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Hardy von Arnbergs Leidensgang

Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek

Eine Auswahl der beſten modernen Romane aller Völker

Band 172 Achtundzwanzigſter Jahrgang

2 3

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Hardy von Arnbergs Leidensgang

Roman von

Ida Boy Ed

Stuttgart 1911 Verlag von J. Engelhorns Nachf.

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Alle Rechte, namentlich das Überſetzungsrecht, vorbehalten Copyright 1911 by J. Engelhorns Nachf.

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Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart

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Bis zu dem Himmel jener Sieben,

is zu Satumus’ Thron bin ich geſtiegen, Und manchen Knoten löſte ich des Wegs, Der von dem Menſchenſchickſal iſt geblieben.“

Dem flüchtigen Blicke, der eine Rotte Infanteriſten

ſtreift, die im Gleichmaß auftrumpfenden Trittes, im dumpfen Geraſſel des monotonen Marſches vorbei⸗ kommen, erſcheinen alle Soldaten ganz gleich, als ſeien ſie dutzendweiſe nach dem gleichen Muſter ge⸗ ſchaffen. Gußware keine Originalarbeit.

So konnten auch von einem Auge, das nur die oberflächlichſten Merkmale wahrnahm, all die 85 Mädchen, die in langer Linie nebeneinander vor den

„Telephonapparaten ſaßen, als zwanzigfache Wieder⸗ Jholung eines Modells angeſehen werden. Sie alle trugen zu einem ſchwarzen Kleiderrock eine dunkel⸗ blaue Schoßbluſe, eine Art Litewka, die mit roten Paſpeln verziert und dadurch noch uniformähnlicher war. Und um alle dieſe Köpfe, als ſeien fie alle etwa - von der gleichen Verwundung betroffen, ſchlang ſich ein ſchwarzer, bandagenähnlicher Streif, an dem bei den 9 wunderliche Auswüchſe von phantaſtiſcher Form ſaßen die Kopffernhörer.

All dieſen braunen und blonden Mädchenhäuptern war die eigenſte Linie, die beſondere Haltung genom⸗ men. Die Walze der Arbeit war über jede perſönliche Grazie hingegangen und hatte ſie zerdrückt. Das haſtige Leben des modernen Verkehrs verſcheuchte mit dem ſcharfen Wehen ſeines Flügelſchlags die Poeſie von dieſen jungen Geſtalten.

Eine der andern gleichend, ſaßen ſie auf den nüch⸗ ternen Rohrſtühlen nebeneinander in der Haltung von

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ewig Horchenden. Auf der Tiſchplatte vor ihnen und in der kaſtenartigen Wand, den Vielfachumſchaltern, die zwei Hände weit ihnen gegenüber den Tiſch abſchloß, erglühten und erloſchen in unaufhörlichem Wechſel die kleinen runden Glasplatten der elektriſchen Lichter, die den Anruf meldeten. Und die Augen der Be⸗ amtinnen ſtarrten wie hypnotiſiert, das Aufblinken der winzigen Lichtſignale erwartend. Mit emſigen und ewandten Fingern ſteckten ſie die Stifte, in die die

erbindungsſchnüre mündeten, von dem einen Num⸗ mernloch ins andre.

Und es ſchien, als hätten ſie ihre Jugend und ihr Eigenleben mit Hut und Mantel im Garderobenraum an den Nagel gehängt. Als ſeien ſie zu einem Teil ihrer Apparate n nervöſe, wachſame, wunder⸗ bar kunſtvoll arbeitende Maſchinen, die durch ihr Ma⸗ ſchinentum leiden, weil ſie ſich ſeiner bewußt, weil ſie von Fleiſch und Blut ſind.

Im hohen Saale raunte ununterbrochen ein Ge⸗ räuſch von Stimmen und von Kommen und Gehen, jenes ſeltſame Geräuſch, das den Charakter der Stille hat, weil jedes unvermeidliche Wort, jeder notwendige Schritt von der zur Gewohnheit gewordenen Erkenntnis gedämpft wird, daß Störung der Arbeitenden zu ver⸗ meiden und jeder Lärm ſtrafbar iſt.

In der Höhe der Längswände, unter dem Anſatz der gewölbten Decke zogen ſich große breite Fenſter hin und ließen tags eine ſehr nüchterne Lichtflut her⸗ ein. Jetzt war es Abend, und kalt und ſchwarzblank gleißte das Glas der Fenſter. Vom 1 Licht war nun der Raum erfüllt. Auf der großen Fläche ſeines Eſtrichs ſtanden, voneinander entfernt, die langen Apparattiſche. Da war einer für den Auswärtsverkehr, zwei andre für den Stadtverkehr beſtimmt. Beamte gingen zwiſchen ihre g hin und her. Telephoniſtinnen kamen und löſten ihre Kameradinnen ab, deren Stunden beendet waren. Das tauſend⸗, das hunderttauſendfach geſprochene gedämpfte Wort: „Hier Amt!“ erſcholl an den Tiſchen in einer geradezu grauenerregenden Un⸗ ermüdlichkeit. Niemand war ſich der Monotonie in

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dieſer ewigen Wiederkehr mehr bewußt, wie in Fabrik⸗ ſälen die Arbeiter das Klappern und Fauchen, das Puſten und ſtumpfe Stoßen der Maſchinen zuletzt nicht mehr zu hören wähnen, das dennoch die Gehör⸗ nerven martert und zermürbt.

Hier, wo ſich die betäubenden Vielfältigkeiten des Lebens und all der Beziehungen von Menſchen unter⸗ einander wie in einem Knotenpunkt trafen, hier gerade ſchien ſich alles in einer furchtbaren, drückenden, die Phantaſie zermalmenden Einförmigkeit aufzulöſen. Das Leben, indem es in lächerlich kleinen Fragmenten in haſtigen Rufen und Fragen und Befehlen ſi äußernd, vorüberraſte, verlor jede große Linie und jeden markanten Zug. Es rotierte und wurde zum glatten Kreis, weil die Bewegung zu ſchnell wurde, um dem Blicke noch Zeit für Einzelheiten zu laſſen wie die zahlloſen, vielgeſtaltigen rauhen Flocken der naſſen Baumwolle in der ſchwindelnd raſch ſich drehen⸗ erſch Trockentrommel zuletzt als weißer, glatter Strich erſcheinen.

Zuweilen, wenn Hardy heimging und aus ihren Nerven allmählich das Gefühl höchſter Spannung wich, wenn ein Decreſcendo der Unruhe ſie langſam einer Art von Befreiung des ganzen Weſens zuführte, dann kam ihr wohl der Gedanke: Wie, wenn jemand vom Morgen bis zum Abend alle Geſpräche aller Anrufer notierte und ſie auf ihren Inhalt ſichtete! Das müßte eine wunderliche Statiſtik werden. Sie würde viel⸗ leicht beweiſen, daß der Menſchengeiſt, ſolange er ſich in den Schranken des Alltags bewegt, gleichförmig kreiſt wie ein Tier im Göpel. |

Und manchmal dachte fie auch: Haben wir Tele⸗ phoniſtinnen nicht gleichſam die verhängnisvollen Ga⸗ loſchen aus Anderſens Märchen an? Wir, ſelbſt un⸗ ſichtbar, lauſchen in die Gedanken, in die Zuſtände der Menſchen hinein. Und was hören wir? Iſt es nicht, als gäbe es ein Geſetz, nach dem ſich alles Erleben unabänderlich wiederholt in einer ſo beklemmenden Genauigkeit, daß man ſelbſt ganz matt und gelang⸗ weilt davon wird?

Die Dienſtſtunden rannen in einer Gleichmäßigkeit der Geräuſche und der Handhabungen, die verzehrend war, weil in ihr ſich die widerſtreitendſten Eigenschaften verbinden mußten: das Bleierne mit dem Gehetzten, das Schema mit der beſtändig wachen Intelligenz der verantwortungsvollſten Arbeit.

Vom Tiſche, daran die Zwanzig ſaßen und unter ihnen Hardy, flog ab und an ein raſcher Blick zu dem mächtigen weißen Ziffernblatt hin, das wie eine leuchtende Vollmondſcheibe hoch in die dunkelgraue Schmalwand der Saaltiefe eingelaſſen war.

Und die ſtarken ſchwarzen Finger der Zeiger wieſen tröſtlich nahe auf die Zahl neun.

Ja, bald neun Uhr. Seit faſt einer Stunde, ſeit die Kontore und Läden in der Stadt zu ſchließen begonnen hatten, zuckten die Signallichter vor den wachſamen Blicken der Mädchen etwas ſeltener a

uf.

Bald neun X Und die Telephoniſtinnen, ab⸗ gelpannt, mit blaſſen Geſichtern, nahmen ſich in etztem Mut zuſammen, um in ihrer Maſchinengenauig⸗ keit und ihrer Maſchinenfeinheit unermüdlich zu Kan er einen oder andern, die nach ſechs⸗ ündiger Arbeit und bei zufällig beſonders ungünſtiger körperlicher Dispoſition ſich krank und am Ende ihrer Gedankenfriſche een geſchah es wohl, daß fie einen Anrufenden falſch verband und dafür mit zornigen, un⸗ Baden Worten gemaßregelt wurde. Man fah ein ittere3 oder ein ergebenes Lächeln und konnte erraten, was die Ohren der Angefahrenen vielleicht eben zu hören bekommen haben mochten. Sie waren wehr⸗ loſe Frauen, die jeden Tag viele Stunden das Un⸗ geheuerſte aufzubringen hatten, was ein nervöſer Menſch nur leiſten kann Geduld! Und der Sturm der Ungeduld der Anrufenden prallte jede Sekunde egen ſie an wie ein Hagelſchauer gegen die zarten ce Halme auf dem n

Der Arbeit ſtille Heldinnen waren ſie, denn ſie vollbrachten ihr Tagwerk gleichſam hinter den Kuliſſen, unſichtbaren Geiſtern nicht unähnlich.

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Bald neun Uhr. Eine Nachbarin ſagte es halblaut der andern. Und in den Sekundenpauſen zwiſchen dem Erlöſchen und Hinwegzucken der elektriſchen Licht⸗ 5 5 1 flüſterten fie, bruchweiſe. „Ich bin heut wend noch aus.“ „Meine Mutter iſt krank, hab' ſolche Eile heimzukommen, muß wachen die Nacht.“ „Mein Verlobter iſt um acht von feiner Geſchäfts⸗ reiſe en hab' ihn nicht mal abholen können.“ „Nun kommt man todmüde in feine Stube und muß ſich noch Abendbrot machen, da ißt man lieber nichts.“ „Ich lerne noch bis elf 15 Engliſch.“ „Ich hab' ſo viel zu nähen wann ſoll man, außer ſpät abends.“ ö N flüſterte weder nach rechts noch nach inks

Einmal, als der Zufall ihr ein paar Augenblicke Raſt ließ, holte ſie aus der Taſche ihres Kleiderrocks einen Brief heraus und las den kurzen Inhalt. Dann blieb ihr keine Zeit, ihn wieder wegzuſtecken; ſie ließ das Blatt in ihrem Schoße liegen. Denn vor ihr auf dem Signaltiſche glomm wieder ein Lichtlein a wie ein Glühwurm der ſtill ſeine Flügel hebt, um ſeinen leuchtenden Leib zu enthüllen. Sie verband den An⸗ weckenden mit der Nummer, die er ihr zugerufen hatte, um gleich darauf erſchreckt und ſehr ſchuldbewußt zu⸗ ſammenzufahren, denn ſie hörte ein hartes: „So paſſen Sie doch beſſer auf. Falſch verbunden!“ Sie murmelte ein „Pardon!“

Dieſe Grobheiten, die aus dem Weſenloſen, aus

einer unfichtbaren Ferne kamen, wie von Geiſtern uch trafen fie immer wie Ohrfeigen. Man ſah en Mund nicht, dem ſie entfuhren. Man ſpürte nicht, ob polternde Gutmütigkeit ein bißchen ungeduldig war, oder ob N Unverſtand die Sklavin ſchalt, die hier dem Verkehr dienen mußte und die für zwei Mark fünfzig pro Tag aufgehört hatte, eine Dame gi ein, der man ritterlich begegnet. Es iſt fo billig, achte Hardy manchmal, wenn man gerade gegen uns leicht grob wird; man braucht uns dabei ja nicht in die Augen zu ſehen.

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Wenn ſie das dachte, wiederholten ihre Gedanken nur ganz unwillkürlich, was ihr einer ſo oft geſagt hatte: Wer könnte dir noch weh tun, wenn er in deine lieben Augen dabei ſehen müßte!

Und doch tat er ſelbſt ihr weh ſeit einiger Be Vielleicht, en es zu wiſſen. Ach ja, ohne es zu wiſſen! Was alles hat nicht manchmal ein Mann zu denken und auszufechten, der im geſchäftlichen Leben und in einer anſpruchsvollen Familie ſteht!

Man muß Geduld haben. Sie lächelte ein kleines, mühſames Lächeln. Das ewige, furchtbare Wort. So oft bekam man es zu hören, während der Ausbildungs⸗ zeit und nachher in den erſten Wochen der Tätigkeit, bis man zur gleichmäßig funktionierenden Maſchine geworden war! Es ſchien, als ſei es das 1 F der Telephonbeamten: Geduld, Ge⸗

uld! |

Die vor Munterkeit und Begierde nach allerhand Lebensfreuden ganz unbändige blonde Anna Behrens, die mit Hardy zugleich auf ihren allgemeinen Bildungs⸗ ſtand geprüft worden war, ehe man ſie zum Beruf der Telephoniſtin zuließ, zitierte während der drei Monate Lehrzeit ſehr Alber Fauſt: „Und Fluch vor allem der Geduld!“ er ſie kam dann immer zu dem philoſophiſchen Schluß: was zum Beruf ge⸗ hört, muß man ſich einpauken; ich verſteck ja auch meine hübſche Bluſe unter dem gräßlichen blauen Kittel; ich werde lernen, mein Temperament hinter „Geduld“ zu verſtecken; hoffentlich nicht für lange, denn die Männerwelt hat ja wohl noch Augen im

Kopf. Hardy ſagte ſchon damals mit einem 0 daß ihr ſcheine, zum Leben gehöre noch mehr Geduld als zum Beruf. | .

Das war nun zwei Jahre her, und die blonde Anna Behrens, die an dieſem Abend neben Hardy ſaß und zufällig mit ihr im gleichen Revier zu arbeiten hatte, fing ſeit einiger Zeit an, ſich zur gleichen Anſicht zu bekehren. Sie ſpazierte noch immer gänzlich unver⸗ lobt durch ihre freien Sonntage und konnte es gar

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nicht begreifen, daß fie zwanzig Jahre alt geworden ſei, ohne ſich eine anſtändige Verſorgung erobert zu haben. Ihre Munterkeit und die Zuverſicht, mit der ſie ihr Schickſal erwartet hatte, waren recht ungleich⸗ knen eworden. Oft ſchien ſie in der Frühſtückspauſe fort ich wie betrunken vor Übermut. Oft ſprach fie hochfahrend davon, daß ein hübſches und gebildetes Mädchen, wenn es arm ſei, gar nicht klug und vor⸗ ſichtig genug die Männer von ſich wehren könne, bis einmal der eine käme, den man heiraten möge. Dann wieder erging ſie ſich in bittern Reden, daß heute nur noch nach Geld geheiratet werde.

Sie ſtaunte Hardy an und ſprach einmal wäh⸗ 5255 einer Strecke gemeinſamen Heimwegs offen

avon.

„Sie ſind immer gleichmäßig. Scheinbar. Daß es inwendig bei Ihnen ſo glatt ausſieht, glaub' ich ja nun nicht. Aber ich find' es wundervoll, wie Sie ſich in der Hand haben.“ |

8900 bin faſt vier Jahre älter als Sie,“ ſagte

ardy.

„O, das iſt es nicht. Es wird wohl die Er⸗

ziehung ſein. Sie mögen es nun leugnen, Arnberg,

oder nicht, Sie wiſſen ſich von uns allen gleichmäßig

> fl fern zu halten. Das iſt ja wohl angeborene n 44

Da war Hardy rot geworden. Es war nicht wegen der Anrede mit dem Nachnamen. Daran hatte ſie ſich auch gewöhnen müſſen. Sie glaubte den Vorwurf heimlichen 14 aus den Worten zu hören. Und der kränkte ſie wie eine der vielen Grobheiten, die die Anrufer für das weſenloſe Telephonfräulein flink bei der Hand haben. Sie war ganz und gar nicht hoch⸗ mütig. Ihr war gelungen, woran ihre arme Mutter I immer noch in bitterlichem Kampf abmühte: fie ühlte ſich als eine ihren Genoſſinnen völlig gleich⸗ ſtehende Lebenskämpferin und hatte längſt alle Standes⸗ und Geldunterſchiede als wunderliche Zufallslaunen und wechſelnde Werte erkannt. Aber was ihrer Bil⸗ dungszone fernſtand, was ihren Kinderſtubengewohn⸗

*

12 | heiten zu ſehr ſich fern. hielt ſie durch ſtill abwehrende ern.

Mienen von ſich

„Man kann andern Frauen nicht ſagen: ‚ihr ſeid nicht gut erzogen,“ dachte Hardy, etwas geängſtigt, daß Anna Behrens in ihrer draufgängeriſchen Art zu offene Fragen ſtellen möchte. Und gerade dieſe Anna, mit all den vollen Tönen ihres Weſens, wurde Hardy zu⸗ weilen ein wenig läſtig. Hardy ſah: ſie war offen, gefällig, opferfähig, vielleicht ein bißchen neidiſch und eiferſüchtig auf Vorzüge andrer, aber doch das, was man „einen guten Kerl“ nennt. Sie verehrte Hardy förmlich liebevoll und bewarb ſich ſchon ſeit der ge⸗ meinſamen Lehrzeit um ihre Freundſchaft. er Hardy konnte mit dem allerbeſten Willen keine Freun⸗ din in ihr intimeres Leben hereinnehmen. Sie würde ſich auch, hätte ſie es gekonnt, Anna Behrens nie er⸗ wählt haben, der es in der Tat mehr auf die Flottheit als auf die Gediegenheit eines Hutes, mehr auf die Kleidſamkeit als auf die Sauberkeit und Ordentlich⸗ keit einer Bluſe ankam, und die nicht wußte, daß 5 und Vornehmheit bei Körperpflege an⸗ ängt.

„Bald neun Uhr,“ ſagte auch Anna Behrens, reckte den üppigen Oberkörper förmlich empor und legte ſich ein wenig hintenüber, in welcher angenehmen Räkel⸗ geſte ſie ſofort ein wenig plump zuſammenzuckte, denn ein Signallicht glänzte wie ein goldener Nadelknopf vor ihr auf.

Gerade war auch Hardy beſchäftigt. Sie hörte auf ihr mechaniſches „Hier Amt“ die Antwort „Siebzehn⸗ vierundvierzig“.

Eine Nummer unter den Tauſenden. Und doch wirkte dieſe eine auf ſie wie ein Zauberwort.

Sie lächelte, töricht und glücklich.

Das war ja „ſeine“ Nummer. Manchesmal, ſeit ſie ihn kannte und liebte, hatte ſie ſein Revier, das heißt: die Gruppe von Telephonnummern, innerhalb deren die ſeine lag, zu bedienen gehabt. Und natürlich war während ihrer Dienſtſtunden ſeine Nummer oft verlangt worden. Dann war es ihr immer geweſen,

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als ſei ſie ihm nahe. Und obſchon es den Tele⸗ phoniſtinnen verboten war, im Lokalverkehr die Ge⸗ ſpräche zu belauſchen, hatte ſie der heißen Begier, „ſeine“ Stimme zu hören, in ſolchen Fällen nicht ganz gſchäftlichen können. Sie hatte Bruchſtücke von geſchäftlichen Unterredungen erfaßt und, lich die Worte zu ergründen oder nur zu verſtehen, ſich an dem Klange ſeines Sprachtones förmlich berauſcht. Wenn ſie aber merkte, daß er von ſeiner Familie angerufen wurde, fehlte ihr der Mut zu dieſem dis⸗ kreten Horchen, das nicht auf verſtehendes Erlauſchen, ſondern nur auf die Wonne des Klanghörens ge⸗ richtet war. |

Ihre eigene Stimme zitterte immer ein wenig, wenn ſie die notwendigen kargen Worte bei ſolchen Gelegenheiten ſprach.

Und wenn „er“ ſelbſt anweckte und in einem ſehr liebenswürdigen Tone bat: „Bitte, mein Fräulein, verbinden Sie mich mit der oder der Nummer“, dann wurde ſie rot vor Freude. Es gilt mir, dachte ſie; er iſt ſo rückſichtsvoll, er befiehlt nicht, er bittet, weil er denkt, ich könnte es zufällig ſein, die ihn bedient. Und wenn ſie ſich dann ſe oder wenn fie ihm fchrieb, erfuhr er es, daß ſie ſelbſt das bedienende Telephon⸗ fräulein geweſen ſei. Die Tage, an denen ſie ſeinem Revier zugewieſen wurde, waren 155 leichter. Die Monotonie des Dienſtes war aufgehoben. Im Einerlei der Anrufer konnte immer, jeden Augenblick, die eine, geliebte Stimme hörbar werden.

„Fräulein, hören Sie nicht? Siebenzehnvierund⸗ vierzig.“ Das war eine raſche, ſehr herriſche Frauen⸗ ſtimme, die das ſagte.

„Ja bitte ... brachte Hardy ganz unnützerweiſe heraus, als habe ſie mit der Anruferin Geſpräche zu führen, „ja ja...“

Als ſtehe die ſcheltende Frau vor ihr, hochmütig und impoſant, und ſähe doch über ſie hinweg wie über ein Garnichts.

An der Wand des Vielfachumſchalters hinter der Tiſchplatte mit den Signallichtern ſtanden die kleinen,

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dunkeln Nummernlöcher wie winzige Mausſchlupf⸗ löcher. Dahinein ſteckte Hardy mit ihren kalten [on eilig und unſicher den Stift der Verbindungs⸗ nur N Und ſie horchte, lechzend förmlich. re Kniee waren ſchwer. Sie fühlte ſich elend, weil ſie mit ver⸗ zehrender ne zudringlich ſein wollte. Sie konnte nicht anders. Er muß es mir nachher verzeihen, dachte ſie. Und faſt zugleich wandelte ſich dieſes kranke, än ſt⸗ liche Gefühl in helle Freude. Alle Unruhe, die ſeit heute nachmittag ihre arme, unſichere, unter ſchwerem Drucke heißliebende Seele nur ſo emporpeitſchte, löſte ſich in Seligkeit. Sie hörte ja ſeine liebe Stimme. „Hier Borwin Eggsdorf.“ Und die Frauenſtimme antwortete: Ich bin es ſelbſt, Borwin.“ „Du, Mama? Was ift denn?“ „„Ich bin im Begriff, zu Nottbecks zu gehen. & iſt mir fatal, daß du engelagt haſt. an wird ſehr un fein. Was für Gründe ſoll ich denn an⸗ geben

„Die gleichen, die ich ſchriftlich Nottbecks mitteilte: unaufſchiebbare Geſchäfte.

Das Rendezvous mit mir! dachte Hardy in einem wahren Tumult von Freude und auch von Demütigung, 15 = ſogleich in die Freude, fie vergiftend, hinein⸗ pielte

Ach was, abends nach neun hat man keine Ge⸗ ſchafts, woah die raſche Stimme. i Das ſollteſt du von Papas Zeiten her beſſer wiſſen.“ Ach, Papa!“

Das klang ‚ungeduldig und faſt es Der Ton malte eine ganze Geſchichte von rwänden wund Unglauben in die Luft. Und dann, ſchnell

3 geſchloſſen: „Laß die Geſchäfte und komm och no

„Es tut mir leid, Mama, es geht nicht.“ Er ſagte es ſehr beſtimmt.

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8 achte 59550 Ich ſoll ihn doch treffen ich i „Und Doraline?“ fegte die Frau.

„Gott Mama laß das am Telephon! Ich bitte dich. Wenn ich dir doch ſagte, daß ich hee abend nicht kann!“

„Es iſt mir ſehr fatal, Borwin. Sehr, das kann ich dir ſagen. Hoffentlich verdirbſt du dir nichts damit.

Aber du haſt recht, das iſt kein Telephongeſpräch. Alſo bis morgen. Schlu ;.“

Das kleine Licht, das mit ſeinem ſtillen Glimmen das Geſpräch begleitet hatte, erloſch und zeigte an, daß die Sprechende den Hörer wieder an den Ap⸗ parat gehängt hatte, daß das Geſpräch zu Ende war.

Hardy ſaß wie verſteinert. Was waren das für Reden 5 dieſe letzten? Wer war Doraline? Was ſollte er ſich ach durch die Abſage verderben? Er war offenbar bei dieſen Nottbecks eingeladen ge⸗ weſen und hatte abgelehnt, um die Begegnung mit ihr zu ermöglichen.

Hardy wußte, wer Nottbecks waren. Sehr reiche, ſehr vornehme Leute. Vornehm in der Schätzung der hieſigen Welt. Jede hat ja ihre Matadore. In jeder nach andern Maßſtäben.

Aber gewiß, ſie waren „beſte Geſellſchaft“. Ihr einziger Sohn, das wußte Hardy ch klipp im gleichen Regiment wie ihr Bruder Heinz Philipp. Er ſchrieb zuweilen darüber und ließ ſein e Bu blicken. Er ſchien ſogar ſehr nahe befreundet mit ſchriebt Kameraden Nottbeck, von dem er anfangs ge⸗ chrieben hatte: „Wir kriegen einen Konzeſſions⸗ Schultze, namens Nottbeck, ausgerechnet aus eurer Stadt.“ Der Gedanke war ihm offenbar fatal, daß ſein Kamerad einmal zufällig auf die arbeitende Schweſter des Oberleutnants Heinz Philipp von Arn⸗ berg ſtoßen könne.

Plötzlich fiel ihr auch ein: ja, dieſe Nottbecks hatten eine Tochter, vielleicht auch mehrere Töchter. Weil der Sohn jener Familie ihres Bruders Kamerad war,

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hatte fie fich einigemal unauffällig nach den Leuten erkundigt.

Und dieſe Doraline hatte irgendwie etwas mit Borwins Abſage zu tun? War vielleicht ſie es, die ſich enttäuſcht fühlen würde? Und was ſollte Borwin ſich durch ſein Fernbleiben verderben?

Eine Unruhe ohnegleichen befiel ſie und machte ihr den ganzen Körper ſchwer, als ſei er zu über⸗ füllt von Blut und habe jäh ein 1 Ge⸗ wicht bekommen. Vor Angſt begann ihr Herz zu klopfen. Sie fühlte es im Rücken, als poche ein kleiner dumpfer Hammer immer von innen gegen ihr Rückgrat.

Sie wußte nicht, daß eine unklare Eiferſuchtsnot in ihr aufwallte. Sie dachte: Es gibt ſo vieles in ſeinem Leben, was mir ganz verborgen iſt. All die tauſend kleinen Fäden kann ich nicht überſehen, mit denen er an ſeine Umgebung gebunden iſt.

Das war ſchwer zu ertragen. Zu ſchwer. Das gab ihm den Anſchein, als führe er ein Doppeldaſein: eines für ſie und ihre Liebe, eines für ſeine Familie und ſeine geſellſchaftliche Umwelt.

Wie unnatürlich, wie ungeſund, wie grauſam er⸗ niedrigend.

Er hatte es ganz richtig herausgefühlt: ſie litt zu ſehr unter all den Härten, die ihre Junge Liebe umgaben wie eine Dornenhecke einen blüh Garten.

Die Dornenhecke ſchien aber ſo unheimlich raſch und hoch emporzuwuchern, daß bald gar keine Sonne mehr in den armen kleinen Garten hinein konnte. Hardy ſeufzte ſo ſchwer, wie nur tiefe Qual es

ann. Ihre Nachbarin ſah ſich raſch nach ihr um. Und ſah, daß Hardy ein Briefblatt aus ihrem Schoß auf⸗ nahm und es las. Die blonde Anna s elbe hatte aber vorhin geſehen, daß Hardy dieſes ſelbe Blatt ſchon einmal las. Das tat man ihrer Meinung nach nur mit Liebesbriefen, an denen Augen und Gedanken ſich nicht ſättigen können. |

enden

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Ihre robuſte Art konnte nicht ſchweigend über eine Beobachtung hingehen, ſondern mußte eine kult f Teilnahme durchwärmte Neugierfrage daran nüpfen.

„Sie haben heute was, Arnberg. Und wenn man Ihnen was anmerkt, muß es ſchon was Koloſſales ſein,“ ſagte ſie.

Hardy ſteckte ſchnell ihr Briefblatt ein. „Jeder Menſch hat mal irgendeine kleine Beunruhigung,“ ſprach ſie, zugleich ehrlich und abweiſend.

Anna Behrens ſchwieg erſt einmal. Irgendwie, auf eine ihr ſelbſt nicht klare Art und Weiſe fühlte ſie ſich durch die Antwort belehrt und beſchämt. Sie kämpfte mit einer kleinen Empfindlichkeit, ſagte dann aber plötzlich gutmütig: „Wenn Sie mal 'ne Freundes⸗ ſeele brauchen, Arnberg..

„Danke, danke!“ murmelte Hardy.

Die letzten Minuten der letzten Stunde des Latten langen Tagwerks verſtrichen mühſam.

Die winzigen, runden Glasſcheiben auf dem Signaltiſch wurden immer ſeltener von innen er⸗ hellt ſie hatten immer weniger Anrufe zu melden. Und es wirkte, als käme nun a die nervös ſchwirrende Glühwürmchenſchar zur Ruhe, und nur noch halb verſchlafen hebe da und dort eins manch⸗ mal die Flügel wie im Traum und laſſe ſein Licht aufglimmen.

Die gedämpften Geräuſche, die leiſe auftretende e ſchliefen faſt ein.

Nachtbeamten betraten den Saal.

Und dann auf einmal ſchwoll eine große Unruhe durch den Raum. Das Vollmondgeſicht der Uhr ſchien fett Madchen zu haben. Es lächelte „neun“ herab auf

Mädchen.

Die Laſt der Einförmigkeit fiel jäh von ihnen die des Tuns, die des Gewandes. In einem un⸗ bewußten, großen Aufatmen ſuchten ſie den über- gang zu ihrem Eigenleben.

Die Bänder mit den Kopffernhörern wurden ab⸗ genommen, und wie mit einem Schlage ſah man ver⸗

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ſchiedene Geſichter und verſchiedene Köpfe. Rauh und zerdrückt waren die Haare, bleich faſt alle Ge⸗ ſichter. Aber zuvor waren ſie wie gemünzt geweſen von dem einen gleichen Ausdruck ſtumpfen Horchens mechaniſchen Aufmerkens. Das hatte die Bläſſe noc

fahler, die Züge ſchärfer gemacht. Nun löſte das Lächeln, mit dem ſie den freien Abend begrüßten, alle Mono⸗ tonie auf.

Sie hatten aufgehört, Maſchinen zu ſein, und waren wieder warmblütige Menſchen, die ſich eilig all dem verſchiedenen Inhalt ihres eigenen Lebens entgegen⸗ drängten.

Im Garderobenraum hielt Anna Behrens ſich auf⸗ fällig neben Hardy und folgte ihr faſt auf den Hacken. Sie wäre ſo gern mit ihr gegangen, immer noch ge⸗ plagt von dem Gedanken „was ſie wohl hat?“, und warmen Herzens von dem Wunſche getrieben, ihr mit ein paar tröſtlichen Worten etwas Gutes an⸗ zutun. Aus ihrem Weibsgefühl heraus war's ihr ein ſicheres Wiſſen: Hardy Arnberg hatte Kummer oder

orge.

Sie verging auch förmlich vor Verlangen, endlich einmal ein bißchen was Näheres über Hardy Arnbergs Lebensumſtände zu erfahren. Die hartnäckige und doch ſo gar nicht verletzende Abgeſchloſſenheit der Kameradin ärgerte ſie und imponierte ihr dennoch ungemein. Was ſie ſelbſt betraf, ſo konnte ſie nicht ſchweigen und ni ſchon damals, als fie ihre erſte Prüfung auf ihr allgemeines Wiſſen beſtanden hatten, Hardy gleich von ihrem Vater erzählt, der eine kleine An⸗ ſtellung am Gericht habe, und von ihrer Stiefmutter, die wegen der vielen kleinen Geſchwiſter keine Zeit für ſie fände. N

Heute, wo die Arnberg offenbar ein bedrücktes Herz hatte, hoffte ſie ſich in ihr Vertrauen hinein⸗ betteln zu können. | | Ä Aber unten an der Treppe drehte Hardy, die dieſe Gefolgſchaft geſpürt hatte, ſich plötzlich um und ſagte: „Gute Nacht, Behrens.“ a

Da traute Anna Behrens ſich nicht weiter mit,

wieder in

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und um die erfahrene, verſteckte Abweiſung vor den Kolleginnen zu verbergen, ergriff ſie raſch den Arm des nächſtbeſten Mädchens und zog ſie mit ſich da⸗ von

Der gute ſtarke Tee, den die Mutter daheim bereit⸗ hielt, und das Butterbrot mit dem Ei oder dem Eſſen⸗ reſt vom Mittag gab ihr dann etwas von der Friſche zurück, die ſie jeden Morgen nach gutem Schlaf gottlob ich vorfand.

Sie war ja zäh. Das empfand ſie wie eine Gunſt des Schickſals. Vielleicht, dachte ſie manch⸗ mal, iſt Zähigkeit noch mehr als Kraft. Die kann zerbrechen. Ich paſſe mich immer an. Das iſt auch was wert. f

Heute abend kam aber der proſaiſche und ſehn⸗ ſuchtsvolle Gedanke an Mutters warmen, belebenden Tee nicht in ihr auf.

Eine herzklopfende Aufregung befiel ſie, kaum daß ſie einſam durch die Straßen dahinging. Alle Läden waren geſchloſſen und die grellen Lichtfluten ver⸗ hop, die ſonſt aus ihnen heraus auf die Bürger⸗

eige kamen wie breite flimmernde Glanzbänder. Nun wirkte die N Beleuchtung als Halb⸗ licht. Auch der Verkehr hatte nur noch kümmerliche Nachläufer der vergangenen lebhafteren Stunden zu⸗ rückgelaſſen.

3 regnete nicht, aber es war jo fer e daß man bei jedem Atemzug den Mund voll naſſer charfer Luft bekam. Es fror nicht, aber es war ſo kalt, daß man an eine klare Schneelandſchaft wie an eine wohltuende Vorſtellung denken mußte.

Hardy war warm und ſolide angezogen. Zur ſchwarzen Winterjacke trug ſie einen kleinen Pelzkragen mit Tierköpfchen und Schwanz; ſie barg die Hände

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in einem Muff, den 15 feſt an ſich drückte. Auf ihrem dunkelblonden Haar hatte ſie einen beſcheidenen, kleid⸗ ſamen Hut von dunklem Filz. Der fußfreie Rock ließ ſie kleiner erſcheinen, als ſie war.

Schnell und ſcheinbar ſicher in der Haltung einer Dame ging ſie ihres Weges. Nicht den Weg nach ihrem Hauſe, wo die Mutter wartete, nein, den der Brief des geliebten Mannes ſie gehen hieß.

Er hatte ihr geſchrieben:

„Meine liebe Hardy! Seit vielen Wochen iſt es uns kaum vergönnt geweſen, uns mehr als für kurze Augenblicke zu ſehen. Deine Briefe haben mich er⸗ kennen laſſen, wie ſehr Du darunter, wie unter der

anzen Lage leideſt. Ich fühle mich Dir gegenüber ehr ſchuldig ſchuldlos ſchuldig, denn ich konnte dem Gefühl, das mich zu Dir zog, ſo wenig widerſtehen wie Du Deiner Liebe zu mir.

c muß einmal offen mit Dir ſprechen. Ich kann es nicht in Gegenwart Deiner Mutter. Das begreifſt Du ohne weiteres. Niemals habe ich gewagt, Dir ein Rendezvous vorzuſchlagen. Wenn ich das nun heute tue, nimmſt Du von ſelbſt an, daß meine Gründe wichtig ſind.

Vergebens habe ich meinen Kopf zermartert, hier⸗ für einen behaglichen und ſicheren Platz ausfindig zu machen, den Du ohne Bedenken annehmen könnteſt. 115 weiß, Du würdeſt keine Konditorei und kein Re⸗ taurant betreten wollen, und überall könnte man geſehen werden. | |

Es bleibt nur die freie Natur, jo rauh fie auch in dieſem Augenblick iſt. Komm, bitte, gleich nach dem Schluß Deiner Dienſtſtunden in die Anlagen am Stadtgraben, da, wo das Engelmanndenkmal

ſteht. | Ich küſſe Dir zärtlich und ehrfurchtsvoll die lieben e voll Dank für das Opfer, das Du mir durch ein Kommen bringen wirſt. B. E.“ Schuldig? dachte Hardy. Wie kann er mir gegen⸗ über ſchuldig ſein? Niemals. Wir konnten nicht an⸗ ders. Wir lieben uns doch. Und ſie lächelte, von

21 91 ſinnloſen, ſehnſüchtigen Glücksgefühl ganz durch⸗ ü

Alles, was ſchwer war, ſchien plötzlich gar nichts mehr, ſchien nur klein, nebenſächlich, ja, willkommene Prüfung ihrer Liebe, ſchien nur Gelegenheit, die ganze Hingebung und Selbſtloſigkeit ihrer Liebe dem teuern Manne beweiſen zu dürfen.

Sie würde ihn nach wenigen Minuten ſehen, ſeine Stimme hören, ſeine Hand erfaſſen können!

Nähe und Gegenwart des Geliebten iſt alles. Man kann lächelnd den grauſamſten Tod erleiden, wenn er da iſt. Man iſt Heldin vor In Auge. Man iſt nichts, ein Geſchöpf aus Schwächen und Leiden zuſammen⸗ gebraut, fern von 29 5

Das fühlte Hardy. Und ſie war ſich der naß⸗ froſtigen Winternacht nicht mehr bewußt.

Sie überdachte die Geſchichte ihrer Liebe. Jede Station darin war 15 wichtiger als der ganze Welten⸗ gang. Alle Schickſale ihres Lebens und ihres Hauſes waren, ſo herb ſie sn geſchienen, zu ganz all- en Begebniſſen herabgeſunken vor dem Wunder⸗ erlebnis ihrer Liebe. Der Inhalt keiner Minute von all denen, die ſie mit dem lieben Mann erlebt hatte, war aus ihrem Gedächtnis geſchwunden. Indem ſie alle vergangenen immer wieder neu in ihren Gedanken durchkoſtete, beſaß ſie ſeeliſch den Mann in einer Totalität der unerhörteſten Art, und manchmal durchſchauerte es ſie, daß er davon keine a lei habe und es, wüßte er es, nicht begreifen würde. ö | Jede Geſte, jeden Blick, jedes Wort von ihm hatte ſie in 115 i und genoß ſie in einer Un⸗ aufhörlichkeit, die all ihr andres Tun und Laſſen zum

ewohnheitsmäßigen Erfüllen der Tagesanforderungen herabdrückte. |

Durch ihr ganzes Weſen ging als eine beftändige Unterſtrömung der Gedanke an ihn. Er machte ihr ihr Handwerk leicht und ſchwer. Die Welt himmliſch und grauſam. Das Leben lachend und traurig.

Vielleicht, indem ſie ſo ſein Daſein in ihrer Phan⸗

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taſie ganz und gar mit dem ihren verwob, hatte jie längſt aufgehört, die richtigen Linien ſeines Weſens zu e

en. Sie dachte nicht: er ift volllommen. Aber fie war ihm ſo mit ihrem Herzen hingegeben, wie man es nur

der Vollkommenheit ſein dürfte in dieſer höchſten

Beſcheidenheit, die vielleicht aus dem unbewußten Be⸗ dürfnis entblüht, ſich klein zu machen, damit der Ge⸗ liebte größer ſcheine. Es war, als ſpüre ihre Seele, daß zwiſchen zwei Menſchen in all ihren Menſchlich⸗ keiten dem einen nur der höhere Rang zukommen kann durch die Demut des andern. Völker und liebende Frauen ſchaffen ſich Götter.

In tumultuariſchen, immer wachſenden Gelig- keiten ging fie ihren Weg. Und wie eine Wandel- dekoration zog dabei der Werdegang ihres Glücks an ihr vorüber.

Auf eine ſo wunderliche Art hatte man ſich kennen gelernt. Faſt verlegen, ja geradeaus: ſehr verlegen 1 man in den erſten Augenblicken voreinander ge⸗ weſen.

Hardy lachte in ſich hinein. Borwin hatte ſie und ihre Mutter gewiſſermaßen „geerbt“. Als der alte Eggsdorf geſtorben war, der wunderliche und ängſtlich kargende Junggeſell, der keinem Staat ſein Geld an⸗ vertraut hätte und der ſein ganzes Vermögen in Hypotheken anlegte, um dabei oft genug Hausbeſitzer wider Willen zu werden ja, als der alte Eggs⸗ dorf ſtarb, erbten u Nichte, Borwins Mutter, und ſein Großneffe Borwin die Reihe kleiner Häuſer in der Vorſtadtſtraße, wo Hardy und ihre Mutter wohnten.

Zwölf kleine Häuſer waren es, jedes für zwei Familien eingerichtet, alle in erſchreckender Weiſe ſo ſehr einander gleichend, daß nur die Hausnummer ſie voneinander unterſchied. Von einer Plattheit der Anordnung und Erfindung, daß ſie kein Auge an⸗ heimeln konnten mit poeſievollen Vorſtellungen vom „eignen“ Dach und traulichen vier Wänden. Sie ver⸗ rieten faſt brutal ihre Beſtimmung, anſtändigem Klein⸗

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bürgertum eine zugleich billige und praktiſche, geſund gelegene Wohnung zu gewähren.

| enn Hardy heimkam, dachte fie oft: Unifor⸗ mierung iſt unſer Los geworden ... Und für ſie beſtand eine 1 1 Verwandtſchaft zwiſchen dieſen zwölf er⸗ ſchrecklich gleichmäßigen Einſtockwerkhäuschen, die ſich Wand an Wand drückten, und den blauen Telephon⸗ bluſen mit den roten Bieſen

Der alte Eggsdorf war in dieſer gräßlichen Reihe ſitzengeblieben, weil der Bauunternehmer verkrachte. Und er hatte ein vortreffliches Geſchäft dabei gemacht. Die „billigen“ Wohnungen, die natürlich für ihre Be⸗ wohner und für das, was ſie boten, immer noch zu teuer erſchienen, vermieteten ſich leicht, und der ſpar⸗ ſame alte Rentier ließ gar nichts machen, was nicht unter Drohungen von ihm als Polizeivorſchrift er⸗ zwungen ward.

An einem Mittag vorigen Frühlings war's ge⸗ weſen, als Borwin Eggsdorf zum erſtenmal an ihrer ffn N Sie, Hardy, war gerade zu Haus und

nete.

Sie ſahen einander in unwillkürlicher Aberraſchun erſtaunt an und zwangen beide dies Erſtaunen raf nieder. Hardy begriff nicht, was dieſe vornehme, hohe Männererſcheinung hier bei ihrer Mutter wollte. Er hatte gedacht: eine Dame!

„Ich bin der neue Hausbeſitzer,“ ſagte er. „Eggs⸗

„Bitte ..“ Und Hardy öffnete die Tür zum Vorder⸗ zimmer. Sie wußte ja: man hatte mit einem neuen Hausherrn zu rechnen, und die Mutter ſprach ſchon: „Verſchlechtern könne man ſich in dieſer Hinſicht ja nicht, und der Neue ließe vielleicht malen und tape⸗ zieren.“

Borwin er geſtand es nachher ward abermals betroffen. Er kam in das winzige Zimmer und fand es überfüllt von alten Sachen, denen man ohne weiteres eine Familiengeſchichte anſah, und die deshalb in dieſem engen Rahmen faſt erſchütternd wirkten. Ol⸗ bilder an den Wänden, alte Porträts ohne glänzenden

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maleriſchen Wert, aber koſtümierte Charaktererſchei⸗ nungen, die, nachgedunkelt, wie ſie waren, beruhigend und vornehm wirkten. Die ſteifen Louis⸗Seize⸗Möbel hatten einen Überzug, der nicht zu den Bronzebeſchlägen und den Buchsbaumeinlagen im goldbraunen Maha⸗ goniholz paßte; man ſah: nicht Stilgefühl, ſondern der Koſtenpunkt hatte bei der Wahl entſchieden. Aber auch ſie war gewiß vor langen Jahren getroffen, denn der braunſchwarz gemuſterte Wolldamaſt war ſchon ſehr verblichen.

Hardy bat oe zu nehmen und entſchuldigte ihre Mutter, die ſich nach Tiſch ſtets ein wenig ausruhe. Sie war ſo rot bei alledem, begriff nicht, warum, und betrug ſich doch voll Haltung und Sicherheit, und in dem Gefühl davon beruhigte ſie ſich nach und nach. Borwin hatte ſich dann ſehr höflich entſchuldigt und geſagt, da alle zwölf Häuſer wie ein Ei dem andern glichen, hätte er zur Kenntnisnahme ſeines Beſitzes es ſich genügen laſſen können, das erſte in der Reihe zu beſehen. Allein er habe gehört, daß alle Häuſer in einem | 0 unrühmlichen Zuſtande der Vernachläſſigung ſeien, und er wünſche, bevor er jemand zur Verwaltung einſetze, einmal von allen Mietern ſelbſt ihre Klagen entgegenzunehmen.

Hardy meinte, ſie wolle Mama rufen. Er bat ſehr befliſſen, die gnädige Frau nicht zu ſtören. Aber Hardy ſagte, Mama habe viel auf dem Herzen, und die drei kleinen Stuben ſeien alle ſo ſchlecht und häßlich tapeziert ichn die winzige Küche grau, und das mache alles noch

werer ...

Und da ſtockte ihre Rede. Sie hatte den wartenden und teilnehmenden Blick gefühlt, mit dem er ſie anſah. Sie mußte ſich zuſammennehmen, um fortzufahren. Und ſie, die in ihren Lebensverhältniſſen wortkarg und verſchloſſen geworden war, fühlte ſich irgendwie zur aufrichtigſten Mitteilſamkeit gedrängt.

„Wir ſind arbeitende Frauen,“ ſagte ſie frei und ſah ihm gerade in die klugen, warmen grauen Augen, „Mutter arbeitet für das Wäſchegeſchäft von Velbers Söhne, und ich bin Telephoniſtin. Wir ſind vor einigen

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Jahren hierhergezogen und fremd in der uns fremden Stadt geblieben. Wir haben gerade dieſe gewählt, als meines Vaters Tod uns heimatlos machte, weil... aber das kann Sie nicht intereſſieren. Ich wollte nur ſagen: das bißchen Friſche und Behagen in unſrer bescheidenen Wohnung iſt das einzige, was wir an Erquickung nach unſrer Arbeit haben. Und daß von Friſche, weder der Wände noch des Holzwerks, keine Rede ſein kann, ſehen Sie wohl. Wir wären auch längſt fortgezogen. Aber Umzug koſtet Geld und Zeit und Kraft. Es iſt mir zu verantwortlich, dieſe An⸗ gelegenheit allein mit Ihnen zu beſprechen, Herr Eggs⸗ dorf. Ich glaube, es würde meine Mutter ein wenig unterhalten und freuen, wenn ſie ſich die Tapeten⸗ farben von Ihnen ausbitten dürfte.“

Dabei hatte Hardy die Bewegung eines Menſchen gemacht, der fortgehen will.

„Laſſen Sie Ihre Frau Mutter ruhen, ich bitte darum. Ich ſehe ja, es ſieht hier recht ſchlimm aus, und ich muß die geſchickten Hände und den Geſchmack anſtaunen, die trotzdem dies Zimmer ſo wohnlich gemacht haben.“

„Alte Sachen wirken immer.“

Borwin erzählte Hardy ſpäter, daß er auf dieſe Bemerkung nicht geantwortet habe, weil eine Frage nach der Herkunft und Geſchichte der Sachen einer Frage nach der Geſchichte der beiden Frauen gleich⸗ gekommen wäre. Und doch ſei ſchon da der warme, faſt zärtliche Wunſch in ihm aufgewallt, viel, ja alles von ihr zu wiſſen.

„Sie werden mir geſtatten, gnädiges Fräulein, wiederzukommen. Wann ſtöre ich Ihre Frau Mutter am wenigſten?“

Und Hardy nannte, ſie konnte gar nicht anders, einen Tag und eine Stunde, wo ſie ſicher war, auch anweſend ſein zu können.

„Inzwiſchen überlegen ſich die Damen vielleicht alles, was zu machen wäre, und werden ſich klar über 10 Tapetenwahl. Ich werde Probenbücher ſchicken aſſen.L⁊ | 7 |

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„Sie ſind ſehr entgegenkommend.“

„Beſitzeregoismus. Meine Mutter und ich hoffen, dieſe Häuſerreihe gelegentlich wieder loszuwerden, ſei es an einen Unternehmer, ſei es an einzelne lichen Und da muß ich ſie wohl erſt einmal in appetitlichen Zuſtand bringen laſſen. Der gute Onkel Eggsdorf war ein wenig Original.“ :

Das Geſpräch drehte fi) dann noch eine Weile um die erſchreckliche Banalität dieſer Behauſungen und um die wichtige und lobenswerte Beſtrebung der Gegenwart, auch dem Minderbemittelten eine Woh⸗ nung von individuellem Reiz zu verſchaffen. Dann hätten ſie es auf keine Weiſe weiter ausſpinnen können, wenn ſie einander nicht in ihrem Betragen auffallend werden wollten.

Nach drei Tagen war Borwin wiedergekommen. ee aber gingen ſie auf der Straße zufällig einmal aneinander vorbei. Vielleicht hatten ſie das ſchon oft getan, ohne einander zu entdecken. Hardy war ja kein Mädchen, das auf ihren Gängen mit hung⸗ rigen Augen umherſuchte, ob ihr ein des Anſchauens werter Mann begegne. Sie konnte es ſpäter gar nicht N daß er ihr nicht ſchon längſt aufgefallen ſei, und geheimnißte allerlei hinein von Menſchen, deren Schickſal es wolle, daß ſie aneinander vorbeiſtreiften, ohne ſich zu erkennen, während doch einer vielleicht den andern aus ſeiner Einſamkeit erlöſen könne. Früher habe ſie auch oft gedacht: alles Leben ſei ein Warten auf etwas, das nie komme. Aber mit ihm ſei das Glück gekommen.

Bei dieſer Begegnung erröteten ſie beide, und Hardy fühlte Ait auf eine verwunderliche und doch wundervolle Art dadurch geängſtigt. Dann kam er. Die Mutter hatte damals alle Spuren ihrer Arbeit in förmlich peinlicher Weiſe weggeräumt. Immer ſchämte fie ſich ja ihrer ...

nd es war geweſen, als ſeien Borwin und Hardy ſchon alte Bekannte.

Hardy litt, weil ſie befürchtete, andre Menſchen könnten die Art und Haltung ihrer Mutter nie ver⸗

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ſtehen, nicht dies Gemiſch von ariſtokratiſchen Allüren und klagender Gedrücktheit und dann dieſe flackernde Unruhe, die oft durch ihr Auge ging, und die von dem geheimen, dämoniſchen Warten kam.. Dem Warten auf die große Schickſalswendung.

Aber Borwin ſchien gar nicht zu bemerken, daß Frau von Arnberg eine peinliche Unausgeglichenheit des Weſens zeigte. Er verſtand ihr mit 5 wohltuendem Takt und ſo ehrerbietig zu begegnen, daß die Mutter dieſen ſeinen Beſuch wie eine geſellſchaftliche Ab⸗ wechſlung genoß.

Dann kam eine komiſche und luſtige Zeit, weil in der engen Wohnung Maurer, Maler und Tapezierer ſich breit machten. Borwin erſchien ſehr oft ſelbſt, und die Arbeiten wurden auf faſt unwahrſcheinliche Weiſe beflügelt. Es kam Hardys Mutter gar nicht zum Bewußtſein, daß dieſe Hausbeſitzerfürſorge un⸗ ewöhnlich ſei, daß ſie für ihre Miete gewiß keinen

nſpruch auf jo gute Tapeten, auf eine ganz mit Kacheln bekleidete Küche, auf einen kleinen Anbau mit Badeſtube und dergleichen mehr hatte. Und wenn ſich Hardy dies aufdrängte, ſo gingen ihre Gedanken flink und ſcheu daran vorbei.

Sie wußten es beide ſehr raſch, daß ſie aufeinander zuſtrebten. Er kam ſo oft, daß auch Hardys Mutter es endlich auffallend 5 mußte. Aber Hardy war ihr dankbar, daß ſie ihren Hoffnungen oder ihren Be⸗ denken keine Worte gab, ſondern ſchweigend und war⸗ tend zuſah. Hardy wußte ja: weniger aus Zartheit als aus Unentſchloſſenheit.

Es wäre die erſte bürgerliche Heirat geweſen, die eine Arnberg gemacht hätte. Und dieſe Vorſtellung ließ ihre Mutter gewiß leiden. Aber Borwin Eggsdorf war ohne Zweifel ein ſehr wohlhabender Mann. Und dieſe Vorſtellung tat ihrer Mutter gewiß wiederum ſo wohl, wie nur dem von Sorgen Gepeitſchten die Ruhe tun kann.

Und ein Sommermittag kam. Hardy hatte ihren freien Tag. Die Mutter trieb ſie hinaus. Wie gern ließ Hardy ſich treiben. |

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Sie war ja jung wie ein Kind, das jubelnd in den Maitag hinausläuft und alle Blumen abreißen möchte, als könne es damit die Schönheit und die Freude handgreiflich in Beſitz nehmen. |

Immer war ihr Gemüt bedrückt geweſen, und im ſtumpfen Einerlei der engſten Daſeinsform waren ihre erſten Mädchenjahre vergangen. Nun, wo ihr drei⸗ undzwanzigſter Geburtstag ſchon hinter ihr lag, kam auf einmal die Jugend.

Das war ein andres Jungſein als jenes holde und ſelbſtverſtändliche einer Siebzehnjährigen! Es war von Erſchütterungen einer leidenſchaftlichen Dankbarkeit und der vollen Erkenntnis und Bewertung des Glücks durchſtrömt.

Sie traf an jenem Tage Borwin. Daß es Zufall geweſen ſei, wollte Hardy gar nicht denken. Es ſchien ſo viel großartiger und geheimnisvoller, an eine gütige, wunderbare, unſichtbare Lenkerhand, die jeden Weg beſtimmt, zu glauben.

Er ritt durch den Tannenwald, der harzig roch von all den jungen Sproſſen, und deſſen ſonſt ſtill wirkendes Dunkelgrün aufgelichtet ſchien von ihnen. Als er ſie in der Schneiſe auf dem Raſenwege daherkommen ſah, den Hut in der Hand, ſchwang er ſich vom Pferd, und es am de E führend, ging er ihr entgegen. Die un⸗ erträgliche Spannung in ihnen war ſo ſtark, daß ſie bei dieſer Begegnung gar nicht erſt verſuchten, eine freie Haltung voreinander zu erheucheln. In ſtummer Not hielten ſie ſich an den Händen. |

Sie fanden einen a am Rande der Tannen, mit weitem Ausblick auf flaches Heidegelände. Da ſaßen ſie nebeneinander. Hinter ihnen hörte man manchmal das leiſe Schnoppern des angebundenen Pferdes. Rieſengroß und hoch über der Heide ſtand ein blaßblauer Himmel, an dem ein ſilbrig glänzendes, dickes, weißes Gewölk ſehr gemächlich und etwas müh⸗ ſam ſich entlangwälzte.

Irgendwo rief zweimal der Kuckuck. Und dann breitete ſich eine feierliche Stille aus; die ganze Weite ſchien voll davon. |

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Da nahm er ſie in ſeine Arme, und ſie küßten ſich in glückſeliger Unerſättlichkeit.

Seitdem hatte die Zeit Flügel gehabt oder nein, hatte ſie ſich nicht vielmehr zu Ewigkeiten gedehnt? Hardy hatte kein Maß mehr für ihren Lauf. Ihr ſchien es, als habe br feit dem Anbeginn ihrer Tage nichts getan, als dieſen Mann geliebt, und immer nur wirklich gelebt, wenn ſie ihn ſah.

Er bat nicht mit offenen Worten: Wir müſſen noch über unſer Bündnis ſchweigen. Aber ſie erriet ſeinen Wunſch aus dem einzigen Umſtande, daß er nicht bei der Mutter um ſie warb. Zunächſt war In ihm dank⸗ bar dafür. Das gab der Mutter Zeit, ſich durch all die Gefühle und Betrachtungen durchzukämpfen, die ſolche Lebenswendung in ihr wieder wachrief. Für die Mutter gab es keine Einfachheiten, keine rechte Gegenwart. Sie hing haltlos und geängſtigt zwiſchen e Vergangenem und zukünftigen Möglich⸗ eiten.

Er kam oft zu ihnen, wie er ſich ſeit jener erſten großmütigen Betätigung als Hausbeſitzer gewöhnt hatte zu tun, wie ein Bekannter, der gern für ein Viertel⸗ ſtündchen vorſpricht. Sie nannten ſich „Sie“ vor der Mutter. Aber in ihren Blicken und in ihrem Weſen war der Glanz unverhüllter Liebe.

Niemals bat er ſie um eine heimliche Zuſammen⸗ kunft. Sie begriff, daß ſeine Achtung vor 915 es ihm verbot. Aber ſie war ſchon wie von feierlichen Feſten erhoben, wenn ſie ihm auf ihrem Berufs⸗ wege begegnete und ſpürte, daß dieſe Begegnung kein Zufall ſei. Sie war ſchon wie durchſtrahn und durchglüht von dem unermeßlichen Glanz der tiefſten Lebensfreude, wenn ſie einen ſeiner herz⸗ lichen Briefe empfing. Ihre Liebe war von jener durchdringenden und ſich ſelbſt ganz und gar auf⸗ gebenden Art, daß ſie gar nichts begehrte neben dem e zu wiſſen, daß er lebe und zuweilen an ſie

enke. & Und wenn fie ſich auf Hardys Sonntagsmorgen⸗ ſpaziergang einmal trafen kurze, vorſichtige Mi⸗

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nuten —, ließ der raſche Kuß, das ſchnelle, zärtliche Wort in ihr einen wahren Rauſch zurück.

So war der Sommer und der Herbſt hin⸗ gegangen. Vielleicht war es die rauhe Zeit, die Schuld daran trug, daß man ſich ſeltener traf. Viel⸗ leicht ſeine Geſchäfte. Hardy wußte es nicht. Sie fühlte nur, der Mut ihrer Liebe verlor ſeine jubel⸗ helle Friſche.

Langſam erhob ſich das Erſtaunen: warum klärt ſich die Lage nicht? Und die Mutter, die ſich durch ihre verworrenen Gemütszuſtände zu der Einſicht durch⸗ gerungen hatte, daß eine Verſorgung der Tochter, ehe ihre Jugend verblühe, doch das vernünftigſte ſei, die Mutter begann zu fragen |

Nun ging Hardy zu dieſer Zuſammenkunft wie ein armes kleines Mädchen aus dem Volke, das ſeinen Schatz nur verſtohlen an Straßenecken oder in den Anlagen treffen kann, weil ihre Liebe kein Heim und kein Recht und vielleicht keine Zukunft hat.

Aber fie ging tapfer und gläubig.

Er hatte ſie gerufen! Das war ihr genug.

Die Straße, die ſich leiſe ſenkte, nahm ein Ende. Sie mündete in eine einſeitig bebaute Uferſtraße, an deren granitenem Kai Lindenbäume entlang ſtanden.

Das Waſſerband des Stadtgrabens blinkte auf, melancholiſch und froſtig. Schwarz und ſtellenweiſe wie Filigran von willkürlichen Durchſichten gefleckt, zogen ſich drüben die winterkahlen Anlagen hin. Die Lichter von Gaslaternen und aus erleuchteten Fenſtern ſchimmerten da und dort hindurch, als hätten ſie die Aufgabe, zu melden, daß jenſeit der Anlagen wieder eine einſeitige Straße ſich ſtrecke.

