochgeboren dienſtbar fein? Bitte ſich nur zu aͤußern.“ — „Hundeſoͤhne!“ fuͤgte er hinzu, „es iſt trockenes, wunder⸗ ſchoͤnes Birkenholz, kommt den Wuoxen herunter, von Imatra, Herr! Ich hab’ dort meine Waldungen, herrliche Waldungen, alles ſchlagbares Holz, alles hundertjaͤhrig. Die Hälfte iſt mir ſchon unterwegs geſtohlen, Herr! Und hier fallen alle wie die Raben darüber her. Nun frag’ ich bloß, iſt das ans ſtaͤndig? Wie kann da unſereius auf die Koſten kommen? Ehrlichkeit bringt durch die Welt, Herr, aber die jungen Leute denken immer, das Geld kaͤme einem nur ſo zugeflogen! Urteilen Sie ſelbſt, gnaͤdiger Herr, das Geld verdienen iſt eine ſchwierige Sache, und es gelingt nicht jedem. Ja, ja, es ge⸗ lingt nicht jedem. Darf ich Euer Hochgeboren mit einer Kleinigkeit aushelfen? Tauſend Rubel vielleicht? Wieviel befehlen Euer Gnaden? Bitte untertaͤnigſt, hier iſt Geld wie Heu!“
Glaͤnzendes Behagen ſpiegelte ſich auf dem breiten Geſicht des Wechſlers. Er wuͤhlte mit der Linken in der goldgefuͤllten Holzſchale und ſtrich ſich dann wohlgefaͤllig über den kahlen Kopf und das kahle Kinn. Es gibt doch wohl noch gluͤckliche Menſchen auf der Welt.
„Ich wuͤnſche Wohnung von Pjotr Petröwwitſch zu wiſſen. Wohnt er noch im Hauſe?“
„Pjotr Petröwwitſch iſt tot, zu dienen, gnaͤdiger Herr. Vorigen Winter. Er iſt mir die Miete ſchuldig geblieben. Miete fuͤr Wohnung und Holz. Er iſt erfroren, ſagen die Leute, aber das ſchadet nichts. Ich habe die Sachen zuruͤck⸗ behalten, lumpige Sachen! Nur der Junge iſt ausgeriſſen und hat ſeine Geige mitgenommen. Er iſt fort, der Teufel
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bol’ ihn! mag er feinen Landsleuten, den Finnen, geigen ! Die Wohnung ſteht noch leer, die einzige im ganzen Haufe. Aber das ſchadet nichts. Urteilen Sie ſelber, gnaͤdiger Herr. Ich komme ſchon auf meine Koſten. Eine ſchoͤne Wohnung, Zimmer und Kuͤche, mit Waſſer und Heizung. Etwas hoch, fuͤnfte Etage.
„Freilich nichts für Sie, gnaͤdiger Herr, aber darf ich Euer Gnaden mit tauſend Rubel dienen? Eins, zwei, drei, zehn. Erweiſen Sie mir die Ehre.“ Er fuhr mit dem Daumen in den Mund und zaͤhlte mir die ſchmierigen, zerriſſenen Hundertrubelſcheine vor.
Der alte Fuhks tot! Alſo damit waͤre es wieder nichts, fuhr es mir durch den Kopf.
„Sie zahlen wieder, ganz, wann es Ihnen paßt — hat gar keine Eile.“
„Danke. Alſo wohin iſt Piotr Petröwwitſch — der Juͤngere, meine ich?“
„Zu den Finnen, gnaͤdiger Herr, weiß Gott, wohin, hol“ ihn der Teufel! Mag der den Finnen geigen, der Lump! Hier ſoll er ſich nicht wieder blicken laſſen, oder ich ſchlage ihm die Zaͤhne ein, dem Windhund.“
Er verzog den Mund zu einem Laͤcheln.
„Tauſend Rubel“, ſagte er ſich verneigend. „Bitte ſelbſt zu urteilen“, und ſchob mir den ſchmierigen Haufen uͤber den Tiſch zu.
„Danke, danke, ich brauche nichts.“
„Erweiſen Sie mir die Ehre. Oder zwei⸗, dreitauſend? Wieviel befehlen Sie? Bitte untertaͤnigſt, erweiſen Sie mir die Ehre. Euer Hochgeboren haben gewißlich die Gnade, mich Ihrem Herrn Schwager zu empfehlen; nur ein kleines Woͤrtchen.“
„Meinem Schwager?“ |
„Ihrem Herrn Schwager Sztipann Sztipannowitſch, Exzellenz!“
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„Ja — kennen Sie mich denn?“
„Gott fei mir gnaͤdig! Ich ſollte Euer Hochgeboren nicht kennen? Dmitri Alexandrowitſch? Ihr Herr Vater hat mir oft die Ehre erwieſen. Ein vortrefflicher Mann und gar nicht ſtolz. Und Ihre Frau Mama! Eine liebe Dame. Eine Deutſche, aber eine ſehr vornehme Dame. Von oben bis unten ſchwarz angezogen, nur einen Schleier hatte ſie und einen gruͤnen Kranz, und weinte gar nicht, wie doch unſere Maͤd⸗ chen immer bei der Hochzeit tun.“
„Bei der Hochzeit? Waren Sie denn bei der Hoch⸗ zeit?“
„Freilich war ich dabei, Euer Gnaden. Erlauben Euer Gnaden, wie lang’ iſt es her? Es find jetzt ...“ Ich fühlte das Herz im Halſe ſchlagen.
„Ich denke, die Hochzeit war auf dem Gute?“
„Freilich war ſie auf dem Gute, Euer Gnaden. Ihr Herr Vater hatte mir die Ehre erwieſen, und da bin ich ſelbſt hinausgefahren und habe ihm das Geld gebracht. Ein⸗ hundertdreißigtauſend Rubel. Und da hat mir Ihr Herr Vater die Ehre erwieſen und hat mir erlaubt, dem Gottes⸗ dienſte beizuwohnen.“
„Sie waren alſo bei der Trauung meines Vaters mit meiner Mutter zugegen? Sie waren ſelbſt da und haben es ſelbſt gefeben 2”
„Mein Wort iſt Gold, gnaͤdiger Herr, gerade wie ich es ſage.“
„Koͤnnen Sie das bezeugen?“
„Auf die Hoſtie will ich es beſchwoͤren. Ich war dabei! Es iſt alles ins Kirchenbuch eingetragen worden, und meine Wenigkeit hat auch unterzeichnen dürfen. Ich verſtehe wohl, es iſt eine große Ehre fuͤr mich. Aber urteilen Sie ſelbſt: Einhundertdreißigtauſend Rubel it auch kein Spaß, und es ſtanden ſchon andere Gelder darauf, und wer kann wiſſen, wieviel ſo ein Gut wert iſt?“
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Von der ſonnigen Straße draußen flatterte unvermutet ein Schmetterling durch die Offnung uber der Lade in unſer finſteres Loch. Wer weiß, welchem eingebildeten Gluͤck er hier nachjagt, vielleicht fluͤchtet er nur aus dem betaͤubenden Geraſſel der Straße; er taumelte vor der fetten Muͤtze des Buben zum Tintenfaß, vom Tintenfaß zum Goldhaͤufchen in der Holzſchale, flatterte der Katze um die Ohren und ent⸗ ſchloß ſich, offenbar unbefriedigt, den Ausweg wieder in das Freie durch das vergitterte Hoffenſter zu nehmen. Er faltete die praͤchtigen Fluͤgel auseinander und wieder zuſammen, weißgelblich geſtaͤubt, ſchwarz geraͤndert, durchſichtig und ſchimmernd, wie ein Edelſtein — und taͤnzelte an der Scheibe auf und nieder. Das war kein Anblick fuͤr unſern Wechſler; mit dem verknuͤllten, ſchmierigen Taſchentuch wiſchte er den luſtigen Geſellen vom Fenſter und zerdruͤckte ihn mit dem Daumen. Was fuͤr ein moͤrderiſches Tier iſt doch der Menſch!
„Ungeziefer! gnaͤdiger Herr,“ ſagte der Wechſler, „es gibt ſehr viel Ungeziefer bei uns in Rußland.“
Das Schickſal meint es gut mit mir, es will mich befreien. Jetzt erſt fuͤhle ich, wie ſchwer es auf mir gelaſtet. Ich atme auf. — Es gibt mir den Weg frei und ich will ihn gehen. Ich darf mir ſelbſt leben. Ich hab’ niemanden zu fragen, mich nach niemandem zu richten. Wie fühl’ ich mich erhaben über all die kleinlichen Seelen, die nichts vor Augen haben als ihr bißchen Stellung und Gehalt. Ich erſtrebe mehr und werde es erreichen. Ich will Lehrer, Leiter, Weiſer einem ganzen Volke werden, der ganzen Menſchheit !.
— Welch ſchoͤner Sommertag iſt draußen! Welch ein Ge⸗ woge von Menſchen und Wagen hin und her! O, es iſt (hon auf der Welt!... Und wenn ich dieſen Menſchen, da gegenuͤber mir, nicht gefunden haͤtte, was waͤr aus mir ge⸗ worden, was wär’ mir uͤbriggeblieben? Knechtſchaft, elende Knechtſchaft um das taͤgliche Brot, elende Knechtſchaft ein ganzes Leben lang. —
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Mein Gegenüber hatte weiter geſchwatzt, was von aufs gelaufenen Zinſen, von Hypotheken und von Sztipann Sztipannowitſch, und ich moͤchte ein gutes Wort einlegen, aber ich hoͤrte und verſtand nur das eine: Hier war ein lebender Zeuge der Trauung meiner Mutter!
„Wollen Sie mir einen Gefallen erweiſen?“
„Mit dem groͤßten Vergnuͤgen. Das iſt meine Schuldig⸗ keit.“
„Schreiben Sie mir mal das auf, was Sie da ſagten.“
„Befehlen Sie gleich?“
„Ja, gleich hier, ich meine das, was Sie von der Hochzeit ſagten.“
„Hm, von der Hochzeit?“
„Ja, wer war denn noch dabei?“
„Nun, der alte Pope und der Diakon, der Staroſt und meine Wenigkeit waren die Zeugen. Sonſt niemand, — das heißt die deutſche Dame, die Kammerfrau von Euer Hochgeboren Mutter, die ſpaͤter Euer Gnaden Kindermaͤbchen wurde — ſo eine kleine Perſon, ſie ging nachher nach Deutſch⸗ land zuruͤck. Euer Gnaden muß wiſſen, es war den Kindern gar nicht genehm, daß Ihr Herr Papa zum drittenmal hei⸗ ratete. Da waren ſie denn alle ausgeblieben, und die Hoch⸗ zeit wurde in aller Stille in der Gutskapelle gefeiert. Nie⸗ mand war ſonſt zugegen.“
„Alſo bitte, ſchreiben Sie.“
„Was befehlen Sie?“
Nun alſo: Der Endesunterzeichnete, Ilja Petröwwitſch Kotomin, Hausbeſitzer, Ehrenbuͤrger, Kaufmann zweiter Gilde, beſcheinigt durch vorliegende Schrift, daß er am ſo⸗ undſovielten Datum uſw. uſw., ganz ausfuͤhrlich, am ſo⸗ undſovielten der Hochzeit des Fuͤrſten Alexander Alexändro⸗ witſch Ker⸗Aſowsky mit der Freiin Marie von Luͤtzerode als Zeuge beigewohnt habe. So wahr mir Gott helfe uſw. ufw. .
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Er (chien zögern zu wollen.
„Ja, erlauben Sie wohl,“ fagte er, „ich verſtehe nicht. Das ſteht ja alles im Kirchenbuch?“
„Das Kirchenbuch iſt nicht zu finden, es ſoll verbrannt ſein.“
„Verbrannt? Aber da iſt ja noch der Staroſt?“
„Der Staroſt iſt tot.“
„Und der alte Pope?“
„Der Pope iſt ſtumpfſinnig vor Alter, dazu immer be⸗ ſoffen.“
„Und der Diakon?“
„Der Diakon iſt ein Spitzbube, der tut, als wuͤßte er von nichts mehr.
„Aber da muß ja noch ein Trauſchein ſein; den kann Ihnen ja Sztipann Sztipannowitſch am beſten beſorgen.“
„Schreiben Sie nur! Sztipann Sztipannowitſch iſt es ja gerade, der alles ſo eingerichtet hat. Er will mich um mein Erbe bringen.“
Der Wechſler ſchnitt ein Geſicht, ſpitzte den Mund und pfiff. „Und die deutſche Kindermuhme iſt wohl in Deutſchland verſchwunden — hui — fort? Nicht zu finden? — — Ah — das ſind ſchoͤne Geſchichten.“
„Alſo ſchreiben Sie nur. Sie ſehen ja, Sie erweiſen mir einen großen Gefallen.“
„Und da ſoll ich gegen Sztipann Sztipannowitſch auf⸗ treten? Sieh mal an! Wie ſchlau! Euer Hochgeboren, ſagt man, war in Deutſchland? Haben dort ſtudiert?“
„Wen geht es was an?“
„Ich meine nur ſo. Ja, — da wird man klug, da lernt man ſolche Geſchichten. Sieh mal an, wie ſchlau! — Nichts weiß ich, gar nichts von der ganzen Geſchichte! Nichts, nichts! Ich hab“ gar nichts geſehen! Gott ſoll mich be⸗
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wahren, ich weiß nichts von der Hochzeit, gar nichts. Wo ſollt' ich denn meine Wiſſenſchaft her haben? — Das find mir Geſchichten! Das iſt Raub! Raub! Man will mich berauben! Da muß man die Polizei holen. Man kennt euch!“
„Will ich dich etwa berauben?“
„Man kennt euch! Man kennt euch! Man kennt euch! Kommt da ſo ein Herr von Habenichts von Deutſchland, bruͤſtet ſich mit den ſieben Haaren am Kinn! — Hoͤflich — immer hoͤflich! — Herr Gott! — nimmt bare tauſend Rus bel.“ — Er hatte die ausgeſpreizte Hand auf die Geldſcheine gelegt und ſtrich ſie mit einem Ruck in das Schubfach dar⸗ unter. — „Das iſt Raub! Raub! Wir ſind hier nicht bei Kehlabſchneidern! Das iſt Überfall! Man will mich berauben! Nihiliſten! Man muß die Polizei holen!“ — Er ging von Kiſte zu Kiſte und ſchlug die eiſenbeſchlagenen Deckel droͤhnend ins Schloß.
„Nein, mein Voͤgelchen, ſo geht das nicht. Nein, mein Huͤhnchen, da mußt du fruͤher aufſtehen!“
„Sprichſt du zu deinem Hausknecht? Halunke!“
Er hielt einen Agenblick inne.
„Es nuͤtzt dir alles nichts,“ fuhr ich ruhiger fort, „du haſt es deutlich ausgeſprochen und wirſt es vor Gericht bekennen muͤſſen. Ich bin es nicht allein, der es gehoͤrt hat, es waren auch andere dabei, Zeugen, — der dort“, — und ich wies auf den Zweiten in dem Loch, den Jungen, der noch immer regungslos vor der Tiſchlade ſaß, — „der dort hat Wort fuͤr Wort verſtanden und ich werde euch beide nicht laſſen.“
Der alte Rieſe fuhr wie ein Raubvogel auf den Buben los und ſtieß ihn mit der Fauſt in den Nacken, daß ihm die Muͤtze hintenuͤberflog.
„Urteilen Sie ſelber,“ ſchrie er, „der iſt mein Neffe, mein Erbe, mein einziger Erbe! Der iſt taubſtumm! Der guͤtige
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Gott mag ihn lange warten laſſen! Taubſtumm vom Mutterleibe an! Haha — Taubſtumm!“
Er hatte die Teemaſchine umgeriſſen. Die gluͤhenden Kohlen kollerten aus dem Rohr und ziſchten im kochenden Waſſer; Rauch und Dampf fuͤllten den Raum. Er ſchien ſich noch nicht ſicher genug zu fuͤhlen. Wahrſcheinlich ſtieg ihm der Gedanke in den Kopf, wie gut es ihm bei Sztipann Sztipannowitſch angeſchrieben wuͤrde, wenn er mich in eine Geſchichte braͤchte. Er griff nach der mit Goldſtuͤcken ge⸗ fuͤllten Holzſchale, ſchuͤttete das Geld vorſichtig auf den Boden, ſetzte ſich dann auf das Sofa, beide Arme auf die Knie ge⸗ ſtemmt und den Oberkoͤrper vornuͤber gebogen, und ſchrie uͤberlaut:
„Ka —ra—ull! Die Wache! Zu Hilfe, zu Hilfe! — Nihi⸗ liſten! Nihiliſten! —“
Ich blieb mit gekreuzten Armen vor dem jaͤmmerlichen Gauner ſtehen. Daß bei ſolch einem Ehrenmann nichts zu erreichen ſei, war mir klar. Was blieb mir zu tun uͤbrig? — Ich wandte mich langſam, ſtieß den Kater, der ſich wieder be⸗ haglich zuſammengerollt hatte, von der Tiſchlade, oͤffnete die Klappe und trat aus der Hoͤhle ins Sonnenlicht heraus
Verſpielt! Verſpielt !.
Welch ein Laͤrm und Gewuͤhl iſt auf der Straße! Gerade vor der Tuͤr floͤtet ein Leierkaſten und wimmert durch all den Laͤrm die Arie aus „La Traviata“: Qual cor perdisti, qual cor tradisti — — ein praͤchtiger ſchwarzlockiger Burſche in ſamtenem Rock und weiten Hoſen.
Ein Polizeiſoldat ſpaziert mit gemeſſenem Schritt vorbei. Er gruͤßt hoͤflich.
„Ei, Bruͤderchen,“ fag’ ich zu ihm, „edler Wächter des Ges ſetzes, geh’ da hinein, man bedarf deiner, da gibt es Spitz⸗ buben! Geh hinein. Es gibt viel Ungeziefer in Rußland.“
Wieder etwas abgetan. Nach Peter Fuhks brauch ich hier nicht mehr zu ſuchen, er iſt fort.
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Ich trete zu meinem Pferdchen, klopfte ihm auf den Hals — wie lang werd’ ich dich noch behalten? — und ſteige ein.
„Nach Hauſe, Herr?“ fragt mein Kutſcher.
„Nach Hauſe, Jermak! — Nichts ausgerichtet!“
ein Burſch und der Hausknecht, die einzigen Weſen im
verlaſſenen Haufe, empfingen uns. Mir fiel auf, daß die Paradetreppe aufgeſchloſſen war, und ich erkundigte mich, ob jemand nach mir gefragt habe.
„Das nicht, Dmitri Alexandrowitſch,“ antwortete der Hausknecht, „aber Sztipann Sztipannowitſch waren hier.“
„Sztipann Sztipannowitſch? Was wollte er?“
„Das iſt nicht bekannt. Aber es war noch jemand mit ihm, ſo ein langer Herr mit Brillen und mit einem Baͤrtchen ‚auf franzoͤſiſch'. Ich glaube, es war das Advokaͤtchen von da drüben. Aus dem Nihiliſtenprozeß der Rechts verdreher, aus dem Hans da druͤben.“
„So, ſo. Das iſt ja recht nett.“
„Die Herrſchaften waren auch beim Ober⸗Polizeimeiſter vorgefahren —“
„Woher weißt du es denn?“
„Der Kutſcher von Sztipann Sztipannowitſch hat es mir erzählt.”
„Beim ObersPoligeimetfter ?”
„Genau richtig, Dmitri Alexandrowitſch. Hier im Haufe war auch von Ihnen die Rede —“
„Nun, was ſagten denn die Herren?“
„Das iſt nicht bekannt. Aber die Herren ſind auch in Ihrem Zimmer geweſen, Dmitri Alexandrowitſch —“
„In meinem Zimmer? Was haben ſie dort zu ſuchen?“
„Das iſt nicht bekannt, Dmitri Alexandrowitſch. Aber ſie haben ſich umgeſehen und haben gelacht.“
„Gelacht?“
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„Genau richtig, Dmitri Alexandrowitſch. Es find nämlich Briefe an Sie gekommen.“
„Gut, gib her. —“
„Die Briefe ſind oben auf dem Tiſche, in Ihrem Zimmer, Omitri Alexandrowitſch.“
„Auf meinem Zimmer, gut.“
Ich ſtieg hinauf. — Sztipann Sztipannowitſch alſo und der Spitzbube, der franzoͤſiſch friſierte Advokat! Der hat es mit aller ſeiner ſtrengen Ehrenhaftigkeit zuwege gebracht, gleich nachdem ich bei ihm geweſen, zu Sztipann Sztipanno⸗ witſch zu laufen. Und jetzt beraten die beiden Edlen mit⸗ einander. So eine kleine Nihiliſtengeſchichte iſt bald zuſtande gebracht: Student — Jena — unzweifelhaft ein Ungeheuer. Und ſitzt man erſt einmal auf der Feſtung und ein paar Jahr in Sibirien — nun, da mag man zuſehen, wie man wieder herauskommt. — Wirklich, recht erbaulich! Sibirien iſt nicht gar ſo weit! Und nicht jedem begegnet der Zar. Ein paar Jahr Sibirien — und das Leben iſt vorbei!
Wahrhaftig! Hansknechte, Diener, Kutſcher ſind jetzt meine Freunde, ſonſt niemand.
Wie ſcheußlich oͤde iſt es im Hauſe! Die Teppiche zu⸗ ſammengerollt, die Pflanzen entfernt, die Moͤbel verdeckt, Bilder und Spiegel verhaͤngt. Einſame Fliegen ſtoßen ſich an den mit Kreide beweißten Scheiben zu Tode. Dicker Staub uͤber allem. Dazu das ewige dumpfe Geraſſel von der Straße und die erſtickende Schwuͤle in den Saͤlen. Troſtlos und oͤde, wie in einem weiten Sarg!
Zwei Briefe liegen auf meinem Schreibtiſch. Der eine — gewichtig, groß, mit dem Kronſiegel geſchloſſen, — beſagt mir, daß ich zum Beamten in beſonderer Miſſion im Mis niſterium des Außeren ernannt bin, daß ich mich Montag, den 9. dieſes Monats, in Wiborg dem Kommandanten Maſorow an Bord S. M. Schiff „Wladiwoſtok' vorzuſtellen und weitere Befehle zu erwarten habe — Egquipierungs⸗
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gelder — uſw. uſw. und daß die geſamte Miſſion, Gegenſtand, Ziel und Richtung der Reiſe im ganzen, wie in allen Einzel⸗ heiten, auf meinen zu leiſtenden Amtseid als Staatsgeheimnis zu bewahren ſei. Angefuͤgt ein ſehr ſchmeichelhaftes Billett vom Miniſter ſelbſt.
Sonderbar! Gerade jetzt? Es iſt ſchon fruͤher von etwas aͤhnlichem die Rede geweſen — ganz beilaͤufig — aber ich habe mich gar nicht beworben — ich dachte auch gar nicht, daß es der Miniſter im Ernſt meinte — und jetzt ſo ſchnell, in wenigen Tagen! Ich muß ſofort zum Miniſter vorfahren. Es iſt mir unmoͤglich, jetzt anzunehmen.
Der zweite Brief iſt aus Wiborg und lautet ſo:
„Mein lieber Ker!
Ich habe gehoͤrt, daß Du ſchon ſeit einiger Zeit wieder nach Petersburg zuruͤckgekehrt biſt, und da tut es mir wahr⸗ haftig ſehr leid, daß ich Dich nicht gleich aufſuchen kann. Mein lieber Ker! Ich muß Dir berichten, daß mein Papa dieſen Winter am 21 ſten März um drei Uhr morgens geſtorben tft. Wir waren unſerm Wirt die Miete ſchuldig geblieben, da mein Papa waͤhrend ſeiner Krankheit nichts verdienen konnte und ich auch nichts. Mein lieber Ker, es war ſchrecklich. Der Wirt hatte uns Waſſer und Holz ſperren laſſen. Ich habe Moͤbel verheizt, alles, was von Holz war, aber die grimmige Kaͤlte hielt an, und mein armer Papa iſt buchſtaͤblich er⸗ froren. Es war wirklich ſehr ſchrecklich, mein lieber Ker! Der Wirt hatte auch alle unſere Sachen zuruͤckbehalten und hat mich hinausgejagt, kahl wie eine Kirchenmaus. Um meinen kleinen Krimskrams, fuͤr ihn ganz wertloſe Sachen, tut es mir furchtbar leid. Was tun? Er iſt geſetzlich vollkommen in ſeinem Recht, aber es gibt doch ſchreckliche Menſchen, mein lieber Ker! Ich habe gar nichts retten koͤnnen als meine Geige und das Baͤrenfell; auch nicht Deine ‚Sulamith‘, die Du mir aus Jena geſchickt haſt.
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Mein lieber Ker! Ich glaube es feſt und ſchwoͤre darauf, daß unſer Fudenlied, die ‚Sulamith‘, gut iſt. Glaube es mir, mein lieber Ker! Ich könnte es Dir mit guten Grunden bes legen. Ich kenne es auswendig. Ich habe das ganze Ma⸗ terial durchgearbeitet. Aber ſage nur ſelbſt! Es ſtinkt zum Himmel, was Gelehrte und Ungelehrte, Berufene und Un⸗ berufene, was Chriſten und Juden ſich an dieſem herrlichen Liebesliede verſuͤndigt haben. Zweihundert Bearbeiter, Aus⸗ leger, Deuter und Umdichter dieſer uralten Judengeſchichte. Zweihundert! Und folder Bloͤdſinn darunter. Es koͤnnte einem wirklich ganz angſt und bange werden. Und Du haſt die alte Streitfrage, ob Lied oder Drama oder ſonſt was, ſo einfach geloͤſt.
Mein lieber Ker! Was biſt Du doch fuͤr ein beneidens⸗ werter Menſch! Dir iſt alles zugefallen, was es hier auf Erden von Gluͤck gibt. Du biſt Fuͤrſt, reich und Dichter! Wenn ich Dich nur wiederſehen und Dir die Hand ſchuͤtteln könnte, mein lieber Ker!
Alſo, wie geſagt, mein lieber Ker, es war eine ſchreckliche Zeit, und ich wollte mich umbringen. Da hat mir Viktor Alexandrowitſch Schröter durchgeholfen, bet dem wir früher wohnten, nicht wie ein Bruder, nein, denn Bruͤder helfen einander ſchlecht, ſondern wie ein Menſch! Der hat mich alſo durchgefuͤttert, hat ſich um mich bemuͤht und hat mir auch die Stellung hier in Wiborg verſchafft.
Ich bin jetzt drei Wochen hier, und ſehr gluͤcklich! Bei Heinrich Ahrenſee, — ein reicher Reeder, und eigentlich ſo⸗ gar ein Verwandter von mir — habe nichts zu tun, oder ſo gut wie nichts, ein paar Briefe taͤglich, ſonſt nichts. Ich ſchaͤme mich ordentlich, das Geld einzuſtecken, aber alle ſind ſehr liebenswuͤrdig gegen mich. Schade nur, daß die ganze Herrlichkeit ſo bald wieder zu Ende geht. Er iſt naͤmlich krank, immer krank und will nach Deutſchland. Wie ein
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Traum kommt mir manchmal der Gedanke, daß er mich mitnimmt. Deutſchland zu ſehen! Doch das waͤre zu viel Gluͤck fuͤr Deinen P. F. Vale! Vale! Vale!”
Peter Fuhks! da hatte ich dich ja — in Wiborg. Du treue Seele! Heute abend faͤhrt das Dampfboot. Ich ſchickte dir deinen Krimskrams. Ich ſuch“ dich auf, ſobald ich kann. Was fuͤr ein großes Gluͤck iſt doch ein freundliches Wort, und dazu ein ſo lieber Kerl — und ich habe ihn ſo ſehr vernachlaͤſſigt, habe nur an mich gedacht!
Drei Uhr.
Gott ſei Dank! — Es iſt, als wenn ich wieder aufatmen koͤnnte. — Es ſcheint ſich alles zu machen. Ich habe meine ganze Angelegenheit dem Miniſter vorgetragen; alles von Sztipann Sztipannowitſch ganz genau: vom Brand in der Gutskapelle, und daß nichts aufzufinden, vom Diakon, der ſo tut, als wuͤßte er von gar nichts, daß der Staroſt tot iſt, der Pope ſtumpf vor Alter, die Kinderfrau irgendwo ver⸗ ſchollen, vielleicht auch tot. Endlich die ganze Geſchichte vom Wechſler, und daß man den doch vielleicht zum Zeugnis zwingen koͤnnte. Ich hab“ ihm auch erzähle, wie ich vergeblich von Advokat zu Advokat gelaufen bin, und daß ich niemanden, gar niemanden habe, der mir beiſtuͤnde und dem ich mich vertrauen koͤnnte, auch die ganze laͤcherliche Geſchichte, daß eine dritte Ehe nicht guͤltig ſein ſoll — und ſo weiter!
Er war wirklich ſehr liebenswuͤrdig. Er iſt ganz erſtaunt uͤber die Geſchichte von Sztipann Sztipannowitſch und haͤlt ſie fuͤr ganz unglaublich. Er will ſelbſt perſoͤnlich eingreifen und noͤtigenfalls ohne Ruͤckſicht vorgehen. Ich ſoll ruhig reiſen. Er nimmt indeſſen meine Angelegenheiten in die Hand.
Gott ſei Dank! — endlich ein Menſch!
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Ich habe annehmen muͤſſen! Es ware geradezu beleidigend, wenn ich abgeſchlagen haͤtte.
Alſo nach Wiborg!
Um acht Uhr geht das Dampfboot. Ich habe noch vier Stunden Zeit. Ich equipiere mich unterwegs, Kopenhagen, Havre. Ich nehme von niemandem Abſchied. Sie haben ſich alle gegen mich geſtellt. Alle guten Freunde und Bekannten!
An Bord, 8 Uhr.
Eben kommen Fuhkſeus Sachen. Mein braver Haus⸗ knecht hat ſie dem gemaͤſteten Rieſen laͤcherlich billig abgejagt. Die Leute verſtehen einander. Freilich erbaͤrmliches Zeug. Ein eiſernes Bettgeſtell, zerriſſene Matratzen und Decken, eine offene Kiſte mit Noten, Buͤchern, Schreibereien, ein Buͤndel jaͤmmerlicher, abgetragener Kleider, endlich ein Korb mit leeren Flaſchen, Scherben, Stroh. Es war mir bis heute nie klar geworden, in welch peinlicher Armut der gute Kerl ſteckte. Und an dieſen Sachen hing ſeine Seele; doch wer weiß, was mir bevorſteht!
| 9 Uhr abends. gehen endlich. Es iſt ein altes Schiff, kaum ſeetuͤchtig, natuͤrlich in England gebaut; aber entſetzlich klapperig. Es ſtoͤhnte laut auf beim Abdampfen. Die zerſprungene Glocke hatte ganz vergeblich ein paarmal geſchrillt, es ließ ſich nie⸗ mand mehr heranlocken. Die erſte Kajuͤte, außer mir, leer; vorn allerlei Volk bunt durcheinauder, die Bemannung wettergebraͤunte, ſtaͤmmige Finnlaͤnder.
Um Jermak tut es mir leid, daß ich gehe, ſonſt um nie⸗ mand. — Der gute Kerl war ganz ſtarr.
Wir ſind aus dem Gewuͤhl der Dampfer und Kaͤhne hinans und gleiten, vom maͤchtigen Strom und der kraͤnklichen Ma⸗ ſchine getrieben, an den oͤden Ufern von Waſſili⸗Oſtrow vor⸗ uͤber. Die dicht aneinander gedraͤngten, rieſigen Lagerhaͤuſer
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find verſchwunden und haben einzeln ſtehenden Hatten Platz gemacht. Der weite Friedhof von Wolkowa taucht auf. Ein Wald von Kreuzen! Wieviel Tauſende liegen dort ganz friedlich nebeneinander, Schulter an Schulter! Es iſt nur gut, daß ihnen mit dem bißchen Prunk, den ſie mit ſich ins Grab genommen, auch Kraft und Macht vermodert iſt, den Naͤchſten zu beneiden und zu bekaͤmpfen. Sie alle haben ſich im Leben nach Herzensluſt verachtet und befeindet, und jetzt ſoll ein frommer Spruch auf einem Stuͤckchen Holz oder Eiſen, zu ihren Haͤupten angebracht, alles wieder gutmachen. Einige wenige moͤgen ſich auch geliebt haben — und jetzt haben alle Liebe und Haß vergeſſen! Weis iſt alle Qual auf Erden?
Auch mein Vater ruht dort in einer Gruft mit ſeinen drei Frauen. Ich habe es oft erzaͤhlen hoͤren, wie ſehr er meine Mutter geliebt hat, wie er ihr bald nachgeſtorben iſt, und wie er mich, den Juͤngſten, vor allen reichlich bedacht hat. Auf dem Totenbette hatten ihm die aͤlteren Geſchwiſter ſchwoͤren muͤſſen, mich nicht zu verlaſſen. Um Mitternacht verlangte er nach mir und ließ mich nicht mehr von ſeiner Seite. Gegen Morgen waren wir beide ſanft eingeſchlafen.
Wer weiß, was mich trifft.
ir ſind an der Muͤndung der Newa, im freien Waſſer. Die Sonne geht unter. Allmaͤhlich ſteigen die Schatten hoͤher, und Sankt Petersburg verſinkt im abendlichen Dunſt. Nur die goldene Kuppel des heiligen Iſaakiſchen Tempels blitzt noch im Sonnenlicht. Es iſt friedlich und ruhig auf dem Waſſer, ein paar Boote, Moͤwen, ein Dampfer in der Ferne, und weit im Norden am flachen, finnlaͤndiſchen Ufer die mächtigen Feuer der Lachsfifcher und das Licht des Leuchtturms. Kronſtabt. Rieſentuͤrme, niedere, granitene Walle, und aus finftern Scharten: Geſchuͤtz an Geſchuͤtz. So fletſcht
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Rußland die Zähne. Gegen wen wohl? Nun, gegen bie lieben Nachbarn und Nachbars nachbarn. — Was für ein raͤuberiſches Geſchlecht ſind doch die Menſchen! Ein Volk lauert auf das andere! Einer uͤbervorteilt den andern, auf dieſe oder jene Weiſe. Laͤßt er ſich fangen, ſo heißt er Dieb und Rauber; wiſcht er durch, fo heißt er Ehrenmann, oder Staatsrat, — oder Bankdirektor — Millionaͤr. Er iſt ganz derſelbe Schuft, er hat ſich nur nicht erwiſchen laſſen.
Es iſt eine herrliche Nacht. Einige wenige Sterne ziehen auf, aber ſie leuchten nicht, es iſt beinah ſo hell wie am Tage.
Ich ziehe es vor, auf dem Deck in freier Luft zu ſchlafen —.
Wa ſchlafen! Die letzten Tage haben mich doch mehr ans aS gegriffen, als ich mir ſelbſt geſtehen will.
Wenn es doch nur Hoͤflichkeit — nichts als Höflichkeit war — und leere Worte? — Wenn er mich nur beſchwichtigen wollte? — Nur einſchlaͤfern? — Wenn er es mit Sztipann Sztipannowitſch hielte? — Dummes Zeug! Es iſt un⸗ moͤglich. |
Ich will auf alle Fälle Peter Fuhks meine Vollmacht hinterlaſſen. Er iſt ein braver Kerl; er kennt von ſeinem Vater her die Advokatenſchliche, und wenn es noͤtig iſt, ſo greift er ein, vielleicht geſchickter als ich. Jedenfalls ſchreibt er mir, wie es ſteht. Und ich kehre noͤtigenfalls von Suez zuruͤck — deſertiere — denn wollte ich mit dem Schiff den Beſtimmungsort erreichen und vom Amur aus in aller Ordnung um Urlaub nachſuchen, ſo koͤnnte leicht ein Jahr vergehen, ehe nur die Antwort aus Petersburg ankoͤmmt.
Sich bin uͤbermuͤdet, abgefpannt; dennoch laſſen die Ges aS danken keinen Schlaf aufkommen.
Ehe ich mich ihrer erwehren kann, ſtuͤrmen Hoffnung und Verzweiflung in wildem Durcheinander auf mich ein. Soll
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ich mich dem frechen Raube fügen? Soll ich Stellung, Vers moͤgen und Namen willig aufgeben? — Nimmermehr! Nimmermehr!
Se weit war’ ich nun! Ich ſuche Philoſophie und finde nur geiſtreiche Spitzfindigkeit; ich ſehne mich nach Freunden und vergeſſe den beſten, den ich habe; ich dichte Aber Liebe und habe kein Weib gefunden, kein Weib beruͤhrt. Ich bin Fuͤrſt und — Bettler!
ir fahren in dichtem Nebel, Wiborg kann nicht mehr weit ſein. Es iſt bald drei Uhr. Die Sonne muß aufgehen.
Zweites Bu ch
Erfies Kapitel
ber dem Strande bei Wiborg liegt dichter Nebel. Milch⸗ weiß, nach kraͤftigem Meeresodem und friſchem Birken⸗ laub und bluͤhendem Graſe duftend, verdeckt er die Daͤcher und Giebel, den Hafen, die alten Mauern und Türme, die Landhaͤuſer inmitten ihrer Gaͤrten, die Irrbloͤcke und Birken⸗ gebuͤſche, die vollen Wieſen und leichten Huͤgel des nordiſchen Staͤbtchens.
Es iſt fruͤheſter Morgen, die Luft, jeder Ton, jede Lebens⸗ regung ſteht ſtill. Der feuchte, ſchwere Nebel haͤlt alles im Bann und quillt und wogt.
In einem Hauſe, das dieſer Nebel wie alles fuͤr alle Welt verborgen hat, und ſo verſteckt haͤlt, als ſtaͤnde es auf Meeres⸗ grund, ſchlaͤft noch alles!
In dem hohen, weitlaͤufigen Vorraum tickt eine Uhr in ihrem geſchnitzten, von der Diele bis zur Decke reichenden Gehaͤuſe.
Alters braune, kunſtvoll geſchnitzte Schraͤnke ſtehen an den Waͤnden, ehrwuͤrdige Geſtalten, an denen unſere wander⸗ luſtige Zeit voruͤbergezogen iſt, ohne daß ſie dieſelben von der Stelle bewegt haͤtte.
Eine breite, ſchoͤn geſchwungene Treppe, mit ſammet⸗ weichem Laͤufer belegt, fuͤhrt in den oberen Stock, ein ſchweres Gelaͤnder aus derben, birkenen Saͤulen gibt dieſer Treppe Wucht und Kraft.
Neben der Treppe zu ebener Erde fuͤhrt eine Fluͤgeltuͤr, ein altes Kunſtwerk an Einlage und Schnitzarbeit, in ein Zimmer.
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Es iſt ein hoher Raum. An die Fenſter legt ſich der Nebel, der draußen alles verhuͤllt, undurchſichtig an, wie eine Milch⸗ glasſcheibe.
In den vier Eden des Zimmers ſtehen in großen Kuͤbeln friſche Fichten mit hellgruͤnen Trieben, in der Mitte des Zimmers ein geoͤffneter Flügel.
Von der Decke herab, gerade uͤber dem Fluͤgel, haͤugt das Modell eines weißen, ſchlanken Bootes mit Flagge und Segeln, ein langer, blauer Wimpel an dem Maſte.
Zierliche Moͤbel aus ſchwarzpoliertem Holze mit feinen Kanten und Linien aus Perlmutter eingelegt.
Eine ſchoͤne Kopie der Madonna della Sedia. Das Zimmer iſt liebevoll gepflegt.
Eine Glastuͤr fuͤhrt hinaus auf die Verauda. Und an der breiten, nur von der Eingangstuͤr unterbrochenen Wand ſteht ein zierliches Bett, ein wahres Schmucklaͤſtchen. Wie die uͤbrigen Moͤbel iſt es reich mit Perlmutter ausgelegt. Vier hohe Pfeiler tragen einen Himmel, von dem ein weiches, zartfarbiges Gewebe niederfaͤllt. Das junge Geſchoͤpf, das hier im Morgenſchlummer liegt, ſteckt im Bettchen wohlig eingehuͤllt, die dicken Zöpfe ſchmiegen ſich ihr an Arm und Hals, goldig ſchimmernd. Die Haͤnde liegen ſchlafesmatt auf der Decke, ein wenig geballt zu weichen, runden Faͤuſtchen, braͤunlich von Luft und Sonne gefaͤrbt, Wetterhaͤude, die ein noch kindiſches Treiben draußen am Meeresſtrand, in Garten und Wald verraten.
Sie hat ſich bewegt, der Kopf iſt ihr jetzt ganz zuruͤck⸗ geſunken.
So liegt es ſich nicht gut, ſo kommen boͤſe Traͤume, auch am hellen Morgen!
Und richtig, da graͤbt ſich eine Falte zwiſchen den Brauen, die Stirn wird kraus, die Lippen oͤffnen ſich, Unruhe zieht uͤber das ſchlafende Geſicht, — ein . Atemzug, ein zuckendes Auffahren!
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Sie iſt jetzt wach, mit klopfendem Herzen.
Es war ihr, als waͤre ſie die breite Treppe im Hauſe herab⸗ gefallen — ſo ſchnell — ſo tief. — Nein, die Treppe war es nicht, es war etwas anderes geweſen, endlos, dunkel und unbekannt.
Es iſt ſchon heller Morgen.
Verſchlafene, noch ganz verwirrte Augen richten ſich a den Fenſtern, an die der undurchdringliche Nebel noch feucht anliegt.
Da zieht es lebendig Aber das Geſicht; das Madchen ſchluͤpft aus dem Bett, wankt noch ſchlafbefangen, oͤffnet das Fenſter, — und der Nebel zieht ein, legt ſich ihr kuͤhl und feucht an die warmen Wangen, durchdringt das leichte Nachthemd. Wie fie ſchaut! Nichts zu fehen!
Die alte, ſchwachbelaubte Birke, die ſo nahe ſteht, daß ihre Zweige auf dem Dach ruhen, ſieht ſie nicht — nichts — alles Nebel!
Kein Ton. Augenblicklich nicht. Die Voͤgel ſchlafen noch oder wagen ſich in der weißleuchtenden Daͤmmerung nicht hervor.
Und doch! — Jetzt ruft ein Kuckuck — und wieder einer, und wieder einer, fern und nah. Sie rufen wie aus Wolken heraus.
Das klingt geheimnisvoll und fremdartig! Nur Kuckucke, ſonſt nichts.
Langſam geht das junge Maͤdchen zu ihrem Bett zuruͤck, ſinkt davor auf die Knie nieder, legt das roſige Geſicht in die Kiſſen, faltet die Haͤnde und blickt friedlich vor ſich hin.
„Lieber, guter Gott“, ſagt ſie, und ſpricht in ruhiger Ge⸗ wohnheit leiſe ihr Morgengebet.
„Laß uns alle, die wir uns lieben, lange beieinander⸗ bleiben.
Meinen Vater mache mir geſund, dann iſt alles gut.
Ich moͤchte niemandem auf Erden ein Leid bringen. Ich
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möchte, daß alle mich immer liebten — und daß es bliebe, wie es jetzt if. — Wenn es doch anginge, daß wir nicht nach Deutſchland reiſten!“
Sie ſchweigt, ſchaut noch halb ſchlaͤfrig vor ſich hin, ohne ſich zu regen.
„Lieber, guter Gott, behuͤt uns alle — Amen.“
Dann ſchluͤpft fie im Nu in ihre Kleider, fo eilig, fo flink, als waͤre ihr ein guter Gedanke gekommen.
Die Zoͤpfe ſteckt ſie haſtig um den Kopf, und zwar tut ſie dies mit goldenen Haarnadeln, die ſie auf dem Tiſch vor ihrem Bette eifrig zuſammenſucht. Ein Kommodenfach ſchiebt ſie auf, und entnimmt dieſem ein weißes, zuſammen⸗ gefaltetes Tuch, haͤngt es ſich uͤber den Arm, und oͤffnet ſo ausgeruͤſtet vorſichtig die Tuͤr ihres Zimmers, haͤlt erſt Um⸗ ſchau, ehe ſie den Fuß uͤber die Schwelle ſetzt.
Es iſt noch ſtill, ſie ſchlafen alle noch. Die Uhr tickt gleich⸗ mäßig mit vollem Pendelſchlag, gerad“ über ihrem Zimmer ſchlaͤft der Vater. Sie ſchluͤpft hinauf, bleibt vor ſeiner Tuͤr ſtehen und ſtreicht wie liebkoſend daruͤber hin, dann wendet ſie ſich wieder, ſchleicht wieder herunter, ganz leiſe, aber die alten Treppenſtufen knarren doch.
Die Hausthe iſt noch geſchloſſen.
Sie verſucht ein paarmal feſter auf die Klinke zu drucken, das aͤndert aber nichts. Die Tuͤr gibt nicht nach.
Jetzt haͤlt ſie Umſchau.
„Annuſchka!“ ruft ſie mit gedaͤmpfter Stimme. „An⸗ nuſchka! da liegt ſie ja!“
Sie ſchleicht ein paar Schritt vorwaͤrts auf ein unent⸗ wirrbares Buͤndel von Kleidern, Lappen und Decken zu, das in einem Verſchlag, den einer der alten Schraͤnke mit einem Mauervorſprung bildet, liegt.
„Annuſchka, Annuſchka!“ fluͤſtert ſie, als ſie vor dem Buͤndel ſteht und zwiſchen den Kleidern und etwas zu ruͤtteln verſucht, um es zu wecken.
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„Annuſchka, Annuſchka!“
Ein Grunzen und Dehnen gibt Antwort.
Die Kleider und Decken bewegen ſich, und der Kopf eines ſchwarzhaarigen Frauenzimmers arbeitet ſich daraus hervor und ſchaut verbluͤfft um ſich.
„Wo iſt denn der Schluͤſſel, Annuſchka?“ ruft ſie und wieder⸗ holt es, als keine Antwort kommt.
„Ecke haͤngt.“
Kriſtine ſchaut um ſich.
„Wo denn?“
„Ecke haͤngt.“
Annuſchka gaͤhnt wieder.
„In welcher Ecke, Annuſchka?“
„Wo immer haͤngt.“
Kriſtine bleibt nichts uͤbrig, als die Ecke, wo Annuſchka den Schluͤſſel untergebracht hat, zu ſuchen.
Annuſchka bleibt waͤhrenddem in einer beobachtenden Stellung kauern.
„Dumm fein!” brummt fie, als Kriſtine die Ecke und den Schluͤſſel durchaus nicht finden kann, erhebt ſich endlich, langt hinter den Schrank, an dem ſie ſchlief, und nimmt den rieſigen Schluͤſſel daſelbſt hervor.
Kriſtine will ungeduldig danach greifen.
Annuſchka aber laͤßt das nicht zu, macht ſich ſelbſt auf die Beine, um aufzuſchließen.
Die kleine, unterſetzte, ſtruppige Annuſchka geht wie auf Stummeln, als waͤren ihr die Fuͤße abgeſchnitten, und dieſer ſonderbare Gang ſoll offenbar eine Art auf den Fußſpitzen ſchleichen vorſtellen.
Annuſchka it ruͤckſichtsvoll und will ihre Herrſchaft nicht zu fruͤhzeitig wecken.
„Weshalb heraus? Weshalb Leute wecken?“ fragt fie un⸗ zufrieden. „Haus ſchlaͤft.“
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Jetzt öffnet Annuſchka die Haustuͤr, der Nebel wogt dicht und weich und lau. Man tritt wie auf den Boden des Meeres hinaus.
„Immer dummes Zeig!” ſagt Annuſchka.
Kriſtine iſt mitten im Nebel drin. Die Tuͤr ſchließt ſich hinter ihr.
Da ſteht ſte, umgeben von gleichmaͤßig weißem Dunſt, durch den, wie ſie es vorhin vom Fenſter aus hoͤrte, die Kuckucke rufen von nah und fern.
Kriſtine bleibt eine Weile ruhig, da raſſelt etwas, klirrt, klappert, bewegt ſich, da kommt etwas angeſprungen, da ſchimmert es dunkel. Sie erſchrickt, da rennt es haarig, naß, mit luſtigem Stoß an fie an. Das iſt der Kettenhund, der große Schlingel.
Sein maͤchtiger Kopf, ſeine naſſe Naſe ſchnuͤffelt und ſtoͤßt. Er hebt die braune Pfote, ſein Schwanz, ſeine Hinterbeine wirtſchaften im Nebel, und ſo begruͤßt er die junge Herrin, die beinah befangen und beklommen in dem Dunſte ſteht.
Jetzt geht ſie langſam weiter.
Wie fremd erſcheint ihr alles! Der bleiche, feine Seeſand, der die Wege bedeckt, iſt in ſeiner oberen Schicht feucht und feſter geworden, bei jedem Schritt aber quillt es hervor, trocken und hell. Es hat nicht geregnet, und alles iſt nur vom Nebel feucht durchſogen.
Jetzt ragt der maͤchtige, gruͤn bemooſte Granitblock vor ihr auf, um den ſtehen dichte Wacholderbuͤſche, einer jener erratiſchen Bloͤcke, die zu Tauſenden über das Land verſtreut liegen, von der finnlaͤndiſchen Kuͤſte an bis tief hinein in das Herz Deutſchlands.
Er erſcheint ihr ſo maͤchtig, ſo unbekannt.
Einſam fuͤhlt ſie ſich, die ganze Welt verſunken, in Nebel gehuͤllt nur der Felſen, und tropfender, ſtarrer Wacholder.
Wenn jetzt ein Wolf kaͤme! faͤhrt es ihr durch den Kopf, wenn der ſo auftauchte wie vorhin der Hund. Ja wenn es
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Winter wäre, da kommt es ſchon vor, daß die Wölfe ſich bis hierher wagen. Von der Gartenmauer aus hatten die Wi⸗ borger Vettern noch letzten Winter auf Woͤlfe geſchoſſen, — aber jetzt im Sommer!
Es war wohl auch anderes, das fie färchtete, das fie bes klommen machte, Unbeſtimmtes, Raͤtſelhaftes. Auf die Lange wirkte das unſichere Wandeln in dem gleichmaͤßigen Nebel bedruͤckend geſpenſtiſch, und der unaufhoͤrlich wiederholte Ruf des Kuckucks aus der Ferne machte ihr das Herz lopfen.
Im Hauſe ſchlaͤft noch alles.
Wenn doch der Vater, geht es ihr wieder durch den Kopf, eines Tages ganz geſund aufwachen moͤchte!
Weshalb denn nicht? — Alles kann geſchehen.
Das morgenfriſche Maͤdchen geht, nachdem der Schauer, den das ungewohnte Gefuͤhl der Vereinſamung, des Ab⸗ geſchiedenſeins uͤber ihre Seele hingezogen iſt, in friſcher Lebensluſt weiter; fie laͤuft jetzt in den Nebel hinein.
Der weiche, ſandige Weg fuͤhrt abwaͤrts. Hier und da funkelt es in weiteſter Ferne wie Sonne auf. Die Nebel⸗ maſſen werden landeinwaͤrts lichter und ballen ſich über der See.
Die Baumſpitzen ſchimmern hier und da wie aus weißen, dichten Schleiern. Es leuchtet auf.
Aber auf der See liegt es noch weiß und ſchwer, nur die erſten glitzernden Wellen, die zu der ſchoͤngeſchwungenen Bucht lautlos gleiten, blitzen ſchon von Sonnenlichtern auf. Ein weicher Wind laͤßt das Schilf, das am Strand bis in die ſeichten Wellen hineinwaͤchſt, leiſe aneinanderſtreichen, daß es wiſpert und ſcharftoͤnend rauſcht. Das Waſſer iſt hier ohne Salzgehalt, leicht wie das eines Binnenſees. Die Wellen haben den feuchten Strand entlang eine dunkle Linie aus Schilfſtuͤcken, Muſcheln und dunkeln Holzteilen gebildet, die ſich ihrem immer wiederkehrenden, leuchtenden Bogen an⸗
ſchmiegt. 266
Scharen kleiner Strandlaufer fliegen auf, verſchwinden in Nebelſchleiern. Andere laſſen ſich wieder nieder, um ſich bald wieder zu erheben und nah am Boden und den flachen Wellen hinzuſtreichen, bald im Dunſt verſchwindend, bald auftauchend. Sonnenblitze ſchießen durch weiße Nebelfetzen. Jetzt kommt das Madden dem Strande immer näher.
Sie hat mit Laufen innegehalten, aber ihr Gang laͤßt ſich nicht ſogleich zur Vernunft bringen, er hat etwas Hapfendes, Elaſtiſches.
Der Weg fuͤhrt eine Duͤne hinab. :
Da gleitet fie beinahe wie von felbft in dem feinen nach⸗ giebigen Sande. Das weiße Tuch, das ſie uͤber die Schulter gelegt hat, ſchleift ihr nach.
Ein Brett iſt in das Waſſer hineingebaut, um die Boote bequem zu landen, und einige Boote liegen hier verankert, jedes zweimal, an der Spitze und dem Steuer. Sie ſteht auf dem Brett und ſchaut um ſich.
Das Schilf wiſpert, die filberhellen Wellchen kluckſen an die eingerammten Pfaͤhle, die Boote ſchaukeln kaum merk⸗ lich von einer Seite zur andern, ſchlupp — ſchlapp. An eines der Boote ſtoͤßt ſie mit dem Fuß, daß es ins Schaukeln kommt, ſtoͤßt es an wie einen guten Kameraden.
Kylliki ſteht vorn auf dem weißen Stern. Es iſt ihr Eigen⸗
tum, ſie hat es ſelbſt getauft nach der Heldin des finniſchen Epos. Jetzt nimmt ſie das Tuch von der Schulter, geht auf dem Brette zuruͤck, auf einen der Granitbloͤcke zu, deſſen Kuppe von ſcharfem, dunkelm Gras ganz uͤberwachſen iſt — dorf legt ſie ihr Tuch nieder.
Nicht weit von dieſem Blocke, in das Waſſer hinaus⸗ gebaut, nahe dem Stege, ſteht ein kleines Badehaus. Sie ſchluͤpft aber hier aus dem Kleide, zieht Schuh und Struͤmpfe von den Fuͤßen, ſchluͤpft aus dem Rock, dem Hemd ſo flink, wie ſie vordem hineingekrochen — und ſteht da am Meeres⸗
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ſtrande, umwogt von Nebel wie die uralte Göttin, jung und herrlich.
Ruhig und ſchlank aufgerichtet, das Haar im Gehen feſter um den Kopf windend, wandelt ſie dem Waſſer zu, die Luft umſpielt ſie feucht und warm. Sie tritt ins klare Waſſer, und ein koͤſtlicher Friede liegt auf dem Geſicht des wunder⸗ vollen Geſchoͤpfes.
Sie fühlt ſich wohl. Sonne und Nebel kaͤmpfen um ſie her. Die volle Jugend iſt über fie ausgebreitet, deren ganze Kraft und Friſche und Leichtigkeit.
Sie geht weiter und weiter, die klaren Wellen reichen ihr bis an die Bruſt.
Sie fühlt ſich hier ſicher wie in ihrem Element, kennt jeden Stein zu ihren Füßen, jede Untiefe iſt ihr vertraut. Jetzt laßt fle die Füße ſich vom Grunde erheben und ſchwebt leicht gelaſſen uͤber der Tiefe. |
In der ſtillen Bucht iſt die obere Waſſerſchicht warm, wie lauer Tee ſo weich, ſpielt ſie an Hals und Lippen an, und tiefer iſt das Waſſer herzhaft friſch.
Wieder voͤllige Stille und Einſamkeit am Strande, die Boote ſchluppen langſam von einer Seite zur andern, die Strandlaͤufer ſchwaͤrmen ungeſtoͤrt. Die junge Goͤttin, die hier dem Waſſer zuwandelte, in den klaren Wellen hinſank, iſt weit hinaus ins Meer, und dichte Nebelſchleier liegen über ihr.
Andeſſen wandert durch den Garten eine zweite Geſtalt, ad noch jugendlich ſtramm, eine huͤbſche Perfon in einem ſtaubfarbenen, prall anſchließenden Kleid. Sie hat einen feſten energiſchen Schritt.
Das iſt Mathilde Swenſen, eine Verwandte aus Deutſch⸗ land, die hier zu Beſuch iſt. Sie hale wenig Umſchau und geht einem beſtimmten Ziele zu.
Mehr und mehr it der Nebel geſunken, Birken, nichts als Birken, wohin man ſieht, und hohes bluͤhendes Gras.
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Der Garten mochte in einem Birkengehoͤlz angelegt wor⸗ den ſein.
Bequeme breite Wege, auch wohl ein Kieferchen, eine Fichtengruppe, Eichengebuͤſch, breite Raſenflaͤchen.
Um die Findlingsbloͤcke, die der See zu in großer Zahl liegen, iſt Wacholder gewuchert und das feſte ſtraffe Gras.
Ein paar Beete mit Blumen vor dem Hauſe abgerechnet, iſt der parkartige Garten fich ziemlich ſelbſt uͤberlaſſen ge⸗ blieben, wie die Natur ihn geſchaffen, nur die Wege ſind ſorgfaͤltig inſtandgehalten.
„Tina!“ ruft Mathilde Swenſen. „Tina! Um Gottes willen, Tina!“
„Was fuͤr ein Geſchrei!“ murmeln zwei feuchte Lippen aͤrgerlich waͤhrend des Schwimmens, und in dem gold⸗ funkelnden Waſſerſtreif nach dem Strande taucht ein blonder Kopf auf, glaͤnzende Schultern, eine roſige junge Bruſt.
„Tina! Tina!“ ruft Mathilde Swenſen wieder.
„Kriſtine heiß“ ich“, antwortete das naſſe, friſche Ges ſchoͤpf aͤrgerlich aus dem Waſſer heraus.
Jetzt ſind ſie ſich beide einander gegenuͤber, die Staubfarbene und der roſige Fiſch, der im ſeichten Waſſer auf dem ſeiden⸗ weichen Sand liegt, mit den Armen aufgeſtuͤtzt. An die runden Schultern plaͤtſchern die durchleuchteten Wellchen an.
„Aber Tina!“ ſagt Mathilde, „ſo fruͤh zu baden!“
„Kriſtine heiß“ ich, hoͤrſt du denn nicht? Wirſt du dir's endlich merken? Gib mir mein Badetuch.“
Mathilde geht, um es zu holen. Als fie damit zurückkehrt, ſteht Kriſtine nur mit einem Fuße noch im Waſſer und ſtreckt die Haͤnde gelaſſen nach dem Tuche aus.
„Mein Gott, wie biſt du ſchoͤn!“ ſagt Mathilde Swenſen in einem eigentuͤmlichen Ton.
„Das geht keinen Menſchen etwas an, wie ich bin“.
„Meinetwegen geht's keinen Menſchen etwas an, wie du bi, ausgenommen deinen Zukuͤnftigen!“
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Da trifft fie ein erſtaunter Blick aus zwei Haren, blauen Augen.
„Man muß ſo nicht ſprechen“, ſagt die feuchte Kreatur auf eine unbeholfene Weiſe.
Mathilde Swenſen lacht.
„Ach, Kriſtine, was biſt du fuͤr ein Kind, ihr ſeid hier alle hundert Jahr zuruͤck.“
„Oho!“ ſagt Kriſtine. „Ganz etwas Neues! Übrigens weiß mein Vater, daß ich ihn nie und nimmer verlaſſe — mein Vater glaubt an mich — und Mama ebenſo —.“
Mathilde laͤchelt. „Und nie und nimmer verlaſſe! — ſagen alle Maͤdchen. — Alſo immer Fraͤulein Tina?“
Kriſtine iſt inzwiſchen in ihren Rock geſchluͤpft und wirft das Kleid uͤber.
„Kriſtine!“ ruft ſie ungeduldig.
„Gut, alſo Fraͤulein Kriſtine.“
„Freiſel Kriſtine.“
„Was iſt denn das?“
„Freiſel Kriſtine“, wiederholte das junge Madden ruhig.
„Verſtehſt du,, Freiſel“ heißt 's, Freiſeel' mußt“ es eigentlich heißen, für die dummen Leute, daß ſie's verſtehn — aber fie brauchen's nicht zu verſtehen. Frei⸗Seele heißt es, weißt du, in zwei Worten; aber im Gebrauch iſt's „Freiſel“ Kriſtine.“
„Und was foll’8 denn damit?“
„Na, was ſoll's damit?“
„Was du für Ideen haft?“
Mathilde Swenſen will Kriſtinen aus dem Buche vor⸗ leſen, das ſie auf ihrem Morgenſpaziergang begleitet hat. Dantes Hoͤlle; aber Kriſtine wuͤnſcht das nicht. Sie meint, daß es dazu viel zu früh jetzt fet.
„Du mußt ſie lieben lernen,“ ruft Mathilde nach einer Weile, „das iſt wahre Philoſophie!“
„Geh,“ ſagt Kriſtine, „ich habe hineingeſehen. Solche Bücher machen die Menſchen boͤs und dumm; wenn die Menſchen
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leſen, daß Gott fo grauſam und bbs iſt — fo werden fie denken: Weshalb follen wir beſſer als er fein?”
„Das ſchlimmſte iſt,“ ſagt ſie nach einer Weile, „wenn das Dumme und Boͤſe prachtvoll geſagt iſt.“
Kriſtine geht vor Mathilden her, dem Garten wieder zu.
Als ſie unter die Birken tritt, bleibt ſie ſtehen, wendet ſich um und blickt ruhig hinaus auf das jetzt klar leuchtende Meer. Ein Dampfſchiff zieht in der Ferne über die ſpiegelglatte Flaͤche und laͤßt einen langen, ſchmalen Rauchſtreifen hinter
ſich.
„Ich glaube,“ ſagt Kriſtine, „es iſt das Schiff aus Peters⸗ burg.“
Jetzt gehen ſie dem Hauſe zu.
Ihnen entgegen kommt ein leicht gebeugt gehender Mann.
„Papachen!“ ruft Kriſtine, wirft Mathilden das Badetuch zu und laͤuft.
„Guten Morgen, mein Herz, guten Morgen“, ſagt er, als er ſie in den Armen aufgefangen hat.
Sein Haar iſt ergraut, das hagere Geſicht macht einen leidenden Eindruck.
„Gut geſchlafen? Sag“ mir, wie es dir geht?“ fragt fie; „aber ſage es auch“, fragt ſie dringlich, als er nicht augen⸗ blicklich auf ihr ſtuͤrmiſches Fragen antwortet.
„Ja, mein Herz, recht gut.“
Er begruͤßt ſich mit Mathilden.
Kriſtine aber bleibt waͤhrenddem ruhig an ſeinem Halſe haͤngen.
Ihr Kopf lehnt an des Vaters Bruſt, der ihre Zaͤrt⸗ lichkeit mit dem ſicheren Gefühl, das die Gewohnheit gibt, duldet.
„Ich bin heute gehoͤrig weit hinausgeſchwommen, Papa⸗ chen“, ſagt ſie.
„Sei vorſichtig, nicht gedankenlos, dann iſt's ſchon gut.“
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Mathilde Swenſen ſchuͤttelte den Kopf darüber, daß der Vater es nicht fuͤr angemeſſen haͤlt, ihr das Baden in offener See zu unterſagen.
„Habt ihr denn ſchon Tee getrunken?“
„Gott bewahre!“
„Alſo geht, ich komme mit euch.“
„Dir iſt es alſo beſſer“, ſagt Kriſtine und ſchmiegt ſich enger an den Vater an, legt den Arm, waͤhrend ſie gehen, um ihn.
„dir iſt's gut?“ Ihre Fragen haben etwas uͤberſprudelnd Zaͤrtliches.
„Ja“, ſagt er mit einem leichten, wehmuͤtigen Lächeln. „Alſo, ja!“ ruft Kriſtine, und beginnt, am Arm ihres Vaters haͤngend, in die blaue Luft hinauszuſingen, dabei tritt fie, im Takt wie ein junges Füllen ſtampfend, auf und ſingt: Haus und Feld und reiche Herden, Unermeßlich weite Waͤlder Gibt mein Vater mir zur Mitgift. Ich bin reich und ſchoͤn und ade’ mich Einer Koͤnigstochter gleich! Ebeubuͤrtig will ich meinen Gatten!“
„Laß deine Kylliki in Ruh“!“ ſagt Heinrich Ahrenſee, „fruͤh⸗ ſtůck erſt.“
Zweites Kapitel
¢ ie Familie ſitzt auf der Veranda vor dem Wohnzimmer, der Teetiſch iſt wieder gedeckt. Der Samowar ſummt. Es iſt nachmittags fünf Uhr.
Frau Ahrenſee haͤlt die ſilberne Kanne unter den kochenden Waſſerſtrahl.
Das zarte Aroma des Tees, auf den das Waſſer nieder⸗ dampft, erfuͤllt die Luft.
Zu dieſer Stunde tritt Peter Fuhks ein.
Peter Fuhks iſt ein weitlaͤufiger Vetter der Ahrenſees und Privatſekretaͤr ſeines reichen Verwandten.
Herr Ahrenſee hat die ererbte Reederei, die ſchon ſein Vater, ein eingewanderter Deutſcher, begruͤndete, kuͤrzlich aufgegeben und hat ſich ganz auf ſeinen Landſitz zuruͤck⸗ gezogen und verwaltet feinen weitläufigen Grundbeſitz.
„Nun, lieber Fuhks, was bringen Sie?“
Peter Fuhks verbeugt ſich fuͤrs erſte außerordentlich achtungsvoll gegen die Damen, gibt einen Brief ab und faͤhrt ſich gedankenvoll mit der Hand uͤber den Mund.
Frau Ahrenſee bietet ihm eine Taſſe Tee an.
„Wiſſen Sie,“ ſagt Peter Fuhks auf eine etwas unge⸗ ſchickte, ungelenke Weiſe zu Frau Ahrenſee gewendet: „Es iſt heute jemand angekommen. Ich bin ſehr uͤberraſcht und erfreut. — Ich haͤtte ihn gleich mitgebracht, aber er hatte zu ſchreiben, zu tun hatte er, zu tun.“
„Wer denn?“ fragt Kriſtine.
„Hab' ich es nicht geſagt?“ ſagt Fuhks leicht verlegen — „mein lieber Ker iſt gekommen.“
„Ihr lieber Ker?“ rufen Kriſtine und Mathilde zugleich. Und Mathilde laͤchelt ein klein wenig erhaben.
„Iſt er denn aus den Wolken gefallen?“ fragt Kriſtine.
„Jetzt lernen wir Ihr Wunder alſo kennen?“ ſetzt Mathilde hinzu. |
18 Böhlau III. 273
„Ein Wunder iſt er nicht, mein Freund Ker, ich habe dies nie geſagt, fontel ich weiß. Ich möchte ihm nie ſchaden, man ſchadet damit, wenn man einen Menſchen uͤber die Ge⸗ buͤhr lobt.“
Peter Fuhks fuhr ſich mit der Hand wieder uͤber den Mund. Das war ſo ſeine Angewohnheit, das tat er nach jeder einiger⸗ maßen auffaͤlligen Rede, die er zuſtande brachte.
„Er iſt mir vollkommen uͤberraſchend gekommen — voll kommen uͤberraſchend. Er iſt mit dem Schiff aus Petersburg gekommen. Schade, daß ich ihn nicht bringen konnte.“
„Wie iſt denn Ihr Freund?“ frug Kriſtine. „Wie ſoll ich ſagen?“ fie zoͤgerte, „iſt er fo wie Sie?“
„Nein, nein,“ ſagte Fuhks eifrig, „nicht wie ich, gar nicht fo.” :
„Schade, daß er nicht kommt, ich glaube, er iſt eigens ſinnig.“ Dieſe Worte begleitete Peter Fuhks mit einem wahr⸗ haft truͤbſeligen Geſicht.
„Ich haͤtte ihn ſo außerordentlich gern mit Ihnen bekannt gemacht.“
your meinen Briefwechſel mit ihm ware mir das von groͤßtem Vorteil geweſen.“
Frau Ahrenſee laͤchelte.
„Nun, iſt es Ihnen denn nicht moͤglich, ihn zu be⸗ wegen?“ |
Peter Fuhks aber erſchien wahrhaft verſtimmt und mochte nur gekommen ſein, um ſeinem Herzen Luft zu machen.
Man ſprach Peter Fuhks zuliebe teilnehmend von dieſem Thema weiter.
„Er kommt aus Deutſchland, von der Untverfität Jena“, wendete er ſich an Frau Ahrenſee. „Er kennt Ihre Frau Tochter.“
„Und kommt nicht?“ frug ſie verwundert.
„Nein“, ſagte Fuhks ſchwermuͤtig.
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„Aus Jena?“ rief Mathilde. „Ja, da muͤßte ich ihn doch kennen? — Ihr Wunder? Ker? — nicht wahr? Ker? ſagten Sie. Wate nicht.“
„Dmitri Ker⸗Aſowsky.“
„Was?“ rief Fraulein Mathilde, „der „Fuͤrſt“? der reiche Student? Freilich hab’ ich von dem gehört! Meine Freundin hat mir von ihm geſchrieben. Er ſoll ja ſchauderhaften Auf⸗ wand treiben. Zwei Reitpferde! Und der ſoll Ihr Freund fein 2”
„Ja, mein Freund! mein Schulfreund“, ſagte Peter Fuhks und ſtrahlte vor Stolz. „Aber“, fuͤgte er, wie fuͤr ſich ſprechend, hinzu, „ich glaube, er iſt etwas krank. Er ſpricht nicht, er iſt ſo fill,“
„Das tft doch merkwuͤrdig, ihm hier zu begegnen“, meinte Mathilde. :
„Eigentlich wohl: nicht begegnen“, ſagte Frau Ahrenſee, auf Peter Fuhks blickend.
„Iſt fuͤr mich etwas zu erledigen?“ frug er dienſtbereit, die Haͤnde reibend, indem er auf Herrn Ahrenſee blickte.
„Nein, mein Lieber, ſolange Sie Ihren Freund bei ſich haben, ſollen Sie vollends frei ſein.“
„Bewahre,“ ſagte Fuhks, „bewahre, ich werde mich immer einfinden. Er hat ja zu tun, er hat zu tun.“
„Nun,“ meinte Herr Ahrenſee, „ſollte er aber einmal nichts zu tun haben, ſo vergeſſen Sie nicht, daß ich keinerlei An⸗ ſpruͤche an Sie mache.“
Peter Fuhks verbeugte ſich abermals. „Sie find ſehr guͤtig“, erwiderte er langſam, verbeugte ſich wieder und empfahl ſich.
Als er gegangen war, ſagte Ahrenſee: „Der gute Burſche wollte uns ſeine Not klagen; er war wie verwirrt vor Freude, als er mir heute morgen ſchon ankuͤndigte, daß ſein lieber Ker gekommen iſt — und nun ſcheint es ihm in allen Ecken nicht recht zu ſein.“
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„Wie kann der liebe Ker“, ſagte Mathilde, „Freundſchaft für dieſen Menſchen gefaßt haben? Unbegreiflich!“
„Nichts auf meinen Fuhks, Mathilde“, ſagte Ahrenſee. „Ihr kennt ihn nicht. Er gib ſich anders als er iſt. Er iſt ver⸗ legen und unbeholfen.“
„Das ſchadet nichts“, ſagte Kriſtine.
„Hoͤr einmal,“ begann Mathilde lebhaft, „du ſollteſt dich eigentlich revanchieren, du haſt ihm neulich ſeinen dummen Spatz fortfliegen laſſen —“
„Mathilde!“ unterbrach ſie Kriſtine beinahe ſchmerzlich, „das war kein Spatz. Das war eine Lerche, ein Maͤnnchen, und konnte fingen, und er hatte fie ſich gekauft, der arme Menſch, und brachte ſie voller Freude; aber ich kann es nicht ſehen, wenn ſo ein armes Geſchoͤpf im Kaͤfig ſitzt.“
„Spatz oder nicht Spatz“, ſagte Mathilde lachend. „Ich bin in der Naturgeſchichte nicht bewandert. Goethe kannte auch keine Lerchen. Was meinſt du, wenn wir ſelbſt Fuhks mit ſeinem lieben Ker hierher holten.“
„Willſt du das wirklich Fuhks zuliebe tun?“ ſagte Kriſtine wie erſtaunt.
„Sollen wir's?“ wendete fie ſich an ihren Vater.
„Wenn ihr meint, ja. Fragt nur unten im alten Waren⸗ lager nach Fuhks, er wird in ſeinem Turme ſitzen, oder ruht, er wird euch ſchon hören.“
Drittes Kapitel
Wndeſſen hatte Peter Fuhks feinen Freund wieder aufge⸗ as ſucht. Er hatte die Thre vorſichtig geöffnet und war zaghaft eingetreten, als waͤre das Zimmer nicht mehr ſein eigenes. Ker hatte den Rock ausgezogen, ſaß am offenen Fenſter und kratzte auf Fuhkſens Geige.
„Wie befindeſt du dich?“ frug Fuhks in feiner langſamen foͤrmlichen Weiſe.
„Ich habe dir hier deinen Krimskrams mitgebracht“, ſagte Ker, ohne von der Geige aufzublicken.
Sie hatten mittlerweile das ſonderbare Reiſegepaͤck, das aus alten Koͤrben, die mit allerlei Hausratwuſt gefuͤllt waren, aus dem Schiffe heraufgebracht.
Fuhks ſtuͤrzte darauf zu. „Wahrhaftig,“ rief er, „da find die Sachen.“ Und er begann ſogleich zu kramen und richtete eine große Wuͤhlerei an. Alte Kleider quollen unter ſeinen emſigen Fingern aus alten Buͤndeln. Ein verſchabtes Hand⸗ beschen fiel auf den Boden. Fuhks hob es gleich auf und blickte es nachdenklich von allen Seiten an. — „Ich weiß gar nicht,“ ſagte er, „ob das auch wirklich das unſrige iſt. Ich meine, das haͤtte keinen roͤtlichen Streif um den Rand gehabt.“
Ker blickte laͤchelnd auf ſeinen Freund. Da polterten Flaſchen, in granes, verſtaubtes Stroh gehuͤllt, aus einem zerſchliſſenen Korbe, verroſtete Blechbuͤchſen kommen zum Vor⸗ ſchein, ein paar abgeſtoßene Teller, ein Salzfaß, zwei Taſſen ohne Henkel, ein verworrenes Knaͤuel ſchmutziger Faͤden.
„Mein Gott,“ ſagte Fuhks, „was bedarf der Menſch alles zum Leben!“
Es roch jetzt im Zimmer nach feuchtgeweſenem alten Staub.
„Nein, daß du den Krimskrams mir mitgebracht haſt! Als wenn du wuͤßteſt, daß mein Herz daran haͤngt, an dem
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alten Zeug, als wenn du das verſtehen koͤnnteſt, daß der alte Plunder mir ſo teuer iſt wie meine Heimat! Ja daß er eigentlich meine einzige wahre Heimat iſt! Vaterhaus und alles!“
Fuhks ſprach dieſen armſeligen Begriff, den er von Heimat und Vaterhaus hatte, aͤußerſt heiter aus.
„Wo iſt denn aber —!“ rief er mit einem Male aus, „ich hatte doch das Beſte ganz nach unten geſteckt?“ —
Fuhks taſtete zwiſchen den Sachen, wuͤhlte wie ein Maul⸗ wurf und foͤrderte ein paar vergriffene Baͤnde zutage.
„Aber weißt du, — dieſer Haus wirt!“ rief er außer ſich, „it ein Schwein, ſozuſagen, es fehlt ihm überhaupt alles Herz. Es iſt gar nicht uͤber ihn zu reden. Er liegt außerhalb von alledem, woruͤber ein anſtaͤndiger Menſch reden darf! — Nein! — wenn ich dir ſage: — da hat er dein Indenlied bes halten! — natürlich Ker!“ — Fuhks (haute ganz verwirrt. — „Nein! doch nicht! — Sottlob!“
Fuhks hatte wütend gewählt, war ganz in Staub gehuͤllt.
„Da iſt's!“ rief er gluͤckſelig. „Ker, unſer Beſtes! Das Judenlied. Unſer Hohes Lied. Weißt du, in deiner runden, herrlichen Stube haſt du es mir vorgeleſen — weißt du noch?
— Und du kannſt denken, wie ich gerannt bin, um das wenigſtens herauszubekommen von der Hundeſeele. — Ja was denkſt du, ausgeſpuckt hat er — der —
Nichts herausgegeben hat er.“
Fuhks ſchlug die kleine Mappe auf und brummte unge⸗ ſchickt und bewegt vor ſich hin:
„Wer iſt es, die hervorſchimmert unter den Roſenbuͤſchen,
ſchoͤn wie die Morgenroͤte
und wie das erſte Licht des Tages unter den Palmen im Tal?
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Ach, Ker, was biſt du doch für ein glüdlicher Menſch!“
Er hatte in ſeinem Eifer gar nicht auf den Freund geachtet, der in ſich verſunken ſaß, immer noch Geige und Bogen haltend, und der ſich jetzt haſtig erhob und mit von innerem Kampf verzogenen Lippen ſagte:
„Laß das! Gluͤcklich ſagſt du? Ich bin Bettler!“ —
Fuhks ſtarrte ihn ganz verbluͤfft an. |
Er machte keine Anſtalten, fein Mienenſpiel zu ändern,
„Sie haben mich betrogen,“ ſagte Ker weiter, „ich habe nichts mehr. Fuhks, es kann fein, daß du mir helfen mußt — es wird fo fein.” —
Ker ſuchte in ſeiner Bruſttaſche, nahm ein zuſammen⸗ gefaltetes Papier auseinander und legte es auf den Tiſch.
„Lies dies! Es iſt eine Vollmacht, die dir das Recht gibt, mich in meiner Sache zu vertreten. Ich ſelbſt muß fort — bab’ mich ſchon verkauft. Mit allem, was ich wollte, iſt's zu Ende — fuͤr immer zu Ende. Du wirſt mich ſchon be⸗ greifen.“
Ker ſprach mit ſchwer erregter Stimme in abgeriſſenen Saͤtzen.
Aber Fuhks begriff nichts, ſondern ſtarrte den Freund an.
„Hier iſt, was ich noch an Geld habe — es iſt ziemlich viel. Ich brauche jetzt nichts, ich habe ja Gehalt!“ rief Ker hoͤhnend, „und wenn es nicht genug iff, den Prozeß gu führen, verkauf alles hier und in Jena. Ich habe dort Pferde, die Einrichtung, die Bibliothek und die Yachten, Boote, meine Sammlungen, was du herausbekommen kannſt, Kleider, Pelze, auch noch einigen Schmuck von Mama, alles, alles! Du lebſt davon, ſoviel du brauchſt. — Vielleicht iſt alles nicht genug. — Ich haͤtte gern deinen Vater gehoͤrt.
Er iſt jaͤmmerlich zugrunde gegangen,“ fuhr er fort, „du haſt ihm und dir nicht helfen koͤnnen! Das Schickſal laͤßt ſich nicht ins Handwerk pfuſchen. Es kann mitleidige Helfer nicht
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leiden — läßt fie arm fein — oder macht fie arm. — Wie dich armen Kerl, und jetzt auch mich. — Mit dem Geld iſt mir meine Kraft genommen und meine Ziele; nicht das Freſſen und Saufen, ſo viel werde ich ſchon finden, um mich ſatt zu machen. — Das iſt es nicht, was mich aͤngſtigt, wahr; haftig nicht!“
Fuhks hatte wie verwirrt ſeinen Freund reden gehoͤrt. „Lieber, lieber Ker“, rief er jetzt und legte ſeinem Freund beide Haͤnde auf die Schultern. „Du kommſt, um bei mir Troſt zu ſuchen für etwas, was dir geſchehen it. — Ach, mein lieber Ker, wie gluͤcklich und ungluͤcklich bin ich darüber. — Ja, du haſt recht, die Leute, die ſo recht von ganzem Herzen helfen moͤchten, die ſind immer arm und elend — wenigſtens arm, wie ich, denn elend bin ich nicht — mir geht's recht wohl; aber dir, mein lieber Ker, was iſt dir geſchehn? Sprich mit mir, fag’ mir alles und jedes — und am Helfenwollen ſoll's nicht fehlen, das weißt du. Aber was ſoll ich tun?“ frug er aͤngſtlich.
Ker druͤckte ihm beide Haͤnde.
Und nun erzaͤhlte Ker erregt alles, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war. |
Peter Fuhks war feinem Freunde aufmerkſam gefolgt, weit mehr als aufmerkſam, ganz hingebend. |
Peter Fuhks konnte zuhören, wenn ein anderer von fid ſprach — ganz unſelbſtſuͤchtig zuhoͤren. |
Einem Neuling im Leben ſcheint das nicht viel — ‚zuhören‘ | als wenn das helfen oder troͤſten könnte! zuhoͤren! als wenn das irgend etwas bedeutete!
Nicht etwa ein Zuhoͤren, wie man es wohl findet, wo Hoͤf⸗ lichkeit geuͤbt wird und ein jeder abgerichtet iſt, ein aufmerk⸗ ſames Geſicht zu ziehen.
Nein, anders — mit ganzer Seele, ſich ſelbſt vergeſſend, aufgehend in den andern, die eigene Machtloſigkeit ver⸗ wuͤnſchend, ganz hilfebereit und opferbereit, ganz Mitgefühl.
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Solch einen Zuhörer hatte Ker. Was Wunder, daß er in der boͤſen Lage, in der er ſich befand, zu dieſem Freund gereiſt war. Unzaͤhlige Male fuhr ſich Peter Fuhks uͤber den Mund, mitfuͤhlend, oder bedauernd, oder veraͤchtlich, oder uͤberein⸗ ſtimmend, oder im edelſten Zorn, in der Erkenntnis, wie uͤbel man ſeinem lieben Ker mitgeſpielt.
Und er wußte nicht zu helfen, er wußte nicht.
Ratlos hatte er in dem aͤrmlichen Stuͤbchen Umſchau ge⸗ halten, ſeine Blicke hatten an dem eingeſeſſenen, zerſchliſſenen Sofachen gehangen, deſſen halbes Polſter auf der Erde auflag.
Die Blicke blieben an dem Buͤchergeſtell haͤngen, das er ſich ſelbſt aus einem Brett und Bindfaden zuſammengeknuͤpft hatte; an den kahlen Rohrſeſſeln, dem Tiſch mit gruͤnem Wachstuch uͤberzogen, an ſeinem wundervollen Baͤrenfell, das er mitſamt der Geige als einziges Beſitztum aus dem Zuſammenſturz ſeines fruͤheren Heims ſich gerettet hatte. Und waͤhrend ſeine Blicke auf dem Baͤrenfell ruhten, ging mit dieſem eine Wandlung vor. Es war mit einem Male nicht mehr Peter Fuhkſens Barenfell, — Fuhks hatte es ſeinem Ker ſoeben in ſeinen Gedanken feierlich geſchenkt. Ker ſollte es haben — ſollte es mitnehmen.
Das war das einzige, was er jetzt fuͤr ihn tun konnte.
Ker wußte von dieſer liebevollen Schenkung freilich noch nichts. Aber er hatte dennoch ſoeben das einzige wertvolle Eigentum eines armen Menſchen geſchenkt erhalten.
Fuhks ſaß vorgeneigt auf einem ſtrohgeflochtenen Seſſel. Sein ſtraffes Haar fiel ihm wie immer, wenn er gebuͤckt ſaß, in zuſammenhaͤngenden Straͤhnen aber die Ohren. Und dieſe Ohren wurden bei jeder Gemuͤtsbewegung rot, und wenn ſein Gemuͤt bewegt war, hielt er ſich immer gebuͤckt. |
Und jetzt war er tief bewegt und rotohrig und in {ich gus ſammengeſunken. Wenig Vertrauen erweckend fuͤr einen
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Menſchen, der energiſch handeln foll, — der feinem Freund, wie Peter Fuhks es eben getan, verſprochen hat, alles daran zu ſetzen, um eine ſchwere Sache durchzufuͤhren.
Waͤhrend er ſich mit aller Kraft und Liebe, ganz heiß im Geſicht, hineindachte, wie der arme Ker wieder zu dem Seinigen gelangen koͤnnte, waren die Gedanken ihm ſachte, unmerklich aus ſeiner freundlichen Seele entwiſcht und ihre eigenen Wege gegangen zu ihrer Erholung.
Peter Fuhkſens Gedanken alſo waren unverſehens auf die von allen Lebendigen betretene Straße gelangt, die zum Ziele hat, die eigene Perſon, nur die eigene Perſon zu Gluͤck und Wohlergehen, zur Erfüllung aller Wuͤnſche zu führen.
Peter Fuhks (ah im Geiſte ein paar Augen auf ſich gerichtet, ach, unbeſchreiblich ſchoͤne Augen.
Über Peter Fuhkſens Züge glitt es wie Sonnenſchein, das Blut wallte ihm zum Herzen.
Er ſtand auf und fuhr ſich langſam mit der Hand Aber den Mund.
„Ker,“ ſagte er, „wir kommen ſchon durch. Der Miniſter hat dir ja auch zu helfen verſprochen.“
Das ſagte der gute Fuhks freundlich beſchwichtigend, und wollte doch ſelbſt nicht ſo recht daran glauben.
„Er tft Freund von Sztipann Sztipannowitſch. Vergiß das nicht. — Leere Worte. — Nichts wie eine Falle — die Stellung und alles. — Und ich — ich gehe mit offenen Augen in die Falle!“
„Aber warum denn?“
„Ich kann nicht anders, ich habe ſchon zugeſagt. Am 9. geht das Schiff. Noch zwei Tage. Ich habe mich verkauft.“
Durch das offene Fenſter klangen helle Stimmen und jugendliches Lachen. Peter Fuhks fuhr mit dem Kopfe in die Hoͤhe, fo daß ſeine ſteiſen Haarſtraͤhnen die roten Ohren freiließen.
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Seine Augen, die am Munde des Freundes hingen, bes kamen einen erſchreckten Ausdruck. Er erhob ſich und machte ſich am Tiſche etwas zu tun.
„Fuhks! Herr Fuhks! Fuhks!“ klang es unter Lachen. —
Fuhks, der gute Menſch, der ſeines eigenen Herzens Angſt und Freude wie etwas Ungehoͤriges vor aller Welt Augen zu verbergen ſtrebte, dem gerade ſtanden ſeine Herzens⸗ empfindungen in fuͤr alle Welt leſerlicher Schrift auf Stirn und Wangen, rote Flaͤmmchen begannen zu gluͤhen, die Ohren brannten, und da war kein Empfinden ſo rein und groß, ſo verſchwiegen und heilig, wenn es ſein Herz zu erregen begann, ſo gluͤhten die Ohren. Und jetzt lachte und rief es unten wieder.
„Was iſt dir, Fuhks?“ frug Ker.
„Du,“ ſagte Fuhks, „das ſind die Maͤdchen von Ahrenſees, die wollen irgend etwas.“ Er ſagte es auf die gleichguͤltigſte Weiſe von der Welt. —
„Herr Fuhks!“ rief es, „Fuhks“ und kam die breite, daͤmmerige Treppe, die die Freunde herabgingen, herauf, langſam, zoͤgernd.
„Ja, das ſind ſie“, ſagte Fuhks ſtotternd.
Jetzt ſtand man ſich gegenuͤber.
Fuhks ſtellte ganz verwirrt ſeinen Freund den beiden Maͤdchen vor.
Mathilde wendete ſich an Ker und begruͤßte ihn als alten Bekannten aus Jena. Ker war im erſten Augenblick be⸗ troffen, ſchien ſich Mathildens nicht ſogleich erinnern zu koͤnnen, begruͤßte fie aber ſehr hoͤflich. Kriſtine war etwas befangen und ſagte nach einer Weile: „Wir kamen, weil wir dem Vetter Fuhks eine Freude machen wollten. Er wuͤnſcht ſo ſehr, daß Sie uns kennen lernen, da wollten wir Sie bitten, mit ihm zu uns zu kommen.“
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Aber Fuhkſens Geſicht ging ein wunderliches Leuchten, was er auf der daͤmmerigen Treppe, in der faſt dunkeln Ecke, in die er gedruͤckt ſtand, ruhig ſtrahlen ließ.
Wie es ihm wohl war!
Er haͤtte ſich nichts Beſſeres wuͤnſchen koͤnnen. Nicht ſeine kuͤhnſten Träume waren auf dergleichen verfallen.
Wie gehoben ſtand er jetzt neben ſeinem ſchoͤnen Freund. Ja — ja, ſein lieber Ker hatte ſich doch nicht an einen ganz Unwuͤrdigen gewendet. Kehr mußte fuͤhlen, daß Peter Fuhks hier geachtet wurde, daß er etwas galt. — Und wenn er das Maͤdchen erſt kennen wuͤrde, das hierher kam, um ihm, dem armen unbeholfenen Fuhks, ſolch eine Freude zu bereiten!
Ker aber ſchien weder die Freundlichkeit der Familie Ahrenſee gegen ſeinen Freund noch das Maͤdchen zu beachten. Er war zerſtreut und ſtill und hatte nur mit einer zuſtimmen⸗ den Verbeugung auf die Einladung geantwortet.
„Herr Fuhks, wenn Sie doch ein vernuͤnftiges Boot be⸗ ſorgen koͤnnten, da brauchten wir den ſtaubigen Weg nicht zuruͤckzugehen“, ſagte Mathilde ſehr unternehmend. Sie waren inzwiſchen aus dem alten Warenſpeicher, in dem Fuhks ſein Stuͤbchen hatte, hinausgetreten.
Die friſche Seeluft begruͤßte fie, die Aber das Gewuͤhl der Schiffe und Boote im Hafen ſtrich.
Fuhks ſagte mit einer an ihm unbekannten Beſtimmtheit: „Freilich haben wir ein Boot, meinen Walfiſch!“
„Fuhks — Sie werden doch nicht? — lebt denn der Wal⸗ fifh noch? Sie haben ihn doch als Brennholz gekauft, ſagten Sie“, rief Kriſtine.
„Ja, ſagte ich!“ erwiderte Fuhks mit einem Anflug von Übermut, der ihn fremd kleidete. „Er tft aber in gutem Stand jetzt. Lieber Ker, ein Boot für zwei Rubel, was meinſt du? —
eine Schaluppe. Das Pech und Blech natuͤrlich nicht mit⸗
gerechnet.“ 284
—
Ker erwiderte nichts.
„Kommen Sie, bitte, kommen Sie!“ rief Fuhks. „Oder warten Sie, ich bringe noch etwas!“ und in großen Saͤtzen war er auf und davon und kam nach einer Weile mit ſeinem Baͤrenfell beladen zuruͤck.
Seine Freudigkeit und Lebhaftigkeit hatte etwas von einem kleinen Wagen an ſich, der lange nicht geſchmiert wurde, und deſſen Rader ſich holprig um die trockenen Achſen drehen.
Er führte feine Säfte durch einen kleinen, duͤſtern Hof, dann durch einen langen, kahlen Hausflur, durch ein Gaͤrt⸗ chen, in dem ein paar Birken ſtanden und Kohl gepflanzt war und Beerenſtraͤuche wuchſen, und über eine kleine, vers ſandete Bleiche, auf der blaue Schuͤrzen zum Trocknen lagen.
Der Garten führte zum Hafen hinab, und an feinen Mauern plaͤtſcherte das Waſſer.
Allerlei Boote lagen hier angekettet. | , Man hat mir geſtattet,“ ſagte Fuhks, „meinen Walfiſch hier aufzubewahren.“ |
Die Mädchen lachten.
Da lag der Walfifch, wahrhaftig eine Schaluppe, breit und lang, weitbauchig, ſo groß, daß man darin haͤtte tanzen koͤnnen, ein ſchwerfaͤlliges Ding, innen und außen dick mit Teer verſtrichen und mit Blech vernagelt, geflickt wie ein alter Strumpf. Nur hier und da kam ein unverſtrichenes Stuͤck des vermorſchten Eichenholzes zutage.
„Ich habe ihn ſelbſt hergerichtet, er iſt ganz ſicher“, ſagte Fuhks mit Stolz und ſah uͤbergluͤcklich und wuͤrdig aus. „Wir konnen ihn benutzen, ich vertrete es, was ich ſage. Er iſt auch ganz rein, er ſieht nur ſchmutzig aus.“
Peter Fuhks war wie vertauſcht heute.
„Steigen Sie ein! Steigen Sie ein!“ rief er lebensluſtig und breitete ſein Baͤrenfell im Walfiſch aus. |
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„Nie und nimmermehr!“ rief Mathilde.
„Ach geh,“ meinte Kriſtine, „wenn Fuhks ſagt, daß er ſicher iſt, fo iſt's gut. Natuͤrlich fahren wir. Es liegt ſich prächtig auf dem Baͤrenfell! Komm, Mathilde.“
Mathilde ließ ſich von Ker und Fuhks hineinhelfen und ſtrauchelte, als fie anf der Bank ſtand, fo daß ä ſie lachend auffing.
Fuhks trug an ſeiner Uhrſchnur den Reeſenſchluſſel der das Boot losloͤſen ſollte. Es war aber eine beaͤngſtigende Operation, ehe dies zuſtande kam. Fuhkſens Uhr ſchwebte beſorgniserregend uͤber dem Waſſer, und ſeine Haͤnde zitterten vor Erregung.
„Ihre Uhr, Fuhks,“ rief Kriſtine, „ſchauen Sie mal meinen Schluͤſſel an!“ Sie zog ihn aus der Taſche und ſchuͤttelte damit, „der iſt an einem Gummiball, ſehen Sie! der kann nicht unterſinken.“
Fuhks und Ker holten unter den Baͤnken die Ruder vor. Das Boot ging leichter, als es ſich vermuten ließ, und Kriſtine war ſehr vergnuͤgt, kuͤmmerte ſich um keinen der Inſaſſen, hatte ſich weit uͤbergebogen, den Armel etwas zuruͤckgeſtreift und ließ die Hand im Waſſer nachziehen. |
Sie trug ein weißes Kleid, das (ich ihrer Geſtalt anſchmiegte. In dem blonden Haar ſpielte der Wind, den Hut hatte ſie abgelegt.
Ker war vom Rudern endlich wach geruͤttelt. Die Gegen⸗ wart hatte ihn erfaßt. Der Seewind trieb die duͤſtern, ſchweren Gedanken wie einen Traum auf den Grund ſeiner Seele zuruck.
Halb unbewußt blickte er auf die dem Waſſer zugeneigte, von ihrem weißen Kleid behaglich umhuͤllte Geſtalt.
Wie angenehm es war, daß niemand ſprach, daß die huͤbſche Geſtalt ſich nicht regte.
Ein kleines, unbedeutendes Zwiſchenſpiel, das den ſchweren Ernſt des Lebens fuͤr einige Augenblicke vergeſſen ließ.
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— — — — — =
Der weiche Wind, der frifhe Waſſergeruch, das fanfte Schlagen der Ruder, die ſchimmernden Waſſertropfen, die Wirbel im Waſſer von den Ruderſchlaͤgen und der Aublick des jungen Maͤbchens.
Es war ihm, als laͤge etwas unausſprechlich Zartes in dem hingeneigten Geſchoͤpfe, als koſte ihre Hand mit dem Waſſer, als ſchmeichelten die weichen Falten dem jungen Körper.
Man hatte ihn beraubt, betrogen, das alles hatte ihn ganz unvorbereitet getroffen.
Er war noch ſo jung.
Seine Natur wollte ſich mit aller Kraft von dem Ver⸗ zerrten, Verworrenen, Wuͤſten abwenden; aber wohin wenden?
„Wer ſteuert?“ frug Kriſtine ohne aufzuſehen.
„Niemand“, erwiderte Fuhks gutgelaunt. „Steuer haben wir gar nicht.“
„Da wird's ſchwer fein, zwiſchen den Blocken durchzu⸗ kommen.“
Mathilde wurde unruhig: „Iſt es gefaͤhrlich?“
„Ja, aber wie werden wir landen? Der Walſiſch geht zu tief“
„Oho“, lachte Peter Fuhks auf.
Kriſtine blickte ihn forſchend an. „Ich glanbe,“ ſagte ſie zu Ker gewendet, „Herr Fuhls iſt ſehr froh, daß wir Sie uͤberredet haben, mit uns zu kommen.“ Mittlerweile waren ſie wieder ein gut Stuͤck dem flachen Ufer zu gefahren, da gab es einen Ruck, es knirſchte, und der Walfiſch ſaß wirklich feſt, und die Wellchen gluckſten an ſeinen Planken.
Kriſtine lachte. „Stoßt nur mit den Rudern, wir muͤſſen zuruͤck, da wird es vielleicht beſſer gehen! Aber ich glaube nicht.“
Das war leichter geſagt, Fuhks und Ker taten ihr moͤg⸗ lichſtes, um den Walfifch wieder flott zu machen, — vers gebens.
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„Was nun!“ ſagte Fuhks. „Da iſt gar nichts zu machen.”
Mathilde war außer ſich.
Ehe ſie ſich zu einer Rede recht beſonnen, ſtand ger im Waſſer; er hatte die Schuhe ausgezogen, die Beinkleider aufgeſtreift und arbeitete ſo im flachen Waſſer am Wal⸗ fiſch.
Peter Fuhks folgte zaghaft und verlegen ſeinem Beiſpiel.
„Es geht nicht, — ſo nicht! Nutzt auch nichts! Das Ufer iſt überall flach“, ſagte Ker zu Kriſtine. „Bitte legen Sie mir den Arm um die Schulter!“
Kriſtine tat es und er hob ſie aus dem Boote.
Fuhks blickte ſeinem Freunde erſtaunt zu — und wenn ſie in dem Boote haͤtten verhungern muͤſſen, er haͤtte ſich kaum dazu entſchloſſen, zu wagen, was fein Freund fo ganz unauffaͤllig, ohne jedes Bedenken tat: aber freilich, was ſollte anderes geſchehen?
So mußte auch er ſich ein Herz faſſen und Mathilden hinuͤbertragen.
Ker hielt das ſchoͤne, heitere Maͤdchen feſt und behutſam im Arm.
„Ich bin ſchwer?“ ſagte ſie leicht befangen.
Es war ihm wunderlich zumute, dies fremde, warme, ſchoͤne Geſchoͤpf ſo zu empfinden, war es doch, als wenn ihr ganzes Weſen ihn durchſtroͤmte.
Er laͤchelte nachtraͤglich uͤber ihre Frage und ſchuͤttelte kaum merklich den Kopf, trug ſie weit hinauf aufs Land. Dann ließ er ſie auf den feinen, trockenen Sand nieder⸗ gleiten, und wieder wie vorhin durchſtroͤmte es ihn uͤber⸗ maͤchtig.
Unterdeſſen war auch Peter Fuhks mit Mathilden auf das Trockene gelangt. Fuhks hatte beim Gehen ſehr geſpritzt, und Mathilden ungeſchickt gehalten, da er nicht recht gewußt, wie er ſich in ſolchen Faͤllen zu benehmen habe, und ſo war ſeine Laſt gehoͤrig naß ge⸗
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worden; und um allem die Krone aufzuſetzen, hatte er ſie, ſtatt auf dem trockenen Boden ein ganz klein wenig zu fruͤh ins Waſſer niedergelaſſen. Natuͤrlich war dies nicht abſichtlich, ſondern aus reinſter Verlegenheit ge⸗ ſchehen, vielleicht auch, weil Mathilde ſich gar zu tugendhaft ſpreizte.
Der Walfiſch wurde alsdann noch energiſch heraufgezogen und verankert.
Jetzt wanderten die vier, Mathilde ungnaͤdig und mit durchnaͤßten Stiefelchen, Fuhks reuevoll und Kriſtine ganz ausgelaſſen, durch den Birkengarten. Das hohe, dichte Gras duftete, und die ſilberblinkenden Staͤmme ſtanden wie darin verſunken.
„Wir ſind geſtrandet,“ rief Kriſtine von weitem, „Mathilde iſt ganz naß geworden!“
Als fie vor dem Haufe angelangt waren, begruͤßte Fran Ahrenſee, von der Veranda aus, ihre Gaͤſte.
„Nun, iſt es euch gelungen?“ rief ſie den Eintretenden freundlich entgegen, „es freut mich unſeres Fuhkſens Freund kennen zu lernen. Fuhks ſagt mir, daß Sie mir Gruͤße von meiner Tochter zu uͤberbringen haben.“
Jetzt erſt dachte Ker daran, daß Kriſtine die Schweſter der reizenden Frau des ſoignierten Profeſſors ſei, die er in Jena kennen gelernt hatte.
Er ſprach mit Fran Ahrenſee, konnte ſich aber aus dem
wunderbaren Traumzuſtand, in den er geſunken war, nicht recht befreien. F Kriſtinens Vater trat ein. Ein heimisches, friedliches Bez hagen verbreitete ſich. Sie ſprachen über die bevorſtehende Abreiſe nach Deutſchland. Sie erbaten ſich Rat, da Ker ja eben aus Deutſchland kam.
Als man in beſter Unterhaltung war, tat ſich die Tuͤr auf, und eine unterſetzte, magere Perſon in wirrem Haar und
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aufgeſtreiften Armeln, in einer Schürze ohne Latz und im dunkeln Wollrock ſtolperte ins Zimmer. N
„Annuſchka, was willſt du?“ frug Frau Ahrenſee und blickte laͤchelnd, wie ſich entſchuldigend, auf Mathilde.
Die Perſon kam naͤher, ſie hatte wieder wie heut morgen, als wir ihre Bekanntſchaft machten, das ſehr ruͤckſichtsvolle Vorhaben, zu ſchleichen und ging wie auf Stummeln. Sie naͤherte ſich Ker und ſchaute ihn ſich mit einer naiven Neu⸗ gier an, ſtemmte die Arme in die Seiten und war ganz verſunken in ſeinen Anblick — und, wie es ſchien, be⸗ friedigt.
„Annuſchka,“ frug Frau Ahrenſee, „willſt du etwas?“
„Katze⸗Teifel hier?“ ſagte dieſe und hob die Decke, die uͤber einem Tiſch hing, und benahm ſich aͤußerſt kaltbluͤtig bei ihrer improviſierten oder wohlvorbereiteten Lüge.
„Schaͤm“ dich, Annuſchka!“ fluͤſterte Kriſtine ihr zu.
„Kind, ungezogen ſein!“ antwortete Annuſchka in der Art, wie Dienerinnen einem ganz kleinen Maͤdchen zu antworten gewohnt ſind.
Man ließ ſie gewaͤhren.
Sie ſuchte noch einige Zeit, ohne die mindeſte Scheu oder Beſſerung zu verraten. Und zur Verſtaͤrkung, als Frau Ahrenſee ihr ein nicht mißzuverſtehendes Zeichen gemacht hatte, ſich endlich zu entfernen, ſagte ſie: „Gut.“ Dabei zuckte fie die Schultern, was wohl heißen mochte: „Annuſchka waͤſcht ihre Haͤnde in Unſchuld.
Als ſie hinausſtolperte, ſagte ſie laut und deutlich und erregte dadurch ein herzliches Gelächter: „Schönes Menſch — Schoͤnes Menſch!“ |
„Das tft unſere Annuſchka!“ fagte Frau Ahrenſee. „Man hat ſich an Annuſchka fo gewoͤhnt, Annuſchka muß im Haufe ſein. Sie ginge auch nicht“. „Was ſie hier treibt, weiß ich wirklich nicht. Sie iſt aber feſt davon uͤberzeugt, daß fie ganz unentbehrlich iſt.
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„Solche unnuͤtze Geſchoͤpfe, von denen man ſich unmöglich befreien kann, hat man gottlob bei uns in Deutſchland nicht mehr“, ſagte Mathilde reſerviert.
„Glaub's wohl“, meinte Heinrich Ahrenſee.
Es fanden ſich jetzt noch einige Gaͤſte ein. Der Diener meldete, daß ſerviert ſei.
Fuhks war es während dieſes Abendeſſens fo angenehm wie noch nie zumute.
Er hoͤrte ſeinen Ker eifrig ſprechen — und ſein Ker geſiel allen. Beſonders Heinrich Ahrenſee und Ker ſchienen einander zu finden. Sie hatten ſich in ein philoſophiſches Thema ver⸗ tieft, und Fuhks hoͤrte beiden andaͤchtig zu. Das war ein Feld, auf dem er ſich nicht zu Hauſe fuͤhlte. Nur Fraͤulein Mathilde benahm ſich einigermaßen erhaben und von oben herab, das war nun einmal ihre Art fo; aber Fraulein Mathilde war ja im Grunde ebenſo ſtudiert wie Ker. Es ging die Sage, daß fie ihr Gouvernantenexamen brillant beſtanden habe. Konnte Ker das von ſich ſagen? Nein — Ker konnte das nicht von ſich ſagen.
Während Peter Fuhks dies auf eine wunderlich vers ſchwommene Weiſe dachte, empfand er etwas wie einen leichten Schleier vor ſeinen Augen. Er hatte an dieſem einen gluͤck⸗ ſeligen Abend den Wein etwas zu haſtig getrunken.
Den leichten Schleier vor ſeinen Augen empfand er als etwas wunderbar Angenehmes. Ihm war es, als breitete ſich dieſer Schleier allmaͤhlich uͤber die ganze Welt aus, und es war augenblicklich nur Peter Fuhks und die große Gluͤck⸗ ſeligkeit von Peter Fuhks uͤbriggeblieben, und nur was auf Peter Fuhks Bezug hatte. Er ſah Kriſtinens ſchoͤnen, blonden Kopf neben ſich, und Kriſtine hatte ihm heute die Freude ge⸗ macht, daß er ſeinen Freund hier haben konnte.
Er beobachtete Kriſtinens Augen. Sie hat ſo wunder⸗ ſchoͤne Augen, dachte er wieder und ſah dieſe Augen auf ſeinen Freund gerichtet — und freute ſich.
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Ja, meinte er für ſich, Peter Fuhks iſt nicht fo cin Slender wie du denkſt. Er kann ſich ſehen laſſen, es gibt Menſchen, — und was fuͤr Menſchen! — die extra zu ihm her reiſen, um ihn zu ſehen — eigentlich, ſagte er ſich, gibt es nur einen einzigen Menſchen, der dies tut — aber was fuͤr einen Men⸗ (hen!
Peter Fuhks erhob fih, nahm fein Glas mit ſich, ging zu Ker und ſtieß mit dieſem an.
„Lieber Ker,“ fluͤſterte er, „ich habe etwas des Guten zu⸗ viel getan, ſieht man es mir an?“
„Du 2“ frug Ker, „nein.“
„Deſto beſſer!“ ſagte Fuhks, „mir iſt es auch durchaus nicht unangenehm zumute.“
„Iſt es dir auch ſo wohl?“ frug er leiſe.
Ker nickte laͤchelnd, und Fuhls bemerkte einen Ausdruck in ſeines Freundes Zuͤgen, ſo weltvergeſſener Art — er hatte Ker wirklich noch nie ſo geſehen, wie dieſen einen Augenblick.
Fuhks ging wahrhaft ſelig auf feinen Platz zuruck —
„Nun „Freiſel“?“ rief Mathilde unvermittelt und mit einem Anflug von Spott uͤber den Tiſch, Kriſtinen zu, die ſtill und aufmerkſam Ker zuhoͤrte, der mit ihrem Vater ſprach.
„Wiſſen Sie auch, was „Freiſel oder „Freiſeel bedeutet?“ frug Mathilde und wendete ſich zu Ker.
„Mathilde!“ fluͤſterte Kriſtine erregt, „das iff verraͤteriſch.“
„Nun, was denn?“ frug Ker.
Es war das erſte Wort, das er waͤhrend des Soupers an ſie richtete, und er richtete es an ſie in einer wundervollen Erregung.
Kriſtine ſchuͤttelte leicht laͤchelnd den Kopf.
„Ich will Ihnen etwas anderes ſagen“, begann ſie ein wenig verlegen, aber in vertrauensvollem Ton zu ihm ge⸗ neigt.
„Kennen Sie unſer uraltes finniſches epos?“
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„O je!“ ſagte Mathilde, die ihre Ohren überall hatte und uͤberall dreinredete, „jetzt kommt ſie mit ihrer Kylliki.“
Und Kriſtine, die ihm nur die erſten Zeilen vorſagen wollte, kam durch Mathilde in Erregung und ſprach lebhaft, er⸗ griffen und unſchuldig die Lieblingsſtelle in ihrer Kylliki von Anfang bis Ende:
„Haus und Hof und reiche Herden, Unermeßlich weite Waͤlder
Gibt mein Vater mir zur Mitgift. Ich bin reich und ſchoͤn und acht“ mich Einer Koͤnigstochter gleich. Ebenbuͤrtig will ich meinen Gatten, Ebenbuͤrtig meinem Reichtum, Meiner Klugheit ebenbuͤrtig, Ebenbuͤrtig meiner Schoͤnheit, Ebenbuͤrtig meinem jungen Leibe!
Glaubſt du, daß ich folgſam wie ein kleines Mädchen Dieſen oder jenen nehme,
Den mein Vater mir beſtimmte? — Nimmermehr! und eher wollt“ ich
Mich mit eignem Haar erdroſſeln;
Oder, glaubſt du, der bezwaͤng mich,
Welcher, roher Kraft vertrauend,
Raubend mich zum Weibe naͤhme? — Nimmermehr! — denn wie die Woͤlfin
Braͤche ich aus ſeinem Lager!
Solchem aber, den ich ſelber waͤhlte Aus der Schar der jungen Männer — — Barde und zugleich ein Krieger — Solchem wollt' ich willig folgen,
Über Ströme, über weite Suͤmpfe,
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fiber Seen, über hohe Berge,
Barfuß, jeder Muͤhſal trotzend,
Bis zum fernen, fernen Meere —
— Sei's denn, daß er mich verſtieße — Willig folgen bis zum Tode!“
Jetzt ſchaute Kriſtine auf und frug Ker: „Wer kann ſo etwas jetzt dichten?“
Das hatte nun wieder Fuhks aufgefangen und ſagte: „Weshalb nicht, auch der Ker kann das.“
Und Fuhks, der immer noch mitten in angenehm ſchwanken⸗ den Gedanken und Gefuͤhlen ſteckte, tat etwas ſehr Be⸗ ſonderes, was durchaus nicht zu dem Gebaren des guten Fuhks paßte: Er ſtand mit einem Male, ohne ſich recht bewußt zu werden, wie es geſchehen, hinter ſeinem eigenen Stuhl. Seine beiden Haͤnde lagen ungeſchickt auf der Lehne des Seſſels, und er ſchaute auf dieſe Haͤnde herab und gruͤbelte.
Aller Augen waren mit Erſtaunen auf den beſcheidenen Fuhks gerichtet.
Und mit einem Male begann er ganz unvermittelt und mit einem unerwarteten Pathos und doch nicht ganz uͤbel zu dekla mieren:
„Was iſt es, das herauf von der Wuͤſte ſteigt Wie eine Saͤule feurigen Rauchs,
Und waͤlzt ſich heran wie Staub
Und wie eine Wolke uͤber die Ebene, Myrrhe wehend und Opferduft?“
Peter Fuhks ging es wie Kriſtine, er war von ſeiner Sache ganz hingeriſſen und bemerkte die laͤchelnden Blicke nicht, die auf ihn gerichtet waren, und ſprach weiter:
„Wer iſt ſie, die hervorſchimmert Wie die Morgenrdte ſo ſchoͤn,
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Schön wie der Mond,
Wie Sonnenſtrahlen fo rein,
Und gluͤckſelig wie die Heeresſcharen Jehovas? Wer iſt ſie, die herauf von Jeruſalem ſteigt, Aufgelehnt auf den Inniggeliebten?
Maͤchtiger iſt die Liebe als der Tod,
Feſt wie die Hoͤlle,
Unbezwinglich wie das Niederreich.
Waſſerwogen loͤſchen die Liebe nicht,
Stroͤme erſticken ſie nimmer,
Ihre Gluten — Feuersgluten,
Lodernde Flammen Jehovas. Wahrlich!
— Um Kronen nicht und nicht um Welten — Liebe iſt nimmer feil!“
„Fuhks,“ rief Ker lachend, „was faͤllt dir denn ein! Fuhks!“
Da erroͤtete Fuhks ſehr tief und nahm wieder ſeinen Platz ein.
Alle lachten; aber Kriſtine aͤrgerte ſich, daß ſie lachten.
„Das war ſchoͤn,“ ſagte ſie zu Fuhks, „geht es noch weiter?“
„Natuͤrlich,“ antwortete Fuhks, „das iſt ja von Ker. Das iſt ja aus Kers Judenlied. — Wiſſen Sie? das Hohe Lied der Liebe — Wiſſen Sie? — Sie glauben nicht, wie ſchoͤn es iſt.“
„Fuhks! Fuhls!“ ſagte Ker wieder lachend zu ihm. „Was fallt dir denn eigentlich ein?“
Fuhks aber richtete ſeine Worte weiter an Kriſtine und wendete ſich, waͤhrend er ſprach, nach allen Seiten hin, als hielte er eine Predigt.
„Ob es ſchoͤn iſt!“ ſagte er. „Das iſt gewiß, ja, es iſt ſchoͤn; aber das iſt noch nicht alles. Der Ker hat da eine Ent⸗ deckung gemacht, eine ganz merkwuͤrdige Entdeckung.“
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Fuhks war ganz in Eifer geraten.
„Zweihundertundvierzig bekannte hochgelehrte Herren, die alle das Judenlied haben ergruͤnden wollen — nichts haben ſie entdeckt. Ker aber hat gefunden, daß das Lied aus acht ganz gleichen Liedern beſteht. Es hat einer wahrſcheinlich einmal dieſe beinah gleichartigen Lieder geſammelt, und mit der Zeit ſind alle dieſe acht Lieder zuſammengeſchuͤttelt, alles durcheinander — immer von neuem alles durcheinander.
„Sie ſollten einmal die Rieſentabelle ſehen, die daheim bei Ker haͤngt: da ſtehen die acht Lieder darauf nebeneinander geordnet — und es hat feine Richtigkeit ... Es braucht nur ein Menſch einen Blick auf dieſe Tabelle zu tun und er iſt uͤberzeugt. Kein Drama, keine Liederſammlung, ſondern achtmal ein und dasſelbe Lied, nur mit kleinen Variationen! Ganz offenbar, unwiderſprechlich: achtmal dasſelbe Lied!
Nun aber follten Sie hören, wie herrlich dies Hohe Lied iſt — wie es jetzt mein Freund neu geſchaffen hat. Ja, es iſt ein Lied, ein Wunder von einem Lied — eigentlich kein Lied, ſondern .” |
„Fuhks!“ unterbrach Ker wieder lachend, „was für ein ſonderbarer Miſſionar biſt du? Glaubſt du, weil das Juden⸗ lied uns beiden einmal fo, in dieſer Form gefiel, es ginge aller Welt ſo?“
„Ja,“ ſagte Fuhks uͤberzeugt, „ja, das glaub“ ich. So gib es doch heraus, Ker! Veroͤffentliche es doch! Weshalb verſteckſt du es? Und denken Sie,“ ſagte Fuhks unbeirrt zu Kriſtine gewendet, „deutſch hat er's geſchrieben. Er iſt deutſch wie ſeine Mutter. Er iſt im tiefſten Grund ſeiner Seele deutſch. — Jawohl.“
Fuhkſens Augen richteten ſich kampfbereit auf Ker, als wenn er hoffte, daß ſein Freund etwas gegen me Behauptung einwenden wuͤrde.
Ker aber ſchien dies alles peinlich zu fein. Er unterhielt ſich mit ſeiner Nachbarin Mathilde, die, wie alle andern,
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außer Ahrenſee und Kriftine, auf Fuhkſens Vortrag einiger; maßen kuͤhl und teilnahmslos gehoͤrt hatte.
Was war dieſer Fuhks fuͤr ein ſonderbarer Heiliger.
„Daß ich es nicht vergeſſe,“ fuhr er immer zu Kriſtine ge⸗ wendet fort, „das iſt eine merkwuͤrdige Geſchichte mit dieſem Judenlied. Es iſt naͤmlich gar kein Judenlied, ſondern ein uralt indiſches Lied, eine Hymne, und heißt: Yavana und Nurvady.“
„Fragen Sie nur Ker, der weiß alles, der hat's heraus⸗ gefunden — und reden Sie ihm zu, daß er's veroͤffentlicht. Er verſteckt alles —“
Er wendete ſich jetzt leiſe eifrig zu Kriſtine: „Reden Sie ihm zu, daß er's tut. Er muß es tun, es iſt notwendig fuͤr ihn.“
„Weshalb lieben Sie die Verſe, die Sie vorhin ſprachen?“ frug Ker und bog ſich zu Kriſtine hinuͤber.
Kriſtine blickte fragend zu ihm hin. Weshalb ſie dieſe Verſe liebte, das wußte ſie nicht recht zu ſagen.
„Sie ſind nicht traurig,“ meinte ſie nach einer Weile, „auch nicht beſonders heiter. Sie ſind wie ſo ein friſcher Wind, man wird luſtig davon.“
Sie ſprach leiſe zu ihm hingewendet.
Kers Augen ruhten auf ihr; alles Gute, alles Liebens⸗ werte, alles Zaͤrtliche und Friſche ſchien ihm von dieſer weißen Geſtalt auszugehen. Und Kriſtine empfand es, wie ſeine Augen auf ihr ruhten!
Es waͤhrte nicht lange, da erhob man ſich vom Tiſch und trat auf die Veranda heraus.
Der lange nordiſche Sommertag war noch kaum im Er⸗ ſterben.
Eine weiche Klarheit lag uͤber der Gegend. Über dem Meer ſchimmerte es wie zarter Dunſt. Der Vollmond ſtand am Himmel in bleicher Scheibe. Man trat von der Veranda hinaus in den Garten. Mathilde befand ſich ſofort an Kers Seite und beſtuͤrmte dieſen mit allerlei wiſſenſchaftlichen
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literariſchen Fragen, verficherte, daß man hier in dieſer Eins oͤde wahrhaft verduͤrſtete und verhungerte nach geiſtiger Speiſe.
Inzwiſchen hatte Fuhks ſich Kriſtinen angeſchloſſen und wandelte mit ihr im Garten auf und nieder.
Daß ſie ſo ſtill mit ihm ging, tat ihm wohl und war ihm wie eine langerſehnte Erfuͤllung unbewußter Wuͤnſche.
Kriſtine erſchien ihm wie eben in dieſer weichen, hellen Nacht erbluͤht, fo nen, als wäre fie wirklich eben erſt ent⸗ ſtanden. Sie kam ihm ſo jung wie nichts ſonſt auf der Welt vor. Er dachte uͤber mancherlei nach, und nichts ſchien ihm unentweiht und friſch genug, um es mit ihr zu ver⸗ gleichen.
Ja, ohne Frage, er lebte den beſten Tag ſeines Lebens.
Nach langem Schweigen ſagte er: „Der Ker ſollte doch mit uns gehen, ich verſtehe nicht, weshalb er nicht kommt. Ich wollte, Sie wuͤrden meinen Ker kennen!“
Kriſtine antwortete nicht, ſondern blickte ihn nur mit großen fragenden Augen an, in denen deutlich zu leſen ſtand: Red’ weiter.
Fuhks aber freute ſich dieſer ſchoͤnen, von ihm ſo ſehr ge⸗ liebten Augen und verſtand ſie nicht.
Die beiden Spaziergaͤnger ſchienen jetzt völlig verſtummt, Kriſtine hatte die Augen geſenkt — fo tief, daß es ausſah, als wandelte ſie mit geſchloſſenen Lidern — und ſo trafen die beiden Schweigſamen auf einen dritten, gerade als ſie am großen erratiſchen Block voruͤberkamen, in deſſen Naͤhe es Kriſtinen heut am fruͤheſten Morgen im Nebel ſo be⸗ klommen zumute geworden war. Dieſer Dritte wanderte auch ganz verſunken, ſah und hoͤrte nicht, und waͤre vielleicht an ſeinem Freund und deſſen Gefaͤhrtin voruͤbergegangen, waͤre Fuhks ihm nicht mit ausgebreiteten Armen entgegen⸗ getreten, in die auch Ker einlief, als in den ſicherſten Hafen, den ſein Lebensſchifflein bisher gefunden.
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Fuhkſens Freund, Ker, blickte uͤberraſcht und erregt auf.
„Du wirſt ſchon ſehen, man verſchnauft immer ein biß⸗ chen,“ rief Fuhks ſeelenvergnuͤgt, „das iſt ja das Herrliche, mein Ker! — Du mußt das nur verſtehen! Ja, dir iſt's bisher zu gut gegangen, mein armer Ker. — Nun gehoͤrſt du zu uns Burſchen, die du in deinem Zorn und deiner Ungeduld heut morgen gelaͤſtert haft — — Ja, was meinſt du denn, wir ſind ſo elend nicht, wie du denkſt — ſo daͤmlich ſind wir nicht! Wohl laſſen wir's uns ſein bei jeder Gelegenheit, und zwar ganz anders wohl, als ihr Reichen es verſteht — ſo aus voller Seele — weil nichts zu verlieren und wenig zu hoffen ift. — Aber wir machen's (chon mit dir, wart’ nur! — du ſollſt nur eine kleine Weile zu uns verſchlagen ſein — wart nur, wir machen's ſchon! Wir verſchaffen dir ſchon dein Recht!“
Ker laͤchelte. Seine Blicke ruhten, waͤhrend Fuhks ſprach, mit einem wahrhaft ſtrahlenden Ausdruck auf Kriſtinen. „Mein Fuhks“, ſagte er zu ihr gewendet, „iſt heute ſo gut⸗ gelaunt, wie ich ihn noch nie ſah.“
„Unſer Fuhks iſt immer gut,“ ſagte Kriſtine, „auch immer gutgelaunt.“
„Das ſollten Sie nicht von mir ſagen, Fraͤulein Kriſtine, das verdiene ich gewiß nicht. Ich weiß nicht, ich bin ſo ein gedankenloſer Menſch — die boͤſen Dinge ſehe ich auf Erden gar nicht — nur einzig allein die guten — da iſt's kein Kunſt⸗ ſtuͤck, bei Laune zu ſein!“
„Freilich,“ ſagte Ker, „darum bin ich auch zu ihm ge⸗ kommen, um mir von ihm helfen zu laſſen. Fuhks verliert den Mut nicht.“
„Ja, wahrhaftig!“ rief Fuhks mit einer komiſchen Leb⸗ haftigkeit, „ehe ich etwas verloren gebe, das hat gute Weile — und gar zum Beiſpiel den liebſten, beſten Menſchen! Ho ho!“ rief Fuhks mit einer Stimme, die ſo wenig ſeiner gewoͤhn⸗ lichen Stimmlage angepaßt war, daß er ſelbſt ganz erſchreckt
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die Gefährten anblidte — ihm war es, als hatte er gebruͤllt; — aber ſo ſchlimm mußte es nicht ausgefallen ſein; ja ſie ſchienen es beide kaum bemerkt zu haben. Unbegreiflich, dachte Fuhks, wie ich ſoviel Wein habe trinken koͤnnen, — es iſt wirklich abſcheulich; aber man muß es doch einmal ver⸗ ſuchen.
So bemerkte Fuhks in ſeiner wunderlichen Stimmung nicht, daß neben ihm zwei junge Herzen, die beſten, liebſten Herzen, die er auf Erden kannte, in ahnungsvoller, banger Seligkeit ſich einander im Geſpraͤche, in Laͤcheln und Schweigen, zu⸗ neigten. Er bemerkte nicht das wundervolle Strahlen der Augen, das nur in erſter unſchuldigſter Jugend in heiligſten Stunden auf dem Antlitz der Menſchen liegt. Die weiche Daͤmmerung verhuͤllte es ihm vollends, und die wenigen Worte, die gewechſelt wurden, trugen kein Zeichen an ſich von dem uralten Wunder, das ſich in zwei Seelen vollzogen hatte, ja dieſe beiden Menſchen ſelbſt ahnten nicht, daß ſie ſchon vereinigt waren, und jedes von ihnen fuͤrchtete, während eins ganz in das Weſen des andern verſenkt war, daß es allein nur dieſe ahnungsvolle Seligkeit empfaͤnde. Wenn er ſie anredete, ſo durchzitterte es ſie; wenn er die Augen auf ſie richtete, wollte ihr das Herz in der Bruſt zerſpringen; als er neben ihr ging und wie zufaͤllig ſeine Hand die ihrige ſtreifte, war's ihr, als haͤtte ein Feuer ſie getroffen.
Jetzt langten die drei am Hauſe wieder an und kamen dazu, wie die Gaͤſte ſich empfahlen. Fuhks, der es natuͤrlich in der Ordnung fand, daß auch ſie beide nun gingen, nahm einen ſehr formvollen Abſchied von der Frau des Hauſes, und dieſe lud beide Freunde auf das liebenswuͤrdigſte ein, zu kommen, wann es ihnen geftele.
Als Fuhks und Ker miteinander der See zugingen, um den Walfiſch wieder flott zur Abfahrt zu machen, (Haute die Familie Ahrenſee den beiden langen Menſchen freundlich nach.
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„Höre, mein lieber Ker, was meinſt du, wie es mir hier ergeht?“ frug Fuhks. „Ach, wollte Gott, du haͤtteſt Grund, ſo ruhig und zufrieden wie ich zu ſein.“
Jetzt ſtanden ſie miteinander vor einer jungen Birke.
Peter Fuhks blieb vor dem kraͤftig zarten Baͤumchen ſtehen, deſſen ſchlanker Stamm wie reines Silber durch das friſche Gruͤn glaͤnzte, und ſagte langſam:
„Siehſt du, mein Ker, als ich heute mit Kriſtine auf und nieder ging, dachte ich: So jung, ſo friſch, wie eben erſt er⸗ ſtanden, kenne ich nichts, wie Kriſtine. Ich dachte nach, ob mir doch etwas beifallen moͤchte, was ihr gliche, ich kam aber auf nichts. — Jetzt, wie ich dieſe Birke ſehe, iſt mir's, als hatt’ ich's gefunden. Sie gleichen einander — du mußt mid nicht auslachen — ich meine wirklich. —“
Fuhks machte ſich eifrig zurecht, um zu feinem Walfiſch zu waten, um deſſen Schickſal er heut abend ein paarmal Sorge empfunden hatte und den er jetzt mit großer Freude wohlbehalten vor ſich liegen ſah. Ker ging nachlaͤſſig, ſchein⸗ bar ziellos ein Stuͤck Wegs zuruck, ohne daß Fuhks in feinem Eifer deſſen gewahr wurde. — In der Naͤhe der ſchoͤnen, jungen Birke wurden ſeine Schritte haſtiger. — Er ſtuͤrzte vor dieſer Birke auf die Knie, preßte das friſche, duftende, feuchte Laub leidenſchaftlich an ſeine Lippen, vergrub ſeine Stirn darin — einen Augenblick, und mit klopfendem Herzen erhob er ſich wieder. Das Laub ſchien gelebt, duftig geatmet, empfunden zu haben. Es war ihm, als waͤren Daͤmonen bei ihm eingezogen, die ihm die Sinne verwirrten, das Herz beſtuͤrmten, die ihn Unbekanntem, noch nie Empfundenem entgegentrieben. —
In wahrer Haſt beeilte er ſich, Fuhkſen, der ſich am Wal⸗ ſiſch abarbeitete und nichts hoͤrte und ſah, beizuſtehen. Sie ließen aber bald ab davon, das Waſſer war gefallen, das unfoͤrmliche Boot ſo feſtgerannt, daß es ruhig liegen bleiben
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konnte. So gingen fie miteinander nach Fuhkſens Turm und ließen auch das Baͤrenfell im Walfiſch liegen.
Als ſie in Fuhkſens Behauſung angelangt waren, bereitete Fuhks ſeinem Freund aus Decken und ſeinen eigenen Kiſſen und allem Moͤglichen und Unmoͤglichen ein Lager mit ſolchem Eifer und ſolcher Hingebung, daß es undenkbar war, dem guten Menſchen irgendwie Einhalt zu tun. Er ruhte auch nicht, bis ſein Freund ſich ſogleich zur Ruhe legte, und freute ſich, als ſein armer Ker bald in einen tiefen Schlaf verfiel, dann ſtreckte auch er ſich zufrieden und gluͤcklich auf dem Sofa aus und war im Handumdrehen aus der ihm ſo lieben be⸗ wußten Gegenwart in eine andere, unbewußte Welt entruͤckt.
Viertes Kapitel
Mou ſprach von Kers Abreiſe in dem ruhigen Ton, mit dem man von der Abreiſe eines Gaſtes ſpricht, der fuͤr wenige Tage voruͤbergehend im Hauſe ſich aufhaͤlt. Kriſtinen aber blickte hilfeſuchend zu ihrem Vater, ging zu ihm, ſchmiegte ſich an ſeine Bruſt, und hielt ihn angſtvoll umſchlungen. Da feng er fie laͤchelnd: „Was iſt dir, mein Herz au
Sie antwortete nicht.
„Wenn du heut abend Luft haft, komm“ ich in dein Zimmer, und du ſingſt mir deine nenen Lieder vor. Geſtern wollteſt du es, und da haben wir es beide vergeſſen.“
Kriſtine nickte ihm zu und laͤchelte; aber ihr Lächeln verriet, wie tief bewegt ſie war.
Ahrenſee ſah ihr, als ſie von ihm gegangen war, ſorgen⸗ voll nach. Er dachte: was fuͤr ein zartes, bewegliches Herz hat meine kleine Kriſtel.
„Armes Kind!“ und er hoͤrte fie im Geiſt ihr Kylliki fingen.
„Wie fie alles erfaßt! Was hat fie an dem naͤrriſchen Lied? Wenn ſie ſo ein Engelskind behalten und mitnehmen koͤnnte.“
Fuhks, dem mehr als allen anderen Kriſtinens Ver⸗ ſtummen aufgefallen war, wanderte mit Ker im Garten auf und nieder, bis ſie auf Kriſtine trafen.
Und Ker faßt Kriſtinens Hand und ſagt: „Morgen fruͤh geht das Schiff. Wer weiß, ob wir uns wieder⸗ ſehn.“
Kriſtine ſieht ihn traurig fragend an, darauf trennt man ſich wieder, und Fuhks ſchuͤttelt im Weitergehen den Kopf und wendet ſich zu Ker.
„Nun moͤcht ich wiſſen, Ker, was das bedeutet?“
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m Abend gingen Kriftine und ihr Vater miteinander
die uns wohlbekannte, teppichbelegte Treppe hinab, über deren niedere, breite Stufen es ſich ſo behaglich ſchreiten ließ. In Kriſtinens Zimmer angelangt, lehnte ſich Ahrenſee dicht am Fluͤgel in einen Seſſel zuruͤck, und Kriſtine ſetzte ſich. Ohne ein Wort zu reden fing ſie leiſe zu ſpielen und noch leiſer zu ſingen an.