Die Lichter hatten Meſſingglanz und wurden die Urſache, daß die Luft noch ſchwärzer ſchien, als ſie draußen ohne die Folie der künſtlichen Helligkeiten ſein mochte. 8

Nun klang Hardys raſcher Schritt klappend wider auf den Platten der gußeiſernen Fußgängerbrücke, die hier den Stadtgraben in kurzem, allzu gewölbtem Bogen überſchlug. | |

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Und dann noch zehn Schritte links. Vorbei an Roſenrabatten, die unter dicken, daraufgelagerten Tan⸗ nenzweigen ſich warm hielten. Entlang an der immer⸗ grünen Mauer einer hohen geſchorenen Taxushecke. Sie bog ſich bald hinein zum Halbrund, das dem Denk⸗ mal Rahmen und Hintergrund war.

Ah zur Stelle zur Stelle!

Aus ihrer Bruſt wallte ein Jauchzen empor ſie nahm ihr überbrauſendes Gefühl ſtark in beide Hände und bezwang 10 damit er es nicht errate, wie faſt bis zur Würdeloſigkeit die Freude, ihn zu ſehen, ſie betäubte.

Die Büſte des an Engelmann war von gold⸗ brauner, noch gänzlich unpatinierter Bronze und thronte ſchwer auf einem ße Bunte v Porphyrunterbau. Drei niedrige, lehnenloſe Bänke von dem gleichen roten Geſtein ſtanden rechts und links und in der Tiefe des Heckenhalbrundes. Herr Engelmann war nach ſeinem Tode u verdienter Mitbürger“ geweſen. Wenn der Sonnenſchein oder abends das Licht aus der Laterne ihm gegenüber am Rande des Stadt⸗

rabens die Bronze traf, greibie fie. Und das be⸗ beuge Geſicht ſchien auf das lebendigſte den feiſten ettglanz zu haben, in dem es ſtets rötlich erſtrahlte, als Herrn Engelmanns Daſein ſich noch zwiſchen Frühſchoppen und Diner bewegte, und als noch kein Menſch ahnte, daß er eines Tages, durch ſein über⸗ raſchendes Teſtament zugunſten zahlreicher ſehr nütz⸗ licher, ſehr wohltätiger und ſehr dringend erwünſchter Stiftungen, „unſer verdienter Mitbürger“ geweſen ſein würde. |

Auch jetzt, an dieſem düſtern Abend, lächelte ſein Geſicht voll und genußzufrieden. Denn ſo dicht war der Nebel nicht, daß er ſchon die kleine Ent⸗ ernung zwiſchen der Laterne und Herrn Engelmann

ätte mit grauen Schleiern verhängen können. Ja

er lächelte beinahe ſpöttiſch. Als wiſſe er wohl, daß hinter ſeinem Rücken etwas vorgehe, von dem er in me Lebemannsdiskretion keine Notiz nehmen wolle. |

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Da ſtanden zwei ein Mann und ein Weib. Doch nicht in den drängenden, ſehnſüchtigen Um⸗ armungen von zweien, die es kaum mehr ertragen, nicht eins im andern aufgehen zu dürfen. |

Der Mann umſchloß mit feinen beiden Händen feſt die Rechte des Mädchens. Und Hardy, von Schwäche überwältigt, in einer jähen Entmutigung, halb ohnmächtig, hatte ihren Kopf vorwärts gegen ſeine Schultern geneigt. Sie drückte faſt ihr Geſicht in den Stoff ſeines Mantels.

Er hatte ſie nicht in ſeine Arme gezogen und ihre Lippen nicht geküßt bei dieſem heißerſehnten und zeugenloſen Wiederſehen.

Darüber flutete, von dem furchtbaren Gegenanprall gedämmt, all ihre brauſende Freude zurück und wandelte ſich in tolle Angſt. |

Sie wollte irgend etwas Vernünftiges denken. Sich ſelbſt beſchwichtigen ... Jawohl, es war fein Reſpekt vor ihr, der ihn befangen machte und ſeine Gebärden faſt ablehnend. Es erſchien ihm ihrer und ihrer Liebe nicht würdig, daß man ſich hier traf wie ein Soldat und fein Mädchen ... Aber das Weib in ihr ſchrie auf: Reſpekt? Ich liebe ihn, ich liebe ihn! Er kann mich ja treten, wenn er will nur nicht kalt ſein nicht kalt. | Er fühlte wohl das ſtumme Flehen um das Almoſen von ein bißchen Zärtlichkeit, das in der 5175 lag, wie ſie ihr Geſicht gegen ſeinen Oberarm preßte.

Der Ausdruck von gequältem Ernſt auf ſeinen Zügen verſchärfte ſich noch. „Hardy,“ ſagte er, „ich danke dir, daß du gekommen biſt.“

Sie ſchwieg. Sie dachte gar nicht daran, ihn zu fragen, was er von ihr wolle. Daß dieſe Zu⸗ ſammenkunft irgendeinen ihr noch verborgenen, aber ſehr wichtigen Zweck habe, war ihr ganz entfallen. Sie fühlte nur: er iſt da und er küßt mich

nicht | „Nicht wahr, Hardy, jo kann es nicht mit uns weitergehen?“ fuhr er fort.

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Sie ſchüttelte den Kopf, hob ihr Geſicht und ſuchte mit ihren flehenden Blicken ſeine Augen. Sie ſah ihn ganz deutlich. Er ſtand im Lichtbande, das an Herrn Engelmann vorbei von der Laterne zur Taxuswand ging. Sein Antlitz war das eines rechten Mannes es ſchien wohlgebildet, offen, feſt, man mußte ein gutes Zutrauen zu dieſem Geſicht haben, als dem eines, den man nicht in Unſicherheiten und niemals ſchwankend trifft.

Und der Blick in dieſe von ihr vergötterten Züge gab Hardy ein wenig Ruhe zurück.

„Mama,“ ſprach ſie, „die arme Mama fängt ſchon an zu fragen.“

Und aus einem ihm ganz und gar unbegreiflichen, geheimen Grunde lächelte ſie ihn jetzt an.

Mein Gott, dachte er verzweifelt, wie man ihr gut ſein muß, wenn ſie lächelt.

Das ganze Geſicht, oft ein wenig bleich und er⸗ müdet und von ſtarkem Empfindungsleben ſehr durch⸗ geiſtigt, wurde ſo rührend jung und zutraulich, wenn es lächelte. Das hatte er ſo oft beobachtet. Er ahnte nicht, daß ſie ihm eben jetzt all ihr Zutrauen zu⸗ lächeln wollte als Ausgleich der kurzen, raſenden Ent⸗ täuſchung.

„Deine Mutter hat ein Recht, zu fragen,“ ſagte er. „Ich hätte mich niemals fortreißen laſſen dürfen, dich zu küſſen, dir von Liebe zu ſprechen, wenn > we unmittelbar daran eine Werbung knüpfen onnte.“

„Du haſt dich nicht fortreißen laſſen es hat uns fortgeriſſen ... Liebe kann ſich nicht immer bedächtig nach den äußeren Verhältniſſen umſehen. Auch unſre werden ſich klären. Du wirſt mir ſagen, weshalb du noch nicht um mich angehalten haſt.“

Immer feſter wurde ihre Haltung. Eine gutgläubige Sicherheit wuchs in ihr: er hatte er Sorge, und fie war ihm die nächſte dazu, die mit ihm zu bereden; es handelte ſich um ihre Vereinigung, und ihrer Liebe warteten vielleicht weitere Prüfungen, vor denen er zögernd ſtand, zögernd, ob er ſie Hardy

XXVII. I. 3

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zumuten dürfe. Sie war zu jeder bereit. So fühlte ſie und beſtrebte ſich, vernünftig, faſt nüchtern zu aſſen kön Er ſollte ſpüren, daß er ſich auf ſie verlaſſen könne, daß Tränen und Szenen ihm keinen Kampf erſchweren würden.

„Das iſt nicht mit zwei Worten zu ſagen, liebe Hardy,“ begann er. Und es war ganz unwillkürlich, daß ſie nun auf dem engen Platze hinter dem Denk⸗ mal, vor der Bank in der Halbrundtiefe hin und her ſchritten, bald durch den ſcharfen Schlagſchatten, bald durch das gelbe Lichtband. „Du müßteſt meine Mutter kennen, die ich nicht kritiſieren kann und darf, in ihrer leidenſchaftlichen, ehrgeizigen und ſich gegen allen Kummer mit wahrhaft elementarer Kraft wehrenden Art. Du müßteſt genau ermeſſen können, wie ſie unter der flotten Lebensauffaſſung meines Vaters in immer wacher Eiferſucht gelitten hat nicht in Eifer⸗ ſucht der Liebe, ſondern vielleicht der Eitelkeit. Ach, über ſie ſprechen iſt doch ſchon Kritik... Aber du müßteſt auch wiſſen, wie ſie ſich gequält hat, als mein älterer Bruder, der erſte Erbe des Namens, auf den ſie ſo ſtolz iſt, der vorbeſtimmte Chef unſres alten Hauſes, ihr Ebenbild, ihr Liebling ja, als er vor fünf Jahren ſich mit einem Mädchen verheiratete, das tief unter unſern Kreiſen ſtand. Büfettdame war ſie geweſen in einem Cafe ... Mutter ſchämte ſich vor der ganzen Stadt ... Eine Verſöhnung, ein Familien⸗ leben war unmöglich. Mein Bruder ging nach Süd⸗ amerika Mutter ließ ihm ſein Pflichtteil auszahlen man darf nicht ſeinen Namen vor ihr nennen, nicht einmal ſagen, daß er dort aut vorwärtskommt Mutter jagt: ‚Sch habe genug Argerniſſe und Kummer in meinem Leben gehabt, nun will ich's endlich fried⸗ lich und heiter haben.““

Ah! dachte Hardy in einer bitteren Aufwallung, und nun möchteſt du nicht kommen und geſtehen, daß du eine arme Telephoniſtin heiraten willft.

Aber gleich dachte ſie weiter: Dies liegt ja anders. Ich bin doch eine Arnberg.

Faſt hätte ſie es geſagt. Und in der Dunkelheit

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ſtark errötend, bezwang ſie 12: 15 ward bewußt: Dieſe ſtolzen Bürgerfamilien der Hanſeſtadt empfanden keinen Unterſchied zwiſchen ihren angeſehenen Namen und denen alter Adelsfamilien. Borwins Mutter im⸗ ponierten ganz gewiß keine ſieben⸗ oder neunzackigen Kronen. Und vor allen Dingen nicht, wenn ſie nicht mit Stellung verknüpft waren.

Borwin wartete vielleicht auf eine Frage, die ihm vorwärts helfen ſolle. Aber als Hardy ſo vollkommen ſchwieg, ſprach er weiter. Er wußte, daß er den Mut zur Ehrlichkeit haben müſſe. Daß ganz allein die grauſamſte Wahrhaftigkeit ihn vor ſich ſelbſt beſtehen laſſen konnte.

Er nahm Hardys Hand. Sie ſtanden im Schatten hinter dem Porphyrblock.

„Ich war damals entſchloſſen, Mutters Zorn zu begegnen, ihre Enttäuſchung zu entwaffnen. Ich hoffte, wenn ſie dich erſt kennen lernen würde, ſo ſollten alle Vorurteile ſich in Liebe und Achtung verwandeln. Denn ſo merkwürdig unmodern Mutter auch geblieben iſt weißt du, ſie ih zu ſtark mit ſich und den Wichtig⸗ keiten ihrer geſelligen Umwelt beſchäftigt und ſieht nicht über ihre Grenzen hinaus Ja, ich dachte doch, Mutter wird begreifen, wie wundervoll das iſt, wie du arbeiteſt ... Aber ſieh, damals war Mutter gerade kränklich. Ich glaube, ich ſprach manchmal davon. Ich wollte ein wenig warten, ehe ich ihr Erregungen zumutete. Das kann ich vor dir vertreten, Hardy es war liebevolle Schonung damals ja, das war es.“ |

Hardy drückte ihm ganz ſanft, beinahe tröſtend die

and. „Entſchuldige dich nicht. Du hatteſt recht. Ich De 5 deine Gründe geglaubt, auch als du ſie ver⸗ wiegſt.“ Ihr unbedingtes Vertrauen in die Anſtändigkeit ſeiner Geſinnung erſchütterte ihn tief. „Und du fahl nicht einmal, warum ich auch ſpäter noch ſchwieg?“

ſprach er. „Nein. Denn ich liebe dich und glaube an dich.“

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Er ließ fie ſtehen. Er ging mit ein paar ſtarken Schritten hin und her. Wie ſchwer machte ſie es ihm, wie ſchwer. Und wähnte gewiß, daß ſie c ihm in beſcheidener, ergebener Geduld leicht mache.

Wenn je doch geklagt hätte! Wenn fie doch leidenſchaftliche Vorwürfe erheben wollte! Ihm war, als würden ſich ihm dann Wege auftun, die ihn raſcher und leichter zum Ziel eines Geſtändniſſes leiten könnten.

Und in der furchtbaren und geheimnisvollen Grau⸗ ſamkeit des Mannes empfand er die einſt bewunderte Selbſtloſigkeit ihrer Liebe wie eine Laſt.

Plötzlich ſtand er vor ihr ſtill.

„Meine Haltung damals die der erſten Wochen, kann ich entſchuldigen. Die der ſpäteren nicht. Nicht vor dir, nicht vor mir! Kind was ſoll ich dir er⸗ klären. Ich kann es mir ja nicht einmal ſelber er⸗ klären. Immer hab' ich von mir gedacht, ich ſei ein Mann wiſſe, was ich wolle ... und erlebe Un⸗ begreiflichkeiten in mir. Hardy ich verdiene deine Liebe nicht..“

Er preßte ihr ſehr heftig kurz die Hand, ließ ſie wieder fallen und wandte ſich ab.

Hardy ſtand ſchweigend vielleicht erſtaunt oder in einer aufdämmernden, ungeheuern Angft ...

„Ich verdiene deine Liebe nicht“ das waren Worte, die zu andrer Stunde, in andrem Zuſammen⸗ ang ſüße Zärtlichkeiten bedeuten konnten. Leiſe uſchten Erinnerungen durch fie hin ſo, als höre ſie den Nachhall von Liebesgeflüſter ihr war, als hätte ſie ihm, als hätte er ihr früher ſchon einmal die gleichen Worte geſagt. Vielleicht ſagt Liebe das immer weil ihr alle Hingebung als Gnadengeſchenk ericheint ... .

Nein, dies Wort an ſich kam nicht auf ſie zu wie drohendes Unheil. Aber wie er es ſprach ſein Ton ſein jähes Abwenden wie einer, der den Anblick der Frau nicht erträgt wie ein Henker, der ſein Opfer nicht anjehen mag ...

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Hardy ſetzte ſich mit matten Knieen auf die niedere Bank in der Tiefe des Halbrundes.

Froſt ſchauerte durch ſie hin. Vom feuchten Erd⸗ boden herauf, aus der Grabeskühle der Steinbank her, von der düſtern, naſſen Hecke hinter ihr kamen Ströme eiſiger Kälte und krochen durch ihre Adern. Sie zitterte.

Sie wollte es nicht ſagen ſie dachte gar nicht klar, was ſie ſagte und dennoch ſprach ſie leiſe: „Du liebſt mich nicht mehr?“

Ihm klang es wie eine ſanfte, rührende Frage.

Er ſetzte ſich zu ihr und ſtreichelte immerfort die eine ihrer Hände, die er genommen hatte.

„Sieh, Kind wenn ich das ſagen könnte klar grauſam das wär' Ai einfach für mich. Glaub’ mir eine ſo ungeheure Grauſamkeit wäre wie Er⸗ löſung. Gäbe meinem Leben Sicherheit zurück. Sn weiß a Begreife dies Furchtbare: ich wei es nicht.“

Sie zitterte ſtärker. Sie ſchloß die Augen. Sie chien ſich gewaltſam faſſen zu wollen. Langſam zog ie ihre Hand aus ſeinen ſtreichelnden Händen fort o langſam, als koſte ihr dieſe Bewegung eine große körperliche Anſtrengung.

Er horchte. Er wußte nicht, wie lange. Er wagte nicht, dieſe bleierne Stille zu unterbrechen. Ihm war, als ſchone er dies arme Herz, das er ver⸗ wunden mußte, wenn er ihm die Wunden langſam beibringe.

Und endlich hörte er eine ganz leiſe Stimme ſagen: „Liebe weiß man doch . .. Nicht wiſſen, ift

onaten voll ſchrecklicher Zuſtände ich ſage dir, ich dachte manchmal, ich ver⸗

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löre den Verſtand ieh, und ich wollte anſtändig handeln, gegen dich, vor mir ſelbſt wenn man in geheimſten Augenblicken daran zweifelt, ob man ſich denn noch als Ehrenmann eintaxieren darf wie komme denn gerade ich in dieſe Kämpfe?! Immer hab' ich mich für einen faſt nüchternen Kopf gehalten. Aber das alles hat ja mit dem Verſtand auch nichts zu tun. Es höhnt gegen ihn an. Spottet ſeiner. Trumpft gegen ihn, auf. Alles war ſtärker als er als mein Wille ...

11 liebſt nun eine andre,“ ſagte Hardy ganz

mpf faſt dumm ja, von einer Art blöden

Unfählgfeit befallen, jich zu 5 ſich zu wehren gelähmt von dem neuen Wiſſen, das ſie noch nicht in ſich aufnehmen konnte, das ſich vielmehr auf ſie warf wie ein Untier, unter deſſen Tatzen man ſich in Todesfurcht nicht zu rühren wagt.

„Eine andre!“ ſprach er leidenſchaftlich, „ja nein! 30 weiß es nicht. Ich will nicht lügen. Ich weiß es

Ja, ja, ja! Aber ich habe vielleicht nicht auf⸗

geh dich liebzuhaben, Hardy. Voll Dankbarkeit, voll Andacht, voll Ehrfurcht ſind meine Gedanken bei dir wie oft wie oft ich weiß nicht, ob die andre, wenn ſie es wüßte, mir das verzeihen könnte an meine Liebe glauben würde ... Sie wird vielleicht ſagen wie du: nicht wiſſen, iſt nicht lieben. Alles drängt mich zu ihr. Und ich ſehe, ſie wird zerbrechen, wenn ich 10 nicht in meine Arme nehme. Und dennoch, Hardy wenn ich mir eine ru denke ohne lich, iſt mir, als müßte ich vor Wehmut weinen .. ich, ein Mann ... und ich höre auf, ein Mann zu ſein. Du biſt mir wie eine Heilige, Hardy man wird ſo ruhig und gut neben dir. Mir iſt, als verlör' ich alles a der Zukunft, wenn ich dich verliere. Und dennoch, dennoch bitte ich dich: gib mich frei ...“

„Ja, ſagte Hardy ganz ſachte vor ſich hin, „ich gebe dich frei.“

Und zugleich war ihr, als betäube die Kälte ſie, die von allen Seiten in i hineinſtrömte. Und ſie dachte ganz e wie iſt es hier kalt.

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Ihr war, als erlebe fie irgend etwas Furchtbares, das ſie nicht ganz begreife. Klar begriff ſie nur, daß es ſehr kalt ſei.

Er legte die Hand über die Augen. Das Wort tat ihm ſehr weh. Und weil es ſo leiſe und ergeben geſprochen ward, gerade deshalb ſchwoll der Klang an, immer ſtärker, wie zum Poſaunenton, und dröhnte rufend durch die Nacht und klagte ihn an.

„Hardy,“ begann er abermals, „ich will dir nicht viel von dieſen Kämpfen ſprechen. Sie wurden durch die elendeſten Äußerlichkeiten erſchwert. Sie hatten einen ſchändlichen Beigeſchmack. Ich fürchte, wenn deine Mutter erfährt, daß wir uns trennen mußten, und vielleicht eines Tages hört, daß ich mich mit einem ſehr reichen Mädchen verlobe, wird ſie bittere Worte

aben. Du weißt es, du, daß dieſe Dinge nicht, gar nicht mit dieſem unfaßlichen Erleben verflochten ſind. Ja, im Gegenteil, um dieſes grauſamen Zufalls willen hatte ich ſo lange gekämpft fand ich ſo lange nicht den Mut der Wahrheit. War in furchtbarer Ver⸗ ſuchung, unfrei, mit geteiltem Gefühl, doch um dich, um dich zu werben.“ |

Und nach einer ganz kurzen Pauſe fragte er ge- drückt: „Hätt' ich das gedurft? Mit einer halben Lüge? ... Wär’ das noch Glück für dich geweſen?“

Sie ſann der Frage nach. Es war eine Männer⸗ frage eine überkluge Frage

Ja, ſchrie ihr Herz, beſſer halb als gar nicht, und vielleicht hätteſt du die andre vergeſſen, die ſich zwiſchen dich und mich gedrängt hat.

Aber ſie ſchwieg. Sie hatte eine dumpfe Emp⸗ findung, als ob dies Gefühl nicht groß, nicht erhaben, vielleicht nicht einmal anſtändig ſei. Ihr war, als blute ſie, und ihr Leben ſtröme hin, und ſie wolle und müſſe ſich doch an dies Leben klammern, das ſo ſchön, ſo 5 reich an Glück geweſen war. Aber ſie ſchwieg. Es war das einzige an Heldenmut, was ſie aufbringen konnte.

Irgendwo hinter der Taxushecke war Lärm. Stim⸗ menklang, der näher kam und wieder kleiner wurde

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und fi) dann verlor. Und im Rücken der Anlagen, auf der Straße, rollte ein Wagen entlang.

Dann füllte wieder die traurige Stille der feuchten Winternacht das kahle Halbdunkel aus. Um den Bronze⸗ kopf Herrn Engelmanns flimmerte ein Aſtralſchein, den die Gasflamme ſpendete.

Am jenſeitigen Ufer des Stadtgrabens huſchte die Laterne eines Radfahrers hin und verblitzte.

Hardy erhob ſich. Sie ſagte: „Es iſt ſehr kalt. Ich muß nun fort ich muß nun fort.“

Er hörte oder verſtand ihre Worte nicht. Sie . noch einmal, in herzzerreißender Ein⸗ förmigkeit: „Ich muß nun fort

Dies war das einzige, was ſie genau wußte, daß ſie hier nicht ſitzenbleiben konnte; ihr war, als werde ie zu kaltem Stein mit der ſteinernen Bank. Ihr ſchmerzte der Rücken vor Kälte.

Ja, ſie mußte. Sie mußten ſich trennen. Das be⸗ griff auch er. Eine heiße Aufwallung ſtieg in ihm empor. Er hätte ſein halbes Leben darum gegeben, wenn er ſie in brüderlicher Zärtlichkeit, tröſtend, an⸗ dächtig hätte in ſeine Arme nehmen dürfen. Tauſend gute Worte hätte er ihr ſagen mögen. Innigen Dank für all die Liebe und all den Glauben ... Eine Ahnung ergriff ihn, daß große Frauenliebe ein unerhörter Schatz ſei und daß Haie Herz ihn wahrhaft geliebt habe. Aber ſein Schickſal riß ihn fort. Eine jähe Unruhe übermannte ihn: hätte ich mich beſinnen, frühzeitig bewußter dagegen ſtemmen ſollen? Bei der erſten Witterung des beginnenden Zwieſpaltes fliehen ſollen? Aber wie hätte er fliehen können, ohne brutal zu werden? Wie gebunden iſt man an den Alltag. Man lebt nicht in einer Märchenwelt, wo man ſeinem Roß die Sporen geben und davonſprengen kann, wenn es ſcheint, als ſtehe eine Verſucherin am Wege. Ach, und ſeine holde Verſucherin war ſich der Gefahren, die von ihr ausgingen, ſo unbewußt.

„Hardy,“ ſagte er mit bebendem Stimmklang, „ich tu dir jo Schweres an glaub' mir, auch ich leide. wie könnte ich dich vergeſſen .. Wie könnte ich

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er a finden ... ſage mir, kannſt du mir ver⸗ zeihen?“ N

Er nahm abermals ihre Hand. Er wagte es nicht, die ganze, liebe Geſtalt an ſich zu ziehen. Er ſah Hardys Geſicht klar im Lichte. |

Noch einmal nahm er dieſe Züge ganz in ſich auf, die feinen, vornehmen Linien voll ſtiller Schön⸗ heit; die etwas ſtrengen Brauen über den großen ernſten Augen, die doch ſo lachen und glänzen 8 im Glück, und die roten, geſchwungenen

ippen ...

Er ſah ein ſtarkes Leben über dieſes Geſicht gehen. Sein Herz klopfte. Er hätte hineinſehen mögen in ihr Inneres, um zu erfahren, was darin vorging.

Er wartete. Er ſah, wie ſich die Augen ſchloſſen, wie die Stirn ſich zuſammenzog in unausſprech⸗ lichen, verſchwiegenen Schmerzen, er ſpürte, wie ein Schwanken durch ihre Geſtalt ging, er fühlte, daß die Hand in der feinen wie ein Stück Stein war Eine ungeheure Angſt ergriff ihn. Sie würde um⸗ ſinken ſie würde erwachen aus dieſer ſtummen Qual und ſich vorwärts, dem Waſſer zu werfen irgend etwas Entſetzliches würde, mußte ſich ſogleich ereignen

„Hardy!“ brachte er heraus; beſchwörend von Mitleid wie von Furcht ganz benommen.

Da atmete ſie tief auf. Sie öffnete die Augen.

Sie ſah ihn an, lange, lange ... in einem unaus⸗ 5 9 Gram und in einer Liebeskraft ohne

e

Seine Augen füllten ſich mit Tränen, und er biß die Lippen zuſammen, um mannhafte Haltung zu bewahren.

„Ich verzeihe dir!“ ſagte ſie klar.

Er wollte etwas ſprechen der Ton gurgelte nur in ſeiner Kehle. .

Sie machte eine Handbewegung er verſtand ſie: geh, hieß es, geh! .

Fort von dieſer Stelle fort aus meinem Leben...

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Geh! Es war kein zorniger Befehl eine Bitte die letzte vor dem Zuſammenbrechen aller Kraft.

Er konnte ihr nicht gehorchen, es war ihm, als ſei er an ihre Nähe gebunden; ihm fehlte auch der Mut, ſie hier einſam ſtehen zu laſſen. Und als er ſo zögerte, ſah fie ihn noch einmal an.

Immer, wenn er ſpäter an dieſen Blick zurückdachte, war ihm, als ſei er voll Mitleid geweſen.

Dann ſenkte ſie das Haupt und ſchritt an ihm vorbei wie an einem Fremden.

„Hardy!“ ſchrie er leiſe auf. | |

Aber ſein Ruf hielt fie nicht mehr. Sie ging mit gleichmäßigen Schritten in die Nacht hinein.

Sie wanderte gleichſam wanderte immerfort immerfort als ſei ihr aufgegeben, in ein neues Land und in ein neues Leben zu wandern. Als ſei ſie aus dieſer Welt verjagt und müſſe nun den weiten Weg gehen in eine andre, wo es keine Sonne, kein Glück mehr gab.

Sie war ſo müde. Ihre Füße waren ſo ſchwer. Die ſteinerne Kälte, die ihr den Rücken faſt zerbrach, wollte nicht aus ihren Gliedern weichen. Aber ſie mußte wandern wandern.

Sie bemerkte gar nicht, daß ſie die ganzen Anlagen, ſch 5 innere Stadt wie ein Ring umgaben, um⸗

ritt. |

Sie wanderte nur immerfort, gedrückt von der bleiernen Laſt eines sen Gedankens, den ſie herumtrug mit ſich, und den durch das Leben zu tragen fortab ihr eigentlicher, einziger Daſeinszweck

ien

Und endlich auf dieſer Wanderung voll dumpfer Verzweiflung, endlich mußte ſie naturgemäß wieder bei dem Engelmanndenkmal ankommen.

Mit ſeinem lebendigen Fettglanz auf dem ſeoh übe Bronzegeſicht lächelte es noch immer daſeins⸗ roh über den Stadtgraben hin, über deſſen ſchwarze Waſſer jetzt eine ſchuppige Bewegung ging mit a raſch und vielgeſtaltig wechſelnden Diamant⸗ reflexen.

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Vor dieſem harmloſen Denkmal erſchrak Hardy, wie man vor Zeugen erſchrickt.

Sie erwachte aus ihrer Betäubung.

Und fühlte auf einmal eine ſo tödliche Erſchöpfung in ihrem ganzen Körper, daß ſie ſich davor entſetzte, wieder weitergehen zu müſſen.

Sie blickte geängſtigt umher ... Hier, hier hatte fie ihn noch geſehen und gehört ... Nun war er fort Sie ſah ihn niemals mehr. Er war fort

Sie ſchluchzte und ſank auf die Bank nieder, wo ſie vorhin geſeſſen und ihr Todesurteil gehört. Sie weinte vor ſich hin.

Auf einmal fiel ihr die Mutter ein. Und die ſpäte Stunde. All das Drum und Dran des Lebens. O, ſie hätte es für ſich allein haben mögen, es ſtill und tragen wie ein Unglück, deſſen man ſich

ämt.

Sie erhob ſich. Sie haſtete weiter. Es waren 8 noch zwanzig Minuten zu gehen bis nach aus

Ein leerer Wagen begegnete ihr. Schon wollte ſie ihn anrufen. Da fielen ihr all die kleinen banalen Umſtände ein: Sie hatte nur wenige Pfennige in der Taſche und konnte keine Nachtdroſchte bezahlen; die Anfahrt eines Wagens würde die Mutter, die gewiß ſchon in Sorgen verging, entſetzen.

Sie begann faſt zu laufen. Und bog endlich in die Tannenſtraße ein, wo die zwölf gleichen Häuſer am Fußſteige ſich hinreihten, eine Wachtpoſtenkette des Kleinbürgertums, und mit den gleichen philiſtröſen und anmaßenden Beobachtergeſichtern das Leben an ſich vorbeiziehen ließen.

Auf dem Flur ſchon ſtürzte ihr die Mutter ent⸗ gegen, außer ſich. „Es iſt nach elf ... Um Gottes willen = was iſt was iſt ...? Und wie ſiehſt du aus .. .“

Sie betaſtete ihr Kind, als könne ſie von der Winter⸗ jacke die Geſchehniſſe abfühlen, durch die Hardy ge⸗ gangen war.

„Verzeih, Mutter,“ murmelte Hardy. Die ältere

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Frau war aber keine von denen, die erſt einmal ſtill ſorgen, wenn de ſehen, daß jemand zuſammenbricht. Sie wollte auch zugleich ſchon wiſſen, warum denn der Zuſammenbruch .

Und während ſie Hardy aus der feuchten Jacke half und ihr Hut und Pelzkragen abnahm, den kaffee⸗ ſchwarz gewordenen Tee aus der Ofenröhre herantrug und einſchenkte, fragte ſie, zwiſchen einer vorwurfs⸗ vollen und einer geängſtigten Stimmung hin und her ſchwankend, was denn geſchehen ſei.

Hardy netzte ihre Lippen ein wenig mit dem gallen⸗ bitteren heißen Trank. Dann legte ſie ihren Kopf erſchöpft zurück. Und nun ſah die Mutter erſt ganz deutlich, wie blaß und zerſtört das Geſicht war, wie ſchwarz die Schatten unter ihren Augen.

„Ich hatte eine Zuſammenkunft mit Borwin, Mutter.“

„Ah das iſt aber! ... Das, Hardy! .. . nein es iſt unerhört unpaffend .. .“

Hardy machte eine Handbewegung ſie lächelte ein wenig in unendlicher Verachtung ſo gering⸗ fügiger Dinge.

„Mutter,“ ſagte ſie, „er mußte mich 1 das mußte er es iſt alles vorbei alles für immer.“

Die Mutter ſchrie leiſe auf. Dann ſtand ſie ent⸗ ſetzt aber ſie war un die Natur, ſich lange vom Schreck bändigen zu laſſen. Sie mußte klagen, ſich empören, fragen... an dem Unabänderlichen Hartz Hatte es gewußt, als fie fih nach ban

ardy hatte es gewußt, als ſie ſich na auſe ſenge dn daß ſie ſprechen müſſe. Daß ihr die arm⸗ elige Wohltat, ſchweigen zu dürfen, vorenthalten werden würde. In die eigene Not begann ſich ihr nun die bittere Enttäuſchung der Mutter zu mengen. Es zerbrach ſie faſt, zu denken, daß das gelobte Land der Sorgloſigkeit, in das die Mutter ſchon ſo ſicheren Blicks hinübergeſehen hatte, ſich nun wieder in grauen Nebel auflöſte. Sie log nicht. Sie ſagte der armen, vom Daſein

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jo raſtlos Gehetzten nur die Wahrheit: daß Borwin erkannt habe, ſeine Liebe ſei nicht von der echten, rechten Art und ſein Gefühl nicht ſtark genug, um mit ihr ſich für immer verbinden zu können. Aber ſie verſchwieg, daß er in einem furchtbaren Zwieſpalte zwiſchen ihr und einer neuen Liebe ſich durch dieſe von ihr fortgezogen fühle.

Die Mutter, ohne nur von fern zu ahnen, daß ſie mit tauſend Grauſamkeiten die Tochter folterte, konnte nichts begreifen. Sie ſah ja ihr Kind, wie ſie es kannte: als ein Geſchöpf voll erleſener Eigenſchaften, ſelbſtlos, rein, beſcheiden, ſtolz, ſchön, frühgereift in ſo vielen Prüfungen. Und ſolche Werte konnte ein Mann von ſich werfen? Wie war das zu verſtehen? Nein, man konnte es nie verſtehen. Und wie denn: um ihr das zu ſagen, erbat er eine er als den Er wählte nicht den milderen, den höflicheren, den ſchicklicheren Weg, ihr zu 2 Such gib mir mein Wort zurück? Er wagte es, ihre Tochter, eine Eberhardine von Arn⸗ berg, im Dunkel eines kalten Winterabends zu einer Zuſammenkunft zu beſtellen wie ein kleines Mädel aus dem Volke ...?

8 Immer weiter trug ihr Jammer ſie, hin bis zum orn.

Hardy fühlte wohl dunkel: Zorn iſt Kraft. Zorn erleichtert, hilft ...

Aber ſie konnte die Erregungen der Mutter nicht durch dies Ventil ſich verdampfen laſſen.

Die Schmähworte trafen ſie zu hart.

Sie begriff plötzlich mit dem tiefen Wiſſen der liebenden Frau, warum Borwin ſo gehandelt habe.

„Mutter, verſteh' das doch. Wie leicht wäre das für ihn geweſen, ſchreiben. Wie feig. Wie ein Schuß aus dem Hinterhalt...“ .

Mehr konnte 95 nicht ſagen. Sie ſpürte die Zu⸗ ſtände ſeiner Seele erkannte deutlich, daß er nicht nur um ihretwillen litt daß er an ſich litt durch ſein Schwanken zu Zweifeln am eigenen Werte ge⸗ kommen war daß es an ein unerhört ſchweres Erlebnis war, ſein Gefühl als wandelbar, ja ſchlimmer,

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als zwieſpältig erkannt zu haben daß es für ihn bedeutet hatte: männlich handeln, indem er den ſtehe fand, ihr Aug in Auge die Wahrheit zu ge⸗ tehen ...

Aber all das, was ihr Herz erriet und verſtand, wollte ſie nicht mit lauten Worten von ihm aus⸗

„Feig? ... murmelte die Mutter. Ja, das war auch ihr ein ſchlimmes, unadliges Wort. Sie ar dem nach, als ſei fie auf dem Wege, zu ver⸗ tehen.

Und da glaubte Hardy den Augenblick gekommen, für ſich und ihre Liebe und ihre Leiden um Barm⸗ herzigkeit bitten zu dürfen.

„Mutter,“ ſprach ſie een „tue mir die Liebe... laß uns jo wenig wie möglich davon ſprechen ... ich will verſuchen, es allein zu tragen ... Du ſollſt nicht viel Geduld zu haben brauchen mit mir...“

Ihre Stimme wollte in einem Aufſchluchzen ver⸗

ehen. Und noch einmal nahm ſie ſich zuſammen und Feste leiſe und feſt und feierlich hinzu: „Ich habe ihm verziehen!“ |

Das war vielleicht eine Bitte, verzeih ihm auch du, verzeih ihm..

Die Frau ſtand erſchreckt wie von einer Unfaß⸗ lichkeit jäh betroffen. Mit großen Augen ſtarrte ſie die Tochter an. Sie hielt den Atem an

Und aus dem elenden Geſicht, das von tödlicher Müdigkeit und unerhörten Leiden ganz gealtert ſchien, begegnete den großen, zornigen Augen der Frau ein tiefer, flehender Blick..

Wie ſehr ſie ſich glichen, Mutter und Tochter.

Und wie ganz und gar nicht ſie ſich glichen in dieſem Schweigen, wo ſich zwiſchen ihnen ein Abgrund auf⸗ tat. Die gleichen Züge trugen dieſe Geſichter. Aber die der Alteren waren von bitteren Energieen geſchärft, von dieſen machtloſen Energieen einer oft Getretenen und ſich immer Aufbäumenden. Die der Jungen von erhabenem Leid wie verklärt.

„Verzeihen ...“ brachte die Frau endlich mit faſt

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ziſchenden Lauten hervor, „verzeihen ich ihm? Nie nie!! Und du du kannſt es auch nicht. Mach dir nichts vor ... Verzeihen! Das iſt ein übermenſchliches Wort... Ja, übermenſchlich das kann man nicht, wer es ſagt, lügt lügt ſich was vor..."

Hardy ſtand auf. Sie konnte ſich ur wehren. Gegen kein Wort und kein Gefühl. re Kraft war

zu Ende.

Nur Stille und Dunkelheit all ihr Unglück drängte ſich in dieſen einen Wunſch zuſammen.

Und in ihr körperliches Elendgefühl hinein däm⸗ merte auch die Erinnerung, daß morgen wieder ein Tag ſei ein Arbeitstag, an dem ihre Gedanken und ihre Kräfte nicht ihr ſelbſt 1 die Laſttier⸗ een bekam Gewalt über ſie. Sie wußte plötz⸗ ich genau: morgen früh um acht Uhr hebt mein Dienſt wieder an.

Die Mutter ging mit eilenden Füßen hin und

her im Zimmer dem zornigen Tempo ihrer . mit der ganzen Körperhaltung Ausdruck gebe

„O,“ ſagte ſie faſt triumphierend, „ſolche Sachen gehen denn doch nicht ſo einfach hin. Ich werde an Heinz Philipp ſchreiben. Wir ſind denn doch noch keine ſchutzloſen Frauen. Dieſer Menſch weiß doch, daß dein Bruder Offizier iſt. Hat er denn nicht daran edacht, daß dein Bruder Rechenſchaft und Wort⸗ halten ordern könnte?“

1 y ſtand an der Schlafſtubentür noch ein⸗ fel

„Mit dem Degen? .. . Mutter!“ Vor dem Blick und dem Ton ſanken die auf⸗ trumpfenden Gedanken ſogleich in ſich zuſammen. Ja, ja, dachte die Frau, damit macht man die Liebe nicht wieder lebendig, und ein erzwungenes Wort müßte man ihm ja doch wieder vor die Füße werfen. Und plötzlich, das Kleinlichſte faſt grotesk an das Größte knüpfend, ſagte ſie gehäſſig: „Wir ziehen aus. Ich will nicht mehr unter ſeinem Dach wohnen.“

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Hardy hörte es. Sie zog ein wenig ſchmerzlich das Geſicht zuſammen, als ſei ihr Kopfweh nun bis zur Unerträglichkeit geſtiegen.

Sie are nichts mehr. Sie wußte: all das endloje, enge Leid des plagevollen Lebens hatte ihrer Mutter die große Haltung zerbrochen. Sie wußte, nun ſchlichen die Gedanken ihrer Mutter wieder auf den Dornen⸗ wegen hin und ſtanden aufatmend an Gräbern und 150 end, lauernd an der Schwelle eines, der noch ebte |

Ruhelos ging Frau von Arnberg hin und her in den bewegten Falten ihres vertragenen, dünnen ſchwarzen Kleides; die Finger der Linken vorn in den Stoff vor der Bruſt gekrallt, die hängende Rechte zur hohlen Hand gebogen.

Vom Tiſch her ſah ſtill die Lampe dieſem Raub⸗ tiergange zu und ließ ihren Schein bald über den Stoff des linken Oberarms gleiten, bald, wenn die Frau ſich wendete, beleuchtete ſie die helle Innen⸗ fläche der hohlen Hand.

Die Frau dachte in einer ungeheuren Sammlung all De Geiſteskraft nach. Sie 15 15 den Triumph, der ſo etwas von einer Rache in ſich birgt genoß ihn vorweg.

Sie ſpürte herum nach den Möglichkeiten, die ihn ihr für ſich und ihr verſchmähtes Kind bringen ſollten, könnten. Als Siegerin, reich, vornehm, in allen Da⸗ ſeinsbedingungen jenem Manne weit, weit über⸗ legen, wollte ſie eines Tages an ihm vorübergehen. Und das Gefühl auskoſten: er bereut er ſchämt

ich

Nur Geduld mußte man haben. Nur Geduld. Das Schickſal war ja auf dem Wege!

Sie hörte es herankommen, ſeit Jahren, in ſeinem wunderbaren, ungeahnten, überwältigenden Gange...

Wenn ſie noch daran dachte, wie ſie, Armgard von Ullhorn, die arme Beamtentochter, den faſt unbe⸗ mittelten Ange Offizier geheiratet hatte!! Warum eigentlich? ahrſcheinlich aus der Monotonie des Lebens heraus, im Drange nach ſeinen Erfüllungen

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beſitz geweſen, in ein Fideikommiß umgewandelt hatte. Aber ſie hatten ſich im Laufe von mehr als anderthalb Jahrhunderten ſo weit voneinander entfernt, daß ſie keine verwandtſchaftlichen nn unterhielten. Wenigſtens war Heinz Philipp, der letzte Sproß des jüngſten Sohnes jenes Stifters, von ſolchen aus⸗ geſchloſſen. Er war auch zu arm und fühlte ſich zu unbedeutend, um ſich den andern Arnbergs je bemerk⸗ bar zu machen. Sie kannten ſeine Exiſtenz ja aus dem Almanach der uradligen Familien und hätten ihn ſuchen können, wenn es ſie dazu trieb. Aber es fehlte jegliche Veranlaſſung.

Vier Jahre nach ihrer Verheiratung geſchah es, daß das Fideikommiß infolge des Todes des ſehr alten Herrn Dieter von Arnberg, der nur Töchter hatte, auf den nächſten Anwärter, ſeinen Neffen Dieter Philipp, überging. Damals wurde Heinz Philipp zu einem Familientag eingeladen. Allein er war zu arm, um ſich die Reiſe gönnen zu können. Aber bei dieſer Gelegenheit gingen ſeine Gef 250 mit ſeiner Frau die Familienzuſammenhänge durch. Und . raſche

XXVII.. 1.

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Phantaſie ſtellte alles lebendig hin, und ſie begriff, daß nach menſchlicher Berechnung ihr Gatte oder ihr Sohn niemals in den Beſitz kommen würden. Sie ſprachen neidlos und wunſchlos davon, wie man von Märchendingen ſpricht, die einen wohl intereſſieren, aber eben nur als Unterhaltung.

Aber dann dann geſchah eines Tages etwas Grauenerregendes etwas, das den Atem benahm: Dieſer Dieter Philipp und ſein Söhnchen verunglückten beide bei einer Eiſenbahnkataſtrophe, die damals alle Gemüter entſetzte, weil ſie zwölf Menſchen das Leben koſtete und Folge eines beinahe unfaßlichen Verſehens beim Signaliſieren geweſen war. Der arme, kleine Kerl war gleich tot. Sein Vater folgte ihm nach hartem Siechtum bald.

Oh, noch in dieſer Nacht, wo ſie ſo ruhelos wanderte, all ihr Mutterleid in Zorn und Auftrotzen gegen das Geſchick auflöſend, noch jetzt und jeden Tag und jede Stunde erinnerte ſie ſich des dämoniſchen Schrecks, der damals ſo ſeltſam, fühlbar, wie mit tauſend Ameiſen⸗ füßen froſtig über ihre Haut gegangen war.

Man kannte die Toten nicht. Faſt war es im Ge⸗ ſpräch eine erhebende Wichtigkeit geweſen, daß ſie der gleichen Familie, wenn auch einem ganz andern Zweige, angehörten. Und man mußte menſchliche Teilnahme empfinden, wie konnte man anders. Dies ſprach doch zu aller Herzen.

Und dennoch, dennoch zuckte eine raſende Vor⸗ ſtellung auf im Hirn der Frau

Jetzt ſtanden nur noch ihrer drei zwiſchen dem Be⸗ ſitz und ihnen!

Aber Heinz Philipp, der ein vornehmer und maß⸗ voller Mann war, hatte ſeiner Frau verwehrt, der⸗ gleichen auszuſprechen. enn als es einmal ſchien, als läſe er in ihrem flackernden Blicke ihre Gedanken, ſprach er lange und ruhig davon, daß nach dem nun⸗ mehrigen Inhaber Philipp Arnberg, dem kränklichen, alten Großonkel des eben Verſtorbenen, noch Lebrecht 1 käme, und daß es auch noch Dieter Arnberg gäbe.

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Lebrecht Philipp hatte Frau und Kinder, Töchter, aber warum ſollte er nicht noch Söhne bekommen? Dieter war ganz jung. Faſt noch ein Knabe damals, nur etwa zehn Jahre älter als ihre eigenen Kinder.

Vordem hatte ſie mit einer überraſchenden Genauig⸗ keit alle Arnbergs auf ihre verſchieden geartete Zu⸗ ſammengehörigkeit hin benennen können. Sie wußte, in welcher Weiſe ſie als Vettern, Großvettern und ſo weiter 5 kannte ihre Lebensalter, die Familiennamen ihrer Frauen.

Nun aber verſchwand dies alles. Sie wußte und dachte immer nur ganz einfach: Auf Philipp folgt Lebrecht Philipp, auf Lebrecht Philipp folgt Dieter und auf ihn mein Mann mein Mann

So wiederholten ihre Gedanken das, wie ein 8 monoton etwa die deutſchen Kaiſer erſagt.

Aber der alte Herr Philipp, der faſt ſchon ein Sterbender ſchien, als er den Beſitz antrat, lebte zäh noch manches Jahr, und es ſchien, als ſei das Eiſen⸗ bahnunglück, das ſo folgenſchwer die Familie Arn⸗ berg damals e hatte, ein ſinguläres, blind zuſchlagendes Schickſal geweſen, wie es eben immer und überall einmal auftritt.

Für die Frau Armgard waren es ſchwere Jahre. Ihr Mann kam einmal aus dem Manöver mit einer böſen Lungenentzündung nach Hauſe, deren Folgen ſo hartnäckig blieben, daß man ein Stück Kapital opfern mußte für einen Winter in Davos. Für den Sohn hatte man eine Freiſtelle im Kadettenhaus erlangt. Die Tochter wuchs heran und wollte viel lernen. Davos hatte wohl ſeine Schuldigkeit getan, aber immer bedurfte der Familienvater beſonderer Koſt und Pflege. Und ein Soldat aus innerſtem Beruf und von freudiger Begabung war er gewiß nicht. Auch in ſeiner Jugend entſchied die Freiſtelle im Kadettenhauſe ſeinen künf⸗ tigen Lebensgang. Offizier werden das war von allen Berufen, die für ihn in Frage kommen konnten, noch immer der ausſichtsreichſte und ſtandesgemäßeſte und billigſte. |

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Was Frau Armgard in verzehrender Furcht hundertmal im voraus erlitten hatte, geſchah: ihr Gatte hatte wohl zur Not eine Kompanie führen können, ein Bataillon vertraute man ihm nicht an. Mit Hauptmannspenſion und Majorstitel trat er aus der Front zurück in die Stille eines dürftigen Lebens. Noch während ſeiner Verſuche, irgendeine geldbringende Wirkſamkeit zu finden, brach er, von den Sorgen und der Einförmigkeit eines notvollen Daſeins überwältigt, zuſammen. Zwei, drei Jahre zogen ſich ſeine Kämpfe um ein bißchen Atem hin. Als er ſtarb, war das Kommißvermögen ſo ziemlich verbraucht.

Und über all dieſen Mühſeligkeiten vergaß doch Frau Armgard keinen Tag das Fideikommiß und die Arnbergs. Sie wußte, daß Lebrecht Philipp immer noch keinen Sohn hatte, ſie fand es gehäſſig vom Schickſal, daß ihr Mann noch vor dem uralten Pyilipp hatte dahin müſſen aber endlich ſtarb auch er, und Lebrecht Philipp zog mit ſeinen beiden Töchtern auf Arnberg ein. Er war ein Mann in den beſten Jahren. Er nahm eine zweite Frau, als die Mutter ſeiner Töchter ihm entriſſen wurde. |

Als Frau Armgard von dieſer Wiederheirat hörte, ward ſie faſt krank. In all der Plage um ihr bißchen Brot hatte ſie ſich ja an dem einen, einen Ge⸗ 9 9 erhoben wenn es doch eines Tages möglich würde.

Ihre Lage war von einer grauſamen Klarheit. Sie bekam achthundert Mark Penſion und beſaß noch zweitauſend Mark von ihrem Kapital. Eberhardine konnte in dem weſtpreußiſchen Neſt, wo man lebte, keinerlei Berufsſtudien machen; es gab dort weder Lehrerinnenſeminare noch ſonſtige Bildungsanſtalten. Selbſt die Bücher, mit denen die Tochter ſich allein weiter zu bringen hoffte, koſteten mehr, als die Mutter bezahlen konnte. Heinz Philipp, der Sohn, war in der Selekta. Er ſollte ſich nun eine Waffe wählen. Von Wahl konnte ja eigentlich keine Rede ſein; man mußte „Königszulage“ zu erwirken verſuchen und ein

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Infanterieregiment in einer ganz einfachen Garniſon erſtreben. I

Es war eine Zeit voll düſterer Gedrücktheit.

Und lauernd, geängſtigt, erbittert wartete Frau Armgard, ob die zweite Frau des Herrn Lebrecht Philipp ihm einen Sohn fchenfe...

Sie beſchloß, mit ihrer Tochter in die fremde, ferne Handelsſtadt zu ziehen. Sie ſagte: weil wir dort un⸗ bekannt arbeiten und verdienen können. Sie dachte: weil es die nächſte wirklich große Stadt zu Arnberg i

Es war ihr, als beziehe fie einen Wachtturm... Als könne ſie von da dem Geſchick beſſer auf die wirken⸗ den Singer ſehen, belauſchen, ob der Webſtuhl ſauſe oder ſtillſtehe .

Ihr Sohn überraſchte ſie mit einer Nachricht, die ihren Stolz empörte und ſie dennoch mit heißer Genug⸗ tuung erfüllte. Sie kam ſelten einem Geſchehnis

egenüber in eine einheitliche Stimmung. Alles, was He erlebte, hatte ja auch ſchillernde Farben...

Er hatte ſich in einer Unbefangenheit erſtaunlicher Art an den ihm perſönlich völlig unbekannten Herrn Lebrecht Philipp gewandt, ſeine Armut dargelegt und angefragt, ob nicht irgendeine Arnbergſche Familien⸗ ſtiftung beſtehe, aus deren Fonds ihm eine Zulage zu gewähren ſei. Bevor er Infanteriſt werde, wo⸗ zu er keine Luſt habe, wolle er doch hören, ob denn ö 1 Möglichkeit für ihn beſtehe, Huſar werden zu

nnen.

Und Heinz Philipp wußte ſo gut wie ſie ſelbſt, daß keine ſolche Familienſtiftung beſtand. Sonſt hätte man ſie längſt längſt in Anſpruch nehmen dürfen und müſſen

Herr Lebrecht Philipp hatte kurz und ernſt und gütig geantwortet. Er habe ſich nach der Begabung und dem Fleiße des jungen Arnberg erkundigt und Hoffnungsvolles gehört. Eine Familienſtiftung be⸗ ſtehe nicht. Aber als derzeitiges Haupt der Familie bewillige er Heinz Philipp eine Jahresrente von drei⸗ tauſend Mark.

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Hardy ſchämte fi) der Unverfrorenheit ihres Bruders und der Unwahrheit, die in ſeiner Anfrage elegen. Aber die Mutter war doch von einem jämmer⸗ ichen Grame befreit, dem, auch die Jugend des ein⸗ zigen Sohnes in Entbehrungen ſich zerreiben zu ſehen. Ihre Freudentränen wuſchen ein wenig von Hardys Verſtimmung gegen den Bruder fort. Die Mutter hatte, je nach den wechſelnden Zuſtänden in ihrem Gemüt, bald der Tochter in ihrer ſtolzen Feinheit, bald dem Sohn in ſeiner kecken Tat recht gegeben. Faſt vergaß fie über dieſer erleichternden Wendung ihr Warten... Aber eine neue, unheimliche Begeben⸗ heit peitſchte ihre Gedanken auf.

Lebrecht Philipps zweite Frau gebar eine Tochter. Es ſchien, daß der fanatiſche Wunſch, dem Gatten einen Sohn zu ſchenken, ihre Nerven überreizt hatte; ſie ſollte ohnehin aus einem dekadenten Geſchlecht ſtam⸗ men; kurz, ſie wurde in eine Irrenanſtalt gebracht, und am ſelben Tage erſchoß ſich Lebrecht Philipp.

Ein unheimliches Geſchick ſchien die Arnbergs zu umkreiſen.

Aber Frau sen fürchtete es nicht.

Hier ging ſie wieder in der Nacht, mit raſchen, leiſen Schritten in den bewegten Falten ihres ſahle das Kleides, und hatte das triumphierende Gefühl: das Schickſal arbeitete für ſie! Es tat ausgleichende Arbeit. Auf und ab ſteigt das Leben. Zwei, drei Generationen ſind die einen im Glanz aller irdiſchen Güter. Dann werden ſie zurückgeſtoßen, hinein in die unüberſeh⸗ baren Kolonnen der Beladenen. Und andere ſteigen empor und greifen nach den Kränzen und ſetzen ſie ſich aufs Haupt.

Große, alte Geſchlechter fielen ihr ein und wenn ſie auch, von weitem und außen geſehen, unerſchüttert weiter blühten: in ihrem Rahmen änderte ſich doch alles fort und fort. Die Vermögen zerteilten ſich und wurden dünn und dünner bei den einzelnen Zweigen. Oder verdorbene Glieder ſanken ab. Oder die nn und geiſtigen Begabungen gingen zurück.

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Nun war bei den Arnbergs die Stunde nahe, wo die Linie, die ſo lange im Schatten, in heimlichem Proletariat ſich hingefriſtet hatte, emporitieg....

Dieter von Arnberg wurde Herr auf Arnberg, Probſthagen, Wühlsdorf und Münchow! Und ihr Sohn, ihr Heinz Philipp, war der Nachfolger... Es ſtellte ſich heraus und erklärte noch nachträglich ein wenig die Bereitwilligkeit, mit der Lebrecht Philipp dreitauſend Mark ausgeworfen hatte, daß der Fidei⸗ kommißinhaber dem nächſten Anwärter, falls er nicht des Inhabers eigener Sohn ſei, ſolche Rente zu zahlen habe. Das ſtand in den Familienſtatuten ſo geſchrieben.

Nun zerſorgte Frau Armgard ſich an neuen Fragen: wie ſollte es werden, wenn Herr Dieter heiratete und ne bekam. Der Mann war dreiunddreißig Jahre

a . Aber 1188 ſehr bald zeigte es ſich, daß auch Herr Dieter voll Großmut dieſe Möglichkeit bedachte und offenbar die Grauſamkeit nachempfand, die es geweſen Ka jungen Offizier in folder Furcht dahinleben zu laſſen.

Heinz Philipp erhielt eine Urkunde, in der ihm die Rente bis zum Major zugeſichert wurde, auch wenn Dieter Söhne bekäme.

Das war nun drei Jahre her. Eine verwandt⸗ ſchaftliche Herzlichkeit hatte ſich zwiſchen den beiden Männern mit dem gemeinſamen Ururgroßvater keines⸗ wegs entwickelt. Heinz Philipp war ein einziges Mal zur Jagd auf Arnberg geladen geweſen.

Hardy fürchtete, ihr Bruder habe ſich nicht die Sympathieen Dieters erobern können. Sich bei dem Fideikommißinhaber lieb Kind zu machen, war doch ſicher Heinz Philipps chen geweſen. Schon allein um der Vorteile und des Anſehens willen zwei Momente, die alles Tun und Laſſen Heinz Phi⸗ lipps beſtimmten. Und wer wußte, ob Dieter Arnberg⸗ Arnberg das nicht durchſchaut hatte.

Die Mutter ſchalt ſie wegen dieſer Furcht aus. Nein, die abwehrende Haltung Dieters gegen ſeinen

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derzeitig einzigen Nachfolger hatte . ganz andre Gründe. Tiefe, begreifliche Gründe. Er fühlte das Geſchick der Arnberg über ſich er wußte es war ihm beſtimmt, Platz zu machen wie die andern ihm hatten Platz machen 1 ihm. al f es lag Unheil über ſeinem Leben Das Schickſal ſchob Din Philipp mehr und mehr i in den Vordergrund.

Die Stunde war nahe, wo der ganz der Sieger ſein werde. Sein Anblick mußte dem Dieter wie eine u geheime Drohung jein..

So füllte ſie das Leben mit geheimnisvollen Vor⸗ ſtellungen und dämoniſchen Mächten. Phantaſtiſch und grauſam, geduldig und leidenſchaftlich zugleich.

Und ſie wartete. Sie wußte es faſt gewiß: un⸗ erkennbar bleibende, unerwartete, ganz merkwürdige Verkettungen würden Dieter gegen ſeinen Willen hindern, zu heiraten... Oder wenn er es, dem Ge⸗ ſchick trotzend, dennoch wagte, zu heiraten, bliebe er kinderlos ... Und er würde, er durfte, er konnte nicht alt werden.

Sie kannte ihn nit... Sie begehrte heiß und inſtinktiv vom Zufall die Gunſt, daß je dieſen Mann nie, nie ſähe ... Als ſpüre fie, daß ihre Gedanken ihm das Leben nicht gönnten als müſſe ſie dar⸗ über vor Scham vergehen, wenn ſie ihn leibhaftig

ähe..

Und dennoch wartete fie..

Ungeduldiger, . als je in dieſer Nacht.

Weil ihr Mutterherz empört war. Weil ihr Kind litt. Weil ſie in einer heilloſen Verwirrung ihrer Ge⸗ fühle dunkel die Vorſtellung hatte, als bedeute es Troſt und Genugtuung, vornehm und . vor dem Manne dazuſtehen, der ihr Kind verließ ..

Arme Mutter arme Mutter Es war ihr nicht gegeben, weich und in Tränen leiden zu können.

Sie litt in Bitterkeiten. 5 Und Hardy weinte leidenſchaftlich in ihr Kopfkiſſen

inein.

St denn Verzeihen wirklich jo übermenſchlich?

dachte ſie.

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War es nur ein großes Wort geweſen, das der furchtbare Augenblick ihr entriß?

Wie eine heilige Ein 1 war es über ſie ge⸗ kommen, daß ſie mit deem ort ihm die letzte, die höchſte Liebe beweiſen könne.

Und noch einmal weinte ſie es in der Nacht ihm zu: Ich verzeihe dir ich

® ® ®

Vor dem Südertor, am Schmudplak, wo die im Sommer prickelnd emporſteigenden Waſſer des Spring⸗ brunnens in die Erde zurückgeſunken ſchienen und auf niedrig umgitterten, verfärbten Raſenflächen ſeltene Sträucher unter Schutzkaſten überwinterten, lag das große, weiße Haus vor dem düſteren Hintergrunde des kahlen Gartens im vollkommenen Schweigen der Nacht. Die lautloſen Wipfel der Linden ſtanden um das blauſchwarze, gebrochene Dach. Die Sandſtein⸗ pfeiler des großen Gittertores trugen in kunſtvollen ſchmiedeiſernen Gehäuſen je eine Gaslaterne. In der einen brannte die blanke Flamme und 1 Licht auf die dicken, ſchwarzgrünen Lindenſtämme, auf die kleine Freitreppe mit den abgerundeten Ecken und die helle Hausmauer.