„Werde du mir nur kein trauriger Narr, Kriſtel. Es iſt boͤs, dies ewige Krankſein, ich fuͤhl's, ich werde muͤrriſch und alt — alt — alt — und da mußt du mir helfen. Ich lebe von deiner Heiterkeit. Was war dir denn heute, mein Kind?“
„Nichts!“ rief Kriſtel lebhaft und flog ihrem Vater um den Hals. — „Nichts — gar nichts“, rief fie noch einmal leidenſchaftlich und innig — machte ſich von ihm los, ſo aber, daß ihre Haͤnde noch auf ſeinen Schultern lagen und blickte ihm in die Augen. Da kam er ihr in Wahrheit krank und abgemagert, leidend und alt — alt vor, daß ein unſagbares Weh ſie ergriff. — Seine Bitte, ihm zu helfen, ihn zu er⸗ heitern, durchſchnitt ihr das Herz. Zum erſtenmal erſchien ihr ihr Vater, der fuͤr ſie nichts war als eben „ihr Vater“ und mit niemandem anders vergleichbar, als alternder, kranker, armer Menſch, wie deren ungezaͤhlte in der Welt umherlaufen. Das war ihr fo über alles Maß bejammerns⸗ wert, daß ſie ihn in die Arme ſchloß, ſchuͤtzend wie eine Mutter ihr armes Kind, und als ſie wieder ſprach, da waren es Worte der zarteſten, ſchmerzlich bewegteſten Liebe, die troͤſten wollten, die Hoffnung und alles Gute, was das Schickſal bietet, ſo uͤberreichlich aufdraͤngten, wie nur ein unſchuldiges, junges Menſchenherz Worte findet, das noch waͤhnt, mit ſeiner Liebe koͤnnte es Berge verſetzen und das Schickſal bezwingen. Und Heinrich Ahren⸗ fee unterbrach feinen Liebling nicht; er hörte auf ihre füßen Liebes, und Hoffnungs worte, wie ein Schwerkranker den
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weichen, erſten Fruͤhlingsſtuͤrmen lauſcht, die an ihm vor; uͤberziehen.
Nicht lange, da gingen ſie beide in das Familienzimmer, und beide wußten einmal wieder, was ſie aneinander hatten.
uhks war mit ſeinem Freunde Ker eine Stunde am Abend noch dageweſen, um Abſchied zu nehmen.
Ker und Kriſtine hatten ſich die Hand gereicht und ſtumm Lebewohl geſagt.
Ker hatte ihr eine Heine gruͤnſaffiane Mappe gegeben und ihr geſagt: „Behalten Sie es. Heben Sie mir's auf.“
Und Kriſtine wußte, das war das Hohe Lied der Liebe, und hielt es zaghaft in den Haͤnden.
So kam ſie am ſpaͤten Abend mit weichem Herzen in ihr ſtilles Zimmer zuruͤck. Alle im Haus waren zur Ruhe ge⸗ gangen. Die Fluͤgeltuͤr, die von ihrem Zimmer auf die Veranda hinausfuͤhrte, ſtand weit geoͤffnet, und die helle Nordlandsnacht drang weich und feucht in den daͤmmernden, heimiſchen Raum.
Kriſtine lehnte ſich in die offene Tür und ſchaute hinaus in den Garten. — Derſelbe ſtarke Seenebel wie vor wenigen Tagen lag wieder über Wiborg, dem ganzen Lande, den zarten Birken, den mit grauem Moos uͤberwucherten Irr⸗ bloͤcken, den Wacholderbuͤſchen, dem feuchten, duftenden Gras, dem Meere.
Kriſtine ſchlug die gruͤne Mappe mit bebenden Haͤnden auf, blaͤtterte darin und blickte auf die Schriftzuͤge.
Da wurde es ihr ſo weit und weh ums Herz. — Er war ihr ſo nah und ſo fern zu gleicher Zeit. — Ihre Seele kam ihr ſo groß, ſo unendlich vor und erfuͤllt von einem ungekannten Leben.
Sie preßte die kleine Fauſt feſt auf ihr Herz, als wollte fie es zuruͤckhalten, fo zu fühlen.
Ihre Blicke aber ſuchten in Kers Schriftzuͤgen.
20 Böhlau III. 305
O, wer es mir doch gewähren koͤnnte, Daß du mein Bruder ſeiſt,
Genaͤhrt an der gleichen Mutterbruſt; Daß ich dich kuͤſſen duͤrfte,
Traͤf ich dich draußen,
Und niemand hoͤhnte mich darum. Dann braͤcht ich dich, ich fuͤhrte dich In meiner Mutter Haus.
Dort fuͤllen Edelfruͤchte unſere Huͤrden, Alte und neue, Geliebter, für dich; Du lehrteſt mich, — ich labte dich Mit dem Safte der Granate
Und mit wuͤrzigem Wein.
O, wer es mir doch gewähren konnte, Daß du mein Bruder ſeiſt.
Sie trat auf die Veranda hinans, ſchlang die Arme um eine der Stuͤtzen, die das Dach des kleinen Vorbaues trugen, und verſank ſo in Traͤumerei, in ein Meer banger Welt⸗ vergeſſenheit, in das vor ihr ſchon ungezaͤhlte Tauſende und aber Tauſende in ſchimmernder Nacht geſunken waren, ſo⸗ lange die alte Welt ſteht. So ſtand Kriſtine und blickte mit uͤbervollem Herzen und Traͤnen in den Augen hinaus in den Nebel. Da ſchien es ihr, als tauchte eine dunkle Geſtalt auf, — und wie ein Wunder war es ihr — ſie wußte, daß die Geſtalt, die ſie ahnte, kannte, bis in die innerſte Seele ſchauervoll empfand, daß dieſe Geſtalt die Augen auf ſie ge⸗ richtet hatte. Wie Feuer durchrann es ſie. Einen Jubel⸗ ſchrei hielten die jungen Lippen zuruͤck.
Kriſtine, das jungfraͤuliche Kind, das ſtark und geſund und froh im Schutze der Kindheit gelebt und noch nicht Aber dieſe hinaus gefühlt hatte, — ſtand jetzt vor dem Geheimnis, das ihr eigenes Herz barg, unvermittelt uͤberraſcht dem großen Einen gegenuͤber, das wir Liebe nennen.
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Sie ſtand und regte ſich nicht — und doch, ohne daß fie es wußte, loͤſten ſich ihre Arme von dem Holzwerk, das ſie umſchlungen hatten, und preßten ſich gefaltet ihr aufs Herz. „Herr, mein guter Gott“, fluͤſterte ſie wie un⸗ bewußt.
Und jetzt ſchlug ein Ton an ihr Ohr — ihr Name, ihr eigener unſchuldiger Name! Daß er aber jetzt ausgeſprochen wurde — und von ihm — das ſchien ihr wunderbarer als Sonne, Mond und Sterne — und der Jubelton, den vorhin die Lippen noch zuruͤckgehalten, drang ihr aus dem Herzen wie der erſte Ton der aufſteigenden Lerche im Fruͤhjahr. Und da flimmerte es ihr unſaͤglich vor den Augen — da ſchien der Nebel zu wogen, und Himmel und Erde und alles, was ſie kannte, wußte, wollte, zu verſchlingen, zu ver⸗ bergen — da war es ihr, als wollte eine ganze Welt ſich ihr ans Herz drängen. —
Wie im Todesfchred Halt fie die Arme vor ſich ausgeſtreckt und fuͤhlt ihre Haͤnde erfaßt und heiße Lippen, die ſich darauf preſſen, fuͤhlt ſich hingezogen und ihr Haar beruͤhrt von einer haſtigen Hand. Und als ſie aufſeufzen will im Drange der uͤbergroßen Bewegung, da iſt ihr Mund von Kuͤſſen ge⸗ ſchloſſen.
Es vergehen ihr die Sinne, und wieder verſinkt alles, was ſie je erlebt, jede Stunde, jede Minute, jede Erinnerung in dieſem Augenblick in den tiefen, leuchtenden Nebel, der beide umgibt.
„Weine heilige, — meine weiße Kriſtine!“ ruft Ker außer ſich. „Liebſt du mich?“
Er fluͤſtert in Erregung, die ihm die Stimme und die Sinne raubt, die über ihm zuſammenſchlaͤgt wie die Meeres⸗ wellen über den Ertrinfenden.
Das junge Geſchoͤpf laͤchelt wie im Traum, erbebt unter den Kuͤſſen.
„Nun kuͤſſe mich auch! — kuͤſſ“ mich!“
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Und Kriſtine ſchlingt die Arme um ihn und kuͤßt ihn lang und innig und voll ſeligen Vertrauens auf den Mund.
„Nun gehoͤren wir wahrhaftig zueinander. Ich bin dein und du biſt mein!“ ſagt ſie.
Er faßt ihren blonden Kopf mit beiden Haͤnden und haͤlt fie im ſilbernen Nebellicht fo von ſich ab, wie ein gluͤcklicher Menſch, der etwas Koͤſtliches gefunden und dies im Hoch⸗ gefühl des Beſitzes beſchaut.
„Was iſt fo ein Madden für ein herrliches Geſchoͤpf!“
So halten ſie einander feſt umſchlungen, und der helle Nebel ſinkt dichter und dichter auf die ſtille Erde herab, ver⸗ birgt alles und jedes, und die beiden ſtehen in dem wogenden Dunſte, als ſtaͤnden fie auf dem Meeresboden, tief unter den Wellen ganz allein und fluͤſterten.
„Sag' mir,“ fragt Kriſtine, „weißt du, nun mußt du mir alles ſagen. Weshalb biſt du denn fo gequält hierher⸗ gekommen?“
„Ich bin arm, ganz arm geworden.“
„Nun, was tut das?“
Und nun fließt ſeine ſchwere Erregung in ihre Seele über. |
Ste Hört mit großen, weit offenen Augen von dem Treiben der Menſchen, von ihrer Ungerechtigkeit, vom ihrem Haſten nach Gluͤck und Wohlleben — und von großem Unrecht.
„Und das alles hat man dir getan!“ rief ſie zitternd und liegt in ſeinen Armen und iſt ganz Begeiſterung und Innig⸗ keit.
„Nun biſt du aber ſchon nicht mehr verlaſſen. Nun helfen wir dir, mein Vater und ich! Nun gehoͤrſt du zu uns! Mein Vater iſt wahrhaftig gut — und iſt auch reich. Du haſt nun wieder, was dir gehoͤrt.“
„Laß das!“ ſagt er hart. „Glaubſt du, daß ich mich be⸗
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ſchimpft in deine Familie eindraͤngen will? Ich will kaͤmpfen auf Tod und Leben! Dann ſtehen wir zueinander — dann kommt das Gluͤck!“
Ein leiſer Seufzer entringt ſich dem ganz in Liebe vets ſunkenen Geſchoͤpf.
„Ich fteh” dir bet bis zum Tod“, (age fie leiſe.
„Herr, mein Gott, weshalb muß ich jetzt in Not und Qual ſtecken! Verzeih mir! Verzeih mir!“ ruft er erſchuͤttert und preßt ſie an ſich. „Du biſt mein!“
Und er hebt die weiche, weiße Geſtalt auf ſeinen Arm.
„So trug ich dich ſchon einmal — ſo haſt du mir's an⸗ getan!“
„O du! — du!“ fluͤſterte fie verwirrt in traͤumeriſcher junger Leidenſchaft.
Kriſtinens und Kers Haar iſt feucht, an Wangen und Stirn legt ſich ihnen der Nebel.
Jetzt bleibt Ker ſtehen und ſchoͤpft tief Atem. Kriſtine gleitet zur Erde hinab und fragt leiſe, von dieſen Augenblicken ganz verwirrt:
„Wo ſind wir nun eigentlich?“ und ſchmiegt ſich feſt an ihn; befangen, ohne ihn loszulaſſen, ſchaut ſie um ſich.
Eng aneinandergepreßt gehen fie, als wollten fie zu einem Körper verſchmelzen. In junger, großer Leidenſchaft ſuchen ſich ihre Haͤnde und krampfen ſich ſelig verzweifelt ineinander. Ihre Blicke ſuchen ſich. Alles draͤngt zueinander brennend in vollen Flammen — der nahe drohende Abſchied — das Entſetzen, ſich fo bald verlieren zu muͤſſen — das ungeheure, ſchwindelerregende Gluck der Nähe. Dieſe wogende Selig⸗ keit, die Sonne tanzen laͤßt, die Himmel und Erde ver⸗ ſchmilzt, die Koͤrper zu Seele und Seele zu Koͤrper geſtal⸗ tet; die Feuerzaͤrtlichkeit, die Berührungen zu leuchtenden Flammen macht!
Zwei, die ſchwer und jauchzend an dem hochheiligen Wun⸗
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der tragen, gehen dem in großen Zügen atmenden nächtlichen Meere zu.
Jetzt liegt es vor ihnen, ſchimmert ſilbern durch weiße Schleier.
Die Luft jubelt ihnen! Das Waſſer jauchzt ihnen! Ihr Blut ſingt ihnen in den Adern.
Hochheilige Hochnacht der jungen Körper, der jungen Seelen!
Ein dunkler, formloſer Fleck liegt auf den Wellen, ganz nah“ dem Strande, von Dunſt faſt ganz verhuͤllt, vielleicht ein Boot, vielleicht ein angeſchwemmter Baumſtamm, — Fuhkſens Walfisch.
Ker umfaßt das weiße bebende Maͤdchen.
Die friſchen Wellen ſpuͤlen in weiten Bogen zum flachen Ufer hin.
Er haͤlt Kriſtine umklammert in wilder, ſtarker Leiden⸗ (haft.
Sie find fo göttlich einſam — und haben alles vergeſſen!
Waſſer, Nebel und Nacht ſind auf der Welt — und ſie ſelbſt — ſonſt nichts. —
Sie ſind die einzige Macht.
Die beiden verwirrten, jungen Geſchoͤpfe hat der weiße Dunſt ganz in ſich aufgenommen. Kein Auge der Welt folgt ihnen — das Schickſal allein, dem wir nie und nirgends entrinnen, und wollten wir uns in den Himmelsraͤnmen und in den Schoß der Erde verbergen.
er Fink ſchlug leiſe, halb im Traume, fein lebens frohes
pink, pink, pink dem fruͤhen Tag entgegen, und ſeine Freunde und Nachbarn antworten. Aber ſie erwachen heut alle nicht zu warmem Sonnenſchein, es troff ihnen gegen Morgen auf das Gefieder, es troff auf die Tannen und Birken.
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Der Nebel, der ſeit drei Tagen des Nachts aber der See gelegen, hatte jetzt Regen gebracht, grauen Landregen, der fein, ſpruͤhend, eben niederzuſinken begann.
Einmal ſchien es, als ob die Sonne ſich durchkaͤmpfen wollte, es blitzte hin und wieder auf und glaͤnzte in friſchem Gruͤn, aber die Wolkenmaſſen auf der weiten See ſchoben ſich mehr und mehr zuſammen.
Unter den Birken und Tannen, nahe am Haus, ſteht eine weiße Geſtalt. Der Regen rieſelt auf ſie nieder. Sie ſteht fill und unbeweglich und ſchaut auf das Haus, in dem noch alle in tiefem Schlummer liegen. Jetzt geht ſie langſam vor⸗ waͤrts. Groß, offen ſtehen ihre Augen im bleichen Geſicht wie ins Leere ſtarrend, wie auf eine Schuld ſtarrend, auf etwas unbegreiflich Geſchehenes, — auf etwas Raͤtſelhaftes. Das ſind die armen, betroffenen Augen des jungen Weibes, die das große Opfer brachte, das ſie im Taumel ſinnver⸗ wirrenden erſten Liebesleides brachte. Das ſind die Augen, die ſo vernichtet blicken — und voll glimmenden Lebens — ſo umgewandelt. Die paar Stufen zur Veranda ſteigt die müde Geſtalt langſam hinan, geht ebenſo gleichmaͤßig langſam in ihr Zimmer zu ihrem Bett, faͤllt davor nieder auf die Knie und ſinkt mit dem Kopf auf die Decke. So bleibt ſie un⸗ beweglich. Draußen rieſelt der Regen ſtark und gleichmaͤßig nieder, ſchwere große Tropfen fallen vom Dach der Veranda, die Tuͤr ſteht noch immer auf, Regenluft, graues Licht dringt ein, und ein feuchter Morgenwind ſtreicht an der Tuͤre vor⸗ über. —
Jetzt hebt fie ihren Kopf vom Bett in die Höhe, ſchaut um ſich wie nach einem langen, ſchweren Schlaf, und ein ſeltſamer Schmerzenszug hat ſich um den jungen Mund gegraben.
Ohne ſich zu erheben, auf den Knien, kehrt ſie ſich dem Fenſter zu, die Hände preßt fie gefaltet auf die Bruſt und ſpricht langſam und matt:
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„Du biſt fo gut, mein Gott — Sonne und Mond, die ganze Welt, und die Menſchen, und Gluͤck und Leid Haft du geſchaffen, und Jeſus Chriſtus hat ſich für uns geopfert. Und alles kannſt du, — und nichts iſt dir unmoglich. Daß die letzten Stunden ein Traum waren, das bitt ich von dir — das allein — ganz allein — hoͤrſt du, mein Gott!“ —
Ihre Stimme zitterte, und Traͤnen drangen in die groß offenen Augen.
Sie fluͤſterte leidenſchaftlich:
„Und ich vertran’ — ich ſchwoͤre dir's — ich verſpreche dir's — ich werde nicht ein einziges Mal traurig fein — ich werde es meinem Herzen nicht erlauben — ich ſchwoͤre dir's — ich werd’ mich nicht ſehnen. — Kein Menſch ſoll's ahnen, ich will froh ſein — und alle im Haus froh machen und allen helfen — helfen, wie ich kann. Meinem guten, lieben Vater.“ — Sie blieb noch lange auf den Knien liegen und blickte hinauf in den grauen Regenhimmel, in dem fie ihren Gott zu finden glaubte. —
Dann ſtand ſie auf — das Schwere, Langſame in ihren Bewegungen war etwas von ihr gewichen. — Sie ſtrich ſich mit der Hand über die Stirn, richtete ſich feſt auf: „Kein Schmerz, — kein Hoffen — nichts“ — ſagte ſie ruhig. Darauf ging fie, ſchloß die Tür, entkleidete ſich und legte ſich zur Ruhe.
Und matt und muͤde mußte ſie ſein, denn bald ſanken die Lider zu, und ſtatt des ſchmerzlich verwirrten Aus⸗ druckes in ihren Zügen trat auf dieſe Züge ein traͤumeriſch braͤutliches Laͤcheln, und im Hinſinken zum unbewußten Schlaf kam Gluͤckesausdruck zutage, ruhte auf dem ſchlafenden Geſicht und wurde von keinen Gedanken, keiner Verwirrung mehr verſcheucht.
Als ſie nach wenigen Stunden erwachte, konnte ſie nicht mehr ruhig liegen bleiben, trotz fruͤher Morgenſtunde. Sie
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erhob ſich, kleidete ſich langſam an. Ihre Bewegungen waren ruhig, ſo voͤllig anders, wie an jenem Morgen, als ſie an das Fenſter trat und den Nebel ſah.
ie geht die Treppe hinauf, nach dem Familienzimmer,
wendet ſich im Gehen unverſehens um und gewahrt An⸗ nuſchka, die den Kopf zwiſchen die ein wenig geoͤffnete Hanstuͤr geſteckt hat und ihn ſo genau in die ſchmale Luͤcke eingepreßt haͤlt, daß es den Anſchein hat, als wollte ſie ihn wie eine Nuß zerknacken.
Jetzt zieht fie den Kopf ein, ſchuͤttelt ihn und ſagt zu ſich ſelbſt in ihrem vortrefflichen Deutſch, auf das ſie ſtolz iſt und das ſie mit eitler Vorliebe anwendet:
„Schönes Menſch da ſteht — fremdes Menſch.“ —
Kriſtinens Haͤnde fahren zum Herzen, ſie ſteht ſtarr und unbeweglich.
Annuſchkas Kopf zwaͤngt ſich wieder in die enge Tars ſpalte, zieht ſich wieder zuruͤck: „Fremdes Menſch draußen, will was — fremdes Menſch im Regen.“
Jetzt gewahrt Annuſchka Kriſtinen.
„Kind,“ ruft ſie und winkt ihr, „Kind ſehen was fremdes Menſch will — Kind!“ |
Kriſtine kommt die Stufen wieder herab, wie im Traum und bleich. —
Annuſchka oͤffnet die Tar, und Kriſtine tritt hinaus —
Da wandelt eine Geſtalt im dichten Regen ihr ganz nah.
Ihr dunkelt's vor den Augen, ein namenloſer Schmerz dringt ihr zum Herzen. Die Geſtalt kommt auf fie zu. Da hebt Kriſtine beide Arme in die Hoͤhe — und wie zu Tode ge⸗ troffen, alles vergeſſend, ruft ſie: „Bleib! bleib!“ und ſtuͤrzt ihm entgegen. — Ein Schreck fährt ihr durch die Glieder — ſie ſtarrt die Geſtalt an, die jetzt vor ihr ſteht, ebenſo bleich faſt wie ſie, mit einem ebenſolch maͤchtigen Schreck in den Zügen.
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Er iſt es nicht! — Fuhks iſt's, in Kers triefenden Regen⸗ mantel gehuͤllt.
Fuhks hat einen Brief fuͤr Kriſtinen in der Hand; aber er kann die Hand nicht regen.
Und keins kann ein Wort hervorbringen, und beide gehen auseinander.
Kriſtine rettet ſich, von Schmerz und Qual bedraͤngt, in ihr Zimmer zuruck, ſchließt (ich ein und wirft (ich auf die Erde.
Und Fuhks geht mit langen Schritten weiter, hinunter zu den Birken, von denen ans man den Strand und das Meer ſieht.
Da lehnt er den Kopf an einen naſſen Birkenſtamm und weinte.
In weiter Ferne zieht uͤber dem Meer ein dunkler Streifen Rauch am Horizonte hin — als letzter Gruß.
In Fuhkſens Herz draͤngt ſich ein bitteres, bitteres Gefuͤhl ein, etwas wie Haß will ſich in dieſem Herzen einniſten. Da aber wird's ihm fo jaͤmmerlich zumute — fo angſt — ſo gottverlaſſen, — daß er dem dunkeln Gaſte verzweifelt die Thre weiſt.
Welchen Morgen hat er hinter ſich, welche bange Nacht! Und wie iſt ſein Ker abgereiſt! — bleich — verſtoͤrt — ge⸗ hetzt; er wollte nicht — und doch war's nicht anders moͤg⸗ lich — und wollte zuruͤckkehren — von Kopenhagen, ſchwor's und beteuerte es, wollte arbeiten, kaͤmpfen — Unmoͤgliches möglich machen, war voller Pläne — voller Hoffnungen — wie im Fieber. Fuhks hat ihm tauſendmal verſprochen, feine Sache zu fuͤhren, und Ker hat daruͤber gelacht und doch ihm in Haſt und Qual immer wieder von neuem alles klar ge⸗ legt, in alles eingeweiht und ihn gebeten — gebeten — zu helfen wie er koͤnne. Er hat ihm Geld aufgedraͤngt fuͤr alle Fälle — Fuhks fühle die Brieftaſche feines Freundes, fein Herz ſchlaͤgt dagegen. Und unſer Fuhks ſieht jetzt im Geiſte das erregte, bleiche Geſicht ſeines Ker, wie ſich dieſer uͤber ihn
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gebeugt hat, als er, Fuhks, (chon die Schiffstreppe wieder herabging, und wie Ker ihm einen Brief in die Hand ge⸗ druͤckt — gleich — aber gleich“, hatte er dazu gefluͤſtert und ihm ſeinen eigenen Regenmantel um die Schultern ge⸗ worfen. — Und dann war Ker verſchwunden — Fuhks hat ihn nicht wiedergeſehen — und das Baͤrenfell, das er dem Ker nicht mitgegeben — das Baͤrenfell lag noch im Walſiſch — und der Brief? den haͤlt Fuhks in der Hand auf die Bruſt gepreßt — er hat ihn nicht abgegeben — hat es nicht ge⸗ konnt — und ſteht immer noch mit dem Kopf an dem naſſen Birkenſtamm geſtuͤtzt — und ſieht den dunkeln Rauchſtreifen am Horizont vergehen. So enden die ſchoͤnen Tage auf Erden.
Drittes Bu ch
Erſtes Kapitel
Herr und Frau Profeſſor Henneberg lebten ſo, wie es nicht anders zu erwarten ſtand, machten ihre Viſiten, wurden eingeladen und gaben hin und wieder ein vortreffliches Diner, taten alles, was mit der allgemeinen Meinung in voll⸗ kommenem Einklang ſtand, waren in jeder Beziehung muſter⸗ haft vornehm, unauffaͤllig und gediegen. — Sie haͤtten auf einer Ansſtellung, welche die Entwickelung der Menſchheit vom rohen Wilden bis zur kultivierteſten, ziviliſterteſten Menſchenſpezies zu zeigen ſich die Aufgabe geſtellt Hätte, dieſe letzte Stufe ſamt ihrer Villa mit gutem Gewiſſen ver⸗ treten koͤnnen und waͤren ſicher geweſen, von der ſtrengſten Jury einſtimmig praͤmiiert zu werden.
Alles war in beſter Ordnung.
Trotz alledem aber ſollte auch hier in der Villa ein Ereignis eintreten, das den Frieden ſtoͤren mußte. Das erſte Kind wurde erwartet.
Alles war auch in dieſer Zeit durchaus comme il faut, die Toiletten wie die Erſcheinung der jungen Frau, die Ein⸗ teilung ihres Tages, ihre Ausfahrten und Spaziergaͤnge, ihre Diaͤt, ihre Beſchaͤftigungen, der Trouſſeau des kuͤnftigen Weltbuͤrgers, alles und jedes. Profeſſor Henneberg verzieh ſeiner Frau gern eine mehr oder weniger leichte Gereizt⸗ heit, die hin und wieder hervorbrach und die er verſtaͤndnis⸗ voll ihrem Zuſtand zuſchrieb und als voͤllig in der Ordnung empfand. — Man muß der Natur ihre Rechte belaſſen, oder: alles verſtehen heißt alles verzeihen.
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Er war vollkommen damit einverſtanden, daß feine Frau Mutter und Schweſter zu dieſer Zeit erwartete, weniger, daß auch ſein Schwiegervater, mit dem er ſich nicht beſonders ſtand, die beiden begleitete, ein kraͤnklicher Menſch, der hier in Jena einen Spezialiſten konſultieren wollte. Die Mutter follte im Haufe der Tochter wohnen — für Vater und Schweſter war eine Wohnung in einem nahen Hauſe gemietet worden. — So war alles zum Empfang der Gaͤſte geordnet; und als der Tag kam, der die Erwarteten bringen ſollte, machte ſich Herr Profeſſor Henneberg auf, ſeine Verwandten auf dem Bahn⸗ hof zu empfangen. Er verabſchiedete ſich von ſeiner Frau und druͤckte ihr einen Kuß auf die Stirn.
ls die Verwandten Profeſſor Hennebergs ſich anſchickten,
das Kupee zu verlaſſen, half er ſeiner Schwiegermutter hoͤflich und herzlich beim Ansſteigen und druͤckte ihr einen Kuß auf die Hand.
„Und Olga? Olga?“ frug dieſe beſtuͤrzt, „warum tft fie nicht hier? fie iſt doch wohl?“
„Vollkommen — ausgezeichnet. — Wir ſind augen⸗ blicklich bei ihr.“
Jetzt begruͤßte er ſeine Schwaͤgerin Kriſtine und ſeinen Schwiegervater, der ſich auf Kriſtine ſtuͤtzte.
„Du biſt etwas von der Reiſe ermuͤdet, lieber Papa,“ fagte Profeſſor Henneberg, „nun, das wird fich hier in der ſchoͤnen Luft bald geben.“ So fuͤhrte er die Gaͤſte ſeinem Wagen zu, ſah mit Wohlgefallen auf die Schwaͤgerin, die ſich, ſeit er ſie nicht geſehen, vom wilden Kinde zum jungen Maͤdchen entwickelt hatte, begruͤßte Ahrenſees Reiſegefaͤhrtin, Mathilde Swenſen, die ſich in Wiederſehensfreude in die Arme einer mageren, gelben, kleinen Dame geſtuͤrzt hatte, an deren Kleiderrock ein ſchreiender, dickkoͤpfiger Junge hing,
dem die Struͤmpfe von den Beinen gerntſcht waren.
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Nachdem die beiden Damen nach der freudigen Um⸗ armung Luft geſchoͤpft hatten, ſtuͤrzte Mathilde Swenſen, an der Hand ihrer Freundin, die den ſchreienden Jungen nachzog, mitten unter die Ahrenſees. —
„Das iſt meine Freundin, Frau Profeſſorin Majunke, von der ich euch ſo viel geſprochen habe — und das ſind meine Verwandten aus Finnland.“
Damit war die zwangloſe freudige Vorſtellung erledigt. Frau Ahrenſee reichte Frau Profeſſor Majunke ihre Hand, die ihrerſeits dieſe Höflichkeit erwiderte und ſich durchaus nicht dadurch bedruckt fühlte, daß ihre Hand in einem etwas fragwuͤrdigen ſchwarzen Handſchuh ſteckte, deſſen Finger wie die Schalen von aufgeſprungenen Bohnenſchoten aus⸗ einanderklafften.
„Nun,“ rief Frau Majfunke laut, um ihren ſchreienden Sproͤßling zu übertäuben, „wir werden uns ja wohl oͤfters ſehen, da Herr Gemahl und Fraͤulein Tochter in unſerem Hauſe gemietet haben — ein altes Haus — aber oben bei Ihnen recht huͤbſch.“
Profeſſor Henneberg hatte durch den Diener das Gepaͤck beſorgen laſſen, und es ſchien, als ſtaͤnde dem Weiterkommen jetzt nichts mehr im Wege — da ſtuͤrzte ein Weſen, dem die braunen Haare zottig um den Kopf ſtanden, dem der oberſte Rockbund weit herabgerutſcht war, ſo daß der Rock an der Seite ſchleifte und der ungluͤcklichen Perſon bei jedem Schritt zwiſchen die Fuͤße kam, auf die Geſellſchaft zu. — „Kind“ — rief fie — „Kind! Matuſchka! Frau! Warten! — Laufen nicht! — Verloren gehen ich!“ Den Regenſchirm hatte ſie an der Spitze gefaßt und fuchtelte mit dem Griff in der Luft herum.
„Wer iſt denn das?“ frug Profeſſor Henneberg, „gehoͤrt die zu euch?“
„Das iſt ja Annuſchka“, ſagte Kriſtine und war dabei, das außer ſich geratene Geſchoͤpf zu befanftigen. Sie band
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ihr den Rockbund hinauf und kehrte ihr den Regenſchirm um. „Geh uns nach,“ ſagte ſie, „wir laufen nicht davon.“
„Das iſt ja ein fuͤrchterliches Weſen“, bemerkte der Pro⸗ feſſor.
„Sie wollte durchaus mit, es war nichts mit ihr zu machen, ſie waͤre zugrunde gegangen, haͤtten wir ſie nicht mitge⸗ nommen“, antwortete ihm Frau Ahrenſee etwas verlegen.
„Annuſchka iſt uns von der Reiſe ſo auseinander ge⸗ kommen,“ ergaͤnzte Kriſtine, „und wird ſich ſchon wieder beruhigen.“
„Eine allerliebſte Kammerfrau, das muß ich ſagen!“
Profeſſor Henneberg war es unbehaglich zumute. |
„Ich muß geftehen, daß mir, wie die Dinge augenblicklich liegen, das einigermaßen bedenklich erſcheint: ich moͤchte die aufgeregte Perſon meiner Frau jetzt nicht unter die Augen bringen.“
„Annuſchka wohnt bei uns“, ſagte Kriſtine.
„Mein Gott,“ rief Frau Ahrenſee, „glaubſt du, daß Olga das ſchaden koͤnnte? Was ſollen wir tun? Wir ſind an Annuſchka ſo gewoͤhnt, daß ſie uus gar nicht mehr ſo ſonder⸗ bar erſcheint.“
In demſelben Augenblick traten Mathilde und Frau Majunke Arm in Arm wieder aus dem Bahnhofsgebaͤude, Kriſtine ging auf ſie zu, und es waͤhrte ein paar Augenblicke, da trabte Annuſchka haſtig kopfſchuͤttelnd, von Kriſtine ſo weit beſchwichtigt, den beiden Damen nach, die miteinander dem Staͤdtchen zugingen.
Kriſtine faßte die Hand ihres Vaters, der ihr im Wagen gegenuͤber ſaß, mit beiden Haͤnden und ſah ihn an — und uͤber ihr Geſicht zog ein fremder, tiefbewegter Zug — fuͤr einen Augenblick.
„Olga wird ſich wundern, wenn ſie dich ſieht, kleine Schwaͤge⸗ rin. — Was iſt in ſo kurzer Zeit aus dem wilden Kinde ge⸗ worden! Ihr ſeid gewohnt, fie zu ſehen — euch fällt nichts
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auf. — Sie ift viel ruhiger geworden und hat gehalten, was fie verſprach.“
„Sie iſt viel ruhiger geworden —“ klang Profeſſor Henne⸗ bergs Stimme in Ahrenſees Ohren nach — und wahrhaft, er mochte recht haben, ihre Heiterkeit ſchien ihm nicht mehr fo ſonnig wie früher zu fein. — „Ihre Güte tft ruͤhrender, wie bewußter geworden,“ dachte er — „das muß nun ſo ein Fremder eher bemerken als der eigene Vater.“
Jetzt hielt der Wagen. Sie gingen durch den Garten in das Haus, und oben an der Treppe ſtand Olga. Die Mutter ſchloß fie in die Arme, fo zart, als wäre fie ein zerbrechliches Puͤppchen, ſah ihr forſchend, weinend und voller muͤtterlicher Liebe in die Augen, und kuͤßte fie, hielt fie umfangen und wollte ſie, wie es ſchien, niemandem goͤnnen.
Ein liebevoll beſorgtes Leben entfaltete ſich in der Villa. Aus der kleinen wohldreſſierten Frau war mit einemmal wieder das Kind zaͤrtlicher Eltern geworden.
Mit einer gewiſſen Scheu betrachtete Frau Ahrenſee die Tochter in ihrer untadelhaften Umgebung. Sie erſchien ihr wie eine Meiſterin in den Dingen, in denen ſie ſelbſt es nie zur geahnten Vollendung hatte bringen koͤnnen. So behag⸗ lich es auch bei Ahrenſee daheim zuging, ſo war immer etwas Urwuͤchſiges, Naives, Laͤndliches im Haufe zu ſpuͤren.
Gegend Abend empfing Mathilde Swenſen ihre Ver⸗ wandten in der gemieteten Wohnung auf das angeregteſte; ſie ſchien im Wohlgefuͤhl zu ſchwelgen. Hier wurde ſie einmal wieder ganz verſtanden! Ihre ſtaubfarbene Taille war aus⸗ gefüllter als je, ſaß rund und prall und ſchlug nirgends ein Faͤltchen. An der Bruſt ſteckte ihr ein Blumenſtrauß; ihr Atem duftete nach allerlei Suͤßem, nach Torte und Wein: fie war (chon in der Eile gefeiert worden. — „Was find die Majunkes fuͤr herrliche Menſchen!“ — rief ſie. Annuſchka hatte ſie auch mitgebracht, die lehnte wie betaͤubt in dem großen dreifenſtrigen Salon, der mit feinen fleifen Mahagoni⸗
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möbeln einen ehrbaren altbuͤrgerlichen Eindruck machte. Er war daͤmmerig und tief, war ein Raum, dem man anfuͤhlte, daß er viel Leben ſchon umſchloſſen hatte; durch die Decke zog ſich ein gewaltiger Balken.
Heinrich Ahrenſee ſchien ſein neuer Aufenthalt zu inter⸗ eſſieren, er ging auf und nieder, beſchaute ſich die Stahl⸗ und Kupferſtiche, die altvaͤteriſchen, friſch aufpolierten, paras dierenden Moͤbel.
Waͤhrenddem ſtand Annuſchka noch immer ſteif und un⸗ beweglich.
Kriſtine, die inzwiſchen die andern Zimmer ſich angeſehen hatte, ſagte, als ihr die ſteife Annuſchka jetzt auffiel:
„Das Reiſen hat jetzt ein Ende.“
Annuſchka ſchuͤttelte unglaͤubig den Kopf.
„Denke nur an die Koffer, an nichts weiter. — Pack ans.“
Mathilde lachte: „Da habt ihr euch wirklich einen Tanz⸗ baͤren aufgehalſt. Onkel, warum biſt du eigentlich nicht energiſch dagegen aufgetreten? — Es iſt ja ſchrecklich.“
„Ich halte es fuͤr kein Ungluͤck“, ſagte Ahrenſee ruhig.
„Nun, ein Ungluͤck nicht gerade; aber eine Unannehmlich⸗ keit —
„Sie wird ihre Sache ſchon beſorgen, laß ſie und Kriſtine nur miteinander fertig werden. Mir iſt Annuſchka ganz recht, ſo ein Stuͤck Heimat!“
„Aber ein unkultiviertes.“
„Sottlob“, ſagte Ahrenſee. „Du weißt ja, ich bin auch unkultiviert.“
In dieſem Augenblick erſcholl die Treppe herauf ein gleich⸗ maͤßiges Geſchrei, kam naͤher und naͤher — tief, eintoͤnig, klagend — ein Geſchrei, dem wir in dieſem Kapitel ſchon ein⸗ mal begegnet ſind.
„Bimm bimm!“ ſagte Mathilde frohlockend, ging zur Tar, oͤffnete fie — das Geſchrei drang gewaltig herein, —
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und draußen ſtand Frau Majunke mit Bimm Bimm, der ihr am Mode hing und dieſen auf das ſtraffſte ſpannte, denn Bimm Bimm beabſichtigte offenbar, nicht naͤher zu treten. —
Frau Majunke begrüßte mit einem füßen Lächeln Herrn Ahrenſee und wendete dann ihre volle Aufmerkſamkeit auf Mathilde: „Engelskind,“ ſagte ſie zaͤrtlich, „komm jetzt zu uns herunter. — Verzeihen Sie“, wendete ſie ſich hoͤflich an Heinrich Ahrenſee durch die Tarfpalte — weiter kam fie nicht, Bimm Bimm zog aus Leibeskraͤften am Rock.
„Ja, Teuerſte, Beſte, augenblicklich ſagte Mathilde liebe⸗ voll und mit ſo warmem Herzenston, wie Heinrich Ahrenſee ihn noch nicht an ihr vernommen hatte. Bald darauf waren Mathilde und Frau Majunke miteinander verſchwunden. Das Geſchrei entfernte ſich, tief, eintoͤnig und klagend. Schließ⸗ lich hoͤrte man nur hin und wieder noch einen entfernten, langgezogenen Ton — und manchmal etwas — etwas ganz Eigentuͤmliches — eine Art Geheul, nicht recht Erklaͤrliches; aber dumpf, ganz dumpf.
Ahrenſee ging in Gedanken auf und nieder. — Es war ihm nicht wohl, er fuͤhlte ſich erregt und abgeſpannt, die Reiſe hatte ihm nicht gut getan. Kriſtine ſtellte zwei brennende Lichter auf den Tiſch, weil das Zimmer trotz der Lampe duͤſter ausſah, und wollte eben wieder geſchaͤftig aus der Tür gehen.
„Bleib“ doch hier“, ſagte ihr Vater, und gleich darauf lag Kriſtineus blonder Kopf an ſeiner Bruſt.
„Einem alten Menſchen wird das Reiſen ſauer, die Fremde iſt nichts mehr für ihn. Wir wollen uns hier eine Heimats⸗ ecke machen — wir beide!“
„Ja,“ ſagte Kriſtine — „haͤtten wir nur unſer Boot und die See, und den Garten, und alles miteinander auch gleich hier.“
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„Sing“ mir etwas — Sing’ deine Kylliki.“ —
Sie ſaßen jetzt miteinander auf dem ſteiflehnigen Sofa.
„Nun?“ frug Ahrenſee. Kriſtine ſah ihn mit großen, er⸗ ſchreckten Augen an.
„Deine alte Kuylliki.“
„Etwas anderes —“
„Was du willſt. Aber was haſt du denn gegen die Kylliki?“
Kriſtine ſchuͤttelte den Kopf leicht und machte ſich von ihrem Vater los — ſaß eine Weile ganz ſtill. Mit einemmal begann ſie ein Liedchen mit halber Stimme zu ſingen, faſt fluſternd leiſe wie ein Vogel, der fig ſelbſt in Schlaf fingt. —
„Was iſt das! “ frug fie und brach mitten im Liede ab. Es hatte wieder dumpf und ſonderbar lang anhaltend viel⸗ ſtimmig geheult. — „Da muß etwas geſchehen ſein“, ſagte fie aͤngſtlich. „Es iſt (hon oͤfters fo geweſen. — Haft du's noch nicht gehoͤrt? Es klingt ſo angſtvoll.“ Und mit einem⸗ mal begann ſie zu weinen, ihr ganzer Koͤrper wurde von dieſem Weinen durchzittert.
Ihr Vater zog ſie an ſich, hielt ihren Kopf zwiſchen ſeinen Haͤnden, aber ſie wendete ſich von ihm ab.
„Was iſt dir? Biſt du müde? Haft du dich erſchreckt? — Sei ruhig!“ — ſagte und frug er bewegt. — „Es iſt ja nichts. Unten wohnt die ſonderbare Perſon. Gott weiß, was ſie treiben! — Es ſind viele Kinder da — denke nur, wie der eine einzige ſchrie!“
„Jawohl“, erwiderte Kriſtine unter Tränen laͤchelnd. „Aber es klingt fo angſtvoll — fo“ — Kriſtine ſchuͤttelte den Kopf und verbarg das Geſicht in den Haͤnden.
Da erſcholl es eben wieder — dumpf und drdhnend — das Geheul kroch wie an den Waͤnden herauf, — Tuͤren wurden geſchlagen, — Fenſter geoͤffnet. Das Geheul klang jetzt aus den offenen Fenſtern ins Freie — in die Nachtluft
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hinaus. Es ſchien vom Hof oder Garten herzukommen. — Ein Trappen, Rufen, Treten auf der Treppe, eine befehlende Maͤnnerſtimme, eine ſehr hohe Stimme — das war Frau Majunkes Stimme — und wieder das Geheul. Es ſchien, als ſollte Ahrenſee gleich am erſten Abend in die Geheimniſſe des Majunkeſchen Hauſes eingeweiht werden.
Jetzt kam Annuſchka aus dem Nebenzimmer geſtuͤrzt, deutete mit beiden Haͤnden auf die Diele und rief:
„Was iſt das? Teifel unten — ſchreien Teifel! Kind nicht erſchrecken. — Alles verrädt hier. Anders wie zu Haus. — Warum fort ſein! — zu Hauſe ſehr gut haben geweſen ſein! Leute in Saͤcken zum Fenſter herausgeſchafft worden ſeind, — geſchaut haben ich.“
„Geh, Annuſchka“, ſagte Ahrenſee.
„Was! Kind weint?“ rief Annuſchka, laut und drohend, „Kind noch nie geweint haben, nur bei verfluchte Teifel, hier im Haus!“
In dieſem Augenblick klopfte es aͤußerſt ſittſam an die Zimmertuͤr.
Vor der Tür ſtand ein langer Junge von fuͤnfzehn Jahren, ſchmaͤchtig und gelb.
„Eine ſchoͤne Empfehlung von Mama und Papa,“ ſagte er verlegen, „und Sie moͤchten entſchuldigen, wenn es nicht ganz ruhig war, aber wir werden gerettet.“
„Was werdet ihr?“ frug Ahrenſee.
Da ſchaute der Junge ihn verbluͤfft an und erwiderte, indem er die Augen feſt auf ſeine Schuhſpitzen bannte:
„Wir werden Sonnabends alle vierzehn Tage gerettet, oder alle vier Wochen, wegen dem Feuer, damit wir's ein⸗ mal können.”
„Ich verſteh's zwar nicht, aber das ſcheint ihr ja zu koͤnnen“, ſagte Ahrenſee. „Komm einmal her, Kriſtel, und ſieh dir einen von den Schreihaͤlſen an.“
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Kriſtel ſtand ſchon neben ihm. Sie war bleich und (ah muͤde aus.
Feſte Schritte kamen eilig die Treppe herauf.
Mathilde Swenſen war es.
„Johannes!“ rief ſie. „Sie ſind alſo noch auf. Ich wollte euch fragen, ob ihr einen Augenblick mit hinunter kaͤmt, es iſt zu intereſſant. Vor Majunkes braucht ihr euch nicht zu genieren, das ſind die zwangloſeſten Menſchen, die man ſich denken kann. Es werden unten Feuerwehruͤbungen gemacht. Das habt ihr auch noch nicht geſehen. Die Kinder ſind noch alle auf.
Nicht wahr, Johannes, alter Junge?“ frug ſie und legte um die Schulter des ſchmaͤchtigen Knaben ihren prallen, ſtaubfarbenen Arm.
„Aber bitte, kommt, gerade werden wieder welche im Sack aus dem Fenſter gelaſſen!
Mathilde Swenſen war auf das jugendlichfte eifrig im Gegenſatz zu dem ſchmaͤchtigen Johannes, der die ganze Ge⸗ ſchichte truͤbſelig aufzufaſſen ſchien.
Mathilde ruhte nicht, bis ſie im Verein mit Johannes, Ahrenſee und Kriſtine die Treppe zu Majunkes hinabzog.
Ihnen nach ſchluͤpfte Annuſchka, geraͤuſchlos und geduckt wie eine ſchwarze Katze.
Es war ein gehoͤriger Laͤrm, und bei jeder Stufe, die ſie hinabſtiegen, verſanken ſie gewiſſermaßen tiefer darin.
Als ſie unten angekommen waren, befanden ſie ſich in einem Wirbel von Stimmen und Gepolter. Alle Türen ſtanden auf.
Alles lief durcheinander, und fie waren, ehe fie es ſich verſahen, in einem großen duͤſtern Zimmer angelangt, in dem es hin und her huſchte, in dem geſchrien und ge⸗ rufen wurde, wie jedenfalls in allen andern Zimmern bei Majunkes auch.
Von der Decke herab hing die Urform einer einfachen
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Blechhaͤngelampe, die ein ſehr maͤßiges, verraͤuchertes Licht um ſich her verbreitete. Eine ganze Anzahl von ſchmalen Betten ſtand in dieſem Raum, hoͤlzerne und eiſerne.
Die Bettuͤcher waren in Unordnung geraten, hingen und zipfelten an allen Ecken und ſahen nichts weniger als bluͤten⸗ weiß aus. Mit den mißfarbigen Bettdecken ſchienen ſich die Majunkeſchen Kinder geworfen zu haben.
Mathilde fuͤhrte die Gaͤſte in das Wohnzimmer; mitten darin ſtand Herr Profeſſor Majunke in Hemdaͤrmeln, eifrig beſchaͤftigt, einen Knaben in einen Sack zu ſtecken, drei andere Sproͤßlinge hielten den Sack offen, nach Herzensluſt Rufe, Schreie und Toͤne aller Art ausſtoßend. Der Sack war an einer Leine befeſtigt und wurde mitſamt ſeinem Inſaſſen auf das Fenſterbrett gehoben und von da in den Garten, nicht allzuhoch, herabgelaſſen. Indeſſen ſtuͤrzten welche von den Rangen mit Blitzesſchnelle die Treppe hinab, um den aus dem Fenſter Befoͤrderten unten in Empfang zu nehmen.
Jetzt erſt begruͤßten Herr und Frau Profeſſor Majunke noch ganz erhitzt die Eintretenden.
Frau Majunke ſagte ſehr artig: „Wiſſen Sie, mein Mann hat ſo großes Intereſſe an der Feuerwehr, des⸗ halb!“
Diesmal hing Bimm Bimm nicht wie gewoͤhnlich am Rocke ſeiner Mutter und bruͤllte; es ſtand aber etwas Un⸗ beſtimmtes, Unbegreifliches mitten im Zimmer und tat das, was Bimm Bimm unter allen Verhaͤltniſſen tun mußte, dies Unbeſtimmbare, Unbegreifliche bruͤllte, und zwar ganz in Bimm Bimms Manier.
Es war ein Sack, der in Hoſenbeine verlief, das heißt, in zwei von allen Seiten geſchloſſene Saͤcke, in denen ein paar Beine zu ſtecken ſchienen. Oben war der Sack zugeſchnuͤrt und bildete eine handliche Quaſte. Ein Stuͤck unter dieſer Quaſte waren ein paar runde Löcher geſchnitten, wie die
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Augenloͤcher in einer Femrichterskappe: — und aus dieſen Loͤchern im Sacke blitzten auch wirklich ein paar Augen wuͤtend heraus, und unter der Sackquaſte bewegte ſich ein runder Kopf, und alles uͤbrige war von einem ſtaͤmmigen Körpers chen ausgefuͤllt.
„Darin ſteckt Bmm Bimm“, ſagt Herr Profeſſor Mas junke, nahm den Sack an der Quaſte und hielt ihn hoch, waͤhrend Bimm Bimm wuͤtend zappelte und ſchnickte und ſchrie.
„Dieſe Einrichtung habe ich ſeit kurzem getroffen, und wir find beide eingenommen dafuͤr“ — das heißt nicht Bimm Bimm und Herr Majunke, ſondern Herr Majunke und Frau Majunke. |
„Bricht ein Feuer aus, wird fold ein Kind einfach in einen derartigen Sack geſteckt. Ein jeder kann es ſo auf das leichteſte an der Quaſte transportieren, ohne es zu erkaͤlten; ſelbſt einem Kind waͤre dies moͤglich, und ſollte der Sack waͤhrend des Transportes verloren oder vergeſſen werden, ſo kann es ſich vortrefflich weiter helfen.
„Petrus!“ rief Majunke, „ſchaff Bimm Bimm fort!“
Sogleich ſprang ein duͤnnes Juͤngelchen vor, einen halben Kopf groͤßer als Bimm Bimm, das faßte ohne weiteres den Sack an der Quaſte, ſchleifte ihn mit Anſtrengung, aber unaufhaltſam, trotz Bimm Bimms Gebruͤll zur Tar hinaus — wohin, das blieb unaufgeklaͤrt, doch nach geraumer Zeit ſtand derſelbe Sack mit demſelben Inhalt wieder mitten im Zimmer — und bruͤllte immer noch aus Leibeskraͤften und ſchrie immer dasſelbe: „Niß mis anlangen! Niß mis an⸗ langen!“
Herr Ahrenſee erkundigte ſich, weshalb Bimm Bimm nur allein fo gluͤcklich fet, fold einen Sack zu beſitzen.
„Zufall“, ſagte Frau Profeſſor Majunke eifrig. „Sie ſollten alle ſolche Saͤcke haben, die Geduld aber reichte nicht aus. Vielleicht kommt's noch.“
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In dieſem Augenblick kamen zwei Knaben herein, gelb, muͤde, uͤbernaͤchtig, ruͤckten jeder einen Stuhl an den Tiſch, legten Buͤcher und Hefte laͤſſig auf, und der eine ſchnappte an dem Deckel eines Taſchentintenfaͤßchens gedankenvoll und truͤbſelig auf und nieder.
„Nun, wird's bald?“ ſagte Herr Majunke.
Da ſaßen die beiden armſeligen Burſchen mitten im Spektakel, verſtopften ſich mit den Fingern die Ohren und ſteckten die blaſſen Naſen in die Buͤcher.
Das alles ſpielte ſich in wenigen Augenblicken ab.
Muͤde und abgeſpannt kamen Vater und Tochter nach dieſem Genuß in ihrer ſtillen Wohnung an.
Die Lampen waren indeſſen wieder angezuͤndet, und es ſah leidlich wohnlich aus, wenn man einen Vergleich mit Majunkes Etage anſtellte.
Ahrenſee kuͤßte ſein Kind, ee er es entließ, und ſchuͤttelte laͤchelnd den Kopf.
„Geh,“ ſagte er, „morgen erzählen wir uns einander von dieſen Kaͤuzen.“
Bald war im ganzen Hauſe tiefſte Stille.
Nur eine Haͤngelampe brannte trüb über zwei muͤden Jungen, die wegen der Feuerwehruͤbung ihre Schularbeiten in ſpaͤter Nachtſtunde nachholen mußten.
Sie ſaßen uͤberbuͤrdet und truͤbſelig und ſchauten mit den bleichen Naſen mißmutig in ihre zerarbeiteten Schul⸗ buͤcher.
Und das Treiben bei Profeſſor Majunkes ſetzte ſich aben⸗ teuerlich und ſpukhaft in den erſten Traͤumen der Neuange⸗ kommenen fort.
On der Villa wurde der neue Weltbuͤrger mit tauſend as Sorgen erwartet.
Frau Ahrenſee ging oftmals finnend im Haufe umher; es war ihr darum zu tun, etwas zu finden, was ſie haͤtte in
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Ordnung bringen koͤnnen. Sie hatte ſich vorgenommen, auf allen Gaͤngen Teppiche legen zu laſſen, aber fand keinen Fußbreit im ganzen Hauſe, der nicht neu und weich bedeckt geweſen waͤre. Sie hatte ſich vorgenommen, Tuͤren und Schloͤſſer auf das ſorgfaͤltigſte Men zu laſſen, fand aber zu ihrem Verdruß, daß keine Tuͤr, kein Schub⸗ fach auch nur den allerleiſeſten Ton von ſich gab; ſie verſuchte und horchte, fand aber nicht das geringſte zu aͤndern und zu beſſern. Das machte Frau Ahrenſee ganz nervoͤs und verſtaͤrkte ihre ſorgenvolle Erregung, die durch nichts abgeleitet wurde, ſo daß ſie bei hellem Tag Ge⸗ ſpenſter aller Art ſah, fic mit Befuͤrchtungen quälte, auf Vorahnungen lauſchte und es ihr mitunter ſchwer wurde, der Tochter ein unbefangenes, heiteres Geſicht zu zeigen. —
So kam der Tag, an welchem Frau Ahrenſee auf einen Augenblick zu ihrem Mann kam, gerade nur auf einen Augenblick, der ſoviel Zeit gab, ein paar Worte tiefbewegt zu fluͤſtern, die Hand zu druͤcken, eine beſorgte Entgegnung zu hoͤren, und wieder davonzueilen.
In das hohe Giebelhaus, in dem Heinrich Ahrenſee und Kriſtine wohnten, hatte der ſchwuͤle Auguſttag die Sorge und das Ausſchauen um Nachricht eine ſchwere Stimmung gebracht. Stunden auf Stunden vergingen.
Heinrich Ahrenſee wanderte ſchweigſam in ſeinem Zimmer auf und ab.
Er trat an das Fenſter und ſchaute dem Gewitter ent⸗ gegen, das ſich uͤber den Bergen dunkel zuſammenzog. Annuſchka war eben dageweſen, und er hatte von ihr erfahren, daß es noch immer nicht gut ſtaͤnde.
Gern waͤre er ſelbſt nach der Villa gegangen, fuͤhlte ſich aber zu krank. Die Reiſe hatte ihm nicht wohl getan, ſeit Wochen konnte er ſich nicht davon erholen, empfand ſein Leiden heftiger und ununterbrochener denn je.
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Der berühmte Arzt, den er hier konſultierte, hatte ihm ſofort mit großer Sicherheit den lateiniſchen Namen ſeines Leidens genannt und ihm damit die Gewißheit der Un⸗ heilbarkeit und des nahen Todes gegeben, — ein einziges Wort, das er ſehr wohl kannte und das ihm oft in ſchlaf⸗ loſen Naͤchten beaͤngſtigend vorgeſchwebt. Von nun an hatte das Morgenlicht und die hellſte Sonne nicht die Macht, dieſes Wort ans dem bedruͤckten Herzen auszuloͤſchen.
Er wußte, daß er noch eine kleine Weile gequält und immer gequaͤlter leben wuͤrde. Er wußte aber auch, daß irgendeine Kleinigkeit genügte, das gefuͤrchtete und doch erſehnte Ende raſch herbeizufuͤhren.
So ſchaute er zu, wie ſich die Gewitterwolken ballten, hoͤrte den fernen Donner, und ſchwuͤl umgab ihn die Atmoſphaͤre ſeines Zimmers.
„Arme Menſchen,“ ſagte er vor ſich hin, „arme Men⸗ ſchen! — Arme angefreſſene Menſchen. Nun wird wieder ein ſolcher Narr geboren mit Qualen, um in Qualen zu leben und zu ſterben.“
Vor Ahrenſees Augen zog das Leben voruͤber in dunkeln, ſchweren Zuͤgen. Das Gewitter kam naͤher, die Wolken waͤlzten ſich maſſig uͤber die Gipfel der Berge hin.
Volle, warme Windſtoͤße fuhren gegen das Haus und drangen bis in das dumpfe Gemach.
Er ſah die Leute auf der Straße eilen. Jedes wollte vor Ausbruch des Wetters ans Ziel kommen.
„So ſehen ſie ganz wohl ans, als waͤr's in beſter Ordnung mit ihnen!“ dachte Ahrenſee.
„Iſt auch in beſter Ordnung. — Jeder traͤgt den Todes⸗ keim in fic, wie fich’s gehoͤrt, denn in einer kurzen Spanne Zeit iſt mit ihnen allen gruͤndlich aufgeraͤumt. Bis dahin muͤſſen die, die jetzt hier laufen — und alle Millionen der Erde — zerfreſſen, zermartert, zermalmt ſein, jeder auf ſeine Weiſe.
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Arme Menſchen! arme Menſchen!
Und nicht genug, daß die Natur an ihnen frißt und zehrt, fie hinſchmelzen laͤßt unter Qualen; — fie tuns der Natur nach, ſehen es ihr ab, quaͤlen einander, einer den andern — und ſo geht's fort ohne Aufhoͤren, ohne Ende.“
Die ſchwuͤlen Windſtoͤße fuhren ins dumpfe Zimmer hinein und der Donner rollte. Die Wolken ſtuͤrmten immer noch dahin, ohne Regen zu bringen.
Heinrich Ahrenſee blickte mit dem ruhigen Gedanken in das Sturm⸗ und Wolkentreiben, daß er bald von dieſer Erde ſcheiden muͤſſe.
Er ſchaute in das Nebenzimmer nach Kriſtine ans, ihn verlangte nach ihr. Sie waren ſich in dieſen ſtillen Wochen, in denen ſie mehr als je aufeinander angewieſen ſein mußten, noch weit naͤher gekommen. Kriſtine ſchien ihm unentbehrlich geworden zu ſein. Ein heiteres, hoffnungsvolles Laͤcheln von ihr, die von dem Urteil des Arztes nichts wußte — wie auch niemand ſonſt außer ihm ſelbſt — tat ihm wohl.
Bisher war ſie ihm das Kind geweſen, ſein liebes Kind. Er hatte ſie ſich nicht anders als harmlos froh denken koͤnnen. Jetzt, wie er ſie faſt ununterbrochen um ſich hatte, empfand er, ſie hatte ſich in etwas noch viel Lieblicheres umgewandelt: in etwas Troͤſtliches fuͤr Kranke, in etwas Verſtaͤndiges, Ruhiges fuͤr Leute, die verſtanden ſein wollten, in etwas Helfendes fuͤr alle, die ihrer bedurften. Ihrer Heiterkeit war ein fremder, ſtiller Zug beigemiſcht — es war nicht mehr die alte Kinderheiterkeit, die ihn ſo ſehr an ihr entzuͤckt hatte. Heinrich Ahrenſee konnte dieſen Schmerzenszug, der hin und wieder zutage trat, nicht recht erklaͤren. War es das ahnungs⸗ volle Erkennen ſeines nahen Todes? war es Mitleiden mit ihm? — er wußte es nicht. Dieſer Zug in ihrem Weſen mochte wohl auch nur fuͤr ein ſorgendes Auge wahrzunehmen ſein. Er drängte ſich nicht oor. Kaum war ein Augenblick am
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Tage, daß fle nicht bei ihrem Vater, bei Mutter und Schweſter und da unten in dem armſeligen Durcheinander helfend be⸗ ſchaͤftigt war. Dort mochte ſie wohl der erſte helle, ruhige Stern ſein, der dieſen Geſchoͤpfen aufging.
Und auch jetzt waren die Kinder wieder bei ihr.
Das Gewitter hatte ſich inzwiſchen kraͤftig entwickelt, die Windſtoͤße waren naß und kuͤhl geworden. Die Blitze zuckten, der Donner rollte und der Regen troff maͤchtig nieder.
Als der Kranke in Kriſtinens Zimmer eintrat, fand er ſie mitten unter den Kindern; Bimm Bimm ſaß auf ihrem Schoß und hatte den Kopf an ihren Hals verſteckt, aus Furcht vor den Blitzen.
Kriſtine erzaͤhlte ihm und den andern. Die drei groͤßten Buben waren ihren Schularbeiten entlaufen, um mit zu⸗ zuhoͤren, und hielten Buch und Federhalter in den tintigen Fingern.
Annuſchka kam angeſchlichen und meldete Frau Muͤller. — Jekatirina Werandrowna —, die eben trotz des Gewitters vorgefahren war.
Jekatirina Alexandrowna begrüßte Heinrich Ahrenſee auf eine weiche Art. Sie wußte, daß er ein aufgegebener Mann ſei. Bei Profeſſor Henneberg waren ſie einander begegnet und ſchienen ſich gegenſeitig ſympathiſch zu ſein.
Jekatirina Alexandrowna ſtrich Kriſtine, die den einge⸗ ſchlafenen Bimm Bimm auf den Armen hielt, uͤber das Haar und ſagte zu Heinrich Ahrenſee gewendet: „So ein Blondkopf! Es iſt etwas Eigenes um dieſe Blondkoͤpfe; wenn ſie die rechte Art ſind, ſo hat man mit ihnen einen Sonnen⸗ ſtrahl im Zimmer. Aber es muͤſſen die rechten ſein.“
„Sie iſt ein rechter“, ſagte Heinrich Ahrenſee.
Kriſtinens Augen aber hingen geſpannt — durchdringend, angſtvoll, forſchend an Jekatirina Werdndrownas Zügen. Sie wußte es ja, weſſen Schweſter dieſe gealterte Fran war.
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Sie hätte ihr mit einem Aufſchrei an die Bruſt ſinken mögen. Sie hatte vor ihr hinknien mögen und bitten: „Sag“ mir von ihm! Sprich mir von ihm! Wo iſt er um Himmels willen?“
Aber der tapfere Blondkopf wurde der ſie uͤberwaͤltigenden Erregung Herr. Es war nur ein Augenblick, dann ſchauten ihre Augen wieder ruhig.
Jekatirina Alexändrowna blickte nachdenklich auf das junge Madchen, als hatte fie den eigentuͤmlich angſtvollen Blick, der auf ſie gerichtet war, bemerkt. Als ſie ſich nach der jungen Frau erkundigt hatte, ſagte ſie zu Heinrich Ahrenſee gewendet:
„Wir beiden alten Weltveraͤchter ſehen der Geburt von ſo einer armen Eintagsfliege mit groͤßerem Mitleid ent⸗ gegen als die allermenſchenfreundlichſten Herzen. Nicht wahr? Es ſoll nur vernuͤnftig ſein und nichts Beſonderes werden. Solche Leute kommen durch die Welt. Wozu ſoll man einem Kinde Dinge wuͤnſchen, die fuͤr dieſe Welt ver⸗ derblich find, etwa ein weiches Herz, oder ein tiefes Gemuͤt, oder einen großen Hang zur Wahrhaftigkeit oder dergleichen. Blinde, die ſo etwas ihren Kindern wuͤnſchen koͤnnen oder ſich freuen, wenn ſie dergleichen entdecken! Arme Kinder, euer Reich iſt nicht von dieſer Welt, und ſie ſollen doch hier gerade Fuß faſſen.“
Kriſtine blickte Jekatirina Alexandrowna mit großen Augen an. Es war zum erſtenmal, daß ſie einen Menſchen ſagen hoͤrte, es waͤre beſſer, nicht wahr zu ſein, es waͤre beſſer, kein weiches Herz zu haben. Und die es ſagte, war Kers Schweſter. Und Kers Schweſter hatte dies mit ſolch warmer Stimme ge⸗ ſagt, fo ruhig und einfach, daß man hätte meinen können, ſie haͤtte gerade vom Gegenteil geſprochen.
Und ihr Vater hatte zu dem, was Jekatirina Alexandrowna meinte, genickt, ihr eigener Vater!
Die Stimme aber, mit der Jekatirina Alexandrowna die
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neue Botſchaft verkuͤndete, hatte es Kriſtine angetan. Er⸗ innerte dieſe Stimme fie an Kers Stimme?
Kriſtine lauſchte mit angehaltenem Atem, und ihr war, als verſaͤn ke fie rettungslos in ein Meer von Sehnſucht. Aber nein, nein, nein! Sie wollte nicht verſinken, ſie durfte nicht, und wieder kaͤmpfte ſie ſtark und tapfer und ſiegte wieder uͤber ſich ſelbſt.
Heinrich Ahrenſee hatte den erſtaunten, fragenden Aus⸗ druck ſeines Kindes bemerkt und ſagte zu Jekatirina Alex⸗ androwna:
„Wir haben da eine Zuhoͤrerin, die ſich jetzt Aber uns ihre Gedanken macht. Nicht wahr, Kriſtel?“
„Ja,“ ſagte ſie leiſe, „ich glaubte, Wahrheit waͤre das Beſte.“
„Fuͤr Engel“, unterbrach fie Jekatirina Alexandrowna.