Der Wind ziſchte dann und wann durch die Schei⸗ benritzen in die Laterne hinein; dann ſtrich der Licht⸗ ſchein mit ausholender Bewegung weiter nach rechts über die weiße Wand und erhellte auch die ferneren Stämme.

Die mächtige Haustür krönte ein bildhaueriſcher Schmuck, deſſen Mittelſtück das Patrizierwappen der Eggsdorf bildete.

Gerade über ihm war das mittelſte Fenſter in der Hausfront noch erhellt. So matt drang aber der Schein durch die Vorhänge, daß ein etwa Vorübergehender hätte den Eindruck haben können, da oben werde Krankenwacht gehalten. .

Borwin ſaß dort mit aufgeſtützten Ellbogen, die Handfläche gegen die Stirn drückend. Er ſtarrte immerfort auf ſeine Schreibtiſchplatte nieder, in Ge⸗

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danken verloren. Jeden zehnmal wieder durchgehend; immer neu das gleiche begrübelnd ...

Nun, da die Stunde hinter ihm lag, vor der er ſich ſeit Wochen gefürchtet hatte, konnte er gar nicht begreifen, woher ihm der Mut gekommen war, und er zweifelte ſich an und die Anſtändigkeit und Richtig⸗ keit ſeiner Handlungsweiſe. Wochenlang hatte er ge⸗ fühlt: ſchreiben iſt feig! Nur ein wahrhaftiges Ge⸗ ſtändnis Aug' in Auge kann mich vor ihr, vor mir ſelbſt beſtehen laſſen.

Und nun deuchte ihm, als habe dieſe Zuſammen⸗ kunft in der rauhen Winternacht, auf den Wegen der Anlagen, wo die Liebespaare aus dem Volke ſich a als habe fie einen ganz unwürdigen Charakter gehabt

Ihr, ihr hatte er das zugemutet! Ihrer Vor⸗ nehmheit und ſtillen Würde ... Unerhört .. Und doch wie hätte es anders ſein können bei der unſeligen Enge ihres Lebens? In ihrem eigenen Heim? Mit dem Ohr der Mutter nebenan? Un⸗ denkbar ... Wie gut, wie groß von Hardy, daß fie gekommen war N

Er ſtellte ſeinen Konflikt vor ſich hin.

Gewiß, er war nicht ſo unerhört. Wie mancher Mann ſteht zwiſchen zwei Frauen. Das Gemüt findet Heimat und Ruhe bei der einen. Da kommt eine heiße er ſinnlicher Begierde und drängt zu einer andern.

Jawohl, ein ganz alltäglicher Konflikt. Jeder ſcheint einfach, wenn man ihn auf ſeine 17 8 Linie zurückführt. Jeder wird ſchwer durch all die Dinge und Bedenklichkeiten, die um ihn ſind, die in ihn hineinſpielen.

Wie hatte es zuerſt ſeinem Mannbewußtſein wohl getan, daß er mit ſeiner Liebe Hardy und ihre Mutter aus der Dürftigkeit und dem Kampf ums Brot eines Tages werde herausheben u

Und wie wollte nun gerade feine Selbſtachtung zerbrechen, wenn er an Hardys Armut dachte. Wie viel unerhörter ſchien ſein Gefühlswandel, weil es ein

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arbeitendes Weib war, von dem feine Sehnſucht ſich abgewandt Hatte...

Unterdrückten noch Leiden zuzufügen, was gehörte u Wie viel Grauſamkeit! Welch ſchändlicher

ut!

Und er hatte dieſen Mut gehabt, er, der all ſein Hab und Gut hätte hingeben mögen, um Hardy ein bißchen Lebensglück zu verſchaffen.

Nur ſich ſelbſt konnte er nicht mehr geben! Ja, es erſchien ihm faſt unbegreiflich, daß er daran einmal gedacht, es warmen Herzens gewünſcht hatte.

Er hatte herzliche Achtung, Empfindungen, die ihm

jetzt brüderliche Zärtlichkeit zu ſein ſchienen, für Liebe Be anders konnte es ja gar nicht fein, deuchte ihm. Er kam nicht darüber zur Erkenntnis, wie ſehr in dieſem Zwieſpalt, vom Augenblick des Entſtehens an, alle Nachteile auf Hardys, alle Vorteile auf ſeiten der jungen Doraline geweſen waren. N

Die eine ſah er ſelten und bei kurzen, unfreien Begegnungen. Auf der Straße ſah er ſie in ihrem ſchlichten Arbeitskleide, wenn ſie abgeſpannt von ihrem zerreibenden Berufe heimkam; oder er ſah ſie in der engen Wohnung, zuſammen mit der ſtets nervös er⸗ regten Mutter, vor der er verlegen war. Niemals, ſeit jener erſten Stunde im ſommerlichen Walde, hatten ſie in voller Freiheit ſich lachend und glückſelig wieder küſſen können, und weil die Stimmung jenes Rauſches nie genährt und neu geweckt werden konnte, wandelte ſich alles erſt in Sehnſucht und dann in Gedrücktheit.

Die andre aber ſah er faſt täglich in all ihrer holden Jugend und Sorgloſigkeit. Sah ſie bei Feſten und im Rahmen einer großen, behaglichen Häuslichkeit. Sah ſie in einer wahrhaft rührenden Offenherzigkeit ſtürmiſch auf ſich zukommen.

wußte, ihr ſei der Abend heute verdorben ge⸗ weſen, weil er nicht gekommen war. Er fühlte, daß ihre Eltern und ſie ſelbſt und ſeine Mutter und die anze N darauf warteten, daß er um Dora⸗ ine werbe.

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Er dachte: Wie konnte ich! Ehe Hardy mid) frei⸗ gegeben hatte! Er war ſich gar nicht bewußt, daß er nie mit klaren, bindenden Worten zu Hardy von der Zukunft geſprochen. Er hatte ihr geſagt: „Ich liebe dich.“ Dadurch fühlte er ſich an ſie gebunden.

Nun war er frei... Aber er ſaß hier nicht wie ein Befreiter, und ihm war gar nicht gut zumute.

Er wollte an Doraline denken. Er zwang ſeine Gedanken förmlich, ihm ihre Perſönlichkeit herbeizu⸗ zaubern. Aber es war beinahe, als ſei die leidenſchaft⸗ liche Sehnſucht nach ihr, die ihm in den letzten Wochen in allen Adern brannte, ganz erloſchen.

9 55 war völlig beherrscht von der Rührung über ardy.

Er ahnte, daß dies große Wort „ich verzeihe dir“

nicht in heldenhafter Aufwallung geſagt worden war,

daß es vielmehr aus tiefen, demütigen Leiden herauf⸗

kam.

Es erſchütterte ihn. Er begriff, daß er die Offen⸗ barung höchſter Weiblichkeit geſehen hatte.

Eine grenzenloſe Dankbarkeit erfüllte ihn.

Er dachte an Hardy mit faſt religiöſen Empfin⸗ dungen.

Und er fühlte klar: die Achtung vor ihr und ihrem Schmerz verbot ihm, ſofort mit haſtigen, begehrlichen Händen nach der andern zu greifen.

Es wäre ihm geweſen, als hätte er an einem Grabe freien wollen.

Er wollte fort, verreiſen, ein paar Wochen ang lich beſinnen. Ein geſchäftlicher Vorwand zu ſo plötzlicher Abweſenheit ließ ſich erfinden ihm fiel gerade im Moment ein ſehr glaubhafter ein: die Reederei Eggs⸗ dorf hatte in der letzten Zeit vielerlei Argerniſſe mit den Frachtdampfern ihrer ſpaniſch⸗engliſchen Linie ge⸗ habt. Noch geſtern früh hatte er ſeiner Mutter davon erzählt und geſagt, es ſcheine wünſchenswert, daß je⸗ mand hinreiſe und die Agenten in den Häfen kontrol⸗ liere, die von jener Linie angelaufen wurden. Seine Mutter war noch Teilhaberin der Firma und wollte immer von allen Geſchehniſſen erfahren. Da ſie für

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kaufmänniſche Dinge nur ein halbes Verſtändnis beſaß und ſich ſchon aufregte, wenn die Börſe auf Gebieten flau war, die die Firma gar nichts angingen, gewöhnte ſich Borwin, für ſie alles ein wenig zu gruppieren. So bekam ſie das Gefühl, unterrichtet zu ſein, und ſtörte nicht ſo viel durch unnütze und oft gar nicht zu beant⸗ wortende Fragen.

Ja, alſo nach England und Spanien wollte er morgen abreiſen, der Mutter ſagen, es ſeien zwar nicht beunruhigende, aber dringliche Nachrichten gekommen, die ihn ſelbſt hinriefen.

Morgen? Heute, denn gerade ſchlug die Uhr zwei. Die klaren, runden Silbertöne ſchwellten durch den Raum. Zwei Uhr morgens? Ob auch Hardy ſo wachte in der Nacht? Gewiß, gewiß, aber nicht in der mildern⸗ den Einſamkeit, wie ſie feierlich und ungeſtört um ihn war und ſeine ſchweren Gedanken empfing gleich einer ſchweigſamen Wohltäterin. Neben Hardy wachte eine erbitterte, vom Fe viel geſchlagene Frau. Und wieder kam er ſich roh und grauſam vor und litt von

ſeiner Tat. Und fühlte doch: ſie war eine Notwendigkeit ge⸗ weſen.

Wie konnte er, wie konnte er mit Hardy an den Altar treten in Lügen?

Und nun auf einmal flammte all ſeine Verliebtheit für Doraline jäh und heiß in ihm auf, ſo ſtark, daß er hier in der Nacht errötete, ſei es vor Verlangen, ſei es vor .

Er ſah ſie, wie er ſie damals zuerſt geſehen.

Irgend jemand, vielleicht ſeine Mutter, hatte ge⸗ ſagt: die jüngſte Nottbeck iſt aus der Penſion zurück, ich will dich vorſtellen. Es war bei einem Wohltätig⸗ keitsfeſt im Garten bei ſeiner Mutter geweſen, alſo eigentlich in 3 eigenen Heim. Die jungen Damen wußten vor Übermut ſich gar nicht zu laſſen und tollten an dem ſchönen Septembernachmittag in ihren Bauern⸗ kleidern umher und zwangen die Herren, ihnen Blumen und Kuchenherzen abzukaufen. Doraline, mittelgroß und wohlgeſtaltet, wenn auch nicht eben zierlich, ſah

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köſtlich drall und frisch aus, und das grüne Tuch war ſehr kokett um ihr krauſes, fuchſiges Blondhaar gelegt. Ihr offenes Geſicht hatte den Ausdruck kindlicher Un⸗ befangenheit. Die blauen Augen lachten. Um den leuchtend weißen Hals trug ſie ein billiges Glasperlen⸗ kettchen, ihrer Koſtümierung gemäß.

Borwin hatte ſich, widerwillig genug, aus Rüdficht auf ſeine Mutter und als Hausherr bewegen laſſen, an der ihm ſo zwecklos ſcheinenden Sache teilzunehmen. Nun machte es ihm ein merkwürdiges e dies muntere, hübſche und überraſchend unverbildete Kind ein wenig zu beobachten. Und ſie hatte ſich auf den allererſten Blick völlig und beſinnungslos und ganz unbeſorgt in ihn verliebt. Seine Mutter, die es von Doralinens Mutter erfahren, erzählte es ihm eines Tages, als er ſchon ſelbſt begriffen hatte, daß er es nicht ertragen würde, dieſes Mädchen einem andern Manne zu laſſen, als er ſchon mitten in ſeinem harten Zwieſpalt ſtand.

Er ſah nun auch: jedermann fand, daß er und Doraline wie füreinander vorbeſtimmt ſeien; daß die Eggsdorfs und die Nottbecks ſich verſchwägern müßten. Eine nach allen Richtungen hin paſſendere Verbindung konnte es gar nicht geben.

Seine Mutter und Doralinens Eltern wurden oft darauf angeredet. Und ſie antworteten mit der Offen⸗ heit, die ſicherſte Hoffnung gibt: Nicht wahr, es wäre reizend, wenn die beiden ſich fänden.

Und weil Doraline ja noch ein wenig jung ſei, begriff man, daß die Sache ſich etwas hinauszöge. Vielleicht wollte Borwin ihr erſt einen Winter voll Freiheit gönnen.

Er erfuhr dies alles durch ſeine geſprächige Mutter wieder und hatte viel Not, ihre vorwärtsdrängenden Fragen und Bitten abzuwehren.

Und Doraline, für die es ſelbſtverſtändlich war, daß ſie ſeine Braut werden würde wie ganz elementar zeigte ſie ihm, daß es für ſie keinen gäbe außer ihm. Wie neckte man ſie mit ihm, ſogar in ſeiner Gegenwart. Wie war ihr ganzes Weſen ge⸗

63 a von der jubelnden Vorfreude auf die nächſte Zukunft.

Wie hätte auch ſie, die ſich in aller Naivität für ſehr liebenswert und begehrenswert hielt, die wußte, daß eine Nottbeckſche Tochter nur zu wählen habe, wie hätte ſie auf den Gedanken kommen können, daß er zaudernd in ſchweren Kämpfen vor ihr ſtehe.

Nein, das ſah er wohl, ihre Liebe wurde nicht durch die leiſeſten Zweifel beunruhigt.

Wie aus dieſem allen tauſend Fäden wurden, die ihn fortzogen von Hardy!

Manchmal dachte er: man läßt ſich nicht fort⸗ ziehen, wenn man wahrhaft liebt. Und ſuchte nach einem Namen für die Empfindung, die ihn zu Hardy geführt, da es doch keine echte Liebe geweſen ſein konnte.

Er fand keinen.

Er hörte endlich auf, über den Zwieſpalt zu grübeln, und trug ihn als dumpfen Druck, dem er entrinnen n wenn das Leben wieder lebenswert werden olle.

Er fühlte nur immer das eine ganz ſtark und klar: Wahrhaftigkeit gegen Hardy ſei ſeine Mannespflicht darin lag für ihn faſt etwas Entſühnendes. Wahrheit ward zur Selbſtzüchtigung.

Er ſollte ſich klein und wandelbar zeigen vor einem Herzen, dem er ein Gott war... |

hab war geſchehen. Er hatte den ſchmerzlichen Mut gehabt.

Und ſie verzieh ihm. Verzieh! Zorn von ihr, Vor⸗ würfe von ihr hätten vielleicht ſeinen Trotz aufgeweckt, und er hätte vielleicht die Stimme ſeines Blutes mit großen und überzeugenden Worten vor ſich und vor ihr zu verteidigen vermocht.

Aber ohne Bitten und Kampf, ſtill und voll Würde gab ſie ihn frei. Und fie verzieh ihm... 5

Das legte ihm neue und nie verlöſchende Pflichten auf gegen Hardy. Heilig mußte ihm die Erinne⸗ rung an ſie bleiben. Und wie ſtrahlend ſich auch ſeine Zukunft geſtalten würde, er durfte und wollte

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nie vergeſſen und vor ſich verleugnen, daß dieſes reine und ſelbſtloſe Herz ihm eine Liebe gewidmet hatte, an die er mit andächtiger Dankbarkeit zurück

kleinen Schwächen ihrer Bekannten auf das vergnüg⸗ lichſte in Ton und Geſte nachzuahmen wußte. Fräu⸗ lein Hintze lachte ohne Heuchelei, und die Aufrichtigkeit ihrer Heiterkeit gab Frau Sophie Eggsdorf das er⸗ friſchende Gefühl, daß ihre Plauderkunſt noch immer auf alter Höhe ſtehe. Sie nahm die Ankündigung von Borwins plötzlicher Abreiſe ohne den übellaunigen Widerſpruch entgegen, den er gefürchtet hatte. Ja, ſie ſagte vielmehr mit einem gewiſſen ſtrategiſchen Überblick: „Im Grunde iſt es ganz nett ſo gewiſſe Dinge zögern ſich dadurch vier Wochen hinaus. Im Moment haben wir auch noch genug vor... Allerlei Diners. Und dann hörte ich geſtern abend: Vielhofs ſilberne Hochzeit iſt in vierzehn Tagen und wird großartig gefeiert wir können alſo nicht ver⸗ derben nich, Fräul'n Hintze? Dann paßt es ja wunderſchön, wenn nachher eine Verlobung wieder friſches Leben bringt.“

„Leben“ das hieß für ſie: Vergnügungen.

„Alſo reiſe glücklich, Borwin. Und gute Geſchäfte, hörſt du! Geſchäft iſt die Hauptſache. Wenn die Frauen gern Geld ausgeben mögen, 1 70 955 die Männer es verdienen nich, Fräul'n Hintze? Und bei einer gewiſſen jungen Dame will ich deine Abweſenheit plauſibel erklären und ihr an deiner Statt ſozuſagen den Hof machen. Bitte, noch Tee, Fräul'n Hintze na alſo: Fare well, mein Sohn.“

Und nachdem er ſie auf die Stirn geküßt hatte, nickte ſie ihm, als er an der Tür zurückſah, nebenbei noch einmal zu. Das etwas ſcharf gewordene, regel⸗

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mäßige Geſicht lächelte hell. Der wohlfriſierte, grau⸗ haarige Kopf neigte ſich mehr huldvoll als gerade mütterlich.

Vier Wochen lang hing er dann ſein Daſein an Kursbücher, Segelliſten, ineinandergreifende Verbin⸗ dungen. Vier Wochen verſuchte er kaum etwas andres zu überdenken, als geſchäftliche Fragen. Vier Wochen lang ſchlief er faſt jeden Tag in einem andern Bett oder lag endloſe Nächte in engen Schiffskojen, halb wachend dem Puckern der Maſchinen und dem Waſſer falschen das hart gegen das Ochſenaugenfenſter

atſchte.

Zuweilen kam ihm vor, als ſei ſchon ein Menſchen⸗ alter verfloſſen ſeit jener Stunde... Ganz unwahr⸗ ſcheinlich weit lag alles zurück und nahm das Weſenloſe eines bloßen Traumes an.

Und dann kam der Tag der Rückkehr. Von ihm an e wurde das Leben ſo fieberhaft unruhevoll, daß es Borwin manchmal ſchien, als no haſtvolle Reiſe ein beſchauliches Idyll ge⸗ weſen.

Er warb um Doraline, und dieſe ſeine lang er⸗ wartete Werbung war wie ein Signal, auf das hin ſich ein Zuſtand um ihn herum entwickelte, den er mit einem ewig kreiſenden Karuſſell verglich, und der ihm ſo unerträglich war, daß ſchnelle Heirat die einzige Rettung daraus ſchien.

Erglühend in Glückſeligkeit hatte Doraline ſich in ſeine Arme geworfen. Sie war ein temperament⸗ volles kleines Menſchenkind. Und als Braut von einem leidenſchaftlichen Verlangen nach Zärtlichkeit. Das äußerte ſich ſo naiv, war ſo elementar, daß es den Mann in einen Rauſch verſetzte und ihm alle Gleich⸗ mäßigkeit der Stimmung nahm. Seine Verliebtheit ſchlug ihm faſt über dem Kopf zuſammen, dennoch fühlte er, daß er, als der reife Mann, dafür zu ſorgen habe, daß ſie nicht das Schauſpiel eines geſchmacklos zärtlichen Brautpaares gäben. ö

Seine Mutter ſtrahlte, war ſehr zufrieden und dachte in der Hauptſache über alle Feſte nach, die zu Ehren

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des Brautpaares zu veranftalten ſeien. Da ihre Ver⸗ wandten ſich ſchon oft genug Bemerkungen über ihre nie erlahmende Lebensfreudigkeit erlaubt hatten, war ſie nun froh, für alle nächſten Jahre ſagen zu können: „Meine junge Schwiegertochter muß amüſiert werden.“

„Eine liebere Tochter hätt'ſt du mir nicht bringen können,“ Lebte ſie lobend, „alles paßt: Erziehung, Familie, Vermögen. Und hübſch und vergnügt iſt ſie obenein. Die Eltern ſind nett. Nottbeck ſpielt vor⸗ züglich Bridge. Sie ſpricht ja 'n bißchen viel nich, Fuß. Hintze? aber was ſie ſagt, hat Hand und

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Borwin mußte ſich auch mit der neuen Familie einleben. Das war nun nicht ſchwer. Generalkonſul Nottbecks waren ſehr ausgeglichene Menſchen und hatten einen förmlichen Dunſtkreis von Behagen um ſich. Sie beſaßen ein paar Millionen; aber ſie waren durch ihren Reichtum nicht zu Zahlenferen geworden, und es weckte nicht von fern ihre Eiferſucht, daß andre mehr Geld hatten. Ebenſowenig regten ſie ſich über die Armut andrer auf, denen ſie vielleicht hätten helfen können oder müſſen. Ihre Anſicht war, daß man das Leben und ſeine Umſtände nehmen müſſe, wie alles nun einmal lag.

Der Mann bewunderte nichts auf Erden mehr als die Klugheit und Umſicht ſeiner Frau und lebte in einer freudigen Abhängigkeit von ihr.

Sie, ein wenig unterſetzt, fuchsblond wie Doraline, feiſt und flink, nahm auch jedes Ereignis gleich feſt in die Hand. |

„Einen liebern Schwiegerſohn hätt'ſt du mir nicht bringen können, Dorli,“ ſagte ſie lobend und küßte die Tochter ſchallend auf die Backe, „mit dem wird ſich leben laſſen. Und wie ſtattlich er ausſieht. Alles paßt auch: Familie, Vermögen. Die Mutter iſt eine ſchar⸗ mante Frau, ich denke, du wirſt mit ihr auskommen. Regieren zu laſſen brauchſt du dich aber nicht von ihr. Habt ihr Rat nötig, ihr junges Volk, bin ich ja da. 'n bißchen viel ſpricht ſie, das iſt wahr, aber was ſie ſagt, iſt amüſant.“

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Doraline und ihre Natürlichkeit berichtete dies label an Borwin. Und er mußte in ſich hinein⸗ ächeln.

Nottbecks hatten noch eine Tochter, die faſt vier Jahre älter als Doraline war. Es hieß immer, daß Irma Nottbeck, allzu wähleriſch, ſich noch nicht zum Heiraten habe entſchließen können. Sie war ſchöner als Doraline, ſchlanker gewachſen, von feinerem Glieder⸗ bau. Und, wenn auch wahrſcheinlich ebenſo tempera⸗ mentvoll wie dieſe, doch nicht ein ſolches Naturkind. Im Gegenteil verrieten ihre funkelnden und herriſchen Blicke, die tiefen Winkel des üppigen Mundes und ein ene überlegenes Lächeln allerlei von nachdenk⸗ al Beſchäftigungen mit den geheimnisvollen Lebens⸗ ragen. |

Borwin fand und ſuchte auch kein näheres Ver⸗ hältnis zu der Schwägerin. Mädchen dieſer Art waren ihm wenig angenehm.

Aber Irma umkereiſte in halb ſpöttiſcher Anteil⸗ nahme neugierig das Brautpaar. Es ſchien, daß ſie, die ſich ſchon oft genug hätte verloben können, do geärgert war durch das Liebesglück der jüngeren Schweſter und aus dieſem Arger heraus Doraline pieſackte. Wenigſtens kam es recht oft vor, daß Dora⸗ line zornig und leidenſchaftlich in Borwins Armen weinte und allerlei unzarte Neckereien der Schweſter beklagte, die Verliebtheit „albern“ fände. Borwin ſelbſt fühlte ſich oft irgendwie geniert durch die mokanten Beobachterblicke der ſchönen Irma.

Den einzigen Sohn und Bruder der Familie ſollte er erſt bei der Hochzeit kennen lernen. Zur Verlobung hatte der Leutnant Nottbeck aus irgendeinem Dienſt⸗ grunde keinen Urlaub bekommen können.

Doraline erzählte eifrig von Bruder Fritz, wollte ihn dem geliebten Manne nahebringen. Er ſollte alles lieben, was zu ihr gehörte. Jeder ſeiner Gedanken mußte nach ihrer Auffaſſung und ihren Anſprüchen ganz und gar ausgefüllt ſein von ihr und ihren An⸗ gelegenheiten. ö

Huſar? Und die Garniſon? Borwin, als er zuerſt

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davon hörte, ſuchte in feinem Gedächtnis nach. Plötz⸗ lich wußte er es: Hardys Bruder ſtand in dem gleichen Regiment und in der gleichen Garniſon. Das Re⸗ giment war auf zwei kleine benachbarte mecklenburgiſche Städtchen verteilt.

Er empfand dies ſofort als ein peinliches Zuſammen⸗ treffen. Aber dann dachte er wieder: was habe ich mit dem Offizierkorps zu tun, dem mein Schwager angehört; ich werde ſeine Kameraden nicht kennen lernen, wenn ich nicht extra in ſeine Garniſon reiſe, was ſich ja auf das leichteſte vermeiden läßt.

Sehr wenige Wochen nach der Verlobung kamen die beiden Mütter des Paares ſchon in eine recht ge⸗ reizte Stimmung gegeneinander. |

„Ich verſteh nicht, wie Doralines Mutter nur die Unverfrorenheit haben kann, mich aus dem Hauſe treiben zu wollen! Natürlich, nach dem Teſtament gehört es dir. Aber du wirſt als guter Sohn deine Mutter nicht aus den Räumen jagen, in denen ſie ſich ſeit fünfunddreißig Jahren gefiel. Fräul'n Hintze meint auch, das kannſt, das wirſt du nicht. Nich, Fräul'n Hintze? Ich hätte der Frau Generalkonſul gern alle Gründe aufgezählt, die es vernünftiger machen, wenn ihr Jungen euch ein kleines Haus mietet. Aber die Frau läßt ja andre Menſchen nicht zu Worte kommen.“

Borwin beſchwichtigte ſeine Mutter, ſagte, er werde ke gewiß nicht aus dem Haufe jagen; anderſeits aber eien die Räume ſo ſehr reichlich und groß, daß es Laſt für ſie ſein müſſe, ſie allein zu haben. Vielleicht könne das junge Paar oben und ſie unten wohnen, was ſie doch jetzt auch ſchon tue.

Frau Generalkonſul Nottbeck redete, unter den wohlgefälligen und zuſtimmenden Blicken ihres Mannes, auf Borwin ein: „Du biſt der ie Dir gehört das Haus! Es wäre doch eine Verſchwendung, wenn du dir ein andres mieten wollteſt. Was ſoll eine alte Frau, die ſich doch über kurz oder lang aus dem geſell⸗ ſchaftlichen Leben zurückziehen muß, die doch wohl hoffentlich bald kein Pläſier mehr daran hat, rieſige

Be a 2

69 Diners und Bälle zu geben, was ſoll die mit jo viel Räumen?! Ich finde es überhaupt immer und in allen Dingen vernünftiger, wenn die Alten der Jugend aus freien Stücken Platz machen. Wenn wir mal alt werden, haben wir hoffentlich die Einſicht. Deine Mutter iſt doch fünfundſechzig. Ich ſtaune ihre Lebens⸗ luſt an. Wenn ich mal fünfundſechzig ſein werde, danke ich Gott, wenn's ſtill um mich ſein kann. Das alles hätt' ich deiner Mutter gern geſagt. Aber wenn du es nicht übelnimmſt, Borwin ſie läßt ja keinen 5 zu Worte kommen.“

Borwin ſagte, daß er gewiß die Abſicht habe, Ver⸗ ſchwendung zu vermeiden und alle Intereſſen zu ver⸗ einen. Es ſcheine am vernünftigſten, daß beide Par⸗ teien das Haus bewohnten, deſſen weite Räume jeder volle Freiheit gewährleiſteten.

Mit dieſer Löſung waren heimlich alle unzu⸗ frieden, auch Borwin 19 005 Alle Wohlerzogenheit und 1 verbot allen, ſich offen dagegen auszu⸗ prechen. |

Als Doralines Ausſteuer beſchafft wurde, fteigerte ſich die gereizte Stimmung der beiden Mütter bis zur Schärfe. Frau Sophie Eggsdorf wollte ihren bewähr⸗ ten Lieferanten Aufträge zuwenden, nahm ohne weiteres an, daß man ihren berühmten Geſchmack zu Rate ziehen, alle Eggsdorfſchen Familiengebräuche berückſichtigen werde. Frau Generalkonſul Nottbeck pflegte nicht zu fragen. Sie hatte ihren Geſchmack, ihre Handwerker, ihre Fabrikanten. Damit baſta. Wer Alo die Ausſteuer? Der Generalkonſul Nottbeck!

o

Und jede Dame trug ihren Zorn vor Borwins Richterſtuhl.

Es lag in den Verhältniſſen, daß er zur Schwieger⸗ mutter zu halten ſchien.

Darüber zeigte ſeine Mutter ſich ſo erregt, daß ihr einmal das Wort entfuhr: „Für mich wäre es, weiß Gott, bequemer geweſen, du hätteſt eine Waiſe Han 95 armes Mädchen geheiratet. Nich, Fräul'n

intze?“

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Borwin Hatte allmählich das Gefühl, er werde nervös. All dieſe Menſchen und Dinge und Stim⸗ mungen drängten ſich hinein in ſein eigenſtes Leben. Es ſchien wirklich, als habe er ſein Liebesglück nicht für ſich, als ſei es zuallerletzt ſeine Angelegenheit und zuallererſt die der Familien.

Er ſagte alſo eines Tages, er wünſche raſch zu heiraten. Doraline glühte vor heißer Freude. Sie dachte nichts und wollte nichts, als endlich, endlich ſeine Frau werden.

Dieſer Entſchluß, nachdem anfangs wegen Dora⸗ lines Jugend von einem langen Brautſtande die Rede geweſen war, beſchwichtigte auf der Stelle alle. Frau Sophie Eggsdorf hatte gleich den Kopf voll von dem Polterabend, den ſie geben wollte, und den Toiletten, die ſie an den Feſten tragen könne, um einerſeits alle Damen zu übertrumpfen und anderſeits dennoch mit ihrem 1 zu imponieren.

Es ſollte eine rieſengroße Hochzeit ſein. Trauung in der Anſcharkirche, nachher Diner und Tanz im „Geſellſchaftshauſe“, denn hundertundfünfzig Perſonen konnten Nottbecks in ihrem Speiſeſaale nicht ſetzen. Und Zimmer wollte Frau Nottbeck nicht ausräumen. Doraline ſollte in den letzten Tagen in ihrem Eltern⸗ hauſe keine Umzugsſtimmung erleben.

Doraline war es egal, ſechs Perſonen oder tauſend. Sie ſah und empfand nur den einen, an dem ſie mit Inbrunſt hing. Borwin begriff, daß er beide Familien ärgere und alle Welt enttäuſche, wenn er auf einer Heinen Hochzeit beſtehe. Er fügte ſich.

nd eines Abends, als Irma und ihre Mutter die von ihnen gefertigte Liſte der Einzuladenden vortrugen, erfuhr Borwin, daß Fritz Nottbeck Kameraden mitzu⸗ bringen denke. Es haperte ein wenig mit jungen Herren. Da waren unglaublich viele Couſinen und Freundinnen, die geladen werden mußten. Irma hatte ſchon mit ihrem Bruder darüber korreſpondiert. Er hatte leider nur drei Kameraden zu der Sache über⸗ reden können. Frau Nottbeck ſagte ihrem Manne, daß für die jungen Offiziere, die man nicht mehr in

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den ſchon beſetzten Logierzimmern des Hauſes unter⸗ bringen könne, Quartier im Hotel genommen werden müſſe, wo ſie als Nottbeckſche Gäſte wohnen ſollten. Sie erzählte ſtets alles, was ſie anordnete, ihrem Manne, ſie tat nicht das kleinſte hinter ſeinem Rücken. So fühlte er ſich nie regiert, ſondern ihm war immer nur, als werde ihm alles in der dankenswerteſten Weiſe abgenommen.

Bei dieſem Geſpräche horchte Borwin, ſo ganz ſeiner qualvoll aufſteigenden Furcht hingegeben, daß Doraline ihn fragte, was er denn habe ... zwei⸗ mal ſchon antwortete er ihr nicht! ... Und er mußte irgendeine kleine Lüge ſagen und ihr zärtlich die weiße Hand ſtreicheln, damit ſie nur verzeihe, daß ſeine Ge⸗ danken ein paar Sekunden lang von ihr fortgeweſen waren.

Ja, der eine Name fiel. Fritz Nottbecks Kamerad, ſein beſter Freund, Heinz Philipp von Arnberg, würde kommen. Und Irma erzählte mit ihrem ſeltſam üppigen Lächeln und ihren funkelnden Augen, daß Fritz geſchrieben habe, dieſer Heinz Philipp werde vielleicht eines Tages Inhaber eines rieſigen Fidei⸗ kommiſſes.

In Borwin wuchs eine Unruhe empor, als ſei er ein Verbrecher, und feine Schuld müſſe nun eheſtens an den Tag kommen. Er verſuchte ſich zu ſagen: unter dieſen hundertfünfzig Menſchen werde ich den einen Mann ſicher kaum bemerken; ich werde nichts mit ihm zu tun haben; nur im Gedränge der Ge vielleicht ein flüchtiges Wort, eine raſche Vor⸗ tellung ...

Und doch es erſchien ihm unausſprechlich peinlich, fol Hardys Bruder auf ſeiner Hochzeit zugegen ſein olle.

Es mußte hingenommen werden. Aber er über⸗ dachte doch die Tatſache, daß dieſer Heinz Philipp von Arnberg die Einladung angenommen habe. Wie durfte er das deuten? Daß Hardys Bruder nichts oder gerade, daß er mwilje? ...

Nein, wahrſcheinlich, er wußte nichts. Und war

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der Gelegenheit froh, einmal aus der kleinen Garni⸗ ſon heraus zu glänzenden Feſtlichkeiten zu kommen ſehe bei der Gelegenheit Mutter und Schweſter zu ehen. Er begriff es nicht, daß ſeine Gedanken von dieſer Sache gar nicht loskommen konnten. Wie taujend- mal geſchieht es im geſellſchaftlichen Leben, daß Men⸗ ſchen, unter denen geheime und ſchmerzliche Erinne⸗ rungen hin und her zittern, ſich in ſcheinbarer Gleich⸗ gültigkeit auf Feſten treffen.

Und wenn Heinz Philipp denn wußte Er war ein Mann und hatte vielleicht an ſich ſelbſt ſchon er⸗ fahren, daß Liebe verblaſſen und vergehen kann..

Immerfort war es ihm gegenwärtig: ihr Bruder kommt zu meiner Hochzeit! Doraline klagte, er ſei zerſtreut, kalt ... Und durch ſtürmiſche Zärtlichkeiten beruhigte er ſie und betäubte ſich.

Eines Morgens erlebte er eine tiefe Gemüts⸗ bewegung.

Seine Privatpoſt lag neben ſeiner Teetaſſe. Oben darauf der ſehnſuchtsvolle Morgengruß Doralines. Obſchon ſie ihn täglich ſah, ſchrieb ſie ihm doch noch jeden Tag ein Liebesbriefchen. Sie wollte ſein erſter Gedanke ſein am Frühſtückstiſche, ſagte ſie.

Und der zweite Brief, den er 9 en m, zeigte eine Handſchrift, deren Anblick 12 ſo ſtark erröten ließ, ne ihm war, als füllten ſich ihm die Augen mit

ut.

Hardys Handſchrift!

Er las. Es waren nur ganz wenig Worte. Auf dem Briefbogen ſtand nur dies: „Mein Bruder weiß nichts von dem, was vergangen.“

Die knappen Worte mitten im großen leeren Raum des Papiers wirkten ſtark. Es war ein ganz einfacher weißer Bogen von gewöhnlichem Format. Aber ge⸗ rade, weil ſo wenig, weil nur zwei Zeilen ſo verloren in ai Mitte ſtanden, bekam er etwas von der Be⸗ redſamkeit des Schweigens.

Und was alles erzählte ihm dies leere, kalte, weiße

Papier

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Sie hatte natürlich erfahren, daß ihr Bruder zu ſeiner Hochzeit kommen werde. Sie hatte erraten, wie unfrei ſeine Gedanken dieſe Tatſache umkreiſten, von ihr magnetiſch angezogen. Sie ahnte, wie ihn das in ſeiner Stimmung beeinträchtigte. Und in vielen heißen Bitten hatte ſie von ihrer grollenden und unruhigen Mutter das Verſprechen errungen, daß ſie von Hardys Liebe und Leid gegen den Sohn

ſchweige.

Und ſie wünſchte ihm, dem einſt Geliebten dem vielleicht immer noch Geliebten die Unbefangenheit zurückzugeben. Es ſollte ihn nicht bedrücken, daß er Hardys Bruder neben ſeinem Traualtar ſah. Er ſollte ſich ganz ruhig und frei fühlen in dem beſtimmten Wiſſen: dieſer Gaſt kann mir gleichgültig ſein, denn er iſt ahnungslos.

In ſeine tiefe Rührung über Hardys Handlungs⸗ weiſe miſchte ſich auch ganz fern und leiſe ſo etwas wie Genugtuung.

Sie hat mir wirklich verziehen, dachte er.

So waren gerade in den letzten Tagen vor ſeiner Hochzeit ſeine Gedanken viel bei Hardy. Er wünſchte ihr ſeine Achtung und Dankbarkeit ausdrücken zu dürfen. Er fühlte, daß er es ſich verſagen müſſe. Und ſeine Stimmung, die ie durch ihr rückſichtsvolles Wort hatte freimachen wollen, war nun getrübt durch allerlei Betrachtungen über die kleinen, grauſamen Launen des Zufalls. Nichtwiſſen hätte für Hardy ſicher Wohl⸗ tat bedeutet; weil ihr Bruder als Hochzeitsgaſt mit⸗ feierte, blieb ihr Stunde und Feſtglanz des Ereigniſſes nicht verborgen.

Und weil er ſich ſo viel und wehmütig ihrer er⸗ innern mußte, kam es ihm doch vor, als ſchließe ein Ereignis ſich unmittelbar ans andre.

Ein rauh⸗düſterer Januarabend war es geweſen, als er dem zärtlichſten Herzen ſo tödlich weh hatte tun müſſen. Und nun ging der Mai zu Ende. Monate voll wirbelnder Unruhe waren vorbeigezogen.

Dennoch ſchien es ihm, als er nun im Wagen ſaß, um ſeine Braut zu den Polterabendfeſtlichkeiten abzu⸗

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179 5 als fahre er geradeswegs von der einen zur andern.

Sein ganzer Konflikt war plötzlich wieder da, ſchien wieder aufleben zu wollen ſo ſtark befiel ihn eine unklare Unruhe, daß er davor erſchrak.

Nein, dachte er, ich habe gehandelt, wie ich mußte!

Der Wagen rollte raſch. Draußen zogen die ſchein Gebüſche der Anlagen vorüber; im Abendſonnenſchein leuchteten die jungen Blätter, als ſeien ſie von nr grünem Glas. Gleichmäßig und hohlen Klanges klapp⸗ ten die Pferdehufe.

In der el dieſer Minuten drängte ſich noch ein⸗ mal alles zuſammen in jenem Gemüt. Es wollte ihm ſchwer werden. Er empörte ſich. „Warum gerade mir dieſer Zwieſpalt!“ Er war immer ein klarer, feſter, ja ein Mann von einfachen Linien geweſen. Woher kam ihm das Schickſal, daß es ihm zwei Frauen in den Weg ſtellte, denen er beiden immer wohlzutun wünſchte? Und dennoch: es war jo beſtimmt vom Schickſal es ſtand nur dies zur Wahl: freudlos und einander meidend mußten ſie durchs Leben gehen alle drei oder eine mußte weinen eine ... es hatte Hardy getroffen ... Gerade ſie, die vielleicht als Ausgleich für viele Lebenshärten eine glückliche Liebe verdient hatte.

Verdienſt, dachte Borwin ſchmerzlich es geht nicht nach Verdienſten, es geht nach bitteren Un⸗ ergründlichkeiten.

Da hielt ſein Wagen. Er erſchrak darüber. Und ſchloß alles Grübeln mit dem Gedanken ab: Ich konnte nicht anders! ER

Ein unbändiges Verlangen nach Doraline wallte in ihm auf. Morgen morgen würde ſie endlich die Seine. Willkommen dieſer bunte Feſttrubel er zwang die Unruhe und Unerträglichkeiten des letzten Wartens nieder.

Im Flur des Hauſes fand er ſeinen Schwieger⸗ vater, der gerade links aus dem Herrenzimmer kam und noch keineswegs im feſtlichen Abendanzug war.

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„Na, da biſt du ja, Borwin. Mama hat mich als Ehrenwache zurückgelaſſen; ich ſoll mit euch fahren. Ach, wenn wir nur erſt den Klimbim heute abend hinter uns hätten. Was die alles aufſtellen wollen! An deiner, Mutter iſt 'ne Theaterdirektorin verloren gegangen.“

„Es wird aber Zeit.

„Konnte noch nicht zum Umkleiden kommen. Mußte an der Kleinen herumtröſten. Die Große hat ihr wieder mal irgend was verſalzen. Na, was dem ſpiel en nicht geglückt iſt, wird dem Bräutigam Kinder⸗ pie

Damit ging er kurzbeinig und gemütlich auf die Treppe im Hintergrunde zu, die fleiſchigen Fäuſte in die immer ausgebeutelten Taſchen ſeines Jacketts ver⸗ ſenkend, das runde Haupt mit der blanken Glatze ein wenig vorgebeugt.

Borwin, indem er ſeinen Paletot in die Garderobe trug, ſagte noch ärgerlich von dort her: „Ich muß

mich wirklich wundern, was Ihr Irma alles hingehen laßt Meiner Frau ſoll ſie nicht zu nahe treten darauf kannſt du dich verlaſſen die werde ich zu ſchützen verſtehen.“

Der Generalkonſul machte eine ergebene Kopf⸗ bewegung.

„Gegen Irma kann man nicht an. Nicht mal Mama.“

Das war ah ihn das äußerſte. Was feine Frau nicht zu bewältigen vermochte, ſtand außer aller Men⸗ ſchenmöglichkeit.

Borwin fand ſeine Braut im Zimmer ihres Vaters. Dieſer Raum, da doch einer zu dem Zweck dem all⸗ gemeinen Gebrauch hatte entzogen werden müſſen, war von der Hausfrau zum „Gabentempel“ beſtimmt worden. „Papa behilft ſich wohl.“ Und es ſchien dem Generalkonſul Nottbeck auch ganz einleuchtend, daß von allen Räumen des Hauſes gerade allein ſeine . Stube die Ausſtellung der Hochzeitsgeſchenke

eherbergen konnte und mußte.

Von einer großen, weingedeckten Tafel, die un⸗

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harmonisch genug in brauntöniger Umgebung jtand, ae Silber, Gold, Kriſtall und Majolikabunt⸗ eit.

Aber vor dem Schreibtiſch in dem tiefen Leder⸗ ſeſſel ſaß Doraline. All der ſchneeige, ſilbergeſtickte, dünne Stoff ihres Ballkleides zog ſich eng um ihre Glieder und lag als Fächer mit ſchaumigem Rand⸗ gekräuſel weithin noch auf dem Teppich. Die ſehr nackten, leuchtenden, feſten Schultern zuckten. Das Geſicht war in den runden Armen auf der Schreibtiſch⸗ platte verſteckt, das fuchſige Blond der krauſen Haare von einem hereinſpielenden Streifen Sonnenſchein auf das köſtlichſte beſtrahlt.

„Doraline!“

Kaum, daß ſie ſeine Stimme hörte, ſo ſprang ſie auf und warf ſich in ſeine Arme und fing mit neuer Kraft an, zu weinen. !

„Aber, Kleine, wie kannſt du fo weinen? Weil Irma wieder mal eklig war? Lache doch darüber, von morgen an biſt du Frau Eggsdorf, und wer dieſe Dame nur ſchief anſieht, dem verbiete ich mein Haus

na, na.“

Die tröſtliche Verſicherung, daß ſie ſich bald als Frau durchaus über die unverheiratete Schweſter er⸗ haben fühlen dürfe, und der feſte Glaube, daß Borwin mit Irma ſchon fertig werden würde, half diesmal

nicht.

Sie weinte leidenſchaftlich.

Mein Gott, dachte Borwin nachſichtig, ſie weint ſo ins Gegenſtandloſe hinein es ſind die Nerven das junge Gemüt iſt doch wohl ein wenig ſchwer das neue Wiſſen und Leben, das nun anfängt. Und da kam der Zufallsanlaß, und ſie bildet ſich ein, ſie weint wegen Irma und weint liebe, rührende Mädchentränen, weil die Spannung ihres Weſens bis zur Unerträglichkeit geſtiegen iſt.

Er hielt ſie feſt und gut an ſich und flüſterte tröſtend: „Morgen, mein Liebling, morgen —“

Sie trocknete ein wenig ihre Tränen und hob dann das Geſicht zu ihm. Es war ein verweintes Kinder⸗

22 —8

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scheine Es ließ ſie ſo ſchutzbedürftig und unreif er⸗ einen.

0 hat Irma aber zu ſchändliche Sachen geſagt.

„Ach, laß doch das, vertragt euch wieder! Du willſt doch nicht in Unfrieden mit ihr aus dem Elternhaus ſcheiden,“ ſprach er.

Er ſetzte ſich nun ſeinerſeits in den tiefen Lehnſtuhl und nahm Doraline auf den Schoß. Sie legte den rechten Arm um ſeinen Hals, und in der Linken hielt ſie das Taſchentuch und tupfte ſich immer wieder gegen die Augen, in dem plötzlich erwachenden Wunſche, die Tränenſpuren zu vertilgen. .

„Natürlich will ich mich wieder mit ihr vertragen, aber du mußt mir helfen.“

„Von Herzen gern.“

Borwin glaubte, ihm werde eine kleine Straf⸗ predigt an Irma angeſonnen, und nahm ſich vor, die Schwägerin ernſt und herzlich zu bitten, die junge Schweſter doch zu ſchonen.

Nun kehrte alle Lebhaftigkeit in Doraline zurück.

„Weißt du was? Irma lachte mich aus, als ich ſagte, ich ſei deine erſte und einzige Liebe. Das bin ich doch, Borwin?“

„Was beſprichſt du auch mit Irma unſre Liebe.“

„Ach, es kam ſo ... Lorchen und Fanni waren vorhin hier und brachten ſelbſt die Pointlacedecke, die ſie mir gearbeitet haben, und da meinte Fanni, ſolche Liebe auf den erſten Blick, wie es zwiſchen uns geweſen ſei, müſſe es bei ihr auch mal ſein, ſonſt täte ſie es nicht, und Lorchen fragte, warum wir eigentlich mit der Verlobung ſo lange gewartet hätten, wo es uns doch bei der erſten Begegnung ſchon klar geweſen wäre, und da ſagte Irma, Männern täte es oft um ihre ſchöne Freiheit leid.“

Eine Backfiſcherzählung, atemlos und in kindlichem Eifer vorgetragen. Er zwang ſich ein Lächeln ab.

Aber dennoch ſtieg ein ſtarkes Unbehagen in ihm auf. Die Ahnung, daß ein törichtes Geſpräch voller Fragen und Erklärungen im Entitehen jei. ...

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Er gab Doraline, die ihn eindringlich anſah, einen ſehr zärtlichen, kleinen Schlag auf die Wange.

„Mir hat es nicht um meine Freiheit leid getan, ſcher ich bin glücklich, ſie an dich verloren zu haben,“

erzte er.

„Aber warum haſt du ſo lange gewartet?“ fragte

ſie weiter, „faſt drei Monate, ehe du um mich an⸗ hielteſt. Ich zweifelte natürlich nicht an dir. Aber ich kam doch oft faſt um vor Ungeduld. Als Lorchen und Fanni weg waren, fragte ich Irma, was ſie emeint habe du kannſt es dir nicht vorſtellen ie kann ſo vielſagende Mienen machen, und ſie lacht ſo, daß man ſich ſchrecklich ärgern muß und nicht weiß, warum. Ja, und dann erzählte ſie plötzlich, daß der Leutnant von Horſt, du mußt wiſſen, Irma hat ihm mal 'n Korb gegeben vor zwei Jahren, daß er, nein, daß ſein jetziger Schwiegervater der Hulda Groſſer, du weißt, ſie war Naive am Stadttheater, zwanzig⸗ tauſend Mark habe bezahlen müſſen, ehe Horſt ſich mit Adele verloben konnte. Ich begreife nicht, woher Irma immer alle ſolche Sachen weiß.“

„Weil ihre Phantaſie emſig Gebiete umkreiſt, denen ſie beſſer ſagte er ärgerlich.

Die hellbraunen Kinderaugen verließen ſein Geſicht a Sekunde. Förmlich durchbohrend ſah Doraline ihn an. N Er wagte nicht zu ſagen: komm, laß uns dies Ge⸗

präch enden. Vielleicht hätte ſie dann der Gedanke urchzuckt: es iſt ihm fatal. Er hatte einen großen Zorn auf dieſe Irma.

„Ich ſagte auch zu Irma: ‚Schäme dich‘, ſagte ich. Und ich verbat es mir, daß ſie auf eine ſo verſteckte Art dich in einen Topf mit dieſem Don Juan von Horſt werfe, und ſchwor, daß du niemals ſolche Ge⸗ ſchichten gemacht habeſt. Da wollte ſie ſich totlachen und ſagte, ich ſei himmliſch. Und ob ich ſo dumm ſei oder mich von dir ſo dumm habe machen laſſen. Alle Männer hätten immer irgend welche Geſchichten.“

Sie hielt den Atem an vor Erwartung. Er ſah

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wohl, es waren die gewöhnlichen Sorgen und Fragen einer noch kindlichen Braut. Der Niederſchlag land⸗ läufiger Mädchengeſpräche und Gedanken.

Er begegnete feſt dem Blicke, der vor ängſtlicher Spannung faſt lauernd ſchien.

„Irmas törichte Reden über halbgewußte und von ihr noch nicht zu beurteilende Dinge dürfen dich nicht beunruhigen. Gewiß gibt es im Leben junger Männer allerlei Stunden des Rauſches. Die hat es auch wohl in meinem gegeben. Man erinnert ſich ihrer nachher kaum oder mit Unbehagen. Dafür wird dir bald das Verſtändnis aufgehen. Mit Liebe hat das nichts zu tun.‘

Doraline hörte mit einem angenehmen Schauern zu. Seine Worte „dafür wird dir bald das Verſtänd⸗ nis aufgehen“ löſten faſt alle ihre * auf, und ſie genoß das Triumphgefühl vorweg, ſehr bald a und Zuverläſſigeres vom Manne zu wiſſen als

rma.

Sie legte beide Arme feſt um ſeinen Hals und küßte ihn glühend.

Dann aber ließ ſie ee wieder von ihm ab und ſah ihm tief und durchbohrend in die Augen. Es war ihr beſonders, ja vielleicht allein wegen Irma doch wichtig, dem geliebten Manne ganz ſonnenklare Schwüre zu entlocken, mit denen man nachher gehörig auftrumpfen konnte.

„Aber komiſch iſt es doch, daß du mich ſo lange warten ließeſt.

„Du weißt: ich mußte nach England und Spa⸗ nien.“

„Das waren vier Wochen! Und die zwei Monate vorher?“ |

„Du warſt jo jung!“

„Als unſer Hochzeitstag feſtgeſetzt wurde, ſagteſt du zu Mama, der Einwand meiner Jugend ſei Unſinn. Wir haben uns auf den erſten Blick ineinander verliebt. es wäre großartig geweſen, wenn du ſchon am andern Tag angehalten hätteſt. Ja, das wär' groß gemweien ... wie ſo in 'ner Wagnerſchen Oper wär's geweſen.“

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„Man kann ſich auf den erſten Blick verlieben. Aber ein ernſter Mann prüft ſich und gibt der Lieben Zeit, ſich zu prüfen.“

„Ach. Unſinn! Ausrede! Und warum ſiehſt du mich jetzt nicht an?“

„Doraline!“

„Alle Menſchen ſagen Dorli. Du ganz allein un den ganzen Namen.“

„Ich will was für mich haben.“

„Erinnert dich die Abkürzung wohl an irgend eine andre?“

„Kind!“

Er wollte ſich erheben. Da mußte ſie von ſeinen Knieen gleiten.

Saltig, wie ihr ſchien, böſe, ſtand er auf und trat an die Tafel, auf der all die blinkenden und koſtbaren Geſchenke aufgeſtellt waren.

Ja, ihn hatte dies „Dorli“ erinnert . .. trotz der Verſchiedenheit der Namen. Er begriff es ſelbſt erſt klar in dieſem Augenblicke. |

Zärtlich und reuevoll bettelte fie ſchon neben ihm; ihre Händchen ſtreichelten den Armel ſeines Fracks; wie ein liebes Kind war ſie, das ſchnell wieder artig ſein möchte.

„Ach, ſei nicht böſe. Was für dumme Reden. Das kommt von Irma. Sie kann einen ſo vergiften.“

„Rechte Liebe läßt ſich nicht vergiften.“

Da umſchlang ſie ihn wieder leidenſchaftlich und ſchwor ihm mit heißen Worten drei Dinge zu: daß er ihre erſte Liebe ſei, daß ſie 5 an ihn glaube, daß ſie ihm treu bleibe bis in den

Er lächelte gerührt, aber doch ein 1 mühſam, Aug 5 ihr die Haare und ſah ihr tief in die

Vieleeicht war ſie noch niemals ſo verliebt in ihn geweſen wie in dieſer Minute. Sie fühlte, daß ſie ihn quäle; das ängſtigte ſie ein bißchen, und dennoch kam ſie ſich unendlich wichtig in dieſer Erregung vor, und ihr war, als erlebe ſie eine große Liebesſzene, und ſie hatte die undeutliche Empfindung, daß dies

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mit einer herrlichen Erklärung und wundervollen Ver⸗ ſöhnung ſchließen müſſe. Und mit dem gewiſſen Schwur, den ſie nun einmal hören wollte und

mußte

Und da tat ſie die eine ewige, törichte Mädchen⸗ frage dieſe Frage junger Herzen, die noch vor den Toren des Lebens ſtehen und nichts von ihm kennen als das bißchen blendende Licht, das aus den Spalten bricht, und das in ihnen den holden Wahn ent⸗ dort drinnen ſtrahle ewig die eine, die gleiche

onne

Sie fragte drängend: „Und auch du du haſt noch kein Weib liebgehabt vor mir? Ich bin deine erſte Liebe, wie du die meine?“

Lüge! ſagte raſch und klar ſein Verſtand, lüge! Es iſt am beſten, für ſie und für dich! |

Aber alles in ihm bäumte ſich dagegen auf. Wahr⸗ haftigkeit gegen die eine war ſeine Entſühnung vor ihr, vor ſich ſelbſt geweſen. Und nun ſollte er dies noble Herz verleugnen? ... m... handeln fortan in ſeinen Gedanken vor ihr und ihrer ſtillen Würde erröten müſſen?

Er wollte als Mann handeln.

Und in alle raſend ſchnell durch ihn hinzuckenden Empfindungen drängte ſich noch die Erkenntnis der Jan Ironie: männlich handeln hieß hier töricht

andeln. ...

„Du ſchweigſt?“ fragte Doraline erregter und flehend, „ach Gott ... ſag es nur, fag es nurn. da war irgend was.“

„Ja, Doraline ja ... ſei ruhig ... komm, ſetz dich wieder auf meinen Schoß ſo und höre! Du fragſt. So können nur ganz junge Mädchen fragen ſpäter, wenn du reifer biſt, wirſt du begreifen, daß auch ein feſtes, gerades Herz durch wunderbare Kämpfe gehen kann. Ich liebe dich. Mehr als alles auf der Welt. Aber ehe ich dich kannte, habe ich eine andre ſehr liebgehabt. Nicht ſo wie dich. Ruhevoller. Sie war der höchſten Achtung wert. Mein Herz bewahrt ihr tiefe Dankbarkeit. Um deinet⸗

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willen habe ich ſie verlaſſen. Kannſt du einen größeren Beweis meiner Leidenſchaft für dich verlangen? Aber ſchone dieſe Erinnerung in meinem Herzen. Belohne das Vertrauen, das ich dir ſchenke, dadurch, daß du nie darauf zurückkommſt. Nie!“

Er war tief bewegt. Und er ſah, daß ſich ihre Farbe ſonderbar veränderte; leichenblaß mit leiſe ge⸗ öffnetem Mund ſaß ſie wie benommen von ſchwerem Staunen.

Ja, ſie war eben ein heißblütiges Kind erfaßte alles mit zu viel Kraft

„Und darum darum mußte ich warten?“ fragte ſie faſt lallend.

Er erſchrak, der tolle Gedanke kam ihm: ſie erträgt es nicht, ft läßt mich, es iſt aus ... Er traute ihrer leidenſchaftlichen Art das Unerhörteſte zu den Bruch, noch in dieſer Stunde.

Aber ſein Schickſal trug ihn fort. Er konnte vor ſich nur beſtehen in Wahrhaftigkeit und wenn er an ihren Klippen ſcheitern Sollte ...

„Ja,“ ſprach er feſt, „ich ſtand in Kämpfen. Und als ich fühlte, ich könne nicht leben ohne dich, mußte ich mich erſt zu dem Mut durchringen, es ihr zu ſagen. Und ohne Vorwurf gab ſie mich frei. Sie wollte ein Herz 5.5 halten, das nicht mehr ihr gehörte. Sie verzieh.“

Ein vollkommenes Schweigen trat ein; Borwin ſah unverwandt in das junge Geſicht.

Er konnte nicht enträtſeln, was über dieſe Züge hinwandelte, nicht von fern all die Gefühle ahnen und deuten, deren raſcher Wechſel ſich beweglich auf ihrem Antlitz widerſpiegelte.

Sie bäumte ſich auf gegen die Demütigung. Sie dachte außer ſich: Irma hat recht, und nun kann ich ihr nicht 852579 Beſcheid ſagen. Das war das Schreck⸗ lichſte. So? Alſo es gab richtig eine andre? Etwas Ernſthaftes war es geweſen! Eine, die er vielleicht ſogar geheiratet hätte, wenn ſie ſelbſt nicht gerade noch rechtzeitig aus der e zurückgekommen wäre. Alſo eine aus der Geſellſchaft! Um Gottes willen:

5 ——

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wer? Nein, jie, Dorli, fie brauchte ſich das nicht ge⸗ fallen zu laſſen immer hatte ſie von einem Mann eträumt, deſſen einzige, ewige Liebe fie ſein wollte. as richtige Glück war nun dahin. Man mußte nun doch bei jeder Gelegenheit fürchten, daß er an die andre zurückdenke und wohl obenein noch Vergleiche anſtelle. Nein, das konnte ſie nicht ertragen! Wenn ſie das früher gewußt hätte, zur rechten Bei Aber es war ja immer noch Zeit ... Das würde ein Auf⸗ ſehen geben! Das machte ihr ſo leicht keine nach: einem Mann entſagen, trotzdem ſie ihn raſend liebte, weil ſie zu ſtolz war, zu teilen. Natürlich, Irma würde ſich bloß freuen. Denn Irma war neidiſch. Und teilen? Davon war ja eigentlich keine Rede. Er hatte der andern wie ſie wohl hieß? er hatte der andern doch den Abſchied gegeben! Sie, Doraline, hatte über die andre geſiegt. Und die andre hatte ihm verziehen? O, er ſollte nicht denken, daß ſie kleiner ſei als jene. Ihr kam das unklare Gefühl, daß ſie auch groß handeln müſſe ... Denn daß fie viel, viel zu verzeihen habe, ſchien ihr irgendwie .

Draußen hörte man Stimmen und Schritte und die

laut fragende Feſtſtellung: „Der Wagen da?“

nd ganz plötzlich, aus ihrer tiefen, tiefen Ver⸗ ſunkenheit heraus, warf ſie ſich gegen ihn, umarmte ihn feurig und flüſterte: „Ich verzeihe dir! Ja, 15 Mn ich. Und wir wollen nie mehr davon prechen.“

Er ſchloß ſie innig an ſich. Süßes Kind, du haſt ja nichts zu verzeihen du nicht, dachte er mit glück⸗ ſeligem Lächeln. |

Aber wenn ihr nun fo zumute war ... wenn es ihrem jungen genen fo deuchte .. wenn das, was Friede heiſchend in ihr aufwallte, ſich unklar gerade ſo ausdrücken mußte. Er wollte nicht mit ihr um Worte rechnen. .