Jekatirina Alexandrowna faßte Kriſtinens Hand.
„Armes, kleines Lamm“, ſagte ſie.
In dieſem Augenblick trat wie durch einen Zauber vor ihre Seele das Bild ihres Bruders Dmitri, und ſie erinnerte ſich, daß er bei Ahrenſees ein paar Tage geſteckt haben ſollte. Von ihm ſelbſt hatte ſie, ſeit er von Jena fort war, nichts mehr gehoͤrt. Und wie Omitris Bild in ihrem Herzen aufs tauchte, war's ihr zumute, als muͤßte der junge Blondkopf auf ihren Bruder Eindruck gemacht haben. Sie erinnerte ſich, daß er ſchon von der Schoͤnheit der Schweſter geſprochen hatte, der naͤrriſche Schwaͤrmer, trunken ohne Wein und ver⸗ liebt ohne Mädchen, dieſer Wolkenlaͤufer! fo dachte fie. Wenn das Leben ihn einmal zu packen bekommt! Möchte wiſſen, ob er ſich bewaͤhrt.
„Wie tft es denn,“ frug Jekatirina Alexandrowna, „der Junge, der Dmitri, war bei Ihnen — und ging nach Peters⸗ burg zuruͤck? Ich verſtehe nicht, er hat mir nicht geſchrieben, die ganze Zeit nicht —“
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„Nicht nach Petersburg zuruͤck,“ entgegnete Ahrenſee, „nein, er hatte eine Reiſe vor ſich um die halbe Welt, zum Amur. Ich glaube, er ging als Gehilfe des Gouverneurs oder im beſonderen Auftrag. Ein wichtiger Poſten fuͤr einen ſo jungen Mann.“
„So weit?“ fragte Jekatirina Alexandrowna.
„Er blieb nur zwei Tage, glaube ich, und mußte dann an Bord. Das Kriegsſchiff, mit dem er ging, hatte bei uns angelegt.“
„Er hat Ihnen nicht geſchrieben?“ frug Kriſtine kaum hoͤrbar, waͤhrend ſie Bimm Bimm, der erwacht war, von ihrem Schoß gleiten ließ. Sie war erbleicht.
Was iſt da vorgegangen? dachte Jekatirina Alexän⸗ drowna und ſchaute vor ſich hin.
„Iſt er, wie ſoll ich ſagen — zufrieden gegangen?“
„Das ſchien mir ſo“, antwortete Heinrich Ahrenſee. „Er ſagte mir, daß er hinaus in die Welt wolle, daß er ar⸗ beiten wolle, als er Abſchied nahm. Deshalb habe er die Stellung, die ſich ihm bot, faſt ohne Beſinnen an⸗ genommen.“
„Ohne Beſinnen“, ſagte Jekatirina Alexandrowna lang⸗ ſam und blickte auf Kriſtine, als wollte ſie von der das Wahre erfahren.
Kriſtine aber ſchwieg. Was ſie wußte, war in ihrem Herzen begraben, und ſie dachte, Ker werde ſeinen Grund haben, weshalb er nicht ſchrieb. Aber es zog ſie maͤchtig hin zu ſeiner Schweſter, ſie haͤtte ihr die Haͤnde kuͤſſen, den Kopf an die Bruſt der ernſten Frau legen und ſich ihr vertrauen moͤgen.
In dieſem Augenblick tat ſich die Tuͤr auf, und Frau Ahrenſee trat mit rotgeweinten Augen, den Hut nicht mit der an ihr gewohnten Sorgfalt gebunden, eilig ein. Heinrich Ahrenſee fuhr merklich zuſammen und wurde bei dem An⸗ blicke ſeiner Fran bleich.
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„Es tft ein Toͤchterchen!“ ſagte Frau Ahrenſee. — „Es iſt alles viel beſſer gegangen, als wir dachten.“ Damit ſank ſie mit beiden Armen ihrem Mann um den Hals. „Aber wie ſoll man ſich uͤber ein Geſchoͤpf freuen, das mit ſolchem Jammer auf die Welt gebracht wird? Die arme Olga, wir werden ſie noch lange, lange krank haben.“ Damit brach Frau Ahrenſee in heftiges Weinen aus, die Erregung, die Angſt des ganzen Tages machten ſich jetzt bei ihr geltend.
Heinrich Ahrenſee ließ ſie ſich ausweinen.
„Die Kinder leiden zu ſehen, das iſt doch das haͤrteſte auf Erden!“ ſagte Frau Ahrenſee mit von Traͤnen gebrochener Stimme und ſtrich Kriſtine, während fie das ſagte, zaͤrtlich uͤber die Wangen, ſo muͤtterlich ſchuͤtzend.
„Nicht wahr, meine Kriſtel, du bleibſt bei uns? du Herzens⸗ kind!“ ſchluchzte ſie.
Zweites Kapitel
n der Villa war nach ſchweren Krankheitstagen und
Wochen endlich wieder Geneſung eingekehrt. Der Ein⸗ druck, daß der Tod nahe daran geweſen war, uͤber die polierte, teppichbelegte Treppe zu ſchreiten, begann ſich ſchon wieder zu verwiſchen. Das Leben bluͤhte zart in der eleganten Kinder⸗ ſtube, wo im zierlichſten Behaͤlter unter Spitzen und feder⸗ leichten Bettchen ein winziges, warmes Koͤrperchen lag, das den hellen, reichen Raum, der unbewußte Tage behuͤtete, mit jenem ſuͤßen, warmen Dufte zart erfuͤllte, den ein reines, wohlgepflegtes Menſchenknoͤſpchen ausſtroͤmt.
Dies winzige Dingelchen, ſo winzig es war, beherrſchte ſchon das Haus. Sein Stimmchen war Befehl fuͤr alle Welt, ſetzte die dicke Amme in Trab, ließ alle, vom geheiligten Studierzimmer des Schriftſtellers ans und vom Boudoir der fungen Mutter, von der Küche und vom Keller aus aufs horchen. Wie von einem Zaubermantel durch die Luft ge⸗ tragen war die Großmutter Ahrenſee beim allererſten Laute immer ſchon zur Stelle, wenn man ſie ſtraßenweit vom Hauſe glaubte. Sie hatte dem Enkelkindchen laͤngſt ſchon ver⸗ geben, daß es ihrem eigenen Kinde ſo ſchwere Not gebracht hatte. Ihr Geſicht war von einer muͤtterlich⸗groß muͤtterlichen Zaͤrtlichkeit wahrhaft verklaͤrt, wenn man ihr das zarte Ding ein wenig ließ, das weiße Bündel mit dem wunderweichen, warmpulſierenden Koͤpfchen, dem feuchten, kleinen Maul, den taufriſchen, flinken Augen.
Es gelang immerhin für Fran Ahrenſees fehnfüchtiges Herz ſelten genug, das kleine Geſchoͤpf zu erhaſchen, denn da war die Kinderfrau, eine ungeheuer wuͤrdige Perſon, ein wahrer Feldherr von Kinderfrau, gegen die Fran Ahrenſee mit ihrer langſamen Sprechweiſe nichts ausrichten konnte, ja es gar nicht verſuchte; ſie hielt es nach ihrer Art von vorne herein für unmoglich. Und da war die Amme, die Perl;
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von einer Amme, die in der Villa ein Leben führte, halb wie eine Prinzeß und halb wie ein Maſtſchwein, und durch dieſe Verbindung zweier gedeihlicher Lebensweiſen auf alle Art ins Fett ſchoß.
Herr und Frau Profeſſor Henneberg hielten ſie beide fuͤr unbezahlbar, denn das Kleine gedieh an ihrer Bruſt, wie man es ſich nicht beſſer wuͤnſchen konnte.
Die Amme nahm alle Liebenswuͤrdigkeit kühl entgegen, das Kuhhafte ihrer huͤbſchen drallen Perſoͤnlichkeit ließ nicht mehr Gefuͤhlsaͤußerung zutage treten als ein gnaͤdiges Ge⸗ brumme.
Auf Frau Ahrenſee lag es zu manchen Stunden ſchwer, ihr ſchien es oft, als befaͤnde ſich ihr Mann weniger gut als daheim, er ſah leidend aus und gealtert, kam ſelten, die letzte Zeit faſt nie in die Villa. Er wollte Ruhe haben. Er gefiel ihr gar nicht, fie hatte ſich den Erfolg der Reiſe, die Bes handlung der beruͤhmten Arzte ganz anders gedacht. Von dem Ergebnis der erſten Konſultation wußte ſie nichts. Es war ihr wie allen auf den ausdruͤcklichen Wunſch Ahrenſees verſchwiegen worden.
In Profeſſor Henneberg regte ſich jetzt das Gefuͤhl, daß es an der Zeit ſei, einige Diners und Soupers zu geben, ge⸗ wiſſermaßen als Dankopfer fuͤr die Teilnahme, die man ihm und ſeiner Frau in letzter Zeit entgegengebracht hatte.
Die Reihe dieſer Feſtlichkeiten eroͤffnete die Tauffeier, die Profeſſor Henneberg in großem Stil gehalten haben wollte. Er hielt dies allerdings fuͤr etwas altvaͤteriſch, aber gut in den Rahmen des Staͤdtchens paſſend.
Bei dem Taufakt, der unter Palmen und exotiſchen Ge⸗ waͤchſen aus dem Treibhaus des Botaniſchen Gartens ſtatt⸗ fand, in dem von Blumen durchdufteten, mit allen Weihen umgebenen Saal waren die Profeſſor Majunkes und Ma⸗ thilde Swenſen ganz am Platz; holten, als alle Gaͤſte ſich ver⸗ ſammelt hatten, mit dem Hausherrn den Paſtor auf der
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Treppe ein und geleiteten ihn mit unnachahmlich feierlicher Miene, genau mit dem dazu paſſenden Ausdruck in das ges ſchmuͤckte Zimmer bis an das Taufbecken, und als die Rede begann, die Gebete geſprochen wurden, waͤhrend der ganzen heiligen Handlung, da hatten unſere drei die Sache ſo im Griff, vom Haͤndehalten bis zum Umherreichen des Taͤuf⸗ lings, vom Niederſchlagen der Augen bis zu jedem Schritt und Tritt, daß die Sache ohne die Majunkes und Mathilde Swenſen, trotz allen Prunkes und allen Reichtums, hoͤchſt dilettantiſch ausgefallen waͤre.
Profeſſor Henneberg hatte im Taufzimmer ein kleines ſilbernes Raͤucherwerk aufgeſtellt, das ſeine zarten Duͤfte zwiſchen den koſtbaren Palmwedeln verbreitete. Das war Frau Profeſſor Majunke ein Dorn im Auge und hatte ihr, wie ſie ſpaͤter ausſprach, die ganze Handlung verbittert. Frau Majunke war eine fanatiſche Feindin alles Katholiſchen, und dies kleine Raͤucherwerk hatte ſo etwas an ſich, was ihre proteſtantiſche Naſe irritierte, trotzdem Profeſſor Henneberg nicht Weihrauch, ſondern ein zartes Veilchenparfuͤm zu ſeiner Raͤucherung verwendete.
Im uͤbrigen war Frau Majunke von der Tauffeier ſehr befriedigt. Die Einſegnung der Mutter mit dem Kinde nach der Taufe war ihr ein ganz beſonders lieber Augenblick ge⸗ weſen. Die junge Frau hatte ſich ſo ganz ſcharmant be⸗ nommen, beſcheiden und doch vornehm, ganz von religioͤſem Gefuͤhl durchdrungen und dabei ſo vollkommen comme il faut — gerade ſo viel Ruͤhrung, wie ſich zu dieſem Akt gehoͤrt, nicht mehr, nicht weniger. Sie ſchwaͤrmten beide, Frau Majunke und Mathilde Swenſen, fuͤr Herrn und Frau Pro⸗ feſſor Henneberg.
Waͤhrend der Tauffeier und des ganzen Feſtes war aber außer der jungen Mutter, dem Saͤugling, der Amme und dem Paſtor ſamt ſeiner Predigt noch eine Perſon, uͤber die ſich reden ließ, Kriſtine. Es war heute zum erſtenmal, daß ſie
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in Jena in großere Geſellſchaft kam, und Profeſſor Hennes berg konnte mit ſeiner kleinen Schwaͤgerin vollkommen zu⸗ frieden ſein; ſie machte ſeinem Hauſe alle Ehre. Alt und jung war entzuͤckt von ihr. Die jungen Leute, die man zur Taufe mitgebeten hatte, waren durch das blonde, ſchoͤne Maͤdchen im weißen Kleid und dichtem Roſenkranz in eine ganz un⸗ vermutet begeiſterte Stimmung geraten. In Kriſtine trat ihnen eine ſo friſche roſige Schoͤnheit entgegen, ein warmes, ruhiges Benehmen — kinderhaft gleichmaͤßig, nie verlegen und zaghaft und auch nicht uͤbermuͤtig und vorlaut. Es war ſo eine ganz ruhige und klare Art, die ihr Benehmen aus⸗ zeichnete, und es ſtand ihr alles, was ſie auch ſagte und tat.
Profeſſor Henneberg ſagte zu ſeiner Schwiegermutter:
„Wirklich, Eure Kriſtine iſt ein ganz herrliches Maͤdchen ge⸗ worden, ſo ein reines Nordlandskind.“
Was ſich Profeſſor Henneberg gerade unter dieſem Aus⸗ ſpruch vorſtellte, war nicht recht klar; aber er ſagte es in liebenswuͤrdiger Weinſtimmung.
Frau Ahrenſee nickte zu dem, was ihr Schwiegerſohn be⸗ merkte: „Ja,“ meinte ſie, „ſie iſt noch ein Kind, noch ein Kind im Herzen, und das iſt's, was fie fo liebenswuͤrdig macht. Es kommt kein unwahres Wort über ihre Lippen.“ —
Waͤhrend der Tafel wurde viel getoaſtet. Auf den kleinen Weltbuͤrger, auf die junge Mutter, auf den Vater des Kindes, auf den Geiſtlichen, auf die Paten, und Profeſſor Henneberg gedachte in einer wohlgeſetzten, kleinen Rede feines tenern Schwiegervaters, der leider durch ein Unwohlſein, das ſchon einige Zeit andaure, an der Mitfeier dieſes Tages verhindert ſei — und er forderte die Anweſenden auf, mit ihm auf das Wohl und die baldige Wiederherſtellung dieſes vortrefflichen Mannes anzuſtoßen.
Dieſer Aufforderung wurde auf das bereitwilligſte und verbindlichſte nachgekommen. Man erhob ſich allgemein und es begann ein Wandeln und Strömen und Kleiderrauſchen
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den Plaͤtzen der Familienglieder zu. Zuletzt fand man ſich bei Kriſtine ein und ſprach ihr allgemein das Bedauern aus, daß der Herr Papa gerade heute leidend ſein muͤſſe, und gab die gang und gaͤben Troſtworte, von vorzuͤglicher Wirkung der Luft, baldiger Beſſerung und dergleichen ab.
Die jungen Leute legten in ihre Fragen und Außerungen beſonders viel Anteil und Aufmerkſamkeit.
Kriſtine beantwortete alle Fragen ruhig und liebens⸗ wuͤrdig; zuletzt aber zitterte ihre Stimme und ſie hob die Augen nicht mehr. Als ſich alle wieder geſetzt und das ge⸗ wohnliche ans und abſchwellende Murmeln der Stimmen, das wie ein fließender Strom uͤber einer groͤßeren Geſell⸗ ſchaft liegt, wieder gleichmaͤßig in Gang gekommen war, da traf Frau Ahrenſee ein langer fragender Blick ihres Kindes. Frau Ahrenſee winkte Kriſtine zu ſich heran, und die fluͤſterte ihr ins Ohr, daß ſie zum Vater moͤchte.
„Gut, mein Kind, geh',“ ſagte Frau Ahrenſee leiſe — „es iſt mir auch lieb, wenn du's tuſt, und er wird nicht boͤs ſein, denke ich, trotzdem er ſagte, ich ſollte dich nicht fruͤher fortlaſſen, als die andern gehen. Es iſt ihm ja auch heute ſo viel, viel beſſer — viel beſſer. Gruß’ ihn und fag’ ihm, daß ich ihn ſehr hierher wuͤnſchte. — Geh“ mein gutes Kind.“
Frau Ahrenſee ſprach wie ſich ſelbſt beſchwichtigend, wie jemand, deſſen Herz zweien Herren dienen muß und nicht weiß, welchem es ſich zuwenden ſoll. Kriſtine ging leiſe, unbemerkt fort. Draußen war es ſchon dunkel, ſcharfer Herbſtduft lag in der feuchten Atmoſphaͤre, Nebel zogen über die Saale hin und verbreiteten ſich auf den tiefgelegenen Wieſen. Die fahlen Blätter hingen feucht und ſchwer an den Baͤumen, der Mond ſchimmerte durch eine weiße Wolkendecke, und farb⸗ los, hinſterbend, muͤde neigte alles, was noch lebte von Blatt und Kraut, Gras und Frucht, ſich der Erde zu. Alles, was im Sommer gruͤn und friſch gen Himmel geſtrebt hatte, lag nun, eine modernde Decke, aus erloſchenem Leben gebildet.
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Kriſtine war unbemerkt gegangen, was ihr auch leicht gelingen konnte, da alle im Hauſe vollauf beſchaͤftigt waren.
über ihren Roſenkranz hatte ſie ein leichtes Tuch geworfen und ihre Geſtalt umhuͤllte ein weicher Mantel. So ging ſie langſam und wie ermattet den ſtillen, herbſtfeuchten Weg, der von der Villa zur Stadt fuͤhrte.
Da hielt ſie ihre Haͤnde mit einem Male feſt zuſammen⸗ gefaltet an das Kinn gepreßt, eine Bewegung, die tiefes Weh — ratloſes Angſtgefuͤhl ausdruͤckte. Waͤre jemand Kriſtine begegnet, ſo haͤtte der nimmermehr geglaubt, daß dieſes in ſich verſunkene Maͤdchen aus jenem hell erleuchteten Haus komme, daß ſie die um alle freundlich beſorgte, aufmerk⸗ ſame Tochter des Hauſes ſei, das ruhige Maͤdchen, an deren ſtiller Anmut aller Augen gehangen.
Mit einem Male blieb ſie ſtehen, hob den Kopf, und ihre zunge Geſtalt richtete ſich feſt auf.
„Herr, mein Gott. Ich tue, was ich kann!“ ſagte ſie. „Ich tue, was ich verſprach! Auch weiter — auch laͤnger. Mir iſt ſo angſt — ſo angſt!“ fluͤſterte ſie mit unterdruͤckter Stimme und blickte hinauf nach dem bleichen Himmel — als müßte von da aus ein guter Freund, der die Haͤnde über ſie breitete, ihr antworten, ein Freund, der ihren Kummer, ihre Sehnſucht, ihre angſtvollen, dunkeln Gedanken kannte. Und dieſen Freund ſuchte ſie mit großen, weit offenen Augen über ſich und über den kalten, bleichen Herbſtnebeln.
Muͤde ging fie weiter.
Jetzt war ſie an dem alten hochgiebeligen Hauſe angelangt, in dem ſie und ihr Vater nun ſchon viele Wochen wohnten, und ging die Treppe hinauf. Bei Profeſſor Majunkes ſchien ein gewaltiges Durcheinander zu herrſchen, aͤhnlich wie vor kurzem bei den Feuerwehruͤbungen, nur mit dem Unter⸗ ſchiede, daß der Feuerwehrlaͤrm unter dem Einfluß hoher Autorität eingeuͤbt wurde, und daß der heutige Spektakel
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ein nicht ordnungsgemaͤßer Spektakel war und dazu ein voͤllig unbeaufſichtigter.
Kriſtine blieb einen Augenblick zoͤgernd ſtehen. Sie ents ſchloß ſich aber und zog an der Schelle; man oͤffnete nicht. Sie konnten im Zimmer vor lauter Laͤrm und Geſchrei nichts hoͤren. Kriſtine unterſchied genan Bimm Bimms tiefe Stimme. Man ſchien ihn auf irgendeine Weiſe unangenehm zu bearbeiten. Außerdem aber unterſchied Kriſtine noch ver⸗ ſchiedene ſtoͤhnende, jammernde Stimmen und Stampfen, Duften und Keuchen. — „Du Verdammter, Verfluchter, Vers maledeiter!“ klang eine ſcharfe, uͤberſchnappende Knaben⸗ ſtimme aus dem Chaos deutlich heraus.
Kriſtine aberfiel eine ſchwere Angſt, die ſich mit ihren eigenen, dunklen, bangen Gefühlen — ihrer Sehnſucht — ihrer Seeleneinſamkeit zu etwas Herz⸗ und Sinnebedruͤcken⸗ dem verband.
Das Geſchrei der Majunkeſchen Kinder klang ihr erſchuͤtternd, kam ihr ſo elend und ſo bejammernswert vor. Sie hatte draußen vor der Tuͤr genau den Eindruck des haͤßlichen, un⸗ freundlichen Raumes, in dem die Kinder ſteckten, und daß irgendein beſonderes Ungluͤck hereingebrochen ware.
Sie ſchellte heftiger — und noch einmal — und noch ein⸗ mal. Endlich hatten ſie gehoͤrt. Sie ſtuͤrzten heraus, und als ſie Kriſtine erblickten im Roſenkranz und weißen Kleid, ſchrien ſie durcheinander:
„Wir ſpielen — wir ſpielen Juͤngſtes Gericht. Ein Engel! — Komm nur, wir brauchen gerade einen Engel! Wir ſpielen wunderſchoͤn!“
Sie zogen Kriſtine ſtuͤrmiſch mit ſich — und ſie befand ſich mit einem Male in einem wahren Wirbelwind von Ge⸗ ſchrei aller Art.
„Ruhig —“ ſagte fie immer wieder, „ruhig. — Seid doch ruhig. —“ Das half aber nichts. Sie war umringt und wie von einem Polypen feſtgehalten. Einige fuhren mit ſpitzen
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Fingern in ihre Kleidertaſche: „Mitgebracht — was miss gebracht?“ ſchrie das ganze Knaͤuel. — „Nein, jetzt nicht,“ ſagte Kriſtine, „aber ihr bekommt etwas. Morgen bekommt ihr alles mögliche.”
„Hui!“ ſchrie es in den verſchiedenſten Tonarten — „mor⸗ gen. Heute iſt Juͤngſtes Gericht bei uns. Komm nur, du mußt mitſpielen!“ Kriſtine wurde es angſt und bange. Sie ſchaute ſich um, ſie ſchaute die Majunkeſchen Kinder an, in die ſie hineingeraten war, wie in ein dichtes Dornengeſtruͤpp, aus dem ſie ſich nicht freimachen konnte. Hatte ſie einen Zipfel los bekommen, hingen fie an einem andern doppelt feſt und verwickelt.
Es war alles truͤb und troſtlos hier, ungepflegt, unzu⸗ reichend an allen Enden. Und fie ſpielten Juͤngſtes Gericht zwiſchen den herausgeriſſenen, zerſtampften Betten und unter der truͤben, dampfenden Haͤngelampe. Die unſauberen, ewig feuchten Dielen, die beſchmierten Tapeten, der un⸗ angenehme Dunſt im Zimmer — alles ſo armſelig, ver⸗ braucht.
„Zacharias!“ riefen ſie, und zwei von ihnen gaben Zacharias Rippenſtoͤße. „Zacharias it der Teufel, der fist oben auf dem Schrank und dann geht's los!“
„Alſo eins, zwei, drei! auf den Schrank!“
Zacharias kroch wie eine langbeinige Spinne vom Stuhl auf den Tiſch, vom Tiſch auf den Schrank.
Als er oben ſaß, rief er in das Gewuſel unter ihm: „Du Verdammter! Verfluchter! Vermaledeiter! Wer iſt denn jetzt dran?“
„Zuerſt die Wolken!“ rief Bimm Bimm.
„Ja ſo“, ſagte Zacharias auf dem Schrank, und ſie ſtopften ihm mit Hallo ein paar Kopfkiſſen unter.
„Jetzt geht's los!“
„Bimm Bimm iſt wieder dran!“ ſchrien einige, und ſchon war Bimm Bimm gepackt und vor den Schrank geſchleift
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und gezerrt, wobei die, die ihn zerrten, die Zähne fletſchten, ſprudelten, puſteten, Krallen machten und ſich ganz fuͤrchter⸗ lich gebaͤrdeten.
„Was hat er getan, den ihr da herbringt, meine Teufel?“
„Er hat die Suppe mit Willen umgegoſſen und hinein⸗ geſpuckt.“
„Haſt du das getan, du Verdammter, Verfluchter, Ver⸗ maledeiter?“ frug der Teufel vom Schrank herab aus den Wolken.
„Ja“, wollte Bimm Bimm rufen, aber er brachte nur einen gurgelnden Laut zuſtande, weil ein Teufel gerade Bimm Bimms Bauch mit den Fuͤßen behandelte.
„— Du haft es alfo getan! — dann wirft du verbrannt, — und zwar gleich. — Teufel! verbrennt ihn — aber raſch, daß wieder ein anderer drankommen kann.“
„Wo iſt denn der fromme Mann hin, der hier am Schrank ſtehen muß?“
„Den brauchen wir nicht“, antworteten einige, die ſich darüber hermachten, Bimm Bimm zu verbrennen. Es wurden Holzſtuͤcke unter ihn geſchoben. „Den will keiner machen!“ ſchrie Johannes. „Jawohl, ſo daſtehen und die Haͤnde falten und die Augen verdrehen, das iſt ſcheußlich langweilig! Wir wollen alle Teufel ſein!“
Jetzt ſprangen ſie wuͤtend um Bimm Bimm herum, der ſich die Augen zuhielt. Sie fackelten mit den Armen in der Luft, ſchlugen mit den Beinen aus, ſteckten die Zunge heraus, ziſchten und ſpuckten, und waren Flammen und Teufel zu⸗ gleich, die Bimm Bimm verbrannten, und taten es mit ſolcher Wut und Leidenſchaft und Hingebung, daß ſie nichts mehr hoͤrten und ſahen. Der Teufel rief vom Schrank herab: „Stoßt ihn! Reißt ihm die Augen aus! Werft ihn tiefer ins Feuer!“ —
„So, — luſtig darauf los! — Die Zunge herausreißen!“ — Dabei trampelte der oben auf dem Schrank mit den Fuͤßen
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an die Schranktuͤr, und alle johlten und hohnlachten, bis es Bimm Bimm wirklich zuviel des Guten wurde.
Wie kommen ſie denn auf ſolche Greuel, dieſe Kinder? Vielleicht hatten ſie ſchon ihre boͤſen Erfahrungen gemacht; vielleicht waren ſie im Herzen wuͤtend uͤber dies und jenes, vielleicht fuͤhlten ſieeinen ingrimmigen Ekel vor den ſchmutzigen Betten, der alten ekelhaften Diele, dem alten Kaffetopf, der Unordnung im Haushalt und den hochtrabenden Reden, den tintengefleckten, zerwuͤrgten Schulbuͤchern, dem ewigen Ar⸗ beiten und Überbuͤrdetſein, dem Strafen und Zanken. Viel⸗ leicht wollten ſie es anders.
Vielleicht waren ſie giftig, gehoͤrten ſchon zu denen, deren Worte, deren Gedanken vom Gift durchſeucht ſind, von dem Gift, das Unzufriedenheit, Freudloſigkeit, Kraftloſigkeit, der große hoffnungsloſe Druck des Lebens aus uns heraus⸗ preſſen kann.
Kriſtine war es zumute, als wohnte ſie einem wirklichen
Autodafé bei; ihre arme Seele war belaſtet, ihr Herz uns ruhig, und ſo kehrte alles Duͤſtere, Schwere, was ſonſt un⸗ gekannt an ihr voruͤbergezogen war, bei ihr ein. Und wie fie fo in dies leidenſchaftliche Treiben der Profeſſor Majunkeſchen Kinder ſah, da legte es ſich ihr eiſig⸗ kalt ums Herz, und ein Grauen uͤberlief fie. — Solches Übers maß an Wut, ſolche Luft zu verderben und zu ſtrafen! —
. Vor Kriſtinens Seele ſtieg alles auf, was fie früher ges hört hatte, von Scheiterhaufen, Inquiſition, Hexenprozeſſen, von den tauſend Sachſen, die Karl der Große hatte hin⸗ ſchlachten laſſen. Alles, was in ihrer Erinnerung haften ge⸗ blieben war, — lauter Bilder, die ihr nichts geweſen waren als weſenloſe Begebenheiten. Sie hatte nie etwas dabei ge⸗ dacht. Dieſe Bilder bekamen mit einem Male in der wuͤſten Kinderſtube ſchreckliches Leben. Dieſe fuͤrchterlichen Dinge ruͤckten auf das arme, weiße Maͤdchen, das in ſeinem Roſen⸗
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franz mitten in dem tollen Teufelstreiben ſtand, ein, ſanken auf ihr Herz wie ein Albdruck.
Kriſtine ſtand mit zuſammengefalteten Haͤnden und angſt⸗ vollen Augen da.
Die Teufel hatten ſchon laͤngſt auf alle Weiſe einen Ver⸗ dammten nach dem andern auf den Befehl vom Schranke herab verbrannt, zerſtampft, zerſtuͤckt, geſchlachtet, geſpießt, und hatten ein bewunderungswertes Talent entwickelt, dieſe Dinge anſchaulich zu machen. Bimm Bimm mochte etwas ſehr Wichtiges zu tun haben, konnte nicht gleich abkommen und rief aus der Nebenſtube fortwaͤhrend: „Ich komme gleich, ich bin der aͤrgſte Teufel!“ Und darauf kam er angetobt, gluͤhend rot vor Eifer, und ſtuͤrzte auf den augenblicklich Ver⸗ dammten los, ihn zu maltraͤtieren.
Der Teufel rief vom Schranke: „Zwickt nur tuͤchtig! Zwickt ärger! Kneift ihn mit gluͤhenden Zangen! Strafe muß fein.”
Da lief Kriſtine mitten in das tolle, wuͤtende, ſchnaufende Knaͤuel hinein, breitete die Arme aus und ſchob die wuͤtenden Kinder kraͤftig auseinander.
„Gott iſt gut, ihr Kinder“, rief ſie erregt. „So etwas muͤßt ihr nicht ſpielen !“
Der Teufel aber vergaß ſeine Rolle und ſtreckte ihr die Zunge heraus.
„Feiges Maͤbchenvolk,“ rief er, „vor jedem Dreck fürchten fie ih!" ,
Er kam aber herunter.
„Da,“ rief er und zeigte auf einen alten Kupferſtich an der Wand, der das Juͤngſte Gericht darſtellte, „wenn einer ſo was malen koͤnnte, taͤt er's ſchon auch, aber gute Leute, die ſtill⸗ ſtehen, find eben leichter zu malen als Teufel, die fpringen . .. Frag“ Vatern, Vater ſagt: So wird's einmal. Mutter ſagt's auch. Hör mal, wenn du dich jetzt ſchon fo gefuͤrchtet haft, möcht’ ich doch wiſſen, wie du's aushaͤltſt, wenn fie einmal über dich kommen. Du, was denkſt du denn, du? Dir kanns
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auch paſſteren, in die Hölle kann ein jeder kommen im Um⸗ ſehen.“
„Freilich!“ ſagte einer. „Wenn es mit dem Lernen bei uns allen nicht beſſer wird, kann von uns allein eine ganze Fuhre hineinkommen. Meinetwegen,“ ſetzte er reſigniert dazu, „mir iſt ſchon alles gleich.“
Kriſtine ſtreichelte den duͤnnen, ſpaͤrlichen Jungen, deſſen truͤbſinnige Philoſophie ihr ans Herz griff.
„Wißt ihr,“ fagte fie, um in dieſer Kin derſtube etwas Frohes zu ſagen: „Morgen wird's gewiß ein ſchoͤner Tag, da ſollt ihr auf die Berge gehen, wir geben euch etwas Gutes zum Naſchen mit.“
„Wird nichts!“ ſagte einer von ihnen. „Drei muͤſſen morgen von uns nachſitzen, wiſſen's (Hon, morgen kommen die lateiniſchen Aufgaben zuruͤck, da ſetzt's allemal was.“
„Dann ſoll euch Annuſchka heut' gleich von meiner Schweſter einen rechten Haufen Kuchen holen!“
Da erſcholl ein durchdringendes, wuͤtendes Freudengeheul, und Bimm Bimm biß Kriſtine vor Wonne in die Finger.
Sie bat die Kinder, jetzt ruhig zu ſein, ließ ſie die ſchlimmſte Wuͤſtenei etwas ordnen, fand unter einem Bett ein Taſchen⸗ tuͤchelchen und putzte Bimm Bimm die Naſe, erkundigte (id, wo das Dienſtmaͤdchen geblieben ſei, und ob ſie bald wegen des Abendbrotes komme. Als ſie daruͤber leidlich Auskunft erhalten, verſprach ſie noch einmal auf allgemeines, dringen⸗ des Erinnern, Annuſchka nach dem Kuchen zu ſchicken, und wurde unter ſtuͤrmiſchen Umarmungen und Liebkoſungen von Bimm Bimm und den Kleinen entlaſſen.
Die groͤßeren riefen ihr noch nach: „Aber heute biſt du fein, Kriſtine! Wunderſchoͤn!“
Als fie oben angelangt war und Annuſchka ihr geoͤffnet hatte, mußte ſie eine Weile ſtehenbleiben, nach Atem ringen. Sie war unſaͤglich bedruͤckt. Die Majunkeſchen Kinder hatten ſie durch ihr Spiel erſchuͤttert. Alles ſah ſie ſo fremd und un⸗
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heimlich an und fle fühlte ſich nicht wohl, nicht frei, nicht fo wie fonft, fo anders wie ſonſt, matt und ſchwer. Und jetzt gerade kamen die dunkeln, dumpfen Angſtgefuͤhle wieder, die ſie auf dem Wege uͤberfallen hatten, die ſie mit ruͤhrender Gewalt von ſich abgehalten, die ſie nicht kennen, nicht ahnen wollte! Und dieſe dunklen Gefuͤhle ruhten nicht, ließen ſich nicht abweiſen und wollten Geſtalt annehmen, kamen immer wieder ſeit geraumer Zeit, zu allen Tag⸗ und Nachtſtunden, und raubten den Schlaf und jeden Frieden.
Und es mochte etwas Ungeheures fuͤr ſie ſein, was ſo auf Schritt und Tritt trotz allen Kampfes und aller Gegenwehr, aller Selbſtbeherrſchung ſich ihr jetzt in das Bewußtſein draͤngen wollte.
Und wieder richtete ſie ſich feſt und frei auf, wie ſonſt, wenn ſie im Garten am Strande ſtand und der Wind ihr ins Haar fuhr und ihr die Geſtalt umwehte, und ſie ſich ſo frei, fo eins mit allem Friſchen, Lebensvollen fühlte, fo ſtark und leicht zugleich, als koͤnnte ſie fliegen.
Sie dachte leidenſchaftlich an jene heimatlichen Gefuͤhle, während fie feſt und jugendkraͤftig jetzt im dunkeln Bors zimmer ſtand, und ſie dachte, daß ſie ja dieſelbe Kriſtine noch ſei, ganz, ganz dieſelbe, und das ließ ſie aufatmen!
Aber auch diesmal ſanken dieſe mutigen, jungen Arme matt herab, und Kriſtine ging langſam nach ihres Vaters Zimmer, oͤffnete die nur angelehnte Tuͤr. Das Zimmer war dunkel und ſie ſah im Mondlicht ihren Vater, der ihr leiſes Kommen nicht gehoͤrt hatte, am Fenſter ſitzen, ganz in ſich verſunken, unſaͤglich einſam. Im hellen Mondlicht ſah ſein Geſicht ſo eingefallen aus, die ganze Geſtalt zuſammen⸗ geſunken. Das graue Haar hatte er ſich wirr gewählt. Er hielt auch noch die eine Hand darin vergraben und ſtuͤtzte den Kopf auf den Arm.
Kriſtine wagte ſich nicht zu regen. Sie fuͤrchtete ihn zu erſchrecken. Ihre Blicke hingen an dem einſamen, kranken
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Mann, der im Dunkeln feinen Gedanken nachhing. Ihr wollte bei dem Anblick das Herz zerſpringen. Sie waͤre am liebſten auf ihn zugeſtuͤrzt und haͤtte ihr armes Herz an ſein armes Herz gelegt, aber fie hielt ſich aufrecht, ſchlich leiſe zuruck und frug Annuſchka, weshalb ihr Vater ohne Licht ſei.
„Herr wollen nicht haben“, — erhielt ſie zur Antwort. Darauf zuͤndete Annuſchka die Lampe für ihre junge Herrin an. Kriſtine nahm ſie ihr ab, um ſie ſelbſt zu ihrem Vater zu bringen.
Da ſtellte Annuſchka ſich vor ſie hin.
„Hier nicht gut iſt“, ſagte ſie heftig. „Arme Herr ſehr trank. Kind auch nicht gefallt mir, Kind ſchlaft nicht in Nacht — weiß! Woll'n fort.“
„Bald“, ſagte Kriſtine.
Annuſchka ging holpernd und kopfſchuͤttelnd, nachdem fie ihr Herz freigemacht, wieder in ihre Ecke, wo ſie ſich auf die Erde ſetzte und bei einem Lichtſtuͤmpfchen herumhantierte. Kriſtine fiel es ein, was fie den Kindern unten versprochen hatte, ſchrieb in Eile ein paar Worte und hieß Annuſchka das Zettelchen forttragen.
Sie rief ſchon vor der Tuͤr, um ihren Vater aus ſeinen Gedanken zu wecken:
„Ich bin ſchon da, ich komme zu dir!“
„Du, ſchon?“ rief es aus der dunkeln Stube freundlich erſtaunt.
Und wie Kriſtine eintrat im weißen Kleid, mit dem Roſen⸗ kranz und mit der brennenden Lampe in der Hand, blickte der kranke Mann aus ſeiner Verſunkenheit vollends auf. „Meine gute, liebe Sonne kommt!“ ſagte er.
Kriſtine ſetzte die Lampe auf den Tiſch, kniete vor ihrem Vater nieder, umſchlang ihn, und auch er legte ſeine Arme um ſie. Und ſo, ohne Haſt, ohne Erregung war ſie nun bei ihm, ohne ihn erſchreckt zu haben, und konnte ihr armes Herz an ſein armes Herz legen. Und ſie ſprachen kein Wort miteinander.
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Da war es Kriftinen, als würde fie von der dunkeln Angſt von ihrem Vater geriſſen. Sie ſtand haſtig auf. Roͤte ſtieg ihr ins Geſicht, das Herz ſchlug ihr — ſie war in grenzenloſer Verwirrung. — Sie, die nie etwas zwiſchen ſich und ihrem Vater empfunden hatte, die immer volle unſchuldige Wahr⸗ heit hatte zeigen können und nichts als Wahrheit von ihm erfahren hatte, die nicht imſtande geweſen waͤre, auch nur die kleinſte Lüge über die Lippen zu bringen, war jetzt ganz Luͤge. — Wie war ſie nur hineingekommen in dieſes Elend? Es war ja nicht nur das Verſchweigen. Daß ſie ſich froh und harmlos zeigte und im tiefſten Herzen nicht froh und harm⸗ los war, ſondern voller Sehnſucht nach einem Menſchen, an dem ihr ganzes Herz hing, dem ſie mit Leib und Seele an⸗ gehoͤrte — und an den niemand mehr dachte. Das Ver⸗ ſchweigen ihres Leides haͤtte ſie tapfer tragen wollen und trug es tapfer, ohne Klage. Das war es nicht, was zwiſchen ihr und ihrem Vater ſtand — das nicht! — etwas anderes, etwas ihr ganz Unfaßliches, Undenkbares lag zwiſchen ihm und ihr. Eine Ahnung, ſo dunkel angſtvoll — daß der Tod dieſer Ahnung gegenuber alle Schrecken verlor, daß fie es nicht laͤnger in ihres Vaters Naͤhe litt und ſie im anderen Zim⸗ mer ſich zitternd an einen Vorhang ſchmiegte und ins Dunkle ſtarrte. =
Und in ſolchem Erſtarren blieb fie lange am Fenſter ſtehen, waͤhrend ihr Vater im Nebenzimmer auf und niederwandelte. Es mochte ihm nicht gut zumute ſein.
m Morgen nach der Taufe, als Frau Ahrenſee zu ihrem Manne kam, fand ſie ihn ſehr ſchwach. Er war zum erſten⸗
mal nicht aufgeſtanden und beſchloß, auch liegen zu bleiben, bis er ſich wieder mehr bei Kraft fuͤhlen wuͤrde. Der Arzt kam. Und auf Frau Ahrenſee machte es eine beruhigende Wir⸗ kung, daß dieſer beruͤhmte Profeſſor das Befinden ihres Mannes als etwas durchaus nicht Überrafhendes anſah.
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Gottlob, dachte fie bet ſich ſelbſt, er macht nichts daraus. Sie, die immer geſunde Frau, hatte fuͤr Kranke kein rechtes Verſtaͤndnis, war an das ewige Kraͤnkeln ihres Mannes ge⸗ woͤhnt und konnte ſich trotz ihrer Herzensguͤte des Verdachtes nicht erwehren, daß Leute, denen immer etwas fehlt, allerlei Einbildungen haben. Sie machte ſich vorderhand nicht übers maͤßig Sorge, nur hin und wieder kam es ihr dumpf zum Bewußtſein, als waͤre ihrem Mann die Reiſe nicht zum beſten angeſchlagen. An die Ruͤckreiſe konnte man nicht eher denken, bis wirklich ein ſichtbarer Erfolg durch die Behandlung der beruͤhmten Arzte eingetreten ſei.
eber die Ahrenſees ſagte man den Hennebergs uͤberall das Angenehmſte und bedauerte unendlich, daß Herr Ahren⸗
ſee immer leidend war und an der Geſelligkeit nicht teil⸗ nehmen konnte. Seine Frau und Tochter gewannen alle Herzen. Die blonde Frau Ahrenſee in ihrem weichen, regel⸗ rechten Benehmen mit der langſamen Art zu ſprechen geſiel allen. Sie hatte trotz ihrer kraͤftigen, vollen Geſtalt etwas Hilfloſes, Schutzſuchendes im Benehmen, was in der fremden Umgebung deutlicher hervortrat. — Schutz und eine gewiſſe Bevormundung hatte ſie an ihrer Couſine Mathilde Swenſen gefunden, und auch Frau Profeſſor Majunke widmete ſich der weltfremden Frau, wie ſie Frau Ahrenſee nannte, eifrig. Schon waͤhrend Mathilde Swenſens Beſuchszeit bei Ahren⸗ ſees hatte Mathilde ihre Energie tief in den nachgiebigen Charakter ihrer Couſine, die ſie aber vorzog Tante zu nennen, eingedruͤckt. Schon damals war dies Frau Ahrenſee nicht ganz bequem geweſen. In Mathildens ſtrammer Gegen⸗ wart war es Frau Ahrenſee immer, als waͤre ihr eigener Geſchmack und ihre eigene Meinung gar kein Geſchmack und keine Meinung. Sie wagte ſich auch nicht damit ſo recht her⸗ vor, hoͤrte lieber gelaſſen zu, was Mathilde ſagte. Trotzdem aber war Mathilde Swenſen ihr nicht gerade ſympathiſch;
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fie fühlte ſich von ihr bedruckt, und nun war fie auch nod unter das Protektorat der Frau Profeſſor Majunke geraten.
Und dieſe beiden Damen fuͤhrten die unſchuldige Frau Ahrenſee in allerlei Dinge ein, um die ſie ſich ſonſt nie ge⸗ kuͤmmert hatte. Auch wegen der Behandlung ihres kranken Mannes erhielt ſie ſtrenge Anweiſungen.
„Ja, beſte Tante,“ ſagte Mathilde zu ihr, „wenn du aber Onkel Heinrich auch in allen Dingen gewaͤhren laͤßt, wie kannſt du da irgendeinen wirkſamen Einfluß der Arzte ers warten? Hat er Luſt, tagelang im Bett zu liegen, gut, du laͤßt ihn ruhig liegen; hat er Luſt, nicht zu eſſen, — du laͤßt ihn ſo wenig oder ſo viel eſſen, als er will; gefaͤllt es ihm, wie eben jetzt, ſich gar nicht mehr zu beſchaͤftigen, du denkſt nicht daran, ihn anzuregen. Sage einmal ſelbſt, ob das die rechte Auffaſſung der Ehe iſt!“
Aber zum Wohl Heinrich Ahrenſees machte Frau Ahrenſee von ihrem aufgeruͤttelten Selbſtbewußtſein keinen Gebrauch. Sie Hätte wirklich gar nicht gewußt, wie fie das anfangen ſollte.
Der Arzt kam in dieſer Zeit regelmaͤßig jeden Tag zu Heinrich Ahrenſee, der ſich von feiner großen Schwäche nicht erholen konnte. Es waren manche Anzeichen eingetreten, die einem lebenserfahrenen Menſchen als beunruhigend aufs gefallen fein müßten. Frau Ahrenſee aber hatte immer fo gluͤcklich gelebt, es war vor ihrer ſanften, weichen Perſon alles Unglid ausgewichen, daß fie deſſen Antlitz und Vor⸗ boten nicht kennen gelernt hatte. Wohl erſchreckte ſie das Ausſehen ihres Mannes hin und wieder, die augenfällige Schwaͤche, die ſtille Stimmung, die ungemeine Weichheit in feinen Gefuͤhlsaͤußerungen; aber, troͤſtete fle ſich, er war ja immer ein ſo guter Menſch und hatte ſeine eigenen Ge⸗ rei ſolche Leute Hängen den Kopf leicht, wenn ihnen etwas
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Der Arzt blieb auch ruͤckſichtsvoll der Weiſung Heinrich Ahrenſees getreu, der den Seinen den beſorgniserregenden Zuſtand ſeiner Krankheit verſchweigen wollte. Ahrenſee fuͤrchtete ſich vor der erzwungen heiteren Umgebung, vor den Ausbruͤchen von Haltloſigkeit ſeiner Frau, vor Kriſtinens traurigen Augen. Nein, er wollte es nicht, ſie ſollten es nicht erfahren, nicht deutlich ausgeſprochen erfahren.
Wie ſah ihn das Maͤdchen manchmal an! mit ſo ver⸗ wirrtem, truͤbem Blick, als wenn ſie lange nicht Ruhe ge⸗ funden haͤtte. Wenn er ſie an ſich ziehen wollte, ſchien es ihm, als wiche ſie ihm aus. Dabei war ſie ruͤhrend gut, tat alles, was ſie ihm an den Augen abſehen konnte, war immer beſorgt um alles und jedes. Keine Speiſe bekam er, deren Bereitung Kriſtine nicht behutſam überwacht hätte. Wenn er oft tagelang zu Bette lag, war es wunderlich, wie ſie jeden ſeiner Wuͤnſche wie hellſehend erriet. Fuͤhlte er ſich unbe⸗ haglich, ſo legte Kriſtine ihm die Kiſſen zurecht, ehe er ſich ſelbſt recht klar wurde, woran die Unbehaglichkeit lag. Sein Buch reichte ſie ihm zum Leſen, gerade wenn es ihm angenehm geweſen waͤre zu leſen, und alles tat ſie ſo ſtill und friedlich, ſo ganz verſunken, zu helfen und zu erleichtern.
Haͤtte er ſein Kind belauſchen koͤnnen, wie ſie nachts in ihrem Bette ſaß, den Kopf an die kalte Wand gepreßt, mit feſt ineinander verſchlungenen Haͤnden und einem Ausdruck in dem ſtarren Geſicht, als lauſchte ſie, — als haͤtte ſie etwas Schreckliches nicht recht verſtanden! Wenn fie fo ſaß und vor ſich hinblickte, fuͤrchtete fie ſich vor ſich ſelbſt. Wenn ihr Blick an ihrem weißen Nachthemd herabglitt, erſchrak ſie vor ihrem eigenen Koͤrper — wie er ihr geheimnisvoll erſchien, ſo herzbedruͤckend geheimnisvoll! Vor ihren Haͤnden ſelbſt erſchrak ſie, es waren ja dieſelben Haͤnde wie fruͤher — ihre Haͤnde — und wie fle ſich erinnerte, wie feſt dieſe Haͤnde und Arme beim Schwimmen das Waſſer geteilt hatten, wie ſchoͤn das war! — wie ſchoͤn alles war! — und wie dieſe Haͤnde
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Ker feft um den Hals gelegen hatten, wie fie ihn gehalten, wie fie ihn beſchworen hatte, fie nie im Leben zu vergeſſen — und nun iſt fie in dieſer Todesangſt allein!
Das, was ſie bis jetzt quaͤlt, iſt namenloſe Angſt und Sorge; aber doch immer noch dumpf, ganz dumpf — das Bewußtſein ſtraͤubt ſich noch. Es tauchen wohl Bilder auf, die ſie bis ins Herz hinein erſtarren laſſen: aber das Un⸗ ſchuldige, Kinderhafte in ihrem Weſen will nicht verſtehen und faſſen — — ſo atmet ſie immer wieder einmal auf und dann moͤchte ſie ihren Lieben mit heißen Traͤnen um den Hals fallen; aber kaum, daß ein wenig Ruhe iſt, kommt es wieder wie über fie hingewogt das Ungluͤck — die Gewißheit: und Zeit auf Zeit vergeht — ohne Ziel. Was ſoll denn wer⸗ den? Nachts faͤhrt ſie auf und denkt, ſie will gehen, ſoweit ſie die Fuͤße tragen, weiter, immer weiter, nie zuruͤckkehren, und weit, weit von hier tot zuſammenſinken. — Aber ihr Vater! — in ſeinem ſchweren Leiden jetzt! — und die Henne⸗ bergs und ihre gute, liebe Mutter und — alle Menſchen. Was wird denn geſchehen um Gottes willen? — wie ein wilder Tanz ziehen Ereigniſſe, entſetzte Geſichter, unklare, ſpoͤttiſche, veraͤchtliche Mienen der freundlichen Leute an der armen Seele voruͤber.
Sie denkt jener bangen, wunderreichen Nacht, nach welcher ſie am fruͤhen Morgen im triefenden Regen ſtand — bleich⸗ gekuͤßt, todesmatt vor Weh, betroffen und ſchuldbeladen, ſo verlaſſen, ſo dem Schickſal anheimgegeben.
Wie war denn das Unmoͤgliche moͤglich geworden? Sie, die Stolze, Freie, Ruhige, die Haustochter, das gute Kind ihrer Eltern — ſo entartet! Wie war denn dieſe unſaͤgliche Liebe uͤber ſie gekommen, uͤber ſie, die von Liebe nichts wußte! Und diefe Wonne, dieſer Aberſchwall von Glad und Weh?!
Und wie ſie dann vor Gott auf den Knien gelegen hatte, und gebetet, daß er ſie von der Erinnerung an die ſchreckvoll
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heilige, verzweifelte Liebesſtunde erloͤſen möchte! — Und er hatte ſie nicht erloͤſt! Nein — nein — nein — nicht erloͤſt!
Jetzt noch fuͤhlte ſie Kers Kuͤſſe, die ganze, große, wilde junge Liebe uͤber ſich herſtuͤrzen und ſtroͤmen und fuͤhlte es jauchzend und verzweifelt zugleich.
Feſt und ſtolz mitten in ihrer Angſt und Ratloſigkeit, richtete Kriſtine ſich auf und ſagte zu ſich in ihrem alten, lebendigen Ton: „Nein — nein — nein!“ — und darauf ſtuͤrzte fie in wilden Tränen nieder. — Nach dieſen wilden Traͤnen war ihr's, als zoͤge es ihr fremd ins Herz, als ſchluͤge es warm und freudig, wenn ſie an ihr Kind dachte — ihr Kind und ſein Kind — als wollte alle Angſt und Verwirrung vor dieſer fruͤhlinghaften Vorſtellung auf⸗ tauen; und ſie verſank in das ahnungsvolle Empfinden des jungen Weibes, das weichen, reinen Herzens dem erſten Muttergluͤck entgegenſieht. Ihr muͤder Geiſt trank dieſen Frieden ein.
Und wieder ging der wuͤſte Taumel an, Todesangſt, Vers wirrung und Verzweiflung — und ſie ſtuͤrzte in dieſes Atem und Sinn raubende Gewoge, voͤllig widerſtandslos. Was ſollte fie denn erkaͤmpfen, was denn? Gluͤck für ſich etwa? wo alle andern aber fie verzweifeln warden ?
Drittes Kapitel
Het Ahrenſee liegt den ganzen Tag matt und gequaͤlt auf ſeinem Ruhebett.
Die Augen aber leuchteten ihm jedesmal auf, wenn ſein Kind eintritt. — Er liebt es, ihre Hand in der ſeinen zu halten, und fo tet fie oft ſtill bei ihm, oder er bittet fie von Hauſe zu plaudern, von ihren Bootfahrten, fragte nach kleinen Einzelheiten beſtimmter Ausfahrten, die fie mit⸗ einander gemacht haben.
So ſitzen ſie auch an einem ſtuͤrmiſchen Spaͤtnachmittag beieinander, Ahrenſee und Kriſtine.
Die Daͤmmerung bricht herein, die erſten Novemberflocken ſinken dicht in großen Fetzen nieder. Die Windſtoͤße, die dies fruͤhe Schneewetter gebracht hatten, fahren gegen die Scheiben. Heinrich Ahrenſee ſagt:
„Nun ſchneien wir hier ganz ein. Wenn das Frühjahr da iſt, fo Gott will, geht's zuruck.“
Da faͤhrt es ſeinem armen Kind wie ein Meſſer durchs Herz und ſie ſtarrt bleich auf ihren Vater, der aber blickt nicht auf und ſieht wie in Erinnerung vor ſich hin.
Jetzt iſt das Maß voll. Sie kann nicht mehr ihr Elend ver⸗ bergen — ihr Vater ruͤhrt und zerreißt ihr die Seele; wie jammervoll ſieht er aus! wie gut iſt er, wie ruͤhrend. Und ſie fuͤhlt in dieſem Augenblick, wie ein Leben ſich in ihr regt; es verrät feine Gegenwart fo unabweisbar herzbedruͤckend! da ſchreit ſie in ihrer Angſt dumpf unterdruͤckt auf, macht ſich von ihrem Vater los, der erſchreckt auf fie blickt, und ſtuͤrzt hinaus, greift wie unbewußt gewohnheitsgemaͤß nach ihrem Mantel und laͤuft die Treppe hinab, durch die enge Seitengaſſe, bis ſie einſam unter hohen Baͤumen ſteht.
Die weichen Flocken rieſeln auf ihr Haar, der Schnee und die Dunkelheit haben alles ſanft eingehuͤllt, — kein harter Laut, die Uhren ſchlagen gedaͤmpft, wie ſie bei dichtem Schnee⸗
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fall (lagen — ganz in der Ferne Muſik, wie von weichen Fluͤgeln getragen, Hundegebell, faſt klanglos — und der Schneefall ſtark und dicht —.
Hinter den Baͤumen fließt die Saale dunkel, und die Well⸗ chen am niedern Ufer gluckſen leiſe. —
Kriſtine will ſich aufraffen und will uͤberlegen, weshalb ſie hierhergekommen iſt — aber ſie kann nicht denken; der weiche Schneefall und das leiſe Plaͤtſchern der Uferwellchen halle ihr alles Denken ein; und wie das dunkle Waſſer die weißen Flocken einſaugt, das ſieht ſich fo einſchlaͤfernd an. — — Sie lebt nicht mehr wie ein wacher Menſch — ſie traͤumt. Ihr Elend iſt nun ſo hoch geſtiegen, daß ſie es nicht mehr faſſen kann. Sie iſt ganz erfuͤllt und umlagert davon. Es traͤgt ſie wie ein Meer, wirft ſie hin und her, verſchlingt ſie, laͤßt ſie wieder auftauchen, wieder ſinken, wieder tauchen, und jetzt hat das Elend ſie unter dieſe dunkeln Baͤume ge⸗ worfen, an den fließenden Strom, der die weichen Flocken lautlos einſaugt, ſo lautlos und weich und ſchmeichelnd, daß ſie immer darauf durch den Schneetanz blicken muß. — Der breite, dunkle Streif mitten im Schnee! Und manchmal glaͤnzt, flimmert es darin auf, und die lautlos fließenden Waſſermaſſen ſchieben weiter, gleichmaͤßig, geheimnisvoll — und die Flocken fallen immer dichter, immer dichter und ver⸗ loͤſchen im ſchwarzen Waſſer. Und dieſem Ausloͤſchen, Vers ſchwinden zuzuſehen, tut ihr gut. Es iſt ſtill und ungeſtoͤrt hier. Durch den Flockentanz dringt nach kurzen Pauſen immer wieder ferne Muſik auf weichen Fluͤgeln — und das arme Ge⸗ ſchoͤpf geht tief befangen von allem Leid und aller Angſt, die uͤber dem Kopf zuſammengeſchlagen iſt, dem dunkeln Strome naͤher und naͤher.
Kriſtine weiß jetzt, was ſie hier ſucht — Frieden. — Ihre Seele haͤlt nicht mehr ſtand. Es graut ihr vor dieſem Frie⸗ den — ganz entſetzlich graut es ihr; aber die Angſt, das Ents ſetzen vor tauſend Dingen, die uͤber ſie herfallen werden,
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vor bekannten und unbekannten Geſichtern, treiben fie dieſem Grauen zu —
Wie einſam, wie fürchterlich wird ihr Tod fein! — Dann wird ſie vom Fluß hinuntergeſchwemmt, dann wird ſie an eine flache Stelle geſpuͤlt. So wird man ſie finden! — Ihr Koͤrper iſt fremden Augen preisgegeben! Was niemand weiß, muß offenbar werden und die Ihrigen graͤßlich treffen
Ihren Lippen entfaͤhrt ein dumpfer Schrei! Es dreht ſich ihr ſo wild im Kopfe. Sie ſtarrt um ſich her. Gibt es denn kein Mittel auf Erden, ſolche Qual zu wenden?
Gehen, Gehen — Gehen in Hunger, Durſt und Froſt ohne Ende, — und tot zuſammenſtuͤrzen, da wo niemand ſie kennt —
Hilfeſuchend, mit Todesangſt in den Zügen, blickt fie um ſich her — nicht hinauf in die Wolken. Ihr guter Herrgott war ihr jetzt fern, unſaͤglich fern. Er hatte fie verurteilt. — — Das Spiel der Majunkeſchen Kinder vom Juͤngſten Gericht ſteht ihr mit einem Male grell und unvermittelt vor der Seele. — „Ja,“ ſagt fie halblaut und leidenſchaftlich: „Sie werden gemartert, die Menſchen !“
Wieder irrt ihr Blick wirr umher. Da bleiben ihre Augen wie gebannt an einem Licht haͤngen.
Sie weiß ſehr wohl, was dieſes Licht bedeutet. Das helle Fenſter ihres Vaters iſt's, das bis hin zum Ufer heruͤberblickt. Und mit einem Male breitet das arme Geſchoͤpf die Haͤnde aus wie in grenzenloſer Sehnſucht und eilt zuruͤck, unauf⸗ haltſam. Sie tritt in das Zimmer ihres Vaters mit bleichem, von furchtbarer Erregung entſtelltem Geſicht, mit wild herab⸗ haͤngendem Haar, in dem der Schnee feſthaͤngt und tauend niederrieſelt. Sie ſteht mit großen, verzweifelten Augen vor ihm und ſieht in ſein ſterbenskrankes Geſicht.
„Kriſtine!“ ruft er, als er ſie ſo ſtehen ſieht, „was iſt dir? wo warſt du?“ und er erhebt ſich muͤhſelig von feinem Ruhe⸗
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bett, kommt ihr entgegen, breitet die Arme aus und zieht ſein Kind zitternd an ſich.
„Kriſtine, faſſe dich, Herzenskind — dein Vater kann nicht bei dir bleiben, — er kann nicht. — Er hat auch ganz abge⸗ ſchloſſen.
So ſchrecklich dir das ſcheint, jetzt im Augenblick, du wirſt's verwinden! Denk doch, die Blaͤtter fallen im Herbſte, es muß ſo ſein — es iſt gut ſo —. Dies Leben iſt eine ſo zweifel⸗ hafte Sache, daß einer, der daruͤberſtehen und alles übers ſchauen koͤnnte, laͤcheln wuͤrde, wenn er ſaͤhe, wie wir uns an dieſes Leben klammern.“
Er iſt auf den Lehnſeſſel vor ſeinem Bette geſunken und haͤlt die Haͤnde ſeines Kindes, das ihn immer noch mit den⸗ ſelben verzweifelten Augen anblickt, und er ſucht ſich zu faffers er verſteht dieſe jammervollen Augen in ihrem wirren, uns ſteten Ausdruck nicht.
„Mach' mir's nicht ſo ſchwer, mein Herzenskind. Hör mich an, fei ruhig — mir iſt's ja eine Erleichterung. Was denkſt du denn, ſo ohne Abſchied von ſeinem Kinde zu gehen, iſt nicht gut. Wir koͤnnen ruhig beide daruͤber reden, wie uͤber andere Dinge auch — komm, mein Herz! und du wirſt ſehen, wie dann der Tod eines kranken, alten Menſchen ſich dir ganz anders zeigt, als du jetzt glaubſt. Es handelt ſich nur immerhin um ein kurzes Stuͤckchen Erdenbewußtſein — dann kommt's auch an die Zuruͤckgebliebenen. — Und wer weiß, wozu uns das Schickſal gebraucht, was es aus uns machen will. Da hat noch kein Menſch den Schleier geluͤftet, da gibt es Raum fuͤr mancherlei Hoffnung.“
Mit einer Stimme, uͤber die ſie keine Gewalt mehr hat, die allen Jammer wie einen einzigen Todesſchrei ausſpricht, ruft ſie: „Nimm mich mit, auch ich muß ſterben!“ — und vor ihres Vaters Fuͤßen bricht ſie zuſammen.
Ahrenſee umklammert mit einer Hand krampfhaft die Stuhllehne, und ſieht ihr in die jammervollen Augen, die
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zu ihm in ſtummer Verzweiflung aufbliden! — „Was it dir geſchehen, Kriſtine?“ — Ein krampfhaftes Zittern faͤhrt durch ihren Koͤrper, ſie faßt ſeine Hand, preßt ſie an ihre Lippen und druͤckt Kuͤſſe darauf, mit einer demuͤtig leidenſchaftlichen Liebe; von ihrem Haar fallen die getauten Tropfen herab, und ſo wie ſie zuſammengeſunken iſt, bleibt fie vor ihrem Vater liegen.
Die verzweifelten Augen aͤndern ihren Ausdruck nicht — und wie es ſcheint, verſucht fie zu ſprechen und kann nicht — — blickt hilfeſuchend, ſchweigt und ringt wieder nach Worten — und wieder — und wieder, — aber Worte finden ſich fuͤr dieſen Jammer nicht —
Sie blickt auf ihren Vater, und da iſt es ihr, als werde ihr das Herz zertreten, als ſtuͤrzte von allen Seiten Entſetzen auf ſie ein. Und wieder faͤhrt es ihr durch die Seele, wie die Majunkeſchen Kinder an jenem Abend geſpielt haben, und in ihrem wirren Kopf iſt es, als haͤtten ſie gar nicht ge⸗ ſpielt, ſondern ihr eine Wahrheit vorgefuͤhrt, die ſie damals noch nicht kannte.
„Vater, Vater,“ fluͤſtert ſie mit einer faſſungsloſen Stimme — „lieber heiliger Gott — behuͤt“ ihn — behuͤt ihn!“
„Vater!“ ruft ſie flehend noch einmal, und dann preßt fie die Hande wie bittend aber ihrem Kopf zuſammen —— —:
„Ich bin Mutter.“
über Ahrenſees Geſicht geht es wie eine Totenblaͤſſe, ſeine Augen blicken einen Moment ganz verwirrt und faſſungslos. Waͤhrend Kriſtine ſprachlos vor ihm liegt, ziehen Schreckens⸗ bilder uͤber Schreckensbilder an ihm voruͤber. Da, als waͤre er hellſehend geworden, iſt auch das Bild des jungen Ker, ſeines Gaſtes, vor ihm aufgetaucht, und es iſt ihm, als wenn ſeine Kriſtine dieſen Ker die ganze Zeit her geliebt haͤtte mit der ganzen Tiefe ihrer Seele — und als muͤßte dieſem Ker etwas Entfegliches begegnet fein.
Jetzt nimmt er wortlos ihren Kopf, legt ihn an ſein Herz,
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ſchlingt die Arme feſt um fie und hält fie fo. Seine Augen blicken über fie hinaus wie in die ferne Zukunft.
Und dem armen Madden, das ſo in ihrer Ratloſigkeit und Angſt einen ſichern Hafen in den Armen ihres Vaters gefunden hat, dringen unbezwingbar heiße Traͤnen aus den Augen, Traͤnen, die laͤngſt ſchon in uͤbergroßem Jammer erſtarrt waren.
Und er laͤßt ſie weinen. Nur der leiſe Druck ſeiner Arme zeigt ihr, daß er ſie liebt, nach wie vor: das iſt, wie er glaubt, die groͤßte Wohltat, die er ihr jetzt tun kann. — Aber was dann?
Der todkranke Mann, der ſo in aller Stille, ohne irgend⸗ einen Menſchen zu belaͤſtigen, mit dem Leben ganz nach ſeiner Weiſe abgeſchloſſen und ſich fuͤr den nahen Tod vor⸗ bereitet hat, ſteht mit einem Male wieder wie mitten im Sturm des Daſeins, und ſieht das Liebſte, was er beſitzt, ſchrecklich bedroht.
Das weiß er jetzt, daß ſein Leben noch dazu ausreichen muß, um ihr beizuſtehen!
Er weiß das — er fuͤhlt die Kraft in ſich, ſein Leben zuruͤck⸗ zuhalten, bis ſie geſichert iſt.
Er hebt ihren Kopf von ſeiner Bruſt. — Es iſt ihm, als müßte er erftiden. — Wie ſollte er — jetzt, in letzter Stunde für fein ungluͤckliches Kind gegen eine Welt kaͤmpfen!
Wie ſollte er ſie retten?
Kriſtine blickt ihn angſtvoll an — ſie fuͤhlt ſeinen liebe⸗ vollen Arm nicht mehr.
Wie die traurigen Augen eines ſterbenden Tieres erſcheinen ihm die Augen ſeines Kindes.
„Nein, mein armes Geſchoͤpf, ich tu’ dir nichts“ — ſagt er tief erregt, „ich will dich ſchuͤtzen.“
„Vater, Vater“, fluͤſtert Kriſtine leiſe, wie eine arme, erloͤſte Seele. „Papachen“, ſchluchzt ſie noch einmal, dann ſtuͤrzen die Traͤnen wieder unaufhaltſam. —
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Die Welt iſt ausgeſchloſſen aus dieſer ſtillen Stube, draußen faͤllt wieder der Schnee in dichten, wirbelnden Flocken, der Wind ſtoͤßt gegen die Fenſter, heult im Schornſtein, brauſt durch die Wipfel der gewaltigen Baͤume unten am dunkeln Ufer der Saale, in deren ſchwarzes, naͤchtliches Waſſer wieder die Flocken ſinken — nach wie vor.
Heute kommt auch Frau Ahrenſee nicht; bei dieſem Wetter bleibt ſie bei dem Enkelchen. Sie weiß ja, wie gut ihr Mann und ihr Kind miteinander hauſen, und daß ihr Mann wohl aufgehoben iſt.
Kriſtine liegt immer noch ganz aufgeloͤſt in Tränen vor ihrem Vater, und dieſer verſteht ganz, was dieſe Traͤnen fuͤr ſie bedeuten.
„Wir bleiben beieinander, Kriſtine, du biſt nicht mehr allein —“ ſagt er, nachdem eine Zeit verſtrichen tft. — „Wir reiſen miteinander fort von hier — bald. Wenn du heute ſchlafen gehſt, armes Kind, denke an deinen Vater — und ſchlaf ruhiger.“
Kriſtine macht ihm noch auf der kleinen Spirituslampe ſeine Taſſe Milch und Waſſer zurecht, die er des Abends jetzt immer trinkt, und die er auch heute geduldig entgegen⸗ nimmt mit einem Gefühl, das ſich deutlich in feinen Zügen widerſpiegelt, — er will nichts unterlaſſen, will ſeinem Koͤrper nicht das geringſte entziehen oder zumuten, denn dieſer Koͤrper, den er ſchon voͤllig aufgegeben, ſoll weiter⸗ leben — der Menſch, der ſchon abgeſchloſſen hatte, ſoll auf der Todesſchwelle wieder umkehren.
Als Heinrich Ahrenſee ſeinem Kinde Gute Nacht ſagt, ſchlingt er beide Arme um ihren Nacken. „Das iſt mein un⸗ gluͤckliches Kind,“ denkt er — „und zu dem ſtehe ich, ſolang ein Atemzug in mir iſt. — Durch mich iſt fie ins Leben ge⸗ rufen, und wer in aller Welt ſollte ihr in dieſer Not bei⸗ ſtehen, wenn nicht ich? die mir, ſolang ſie lebt, nichts als Gluͤck und Freude brachte — ganz unverdient — und nun,
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das erſtemal, wo fie ganz ungluͤckſelig iff, und wie die Welt es nennt, mit Schande beladen — da ſollte ich an mich denken, damit ja das, was die Welt Schande nennt, mich nicht ſtreifen kann?“ Er preßt fein Kind an ſich. — „Geh nur — geh nur!“ ſagt er bewegt.
Und ſie geht.
Erloͤſung! Ein Menſchenherz hat die Macht, ein anderes zu erloͤſen! — Das iſt eine wundervolle Macht!
So liegt Kriſtine unſaͤglich dankbaren Herzens und ſieht dem Schlaf faſt friedlich entgegen.
Sie iſt ja das elende Geſchoͤpf nicht mehr, die Verbrecherin, die vor der Entdeckung ihres Verbrechens zittert.
Sie tft nicht mehr verurteilt!
Von dieſem Augenblick an gehoͤren ſie und ihr Kind zu⸗ einander, und in ihrem Herzen taucht ein freies, ſtarkes Ge⸗ fuͤhl auf:
Wie ein Licht in tiefer Dunkelheit leuchtet dies Gefuͤhl. Und zum erſtenmal ſeit langer Zeit zieht auch klar und tief bei ihr ein, was ganz von Angſt und Seelendruck erſtickt war: die Sehnſucht nach dem Geliebten und das Vertrauen zu ihm. Verlaſſen hat er ſie nicht!
Verlaſſen nicht, das weiß ſie, und ſo ſchlaͤft ſie ein, ein junges Weib, das um den, den es liebt und dem es vertraut, bangt, und das auf ihn hofft.
Seit ihres Vaters Blick ſo gut auf ihr geruht, ohne Zorn, iſt ihr alles Entſetzliche einfacher und ruhiger geworden.
Viertes Kapitel
n dieſer Nacht tobte der Sturm Aber weite Laͤnderſtrecken hin, entwurzelte Baͤume, kaͤmpfte und ruͤttelte und hätte alles zerreißen und zerſtaͤuben moͤgen, was ihm im Wege ſtand. Es war ein Winterſturm, der von den Meeres kuͤſten tief in die Binnenlaͤnder hinein wuͤtete, ein Sturm, der Hunderte von Meilen mit gleicher Wucht uͤber die Erde fuhr.
Geſunde Leute lagen zufrieden in ihren Betten und hatten ein angenehmes Gefühl von Geſichertſein unter ihren warmen Decken.
Kranken tat der harte Sturm weh, er ruͤttelte ihnen an den Nerven und aͤngſtigte ſie, und die Seelen, die dieſe Nacht die große Reiſe antraten, gelangten auf Sturmesfluͤgeln in das unbekannte Land.
Und es traten ein guter Teil die Reiſe an, wie jede Nacht, und der Sturm machte ihnen das Sterben nicht leichter.
Er nahm auch gar manchen auf ſeinen ſchweren Fluͤgeln mit ſich, der vielleicht erſt kuͤnftige Nacht oder kuͤnftigen Tag ſich bereit gemacht haͤtte — und am Morgen hatten ſich manche treue Pfleger in Trauernde verwandelt.
Am Morgen wurde Heinrich Ahrenſee tot in ſeinem Bette gefunden. Auf die weiße Seite des Buches, das vor ihm auf Sem Deckbett lag, hatte er unleſerlich mit faſt erſtorbenen Fingern noch etwas ſchreiben wollen und war nicht zu Ende damit gekommen. Der Tod hatte ihn plöglich gepackt. Der erſtarrte Ausdruck in des Verſtorbenen Geſicht war ein unſaͤg⸗ lich angſtvoller.
Annuſchka war es, die ihn zuerſt ſo geſehen hatte; als ſie, um zu heizen, in ſein Zimmer geſchlichen kam, fand ſie die brennende Lampe vom Abend her und von der Lampe be⸗ ſtrahlt das erſtarrte Geſicht ihres Herrn. Wie eine Nacht⸗ wandlerin war Annuſchka aus dem Zimmer geſtolpert, an der tief ſchlafenden Kriſtine voruͤber, hinaus, die Treppe hinab
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und fo zum Arzt, und hatte dort fo wild und unfinnig ges läutet, daß kein Zögern möglich geweſen war; wie ein Dämon war ſie eingedrungen, ungezuͤgelt, und hatte den beruͤhmten Arzt ſo ſchnell mobil gemacht, wie es dem ſein Lebtag noch nicht geſchehen ſein mochte.
Und wie er mit ihr auf der morgendaͤmmernden Straße ging, durch die der Sturm noch ganz gewaltig brauſte, da rief ſie dem Arzte wie etwa einem Pferde zu: „Schneller! — Laufen! — Nicht fo langſam! — Laufen — Fort! — Schnell!“ So kamen ſie miteinander an das alte Giebelhaus und ſtiegen miteinander die Treppe hinauf. Und als ſie vor Ahrenſees Wohnung angelangt waren, da drohte Annuſchka dem beruͤhmten Arzte mit der Fauſt, um ihm wahrſcheinlich ganz deutlich zu machen, was ſie wollte: „Schleichen!“ — ſagte ſie wie zu einem Bloͤdſinnigen, den ſie einſchuͤchtern wollte — „Kind ſchlafen! — Kind nicht Schreck machen!“ — und ſo ſchlichen ſie miteinander hinein zu dem Toten. Und als der Arzt ſich ſachgemaͤß vom voͤlligen Eintritt des Todes uͤberzeugt hatte, und ſeine Hand mit einem zuſtimmenden Nicken uͤber die Magengegend des Toten mit leichtem Drucke gleiten ließ, und Annuſchka breit und mißtrauiſch daſtand, jeder Bewegung des Arztes mit den Blicken folgend — da tut ſich die Tuͤr auf, und Kriſtine tritt ein, um nach ihrem Vater zu ſehen — und ihr Blick faͤllt auf die ſtarren, ent⸗ ſtellten Züge des Toten.
Kein Jammerton — wie hingeſtuͤrzt iſt ſie beim Bett ihres Vaters in die Knie geſunken und verbirgt ihr Geſicht in die herabhaͤngende Bettdecke.
„Er tft ſanft entſchlafen!“ ſagt der Arzt, „es iſt gekommen, wie ich ihm geſagt habe, ganz plotzlich — mußte ſo kommen. — Faſſen Sie ſich, Fraͤulein Kriſtine! —“
Kriſtine aber hört nichts, das Entſetzen tft über ihr zu⸗ ſammengeſchlagen und ſtumpf, fuͤhllos wie eine Ertrinkende ſinkt ſie tiefer und tiefer wie in ſchwarzes, naͤchtliches Waſſer hinab.
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Annuſchka tappt ihr leicht auf die Schultern und fagt unter heftigen Traͤnenſtroͤmen: „Kind — Kind — Kind! —“
Aber kein Laut, keine Traͤne ringt ſich von dieſem furchtbar geſchlagenen Herzen los.
Man laͤßt ſie gewaͤhren, man hat keine Zeit fuͤr ſie. Der Tod bringt ſo viel duͤſteres Schaffen ins Haus und das Drama muß ſich unaufhaltſam abſpielen. Jeder muß ſehen, wie er es traͤgt. Frau Ahrenſee mußte vorbereitet werden und die Hennebergs. —
Und wie ſie kamen, eine Flut von Jammer und Schrecken! — Frau Ahrenſee ſchluchzend, ſchon uͤber die Straße war ſie ſchluchzend gelaufen. Profeſſor Henneberg hatte in aller Eile und Haſt anſpannen laſſen wollen, um mit Frau und Mutter an das Trauerhaus zu fahren; aber den beiden Frauen war jede Verzoͤgerung unmoͤglich zu ertragen, ſie mußten dahin gelangen, ſo ſchnell wie moͤglich, dahin, wo ſie nichts mehr helfen konnten — und ſo liefen ſie, ganz aufgeloͤſt vor Schreck und Trauer, vor Profeſſor Henneberg her, und dieſer hoͤrte die Mutter ſeiner Frau auf der Straße laut ſchluchzen.
Frau Ahrenſee haͤtte gewiß ihren Jammer zu bezaͤhmen geſucht, waͤre es ihr moͤglich geweſen.
as alte Giebelhaus hatte ſo manchen Toten ſchon be⸗
herbergt. — Vor dreihundert Jahren war es erbaut wor⸗ den — Zeit genug, daß Generationen darin geboren werden und ausſterben konnten, von deren Daſein kein Menſch mehr etwas ahnt. — Die ſtarken, feſten Mauern hatten Todes⸗ kampf und Totenklage ſchon ſo oft umſchloſſen. Was waren da alles fuͤr Leute geſtorben! Und das alte Haus hielt immer noch aus — machte bei jedem Toten dasſelbe wuͤrdige, ſteinerne Geſicht. Immer war es von dieſen Eintagsfliegen bewohnt geweſen, die ſich ſo viel zu ſein duͤnken, die ſich ſo wichtig vorkommen, die keine Vernunft annehmen wollen.
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Und jeder Schub dieſer Eintagsfliegen meint, er ware der Alleinberechtigte und haͤtte vor ihm und nach ihm nichts Gleiches.
Dem alten Hauſe war es nachgerade langweilig geworden, das truͤbſelige Schauſpiel wieder und immer wieder zu be⸗ herbergen. Die oberſte Giebelſpitze hatte es laͤngſt ſachte nach vorn geneigt, als ware es ſchlaͤfrig, und nun wurden feine alten, morſchen Rippen wieder einmal durchzittert von den Jammertoͤnen und den Seufzern und dem Herzensſchrei der armen Eintagsmenſchen, und dieſe Seufzer, dieſe Jammer⸗ toͤne fuhren dem alten Hauſe jedesmal wie lebendiges Gift in die hoͤlzernen Adern, zitterten die Waͤnde hinauf und taten dem alten Haus groͤßeren Schaden als der wildeſte Sturm⸗ wind. Dieſe Toͤne hatten eine geheimnisvolle Kraft wie aus einer anderen Welt. Das alte Haus war wie eine viel ge⸗ ſpielte Geige geworden. Die Toͤne hatten ſich eingegraben bis in die feinſte Faſer.
Wieviel Tote hatten im alten Haus ſchon gelegen in ſteifen Staatskleidern mit Handſchuhen an den ſtarren Fingern? Die Toten hatten ſo und ſo gelegen und die Trauer⸗ feierlichkeiten waren ſo und ſo vor ſich gegangen. Leichen⸗ mahle und ſtundenlange, naͤchtliche Gebete und alle Arten ewiger Lichter und Aufſtellungen von allerlei ruͤhrenden und duͤſteren Dingen. Der Schmerz aber, die Qual, wenn der Tod das Furchtbare getan und die Leute, die zueinander ge⸗ hoͤrten, auseinandergeriſſen hatte, das war ſich immer gleich⸗ geblieben. Das hatte keine Mode geaͤndert.
Viele hatten geweint, wie Frau Ahrenſee weinte, als ſollten die Augen auslaufen, oder wie die Profeſſorin auf eine gemaͤßigtere Weiſe. Manche waren vielleicht wie Profeſſor Henneberg tiefernſt im Zimmer geſtanden und hatten uͤber die Aufbahrung der Leiche nachgedacht: ob es beſſer ſei, in dieſem Zimmer oder in jenem — und ſo weiter, und was alles zu tun ſei.
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Der Profeſſor kuͤßte feiner Schwiegermutter ehrerbietig die Hand.
Annuſchka ſtand breitbeinig und weinte aus eeibeskraͤften. Und vor dem Bette, wo fle zuerſt hingeſtuͤrzt war, da lag Kriſtine noch, den Kopf in die herabhaͤngende Bettdecke ver⸗ graben.
Sie hatte ſich noch nicht geregt und nicht bemerkt, wie alle verſuchten, ſie aus ihrer Erſtarrung zu reißen. Die Mutter war ihr mit der zitternden Hand uͤber die Schultern geſtrichen, aber ſie lag ſtarr, immer noch ohne Traͤnen.
Die Profeſſorin hatte ihr mit weicher, von Traͤnen ver⸗ ſchleierter Stimme, zugeredet, Annuſchka war zu ihr hin⸗ geſtolpert und hatte geſchluchzt: „Weinen ſoll Kind! — Weinen Kind! Muß weinen jetzt, armes Kind!“ und fie hatte ſie etwas geruͤttelt und auf den Ruͤcken geklopft. Auch Pro⸗ feſſor Henneberg hatte ſich um ſie bemuͤht, ihre ſchlaff herab⸗ haͤngende Hand gefaßt und geſagt: „Du treues Kind — du warſt des guten Vaters Stern dein Lebenlang!“
Alle fuͤhlten Scheu vor dem Schmerz dieſes Kindes. Annuſchka ſchaute unverwandt durch ihre dicken Traͤnen auf das Kind ihres guten Herrn, das ihr das allerliebſte im Leben war — und daß es jetzt nicht weinen konnte, das ſchien dem törichten treuen Weibsbild ungeheuerlich. Sie ließ fie nicht aus den Augen. Und als ſie ſah, wie der Kopf des armen Kindes ſich immer tiefer neigte, da ſtolperte Annuſchka wieder zu ihr, packte ſie an den Schultern und zog ſie in die Hoͤhe — alles ſo flink wie im Umſehen — hob ſie auf, ſtuͤtzte ſie und fuͤhrte ſie hinaus; Kriſtine ließ es ruhig mit ſich ge⸗ ſchehen.
Annuſchka fuͤhrte ſie in ihr Zimmer, ließ ſie ſich nieder⸗ ſetzen, machte ihr das Bett, raͤumte wie ein Wirbelwind im Zimmer auf, damit das Kind es gut habe, und dann packte ſie ſie wieder und fuͤhrte ſie zum Bette.
Sie begann ſie auszuziehen, da ſah ſie mit einemmal,
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wie eine Totenbläffe ihrem Kinde über das Geſicht glitt und wie es bewußtlos umſank.
„Meine Taube! meine Taube! Kind, meine Taube!“ ſchreit ſie. „Kind nicht auch tot ſein!“
Sie oͤffnet ihr das Kleid, hebt ſie mit ihren ſehnigen Armen und entkleidet ſie — da mit einemmal faͤllt Annuſchka wie ein Paket ſo ſchwer vor dem Bette in die Knie; ſie ſtoͤhnt wie ein verwundetes Tier, und ſpringt auf, verriegelt die Car und faͤllt wieder vor dem Bette nieder. Dann bricht ſie in ein wuͤtendes Schluchzen aus und legt ihre beiden feſten Haͤnde auf ihren Liebling, der totenbleich immer noch be⸗ wußtlos vor ihr liegt. —
„Annuſchka nun weiß, was mit Kind iſt!“ fluͤſtert ſie leidenſchaftlich. Die Traͤnen rollen ihr die knochigen Wangen herab.
„Wer hat Kind das getan! Kleinem guten Kind!“
Mit den Haͤnden faͤhrt ſie ſich wie eine Wilde in das ſchwarze Haar und ſchluchzt laut und wuͤtend. „Heilige Mutter von Kaſan — du auch Kind gehabt haben! beten zu dir — Ruſſen gut mit dir ſind — auch mit mein Kind gut ſein ſollen! — Kind nichts tun ſollen!“ — Und da wirft ſie ſich auf die Erde und ruft einmal um das andere Mal: „Heilige Mutter von Kaſan — mad’ das! Menſchen gut mit Kind fein follen! — wie mit dir auch gut ſind!“ Annuſchka iſt ſtolz auf ihr Deutſch und ſpricht mit ihrer Herrſchaft, ſolang ſie denken kann, das, was ſie „Deitſch“ nennt, ſo auch mit der heiligen Mutter Gottes zu Kaſan, trotzdem ſie dieſe doch nichts angeht, da Annuſchka Finnlaͤnderin und gut proteſtantiſch iſt. Jetzt ſteht ſie auf und ſtolpert nach dem Waſchtiſch, waͤſcht ihrem Liebling das Geſicht und trocknet es ihm wieder wie einem ganz kleinen Kinde ab. Fuͤr ſie war und blieb das arme Ge⸗ ſchoͤpf ein ganz kleines Kindchen.
„Ich alles Frau ſage — ich ſelbſt ſage“, murmelt ſie vor ſich hin; und als Kriſtine die Augen wieder aufſchlaͤgt und
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diefe Augen fo groß und ungluͤckſelig auf Annuſchka richtet, da ſchluchzt Annuſchka wieder ſo laut und wild, daß ſie nichts hört und nichts ſieht, dabei aber huͤllt fie ihr Kind feſt in die Decken ein und fluͤſtert haſtig: „Kind ruhig fein. — Weinen Kind. — Nun weinen! — Das muß! — Weinen!“
Und das fluͤſtert ſie ſo herzbrechend und unſinnig. Kriſtine ſtarrt mit einem Schreckensausdruck auf Annuſchka. Da fallt die vor ihr nieder und kuͤßt die Haͤnde ihres armen Pfleg⸗ lings und kramt ihr die Fuͤße aus den Decken. Sie kuͤßt ihr wieder die Süße und ſchluchzt fort und fort. Und dabei hilft ſie Kriſtine wieder in die Kleider — und ſchuͤttelt den Kopf, daß ihr die Traͤnen herabfliegen. Sie hat einen ſo großen Vorrat von Traͤnen, weit mehr als andere Leute.
Annuſchka iſt aus dem Zimmer gegangen.
Kriſtine bleibt ſtarr und unbeweglich auf ihrem Bett⸗ rand ſitzen.
Sie braucht nicht aufzuſtehen, um bei ihrem Vater zu ſein. Sie ſieht ihn vor ſich, ſieht ſein Antlitz, auf dem eine tiefe Angſt erſtarrt liegt.
Sie ſieht nichts anderes als ihn. Und dieſer Anblick iſt zugleich ihr einziger Gedanke.
Alles andere ſteht ſtill und ſie ſitzt und ſchaut, ohne ſich zu regen, wie in ſchwarzen Nebel hinein.
Da tut ſich die Tuͤr auf und ihre Mutter tritt ein.
Kriſtine hebt die Augen. |
Sie ſieht ein Weib mit ganz entſtellten Zügen. Die heißen Traͤnen, die ſie an der Leiche ihres guten Mannes vergoſſen, ſind vertrocknet. Das Geſicht ſieht gefurcht aus und un⸗ ſaͤglich geſpannt im Ausdruck. Die volle Geſtalt iſt wie zu⸗ ſammengeſunken, plotzlich alt geworden. Der Mund halb offen wie fragend, die Angen wie ganz verwirrt.
„Kriſtine!“ ringt es ſich heiſer und ſchwer aus dem Mund dieſer Frau und ſie ſinkt auf dem Stuhl vor Kriſtinens Bett nieder.
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Und das ungluͤckliche Mädchen ſieht alles, verſteht alles und ſtarrt wie in einen Abgrund!
„Iſt das — das Unmoͤgliche wahr, Kriſtine?“ Das war eine Frage, herausgeſtoßen in Todesangſt, Hilfloſigkeit und Verwirrung — und traf in das Herz derer, die auf dieſe Frage antworten ſollte.
„Ja“ — das klingt ſo feſt und ſo verzweifelt!
Da faͤhrt ein Schrei durch das Zimmer, durch das ganze Haus, ſo wild und laut und ſchrill, als ſtieße ihn ein Raubtier aus. Und nach dem Schrei tauchen die entſetzten fragenden Geſichter von Profeſſor Henneberg und ſeiner Frau auf, und noch zwei weitere Geſichter, bie ſich inzwiſchen einge⸗ funden haben.
„Gott im Himmel!“ ruft Frau Profeſſor Henneberg, „was iſt geſchehen?“
„Mutter! Mutter! Mutter!“ ruft die Profeſſorin entſetzt, als fie Fran Ahrenſee fo ſieht.
Und ſie fragen und blicken geſpannt auf Frau Ahrenſee. Die preßt die Haͤnde vors Geſicht und ſtreckt mit einemmal beide Arme ſtraff von ſich, weiſt auf Kriſtine und ſagt etwas — etwas fo Unwahrſcheinliches.
Dann faͤngt ſie an zu lachen — zu lachen — zu lachen — und ſinkt von dem Stuhl herab und birgt das Geſicht auf den Kiſſen des Stuhles — und lacht, und lacht, und windet ſich vor Lachen. — Und alle Geſichter in der Tuͤr bleiben ſtarr auf Kriſtine und Frau Ahrenſee gerichtet, und es ſpricht ſich in einigen dieſer Geſichter ganz deutlich die Befuͤrchtung aus, als hielten ſie Frau Ahrenſee fuͤr irre.
„Der Schreck — das hat der Schreck gemacht!“ ſagt Frau Majunke, die hinter der Profeſſorin ſich in die Hoͤhe reckt.
Kriſtine aber ſteht jetzt aufrecht da und haͤlt die Haͤnde er⸗ hoben und gefaltet.
So vergehen Augenblicke.
Die Tuͤr zu dem Sterbezimmer ſteht weit offen; dort liegt
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der Tote noch mit dem angſtvollen Zug im Geſicht, der jedoch mehr und mehr ſchwindet und jenem tiefen Frieden Platz macht, der mit dem Leben nichts mehr gemein hat.
Da liegt der, der ſein Kind hatte ſchuͤtzen wollen. Sein Kind ſteht wie ein gejagtes Tier, zitternd, hoffnungslos, vor Grauen ſinnlos.
Die ſo wild lachte — das war ihr liebes, gutes Muͤtterchen, und die ſtarren Geſichter in der Tuͤr, die auf ſie blickten, wie auf einen tollen Hund, mit einem Entſetzen im Ausdruck, das ſie ſtumm und ſteif macht, das ſind Geſichter, die ſich das ungluͤckliche Geſchoͤpf nicht im Fieber ſo haͤtte vorſtellen koͤnnen, wie ſie ſie jetzt in Wirklichkeit ſieht — ganz wild ver⸗ wirrte Geſichter!
Und als es losbricht, das Entſetzliche, ſich zu Worten und Gebaͤrden geſtaltet, da iſt es, als laͤuteten große, tiefklingende Glocken vor Kriſtinens Ohren, ganz nah — ſie verliert die Sinne nicht; aber es laͤutet und laͤutet und lautet fo ſchwer und hart und fuͤrchterlich ihr in den Ohren, im Kopf, erfüllt das ganze Zimmer und laͤutet und laͤutet. Dazwiſchen hoͤrt ſie Worte, die ihr das Herz ſtill ſtehen laſſen, und ſieht, wie ihre arme Mutter ſich nun in Traͤnenſtroͤmen auf der Erde windet.
Es hat ſich das Juͤngſte Gericht jetzt vor ihr aufgetan, wie es in den Koͤpfen der Menſchen ſpukt, wie es die Kinder ihr duͤſter vorgeſpielt — ſie iſt die Verdammte, die Zertretene, die Verfluchte, die mit Worten ſtatt mit Feuersflammen und Zangen zerriſſen werden ſoll.
Und dieſe Worte, dieſe Beſchuldigungen, wie ſie von den Lippen ſtuͤrzen, fo drohend, fo vernichtend, — wie Tropfen Gift fallen ſie auf das ungluͤckſelige Herz, das ſich ſelbſt haͤtte ausloͤſchen mögen, um die andern von dem Jammer und der Verwirrung, in die ſie durch ſie geſtuͤrzt ſind, zu be⸗ freien.
„Mein Gott, waͤr ich aus dem Leben gegangen, wie ich
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wollte!“ ſagte Kriſtine leiſe mit gebrochener Stimme, im Übermaß allen Jammers.
„So!“ rief Frau Majunke und ſtand vor ihr wie ein Engel des Gerichts, der ſich mit voller Selbſtloſigkeit auch in die fremdeſten Angelegenheiten miſcht.
„Auch Selbſtmoͤrderin!“ ſchrie die kleine Frau.
Da fuͤhlt ſie den Atem ihres Schwagers vor ihrem Ge⸗ ſicht — und hoͤrt wieder Worte — Worte — Worte — und dazwiſchen laͤutet es ihr wieder vor den Ohren, ſchwer und dumpf und droͤhnend, und draußen tobt der Sturm und ruͤttelt am Fenſter.
Und vor Kriſtinens verwirrten Augen blitzt die wohl⸗ gepflegte Hand, die ſchneeweiße Manſchette ihres Schwagers auf und ſie fuͤhlt einen Schlag im Geſicht. — Dieſe hoͤfliche, wohlgepflegte Hand, die ſie vorhin ſo wuͤrdig und liebevoll geſtreichelt, hat ſie ins Geſicht geſchlagen — und ſie hoͤrt und ſieht, wie ihre Mutter ſich auf die Knie aufrichtet und jammernd ruft: „Nicht ſchlagen!“
Wie Wahnſinn packt es Kriſtine. Sie ſtuͤrzt vorwärts — — „Vater! Vater!“ ſchreit ſie laut und jammervoll, und mit ausgeſtreckten Armen will ſie hinein zu dem Toten ſtuͤrzen. Aber in der Tuͤr wird ſie prall aufgehalten. Mathilde Swenſen ſteht da und vertritt ihr den Weg.
„Nein — da hinein nicht!“ ruft Mathilde. „Zu dieſem Heiligen wahrlich nicht! Die Lebenden koͤnnen wir vor dir nicht mehr ſchuͤtzen — — — aber die Toten!“
Mathilde haͤlt ein Buch in der Hand — das Buch, auf deſſen erſte weiße Seite Heinrich Ahrenſee mit ſterbender Hand ſein Kind der Barmherzigkeit und Weisheit hatte empfehlen wollen, aber nur noch unleſerlich hatte kritzeln koͤnnen. Mathilde Swenſen aber hat herausgeleſen, daß er Kriſtine ihrer Mutter und ihren Verwandten ans Herz legte. Sie Hält das Buch aufgeſchlagen in die Höhe und ſagt mit bewegter, von Traͤnen erſtickter Stimme:
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„Ich erfehe daraus, daß mein geliebter Onkel zur rechten Zeit durch Gottes Guͤte ſtarb.“
Mathilde Swenſen wie Frau Majunke verſtanden es, wie geſagt, muſterhaft, fremder Leute Schmerz chriſtlich zu tragen. Mathilde Swenſen haͤlt das Buch Profeſſor Henneberg hin: „Hier,“ ſagt ſie laut, „Kriſtine zur Seite ſtehen — das ſteht deutlich da — und hier — behuͤten — das kann man lefen — mein Kind ſchuͤtzen! — Was er noch ſchreiben wollte, iſt nicht zu leſen —!“
Kriſtinens Haͤnde aber haben ſich zuſammengefaltet, als Mathilde Swenſen die letzten Schriftzuͤge des Toten laut entziffert.
Sie hat die Arme nicht umſonſt in ihrer jaͤmmerlichen Lage nach ihres guten Vaters Hilfe ausgebreitet. Ein feſter, klarer Zug tritt in dieſem Augenblick in Kriſtinens entſetzte Zuͤge.
Sie bleibt mit gefalteten Haͤnden ſtehen; dann ſinkt ſie auf die Knie vor ihrer Mutter nieder, die immer noch hilflos auf der Erde weint und jetzt das Geſicht feſt in die Haͤnde preßt, als ſie Kriſtine neben ſich kauern ſieht.
Jetzt aber treten auch Kriſtine die erſten heißen Traͤnen in die ſchreckensſtarren Augen.
Sie faßt mit beiden Haͤnden das Kleid ihrer Mutter ſo, als faſſe fie ihre Hände, mit ſolch unſaͤglich liebevoll ruͤhrender Gebaͤrde. Ihre Mama ſelbſt zu beruͤhren, wuͤrde ſie jetzt nicht gewagt haben — ſie haͤtte geglaubt, ihr damit wehe zu tun — aber wie ſie das Kleid haͤlt! Einen Stein haͤtte es erweichen koͤnnen! Frau Ahrenſee ſieht die Bewegung ihrer ungluͤck⸗ lichen Tochter nicht. Sie hat in ihrer Ratloſigkeit die Augen feſt geſchloſſen.
„Mama!“ ſchluchzt Kriſtine, „nur einzig deinetwegen! Glaub“ nicht, daß ich ſoviel ſchlechter bin als fruͤher — glaub das nicht, ich bitte dich, glaub“ das nicht!“
Frau Ahrenſee hoͤrte die Worte ihres Kindes, ſie ſind ihr
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bedeutungslos. Ja, was follten dieſe Worte wohl bedeuten, der entſetzlichen Tatſache gegenuͤber, den vernichtenden, ver⸗ zweifelnden, richtenden Geſichtern gegenuͤber?
Die Worte ihres Kindes aber dringen ihr dennoch wie eine dunkle, unbeſtimmte Offenbarung, die ſie erhalten, die fie aus Furcht, verhoͤhnt zu werden, nie darf laut werden laſſen, tief ins Herz, als wollten ſie ſich dort eingraben.
Um Kriſtine aber beginnt von dieſer Stunde an die Ver⸗ einſamung ihre Kreiſe zu ziehen. |
Als alle Schreckensworte, die geſagt werden mußten, ge⸗ ſagt ſind, als alles an Zorn, Verzweiflung, Haß und Wut, Strafe und Vernichtung uͤber die arme Kreatur hingeſtuͤrmt iſt, ohne irgend etwas an der Sache zu aͤndern, tritt eine große Stille und Abſpannung ein. |
Mathilde Swenſen und Frau Profeffor Majunke weiche ihrer teueren Freundin nicht von der Seite. Mathilde Swenſen liegt der armen Frau zu Füßen. „Solchen Schmerz,“ fagt fle und kuͤßt der Unglädlichen die Haͤnde, „ſolchen Schmerz foll man anbeten.“
Das iſt Frau Profeſſor Majunke wie aus der Seele ge⸗ ſprochen, und fie draͤngt ſich fo nah und feſt an Frau Ahrenſee, umfaßt ſie ſo feſt, als muͤßten dieſer armen Frau Reifen ums Herz gelegt werden.
Sie aßen miteinander zu Mittag, der Form wegen, denn
niemand hatte den Mut, einen Biſſen anzuruͤhren. Kriſtine, die Unglüͤckſelige, mit in dieſes Schutz⸗ und Trutz⸗ buͤndnis aufzunehmen, fiel keinem ein — ſie war es ja, die alle ſo in Entſetzen zuſammengetrieben hatte.
Sie ſtand einſam — ganz einſam.
Profeſſor Henneberg lag es ob, die notwendigen Schritte zu tun, die unerbittlich getan werden mußten, und ebenſo lag es ihm ob, den Weg zu finden, den er ſeiner Schwaͤgerin zu gehen vorſchreiben wollte.
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Kriſtine aber ſaß in ihrem Zimmer und ſchrieb mit fliegen; der Hand an ihre Mutter. Und als alle in der Daͤmmerung im Wohnzimmer verſammelt waren und Mathilde Swenſen den Tee bereitete, da ging Kriſtine ruhig und feſt zu ihrem Vater, ſank vor ihm auf die Knie und ſah ihn Be flim⸗ mernde Traͤnen an.
In ihrem Zimmer riegelte ſie ſich ein, ſuchte unter ihren Sachen und legte dies und jenes, eine kleine gruͤne Saffian⸗ mappe, ihren Schmuck, alles, was leicht zu tragen war und wenig Raum einnahm, zuſammen; ſie tat dies unter heißen Traͤnen, aber nicht haſtig. In ihrer Seele lebte der Gedanke: „Wie mich mein Vater nicht verlaſſen hat, werd’ ich das Kindchen nicht verlaſſen.“ Das allein ſtand feſt, ſonſt wogte alles in Schmerz, Qual und Verwirrung. Das Bild ihrer verzweifelten Mutter war wie eingebrannt in ihr.
Es wurde leiſe verſucht, die geſchloſſene Tar zu oͤffnen. Kriſtine fuhr zuſammen, verbarg mit zitternder Hand die zuſammengeſuchten Sachen in ihrem Bett und oͤffnete. Annuſchka war es, die ihrem Kinde, an deſſen Wohl niemand mehr dachte, Tee brachte.
Annuſchkas Augen waren dick verſchwollen. „Armes Muͤtterchen muß trinken“, ſagte ſie mit verweinter, rauher Stimme. „Armes Muͤtterchen geſchlagen worden iſt! Nie⸗ mand helfen!“ Annuſchka ſagte das wild und zitternd und ſtrich Kriſtine mit ihren flinken Haͤnden uͤber die geſchlagene Wange. „Ach — ach — gue’ Menſchen auch boͤſ Menſchen haben geweſen ſein!“ ſchluchzte Annuſchka und hielt den Atem jetzt an, als „das Kind“ ihr an die Bruſt ſank und das arme ge⸗ ſchlagene Geſicht in ihrem Kleide barg. Ja, da hielt Annuſchka maͤuschenſtille — „Gute arme Herr das nicht haͤtte leiden ge⸗ tan. Nie — nein!“
„Annuſchka! Annuſchka!“ ſchluchzte Kriſtine und klammerte ſich an ſie an in ihrer Angſt. Und indeſſen ſie einſam und ver⸗ laſſen den ganzen langen Tag, von niemanden als Annuſchka
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aufgeſucht, in ihrem Zimmer ſaß, das Annuſchka ihr warm und behaglich geheizt hatte, da mußte ihre arme Mutter es lernen, ſich ſtrengen Blicken zu fuͤgen. Als ſie ſich erhoben hatte, um zaghaft zu ihrer ungluͤcklichen Kriſtine zu gehen, da war es das erſtemal geweſen, daß dieſe ſtrengen Blicke ſie getroffen hatten.
„Nicht doch, beſte Mutter,“ hatte Profeſſor Henneberg ſcharf geſagt, „wohin ſoll das fuͤhren? Ich bitte dich: bleib“. Ich werde dich den Weg leiten, den du zu gehen haft.”
Profeſſor Henneberg ließ ſich durch das jaͤmmerliche Auf⸗ ſchluchzen der armen Frau nicht beirren. „Liebſte Mutter,“ ſagte er ruhig, „ich bin jetzt derjenige, der im Namen unſeres teueren, unantaſtbaren Verſtorbenen zu handeln hat, und ich denke in ſeinem Sinne zu handeln. Wie wuͤrde er, dieſer reine, edle Mann, einen Fleck auf ſeiner Ehre ertragen haben?“ frug der Profeſſor mit ernſter, feſter Stimme. „Ich frage dich, teure Mutter, wie wuͤrde er es ertragen haben?“
Statt dem Profeſſor zu antworten, ſanken Frau Pro⸗ feffor Majunke und Mathilde wieder aber Frau Ahrenſee her, um fie mit Troſt und Liebe und heiliger Aberzeugungs⸗ treue zu decken.
Als es dunkel wurde, ſchwankten große Lorbeerbaͤume und dicht verhuͤllte Palmen, dieſelben, die Profeſſor Henneberg zur Taufe geſchickt worden waren, von polternden Leuten getragen, die Treppen des alten Hauſes herauf, und die Majunkeſchen Kinder ſtanden unten an der Tuͤr und ſchauten und ſuchten von den Baͤumen im Voruͤberſtreifen Zweige zu ſtibitzen; und bei Ahrenſees oben begann ein geraͤuſchvoll gedaͤmpftes Treiben; Menſchen liefen fluͤſternd hin und her. Ein duͤſteres, herzbewegtes Heimlichtun breitete ſich wieder einmal im alten Haufe ans.
Und als es ganz dunkel und (till auf der Treppe geworden war und alles Leben ſich ins Sterbezimmer gezogen hatte, da ſchluͤpfte über dieſe Treppe eine aͤngſtliche Geſtalt, in dichten
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Pelz gehuͤllt, hinaus in die dunkle Winternacht, in den dichten Schneefall und ging durch die dunkelſten, engſten Gaͤßchen und dann unten an der Saale entlang, wo der Schnee weiß und unberuͤhrt lag. Da ſchaute dieſe Geſtalt wie eine arme, verſtoßene Seele nach dem hellen Licht, das ſie geſtern behuͤtet hatte, nach dem erleuchteten Zimmer, deſſen Fenſter uͤber die Gaͤrten blickten, in dem jetzt fremde Menſchen ihren Vater unter gruͤne Lorbeerbaͤume betteten.
Auf den wenig betretenen, noch ſchneefriſchen Wegen, die an Hinterhaͤuſern und aͤrmlichen Huͤtten voruͤberfuͤhrten, traf ſie vor einem der letzten Haͤuschen einen kleinen Buben, der im tiefen Schnee vor einem hellen Fenſterchen ſtand und weinte. Auf ſeine Wollmuͤtze mit Ohrenklappen hatte ſich der Schnee wie ein weißes Pelzchen gelegt. Das Buͤbchen weinte ganz herzbrechend und ſchien voͤllig einſam zu ſein, keine Seele außer ihm auf der laͤndlichen Straße, ſo weit man ſehen konnte.
Kriſtine blieb vor dem Buͤbchen ſtehen und fragte: „Wes⸗ halb weinſt du denn?“ — Und es tat ihr wunderlich wohl, ihre eigene Stimme zu hoͤren, ganz ſo, wie fruͤher — ſo ruhig, ganz ſo, als waͤre nichts geſchehen, als ſollte nichts geſchehen. Und das Buͤbchen ſchaute ſie groß und erſtaunt an, ſchnappte nach Luft, ganz wie Bimm Bimm es tat, wenn er beſonders heftig geheult und geſchrieen hatte.
„Daͤrf nich ham,“ ſchluchzte es und die Stimme blieb ihm aus, „hab mei Vater das Bier verſchuͤtt.“ Und wieder weinte das Buͤbchen nach Herzenskraͤften. „Daͤrf nich ham.“
„Du darfſt nicht heim,“ wiederholte Kriſtine und haͤtte ſich neben dem Buͤbchen hinknien und ihren Kopf an des Buͤbchens Kopf legen moͤgen, um mit ihm zuſammen zu weinen.
Und ſchon wogte es in ihrer Bruſt und ſchnuͤrte ihr den Hals zu, als wollten Traͤnenſtroͤme aus ihrer ſtarren Ver⸗ zweiflung hervorbrechen — aber ſie ließ es nicht zu, ſie be⸗
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zwang ſich; hätte fie ihren Tränen freien Lauf gelaſſen, fo haͤtten ſie ihr die ganze Welt und alles, was ſie jetzt zu tun hatte, verſchleiert und verdunkelt.
„Geh,“ ſagte Kriſtine zu dem Buͤbchen und gab ihm ein kleines Geldſtuͤck, das ſie pruͤfend aus ihrem Portemonnaie genommen hatte, „hol's dafuͤr deinem Vater neu. — Und wie heißt du denn?“ frug Kriſtine.
„Peregrin“, ſagte das Buͤbchen.
„Peregrin?“ wiederholte Kriſtine und ſetzte ihren ſchweren Weg fort und hoͤrte, wie das Buͤbchen ganz munter durch den Schnee ſtampfte. „Peregrin,“ ſagte ſie leiſe wie traͤumend vor ſich hin, „Peregrin.“ Der Name klang ihr ſo ruͤhrend ſchmerzlich, er draͤngte ſich ihr ins Herz und ſtimmte wie eine wehmuͤtige Melodie dies arme Herz noch banger und weicher. Als ſie aber auf den Bahnhof kam, fuhr ihr ein Schreck in die Glieder; ſie wagte nicht, in das Licht zu treten, daran hatte ſie nicht gedacht. — Sie wollte ein Billett loͤſen — wohin? Nur fort — fort — und ſo ſtand ſie in einer dunkeln Ecke und uͤberlegte und ſann in ihrer Herzensangſt — und wie ſchwer wurde es ihr, zu denken! Wie hatte der Weg ſie ermattet und aller Jammer, der fie getroffen. — Wann mochte denn ein Zug kommen?
. Und wie krank, wie todesmatt fühlte fie ſich! Beſchwerden, die ſie bisher nicht zu fuͤhlen, nicht zu beachten gewagt hatte, traten nun, nachdem alles verloren, in ihr Recht, quaͤlten und aͤngſtigten ſie und brachten ihr erſchreckend in das Bewußt⸗ ſein, was ihr bevorſtand.
Und da trat in dieſer eifigen Ecke, in die der dichte Schnee⸗ wirbel hineinwehte, in die der Wind den loſen Schnee ihr uͤber die Fuͤße fegte, das Bild ihrer Schweſter. Sie ſah ſie vor ſich, ehe das Kind geboren war. Mit welcher Sorge wurde jeder Schritt, jeder Wunſch, jede Bewegung von ihr beob⸗ achtet. Wie ſtand alles ihr zu Dienſten! Ach — ein einzig hartes Wort ware allen als Verbrechen erſchienen! — Und
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ihr — und ihr! Sie fühlte den ſchmachvollen Schlag wieder auf ihrer Wange brennen — ſank wieder in die entſetzliche Stunde zuruͤck, die eiſern ſchwer ihr uͤbers Herz gegangen.
Die Nacht war lang, ſie wollte warten — warten — warten, bis ihr ein Gedanke kaͤme, dem ſie folgen konnte. Und ſo weinte ſie leiſe vor ſich hin, weinte, bis ſie muͤder und immer muͤder wurde.
So verſtrich eine geraume Zeit, ohne daß ſich Leben auf dem Bahnhof geregt haͤtte; ein Gepaͤcktraͤger war langſam und ſchwerfaͤllig in ihrer Naͤhe voruͤbergeſchlurft, langweilige Stimmen drangen durch das Schneegeſtoͤber bis zu ihr, und ein Bauersmann kam mit einem Waͤgelchen angefahren, Kriſtine hoͤrte, wie das Pferd ſich den Schnee hin und wieder von den Ohren ſchuͤttelte und wie die Glocken beim Schuͤtteln hell langen. Der Bauer war in den Bahnhof hineinge⸗ treten.
Es mochte wieder ein gut Teil Zeit vergangen ſein, da kamen eilige Schritte, die elaſtiſchen Schritte eines vornehmen, intelligenten Menſchen; ſie kamen naͤher und naͤher; der Schnee ſiel jetzt weniger dicht und der gefallene Schnee leuchtete fahl. — Jetzt erkannte ſie eine ſchlanke Maͤnnergeſtalt, die dem Bahnhof haſtig zuſchritt — und dieſe Geſtalt naͤherte ſich ihr mehr und mehr. Sie fühlte, fie wußte, wer es war!
Ihr Schwager war es.
Das Herz ſtand ihr vor Todesangſt ſtill, feſt druckte fie ſich in ihre Ecke hinein, preßte ſich an die eiſige Mauer. Da blieb er ſtehen, deſſen Bewegungen ſie mit Verzweiflung ver⸗ folgte — wenige Schritte von ihr blieb er ſtehen. — Sie hielt den Atem an. — Sie preßte die Haͤnde auf ihr Herz.
Ihr Schwager fuhr ſich mit dem Taſchentuch uͤber die Stirn; er ſchien gelaufen zu ſein.
Welches Entſetzen fie vor dieſem Manne fühlte! Er ſchien unſchluͤſſig zu ſein, was er tun ſollte, ging ein paar Schritte und blieb wieder ſtehen. Auf dem Bahnhof regte ſich jetzt
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mehr Leben. Ein paar Hotelwagen fuhren an, der Gepaͤck⸗ träger ſchlurfte ſchneller, ein paar Leute kamen gegangen; der Bauer ſah nach ſeinem Pferd. Einige Gasflammen wurden heller gedreht. Profeſſor Henneberg ſchritt jetzt ziel⸗ bewußt der Treppe zu, die in das Bahnhofsgebaͤude führte. — Jetzt wurde das erſte Signal gelaͤutet — der Gepaͤckwagen ſetzte ſich in Bewegung und polterte auf den Perron hinaus.
Kriſtine wußte nun, daß ihr Schwager ſie hier zu finden glaubte. Man hatte ſie vermißt; der Gedanke an ihre arme Mutter ſchmerzte ſie koͤrperlich, grub ſich ihr ſcharf ins Herz, und ihr arme Mutter hatte wohl auch ſchon den Brief geleſen, den fie ihr geſchrieben. Ihre arme, arme Mama! — Man hoͤrte den Zug heranbrauſen, immer naͤher und naͤher kam es — und mit einemmal wie unvermittelt maͤchtig und rollend. Jetzt gellte der Pfiff — ein eiliges Treiben — Keiner konnte nur nach den Geraͤuſchen, den Rufen, dem Laufen und Poltern den Gang der Dinge verfolgen. — Aber jetzt ging der Zug ſchon wieder — — und nun mußte ſie erwarten, daß ihr Schwager an ihr voruͤberkommen wuͤrde.
Sie wagte nicht zu fliehen. Sie ſtand totenſtill, ſie ſah nichts, ſie empfand ſeine Naͤhe, er ging ganz dicht an ihr voruͤber, er ging zur Stadt zuruͤck. Die leiſen Schritte ver⸗ hallten — fie oͤffnete die Augen; fie atmete wieder. — —
Nun aber wußte fie, daß fie ſich nimmermehr zu dem Billett⸗ ſchalter wagen wuͤrde — aber was ſollte ſie tun, wohin ſich wenden?
Der Gedanke, daß ihr Schwager ſie entdecken und uͤber ſie verfuͤgen wuͤrde, erſtarrte ihr Herz. Und wollte ſie ſich jetzt aufmachen und gehen, fo weit fie die Füße trugen, wie weit wuͤrde ſie kommen in dem hohen Schnee, ſo unſaͤglich matt, wie ſie ſich fuͤhlte? — Da kam der Bauer aus dem Bahnhofsgebaͤude und lud ein Faͤßchen auf ſeinen Wagen. Die Gasflammen wurden wieder klein geſchraubt, der Ge⸗ padtrager und die Bahnbedienſteten fielen wieder in ihren
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ſchlurfenden Schritt zuruͤck, eine Art, ſich vorwärts zu be; wegen, ſo zwecklos und gelangweilt, wie ſie einzig auf den oͤden Bahnhoͤfen kleiner Staͤdte im Gebrauch iſt.
Der Gepaͤcktraͤger ſchlurfte an den Wagen, unterhielt ſich mit dem Bauer, half ihm das Faͤßchen auf den Korbwagen binden und klopfte dem Pferd auf die Naſe. — „Was is en in Rode lus?“
„Niſcht, das ich wuͤßte.“
Und ohne ſich zu beſinnen, wie im Traume, trat Kriſtine zu dem Bauer an den Wagen und ſagte:
„Wollen Sie mich mitnehmen? Ich will auch nach Rode.“
Kriſtine ſagte das alles ſtandhaft und ruhig. Sie hatte nach allem Jammer, der über fie hereingebrochen war, den feſten Entſchluß jetzt vor Augen, zu leben — fuͤr ihr und ſein Kind zu leben; und wollte ſie das, ſo mußte ſie feſt und ruhig ſein.
„Wir waͤrſch recht, wenn Se merſch zahlen. Zwei Mark koſt's“, ſagte der Bauer.
„Ja“, antwortete Kriſtine.
„Haben Se Gepaͤck?“ frug er.
„Nur das“, und Kriſtine hob ihre Reiſetaſche in die Hoͤhe.
Der Mann nahm ſie ihr ab, legte ſie in den Wagen, ruͤckte auf dem Sitz die Decke zurecht, ſchob das Buͤndel Stroh beſſer vor, daß es ſeinem Fahrgaſt die Fuͤße waͤrmen konnte, half Kriſtinen in den Wagen, nahm vom Pferdchen die wollene Decke, ſchuͤttelte fie, (Hwang ſich in den Wagen und breitete die Decke uͤber ſich und ſeine Nachbarin. Das Pferdchen zog an. Die Schellen erklangen, und unter dichtem Schneefall ging es in die Nacht hinaus.
Viertes Bu ad
Erſtes Kapitel
ach einem milden Vorfruͤhling, der ſchon alle Knoſpen
und Keime beruͤhrt hatte, daß ſie feucht in jenem leben⸗ digen roͤtlichen Braun ſchimmerten, war ein harter Nachwinter hereingebrochen. Der Maͤrzenwind, der ſchon ſo lind ge⸗ weſen, daß er in kleinen Blumenhaͤuptchen geſpielt, daß er den zarten, weichen Veilchenduft von den Hecken hergeweht hatte, war umgeſchlagen, und die Haͤrte und Schaͤrfe, die auch verſteckt in ſeinem waͤrmſten Hauche liegt, hatte die Ober⸗ hand gewonnen und Regen und Schneewolfen vor ſich her; getrieben.
Auf die ungeduldigen Keime, die die Knoſpen ſprengen wollten, war Schnee gefallen und ihr Eifer wurde abgekühlt; die Veilchen, die ſich unter der kalten Decke zuſammenduckten, hatten ihren Duft verloren. Die Stare pfiffen klaͤglich auf hoͤchſten Baumgipfeln ihr Abendlied im Schnee — und dem erſehnten Fruͤhling war ein kurzer Einhalt getan.
Auf einen Waldweg, der unter jungen Buchen hinfuͤhrte, war in glitzernden Kriſtallen der hartkruſtige Schnee gefallen, der ſich wie ein Eisuͤberzug um die Zweige gelegt hatte. Die Sonne hatte ihn erweicht und zum Schmelzen gebracht. Dann war wieder mit Sonnenuntergang der eiſige Märss wind gekommen, und ſo war er wieder erhaͤrtet. Nun um die Mittagsſtunde ſprang er von den Zweigen ab und rieſelte auf das gefrorene, duͤrre Laub, das leicht mit Schnee ge⸗ miſcht war, und auf den ſchmalen Weg.
Seit Stunden mochte niemand dieſen Weg beſchritten
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haben, keine Fußſpur war in das zarte Eisgeflim mer ein, gedruͤckt. Es war ein rechter Maͤrzentag, ſcharf und friſch, für einen ſorgloſen Menſchen ganz angenehm; aber für Tauſende und aber Tauſende, die das Leben bedruͤckt und ge⸗ ſchaͤdigt hat, ſchwerer ertraͤglich als eine ehrliche Winterkaͤlte. Die ſchraͤgfallenden, ſcharfen, blendenden Sonnenſtrahlen, der beißende Wind, die grelle Beleuchtung, alles ſo erregend und durchdringend.
Der Weg führt aber Hügel und durch Täler, Ausläufer des Thüringer Waldes, durch eine freundliche lichte Gegend.
Jungholz, ſchlanke Buchenſtaͤmme, an die ſich hin und wieder Fichtenunterholz ſchmiegt. Leichtes Auf und Nieder der Wege und Pfade, druͤben auf dem Huͤgel dichter Fichten⸗ wald. Auf dem Wege unter den jungen Buchen hin geht das menſchliche Weſen, das dem unberuͤhrten Pfad die erſten Fußſpuren aufdruͤckt, ein junges Weib in einen warmen Pelz gehuͤllt, eine Reiſetaſche und ein kleines, feft zuſammen⸗ geſchnuͤrtes Buͤndel in der Hand. Sie geht langſam. Ihre Geſtalt und ihr Gang verraten, wie muͤhſelig ihr das lange Wandern faͤllt, jetzt, ſo vereinſamt im eiſigen Maͤrzwind, bergauf und ab. Wohin mag ſie wollen?
Wohin? Das iſt die Frage für ungezaͤhlte Ungluͤckliche. Wohin? Da wuͤrden ſie uns mit ihren truͤben, gleichguͤltigen Augen anfehen, wie aus einem ſchweren Traum aufgeweckt. Wohin? Ja wohin? Wohin? Wohin denn? Wir wiffen’s nicht, wir werden getrieben. — Wohin? Vom Gluͤcke, vom Wohlergehen ab, immer weiter ab von Freunden und ſolchen Herzen, die uns verſtehen, die es gut mit uns meinten, treibt es uns — in die Vereinſamung, die fuͤr die Elenden und Ver⸗ laſſenen immer bereit iſt. Gott weiß wohin! Fragt das duͤrre Laub, das der wilde Herbſtſturm vor ſich hertreibt, wohin es will. Es gibt euch genau dieſelbe Antwort. Es wird getrieben und laͤßt ſich treiben.
Vom letzten Zufluchtsort hat ſie ein frecher Blick ver⸗
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trieben, eine freche Frage, die Todesangſt, entdeckt zu werden, ihrem Schwager uͤberliefert zu werden, dieſe Angſt, die ihr Tag und Nacht nicht Ruhe laͤßt, die fie immer wieder ans treibt, aufjagt.
Sie will den Ihren nicht in die Haͤnde fallen!
Fort — fort — fort — immer wieder fort! —
So war ſie jetzt wieder auf und davon, wie im Fieberwahn. Sie wollte nach Blankenhain, einem kleinen Neſt, von dem ſie nicht mehr als den Namen wußte; nur nicht bleiben, wo ſie war! — nur das nicht!
Sie hatte ſich erſt einen Wagen nehmen wollen — aber das koſtete zu viel, das war ſo beſchwerlich einzurichten.
Und niemand ſollte wiſſen, wohin ſie gegangen, keine Menſchenſeele.
Und es ſollte nicht weit ſein. Sie wollte langſam hin⸗ gehen — immer wie im Fieber — immer in Angſt wie ein verfolgtes Wild.
Sie iſt jetzt in hohen Fichtenwald getreten.
Da rauſchen die Baumwipfel, da iſt das Licht nicht ſo grell, da iſt tiefe Einſamkeit wie in einer leeren, kalten Kirche.
Das Gruͤn der alten Tannen nach all dem hellen Licht!
Da ſinkt das arme Geſchoͤpf in Verzweiflung hin, als waͤre hier ihr Ziel.
Sie kann nicht mehr weiter! Ein Gefühl, das fie erſtarren laͤßt, das ihr das Herz ſtillſtehen laͤßt, iſt uͤber ſie gekommen. Sie liegt unter einem Baum, den Kopf auf dem Arm.
In ihren Zügen Verzweiflung und Angſt.
Herr Gott — waͤre ſie nicht gegangen!
Da war es — das Bange — Angſtvolle — das Schreck⸗ liche.
„Mamachen! Mamachen!“ ſchreit ſie auf, als waͤre ihr ein Todesſtoß gegeben.
Aber die verzweifelte, einſame Stimme verklingt, die alten Tannen rauſchen vor ſich hin, wie in tiefen Gedanken. Die
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Erde iſt kalt und hart, die Luft ſcharf und durchdringend. — Sie iſt allein und hilflos, in der ſchweren Stunde alles Bets ſtands bar.
Und „Ker!“ und „Ker!“ jammert die ungluͤckliche Kreatur.
Das Rauſchen im Walde wird dumpfer, verhaucht, ſchwillt wieder an. Ein Vogel pfeift in der kalten Luft ſein Lied: duͤ — dk — di. —
Da unter ihm auf dem grünen Moss traͤgt ein junges Weib ein gewaltig Stuͤck des Leidens dieſer Welt, das große Leiden des Weibes, und wird wie von einem Meer von Qualen bins und hergeworfen, von Qualen zerriſſen und von Herzensjammer gepackt. Stunden vergehen, langſam, langſam, langſam und ſeelenerdruͤckend, wie Ewigkeiten.
Die Qual ſteigt und ſteigt, wird unerhoͤrt. Das geheimnis⸗ volle Ereignis des Lebens ſchreitet erbarmungslos uͤber das arme Geſchoͤpf, als wollte es ſie zermalmen und vernichten. Der gemartete Koͤrper zuckt und ringt. Sie hoͤrt ihre eigene Stimme und grauſt ſich vor dieſer Stimme — dieſer jaͤmmer⸗ lichen, gemarterten Stimme.
Die Abendſonne ſcheint jetzt roſig auf die Fichten ſtaͤmme, die Schatten werden laͤnger.
Waͤhrend ſie mit Schmerz und Angſt kaͤmpft, zieht durch ihre Seele eine Flut von Bildern — ihr ganzes Leben — ruhige, heitere Bilder aus ihrer Heimat, Erlebniſſe mit ihren Eltern, alles ſo behaglich, ſo reich, ſo liebevoll. — Wie dieſe Bilder weh tun! Wie vergiftet ſie ſind! Und dann die ſchreck⸗ lichen Stimmen und Blicke, die ſie ſtrafen, die ſie in die fremde Welt hinausgejagt haben, die ſie noch immer jagen.
Sie ſieht im Geiſt die wohlgepflegte Hand ihres Schwagers, die glaͤnzende Manſchette und fuͤhlt den Schlag auf ihrer Wange, dieſen Schlag, den ſie bis ans Lebensende fuͤhlen wird.
Da ſchreit ſie wild auf.
Es iſt kein Traum.
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Sie hat ja alles mit erlebt! All dieſe Sorge — dtefe Um⸗ ſicht — dieſes Bangen — dieſes Helfen — das Haͤtſcheln und Troͤſten.
Sie faßt die Moͤglichkeit der Gegenwart nicht mehr.
Die Gedanken verwirren ſich ihr. Sie leidet gräßlich.
„Wie ein Tier! — Wie ein Tier!“ ſchreit ſie wieder.
Ihr Geſicht iſt verzerrt.
— Und die Abendſonnenſchatten werden immer laͤnger — das Rauſchen der Tannenwipfel wie ſchlaftrunken. —
Das leiſe Piepen der Voͤgel.
Alles neigt ſich der Nacht zu.
Die geheimnisvolle Abendſtille ſinkt auf den Wald nieder und bringt jenes Schweigen, jenen urweltlichen Frieden, der im dichten Tannenwald zur Daͤmmerſtunde wie ein Traum aus der uralten Erde jungen Tagen aufſteigt. Und die Tannen rauſchen die gewaltige Melodie dazu.
n der Waldes daͤmmerung liegt ein zermartetes, zerriſſenes, aS blutendes Tier mit irrem, wildem Blick — und was es tut, wie es ſich hilft, tut es in dumpfer Raſerei.
ein Kindchen! — — — Mein Kindchen — — — Mein armes, armes Kindchen!“
Das iſt eine Stimme, eine ſo unſaͤglich ruͤhrende Stimme, wie aus einer andern Welt; ſo treu, ſo uͤbermenſchlich gut, ſo hinſterbend.
Das heißeſte erſte Liebes wort tft kalt dagegen.
Und das zerriſſene, verlaſſene Geſchoͤpf druͤckt etwas an ihre Bruſt, warm angeſchmiegt, unter ihrem Pelz ganz eingehuͤllt — und die armen, zitternden, ſchwachen Haͤnde halten es, ſo bang, als ſollte es ihr genommen werden.
Sie denkt nicht an die Nacht, die hereinbrechen wird — an nichts — an nichts auf der Welt — nicht was ſie tun
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foll — nicht was fie tun kann, nicht was ihrer in der kalten, dunkeln, einſamen Nacht wartet — nicht an den Tod — an nichts. — Eine unſaͤgliche Schwaͤche iſt uͤber ſie gekommen, eine Todes mattigkeit — nichts weiß und ſieht fie mehr — wie ein weißer Dunſt iſt es uͤber fie gefallen, nur das winzige Weſen an ihrer Bruſt empfindet ſie — waͤrmt ſie — jede, auch die leiſeſte Bewegung von ihm durchſtroͤmt ſie, wie etwas Ungeahntes, Unwahrſcheinliches, — und ſie ſinkt tiefer, tiefer in den weißen Nebel, der über fie gefallen it — — — und iſt ſo matt, ſo unausſprechlich matt. Es liegt ſo ſchwer auf ihren Augen. Die Augen fallen ihr zu. Aber ſie will nicht einſchlafen, ſie will wachen.
Da liegt ſie in der Nacht, der ſchrecklichen, heiligen Nacht. Da hoͤrt ſie eben Kers Stimme. — Sie ſieht ihn noch nicht — aber ſie hoͤrt die Stimme! — Sie iſt froh, die Stimme zu hören, und jetzt fühle fie das leiſe Sichregen an ihrer Bruſt — da denkt fie — träumt fie. — — Sie weiß, was fie im Arm halt — weiß es nicht — fie halt es auch noch ein wenig feſter, es ſoll ganz warm an der Bruſt liegen. — Sie hoͤrt einen ganz feinen, feinen Atem unter ihrem weichen Pelz. Aber die leuchtende Nacht liegt doch auf ihren Augen — und das ferne Meeresrauſchen hört fie auch. Über ſich? Liegt fie denn auf dem Meeresgrund? Sind die Wellen ſo weiß und leuchtend, die Aber fie hingehen? — Und wie fie fie einfchläfern! — ſo wie nichts auf der Welt — und wie ſie ihr ſchwer auf die Augen druͤcken. — Und jetzt hoͤrt ſie wieder Kers Stimme — und ſie denkt, daß ſie ihm alles — alles — alles erzaͤhlen will — alles — alles — alles. — — —
Sie Hört feine Schritte — nun wird fie thn ſehen — bald. — Sie moͤchte aufſtehen. — Sie will zu ihm gehen. — Sie kann aber nicht. — Ihre Hand haͤlt den Pelz auf der Bruſt zu⸗ ſammen, damit das Kleine nicht von der kalten Luft ge⸗ troffen werden kann. — Es bewegt ſich jetzt ganz leiſe. — Sie fuͤhlt ſo ein winziges Haͤndchen oder ein Fuͤßchen ganz deut⸗
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lich. — Das durchſchauert fie, und wieder wogt es uͤber fie und legt ſich ihr zentnerſchwer auf das Herz. Sie hoͤrt Schritte, ihr ſind es Kers Schritte. — Da war es ihr, als wenn ſie ſelbſt gerufen haͤtte — ſo wie ein Schmerzensſchrei war es geweſen. — Sie wollte nach Ker rufen; aber es ging nicht. — Sie rief nicht. — Sie konnte den Namen nicht rufen, die Zunge war ihr ſo ſchwer.
Aber die Schritte — die Schritte — immer die Schritte, und jetzt raſchelt es um ſie herum.