Gerührt empfing er dieſe unerwartete Verzeihung von ihr, gegen die er nicht gefehlt.

dachte an die andre, gegen die er ſchuldlos ſchuldig geworden., Auch fie hatte ihm geſagt: „Ich

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verzeihe dir.“ Aber aus welchen tiefen Leiden kam das Wort

Nicht mehr zurückdenken nicht mehr zurück. Fortan wär's unrecht gegen das ſüße Kind. Vorwärts und hinein in das Glück, in die Zukunft.

Hardys Dienſtſtunden lagen ſeit einiger Zeit ſo, daß ſie vormittags von acht bis zwölf und nachmittags von fünf bis neun zu tun hatte. Zu der Gruppe Telephoniſtinnen, die der gleichen Zeiteinteilung zu⸗ geordnet waren, gehörte auch die blonde Anna Beh⸗ rens. ö

Draußen jubilierte der Maientag. Einer der letzten des Monats, der faſt ganz in Regen verſtrichen war, und der nun zum Schluſſe ſeine Wonnen mit vollen Händen der Menſchheit ins Geſicht warf, als habe er vor Trunkenheit jedes Maß verloren.

Die Fenſterreihe hoch oben im Telephonſaale ſah aus, als ſei ſie von himmelblauem, golddurchſprenkeltem Glaſe. Man mochte gar nicht hinaufgucken, denn dann kam man ſich wie eingeſperrt vor und erbitterte ſich darüber, daß andre a unter dieſem betören⸗ den Himmel ſpazierengehen durften, während man ſelber wie auf Wachtpoſten ſaß und das ewige „Hier Amt“ einem um die Ohren ſchwirrte. So ſchalt Anna Behrens.

Aber mühſam war es endlich 4985 zwölf Uhr ge⸗ worden, und nun hingen die abgelöſten Telephoniſtinnen im Garderobenraum ihre dunkelblauen Litewken an den Nagel.

Anna Behrens, in einer ſehr durchbrochenen, etwas ſchmuddeligen weißen Bluſe, daran ein Stückchen Naht am vollen Oberarme geplatzt war, ſtand vor dem Spiegel und befeſtigte mit den Hutnadeln ein ver⸗ wegenes Gebäude von billigen Federn, Blumen und Strohgeflecht auf ihrem üppigen Haare.

„Gott, wenn ich denke, was heute für 'n Tag iſt!“ ſagte ſie voll Ausdruck.

Hardy, die ſich gerade das ſchwarze Kleid abbürſtete, erſchrak ſchwer ...

Ja, ein Tag ein Tag fein Hochzeitstag!

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„Na, was wird denn viel los fein? Und übrigens, Behrens, Ihr Armel iſt geplatzt,“ ſagte eine der Kolle⸗ ginnen, die peinlich ordentliche und geradezu impoſant auftretende Marie Heinrichs. =

„So—0 —0—?" Anna Behrens beſah den Schaden in ſekundenkurzer Betroffenheit, zog die auseinander⸗ klaffenden Stoffſtücke, ihre Ränder beſchädigend, ein bißchen zuſammen und meinte dann zuverſichtlich: „Ach, das ſieht keiner. Und was los iſt? Frage! Sind nicht Sie und Möller und Arnberg und ich heute vor zwei Jahren eingetreten?“ .

Hardy atmete auf .. . Wie erleichtert ... Sie griff nach ihrem Hute, dem ſchwarzen Matroſenhute mit dem ſchwarzen Bande.

„Gott, das iſt auch wahr ...“ ſagte Marie Hein⸗ richs nachdenklich. „Wie die Zeit ſo vergeht in dem Einerlei...“ |

„So 'n Tag ſoll man feiern,“ meinte Anna Behrens eifrig, „Möller hat Mittagdienſt. Aber Sie und Arn⸗ berg und ich, wir ſollten uns was ſpendieren. Wißt ihr was: treffen wir uns halb vier in der Konditorei Höchſt und trinken Schokolade. Und nachher ſtellen wir uns an der Anſcharkirche auf und gucken zu.“

„Ach, Sie meinen, wir ſollten der Auffahrt bei der Nottbeckſchen Hochzeit zuſehen? Iſt die nicht heute? Ich hab' als Kind viel mit Irma Nottbeck geſpielt. Ja, damals lebte Vater noch, und man wußte noch nicht .. Mit einem Seufzer brach ſie ab. Und ſchloß dann faſt höhniſch: „Nein, ich pflege nicht von der Straße aus an dergleichen teilzunehmen.“ |

Sie ging und nickte ein wenig von oben herab den Verſammelten zu.

„Pöh,“ ſagte Anna Behrens hinter ihr her, „mit Hochmut lockt man keinen Hund aus'n Ofen. Und wenn ihr Vater zehnmal 'n großer Mann in der Stadt war, af es 'raus kam, daß er alles verſpekuliert hatte. Jetzt iſt ſie doch nicht mehr als wir. Na, und Sie, Arnberg, auch zu nobel, um ſo was zu tun?“

„Ich bin nicht wohl, liebe Behrens. Ich habe Kopf⸗ weh,“ ſagte Hardy ſanft. „Um heute nachmittag dienſt⸗

86 fähig zu fein, muß ich mich in der Zwiſchenzeit ſtill⸗ halten.“

Anna Behrens ſah es: ja, die arme Arnberg hatte faſt ein graues Geſicht, und fe was Unſicheres war in 1 altung, als koſte es ſie viel, nur aufrecht zu gehen.

Ohne weiteres, von ihrem gutmütigen Herzen be⸗ zwungen, mit geradezu mütterlich bevormundenden Gebärden, nahm Anna Behrens Hardys Arm und legte ihn in den ihren.

„Ich bringe Sie nach Hauſe, Sie halten ſich ja kaum auf den Füßen.“

Hardy hatte keine Kraft, ſich zu wehren. Sie atte auch alles vergeſſen in dieſem Augenblick, was ihr an Anna Behrens ſo peinlich war. Sie fühlte ſich ſehr elend. In einer W Verlaſſen⸗ er? wie hinausgejagt aus allem Leben und allem

Da ſpürte ſie die echte, gute Wärme eines ehrlichen Herzens. Dankbar, eine, die Schutz und Führung brauchte, hing ſie an dem Arm der andern.

„Seien Sie ganz ſtill. Wenn man Kopfweh hat, mag man nicht ſprechen. Das kenne ich von meiner Stiefmutter her. 39 will Ihnen mal was fagen, Arnberg, Sie gefallen mir 13550 lange nicht mehr. Blutarm. Nervös. Bei unſrem Berufe muß man 'n dickes Fell haben. Und die Feſte feiern, wie ſie fallen. Und Sie machen ſich ja woll nie 'ne kleine Abwechſlung? Mal 'n Ausflug oder 'n Tanzpläſier muß ſein, das erfriſcht. Mein Vater iſt in einem Verein, Konkordia heißt er, Geſang. Aber das Singen iſt Nebenſache. Es iſt ein ſehr netter Verein, das können Sie glauben, alles rieſig anſtändige Menſchen. Und feine Bälle haben wir im Winter und Pfingſten und im Auguſt Ausflüge. Famos, ſage ich Ihnen. Soll ich Sie da einführen, Arnberg?“

„Ich tanze nicht,“ ſagte Hardy mühſam, „und ich muß bei meiner Mutter bleiben.“

„Na, die könnte ja mitkommen. Ich weiß woll, Sie ſtammen aus andern Kreiſen, aber was haben

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Sie davon? Sie müſſen arbeiten wie ich. Da denk ich, Sie ſollten ſich auch amüſieren wie ich.“

„Sie meinen es ſo gut mit mir,“ flüſterte Hardy ausweichend.

Nun kam Anna Behrens in 0 und erklärte mit vielen und lebhaften Worten, daß ſie ſchon ſeit zwei Jahren für Hardy ſchwärme. Sie unterſtrich mit ihrer Betonung das Wort ſchwärmen ungemein ſtark. Und bia bot ſie abermals ihre Freundſchaft an, durch

din ch Dante Ihnen fehe eh

5 anke Ihnen ſehr ſehr

Dies ſah Anna Behrens für Zuſtimmung an und ſagte gerührt und ſiegreich: „Na, alſo all right, und wem ich mal meine reundſchaft zuſchwor, der kann Steine auf mir klopfen.“

Es gibt ſo gute Renſchen, dachte Hardy ſchwach. Sie hatte Tränen in den Auge

„Sie gehen jo raſch,“ flüſterte ſie.

„O Gott, ja, ich hab’ jo 'n forſchen Gang. Sie ſind aber wirklich klapprig. Nehmen Sie nur Antipyrin und legen Sie 1155 aufs Ohr. Zu ſchade, ich hätte Sie ſonſt doch wohl noch überredet, mit zur Anſchar⸗ kirche zu gehen. Wiſſen Sie, ich komm da 'rein, auch ohne Karte. Der Lohndiener, der die Kontrolle hat, iſt unſer Nachbar. Der läßt mich durch. Mich inter⸗ alla jede Hochzeit fabelhaft. Und bei dieſer kriegt

ewiß rieſig was an Toiletten zu ſehen. Und es es iſt olch ſchönes Paar ich ſah die beiden neulich Ik iſt jo 'n kleiner, le Fuchs. Er groß und ſchlank, ſt dunkel, jedenfalls hat er dunkle Augen. Ach, und . ſitt, noch immer da. Ja, reiche Mädchen kriegen gleich 'n Mann. Arnberg, das ganze Leben iſt ger un verlor ſie fler in e Betrach⸗ tungen aller Art. er nebenbei I lie ſich alle Be an, die vorbeigingen, und alle Männer ſahen ie an 9 5 geht in die Kirche und ſieht ihn, dachte ardy. Und plötzlich, aus verborgenſten Tiefen ihres Ge⸗

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fühls herauf, kam ihr der tolle, der entſetzliche, der 5 der folternde Gedanke: Wenn ich ihn auch ſähe. Das war krank, krank wie Sucht nach Selbſt⸗ geißlung ...

Ach, ſtürb' ich doch, fühlte fie.

Ihr fiel ein, daß ſie ihm vor acht Tagen die wenigen Worte geſchrieben hatte, die ihm ſagten: ihr Bruder wiſſe von nichts. Sie prüfte immer wieder quälend nach: durft' ich das? Mußte ich das? Oder war es nicht recht? Unzart?

Was doch ſo zart hatte ſein wollen. Aber ſie hatte nicht anders gekonnt. Es war ihr ſo furchtbar 5 zu denken, er würde vor ihrem Bruder er⸗ röten

Ein trauriges Wunder hatte ſich in ſeinem Herzen begeben und es von ihr fortgewendet, aber er ſollte nicht denken, daß ſie in Klagen oder gar Anklagen hiervon zu ihrem Bruder geſprochen habe ...

Und neben ihr ging immer die kraftvoll redende Stimme weiter und ſpazierte bald munter, bald elegiſch um alle Dinge dieſer Welt herum. Und nun ſagte ſie zärtlich: „Arme Arnberg, das iſt ja heute 'n Trauer⸗ ſpiel mit Ihnen, nu haben Sie plötzlich 'n fieberroten Kopf gekriegt ... Na, da ſind wir ja auch ... eſſen Sie tüchtig und ſchlafen dann. Schlaf iſt das beſte, was der Menſch hat. Gräßlich, daß Sie heute wieder an die Arbeit müſſen ... Ach, ja, man iſt doch bloß 'ne Art Kuli.“

Sie ſtanden auf dem Bürgerſteige vor dem einen Geſic zwölf Häuſer, die mit ihren entſetzlich gleichen Geſichtern etwas Schamloſes hatten, wie eine Menge, die in ihrer Nüchternheit das Beſondere verhöhnt und die Maiſonne breitete das grellſte Licht über all dieſe platten Fronten.

Anna Behrens, voll enthuſiaſtiſchen Mitleids mit ſich und Hardy, gab ihr noch einen feſten Abſchiedskuß.

„Danke,“ murmelte Hardy. Sie fühlte: dieſe meinte es gut. Und hatte nur undeutlich die Empfindung: ich muß dankbar ſein.

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Sie ging ins Haus. Sie wußte faſt gewiß, was dort ihrer wartete ... Sie ſtand einen Augenblick vor der Tür ihrer e am Fuß der Treppe nach dem einzigen Stockwerk ſtill, ſie wollte ſich zu⸗ ſammennehmen, beſinnen. Die halbe Betäubung niederzwingen. Von oben kam ein ſtarker Eſſens⸗ geruch, die Leute, die da wohnten, kochten irgend etwas, das durchdringend nach Zwiebeln roch 7 tat Hardy weh. Und nun öffnete ſie raſch die Tür. |

Ja, Stimmen drinnen, wie fie es erwartet hatte.

Ihr Bruder war da, ihr einziger Bruder, der einzige Menſch, der für ſie und ihre Mutter ſo etwas wie Zukunft, wie Hoffnung bedeutete, ohne deſſen Daſein das ihre verſunken wäre in das ſtumpfe Einerlei un⸗ ſcheinbarer Tretmühlenarbeit, zu keinem andern Zweck als zu eſſen, zu wohnen, zu i zu erwachen, wieder zu arbeiten. Jahre ſo, endloſe Jahre, immer gleich, immer gleich. ohne Glück.

Und ſo oft und ſchwer ſie auch durch dieſen Bruder litt, jetzt wallte eine tiefe Freude in ihr auf. Aus ihrer Troſtloſigkeit und Schwäche gebar ſie ſich. Ruhe in ihr drängte nach Liebe, nach Kraft, nach

uhe.

Wenn es doch irgendwo in der Welt eine Stätte äbe, wo man ganz geborgen ſein könnte ... Ach, ein Glück, a ſehnte ſich ihr Herz nicht mehr, das

war dahin, mit ſeiner Liebe. Aber geborgen fein... Das Recht ſich erobern, ungeſtört denken zu dürfen wie andre Frauen, die ſtill ihrem Leid leben dürfen, erinnernd Freude und Schmerzen nachkoſten ... fie aber mußte arbeiten, eine Arbeit, die ihr das Recht auf die eigenen Gedanken ſtahl .

Das ſtürmte alles ſo durch ſie hin, während ſie nun 1 den Armen ihres Bruders erleichternde Tränen weinte.

Er war etwas erſtaunt über ihre Erregung. Sie ſpürte es ſchnell.

„Wir haben uns ſo lange nicht geſehen,“ ſagte ſie und zwang ſich zu lächeln.

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Heinz Philipp trug Zivil. Er überragte Mutter und Schweſter kaum. er Haupteindruck, den er hervorrief und anſtrebte, war der einer vornehmen Eleganz in en und Kleidung und Wuchs. urch die Haartracht und den Kaiſerſchnurrbart hatte ſein Kopf etwas Typisches, und wer ihn kennen lernte,

laubte immer, ihn ſchon mal irgendwo geſehen zu aben. Seine braunen Augen nahmen leicht einen 1 ſcharfen Blick an. Alles in a lem: ein hübſcher ann.

Die Mutter, mit en Baden und einem un⸗ ſicher glücklichen Lächeln, ſagte: „Er i ic eben erſt ſch kommen. Es war natürlich nicht leicht für ihn, ſich loszumachen.“

„Ja, die Kameraden und ein Teil der Hoch⸗ zeitsgeſellſchaft machen einen * Ich I e geradezu nach Vorwänden ſuchen, um loszu⸗ ommen.“

0 ihre 1 fiel von ihr ab. acht, ich würde dieſen Menſchen gleic) unſre Verhä N auf die Naſe binden? Mutter

antworten: ja woll, meine utter näht Wäſche, meine re: telephoniert?“ lt Du haſt uns verleugnet!“ ſagte Hardy ſtolz und

kalt.

„Kinder ich bitt euch! flehte die Mutter. „Es it ia wahr, unſre Lage iſt ſchief nichts in ihr paßt

geht zuſammen aber keine ſcharfen Worte, Hardh ich bitte!“

„Verleugnet?“ wiederholte Heinz Philipp und hockte, die Hände in den Hoſentaſchen, au der Armlehne des Sofas. „Unſinn! Wozu aber fremde Menſchen erſt in all das ‚reinguden lafjen .

„Er hat recht,“ ſagte die Mutter eifrig. Sie deckte nebenbei zum Eſfen auf, ein weißes te, ch tuch breitete kr fel h den Tiſch und legte drei uralte, ſchwere Silber⸗

el hin.

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„Du braucht dich unſrer Armut nicht zu ſchämen,“ as Hardy. „Lies doch mal die Lebensbeſchreibun es Generals von 1 Seine Mutter u Schweſter lebten oft lange Zeit nur von Brot und Kaffee. Und als er nach mehrjähriger Pauſe vom Kadettenhaus endlich einmal zu ihnen fahren konnte, irgendeine mitleidige Seele hatte ihm, glaub' ich, das Reiſegeld geſchenkt, da öffneten Mutter und Schweſter ihm lange nicht die Tür, weil ſie fürchteten, es ſtehe jemand dahinter, der Geld zu fordern habe. Siehſt du und Steinmetz ward doch ein großer General. Und dagegen ſind wir Kröſuſſe. Wir haben keine Schulden, bei niemand. Wir verdienen. Nicht viel, aber doch zum Sattwerden. Manchmal eſſen wir

ſogar Blei. |

Dabei lächelte ſie. Und über dies herzzerreißende Lächeln fing die Mutter an zu weinen. Sie lief in die Küche, um das Eſſen zu holen.

„Hardy,“ ſagte unterdes der Bruder, 255 komme ſo Br Und wenn ich komme, nimmt unſer Zuſammen⸗ ein gleich den Charakter einer Szene an.“

„Ja. Wenn du das ſo ſagſt, ſieht es aus, als hätte ich unrecht. Es kann ſein. Dann verzeih. Aber ein Leben wie das unſre verträgt ja nicht die leiſeſte Störung. Jede wird zur Erſchütterung, die die vor⸗ ſichtig balancierende Ruhe umwirft

„Sei doch gerecht. Alles iſt ſchief. Oder iſt es nicht? Ich aße in einem vornehmen Regiment bin hier als Gaſt in einem der erſten Häuſer der Stadt und du küßt dich auf der Straße da vorhin vor unſerm Ich a mit einem merkwürdigen Frauenzimmer ab!

ch geb' ja zu es mag ſchwer für dich ſein, Diſtance zu halten aber.“

„Schweig,“ ſagte Hardy erbittert, „das, merkwürdige Frauenzimmer iſt ein leider unerzogenes, aber ſehr mir, die iich wiener erb Mädchen. Eine Kollegin von mir, die ſich meiner erbarmte, weil ich vor Erſchöpfung kaum gehen konnte. So achtbar wie ich eine Ar⸗ beiterin wie ich .. Freudlos wie ich. Sie bebte.

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„Nun nun ich mein’3 nicht bös,“ ſprach er etwas reuevoll.

Mein Gott, es ließ ſich ja begreifen: die armen, armen Frauen waren eben nervös ...

Frau von Arnberg kam mit der Schüſſel voll dickem Milchreis und den beiden Tellern herein. Sie war verlegen vor dem Sohn.

„Du erlaubſt, daß wir eſſen. Wenn Hardy vom Amt kommt, iſt ſie immer ſehr erſchöpft und überhaupt ſeit Wochen ſehr zart.“

85 5 55 ee 918 1

einz Philipp war auch verlegen. Er vermied es, bef den wachstuchgedeckten und nur mit einer Schüſſel beſetzten Tiſch zu ſehen. Er ſetzte ſich auf den Stuhl vor der Nähmaſchine am Fenſter, doch auf die Seiten⸗ kante, ſo daß er der Stube zugewandt blieb. Er faltete die Hände zwiſchen den auseinandergeſtellten Knieen, und indem er ſo, vorgebeugt, ſaß, begann er: „Daß dieſe Verhältniſſe nicht dauern können und nicht dauern werden, iſt klar.“

„Wie ſollten ſie ſich ändern, mein lieber Junge!“ ſagte die Mutter möglichſt ſanft. Sie wußte ja, ſie hoffte ja heiß, daß ſie anders werden würden, und ſah mit prophetiſchem Blick das Schickſal kommen. Aber das durfte je nicht laut jagen ... gewiſſe Gedanken, die verzeihlich, die menſchlich ſind, werden zu un⸗ menſchlichen Roheiten vor dem eigenen Ohr, wenn die eigene Stimme ſie laut ausſpricht .

„Du hoffſt doch nicht auf das Fideikommiß?“ fragte Hardy. „Welch ein Wahnſinn!“

„Früher,“ gab Heinz Philipp zu, „als all dieſe wunderbaren Todesfälle in der Familie ſich häuften ja da kamen einem woll 'mal verrückte Hoffnungen. Aber ſeit ich Dieter Arnberg kenne, weiß ich, das iſt Unſinn. Erſtensmal iſt Dieter ſechsunddreißig und will brennend gern heiraten. Er hat es mir ſelbſt geſagt. Er will 'ne vornehme, ernſte, 1 Sr Frau, eine, die ihn nicht ums Geld nimmt. eiß nich, warum er noch keine gefunden hat aber finden wird er ſie ſchon. Darum keine Bange nich. Und denn

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er is jo 'n Mann wißt ihr von der Sorte, der

man's gleich anſieht: in dem ſteckt ein künftiger Pa⸗

triarch und Jubelgreis. Und lebt paſtoral. Hat ſicher

nie 'n verdorbenen Magen oder 'n verdorbenes Ge⸗

wiſſen. Ein teutſcher Mann. Durchaus mit 'n t.

5 juſtament darum der geborene Retter aus allen öten

Die Mutter hörte atemlos zu. Hardy, tief ver⸗ ſtimmt durch die Art des Bruders, fragte nur kurz: „Wie ſollte denn das zugehen? Und ich wiederhole es dir: ich fühle mich nicht in Not.“

„Bitte nu man bloß keinen Bettelſtolz,“ ſagte Heinz Philipp mit einer beſchwichtigenden Hand⸗ bewegung. „Die Sache zwiſchen Dieter und mir iſt ja nicht jo ganz, wie fie fein ſollte. Als Dieter und ich uns bei der Beerdigung von Lebrecht Philipp kennen lernten, ſuchte man natürlich 'n bißchen Fühlung mit⸗ einander zu bekommen. Man hatte doch das Gefühl: nu ſind wir die beiden letzten! Die tragiſche Geſchichte lag einem in den Knochen. Und es iſt fal einen Fideikommißerben eine hölliſch heikle, koloſſale Takt⸗ anforderungen ſtellende Situation, ſo hinterm Sarg von einem zu ſchreiten, durch deſſen Selbſtmord man in Beſitz e Aber alles, was wahr iſt, er hielt ſich tadellos. Vollendet abgemeſſene Ergriffenheit. Nich zu viel, nich zu wenig. Ich konnte nich umhin, ihm nachher mein Kompliment über ſeine tadelloſe Haltung zu machen. Wir ſahen nach der Beerdigung zuſammen die Familienſtatuten durch, und ich fand ja dann, daß die dreitauſend Mark, die Lebrecht Philipp mir zugewendet hatte, mir fortab von Gott und Rechts wegen zukamen. Ich ließ durchblicken, daß das nach heutigem Geldwert eine Lumperei ſei. Als unſer Ahn tauſend Taler preuſch Kurant fei den Anerben feſtſetzte als Rente, dachte er, das ſei wunder was. Die Summe müßte zeitgemäß revidiert werden. Jawoll, das ließ ich ihn fühlen. Aber er war harthörig. Und wie beſeſſen von der Sorge um Lebrecht ee: Frau und Töchter. Setzte Renten aus für die unheilbar kranke Frau; ſorgte ſich ab für den Unterhalt der er⸗

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wachſenen Töchter, die übrigens noch mal ne ar mutter anftändig zu beerben haben; war überzeugt, daß er und kein andrer das kleine Unglückswurm groß⸗ machen male bei ſah w Geburt die Mutter den Ver⸗

ſtand verlo Ye ah woll ein: war nobile officium, hätt ſelbſt in chem Fall was getan, aber er ging da entſchieden über die Grenzen.“

„Das ehrt ihn nur,“ ſprach Hardy heftig dazwiſchen und dachte: es iſt ja klar, ſonnenklar, warum Dieter Arnber meinen Bruder nicht erträgt.

„Ich dacht' weiß Gott, er wolle eine von den Töchtern aus Lebrecht Ph llipps erſter 8 5 eiraten. Aber vor kurzem bekam 5 von daher Verlobungs⸗ anzeigen. Und höre durch Kameraden die Welt iſt ja ſo klein! Dieter Arnberg fteuert die Lebrecht An Töchter auch noch aus.“

Ach!“ ſagte die Mutter, von brennendem Intereſſe an alledem wie hypnotiſiert.

„Damals, bei der Beerdigung, und als ich ſah, wie Dieter ſo Border war und bloß an das Lebre 1 Fa Weibervolk dachte, damals mochte ich auf ſeine flüchtige Frage nach meiner Mutter und meiner

Schweſter nicht 195 Details kommen.“

„Gottlob!“ rief Hardy.

„Nun ſiehſt du: daß ich da eure a ‚verleugnete‘, 5 wie du das nennſt, iſt dir recht. Und daß ich's heute tat, empörte dich! Ja, ſo ſind die Weiber: inkonſequent. Aber nu weiter. Er lud mich ja dann bald zur Jagd ein. Er war nett, ſprach viel mit mir. Ich mußte noch abends lange mit ihm in ſeinem Zimmer rauchen. Und da kam ich denn damit heraus, daß ich ein paar kleine Schulden habe. 5

„Schulden!“ riefen Hardy und ihre Mutter wie aus einem Munde. Und die Sutter etzte faſſungslos hinzu: „Bei der großen Zulage?“

Ihr erſchienen dreitauſend Mark wie ein Ver⸗ mögen, ihre Maßſtäbe waren ſo beſcheiden, ſie und Hardy kamen, alles in allem, nur auf zweitauſend⸗ dener Mark. Achthundert Penſion, acht⸗

undertundvierzig Mark verdiente Hardy, und vier⸗

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au ernähte fie ſelbſt ſich in raſtloſer Nähmaſchinen⸗ arbeit.

Der Sohn lachte unbefangen auf.

„Mutter! Große Zulage un M? In meinem Regiment? Du biſt himmliſch! Na, Dieter zahlte die zehntauſend Mark denn auch ohne Wimpern⸗ zucken, ſagte mit einer gänzlich überflüſſigen Autori⸗ tätsmiene, daß es das erſte und letzte Mal ſei, und als er nachher wieder höflich nach euch 1855 na, ihr begreift woll, daß ich da bloß wieder ſagen konnte: ihr lebtet in beſcheidener, aber geſicherter ae Aber eingeladen hat er mich nicht mehr.“

„Wie konnte er auch!“ ſagte Hardy. |

„Und von ihm, der gegen dich fo eng iſt, oh, man ſpürt warum, wer iſt unbefangen gegen den Nach⸗ olger .. Und von ihm... hoffſt du... Frau von

rnberg war in ſolchen Tumult von allerlei Gedanken gekommen, daß ſie kaum einen zuſammenhängenden Satz ſprechen konnte.

„Jawohl. Von ihm ſelbſt hoffe ich trotz allem, und meine Hoffnung aus ſeiner Haltung gegen Lebrecht Philipps Töchter herleitend, dies: daß er was für euch tut, wenn er eure wahre Lage erfährt. Der Moment, ſie ihm mitzuteilen, iſt gekommen.“

ſtand auf. Er nahm eine ernſte, bedeutungs⸗ volle Haltung an.

„Und warum gerade jetzt?“ fragte Hardy. Auch die Mutter erhob ſich

„Ich habe heute früh an Dieter r. p. depeſchiert, daß ich ihn in ſehr wichtiger Familienangelegenheit ſprechen müſſe, und angefragt, ob ich ihn morgen auf u. befuchen dürfe.“

„Und was, was ...?“ fragte die Mutter zit⸗

„Ich hab' noch keine Antwort. Finde ſie wohl, wenn ich ins Hotel zurückkehre. Ich ſchick ſie 1 'raus, damit ihr Beſcheid wißt, ob ich morgen na Arnberg fahre oder nicht.“ | „Und warum gerade jetzt?“ fragte Hardy wieder.

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„Alſo endlich 'raus damit. Na ja ich werde mich woll verloben.“

„Mein Junge mein Heinz —“ Die Mutter hing ſchon, vor Aufregung außer ſich und von tauſend freudigen Hoffnungen berauſcht, an ſeinem Halſe. Er ſtreichelte ihr gerührt die hageren Wangen und klopfte ihr wohlwollend und tröſtlich den Rücken. |

Hardy ſtand blaß und ängſtlich. Sie konnte ſich noch nicht ſo vorweg, ſo auf Kredit hin, rühren und freuen. Niemals konnte ſie es. Und in dieſem Augenblick, auf dies 1 5 hin gar nicht gar nicht dumpfe Angſt erwachte. 3

„Auch wenn Dieter nicht heiratet ich ſag' ja: er kann neunzig werden. Gott, ich gönne es ihm. Und

önn's auch meinen Enkeln, falls dann ſie in Beſitz ämen. Aber inzwiſchen will man ſelbſt doch auch leben. Und da hab' ich ſchon lange gedacht: wozu gibt's denn die vielen reichen Mädels in der Welt. Und Uradel und Huſar na, wenn unſereiner keine Anſprüche machen ſoll, wer ſoll's denn? Aber eben, man macht Anſprüche. Und Geld allein tut's auch nicht. Hübſch und temperamentvoll und gut er⸗ zogen ſoll ſie auch ſein. Und nun hab' ich dann endlich das Langgeſuchte gefunden. Und mein Kamerad Nott⸗ beck hat recht behalten mit ſeiner Weisſagung, daß ſeine 1 Irma und ich wie für' nander geſchaffen eien.“

„Hier?“ ſagte die Mutter, „hier? Und nach einem einzigen Tage.

Sie ſank förmlich in ſich zuſammen. Gebückt, vor ſich hinſtarrend, ſaß ſie auf der Sofakante. Alles kreiſte in ihrem Kopf: das Wäſchegeſchäft Velbers Söhne Borwin Eggsdorf, der doch heute eine Nott⸗ beck heiratete Hardys Liebe und Unglück dieſe reichen, reichen Bürgersleute und ſie, Armgard von Arnberg und Velbers Söhne.

Sie ſeufzte hart. |

„Nein,“ murmelte fie, „nein das geht nicht alles geht nicht.“ ö

Sie ſah nicht zu Hardy hinüber. Und fühlte doch:

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die ſaß ſtill, wie von Schreck geſchlagen, leichenblaß dort drüben vor der Nähmaſchine, auf deren Kante ſie die Hände gefaltet hielt.

„Nein es geht nicht.“

„Warum geht es nicht, Mutter? Es iſt die erſte bürgerliche Heirat, die ein Arnberg macht. Aber die Familienſtatuten verbieten es nicht, es ſteht nur,, daß die Frauen aus angeſehenem Haufe fein ſollen'. Die Nottbecks ſind eine der erſten Familien der Stadt. Und die Grenzen zwiſchen Adel und dieſem Groß⸗ bürgertum ſind doch ſchon ſehr verwiſcht. Die Nott⸗ becks würden ſchöne Geſichter machen, wenn man ſie nicht für ſtandesgemäß hielte. Und du meinſt, nach einem einzigen Tage? Ich glaub', Irma und ich hatten es nach fünf Minuten los: wir paſſen großartig zu⸗ ſammen. Die langweilt ihren Mann nicht das kann ich dir ſagen. Direkt ausgeſprochen haben wir uns noch nicht. Da iſt eben noch allerlei vorher glatt zu machen, ehe ich anhalte!“

„Wieder Schulden?“ fragte die Mutter; aber ſie fragte ganz mechaniſch. Sie dachte immerfort nur: Hardy meine Hardy die ſoll den Mann wieder⸗ ſehn? Der Mann ſoll meines Sohnes Bruder werden? Nein. Nein.

„Ach was, Schulden! Und wenn? Dafür wäre ja ſpäter Schwiegervater da. Mutter und Vater Nott⸗ beck ſind kulante Leute das merkt man gleich. Nein. Eure Lage muß erſt geändert werden. Und darum hab' ich ne Ausſprache mit Dieter vor. Ich werd'

nd er tut es er tut es. Er ſchwieg. Die Frauen rührten ſich nicht. Und in dieſe Pauſe XXVIII. I. i 7

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hinein ſchlug die Uhr mit ungefügem groben Ton zwei Schläge. Sie klopften an die Stille wie ein mahnender Finger.

In einer Reflexbewegung ſah Heinz Philipp nach ſeiner Taſchenuhr.

Und zugleich hörte er wieder den harten, tiefen Seufzer ſeiner Mutter. Er hatte oft ſchon gedacht: kein Menſch kann ſo vorwurfsvoll ſeufzen wie Mutter. Zuweilen hatte ſie ihn dann gedauert. Jetzt ärgerte es ihn und machte ihn ungeduldig. Er brachte den Frauen einen ganzen Sack voll glänzender Hoff⸗ nungen ins Haus, und ſie ſaßen da, als ſeien ihnen 9219 verhagelt. „Es iſt wahrhaftig ſchon zwei. Wenn ich zur rechten Zeit fertig werden will, muß ich mich jetzt zuhalten. Na, wir ſehen uns morgen früh noch auf jeden Fall. Und Dieters Antwort ſchick' ich euch.“

Er küßte die Mutter. Er ſtreichelte der Schweſter flüchtig das Haar. Und als er noch einmal das halb⸗ laute, verzagende Wort der Mutter hörte: „Nein, es geht nicht das nein, das geht nicht,“ da hatte er flink noch allerhand nur auf der Zunge: für Mutter bräche nun ein ſorgloſer Lebensabend an, und endlich, endlich ſolle ſie ſich ausruhen, und Hardy scho es gut haben, ihn oft beſuchen tanzen chöne Kleider o, er würde ſich als treuer Bruder zeigen.

Heinz Philipp war fort.

Die Frau horchte. Weinte Hardy? Nein. Sie Ra Wie ſoll ich mit ihr ſprechen? Was ſoll ich agen

Sie wartete. Lange blieb alles ſtill. Dann rührte ſich die ſchwarze Geſtalt, die da in ſo drohender, be⸗ ängſtigender Unbeweglichkeit an der Nähmaſchine ſaß, die gefalteten Hände auf ihrer Kante.

„Wie viel iſt eigentlich die Uhr, Mutter?“ fragte ſie wie von weit, weit her.

Da brach die Mutter in Tränen aus.

Hardy machte eine Handbewegung.

Still! hieß es vielleicht. Still! bat es vielleicht.

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Und Hardy ging in die Schlafſtube und ſtreckte ſich auf ihrem Bett aus. Sie hörte zu, wie ihr Herz klopfte. Ganz regelmäßig, ſonderbar langſam. Es ſchlug in den Ohren oder im Kopf oder im Rücken immer ſchien es da zu ſchlagen, wo ſie hinhorchte. Die ganze Welt war ſtill. Nur ihr Herz klopfte.

Um vier wird er getraut... Nein, nicht daran denken. Vorüber daran vorüber.

Vorüber? Das Schickſal kam und ſtieß ſie mit grober Fauſt zurück in ſeinen Lebenskreis. Ihr Bruder wollte ſich mit ihm verbrüdern.

Nein nein nein, ſchlug 55 Herz.

Um fünf fängt mein Dienſt an, dachte ſie, als könne ſie ihren Gedanken eine beſtimmte Richtung anbefehlen. Sie ſchloß die Augen. In das Klopfen ihres Herzens ſchienen ſich allmählich ſchwirrende Töne zu mengen, feines Klingeln ſurrte darin.

Ihr war, als glänzten immerfort kleine Lichter auf wie in einem Schwarm Glühwürmchen, der ſich nieder⸗ gelaſſen, bald dort, bald da eins die Flügel hebt. Und eine Stimme nahm der anderen förmlich die Worte ab: Hier Amt... Sprechen Sie noch? ... Hier Amt . . . Sprechen Sie noch? ... Hier Amt... hier Amt .. . hier Amt. . immerfort, endlos, eintönig, Stunden, Stunden

Hardy wunderte 00 kaum, daß ſie auf dem Amt

die Mutter in der Wohnung

Ja, dachte ſie, alles, alles verkehrt ſich mir in Bitterkeit. Selbſt was Freude ſcheint und Befreiung aus all dem ewigen Geſorge werden könnte tauſend Mädchen gibt es gewiß, die meinem Jungen Herz und Vermögen zu Füßen legen möchten, wenn das Schickſal ſie nur hätte mit ihm zuſammenbringen wollen. Aber

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nein, es ſtößt ihn gerade auf die eine, mit der wir nicht eine Familie bilden können, ohne ſchrecklich zu leiden. Wie ſoll denn das werden, wenn Hardy und ich mit dem Mann am ſelben Tiſche ſitzen müſſen?

Ihr Zorn auf Borwin war ſeit jener Nacht nur noch gewachſen. Sie ſah jeden Tag die ſtillen Leiden ihres armen Kindes, und ihre fanatiſche Liebe zu den Ihren war ſo ohnmächtig. Sie konnte ihnen nicht helfen und nicht wohltun. Aber ſie konnte haſſen, was ihnen wehtat. Und vielleicht wuchs der Zorn auch noch ein wenig daran, daß ſie ihn nie ausſprechen durfte. Sie hatte Hardy verſprochen, daß ſie zuſammen und vor Heinz Philipp für immer von Borwin ſchweigen wollten. Dies Verſprechen ſchien die einzige Er⸗ leichterung für Hardy.

Und dieſe leidenſchaftliche Frau, dieſe geſchlagene gern hielt ihr Wort ſtolz und ſtark wie ein

ann.

Die Nähmaſchine raſſelte in flinkem Laufe. Hielt zuweilen inne wie ein kleines Tier, das ſich verſchnauft, puckerte im Gleichmaße der eiligen Bewegung wieder weiter.. Und mit dem Laufe der tippenden Ma⸗ ſchinentöne lief auch die Zeit.

Viermal ſchwang ſich der dunkle, zudringlich grobe Ton der Uhr hinein in den Raum

Da ſtrich hart am Fenſter ein Dienſtmann vorbei, der einen 9 in der Hand hielt.

Frau von Arnberg warf den weißen Batiſt, an dem ſie nähte, auf die Maſchine, ſo daß er wie ein Gewölk in runden Bauſchen 5

Sie ſtürzte zur Tür und nahm dem Manne den Brief ab.

Ihre Finger flogen, der Mund war ihr ganz trocken.

Als ſie den Umſchlag öffnete, fand ſie zwiſchen dem zuſammengefalteten Briefbogen einen Hundert⸗ markſchein und eine Depeſche. Mit den Rieſenbuch⸗ ſtaben, die Heinz Philipp ſich ſeit ein paar Jahren an⸗ gewöhnt hatte, ſtand da auf dem hellgrauen Papier geſchrieben:

a

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„Geliebtes Mütterchen! erſtmal bitte ich: nimm das Einliegende von mir an. Die Reisſchüſſel, an der ich Euch heut ſah, tat mir denn doch zu weh. Und Ihr ſcheint mir beide der Pflege zu bedürfen. Kaufe gute Sachen für Dich und Hardy zum Schnabulieren. Die einliegende Depeſche braucht keinen Kommentar. Höchſtwahrſcheinlich werdet ja nun auch Ihr den großen a kennen lernen. Mir ahnt: beſſere Zeiten brechen n

Und nun noch 'ne Weile: Ohren 5

Dein H. P.“

Die Depeſche die Depeſche vor Spannung auf dieſe bekam der Hundertmarkſchein vorerſt nur einen flüchtigen, gerührten Nebengedanfen ...

Die Antwortdepeſche des Herrn Dieter von Arn- berg —Arnberg auf Heinz Philipps Anfrage lautete:

„Ihre Depeſche mir hier nachgekommen. Da in unmittelbarer Nähe, werde Sie morgen vormittag aufſuchen. Bitte mich elf Uhr erwarten. Gruß

Arnberg.“

In unmittelbarer Nähe? Frau von Arnberg ſuchte den mit Blauſtift faſt unleſerlich geſchriebenen Orts⸗ namen zu entziffern. Es war der einer ganz kleinen nahen Station an einer der Bahnlinien ... Viel⸗ leicht war Dieter Arnberg im Poſtbezirke jener Station auf einem Gute zum Beſuch. Er wollte im fremden Hauſe nicht einen Verwandten zu wichtiger Familienkonferenz empfangen und kam daher ſeiner⸗ 65050 ne Heinz Philipp. Ja, jo oder ähnlich würde es wohl ſein.

Sie eilte hinein zu Hardy und fuhr mit erregten Worten und raſchen Gebärden hinein in den Dämmer⸗ zuſtand, in dem ſie wie gebunden lag.

Hardy fuhr jäh 5 die Höh'. Entſetzt wie von Feuerlärm. Und in der ſtumpfen * der Arbeitenden fragte ſie verwirrt: „Schon Z es

ind Hardy Sieh mal an: dene a ſchenkt uns u Mark. Iſt er nicht och ein 115 Junge?! Er muß es ſich ja abknappen

Oder er hat ihn ſich von ſeinem Freunde Nottbeck

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gepumpt, dachte Hardy raſch. Sie bezwang ſich und

verſchwieg den Gedanken, Mutter ſchien ſo gerührt.

= a aufgeregt.. Wegen der Hundert ar

Und dann kam die Mutter mit der Depeſche heraus und ſtand und ſah förmlich lauernd Hardy an, während die, auf der Bettkante ſitzend, las.

Da begriff Hardy, daß es nicht allein die hun⸗ dert Mark waren... Möglichſt ruhig ſagte fie: „Ich ob Herr von Arnberg uns beſuchen wird.“

„Wahrſcheinlich doch ja wahrſcheinlich,“ murmelte die Frau. Ihr war ſchlecht zumute. Ihre Seele duckte ſich und hätte ſich in tiefen Verſtecken verbergen mögen.

Der Mann kam, dem ſie nicht das Leben gönnte der Mann kam, der zwiſchen ihrem Sohn und dem Reichtum ſtand der Mann kam, dem allein vor allen Sterblichen ſie nie, niemals zu begegnen ſich erfleht Hatte...

Frierend neigte ſie den Kopf wie man tut, wenn einem was Kaltes in den Nacken kommt.

Es mußte ertragen werden... Voll Haltung ja, in undurchdringlicher Haltung damit er nie er⸗ riet, wie ihre Phantafie mit mörderiſchen Gedanken fein Leben umkreiſte voll Haltung... Sie ſchloß die Augen...

Es klingelte. Sehr ſchüchtern. Aber in der kleinen Wohnung widerhallte der kleine Zitterton doch.

Als Frau von Arnberg die Flurtür öffnete, ſah ſie ein üppiges, hübſches Mädchen ſtehen, deren blondes Haar beinahe in der Form eines rieſigen Badeſchwamms ihr aufs Haupt gedrückt ſchien. Und auf dem Bade⸗ ſchwamm ſaß ein billiger Rieſenhut.

Der Blick hochmütigen Erſtaunens, der ſie traf, ſchüchterte Anna Behrens ein. Vor Männern war ſie nie, vor Frauen leicht verlegen.

„Ich möchte Arnberg abholen,“ ſagte ſie und 5 ſich, daß ſie dem Wunſch nicht widerſtanden abe.

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Hardy war inzwiſchen ſchon von dem abhängigen Sorgegedanken: „Es iſt gewiß allerhöchſte Zeit“, ge⸗ trieben worden.

Sie kam der Mutter nach.

ö a Behrens' Geſicht verklärte ſich, als fie ie ſah.

„Ich war bange ... Ich dachte, Sie können gewiß nicht allein den weiten Weg... ſprach ſie raſch, „und wenn Sie wegen Krankheit ausblieben, müßt' doch 'n ärztliches Atteſt fein...“

„Sie > eine gute Seele,“ ſagte Hardy und gab

Anna Behrens einen Kuß auf die Wange als Ant⸗ wort gleichſam auf die böſen Worte von Heinz Philipp . . . obgleich Anna Behrens fie nicht gehört hatte, und obgleich er dieſe Antwort nicht ſah. „Kind, bleib hier dies Fräulein iſt ſicher fo liebenswürdig, dich zu entſchuldigen,“ ſprach Frau von Arnberg, ſchon halb und halb mit der beunruhigen⸗ den Erſcheinung von Anna Behrens ausgeſöhnt. Sie ſpürte: die meinte es gut mit DER |

„Man kommt fo leicht in den Verdacht, als wär man zu kränklich ...“ brachte Anna Behrens betrübt vor.

„Aber Hardy kann doch heute nicht!“ rief Frau von Arnberg. .

Hardy ſah vor ſich hin. Sie beſann ſich. Unaus⸗ ſprechliches ging durch ihr Gemüt. In dieſem Augen⸗ blick ſaß er an glänzender Tafel neben einem jungen Weib in Schleier und Kranz neben ſeinem Weib berauſcht von Glück fie beide.... Und fie, krank vor Schwäche, zerſchlagen vor Gram, follte ſich hinſchleppen zur Arbeit und als Sklavin des wirbelnden, ewig be⸗ weglichen, atemloſen betäubenden Verkehrs den tauſend Stimmen unſichtbarer Tyrannen gehorchen, die ihr das Recht auf ihre Schmerzensandacht nahmen Hier Amt... Sprechen Sie noch?. Hier Amt... Falſch verbunden!... Hier Amt... Paſſen Sie doch auf!... Hier Amt... Hier...

Oh, Stille nur fünf Minuten Stille Barm⸗ herzigkeit.

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Und nun erhob Hardy das Haupt. Sie war Sehr bleich, und jämmerlich ſchmal erſchien ihr Geſicht. „Ich kann!“ ſprach ſie voll ſtiller Feſtigkeit.

® ® ®

Die Stunde kam, vor der Frau von Arnberg ſich in geheimen Angſten mehr fürchtete, als ſie ihrer Tochter eingeſtehen mochte.

Gleich nach dem Mittageſſen am andern Tage ſchrillte die Flurglocke.

„O mein Gott!“ murmelte die Frau. |

„Mutter!“ ſagte Hardy, und es lag eine folche Fülle liebevoller e f in ihrem Tone, daß die Mutter faſt gehorſam flüſterte: „Ja, Kind, ja.“

Auch Hardy war voll heimlicher Unruhe. Es würde ſie immer ein wenig aufgeregt haben, den Mann end⸗ lich einmal zu ſehen, von dem ſie unter ſich ſo viel ſprachen. Aber nun, zu dieſer Lebenswende, wo ihr

eigenes Glück zerbrochen am Boden lag, wo ihr Bruder

I ahnungslos eins aufbauen wollte, unter Um⸗

tänden, die für . Qual ohne Ende bedeuteten, nun

895 Dieter Arnberg faſt wie das Schickſal ſelbſt ins aus.

Hardy hatte geſtern nicht mehr Klarheit genug im Kopfe gehabt, Heinz ch die Auseinanderſetzungen recht zu folgen. Und auch die Mutter hatte heute früh und jetzt eben beim Mittageſſen nur immer wieder geſeufzt: „Alles hängt von ihm ab!“ Was Dieter mit Heinz Philipps Plänen eigentlich zu tun habe, wie er ſie fördern könne, war ihr gar nicht ganz deut⸗ lich. Aus Angſt hörte ſie nur ſtumm dem Seufzer zu. Und aus Angſt ſprach die Mutter ſich nur in Andeu⸗ tungen aus.

nbrünſtig dachte Hardy: möchte er ſich gegen Heinz Philipps Heiratsplan ausſprechen vielleicht hatte er als Familienhaupt das Recht o, möchte er es verbieten! Hardy fühlte: das war gewiß keine große Liebe zwiſchen dieſer Irma und ihrem Bruder, da zerbrach nichts, wenn ſie nicht zu einander kamen ja, wenn Dieter es doch verböte.

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Aber indem fie die Tür öffnete, dachte fie auch ſchon: Man kommt nicht zu Frauen, denen man eine Hoffnung zerſtören will. Und er denkt doch, es ſei eine Hoffnung für uns.

Im Halbdunkel des Flurs, das noch tiefer wirkte, weil den Hauseingang grelles Sonnenlicht füllte, konnte Hardy ihn nicht genau ſehen. Sie ſah nur einen ſehr großen, breiten Mann. Heinz Philipp ſagte: „Tag, Hardy Herr von Arnberg meine Schweſter.“

Und dann ſprach eine Stimme, die zu laut und

tief für den kleinen Raum ſchien: „Guten Tag, gnädiges

ri und eine feſte Männerhand drückte ihr die echte.

Drinnen ſtand die Mutter, in den 15 en Falten ihres uralten, ſchwarzen Kleides, voll Hoheit. Das ſcharfe, leichenblaſſe Geſicht lächelte verbindlich.

Donnerwetter, dachte Heinz Philipp, in Mutter iſt was Unzerſtörbares. | Ä

Und Herr Dieter von Arnberg fühlte irgendwie, daß ſein guter, verwandtſchaftlicher 1 nicht ſo ohne weiteres am Platze war, und er beugte ſich und küßte die ſchmale, von hunderttauſend Frauen⸗ arbeiten aller Art hartgewordene Hand. Er ſpürte 1050 Härte und da küßte er ſie gleich noch ein⸗ mal.

Durch die überfeinen, immer wachſamen und leicht erregbaren Nerven der Frau ging eine Er⸗ ſchütterung.

Aber ſie hielt ſich vornehm und lud zum Sitzen.

„Der Bock iſt frei,“ ſagte er, „da kann man ſich vor Jagdeinladungen nicht retten. Es traf ſich gut, daß ich die zu meinem alten Freunde Prüttwitz annahm. Ich beſann mich noch. Nun ſieht es aus, als hat es ſo ſein ſollen.“ 1 |

Frau von Arnberg antwortete etwas fteif, daß ihr Sohn ſich des Zufalls ſehr gefreut habe.

Hardy ſah ihn nun in vollem Lichte. Er hatte einen Förſterbart, dunkelblond, aber vorn auf ſeiner Breite zum Gelblichen verfärbt, wie es Haar tut, das

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ohne weitere Kunſt viel dem Waſſer und auch viel der friſchen Luft ausgeſetzt wird. In dem Geſicht, das wohl aus den gleichen Urſachen etwas zu lebhaft ge⸗ färbt war, fielen vor allen Dingen die Augen auf. Knallblaue Augen Bauernmädelaugen oder die eines Kindes nicht ein bißchen von intereſſantem Feuer und lockenden Tiefen darin. Nein, was für merkwürdige Augen für einen Mann, dachte Hardy.

Und ſein bräunlicher Saccoanzug ſah aus, als ſei er fertig gekauft, ohne Sinn für Kleidſamkeit und Eleganz oder vielleicht hatte ihn auch irgend ein Kleinſtadtſchneider gemacht.

Dennoch aber, trotz all der ruſtikalen kleinen Einzel⸗ züge, war irgend etwas an ihm und um ihn, das den großen Herrn erraten ließ.

„Es iſt wunderbar, daß wir uns erſt jetzt kennen lernen. Oder man kann auch ſagen, es iſt wunder⸗ bar, daß wir uns überhaupt kennen lernen,“ begann er nun.

„Ja,“ ſprach Frau von Arnberg, „in der Familie Arnberg haben ſich die traurigen und überraſchenden Ereigniſſe ſeit einem Jahrzehnt gehäuft. Nichts iſt begreiflicher, als daß die wenigen noch vorhandenen Träger des Namens ſich etwas verwandtſchaftlicher zu⸗ ſammenſchließen.“

Geradeſo konventionell, wie ſie das ſagte, ſaß man auch zu viert um den alten, eingelegten Tiſch. Und die Sitzenden füllten das kleine Zimmer ſo ſehr, daß Heinz Philipp ſpürte, wie ſeine Stuhllehne ſich knir⸗ ſchend an dem Sekretär rieb. In dem aus Kinder⸗ zeiten her tief eingewurzelten Bewußtſein, „man muß die Sachen ſchonen,“ bemühte er ſich unauffällig, etwas weiter nach vorn zu rücken.

„Ich habe Ihrem Sohn meinen Unwillen nicht verborgen,“ fuhr Herr Dieter fort, „daß er mir nicht ſchon vor drei Jahren von Ihren Lebensumſtänden offen ſprach. Ich habe es nicht gewußt, daß Sie mich nötig hatten.“

Wir? Sie? Wir haben niemand nötig. Wir

nicht,“ ſprach Hardy ſcharf.

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„Gott, Hardy ...“ ſagte Heinz Philipp ärgerlich.

„Ich meine ich, IF habe niemand nötig,“ ver⸗ beſſerte ſie ſich und wurde rot.

Die blauen Augen ſahen ſie feſt an, 19 0 feſt. Dann wandten ſie ſich der älteren Frau zu. Und ganz ebenſo unbefangen und durchdringend ſahen ſie dieſer ins ſchmale, ſchlechtfarbige Geſicht. Ä

Mein Gott, dachte Herr Dieter von Arnberg, die haben gelitten die beiden!

Und ein großer Arger auf den Sohn und Bruder dieſer beiden Frauen wallte wieder in ihm auf. Er hatte ſchon vorhin kein Blatt vor den Mund genommen und Heinz Philipp einiges gejagt, da3 für immer zwiſchen ihnen bleiben mußte, ſo derbe war es geweſen. Vor allen Dingen die Feſtſtellung: „Alſo jetzt, jetzt, wo es für Ihre Lebensumſtände wichtig ſcheint, jetzt kommen Sie erſt mit denen Sure Mutter 'raus.“ Aber er merkte wohl: wie nun mal alle ſolche Menſchen ſind darin war auch Heinz Philipp ganz naiv ge⸗ weſen das wurde ihm erſt nachträglich klar, wie feine Haltung eigentlich ausſah na ja...

Herr Dieter von Arnberg ſprach nun weiter, mit einer inneren Freiheit und einer ſo vollkommen un⸗ befangenen Beherrſchung der Lage, daß dies bald auf die Frauen hinüberwirkte und ſie zwang, ohne jede Verlegenheit zuzuhören. Ganz ohne Pathos und falſche Scham konnten ſie, wie von ſelbſt, ſeine Stellung und die ihre betrachten.

„Erlauben Sie mir erſt mal von mir ſelbſt zu ſprechen, verehrte Frau? Sehen Sie, ich bin ein ganz ſimpler Menſch. Meine liebe, gute Mutter und mein Vater ja, das war 'n famoſer Mann die ſind mir früh geſtorben, wie Sie wiſſen werden. Aber doch nicht ſo früh, daß ich nicht dies und das aus ihren Geſprächen und Lehren mir hätte merken können. Was Tote geſagt und gemeint haben, hat ja immer ſolch Gewicht. ‚Man muß nicht jo viel über das Leben nachdenken, man muß zugreifen, wo es einen braucht', ſagte Mutter. ‚Gegen junge Männer muß man ein bißchen ſtramm fein,‘ ſagte Vater, ‚aber Frauen muß

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man nicht leiden laſſen.“ Wir waren nicht arm, nicht reich. Das Gütchen, was ich von ihnen erbte, wollte durch Arbeit immer verteidigt ſein. Das hatte meinen Eltern genügt. Mir re auch genügt. Und da ent» wickeln ſich nun die Dinge ſo furchtbar ernſt, und ich komme vor bald vier Jahren gegen alle menſchliche Berechnung in den rieſengroßen Beſitz. Das konnte ſich ja als Druck auf mich legen und wollt's auch bei⸗ Ich fühlte gleich: bes anſtändig zu ertragen, gibs nur einen Ausweg: den, daß du alles, alles für die armen Frauen der Familie tuſt. Die Lebrecht Aare waren und find ja die nächſten dazu. Daß auch Mutter und Schweſter meines derzeitigen Thronfolgers es ſchwer haben, wußte ich nicht. Nun weiß ich's, und wir wollen mal vernünftig beſprechen, ich meiner Pflicht am beſten nachkommen ann.“

Sn ſah ihre Mutter an. Was für fieberrote Backen die bekommen hatte. Wie eiſern ſie die zer⸗ arbeiteten Hände im Schoß faltete.

„Wenn Sie es als Pflicht anſehen,“ ſprach Frau von Arnberg mit haſtigem Atem, „entwaffnen Sie mich von vornherein.

„War da was zu entwaffnen?“ fragte er mit einem kleinen, gutmütigen Lächeln. „Von Ihrem Sohn brauchen wir nicht zu ſprechen er will ſich mit Kopf und es ſcheint ja wohl auch mit Herz in eine Alle Heirat ſtürzen. Ich wollt', ich wär' ſo weit wie er.

Und er iſt gewiſſermaßen beſorgt und aufgehoben. daß er nicht an ſein Glück denken kann, ſolange 5 | ſeine Mutter plagt ſich ſchwer, ift mal gewiß. Söhne an vollen Tafeln und die Mütter mit einer Brotrinde wer kann das denken, ohne daß er ſcham⸗ rot würde... Und daß Heinz Philipp für Sie von erheiratetem Geld was täte, ging denn doch gegen die Arnbergſche Ehre. Iſt es klar?“

Oh, mein Gott, ja wie iſt es klar, dachte Hardy

rührt. Sie vergaß, daß ſie dringend gewünſcht hatte, Herr Dieter von Arnberg habe irgend ein Recht, die Heirat zu verbieten.

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„Ja,“ ſprach die Frau mit heißem Geſicht, „es ift klar. Aber ich ich kann wohl noch arbeiten noch ein wenig ich hätt' es wohl noch ausgehalten..“ Ihre Stimme zitterte.

Es war ein letztes Sträuben in ihr. Und dennoch überfiel ſie mit einem Male das Bewußtſein ihrer ungeheuren Lebensarbeit wie ein Mühlftein... und zerdrückte ſie ganz. All die Bürde, die ſie getragen all die Laſten, die ſie jahrelang jeden Tag von neuem ans Danaidenfaß der Pflicht geſchleppt, mit zer⸗ brechendem Rücken, mit erſchöpften Kräften all die furchtbaren Nächte, wo ſie mit angſtgehetzten Gedanken die noch vorhandenen Groſchen nachrechnete, die nie⸗ mals reichten nicht einmal für die Notdurft.

Sie fühlte ein Aufſchluchzen in ihrer Bruſt empor⸗ kommen . . fie wollte feſt bleiben fie legte die Hand über die Augen.

Und Herr Dieter von Arnberg ſah dieſe ſchmale, grobe Hand auf dem hageren Geſicht.

Es ſchien, als würden ſeine Augen noch blauer, ſein Blick noch beſtimmter.

„Sie hätten es ganz gewiß nicht mehr lange aus⸗ gehalten,“ ſagte er einfach. „Und ich habe es ja auch dem Fräulein Eberhardine an; wir haben uns ſeit Jahr und Tag überanſtrengt.“

„Nein,“ ſprach Hardy und wurde wieder ſehr rot „glauben Sie mir, ich kann leiſten, was mein Beruf

ordert. Ich habe in der letzten Zeit allerlei mit mir elbſt zu tun gehabt das hat ja jeder Menſch wohl einmal. Es wird beſſer werden.“

Er 5 leiſe ein wenig den Kopf. „Ich meine, das Vernünftigſte iſt, Sie gehen ſo⸗ fort aufs Land. Nicht etwa, damit Heinz Philipp Mutter und Schweſter als Bewohnerinnen irgend eines Arnbergſchen Schloſſes der neuen Verwandt⸗ ſchaft vorführen kann. Lieber Arnberg, ich ſagte es nen ſchon: das iſt außer meinem Verſtändnis. Daß re Mutter Wäſche näht, daß Ihre Schweſter tele⸗ 8 jawohl, das iſt eine große Sache, und wenn ie Nottbecks oder Ihre Irma ſpeziell ſich daran ſtießen,

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beneidete ich Sie nicht um die Verwandtſchaft kann ich mir ja auch von gebildeten Leuten nicht denken. Nein, darum nicht. Aber Erholung haben die Damen nötig. Landluft haben Sie nötig. Pflege haben Sie nötig. Ich würde ſagen: u Aber das ſeh ich wohl ein, anderswo iſt es zum Aufatmen, zum Erſt⸗ mal-⸗ſich⸗Beſinnen bequemer für Sie. Und deshalb ſag ich: Münchow. Das iſt ein nettes, kleines Herren⸗ haus, alter Park, der an Wald ſtö ßt, und 'ne Seele von Wirtſchafterin natürlich mehr zutraulich als devot, familiär rührend beſorglich jawohl, das mein’ ich. Und wenn Sie ſich da ein paar 15 erholt haben, komm ich mal hin, und wir ſprechen weiter.“

Heinz Philipp nickte ſtrahlend. Die Genugtuung, die er über alles empfand, ließ ihn die kleinen Pillen, die er nebenbei zu verſchlucken bekam, glatt ſchüm Halb und halb war er auch wirklich be⸗ chämt wenn die Sachen gut ausgingen, fühlte er immer nobler.