Da haͤlt ſie ihr Kindchen enger an ſich — und kaͤmpft, ſie will die ſchwere, wogende Decke von den Augen haben — und ſie ſtoͤhnt dabei leiſe — das hoͤrt ſie, als ſtoͤhnte eine andere — und endlich — endlich bringt fie die verwirrten Augen auf. — Wie ſchwer das war! Da ſieht ſie tiefe Daͤmmerung um ſich her. Den erſten Augenblick ſcheint es ihr ganz dunkel zu ſein, aber nach und nach erkennt ſie alles um ſich her. Da ſteht eine Geſtalt vor ihr, ein altes Weib mit einem Reiſigbuͤndel auf dem Ruͤcken, die Arme eingeſtemmt. Wie kam denn die her? Und das alte Weib ſchaut ſo auf ſie hin, ſo wie auf etwas, was ſie gefunden und was ſie betrachtet, ſo wie auf ein Wild etwa. Da faͤhrt es Kriſtine angſtvoll durch den Kopf, daß das Weib wohl wieder gehen koͤnne.
Kine hatte die Augen jetzt weit offen — aber ſie war ſo ſinnlos, daß ſie ſich nicht faſſen konnte. Sie wollte etwas ſagen; aber ſie konnte nicht.
Da ſchlug ſie ein ganz klein wenig den Pelz auseinander, und aus der kleinen Luͤcke im Pelz da zappelten winzige Fingerchen hervor.
Da ſchuͤttelte das Weib muͤrriſch den Kopf und brummte etwas und ſtand und ſchaute immer noch, ganz ſo, als haͤtte ſie ein Wild gefunden, ſo betrachtend, als waͤre, was ſie ge⸗ funden, nicht ihresgleichen — und Kriſtine fielen die Augen wieder zu.
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Das alte Weib ſprach zu fich ſelbſt: „Die muͤſſen wir nun ſchon mitnehmen — jo — jo — jo — das muͤſſen wir — das muͤſſen wir mitnehmen. Jo — und ſchlafen — das war mer jetzt das Rechte.“ Damit ruͤttelte ſie Kriſtine ein wenig. — „Ja ſchlafen! Jo — jo — jo!“
Jetzt ſetzte ſie das Reiſigbuͤndel ab.
„Gehen Se her —“ murmelte das Weib und griff nach dem Buͤndelchen, das neben Kriſtinen aufgeknuͤpft lag.
„Windelchen! Windeln o je!“ Da kicherte das alte Weib ganz eigen, ganz ſonderbar, als haͤtte ſie bei einem jungen Rehkalb Windeln gefunden — und mit ungeſchickten Fingern hielt ſie Kriſtine allerlei aus dem Buͤndel hin.
„Nun geht's (hon — nun geht's (hon, das wickeln wir ums Kind — dann geht's ſchon, dann geht's ſchon.“ —
Kriſtine tat, wie die Frau ſagte, mit uͤbermenſchlicher Anſtrengung; ganz ſchwindelnd, im Traum tat ſie's, aber ohne daß das Kleine aus dem warmen Pelz herausgeſchaut haͤtte. Dann wollte die Alte Kriſtinen das Kind abnehmen da.
Da kam einer. Ein Holzhauer war's, der heimging. Kriſtine hoͤrte die Alte mit ihm murmeln — dann fuͤhlte ſie ſich emporgehoben und getragen. —
„Iſt noch nicht wieder bei Verſtand“, erlaͤuterte ſich die Alte ſelbſt. „Aber daß alles fo abgelaufen iſt, wie's abgelaufen iſt — jo — jo, wenn eins verzweifelt is — jo — jo — jo — war ſcho efters do.
Nur immer Achtchen geben — tut ſich ſchon — gleich ſin mer da, nur immer langſam — langſam — langſam — ſachtchen — nur immer ſachtchen.
So, da haͤtten wir wieder ein Wickelkind mehr auf Erden“ — murmelte die Alte — „mir is recht, wenn's ihm auch recht is. — Nur immer zu. — Unſereins wuͤrde ſich beſinnen, noch einmal zu kommen. — Nicht um ein paar hundert Mark taͤt's unſereins.
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Is mer erſcht unterm Rafer, da weiß mer, was mer hat — jo — jo.“
Die Alte nickte vor ſich hin und murmelte:
„Sachtchen — ſachtchen — nur immer ſachtchen“, und murmelte weiter.
„Und gar ſo unter die vornehmen Leite neingeraten,“ meinte der Holzhacker, „wenn's einen nich wollen — uh je! — uh je! Ja, wenn ſ'es wegblaſen fennten! — dann ſchon — dann ſchon!
Was wird denn Rotplaͤtz aber ſagen?“
Die Alte blieb ſtehen. — „Jetzt is er (hon daheim, der wird gucke — ei du mein Gott — wird der gucke! Gelle ja?
Mein Bett traͤgt er mir gleich in die Kammer. — In der Kuͤche, das is nichts, die Huͤhner — das is nichts.“ —
So ſummte und brummte die Alte ihre Gedanken laut weiter, wußte es ſelbſt nicht, und Kriſtine hoͤrte und ſah nichts.
„Langſam — ganz langſam. — Sachtchen, nur ſachtchen“, brummte die Alte — „immer ſachtchen, ſachtchen!
Tee den mach' ich ihr, ſolang der Rotplaͤtz das Bett aufſtellt — Erdbeerblatt⸗Tee — das waͤr' ſch. — Die kann lache — Erdbeerblatt⸗Tee — der wird's ſchmecke.
Die Kleie in der Kammer, die tut kei Menſchen was, die ſoll der Rotplaͤtz mir ja liege laſſe, — der Tauſendſakermen⸗ ter — das Fenſter ſoll er aber verſtopfen, und feuern — einfenern tu ich — das macht das Manusvolk ewig nich recht — das bringt man dem Mannsvolk nich bei — Rotplaͤtzen ſchon gar nich. Zahlen tut fie mir ſchon — mein’ ſchon.“ — Die Alte ſah pruͤfend auf Kriſtine.
„Fuͤrs Kleine da nehmen wir den alten Waſchkorb, und Heu find“ t ſich auch. —
Sie wird mich ſchon zahlen — ſie wird's ſchon.
Zudecken kann fie ſich gleich mit ihrem Pelz.
Na, da waren wir ja, — — richtig, Rotplaͤtz hat ſchon
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Licht — das (hon — dann is er auch daheim, — na, der muß mir gleich daran, der wird den Kinern jetzt das Abend⸗ brot kochen.“
In der tiefen Daͤmmerung, keine fuͤnfzig Schritt von dem Fleck, auf dem die Alte das Maͤdchen gefunden, ſah man ein einſtoͤckiges, einſames Haus mit hohem Dach und hohen Fenſtern, auf das ſie zugingen, ein ganz einſames Haus, es mochte ein alter Landſitz ſein; aber ſelbſt in der Daͤmmerung machte es einen verlaſſenen, verfallenen Eindruck; ganz am Waldrand ſtand es, und ein breiter Weg, mit uralten Kirſch⸗ baͤumen bepflanzt, führte auf das Haus zu, und im Erd⸗ geſchoß war ein erleuchtetes Fenſter zu ſehen; die Haͤlfte der Scheiben war aber mit Brettern vernagelt. Der Holzhacker legte ſeine Laſt in der Kuͤche auf die Bank am Ofen, um Gottes Lohn.
Und wie die Alte vor ſich hingemurmelt hatte, ſo geſchah alles. Rotplaͤtz wunderte ſich — Rotplaͤtz trug das Bett aus der Kuͤche in die Kammer, in der die Kleie lag.
Rotplaͤtz war ein langer, knochiger Menſch in einer kurzen Jacke und lehmfarbigen Hoſen. Er hatte ein freundliches Geſicht und ſchob den Kopf vor wie eine Schildkroͤte und machte keine Bewegung, ohne daß zwei kleine Buben hinter ihm drein waren.
Kriſtine lag mit dem Kindchen in der kleinen lauen Kuͤche, auf der Bank am Ofen, ohne ſich zu regen, ganz ſtumpf; und um ſie her wirtſchafteten die Alte und Rotplaͤtz.
In der Nebenſtube arbeiteten fie an einem eiſernen Oſchen, man hoͤrte ſie puſten und blaſen und murmeln und hoͤrte das Feuer praſſeln, und Waſſer ſetzten ſie auf.
Und nicht lange dauerte es, da lag Kriſtine in dem Bett der Alten in einer Stube, die nach Kleie roch; der kleine Ofen gluͤhte; Rotplaͤtz hatte auch ein Nachtlicht, das in einem zer⸗ brochenen Kaffeekaͤnnchen ſtill brannte, hingeſetzt; „aus der Fabrik“ hatte er geſagt und auf das Kaͤnnchen gewieſen.
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Kriftine hatte auch Erdbeerblatt⸗Tee bekommen — und jetzt lag ſie ganz ruhig. Die Waͤnde des Zimmers, das ein⸗ mal beſſere Tage vor langer Zeit geſehen hatte, waren ſonder⸗ bar bemalt. An einer Wand ein ſehr zerkratzter und ver⸗ ſchabter, feuerſpeiender Berg, der mit ſeinen Funken und Flammen und einer fuͤrchterlichen Dampfwolke die ganze Hoͤhe und Breite der Wand einnahm, die er ſeit langer Zeit wohl ſchmuͤcken mochte; und die anderen Waͤnde waren ge⸗ ziert mit lebensgroßen Jaͤgersleuten, die teils die Hände in Muffen hielten, teils nicht, und denen im Lauf der Zeit uͤbel mitgeſpielt worden war. Sie hatten Naͤgel in den Naſen, den Augen, Nagelloͤcher in der Brut, es fehlten ihnen Arme und Beine, manchen fehlte der Leib, manchen der Kopf — aber im großen und ganzen waren ſie doch alle noch da und nahmen ſich merkwuͤrdig aus.
Die Alte broͤmmelte in der Kuͤche vor ſich hin, flapperte und wirtſchaftete. Sie hatten auch das Kindchen in einem alten Backtrog gebadet. Jetzt ſchaute die Alte zur Car herein und ſah nach Kriſtinen, und wie ſie die ſo ſtill fand, da ſchloß fie leiſe die Tar. Kriſtine ſah noch eine Weile vor ſich hin — und neben ihr aus dem Waſchkorb, aus dem Heu, da drang ſo ein feines, feines, fruͤhlinghaftes, wunderzartes, kleines Stimmchen, und dieſe Toͤnchen draͤngten ſich ihr ans Herz und durchſchauerten ihr Seele und Körper. Die ganze Welt — alles — alles verſank, nichts hielt dieſen kaum vernehmbaren winzigen Lauten ſtand. — Alles Leid nicht, alle Todesqual nicht, keine Erinnerung, und bald ſchlief auch Kriſtine neben dem Kindchen tief und ruhig.
ur Stunde, als Kriſtine und das Kind gebettet waren, das eiſerne Ofchen fauchte, die Wipfel der Tannen vor dem alten, verlaffenen Landhauſe naͤchtlich rauſchten, das Nachtlicht in der zerbrochenen Kaffeekanne flackerte, und das Kleine fo ruhig und fein in feinem Heubett fiebte, und
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Kriſtine in tiefen Schlaf geſunken war, der Duft des Erd⸗ beerblaͤtter⸗Tees noch zart die kleine ſchwarze Kuͤche durchzog und im Zimmer ſich mit dem Kleiegeruch verband, lebten ſie in Jena im ungewiſſen uͤber Kriſtinens Schickſal.
Mathilde Swenſen und Frau Profeſſor Majunke waren Frau Ahrenſee unerbittlich zur Seite in jedem Augenblick.
Die arme, aus dem Gluͤck vertriebene, roſige Frau ſtand ratlos zwiſchen ihnen und ihrem Schwiegerſohn und ihrer Tochter Olga und wußte nicht ein und nicht aus. Sie war wie ein Vogel, den der Sturmwind aus dem Neſt geſchleudert hatte. Wohin er ſie geſchleudert, das war ihr ſo fremd, ſo unbegreiflich. Sie hatte nur ihr Neſt gekannt, von der ganzen weiten Welt nichts als ihr Neſt — und alle, die darin eins und ausflogen, hatte fie fo ſehr geliebt und war ſo gluͤck⸗ lich mit ihnen geweſen. Und nun alles fort, — lauter fremde Leute! — Olga — da war auch ſo etwas Fremdes dabei, und was ſie zuerſt im Gluͤcke bewundert, Olgas Sicherheit in allen Dingen, die Fehlerloſigkeit im Hausſtande, die Ele⸗ ganz, die Vollkommenheit in allen Dingen, bei all dem wurde ihr jetzt ſo bitter weh, es legte ſich ihr alles ſo fremd wie ein eiſiger Reif ums Herz. Ihr Heim, ihr guter Mann, ihr armes Kind, von dem ſie nicht wußte, wohin es ſich ge⸗ wendet — das war ihre Welt, in der ſie ſcheu in Erinnerung und in Angſt und Bangen lebte.
Die ruhige, gluͤckliche Frau Ahrenſee, die ihr Lebtag keinen Kummer kannte, die ihrem Haus weſen friedlich und frei und ſtolz vorgeſtanden hatte, die nichts Schoͤneres, nichts Beſſeres wußte als ihre Familie, die hatte ſo etwas Veraͤngſtigtes bekommen, ihre hohe, weiche Geſtalt hielt ſich nachlaͤſſig vor⸗ gebeugt, ihr immer huͤbſch friſiertes blondes, welliges Haar war nur fo zur Not gleichgültig ein wenig zuſammengeſteckt. Sie erſchrak bei jedem Tuͤrgehen, bei jedem Geraͤuſch, er⸗ roͤtete wie ſchuldbewußt, wenn ihr Schwiegerſohn ſie an⸗ redete, gruͤbelte vor ſich hin, ohne zu wagen, mit irgendeiner
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Seele offen zu reden und ſich auszuſprechen, und führte in allem Behagen ein jaͤmmerliches Leben ſeit dem Tode ihres Mannes und ſeit dem Tode — Kriſtinens. Sie wagte ſelbſt nicht anders von ihr zu ſprechen, wenn ſie mit ihrem Schwieger⸗ ſohn und Profeſſor Majunkes und Mathilde zuſammen war, als von einer Toten — ſie wagte es nicht anders; und mit fremden Leuten da mußte ſie ganz gleichguͤltig von ihr ſprechen, von einer Reiſe, von einer Verwandten, ſo etwas, ſie wußte ſelbſt nicht recht was. Es mußte ſo ſein. In ihrem armen Kopf ſah es verwirrt aus, und das Herz wollte ihr vor Jammer oft brechen.
Wie ein furchtbares Urteil, wie ein Todesurteil ſah ſie es uͤber Kriſtinen liegen, und kein Menſch konnte dies Urteil aͤndern; es lag nun einmal unerbittlich auf ihr. Sie brauchte nur die Blicke, unter deren Bann ſie lebte, ſich zu vergegen⸗ waͤrtigen, — da war kein Erbarmen, da war kein Abweichen von dem, was ſie wollten, da war alles ehern und unbeug⸗ ſam. Ja, und all dieſe Blicke, die das Todesurteil in ſich trugen, konnten laͤcheln, ganz unſchuldig und hoͤflich laͤcheln, mit fremden Menſchen laͤcheln, konnten ſo harmlos blicken. Kriſtine war aus dem Kreiſe der Lebenden geſtrichen, war ausgewiſcht, ſie blickten ſchon uͤber ſie hinweg. — Annuſchka war nach Finnland zuruͤckgeſchickt. Man hatte von ihr be⸗ fuͤrchtet, daß ſie in ihrer wilden Aufregung, in ihrer wuͤtenden Sehnſucht nach Kriſtine alles verraten koͤnnte.
Sie hatte nachts vor Frau Ahrenſees Bett gelegen, und Frau Ahrenſee hatte ſie heiß ſchluchzen hoͤren, ſo in die Kiſſen hinein, ſo verſteckt, Nacht fuͤr Nacht. Sie weinte auch, wie man nur uͤber eine Tote weinen kann.
„Zu Kind muͤſſen Frau gehen; wo ſein Kind?“ hatte ſie Frau Ahrenſee in jeder Nacht zugefluͤſtert. „Bald muͤſſen Frau gehen zu unſer armes Kind; mich mitgehen!“
Annuſchka hatte Frau Ahrenſee tief erregt durch ihr naͤcht⸗ liches Schluchzen und durch jedes Wort, was fie da ſprach.
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Annuſchka hatte an ihr gezerrt, wie an einer Pflanze, die ſie aus dem Boden reißen wollte. Ja, Annuſchka begriff nicht, wie die Menſchen ganz wie Pflanzen feſtgewachſen ſind. Sie ſah Frau Ahrenſee voͤllig frei umhergehen. Sie brauchte ja nur zu laufen, dann waͤre ſie da, wo ſie ſein ſollte.
„Warum Frau nicht gehen? Warum Frau nicht gehen?“ hatte ſie wie zu einer Verruͤckten Nacht fuͤr Nacht gejammert, und hatte ihr die Haͤnde gekuͤßt, und immer wieder gekuͤßt, und hatte den tollen Kopf geſchuͤttelt und wuͤtend geſchluchzt, ſo faſſungslos, ſo unſinnig, daß man ſie nicht laͤnger be⸗ halten konnte. Sie haͤtte das ganze Haus rebelliſch gemacht.
Und der Abſchied von Annuſchka, wie war der Frau Ahrenſee bitter ſchwer geworden. Sie erſchrak faſt vor ſich ſelbſt, wie heftig ſie an der unſinnigen Annuſchka hing, an einem fo weit unter ihr ſtehenden Weſen — ; aber es war, wie es war: Annuſchka ſtand ihrer Seele jetzt naͤher als alle miteinander — und war ihr nun auch genommen. Und als Annuſchka ſo ſtumpf und ſtarr mit ihrer Reiſebegleitung, die ſich fuͤr ſie gefunden hatte, fortgeſchafft wurde, da ſchnuͤrte es Frau Ahrenſee die Kehle zu. Nur Mathilde jetzt nicht ſehen, dachte ſie damals, Mathilde, die Annuſchka nie leiden konnte, und die es fuͤr notwendig gehalten hatte, Annuſchka nach Hauſe zu ſchicken.
Frau Ahrenſee wurde von ihren Angehoͤrigen mit außer⸗ ordentlicher, gewiſſermaßen weihevoller Achtung behandelt, ſo etwa, als haͤtten ſie unter ſich eine Maͤrtyrerin und Heilige, aber dieſe Ehrfurcht vor ihrem großen Schmerz, dieſe Achtung und dieſe Weihe beengten ihr das Herz wie dicke Weihrauch⸗ nebel. Es legte ſich alles wie ſchwere Feſſeln auf ſie. Und dieſe Ordnung, dieſe vollendete Lebensführung, die Eleganz, die Vortrefflichkeit, Vornehmheit ihrer Umgebung, die mit jedem Opfer erhalten werden mußte — wie ſie das alles fuͤrchtete!
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nd mit der Zeit, da fiderte ein Gerücht durch, wo man Kriſtine zu ſuchen habe, erſt ganz ungewiß, unglaublich, doch nahm es mehr und mehr Geſtalt an. Und als eine Schickung Gottes konnte man es anſehen, daß dies Geruͤcht gerade in die Villa ſickerte und nirgends anders hin.
Durch die ausgezeichnete Amme kam es auf, die aus der Gegend war, in der ſich Kriſtinens jammervollſte Zeit ab⸗ geſpielt hatte.
Frau Ahrenſee erfuhr von dieſem Geruͤchte, ſeinem Auf⸗ tauchen, ſeinem Deutlicherwerden nichts, alles ſpielte ſich zwiſchen dem Profeſſor, Frau Profeſſor Majunke und Ma⸗ thilden ab, und es wurde beſchloſſen, daß dieſe zu Kriſtinen reiſen ſollten.
Zweites Kapitel
ein lieber Ker, ich bin ganz allein, fie haben mich alle
vergeſſen, auch mein armes Mamachen — alle, alle —! Ich kann nicht ſchlafen, weil ſie mich ſo ganz und gar vergeſſen haben, es iſt, als fehlte die Luft zum Atmen. Mich will es oft erſticken, daß die Menſchen boͤſe auf mich ſind — daß ſie ſo ſchlecht von mir denken!“ So ſchrieb Kriſtine in einer Fruͤh⸗ lingsnacht in das Unbeſtimmte hinein. Sie ſaß in ihrer Stube im Reisberghaus; das flackernde Nachtlicht im Kaffeekaͤnnchen warf ſeinen Schein auf die Wand mit dem verſchabten, feuerſpeienden Berg und auf die dicke Rauchwolke, die dieſem Berg entquoll, und Kriſtine ſchrieb in ein blaues Schulheft. — Das Kindchen ſchlief in feinem Heukorb. Sie hatte es ganz neben ſich geruͤckt, neben ihre ſchmale Kuͤchenbank, auf der ſie ſaß, und neben den alten kleinen Tiſch, dem Rotplaͤtz wieder zu zwei neuen Beinen aus Fichtenſtaͤmmchen ver⸗ holfen hatte, damit das „Kretur“ doch ſtehen könne. —
„So lebt es ſich auf dem Grund des Meeres —“ ſchrieb Kriſtine wieder, nachdem ſie lange, lange mit verweinten Augen vor ſich hingeblickt hatte, ganz in Gedanken verloren — „kein Menſch kann den Weg dahinunter finden — und wer da unten iſt, den haben ſie verloren gegeben, der iſt tot, der iſt nicht mehr; und wenn er dennoch ware, da fah’ er die Welt durch das Waſſer wie einen Schein — und das Waſſer geht uͤber ihn hin, niemand kuͤmmert ſich mehr um ihn, niemand ahnt etwas von ihm. — Wie iſt es ihm angſt und bange! — Wie hebt er die Hande — wie ſehnt er ſich — und niemand weiß etwas davon. —
Kriſtine weinte heftig, und durch ihre Traͤnen ſah ſie alles wie einen Schein, und ſie dachte, daß es ſo waͤre, als ob ſie durch tiefes Waſſer hinauf ins Helle ſchaue.
Da ruͤhrte ſich das Kleine in ſeinem Korb — und ein Stimmchen weckte Kriſtine aus ihrer Verſunkenheit, ein
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Stimmchen noch halb im Schlaf, fo leiſe quaͤkend, fo weich wie feuchte Fruͤhlingstoͤne. Da neigte ſie ſich uͤber den Korb und ſah in blinzende Augen; ſie ſah zwei winzige feuchte Faͤuſtchen, die in einen kleinen, ſchimmernden Mund ſich zwaͤngen wollten, daruͤber fingen die Toͤnchen an und gurgelten wie aus einer Waſſerpfeife und uͤbergurgelten ſich und quaͤkten wieder, ſo zart, ſo hilflos, ſo jaͤmmerlich. Kriſtine nahm den warmen kleinen Kerl in die Hoͤhe; da ſchnaufte er ein wenig, ſchnellte mit den Beinchen und dem winzigen Koͤrper, und Kriſtine hielt ihn an ſich gedruͤckt wie einen Vogel und ſchmiegte ihre Lippen an das weiche Koͤpfchen, in dem das Leben ſchnell und warm pulſierte und das einen ſo knoſpenhaft zarten Duft ausſtroͤmte. Dann wurde das Kerlchen ruhig, ganz unverſchaͤmt zufrieden und lag an der jungen Bruſt, und wurde ſo warm gehalten, ſo muͤtter⸗ lich — und ſchnaufte — und manchmal kam ein komiſch tiefer Atemzug aus der zarten Kreatur — da hatte es ſich ein wenig verſchluckt und wieder ausgeruht, und dann war es wieder ſo eifrig.
Kriſtine hielt es wie ein Wunder, das ihr immer noch nicht ganz glaublich ſchien, mit behutſamer, leidenſchaftlicher Liebe. Und draußen war dunkelfeuchte Mainacht. Es zogen Wolken uͤber den Himmel, und die Tannen rauſchten. In der rauchigen kleinen Kuͤche lag die alte Frau in tiefem Schlaf, und uͤber dem Zimmer von Kriſtinen und dem Kindchen lag Rotplaͤtz mit ſeinen drei Kindern. Sie ſchliefen auch alle vier feſt und ruhig. Es war ſo ſtill, ſo naͤchtlich, daß Kriſtine ihr Herz haͤtte ſchlagen hoͤren koͤnnen, und ſie ſaß in dieſer Stille der Mainacht, die zu dem halbgeoͤffneten Fenſter eindrang, ſo ſorglich ruhig wie ein Madonnenbild in einer Kapelle.
Wenn ſolch ein muͤtterliches Bild, vor dem die Leute knien und es anbeten, ſeine Gedanken und Gefuͤhle aͤußern koͤnnte, fo würden es die ſchmerzlich leidenſchaftlich füßen fein, die die Seele des jungen Weibes in der einſamen Kammer bewegten.
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30. Mat. in guter, lieber Vater iff noch immer mit mir — alle anderen ſchweigen. —
Du und mein Vater! — euch hoͤre ich, ſonſt niemand. —
Und wie du in der letzten Nacht, ehe du gingſt, mit mir ſprachſt, mein Ker, das wird mir nun lebendiger. — Was war mir damals das Elend der Menſchen! Ein Wort! — ein andaͤchtiges Wort. — Und daß du dein Leben opfern wollteſt zu helfen, und daß du mit den Elenden, den Ver⸗ laſſenen, den Zertretenen ſtehen wollteſt, fuͤr ſie kaͤmpfen wollteſt, das ſchien mir ſehr ſchoͤn und gut von dir. Aber, mein Ker — wenn du zuruͤckkehrſt, da findeſt du nun eine, die es aus tiefſtem Herzen empfunden hat viele Tage, viele Naͤchte lang, verlaſſen im Elend, beſchimpft und verachtet, und die jetzt anfaͤngt zu ahnen, daß es . Erden undenk⸗ bares Leid gibt. —
1. Juni. ein lieber Ker, ich bin ſo einſam, und wenn ich mir vorſtelle, daß alle Menſchen, die mich kannten, jetzt
wie von einem ſchlechten Geſchoͤpf von mir reden, und daß ich uͤberall ausgeſtoßen bin, wenn ich an die entfeglichen Blicke denke, und daran, wie Er mich geſchlagen hat, — ganz ſinnlos vor Abſcheu und Entſetzen! Und wie mein Mamachen auf dem Boden lag und lachte und ſchrie und weinte — da faßt mich ſo eine wilde Angſt — und ich komme mir vor wie ein ſtummes Tier, das zu den Menſchen ſprechen moͤchte.
ißt du, Ker, wie unſer Kindchen heißt? Peregrin, ſo, wie du einmal ſagteſt, daß die Menſchen heißen muͤßten, und wie das Buͤbchen hieß, dem ich im Schneegeſtoͤber be⸗ gegnete und das nicht heim durfte und dem ich ein wenig Gutes tat. Der Name legte ſich mir damals ans Herz, ſo weich und ſchmerzlich — und nun heißt unſer Kindchen ſo.
26 Böhlau III. 401
Wos Rotplag für ein ſonderbarer Menſch iſt! — Die meiſten Leute warden es komiſch finden, über Rotplaͤtz uͤberhaupt nachzudenken. Wenn er ſo gebuͤckt geht, als ſchoͤbe er einen Schubkarren, ſo ſieht er ganz ſonderbar aus, und vollends wenn er abends von der Fabrik nach Hauſe kommt. Er hat fuͤnfviertel Stunden laufen muͤſſen und macht Schritte, wie ich ſie noch bei keinem Menſchen geſehen habe, und ſeine ſteifen, harten Stiefel, die droͤhnen ganz dumpf, ſo ungefaͤhr wie ſteife, lederne Glocken. Man hoͤrt ihn von weitem ſchon. Wenn er ſeine großen Stiefel an hat, da koͤnnte er mit dem beſten Willen nicht leiſe gehen; und wenn er ſieht, daß unſer Kindchen in ſeinem Korbe vor dem Hauſe ſchlaͤft, da faͤngt er an zu ſchleichen — das ſieht aus, als wenn er im Sumpf bis an die Knie ginge und nur mit der groͤßten An⸗ ſtrengung ſeine Beine mit den großen Stiefeln herausziehen koͤnnte; und wenn dann ſeine zwei kleinen Buben ihm ent⸗ gegenlaufen und die Buben ihren Poſten hinter den großen Stiefeln einnehmen — ſie ſind da immer, ſowie der Vater ſich ſehen läßt — da fängt Rotplaͤtz zu ziſchen an: Bft, Bft, bſt, ſo laut er nur kann, damit ſeine Buben unſer Kindchen nicht aufwecken; und wenn es ſich dann regt, dann ſchaut er ſich nach den Jungen hinter ſeinen Stiefeln um und brummt: „Daß die Rangen nicht Ruh geben koͤnnen!“ Es gelingt ihm aber nicht oft, ein boͤſes Geſicht zu machen. — Es iſt ſo lang ſein Geſicht, mit lauter kleinen Faͤltchen um die Augen und den Mund, und iſt immer ſo zum Erdboden gewendet mit einer Freundlichkeit, wie der liebe Abendhimmel. — Er iſt ein guter Menſch. Kaum iſt er zu Haus, ſo faͤngt er an zu kochen. Sein Minchen, ſein kleines Maͤdchen, hat das Feuer ſchon gemacht und die Kartoffeln aufgeſetzt, und dann kochen ſie ſich eine Suppe. Manchmal hat er auch ein Stuͤck Fleiſch in ſeiner Taſche aus Blankenhain mitgebracht — da iſt die Fabrik. Dann ſind ſie alle ganz aufgeregt, und die alte Frau Birnſtingel laͤuft auch hinuͤber und ſchaut in den Topf.
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Frau Birnſtingel wollte unſer Kindchen durchaus ans melden, wie ſie ſagte, und es ſollte raſch getauft werden; aber Rotplaͤtz iſt immer nicht gegangen, ſo oft die Alte auch gezankt und den Rotplaͤtz eine Schlafhaube genannt hat. — Als ſie es ihn das erſtemal geheißen, war er zu mir heran⸗ geſchlichen, — ich ſaß gerade vor dem Haus, und Peregrin ſchlief bei mir — da hat er gefragt: „Soll's angemeld't waͤrn?“ und dabei auf Peregrin geblinzelt. Da wurde mir fo angſt, und ich fragte, ob es denn durchaus fein müßte. — „Muß ſchonn,“ ſagte er, „aber muß vieles was. Nach uns hier draußen fragen ſie nicht viel — werden ſchon mal ange⸗ laufen kommen, die Gockel.“
Und nun iſt er immer noch nicht gegangen. Wenn Rot⸗ plaͤtz unſer Kindchen herumtraͤgt, ſo redet er es immer an mit „Pfannenſtiel“. — Ich habe ihn jetzt einmal gefragt, wes⸗ halb er es ſo nennt, — da ſagte er: „Weil wir's noch nicht getauft haben, ſo lang heißen die Kinder hierorts Pfannen⸗
ſtiel.“
6. Juni. e gut, mein lieber Ker, daß ich den ganzen Tag zu ar⸗ beiten habe, — ſonſt wuͤßte ich nicht, was ich alles er⸗ tragen ſollte; aber Peregrin braucht mich den ganzen Tag
von fruͤh bis in die Nacht, und er braucht ſo viele Dinge. Ich waſche auch fuͤr ihn — dann gibt es allerlei zu naͤhen fuͤr ihn und fuͤr mich, dann wird etwas gekocht, dann will er getragen ſein. Er gibt gar keine Ruh, und unter aller Arbeit da iſt mir's oft, als hinge eine ſchwere, ſchwarze Wolke uͤber mir aus lauter Sehnſucht und Erwartung — und Verzweiflung. — Aber ſolange ich arbeite, bald das, bald jenes, und immer jeden Augenblick nach Peregrin ſehen muß, ſo lange ſchwebt die ſchwarze Wolke nur uͤber mir, und erſt nachts, da ſinkt fie auf mich herab und halle mich ganz ein und iſt ſo dicht und ſchwarz und traurig, daß ich nicht weiß, wo ich den Mut zum Weiterleben finden ſoll. — Wir
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brauchen hier fehr, (chr wenig zum Leben, — Mein Gelb reicht (chon noch eine Weile. Meinen Pelz foll Rotplaͤtz vers kaufen und die kleinen huͤbſchen Schmuckſachen auch nach und nach — und dann wirſt du ja kommen, mein Ker — und mein Mamachen wird auch kommen. — Ich fuͤhl's an meinem Herzen, wie es immer wartet und wartet, und wie es immer unruhig iſt, auch wenn ich nicht gerade an alles denke und mitten in der Arbeit bin, es liegt immer wie auf der Lauer. Wie oft ſchau“ ich eilig einmal zum Fenſter hinaus, man kann den Weg ſo weit hinabſehen.
Und ich ſtehe da auch oft mit Peregrin am Weg, der Weg iſt gepflaſtert, aber wie eine Wieſe mit Gran uͤberwachſen, und da iſt mir's, als wenn dieſer Weg mich mit der Welt verbaͤnde, und als ob auf ihm alle, nach denen ich mich ſehne, kommen muͤßten.
Rotplaͤtz ging einmal voruͤber, als er mich mit Peregrin ſo ſtehen und ſehnſuͤchtig ausſchauen ſah.
„Wird ſchon kommen — wird ſchon kommen“, ſagte er und taͤtſchelte mit feinen großen Fingern ganz zart und fein Peregrins Geſichtchen.
Und als ich nachts lag und Peregrinchen ſchlafen hoͤrte, da war es das, was Rotplaͤtz geſagt hatte: „Wird ſchon kommen — wird ſchon kommen“, was mich ſo troͤſtend ein⸗ ſchlaͤferte. Er hatte ganz das Rechte geſagt. „Wird ſchon kommen.“ Du wirſt ſchon kommen, mein lieber Ker. Das war das erſte, lebendige Wort.
10. Juni. eregrinchen gedeiht recht gut. Er wird alle Morgen in Frau Birnſtingels altem Backtrog gebadet — wie er da zappelt und ſprudelt! Da halte ich ihn am Koͤpfchen, und der kleine Koͤrper wird vom Waſſer getragen, und ſeine winzigen Beine zappeln ſo wild und er ſieht ſo roſig aus, und geſtern hat er zum erſtenmal, wie er im Waſſer ſteckte, ſein Maͤulchen aufgeſperrt, und ſeine Zunge lag wie aufgerollt darin, ganz
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hoch und da hat er mit fo hellen, füßen Tönen gekraͤht, fo ſilbernhell — und dann geſprudelt, ganz wie ein vers gnuͤgtes Waſſerpfeifchen, ſo daß ich gar nicht gewagt habe, ihm ſein Maͤulchen auszuwaſchen, weil er immer dabei ſchreit und vor Zorn krebsrot wird — und ich habe ihm ganz an⸗ daͤchtig zugehoͤrt, dem kleinen Menſchen — und wie ich ihn angezogen hab', da ſind wir miteinander hinausgegangen in den wunderſchoͤnen Morgen, da hat er neben mir gelegen im Wald in der Morgenſonne und hat geſtrampelt und mit feinen klaren Augen in den Himmel geſchaut, und ich hab geſeſſen und genaͤht und immer halb auf ihn und halb auf die Arbeit geſehen. — Und wie gerade uͤber uns eine Amſel pfiff, da hat ſein ganzes Koͤrperchen vor Vergnuͤgen geſchnickt. Er hat's gehoͤrt.
Mein lieber, guter Ker — das ſieht alles ſo aus, als muͤßte es ſo ſein. Unſer Kind fuͤhlt ſich ſo wohl auf der Welt — es tut gerade, als waͤre alles ganz und gar in Ordnung, doch aus welcher Verwirrung entſtand es. Welches Weh und Unrecht luden wir auf uns — und auf Peregrin, auf alle, die ich liebte, und welches Weh trifft uns! Nein — nein — Du duͤrfteſt nicht da ſein, Du geliebtes Geſchoͤpf. — Und wenn ich daran denke, wie ſie Peregrins arme Mutter in der allergroͤßten Qual wie ein armes Tier verlaſſen haben — und wie fie ſich voll Angſt und Schrecken und Verzweiflung herumgetrieben hat — ſo elend, mein Ker — ſo uͤber alles Maß elend —! und wie fie alles uͤberſtanden hat und nun neben ihrem Kindchen ſitzt — da wieder denke ich, wenn die Menſchen alles wuͤßten und mir ins Herz ſehen koͤnnten, — kein Winkel ſollte ihnen verborgen bleiben, ſie muͤßten mich wieder liebhaben, muͤßten gut von mir und von Pere⸗ grin denken. Aber es iſt Schande, namenloſe Schande — fuͤr alle — daß Peregrin und ich am Leben blieben.
k Mein lieber, guter Ker, komm du nur! Du findeſt jetzt ſtatt einem Herzen zwei, die dich erwarten! Dies Wunder,
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Ker! Ich kann es immer noch nicht fallen! So ein ſchwer errungenes Wunder! Was wirſt du denn nur ſagen, Ker? — Wie oft denke ich mir's aus, wenn du kommen und Peregrin finden wirſt.
enige Tage, nachdem Kriſtine dieſe Zeilen in ihr Tage⸗ buch geſchrieben hatte, war ein Sonntag herange⸗ kommen, ein heller, ſommerlicher Sonntag.
Frau Birnſtingel ſaß auf ihrer Tuͤrſchwelle und ſtrickte an einem alten Strumpf; die ſchwarzen Hühner gackerten um das Haus, ſcharrten und hackten, wie es ihnen von Gottes und Rechts wegen zukommt, ein Raͤuplein auf, zerpfluͤckten ganz unſchuldig einen dicken Maikaͤfer, ſchlangen Wuͤrmchen aller Art und ſtoͤrten mit ihrem moͤrderiſchen Behagen keineswegs den Frieden der jungen, friſchen Junipracht, denn wo ſich irgend etwas noch ſo harmlos regte, regte es ſich, um irgend einen lieben Naͤchſten zu verſpeiſen oder vor einem lieben Naͤchſten in Todesangſt zu fliehen. Das iſt die Ordnung ſo, und deshalb war es doch ein ſchoͤner, friedlicher Juniſonntag.
Kriſtine war mit Peregrin hinter das Haus gegangen,
wo Peregrins Windeln zum Trocknen ansgebreitet auf dem Raſen lagen. Da hoͤrte ſie ſchnelle Schritte, das konnte niemand anders als Rotplaͤtz ſein, deshalb achtete ſie auf dieſe Schritte auch nicht. Nur, als ihr auffiel, daß ſie ſo beſonders und ſo haſtig und ſo lebhaft laͤuteten, ſchlurften und droͤhnten, wendete ſie ſich halb um, und richtig, da bog Rotplaͤtz eben um die Hausecke und fackelte mit den langen Armen und wies auf Kriftinen —: „Sie kommen — fie kommen!“ rief er ges daͤmpft, mit vor den Mund gehaltenen Haͤnden — und jetzt war er ſchon bei ihr und ſah in ein ganz totenbleiches Geſicht, und ſah ein paar Augen auf ſich gerichtet, wie er noch nie einen Menſchen hatte blicken ſehen.
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„Gleich werden fie da ſein; den Wagen haben fie unten am Kirſchweg ſtehen laſſen und kommen zu Fuß herauf — nur ſachtchen — ſachtchen!“ Rotplaͤtz war aufgeregt und ſchaute ganz ſonderbar auf Kriſtine und das Kind.
„Meine Mutter?“ ſagte Kriſtine mit einem ruͤhrenden, angſtvollen Ausdruck, fragend und doch ſchon beſtaͤtigend.
„Es ſind ihrer zwei“, meinte Rotplaͤtz.
Und jetzt ging Kriſtine vorwaͤrts und hielt ihr Kindchen mit beiden Armen fest an ſich gedruͤckt, wie unbewußt zur Abwehr.
Jetzt war die Stunde gekommen — die Stunde, der ſie fo bang und ſehnſuͤchtig gewartet hatte. — Kriſtine fühlte nicht, daß ſie ging, ſah und hoͤrte nichts, und nur, daß ſie jetzt wieder bei ihrem Mamachen ſein wuͤrde, das empfand ſie wie im Traum. Und wie ſie um das Haus bog — da ſtand ſie vor Frau Profeſſor Majunke und Mathilde Swenſen.
„Es ſind ihrer zwei“, hatte Rotplaͤtz geſagt, und ſo ſah ſie ſich hoffnungslos nicht weiter nach der um, die ſie ſo ſehr erwartet hatte.
Ihr Herz aber zog ſich wie in einem Krampf zuſammen, und ſie ſtand da, feſt aufgerichtet, ihr Kind im Arm, den Kopf erhoben, und blickte fragend auf die beiden Reiſe⸗ gefaͤhrten, und dieſe ſahen wie verwirrt auf ſie. Sie mochten ein ganz anderes Bild zu ſehen erwartet haben.
Sie ſahen ſich beide an und bemerkten, daß eine ſo erſtaunt war wie die andere.
Mathilde Swenſen war die erſte, die das Wort fand.
„Du ſiehſt uns ſehr erſtaunt, Kriſtine, ſehr erſtaunt.“
Kriſtine aber verzog noch immer keine Miene. Rotplaͤtz und Frau Birnſtingel ſchauten der Sache wie einem Schau⸗ ſpiel zu. Frau Birnſtingel ſaß noch immer auf der Haustuͤr⸗ ſchwelle, die Arme und der alte Strumpf waren ihr auf den Schoß geſunken.
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„Herr, mein Gott, wie iſt das möglich?” rief Frau Pros feſſor Majunke, „man traͤgt doch nicht ſeine Schande am hellen Tag herum!“ Damit zeigte ſie auf Peregrin, der ſeine Armchen hob und luſtig kraͤhte. „So gut wie wir hatte auch wer anders kommen und dich ſehen koͤnnen!“ ergaͤnzte Mathilde.
Kriſtine ſtand aber immer noch ſtumm und hielt Peregrin noch feſter und ſicherer.
„Ihr Schwager,“ begann jetzt Frau Profeſſor Majunke feierlich wie eine Kirchenglocke, „hat die Großmut, als Ober⸗ haupt der Familie, Sie wieder mit Ihrer Mutter vereinen zu wollen.“
In Kriſtinens Augen leuchtete es auf.
„Er ſelbſt will und kann Sie nicht wiederſehen, was wir ihm gewiß hoch anrechnen muͤſſen, da er ein Ehrenmann durch und durch iſt. Sie ſollen“, fuhr Frau Profeſſor Ma⸗ junke feierlich fort, „von hier fo bald als möglich abreiſen an einen Ort, den wir Ihnen beſtimmen, und dort Ihre un⸗ gluͤckliche Mutter erwarten —“
„Mama?“ rief Kriſtine erſchreckt, „was iſt Mama ge⸗ ſchehen? !“ Das war das erſte Wort, das ſie ſprechen konnte, und ſie ſtieß es angſtvoll, wie verzweifelt herans.
Frau Profeſſor Majunke war es gelungen, das Wort „un⸗ gluͤcklich“ ganz beſonders unheimlich zu betonen.
„Deiner Mutter?“ frug Mathilde, als traute fie ihren Ohren nicht, „deiner Mutter? Und da fragſt du noch?“
„Ihre Mutter?“ ſagte Frau Profeſſor Majunke, „wenn Ihnen das ganz neu iſt, werde ich mir erlauben, es Ihnen zu ſagen. Ihre Mutter hat ihr Kind verloren — ſchlimmer, als durch den Tod verloren — und Sie fragen noch, was Ihrer ungladliden Mutter geſchehen tft?”
Frau Profeffor Majunke war mit ihrer Ausdrucksweiſe zufrieden. Kriſtine blickte ganz verwirrt mit weit offenen
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Augen, die Worte tanzten fo unheimlich von Frau Profeffor Majunkes Lippen.
Da war ſie ja wieder, die ſchreckliche Szene, die ſich am Sterbebette ihres Vaters abgeſpielt hatte! Da laͤuteten wieder die wuͤſten Glocken — und wieder trafen giftige Blicke wie Blitze, und es wurden wieder Dinge geſagt, Worte gebraucht, die den Boden unter den Füßen fortriſſen.
Kriſtine legte den Arm immer ſchuͤtzender um ihr Kind, legte die eine Hand ausgeſpreizt auf fein Köpfchen. Niemand ſollte es ſchlagen und treffen koͤnnen.
Und jetzt ſah ſie in Wirklichkeit Frau Profeſſor Majunkes Hand im ſteifen, ſchwarzledernen Handſchuh, und dieſe Hand legte ſie auf Peregrins Koͤrperchen.
In Kriſtinens Seele ſtieg es wie eine Ahnung auf.
„Fort von ihm!“ ſagte Kriſtine feſt.
Frau Profeſſor Majunke aber war vollkommen vorbe⸗ reitet auf einigen Widerſtand, ſie hatte ſich mit Mathilde ſchon daruͤber auf der Fahrt ausgeſprochen.
„Was denken Sie denn?! Sie ſollen uns auf den Knien danken, daß wir gekommen ſind, daß wir fuͤr das Kind ſorgen wollen und retten wollen, was an Ihrem verlorenen Leben noch zu retten iſt.“
„Gib es ihr doch“, ſagte Mathilde mit ſanfter, uͤber⸗ redender Stimme. „Gib ihr das Kind, es iſt fuͤr alles ſo gut geſorgt, Kriſtine.“
Frau Profeſſor Majunke fiel ihrer Freundin in die Rede. Sie war ſehr aufgeregt. „Kind ſagſt du? Das iſt kein Kind, meine Liebe, dieſen heiligen Ausdruck bitte ich nicht zu miß⸗ brauchen.“
Kriſtine ſtand ruhig, ihre Augen ſtrahlten vor Erregung und Schmerz.
„Frau Profeſſor Majunke,“ ſagte ſie ernſt, „ich verſtehe alles. Ich will Ihnen ein einziges Wort ſagen: Es iſt mein
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Kind! Ich werde mich von meinem Kinde nie trennen, nie! Der bleibt bei mir!“ rief ſie erregt. „Mein Vater hat mich auch nicht verlaſſen, und hatte kein boͤſes Wort fuͤr mich, und keinen Zorn, und nur Liebe, und in ſeinem Namen handle ich. Ich weiß, was ich allen fuͤr Weh brachte. — Ich weiß und ſehe alles; — aber der bleibt bei mir.“
„Damit willſt du doch nicht ſagen, daß unſer edler Ver⸗ ſtorbener von deiner Schmach etwas ahnte?“
„Ich habe ihm alles geſagt“, antwortete Kriſtine und neigte ſich uͤber ihr Kind, das unruhig wurde.
„Das iſt nicht moͤglich, du luͤgſt!“ rief Mathilde. „Du luͤgſt ſchamlos — einen Toten im Grab zu beſchimpfen!“
Da hob Kriſtine den Kopf hoch.
„Herr mein Gott, ſolch einen Narren trug die Welt nicht, wenn das wirklich wahr fein ſoll !“ rief Mathilde. „Ich hab“ es immer geſagt, Onkel Ahrenſee hat die Kriſtine mit ſeinen unreifen Gedanken verruͤckt gemacht!“
„Mein Vater!“ Kriſtine war außer ſich und ging mit fliegendem Atem auf Mathilde zu. Sie war bis in die Lippen bleich geworden.
„Ker!“ rief Kriſtine laut, faßt unbewußt. „Ker, verlaß mich nicht!“
„Ker?“ ſagte Frau Profeſſor Majunke ſtutzend.
„Ker,“ ſagte Mathilde — „ja Ker! — Das brauchſt du uns nicht zu ſagen. — Wir wiſſen alles. — Aber Ker, — ich meine, dieſer ſaubere Ker hat recht lange nichts von ſich hoͤren laſſen — dieſer Elende, den wir alle haſſen!“
Statt Ker aber, den Kriſtine in ihrem Jammer angerufen, kam von feinem Poſten Rotplaͤtz angeſchlurft und ſtellte ſich neben Kriſtine.
„Nun und Ihre Mutter und Ihr Schwager und Ihre Schweſter — die moͤgen es tragen, wie ſie wollen,“ rief Frau Profeſſor Majunke aufgebracht, „um die kuͤmmern Sie
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fih kein Haar — ob die in Verachtung und Elend verſinken, das iſt Ihnen gleichguͤltig, wenn nur dies unſinnige, unnoͤtige Geſchoͤpf da gedeiht!“ — Frau Profeſſor Majunke wies auf Peregrin mit einer Gebaͤrde des Abſcheus.
„Mein Schwager und meine Schweſter ſind ihre eigenen Herren“, fagte Kriſtine wieder feſt — „und meine Mutter —“ da rannen ihr die heißen Traͤnen herab, und ſie konnte nicht ſprechen, ſie preßte ihr Geſicht an Peregrins warmes Koͤrper⸗ chen, der die ganze Zeit ſehr geduldig und verſtaͤndig ge⸗ weſen war, nur manchmal hatte er gezappelt vor Vergnuͤgen, gerade, wenn Frau Profeſſor Majunke ſich auf Kriſtine und ihn zu bewegte.
„Du gibſt uns das Kind alſo nicht mit — und willſt deine Mutter nicht auffuchen und mit ihr wie ein anſtaͤndiges Maͤdchen weiter leben, wie es ſich gehoͤrt? Noch weiß kein Menſch außer uns von der ganzen ekelhaften Sache — be⸗ ſinne dich, was du tuft! — Gib uns eine ernſte, ruhige Ant⸗ wort.“
„Nie!“ rief Kriſtine heftig in feſteſter Entſchloſſenheit.
Rotplaͤtz ſetzte jetzt einen Fuß vor den andern und ſchob vorgeneigt, wie er immer ging, auf die beiden Damen zu.
Für jemand, der Rotplaͤtz kannte, hatte das durchaus nichts Schreckenerregendes. Aber Frau Profeſſor Majunke und Mathilde wichen aͤngſtlich zuruck.
„Geh mer — geh mer nu!“ ſagte Rotplaͤtz und ruͤckte immer naͤher. |
Wieder fuchtelte er mit den Armen und machte allerlei geheimnisvolle Zeichen, was die Reiſegefaͤhrtinnen außer⸗ ordentlich beunruhigte. Es fuhr ihnen durch den Kopf, daß er ſeine Spießgeſellen ſo anlockte. Kriſtine kam ihnen auch ſo verwildert vor, wie ſie ſo ſonderbar ruhig daſtand, ſo blaß mit den klaren, blauen Augen, die wie im Fieber glaͤnzten, wie ſie das Kind an ſich hielt mit einer ſo unſinnigen Leiden⸗
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ſchaft — wie ein Tier, das ſein Junges nicht hergeben will, ſo hirnverbrannt, wo doch die einfache menſchliche Vernunft hätte ſprechen muͤſſen! Sie kam ihnen vor, als wäre fie zu allem imſtande, eine ganz Verzweifelte, vor der man ſich in acht nehmen muß. Und die Damen retirierten mehr und mehr.
Rotplaͤtz, als er bemerkte, daß ſeine geheimnisvollen Zeichen nichts fruchteten, rief brummend nach dem Kutſcher, immer auf den Boden ſchauend, wie das ſeine Art war: „Bravo — ſchon brav — das is andere Art bei uns. — Bei uns gemeine Leite — da is nich fo Dings. — Wir machens ſchonn durch mit den Kindern — wir machen's ſchonn durch — ſo oder ſo. Aberſch,“ ſagte Rotplaͤtz, als die Gefährtinnen durch ſein unwiderſtehliches Vorwaͤrtsſchlurfen dem Wagen, der inzwiſchen gewendet hatte, zugetrieben waren, „daß ich s nich vergeß, das richt aus, daß fie dem Madden,” — Rots platz machte eine nicht mißzuverſtehende Geſte, — „Geld ſchicken ſollen — umſonſt tut's Mutter Birnſtingel freilich nich. — Noch hammer ſchonn — noch hammer ſchonn — das ſchonn — das tut's ſchonn noch. — Aber nich vergeſſen — he?“ ſagte er und ſchaute wieder auf die beiden mit ſeinem gutmuͤtigen Lächeln. — „Nich vergeſſen — Ste?
Und wenn das Mädchen ihre Leute daheim hat, da ſagt ihnen von mir aus, daß ihr Maͤdchen im Walde geboren hat — wie ein verlaufenes Schaf — die Birnſtingel hat's gefunden — daß Gott erbarm — Vergeß das och nich. Ihr beide werd, ſcheint's mir, Jungfern fein — na — da muß mer Ihnen manches nachſehen — was fo & Jungfer is. —
Na, adjeh, nichts für ungut.“
Frau Profeſſor Majunke machte auf den Ruͤcken des Kut⸗ ſchers mit dem Sonnenſchirmknauf nicht mißzuverſtehende Zeichen, daß er losfahren ſollte.
Sie war ſo aufgeregt, daß ihr das Sprechen unmoͤglich
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war. Der Wagen fette ſich in Bewegung — die Mader knirſch⸗ ten leiſe auf dem weichen Sandboden.
Kriſtine ſtand immer noch auf demſelben Fleck und ſtarrte ſtumpf auf den Wagen, ſolange er zu ſehen war; dann hob ſich ihre Bruſt, und ein Traͤnenſtrom ſtuͤrzte ihr aus den Augen, und Peregrins Köpfchen wurde ganz naß von Tränen. Und ohne einen Schritt vor⸗ oder ruͤckwaͤrts zu tun, ſank ſie auf der Stelle zuſammen, wo ſie waͤhrend der ganzen Zeit wie eine Bildſaͤule geſtanden hatte, und kauerte ſich hin und weinte und weinte und ſchluchzte — und Peregrin ſpielte mit ſeinen ſpitzen Fingern in ihrem naſſen Geſicht.
Frau Birnſtingel auf der Tuͤrſchwelle hatte ihren alten Strickſtrumpf wieder in Gang gebracht und brummte allerlei vor ſich hin. Rotplaͤtz ſchaͤlte bei offener Tae Kartoffeln, und ſeine beiden kleinen Jungen ſtanden und ſchauten in aller Gemuͤtsruhe Kriſtinen zu, wie ſie weinte.
A dieſem Abend ging noch Notpläg mit einem Brief in der großen Fauſt nach Blankenhain und ſteckte dieſen Brief vorſichtig in die Spalte des Blankenhainer Poſtkaſtens, fuhr mit dem großen, breiten Zeigefinger bedaͤchtig uͤber dieſe Spalte hin, um auch zu ſpuͤren, daß der Brief wirklich und wahrhaftig unten im Kaſten angelangt war, und ſchließlich kehrte er noch einmal um und beſchaute ſich den alten Blech⸗ kaſten von allen Seiten, ob auch alles in Ordnung ſei, und ob er ſeine Sache, wie es ſich gehoͤrte, ausgerichtet haͤtte.
So gut und vorſichtig Rotplaͤtz auch das feinige in dieſer Sache getan hatte, und unter ſo heißen Traͤnen auch dieſer Brief geſchrieben war, ſo iſt er dennoch nie an ſeine Be⸗ ſtimmung gelangt.
Der Brief kam in die Haͤnde von Profeſſor Henneberg, der dachte an alles moͤgliche und bedachte alles moͤgliche, und wenn die Menſchen nicht aus tiefſter Seele unwider⸗ ſtehlich handeln, entſteht Mißgedeutetes, Mißverſtandenes.
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Er gab dieſen Brief nicht an Frau Ahrenſee ab.
Zuerſt lag er monatelang bei ihm im Schreibpult, der Herr Profeſſor wartete den geeigneten Moment ab, um ihn ſeiner Schwiegermutter zu uͤbergeben.
Nach einiger Zeit aber war der geeignete Moment vergangen.
Da ging der Brief in Rauch auf, wurde Aſche wie alles auf Erden; aber hatte das nicht ausgerichtet, was er haͤtte ausrichten ſollen.
„Mein Mamachen“, hatte Kriſtine in der dunkeln Stunde geſchrieben. „Ich leide ſo bitterlich um Dich. Ich ſehe Dich immer vor Augen.
Mein armes, armes Mamachen!
Biſt Du denn viel allein?
Ich kann nicht atmen, wenn Du meinetwegen leideſt. Es druͤckt mir wie ein großer Stein das Herz ein. |
Mamachen! Mamachen! — fie wollten mir heute das Kindchen nehmen.
Ich ſollte wieder zu Dir kommen und wir ſollten beide lügen — ohne Ende lügen!
Damit wäre doch nichts gut geworden? Damit ware die Schuld doch nicht geſuͤhnt.
Wir koͤnnten uns ja dann gar nicht mehr in die Augen ſehen. Sie haben mir geſagt, daß es mir gleichguͤltig ſei, ob du litteſt. Wenn doch die Menſchen einander ins Herz ſehen koͤnnten! Aber das koͤnnen ſie nicht.
Was ſoll man tun?
Ich weiß es nicht.
Wenn das geſchehen iſt, was nicht geſchehen ſollte, iſt das einzige: — ſchweigen — ſchweigen und tun, was man tun muß, denn wie will man uͤber das große Waſſer, das uns von den Menſchen ſcheidet, mit Worten hinuͤberrufen? Wenn nur Du mich hoͤrteſt!
Wer will mich von meinem Kinde reißen? Ich fuͤhle es, da iſt kein Geſetz und kein Wille ſtark genug auf Erden.
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Und wenn ich um Dich leide Tag und Nacht und immer Dein armes Geſicht vor mir ſehe, muß ich doch bei meinem Kinde bleiben.
Es iſt alles ſo herzzerreißend.
Wenn Du wuͤßteſt, was ich durchgemacht habe, welches Graufer !
Für fo eine Schuld, wie fie auf mir liegt, gibt es denn da Vergebung?
Bringt da keine Qual und kein Entſetzen Vergebung? Nimm den ſchweren, großen Stein, der mich totdruͤckt, mir vom Herzen.
Deine arme Kriſtine.
Ich weiß gar nichts von Dir, nicht wo Du biſt und mit wem Du biſt. Niemand hat es mir geſagt. Ich weiß gar nichts.“
Und Kriſtine mußte es hinnehmen, daß draußen in der Welt ſeit jener Reiſe der beiden Freundinnen eine geſpenſtige Perſon unter den Leuten ſich umhertrieb, von der man ſagte, daß es Kriſtine fei. Es war ein fo bejammerns wertes Ge; ſpenſt, ſo geſunken, ſo verwahrloſt, eine Perſon mit einem kleinen Kind, das ſie ſchamlos wie ihre eigene Schande herumtrug, ohne jede Scheu, eine Perſon, die ihre Mutter, ihre Verwandten verhoͤhnte, eine Perſon, der jedes anſtaͤndige Gefuͤhl abhanden gekommen war, eine Perſon, die Geld er⸗ preßte durch Drohung. Und dies Geſpenſt ſtieg wie ein giftiger Hauch aus der Leute Maͤulern auf, ballte ſich zuſammen und wurde immer ekelhafter, immer elender und veraͤchtlicher und giftiger, und ſolch ein Geſpenſt, das Kriſtinens Doppel⸗ gaͤnger hieß, das mußte ſie draußen umherſchleichen laſſen, da konnte ſie nichts tun, konnte ſich nicht davor ſchuͤtzen, denn es war maͤchtiger geworden als ſie ſelbſt.
Und dies Geſpenſt erſtickte das Mitleid, das ſich hie und da hervorgewagt haͤtte, verdarb ihr alles und jedes. Und ihre arme Mutter, der ſich das entſetzliche Geſpenſt der eigenen
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Tochter auch gezeigt hatte, die machte es ſinnlos; dieſes Geſpenſt ſtuͤrzte ſie ſo in Verzweiflung, daß ſie nicht aus noch ein wußte; ſie wurde ſo hilflos und ruͤhrend, daß ſie die Menſchen erbarmte.
Und es war doch in ihr immer dieſelbe Liebe zu dem ent⸗ arteten Kinde, immer dieſelbe weiche Liebe, die ſie im Gluͤck zu ihm hatte. Eine Liebe, die fo unſaͤglich ungluͤcklich macht, denn es war die Liebe, die nur im Gluͤck, im Behagen, in ſanfter Ruhe gedeiht, nicht die Liebe, die im Sturm feſtſteht, im Ungluͤck maͤchtig wird, im Elend goͤttlich iſt, die Menſchen⸗ furcht nicht kennt.
Und ſolch arme Herzen, die ſo und nicht anders lieben, die ſind, wenn das Ungluͤck kommt, wie Sommervoͤgel im Herbſte. Habt ihr einmal eine zuruͤckgebliebene Schwalbe im Novemberſturm ſich herumaͤngſtigen ſehen? Habt ihr bemerkt, wie ſie flattert, wie ſie verzweifelt hin und her ſauſt? So, gerade fo machen es ſolch arme Herzen in der Mens ſchenbruſt.
ls die Sache nun doch einmal unter die Leute gekommen
war, da hielt es Frau Profeſſor Majunke nun auch nicht länger aus, fie mußte zu Jekatirina Alexandrowna, zu Frau Muͤller gehen, um von ihr Rechenſchaft uͤber ihren Bruder zu fordern, denn ſeit Kriſtinens Ausruf bei der Begegnung am Reisberghaus war jeder Zweifel gehoben. Frau Pro⸗ feſſor Majunke mußte jetzt Jekatirina Alexandrowna zur Rede ſetzen, trotzdem ſie wußte, daß dieſe ſchwer krank war und uͤber ihres Bruders Verbleiben ſo wenig etwas erfahren hatte wie ſonſt irgend jemand, und daß ſie damals, als Heinrich Ahrenſee noch lebte, dieſen um Rat gefragt hatte, welche Wege ſie einſchlagen muͤſſe, um uͤber ihren Bruder Nachricht zu erhalten, aber nichts erfahren hatte. Das alles war Nebenſache. Die Hauptſache aber, daß Frau Profeſſor Majunke durchaus ihrem Herzen Luft machen mußte. Und
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fo begab fie ſich auf den Weg zu dem von der Stadt . und einſam gelegenen Haus.
Sie mußte lange, ehe ihr geöffnet wurde, klopfen und an der Tuͤr ruͤtteln, denn das Laͤutewerk war abgeſtellt und gab keinen Ton von ſich, und ſo hatte ſie Muße, zu betrachten, wie ſehr Jekatirina Alexandrowna beſtrebt war, ſich von der Außenwelt abzuſchließen; der kunſtvoll in die lebendige Hecke verflochtene Stacheldraht, Draͤhte aller Art, der nichts weniger als Vertrauen erweckende Hofhund, einladende Tafeln, auf denen in dicken Lettern auf das freundlichſte auf Selbſtſchuͤſſe und Fußangeln aufmerkſam gemacht wurde. Das alles aͤrgerte fie außerordentlich. So eine Naͤrrin, dachte fie,
Frau Profeſſor Mafunke war ſeit Menſchengedenken nicht zur hellen Tageszeit bei Jekatirina Alexandrowna geweſen.
Sie klopfte und ruͤttelte von Zeit zu Zeit energiſch, denn ſie war durchaus nicht willens, unverrichteter Sache wieder abzuziehen. Endlich wurde ihr von der Haushaͤlterin, die Jekatirina Alexandrowna „das Tier“ nannte, geöffnet. Da erfuhr ſie, was ſie ſchon wußte, daß Frau Muͤller ſeit Tagen ſchon ſchwer krank liege, an einem alten Herzuͤbel, und fuͤr niemand zu ſprechen ſei.
Dadurch aber ließ Frau Profeſſor Majunke, die mit ihrem vollſten Eifer gewappnet war, ſich durchaus nicht abſchrecken. „Gehen Sie nur,“ ſagte ſie, „ſagen Sie, ich kaͤme in einer ſehr wichtigen Angelegenheit.“ Die Haushaͤlterin tat nach einem ſtummen Kampfe mit ſich ſelbſt, was Frau Profeſſor Majunke fie geheißen hatte, fie blickte fie ſonderbar an, ſchloß die Tuͤr vor Frau Profeſſor Majunkes Naſe, was dieſe be⸗ greiflicherweiſe empoͤrte, und begab ſich hinauf zu ihrer Herrin.
„Wird Frau Muͤller ſehr angenehm ſein“, ſagte ſie, als fie zuruͤckkehrte. |
Frau Profeſſor Majunke folgte ihr ſtumm und entſchloſſen.
Frau Profeſſor Majunke fand Jekatirina Alexandrowna mit ganz ſonderbar ſtarren Augen in ſchwerer Atemnot
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wachsbleich im Bette liegend, in einem aͤußerſt behaglichen Schlafzimmer. Es war das Schlafzimmer einer vornehmen Frau. Sie hatte es noch nie betreten und war von der un⸗ beabſichtigten Eleganz nicht angenehm beruͤhrt — es mochten ihr allerlei Erinnerungen und Vergleiche aufſteigen.
In dem offenen Kamin brannte, weil es draußen gerade grau und regneriſch war, ein leichtes Holzfeuer.
Geraͤuſchlos nahm das „Tier“ die Reſte eines minimalen Krankenfruͤhſtuͤcks vom Tiſche und trug ſie hinaus.
„Dieſe Perſon“, dachte Frau Profeſſor Majunke, „iſt vor⸗ trefflich bedient und lebt wie eine große Dame.“
Solche Beobachtungen waͤhrten wenige Sekunden. Da war Frau Profeſſor Majunke wieder im vollen ungeteilten Eifer — ganz fie ſelbſt — ging auf Jekatirina Alexandrowna zu, die wirklich erſchreckend gelb in ihren Kiſſen lag und mit der Hand eine angenehm begrüßende Bewegung machte, während fie nach Luft rang. — „Was führt Sie zu mir, Frau Profeſſor Majunke?“ ſagte ſie, „ich bin ſehr krank.“
Frau Profeſſor Majunke hielt eine Entgegnung nicht für nötig, ſondern machte ungeſaͤumt ihrem Herzen Luft.
„Ich komme in ſehr beſonderer Angelegenheit, ich wuͤnſche Ihnen aufrichtig Gluͤck zu einem ſo ausgezeichneten Bruder.“
„Sprechen Sie von meinem Bruder? Was hat man von ihm gehört?” frug Jekatirina Alexandrowna lebhaft und beſorgt. |
„Nun“, fagte Frau Profeſſor Majunke erregt. Es ſchien ihr, als wuͤßte Jekatirina wirklich noch nichts. Das goß Ol ins Feuer. „Sie wiſſen alſo nichts?“ frug ſie mit der Stimme eines Richters, der fein ungluͤckliches Opfer ſchon voͤllig in den Klauen hat.
„Nein“, ſagte die Kranke. Die Bruſt hob ſich ſchwer. Sie ſah unſaͤglich gequaͤlt aus.
„Bitte“, ſagte Jekatirina Alexandrowna und blickte mit ihren großen, klaren Augen durchdringend auf die kleine Frau,
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die vor Erregung, endlich zum Sprechen zu kommen, zitterte.
„Sie wiſſen wohl nicht, weshalb Kriſtine Ahrenſee eigent⸗ lich ohne weiteres verſchwunden iſt, gleich nach dem Tode ihres Vaters?“ frug Frau Profeſſor Majunke, die nicht wußte, bei welchem Zipfel ſie die Sache zuerſt anpacken ſollte. Daß Jekatirina Alexandrowna noch gar nichts wußte, gar nichts, wie es ſchien, das hatte ſie nicht in Erwaͤgung gezogen; daß man ſo etwas uͤberhaupt noch gar nicht wiſſen konnte, be⸗ fremdete ſie aufs aͤußerſte, und ſo kam es, daß ſie nicht mit der vollen Wucht, wie ſie ſich vorgenommen, auf Jekatirina Alexandrowna einſtuͤrzen konnte.
„Alſo weshalb denn? Weshalb denn?“ rief Frau Pro⸗ feſſor Majunke entruͤſtet.
„Ich weiß es ja nicht!“ ſagte die Kranke ungeduldig. „Iſt irgendeine Verbindung zwiſchen meinem Bruder und Kriſtine Ahrenſee?“
Das war das rechte Wort fuͤr Frau Profeſſor Majunke, jetzt war ſie mitten drin. Und nun kam es, nun fand Frau Profeſſor Majunke auch die rechten Worte.
„So ſteht es?“ ſagte die Kranke kaum hoͤrbar, ſehr ernſt, und war noch tiefer erbleicht. Es lagen tiefe Schatten unter ihren Augen und ſie ſtarrte auf Frau Profeſſor Majunke, die ſich mit beiden Haͤnden an den Bettpfoſten hielt.
„Tun Sie, bitte, die Hande weg, das ſchmerzt mich“, rang es ſich Jekatirina Alexandrowna von den Lippen. Jekatirina lag wie eine Tote, geſtreckt und ſtarr vor Qual.
„Iſt das Kind ſchon geboren?“
Frau Profeſſor Majunke ſtarrte der Kranken ins Geſicht. „Das find doch keine Ausdrucke! Alles am rechten Platz. So ſpricht man doch nicht — ſo wie von einer ehr⸗ lichen, ehelichen Frau und von einem ehrlichen, ehelichen Kinde!“
„Wie denn? Was ſagte ich denn? Ich frage: iſt das Kind
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(hon geboren? Wie foll ich denn fragen? Haben Sie da andere Ausdruͤcke?“
„Leider nicht andere.“ |
„So — fo”, ſagte Jekatirina Alexandrowna.
„Ja, es iſt geboren“, ſagte Frau Profeſſor Majunke.
„Das arme junge Geſchoͤpf — ſo dumm — ſo unſchuldig — nicht wahr? Herzzerreißend — ganz herzzerreißend.“ Frau Profeſſor Majunke ſtand wie hypnotiſiert, ſteif, und hoͤrte und wollte antworten und konnte nicht.
„Und zu Hauſe iſt ſie nicht, — ſagten Sie das nicht?“
Jekatirina Alexandrowna ballte die waͤchſernen Hände, um einen Atemzug zu tun.
„Wo iſt ſie denn? Freilich — freilich — die Mutter iſt ja bei ihr! — Wie hat ſie die erſte Tochter gepflegt, wie ein Koͤnigskind es nicht beſſer haben kann — und die arme kleine Verlaſſene — da wird ſie troͤſten muͤſſen ohne Ende. Es wird — es ſoll ſchon gut werden — es wird — es wird ges wiß! Dunkle Schickſalswege, armer Blondkopf“, ſagte Je⸗ katirina Alexandrowna erregt wie zu ſich ſelbſt.
„Und wo iſt es denn geboren, das Kindchen?“
Fran Profeſſor Majunke hatte ſich erholt. Sie fand das Wort wieder und teilte Jekatirina mit, was ſie wußte.
„Über Gottes Strafgericht find wir nicht hinaus, gnaͤdige Frau.“
Frau Profeſſor Majunke warf ſich in die Bruſt.
„Sie haͤtten's vielleicht anders gewuͤnſcht, wie mir ſcheint, meine gnaͤdige Frau. Nein, ſie hatte keine Hilfe, gar keine Hilfe. — Und vordem, da hat ſie ſich umhergetrieben in ihrem Zuſtand ſchamlos, von Wirtshaus zu Wirtshaus, iſt auch davongelaufen ohne zu zahlen — das haben wir unterwegs gehört”, ſagte Frau Profeſſor Majunke fühl — „Gottes Muͤhlen mahlen noch immer recht ſicher, verehrte Frau.“
„So —“, ſagte Jekatirina Alexandrowna. Sie hatte den
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Kopf erhoben und Frau Profeſſor Majunke, während diefe ſprach, keuchend wie eine Erſcheinung angeſtarrt, die ihr vor dem Bette aufgetaucht war.
„Da habt ihr ſie wohl in Angſt gebracht, daß ſie fort⸗ gelaufen iſt?“
„Nun — und die Mutter — die Mutter! Die Mutter iſt doch bei ihr? Und wo iſt Kriſtine denn? — wo iſt ſie denn?“
„Die Mutter iſt nicht bei ihr, und Kriſtine iſt in einer Spelunke bei Berka, im Reisberghaus, wenn Sie's zu wiſſen wuͤnſchen, meine Gnaͤdigſte.“
Jekatirina Alexandrowna blickte immer noch mit großen, ſtarren Augen auf die winzige, zappelige, kleine Frau.
„Und die Mutter, fragen Sie — die Mutter — die Mutter?“ ſagte Frau Majunke hoͤhniſch. „Frau Ahrenſee iſt beſchuͤtzt worden, und man kann ſagen Tag und Nacht, bis dieſe haltloſe Frau endlich zu Verſtand kam. — Glauben Sie mir, meiner Freundin und mir iſt das nicht leichte Amt zugefallen, dieſe Frau auf die Hoͤhe der Moral zu ſtellen.“
„So?“ ſagte Jekatirina Alexandrowna und ſchaute ganz ſonderbar.
„Nun, und da iſt ſie doch nicht etwa allein mit dem Kinde?“
„Allein, — freilich, was denn ſonſt? — Sie ſteckt uͤbrigens bei allerlei Leuten.“
„Und wer iſt denn bei ihr geweſen, woher wiſſen Sie denn alles?“
„Mathilde und ich — und ich kann Ihnen ſagen, — gnaͤdige Frau — daß ſich Gottes Gericht an ihr ſehr ſchnell vollzieht. Wir fanden ſie geſunken in jeder Weiſe — patzig — verkom⸗ men, ein Ritter hatte ſich auch ſchon gefunden. Es war alles, wie bei einer von Gott Gezeichneten.“
„Weiter! — und was wollten Sie denn bei ihr?“
„Wie fragen Sie denn, verehrte Frau? Mich duͤnkt, es iſt nicht gerade am Platz, daß Sie das große Wort fuͤhren. Erlauben Sie mir!“
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„Weiter. — Weiter! — Was wollten Sie von ihr?“ ſchrie Jekatirina auf. „Wollten Ste ihr das Kind abnehmen?“ Wollte Gott, es waͤre nicht geſchehen, das Entſetzliche. Aber da es nun einmal geſchehen.
„Sie ſcheinen es ja zu wiſſen, was wir wollten.“
„Das Kind ſo einer armen, kleinen, verlaſſenen Mutter abnehmen! — aber freilich — freilich! — Hat ſie denn zu leben, iſt denn geſorgt fuͤr ſie?“
„Sie hat ſchon dafuͤr geſorgt, verehrte Frau, ſeien Sie verſichert,“ ſagte Frau Profeſſor Majunke hoͤhnend, „ſie hat vorſorglich ihren ganzen Schmuck mitgehen laſſen.“
„Das Kind wollten Sie ihr alſo wirklich abnehmen? Und dann ſollte wohl Kriſtine wieder Fraͤulein Kriſtine Ahrenſee in aller Unſchuld und Seligkeit weiter ſpielen? Ja?“
„Nun ſehen Sie,“ ſagte Frau Profeſſor Majunke auf ihre alte, ſpaßige Art, die ſo beliebt war, „auch in Ihnen, verehrte Frau, iſt noch einiger geſunder Menſchenverſtand und etwas Gottesfurcht ſozuſagen.“ ö
„Nun und weiter — da iſt ſie wohl gleich auf alles ein⸗ gegangen?“ frug Jekatirina Alexandrowna geſpannt.
Sie war in tiefſter Erſchoͤpfung zuruͤckgeſunken. In ihren Augen aber lag unheimliches Leuchten.
„Sie hat euch das Kind nicht gegeben! Bravo! Bravo!“ rief Jekatirina Alexandrowna, keuchend im Kampf um Luft. „Wißt ihr denn auch, was das heißt? Sie will das Kleine gegen eine ganze Welt verteidigen, ſo grenzenlos verlaſſen wie fie iſt! — — o, fie weiß es nun — ganz gut — was ſie tut — ſie weiß es! Ein Leben voll Verachtung, — ausgeſtoßen, verfemt, — arm, — elend, — verworfen, wenn ſie ihre heilige Pflicht tut und des Unrechts Folgen mutig traͤgt — und zu Gnaden aufgenommen, wenn ſie ſchmachvoll luͤgt, das Heiligſte, was das Leben ihr gab, ver⸗ leugnet — und verlaͤßt.“
„Wenn dich dein Auge aͤrgert, ſo reiß es aus und wirf es
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von dir!“ ſagte Frau Profeffor Mafunke drohend. „Soll denn etwa die Familie mittun?“
„Ja, ja“, ſagte die Kranke ſchwer, und dann weiter ganz ruhig: „Liebe Frau Profeſſor Majunke, bitte haben Sie ein⸗ mal die Guͤte, mir den Stock dort herzugeben, den Stock mit der ſilbernen Kruͤcke — dieſen — ja — danke. Ich merkte ſchon, wer zu allem geholfen hat. Das iſt Ihr Werk, nicht wahr, Frau Profeſſor Majunke?“
„Moral ſagten Sie vorhin, daͤchte ich, Frau Muͤller?“ rief Frau Profeſſor Majunke wie zu einer Harthoͤrigen, als ſie den Stock uͤberreichte.
„Ja, Moral!“ wiederholte Jekatirina Alexandrowna und ſtuͤtzte ſich im Bette mit dem einen Arm auf und hob den Kruͤckenſtock mit der Rechten drohend, daß Frau Profeſſor Majunke wie vor einer Beſeſſenen zuruͤckwich.
„Moral iſt Mitleid — nur Mitleid — nichts weiter, du infames Weib!“ rief Jekatirina Alexandrowna.
Fran Profeffor Majunke ſtand verbluͤfft.
„Ah — verruͤckt ſind Sie! — Verruͤckt alſo!“ — rang es ſich leiſe, aber heftig von den Lippen der kleinen, abgemergel⸗ ten Frau.
Jekatirina aber ſah nicht wie verruͤckt aus, ſondern wie eine Tote, die von Haß getrieben aus dem Grab aufer⸗ ſtanden iſt.
„Bleiben Sie!“ ſchrie die Kranke herriſch, „bleiben Sie!“ Sie hielt ihren Stock, als ware fie bereit, auszuholen.
„So laͤuft die Peſt umher, ſo wie Sie. Verpeſten, alles verpeſten! Das tft ihr Werk — das iſt's, zehntauſendmal verflucht das, was ſolch eine Beſtie Moral nennt!“
Frau Profeſſor Majunke ſah ſich aͤngſtlich nach der Tür um.
„Bleiben Sie!“ ſchrie Jekatirina Alexandrowna wieber. „Nicht wahr, ſtrafen, — richten, — laͤſtern, — verunglimpfen, — Geſchrei machen, — zertreten, — weil etwas nicht iſt, wie
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ihr wollt, — erwuͤrgen, — verwuͤſten, — verſtoßen, — vers laſſen, — das iſt, was Sie Moral nennen, verehrte Frau Profeſſor Majunke, nicht wahr? Sie hat euch das Kind nicht gegeben — euch — ihren wuͤtenden Feinden nicht? Das iſt freilich ſchamlos — freilich!“
Jekatirina Alexandrowna richtete ihre großen, klaren, feſten Augen auf Frau Profeſſor Majunke, und der war es, als hielten dieſe Augen, die aus dem totenbleichen Geſicht leuch⸗ teten, feſter als zwei Faͤuſte. Sie ſtand und konnte nicht, wie ſie wollte — das war das erſtemal in ihrem Leben.
Frau Profeſſor Majunke machte einen Verſuch, ſich ſtolz aufzurichten, und wendete ſich der Tar zu, als wollte fie hoheitsvoll verſchwinden.
„Bleiben Sie, ich bin noch nicht fertig!“ rief Jekatirina Alexandrowna, und Frau Profeſſor Majunke blieb halbwegs ſtehen, ohne ihres Willens Herr zu ſein.
„Dieſer Blondkopf, die Kriſtine, hat ihr Kind Ihnen alſo wirklich nicht gegeben?“ fragte Jekatirina Alexandrowna noch einmal mit eigentuͤmlich weicher Stimme. „Aus Scham⸗ loſigkeit? Nicht wahr, aus Schamloſigkeit?“
„Was weiß ich,“ antwortete Frau Profeſſor Majfunke, „ich daͤchte, einer ehrbaren Frau und Mutter ſtaͤnde es nicht beſonders an, uͤber dergleichen unzuͤchtige Dinge nachzu⸗ denken und ſich damit abzugeben und darauf zu antworten.“
„Ehrbar?“ rief die Kranke jetzt wieder in vollem Zorn, der uͤber jede Krankheit Herr war. „Ehrbar, Frau! Ehrbar? Wollen Sie damit ſagen, daß Sie ehrbarer als der Blond⸗ kopf find? — He! — Wollen Sie das vielleicht ſagen?“
Frau Profeſſor Majunke ſchickte ſich an, zu erwidern und Kraft zu ſammeln.
„Still jetzt! Nicht ein Wort!“ rief Jekatirina Alexän⸗ drowna ihr herriſch zu und ſchwang den ſchwarzen Ebenholz⸗ ſtock. „Ich denke an Ihre Kinder, Frau Profeſſor Majunke, ich denke an Ihre armſeligen Kinder!“ rief ſie außer ſich,
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„an Ihre armſeligen, elenden Kinder! An alle Verwahr⸗ loſung! An allen Unſinn! An allen erbaͤrmlichen Leichtſinn! An die ganze verruͤckte Wirtſchaft bei Ihnen zu Hauſe! Ja, ja, regen Sie ſich nur, wagen Sie es nur, ſpringen Sie mir an den Hals! Ich ſchlage Sie! Gewiß, ich ſchlage Sie! Kom⸗ men Sie nur, ſprechen Sie nur!
Was meinen Sie denn eigentlich? Glauben Sie, Sie duͤrfen in aller Ehrbarkeit Kinder auf die Welt ſetzen, ins Elend hinein, wie es Ihnen behagt? Kinder, die ſo einem erbaͤrmlichen, kranken, armſeligen Leben entgegenſehen, denen die Kindheit in Unordnung, Ungepflegtheit, Verkommenheit hingeht, Kinder, die Sie nicht imſtande ſind, zu erziehen und zu ernähren, denen Sie nicht einmal fo viel Geſundheit und Lebenskraft mitgeben konnten, um das Daſein und die Armut tapfer zu ertragen? Solche elende, verlaſſene Kreaturen! So ſchlecht bei Kraft! So nervoͤs und ſchwach geraten, ſo gelb und zappelig — und ſo en masse unb ſo erbaͤrmlich erzogen, ſo doppelt ſchlechte Fabrikware!
Gehen Sie mir, Sie ehrbare Frau, Sie ehrbare Mutter! Gehen Sie mir mit Ihrem Zettel, der Ihnen fo etwas ges ſtattet hat, ſolch ein himmelſchreiendes Unrecht, ſo einen ſchmaͤhlichen Leichtſinn, den Generationen nun ausbaden muͤſſen! Und Sie, Sie wagen von dem armen, tapferen Blondkopf in veraͤchtlichen Ausdruͤcken zu ſprechen, in ſolcher lächerlichen Überhebung! Naiv und frech!
Gibt es denn eine groͤßere Verfolgung und Verachtung, als die, der ein Weib ausgeſetzt iſt, die nicht nach Verſorgung, nicht nach Vorteil fragt, nach nichts Verbrieftem und Ge⸗ ſiegeltem, ſondern die der großen Liebe einzig und allein folgte?
Und wer ſind die, die ſolch ein Weib am haͤrteſten ver⸗ folgen, am wuͤtendſten auf ſie lostreten, ſie am unſinnigſten verachten? Die Weiber ſelbſt, dieſe verruͤckten Geſchoͤpfe!“
Jekatirina Alexandrowna ſchwang heftig ihren Stock. „O du
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infames Weib!“ Ihre blitzenden Augen waren geiſterhaft auf Frau Profeſſor Majunke gerichtet.
„So, jetzt bin ich fertig —“, fagte Jekatirina Alexandrowna keuchend. Sie zeigte mit ihrem Stock nach der Tür. „So — jetzt gehen Sie!“
Frau Majunke ging ganz willenlos vorwaͤrts, ſchaute nicht rechts und links und wollte hinaus, atmete ſchwer und machte eine Gebaͤrde, als wollte ſie ſagen: Ich werde dir ſchon einmal dienen, wenn auch jetzt nicht!
Da ſchrie die Alte kreiſchend auf: „Halt, nehmen Sie Ihren Regenſchirm mit — dort in der Ecke! Ich will nichts von Ihnen bei mir haben — nichts — fort — fort!“
Im Augenblick, als Frau Profeſſor Majunke die Tür hinter ſich geſchloſſen hatte, druͤckte Jekatirina Alexändrowna auf ihre Klingel und ſchrie nach ihrer Haushaͤlterin, die ſie das ‚Tier‘ nannte.
Und Frau Profeſſor Majunke hoͤrte hinter ſich her eine ſchauerliche, keuchende Stimme, die ſie nun ſehr wohl kannte: „Tier! Tier! Tier!“ rufen.
Als die Haushaͤlterin bei ihrer Herrin eingetreten war, fand ſie dieſe aufrecht, an allen Gliedern ſchlotternd, mit von Krampf verzerrten Zuͤgen im Bette ſitzen.
„Reisberghaus bei Blankenhain. Wir reiſen! Wir reiſen jetzt!“ ſagte Jekatirina Alexandrowna zu der verblüfften Dienerin. „Wir muͤſſen gleich fort.“
Die Haushaͤlterin ſchuͤttelte ganz bedenklich den Kopf. Jekatirina Alexandrowna aber hieß fie ſofort einen Wagen beſtellen und ſchnitt alle weiteren Einwaͤnde kurz ab.
Und ehe eine Stunde vergangen war, fuhr eine Schwer⸗ kranke, die wachsbleich in ihren Kiffen zuruͤckgelehnt (af, langſam zur Stadt hinaus.
Sie fuhren den Weg nach Blankenhain zu.
Die Haushaͤlterin ſaß oben auf dem Bock bei dem Kutſcher und wußte nicht, was ſie von der ganzen Sache denken ſollte.
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Es war ihr unheimlich dabei zumute und ſie ſchaute alle Augenblicke fragend auf ihre Herrin. Jekatirina Alexändrowna litt entſetzlich an Atemnot. Aber: „Weiter — weiter — weiter!“ war die einzige Ant⸗ wort, dje fie dem „Tier gab, wenn die gutmuͤtige Perſon fie aͤngſtlich bat, umzukehren.
Doc es kam anders, als Jekatirina Alexandrowna ges wollt hatte
Spat abends fuhr unter dem hochgewoͤlbten Sternen⸗ himmel hin, den Weg, den Kriſtine einſt in groͤßter Lebens⸗ not ging, ein geſchloſſener Wagen langſam im Schritt. Er fuhr der Richtung nach Jena wieder zu; durch junges Buchen⸗ holz, dann durch Felder, die im Nachtwind leiſe ſchwelten und wogten und wuͤrzig nach Brot dufteten, zur Korn⸗ bluͤtenzeit.
Und außen auf dem Wagen, auf dem Kutſcherſitz, da ſaßen zwei, eng aneinandergedruͤckt; kein Liebespaar, ein paar Furchthaſen, denen es grauſte, zuruͤckzuſchauen, und die den Pferden auf die Köpfe ſahen, um nicht rechts und links zu ſehen.
Sie hatten eine Leiche hinter ſich, die beiden, eine in die Wagenecke weit zuruͤckgelehnte Leiche — und das auf naͤcht⸗ lichem Feldwege in herzbeklemmender Einſamkeit.
Jekatirina Alexandrowna war ploͤtzlich am Herzſchlag ge⸗ ſtorben, ehe ſie ihr Erloͤſungswerk begonnen hatte.
Der Tod hatte Kriſtinen zum zweiten Male Barmherzigkeit und Hilfe verſagt. Das Leben komponiert ſeine Geſchichten wunderlich, nicht immer zur Zufriedenheit weiſer Kunſtrichter, ganz nach eigener Laune.
So kam es, daß Kriſtine allein blieb, fuͤr Jahre allein.
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Drittes Kapitel
s iſt der Winter darauf. Kriſtine ſchreibt in ihr blaues Heft:
Vor unſerem Fenſter da haͤngt eine tote Amſel in den kahlen Zweigen am alten Kirſchbaum — die iſt das erſte, was wir am Morgen ſehen. Peregrin hat ſie zuerſt bemerkt und kraͤht und greift danach, wenn ſie im Winde hin⸗ und her⸗ geſchaukelt wird, und wenn ich ſo auf die zerzauſte tote Amſel ſehe, da wird es mir ſo weh ums Herz — ſo weltverlaſſen. — Da halt ich Peregrin an mich und fühl’ fein kleines Herz ſchlagen und feh’ in feine Augelchen. Ker — es find wirklich und wahrhaftig deine Augen, und wenn ich ihn ſo halte und draußen der Schnee faͤllt und alles gleichmaͤßig einhuͤllt — Weg und Steg — dann iſt's mir, als waͤren wir zwei Maͤuſe, die unter einer Erdſcholle in einer weiten, weiten Einoͤde uͤberwintern und an die niemand von allen lebendigen Weſen denkt. Und der Schnee faͤllt, der dichte, hohe Schnee, und vergraͤbt ſie ganz; aber ſie haben es warm in ihrem Neſt und ſitzen ganz aneinandergeſchmiegt — und weit, weit von ihnen, da leben die Menſchen. Wir haben es auch warm, unſer eiſernes Ofchen puſtet und gluͤht und faucht manchmal, ſo daß mir Rotplaͤtz ein kleines Gitter aus Fichtenſtaͤmmchen darum gemacht hat, damit Peregrin nicht zu nahe kommt, wenn er zu kriechen anfängt. Unſer Ofchen iſt ſehr wacklig, und Rotplaͤtz hat es gehoͤrig ausflicken muͤſſen. Aber wenn es in der Daͤmmerung gluͤht und puſtet, da iſt es unſere allergroͤßte Freude, unſer Schauſpiel, unſere beſte Ge⸗ ſellſchaft; da ſetzen wir uns beide ganz nah, Peregrin und ich, und Peregrin ſtrampelt und ſchreit vor Vergnuͤgen und quiekt und kraͤht und druͤckt fein Köpfchen an meine Wange, und da laufen mir die Traͤnen herab, denn es iſt gerade ſo, als wenn er mich (chon recht lieb hätte. Juͤngelchen, Juͤngel⸗ chen! rief ich ganz gluͤcklich und druͤckte ihn an mich — und dann
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kraͤht er noch luſtiger und ſchlaͤgt mit feinen weichen Hand; chen mir ins Geſicht — und legt ſich wieder ſo zaͤrtlich, ſo zaͤrtlich an mich. — Ich bin nicht mehr allein!
Frau Birnſtingels Hühner gackern in der Küche, und fie ſchlurft herum und ſpricht mit ſich ſelbſt. Es kann ſich nie⸗ manb vorſtellen, wie einſam es hier iſt — fo recht ein Platz für Verlaſſene — fo wirklich ganz verlaſſen.
nd hier in dieſer verſchneiten, vergeſſenen Ecke, in dem
von aller Welt vergeſſenen alten Haus, mitten im Schnee, da ſchlagen zwei Herzen und brennen wie zwei Feuer — fuͤr dich, mein Ker.
Zwei Winter ſpaͤter. ch habe einen Geldbrief aus Italien bekommen — von as meinem Mamachen, die iſt dort mit Mathilde — den habe ich aufgehoben — für die Zukunft, Ker — für Peregrin und dich, wenn du noch unter den Lebenden biſt? Ich ſelbſt ver⸗ diene mir hier etwas Geld, beinahe ſchon genug fuͤr mein Juͤngelchen und mich — und das iſt ſo zugegangen. Rotplaͤtz kam von der Fabrik nach Haus, und ich ſaß gerade mit Peregrin unten bei ſeinen Kindern und hatte meine Arbeit mitgenommen. Er hilft mir und ich helf ihm manch⸗ mal und geb’ auf feine Kinder acht und lehre fein kleines Mädchen die Stube ordentlich halten und lehre fie die Suppe anſetzen, damit, wenn der Vater heimkommt, er nicht ſo lange erſt kochen muß. Und als Rotplaͤtz diesmal heim⸗ kam, da zog er aus ſeinem Sack einen Teller und brummte: „Wenn ich das hinbraͤchte — da ſullt's beſſer flecken — aberſcht — aberſcht! — Das wird mer niſcht waͤren — enen Gockel — nee!“ — Und Rotplaͤtz ſah das im Brand ge⸗ ſprungene Tellerchen ganz truͤbſelig an. Es war wirklich ein Gockel darauf gemalt.
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Ich Hab’ es mir auch angeſehen — und es ſchien mir gar nicht ſo ſehr ſchwer.
„Rotplaͤtz,“ ſagte ich, „ich glaube, das koͤnnte ich Ihnen zeigen, aber freilich, einuͤben muͤßte ich es erſt auch.“
Da hat mich Rotplaͤtz ganz ſonderbar angeſehen.
Und ich habe mich gleich oben in meiner Stube daruͤber gemacht und den Gockel abgezeichnet; und bab’ es immer wieder verſucht, bis wirklich der Gockel herauskam, ganz ſchoͤn, und Rotplaͤtz hat mir dann Farben fuͤr den Gockel gebracht. Seitdem malen Rotplaͤtz und ich Gockel — ich die Gockel, Rotplaͤtz die Raͤnder — denn mit erſchrecklich vieler Muͤhe, Sonntags und Werktag abends, hab“ ich ihm nicht den Gockel beigebracht. Mir bringt er immer in einem Tragkorb einen ganzen Stoß Teller mit, und ich male auch ſchon Karpfen, Spatzen, Huͤhner auf große und kleine Teller nach einem alten Muſter, und auch Schmetterlinge, und ſo verdiene ich mir Geld. Das Schickſal ſorgt fuͤr mich — und Peregrin hat jetzt eine Mama, die ihm ſein Breichen ſelbſt kaufen kann und auch ſeine Roͤckchen. Nun hat er alles von mir, fein kleines, ſuͤßes Leben, und alle Pflege — und alle Liebe. — Es iſt mein Kind — mein Kind!
Die eine Welt, an der mein Herz haͤngt, nach der ich mich ſehne, iſt verſunken: du Ker, mein Vater, mein Mamachen, alle Liebe, alle Freundſchaft, alle Achtung, alles Vertrauen, alles Verſtehen — und meine Muſik, mein liebes, ſchoͤnes Zimmer — der Garten — das Meer — das Boot — alles verſunken — — — Aber ein kleiner, neuer Stern iſt in der großen, traurigen Ode aufgegangen.
Wenn du mir zuruͤckkehrſt, wenn das Wunder geſchieht! — in dieſer Hoffnung ſchreibe ich für dich — far mich aber Peregrin nieder, was ich gern in der Erinnerung behalten moͤchte, wie es auch Mamachen getan hat, als Olga und ich Kinder waren — und da ſchreib“ ich jetzt gleich für uns
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beide, für dich und mid — und fo Gott will, auch far unſern kleinen Peregrin — daß er jetzt in feinem dritten Jahre noch recht drollig ſpricht, mit einem ſo lieben Stimm⸗ chen — es iſt keine duͤnne Stimme, rund und voll iſt ſie, und doch weich, ganz wie er ſelbſt iſt. Er iſt ein braunes Kerl⸗ chen, feſt und ſtramm, mit großen, dunkeln, ernſten Augen, die ſehr ſchelmiſch ausſehen koͤnnen, und ſo voll Liebe! — Mir iſt oft bange, Ker, um die große, große Liebe, die ich fuͤr Peregrin habe, ſo eine angſtvolle Liebe, ſo eine Liebe, als ſtaͤnde ſogleich der Abſchied vor der Tar, als ſollte er mir ges nommen werden — und dann, Ker! dann! — Kann denn ein Herz alles ertragen? Auch wenn das Letzte genommen wird — auch das? Gag’ mir! — Gibt es denn kein Er⸗ barmen auf Erden?
eregrin ſpricht komiſch, und wie er etwas einmal benannt hat, dabei bleibt er. —
Sein Roͤckchen, das nennt er ‚mein Zubind“, und meine Korallenkette, die er immer Sonntags um ſein Haͤlschen be⸗ kommt, die nennt er ‚Das Umbind“.
Und geſtern am Abend, als ich im Zimmer ſitze und naͤhe, und draußen iſt ſchoͤner Fruͤhlingstag, da tut ſich die Tuͤr auf, und Peregrin guckt durch die Spalte.
„Na“, fag’ ich — da kommt er angelaufen und fällt mir um den Hals, und blinzelt dabei mit ſeinen dicken Augen⸗ wimpern an meiner Wange:
„Piep — piep — piep — ich hab“ dich lieb!“
Wo er das her hat, weiß ich gar nicht! —
Mir hat es noch im Herzen lange, lange nachgeklungen.
it Rotplaͤtzen feinen zwei Juͤngelchen, dem Zwillings⸗ paͤrchen, ſpielt und tollt er den ganzen Tag. Sie liegen wie die jungen Baͤren in der Sonne, und uͤberpurzeln ſich, und laſſen ſich von Peregrin gehörig zauſen, und ſeit Peregrin
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lauft, hat Rotplaͤtz, wenn er im Hofe herumſchluͤrft, hinter feinen Stiefeln gar drei Juͤngelchen!
olcherlei ſchrieb der gute, tapfere Blondkopf in ſeiner Einſamkeit in das blaue, dicke Schulheft, all die lieben, unſaͤglich herzerquickenden und bewegenden Dinge, die eine junge Mutter mit ihrem Kinde erlebt — die fruͤhlingshaften Geſchichten — die erſten Keime des Bewußtſeins — die warmen Stuͤrme, die in den kleinen Kerlen toben, die ſie ſtrampfen und wuͤten laſſen, und die aus der Kuoſpe den kuͤnftigen Charakter wecken. Dies ganze Fruͤhlingstreiben ſchrieb fie nieder — treu und innig und in ruͤhrender Hoffnung. Es moͤgen in ſtiller Hut ungezaͤhlte ſolche n Auf⸗ zeichnungen von Mutterhaͤnden ruhen. 3
ir hatten heute ein rechtes Gewitter, und Peregrin ſaß mit
Frau Birnſtingel auf der Tuͤrſchwelle. Ich mußte eifrig Teller malen, und ſaß in der Kuͤche hinter den beiden, und ſah, wie er ſich eng, ganz eng an Frau Birnſtingel ruͤckte. Er iſt ein armer Furchthaſe — und bei Gewitter iſt er ſonſt immer ſehr aͤngſtlich, und zittert und weint. Ich ſchaute auf ihn hin, denn er ſaß auffallend ſtill und griff ſich nur manchmal an die Ohrchen.
Frau Birnſtingel mußte dies auch bemerkt haben. Sie ſagte ganz kurz: „Na, es wachſen noch keine; halt Ruh, aber wann's du dich noch laͤnger fo fuͤrchtſt — dann waͤrd's fo, wie ich dir immer fag’, dann macht dir der liebe Herrgott lange Haſenohren“ — und da ſaß er wieder ganz ſtille und geduckt — und fraß die Angſt in ſich hinein — ſo ein armes Herz! fo ein geaͤngſtigtes Seelchen!
Und da habe ich ihn an mich gedruckt — er war ganz bleich — und bab’ ihn auf dem Schoß behalten, da hat er ſeine Arme um meinen Hals geſchlungen und ſein Geſicht
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an mich gepreßt! Ich fühlte fein Herz angſtvoll pochen. — Aber tapfer und brav iſt er doch, daß er trotz ſeiner Angſt ſo fill ſaß.
Und ſei nur ruhig, mein Kind, durch mich ſollſt du keinen Tropfen mehr Angſt ſchlucken muͤſſen, als das Leben, ohne daß ich's wehren kann, dir ſowieſo bringt — und der Birn⸗ ſtingel bab’ ich es verboten, je wieder meinem Kind fo dummes Zeug beizubringen.
Wie hat Peregrin mich heute erſchreckt! Ich bin den ganzen Tag umhergegangen voller Sorge. Er war mir unheim⸗ lich, der kleine Junge — und ich habe ihn gefragt und gefragt und immer wieder gefragt, als muͤßte ich ſein Herz ergruͤnden — und er ſah mich mit den ernſten, geheimnisvollen Augen an, die mich durchſchauern, die er manchmal macht, ſo, als hätte er eine tiefe Seele — oder gar keine, fo unergruͤndlich. Peregrin hat mit Rotplaͤtzens Jungen geſpielt. Ich ſah ſie wirtſchaften und rief zum Fenſter hinab: „Peregrin, was macht ihr denn da?“ und ich mußte immer wieder rufen, ſie hoͤrten nicht, ſie hatten alle drei die Koͤpfe zuſammenge⸗ ſteckt und wirtſchafteten. Als Peregrin aber endlich hoͤrte, kam er angelaufen und ſtand unter dem Fenſter, ganz er⸗ hitzt und rot und ſchmutzig.
„Was habt ihr denn da?“
„Einen Froſch ſeßnitten“, rief er leidenſchaftlich und eifrig. Ich rief ihn herauf und er kam angetrappt.
Und dann fragte ich ihn und fragte ihn, ganz angſtvoll; immer wieder, aber er blieb immer gleichmuͤtig, beſchrieb, wie fie den Froſch zerſchnitten hatten — mit einem ‚Siefer‘, das iſt ein Schieferſtein, und dabei hatte er immer die tiefen, geheimnisvollen Augen und bekam ſo etwas Trotziges, Feſtes in ſeinen Antworten, etwas ſo Gleichmuͤtiges, daß ich gar nicht wußte, was ich aus ihm machen ſollte.
„Hat er dir denn gar nicht leid getan, der Froſch?“
28 Boͤhlau III. 433
„Nein.“ |
„Hat er denn nicht gefchrien ?”
„Ja.“
„Und da haſt du's doch trotzdem tun koͤnnen?“ Mir waren die Traͤnen in den Augen.
„So etwas, wie fer hat der Froſch gefagt.”
Wir haben den ganzen Tag nicht wieder von der Sache geſprochen, weil ich es nicht wagte; aber ich habe ihn mehr noch als ſonſt bei mir behalten.
Am andern Tage gingen wir miteinander hinunter in unſer Gaͤrtchen, das ſind zwei Beete, da ziehen wir allerlei Gemuͤſe und auch Blumen. Ich habe mir die Beete fuͤr Peregrin und mich von Rotplaͤtz herrichten laſſen. Ein paar Roſenſtoͤcke hat er mir auch gekauft, die bluͤhen dies Jahr ſchon, und wir gingen miteinander und beſchauten alles und begoſſen das Gemuͤſe, und ich ſchnitt eine Roſe ab, um ſie an mein Fenſter in das Glas zu ſtellen. Da ſah Peregrin mich ganz befremdet an und ſagte langſam mit ſeiner vollen Stimme: „Mama, hat denn die Roſe nis auch krr geſagt, wenn du fie ſnitteſt?“
Ich konnte es nicht uͤber das Herz bringen zu ſagen: „Die fuͤhlt nichts.“ Es kam mir ſo dumm vor. Ich war ſo froh, daß ich ihn wegen des Froſches nicht geſcholten hatte. So ein kleiner Peregrin iſt nicht ſo leicht zu verſtehen! Da hoͤrt oft alle Weisheit und alle Klugheit der großen Leute auf.
Nachts ſteht Peregrin manchmal auf und kommt an mein Bett geſchlichen und faͤhrt mir mit ſeiner weichen, runden Hand uͤber das Geſicht — und wenn ich dann aufwache und ihn in ſeinem Hemdchen ſtehen ſehe beim flackernden Nacht⸗ lichtſchein, da weiß ich ſchon, was er will. —
„Mamachen, haſt du mich auch lieb?“ fragt er dann ſo himmliſch zaͤrtlich, daß mir die heißen Traͤnen manchmal in die Augen kommen und ich gar nicht weiß, wo ich mit meiner
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großen Liebe zu Peregrin hin ſoll. Dann ſchluͤpft er in mein Bett und ſchlaͤgt die Armchen um meinen Hals, und ich halte ihn wie eine Welt voll Glad an mich gepreßt — und wenn ich ihn mir dann tot vorſtelle, das braune, herrliche Koͤrperchen, die lieben Augen, den trotzigen, zaͤrtlichen Mund — da erſtarrt mir das Herz — das iſt ein Augenblick, den alles Gluͤck nicht aufwiegt.
Und wenn er mich weinen ſieht, da iſt er ſo gut, da ſchleicht er auf den Zehen, da ſtreichelt er mir die Wangen, da trocknet er mit ſeinem ſchmutzigen Tuͤchelchen mir die Augen, und da ſagt er jedesmal, daß bald — bald — bald ſein liebes Papa⸗ chen kommen wird — und jeden Abend beten wir miteinander fuͤr ihn — da halten wir uns ganz eng umfaßt und beten fuͤr dich, Ker.
Gedern iſt der kleine Junge kniend in ſeinem Bettchen eingeſchlafen, — er war ſo muͤde — das ſah ſo ruͤhrend aus — das arme Kindchen!
Ich habe immer vergeſſen aufzuſchreiben, daß Peregrin laͤngſt ein kleines Bett bekommen hat, ein wunderhuͤbſches Bett, das der Schreiner in Berka ihm gemacht hat. Die Birn⸗ ſtingel und ich, wir haben die Kiſſen genaͤht und den Sack mit Heu und Moos geſtopft, und ein Matratzchen mit Schaf⸗ wolle gefüllt. Abgenaͤht haben wir fie, und als das Ganze fertig war, und Peregrin die erſte Nacht in ſeinem Bette ſchlief, da war es ein großes Feſt, da haben ihn alle ſchlafen gelegt, Rotplaͤtz und die Birnſtingel, und die zwei Juͤngel⸗ chen, und das kleine Maͤdchen von Rotplaͤtz — und Peregrin lag wie ein Prinz in ſeinen Kiſſen und nickte allen zu und blinzelte und freute ſich.
eregrin ſchlaͤft oft des Nachts nicht — da tut er mir immer ſo leid — ſo ſtill mit großen, offenen Augen liegt er dann in feinem Bett, wenn ich nachts aufwache und mich
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über ihn beuge, da ſehe ich gerade in dieſe großen, offenen Augen hinein, die ſo ernſt und ruhig ſchauen, und dann laͤchelt er uͤbers ganze Geſicht und ſchlingt die Arme mir um den Hals — und wenn ich ihn frage, weshalb er mich denn nicht ruft, wenn er gar nicht ſchlafen kann, da ſagte er neulich: „Ich brauch“ dich nicht, Mamachen, ſchlaf nur!“
Das ſagte er wie ein alter Menſch, ſo ernſt — ach er weiß es ſchon, daß ſein Mamachen nicht helfen kann. Dies lange, geduldige Wachliegen bei Peregrin macht mir oft Angſt, es iſt ſo ruͤhrend, und es dauert nun ſchon lange an.
Neulich finde ich ihn wieder wach, mit großen Augen; aber diesmal laͤchelt er nicht, als er mich ſieht, ſondern ſeufzt tief auf und ſagt:
„Ach Mamachen, leg“ doch ein Laͤppchen vor die Haus tuͤr und leg“ mich drauf, dann feh’ ich die Sterne von Gott und denke, ich bin dein Händchen und bewach“ dich, ich ſchlaf doch nich *
Das klang ſo traurig, ſo verlaſſen, und ſchnitt mir ins Herz, und ich mußte vor ihm verbergen, daß mir die Traͤnen uͤber die Wangen liefen. Mein armes Kindchen hat ſo einen ruͤhrenden Zug in ſeinem Weſen, fuͤr ſeine Mutter etwas Herzzerreißendes — ich kann es nicht genau nennen, ich weiß nicht, was es iſt — und wenn er nicht ein ſo kraͤftiges Kind waͤre und ſo tollte und jagte und ſo ungezogen ſein koͤnnte, ſo heftig und zornig, ſo wuͤrde er mir noch weit mehr Angſt machen.
Ich erzähle ihm fo viel von daheim, von der Großmama, von meinem lieben Vater, von unſerem Haus, vom großen Meer, von meinem Boot, und da hört er fo verſtaͤndig zu und fragt nach ſeiner Großmama und nach allen. Und ſeinen Papa erwartet er immerwaͤhrend, ganz wie ſeine arme, arme Mama es auch tut, und wenn wir ſpazieren gehen, da ſtellt er ſich breit vor mich hin und ſagt mit einem ſo wichtigen, ſtrahlenden Geſicht: „Und rat“ einmal, wenn
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wir um die Ede find, da kommt, da kommt“ — und dann ſtuͤrzt er mit aller Wucht in meine Arme und ſagt mir ins Ohr, ſo weich und voller Liebe — „Papachen!“
Wos wird denn nur aus meinem Kinde werden? Nie⸗ manden hat's als ſeine arme, dumme Mama. Wie ſoll die denn ihm helfen ein braver, kluger Menſch werden, der Gutes im Leben ſchaffen kann? Wie ſoll die das? Mein Gott, wie (oll ſie's denn? Sie kennt ja das Leben gar nicht — und in dieſer Einſamkeit, da wird ſie immer duͤmmer und dumpfer und vergißt alles. Wenn ich denke, wie einfach geht mein Tag hin; ein wenig Geld verdienen, die kleine Wirtſchaft — und Peregrin. Trauer um Verlornes, und Sehnſucht nach guten Menſchen und Liebe, tiefe, tiefe Liebe zu meinem Kinde. Wer mich kannte, wer von mir weiß, ſpricht doch wie von einer Verworfenen. Ich bin doch mit Schmach beladen! — ich und das Kind — unausloͤſchlich! — Wie das niederdruͤckt! — Wie eine Laſt liegt es auf der Seele.
Nachts, wenn die alten Tannen rauſchen, dieſe Einſamkeit, dieſe Verlaſſenheit!
Unmoͤglich, ſich verſtaͤndlich zu machen, unmoͤglich!
Was ſoll daraus werden?
Wir koͤnnen ja nicht ewig hier bleiben — und ins Leben hinaus? — da werden uns die Blicke treffen, dieſe verachtungs⸗ vollen, eiſigen Blicke. |
Werd“ ich denn Kraft haben?
Ja!
Aber keine Stunde fruͤher, als es ſein muß, gehen wir hinaus in die Welt, mein Peregrin, keine Stunde fruͤher.
Und die Zeit in der Einſamkeit hier ſoll nicht verloren ſein, gewiß nicht.
Deine Mama muß eine große, ſchwere Arbeit zuſtande bringen, damit du ruhig leben kannſt, Peregrin, damit du Boden unter deine Fuͤße bekommſt.
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Wenn fie haltlos ſich hinauswagte, da warden fie ihr das Herz zertreten, da wuͤrden wir beide ein Leben fuͤhren, wie auf einem untergehenden Schiffe.
Sie muß die Menſchenfurcht verlernen, lernen muß ſie klar und tapfer zu denken und feſt zu ſein. Sie muß erſtarken und lernen, ihr Recht vor aller Welt offen zu wahren — Aber Du? Du?
Von dem Tag an, als Rotplaͤtz mein Kind angemeldet hat als den unehelichen Sohn der Kriſtine Ahrenſee, von dem Tag an habe ich den Kampf gegen die Menſchenfurcht begonnen — den Kampf um mein heiliges Recht, das heilige Recht der Mutter, heiliger als alle Menſchenſatzung. Mein Kind ifs, mein liebes, gutes Kind.
Damals, als Mathilde und Frau Profeſſor Majunke ges gangen waren, da hat Rotplaͤtz geſagt: „Nun muͤſſen wir's tun. Nun muͤſſen wir ihn melden und taufen auch“, und als er mich aͤngſtlich ſah, da ſagte er und ſchaute mich ſo mit ſeinem gutmuͤtigen Geſichte an, und die vielen Faͤltchen um ſeine Augen und ſeinen Mund laͤchelten: „Ehelich oder un⸗ ehelich, je, je, das is's nicht! Das macht niſcht, das laſſen Sie gut ſein, das ſchonn. Und das ſollen Sie aber tun! Gott danken, daß 's Kind ſo brav is und gedeiht, und daß mir ſch hamm. Waͤren's (hon merken, waren’s ſchon merken. — Alſo geh mer, gelle ja?“
Viertes Kapitel
n unſerm füllen Leben iſt etwas geſchehen — etwas a3 Trauriges —, ich kann es gar nicht faſſen. Rotplaͤtz iſt vor Gericht gekommen. Es waren ſo Wilderergeſchichten, und Rotplaͤtz wurde als Zeuge gegen einen Arbeiter, der mit ihm in der Fabrik iſt, geladen.
Er hat aber nichts ausgeſagt, obwohl er ſehr wohl alles wußte, und ſo iſt er als Hehler verurteilt worden zu vier Monaten Gefaͤngnis.
Der Rotplaͤtz iſt ein guter Menſch, wenn auch keine Seele in der Welt etwas davon weiß, und er ſelber auch nichts.
Seine großen Stiefel ſchlurfen und droͤhnen viel zu laut, als daß irgend jemand noch etwas weiter von Rotplaͤtz denkt, wenn er ihn gehen ſieht, als daß eben ſeine Stiefel ſchlurfen, und daß ſeine alte, kurze Jacke auf ihm ſitzt, wie der Sattel auf der Kuh, und daß er ſich wie ein Sprenkel haͤlt und ein langes Fabrikarbeitersgeſicht hat mit vielen Faͤltchen.
Wir, Birnſtingel und ich, muͤſſen nun für die Kinder einſt⸗ weilen forgen. |
Aber in der Fabrik foll er, gottlob, dann wieder eins treten.
Seit Rotplaͤtz fort iſt, da iſt's noch einmal fo ſtill bei uns.
Mee Mutter hat mir geſchrieben, ſchon oͤfter, und ich ſchrieb ihr wieder, aber noch verſtehen wir einander gar — gar nicht — mein armes — armes Mamachen. Wie allein biſt du!
Und wie wuͤrden wir dich lieben, wenn du zu uns kaͤmſt.
Peregrin wird nun ſchon zwei Sommer lang in dem Bach, der vor unſerm Hauſe durch die Wieſen fließt, gebadet an jedem guten Tag, und das iſt ein großes Vergnuͤgen, wenn der kleine, ſchoͤne, braune Kerl in dem klaren, fließenden Waſſer ſteht zwiſchen den Wieſenufern — da iſt er grenzen⸗
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los luſtig, da ſpritzt er und wirtſchaftet, und ganz beſonderes Vergnuͤgen macht es ihm, vom Waſſer aus Blumen zu pfluͤcken.
Ein Verschen ſagt er immer, wenn er im Bache ſteckt, das gehoͤrt dazu.
Iſt ein Mann ut Hutenduͤcken,
Haͤtt en Rock ut tuſend Flicken,
Haͤtt en knaͤkern Angeſicht,
Haͤtt en Kamm und kaͤmmt ſich nicht.
Solche dummen Verschen lernt er ſo leicht. Und vor dem Bad, daß ich es nicht vergeſſe, da ſpielt er geſtiefelten Kater und laͤuft nackt in der Wieſe umher und hat nur ſeine Stiefel⸗ chen an, und iſt ſo ſeelenvergnuͤgt, wie ein junges Tier.
Hen bracht ich Peregrin zu Bett und betete mit ihm unſer altes Gebet, das wir immer eng aneinandergeſchmiegt beten.
Als er in ſeinem Bette lag, ſah er mich mit großen Augen an und ſagte: „Du Mama, iſt's denn mit dem lieben Gott auch ſo wie mit dem Niklas? Iſt der auch nur fuͤr Kinder?“
Rotplaͤtz hat in dieſem Jahr den Niklas bei uns gemacht, hat Nuͤſſe und Apfel gebracht, ſeine Kinder angebrummt, und Peregrin hat ihn gleich erkannt.
Penn gruͤbelt und denkt immer und fragt ohne Ende, und wenn er einer Sache ganz ſicher ſein will, muß ich ihm die rechte Hand darauf geben, daß es fo und nicht anders iſt.— Da kommen Geſchichten uͤber Geſchichten. — Vor ein paar Tagen ſtellt er ſich in ſeinem Bette auf und faͤllt mir um den Hals und ſieht mich ernſthaft an: „Mamachen, ſag“ mir, ich will dich etwas fragen: bringt der Storch wirklich die Kinder? Der iſt doch ein ganz gewoͤhnlicher Vogel — die liegen doch nicht im Teich? Gib mir deine rechte Hand.“ Da ſagte ich: „Man ſagt das nur ſo; Gott ſchickt die Kinder.“
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Da fiel er mir noch feſter um den Hals: „Dann weiß ich's,“ rief er, „die Engel bringen fie — da bin ich froh! Ich mochte es nicht gern, daß der Storch fie angeſchleppt braͤchte.“
Henn hat Peregrin ſich mit einem Jungen vom Rotpylaͤtz wuͤtend gezankt und gehauen, und ich ſagte ihnen, das duͤrften ſie nicht, ſie muͤßten ſich lieb haben. „Ach,“ meinte Peregrin, „man hat nur lieb, was mer ſelbſt ausgebruͤtet hat, und den hab’ ich nich“ ausgebruͤtet.“
ies und mehr ſchrieb Kriſtine in ihr Kinderbuch; aber es
kam eine Zeit, da ſchrieb fie lange nicht. Peregrin war erkrankt. An einem Herbſtnachmittag, als die Kinder draußen getollt und geſchrien hatten, kam er ſo muͤde nach Hauſe, ſetzte ſich ſeinem Mamachen auf den Schoß und legte ſeinen Kopf an ihre Schulter, ſaß ganz ſtill und ſchwer, und ſeufzte manchmal tief auf.
Sein Atem, der Kriſtinens Hals traf, war ſo heiß; Kriſtine fuͤhlte ſein Koͤpfchen an, das gluͤhte und brannte, da faßte ſie das boͤſe, verzweifelte Erſtarren, daß ſie ſich nicht vom Stuhle erheben konnte.
„Nun iſt es da — nun iſt es da — das Ungluͤck!“ Sie preßte ihn an ſich und ſah hinauf gen Himmel, wie ein ver⸗ wundetes Tier, ohne Gedanken, ohne Gebet, — nur in Todesangſt.
Und nach dieſem erſten Schrecken kamen Naͤchte und Naͤchte, Tage und Tage, ſchwer und erdruͤckend, waͤhrend deren ihre Augen an einem gluͤhenden Geſichtchen hingen, waͤhrend deren ihre Haͤnde ein wildes, heißes Koͤrperchen immer von neuem einhuͤllten, waͤhrend deren ſie ſo ſchmerz⸗ liche Seufzer hoͤrte von den lieben Lippen; Peregrius Augen waren in dieſer Krankheit von Fieber befangen, und jetzt erſt ſchienen ſie ihr geheimnisvoll, wenn er ſtill und ruhig
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vor ſich hinſah und die kleinen Pulſe flogen und der Atem ſo ſchnell ging. Da lag ſie auf den Knien vor dem Bettchen und blickte in dieſe Augen, wie ein verzweifelter Menſch in tiefes, dunkles Waſſer. „Werd ich jetzt zermacht?“ frug Peres grin in einer dunkeln, troſtloſen Nacht. Da ſtand ihr das Herz il, — Wer lehrte ihm die furchtbaren Worte fo zu ſetzen? Bewußt und unbewußt fluͤſterten ihre Lippen immer das gleiche, immer vor ſich hin: „Wenn du ihn mir nimmſt, dann nimm mich auch!“ Das klang ſo hart, ſo wild, ſo troſtlos; und immer wieder, immer wieder.
Und dann dachte ſie, wenn ſie nun doch leben blieb, und wenn in Jahr und Tag Ker kaͤme, was fie da ſagen würde; wie fie von Peregrin ſprechen wuͤrde, wie von etwas Ver⸗ gangenem. Da liefen ihr die heißen, troſtloſen Traͤnen über die Wangen.
Manchmal rief ſie auch nach ihrem Mamachen, jammervoll hilfeſuchend.
Das erſte klare Wort ihres Kindes, das zerſprengte ihr faſt das Herz vor Freude.
In der Zeit der Geneſung, da hielt ſie Peregrin wie ein Heiligtum; wenn ſie ihn beruͤhrte, dankte ſie immer Gott in ihrem Herzen, und wenn Peregrin unvermutet fie etwas fragte, da kamen ihr die Traͤnen in die Augen.
Wie er aber die Krankheit abſchuͤttelte und friſcher und kraͤftiger wurde, als vordem, kam auch das Gefuͤhl ins alte Geleiſe, und auf ein leeres Blatt in ihrem Buche ſchrieb ſie: „Peregrin war ſchwer krank.“ Mehr konnte und wollte ſie nicht ſchreiben.
otplaͤtzens Strafzeit lief ab und er wurde zuruͤckerwartet. Und eines ſchoͤnen Morgens kam der Bote aus Berka, der zwiſchen Berka und Blankenhain geht, und brachte eine Poſtkarte. „Motag aben — kumm heim. Rotplaͤtz.“
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Eifrig ging es da im Reisberghaus zu. Frau Birnſtingel mußte ſcheuern und fegen, es wurden aller Art Vorberei⸗ tungen getroffen.
Frau Birnſtingel wurde ausgeſchickt, Einkaͤufe zu machen zu einem Nachteſſen, und ſie war es, die auf den Gedanken verfiel, am Abend zur Feier Lotto zu ſpielen. Sie beſaß fo ein altes Lotto, aber da fehlten Nummern und Glasſcherben zum Zahlenbedecken. Das alles wurde wieder inſtand ge⸗ ſetzt von Kriſtine und Rotplaͤtzens Kindern. Aber die Ge⸗ winne! Die wurden auch beſorgt, die brachte Frau Birn⸗ ſtingel mit aus der Stadt. Zuckerwaren aller Art und Tabak, den immer Rotplaͤtz gewinnen ſollte, und Zwirn und Nadeln, was die Frauenzimmer gewinnen ſollten.
Und Frau Birnſtingel verſuchte es vorſorglich, Peregrin klar zu machen, daß, wenn er den Tabak und den Zwirn ge⸗ woͤnne, er ihn nicht behalten, ſondern eintauſchen müßte, Im Reisberghaus wurde gebraten und gebacken, Frau Birnſtingel hatte fuͤr die Kinder einen Kuchen zuſtande ge⸗ bracht.
Und gegen Abend waren ſie alle auf der Lauer und gingen Rotplaͤtzen entgegen.
Das war ein Wiederſehen, fo harmlos, als fame Rotplaͤtz von einer Badereiſe heim. Rotplaͤtz mußte erzaͤhlen, und Kriſtine und Frau Birnſtingel erzählten ihrerſeits; und dann das wunderſchoͤne Eſſen und die gluͤckſeligen Kinder und das Lottoſpielen, und die Gewinne! — An dieſem Abend ſaßen in der Stube bei Rotplaͤtz nicht Philoſophen beiſammen, Gott bewahre, die allereinfachſten Leute von der Welt. Aber Lottoſpielen, wenn der Vater aus dem Zuchthaus kommt, und braten und backen? Ja, ware Rotplaͤtz ein gebildeter, vornehmer Mann, ſo haͤtte er, um ſich und ſeinen Kindern die Ehre wieder zu geben, Grund genug gehabt, ſich eine Kugel durch den Kopf zu ſchießen. Aber er gehoͤrt zu denen, die nicht viel zu verlieren haben. Und das junge ſchuld⸗
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beladene Weib mit ihrem Kind, — welche Zuflucht hat fie hier gefunden! |
Da fißen fie in der elenden Stube ſo ruhig beieinander und ſpielen Lotto, und freuen ſich uͤber das magere Feſteſſen und die ganze Feier.
riſtine ſchreibt:
Nun iſt's wieder einmal Winter, wieder dichter Schnee. Nun kommt Weihnachten wieder heran — das einſame Weihnachten, das das Herz in Sehnſucht vergehen laͤßt und in Hoffnungsloſigkeit.
Und gerade zu Weihnachten, da darf ich nicht trauern.
Mein armes Kind ſoll eine ſchoͤne, liebe Erinnerung fuͤrs Leben haben. |
Er (oll nicht fühlen, was für abgeriſſene Blätter wir beide find. Gewißlich nicht. Ach, daß es dies nie zu fühlen Hätte!
Seit zwei Weihnachten ſind nun auch die Hennebergs aus Jena fort. Mit meinem Mamachen wohnen ſie in Heidel⸗ berg zuſammen. Sie haben ihr Haus verkauft. Mamachen ſchrieb mir: Es war ihm unmoͤglich, laͤnger in Jena zu bleiben. Er fuͤhlte ſich dort wie gebrandmarkt. Alles um meinetwillen. Wie fie noch in Jena waren — hab' ich am Weihnachtsabend ganz ſtill zum Fenſter hinausgeſchaut, der Gegend zu, wo Jena liegt — und habe ſo ein Gefuͤhl gehabt, als waͤre ich doch noch nicht ganz allein und verlaſſen.
Mein Mamachen ſchrieb mir, daß Jekatirina Alexandrowna geſtorben iſt — ſchon vor drei Jahren — und ich habe es nun erſt vor wenigen Wochen erfahren! Ich hab' oft an fie gedacht und mir war immer, wenn jemand kommen wuͤrde, ſo muͤßte ſie es ſein. — Ja, ich habe auch auf ſie gewartet.
Und zu Weihnachten, wie habe ich da immer vom Fenſter aus den verſchneiten Weg hinabgeſehen, bis 5 muͤde wurde.
Der lange, bange Weg.
Ach Weihnachten!
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Und wie er ſich freut, mein guter, kleiner Junge. Die Lichter am Baum, die Nuͤſſe, der Pfefferkuchen, die bunten, kleinen Sachen, die erfuͤllten ſeinen Geiſt.
Das Chriſtkind liebt er ſehr. Wenn er abends durchs Fenſter ſchaut, dem Walde zu uͤber den Schnee, hat er mich oft ſchon herbeigerufen — „Jetzt iſt's in den Wald geſchlupft, ich hab's geſehen! Baͤumchen holt's!“ Dann fragt er wieder, ob es denn eigentlich ein Wickelkind iſt.
„Mama,“ ſagt er, „beten wir denn zu einem Wickelkind eigentlich? — das mag ich nicht, fo ein großer Junge wie ich. — Lieb hab' ich's — aber beten?“
Ich habe ihm erzaͤhlt, daß aus dem Wickelkind ein herr⸗ licher, guter Menſch geworden iſt, der ſo gut war, wie nie einer vor ihm und nie einer nach ihm — und daß er alle Menſchen geliebt habe.
Das hat Peregrin ſehr gefallen — und er fragt mancher⸗ lei noch daruͤber — und wir ſitzen abends wieder vor unſerm Ofchen und hoͤren zu, wie es puſtet und faucht, und freuen uns, wenn es gluͤht, und erzaͤhlen uns allerlei. Peregrin mir und ich ihm.
eregrin,“ ſagte ich zu ihm, „willſt du zu Weihnachten dein Mamachen ſehr — ſehr lieb haben?“
„Ja“, ſagte er und blinzelte mit ſeinen Augenwimpern mir an der Wange, das tut er immer noch, wenn er ſehr zaͤrtlich iſt.
„Du haſt es gut,“ ſagte ich — „du haft ein Mamachen; aber ich bab’ keins! Ach! Ich hab’ kein Mamachen! kein Mamachen!“ — — Wie hat er ſich da an mich gedruͤckt, der kleine, gute Junge — und hat mich geſtreichelt und iſt nicht von meiner Seite gegangen und war ſo gut — ſo gut, daß ich nicht anders konnte, ich mußte mich bitterlich aus⸗ weinen; uͤber ihn, uͤber mich und uͤber alles — alles. —
Etwas iſt mir in die Einſamkeit gefolgt, etwas, das mit
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mir ſpricht! etwas, das meine Seele ganz erfüllt, — das mir ſagt: „Was haſt du erlebt, du gluͤckſeliges Geſchoͤpf! Du kennſt ſie, — die große, große — heilige Liebe!
„Maͤchtiger iſt die Liebe als der Tod, Feſt wie die Hoͤlle,
Unbezwinglich wie das Niederreich.
Ihre Gluten ſind Feuergluten
Wie Jehovahs lodernde Flammen,
Waſſerwogen loͤſchen die Liebe nicht, Und Stroͤme erſticken ſie nimmer.“
Etwas, was ich in heiliger Stunde an mein Herz druͤcke—— iſt dein Lied, Ker!
Dein Hohes Lied! Dein Judenlied, wie du ſagteſt — dein Lied, was du in meine Haͤnde legteſt! — Dein lebendiges Lied!
In ſtiller, troſtloſer Nacht iſt es von brennenden Augen geleſen. Gebetet und geweint iſt daruͤber.
Die Sehnſucht hat ſich in die Worte tief — tief ein⸗ gegraben, hat deine Stimme hoͤren wollen, hat nach dir gejammert und gerufen und geſchrien, hat in jedem Bilde, jedem Worte dich erkannt! Hat die Arme nach dir ausge⸗ ſtreckt und hat auf dich gehofft! — gehofft! — gehofft!
Zu deinem Liede komme ich, wenn ich leben will! Da breite ich die Arme danach aus, da druͤcke ich es an mich, da liebe ich es, wie ich die ganze, für mich verſunkene Welt liebe.
Auch dieſe Weihnachten, wenn alles ſchlaͤft, ſoll es wieder zufmir ſprechen. |
Auch ich will meine heilige Stunde haben!
Ich Gluͤckliche! Ich Arme!
Fünftes Kapitel
erlin!
B Ein Strolch geht eben durch die Oranienſtraße; lang, hager, wettergebraͤunt, den Hut uͤber dem ſtruppigen Haar tief uͤber die Stirne gedruͤckt, in armſelig ſchaͤbigem Rock, ein fadenſcheiniges Tuch um die Schultern. Es iff ſchon (pat abends, die Laͤden und Haustuͤren geſchloſſen und ein De⸗ zemberwetter, daß ſich Gott erbarm. Der Wind heult um die Straßenecken und fegt auf den Steg die Eisnadeln wirbelnd vor ſich her. Die Gaslaternen, dick mit Schnee belegt, flackern und drohen zu verloͤſchen. Wer bei ſolchem Wetter uͤber die Straße muß, hat ſich vorſorglich von oben bis unten zugeknoͤpft, den Hals bis uͤber die Ohren einge⸗ wickelt und haͤlt den Schirm gegen den eiſigen Wind dicht vor das Geſicht.
Der Strolch geht langſam, zoͤgernd, unſicher weiter, er ſucht offenbar die Nummern an den Haͤuſern zu entraͤtſeln und die verſchneiten Firmenſchilder zu leſen. |
Jetzt ſcheint er das Geſuchte gefunden zu haben, denn er bleibt ſtehen und ſpaͤht vor dem verſchloſſenen Laden nach einem durchſchimmernden Lichtſtrahl. Er ſtreicht ſich durch die naſſen Haare und klopft zaghaft an.
über dem Laden ſteht mit großen, goldenen Buchſtaben:
„P. Fuhks. Sortiments⸗Buchhandlung und Leihbibliothek.“
Ein Schutzmann, der auf dem Nachhauſeweg noch einmal die Straße abpatrouilliert, hat den verdaͤchtigen Geſellen alsbald aufs Korn genommen; verdaͤchtig ohne Zweifel und auf verdaͤchtigen Wegen, weil er in zerriſſenen Schuhen prangt und ein ſparriges Bündel ſorgfaͤltig zu ſchuͤtzen oder — wer weiß — zu verbergen ſucht. Im Schutzmann ſchwillt das Pflichtgefuͤhl. Er wendet die Schritte gegen ſein Opfer. Schon will er den ſteifgefrorenen Arm mobil machen, um ſeinem Fang mit dem gehoͤrigen Nachdruck in den Nacken
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zu fahren — da treibt ihm ein kraͤftiger Windſtoß eine volle Ladung naſſen Schnees in den Nacken und uͤbt ſichtlich eine abkuͤhlende Wirkung auf ſeinen Dienſteifer. Er ſtuͤlpt ſich mit den dicken Handſchuhen die Pickelhaube feſter auf den Kopf, macht unwillig Kehrt und laͤßt Gauner — Gauner ſein. Es gibt ihrer ſo viele.