Frau von Arnberg ſeufzte tief. Es war aber keiner jener harten Seufzer mehr, die die ganze Welt anzu⸗ klagen ſchienen.

„Das muß ja ſchon allein 'ne Strafe geweſen ſein, 71 5 gewohnt zu haben. Als wir kamen, fiel mir dieſe

eihe R auf, daß ich fie gezählt 2 Zwölf ganz egale, Heuplich nüchterne Häuſer, Wand an Wand edrückt! Als wenn Häuſer nicht auch 'ne Extraſeele aben 1 jedes eine für ſich in ihrer Art. Der Kerl, der das gebaut hat, muß ja ne pöbelhafte Un⸗ bildung beſeſſen haben... Na Wie freut es mich für Mutter, daß ſie aufs Land kommt. Ich 55 jetzt nicht. Wir haben jede von uns vierzehn Tage Ferien. Aber erſt in der ſtillen Zeit, im Juli oder Auguſt,“ jagte Hardy.

Herr Dieter von Arnberg nahm nun mit feinen blauen, ſtetigen Blicken Hardy vor.

Ihr feines, vornehmes, ausdrucksvolles Geſicht, ihre ganze Erſcheinung efielen ihm ausnehmend. Die braucht bloß 'n niedliches weißes Kleid anzukriegen

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und ordentlich was zu eſſen und zur Pflege, und dann iſt ſie eine Schönheit, dachte er. ber 'n bißchen obſtinat ſcheint ſie auch.

„Urlaub, mein liebes Fräulein, brauchen wir nicht mehr. Wir nehmen unſern Abſchied. Der Telephon⸗ helfen. des Deutſchen Reiches muß ſich ohne uns be⸗

elfen Über den Vaterton dieſes Mannes, der noch ein ſo junger Mann war, 3 0 55 lächel n.

„Verzeihen Sie mir, Herr von Arnberg. Ich emp⸗ finde mit heißem Dank Ihre Güte. Aber ich für meine Perſon bedarf keiner Hilfe. Ich bin aufgewachſen in dem Wiſſen: ich müſſe mir einmal ſelbſt mein Brot verdienen. Manche Stunden habe ich gehabt, wo ich dachte, das ſei hart. Manche Stunden habe ich noch, wo mir mein Beruf unerhört, unertragbar erſcheint, weil ich immerfort den Unfichtbaren zu e habe, die mich kommandieren. Und doch..

Er 9 ch be ft Aug 2

„Und doch

Es trug Hardy fort, 1 00 m 5 5 an nicht, wie das kam. Mit einem Male ſah ſie alles in ſo klarem Li cht, keit sel völlig, was ihr chte Arbeit, ihre Selbſtändig⸗ eit

„Und doch,“ ſprach ſie voll ſtarker Bewegung, oc bin ich ſtolz darauf, 2 ich arbeiten kann. Ich hab gelen mich als Schweſter zu fühlen von all Ben tauſend Mädchen, die gleich mir keine rechte Jugend haben en weil fie für ihr Brot ſorgen müſſen. Ob ſie nähen, lehren, telephonieren, verkaufen ſie ſind alle zuſammen eine Gemeinde, die Gemeinde der Tapferen. Und ihr anzugehören, hebt mich vor mir ſelbſt. Ich weiß auch längſt, daß der Arbeitszwang einen wunderbaren Aus leich in ſich birgt er iſt der vollkommenſte Gegenſatz zum Zwang: die höchſte Freiheit. Wie frei es eine Frau macht, zu wiſſen: ich eſſe ſelbſtverdientes Brot ja, dazu bin ich nicht beredt genug, Ihnen das klarmachen zu können. Was bin ich noch, wenn ich alles Ihrer Güte danke? Und neben Mutter dahinlebe ohne Ziel und Pflicht? Nichts

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bin ich als ein alterndes Mädchen, das Zeit hat, ver⸗ bittert zu werden. Nein Sie wollen mir meine 190 laſſen ... meine Selbſtändigkeit wollen Sie mir aſſen ...“

Tränen funkelten in ihren Augen. Und ſie dachte: Wie ſollte ich auch mein Leben ertragen, nachdem ich ihn verloren habe, wenn ich mich nicht mit Arbeit betäubte.

Ganz betroffen ſtand Herr Dieter auf: mit ihm er⸗ hoben ſich die andern. Die Mutter ratlos, hektiſche Röte im Geſicht, der Bruder bemüht, ſeinen heftig auf⸗ wallenden Arger zu bezwingen geſpannt, was Dieter nun ſagen werde.

Der fragte langſam: „Und Sie wollen nichts, gar nichts mit mir zu tun haben?“

Da ſtreckte Hardy ihm ihre Hand hin und ſagte frei und zutraulich: „Doch. Von Herzen gern komme ich, wenn ich darf, in meinen beiden Ferienwochen auch nach Münchow.“

Er drückte ihr mehrmals die Hand. Er konnte nichts ſagen. Er dachte immerfort: die hat Charakter ja, die hat Charakter..

Nun aber fiel alle Haltung von der Mutter ab, ſie wußte nicht aus noch ein vor Aufregung und Un⸗ ſchlüſſigkeit. Sie wollte Hardy nicht allein laſſen unter keinen Umſtänden und alles hatte ja keine Eile die Ausſicht tröſtete und erholte ſchon man mußte auch Übergänge ſuchen Und die Wohnung? Und die Sachen?.

Herr Dieter von Arnberg war innerhalb ſeiner Umwelt das ruhevolle Befehlen ſo durchaus gewöhnt, daß er nun, nach einigem Beſinnen, und nachdem er aus den Klagen, Fragen und Ausrufen der Frau ſich ein völliges Bild aller Nebenumſtände gemacht, die Sache wieder feſt in die Hand nahm.

„Vereinigen wir uns,“ ſprach er herzlich; „zu über⸗ ſtürzten Geſchichten ſollen Sie nicht gezwungen werden. Ich ſchlage vor: andre Woche Sonnabend eg Sonntag nachmittag kommen Sie mit

Fräulein Eberhardine mal nach Münchow ſo einen

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freien Sonntag werden Sie wohl mal haben? Na ja alſo. .. Und dann gucken ſich die Damen Münchow an, und wenn es gefällt, was ich für gewiß im voraus weiß, ſiedeln Sie Mitte Juli total dahin über mit all Ihren Sachen. Und inzwiſchen tut Ihre Tochter ſich nach 'ner Penſion oder 'ner Familie um, wo ſie ſich anſchließen kann wenn's denn ſo durchaus beim Telephonieren bleiben ſoll was meinen Sie? Ja, ſcheint mir klar. Und dann noch eins: Das Nähen hört aber ſofort auf ſofort! Nicht eine Stunde mehr! Und wir ſind verſtändig, und wenn nächſter Tage eine kleine Sendung aus Arnberg kommt, denken wir: das iſt ja alles im letzten Grunde vom wunder⸗ lichen Schickſal dem Dieter geſchenkt.. Wer weiß, ob nicht gar auch bloß geliehen..“

Seine Stimme nahm einen tiefernſten Klang an.

Da kam aus dem Munde der Frau ein Aufſchluchzen.

„Nein ... ſchrie fie. Und ſank weinend in die Sofaecke und verbarg ihr Geſicht.

Alle ſtanden ſchweigend. Und kaum konnte Frau von Arnberg ſich dann ſo viel faſſen, die nötigen Ab⸗ N zu finden und etwas von Dank zu ſtam⸗ meln.

Herr Dieter von Arnberg hatte auf einmal große Eile und ſagte etwas von ſeinem Freunde Prüttwitz, dem er mit heiligen Eiden Rückkehr mit dem Zuge drei Uhr ſiebenunddreißig verſprochen. Aber man ſpürte wohl: er wollte nur vor all der Rührung da⸗ vonlaufen. In ſeiner Eile ſchien er vergeſſen zu haben, daß er Hardy ſchon feſt die Hand geſchüttelt hatte, denn er kehrte vom Flur aus noch einmal um und ſchüttelte ihr zum zweiten Male die Hand.

Lange und ſtill weinte die Mutter noch vor ſich hin. Und Hardy ahnte, was für Bitterkeiten ſich da löſten, was für galliger Neid hinwegſchmolz, wie ſüß die tiefe Scham das Gemüt der armen Kreuzträgerin erhob welcher Friede ſich in ihrer Seele verbreitete mit welcher heißen Inbrunſt ſie dem Mann abbat, daß ſie ihm nicht das Leben ge⸗ gönnt habe...

XXVIII. 1. 8

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Einmal trat Hardy ſacht an die Mutter heran und ſtreichelte ihr das Haar.

Da kam ſie in die Höhe und ſah ihre Tochter an aus verweintem Geſicht fragend faſt demütig. „Hardy“, ſagte Ir „denk nicht, daß ich weniger ſtolz bin... Aber ich konnte gar nicht mehr ich konnte nicht mehr...“

Und über dieſem Laſttierblick der von all den Peitſchenhieben des Schickſals ſo furchtſam und matt geworden war über dies flüſternde Geſtänd nis: „Ich konnte gar nicht mehr,“ begann auch Hardy zu weinen. Sie umarmte heiß die Mutter.

„Alles kannſt du von ihm nehmen, alles von dieſem alles,“ rief ſie. In ſchmerzlicher Bewegung dachte ſie an den andern Mann, von dem ſie einſt dieſe Erlöſertat erhofft... und wie viel glühender noch hätte ſie es ihm gedankt

® ® ®

Zu den vielen Überraſchungen, die Borwin in feiner noch ſo jungen Ehe erfuhr, gehörte es auch, daß er ſeine Frau in einer ſehr regen Korreſpondenz mit ihrer Schweſter ſchr Während der Verlobungszeit hatte er nur ſpöttiſche Neckereien, Empfindlichkeiten, kleine en aller Art zwiſchen den beiden beobachten önnen. Und zudem war Doraline keine geborene Briefſchreiberin. Wie ein Schulkind ſaß ſie oft am Tiſche, das Ende des Federhalters zwiſchen den Zäh⸗ nen, ſtiliſtiſche Wendungen mit großer Mühe ſuchend. Trotzdem ihr alſo offenbar das Schreiben läſtig ſein mußte, war dennoch ihre erſte Sorge, ſtets an Irma zu berichten, wie ſchön dieſe neuerreichte Reiſeſtation ſei, wie wahnſinnig Borwin ſie liebe, wie unmenſchlich glücklich ſie ſich fühle.

Allmählich kam er dahinter, daß für Doraline die überwältigende Größe Londons, die lichte Schönheit der engliſchen Südküſte, die ſtille Uppigkeit der Inſel Wight, der phantaſtiſche Einſamkeitszauber der nor⸗ männiſchen Inſeln nur den einen Wert hatten: ſie konnte vor Irma, die das alles noch nicht kannte,

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damit auftrumpfen. Und dennoch, trotz all dieſer Trümpfe, zog Doraline vor der federgewandten, be⸗ gabten Schweſter ſtets den kürzeren. Und wenn auf die in prahleriſcher Freude heimwärts geſandten Meldungen dann von Irma eine Antwort kam, die voll ſpitzer Pfeile war, ärgerte ſich Doraline bis zu 1 f!“ ſagte er oft nachſichtig und zärtlich

„Kindskopf!“ ſagte er oft nachſichtig und zärtlich. Aber doch auch voll Erſtaunen über 15 Kleinlichkeit dieſes Gefechtes ſchweſterlicher Eiferſucht.

Sie waren auf der Inſel Jerſey, als ſie die Nach⸗ richt von Irmas Verlobung bekamen. Der Poſtdampfer, der allabendlich von Southampton in den Hafen der kleinen Hauptſtadt dieſer Inſelwelt, in St. Helier ein⸗ lief, brachte ihre Poſt mit, die ihnen dann morgens mit dem erſten Frühſtück ins Zimmer gegeben wurde. Doraline war wieder einmal nicht zum Aufſtehen zu bewegen, obſchon der Wagen, zu einem Ausfluge be⸗ ſtellt, vor der Tür des Grand Hotel hielt. ö

Und wenn Borwin in ſolchen Fällen mahnte und fragte, ob ſie ſich denn gar nicht auf den ſchönen Aus⸗ flug und die Natureindrücke freue, die man erhoffen könne, reckte ſie ſich lang aus und kauerte ſich unter ihrer Decke wieder zuſammen wie ein behaglich ſpielen⸗ des Kätzchen und ſagte, daß es ihr ganz egal ſei, ob die Welt ein Paradies oder eine Wüſte wäre, und daß er lieber kommen und ihr noch einen Kuß geben ſolle, ehe ſie ſich zum Aufſtehen entſchließe. Und wenn er dann ſich über ſie neigte, ſchlang ſie ihre Arme um ſeinen Hals und wollte ihn nicht loslaſſen. Es war jeden Morgen das gleiche Spiel, und ihre Begierde nach Zärtlichkeit ſchien unerſchöpflich.

Auch heute bedurfte es vieler Geduld und endlich auch einer Bitte, die einem Befehl faſt gleichkam, bis Doraline aufſtand. In großer Haſt zog ſie ſich dann an, und als ſie neben ihrer Teetaſſe Irmas Brief ſah, wollte ſie ihn gleich leſen. Das hätte nur neuen Aufenthalt und unter allen Umſtänden Arger gegeben. Borwin ſchlug vor, den Brief mitzunehmen und unter⸗ wegs zu öffnen. N

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Sie fuhren auf leichtem Wagen mit emſig trabenden Pferden dahin. Rechts lag das Meer, in der Nähe ſtill und blank, in der Ferne im Sonnenſchein, wie von einem dünnen weißen Dunſt überdampft. Am Horizont, dort zwiſchen dem hingebreiteten, ebberuhigen Meer und dem Atlas des reinen Himmels, erkannte man einen bläulichen, in ſeinen Grenzen verſchwim⸗ menden Streifen: die franzöſiſche Küſte.

Die Fahrſtraße hob ſich und ſenkte ſich dem ſehr welligen Gelände gemäß, das mit ſeinen allerliebſten kleinen Tälern, mit ſeinen niedlichen Höhenzügen die Formen einer Gebirgslandſchaft nachahmte, wie ein Spielzeug oft ſehr ernſten Dingen gleicht und das Grandioſe zum Reizenden herabmildert.

Die Ufer hatten ihr ſchaumiges Wellenkleid ver⸗ loren, das während der Flut in heftigem Faltenwurfe ſich über ſeine Felſengründe legte. Nun waren ſie entblößt und ſtellten ſich als ein bizarrer und heim⸗ tückiſcher Ringwall dar, den die Natur um die Inſel gebaut. Aber dieſe Felſenbrocken, die den in räuberiſcher Abſicht ſich nähernden Schiffen jeden Überfall der begehrenswerten Inſel unmöglich zu machen ſchienen, hatten den Normannen noch nicht als Schutz genügt. In regelmäßigen Zwiſchenräumen errichteten ſie rund um die Inſel Türme, zur Wacht und zur Verteidigung. Die ſtanden nun, kurz und gedrungen, hell im Sonnen⸗ ſchein und ſahen als lächelnd melancholiſche Ruinen auf das verebbende Meer hinaus.

Borwin erklärte Gegend und Geſchichte und ſuchte die Intereſſen der jungen Frau zu wecken.

„Sieh nur,“ ſagte er, „wie wundervoll und finſter die gewaltige Feſtung ſich vor dem blauen Himmel und über der Küſte erhebt.“

Sie fuhren auf Chateau Montorgueil zu, und die klotzigen braunen Mauern, vielfach vom blanken, zähen Pelz eines undurchdringlichen, uralten Efeus bedeckt, ſtanden in einer wuchtigen Silhouette düſter und hoch⸗ ragend über dem Ufer, aus ſeinem Fels emporwachſend. he 8 flimmerte hell das Meer, ſehr ſtill und verträumt.

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8 1 famos. Aber gib mir doch endlich Irmas rief.“ Sie bat zum drittenmal darum, immer war dieſe Bitte ihre Antwort auf eine ſeiner Bemerkungen.

Er ſah wohl: ihr kleines, drolliges Briefgezänk mit der Schweſter war ihr wichtiger als all dieſe Schönheit.

Und kaum hatte Doraline zu leſen begonnen, ſo ſchrie ſie auch ſchon auf.

„Irma hat ſich verlobt!“

Sie las vorerſt gar nicht weiter. Sie erging ſich in Phantaſieen. Mit der Treffſicherheit der Gereizten erriet ſie, daß Irma mit einem Knalleffekte habe imponieren wollen. Denn ſo etwas habe doch ein Vorſpiel! Und kein Menſch berichtete davon? Nicht mal Mama? Hatte ſie es etwa nicht gewußt? Oh, ganz Irma! Und keine von den Freundinnen, weder Fanni noch Lorchen, ſchrieben von Gerüchten; niemand hatte offenbar vorher darüber geklatſcht! Wie hatte Irma das nur angefangen? Ja, ſie war imſtande, alles geheim betrieben zu haben, ſelbſt hinter dem Rücken der Eltern!

„Aber, Liebling, lies doch nur weiter,“ bat Bor⸗ win, der nun wußte, daß er von dieſem Ausfluge a Stimmung und geſammelten Genuß erwarten ürfe.

„Was iſt da viel zu leſen,“ ſagte Doraline ver⸗ ärgert, „kurz und impertinent iſt er. Da lies.“

„Liebe Kleine, ſeit Du Frau biſt, empfange ich von Dir ſo viel Belehrungen. Das amüſiert mich immer rieſig. En revanche will ich Dir auch ein Vergnügen machen. Nämlich mit der Nachricht, daß ich mich verlobt habe. Heimlich bin ich ſchon ſeit vier Wochen Braut. Auf Deiner Hochzeit hab' ich mich verlobt. Aber es beliebte uns, gegen jedermann, auch gegen die Eltern, davon zu ſchweigen. Grund: Heinz Philipp . allerlei Familienangelegenheiten zu ord⸗ nen; ich kenne ſie genau. Alſo ſtrenge Deine Phantaſie nicht an; geheimnisvolle Gründe lagen für dieſe Ver⸗ zögerung nicht vor. Auch war im Regiment irgend

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was los kranker Adjutant, den Heinz Philipp ver⸗ treten mußte kurz, er konnte nicht gleich wieder Urlaub nehmen. An Deinem Polterabend lernten wir uns kennen, am andern Tag warb er um mich. Alſo leidenſchaftlicher Stil. Heinz Philipp von Arn⸗ berg iſt der Freund von Fritz; vielleicht haſt Du ihn bemerkt. Trotzdem Du in Deiner Verliebtheit und etwas kindlichen Einſeitigkeit vergeſſen zu haben ſchienſt, daß eine Hochzeit ſchließlich auch eine geſellſchaftliche Veranſtaltung iſt. ... Mit dem Verlobungsdiner hätten wir gern auf Eure Rückkehr gewartet. Allein Heinz Philipps Mutter, die bisher ſtill in unſrer Stadt gelebt hat, ſiedelt nächſte Woche auf eines der Arnbergſchen Schlöſſer über, und da iſt es für die alte Dame be⸗ quemer, das Feſt wird vorher abgemacht. Grüß Deinen Gatten. Sag ihm, er ſolle ſich bedanken für den netten Schwager, den er bekommt. Die Eltern ſind glücklich. Nun, ſie ſind ja immer glücklich, mit und ohne Grund. Diesmal haben ſie einen. In Liebe Deine Irma.“

Borwin gab ſeiner Frau den Brief zurück. Seine Hände waren eiskalt. Er ſchwieg vollkommen. Doraline vertiefte ſich wieder in die Lektüre und ſprach laut allerlei Randbemerkungen.

„Am Polterabend kennen gelernt am andern Tage ſchon verlobt! Wie kann man! Man prüft ſich doch erſt! Leidenſchaftlicher Stil pöh, damit will Irma mich bloß anärgern, weil ich ſo lange habe warten müſſen. Als wenn ſie ahnt, daß was dahinter war . . . ach, Borwin es iſt zu ſchrecklich für mich.. Und du ſagſt gar nichts . .. wie findeſt du es ...“

„Ich finde es das Selbſtverſtändlichſte von der Welt, daß Irma heiratet. Und für dich ſpeziell ſehr erfreulich, denn fortan ns Irma ja etwas andres zu tun, als a pieſacken,“ ſprach er jo beherrſcht, als er ver⸗ mochte.

Aber dennoch klang ſeine Stimme vielleicht ein wenig rauh. Irgend etwas war in ihrem Klange, a 5 veranlaßte, den Gatten ſehr ſcharf an⸗ zuſehen.

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„Du blaß ein ganz verändertes Geſicht bekommen ganz b

Er 9 eine abwehrende Handbewegung.

„Ja, ganz blaß!“ fuhr ſie mit erhöhtem Eifer fort und erſchwerte ihm mit ihren durchdringenden Beob⸗ achterblicken die Haltung,, furchtbar blaß... Borwin Gott ein Gedanke! War Irma die ‚andre‘, die du vor mir geliebt haft? Ja, fie war es, fie war es! Daher all ihr Spott ihre Eiferſucht Und ſieh hier: fie hat das Wort ‚diejer‘ unterſtrichen, ja ſieh, ‚ge- heimnisvolle‘ Gründe lagen für dieſe ala nicht vor. ee ns fie... ja, es war Irma

Sie fin chon an zu weinen

en hd dich, Liebling! Wir wollten doch nie davon ſprechen. Und ungefähr jeden Tag kommſt du darauf zurück, und alle jungen Mädchen, die wir kennen, haſt du ſchon durchgeraten. Und nun kommſt du ſogar auf Irma! Ich ſchwöre dir, ſie war es nicht.“

Das weite ſtille Meer lag im ſanften Glanze ſeiner beſonnten Ruhe.

Die finſteren Formen der alten, efeuumwachſenen Feſtung, die wie ein ſtarker, feſter Akzent inmitten all des zitternden Lichtes ſtand, rückten ihnen gleichſam entgegen.

f er wie ſeltſam ſchön das ift,“ bat er fait ehe

„Ja, ja ſchön. O, das gönn' ich Irma nicht, von einem Tage zum andern hat ſie ſich den Mann erobert! Und ich mußte drei ſchreckliche Monate warten, weil du eine andre liebteſt. Und in jeder Geſellſchaft muß ich zittern und mich fürchten, die ‚andre‘ iſt da, und du kehrſt am Ende noch zu ihr zurück.“

Mehr als einmal hatte er ihr auf ſolche Furcht⸗ gedanken geantwortet: Du wirſt die andre nie in den Geſellſchaften treffen, die wir beſuchen.

Das konnte er jetzt nicht mehr jagen .

Aber antworten mußte er. Sonſt ging Dora⸗ lines Phantaſie weiter, verlor alle Zügel und ſtürzte ſich endlich in einen Abgrund, darein ſie ſich, ein Opfer von Untreue und Verrat, elendiglich umkommen

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ſah. Er kannte das ſchon, kannte es bis zur Er⸗ müdung ...

Voll Herzlichkeit legte er den Arm um fie.

„Verdirb dir und mir nicht dieſe köſtliche Fahrt, Liebling,“ bat er, „du biſt jetzt meine Frau und darfſt die Vergangenheit unbeſorgt ruhen laſſen. Vielleicht gerade, weil ich einmal das Schickſal erlebt habe, zwiſchen zwei Frauen hin und her geriſſen zu ſtehen, . ſollte die Siegerin unbedingt an meine Treue glauben.“ |

Doraline trocknete ihre Tränen. Das Wort „Sie⸗ gerin“ tat ihr immer wohl. Sie umarmte Borwin und verſicherte ihn, daß ſie ſterben würde, wenn er ihr nur einen einzigen ſeiner Gedanken entzöge. Ihre Zärtlichkeit wuchs und wollte ſich in leidenſchaftlichen Küſſen äußern.

„Aber wir ſind doch auf der Landſtraße!“ ſprach er mahnend.

Das ſtimmte ſie abermals trübe. „Kann das große Liebe ſein, die nebenbei immer ſo beherrſcht iſt, daß ſie das Schickliche bedenkt?“ fragte ſie.

Sie fuhren in dieſem Augenblick in den Burghof der alten Feſte ein, und Borwin kam ſo um eine Debatte über dieſe Frage.

Man wanderte über ſchmale, von finſtern Mauern bedrängte Treppen, unter niedrigen, ſchwer geſchwun⸗ genen Torbogen hin, durch primitive, tiefverſchattete Hallen, in deren hohlen Bogenfenſtern beſonnte, blanke Efeuranken ſich leiſe hin und her ſchwangen. Von Plattformen, die von ausgezahnten Mauerrändern umſchützt wurden, ſah man hinaus auf das beizend helle Meer und den ungeheuren Himmel darüber. Oder hinein in das liebliche Inſelland, das der grüne Efeu überall bekroch, wo die Hand der Bauern ihn nicht fortgeſchoben hatte.

Sehr nachdenklich ging Doraline neben ihrem Gat⸗ ten. Und er hoffte, daß all dieſe Einſamkeitsſchönheit, dieſer Vergangenheitstraum aus Stein und Meer ſie bezaubert habe. Liebevoll erzählte er ihr, was er ſich zuvor an Kenntniſſen von der Geſchichte des Schloſſes

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zu eigen gemacht, jo liebevoll, daß es faſt war, als ar ſich die ganze unruhvolle, blutige Hiſtorie der

nſeln, die ein Eroberer der Fauſt des andern entriß, nur zu ihrer Unterhaltung begeben.

Als fie den Wagen wieder beſtiegen, ſeufzte Dora⸗ line herzhaft. Aber ſie ſaß dann ſchweigend.

Und ſo konnte auch er endlich verſuchen, über das nachzudenken, was ſo neu und ſchwer nun ſein Leben zu beunruhigen drohte.

Der Wagen trottete langſamer den auf kahlen Höhenzügen ſich hinwendenden Weg entlang. Aus und ein bog ſich drunten der Uferrand, immer neue kleine Buchten umſchließend, in denen ſich nun leiſe das Meer zu rühren begann. Es ſtieß ſpülend an die aufragenden Felſenbrocken und ſchob einen ganz kleinen, ſchwellenden Fer G hinauf auf den äußerſten Saum des entblößten Grundes.

Borwin ſah immer rechts hinab und hinauf aufs Meer, als beobachtete er ſehr aufmerkſam dieſen vor⸗ ſaß uche taſtenden Arbeitsbeginn der Flut. Aber er ah nichts. Er fühlte nicht den friſchen, kleinen Wind, von Salz⸗ und Kräuterdüften ſchwer geſättigt.

Wie ſoll das möglich werden, dachte er, ihr Bruder und ich wir ſollen eine Familie zuſammen bilden, jo etwas wie Brüder werden durch unſre Frauen? Und ihr ſelbſt ſoll ich begegnen und ſie mir? An einem ne ſollen wir zuſammenſitzen in Lügen? Oder wird ſie es ſagen, daß wir uns kennen? Und wird die Wahrheit auf den Markt gezerrt werden? Was heilig und was ſchmerzlich war, nun beklatſcht werden? Und Doraline? Immer, raſtlos, nie ein⸗ geſchläfert umſchweifen ihre ſuchenden Gedanken die andre. Wird ſich alles ſo entwickeln, daß Doraline ſie erkennt?! Hätte ich ſie verleugnen ſollen? Das, was mir eine reine, wehmütige Erinnerung war, klug hinter Lügen verſtecken ſollen? Hätte mich das nicht ſchamrot gemacht? Bezahle ich nicht ſchon jeden Tag mit törichten Szenen, die i zu ertragen habe, jene Wahrhaftigkeit, die gewiß auch töricht und mir dennoch, dennoch eine Notwendigkeit war? Ich konnte, ich durfte

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nicht klug ſein in jener Stunde nicht. Mir wäre Klugheit da Unwürdigkeit geweſen Undankbarkeit, Nichtachtung gegen die eine, die mir ſo groß und ſtill verziehen hat.

Ja, wie ſollte alles werden? Der Gedanke, Hardy zu begegnen, war ihm entſetzlich. Geradezu wie eine Entweihung. |

Der Vorhang hinter dieſem Stück Leben war ge- fallen. Und nun ſollte es ſein, wie wenn Schauſpieler abgeſchminkt und im bürgerlichen Kleide wieder auf der Bühne ſich zeigen, nachdem all die Liebe und das Leid, das fie gemimt, ſchon verklungen .

Es ſollte kein erhabener Traum, kein geheimes, ſüßſchmerzliches Erinnern bleiben? In das Aller⸗ platteſte, in das kleinzänkiſche Familiengetriebe ſollte das hineingezogen werden?

Er litt. Er wehrte ſich dagegen. Und wußte doch, 805 Lage, die ihm unmöglich ſchien, ließ ſich nicht ändern.

Er empfand undeutlich, ihr Takt würde den Ausweg finden. Daran klammerten ſich ſeine Hoff⸗ nungen.

In dem Briefe ſtand ja etwas davon, daß Heinz Philipps Mutter fortziehe aus der Stadt. Viel⸗ leicht ging ſie, deren der Brief keine, gar keine et tat, mit der Mutter fort. Irgendeine ihm unbekannt gebliebene Schickſalswendung hatte fer Los der Frauen erleichtert. Wie heiß ihn das reute.

Und doch rief es eine andre Erinnerung wach: er wußte noch ſo genau, wie es ſeine Männlichkeit be⸗ glückt hatte, wenn er daran dachte, daß er der Lieben⸗ den nicht nur ſein Herz, daß er ihr auch Sorgloſigkeit ſchenken dürfe.

Aber wenn ſie auch mit der Mutter aus der Stadt fortging, ganz kann man ſich nicht vermeiden, ohne ſehr aufzufallen, wenn man eine Familie zuſammen bildet. Und wenn nicht früher, ſo mußten ſie ſich auf Irmas Hochzeit begegnen.

Litt ſie von dieſem Gedanken? Wehrte ſie ſich

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gegen diefe Wendung der Dinge verzweifelt und ohn⸗ mächtig wie er? Bitterlicher vielleicht noch?

Und dann war die Mutter da, mit ihrem erreg⸗ baren, ſtarken, fanatiſchen Weſen. Wie ſollte er ihr ins Auge ſehen? Ihr, die gewiß nichts verſtanden hatte von dem Gefühlswandel und all ſeinem Leid als die eine harte, einfache Tatſache: er verläßt mein Kind! Sie wußte nur dies eine, und das machte ihn vor ihr zum Verbrecher. Er ahnte, daß ſie ihn haſſe. Wie ſollte er ihr die Hand reichen? War ſie, der er jedes Pathos und jede Schroffheit zutraute, nicht im⸗ ſtande, ſeine Hand zurückzuweiſen?

Und wieder fühlte er unklar: alles lag bei Hardy.

So war es faſt, als ſei ſein Schickſal oder RD äußere Friede feines Lebens ihr anheim⸗ gegeben. |

Er wußte, fie war ſtolz und gut. Sie würde nicht DD ihn triumphieren wollen, indem fie ihn beſchämen

ieß. Voll tiefer Rührung dachte er, daß auch ihr das Vergangene heilig ſei und bleibe. nd zuſammen, in ſchweigendem Verſtehen, würde es ihnen gewiß gelingen, dies Heiligtum in ſeiner Ver⸗ borgenheit zu ſchützen. | „Na, ſehr unterhaltend biſt du nicht,“ ſagte Dora⸗ ne f

„Ich dachte, du wollteſt dich einmal ungeſtört den großartigen Eindrücken hingeben,“ antwortete er.

Er war etwas ruhiger geworden. Das unbegrenzte Vertrauen zu Hardys vornehmer Sicherheit und Her⸗ zensgröße hatte ihm geholfen.

„Im Moment habe ich bloß Hunger.“

„Ich glaube, wir kommen bald an unſer Ziel.“

Und der Kutſcher a es: noch eine halbe Stunde, und man würde in Rozel ſein, wo man einen Frühſtückspavillon fände. Doraline gähnte oft.

„Armes Kleinchen, ſo flau,“ bedauerte Borwin.

„Du haſt manchmal einen Ton, als wenn du mein Großvater wärſt.“

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„Nur einen Beſchützerton.“ |

„Ach was, ich will nicht beſchützt werden, ich will geliebt werden. Jeden Tag mehr.“

„Noch mehr?“ Er wollte es lachend fragen, aber unverſehens verkehrte ſich ihm die Stimme im Munde und wurde wie von Ironie gefärbt.

„Das iſt gewiß das Reſtaurant!“ rief Doraline be⸗ friedigt, als ein länglicher Glasbau zwiſchen Bäumen ſich am Wegesrande zeigte.

Nun war alles andre vergeſſen. Mit einer behag⸗ lichen kleinen Feinſchmeckerfreudigkeit gab Doraline ſich dem Vergnügen am Eſſen hin. Rieſengroße Hummer kamen a den Tiſch, und Borwin beftellte ſchäumenden weißen Burgunder. Doraline hatte Verſtändnis für den feinen Kräuterduft des St. Péray und ſah den Luftperlen zu, die unabläſſig, wenn auch gelaſſener als beim Champagner, aus dem Boden des Glaſes im altgoldfarbenen Wein emporquirlten.

Sie wollte hier ſitzenbleiben und durchaus nichts von dem „tropiſchen Garten“ und der kleinen Bai von Rozel wiſſen, den beiden Sehenswürdigkeiten des Platzes. An der andern Seite der Straße, dem banalen Wirtſchaftsbau gegenüber, auf ſchroff anſteigendem Hügelgelände ſah man eine wunderbare Pflanzenwelt ſich drängen wie ein Stück Morgenland, das irgendwie durch Zauberkraft hierher verſetzt worden war. Die Mittagsglut lag ſchwer und ſchweigend auf dem tief⸗

rünen Blätterdickicht der Magnolien, den rieſenhaften

hododendren und dem emailblanken Gebüſch der Kamelien. Sehr ſchlank und ein wenig gebeugt wie von zu raſchem Wuchſe, dem kernige Kraft fehlt, ſtanden die fahlen, graugrünen Eukalyptusbäume vor dem ſchimmernden Himmelsblau. Pinienwipfel griffen in⸗ einander, auf ihren orangefarbenen Stämmen brannte die Sonne. Feierlich breiteten große Araukarien prieſterliche Arme über den Samtraſen wie ſegnend aus. Lorbeeren, in geſchloſſenen Gruppen, ſtanden zuſammen wie ſchweigende Denker.

Und hinter dem Gitter, zu Füßen dieſer hügel⸗ anſteigenden Südlandspracht, blühten Blumen in jeder

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Farbe, Blumen aller Art. Durch die Maſſen, in a fie wucherten, glichen fie einem üppigen Rieſen⸗ ranze. |

Aber nein, all dieſe fremdartige Fülle verlockte Doraline nicht. Es war ſo heiß. Und man hatte ſo viel und ſo gut gegeſſen und getrunken. Mit großer Überredungskunſt konnte Borwin fie endlich bewegen, bis zur kleinen Bucht die zwanzig oder dreißig Schritte zu gehen. Wenn man noch lange wartete, kamen die Cookſchen Tourenwagen, die alle Tage eine Schar von Reiſenden kreuz und quer über he führten. Und dann war es um den Zauber geſchehen.

Doraline ſcherzte, ſie ſei nicht eigenſinnig und wolle ſich vor Neckerei wegen ihrer Faulheit ſchützen und gehe alſo deshalb mit.

Etwas ſchwer hing ſie ſich an Borwins Arm. In ihrem weißen Kleid, unter dem beim ſchritthaltenden Marſchieren regelmäßig die ſchneeweiß beſchuhten Füß⸗ chen aus und ein gingen, mit dem großen weißen und mit blaßlila Blumen beladenen Strohhute, ſah ſie reizend aus. Eine üppige kleine Rubens⸗Schönheit, dachte Borwin.

A chen ein paar ſich zuſammendrängenden Blüten- büſchen wand ſich ein ganz ſchmaler Weg hinab zur kleinen Bucht. Und da ſchien ſelbſt Doraline von der weltfernen, märchenhaften Stimmung des Platzes be⸗ troffen. Von dem hohen Ufer hs das Gelände fteil ab und umgab den Dreiviertelkreis der Bucht, ihr einen Strandſaum laſſend. Zwiſchen ihm und dem Hang angeklemmt lag eine weiße Fiſcherhütte unter ſchwerem Dache. An ihre eine Seite drängte ſich, ſie tief umſchattend, dunkellaubiges Gebüſch, in dem weiße Blütenſcheiben verſtreut lagen. Die Hütte ſchien ver⸗ laſſen. Man ſah kein lebendes Weſen. Unfern war ein ee grün und ſchwarz bemalt, von plum⸗ pem, dickbauchigem Bau, aufs Trockne gezogen.

Die Flut kam jetzt herein und ließ weißes Perlen⸗ ee über das ſaphirblaue Waller hinſchäumen.

as raunende Murmeln füllte die Luft, die hier von

126 * Windſtoß geſtört war. Mittagsſchwüle glühte ; |

Doraline ließ ſich am Strande nieder, wo fein feines Geröll ſchon in den Sand des Hanges über⸗ ging. Da konnte man warm in der Sonne kauern, ins Licht hineinblinzeln und die Flut leiſe plaudern hören. Es war merkwürdig, wie das Gluckern des Waſſers das große Schweigen ringsum nur noch deut⸗ licher machte. |

„Komm!“ ſagte ſie halblaut. Und ihr Ton war ſchwül wie die Stille um ſie her.

Sie ſtreckte die Arme nach ihm aus, und er lagerte ſich neben ſie.

Sie küßte ihn. Sehr begehrlich, mit der Schranken⸗ loſigkeit der Beſitzenden und der Wiſſenden.

Und auch über ihn kam es wie ein Paradieſesrauſch. Sie waren in der Natur, und das Recht der Natur triumphierte in ihnen. Es gab nichts auf der Welt als Sonnenſtille und drängende e e Und dieſes heißblütige, junge Weib war ſein, ihm gehörte ſie, zuerſt ihm, allein ihm, und wollte und dachte nichts als ihn. ...

„Ach,“ ſagte Doraline endlich, ſelig erſchöpft von ſeinen tollen Küſſen, „hier iſt es himmliſch. An ſo einem Platze möcht ich immer ſein, nur du und ich und unſre Liebe.“ ö

Er ſchwieg. Er lag mit geſchloſſenen Augen, die Hände unter dem Kopfe verſchränkt. Das ſtrahlende Leben loſch langſam hinweg aus ſeinem Geſichte. Eine ſtrenge Falte ſtand zwiſchen den Brauen faſt finſter als grüble er ſchwer nach. Er horchte auf die ſchwatzen⸗ den Stimmen der Flut. Eine unbegreifliche Traurig⸗ keit machte ſeine Gedanken faſt unbeweglich.

„Du antworteſt ja nicht,“ fuhr Doraline fort und drehte ſich in wälzender Bewegung ihm mehr zu „was? Das wäre doch das einzig wahre Leben: ſich in ſo einem Idyll verſtecken und nichts tun, als ſich lieben. Weißt du was laß Geſchäft Geſchäft bleiben, Geld haben wir ja wohl beide genug, und laß uns irgendwo ein Heim gründen, wo es ſo ſchön iſt wie

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6 5 und wo wir ganz allein unſrer Liebe leben önnen.“

Sie lag nun flach auf dem Leib und hatte ihre Ellbogen aufgeſtützt und das Geſicht im Rahmen der Hände. So war ſie ganz nahe neben ihm und ſah ihm in die Augen. In ihrem weiße Blondhaar flimmerte die Sonne, und der weiße Hut mit der lila Blumenſchwere war weit weg, irgendwo auf en Strandgeröll.

Borwin mußte wohl antworten. Es war ihm ſo mühſam.

. ſagte er, „dann würden wir wohl er⸗ ſchreckend raſch genug voneinander bekommen. Ein Daſein ohne Arbeit! Das ertrüg' ich nicht. Und du würdeſt mich wohl bald nicht mehr achten. Arbeit iſt auch Freude.“

„Gönn' die Freude denen, die kein Geld haben. Wir haben was. Laß uns andre Freuden ſuchen.“

„Guck mal an! Nun, alle ſolche Fragen wirſt du eines Tages verſtehen. Es wird meine Aufgabe ſein, dich zu belehren.“

Sie krabbelte in die Yöbe, ram und ſchlug den Sand aus ihrem Kleid und

„Um Gottes willen nicht Vor dem bloßen Wort ‚belehren‘ hab' ich 'n Horror.“

„Deine Schulerinnerungen ſind noch zu friſch,“ verſuchte er zu ſcherzen, indem er aufſtand und ſich ebenfalls vom Sande reinigte.

Bin dir wohl zu jung?“ rief ſie und ſah ihn mit funkelnden Augen an und warf ſich wieder in ſeine

rme.

Eine ee eine furchtbare Empfindung zuckte durch ihn hin: Scham.

Doraline fühlte ſeine Stummheit. Es war, als ob alles an ihm ſchwieg, ſelbſt die Regungsloſigkeit ſeiner Arme war wie Schweigen

Aber Doraline war zu 10 ehr in Glückſeligkeit getaucht; ſie deutete dies auf ihre Weiſe und plauderte munter weiter. Ihre 15 5 Stimme blieb nun immer im Gange. Sie kehrten zur Wirtſchaft zurück, erkletterten

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ihren Wagen, und immerfort ſchwatzte Doraline voll Kinderfröhlichkeit in den Tag hinein und rühmte den „himmliſchen Ausflug“. Zuweilen nur ſenkte ſie wie inſtinktiv ein wenig den Ton denn des Kutſchers wegen konnte es doch nicht ſein, der verſtand kein Deutſch und lebte in Worten noch einmal die ſchwüle Stunde an der kleinen, ſonnenſtillen Bucht durch und das durchtriebene, 1 Lächeln, das dabei um ihre Lippen ging, verſetzte dem Manne beinahe den Atem ... Und dann war fie ganz, aber auch abſolut ſicher, daß Irma nicht imſtande ſei, ſolche Liebe zu fühlen oder zu erwecken.

Alſo man war wieder bei Irma! Und Doraline konnte nähere Berichte über all das Drum und Dran der Verlobung kaum erwarten.

Noch am ſelben Abend ſchrieb ſie an die Mama, an Fanni, an Lorchen und noch an drei Baſen Briefe und Poſtkarten, genaue Erzählungen erflehend.

Borwin fühlte, daß er der Schweſter ſeiner Frau, daß er ſeinen Schwiegereltern doch Glückwünſche zu ſagen habe. Es war unmöglich, ſich ſchweigend zu verhalten. Er erwog laut, ob er depeſchieren ſolle. Und Doraline, die Irma nicht einmal einen Brief von Borwin gönnen wollte, riet dringend dazu und fand es völlig genügend. Und ſo drückte denn Borwin in zwei Telegrammen alle Wünſche und Hoffnungen für eine glückliche Zukunft der Neuverlobten aus.

Wozu gibt es all dieſe abgegriffenen Worte, all die abgeſchliſſenen Redensarten, dachte Borwin, wenn man ſie nicht anwenden ſoll, wo das Herz beklommen iſt.

Vielleicht waren ſie extra für die Verlegenen vom Gebrauch ausgebildet worden.

Er genierte ſich beinahe, Doraline den Text der banalen Telegramme zu zeigen. Aber ſie fand ſie wunderſchön.

Und nun warteten ſie.

In Borwins Gemüt blieb eine ſeltſame Schwere zurück. Er ſagte ſich, mit einem gewiſſen Eigenſinn ſogar ſagte er es ſich, daß dieſer ſein freudloſer Zu⸗ ſtand von der Spannung und Unruhe kame. Wenn

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nur erft aus den näheren Nachrichten zu erkennen fein würde, wie Hardy und ihre Mutter ſich ſtellten, welcher Art die Wendung ſei, die ihr mühſames Los ins Freund⸗ liche gekehrt dann, ſo wähnte er, würde die lebens⸗ lehren Stimmung der erſten Reiſewochen zurück⸗ ehren.

Aber er ſpürte, daß noch etwas andres ihm ſo ſchwer im Untergrund ſeines Weſens lag ... er wagte nicht, das ans Tageslicht zu holen und genau anzujehen ... Und er vermied es, an die heiße Stunde in der welt⸗ fernen, ſonnendurchglühten kleinen Bucht zu denken Und er ſah oft wie ſcheu fort, wenn Doraline lächelte, wie fie an jenem Tage geläcelt ...

Doraline wäre nun aus Neugier brennend gern nach Hauſe gefahren. Aber ſie fühlte ſchon jetzt eine rt Empörung, wenn fie daran dachte, daß Borwin ſicher manchmal ins Geſchäft und von ihr fortgehen müſſe, wenn man erſt wieder daheim ſein würde. Sie wollte die Ausſchließlichkeit, mit der ſie ihn jetzt beſaß, keine Minute früher aufgeben, als es ſein mußte. Und ferner war ſie gewiß, daß bei früherer Heim⸗ kehr Irma mit ihrem impertinenteſten Lächeln fragen würde: langweilte ſich Borwin ſchon in dem Tete⸗a⸗tete mit dir?

Ihre Neugier mußte alſo warten. Und derweil überſtimmte ſie ſie mit allerlei Phantaſieen. Einmal nahm dieſer Heinz Philipp von Arnberg Irma natür⸗ lich nur ihres Geldes wegen. Ein andermal war es ſchade, daß ein Mann, der gewiß das Recht zu allen Anſprüchen habe, mit einer ſo oberflächlichen Perſon wie Irma förmlich angeſchmiert werde. |

Wie ift fie unreif! dachte Borwin oft. Er ſah wohl, nichts von dieſen Reden war böſe gemeint. Wenn Irma morgen in Not und Elend kommen würde, liefe Doraline herzu und hülfe ſchweſterlich. Davon war er überzeugt.

Er wußte längſt: es war ſeine Pflicht, ſie zu bilden, zu erziehen. Es ſchien, als ſei das leichteſte, das be⸗ währteſte aller Erziehungsmittel in ſeine Hände ge⸗ geben: die Liebe.

XXVIII. I. 9

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Aber da, gerade da erhoben ſich alle Schwierig⸗ keiten. Das Übermaß ihrer Liebe nein, grauſam geſtand er es ſich: ihrer Verliebtheit machte ihn ohnmächtig.

Einen allzu heftig brauſenden Strom kann man 75 15 Räder treiben laſſen. Man muß ihn erſt ab⸗ enken.

Hier in der Fremde, wo ihr einziger Tagesinhalt war, die Stunden zu genießen, ſich an der Schönheit der Welt zu erfreuen, wo immer von neuem das Glücksgefühl ſie berauſchte, daß der geliebte Mann ihr ganz gehöre, hier hätte auch die klügſte Erzieher⸗ weisheit nicht die Stimmung ſchaffen können, die für Verſuche zum Ernſt günſtig geworden wären.

Aber dennoch, vielleicht auch in halbbewußter Furcht vor dem, was immer bedrohlicher in ihm aufzuſteigen begann, dennoch fing er ganz leiſe, faſt überfein an, ihrer unerſchöpflichen Zärtlichkeit zuweilen abzuwehren. Die Flammen ihres leidenſchaftlichen Weſens loderten zu ſtark, ſie empfand nichts als ihre eigene Glut, war wie davon betäubt.

So zählte er voll heimlicher Ungeduld die Tage bis zu dem, wo er wieder ſeine Arbeit würde aufnehmen dürfen. Alle Hoffnungen auf die Heimat und den vernünftigen Alltag ſetzend, der wie von ſelbſt den ſteten Rauſch verbot.

Sie ſaßen zuweilen über dem Kalender und ſahen zuſammen die Daten nach, ohne daß Doraline ahnte, mit wie verſchiedenen Empfindungen. Sie klagte jedem Tage nach, der entſchwand. Noch zwölf, noch elf, noch zehn ...

Jeden Tag ſtreiften ſie zu Fuß oder zu Wagen auf der Inſel herum. Da gab es ganz ſchmale Täler, wie mit grüner Farbe übergoſſen. Nicht einmal die Stämme der Eichen und die Zäune oder die Haus⸗ mauern brachten graue und helle Töne hinein. Der Efeu, ſtill und blank und emſig, kroch über alles hin. Einſame Pachthöfe gab es, die inmitten grüner Wieſen und Felder unter Rieſenbäumen ſo verſteckt lagen, daß man ſie erſt bemerkte, wenn man nahe vor ihnen

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ftand. Und immer wieder, faſt von jedem Punkt der Inſel aus, ſah man den Rahmen von Felsbrocken und die Trümmer alter Normannentürme und darüber hinaus den Ozean, ſo daß es ſchien, als läge ein üppig geſchwelltes, grünes, braunumrandetes Polſter auf der blauen Fläche.

Es war ſo phantaſtiſch. Man konnte wähnen, auf einem Zaubereiland zu ſein. Oder in einem Ge⸗ fängnis.

Stark und ſtärker wuchs in Borwin die nervöſe Empfindung des Eingeſperrtſeins. Er mußte ſich wach⸗ ſam in der Hand behalten, um ſeiner Stimmung äußer⸗ liche Gleichmäßigkeit zu bewahren. Und immer war Doraline neben ihm, in ſtrahlender, glückſeliger An⸗ betung zu ihm ee

Eines Morgens jagen fie auf dem Balkon vor ihrem Zimmer. Eine rot und weißgeſtreifte Markiſe beſchirmte ihn. Sie knarrte ein wenig im Wind, und durch ihre ausgebogte Kante lief immerfort eine Wellenbewegung. Unter der ſehr tiefgehenden Markiſe ſtand noch eine Rollwand, und ſo konnten ſie in aller Behaglichkeit geſchützt ihren Morgentee trinken.

Das Meer, auf das ſie unter der rotweißen Kante weg ſehen konnten, flimmerte, als trieben da millionen⸗ fach Spiegelſcherben durcheinander. Und mitten aus der Flut erhob ſich das Fort Eliſabeth, das man bei Ebbezeit zu Fuß erreichen konnte, und das jetzt ganz umſpült war von den unruhig blinkenden Waſſern.

Doraline bediente ihren Mann mit einer Für⸗ ſorglichkeit und Hausfrauenkoketterie, die ihr reizend ſtand. Aber ſie wollte auch für jeden Tee, den ſie einſchenkte, für jedes Brötchen, das ſie ſtrich, mit einem Blick oder Wort oder Kuß belohnt ſein.

Da kam die Full und Doraline wurde ganz be⸗ nommen von der Fülle der Briefe, die, alle auf einmal, für ſie angekommen waren und ihr Antwort auf ihre Neugierbitten brachten. Die Mama hat geſchrieben, zwei Couſinen hatten geſchrieben, Lorchen und Fanni, die beiden Freundinnen, ſogar Borwins Mutter hatte

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geſchrieben und hauptſächlich Irma ſelbſt! Vor Eifer und Wichtigkeit wußte Doraline gar nicht, welche Zuſchrift ſie zuerſt leſen wollte. a

„Lies du ſie mir vor, dann erfahren wir alles gleich zuſammen.“ |

Borwin lehnte ab. Die Briefe jeien nicht für ihn, ſondern für ſie geſchrieben.

„Ach Gott, ich habe doch keine Geheimniſſe vor dir, wir haben doch keine Geheimniſſe voreinander.“

„Gewiß nicht und hoffentlich nie. Aber Dritte können einem doch Mitteilungen machen, die nur für dich oder nur für mich beſtimmt ſind.“

Doraline machte ein erſtauntes Geſicht.

„Ach, was für 'n Unſinn. Was du weißt, kann ich auch wiſſen, und umgekehrt. Papa läßt Mama alles leſen, auch Geſchäftsbriefe.“

„So?“ fragte er lächelnd, „das bezweifle ich doch. Die Sorgen und die Ehre andrer Geſchäftsleute, die einem manchmal unter die Hände kommen, wird Papa wohl für ſich behalten.“

„Das würde Mama ſich ſchön verbitten!“ rief Dora⸗ line naiv. „Aber nun hör mal zun.“

Und eine Vorleſung begann, die alle Augenblicke haperte, und die ſich aus lauter Bruchſtücken zuſammen⸗ ſetzte. Bald konnte Doraline ein Wort nicht leſen. Bald, in köſtlicher Inkonſequenz ihrer dargetanen An⸗ ſchauungen, unterſchlug ſie eine Stelle, weil Borwin nicht zu wiſſen brauchte, daß Lorchen fand, Fanni ſei wieder mal zu ſtark geſchnürt geweſen, und daß Fanni ſchrieb, Lorchen habe denn doch zu doll mit Fritz, dem Bruder Doralines, kokettiert. Auch erwies es ſich, daß in Mamas Brief eine zu ſtarke Kritik über Borwins Mutter ſtand.

Die Vorleſung endete damit, daß Doraline all die Briefe i darin herumſuchte, etwas verlegen war und ſich endlich entſchloß, Borwin zwei hinüberzureichen.

„Lies nur ſelbſt. Die zwei wenigſtens. Das lang⸗ weilt dich höchſtens, alles zu hören; ſie ſchreiben alle faſt das gleiche.“ |

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Borwin nahm die Briefe. Sein Verlangen, zu wiſſen, war ja zu groß, als daß er hätte ablehnen ſollen. Er las erſt den von ſeiner Mutter. Aus ihren ſchrägen, gleichmäßigen, eiligen Schriftzügen atmete förmlich der Geiſt ihrer flinken und unermüdlichen Beredſamkeit, in der ſie die kleinen Vorkommniſſe des Lebens gern beſprach. Sie hatte an Doraline geſchrieben:

„Meine liebe Schwiegertochter, wie ich Dir per Karte mit voriger Poſt mitteilte, dachte ich meine Karlsbader Kur zu beginnen und wollte eigentlich bereits. vorgeſtern abgereiſt ſein. Allein die über⸗ raſchende Neuigkeit, die Verlobung Deiner Schweſter Irma, hat mich noch hier feſtgehalten. Es wäre zu rückſichtslos von mir geweſen, am Tage vor dem Ver⸗ lobungsdiner abzureiſen, das fand Fräulein Hintze auch. Das Diner war ſehr gut; im Sommer iſt es ja immer ſchwerer, ein Menü zuſammenzuſtellen. Aber Deine Mutter hatte diesmal meine Kochfrau genommen, und auf die Parbſt kann man ſich verlaſſen. Es waren vierundvierzig Perſonen; ich hatte die ſchönſte Toilette an. Die Deiner Mutter war wieder mal verunglückt: du nimmſt es mir wohl nicht übel, aber Geſchmack hat ſie nicht, das ſagt Fräulein Hintze auch. Ich hatte den General von Schleichheim zu Tiſch, den ich nun mal nicht leiden kann, aber das hat Deine Mutter wohl nicht gewußt. Im übrigen war die Tiſchordnung ja gegeben. Dein Vater führte die Mutter des Bräuti⸗ gams. Eine ſtolze, rieſig vornehme, hochariſtokratiſche Frau. Ich will nichts gegen Deine Mutter ſagen, aber es kam mir ſo vor, als fühle Frau von Arnberg ſich mehr zu mir als zu ihr hingezogen. Deine Mutter wurde von Herrn Dieter von Arnberg⸗Arnberg geführt, der das Haupt der Familie iſt. Und dabei noch ein junger Mann, erſt ſechsunddreißig. Er ſieht aber älter aus. Man ſieht ihm auch auf hundert Schritte den Landedelmann an. Es wurde viel on gemacht, wenn ich es offen ſagen darf: etwas zu viel. Man muß Leute, die Großmogulſtellung haben, nicht noch oben⸗ ein verwöhnen, indem man ſich vor ihnen bückt. Dein Bruder Fritz hatte die Schweſter des Bräutigams zu

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Tiſch. Es ſcheint ein feines Mädchen, aber jehr ftill. Ich konnte wenigſtens nichts aus ihr herausbringen. Sie war ſehr ſimpel angezogen, in weiß Batiſt. Die Arnbergs ſind, bis auf den Fideikommißinhaber, näm⸗ lich arm. Und das Fräulein iſt ein Telephonmädchen. Herr Dieter von Arnberg⸗Arnberg ſoll ihr angeboten haben, daß ſie mit der Mutter auf einem der Schlöſſer wohnen könne. Sie will aber lieber arbeiten. Ich weiß nicht, das hat was Fatales wirkt r emanzipiert. Stille Waſſer ſind tief vielleicht paßt ihr die Freiheit. Alſo modern. Keine ganz leichte Zugabe für die Familie. Aber es ſcheint, daß das Mädchen wenigſtens ſo viel Takt hat, ſich ſehr zurückhalten zu wollen. Herr Dieter von Arnberg⸗Arnberg bekümmert ſich übrigens auffallend viel um ſie, das jagts Fräulein Hintze auch. Ich dachte, dies alles würde Dich wohl recht inter⸗ eſſieren, darum ſchreibe ich es Dir, obgleich ich mitten in Reiſevorbereitungen ſitze. Daß ich nicht zu Hauſe bin, wenn Ihr heimkehrt, tut mir leid, aber ich konnte meine Reiſe nach Karlsbad unter gar keinen Um⸗ ſtänden mehr aufſchieben, ſonſt treffe ich dort keinen Menſchen mehr von all meinen alten Bekannten. Grüße Borwin und ſage ihm, daß das Geſchäft dring⸗ lich auf ihn wartet. So lange hätte mein Mann es nie über ſich gebracht, das Kontor zu verlaſſen. Aber andre Zeiten, andre Sitten. Treulichſt Deine Schwie⸗ germutter.

P. S. Irma war ſtrahlend, in blaßblauer Seide, wie immer zu elegant für ihre Jahre. Sie iſt übrigens ein recht unbeſcheidenes Mädchen, das ſagt Fräulein Hintze auch.“

Abſatzlos alles. Atemlos wirkte es.

Borwin hatte beinahe das Gefühl, als gehe ihm die Luft aus.

Er ſtarrte noch lange in den Brief, als er ihn ſchon ausgeleſen hatte. „Eine ſtolze, rieſig vornehme, hoch⸗ ariſtokratiſche Frau“ nannte feine Mutter die Arme, die er als geplagte Laſtträgerin, mit zernähten und zerarbeiteten Händen, gehetzt und dürftig gekleidet ſo oft geſehen! Und doch, da er ſich recht beſann: wenn

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er kam und ging, war es nicht geweſen, als werde er huldvoll empfangen und gnädig entlaſſen? Hatte nicht irgend etwas Unerklärliches in der Haltung der Frau ihn immer gezwungen, die grobe ſchmale Hand G0 küſſen? Und war nicht noch in dieſem Augenblicke, wenn er ſehr deutlich ihrer gedachte, ein Unbehagen in ihm, das faſt an Unſicherheit grenzte, wie man es ſonſt nur vor ſehr überlegenen, ſehr hochſtehenden Perſönlichkeiten hat? Was war das? Bedurfte dieſe Frau vielleicht nur einer andern Szene, um ſogleich als Königin zu wirken?

Und Hardy? „Still“ nannte ſeine Mutter ſie und pries es, daß ſie den Takt der Zurückhaltung zu haben ſcheine, weil, ja weil ſie ſelbſt erkenne, daß ſie als armes, arbeitendes Mädchen ſich am beſten dem Kreiſe reicher Genußmenſchen fernhalte. So meinte ſeine Mutter es. Und nannte ſie eine „Zugabe“, ſie, die er einſt, während jenes kurzen Liebestraumes, ſeiner Mutter als Tochter zuzuführen gedacht.

Er wurde dunkelrot, und finſter war ſein Ausdruck. Doraline hatte ihn beobachtet, ſprang auf und gab ihm von rückwärts einen Kuß auf die Wange. Darüber ſchrak er zuſammen. Er wollte lächeln, wußte nicht, Pe) er jich dieſen belohnenden Kuß zugezogen

atte

„Ich ſeh' dir's an. Du ärgerſt dich. Das iſt ſüß von dir. Du ſtehſt zu mir, das weiß ich,“ ſprach ſie leb⸗ haft, „und du wirſt mir den Gefallen tun, deiner Mutter zu ſagen, daß ſie nicht immer Seitenhiebe auf die meine loslaſſen ſoll!“

Borwin hätte antworten können, daß Doraline und ihre Mama ebenfalls kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn ſie der Schwächen ſeiner Mutter gedachten.