Indeſſen dieſes im Hundewetter draußen vorgeht, ſitzt hinter dem geſchloſſenen Laden der Buchhaͤndler Peter Fuhks mit ſeinem jungen Weibe am Ofen und denkt an nichts Boͤſes.
Der weite Raum iſt durch ein paar große, ſchwarzlackierte Buͤcherregale geteilt. Vorn, nach der Straße zu, ſind die Schraͤnke von oben bis unten voll von wunderſchoͤnen Buͤchern. Jetzt iſt dieſe Pracht in tiefes Dunkel gehuͤllt. Im Ruͤcken der Schraͤnke ſteht auf einfachen Brettern die vielbegehrte, die ſehr unanſehnliche, ſehr zerſchliſſene und vergilbte Lumpen⸗ geſellſchaft der Leihbibliothek; dazu Haufen von Makulatur, leere und unausgepackte Kiſten und friſchduftende Buͤcher⸗ ſtoͤße durcheinander, und noch weiter im Hintergrunde da blinkt das einzige Fenſter des Raumes, das aus den Zeiten, als der Hof noch nicht ausgebaut war, eine ſchwache Er⸗ innerung an Sonnenſchein und Tageslicht bewahrt hat.
Um dieſes Fenſter nun iſt eine ganz gemuͤtliche Ecke hergerichtet, ein gruͤn uͤberzogenes Sofa, ein Tiſch, darauf ein Petroleumlaͤmpchen von milchweißem Glas, vier Stuͤhle, ein Schrank, eine Kommode, alles nagelneu und blitz⸗ blank — und endlich ein eiſernes Ofchen, das iſt ganz rot vor Anſtrengung, den weiten Raum und all die Herrlich⸗ keiten zu erwaͤrmen.
Da ſitzt nun Peter Fuhks und hat die Beine übereinanders geſchlagen und ſchaukelt unermüdlich den rotgebluͤmten Pans toffel. Er hat die Buchhandlung noch nicht allzu lange, hat noch feine Illuſionen und baut ſich gewiß noch Luftſchloͤſſer aus den Mengen von „Skalpfaͤgern“ und „Robinſons“ und
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den allermodernſten Prachtwerken, die er zu Weihnachten, und aus den Andachts⸗ und Schulbuͤchern, die er zu Oſtern abſetzen will. Aber es gehen ihm auch andere Gedanken durch den Kopf: Wie lange iſt es jetzt her, daß er von „ihm“ nichts gehoͤrt hat!
Die junge Frau ſitzt ihm gegenuͤber und naͤht.
„Männchen,“ ſagt fie, „warum biſt du denn heute fo ſtill?“
„Mir kommt der Ker gar nicht aus den Sinn“, entgegnet er und ſchaukelt weiter.
„Der Ker?— Ach fo, dein Freund in Rußland?“
„Ja,“ ſagte er, „der war ein praͤchtiger Menſch.“
„Erzaͤhl' mir doch, Maͤnnchen!“
Das Maͤnnchen will autworten, da ertoͤnt aus der Kammer nebenan ein leiſes Stimmchen, ein Stimmchen, ſo zart, fo unſchuldig quaͤkend, fo verlaſſen und hilfsbeduͤrftig, fo wunderbar ſuͤß, wie es nur ein Erdenwuͤrmchen von ſechs Wochen zuſtande bringt. |
„Ah — Ah — u — u — 4 ahl“
Beim erſten Laut iſt die Mutter aufgeſprungen und fort.
Fuhks ſchaukelt weiter; dann ſteht er auf, tritt an das magere, langbeinige Stehpult, ſchließt ein Fach auf, ſtoͤbert unter alten Papieren, ſchaut ſich aͤngſtlich um und holt einen alten, geſchloſſenen Brief heraus und zierliche, glaͤnzende Dinge, die man, wenn es nicht gar zu romanhaft waͤre, fuͤr goldene Haarnadeln halten könnte.
Er wendet den geſchloſſenen Brief hin und her. Er iſt ohne Aufſchrift. Er halt ihn gegen das Licht — und darin liegt deutlich das beſchriebene Papier — wenige Zeilen.
Das Wuͤrmchen dort in der Kammer iſt ſtill und die Mutter kommt wieder zuruͤck.
Peter Fuhks ſteckt beides, Brief und Nadeln, etwas haſtig und ungeſchickt in die Weſtentaſche.
„War er nicht ſehr reich?“ fragt Luischen.
„Freilich war er reich und dazu ein guter Junge!“
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„Wie war's mit ihm, ergahl’ doch, Männchen.”
Peter Fuhks will anheben —
„U — aͤh,“ —“ ſchreit das Wuͤrmchen und (hor iſt die Mutter wieder fort.
„Ich weiß gar nicht,“ ſagt ſie wiederkommend, „ob es die Berliner Milch iſt, daß unſer Kind fo unruhig ſchlaͤft. — Aber du wollteſt erzaͤhlen? erzaͤhl“ doch, ich Hör’ dich fo gern erzaͤhlen, mein liebes Maͤnnchen.“
„Ja, wenn ich's wüßte,” ſagt das Männchen, „er iſt fo lange fort und ich habe nichts, gar nichts erfahren. Unſere ganzen Herrlichkeiten ſind ja von ihm“, und er weiſt auf die blank lackierten Stuͤhle, auf die hohen Buͤcherſchraͤnke und auf die Kiſten und Kaſten dahinter im Daͤmmerlicht.
Wer weiß, wo ich jetzt waͤre ohne das, was wir von ihm haben? ich haͤtte mich nicht einrichten koͤnnen, ich haͤtte dich nicht und wir haͤtten unſer Kindchen nicht.“
U — db”, ſchreit das Kindchen.
„Um Gottes willen“, ſagt die junge Mutter und volle Bes ſorgnis malt ſich in ihren Zuͤgen. „Wir werden ausziehen muͤſſen, weil das Kind fo ſehr ſchreit. Der Hauswirt wird uns kuͤndigen. Wo ſollen wir nur hin? — Ja, mein Puͤpp⸗ chen, ich komme ſchon.“
Und nach einiger Zeit ans der Kammer:
„Ich leg’ mich gleich zu Bett, Männchen! Das Kind hat es ſo kalt, du kommſt doch bald, Maͤnnchen?“
Draußen pocht es ganz vernehmlich am Laden, aber Peter Fuhks hoͤrt es nicht, denn das Schreckbild der Kuͤndigung iſt auch ihm in die Glieder gefahren.
„Ansziehen! — um Gottes willen, wenn wir hier fort⸗ muͤßten — das waͤre ja ſchrecklich. Jetzt, wo ſich endlich ein paar Kunden eingewoͤhnt haben. — Ich glaube, es pocht am Laden. Irgendein Betrunkener. Laß ihn pochen. — Und zu Oſtern wird die hoͤhere Toͤchterſchule auch hierher verlegt — die Oranienſtraße hat fo viel für ſich. — Es iſt
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wirklich menſchenunwuͤrdig, daß unſer ganzes Los von einem Hausherrn abhaͤngt. — Es iſt ganz entſetzlich! — wenn ich noch einmal von vorne anfangen muͤßte — daruͤber gehen wir zugrunde! — — Es hoͤrt nicht auf zu klopfen, ich muß nachſehen.“
Er ſteigt zwiſchen den Kiſten hindurch in das daͤmmerige Verkaufslokal und nimmt ſich unterwegs vor, den naͤcht⸗ lichen Ruheſtoͤrer gehoͤrig, das heißt, ſo gut es der zahme Peter Fuhks kann, anzufahren. Er ſchiebt den Riegel von der Tuͤr zuruͤck, ſchließt auf und oͤffnet vorſichtig.
Da ſteht draußen im Schnee ein Kerl, lang, hager wie er ſelbſt, mit ſtruppigem Bart und Haar, mit großen, glaͤnzen⸗ den Augen im braunen, abgemagerten Geſicht.
„Was ſoll's?“ will Fuhks ausrufen, aber die Worte bleiben ihm in der Kehle ſtecken; er tritt unwillkuͤrlich einen Schritt zuruͤck und ſtarrt den Fremden ſprachlos an —
„Erkennſt du mich nicht?“ fragt der.
„Herr Gott im Himmel!“ ruft Peter Fuhks und . ruͤcklings an den Ladentiſch.
„Ker! Ker! um Gottes willen, wo kommſt du her?“
Erſt als der Fremde eingetreten iſt und die Ladentuͤr ſorg⸗ ſam hinter ſich geſchloſſen hat, ermannt ſich Peter Fuhks und ruft:
„Komm herein, komm herein. Es iſt ja eine ſchreckliche Kaͤlte draußen. — Wart nur, ich will Licht k
„Ich ſehe ſchon.“
„Bitte, geh mir nach, es iſt ſehr dunkel, ſtoß dich nicht.“
Und er fuͤhrt den Gaſt ſorgſam um den Ladentiſch, durch die gruͤne Gardine, zwiſchen den herrlichen Buͤcherſchraͤnken, an den hochaufgeſtapelten Kiſten vorbei, bis zum hellen Fleckchen am Ofen, und ſieht ſich fortwaͤhrend um und wieder⸗ holt immer:
„Stoß dich nicht, Ker — ſtoß dich nicht.“
Sein Gaſt ſtellt ſich ſtumm an den Ofen.
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Peter Fuhks ſteigt unruhig hin und her, radt an den blanken Stuͤhlen, klopft den Freund auf die Schultern und ſcheint ſich gar nicht faſſen zu koͤnnen.
„Ich kann dir gar nichts Gutes ſagen, mein lieber Ker — gar nichts — wir haben verloren. Wir haben unſern Pro⸗ zeß verloren — in beiden Inſtanzen. Der Senat hat die Reviſion zuruͤckgewieſen. — Der Miniſter hat gar nichts ge⸗ tan — er hat gegen uns gehalten — nicht fuͤr uns. Es iſt gar nichts zu machen, mein lieber Ker.“
„Gut, gut.“
„Wie kannſt du das nur ſagen, mein lieber Ker? Es iſt ja die ſcheußlichſte Ungerechtigkeit —“
Nach einer Weile ſpricht Fuhks weiter: „Sztipann Sztipan⸗ nowitſch iſt tot; das weißt du wohl?“
„Ich weiß von nichts.“
„Er iſt ſeit einem Jahre tot, und deine Schweſter Anna Alexandrowna hat wieder geheiratet, einen Generaladju⸗ tanten des Zaren. — Es iſt gar nichts zu machen. —
Jermäk iſt auch tot — gehenkt, weißt du. — Er hat einen Brief an dich geſchrieben — willſt du ihn leſen?
Die deutſche Kindermuhme iſt nicht aufzufinden — ſie wird wohl auch tot ſein — freilich, wenn wir die gefunden hätten. — Unmoͤglich iſt's nicht, daß wir fie noch finden. — Nein, nicht unmoͤglich.
Es iſt wirklich nichts zu machen. Es iſt alles verloren —.“
Ker ſchweigt, und Peter Fuhks ſchweigt auch und ruͤckt leiſe an ſeinem Stuhl. Als er aber einen Blick auf die Jammer⸗ geſtalt ſeines Freundes wirft, der noch immer unbeweglich an der Wand lehnt, durchkaͤltet, abgemagert, mit einge⸗ fallenen Wangen, in Kleidern, das ſich Gott erbarm, ein Bild des Elendes, derſelbe, den er in voller Jugendkraft, im übermaß von Glad und Reichtum gekannt hat, da rade er den Stuhl haſtig beiſeite, tritt eilig ſtolpernd auf ihn zu, legte ihm beide Haͤnde auf die Schultern und ſagt innig:
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„Wein lieber Ker, wir wollen uns durchhelfen, du bleibſt bei uns. Es iſt ja ohnehin alles dein, alle die Herrlichkeiten hier! Kann ich nicht etwas fuͤr dich tun? Willſt du nicht Tee 2“
„Es tft ſehr kalt hier“, ſagt Ker und ſteht dicht am Ofen.
Peter Fuhks ſchuͤttet den ganzen Vorrat Kohlen in den Ofen, vergißt Weib und Kind in der Kammer nebenan, ver⸗ gißt auch den boͤſen Hausherrn und ruͤttelt am Ofenſchieber, daß es durchs ganze Haus droͤhnt.
„Maͤnnchen!“ erſchallt es ganz ſchlaͤfrig durch die ge⸗ ſchloſſene Tür ans der Kammer, „Männchen, was haft du denn heute? Du kommſt ja gar nicht!“
„Luischen!“ ruft Peter Fuhks mit freudiger Stimme und weicht nicht von ſeinem Freund, „Luischen, ſteh ſchnell auf und komm' her. Unſer Ker iff da! Der Ker iſt zu uns ges kommen!“
Ker ſteht mit gekreuzten Armen und ſtarrt vor ſich hin. Peter Fuhks ſitzt wieder auf der Seitenlehne des Sofas und laͤßt den Freund nicht aus den Augen. Der Ofen faucht, als wollte er zerſpringen, und draußen im engen Hof faͤngt ſich der Sturm wie in einer Eſſe und druͤckt gegen das ver⸗ ſchneite Fenſter.
Richtig, es dauert auch gar nicht lange, da wird die Kammer; tuͤr etwas zaghaft geoͤffnet, und Luischen erſcheint im Haͤub⸗ chen und niedlichen Morgenkleid; im Arm, zaͤrtlich an den vollen Buſen der Mutter gedruͤckt, das Kindchen, ganz in weiße Wolle gewickelt, das Muͤtzchen ſchief und mit großen, wachen Augen.
Sie tritt auf Ker zu und ſagt, ein gluͤckliches Lächeln im Geſicht: „Seien Sie uns willkommen!“ und dann mit dem ganzen Stolz einer jungen Mutter: „Und dies hier, das iſt unſer Kindchen!“
Ker gruͤßt ganz ernſthaft, tritt dann etwas vor, ſtreicht mit den braunen, magern Fingern uͤber die weichen, runden
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Waͤngelchen des Kindchens und — wendet ſich ab, bleich wie der Tod.
Peter Fuhks muß das Kind halten. Er ſtellt ſich ſehr un⸗ geſchickt dazu an und geht aͤngſtlich trippelnd und taͤnzelnd auf und ab; aber ſiehe da, das Kind ſchlaͤft ſofort.
Die Mutter hat auf einem kleinen Tiſch in der Ecke die breiten Flammen des Petroleumkochers angezuͤndet, hat das Waſſer zum Tee geſetzt, und es brodelt ſchon ganz behaglich.
„Haſt du nicht Kognak?“ fragt ſie ihren Mann ganz ernſt⸗ haft, „oder Rum?“
„Ich? Rum? Wo ſoll ich Rum haben?“ antwortet Fuhks kleinlaut.
„Nun, das tut nichts“, ſagt Luischen und braut weiter.
Das Kind iſt zu Bett gelegt, Fuhks ſitzt wieder auf der Sofalehne, der Tiſch wird gedeckt und der Tee aufgetragen.
Ker hat endlich ſeinen Hut abgenommen. Der Ofen hat wirklich ſein moͤglichſtes getan. Es iſt ihm auch ums Herz waͤrmer geworden. Er hat den erſten Eindruck verwunden und faͤngt an zu ſprechen. Er erzaͤhlt lebendig und tief erregt, was er gelitten, wie er gefangen war und von aller Verbindung abgeſchnitten — am Ende der Welt, am Amur! Lange Jahre!
Peter Fuhks iſt ganz Auge und Ohr, moͤchte immer eifrig dreinreden und ſchweigt doch ſtill.
Das Kindchen in der Kammer ſchreit mit ſolch wuͤtender Energie, daß die beſorgte Mutter eilig ä nimmt und in der Kammer verſchwindet.
Die beiden Freunde ſind wieder allein.
„Bitte, gib mir den Brief von Jermak“, ſagt Ker. Da lieſt er:
„Ruhm ſei Dir, o Gott! Geliebter Herr Dmitri Alexandrowitſch!
Morgen in der Fruͤh, wenn die liebe Sonne aufgeht, da werde ich gehenkt. Darum haben ſie mir erlaubt, daß ich Dir
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ſchreibe, geliebter Herr Dmitri Alexändrowitſch. Aber fo dumm bin ich nicht, daß ich ihnen den Brief aushaͤndige, ich weiß ſchon meine Wege, wie er an Dich kommen ſoll, wenn Du noch lebſt, Dmitri Alexändrowitſch.
Drumm dumm! Horch einmal, fo haͤmmern fie an dem Galgen auf dem Feſtungshof, als ob ſie mir bange machen wollten.
Sie haben uns alle nach Sankt Petersburg gebracht. Vierzehn Mann.
Alle in Ketten, als ob wir wilde Tiere waͤren. Unſere Weiber ſind mit uns gelaufen; viel Volk war da.
„Was, ihr Verworfenen, ihr habt euern Gutsherrn er; ſchlagen! Euern Wohltaͤter! Ihr Unglaͤubigen! Ihr Heiden! „Was fluchſt du uns, Muͤtterchen! Wir haben es tun muͤſſen.
„Vierundzwanzig Stunden hat er noch gelebt!“
Da ſage ich: „Vierundzwanzig Stunden? Was find wohl vierundzwanzig Stunden? Vierundzwanzig Jahre hat er uns gequaͤlt!
Einer hat gerufen: ‚Recht fo, ſchlagt fie alle tot! Es muß alles anders werden!! Aber die meiſten waren mildtaͤtig und haben uns Geld gegeben, ganze Saͤcke voll Kupfergeld. Die mögen wohl gedacht haben: ‚Das find Gerichtete und in Ketten, Ungluͤckliche find es, aber nicht ſchlechte Menſchen.“
Vor dem Richter, da wurde es mir leid. Da demuͤtigte ich mich und warf mich vor ihm auf die Knie und kuͤßte vor ihm den Boden.
Ich bin ſchuldig, ſagte Ich, ‚ich bin ſchuldig, Herr. Ver⸗ seth’ mir, gnaͤdiger Herr, verzeih“ mir! Wir find allzumal Suͤnder. Wir Menſchen ſind alle Suͤnder und ſollen einander verzeihen.
Sie haben uns eingeſperrt, alle einzeln. Und haben uns hungern und durſten laſſen.
„Wie heißt du?
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„So und fo, Herr.
Wo bit du her?
‚Aus dem Kijewſchen Gouvernement, Herr.‘
„Wie alt bit du?
Und weil er mich ſo dumm durch die Brillen angeſchaut hat, da ſagte ich ihm:
„Alter als du, Herr‘, fagte ich.
Da haͤtteſt Du mal ſehen ſollen, wie der aufgefahren it; als ob er mich freſſen wollte. — Aber ich wußte ſchon, was mir geſchehen würde. —
Ich ſoll die ganze Sache erzaͤhlen.
Gut. — Wer hat auf Erden recht? Gott oder die Men⸗ ſchen? Gott!
Die Menſchen ſind Tiere. Schlimmer wie die Tiere; denn der Hund iſt treu. Bei Gott iſt die Gerechtigkeit, nicht bei den Menſchen.
Er hat uns geſchunden, er beträgt feinen Schwager, unſeren Herrn. Er betruͤgt uns alle, alt und jung, Männer und Weiber. Er iſt ein ungerechter Menſch. Ungerechte Menſchen muß man vertilgen.
Wir wollen ihn in St. Petersburg verklagen“, ſagt einer.
‚Sieh mal her, fag’ ich,, weißt du, was das hier tft?! und zeige ein Scheit Birkenholz.
Ja, ſagt er,, das iſt ein Scheit Holz.
„Gut, fag, ich, „das Scheit Holz iff kluͤger wie du. Die Froͤſche ſollen wohl bei den Enten klagen?
Wir wollen ihn beim Zaren verklagen“, ſagt er.
„Ja, wir wollen ihn beim Zaren verklagen“, ſagen alle.
„Eh! Ihr Milchbaͤrte, Säuglinge ihr! Weiſe mir einer den Weg! Zum Zaren führt keine Bruͤcke!
Sagt da ein anderer: ‚Wir wollen den deutſchen Ver⸗ walter erſchlagen!
„Nein, fage ich,, wir wollen ihn ſelbſt erſchlagen ! Sztipann Sztipannowitſch wollen wir erſchlagen.
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„Ja, ſagen alle, ‚wir wollen ihn erfchlagen !‘
‚Heute iſt er da, wer weiß, wann er wieberfommt.‘
Da bekreuzigten wir uns alle und gingen.
Unterwegs, da ſpielten die Kinder auf der Wieſe. Was fuͤr ein herrliches Wetter! Die Sonne ſcheint einem in die Seele, und die Voͤgel pfeifen.
Da kommt mein juͤngſtes Enkelchen gelaufen, faßt mich am Finger und haͤlt mich feſt.
„Großvater, fagt fie, ‚ich will auch mit.
‚Mein Taͤubchen, fagte ich, piel’ auf der Wieſe, da gibt es Blumen.
Da weinte ſie.
Gut,‘ ſage ich,, komm mit, du ſollſt es mit anfehen‘, und nehme ſie auf den Arm.
Vor dem Schloß, da war es ganz leer, kein herrſchaftlicher Diener hielt uns auf. Alles wie ausgeſtorben, obgleich doch ſonſt Petersburger Schlingel genug da waren. Alles fort, wie die Tauben vor dem Habicht. Sie merkten alle, was da vorging.
Sztipann Sztipannowitſch ſitzt im blauſeidenen Schlafrock vor dem Teetiſch, lieſt Zeitungen und füttert feinen Kanarien⸗ vogel mit Zucker. Alle Fenſter ſind auf, und die Sonne ſcheint herein.
‚Sztipann Sztipannowitſch, ſage ich, „gnaͤdiger Herr! und buͤcke mich. Aber die Kleine auf meinem Arm fuͤrchtet ſich und weint.
„Was willſt du? ſagt Sztipann Sztipannowitſch, ‚geh nur, wie du gekommen biff‘, und zuͤndet ſich fo ein Zigarett⸗ lein an.
‚Sztipann Sztipannowitſch, ſage ich, ‚guädiger Herr! Verzeih“ mir, aber wir find gekommen, dich zu erfchlagen.‘
„Was, ſagt er, ‚du bit wohl beſoffen? Hinaus mit dir!
‚Mein,‘ ſage ich, ‚das tft wahrhaftig Wahrheit!“
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He! Nikita! ruft Sztipann Sztipannowitſch feinen Diener, aber der war gleich fort, ſo wie er uns kommen ſah.
„Hinaus mit dir, du verſoffener Teufel! Fort! Hund, du verruͤckter! Fort! — Nikita!“ und wurde ganz gran vor Ärger.
Aber es regte ſich gar nichts.
„Jungens, fagte ich zur Tar hinaus, kommt doch herein und nehmt mir das Kind ab, es weint.
Da wurde er ganz wachsbleich und wollte hinaus, und ſtieß den Tiſch um, aber ich packte ihn.
Zu Hilfe! ſchrie er. „Nikita!
‚Spaß,‘ ſagte ich,, was ſchreiſt du? Es hilft dir doch nichts. Und wenn du der erſte nach dem Zaren waͤrſt. Und hielt ihn feſt und ließ ihn nicht los.
Ei, da wurde er geſpraͤchig, der ſtolze Sztipann Sztipanno⸗ witſch.
Jermak, fagte er zu mir, ‚lieber Jermak, Batjuſchka, Vaͤterchen, was willſt du? Ich hab“ dir ja gar nichts zu⸗ leide getan!
„Mir nicht, aber du Haft die andern geſchunden. ;
„Jermak, Vaͤterchen! Tue es nicht; warum tuft du dies “
‚Das tun wir für unſere Kinder, nicht für ung.‘
‚Bäterchen,‘ fagt er, laß mich einen Augenblick los. 300 gebe dir, was du willſt — mein ganzes Vermoͤgen — mein ganzes Vermögen!‘
Es iſt nicht dein, fage ich, ‚Du haft alles geſtohlen, du Rauber! Du haft es Omitri Alexändrowitſch geſtohlen!!
„Zu Hilfe! Zu Hilfe!
„Wohin Haft du deinen Schwager fortgeſchafft? — Omitri Alexändrowitſch? — Unſern Gutsherrn, unſern wahren Herrn! Wohin? Geſteh es, du Mörder!‘
„Zu Hilfe! Zu Hilfe!“
„Wohin? geſteh's! Nach Sibirien? du Auswurf? Was? Zum Amur? — Gemordet haſt du ihn, du Antichriſt! Unſern Liebling!
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‚Bäterchen Jermäk. .. wenn du mid... thtef—... wird es dir das Leben fofter !
„Das weiß ich. — Das weiß ih —
„Mein Gott! Mein Gott! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Ni⸗ kita.
Da waren alle zuſammengelaufen. Erſt Anna Alexän⸗ drowna, deine Schweſter. Aber die fiel gleich um wie tot. Dann, Gott weiß wer: der franzoͤſiſche Haushofmeiſter im Frack, die Gouvernante und die Kinder, und die Amme mit dem Juͤngſten auf dem Arm, die faͤhrt mir gleich in den Bart und ſchreit: Raͤuber! und der Junge ſchlaͤgt mit beiden Faͤuſten auf mich ein. Alle weinen und ſchreien, und der Kanarienvogel ſchmettert, daß einem ganz dumpf im Kopf wird.
„Kinder, rief ich, haltet mir doch einmal die Amme vom Leib und nehmt den Jungen, daß ich ihm nicht weh tu“!
Sztipann Sztipannowitſch ſchlaͤgt um ſich wie ein Be⸗ ſeſſener, ich aber halte ihn mit beiden Faͤuſten feſt. Das Beil, das ſcharfgeſchliffene, ſteckte mir hinten im Guͤrtel. „Miſcha, rufe ich,, Taͤubchen, gib mir mal das Beil aus dem Gürtel, das ſcharfgeſchliffene. .
Da quollen ihm die Augen aus dem Kopf vor Angſt.
Zu was noch zaudern! Er ſagt uns doch nicht, wohin er Omitri Alexändrowitſch geſchafft hat...
Tſchuk! — Da ſaß ihm das Beil im Schaͤdel feſt, wie in einer harzigen Wurzel, und das rote Blut lief ihm ein wenig uͤber den ſeidenen Schlafrock.
„Och, och, och‘, ſtoͤhnte er, waͤlzte ſich und legte fic hin, um zu ſterben, nicht anders als ein geſchlagener Stier.
Ich aber wiſchte mich ab, bekreuzigte mich und ſagte zu Anna Alexändrowna, deiner Schweſter:
„Anna Alexandrowna, ſagte ich,, erziehe deine Kinder gut.
Dann zogen wir alle miteinander barhaupt in den Tempel, Gott zu loben, und haben dem Bilde der Gottesgebaͤrerin vierzehn Wachslichter geweiht. Es war Sonntag Morgen.
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So hat ſich das alles zugetragen.
„Nihiliſt“, ſagt der Richter zu feinem Spießgeſellen.
Nihiliſt? Ich bin noch einer von den Alten, ich habe die Leibeigenſchaft gekoſtet, doch da war es beſſer in Rußland.
‚Sr hat eingeſtanden“, ſagte der Richter. „Das erzaͤhlſt du ſo offen, du heilloſer Schurke?
Ich hab' es offen getan und fag’ es offen! Nicht zu dir, du Franzoſe! Was ſtierſt du mich an, du mit dem fran⸗ zoͤſiſchen Bart? Augen hat dir Gott gegeben, du aber traͤgſt Brillen! Jetzt rede ich! Du Wolf! Wenn ich gehenkt bin, dann magſt du reden und ſchreiben, was du willſt. Schweig! Einen Edelmann nennſt du dich? Da haſt du recht! Denn du biſt ein Schurke aus ſchurkiſchem Geſchlecht. Du Sohn eines edlen Schurken. Du Enkel eines Schurken, du Schurke ſelbſt! Und wirſt Schurken zeugen wie Sand am Meer. Immerzu, je mehr, deſto beſſer! Alle betreßt und mit Orden auf der Bruſt. Morgen wird dir der Zar einen Orden um den Hals tun und mir einen Strick. Das kommt daher, daß er nicht weiß, wie treu ich ihm gedient habe und wie arg du ihn betruͤgſt.
Das alles habe ich geſagt und noch mehr, aber es hat nichts geholfen.
Ich habe lange genug gelebt, ich weiß, wie es auf der Welt iſt. Alles Trug. Der Heiland rette uns!
So nehme ich von Dir Abſchied, geliebter Herr Dmitri Alexandrowitſch. Lieber ſterben, als auf dieſer Welt, mit den Menſchen, wie ſie ſind, weiterleben. Jeder ſtiehlt, wo er kann. Und je ſchlimmer einer iſt, deſto mehr beruft er ſich auf Gott und auf das Geſetz. Und je beſſer einer iſt, deſto eher wird er geknechtet und geſchunden, und es iſt ein Wunder — wenn ein Schaf unter dieſer Herde von Wölfen noch nicht zer⸗ riſſen iſt. Das Geſetz iſt nur, um die Schlechten zu ſchuͤtzen. Das Geſetz iſt ihr Ruͤckhalt, da ſtecken ſie wie in einer Hoͤhle und fallen aus, uns zu berauben.
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Das iſt geſetzlich, ſchreien fle, wenn fle uns ſchinden.
Was hat Sztipann Sztipannowitſch getan? Alles ge⸗ ſetzlich!
Aber jetzt habe ich vergeſſen, daß ich morgen in aller Fruͤhe, mit den erſten Strahlen der Sonne, die unſer aller Muͤtter⸗ chen iſt, hier auf dem Hofe der St. Pauls⸗Feſtung in St. Petersburg gehenkt werde. Nun, vielleicht begnadigen ſie mich noch unter dem Galgen.
Leb“ wohl, geliebter Herr Dmitri Alexandrowitſch. Ich habe Dir Dein Gut nicht retten koͤnnen. Wer Dich ſchuͤtzen kann, iſt Gott allein, denn der Menſch vermag gar nichts.
Jermak Dein unterwärfiger Diener.“
Ker tritt an das verſchneite Fenſter und druͤckt die heiße Stirn an die Scheibe.
Peter Fuhks iſt ganz Gefuͤhl und Hingebung, doch ſo tief er auch empfindet, weiß er doch nicht beſſer zu troͤſten als andere Leute auch. Er legt dem Freunde die Hand auf die Schulter und ſagt nur:
„Mein lieber Ker.“
Dieſer ſpricht anſcheinend ruhig:
„Unterwegs, auf der See, — ich hatte mich hierher als Matroſe verdungen, — verloren wir einen Mann. Er war uͤber Bord gefallen und wurde erſt am andern Morgen ver⸗ mißt. Bei Nacht uͤber Bord! — Du tauchſt wieder auf. — Holla! — jeder Hilferuf verhallt. Blitzſchnell wird es dir klar, wie es um dich ſteht — daß die Kraͤfte nicht erlahmen, ehe fie das Schiff beilegen — ehe fie das Boot ausſetzen! — aber nichts an Bord deutet darauf. — Der dunkle Koloß ſetzt unbeirrt ſeinen Weg fort. — Es hat dich niemand be⸗ merkt. — Niemand vermißt dich! Schon verdecken die naͤchſten Wogenkaͤmme das Schiff. — Was hilft alle Kraft? — Qual ohne Hoffnung! Ein Kampf ohne Sieg! — Noch wenige Minuten und dein Los heißt — untergehen.“
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„Ach,“ denkt Fuhks, „wo iſt denn unſer Ker hin, unfer energiſcher, luſtiger Ker?“ Das denkt er und ſagt es un⸗ willkuͤrlich halblaut.
Langſam wendet ſich ſein Freund vom Fenſter und reicht ihm die Hand.
„Wein lieber Ker, weißt du den Morgen — als du von Wiborg abreiſteſt — da auf der Schiffstreppe, Ker — es regnete — großer Gott — damals!
Ker, das war ein Morgen!
Und kein Wort ſeitdem wieder!“
„Du weißt es jetzt, ich war gefangen — zuerſt in hoͤf⸗ lichſter Form, verbindlich, unter allerlei Vorwaͤnden — zu⸗ letzt brutal. Ich verſuchte jedes Mittel. Der Kommandant machte ſich den Spaß und ließ mich wegen Fluchtverſuchs und Bedrohung zum Tode verurteilen und fuͤhrte die Ko⸗ moͤdie beinahe durch. Dem Generalgouverneur wurde ich in Ketten uͤbergeben. — Ich weiß nicht, warum ſie mich nicht kurzerhand umgebracht haben, Gelegenheit dazu war genug da: ich bin viermal wie ein Räuber ausgebrochen. Es gelang mir, wie du ſiehſt, gelang mir doch. Ich habe erſt unterwegs ſchreiben koͤnnen, habe auch geſchrieben, an dich — nach Wiborg. — Daß du hier in Berlin warſt, habe ich wie durch ein Wunder erfahren; ich bin vorgeſtern in Trieſt gelandet. Ich habe noch eins zu tun. Ich muß Gewißheit haben, ich will weiter.“ :
Er wendet fih zum Gehen — und zoͤgert.
„Wie ſpaͤt iſt es?“
Er hat noch eine Frage auf dem Herzen, aber er wagt ſie nicht uͤber die Lippen zu bringen, er fuͤrchtet die Beſtaͤtigung alles deſſen, was ſeit Jahren ſein Herz und Hirn zermartert.
„Wie ſpaͤt iſt es? — Bitte ſieh nach.“ Peter Fuhks fährt heftig in die Taſche und zieht die Uhr hervor — und mit der Uhr den geſchloſſenen Brief und die goldenen Nadeln. Die fallen leiſe klirrend auf den Boden zu den Fuͤßen ſeines
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Freundes. — Der ſtarrt hin, als könne er es nicht fallen, und der letzte Tropfen Bluts weicht ihm aus dem bleichen Geſicht.
Fuhks it Aber und über erroͤtet, bade ſich eilig und hebt Brief und Nadeln auf.
„Ich habe —“ ſtotterte er, „den Brief nicht abgegeben, ich — ſie — ich konnte nicht —“
„Lebt fle noch?“ fragt Ker, und jedes Wort ringt ſich ihm aus der Seele.
„Gewiß! ja! — das heißt, fo viel ich weiß — ich hatte es doch erfahren. Aber ſie ſind von Jena fort — der Vater it geſtorben — nach Italien glaub“ ich. — In Jena werden fie es genauer wiſſen. — Ich habe nichts mehr gehört —“
„Gut, ſo geh“ ich hin — leb“ wohl.“
Ker rafft ſein Tuch auf — aber der gute Fuhks, der ſo vieles verſchluckt hat, was er noch ſeinem Freunde an Troſt und Hoffnung zu ſagen haͤtte, kann es gar nicht glauben, daß er geht.
„Du willſt doch nicht fort? Aber fo kannt du ja gar nicht. — Du mußt Geld mitnehmen — ich hab’ ſchon welches — lieber Ker, es gehoͤrt ja dir. —“
Ker ſchaut ſeinem Freund in die Augen, ſchuͤttelt ihm die Hand.
„Ich danke dir“, ſagt er und geht.
„Ker!“ ruft Fuhks ganz erſtarrt. „Nimm doch wenigſtens deinen Mantel, deinen eigenen Mantel, den du mir in Wiborg ließeſt.“ Er wartet gar nicht Kers Antwort ab, hat den Man⸗ tel eilig geholt und ſeinem Freund um die Schultern gelegt.
„Willſt du denn wirklich fort?“ — Da faͤhrt es ihm durch den Kopf:
„Ker!“ ruft er, „du kommſt doch wieder, Ker?“
Ker nickte kaum merklich und tritt hinaus.
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Sechſtes Kapitel
erka, das Thuͤringer Staͤdtchen, liegt ganz in Schnee ge⸗ bettet. Es iff Weihnachtsheiligerabend, und auf der
Straße huſchen die Leute eilig hin und her. Alles duftet nach Weihnachtsſtollen. Hoͤkerweiber mit Pfefferkuchen, Apfeln und Nuͤſſen ſitzen in ihren Buden und halten die Haͤnde aber ihre Kohlenpfannen. Sie koͤnnen ſich das ſchon goͤnnen, denn die Kaͤufer ſind ſeltener geworden; die Hausfrauen haben ihren Bedarf eingeheimſt, und in den Haͤuſern da iſt jetzt ein Trei⸗ ben, ein Duften nach Tannenzweigen und Backwerk, ein Huſchen und Eilen, ein Braten und Brauen, ein Schleppen und Fluͤſtern, und das aͤrmſte Weib wirtſchaftet heute aus dem Vollen.
Bei dem Kraͤmer am Markt iſt gewaltig aufgeraͤumt, der hat kaum zwei, drei Paͤckchen Wachslichter fuͤr naͤchſtes Jahr, und die letzten Pfefferkuchenherzen, mit Verſen uͤberklebt, haben ihm ein paar Maͤgde davongetragen, und Zitronat und Roſinen und Mandeln und Sirup hat er genau ſo viel ver⸗ kauft wie alle Jahre, eher noch etwas mehr. Wohin man ſieht, ſind die Geſichter zufrieden und lebendiger als ſonſt. Die Leute auf der Straße rufen einander im Voruͤberlaufen zu, reden einander an mehr als an gewoͤhnlichen Tagen. Aus dem Haus des Pfarrers und des Doktors ſind Kinder von der Armenleutebeſcherung ſchon zuruͤckgekommen mit Paketen, ans denen wollene Socken, Muͤtzen, Schuͤrzen, Roͤck⸗ chen, ein Hampelmann, ein hoͤlzernes Pferdchen heraus⸗ ſehen und derlei Dinge. |
Vom Turm wird ein Choral geblafen. Und eben iſt der Zug auf der Straßenbahn von Weimar angekommen. Der Poſtkarren iſt dazu hinausgefahren und noch zwei Interims⸗ karren, denn jetzt gibt's noch Pakete und weiß Gott was, die ſchwere Menge, — und Botenweiber und Botenmaͤnner warten auf der Poſt, um allerlei noch in Empfang zu nehmen und heimzutragen.
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Mit dem Zug iſt ein Fremder gekommen, ein junger, hagerer Menſch.
Er kennt ſich nicht aus in dem Staͤdtchen, blickt um ſich und hat etwas Sonderbares, Auffaͤlliges an ſich, daß die Leute ihm nachſehen.
Ein Fremder am heiligen Abend, um dieſe Stunde, der in den Straßen umherſucht, das iſt auffaͤllig.
Er hat auch ſo etwas Haſtiges, Erregtes. Betrunken meinen die Leute — ſie kommen in der Eile nicht gleich auf etwas anderes.
Er fragt einen Buben, der geht ein Stuͤck mit ihm und weiſt ihm den Weg nach Blankenhain zu, den Fußweg.
Da wird zum zweiten Male vom Turm geblaſen, und die Toͤne ziehen ſo rein uͤber die dichtbeſchneiten Daͤcher hin und dringen in die Herzen ein und ſtimmen ſie weicher; und die ſchon weich und bang geſtimmten Herzen, die laſſen dieſe Toͤne hinſchmelzen.
Auf dem Poſtamt fragt er im Voruͤbergehen nach einem Brief. — Welches Treiben in dem Poſtamt! — Ja! zwei Briefe, zwei Briefe mit derſelben Handſchrift.
Und draußen beim letzten Tagesſchimmer, im Vorwärts; gehen, da lieſt er dieſe Briefe:
„Gott ſei gedankt, mein lieber Ker, daß Du mir von Jena aus geſchrieben haſt! — Was ich Dir ſchreiben ſoll, das weiß ich gar nicht — mir iſt das Herz fo uͤbervoll. — Ich hab“ ja von allem nichts geahnt und gewußt! — Mein lieber Ker. — Mir will's nicht aus dem Kopf! Ich kann mir das gar nicht vorſtellen. — Und deine Schweſter Jekatirina Alexandrowna iſt auch geſtorben. Ich kannte ſie nicht. Dir war ſie aber lieb. — Alles was Dich betrifft, fuͤhle ich mit Dir, und daß du nun durch den Tod Deiner armen Schweſter doch aus der Not geriſſen biſt, damit iſt mir ein Stein vom Herzen gefallen, und wer weiß, mein lieber Ker, unſere boͤſe Geſchichte geht doch auch
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vielleicht noch beſſer aus, als ich dachte. Ich ſagte Dir ja, als Du bei mir warſt, daß ich einmal wieder der letzten Zeugin, Deiner Kindermuhme, der Deutſchen, auf der Spur waͤre, und nun iſt es diesmal doch die rechte geweſen — und jetzt ließ ſich etwas machen! Das werden wir mit⸗ einander bereden. Nur Mut!
Leb wohl, mein lieber Ker. Dein alter treuer Fuhks.“
Den anderen Brief oͤffnete er im eiligen Gehen durch den dicken Schnee. Da ſtand nur:
„Und wahrhaftig, mein lieber Ker — fie iſt bei Berka, auf dem Reißberg. Ich hab's erfahren. Du weißt es ja nun ſchon, aber ich mußte es Dir doch ſchreiben.
Dein alter, treuer Fuhks.“
Und ſo geht der einſame Wanderer weiter, haͤlt die Briefe noch lange in der Hand, die Daͤmmerung ſinkt mehr und mehr herab, und der Schnee leuchtet fahl.
Und wie er geht, unaufhaltſam, wie befluͤgelt! Das iſt der Bettler nicht mehr, der todmuͤde und abgequaͤlt abends ſpaͤt bei feinem Freund Fuhks an die Ladentuͤr geklopft hatte.
Er iſt noch ſo hager und abgearbeitet wie in Berlin, aber umgewandelt, voller Hoffnung und Kraft, das Herz ſchlaͤgt ihm, der Atem verſagt ihm.
Vor ſich ſieht er das Bild jenes weichen, hellen Geſchoͤpfes, wie ſie ſo ſeelenruhig, als er ſie das erſtemal ſah, vor ihm im Boot geſeſſen; ſieht, wie der Wind in den blonden Locken ſpielte, wie er ſie in ſeinen Armen durch das flache Waſſer traͤgt.
Ein Schauer durchrinnt ihn. Eine dunkle Laſt waͤlzt ſich auf ihn! Alle Qual, die uͤber das ruhige Maͤdchen gekom⸗ men iſt.
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Und er ſchreitet durch die Ode der winterlichen Landſchaft, wie durch die Ode, die jenes Geſchoͤpf uͤber ſich hat ergehen laſſen muͤſſen.
Ja, er ſollte ſie in tiefſter Verlaſſenheit finden, alle Wege, die zu ihr führen, verſchneit! — Alle Wege unbetreten!
Wie ihm das ans Herz greift!
Fern von allen Menſchen, ausgeſtoßen, verachtet, von allen verleugnet, da wird er fie finden, fie und das Kind.
Welch ruͤhrender Heldenmut gegen eine Welt voll Haß und Verachtung!
Wie koͤnnte er je ihr dieſe Jahre wieder gut machen? Auch mit voller Kraft nicht — auch mit aller Liebe nicht!
Ir dem einſamen Reisberghaus, da ſaßen ſie alle im erſten Daͤmmerlicht beieinander, Rotplaͤtz und die Kinder und die Birnſtingel, und Peregrin, waͤhrend ſein Mamachen oben in der Stube alles herrichtete und das Baͤumchen ſchmuͤckte. Und als das Baͤumchen im Lichterglanz ſtrahlte, waren fie alle miteinander hereingekommen, und Rotplaͤtzens Kiuder hatten mit Peregrin geſungen.
Kriſtine war im Zimmer hin und her gegangen nach dieſem und jenem und hatte Peregrin und die Kinder unter den Weihnachtsbaum geführt — und der zerkratzte, feuer⸗ ſpeiende Berg, der die ganze Wand, vor welcher der Chriſt⸗ baum ſtand, einnahm, war ganz erſchreckend hell erleuchtet, und die Jaͤgersleute mit ihren Muffen und ihren zernagelten Geſichtern und den Naͤgeln in Bruſt und Magen und den abgeſchabten Naſen, die ſtanden und ſchauten ernſt zu.
Kriſtine und Peregrin, die knieten miteinander vor einem hoͤlzernen Pferdchen — und Rotplaͤtz tippte Peregrin auf die Schulter, es war ganz Rotplaͤtzens Geſchmack; und feine beiden Juͤngelchen, die hatten Fauſthandſchuhe und Woll⸗ muͤtzen von Kriſtine bekommen; das Heine Madden, das ſtand ganz beſchaͤmt mit einer Schuͤrze und einem neuen
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Kochtopf. Und Tabak gab's für Rotplaͤtz, und Kaffee für Frau Birnſtingel, und Apfel und Nuͤſſe und Pfefferkuchen.
Und die Kinder fingen, nachdem das erſte heilige Staunen uͤber den leuchtenden Chriſtbaum uͤberwunden war, an luſtig zu werden und naſchten von ihren Pfefferkuchen und ſchauten alle miteinander die Bilderbogen an. Und in der Kuͤche wurde dann Tee getrunken und Frau Birnſtingels Weihnachtsſtollen dazu gegeſſen.
Dann gingen Rotplaͤtz und die Kinder wieder hinunter und Frau Birnſtingel mit ihnen. — Kriſtine war mit ihrem Kind allein. — Peregrin hockte neben ſeinem kleinen Pferd und ſchwatzte vor ſich hin, und Kriſtine knoͤpfte ihm ſeine Kleidchen auf, um ihn zu Bette zu legen; aber er wollte nicht — und ſchlang die Armchen um ſeine Mama und wollte noch ein bißchen auf bleiben. Am Chriſtbaum entdeckte er, daß ein Licht noch unverſehrt war, und dann ſaß er ganz ſtill neben dem Pferd, im Hemdchen, in die Bettdecke einge⸗ wickelt, und ſah dem Licht zu, wie es einſam am Baume niederbrannte. Kriſtine ſtand am Fenſter wie alle Jahre und ſchaute den langen, verſchneiten Weg hinab — wie alle Jahre
Da kamen die Schatten der Erinnerung uͤber ſie.
Der einſame verſchneite Weg, der vom Walde herfuͤhrte — das war ihr vergebliches Hoffen — die ganze Hoffnungs⸗ loſigkeit!
Solang aber Peregrin wachte, wollte ſie nicht weinen. Er ſaß ſo ruhig — und wurde nun muͤde.
Draußen die fahle Blaͤſſe uͤber dem Schnee. Die Sterne funkeln, und der Wald ſteht ſo ſtarr und ſchwarz.
Kein Laut, der bis zu dem einſamen Haus gedrungen waͤre.
Weit — weit — weit über dem Wald und Aber dem Schnee tiefe Stille.
Kriſtine blickt wieder den Weg entlang.
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Und wie fle fo verloren hinſchaut, da war's, als wenn ein Schatten vom Wald ſich abtrennte und über den Weg glitt.
Ein Schatten! — und wie fie mehr und mehr (haut — eine Geſtalt! — Wahrhaftig eine Geſtalt — Heute? — Um dieſe Stunde? Auf dieſem Weg eine Geftalt?
Ein Grauen durchfaͤhrt ſie wie Geſpenſterfurcht.
Sie ſchließt die Augen.
Sie oͤffnet fie wieder — —
Ja, eine Geſtalt — und naͤher und naͤher, unaufhaltſam naͤher.
Ein Mantel fliegt im Wind um die Geſtalt.
Das Grauen verlaͤßt ſie nicht — packt ſie maͤchtiger.
Sie ſtuͤrzt zitternd, bebend vom Fenſter zu ihrem Kind, nimmt es auf, — hält es im Arm — totenbleich.
So ſieht ſie, und Peregrin legt ſich ſchlaͤfrig an ihre Schul⸗ ter; — und fo bleibt fie wie feſtgebannt mit großen, ſtarren Augen.
Jetzt ſteht es vor ihrer Tuͤr.
Hat ſie denn die Schritte uͤberhoͤrt? — Das Grauen überflutet fie... raubt ihr den Atem.
Und als die Tuͤr ſich auftut, da bleibt ſie unbeweglich, ſtarrt und ſieht auf die Erfuͤllung ihrer langen, bangen Hoff⸗ nung mit großen, unglaͤubigen Augen.
Sie ſteht vor Peregrins Bett und legt ihn fanft hinein. Und dann ſinken ſich Zwei in die Arme — ganz lautlos — und ohne ein Wort gefunden zu haben, zieht ſie ihn zu dem Bett ihres Kindes, — beugt ſich daruͤber und ſagt mit heißen, ſeligen Traͤnen:
„Er heißt Peregrin.“
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An hang
Kers Judenlied Das Hohelied Sulamith
Von Omar al Raſchid Bey
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erfer Geſan g
Sulamit hs Sehn ſucht
„Wer iſt ſie, die hervorſchimmert Unter den Roſenbuͤſchen, Schön wie die Morgenrdte Und wie das erſte Licht des Tages Unter den Palmen im Tal?“
*
Sulamith: In den Hain hinab will ich gehn, Zu ſchaun nach den Blumen im Tal, Schaun, ob der Olbaum ſchon ſproſſet, Ob die Knoſpen ſich oͤffnen, Und ob die Granate ſchon bluͤht.
Einer iſt's, den meine Seele liebt Wer ſagte mir doch, wo du weileſt, Und wohin du deine Herden getrieben, Wo du zu Mittage ruhſt — Daß ich hinſchauen duͤrfte Aber die Berge, Daß ich dich ſuchte, daß ich dich faͤnde.
Dunkel bin ich, ſonnengebraͤunt, Wie der Kedarener Hirtenzelte, Wie die Eſtrichdecken Salomos;
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Dunkelgebraͤunt, aber ſchoͤnn Euch vertrau“ ich's, ihr Roſen und Lilien, Ihr Toͤchter unſeres Tals!
O wer es mir doch gewaͤhren koͤnnte, Daß du mein Bruder feift, Genaͤhrt an derſelben Mutterbruſt; Daß ich dich kuͤſſen buͤrfte, Traͤf ich dich draußen, Und niemand hoͤhnte mich darum. Dann braͤchte ich dich, ich fuͤhrte dich In meiner Mutter Haus. Dort füllen Edelfruͤchte unſere Hürden, Alte und neue, Geliebter, fuͤr dich. Du lehrteſt mich, ich labte dich Mit dem Saft der Granate Und mit wuͤrzigem Wein.
*
Ich beſchwoͤr euch, ihr Toͤchter Jeruſalems, Bei den Gazellen und den Hindinnen unſerer Fluren, Wenn ihr ihn findet, den Inniggeliebten, Sagt ihm, daß ich krank bin vor Liebe!
Zweiter Gefang
Sulamit hs Funniggeltebter
„Wer tft es, der herabſteigt von den Höhen Und eilt uͤber die zerkluͤfteten Berge, Der Gazelle gleich ſpringend, Und wie ein Hirſch ſetzt Aber Felſenkluͤfte?“
*
Sula mith:
Siehe, es iſt der Geliebte! Ach, unter Tauſenden einer! Wie die Zypreſſe ſein Wuchs, Dunkelgelockt ſein Haupt, Und ſeiner Augen Blicke voll Feuer. Herrlich iſt alles an ihm! Bildnerwerk von reinem Golde! Das iſt mein Lieber! Das iſt mein Teurer!
Erwache, o Nord, erhebe dich, Suͤd! Auf, durchwehet meinen Garten, Daß mit Wohlgeruͤchen ſich fuͤlle Und daß Balſam atme die Luft! Daß den Geliebten umfließe Ein Meer von wuͤrzigem Dufte!
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Das iſt mein Lieber,
Das iſt mein Teurer!
Schon naht er meinem Zelte Und ſteht an meiner Huͤtten, Er beginnt und redet zu mir!
Der Hirt:
Auf, du meine Liebe, du meine Schoͤne, und komm! Sieh, der Winter iſt voruͤber, Hingegangen iſt der Regen, iſt dahin. Blumen ſproſſen ans der Erde,
Volle Bluͤtenknoſpen brechen, Und es naht die Zeit der Lieder. Schon erweicht die Feige ihre Fruͤchte, Und die Reben hauchen Bluͤtenduͤfte, Turteltauben girren auf den Feldern. Auf, du meine Liebe, du meine Schoͤne, und komm! Sieh, es naht die Zeit der Liebe: Laß dein Antlitz mich ſchauen, Laß deine Stimme mich hoͤren, Suͤß iſt dein Laut und koͤſtlich deine Wohlgeſtalt!
Sulamith:
Mein biſt du, Geliebter, biſt mein! Wie die Zypreſſe ragt uͤber dem Gipfel, Alſo ragſt du uͤber die Bruͤder,
Und alles iſt herrlich an dir — Ich ſelbſt bin nur eine Lilie Zu deinen Fuͤßen im Tal.
Der Hirt: Wie unter Dornenbuͤſchen die Roſe, So meine Teure unter den Mädchen!
Du haſt, o Traute, mich ins Herz getroffen Mit den Blicken deiner Taubenaugen,
Mit den dunkeln Purpurlocken.
Wie entzuͤckt, o Braut, mich deine Liebe, Sie erhebt mich zu Jehovas Eden!
Deine Augen — Taubenaugen
Unter dichtem Lockengeringel;
Deine Lippen wie Korallenbecher,
Der von Honig reichlich uͤberfließt.
Deine Wangen ſind ein Paradies,
Wo Granaten unter Edelfruͤchten,
Wo bei Aloen die Myrrhe bluͤht,
Bei der Myrrhe jeder Hochgeruch.
Und die Gewande umwehen dich,
Und die Locken umfließen dich,
Wie die Baͤche klare Quellen
Hoch vom Libanon ergießen.
Wahrlich ſchoͤn biſt du wie die Roſe,
Und alles iſt Reiz an dir!
Auf, du meine Liebe, du meine Schoͤne, und komm! Dort ſind Zedern unſeres Hauſes Decke, Und die Saͤulen unſerer Huͤtte ſind Zypreſſen, Duftige Blumen unſer Lager
Sula mith: Zur Abendſtunde, —
Wenn der Tag ſich neigt
Und die Schatten herab ſich ſenken — Dort, wo die Blumen ſproſſen im Tal, Im Lenzesſchmuck die Granate prangt, Wo Myrrhenbuͤſche Düfte ergießen Leg“ deine Linke mir unter das Haupt Und deine Rechte umfaſſe mich.
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Der Hirt: Zu mir, zu mir! du meine Schweſter, du meine Braut!
Sula mith: Auf, mein Geliebter, und flieh! Er ertoͤnt in der Ferne! Eine Schar zieht heran! Auf, Geliebter, und fiteh! Flieh wie ein Hirſch uͤber die Berge Und wie die Gazelle im duftenden Tal!
*
Ich beſchwoͤre euch, ihr Toͤchter Jeruſalems,
Bei den Blumen und den Hindinnen unſerer Fluren, Wenn ihr ihn ſchaut — den Inniggeliebten,
Sagt ihm, wie gluͤcllch ich (et.
Dritter Geſang
Sul gamit hs Leid
„Was iſt es, das herauf von der Wuͤſte ſteigt Wie eine Saͤule feurigen Rauchs, Und waͤlzt ſich heran wie Staub Und wie eine Wolke uͤber die Ebene, Myrrhe wehend und Oſterduft?“
Die Leibwache Salo mos: „Siehe, es iſt Salomos Wagen, Ganz umringt von ſeinen Helden, Helden aus Iſrael! Jeder zwiefach bewehrt, An der Huͤfte das Schwert, Daß er ſteh“ und fechte Gegen das Grauen der Naͤchte.
Sulamith im Wagen Salomos: Weh mir! Geliebter! wo weilſt du? Zeuch mich dir nach! Daß wir zuſammen enteilen!
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Die Leibwache Salomos: Helden aus Iſrael! Jeder bewehrt, An der Huͤfte das Schwert, Den König zu ſchuͤtzen, Den König von Iſrael! Ihn! und feines Lagers Genoſſin! Preiſe dich gluͤcklich, Tochter aus Sulem!
Sula mith, im Wagen Salomos: Unſelige ich!
Volk:
Tretet heraus, ihr Toͤchter von Zion, Salomos Wagen zu ſchauen! Aus Libanons Zedern iſt er gezimmert, Silbern ſind ſeine Saͤulen, Golden hanget die Decke daruͤber Und die Polſter von dunkelem Purpur. Schaut die Schönfte der Schönen, - Ihm zur Seite die Sulamith! Zur Seite des Königs von Jrael!
Salomos Gemahlinnen:
Siehe, lieben muß man dich, Salomo, Und die Jungfrauen begehren dich. Süßer als Wein find deine Liebkoſungen, Und deine Kaffe koͤſtlicher als Balſam. Wohlgeruͤche ſtroͤmen von dir, o Koͤnig, Und ein Duft iſt deines Namens Hauch. Wahrlich unſere Freude gilt dir, o Herrſcher, Dir allein unſer Frohlocken!
Sulamith, im Palajte Salomos ruhend:
Ich ſchlafe — doch wachet mein Herz. Wie die Gazelle bangt an des Amanas Gipfel, Auf des Senirs und des Hermon Spitzen, Der Loͤwen Gebiet und des Tigers Felſenlager — Alſo bangt meine Seele und ruhet nicht. Es naht mir im Schlafe die Stimme des Lieben: „Tue auf, meine Liebe, meine Taube, Meine Schweſter, o du voll Unſchuld, tu“ auf. Sieh, es lagern tiefe Abendſchatten, Und die Nacht hat ſich herabgeſenkt. Feucht vom Taue iſt mein Haupt Und meine Locken vom naͤchtlichen Dufte.“ — Mein Herz erbebte bei ſeinem Nahen: — „Abgetan hab' ich die Gewande, Wie? ſoll ich ſie wieder umtun? Gebadet habe ich die Fuͤße, Wie? ſoll ich in den Staub wieder treten?“ Da erduftete Myrrhe und Aloe — Da ſtand ich auf, dem Geliebten zu oͤffnen Und da ich aufgetan hatte meinem Freunde, War er fort und hingegangen. — Es ſchwanden die Sinne mir, Und meine Seele entwich ihm nach. Ich ſuchte und fand ihn nicht. Ich rief, und er antwortete nicht. Auf muß ich, die Stadt durcheilen Durch nachtdunkele Gaſſen und Straßen, Suchen ihn, den meine Seele liebt. Ich ſuchte — und fand ihn nicht Mich trafen die Waͤchter, Welche rings die Stadt umgehen,
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Sie ſchlugen mich, ſchlugen mich hart, Nahmen den Schleier mir Auf den Waͤllen die Waͤchter.
Ich ſchwoͤre euch, ihr Toͤchter Jeruſalems, Bei den Gazellen und den Lilien unſerer Fluren, Wenn ihr ihn findet, den Inniggeliebten, Sagt, was ich leide um ihn.
Vierter Geſang
Sulamit h und Salo m o
„Wer iſt es, der dort erhaben thront Im Prunkſaal, gekroͤnt mit der Krone, Von Zymbeln und Harfen umklungen, Umrauſcht vom Schall der Poſaunen, Herrlich wie ein Geſalbter des Herrn?“
*
Die Gemahlinnen:
Siehe, es iſt der Koͤnig! Iſt Salomo! Alſo kroͤnte ihn ſeine Mutter Am Tage ſeiner Hochzeit, Am Tage ſeiner Wonnen, Zur Stunde feiner Herzensfreude!
Salo mo:
Goldgeſchirrten Roſſen an Pharaos Wagen Vergleiche ich dich, du Schoͤne aus Sulem, Schoͤn wie Thirza Und voll Anmut wie Jeruſalem,
Liebliche du aus dem Palmenhain.
Deine Wange gleicht der geoͤffneten Granate, Unter deines Schleiers Schatten
Blicken ſtrahlend deine Augen,
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Klar wie die Waſſerteiche zu Hesbon.
Wie Perlen unter Korallen geborgen.
So deine Zähne unter den Lippen!
Schoͤner als Perlenſchnuͤre an deinem Halſe, Herrlicher als Korallenreihen auf deinem Buſen. Und wie glaͤnzende Baͤche vom Gilead eilen, Alſo umfließen dunkele Locken dein Haupt.
Sag', warum blickſt du finſter, wie in Wolken Der Libanon uͤber Damaskus ſchaut Sprich! Liebliche du, Hirtin aus Sulem.
Sula mith:
Wende deine Blicke von mir, o Herr. Dunkel bin ich, ſonnengebraͤunt, Wie der Kadarener Hirtenzelte, Wie deine Eſtrichdecken, Salomo Dunkel gebraͤunt — nicht ſchoͤn O wer es mir doch gewähren könnte, Daß ich fern ſei von hier, Bei euch, ihr Roſen, Narziſſen und Lilien, Ihr Toͤchter unſeres Tals, In meiner Mutter Haus, In der Hütte, da ich den Tag erſah — Daß ich hinſchauen dürfte über die Berge — —
Salomo:
Schoͤn biſt du, wahrlich, du biſt ſchoͤn. Schönheit ganz und fonder Fehle. Herrlich gleich einer Palme dein Wuchs, Und dein Odem ſuͤß wie Balſam. Siehe, Koͤniginnen dienen mir,
Und Gemahlinnen, Und der Jungfrauen keine Zahl.
Du ſollſt auserwaͤhlt fein vor allen.
Bewundern ſollen dich die Mädchen,
Koͤniginnen werden dich gluͤcklich preiſen,
Und erheben wird dich meiner Gemahlinnen Lied!
Sula mith:
Einer iſt's, den meine Seele ſucht! Ach, unter Tauſenden einer! Wie die Zypreſſe ſein Wuchs, Dunkelgelockt ſein Haupt, Seiner Augen Blicke voller Feuer. Herrlich iſt alles an ihm! Bildnerwerk von reinem Golde! Das iſt mein Lieber, Das iſt mein Teurer! Ihm zu eigen bin ich, und er iſt mein — —
Salomo:
Erwache, Hirtin aus Sulem! Blicke wie von einer Warte Zinnen, Und wie vom Haupte des Karmel, Hebe dein Auge auf und ſchau:
Was du ſchauſt — iſt mein.
Tauſende zittern vor meinem Winke, Tauſende hangen an meinen Brauen, Tauſende lenk ich mit dieſem Schwerte, Ich gebiete im Lande,
Bin der Geſalbte des Herrn
Und König in Iſrael!
Sula mith: Ich beſchwoͤre dich, König von Iſrael, Bei dem Gott unſerer Vaͤter, Und bei Jehovas Feuer beſchwoͤr“ ich dich:
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Der Herr wird den Arm ausrecken wider dich, Und wird Ungluͤck erwecken in eigenem Haus, Iſrael geben in die Hand deiner Feinde,
Und werden füllen das Land, fo weit wie es iſt — Es fet, du entlaͤſſeſt mich denn — —
Fliehen werden dich Freuden,
Und Haß wird ſein die Saat, die aufgeht,
Und wirft buͤßen wie David —
Es ſei, du entlaͤſſeſt mich denn.
Fünfter Geſang
Sul amit hs Sieg
„Wer iſt ſie, die hervorſchimmert
Wie die Morgenroͤte ſo ſchoͤn,
Schoͤn wie der Mond,
Wie Sonnenſtrahlen ſo rein,
Gluͤckſelig wie Heeresſcharen Jehovas? Wer iſt ſie, die herauf von Jeruſalem ſteigt, Aufgelehnt auf den Inniggeliebten?“
Gefaͤhrten Sulamiths: Seht, es iſt Sulamith, unſere Gefaͤhrtin, Ins Tal kehrt ſie, zu uns zuruͤck! Wende dich hierher zu den Deinen! Siehe, hier iſt deiner Mutter Haus, Da du das Licht des Tages erſahſt. Hier deiner Herden Weide, Eh du von uns genommen wardſt. Laß uns dein Antlitz ſchauen, Laß deine Stimme uns hoͤren.
Sula mith: Geprieſen ſei Jehova!
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Gefährten Sulamiths:
Geprieſen fet Jehova! Jehova! Der das Band um das Meer gelegt hat, Und die Feſten der Erde geſetzt. Geprieſen ſei ſein Name! Denn er wandte dein Unheil Und wandelte deine Klage in Reigen, Und nahm von dir die Trauer Und umguͤrtete dich mit Freuden. Siehe! er wandte des Koͤnigs Herz, Und der Koͤnig entließ dich!
Sula mith: Heil ihm, denn er entließ mich!
Der Hirt: Der Herr hat dich mir gegeben, Und deine Mutter hat dich mir anvertraut.
Sulamith: Nun lege mich wie ein Siegel an dein Herz Und wie eine Spange um deinen Arm!
Der Hirt:
Ich fuͤhre dich ein in das Haus, Und meine Rechte umfaſſet dich! Geſegnet ſei unſer Eingang,
Und das Panier uͤber uns ſei Liebe!
Maͤchtiger iſt die Liebe als der Tod, Feſt wie die Hoͤlle, Und unbezwinglich wie das Niederreich. Ihre Gluten ſind Feuersgluten,
Wie Jehovas lodernde Flammen. Waſſerwogen loͤſchen die Liebe nicht, Stroͤme erſticken ſie nimmer. Wahrlich! Nimmer feil tft die Liebe! Um Koͤnigskronen nicht feil,
Und nicht um Welten!
Sula mith: Ich beſchwoͤre euch, ihr Toͤchter Jeruſalems, Bei den Gazellen und den Hindinnen unſerer Fluren. Wecket mich nicht Aus dem ewig ſeligen Traum!
Nachwort der Verfaſſerin: Kers Judenlied ſowie das Beſte dieſer ganzen Arbeit danke ich meinem Freund und Lehrer, meinem Gemahl Omar al Raſchid Bey.
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