Aber er verſprach mit freundlichem Ernſt, erleichtert, daß ſein heißer Kopf ſo gedeutet ward, daß er ſeine Mutter bitten wolle, ſich in bezug auf Doralines Mutter zu ae

„Sie iſt ja ſehr amüſant. Aber fie ift es immer auf Koſten andrer Leute. Das mußt du ſelbſt zugeben. Und nun lies Irmas Brief.“

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„Liebe Kleine,“ ſchrieb Irma, „das wär' alſo über- ſtanden. Ich fand es gar nicht ſo langweilig, wie ich es mir gedacht hatte, als Schauſtück oben an der Tafel zu ſitzen. Ich glaube auch, Heinz Philipp und ich haben allen anweſenden Jungfräulein und Jung⸗ geſellen mal gezeigt, wie man ſich als Brautpaar von Geſchmack zu betragen hat. Es iſt überhaupt himm⸗ liſch, wie wir uns in allen Fragen des Taktes und der Eleganz verſtehen. Ich denke, wir werden eine vor⸗ bildliche Menage zuſammen führen. Erleichtert wird uns das Leben weſentlich dadurch, daß wir nicht in⸗ mitten einer Familienſippe, umlauert und bevor⸗ mundet und beklatſcht, zu ſitzen brauchen wie du arme Kleine. In der mecklenburgiſchen Garniſon wollen wir aber nicht bleiben, ſondern Heinz Philipp betreibt ſchon ſeine Verſetzung in ein Garderegiment. Hochzeit wird wohl gleich nach dem Manöver ſein. Alſo um den fünfzehnten September herum.

Nun brennſt du gewiß vor Begierde, vom Ver⸗ lobungsfeſt und meiner neuen Verwandtſchaft ſoviel als möglich zu erfahren. Das Diner war, wie immer ſo was iſt: ſehr brillant. Alle unſre nächſten Ver⸗ wandten. Die Arnbergs. Borwins Mutter nebſt ihrem Schatten, dem gräßlichen Fräulein Hintze, die nur aus Ohren und Mund zu beſtehen ſcheint. Mehrere Bekannte, auch deine Freundinnen Lorchen und Fanni, zwiſchen denen unſer Bruder Fritz pendelt. Muſik ſaß im Wintergarten neben dem Eßſaal. Toiletten ſoſo lala. Deine Schwiegermutter wieder zu elegant für ihre Jahre und wieder ſo vorneweg, als ſei ſie es, die die Honneurs des Feſtes zu machen habe, als ſeien alle ihre Anſichten von geſellſchaftlichen Fragen maßgebend. Sie hatte ja eigentlich ſchon in Karls⸗ bad ſein wollen. Aber wann hätte Frau Eggsdorf je ein Diner ſich entgehen laſſen, außer wenn ſie krank war!

Heinz Philipp hat zum Glück keinen erheblichen Anhang. Erſtens: ſeinen Vetter, ich weiß nicht wie⸗ vielten Grades, den Fideikommißinhaber Herrn Dieter von Arnberg⸗Arnberg. Krautjunker in Reinkultur.

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Aber Stil drin. Man kann nicht recht heran. Erſt denkt man, der ſei gutmütig zu nehmen, kordial und ſo weiter. Aber er imponiert. Man weiß nicht warum. Ich hoffe, ich habe ihm ſehr gefallen, denn Heinz Philipp und ich möchten gern alljährlich einige Wochen auf Arnberg eingeladen werden. Es wäre ſo dekorativ dem Re⸗ giment gegenüber. Nun, es wird ſchon werden. Da ja Heinz Philipp der nächſte Anwärter iſt und Herr Dieter von Arnberg ſo ein Mann ſcheint, dem man nicht die Luſt zum Heiraten zutraut, gebietet ſchon der Takt, daß er uns freundſchaftlich heranzieht. Er hat ſich bei mir ſehr gut eingeführt, indem er mir zur Verlobung ein Armband ſchenkte. Es iſt ein ſchlichter Goldreif, inwendig hinein hat er den Spruch der Arnbergs gravieren laſſen. Lateiniſch. Das verſtehſt Du doch nicht. Obenauf ſitzt ein großer Brillant. 16 55 nicht gerade ſehr geſchmackvoll, aber wirkt höchſt eudal.

Zweitens: Die Mutter. Ich fand es klüger von vornherein, mehr zeremoniell und ehrfürchtig mich ihr gegenüber zu halten als gerührt und töchterlich. Wenn ich noch an all die Sentimentalität bei Deiner Ver⸗ lobung denke! Und nachher hackte man beſtändig auf⸗ einander herum! Meine Schwiegermutter iſt, trotz⸗ dem es ihr leider an Vermögen fehlt, vollkommen große Dame und ſah impoſant aus in einem ſchweren, dunkeln Seidenkleide mit uralten, echten Spitzen vorn an der Taille. Frau von Arnberg ſiedelt ſchon nächſte Woche nach Münchow, einem der Familiengüter, über und wird dauernd das dortige Herrenhaus bewohnen. Deine Schwiegermutter machte ihr förmlich den Hof; ich weiß nicht warum, ob ſie mit ihr gegen unſre Mutter zuſammenzuhalten denkt, oder was ſie ſonſt davon hat. Aber Frau von Arnberg war eiſig kühl gegen Frau Eggsdorf, was mich recht freute.

Drittens und letztens: Die Schweſter. Unklarer Punkt. Weſen, aus dem man nicht klug wird. Sehr hübſch, vor allen Dingen ſehr vornehm in der Haltung. Nichts von jugendlicher Heiterkeit. Hat einen Beruf! Telephoniſtin. Heinz Philipp iſt ſehr ärgerlich, daß

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fie dabei bleiben will. Bei einer kürzlich ſtattgehabten Familienkonferenz iſt es den Damen freigeſtellt worden von Herrn Dieter, daß ſie auf Münchow Wohnung und Leben haben könnten. Aber nur die Mutter hat es angenommen. Eberhardine will ſelbſtändig bleiben. Mama, übereilt, gutmütig wie immer, bot Eberhardine an, daß ſie fortab alle Sonntage bei uns eſſen könne und auch ſonſt unſer Haus wie das nächſter Verwandten betrachten möge. Aber Eberhardine ſagte, daß ſie an ihren freien Sonntagen immer ſchon Sonnabends abends nach Münchow zu ihrer Mutter hinausfahren werde, und daß ſie an ihren Arbeitstagen viel zu an⸗ gegriffen ſei, um Geſelligkeit ertragen zu können. Will alſo für ſich ſein. Recht erleichternd. Aber Deine Schwiegermutter war ja nun die letzte, die über dieſen Anhang etwas ſagen durfte, und als ſie mir gewiſſer⸗ maßen kondolierte, fragte ich ſofort nach ihrem älteſten Sohn, und ob ſie oft Nachrichten von ihm bekäme, und ob ihre Schwiegertochter drüben in Buenos Aires auch wieder Büfettdame an einer American

Bar ſei.

Alſo dies Dir und Borwin zur Beruhigung, falls Eure Mutter und gute Freundinnen ſich darüber die Federn ſtumpf ſchreiben ſollten: ja, Heinz Philipp hat in der Tat eine Schweſter, die für ihr Brot ar⸗ beitet; aber ſie wird ſich Euch nicht und niemand auf⸗ drängen.

Gelegentlich der Verlobungsfete war ich natürlich ſehr nett mit ihr. Man merkte ſo: Herr Dieter von Arnberg kümmerte ſich immerfort um ſie und wollte offenbar durchaus, daß ſie als eine vollgültige Arnberg behandelt werden ſollte. Er ſcheint einen fabelhaften Familienſinn oder Familienſtolz zu haben. Das kann uns ja nur angenehm ſein. Heinz Philipp und ich, wir 1 8 es auch allen Leuten, daß Eberhardine es eigentlich nicht nötig hätte, aber offenbar von Ideen der modernen Frauenbewegung begeiſtert ſei. Das klingt in heutigen Zeiten ſehr plauſibel. Ich werde auch dauernd nett mit ihr ſein was ſo von fern ja beſonders leicht iſt. Wir wollen ihr viel ſchenken, und

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alle meine Kleider ſoll ſie haben. Du weißt, die find nie vertragen, da mir alles raſch zuwider wird. So kommt Eberhardine denn wohl anſtändig durch. Heinz Philipp ſagt, ſie verdiene nur achthundertvierzig Mark, wovon ja kein Menſch leben kann. Vielleicht avanciert fie ſpäter und bekommt dann mehr, ſonſt ſehe ich keinen Zweck darin. Ä

Übrigens fällt mir ein: Frau von Arnberg ſcheint Borwin zu kennen, und er muß demnach auch die Damen kennen: ſie wohnen in der Eggsdorfſchen Häuſerreihe in der Tannenſtraße. Ich glaube, da wohnen ſonſt nur kleine Leute, Subalternbeamte und dergleichen. Na, das hört ja glücklicherweiſe auf. Eberhardine zieht, glaube ich, in eine Penſion.

Jetzt aber Schluß des ellenlangen Briefes. Ich beſtelle hiermit noch die ſchönſten Grüße von Heinz Philipp an Dich und Borwin. :

Liebe Deine Irma.“

Lange ſchon ſaß Doraline, die Hände unter dem Kinn gefaltet, die Ellbogen auf dem Tiſch, und ſah auf⸗ merkſam zu, wie Borwin den Brief las. Sie war ſo voll Ungeduld und hatte bunt durcheinander kugelnde Gedanken über alles das, was Irma da mitteilte. Und fühlte ſich wieder durch viele Worte und Wendungen geärgert und nahm auch die unbefangenſten als plan⸗ voll erſonnene, verſteckte Reizungen auf. Sie brannte, vor Verlangen eifrig und erhitzt, all das mit Borwin durchzuhecheln.

Hauptſächlich war es ihr intereſſant, daß Borwin die Arnbergs vielleicht kannte. Und ihr erzählen konnte, ob dieſe Damen denn in Wahrheit ſo „vornehm“ ſeien, wie Irma tat. Das färbte Irma ganz ſicher nur ſo auf, um ihre Armut zu vertuſchen.

„Borwin,“ begann ſie, als ihr ſchien, daß ſein Blick endlich auf der Unterſchrift hafte, „kennſt du die Arn⸗ bergſchen Damen?“ f A Ei den Brief nieder. Bleiern lag ſeine Fauſt

arauf.

„Als ich die Häuſerreihe in der Tannenſtraße über⸗ nahm, habe ich alle Mieter geſehen. Es waren vier⸗

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undzwanzig Parteien. Darunter müſſen auch die Damen geweſen ſein ja ich erinnere mich ſtolze Armut ja.“

Nun lüg ich doch doch! dachte er hart ... Nun verleugne ich doch.

Er ſtand auf. Er fürchtete, er wußte: Doraline würde den ganzen Brief endlos, endlos, unerſättlich mit ihm durchſprechen wollen.

Und er hätte kein Wort darüber ertragen keines. | Verfärbt, finſter ſtand er auf. Unfähig, ſich zu beherrſchen.

Er ging hinein durch das Zimmer hinaus.

Doraline hörte, wie die Tür ſchwer ins Schloß knallte. Es war wie ein dumpfer Schuß.

Sie ſaß wie verſteinert.

Über ihr im Winde knarrte die rotweißgeſtreifte Markiſe.

Seitwärts, unten auf ihrem weißen Kleide waren die Schattenſtreifen des Gitters.

Drunten, fern flimmerte das Meer, als ſchwömmen da hunderttauſend Spiegelſcherben und ſtießen ſich aneinander.

Ihr aber war, als brauſe ſchwarze Nacht um ſie. liebt hal Und es iſt doch Irma, die er vor mir ge⸗ iebt hatt

® ® ®

Seit dem erſten September hatten Hardys Dienſt⸗ ſtunden gewechſelt. Sie mußte jetzt von ſieben bis elf morgens und von eins bis um fünf des Nachmittags auf dem Amte ſein.

Dieſe zeitige Stunde des Arbeitsbeginns war, be⸗ nn wenn es zum Herbſt und Winter ging, bei

en Telephoniſtinnen ſehr unbeliebt. Auch Hardy fürchtete ſich heimlich ein wenig vor dieſen nächtigen Morgenſtunden. Sie kannte das, wie es iſt, wenn man mühſelig ſchon um halb ſechs aufſtehen muß und das künſtliche Licht mit ſeinen ſcharfen Strahlen gleich die Augen beizt. Es war gerade, als ſträubten ſich

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die Nerven dagegen wie gegen Unnatur. Sie erinnerte ſich ſehr deutlich dieſer Morgengänge voll ſchauriger Mitternachtsſtimmung, wenn der Sturm einem ins Geſicht ſchlug und wäßriger Schnee die ganze Luft mit einer ſchweren, durchdringenden Näſſe erfüllte. Sie wußte, wie das iſt, wenn man in einem ſeltſamen Einſamkeitsgefühl durch die dunkeln Straßen geht, an deren Rande die Laternen trüber zu brennen ſcheinen als des Abends, gleichſam ermüdet von den vielen, vielen Stunden, die ſie ſchon hatten leuchten müſſen. Sie dachte auch daran, was für gefährliche Betrach⸗ tungen einem kamen, wenn man ſich ſelbſt müde noch und frierend vorwärts kämpfte auf den öden, nur von Proletariern erſt belebten Bürgerſteigen, und überall tiefverhängte, dunkle Fenſter von Menſchen zu 1 ſchienen, die ſchlafen durften, ſolange ſie mochten.

Und dann der Eintritt in den noch ſtillen, taghell erleuchteten Telephonſaal. Dies ſich immer wieder⸗ holende, ſonderbare Gefühl, als gäbe man ſein Selbſt vollkommen auf als habe man ſich einer brutalen Macht verkauft ... Und das Warten auf den Beginn des Lebens . .. jo ſpärlich glühten in der erſten halben Stunde die Signallichter auf. So morgenheiſer klangen die Stimmen der Anweckenden. Bis nach und nach der Betrieb anſchwoll und das Aufblitzen der Lichter wie ein Hinundherhuſchen ohne Raſt ward. Und bis grandios und atemberaubend, einem geißelſchwingen⸗ den Gotte gleich, der ef einem raſend einherrollenden Globus ſteht, der Verkehr ſeine volle Gewaltherrſchaft antrat ...

Ja, das alles kannte und fühlte Hardy.

Aber jetzt, im September, war ihr dieſe Einteilung ihrer Dienſtſtunden noch willkommen. Sie ermöglich⸗ ten ihr, an dem Sonnabendnachmittage, der einem freien Sonntage voranging, ſchon um ſechs Uhr die Fahrt nach Münchow anzutreten.

Ein wenig erſchöpft noch ſaß ſie in ihrem Frauen⸗ abteil dritter N und ſah in die vorbeiziehenden Landſchaftsbilder hinaus. Faſt wirkte es zuweilen,

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als führe man am obern Rand eines Rieſenfächers hin. So breit waren die Felder am Bahndamme, ſo eng ſchloſſen ſich ihre Streifen fern in der Perſpektive zuſammen. Auf den fahlgelben Stoppeln waren als braunweiße klobige Flecke die Kuhherden verſtreut. Über Brachkoppeln zogen Pflügergeſpanne. Einmal trat ein Wald aus Gold und Kupfer und Bronze, mit grünen Farben noch ſtark durchfloſſen, an den Zug, und viele Minuten fuhr er zwiſchen dieſen phantaſtiſchen Wänden dahin.

Man hatte eine Stunde Eiſenbahnfahrt nötig, um bis an die kleine Station zu kommen, wo dann der Münchower Wagen wartete.

Obgleich das nur ein kleiner, ziemlich heftig mit all ſeinen Teilen arbeitender, lärmender Jagdwagen war denn die ſo vielfach wechſelnden Beſitzer hatten kein Intereſſe oder keine Zeit für Münchow und den dortigen Wagenbeſtand gehabt Hardy freute ſich doch immer kindlich auf dieſe Wagenfahrt. Sie hatte eine kleine Schwäche für Fahren. Es dünkte ihr ein Vergnügen ohnegleichen. Feurige Pferde lenken zu dürfen, mit brauſendem Geſpann durchs Land zu rollen ja, wer das fo haben könnte ... Aber dennoch neidete ſie es niemand. Man kann nicht von allem haben, dachte ſie immer. Sie war zu klar und feſt, ſich durch törichte Betrachtungen zur Unzufriedenheit verführen zu laſſen.

Mutter hatte es jetzt ſo wundervoll! Dafür durfte man dankbar ſein konnte es nie genug

ein.

Der Kutſcher lüftete ſeine Mütze, als ſie mit ihrem Handkofferchen an den Wagen herantrat. Er war weit davon entfernt, ein hochherrſchaftlicher Kutſcher zu 11 trotzdem den Silberknöpfen ſeines blauen Rockes das Arnbergſche Wappen aufgeprägt war. In ſeinem roten, bartloſen 5 ging immer ein Mienenſpiel vor, das Hardy ſchon kannte und durchſchaute. Er könne die Zügel ſchlecht aus der Fauſt laſſen, ſeine Braunen mochten nun mal durch⸗ aus die Eiſenbahn nicht leiden. Aber er meinte,

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er müſſe doch eigentlich dem Fräulein den Handkoffer abnehmen.

quem war.

Sie fand alles herrlich: den alten Wagen, die Fahrt zwiſchen den Knicken, über deren hohen, dich⸗ = Haſel⸗ und Schlehenbeſtand man kaum fortſehen onnte.

Ihr, nach dem beſcheidenen Gang ihres bisherigen Lebens, kam es ja immer wieder faſt märchenhaft vor, daß ſie, großartig im Wagen ſitzend, ſchönen Buben voll ländlicher Ruhe entgegengeführt wurde.

Und wie wohl taten ſie ihr. Trotz all der Wun⸗ den, die mit immer gleicher Schmerzenskraft ihre Seele leidend erhielten körperlich erholte ſie ſich doch ein wenig. Ihre Farben waren beſſer ge⸗ worden.

Aber heute ſah ſie nicht mit unerſättlichen Blicken hinaus in die Natur. Schon lag der Vorglanz goldener Herbſtnähe über der Welt, und zu Füßen der dunklen Knickbüſche reiften im Brombeergerank ſchwarzblanke Früchte. Heidekraut blühte, und von den Kartoffel» feldern hinterm Knick ſtieg der ſchwere Geruch welken⸗ den Nachtſchattenlaubes auf.

Hardy dachte immer das gleiche. Immer den einen Gedanken, den ſie während der Arbeitstage mit

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ihrer Hetze und ihrer Erſchöpfung von ſich leichter Hatte fernhalten können. Sie dachte an das Unerhörte, das Unmögliche und dennoch Unausbleibliche! Acht Tage noch! Acht Tage noch! Und dann würde, mußte, ſollte ſie den geliebten Mann ſehen ſeine Hand faſſen mit ihm ſprechen fremde, höfliche Worte mit ihm den ſie liebte, den fie geküßt .. Wie ſollte das ertragen werden! Wie ſollte es überhaupt denk⸗ bar ſein!

Und auch jener Frau ſeiner Frau um derenwillen er ſie verlaſſen ihr ſollte ſie die Hand reichen

Ich ertrag' es nicht, fühlte ſie.

Ihr war, als werde ſie verfolgt, von einem dunklen Schickſal auf unerklärliche Weiſe mißhandelt.

Damals, als ſie ihn verlor, als er mit ſo grau⸗ ſamer, aber mannhafter Wahrheit von ihr fort⸗ ging, damals hatte fie weinen können wie an einem

rabe.

Nun war es, als würden Tote wieder ausgegraben, und das Entſetzen trocknete ihre Augen.

Tauſend mal hatte fie es gedacht: ich kann ihn nicht wiederſehen und nicht die Frau ſprechen und lachen hören, die er mehr liebte als mich!

Sie litt auf ihres Bruders Verlobungsfeſt unaus⸗ ſprechliche Qualen, obgleich „er“ und ſein junges Weib fern waren. Aber die Luft war wie voll von ſeinem und ihrem Namen. Alle ſprachen von den Neuver⸗ mählten. Man rühmte ihr Glück. Die herrliche Reiſe, die ſie machten. Beklagte ihr Fernſein von dem Feſte. Berichtete von Briefen der jungen Frau. Las De⸗ peſchen vor, unter denen die Namen Doraline und Borwin ſtanden.

Sie ſaß damals neben Doralines und Irmas Bruder. Dieſer Fritz Nottbeck war ihr gar nicht ge⸗ weſen wie ein Menſch von beſonderen Linien und allerhand angenehmen oder weniger angenehmen Eigenheiten, die nachher die Erinnerungen beleben und eine Perſönlichkeit wieder für das Gedächtnis deutlich machen können. Er war nur wie eine Kopie

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ihres eigenen Bruders und hatte Heinz Philipps Ton und Geſten und Anſichten. Und weil er nicht ſehr viel mit ihr zu ſprechen wußte, ſprach er immerfort von ſeinen Schweſtern. Von Irma was ja ſehr nahelag. Dann von der fernen Doraline und ſeinem Schwager Borwin

Unerträglich ſchon das! Und nun ſollte ſie ſogar ihn ſelbſt ertragen heuchleriſch fremd an ihm vorbei⸗ ſehen, ihr Leid verſtecken, ihre Liebe verleugnen... Ihr war, als werde dadurch aus dem, was ein heiliges und reines Erleben geweſen, ein heimliches und un⸗ erlaubtes Abenteuer.

Niemals hätte das Leben ſie wieder zuſammen⸗ führen dürfen. Zwiſchen ihnen durfte kein Wort mehr ewechſelt werden, nachdem ſie das eine, das barm⸗ erzigſte geſprochen, womit ſie ſeinen Zwieſpalt enden konnte: ich verzeihe dir

Hardy hatte lange gekämpft und die eigenſinnige Hoffnung vor ſich aufrecht zu erhalten geſucht, daß ſie es durchſetzen könne, ihm aus dem Wege zu

gehen.

Bis jetzt hatte Hardy es vermocht, ein Zuſammen⸗ treffen mit Borwin zu vermeiden. Zwei⸗, dreimal lud die geſchäftig⸗gutmütige Frau Generalkonſul Nott⸗ beck ſie zu Elch. Hardy lehnte ab. Dienſt! Welch ein Schild war das für ſie. Um aber gegen ihres ein⸗ zigen Bruders neue Verwandtſchaft höflich zu bleiben, ging ſie nach jeder abgelehnten Einladung hin und machte einen Beſuch, zu einer Stunde, wo ſie „ihn“ an der Börſe wußte. Sie ging trotzdem zitternd, denn es wäre ja möglich geweſen, daß ſie Doraline getroffen hätte. Der Zufall erſparte es ihr. Nott⸗ becks nahmen immer ihren Beſuch an, und Irma

ab ſich mit einer merkwürdig ausgeglichenen Freund⸗ ichkeit ohne Wärme, während die Generalkonſulin viel wärmer war, aber auch bevormundend, ja faſt zudringlich wurde und allerlei Vorſtellungen erhob: Hardy ſolle doch „das dumme Telephonieren“ laſſen und zu ihrer Mutter aufs Land gehen; es käme doch Herrn Dieter von Arnberg nicht darauf an, ob XXVIII. I. 10

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einer mehr aus den rieſengroßen Töpfen feiner Be⸗ ſitzungen eſſe. | |

Hardy antwortete in ruhiger Haltung, daß nad) ihrer Anſicht ein Menſch, der arbeiten könne, keine Almoſen annehmen dürfe. Auch achte ſie ihre Arbeit ſelbſt zu hoch und würde Nich vor ihren Kolleginnen ſchämen, wenn fie nun davonliefe, jo, als ſei alles nur ein Notbehelf geweſen und ſie eile, aus dem Kreis arbeitender Frauen zu entrinnen, weil ſie ſich ohne Mühe anderswo bequem ſatteſſen könne. Das käme ihr vor, als beleidige ſie ihre bisherigen Genoſſinnen im Lebenskampfe. |

Dazu hatte Frau Nottbeck ſehr energiſch den Kopf geſchüttelt und gewiß bedauert, daß ſie Hardy nichts zu a en habe. Aber ſchließlich geäußert: „Na, jeder na ſeiner Faſſon!“

Von der weiteren Nottbeckſchen Verwandtſchaft nahm niemand Notiz von ihr.

Heinz Philipp bekam während der Verlobungszeit noch einmal acht Tage Urlaub. Aber die verbrachte er mit Braut und Schwiegermutter in Berlin.

So hatte ſich alles glücklich gefügt, und Hardy empfand es, als ſei ihr eine Gnadenfriſt gelaſſen.

Vor einigen Tagen machte eine unglückſelige Be⸗ geanung ihr das Herz ſchwer. Und fie, deren ganzes

eſen von Natur aus zur Milde beſtimmt war, bäumte ſich in Erbitterung, ja faſt Hochmut gegen das Er⸗ fahrene auf.

Sie kam mit Anna Behrens vom Amt. Der er⸗ gebenen Pudeltreue des robuſten Mädchens konnte Hardy ſich nicht erwehren; ſie wollte es auch gar nicht mehr, trachtete vielmehr, als Dank für die Liebe, die ihr ſo gewidmet wurde, ein wenig erzieheriſch auf Anna zu wirken. Und in der Tat wurde dieſe auch etwas ordentlicher; geplatzte Nähte und 5 1 Fingernägel kamen ſeltener vor. Nur die billigen Hüte, die „großartig“ ausſahen, konnte Hardy 9 auf keine Weiſe ausreden. Und ſo ſehr deutlich mochte ſie auch nicht werden. Sie dachte: was eine Frau in äſthetiſchen Dingen nicht auf zarten Wink hin verſteht,

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kann fie wohl überhaupt nicht verſtehen, weil es ihrer Natur verſchloſſen iſt.

Und gerade an dieſem Tag hatte Anna ihren beſten Sommerhut auf gegen den Herbſt zu trug ſie ihre Sonntagshüte für täglich und ſah in der Tat etwas außerordentlich aus.

Der große Platz mit dem Kriegerdenkmal vor dem Telephongebäude, ein wenig außerhalb der haupt⸗ ſächlichſten Verkehrsſtröme 1 war an dieſem ſonnigen Nachmittag auffallend einſqam. Nur zwei Damen kamen des Wegs eine aber ſchlanke, die ſich mit ein wenig geziertem Stolz trug und in ſehr elegantes Schwarz gekleidet war. Neben Fe eine Dutzenderſcheinung, ein Weſen, das den

opf ein bißchen ſchief hielt wie ein äugendes uhn und in eifrigem Reden ſo von der Seite zu der größeren Dame aufſah, daß der Veilchentuff on oben auf ihrer Kapotte etwas Vorſtrebendes ekam.

Hardy erkannte die ſtolze Frau in dem prachtvollen ) ae Kleid und Mantel gleich. Es war „feine“

er.

Und ſie wußte: ich muß ſie grüßen; auf Heinz Philipps Verlobung bin ich ihr vorgeſtellt, ſie hat mit mir geſprochen, auf der Hochzeit ſehe ich ſie wieder ja, ich muß ſie „kennen“ ich kann nicht fremd an ihr vorbei, ich muß ſie grüßen

Sie fühlte zu ihrem Entſetzen, daß ſie rot wurde. Neben ihr lachte Anna Behrens gerade etwas laut über einen Spaß, der ſich auf dem letzten Feſt des zahlt hat . zugetragen und den ſie Hardy er⸗ 3 atte.

Sie ſah deutlich: das zu Frau Eggsdorf empor⸗ äugende Weſen mit dem vorausſtoßenden Veilchen⸗ pompon am Kapotthut machte eine Bemerkung

Ja, man hatte auch ſie erkannt

Und plötzlich, mit den Allüren einer Fremden, die ſich den Platz beſieht, plötzlich blieb Frau Eggs⸗ dorf ſtehen, wandte ſich ab und ſchien ihre Be⸗ gleiterin zur Betrachtung des Kriegerdenkmals auf⸗

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zufordern, auf deſſen granitenem Obelisk heiß die Sonne brannte.

Das war ſo deutlich ſo unerhört, ſo naiv deut⸗

* daß Hardy mit zitternden Knieen weiterging. Seine Mutter ſeine Mutter wollte ſie nicht kennen.

Sie nahm den Arm von Anna Behrens. Nicht nur, weil fie kaum vorwärts konnte.

Wer biſt denn du?! dachte ſie flammend was biſt denn du?! Zufällig reich. Nichts weiter. Gar 9 weiter. Und wie, wenn dir das Schickſal den

Kampf um dein Brot auferlegt hätte? Würdeſt du ihn beſtanden haben, wie Mehr 1 und ich ihn beſtanden? Oh, nein oh, n

Kein Spürchen von Demut, Milde und Weichheit war in ihr in dieſen Minuten. Das Blut ihrer Mutter brauſte leidenſchaftlich in ihr auf, und ein ſtolzes Selbſtgefühl ſchwoll in ihr.

An dem gleichen Tage brachte ihr die Poſt die Ein⸗ ladungskarte.

Generalkonſul F. Nottbeck und Frau

mgard Nottbeck beehren ſich Fräulein Eberhardine 1 rnberg zum Mittagsmahl am 20. September an⸗ läßlich der Vermählung ihrer Tochter Irma mit dem Herrn Oberleutnant Heinz Philipp von Arnberg er⸗ gebenſt einzuladen.“

Und darunter all die knappen Notizen, die die Gelegenheit forderte: „Trauung ch in der Diner Uhr im „Geſellſ aftshaus

Hardy entſann ſich eines törichten, kleinen Ge⸗ ſchenkes, mit dem Heinz Philipp ſie am letzten Weih⸗ nachtsfef unglücklich gemacht: Karten und Brief⸗ umſchläge von Luxuspapier mit dem Arnbergſchen Wappen. Sie fühlte wohl, es war vielleicht ein bißchen kleinlich, daß ihr dies im Moment willkommen ſchien. Aber ſie nahm ſo eine Karte und ſchrieb mit großen, feſten Zügen unter das Wappen hin, daß Eberhard ine von Arnberg der Einladung zu folgen ſich die Ehre geben werde.

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Und nun fuhr Sie hier in den warmen, ruhevollen Spätſommernachmittag hinein und dachte immerfort: Acht Tage noch. .. acht Tage noch... Nein, es konnte, es ſollte nicht ſein. Vielleicht würde ſie noch vorher krank oder er. Litt denn nicht auch er von dem Gedanken an dies Wiederſehen? Bäumte ſich nicht auch in ihm alles, alles dagegen auf? Er hatte doch ein Herz, ein Gedächtnis, Zartheiten.

In den Knick mündete nun ein breiter Feldweg mit tief ausgefahrenen Furchen im gelblichen, dicken Sande. Etwas mühſelig kamen die gemütlichen Gäule da voran, bis man abermals umbog und ein Mark⸗ ſtein an der Wegesecke Münchower Gelände 1 In beſſerer Laune trabten plötzlich die Braunen los und die Vogelbeerenbäume an der gutgehaltenen Fahr⸗ ſtraße guckten die Fahrenden munter an. Förmlich beladen mit hellroten Beeren waren die feinen Zweige, die ſich anmutig neigten.

Voraus lag eine Waldwand, die den Horizont ver⸗ baute. Von dieſer grünen Mauer konnte der Blick die Münchower Parkbäume nicht 0 Aber man ſah luſtige Farbenflecke, rote und weißblaue die Wirtſchaftsgebäude und die Häuſer der Kätner und Taglöhner, die das einſtraßig am Waldſaum ſich hinziehende Dörfchen bewohnten.

Und ſchließlich erkannte man auch, daß die zwiſchen der Wachtpoſtenkette der Ebereſchen hinlaufende Land⸗ ſtraße geradeswegs auf eine hohe, weiße Gitterpforte zuführte. Sie war von zwei Pappeln flankiert, was ihr einen geradezu majeſtätiſchen Stil gab. An die Pappeln ſchloß ſich rechts und links ein ſehr hoher, netzartiger, ganz neuer Drahtgitterzaun, offenbar be⸗ ſonders zum Schutze der breiten Tannenhecke, die, altersmürbe und vielfach undicht, ihr ſtrapaziöſes Hüter⸗ amt an der Landſtraße nicht mehr ausgiebig hatte ver⸗ walten können.

Hinter Gitter und Hecke breiteten ſich wohltuende Raſenflächen. Gerade keine Samtteppiche, denn im Frühling fleckten ſie ganze Sterngruppen von weißen Marienblümchen aber von einem friſchen, warmen

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Grün. Und gutgehaltene Wege, da und dort eine Baumgruppe, Gebüſche, an deren Rande Dahlien als weiße und gelbe und rote Punkte wirkten, gaben der Anlage einen parkähnlichen Charakter. Man ſah ſchon vom Gittertor aus, daß ſie ein mächtiges Viereck dar⸗ ſtellte, das hinten an den Wald grenzte. Und in der Mitte dieſes quadratiſchen Parkes ſtand das Herren⸗ haus. Es hatte nur ein ee und darüber, im gebrochenen Dache, Manſardenfenſter. Verſchnittene Linden ſtanden vor der Front entlang. Sie ſchienen keine Wipfel zu haben, ſondern es ſah aus, als zöge ſich da eine grüne Hecke hoch auf dunklen Baum⸗ ſtammſäulen hin. Der ganze Bau wirkte nicht ge⸗ haglt . aber doch vorwiegend ländlich, be⸗ aglich.

Unter den Fenſtern der rechten Frontſeite die Haustür nahm genau die Mitte ein gab es eine Sitzgelegenheit. Da ſtanden Korbſtühle um einen freundlich gedeckten Tiſch. Und von dort her kam nun Frau von Arnberg mit eilenden Schritten der Tochter entgegen.

Mit leidenſchaftlicher Freude umarmten ſie ſich. Hardy konnte ſich gar nicht ſattſehen an ihrer Mutter. Sie hatte ſich ja abermals ein bißchen erholt, war wieder ein wenig voller geworden, und die Züge wurden faſt weicher o, 8 hatte gar nicht ge⸗ wußt, daß ihre Mutter noch eine ſo ſtattliche, ſtolze Frauenerſcheinung ſei. Nun allmählich ſah man ihr die richtigen Jahre neunundvierzig an; vordem, zerarbeitet und von dem Mühen ihres ganzen Lebens a wie ſie war, nahm man fie für eine alte

rau.

Ausgeruht war ſie nun, und das Schickſal ſtand nicht mehr hinter ihr mit der Knute.

„Iſt es ein Wunder? Muß ich mich denn nicht er⸗ holen?“ fragte die Mutter.

Nein, es war kein Wunder. Wie hatte der einzige, der unvergleichliche Mann geſorgt wie ein Sohn! Gleich nach ſeinem erſten Beſuche ließ er in regel⸗ mäßigen Zwiſchenräumen von Arnberg aus den Frauen

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allerlei Nahrhaftes ſchicken, was der Gutsbetrieb ergab: Butter und Eier, Schinken und Geflügel. Sie nahmen es in glücklicher Dankbarkeit an. Und einmal ſchickte er Geld. Der Tauſendmarkſchein ließ Frau von Arn⸗ berg glühend erröten. Sie weinten viel darüber Mutter und Tochter. Nicht, weil ſie dieſe Gabe de⸗ mütigte. Sie weinten noch einmal über die Härten ihres Lebens. Und ſie begriffen: dies eine Mal mußten fie auch Geld nehmen... In dieſen ihren Arbeits⸗ kleidern, ſo ſauber, ſo ordentlich ſie waren, konnten ge nicht dem Sohn und Bruder auf ſeinem Verlobungs⸗ eſt zur Seite ſein. Und auch ſonſt kamen allerlei Aus⸗ aben heran, wenn der Hausſtand aufgelöſt werden ollte... Und wie lange a man been an der Leibwäſche geſtopft und geflickt... Nach dem Schmerz kam das kleine, frohe, weibliche Vergnügen, ſich allerlei Nützliches und ſehr Notwendiges anſchaffen zu dürfen. Und die bitteren Erinnerungen an eine ewig ſorgen⸗ volle Lage, die erſt mit doppelter Macht heraufdrängten, wurden mildernd abgelöſt durch das Wohlgefallen an den ſoliden, guten Dingen. ein, es war kein Wunder.

Und nun ſaß Hardy mit der Mutter unter den Bäumen, und Frau von Arnberg hatte erſt ihre ge⸗ wöhnlichen Sorgenfragen: ob Hardy es auch ſauber und ſatt und ruhig habe. Ja, Hardy war ganz zu⸗ frieden. In der Wohnung eines Telephonbeamten, eines ihrer Vorgeſetzten, hatte ſie ein leeres Zimmer mieten können und es mit ihren Sachen, die Mutter ihr gelaſſen, möbliert. Sie zuſammen ihr Mittags⸗ mahl mit dem kinderloſen Paar. Es waren ſehr an⸗ genehme, gebildete Menſchen. Die übrigen Mahl⸗ zeiten hielt Hardy ſich ſelbſt. Sie lebte ja fürſtlich! Sie konnte kaum alles aufbrauchen, was Fräulein Krull ihr, auf Herrn Dieters Befehl, alle vierzehn Tage Sonntagabends mitgab an Eßwaren. Und daß Mutter ihr von ihren achthundert Mark Penſion jetzt dreihundert abgab, war 5 unnötig. Aber Mutter ſagte: ſie brauche doch jetzt beinahe gar kein Geld. Und in einer herzensreinen Zufriedenheit

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rühmten fie voreinander, wie gut fie es hatten. Ihre Wunden beſchwiegen fie immer... bis zu dieſem Tage hatten ſie es auch gekonnt. Sie taten immer, als gäbe es feine... die eine wollte das Gemüt der andern ſchonen .

„Wie war denn Irma?“ fragte Hardy.

„Ich denke,“ antwortete Frau von Arnberg, „Te kam auf die zwei Tage vorige Woche zu mir heraus, weil Dieter ſie eingeladen hatte. Er wird wohl ge⸗ funden haben, daß Schwiegertochter und Schwieger⸗ mutter ſich etwas näher kennen lernen müßten, als es bei dem erſten feierlichen Beſuch und bei dem Verlobungsfeſt möglich war. Es wird ihr zu riskant geweſen ſein, ihm zu antworten, ſie habe keine Zeit. Sie macht ja Dieter förmlich die Cour. Ich glaube, es war ihr recht zwangvoll.“

„Ich verſteh' nicht, wie das iſt,“ ſagte Hardy, „ich denke: und wenn man ſich demütigen ſollte Gott weiß wie um die Liebe der Mutter des Geliebten wirbt

man

Plötzlich fiel ihr wieder die Szene auf dem Platz ein und wie Frau Eggsdorf mit den Geſten einer Reiſenden das Kriegerdenkmal beſah, um Hardy nicht zu ſehen ... Wenn die meine Mutter geworden wäre, nn ich fie je bezwungen? dachte Hardy, in ſchmerz⸗ iches Grübeln verloren.

„Kind,“ ſprach Frau von Arnberg mit einem ent⸗ ſagenden Lächeln, „ich ſehe da keine große Liebe und keine erregten Gefühle. Irma war aufmerkſam und ergeben. Sie war es nicht aus ihrem Herzen, ſondern aus a Verſtand. Aber das iſt auch viel. Wir werden immer in geſchmackvollem Frie⸗ den mit ihr ſein und ihr 1 1 recht fernbleiben. Heinz und ſie wollen dasſelbe vom Leben. J d deshalb werden ſie auf ihre Art ſehr glücklich werden.“

Hardy nahm ſacht die Hand der Mutter und ſtreichelte ſie. Sie erriet, was alles im Mutterherzen ſo klar geworden war, daß ſich nicht mehr daran herum⸗ deuten ließ. Und daß die Mutter ſich endlich ein⸗

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geſtanden hatte, ihres Sohnes Wege gingen auf den Oberflächen hin und nicht in die Tiefen. Das mußte Mutter ſo in aller Stille mit ſich ausgemacht und viel dabei gelitten haben.

Und nun fragte Hardy ganz leiſe, ſich vorſichtig dem einen nähernd, an dem man nicht länger ſcheu vorüberſchleichen konnte: „Sprach Irma ... ſprachſt du mit Irma von... ihrer Schweſter?“

Auf das Geſicht der Frau trat der ſcharfe Ausdruck von einſt, und ihre Augen blitzten.

„Wie konnte ich es vermeiden, mit Irma von den Ihren zu ſprechen,“ ſagte ſie beinahe kurz.

Hardy wagte nicht nachzufragen. Sie ſchwiegen beide. Und dann ſprach die Mutter plötzlich ſchroff aus dieſem Schweigen heraus: „Dieſe Doraline iſt wohl noch ein unbeherrſchtes junges Ding. Irma ſagt, ſe plage den Mann und ſich mit Eiferſucht, und es ei eine ſtets erhöhte Temperatur in der Ehe. Irma meinte, man könne neugierig ſein, wie das mal endete.“

„O gut gut!“ flüſterte Hardy in der Auf⸗ 1 eines heißen, ſelbſtloſen Wunſches für ſein

u

Die Mutter hob das Haupt noch höher, ihre Naſen⸗ flügel bebten, ihre Augen ſahen ins Unbeſtimmte Schlecht, dachte ſie kraftvoll, ſchlecht! Er hat mei⸗ nem Kinde die Jugend, ja vielleicht das Leben ver⸗ dorben . .. Sie war keine milde Verzeiherin. Sie ſah es ja: ihre Hardy litt noch immer und liebte noch immer.

In dies Schweigen hinein kam nun Fräulein Krull, wie immer die ganze mächtige Perſon in ſchilderhaus⸗ mäßig geſtreiften Kattun gehüllt. Heute war das Kleid hellblau und dunkel geſtreift, und die Bruſtnähte trafen ſich in dunklen Streifen, ſo daß ſie auf der 1 5 Wölbung des ungewöhnlichen Buſens in einer ſcharfen Spitze endeten.

Und unterhalb dieſer enormen Fülle zog ſich eine leiſe nach oben gebogene Querlinie, der Bund der weißen Küchenſchürze hin.

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Fräulein Krull war immer durch das Bewußtſein ihrer Wohlbeleibtheit etwas bedrückt.

„Ich glaube, der Eſſensdampf macht ja 1 fett, ſonſt weiß ich nicht, wie es zugeht, daß faſt alle Köchinnen und Köche und Mamſells gut bei Schick ſind denn vons Eſſen kann es nich kommen man mag gar nich ſo viel, wenn man immer ſo viel unter Händen hat,“ ſagte ſie, als müſſe ſie ſich vor dem Verdachte zu groben Appetits ſchützen. Ihr impo⸗ nierten weder Menſchen noch Dinge; ſie machte aber kein Weſen davon und ging nur mit äußerſter Gelaſſen⸗ heit durch die Welt. Sie hatte zu raſch die Beſitzer kommen und verderben geſehen; ſie aber war ge⸗ blieben, und ſo ſah ſie ſich als ſpezielle Hüterin dieſes Teils der Arnbergſchen Güter an, und ihre runden, hellen Braunaugen guckten nachſpürend allerwärts hinein. Worüber der Verwalter, der 1 ein Weiberfeind war und einſam im Inſpektorhauſe neben der weſtlichen Parkgrenze wohnte, ſich beſtändig ge⸗ reizt fühlte. Aber das war ihr egal, und wenn er ſeinen gräßlichen „Magenhuſten“ bekam, nahm ſie es ihm doch einfach über den Kopf weg und kochte ihm Haferwelgen, die einem ſo wohltaten, als würde man inwendig mit Salbe ausgeſtrichen. N

In all dieſe und hundert andre Münchower Wichtig⸗ keiten war Frau von Arnberg längſt eingeweiht. Sie nahm einen wohlwollenden Anteil daran, patriar⸗ chaliſch faſt, als ſei ſie die Herrin. Und ganz wie von Au war es gekommen, daß Fräulein Krull ſie als ſolche reſpektierte mit dem Reſpekt der ländlichen, vieljährigen Beamtin, die gewohnt iſt, 5 5 auf gleichem Fuße mit der Herrſchaft zu ver⸗ ehren.

Fräulein Krull ſetzte ein Glas Milch und einen Teller voll Kuchen und Butterbrot vor Hardy hin, mit einer zuteilenden Geſte.

„Aber Fräulein Krull, es iſt ſchon ſo ſpät ganz ſchummrig ſchon wir eſſen gewiß gleich. Und da ſoll ich noch vorher ...“

„Wir eſſen noch nicht gleich,“ ſagte Fräulein Krull

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voll Energie, „der Herr kommt es wird wohl Glock neun werden.“

Und mit ihren raſchen, ſchweren Schritten, vom eſtreiften Kattun förmlich umknattert, ging ſie ins aus zurück.

„Ach wie ſchön, daß Herr von Arnberg kommt,“

ſagte Hardy erfreut.

Vor vierzehn Tagen hatte ſie ihn ebenfalls hier getroffen. Er kam jetzt auch jede zweite Woche nach Münchow, für das er mit einem Male beſonderes Intereſſe zu haben ſchien.

Vielleicht kam er wegen ihrer Mutter. Hardy ver⸗ mutete es beinahe. Um dieſer das Gefühl zu geben, ſie ſei ſein lieber Gaſt. Oder ſie ſei die Haus⸗ frau. Denn ſo und nicht anders wußte er ihr zu be⸗ gegnen.

Es war ſo merkwürdig: drei, faſt vier Jahre hatte er Heinz Philipp gekannt und war mit ihm zu keinem verwandtſchaftlichen Verhältnis gediehen, hielt ſich vielmehr auffallend fern von ihm. Und nun trachtete er danach, eine wirkliche, warme Familienzuſammen⸗ gehörigkeit heranzuziehen.

Hardy und ihre Mutter beſprachen es ſo oft.

Und Frau von Arnberg dachte noch andre Dinge . . . aber die waren zu fern, zu fein, um in Worten laut werden zu dürfen... eine Hoffnung war das ein überkühner, überwältigender Gedanke an eine Möglichkeit.. Nur der Traum davon erſchütterte die leidenſchaftliche Frau bis ins tiefſte .. Ach, und ſie wußte: wenn das heranträte wenn das werden wollte: alles ſcheiterte an ven .. . Die 1 15 immer, immer noch den Mann, der ſie verlaſſen

atte...

Aber in dieſem Augenblick zogen die hoffenden, zagenden Gedanken der Frau nicht auf dieſem ſchon zahllose Male begangenen Wege dahin. Sie 1 vielmehr zaudernd feig vor einer Mitteilung, die ſich nicht mehr hinausſchieben ließ.

„Ja,“ ſagte ſie, „es iſt ſolche Freude für mich, daß Herr von Arnberg jetzt ſo oft kommt. Und zu

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morgen hat er uns Gäſte e aus ſeiner Güte ohne Ende heraus etwas Taktvolles, Erfreuliches uns antun wollen

„Gäſte?“ fragte Hardy erſtaunt und in ſchon er⸗ wachender Sorge. Denn ihre Mutter ſprach von des Mannes Güte mit jenem Tonfall, der ſchon ein ſchweres „Aber“ in ſich birgt wie man von Wohltaten ſpricht, die weh tun...

„Dieter Arnberg fchrieb mir: Er fände es durch⸗ aus nötig, durchaus angebracht, daß das Brautpaar mit den nächſten Angehörigen der Braut einmal vor der Hochzeit bei mir zu Gaſt ſei. Und des⸗ halb habe er ſich erlaubt, Nottbecks mit ihren Töch⸗ Ark und Schwiegerſöhnen zum Sonntag hierher zu itten.“

Hardy ſtand auf. N

„Ich will zurück in die Stadt. Sofort. Zu Fuß will ich zur Bahn... ja, das kann ich gut... ſag Dieter, was du willſt lüge.“

Sie war außer ſich. Aber Frau von Arnberg wie ſo viele heftige Menſchen wurde immer be⸗ ſonnen, wenn ſie andre unbeherrſcht ſah.

Sie griff nach Hardys Hand und of die Tochter neben ſich auf die Bank. Sie, die jo ſe ten eigentlich zärtliche Geſten fand, ſie nahm ihr Kind feſt und gut in ihren Arm.

„In acht Tagen muß es ſein,“ ſprach ſie leiſe, „nimm auf dich, was nicht zu vermeiden iſt. Ob morgen oder in acht Tagen iſt es nicht gleich? Nein, iſt es nicht beſſer hier, bei uns? Wo wir, durch Dieters herzliche Art, faſt den Stolz haben können, als ſtänden wir auf unſrem eigenen Boden? Und iſt es nicht der hiſtoriſche Boden unſres Geſchlechtes? Vergiß alles, was war —“

9 85 kann ich ... wie könnte ich je,“ weinte ardy.

„Dann verſchließ es in dich, ſo tief, daß ſelbſt der

Mann nicht mehr wagt, ſich zu erinnern ... ſprach ſie,

und ihr ganzer unbeugſamer und in aller Plage ihres

Lebens nicht zerbrochener Stolz glühte in ihr und

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1 ihr Weſen unbezwingbar „du biſt eine Arn⸗ erg!“

Hardy fühlte ſich klein vor der Mutter. Sie wagte nicht, ihr zu widerſprechen, ſchwächlicher zu ſein als ſie. Denn das wußte Hardy auch: alles in ihrer Mutter empörte ſich dagegen, daß ſie Borwin gaſtlich die Hand reichen müſſe.

Und was die Mutter ihrem Zorn abgewann, mußte doch ſie ihrer verzeihenden Liebe auch abringen können.

Die Abenddämmerung ſank tief und immer tiefer. Es war ein dunkler Friede, ſchwer wie Schlaf in der beginnenden Hochſommernacht. Die Gebüſche wurden ſchwarz. Und nur ganz hoch oben, in dem von zittern⸗ den Blättern unruhigen Wipfel einer hein biaßſer Selige. war noch der letzte Nachſchein blaſſer

elligkeit.

Auf den großen Raſenflächen ſchien die Stille wie etwas Greifbares zu ſtehen.

Schweigend ſaßen die Frauen. Bis man ein Rollen hörte, das, indem es näher kam, etwas 0 und klappernd wurde. Der runde Ton eines ſehr kräftigen Peitſchenknalls Aid die Nachtluft. Hinter dem Gittertor zog eine Wagenlaterne vorbei und er dann neben der Pappel ſtill über der Tannen⸗

ecke.

15 lief ins Haus, verkroch ſich erſt einmal in ihr Manſardenzimmer, um ſich die Tränen vom Ge⸗ ſicht zu waſchen. Herr Dieter brauchte nicht zu ſehen, durfte nicht ahnen, daß ſie geweint hatte. Seine Freude war, das wußte ſie längſt, ſeine e zufriedenen Sinnes zu finden. Hätte er noch geheime Kümmerniſſe in ihnen vermutet, würde er unruhe⸗ voll nach Gott weiß was do Urſachen gefahndet haben. Es war faſt eine Schwäche von ihm, daß er dich mit dem Schickſal aller Arnbergs beladen und

afür verantwortlich fühlte. Das erklärte ſich aus den e Ereigniſſen, die ihn zum Beſitzer erhoben atten.

Sie zog auch ihr weißes Batiſtkleid an. Einmal hatte Dieter ausdrücklich darum gebeten. In Ruhe⸗

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ſtunden ſoll man feinen Arbeitskittel ablegen, ſagte er.

ardy erklärte ihm, daß ihr „Arbeitskittel“ eine blaue

itewka mit roten Paſpeln ſei, die auf dem Amt über die ſchwarze Kleidertaille gezogen würde und nun dort am Haken im Garderobenraum hänge. Aber er fragte nur: „Obſtinat?“ Und Hardy mußte lächeln. Sie wurde auch ein bißchen rot. Denn ſie wußte ja: an ihrem Zuſchuß von Eigenſinn hatte die Mutter recht oft herumgetadelt. Und um in einer ſolchen Kleinig⸗ keit nicht „obſtinat“ zu ſein, ſpazierte ſie auf Münchow tets in einem der beiden weißen Kleidchen herum, ie Mutter ihr genäht hatte, und die Fräulein Krull in Perſon plättete. Sie geſtand ſich nicht, daß ſie ſich wirklich jünger und friſcher darin fühlte.

Als ſie ins Eßzimmer trat, hatte ſie ſich wieder anz geſammelt, und auf ihrem Geſicht war nichts zu eſen als der Widerſchein der herzlichen Freude, die ſie

empfand, Dieter Arnberg zu ſehen.

Er hatte nicht den Reiz des Geheimnisvollen in ſeinem Weſen; dies ſchien nie durch unerklärliche Stimmungen verändert, ängſtigte nie einen Menſchen und ſtand nicht in wechſelnden Lichtern.

Er mußte wohl in einer ganz ungewöhnlichen Weiſe mit ſich im reinen ſein, daß er ſolche r wirlich ene zu behaupten vermochte. Oder er war wirklich eine beſonders einfache Natur. Hardy wußte es noch nicht. 25 herſch f un wie gut und zutraulich man neben

m herſchritt.

Nun ſaßen ſie in ſcheinbarem Behagen um den Abendtiſch, und Frau von Arnberg wie auch Hardy brachten es über fire von den Gäſten zu ſprechen, die man am nächſten Tage erwartete. Das Programm für dieſe „Feſtlichkeit“ war sn durch das Kurs⸗ buch gegeben. Die Wagen ſollten die Geſellſchaft um zwölf Uhr von der Station holen. Um eins Gabel⸗ frühſtück. Dieſes Wort hatte Fräulein Krull verletzt. Wenn Leute aus der Stadt aufs Land kämen, wollten ſie fir was zu eſſen haben, und von dieſer Anſchauung brachten die vorſichtigen Warnungen Frau von Arn⸗ bergs vor zu enormen Fleiſchſtücken und zu großen

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Puddings fie auch nicht ab. Herr Dieter, der es ſich ern gut ſchmecken ließ, jagte ſchmunzelnd, daß er es 15 mehr mit Fräulein Krull als mit der verehrten rau des Hauſes halte. Nach dem Gabelfrühſtück Pro⸗ menade im Park und durch die Ställe. Dann eine etwas vorzeitige Veſper mit Kuchen, Obſt, Schlag⸗ ſahne, Tee und Kaffee und dann Rückfahrt, da Nott⸗ becks am Abend noch ein Souper mitzumachen hatten, das der General von Schleichheim und Frau von Schleichheim dem Brautpaar zu Ehren gaben.

„Aber uns,“ ſagte Herr Dieter, „nicht wahr, Fräu⸗ lein Hardy, uns wird Ihre Mutter noch nicht los. Wir bleiben hier bis zu Ihrem letzten Zuge. Wir können dann zuſammenfahren. Der meine trifft fünf Minuten nach der Abfahrt des Ihren ein.“

Somit war alles beſprochen, und Herr Dieter ſtand auf und rieb ſich die Hände und ſchien im voraus Spaß daran zu haben, daß endlich, nach Gott weiß wie langer Zeit, einmal wieder Gäſte auf Münchow ſein würden. Keiner von den Vorbeſitzern, ſeit vierzig, fünfzig Jahren, hatte hier mehr reſidiert. Und ſo luxuriöſe Herrſchaften wie die Nottbecks und Eggsdorfs würden ſich wohl wundern über den alten Haus⸗ rat. Nicht mal „antik“ war er, nein, ſchlechtweg alt⸗ modiſch häßlich; was Frau von Arnberg mitgebracht habe, ſei das einzige Anſehenswerte. Aber gemütlich ſei es doch jetzt. Und man merke nun die Frau im Hauſe. Und wenn die Nottbecks und die Eggsdorfs das nicht allem Prächtigen vorzögen, könnten ſie ihm leid tun. Ä

„Unſre demnächſtige jüngſte Arnberg, Fräulein Irma, die iſt elegant,“ ſagte er. „Donnerwetter! Ich dachte auf der Verlobungsfete damals: ob Heinz Philipp ſich wohl trauen darf, ſolche Braut in Spitzen und Tüll, oder was es ſonſt war, kräftig ans Herz zu drücken? Wenn ich mal heirate meine Frau muß ſo ſimple weiße Batiſtkleidchen tragen wie Fräu⸗ lein Hardy. Kleider, denen es nicht ſchadet, wenn da mal dreckige B dran zerren, oder wenn mein alter Phylax mal ranſpringt.“

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Er ſchien gerührt. Er wurde leicht gerührt. Durch eine Erinnerung, eine Ideenverbindung ... dann be⸗ kam ſeine Stimme einen weichen Klang, und die blauen Augen wurden blank, als ſtehe was Naſſes darin.

5 ſah jetzt mit einem ſehr liebevollen Blick auf

ar

dy. Frau von Arnberg, obſchon Sie ſich nicht e ihn geradezu zu ge beobachten, ſpürte den Blick ... fie wagte keine Bewegung, kaum einen Atemzug

Aber Hardy merkte nichts. Sie ging an die Glas⸗ tür, durch die man unvermittelt vom Eßzimmer in den Park hineinkam. Jetzt war ſie, trotz des warmen Abends, gepiel Nach Herr Dieter mochte es nicht haben, wenn ſo viel Nachtfalter und Gott weiß was für Inſektenvolk hereinkam und ſich ums Lampenglas herum zu Tode taumelte. Es war ihm widrig. Und Frau von Arnberg, die immer eine Stubenpflanze geweſen war, hatte ein kleines nervöſes törichtes Unbehagen vor dunkelfliegendem Getier.

Hardy zog die Vorhänge auseinander und ſah, das Geſicht EN an den Scheiben, hinaus.

Ja, d ond war ſchon hochgekommen, 8 daß er nun über der vielfach ausgebogenen Wipfellinie des Waldes ſtand. Sein rechts oben ſchon leiſe ab⸗ geplattetes Rund war von blankem Silberweiß. Sein * 1 in bisch humoriſtiſch.

ch möchte noch ein bißchen hinaus.“

25 er, Kind, die Fledermäuſe!“ ſagte Frau von Arnberg.

„Ich gehe als Ritter mit, um Fräulein Hardy

nötigenfalls gegen dieſe lebensgefährlichen Ungeheuer zu verteidigen,“ ſprach Herr Dieter vergnügt, „kommen Sie. Aber was umbinden!“ Da lag auf dem Stuhl Mutters geſtricktes Tuch. Dieter griff danach und legte es mit ſehr viel Schultern. und Ungeſchick ganz verkehrt um Hardys i Schweigend gingen ſie miteinander die Wege ent⸗ ang.

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Es war beinahe, als wenn Silberſchein durch die Luft flöſſe. Der weiße Glanz wirkte ſo ſtark, daß Büſche und Bäume Schatten warfen; nicht die blauen, durchſichtigen Schatten des Tages, ſondern die toten, ſchwarzen, geſpenſtiſchen Schatten der Nacht, die als harte Stücke hineinſchnitten in das Silberfeld, das ſonſt Raſen, Platz und Weg war.

Und die Wipfelhäupter der alten, väterlichen Bäume ſtanden in unbewegtem, in ſich verſchloſſenem Schwei⸗ gen; über ihre Stirnen floß der weiße Lichtſtrom, in ihren Tiefen war nächtiges Dunkel.

Die Andachtsſtille in der Mondſcheinnacht war ſo bezwingend, daß die beiden Menſchen beinahe vor⸗ ſichtig gingen.

Sie ſchritten, wie von ſelbſt, dem Zuge des Weges folgend, der Parktiefe, dem Waldrande zu. Da er⸗ höhte ſich ganz leiſe das Gelände, und auf einem kleinen Platze, von dem Halbrund einer geſchorenen Hecke umfriedet, ſtanden ein paar weiße Gartenbänke. Von ihnen aus hatte man tags einen gefälligen Blick auf das Herrenhaus. Jetzt verzauberte das Mondlicht dieſen Blick zum Poeſievollen.

Hardy und ihr Begleiter ſetzten ſich nebeneinander. Beiden war das Gemüt übervoll.

Und der Mann dachte immerfort, wie er es nun anfangen könne, es ſich zu erleichtern. Weil aber Hardys von ganz, ganz andern Dingen ſchwer war als das ſeine ſchwer von Angſt das ihre, ſchwer von Hoffnungen das ſeine ſo ſprach ſie kein Wort, danach er raſch und erlöſt hätte greifen können.

Schweigend ſaßen ſie und ſpannen ihre Gedanken mit hinein in das Geſpinſt der Mondſtrahlen. Sie ſtarrten ſo unverwandt hinein in den Glanz, daß es dem Auge zuletzt ſchien, als ſähe es das emſige Gleiten ſilberner Fäden, die aus der Höhe kamen.

Nun bellte irgendwo ein Hund. Und dieſer ver⸗ ſtändige, geſellige Ton durch die Nachtſtille her weckte in Dieter plötzlich etwas auf. So was wie fröhliche Courage.

XXVIII. 2. 11

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„Fräulein Hardy,“ ſagte er, „willen Sie wohl, daß ich Ihnen viel Dank ſchuldig bin?“

it . ich dachte, es ſei eigentlich umgekehrt. Und iſt auch ſo.“

„Durch Sie bin ich wieder ins Gleichgewicht ge⸗ kommen.“

„Wie könnte das ſein?“ fragte ſie erſtaunt.

„Ja, ſo etwas erklärt ſich ſchwer. Aber die letzten paar Jahre war mir's oft, als käme zwiſchen die andern Menſchen und mich was Argerliches.“

Er dachte: ob ich ihr das alles mal genau erzähle? Nein, ſpäter, beſchloß er, wenn ſie erſt meine Frau iſt. Denn das wird und ſoll und muß ſie werden. Aber jetzt, das fühlte er wohl, jetzt konnte er ihr keine Rede halten etwa dieſes Inhaltes: Als ich ein junger Menſch von vierundzwanzig war, wollte ich mal heiraten. War ſehr verliebt, brennend, hilflos, tolpatſchig unglück⸗ lich, in die ſchöne Tochter meines Gutsnachbarn. Aber ich war ihr zu häßlich und zu wenig. So als Herrin auf meinem Gütchen ſitzen und tapfer mitſchuften, daß es ſchuldenfrei bleibe, das wollte ſie nicht. Und daß ich mal das Fideikommiß bekäme, ſchien derzeit noch undenkbar. Alſo Korb! Und Zeiten hinterher, wo einem der Biſſen Brot bitter war und nichts half wie die Arbeit. Und man ſich alles Heiraten verſchwor. So gingen ein paar Jahre. Dann kam der große Wandel. Und ſie, die mir früher den Korb gegeben, ſagte zu meinem Freunde: „Hätte ich das gewußt!“ Jawohl, dann hätte man mich genommen. Das war ja keine gute Geſchichte, dieſe. Na, und dann als großer Herr! Wie kamen ſie mir plötzlich entgegen, all die Mütter und die Fräulein. Ich konnte es fauſt⸗ dick ſpüren: einen Korb brauchte ich nirgends mehr zu befürchten. Wie ſoll man ſich durch ſo was hindurch⸗ finden und noch jemals die Rechte treffen? Nichts war möglich als vorſichtiges Retirieren überall. Ich ſah ja ein, geheiratet muß nun werden. Denn der Heinz Philipp als mein Nachfolger und einziger An⸗ wärter? Nein, der gefiel mir mäßig. So 'n eleganter Obenauf. Und ſo viel Bedürfniſſe und Anſprüche.

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Zu ſolchen Menſchen find' ich keine Stimmung. Ich bin ein einfacher Kerl. Alſo ja: geheiratet muß werden. Aber lieb will ich die haben, die ich heirate, und vertrauen will ich ihr, daß ſie mich nicht ums Geld nimmt. Und Sie, Hardy, Sie habe ich lieb, und von Ihnen weiß ich, daß Sie mich nicht ums Geld nehmen. Das weiß ich ſchon alles, ſeit Sie damals ſo obſtinat waren und lieber weiter i als ſich hier rote Backen anpflegen laſſen wollten.

Er dachte nun immerfort über dieſe Rede nach und hielt ſie alſo wenigſtens in Gedanken. Dadurch bereitete er ſich unbewußt ſo vor, daß es ihm unwillkürlich war, als müſſe auch Hardy ganz Beſcheid wiſſen, wie es in ihm ausſähe. |

Aber trotzdem dachte er noch: Ich will ſachte damit 'rauskommen an ſo was muß man vorſichtig 'ran⸗

gehen.

Hardy hatte auf ſeine letzten Worte nichts geſagt und gefragt. Sie grübelte wieder mit ſchwermütigen Gedanken in den Mondſchein hinaus. Nun hörte ſie einen tiefen Seufzer neben ſich ſo einen ur⸗ kräftigen Seufzer, wie manche Menſchen ihn aus⸗ i wenn ein Beſchluß ganz reif geworden iſt in ihnen.

„Fräulein Hardy,“ ſprach Herr Dieter von Arnberg, „glauben Sie, daß ſo 'n einfacher Mann wie ich einem tiefen, nachdenklichen, ſehr gebildeten Mädchen als Mann recht ſein könnte?“

Er meinte, das ſei „ſachte 'rangegangen“.

Jedes Mädchen hätte die Frage verſtanden. Auch die frühere Hardy. Aber nicht die Hardy, deren Herz betäubt war von der einen unſeligen Liebe. Sie glich ja einer Hypnotiſierten und war taub und blind und nicht aufnahmefähig für das, was andre Herzen be⸗ wegte. Sie hörte nur den herrlichen, gütigen, ver⸗ ehrten Mann eine faſt naive Frage tun. |

„O, Herr von Arnberg,“ ſagte fie herzlich und leb- haft, „was nennen Sie ‚gebildet?‘ Ein bißchen mehr oder weniger zufälliges Wiſſen auf Gebieten, für die

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irgendeine Liebhaberei vorhanden iſt? Bücher? Kunit? Muſik? Erſt kommt die Tüchtigkeit im Berufe. Glauben Sie mir, das achtet eine rechte Frau doch am meiſten, wenn der Mann, da, wo er von Berufs wegen zu ſtehen hat, ſehr feſt ſteht und kraftvoll wirkt. Das und ein gütiges, ein treues ja ein treues Herz. Ihre Stimme wurde unklar. Faſt hätte ſie aufgeweint. Aber ſie hielt ſich und ſchloß warm: „Glücklich die, die Sie wählen! Und es kommt mir nach Ihrer Frage faſt ſo vor, als ob Sie gewählt hätten. Glauben Sie nur, niemand freute ſich mehr über Ihr Glück als Mutter und ich. Allein ſchon um deſſentwillen, was a an Mutter getan haben, verdienen Sie alles.. alles.“

„Freilich, Fräulein Hardy, ich weiß ſchon, welche ich will. Sehn Sie mal, und das nimmt mir eine Sorge vom Herzen, was Sie da alles von Bildun und von Beruf ſagten. Und man nimmt ja au viel an von einer Frau .. . Intereſſen und Zartheiten... Was noch ſo fehlen mag. Denn irgend was fehlt immer jedem Menſchen. Rechtſchaffene Eheleute er⸗ 1 einander. Das hab' ich mir immer ſo ge⸗ a 40

Nun wandte er ſich Hardy ganz zu. Sie, doch ſehr geſpannt und raſch von dem Gedanken erregt, wie manche Veränderung es mit ſich bringen könne, beſonders im eben neueingerichteten Leben ihrer Mut⸗ ter, wenn Dieter heiratete, ſie ſah ihm erwartungs⸗ voll in die blauen Kinderaugen.

5 Die lächelten ihr zu; im klaren Mondſchein ſah ie es.

Und nun griff er nach ihrer Hand, drückte ſie feſt und ſagte: „Ich meine ja Sie ſelbſt. Und gar keine andre. Nicht wahr, Hardy und nach alledem, was Sie da ſagten, denk ich, das heißt: ja!“

Hardy entzog ihm ihre Hand. Das war ihre erſte, unwillkürliche Bewegung.

Vor Schreck war ſie ganz benommen.

„Ich?“ fragte fie atemlos. „Ich? Ich?... Oh, nein, oh, nein.“ |

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„Oh, doch!“ rief er und rückte ihr, von einer inneren Herzensfröhlichkeit aufs glückſeligſte erhoben, zutraulich näher, „wen ſollt' ich wohl ſonſt liebhaben? Was für eine Frau neben mir haben mögen mein ganzes Leben lang? ein Leben lang! Denken Sie mal, Hardy, all die Tage, alle, alle, die man hienieden hat! Die möcht' ich doch nur mit Ihnen zuſammen

Er legte den Arm um ſie.

Ein heißer Jubel kam in ihm hoch.

„Hardy ...“ murmelte er. Er wollte fie küſſen .. Sie ſpürte es. Sie fuhr zurück.

„Nein!“ rief fie, „nein ... Ich kann nicht.“

Und brach in leidenſchaftliche Tränen aus.

„Wie denn? Nein? Sie wollen nicht?“ fragte er raſch und ſehr heftig.

Sie konnte nur den Kopf ſchütteln und neigte ihn dann, das Geſicht in den verſchränkten Armen ver⸗ ſteckend, auf die Lehne der Bank. Sie ſchluchzte in ſich hinein.

Der Mann ſaß und ließ ſie weinen. Auf ſeinem Geſicht lag der Mondſchein und machte es weiß. Seine blauen Augen ſahen bohrend ins Unbeſtimmte.

Aber ſehr allmählich erhellten ſich die erſtaunten, fas el Mienen. Ein leiſes Lächeln zog herauf un Eu te das ganze männlich⸗kindliche Geſicht. Er verſtand! Hatte er nicht ſchon in manchen Stunden vorweg gedacht: die eine hat mir damals einen Korb gegeben, weil ich zu wenig hatte wenn die andre hab Int nicht am Ende einen gibt, weil ich zu viel

abe!

Er traute Hardy das zu. Ganz gründlich traute er's ihr zu. Stolz war ſie, und in den Stolz hinein ſpielte auch ſo ein bißchen ſde dachte vi Auf deutſch geſagt: Eigenſinn. Und ſie dachte vielleicht: eine arme a und der reiche Fideikommiß⸗ beſitzer da ſchreit die Welt: was für ein Glück! Und ſchreit: na, die hat wohl mit allen zehn Fingern zugegriffen...

Jawohl, jo etwas dergleichen ging in Hardy vor.

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Deſſen war er ſicher. Ebenſo ficher, wie im Glauben, daß Hardy und er füreinander beſtimmt ſeien. Die ganze überraſchende Entwicklung der Familiengeſchichte hatte ſich dahin zugeſpitzt, daß ſie beide zu einander kommen mußten!

Das ſtand unerſchütterlich feſt: Hardy war die ge⸗ borene Frau für ihn. Nur mit ihr konnte er glücklich werden. Sie ſollte und würde es aber auch mit ihm. Gut ſollte fie es haben, gut ... Donnerwetter.

Und nun hörte er immer ihr leiſes Weinen. Es jammerte ihn. Es machte ihm die Augen blank. Ja, die armen Frauen waren von all den Sorgen eben doch ein bißchen aufgerieben ... zu gedemütigt. Am liebſten hätte er kurzen Prozeß gemacht und Hardy in die Arme genommen und geſagt: Wir heiraten uns und damit baſta. Aber das ging ja nicht.

Er fühlte: das muß ich anders anfangen. Ich muß ihr das ſo deutlich und ſo beharrlich zeigen, daß ich ſie liebhabe, bis ſie mir lachend um den Hals fällt und ſagt: Du du dich will ich..

Er lächelte glücklich in ſich hinein. Nun, das war auch ſchön. Weiß Gott, ob es nicht ſchön war, inder ein ſtolzes, reines Mädchenherz erſt erobern müſſen!

Er ſpürte, ſie hörte auf zu weinen. Er paßte auf. Ja, und jetzt hob ſie zaghaft den Kopf, trocknete die Augen und klagte halblaut vor ſich hin: „Nun iſt alles, alles wieder aus.“

Er verſtand auf der Stelle, was ſie meinte: Aus, das Behagen und die Unbefangenheit, in denen Mutter hier ruhte, aus, die gute Stimmung an den ſchönen Sonntagen

„Ih bewahre. Nichts iſt aus! Und wir beide werden ja wohl noch ſchweigen können was wir eben geſprochen haben, hat ja bloß der Mond gehört. Na, und der iſt Kummer gewohnt. Gar nichts iſt aus.“

Sie horchte erſtaunt ... ſein wohlgelaunter Ton wie von heimlichem Übermut faſt durchfunkelt was war das? Sie verſtand nichts.

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Unfähig, auch nur ein Wort zu ſprechen, ging fie neben ihm ins Haus zurück.

In ihr war eine verzweifelte Stimmung. Der eine wandte ſich von ihr fort einer neuen Liebe zu. Den andern betrübte es nicht einen Augenblick, daß ſie ſeine Hand nicht nehmen konnte .. . War ſie denn ſo wenig

G ® ®

Am andern Morgen dachte Hardy, daß es fait Sei, als gehe ſie aufs Amt; ihr eigentlichſtes Leben mußte ſie verſtecken, mußte eine Maske der Unerſchütterlichkeit vornehmen und aufmerkſam fremden Anforderungen zu Dienſt ſein.

Vor der Mutter hieß es das Vorgefallene ver⸗ bergen.

Dieter die ſchmerzliche, unerhörte Angſt verhehlen, mit der ſie dieſem Tag entgegenſah.

In welche Gemütsbewegung mußte ihre Mutter

eraten, wenn ſie erführe ... Hardy wagte gar nicht, I das auszumalen. Der Zorn auf Borwin würde ich vielleicht bis zum rachſüchtigen Haß geſteigert haben das wäre ſo menſchlich, ſo verzeihlich ge⸗ weſen bei der ſtarken Art ihrer Mutter. Welche Mutter gäbe ihre Tochter nicht freudigen Herzens dieſem Mann, auch ohne ſeine Reichtümer. Und welche beherrſchende Rolle hatte in der 1 7 ihrer Mutter ſeit vielen Jahren der Arnbergſche Beſitz geſpielt! Dieſer ſelbe Mann, dem ſie in heimlichen, rechnenden, grauſam⸗hoffenden Gedanken faſt das Leben nicht ge⸗ gönnt hatte, wollte ihr Sohn werden, ihre Tochter zur Mitherrin machen. Ja, das alles hätte ihre Mutter ganz und gar aus dem Gleichgewicht gebracht. er Hardy wußte auch gewiß, die Mutter würde ihr nicht geſagt haben: bezwing dich, vergiß den andern, denk an die Vorteile! Nein, ſtark und hart, aber voll raſenden Zornes gegen den, der Hardys Herz unfrei gemacht, würde ſie ſprechen: es geht nicht; du liebſt darf. andern, Dieter iſt kein Mann, den du belügen

arfſt. So wußte Hardy, obgleich ſie zum erſtenmal in

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ihrem Leben ein Geheimnis vor ihrer Mutter haben mußte, ſich doch einig mit ihr.

Aus Herrn Dieters Benehmen wurde ſie aber nicht klug. Fröhlich begegnete er ihr und ſo viel vertraulicher noch als bisher. Es war keine Spur von Verlegenheit in ſeinem Weſen, und das half Hardy in der über⸗ raſchendſten Weiſe, daß auch ſie frei und freundlich mit ihm ſprechen konnte.

Und manchmal lächelte er vergnügt und ſchlau in großer Überlegenheit, wie einer, der viel klüger iſt als alle andern Leute, es aber nur noch nicht an die große Glocke hängen will.

Frau von Arnberg ſah ſehr erhitzt aus. Sie lief eilig hin und her, 90 Fräulein Krull in einer über⸗ flüſſigen Weiſe, daß dieſe zuweilen faſt nur zuſehen konnte, deckte den Tiſch und erſchöpfte ſich förmlich.

Als Dieter das merkte, wurde er in aller Argloſig⸗ keit ganz ärgerlich und äußerte zu Hardy: die Gäſte hätten doch für Frau von Arnberg Freude und nicht Arbeit bedeuten ſollen, und er habe geglaubt, daß Fräulein Krull mit den vorhandenen Dienſtboten, wenn ſie auch nur ländlich ſeien, dies alles noch be⸗ zwingen könne.

Hardy durfte ihm nicht ſagen, woher die fieber⸗ roten Flecke auf den Wangen ihrer Mutter kamen, obgleich ſie ahnte, daß ſie höchſte, heimliche Erregung bedeuteten. Aber ſie bat dann ihre Mutter, um Fräu⸗ lein Krulls willen, dieſer nicht den Ruhm des Tages wegzunehmen. Da begriff Frau von Arnberg, daß ſie mit all dieſen kleinen Frauenmittelchen die Zeit nicht totſchlagen dürfe, daß ſie ſich ohne dieſen Auf⸗ wand von Maſchinenlärm ſtill und würdig auf ihre

Haltung vorzubereiten habe. Sie zog ſich in ihr.

Schlafzimmer zurück.

Hardy ſchmückte den Tiſch. Sie wählte dazu aller⸗ hand flammendes, vorzeitig herbſtlich gefärbtes Laub und weiße Dahlien. Und Dieter ſtand, ſah zu und bewunderte ihr Werk über alle Maßen. Sie hatte dabei ein paar faſt glückliche Minuten. Es war ein ſo köſtlicher Genuß, mit dem vollen Reichtum von

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Blumen und Laub hantieren zu dürfen. Es unter- hielt ſie ſo überraſchend und ſo wohltuend, daß es ihr elang, Zweige und Blumen gefällig zuſammenzu⸗ ügen. Auch tat ihr ſein Lob doch wohl ſie ſpürte klar: wenn ihr „nein“ ihn gar nicht betrübt hatte er war ihr doch noch von ganzem Herzen brüderlich gut. Und dafür wallte eine heiße Dankbarkeit in ihr auf. Ihr war, als gehe ſie den ſchweren Stunden nun nicht mehr wehrlos entgegen, als werde ſie von einer feſten Hand heimlich gehalten.

Unterdes rollten gemächlichen Ganges die beiden Wagen auf der Landſtraße dahin. Lübbers gab das Tempo an, und er hätte um keines Menſchen willen die Braunen ſtrapaziert, noch ſich ſelbſt beſonders auf⸗ gerafft. Wozu Eile. „Woto ſo 'n Ihl!“ das war das Motto dieſes gelaſſenen Philoſophen. „Ik bün noch ümmer ankamen.“

Zwiſchen den Knicken brannte eine ganz ſommerliche Sonnenglut. Der Staub ſtand faſt in der Luft, 1 daß die Fahrt für die drei im zweiten Wagen nicht beſonders angenehm war.

Die Verteilung der ſechs Perſonen auf die beiden kleinen Gefährte, die wohl je vier Sitzplätze, aber für vier Sitzende keinesfalls Bequemlichkeit boten, war nicht einfach . Frau Generalkonſul Nottbeck ſah wiedermal mit ärgerlichem Erſtaunen, daß über⸗ haupt nichts mehr einfach war. Die zufriedene Ge⸗ mütlichkeit des von ihr bisher ſo ſicher beherrſchten Familienlebens ſchien verdorben.

Sie war ohne weiteres, ihren Gatten mit kurzem Blick an ihre Seite befehlend, in den erſten Wagen

eſtiegen. Nun war es ja ſelbſtverſtändlich, daß das

rautpaar zuſammenblieb. Alſo mußte das junge Ehepaar ſich teilen. Aber Doraline wollte nicht mit Irma fahren. Die Schweſtern ſtanden ſich täglich ſchlechter. Frau Generalkonſul Nottbeck, gerecht und offenen Auges, ſtellte immer wieder feſt: in den letzten Monaten nur durch Doralines Schuld. Früher hatte Irma die Kleine ja reichlich oft mit ihrer Überlegen- heit ein bißchen gepieſackt. Aber ſeit Irma Braut

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war, intereflierte fie ſich gar nicht mehr ſoviel für andre Menſchen, um irgend jemand ärgern zu wollen. Aber juſtement ſeitdem war Doraline wie beſeſſen und ſuchte in jedem Lächeln und Wort ihrer Schweſter irgend was. Und ſo ſchien es auch bei dieſem Aus⸗ fluge geratener, daß Doraline nicht mit dem Braut⸗ paar fahre; in Streit und Verſtimmung hätten die Schweſtern in Münchow ankommen können.

Alſo befahl Frau Nottbeck von ihrer Höhe herab, daß Borwin zu dem Brautpaar einſteigen ſolle. Sie ſaß, ihrem Manne gegenüber, ſchon feſt und ſicher auf den grauen Polſtern, und ihre Schultern ſtießen faſt an Lübbers' Rücken. Der zuſammengerollte Sonnenſchirm diente ihr als Zepter, und mit ihm regierte ſie hinunter auf ihre Töchter und Schwieger⸗ ſöhne. Aber gänzlich erfolglos.

Doraline lachte gereizt auf und ſagte: „Das könnte mir paſſen ... ich verbitte es mir, daß mein Mann mit Irma fährt.“

„Aber Dorli,“ rief Heinz Philipp amüſiert, „ich bin doch dabei ... Sie werden doch nicht auf eine Braut, auf meine Braut eiferſüchtig ſein!“

Irma verzog nur ein wenig das Geſicht. Es war aber ſprechend genug und ſteigerte Doralines Er⸗ regung.

„Ach was ich bin nicht eiferſüchtig! Auf Irma! Pöh!“ machte ſie und deutete mit ihrem Ton eine Perſönlichkeitshöhe an, von der aus es wohl unmöglich ſei, auf „eine Irma“ Eiferſucht zu fühlen. „Aber ich will meinen Mann neben mir haben, jawohl, das will ich!“ Sie ſtampfte mit dem Fuße.

Frau Nottbeck ſchüttelte den Kopf über ſo viel Unverſtand. Und ihr Mann ſah ſie erwartungsvoll an. Es ärgerte ihn, daß die Kinder ſeine Frau ärgerten.

In ihrer raſchen Art begriff ſie, daß dies vor den fremden Kutſchern nicht weiter 1 werden dürfe. Auch ſah ſie es Borwin an, daß es ihn peinlich berührte. Er ſagte nichts. Aber ſie war es ja ge⸗ wohnt, e |

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„Mann,“ ſagte fie entſchloſſen und zärtlich, „dann ſteig du zum Brautpaar ein.“

Sofort kletterte der Generalkonſul die Tritte hinab und ſtieg die am andern Wagen wieder hinauf.

Endlich ſaßen alle nach Wunſch, die Damen ſpannten ihre Sonnenſchirme auf, und die Fahrt ging los.

Der zweite Wagen befand ſich ſtets in der Staub⸗ wolke des erſten. Irma hatte einen rotſeidenen Staub⸗ mantel an und einen dichten Chiffonſchleier um Hut und Haar. Trotzdem ſchmeckte ſie den Staub im Mund und fühlte ihn trocken in den Naſenlöchern. Aber ſie wurde deshalb keineswegs übellaunig. Sie nahm es zum Anlaß, mit Heinz Philipp ſich auf franzöſiſch über die unbegreiflichen Anſpruchsloſigkeiten des guten Herrn Dieter zu unterhalten, worin ihr Verlobter, wie immer, mit ihr einer Meinung war. Und ſie ſagten: wenn ihnen das alles gehöre, dann ja, dann dies und dann das ... Und von ihren künftigen Pferden ſprachen ſie und was für Wagen. „Gar nicht oder erſten Ranges“, ſagte Irma von allen Dingen. Das war ganz Heinz Philipps Anſicht. Aber die Worte „gar nicht“ waren eigentlich nur ſo ein theoretiſcher Begriff. In der Praxis hieß es nur „erſten Ranges“. Und dem General⸗ konſul, ſo kulant er auch in der Geldfrage ſein wollte, würden doch ein wenig die Haare zu Berge geſtanden haben, hätte er mühelos Franzöſiſch verſtanden. Das tat er aber nicht, ſondern er druſelte ein bißchen vor ſich hin, und wenn er was dachte, dachte er höchſtens, wie gut es ſei, daß ſeine Frau den Staub nicht ſchlucke.

Im erſten Wagen hätte man freier atmen können. Aber da herrſchte eine Schwüle, die ihre Grade von der Glut zu nehmen ſchien, die zwiſchen den Knicken vibrierte.

Frau Nottbeck, voll und gedrungen, in ihrem dunkel⸗ blauen Staubmantel noch runder als ſonſt, ſaß auf⸗ recht unter ihrem gleichfarbigen Sonnenſchirm. Sie dachte voll Teilnahme, daß ihr Mann nun den Staub habe. Sonſt war ſie nicht weiter mit ihren Gedanken bei der Szene von vorhin. Sie war viel zu gemütlich veranlagt, um eine ärgerliche, kleine Geſchichte aus

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Du biſt blaß. 4 Du biſt wohl unglücklich, daß du nicht

Er dachte: Gottlob, daß Irma weit fortkommt. Hatte fie erſt geheiratet, brauchte man ſich nicht öfter zu begegnen als bei großen Familienfeſten.

„Mama, ſag mal ſelbſt, findeſt du nicht, daß Borwin ganz verändert iſt ſeit der Zeit, als Irma ſich verlobte?“ fragte Doraline.

„Natürlich iſt er verändert,“ ſagte Frau Nottbeck objektiv, „aber was geht ihn Irma an. Du allein wirſt wohl ſchuld haben mit deinen ewigen Eiferſüchteleien ohne Grund. Borwin, ich ſtaune oft über deine Ge⸗ duld. Du mußt ſtrenger mit Doraline ſein, ſie iſt zu jung, ſie muß noch erzogen werden.“

„Ja, wenn die eigene Mutter ſich gegen mich ſtellt!“ ſagte Doraline. Plötzlich ſchien ihr, als ſei dann doch noch Borwin mit ſeiner Liebe zuverläſſiger. Sie rückte ganz nah an ihn heran, ſchob ihren Arm in den ſeinen

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Fa ſich von der Seite gegen ihn, ſo eng wie möglich. Es war ſehr heiß. Und ſein Gemüt war ihm ſchwer.

Er begriff nicht, wie er die nächſten Stunden ertragen ſollte, wie Hardy, wie ihrer Mutter in die Augen leben... Ihm war, als fahre er einer Kataſtrophe entgegen als müſſe ſich irgend etwas Unheilvolles begeben ... Er hatte nach Vorwänden ſuchen wollen, um zurückbleiben zu können. Er wußte: es war ver⸗ gebens. Es gab doch kein Entrinnen. Nur der Zu⸗ fall hatte ihm dieſe Stunden bisher gnädig erſpart.

Immer wieder ſagte er ſich: es war ja keine Schuld, 5 ne ein ſchweres Erlebnis. Mir ſelbſt war ich ein

ätſe

Und dennoch kam er I als der Schuldbeladene vor, der die Stirn haben ſoll, denen zu begegnen, die er leiden machte.

Doralinens Kopf an ſeiner Schulter dünkte ihm eine unerträgliche Laſt

„Komm, Kleine, du wirſt zu Heiß..." ſagte er ſchonend und machte eine Bewegung, als wolle er ſich ihr entziehen.

Sie fuhr auf. Sie war gekränkt.

„Ich bin dir nur eine Laſt,“ ſprach ſie klagend.

„O Gott, wie iſt es heiß!“ rief Frau Nottbeck aus⸗ drucksvoll. „Guter Mann, können wir nicht etwas raſcher fahren?“

„Woto ſo 'n Ihl?“ ſagte Lübbers überlegen lächelnd, aber es kam ihm ſogleich eine Dämmerung, daß dies unhöflich wirken könne, und er ſetzte äußerſt entgegen⸗ kommend, tröſtlichen Tones hinzu: „Gleich Von wir nu auf Münchower Grund un Boden, denn ſoll'n die Herrſchaftens mal ſehn, wie die Braunen von allein fix losgehn.“

In der Tat wurden ſie etwas lebhafter, wenn auch von „fix“ keine Rede ſein konnte.

Aber Lübbers' bewährte ſich, „Ik bünn noch ümmer ankamen,“ bewährte ſich, und die Wagen hielten vor dem weißen Gattertor, neben dem die Pappeln ragten. Wie ein rieſelndes Gefunkel von

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hunderttauſend Flittern ging leiſe Bewegung durch das Blattwerk in den beiden ragenden, ſchmalen Baum⸗ körpern. Drinnen die grünen Raſenbreiten wirkten erquickend und beruhigend. Der Generalkonſul half ſeiner Frau fürſorglich herab; ſie war natürlich wie immer ganz friſch.

Doraline, noch beleidigt, ſtieß Borwins Hand zu⸗ rück. Aber es reute ſie gleich, und ſie hing ſich liebe⸗ voll an ſeinen Arm und flüſterte, hingebend zu ihm emporblickend: „Sei nicht böſe, Schatz. Ach, ich hab' dich wahnſinnig lieb.

Und er dachte, während er irgend etwas liebevoll Beruhigendes ſagte: Vielleicht ſteht „ſie“ hinter den Gardinen und ſieht uns kommen Und er hatte eine Aufwallung, über die er ſchwer erſchrak. Er wünſchte, daß gerade in dieſem Augenblick Doraline nicht ſo ſehr mit den deutlichſten Geſten der Hingabe zärtlich zu ihm emporflüſtern möchte...

In der Haustür war ſchon Herr Dieter von Arn⸗ berg mit lauten, lachenden Willkommsworten und kräftigen Händedrücken. Er hatte Borwin und Doraline noch nicht geſehen, und Frau Nottbeck hatte eine fröh⸗ liche, ſichere und warme Art, ihn nun mit dieſem ihrem erſten Kinderpaare bekannt zu machen.

Hinter dem Hausherrn wartete ein Mädchen, das ſo gewaſchen und geſtärkt und geſtriegelt war, daß man an eine friſch geſchrubberte Nudelrolle denken mußte. Sie bekam Befehl, die Damen in das eine Fremden⸗ zimmer zu geleiten und ihnen behilflich zu ſein. Den Herren wies er perſönlich das andre an.

Dieter trat dann ins Wohnzimmer, wo er Frau von Arnberg und Hardy vorfand.

„Heiß und verſtaubt ſind unſre Gäſte,“ ſagte er, „wir müſſen ihnen ein paar Minuten gönnen, damit ſie ſich beſinnen.“

Frau von Arnberg ging auf und ab. Ja, es ſei heiß, ſagte ſie, mit trockenem Munde mühſam ſprechend. Und ſie tat, als ſei ſie von der Hitze geplagt, und Pa ſich mit ihrem Taſchentuch gegen Mund und

tirne.

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Hardy war ftill.

„Merkwürdig,“ ſprach Herr Dieter, der ſich zwang⸗ los gegen den kalten Ofen lehnte, die Hände hinter dem Rücken verſchränkt, „ſehr merkwürdig, wie grün die Linden das Zimmer verſchatten. Das macht ein ſchlechtes Licht. Fräulein Hardy ſieht darin ſo blaß aus. Das iſt mir noch nie aufgefallen.“

Er ſah ſo aufmerkſam Hardy an, daß ſie, 5 durch ſeine Worte geängſtigt, unter dieſem Blick wohl erröten mußte. Mein Gott, dachte ſie verzweifelt, ſteht es mir denn auf der Stirn geſchrieben .. Über ihr Erröten, das er auf ſeine Weiſe auslegte, lächelte er. Und wurde auf eine glückſelige Art langſam faſt verlegen.

Es waren ein paar ſchweigſame Augenblicke voll Spannung

Um ſich und ihr zur Unbefangenheit zurückzuver⸗ helfen, fing er von den Gäſten wieder an: „Famoſe Erſcheinung, der andre Nottbeckſche Schwiegerſohn. Auffallend männlich,“ ſagte er.

„Männliche Erſcheinung iſt oft nur Attrappe,“ be⸗ merkte Frau von Arnberg kalt. Sie wanderte, wanderte, immerfort hin und her durchs Zimmer trug ſie ihre geheime Aufregung.

„Heinz Philipp deutete mir mal an,“ ſprach Herr Dieter halblaut weiter, „daß ſein Schwager in spe mit der kleinen Frau nicht recht fertig wird.“

Hardy fühlte, als könne ſie dies alles nicht eine Minute mehr ertragen

Gerade wollte Dieter fortfahren zu ſprechen. Da hörte man draußen Stimmen. Und die Tür öffnete ſich.

Lebhaft und breit kam Frau Nottbeck über die Schwelle. Irma eilte auf ihre Schwiegermutter zu und küßte ihr vielmals die Hand und empfing ihre Umarmung und einen Kuß auf die Stirn. Heinz Philipp begrüßte fröhlich und laut Mutter und Schweſter. Da war auch noch der Generalkonſul, der endlich ſeine herzlichen Händedrücke anbringen durfte. Es war ein großes Durcheinander von Be⸗ wegungen und Stimmen.

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Und dann ſprach Frau Nottbeck: „Hier, meine ver⸗ ehrte, gnädige Frau, bringe ich Ihnen nun auch meine andre Tochter und meinen lieben Schwiegerſohn.“

Doraline verneigte ſich. Sie war ja ſonſt zu ſicher und gut erzogen, um in einer geſellſchaftlichen Lage ſich verlegen zu fühlen. Aber dieſe hohe, magere, herriſche Frau mit den ſcharfen Zügen und dem hoch⸗ mütigen Blick ſchüchterte ſie irgendwie ein. Stumm küßte ſie ihr die Hand.

Auch Borwin verneigte ſich, ſehr ehrfurchtsvoll und ganz fremd.

„Aber ich meine, Sie kennen ja meinen Schwieger⸗ ſohn?“ rief Frau Nottbeck lebhaft.

„Allerdings,“ ſagte Frau von Arnberg in eiſiger Haltung, „Herr Eggsdorf war der Beſitzer des Häus⸗ chens, in dem wir in der Stadt wohnten. So kam es, daß wir uns einigemal begegneten.“

Hardy ſtand zitternd in der Tiefe des Zimmers und ſah mit großen, großen Augen auf dies alles.

Sie würden, ſie mußten ja nun auch zu ihr kommen . . . es gab kein Entrinnen N Ba

Da war auch ſchon Irma, ſchob gewiſſermaßen ihre Schweſter heran.

„Liebe Hardy, darf ich dich mit meiner Schweſter bekannt machen

Und Hardy ſah die an, die 8 den geliebten Mann genommen, die ahnungslos zur Diebin an ihr geworden mar...

Sie ſah eine volle, kaum mittelgroße, roſig weiße Frau, ſah ein weiches, unregelmäßiges Geſicht, von ee Haar flimmernd überkrönt, ſah in blaue, chöne Augen

Und dieſer unbegreifliche, tieferſtaunte Blick, der ſie traf, auf ihr ruhen blieb, faſt vor ihr entſetzt ſchien, der machte Doraline wieder verlegen, und ſie ſagte etwas linkiſch und banal: „Ich habe ſchon ſehr viel von Ihnen gehört, mein gnädiges Fräulein, und freue mich, Sie endlich kennen zu lernen.“

Gehört? Von mir? Von ihm? dachte Hardy dumpf ... Sie reichte aber ganz mechaniſch, eigentlich

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ohne ſich der Gebärde bewußt zu fein, der andern die Hand hin.

Hat er zu ihr von mir geſprochen? fragte ſie ſich. Niemals war ihr u ſch Gedanke gekommen. Nun war er da, wie ein ſchreckliches Echo antwortete er auf die harmloſen Worte der andern.

Sie fühlte, daß Borwin herantrat daß er vor ihr ſtand.. N Sie hatte mit geſenkten Lidern, bleich und un⸗ beherrſcht gewartet. Nun hob ſie den Blick empor zu ihm ... ſie ſahen ſich an.

Vielleicht nur die Dauer einer ſchnell vorbei⸗ huſchenden Sekunde lang... |

Ihnen aber war es, als umfaſſe dieſer Blick das ganze Stück Leben voll Glück und Leid, das ſie zu⸗ ſammen durchlebt. Und ſie dachten beide zugleich an den kräuterig duftenden Sommermorgen im Walde, da ſie ſich in erſter Liebesſeligkeit geküßt und an jene naſſe, ſternenloſe Nebelnacht, da er ihr Herz zer⸗ trat und von ihr ſchied.

Und Hardy erbebte vor Zorn und Scham über die Roheit des Schickſals, das ihr dieſes Wiederſehen auf⸗ zwang |

In dieſem Zorn fand fie Kraft. Es war ihr ſelbſt ein Rätſel, wie ſie das konnte, was ſie nun tat.

Sie reichte ihm ihre Hand hin faſt nur die Finger⸗ ſpitzen und ſagte klar und kalt: „Vielleicht erinnern Sie ſich meiner von damals her, wo wir Ihre Mieter waren?“

Und er, im erdrückenden Bewußtſein der furcht⸗ baren Lage, in der er ſich hier dieſer Mutter und dieſem Mädchen gegenüber befand, er antwortete: „Ich bin

lücklich, die Damen jetzt auf einem ſo herrlichen ohnſitz zu finden.“

Während dieſer Minuten hatte Herr Dieter lebhaft mit Heinz Philipp geſprochen. Den übrigen Anweſen⸗ den aber war die eiſige Haltung, der ungewöhnliche Ton der Frauen nicht entgangen. Die Mutter ſchien wie von Hochmut umpanzert, die Tochter, als ſei ſie einer Ohnmacht nahe. |

XXVIII. 2. 12

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Frau Generalkonſul Nottbeck, als erfahrene Realiſtin, dachte flink: Wer weiß, die ſind gewiß Borwin xmal die Miete ſchuldig geblieben ſind ihm vielleicht noch was ſchuldig, und nun ſchämen ſie ſich. Ich will ihn doch mal fragen.

Der Generalkonſul glaubte gutherzig: Es iſt ihnen

ewiß fatal, daß Borwin früher in ihre pauvre Wirt⸗ (gef hat 'reingucken können. An jo was mag kein enſch hinterher erinnert werden. Solche Art Geniertheit hätte er ganz ſelbſtver⸗ ſtändlich gefunden.

Aber beide, Mann und Frau, hatten den ſchonen⸗ den Gedanken: das iſt ja nun vorbei man muß ihnen drüber weghelfen. Und wie in verabredeter, gemeinſamer Lebhaftigkeit widmeten ſie ſich jetzt Frau von Arnberg. | s

Irma fühlte: da ſtimmt etwas nicht! Die haben gewiß Arger miteinander gehabt. Gott, Hauswirt und Mieter! Das kennt man. Das zankt ſich erbittert um jeden Tapetenfetzen.

Und Doraline endlich, in raſch n ſtets auf der Lauer bereiten Eiferſuchtsgedanken, ſah ganz perplex von Hardy auf Borwin ... Kannten die ſich näher? Hatte die ſich am Ende Hoffnungen auf ihn gemacht? Das „die“ betonten ihre Gedanken faſt geringſchätzig.

Man ging zu Tiſch. Herr Dieter bat den General⸗ konſul, Frau von Arnberg zu führen. Er ſelbſt wollte der Frau Generalkonſul und Doralinen den Arm reichen. Borwin hatte er zum Tiſchherrn Hardys beſtimmt. Dieſe Anordnung war ja gegeben. Hardy hatte ſie vorausgeſehen und vor ihr gezittert.

Aber Doraline hing ſich an ihres Mannes Arm und ſagte erkünſtelt lachend, daß Herr von Arnberg es ſo ſehr übelnehmen könne, wie er wolle, aber ſie müſſe neben ihrem Borwin ſitzen.

Und ſo geſchah es, daß Borwin ſich unten an der Schmalſeite der Tafel fand, rechts von ihm Hardy und ihr gegenüber Doraline, zu ſeiner Linken. Und oben an der Tafel ſaß Frau von Arnberg, rechts und

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links von ihr an der Längsſeite der Generalkonſul und Herr Dieter von Arnberg.

Das Mahl war ſo weit von einem Gabelfrühſtück entfernt wie ein Bärenſchinken von einem Sandwich. Es kamen eine kräftige Hühnerſuppe auf den Tiſch und ungemein große Fleiſchſtücke, eine Taubenpaſtete zwiſchendurch, in deren großem tiefen Rund Tauben⸗ brüſte ſich mit Morcheln in einem dunkeln Rotweinſud drängten. Gemüſeſchüſſeln, groß und voll, daß ein Vegetarianer ſich zwei Tage lang an ihnen hätte ſatt eſſen können. Und viele Kriſtallſchalen voll Kompott, eine förmliche Überſicht von allen Früchten, die zu allen Frühlings⸗, Sommer⸗ und Herbſtzeiten in Münchow reiften. Zuletzt ein Pudding, der geradezu Winterbehaglichkeit hätte um ſich verbreiten können, ſo warm und dampfend war er, und ſo feſtlich ſpickten die Roſinen ſeine goldgelbe Maſſe.

Aber nur die geringere Anzahl der Tiſchgenoſſen würdigte dieſe gediegenen Gerichte. Eigentlich taten es nur Herr Dieter und das Nottbeckſche Ehepaar, die beide rüſtige Eſſer waren. Frau von Arnberg zum Schein. Hochaufgerichtet ſaß ſie, in wahrhaft könig⸗ licher Haltung, und während ſie liebenswürdig mit den künftigen Schwiegereltern ihres Sohnes plauderte, war ihr Mutterherz voll großer Not um ihre Tochter. Was mochte Hardy leiden? Wie ertrug ſie dies? Brach ſie nicht zuſammen? Und wenn nur ein Löffel klirrte, zuckten die Lider der Frau, und entſetzt dachte ſie: iſt Hardy ohnmächtig geworden? Doch ſah ſie Hardy bleich und ziemlich ſchweigſam, aber aufrecht ſitzen. Vielleicht wurde Hardy, gerade wie ſie ſelbſt, durch Herrn Dieters Benehmen gehalten und geſtützt wie von milden und doch kräftigen Händen. Es war auf⸗ fallend, dies Benehmen, das mußte jeder finden und fand es auch. Der ſtolzen, tiefverwundeten Frau aber war es Balſam.

Herr Dieter nämlich kümmerte ſich unausgeſetzt um Hardy. Die Tafelrunde war ja gerade noch ſo klein, daß er es konnte, ohne zu laut werden zu müſſen. Er erzählte, daß ſie es geweſen ſei, die dieſen Tiſch ge⸗

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ſchmückt habe, und den er, obſchon er halb und halb Hausherr ſei, deshalb loben und bewundern dürfe. Er ſchickte eines der beiden aufwartenden Mädchen mit einer Glasſchale voll eingemachter Erdbeeren zu Hardy hin. Er erzählte den Anweſenden, daß Hardy ſich ſeit dem Frühling ſehr erholt habe, nur zufällig heute ſehe ſie auffallend elend aus, und er fürchte, ſie habe ſich geſtern abend erkältet; er mache ſich Vorwürfe, weil man zu lange im Mondſchein im Park auf der Bank geſeſſen habe. Als das Obſt kam, ſuchte er zwei Pfirſiche von beſonderer Schönheit aus und ließ ſie Hardy bringen, und auf ihren Dankesblick nickte er ſo ſtrahlend herzlich, daß alle für einen kurzen Moment verſtummten. Dies war ſo über alle Begriffe naiv oder ſo ſehr ab⸗ ſichtsvoll, daß es nur zwei Deutungen zuließ: ent⸗ weder war Herr Dieter von Arnberg in Hardy ganz und gar verliebt, oder er wollte abermals, wie ſchon auf Heinz Philipps Verlobung, das arme, arbeitende 1 als vollgültiges Familienmitglied geehrt ehen. 3 Heinz Philipp und Irma waren ſo ſtark davon be⸗ ſchäftigt, daß ſie förmlich auf die Gelegenheit brannten, ſich darüber auszuſprechen. Sie dachten genau das gleiche: wenn Dieter denn heiratete, und das ſchien er ja wohl durchaus vorzuhaben, konnte es gar nicht beſſer kommen, als daß er Hardy nähme und auf dieſe Weiſe auf das engſte mit ihnen verwandt würde. Und an ihren Lebensanſprüchen ſteckten ſie die Pflöcke ſofort noch bedeutend vor. Irma beſonders fühlte noch eine Genugtuung der Schweſter und den andern Verwandten gegenüber, denn ſchließlich hatte ſie doch allerlei, vor allem von Frau Eggsdorf, über Heinz Philipps armen Anhang einſtecken müſſen. Es ſchien wirklich, nach der Szene von erhält als habe Borwin Eggsdorf in die kläglichen Verhältniſſe unerwünſcht deutlich hineinſehen können. So genoß ſie es vorweg, daß ſie ſpäter mit dieſer gleichen Schwägerin recht auf⸗ trumpfen wollte.

Auch das Nottbeckſche Ehepaar dachte ſo, und Frau Nottbeck war mit ſich zufrieden, daß ſie ſich von vorn⸗

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herein „jehr nett“ gegen Hardy benommen und fie wiederholt eingeladen gehabt habe.

Doraline war dies ganz egal. Sie fand Frau von Arnberg „gräßlich“ und Hardy „völlig Null“. Ganz hübſch und trotz des einfachen Batiſtkleides auch recht diſtinguiert. Aber fo ſtill. Vielleicht dumm... Und Doraline konnte auch gar nicht darüber fortkommen, wie ſonderbar dieſe Eberhardine von Arnberg erſt fie, dann ihren Mann angeſehen hatte wie entſchieden auffällig dieſe Begegnung gewirkt hatte. Ganz gewiß, die hatte früher mal irgend etwas mit Borwin gehabt ... entweder Streit, wie Mieter mit Haus⸗ wirten haben, oder... wirklich gehofft? War er vielleicht ſehr nett mit ihr geweſen? Aus Mitleid? Und ſo arme Mädchen hängen A dann gleich mit Verſorgungsabſichten an einen Mann, der ihnen mal extra freundlich guten Tag jagt... das kannte man a 2

13 =

Doraline fühlte ſich durch dieſe Gedanken auf- geſtachelt, dem Mädchen zu zeigen, wie glücklich Bor⸗ win mit ihr ſei, wie er und ſie ſich liebten.

Zu ihrer geheimen Empörung machte er es ihr ſchwer, mit ihrer Liebe zu glänzen. Er ſah ſie kaum an. Er war ſo wortkarg. Was war denn das nun wieder? Ach, er trug es ihr wohl nach, weil ſie ihn wieder einmal wegen Irma gequält hatte. Er mußte aber doch fühlen, daß es nur alles unendliche Liebe ſei. Um einen Mann, den man nicht raſend liebt, regt man ſich nicht auf. Aber wenn es ihn denn ſo ärgerte, wollte ſie auch nicht mehr von der früheren Geſchichte anfangen; zum hundertſten Male nahm ſie es ſich vor.

Um nun in dieſer Stunde vor dem armen Mäd⸗ chen mit dem Reichtum ihres Eheglücks zu protzen, ſchmeichelte ſie in Wort und Blick ihrem Mann ein Lächeln ab. |

Und Hardy mußte es hören und jehen...

Wenn es denn eine Schuld war, fühlte der Mann, jo büß' ich ſie in dieſer Stunde ab...

Ihm war, als ſei er in einen Tumult ohne Sinn und Verſtand hineingeriſſen. Alle Wirklichkeiten hatten

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ich umgekehrt. Alle Erinnerungen trogen. Sein Ge⸗ dächtnis verſpottete ihn.

Da oben, zu Häupten des Tiſches, ſaß in der Hal⸗ tung einer Königin eine Frau, deren ſtolzem Blick er nicht zu begegnen wagte. Hatte er dieſe ſelbe Frau nicht in vertragenen Kleidern, mit zerarbeiteten Händen, von Sorgen zerplagt, vor Erregung oft halt⸗ los gekannt?

Und hier neben ihm ſaß eine, die von vornehmer Würde wie getragen ſchien, deren ganzes Weſen ſtille Abwehr war. Schön ſah ſie aus in dem weißen Kleide, jung und zart. Nicht aufdringlich, üppig, leuchtend ſchön von adliger Art war dieſe Schönheit, beſeelt und keuſch. Und der namhafteſte Mann an dieſem Tiſche nicht nur, einer der erſten unter Tauſenden ſeiner Standesgenoſſen huldigte ihr, trug ſie mit für⸗ ſorglicher Liebe... Er, Borwin, er fühlte ganz ge⸗ nau: es war Liebe!.

Hatte er dieſes ſelbe Mädchen nicht gekannt, wenn ſie im immer gleichen, beſcheidenen, ſchwarzen Kleide, blaß und abgeſpannt vom Amte kam und ihrem engen Heime zuhaſtete, wo ein dürftiges Mahl ihrer wartete eine Arbeitsſklavin, kaum unterſcheidbar von all den Tauſenden, die Tag um Tag ihr bißchen Jugend vergeſſen müſſen, um ſich tapfer für ein ehrliches Stück Brot zu mühen? Ja, hatte er ſie nicht jo gekannt...

Und ganz langſam, unter dem Widerſtreit zwiſchen dieſer Gegenwart und ſeinen Erinnerungen, wuchs eine Frage in ili empor

Wie würde ſich alles entwickelt haben, wenn ich damals nicht armen, arbeitenden Frauen gegenüber⸗ geſtanden hätte? |

Wohl hatte ſeine Großmut zu jener Zeit ſehr ge⸗ litten, weil er dem armen Mädchen ſein Herz und da⸗ mit eine ganze Zukunft entzog das wußte er noch deutlich ... Er hatte ſich ſelbſt vielleicht ſogar rein⸗ licher, gewiſſenhafter gedeucht, weil er dieſen Um⸗ ſtand betrachtete, vor ihm zögerte, unter ihm litt. Nun kam ihm doch undeutlich die Furcht: war das alles Selbſtbetrug geweſen? 5 |

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Er hatte geglaubt, da er kein Held der Beſtändig⸗ keit ſein konnte und einen ſchmerzlichen Gefühlswandel in ſich erlebte, ſich als Held der Wahrhaftigkeit ſein volles Mannesbewußtſein retten zu können. Alles Gelbitbetrug?

Wie, wenn ſich nun damals alles umgekehrt zu⸗ getragen hätte? Wenn er Hardy erſt kennen gelernt, als ihn ſchon Liebe mit Doraline verband? Würde er ſich dann nicht erinnert haben, daß es Lagen gibt, in denen rechtzeitige Flucht die höchſte Tapferkeit iſt?

Was haſt du gewagt! ſchrie eine heimliche Stimme ihm zu. Alles verkehrte ſich ihm in Schuld, was er ſo lange nur als unentrinnbares Verhängnis, als eine Laune der unbezwinglichen Natur angeſehen .. Er dachte: Wenn dieſe beiden Männer wüßten . .. dieſer Bruder und Sohn, der von echtem Adelsſtolz, wahrer Offiziersehre und tauſend kleinlichen Eitelkeiten in einem heilloſen Durcheinander ganz erfüllt 10 ei und dieſer andre Mann, aus dem eine große, einfache, gütig⸗fröhliche Menſchlichkeit ſpricht, er würde mich ja wohl erſchlagen, wenn er wüßte denn er liebt fie und er zeigt es in wunderbarer Offenheit... und ich hatte nicht den Mut... |

All dieſe Gedanken, die durch ihn hinzogen wie man in einem Traum von Minuten durch eine ganze Reihe ſchrecklichſter Erlebniſſe fliegen kann all dieſe Gedanken hatten nicht nur ein raſches Leben, ſie hatten auch ein furchtbares ... immer weiter gebar einer ſich aus dem andern ſie kreiſten im Hirn des Mannes. | Ä

Nun war ſchon die Furcht da, daß auch Hardy alles anders anſähe und alles anders fühle als damals, wo ſie das himmliſche Wort ſprach: Ich verzeihe dir! Und wenn er ſein halbes Leben darum hingeben ſollte: er mußte ſie noch einmal fragen und das Wort noch einmal hören!.

Und in verzehrender Qual war auch die Wißbegier da: liebt ſie dieſen Mann wieder? Hat ſie mich über⸗ wunden? Wird ſie ihn ſuchen d um zu triumphieren? Oder um das Glück zu ſuchen? Er mußte ſie danach

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fragen er mußte! Ihm war, als gäbe es zwi⸗

ſchen zwei Menſchen, die ſich einmal lieb gehabt

Rechte dennoch unzerreißbare Fäden, unverlierbare echte.

Seine Stirn wurde feucht. Er hatte manchmal ſo viel Beſinnung, daß die Furcht ihn überkam, hier an dieſer Tafel eine klägliche Figur zu ſpielen. Und dann nahm er ſich zuſammen und ſprach mit ſeiner Frau und ſprach mit Hardy, irgendwelche flachen Worte.

Hardy hatte ihre erſte Erregung bezwungen. Sie ſaß hier in ſcheinbar ruhevoller Haltung; ohne ſtolze Geſten wie die Mutter, auch ohne erkünſtelte Leb⸗ haftigkeit in einem einfachen Ernſt des Weſens.

Als ſie an ſeinem Arm zu Tiſch gehen mußte, während an ſeinem andern Arm die roſig weiße, girrende Frau hing, da dachte Hardy kurz: wie oft mag das fo Sein im Leben ... zwei Menſchen, die vor⸗ einander lieber bis ans Ende der Welt fliehen möchten, müſſen hübſch zuſammenſitzen ... ſich auf die Folter des Scheines ſpannen laſſen ... man ſieht es nicht, wie fie heimlich bluten ... weil ſie lächeln und heucheln .. furchtbar, qualvoll ... fie dachte an die Mahnun der Mutter: Verſchließe es in dich, ſo feſt und tief, da der Mann ſelbſt ſich kaum zu erinnern wagt. Sie war ſich bewußt, vorhin nicht ganz beherrſcht geweſen zu ſein. Unter dieſen Gedanken litt ihr Stolz. Und dieſes Gefühl half ihr nun.

Und nun erſt, da das Entſetzen über dies Wieder⸗ ſehen verbrauſte, da eine ſchmerzliche Stille über Hardy kam, nun erſt ſah ſie ihn recht und die Frau

Sie wußte nicht, was das war, was eigentlich Dora⸗ linens Weſen beſtimmte ... fie ſah weiche Bewegungen und ſprechende, faſt verſchleierte Blicke, die die Blicke des Mannes einzufangen ſuchten ſie ſah ein zärt⸗ liches Lächeln. Und das flimmernde Haar gehörte ſo ſehr dazu ebenſo wie die köſtlichen Farben. Durch die derben, großmaſchigen Spitzen des weißen Kleides leuchtete ein weißer Hals die runden Arme, vom 8 ab nackend, hatten eine träge Art, ſich zu

eben... | 1

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Eine ungeheure Abwehr gegen dieſe reizende junge Frau ſtieg in Hardy empor... das wurde ſtärker . immer ſtärker ... wurde gereizt durch jedes Lächeln, jeden Blick.. Und wuchs bis zum großen Zorn⸗ e um dieſer willen habe ich alles verlieren müſſen N

Sie begriff inſtinktiv: dieſe Frau war das völligſte Gegenſpiel ihrer eigenen Art... Davor machte ihr Verſtehen, ihr Verzeihen halt, bäumte ſich dagegen auf, ſank zurück, geriet in einen Abgrund, der von Unklarheit, von einem Tumult aller Gefühle erfüllt war Um dieſer willen. |

Und ſie ſah auch den Mann nun deutlicher, den Be dem ſie feine ungeheure Tat verziehen

atte... | |

Sie erkannte die ſcharfe Spannung in ſeinen Zügen, ſah, wie ſein männliches Geſicht verfärbt war, daß es einen elenden, gealterten Ausdruck zu haben ſchien. N daß er litt. Und bemitleidete ſeine Leiden n

icht.

Plötzlich begriff ſie es, daß ſich in ihr irgendeine Empfindung richtend über ihn erhob. Sie erſchrak davor. Sie dachte: ich habe ihm doch verziehen? Wie man ſich ſelbſt etwas fragt... Sie klammerte ſich daran, nein, das ſollte, das durfte ihr nicht ſo jäh, ſo überraſchend abhanden kommen

Das war doch nicht ein edles Gefühl geweſen, ins Gegenſtandsloſe hinein ... eine weiche, ſchöne Emp⸗ findung zum Selbſttroſt oder zum... Selbſtbetrug?

Nein, ich habe ihm verziehen, I fie fait be⸗ fehlend in ihre gehetzten Gedanken hinein. Was wäre noch Verzeihung, wenn ſie zerflattern könnte wie Nebel vor einem Windſtoß? Was wäre ſie, wenn ſie nur liebevoll weinen könnte, in ſicherer Ferne und ſich in Zorn wandelte beim Anblick des Schul⸗ digen ...? Nichts wäre ſie als ein ſchönes, klangvolles, betrügeriſches Wort... |

Frau von Arnberg erhob ſich. Etwas zu früh, fand Dieter, denn man hatte, nach ſeiner Meinung,

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ausnehmend gemütlich beiſammen geſeſſen. Er mochte die Nottbecks wohl leiden, beſonders die Frau, die ihren Mann ſo ſtramm und herzlich zugleich an der Strippe hatte. Er dachte: Wenn ſo 'n Mann ſich ſolch Regiment gefallen läßt, hat er's auch nötig, regiert zu werden; das ſind Ausgleiche. Er mochte auch Irma nicht ungern: mehr Verſtand und Temperament als Herz, taxierte er, und viel weltliche Eitelkeiten. Aber weil ſie Verſtand hat, kommt ſie mit den Eitelkeiten und mit ſich noch nach und nach zurecht; ſolche Art Frauen werden durch ihre kleinen Kinder zu rechten Weibern erzogen. So hatte es ihm bei Tiſch gut ge⸗ fallen, um ſo mehr, als er bequem ſchräg hinüber zu Hardy ſehen konnte und durchaus fand, daß ſie zehn⸗ tauſendmal ſchöner ausſähe als die pikante Weltdame Irma und dieſes verliebte Schnurrkätzchen Doraline. Er hatte eine halbe Ahnung von ſeinem eigenen, etwas ruſtikalen Ausſehen und Weſen, um ſo heißer bewunderte er Hardys Erſcheinung und Haltung; das ſchien ihm auch „Ausgleich“. Denn vornehmer und diskreter konnte keine Frau auftreten, dachte er.

Es zeigte ſich, als man nun unter der alten Silber⸗ pappel hinter dem zur Kaffee nahm, daß Frau Nottbeck ein kleines Schläfchen allen Spaziergängen und Stallbeſichtigungen vorziehen würde. Und ſie ſagte es ihrem Mann auf den Kopf zu, daß er das 9 Verlangen habe. Nichts war Frau von Arn⸗ erg willkommener. Ihr Körper, aufgerieben vom Leben voll Arbeit, war nicht ſo leiſtungsfähig wie ihr Geiſt. Die Haltung, die ſie ſich abgerungen, rächte ſich, ſie fühlte eine plötzliche Nervenabſpannung über ſich kommen und dankte Gott, daß ſie ſich auf eine kleine Stunde zurückziehen durfte.

Mit unausſprechlichem Behagen ſtreckten ſich Nott⸗ becks auf die friſchen, von lavendelduftiger, ſteifblanker Leinwand appetitlich glänzenden Betten hin, die Fräu⸗ lein Krull vorbereitet hatte.

„Irma kommt da prachtvoll 'rein,“ ſagte Frau Nottbeck, „wenn nun Arnberg die Schweſter von Heinz Philipp heiratet, das macht es noch anſehnlicher ..“

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„Es koſtet aber auch viel Geld,“ antwortete er, müde und etwas überfüllt von dem derben Eſſen.

„Pöh Geld!“ ſprach ſie. Und ſetzte nach einer Weile hinzu: „Irma iſt klug. Und weil ſie klug iſt, jagt fie halt ,‚ſtopp“, ſobald ſie merkt, daß das zuviele Ausgeben ihr Erbteil ſchmälert. Die lernt ſchon rechnen. Nich von heut auf morgen natürlich nich. Aber wenn ſie auch erſt mal 'n bißchen flott ins Zeug geht: wir können es ja gottlob mit anſehen.“

Nun hörte ſie, daß er in regelmäßigem Rhythmus kleine dusche Atemſtöße gegen ſeine Lippen ſtieß.

Da kuſchelte auch ſie ſich behaglich zurecht und ſagte noch: „Mann, weck mich Punkt halb vier.“ Und ob⸗ gleich er eigentlich ſchon ſchlief, gab ſie ſich doch mit völliger Sicherheit nun auch ihrem Schlummer hin, ganz gewiß, Punkt halb vier geweckt zu werden.

Draußen ſchlug Herr Dieter vor, daß man nun einen Rundgang durch Park und Wirtſchaftshöfe machen wolle.

„Ach ja!“ rief Doraline, denn ſie verging vor Sehn⸗ ucht danach, mit ihrem Mann allein zu fein. In irgendeinem ſtillen Parkwinkel wollte ſie ihn fragen, was dieſe ſonderbar ſteife Begrüßung, dies halb feind⸗ liche, halb verlegene Weſen zwiſchen ihm und den Arnbergſchen Damen denn zu bedeuten habe; ganz küſſen. aber wollte ſie ihn endlich wieder einmal

en.

Sie hatte ſich aber verrechnet. Noch ehe ſie ſich an Borwins Arm hängen konnte, nahm Herr Dieter ohne weiteres den ihren. Er war ſich als Hausherr bewußt, daß er ſich auch einmal dieſer jungen Frau recht widmen müſſe, mit der er noch kein eingehendes Geſpräch hatte führen können. Da nun Heinz Philipp ſeine Braut einhakte, ſo kam es von ſelbſt, daß Hardy neben Borwin gehen mußte. Vor ihnen waren Dieter und Doraline, hinter ihnen das Brautpaar. Dies aber ſchlug den erſten Seitenweg ein, der ſich fand, denn ſie hatten ſich auf das dringlichſte unbelauſcht auszuſprechen über die Beobachtung bei Tiſch und all die Luftſchlöſſer, die ſie flink zu bauen begonnen.

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Obgleich Borwin kaum die flüſternden Stimmen und die leichten Schritte der beiden jungen Menſchen hinter ſich verſpürte, merkte er es doch auf der Stelle, als ſie aufgehört hatten, ihm und Hardy zu folgen.

Er ging langſamer, trachtete, daß Dieter und Dora⸗ line eine Wegesſtrecke voran kämen.

Dieter ſprach fröhlich und laut, und nun lachte er erade hell hinaus über eine ſehr drollig unverſtänd⸗ iche Frage, die Doraline über Landwirtſchaft getan.

„Gönnen Sie mir zwei Minuten,“ bat Borwin raſch und leiſe, „ich muß mit Ihnen ſprechen ... ein⸗ mal noch

„Nein,“ ſagte Hardy. „Nein

„Einmal noch ... flüſterte er dringend.

„Nein.“

Vor ihnen Herr Dieter, mit der jungen Frau am Arm, ſchlug den breiten Heckenweg rechts ein, der zu den Ställen führte. Sie ſahen ſich um und riefen.

„Ja ja!“ ſagte Hardy. | 8

Die geſchorene Hainbuchenwand war wie eine Ku⸗ liſſe. Herr Dieter und Doraline verſchwanden in ihr.

Hardy hob den Fuß eiliger ſie trachtete ihnen

nach.

Da erfaßte Borwin ihre Hand.

„Ein Wort nurn

„Nein,“ ſprach ſie heiß und angſtvoll. „Nein keines mehr nie“

Sie entriß ihm ihre Hand. Sie eilte weiter.

Aber weil es mit fluchtartigen Empfindungen war, daß ſie eilends davonſchritt, nahm ſie den Weg gerade⸗ aus immer geradeaus ... in jenem Gefühl, das Wände durchbrechen und Mauern zerteilen möchte, um der Gefahr zu entrinnen. Ä

Sie ſah nichts, wußte nichts als dies eine: nicht allein ſein mit ihm ſeine Stimme nicht hören. nichts mehr wiſſen . . . nicht von ihm nicht von mir...

Er blieb faſt neben ihr. |

„Hören Sie mich an, Hardy ich bitte Sie. 5 5 85 begriffen: ich finde keine Ruhe mehr, wenn ich nicht

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„Nein,“ ſagte fie.

Sie wußte nichts als „nein!“ Tauſendmal nein!

Zwiſchen den breiten, offenen Raſenflächen zog ſich der Weg hin. Die über ihn ſo eilig ſchritten, konnten von überall her, aus den Fenſtern des Hauſes und von den verſchiedenſten Punkten des Parkes aus ge⸗ ſehen werden.

Aber hinter den von der Sonne beprallten und von drinnen verhangenen Fenſtern in der weißen Mauer lauſchte niemand.

Herr Dieter und Doraline indeſſen, dieſe beiden ſahen die Eilenden wohl. Die junge Frau hatte ſich vergebens nach ihrem Gatten umgeſehen und war ſofort, ihrer Art gemäß, von eiferſüchtiger Unruhe er⸗ faßt ... immer ſollte er vor ihren Augen ſein

Sie zwang Herrn Dieter, mit ihr umzulehren

Noch ruhte die Nachſtimmung des Mittags chweigens auf den grünen Flächen, und die Hitze zitterte in ſicht⸗ baren Wellen über den Gebüſchen. Umflimmert von der ſtarken Sonne ſtanden die mächtigen Wipfel der alten Bäume, durch weißliche große Lichtflecke ſchienen ſie ſeltſam entfärbt.

Immer geradeaus ging Hardys Weg. Aber nun ſchnitt er durch eine Tannengruppe, die halbwüchſig und feierlich grün ihre Armzweige auf das Gras nieder⸗ ſenkte. Und nun führte er durch ein kleines Rund, von waldartigem Dickicht umſchrankt, wo eine alte Bank ſtand aus entſchälten Aſten, 15 ee und vom ſteten Schatten grünlich dunke

Hardy ſank dort nieder. Ihre erben Füße trugen ſie nicht mehr.

„Wozu!“ rief ſie, „wozu?! Wir haben nichts mehr zuſammen zu ſprechen. Nein, nichts mehr.“

Sie weinte auf. Sie legte ihre beiden gefalteten NER feſt gegen ihre Augen und biß ſich auf die

ippen. Sie wollte ſich ja fallen .

„Hardy,“ ſagte er, „was heute in mir vorgeht, kann ich nicht beſchreiben. Es iſt furchtbar. Alles ee ſteht auf, N von plötzlich ganz anders aus ... ganz anders!

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Echt mach. ganz anders ... ſprach fie ihm wie ein

„Ich finde keine Ruhe fortan das fühle ich außer wenn Sie es mir noch einmal ſagen, daß Sie mir verziehen haben, daß es nicht nur eine Aufwallung war damals ... eine erſte Großmut .

Ihre gefalteten Hände ſanken langſam herab und ruhten in ihrem Schoß.

Sie ſah ihn mit großen Augen an . . entſetzt fait, daß es ſchien, als habe er fie erraten .

Sie wollte ſagen: Ich weiß es nicht. . nein ich weiß es nicht.

Aber dies Nichtwiſſen betäubte ſie geradezu war ihr ſo rätſelhaft ließ ſie verſtummen.

nd indem er wartete auf dies erſehnte Wort, das ihm das Leben wieder ertragbar machen ſollte, ſtieg eine unerhörte Erregung in ihm empor.

Seine Empfindungen wurden zum Verräter an jungen Frau

Warum hatte 25 dieſes liebe, tiefe, holde Geſchöpf verlaſſen?

Warum die andre geheiratet, die ihn mit ihrer un⸗ erſättlichen Liebe verfolgte, einen Sklaven aus ihm machte jo daß immer ſtärker, immer deutlicher Über- druß in ihm aufquoll ... Warum? Ja, warum? Und eine furchtbare, brutale Antwort blitzte auf, erhellend, vernichtend: weil ſie nur durch Heirat zu haben war weil ſeine Begierde nach ihrer von Sinnlichkeit durch⸗ glühten Jugend gejtanden .

Und wie er einſt Hardy verlaſſen, ſo verließ nun Hardy ſein Andenken und gab ihre Hand dem andern Mann.

Ihm war, als könne er das nicht ertragen ... ihn, Doralinens Mann, packte eine tolle Eiferſucht.

„Hardy,“ begann er außer ſich, „ſei doch barm⸗ herzig ſag doch ein Wort ein kleines, gutes Wort wenn du wüßteſt ... wenn ich alles ſagen 5 1 nicht ſehr glücklich geworden ... nein. das nicht.

Sie ſprang auf. „Schweig!“ ſtammelte ſie, „ſchweig!“

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Nein, keine Geſtändniſſe ... Nicht das eine furcht- bare, daß alles vergebens geweſen ſei, daß er ihr Herz zertreten hatte um einen Irrtum, ſie hingeopfert um einen Rauſch .

„Schweig!“ ſagte ſie noch einmal und wollte an ihm vorbei.

Da griff er nach ihrer Hand und bedeckte ſie mit leidenſchaftlichen Küſſen. Sie wollte ſie ihm ent⸗ reißen .. . er hielt ſie feſt ... er wußte gewiß nicht mehr, was er tat ... denn da ſie ſich, nach Freiheit ringend, ihm ſo heftig entziehen wollte, legte er den Arm um ſie, zog ſie an ſich.

„Hardy, Hardy,“ murmelte er.

„Laſſen Sie mich!“ ſchrie ſie auf.

dann, in furchtbarem Schrecke, ſtand ſie wie verſteinert.

„Ah,“ ſagte Doraline, geſättigt, ganz geſättigt von dem Triumph, endlich zu wiſſen, „alſo die iſt es ge⸗ weſen, die

Das war ihr erſtes Gefühl. Dieſe eine faſt auf⸗ jubelnde Befriedigung, nun die zu kennen, die Borwin um ihretwillen verlaſſen hatte.

So ſtand ſie da in der Mündung des Weges weiß im dunkelgrünen Rahmen, hochatmend, mit fun⸗ kelnden Augen.

Hinter ihr der große Mann hatte einen heißen Kopf. Jäh war ihm alles Blut emporgeſtiegen.

Mit herriſchen, zornigen Blicken ſah er den andern Mann an.

„Sie werden mir Rechenſchaft geben,“ ſprach er.

Borwin war plötzlich ruhig, merkwürdig ruhig.

„Jede, die Sie wünſchen,“ ſagte er und ſah Herrn Dieter furchtlos, reuelos in die Augen. So furchtlos, % ruhig wie einer, der nach unerträglicher Schwüle

em Gewitter entgegenatmet, obgleich es ihn er⸗ ſchlagen kann.

„Bilden Sie ſich nicht ein, daß es Ihnen gelingt, mir meinen Mann wieder zu verführen,“ brachte Doraline nun keuchend hervor. Denn über den Wiſſenstriumph flammte jetzt in raſender Hitze ihre Eiferſucht hin.

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„Doraline!“ rief ihr Mann entſetzt. Das ſchlimme, das kleinliche Wort, kaum, daß es heraus war, ängſtigte ſie ſelbſt. Hardy hob das Haupt, ſah umher mißhandelt, Ba hilfeſuchend. Da traf ihr weher Blick den des Mannes. Sie ver⸗ un u was ihr daraus entgegenrief Troſt? Zorn? Aber ſchon war er auch bei ihr. Er nahm ihren Arm und legte ihn ſehr feſt in den nn 3 ſchien, als ſähe er weder an 0 die Ba Frau, fie waren nicht mehr für ihn d Sehr hoch aufgerichtet, voll drohenden Stolzes 0 chritt er mit Hardy davon.

S S ®

Er ritt durch die Nacht. Das war ſeine Art von Unverſtand, ſich auf Dauerritten durch große Gemüts⸗ bewegungen hindurch zu kämpfen. Nicht, daß er in tollem Galopp Pferde zu ſchanden ritt. Im Gegenteil, er ſchonte das Tier, machte einen Gefährten aus ihm, einen ſtummen und treuen Genoſſen. Er ſpürte wohl⸗ tuend ein warmes, ſtarkes Stück Leben und Natur, das in ſeine Herrenhand gegeben war, das ihm nur recht dienen konnte, wenn er es recht lenkte. Und das war ihm auf irgendeine ihm ſelbſt nicht klare Art an⸗ gen hen erleichterte ihm ſeinen Seelenzuſtand. 3 Stunden lang ritt er durch die Nacht, von Münchow nach Arnberg. Wagen⸗ und Eiſenbahnfahrten konnte er heute nicht ertragen, das machte ihn ſo un⸗ tätig. Er nahm des Inſpektors Pferd. Und der Stichel⸗ rappe war ein großes, ſchweres Tier, es hätte als Modell für ein Schlachtroß dienen und einen eiſen⸗ epanzerten Ritter tragen können. Mit dem hünen⸗ haften Reiter zuſammen wirkte es mächtig.

Der Mond ſein Noch ein bißchen abgeflachter als geſtern war ſein Rund, und ſein dickes, kahlköpfiges e e e lachte kläglich, in einer etwas jämmerlichen Luſtigkeit.

Er ſchien ganz unbeteiligt an all dem Nachtzauber,

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den er bewirkte. Groß und breit ſchwamm er da oben im leuchtenden Schwarzblau des faſt wolkenloſen Himmels. Und unten auf der Erde ging es geſpenſtiſch und unſicher zu. Die Landſtraße war ein weißer Silberſtreif. Die Büſche des Knicks von glänzendem Metall. er den Feldern ſtand ein ſchimmernder Nebel. Aber unter den Büſchen hatte ſich die vom Mondſchein vertriebene Nacht verkrochen; von ihrem ſchwarzen Kleide ſchienen da und dort abgeriſſene Fetzen über den Weg geworfen zu ſein Schatten, bizarr verſchoben die Wipfel einer aus dem Knick ragenden Eiche oder das Vieleck eines Bauernhauſes an der Landſtraße nachbildend.

Mehr als einmal ging der Ritt auch durch Wald. In unüberſehbaren Scharen ſtanden die mächtigen, maſtgeraden Tannen, in der Tiefe ſich zu einer Holz⸗ wand zuſammenſchließend. Oben in ihren Nadel⸗ gipfeln war ein emſiges Silbergerieſel. Bleiche Licht⸗ flecke bemalten verſtreut den von alten, braunen Nadeln glatten Waldboden. Oder ehrwürdige Urväterbuchen fingen mit ihren rieſenhaften Aſtarmen die Strahlen⸗ bündel auf; das zähe, hochſommerblanke Laub gleißte, die hellen Stämme ſchimmerten.

Sehr kühl war die Nacht, von einem ungeheuren, klaren Schweigen erfüllt. Kein emſiges Getier huſchte mehr, von den drängenden Wichtigkeiten ſeines Liebes⸗ lebens getrieben, durch Buſch⸗ und Staudenwerk. Die Natur hatte ihre Arbeit getan. Sie ruhte in Voll⸗ endung und wartete auf den Herbſt.

Durch die herbe Friſche ging der feuchte Atem des Taus. Und überſtark, mit dem Geruch der Reife, duftete das Laub.

Es war Herrn Dieter, wenn er tief atmete, als fülle ſich ihm der ganze Mund mit dem Geſchmack dieſes kräuterigen Eichenlaubgeruches.

Wie das guttat, ſo die kühle, wohlriechende Nacht förmlich in ſich hinein zu ſchlucken

Er klopfte dem Rappen lobend und ermunternd den Hals, und das Pferd wieherte zur Antwort hell auf.

Mit ſo viel Gedanken und Entdeckungen 2 man

XXVIII. 2. 1

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nicht flink fertig, hatte Herr Dieter gedacht, als er bald nach elf Uhr fortgeritten war.

Die Stunden liefen förmlich an ihm vorbei. Er merkte gar nicht, wie viele es ihrer waren.

Durch ſchlafende Dörfer kam er. Da war eine ſchwere, tiefe Ruhe. So deutlich, als könne man ſie mit den Händen faſſen. Und ein uralter Kirchturm aus Granitfindlingen, mit einem Glockenfenſterchen hoch oben unterm ziegelroten Satteldach, der war ganz vom Silberglanz wie übergoſſen.

Endlich war es, als ritte er dem Monde davon. Der glitt ſeinen Weg weiter um die Erde und hatte es eilig, zum Horizont zu ſinken.

Als ein ganz leiſer grauer Perlſchimmer durch das Himmelsgewölke ging, kam dem Reiter eine gute und kraftvolle Empfindung. Da hatte einem die Welt ganz allein gehört, und man hatte über ſie und all die krauſen Dinge darin gründlich nachdenken können.

Herr Dieter war kein Grübler. Bei der Arbeit, im Verkehr mit ſeinen Leuten, beim Anhören all der Klagen und Fragen, mit denen man zu ihm kam, warf das praktiſche Leben ihm allerlei Gedanken ab. Nach Erkenntniſſen ſuchen, an ihnen herumdeuten, ſie in weiſe anzuhörende Sätze zu bringen das war nicht ſeine Art. . |

Aber in dieſer Nacht und nach dem, was er erfahren hatte, kreiſte in ſeinem Kopf zu viel da wollte Licht und Ordnung hineingebracht werden.

Eins tat ihm ſehr leid, und er fürchtete, es würde ihm Zeit ſeines Lebens leid tun. Nämlich, daß er nicht das Recht gehabt hatte, und daß Ritterlichkeit und Erziehung ihm verboten, Doraline einfach eins an die Ohren zu geben .. Aber Gott nein es genierte ihn vor ſich ſelbſt, daß er ſo etwas Elementares denken konnte. Man ſchlägt keine Weiber. Nicht mal in Gedanken und Wunſch. Tut man nicht. Nein! Aber war ſie denn Weib in jenem Augenblick? War ſie nicht 5b 9 Dirnchen? Hatte ſie nicht überhaupt was

avon

Er, Dieter, er hätte wohl wiſſen mögen, wie das

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gekommen wäre, wenn Doraline, wie Hardy arm, dem Kampf ums Daſein ſich hätte entgegenſtemmen ſollen! Er mochte es ſich nicht einmal deutlich denken, auf was für Wege dieſe Doraline von ihrem Naturell ge⸗ trieben worden wäre! Und Hardy!

Still und gefaßt, ohne Weſen davon zu machen, ehrbar und tapfer arbeitete ſie, Schulter an Schulter mit andern Tapfern.

Herrn Dieter wurden die Augen blank. Sein weiches Herz war voll von Ehrfurcht, nicht bloß vor Hardy voll von einer ganz allgemeinen Ehrfurcht vor all den armen Frauen, die kämpfen.

Er, der Mann, dieſer Borwin, er mußte natürlich für die ungeheuerliche Roheit, die ſeine junge Frau begangen, mit einſtehen. Und einſtehen mußte er dafür, daß er ſich hatte hinreißen laſſen, ſich zu er⸗ innern.

Alſo darum darum darum ſagte Hardy „nein“.

Sie liebte alſo einen andern!

Herr Dieter dachte an ſeine eigene Geſchichte. Dieſe einſtige Dame ſeines Herzens fiel ihm wieder lebhaft ein und wie die offen geſagt „hätt ich das gewußt!“ „Hätt' ich gewußt, daß er ſo viel Geld und Gut be⸗ ommt, würd' ich ihn genommen haben.“

Und all dies Hab und Gut hatte ihm bei Hardy nicht geholfen. Sie ſagte doch nein.

Weil ſie ihm nichts vorlügen wollte!

Das fühlte er ganz klar. Hätte ſie dieſen andern nicht lieb, würde ſie aus herzlicher Verehrung, aus innigſter Sympathie, aus allerlei freundlichen Gründen doch ja geſagt haben, vielleicht ſogar in dem Wahn, daß ihre herzlichen Gefühle Liebe ſeien.

Aber ſie wußte, was Liebe ſei, und ein andrer hatte es ſie gelehrt ſie konnte unterſcheiden ſie unter⸗ ſchied zwiſchen ihrer Schweſterlichkeit für ihn ſelbſt und der Liebe für den andern. Und ſagte „nein“.

Reinlich und anſtändig, bis in ihr tiefſtes Herz hinein

Der andre hatte fie verlaſſen, war ihr verloren. hier winkte ihr glänzende Verſorgung neben einem

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Mann, dem fie in unbegrenzter Dankbarkeit ergeben war das hatte ſie ſelbſt geſagt und ſie ſprach doch „nein!“

Noch niemals in ſeinem ganzen Leben hatte Herrn Dieter etwas ſo imponiert wie dies Nein.

Dies und nicht alle andern Geſchichten, die ſich begeben hatten und noch begeben mußten, dies be⸗ ſchäftigte ihn die ganze Nacht. Um mit dieſem Nein, das er jetzt anders anſehen mußte als geſtern abend, fertig zu werden, dazu ſeine Stellung zu nehmen, war er hineingeritten in den Mondenſcheinglaſt und den Tauatem der ſilbernen Nacht.

Sonſt? Gott, das war ja, trotzdem es verwickelt ausſah, alles klar ... Er mußte ſich mit dem Mann ſchießen, den barbariſchen Wunſch, ihn niederzuſchießen, mannhaft bezwingen und ihm mit einem gehörigen Denkzettel ſagen: man wagt es nicht, eine Hardy mit Erklärungen und Küſſen zu überfallen, und läßt ſie nicht durch ſeine Frau anpöbeln.

Es waren ja nur Handküſſe geweſen. Herr Dieter hatte es nn geſehen. Aber 0 flehend zärtlich, ſo reuevoll leidenſchaftlich ... Ganz kalte ſpitze Küſſe kann man auf den Mund geben, und ſie ſind nichts. Und ein Blick und ein Handkuß können heiße Hingabe zuſchwören ... Von ſolcher brennenden Art waren die Handküſſe geweſen, und Hardy hatte ſich gegen fie geſträubt wie gegen eine verbrecheriſche Tat.. Auch das hatte Herr Dieter geſehen. Und mit ihm die Frau, die ſich trotzdem zu ſolcher Selbſtvergeſſen⸗ heit hinreißen ließ zum giftig keifenden Marktwe ib wurde. Ihren Mann hatte es empört, das merkte man wohl aus ſeinem entſetzten Ausruf.

Aber das half ihm nichts. Das kam doch mit auf ſein Konto, und das würde und mußte er ja wohl auch fühlen.

Alles kam nur auf die Form an. Und darauf, daß all die Frauen nichts von dem merkten, was doch nun einmal ſein mußte. Auch Heinz Philipp durfte nichts erfahren. Ganz unmöglich konnte er, ein paar Tage vor ſeiner Hochzeit, irgendwie und auf irgendeiner

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Seite an einem Duell zwiſchen feinem Schwager Bor⸗ win Eggsdorf und Dieter von Arnberg, ſeinem Fa⸗ milienchef, beteiligt ſein.

habe Prüttwitz, dachte Dieter, und ich glaube, unſer alter Rittmeiſter Grohberg iſt gerade bei ihm die beiden zitiere ich mir ſofort nach Arnberg.

dachte auch an ſeinen Ehrenrat, an dieſen oder jenen Kameraden aus ſeiner Zeit bei den Bismarck⸗ küraſſieren ... Nun, das mußte ſich ja alles ordnungs⸗ gemäß abwickeln. Auch Borwin Eggsdorf, der Ober⸗ eutnant der Reſerve in jenem Infanterieregiment war, das in der Stadt garniſonierte, konnte ſich ja auf das bequemſte zu allen notwendigen Schritten die richtigen Auskünfte holen. In ſolchen Sachen hatte man ſic eben an die Vorſchriften zu halten .. So ganz ein⸗ fach und primitiv konnte man leider nicht losſchlagen.

Das alles tat er ſchnell ab.

Aber das „Nein!“

An das gingen ſeine Gedanken von allen Seiten heran, und er würde ſein halbes Leben darum geben, wenn er in Hardys Seele hineingucken könnte ... Das fühlte er. Er verſuchte ſich ſogar in allerlei Berechnungen.

Und zwiſchendurch empörte er ſich immer wieder vor Mitleid und Zorn.

Wie das liebe Ding an ſeinem Arme gezittert hatte. Und ſich doch mühte, ſtolz aufrecht zu ſchreiten .

Als man ein Dutzend Schritte fern war vom Schau⸗ platz, hatte ſie etwas ſagen wollen.

Er verbot ihr einfach den Mund. Das war am vernünftigſten.

Jetzt kein Wort!“ hatte er gejagt und dann nur noch hinzugefügt: „Ich glaube an Sie, Hardy! Aber das brauch' ich ja wohl nicht erſt zu ſagen.“

Und dabei hatte er ihren Arm ganz feſt an ſich gedrückt.

So ſchritten ſie zuſammen dahin, den Weg zurück, den freien Weg, der zwiſchen den flachen, offenen Raſenbreiten, ſie zerſchneidend, entlang führte. Dieſen Weg, den man von vielen Stellen des Parks und vom Haus aus überſah. Und dort, hinterm Hauſe,

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fanden unter der e ſich fühl e etwas verſchlafen und noch von benommen, zu viel gegeſſen zu haben, Nottbects = = ſehr heiter geſtimmten Brautpaar zuſammen. Und die dachten vielleicht, daß da ein weiteres neues Brautpaar ankäme.

Aber als Herr Dieter mit ardy herankam, rief Irma Ir „Was fehlt Hardy

„Hat Kopfweh! ſprach er 155 1 ſic ſofort zurück⸗ ziehen und bittet um Entſchuldigun

Hardy hatte wahrhaftig ein bläßliches Lächeln herausgebracht und war davongeſchlichen.

Lautes und ausführliches Bedauern und ein langes Kopfwehgeſpräch füllte 15 nächſten Minuten nach Hardys Blic, Be aus. Frau von Arnberg kam, Un⸗ ruhe im Blick, Beherrſchtheit = der Haltung. Hardys „Kopfweh“ ſagte ihr gewiß: Mein Kind leidet, weil ſie mit dem Mann zuſammenſein muß nun kann ſie es nicht Nah ertragen.

Und dann ſah man auch Borwin und Doraline zuſammen ankommen. Sie hing an ſeinem Arm und ſchien geweint zu haben. Das ſah Frau Nottbeck vo von weitem und ſprach flüſternd: „Da hat es ſchon wieder eine Szene gegeben. Dieſe Ehe fängt an, mir Sorgen zu machen. Verliebtheiten, daß es einem ſchon manchmal zu doll wird. Und dann Zank und Arger. Wenn ſie ſich nicht vertragen können, ſollen ſie lieber auseinander gehen. Ich will meine Ge⸗ mütlichkeit in der Familie haben.“

„Mama!“ rief Irma, der es fatal ſchien, daß ihre Mutter ſo offen war.

„Nu deine liebe Schwiegermama und Herr von Arnberg gehören doch zur Familie warum nicht ehrlich ſein ...“ Und dann ſprach fie laut dem jungen Ehepaar entgegen: „Kinder, wo bleibt ihr wir ſollen veſpern! Aber dies iſt ja rein unmöglich! So viel ſollen wir ſchon wieder eſſen?“

Gerade kam nämlich Fräulein Krull, vor ihrem grau⸗ und weißgeſtreiften, knatternden Kattunkleide das große Teebrett hertragend, auf dem der Teetopf, zwei Teller mit Kuchen und eine Kriſtallſchale ſtanden,

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5 an Pfirſiche ſich im Schnee der vanilleduften- den Schlagſahne drängten. Ein Mädchen mit einem Brett voll Taſſen und Glastellern folgte ihr.

„Fräulein Krull,“ hatte Frau 1 ige sagt „Sie ſind eine untoiberftefliche Künſtlerin. ſo auf Ihre Verantwortung!“

Unter dem befriedigten Zuſchauerlächeln von Fräu⸗ lein Krull hatten dann Nottbecks, diesmal auch Irma und Heinz Philipp, fröhlich zugelangt. Auch Doraline ließ ſich erſt nötigen und 1 95 nn in Geſchmack zu kommen, wenngleich ſie ſtill b

Er, Dieter, und Borwin Eggsdorf hatten aneinander vorbeigeſehen. Frau von Arnberg ſpürte es, mit wachſender rast, wie ſie nachher ſagte. Die übrigen merkten nichts.

nn war eine Erleichterung, als die Gäſte abfuhren!

Noch ſtand Dieter mit Frau von Arnberg winkend im geöffneten Gittertor, zwiſchen ſeinen weißen Pfoſten und den beiden hohen, ſchmalen Pappeln, durch deren unaufhörliches leiſes Blätterleben ein ſtetes Licht⸗ gerieſel zu zittern ſchien, da ſprach ſchon die nach lang⸗ na Erregung nun unbeherrſchte Frau: „Was geht vor?

„Nur ruhig!“ ſagte er. „Fragen Sie Hardy.“

Er dachte da ja noch: was weiß die Mutter? Was iſt das überhaupt für eine Vorgeſchichte, die dieſe heißen Handküſſe und Hardys Widerſtreben haben?

Sie gingen zuſammen auf das Haus zu. Und da kam ihnen auch ſchon, als habe ſie bänglich das Fort⸗ fahren der Gäſte von ihrem Manſardenzimmer aus belauſcht, da kam ihnen ſchon Hardy entgegen. Mit einem kümmerlichen, zerſtörten Geſicht ordentlich klein war es.

„Mutter,“ ſagte fie, „er hat ſich hinreißen laſſen 11 5 zu mir ſprechen rührte an der Vergangen⸗

Nun möchte ich Herrn Dieter alles ſagen, Be es kam und endete.“

Die Mutter trachtete, eine ruhevolle Überlegenheit

zu aeigen, während ihr die Bitterkeit die Mundwinkel

herab zog.

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Nun ja, dachte Dieter, wie kann denn auch eine Mutter milde ſein, wenn ſie an einen denkt, der ihr Kind mißhandelte.

Er war dann mit Hardy in den Park gegangen. Sie hatten wieder zuſammen auf der gleichen Bank geſeſſen, wo er fie abends zuvor gefragt ... Und da erzählte Hardy ihm alles. Das Geſpräch würde er ſein Leben lang nicht vergeſſen. Denn es wurde aus einer Beichte ja bald ein Geſpräch, weil er nun ſeine eigene kleine Geſchichte erzählte. |

Er ſpürte heraus: fie ſchien doch den Mann in Schutz zu nehmen. Sie ſagte auch: ſie habe ihm verziehen gehabt.

Da antwortete er: „Das iſt ſo ein ſchönes Wort. Das klingt großartig. Aber es klingt bloß. Man kann nicht verzeihen, das iſt übermenſchlich. Irgend was bleibt von ſolchen Sachen, was doch unverzeihbar iſt. Sehen Sie mal, liebe Hardy, ich hab's der einſtigen Dame meines Herzens bald verziehen, daß ſie mir einen Korb gab. Aber daß ich ſie überhaupt mal eliebt habe, das kann ich ihr nicht verzeihen. Vielleicht chämt man ſich, daß man ſich täuſchte. Genug, irgend⸗ ein Bodenſatz, ſo oder ſo, bleibt. Und wenn's nur die Kritik iſt an der Handlung des andern. Nur eine Frage, ob das nicht alles hätte anders kommen können. Verzeihung o Gott das iſt ſolch Segenswort. Zu groß für uns. In all den banalen kleinen Er⸗ ziehungsgeſchichten finde ich es natürlich zu groß. Wenn ein Junge mal lügt oder naſcht gut, Strafe und dann drüber weg. Alſo da iſt das Wort „Verzeihung“ zu groß für den landläufigen Anlaß. In ernſten, echten Liebesſachen, ſo vom Menſchen zum Menſchen, da iſt es vielleicht erſt recht zu groß. Wie kann ich denn das verzeihen, wenn ich mein ganzes Herz hingab und der andre wirft es fort? Bin ich denn ſo wenig? Iſt das denn eine ſo geringe Gabe geweſen? Achte und ſchätze ich mich ſelber denn 0 klein ein, daß ich es verſtehen könnte, daß der andre ſo ſchlecht mit meinem Herzen umgeht? Wenn uns der Schmerz windelweich macht und wir dazu von Natur zu großmütig und

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ſtolz ſind zur Rachſucht, jagen wir ‚ich verzeihe“. Es iſt aber bloß die weinende Nobleſſe. Die will ich nicht gering einſchätzen. Gott bewahre. Ich bewundere ſie, wo ich ſie ſehe. Aber wir wollen ihr kein falſches Wort geben. Ich denk mir auch immer ſo: in dem Wort „Verzeihung“ ſteckt, wenn man es einem ſagt, der eine Sünde gegen Liebe und Treue beging, doch immer noch ſo 'n bißchen geheime Hoffnung. Wie bei Erziehern: ich verzeih dir, mein Kind aber beſſere dich! Ich habe immer gedacht: Verzeihung iſt ein Wort, das man ganz glaubhaft, ganz unumſtößlich nur an einem Grab ausſprechen könnte. Für uns Lebende untereinander bleibt immer ein Reſt von Selbſttäuſchung und Erſchütterlichkeit darin.“

Und nach einer Pauſe voll ſchweren Beſinnens hatte er noch dazugefügt: „Außerdem iſt es auch etwas an⸗ maßlich, wenn wir ſagen: ich verzeihe. Als hätten wir dem Schickſal was zu befehlen, das oft Marie die Strafen austeilt, zu denen wir nicht die Macht, den Mut oder den Haß haben.“

Wie dieſe ſeine Reden auf Hardy wirkten, hatte er nicht recht erkennen können. Sie ſchwieg dazu. Be⸗ troffen? Als hätte er ihr allerlei aus ihrem eigenen Empfinden heraus geſagt? Und ihr zu Erkenntniſſen verholfen? Er wußte es nicht.

Nur das ſpürte er deutlich: ihr ganzes Gemüt war noch in Bewegung durch den Mann vielleicht auch für den Mann

Er wollte nicht kleinlich ſein. Sonſt hätte er ihr noch vielerlei vorrechnen können, etwa: wenn Borwin gleich jedem Zuſammenſein mit Doraline ausgewichen wäre, ſobald er merkte, daß ſie ihm gefährlich wurde, . er anſtändig, männlich, treu gehandelt. Wer

ann für Anfechtung? Aber ihr davonlaufen! Da liegt's. Na, und das hat er nicht getan. So kam er in den Zwieſpalt, entſchied ſich für Doraline und ver⸗ dorrt nun in den allzubeſtändig und hochbrennenden Flammen ihrer Verliebtheit. Kann ihn deine Ver⸗ zeihung daraus erretten oder ihm nur im mindeſten helfen? Ihm ſeinen Seelenzuſtand der verzwickt

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genug ſein muß erleichtern? Nichts kann deine Ver⸗ zeihung.

Aber natürlich, ſolange eine Frau weint, kann man nicht mit ihr ſprechen.

Die Frage war: Wie lange würde Hardy noch um den Verlorenen weinen? ürde ſie je aufhören, es zu tun? Blieb er ihr in Wahrheit immer verloren? Was Frau Nottbeck da ſo flink und energiſch geſagt: „Wenn ſie ſich nicht vertragen können, ſollen fie aus⸗ einandergehen,“ das war natürlich nur ein auch nicht entfernt ernſtgemeinter Schnack.

Aber Dieter dachte: ich, ich könnte nicht mehr gut mit einer Frau zuſammen hauſen, die roh hat ſein können! Er ſah nicht, wie eine Ehe dauern ſollte, wo der Mann mit beſinnungsloſer Leidenſchaft einer ſchönen Erinnerung zurückverfiel, ſowie er die einſt Geliebte wiederſah, und wo die Frau ſich jeder Be⸗ herrſchung und Vornehmheit bar gezeigt.

Von all dieſen ſeinen Gedanken verriet er nichts. Lange hatte er mit Hardy auf der Bank geſeſſen. Solch ein Stoff wie der, den ſie zuſammen verhandelten, der ſpricht ſich nie aus.

Aber dann hatte Hardy ſich voll Schreck beſonnen: ſie mußte fort; ſie wollte allein fahren, ſie durfte den Zug nicht verpaſſen; es war der letzte, und ihr Dienſt begann am andern Morgen ſchon um ſieben Uhr.

„Es iſt unmöglich. Sie melden bh krank. Da werden ja noch Reſervekräfte ſein. An dem Ausbleiben einer Telephoniſtin kann der Verkehr nicht hängen.“

„Wenn außer mir nun zufällig noch drei, vier andre ſich durch perſönliche Erlebniſſe zu erregt und erſchöpft fühlten, den Dienſt zu tun? Könnte das nicht ſein? Wenn jede ſich verführen elch wollte, einer körper⸗ lichen Schwäche, einem ſeeliſchen Leid mehr zu ge⸗ horchen als der übernommenen Pflicht? Das un⸗ geheure Räderwerk, in dem ich nur ein winziges Schräubchen oder Zähnchen bin, kann dennoch ſtocken, wenn nicht jede, auch die beſcheidenſte Kraft, mehr an das Räderwerk als an ſich denkt. Ich bin nichts. Ich habe nichts. Aber ich kann eine nützliche Arbeit

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leiten. Durch fie habe ich teil am Leben, unabhängig von meinem Glück oder Unglück als Weib. Iſt das nicht etwas Starkes?“

„Ja!“ hatte er nur ganz einfach und kurz geſagt.

Auch ließ er ſie allein zur Bahn fahren. Ohne weitere Reden und Anerbietungen. Einſamkeit muß man dem Menſchen gönnen, der ſie braucht, dachte er. Einſamkeit iſt oft das Beſte, was man haben kann. Die hilft einem koloſſal.

nd nun ritt er hier in der Nacht und überdachte und durchlebte alles noch einmal. Auch die Stunden, die er dann noch, nach Hardys Abfahrt, tröſtend und ſelbſt noch voll Begier, immerfort von der Geſchichte zu hören, bei der Mutter verbracht. Da erſt, aus dem leidenſchaftlichen Vortrage dieſer kraftvollen Frau, da erſt begriff er ganz, wie Borwin geliebt worden war, wie furchtbar ſeine Untreue die Jugend Hardys, alle ihre und der Mutter Hoffnungen zerbrochen hatte.

Immerfort ſuchte er, wie er ſeine eigenen Hoff⸗ nungen, die ja zunächſt eingeſtürzt, ein ſchlimm aus⸗ ſehender Trümmerhaufen, am Boden lagen, immer⸗ fort ſuchte er, wie er ſie etwas wieder aufrichten könne.

Er liebte Hardy heute noch mehr als geſtern er kannte ſie noch beſſer, kannte ſie nun ganz und gar.

Dieſe zur Frau oder gar keine! dachte er.

Aber was gewinne ich, wenn ich ihn über den Haufen ſchieße? rechnete er ſich aus. Nichts, gar nichts; alles verlier' ich. Und an ſeinem Grabe wird ſie die Verzeihung wirklich für ihn haben, die ſie ſich bisher norgehäutcht bat.

Nein, jo ein Toter als Rivale, das wär' mir zu un⸗ beſiegbar. Gegen jo einen kommt man nicht an. Das iſt ganz was Wunderliches und Feines, daß Tote einen Heiligenſchein haben das heißt, wenn Glaube oder Liebe ſie heilig ſprechen. Liebe ſpricht Tote immer Heilig... _ |

Sie war empört geweſen, in ihrer weiblichen Würde tief verletzt, weil Borwin ſich hatte hinreißen laſſen, an 1 5 Vergangenheit zu rühren, ſo heiß, ſo erregt zu werden.

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Ihre Empörung war natürlich echt. Hardy war nicht der Menſch, ſich und andern was vorzumimen oh, nicht von fern.

Aber Weib bleibt Weib! Wenn ſie nun anfing, darüber nachzudenken, wenn die Empörung abflutete und der Schmerz wieder zu Wort kam, konnte ihr's dann nicht doch vielleicht wohltun, daß er ſich nicht beherrſchte? Ward das nicht zum Beweis, daß ſeine Liebe zu ihr wieder auferſtanden ſei?

Wahrſcheinlich wußte Hardy ja auch ſchon, daß Borwin mit ſeiner Frau nicht im Gleichmaß einer verſtändigen, Dauer verheißenden Ehe lebte. Eine Ehe⸗ ſcheidung war heutzutage nicht mehr etwas ſo Außer⸗ ordentliches.

Und ſo eine reuevolle Rückkehr muß für eine Frauen⸗ ſeele etwas Bezwingendes ſein, ſtellte Dieter ſich vor.

Dann grübelte er wieder über Borwins Betragen nach. Hätte der ſich würdig gehalten und beherrſcht, mit keinem Zucken ſeines Augenlides an einſt erinnert, ſo hätte er ihr imponiert. Und viel gewonnen

Nun hielt er ſich nicht würdig und blieb nicht be⸗ herrſcht und imponierte ihr nicht. Aber vielleicht ver⸗ führte er ihr Herz, und ſie wird das erſt nach und nach erkennen. Und er gewinnt noch mehr...

ch werde ihn nun kennen lernen, dachte er weiter, ſo nah werd' ich ihn ſehen und erraten und taxieren, wie nur Männer einander durchſchauen können, die ſich in der Art gegenüberzuſtehen haben, wie wir es werden... Hm vielleicht verſteh' ich dann ihre Liebe...

Unſinn, ſtellte er gleich feſt, völlig Unſinn. Man verſteht nie, daß eine Frau, die man ſelbſt möchte, einen andern liebt. Ich muß mich hüten, ihn über⸗ haupt nur beurteilen zu wollen. Was ich von ihm nun ſehe, ſieht nicht gut aus. Aber wer will da den unfehlbaren Richter ſpielen? Es 55 ja ſehr redliche und männliche Männer, die, ohne Don Juan⸗Anlagen, doch auf dem Gebiete merkwürdig wandelbar find...

So tief verlor Herr Dieter ſich in all ſeine tauſend Gedanken, die wie Kettenglieder ſich immer einer in den andern hingen. Er merkte gar nicht, daß ſein

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Rappe nur noch im gemächlichen Schritt einherging, ſelbſt einem gedankenvollen Wanderer mit geſenktem Haupt nicht unähnlich.

Bis das Pferd mit hellem Wiehern die leiſe Ver⸗ färbung des Himmels begrüßte...

Da atmete Herr Dieter tief auf. All die Grübeleien, ſeinem eigentlichſten Weſen nur was Hereingeholtes, warf er über Bord. Ganz jäh. Wie er als Junge mit ſeinen ſchrecklichen arithmetiſchen Aufgaben getan, wenn er Stunden um Stunden daran gebüffelt hatte.

Ohne Urſache wurde ihm ganz mannhaft und friſch zumute. Als ſei er ein großes Stück mühſamen Lebens⸗ hne 5 und habe die Hauptbeſchwerden

inter ſich.

Im Grunde genommen ſah er, nach dieſem ſtunden⸗ langen Nachdenken, nicht ein bißchen klarer; weder in die Zukunft noch in Hardys Herz oder in jenes Mannes Träume. .

Aber in fich ſelbſt ſah er klarer hinein. Und das war die Hauptſache.

Wenn man ſelber weiß, was man muß und will! dachte er. Aber freilich, der Wille muß von jener Sorte ſein, die nichts, gar nichts ändert und umwirft. So ein Wille von Eiſen muß es ſein.

Dann hat er Troſtkraft in ſich.

Und ſein Wille war: um Hardy weiter zu werben. Still und zäh. Obzwar das Stille nicht ſeine Art war. Aber die a forderte es jo. Und warum Soll ein Mann ſeine Waffen der Gelegenheit nicht anpaſſen.

Alſo: er oder ich! dachte er mit Entſchloſſenheit.

Und das war wie ein Punkt mit dem ſchloß er die Nacht ab. |

Und ſah nun wieder hell hinein in den werdenden

ag. 0 920 dämmernde Belichtung des Himmels ward ärker. Und Roß und Reiter, im Morgengrau faſt über⸗ lebensgroß anzuſehen, ſchienen lebendiger zu werden. Im flotten Trab, emſig, gleichmäßig vorwärts⸗ ſtrebend, ging der Rappe. |

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Der Frühwind ſpielte ein wenig mit dem Barte des Mannes. |

Ein Hauch, faſt voll Kälte, ſtrich über das Gelände, auf dem jeder Halm und jedes Blatt von ſchwerem Tau wie verglaſt war.

Herr Dieter ſah nach der Uhr. Vor ihm, auf der höchſten Welle des bald ſanft ſchwellenden und bald ſich vertiefenden Landſtrichs, erhob ſich Arnberg. Schon von weitem und ſelbſt im matten Dämmer des beginnenden Tages als ein Herrenſitz voll Wucht er⸗ kennbar.

Hohe Dächer von Sattelform, graue Treppen⸗

iebel, Türme mit gezahntem Mauerrande, breite

11 1 mit langen Fenſterreihen, Erker, die an ſchob ft Ecken wie angeheftet erſchienen das alles ſchob ſich zu einem von fern unüberſichtlichen mäch⸗ tigen Bau zuſammen, an dem verſchiedene Jahr⸗ hunderte ergänzt und geändert haben Naſſigtei

Beinahe blauſchwarz, und von der Maſſigkeit eines Waldes ſchien der breite Park, der hinter dem Schloß und zu beiden Seiten ſich dehnte.

Aus der Mulde vor dem Herrenſitze ragten ein paar Wipfel und Dächer. Da lag das Dorf eingebettet, es zog ſich aber am Hange empor, und zwar in einer nach rechts gehenden Linie. Und dort ſtanden, auch über das Dorf erhöht, ſchräg dem Herrenſitze gegenüber, Kirche und Pfarrhaus.

Das ſtille Flüßchen, das mitten durchs Dorf ſeinen gelaſſenen Weg nahm, ſah man beim Heranreiten nicht. Ganz links war es erſt ſichtbar, wo es als ſilbernes Band zwiſchen l grünen Wieſen lag, wenn die Sonne ſchien. Jetzt zeigte ein weißer, aufkräuſelnder Nebeldampf den ſchmalen Waſſerlauf an.

Nochmals ſah Herr Dieter nach der Uhr. Und ſein Blick beforſchte ſtreng erſtaunt den Weg voraus.

Aber da hörte er auch ſchon die Laute, auf die ſein Ohr ungeduldig gewartet hatte. Und in der Kurve, die der Landweg hier zwiſchen den Knicken beſchrieb, ward nun das erſte Pflügergeſpann ſichtbar. Im blau⸗ leinenen Kittel der Arnberger Wirtſchaftskutſcher ſchritt

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ſchwer und breitbeinig ein Mann nebenher. Als er den mächtigen Reiter ſah, knallte er mit der Peitſche. Es war wie ein Morgengruß der Arbeit. Rund, bei⸗ nahe gluckſend, klatſchte der Ton in die Luft hinein. Hart hinter dem Schareiſen des erſten Pfluges folgte das Geſpann des zweiten. Mit ſeinen Hufen faſt das Holzwerk des zweiten berührend, zog das dritte ein⸗ her. Und ſo im Zuge ihrer zwölf.

Herr Dieter che quer am Wege Aufſtellung ge⸗ nommen, die Büſche des Knicks ſtr treiften über die Hinterſchenkel ſeines Pferdes. Ja, bis auf die Kruppe ee jih ein Haſelzweig und ſtieß Herrn Dieter ſelbſt leiſe an den Rücken.

a nahm er den gelaſſen vorbeikommenden Zug

Hochaufgerichtet ſaß er im Sattel, die Linke in die Seite geſtemmt, auch ein Feldherr. V„Guten Morgen, Leute!“ rief er laut hinaus. Und viele Stimmen nacheinander antworteten: „Goden Dag ok, Herr.“

Er wußte, ſie zogen hinaus, um die hundertund⸗ fünfundzwanzig Morgen große Weizenkoppel umzu⸗ pflügen, auf deren Stoppeln noch bis geſtern die Arn⸗ berger Kühe geweidet.

Dieſer Zug, im Morgengrauen, dünkte ihn etwas Schönes. Es war etwas darin, was ihn erhob und erfreute.

Zwölf ic leise ſenkende⸗ . Und er ſah fie im Geiſte über die ſich leiſe ſenkende, mächtig breite Koppel ruhe⸗ voll hin und wieder ziehen, während die Sonne bald da, bald dort in den Schareiſen einen 5 Licht⸗ punkt hintupfte und die braunen Schollen ſich um⸗ wälzten.

„Ich komme nachher mal vorbei,“ rief er dem Vor⸗ arbeiter zu.

Viele der Leute ſahen hell zu ihm auf. Alle mit Reſpekt. Die einen oder andern mochten denken: wo kümmt he denn nu all her? Und wen ſein Stichel⸗ rappen rid he denn?

Als die letzte Pflugſchar, etwas klappernd und hopſend dem Geſpann folgend, ſeinen Blicken ent⸗

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nun „ritt er nun in ſchlankem Trab auf Arn⸗ erg zu.

Dumpf klangen die Hufſchläge aus dem Boden zurück. Als es über die kurze breite Brücke ging, da klappten eine Handvoll Tritte hart und hölzern auf. Und dann, in der raſch ſchwellenden Helle, dem Tag entgegen, wie ein Sieger

So kam er an.

Noch lag der gewaltige Bau in Schweigen, und alle Fenſter waren verhängt. Während Herr Dieter am Stall anritt, ſtürzte aber ſchon ein Pferdejunge hinüber und klopfte an die Fenſter der Dienerſtube und trommelte Alarm an den Scheiben, dahinter in ihrem großen, behaglichen Zimmer die Herrſchafts⸗ köchin ihren tiefen, träumereichen Schlaf ſchlief, aus dem man ſie zu ungewohnter Stunde nur reißen durfte, wenn Naturkataſtrophen zu erwarten waren, oder es die Bedienung des Herrn galt. Das wurde nun ein Tag! Wurden Tage!

Alle gewohnten Pflichten, alle herkömmliche Arbeit mußte getan werden, und mit voller Sammlung be⸗ ſprach und durchdachte Herr Dieter, was der Herbſt für die Feldwirtſchaft forderte. Und hatte geſchäftliche Verhandlungen mit Getreidehändlern und dem Auf⸗ käufer der Zuckerfabrik, die ihm ſeine Rüben abnahm. Gerade waren auch Beſprechungen im Gange, daß die Arnberger und Probſthagener Meiereien ſich einer Ge⸗ noſſenſchaft anſchließen ſollten. Ja, das ging alles ſeinen Gang, und niemand hätte ſagen können: der Herr iſt zerſtreut was mag der Herr haben? Er war wie immer: freundlich, feſt, überlegen, genau.

f 55 in der Tiefe ſeines Gemütes ging es nicht o klar zu. a

Wie merkwürdig war das, ſich mit all dieſen ge⸗ wiſſen Fragen zu beſchäftigen, die einem ſozuſagen unter den Händen aus äußerlichen Form⸗ und Ehren⸗ ſachen zu einem fo dräuenden Ernſt emporwuchſen .

Auf ſein Telegramm hin kam noch am ſelben Tage ſein Freund, der Baron Prüttwitz von Wieſchenburg. Und er brachte richtig ihren alten Rittmeiſter, Herrn

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von Grohberg mit, der ſich auf Wieſchenburg für eine Weile „vor Anker“ gelegt hatte, weil er, der auch ſchon ſeit einigen Jahren unter die Agrarier gegangen war, ſeine Klitſche verkauft hatte und in der Gegend, unter Prüttwitz' beratendem Beiſtande, nun was Neues ſuchte.

Die ganze Geſchichte war ja beſonders fatal im Hinblick auf Heinz Philipps bevorſtehende Hochzeit. Aber ſie konnte dann ausgetragen und ausgelöſcht ſein! Das mußte man hoffen. rüttwitz und Grohber hatten ſogar uneingeſtanden das Gefühl, daß es ſich hier einfach um eine Ehrenſache und nicht um leiden⸗ ſchaftliche Erbitterung handelte. Dieter Arnberg ſchien jo ruhevoll wie immer... Freilich, der Zufall kann jo feine Launen haben... Aber wenn Gefahr war, beſtand ſie für den andern Teil. Dieter, als ein er⸗ fahrener Jäger und Schütze von Ruf... Während ſein Gegner ſich wohl nur in ſeinen militäriſchen Dienſt⸗ zeiten mit Schußwaffen beſchäftigte. Nun, man würde ja ſehen

Prüttwitz reiſte nach einſtündigem Aufenthalt in die Stadt und überbrachte Herrn Borwin Eggsdorf die Forderung. Es war aber ſpät abends, als er dort ankam. Ein Nachtdepeſchendienſt beſtand für Arn⸗ berg nicht, und ſo kam erſt am andern Morgen Prütt⸗ witz' Depeſche: „Angenommen, Verkaufsverhandlungen mit Vermittler beginnen ſofort.“

Dieſe Worte hatten ſie verabredet. Gut alſo, Eggs⸗ dorf nahm die Forderung an, und Prüttwitz konnte ſchon früh am Morgen mit Eggsdorfs Sekundanten verhandeln. Dieter hatte auch ſofort an ſeinen Ehren⸗ rat geſchrieben.

Darüber redete ja nun der Rittmeiſter von Groh⸗ berg lange hin und her. Für ihn, zu ſeiner Zeit als aktiven Offizier, hatten ſolche Sachen etwas anders gelegen; da war der Zwang, von jedem Ehrenhandel ſofort dem Ehrenrat Anzeige zu machen. Aber die nichtaktiven Herren nahmen es doch manchmal nicht ſo genau. Ihm waren viele Fälle bekannt, wo man gleich in der erſten Erbitterung een los⸗

XXVII. 2.

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gegangen war. Wie oft wurde jo ein Duell, zumal wenn es unblutig verlief, gar nicht ruchbar. Und wenn doch, na, dann kam der Verweis vom Ehrenrat nicht in Betracht gegen den Vorteil der ſchnellen Erledigung. Es gingen eben doch immer vierundzwanzig Stunden länger darauf mindeſtens.

Die diesmalige Geſchichte lag ſo klar. Es konnte für keinen der Beteiligten ein Zweifel über die Haltung entſtehen: eine Dame war in ihrer Frauenehre durch einen Mann beleidigt worden; von dieſem Manne hatte derjenige mit der Waffe Rechenſchaft zu fordern, der nach Lage der Verhältniſſe ihr gegebener Ver⸗ teidiger war. |

Man ſprach über das alles, als gehe es keinen direkt was an, gewiſſermaßen ganz akademiſch.

Und dann kam im Laufe des Tages Prüttwitz ſelbſt zurück. Sein Geſicht war immer ſehr ausdrucksvoll und ſo merkwürdig verſchieden, daß es als Beiſpiel in einem Buche hätte abgebildet werden können, das vom Ausdruck der Gemütsbewegungen handelte. Lachte er, funkelten ſeine ſchwarzen, kleinen Augen, und der Stallmeiſterſchnurrbart im hageren Reiterkopf wirkte flott lebemänniſch. War er ernſt, bekam er etwas von der Finſterheit eines mit der Welt zerfallenen Raub⸗ drohlich Das Verwegene blieb, aber es wirkte be⸗

rohlich. |

Mit einer jo ernten Außenſeite kam er zurück. Es lag in der Situation. Herr Dieter wußte ja: halbe Noten lagen ſeinem Freunde Prüttwitz nicht. Aber dieſer Vollton von Feierlichkeit war gleich zu ſtark.

Mit einem Male ſchien alles einen doch ſehr nah, zuallernächſt anzugehen... | |

Prüttwitz ſchien von Dieters Gegner übrigens einen günſtigen Eindruck empfangen zu haben. Bor⸗ win Eggsdorf habe eine ernſte, männliche Haltung gezeigt und geſagt, daß er keineswegs geſonnen ſei, ſich den Folgen ſeiner unentſchuldbaren Handlungs⸗ weiſe zu entziehen. Er hatte ſchon vorbereitend mit einem ſeiner Freunde geſprochen und ſich ebenfalls ſofort an ſeinen Ehrenrat gewandt. Daß ein vom

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Ehrenrat etwa aufzuftellender Ausgleichsvorſchlag nicht angenommen werden würde, hatte Prüttwitz namens ſeines Freundes Dieter Arnberg gleich erklärt, und Eggsdorf ſchien dies auch ſo erwartet zu haben.

Man hatte vereinbart, am 18. September bis dahin konnten die Förmlichkeiten erledigt 8 früh ſieben Uhr ſich auf Prüttwitz' Grund und Boden in Wieſchenburg zu treffen. Es war für alle Beteiligten der unauffälligſte Platz, die Herren aus der Stadt konnten mit dem Frühzuge hinauskommen.

Als Dieter den Bericht über dieſen Gentleman⸗ eindruck anhörte, dachte er: na ja, irgendwas muß an ihm Sein...

Nun hieß es, dieſe anderthalb Tage auf das er⸗ träglichſte hinbringen. |

Prüttwitz ſchlug vor, man wolle gleich nach Wieſchen⸗ burg überſiedeln und die Zeit in ſtiller Sammlung verbringen.

„Wenn du ‚tille Sammlung‘ ſagſt, meinſt du viel Trinken und endloſe . mit Talerpotſatz,“ ſprach Dieter. „Dazu bin ich im Moment nicht zu haben. Ich muß einen Haufen Geſchäfte i In die Stadt muß ich auch noch und Heinz Philipp ſprechen. Und wenn ich daran denke, was ich alles noch zu ſchreiben habe! O Gott!“ Er ſeufzte. „Ich will euch was ſagen: reiſt immerzu. Ihr depeſchiert mir, ſowie ihr den Beſcheid vom Ehrenrat habt. Und ich komme dann am ſiebzehnten abends euch nach.“

„Nö, nö,“ ſagte der Rittmeiſter, deſſen blonde Behaglichkeit ſich während Dieters Worten ganz ſorgenvoll umdüſtert hatte, „raſ' dich bloß nich in Vor⸗ bereitungen rein. Dabei wirſt du höchſtens melancholiſch und ſentimental. Und denn genierſt du dich nachher vor deinen eigenen Schriftſtücken, wenn du heil und fidel wiederkommſt. Das kenn' ich. Das iſt beinahe, als wär' man's den Vorbereitungen ſchuldig, daß einem was paſſiert. Ich denke: der Eggsdorf, der reue⸗ voll zu fühlen ſcheint, wird an dir vorbeiſchießen. Na, und du wirſt desgleichen tun, denn er iſt geſtraft genug, wenn er vor deiner Treffſicherheit als Ziel geſtanden

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hat. Und dann iſt die Geſchichte wieder glatt, und wie ich Prüttwitz kenne, bietet er uns nachher ein an⸗ ſtändiges Frühſtück an.“

Prüttwitz nickte mit finſterem Ernſt. Man durfte ſicher ſein, daß ſich ſeine Mienen, wenigſtens in Dieters Gegenwart, erſt aufhellten, und zwar blitzartig, im Moment, wo der Handel beendet ſein würde.

Halb war es Dieter eine Erleichterung, daß ſie ab⸗ fuhren, aber anderſeits kam es ihm in ſeinen weiten Räumen ſo beklemmend einſam vor. Ihm wurde ſo ſeltſam bedenklich zumute. Die Zeit ließ ſich nicht einmal mit Arbeit totſchlagen. Grohberg hatte doch recht gehabt: Formelkram hin und her man hätte ſich am nächſten Morgen einander gegenüberſtellen ſollen und nachher die Strafe e auf ſich nehmen können. Grohberg dachte dabei freilich an eine ganz unblutige Schießerei

So ein Druck lag auf ſeinem Gemüt, als ſtehe da ein Unheil hinter der Tür, und man wußte nicht: kommt's herein, oder geht es vorbei.

Das einzige, was wohltat, war: an Hardy denken.

Er war entſchloſſen, ſie in der Stadt nicht aufzu⸗ uber: Er begriff klar: jie mußte nun zunächſt allein ein; kein Wort, keine Frage, kein Blick durfte ſie ſtören. Wie ſoll ein Menſch nur ungefähr mit ſich ins reine kommen, wenn er das Gefühl hat: da iſt ein andrer Menſch und wartet darauf, was wird... Das iſt kein Zufall, daß man Weine im Dunkeln gären läßt... Und außerdem hat es auch etwas verhängnisvoll Ver⸗ pflichtendes, wenn jemand, der mit ſich kämpft, in jedem Kampfesſtadium was von ſich ausſagen ſoll. Nein, ſo ſehr er ſich nach dem Anblick des lieben, ernſt⸗ haften Geſichtes ſehnte, er wollte tapfer ſein und ſich das verſagen. Eigentlich fand er, daß dazu mehr Tapferkeit gehörte als zu dem Duell, dem er entgegen⸗

ging.

Um ſich ſelbſt gegen Verſuchung zu wappnen, be⸗ ſchloß er, nur den knappſten Aufenthalt in der Stadt zu nehmen, wie er gerade zwiſchen zwei Zügen mög⸗ lich war, und zu einer Tageszeit, wo Hardy auf dem

*

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Amt war. Seine beiden „Geſchäfte“ ließen ſich flink genug erledigen.

Und ſo ſaß er denn bald im Wagen, um ſich nach der Station bringen zu laſſen.

Die Reiſe deuchte ihn endlos, und doch waren es nur anderthalb Stunden Eiſenbahnfahrt. Aber alles war ja endlos in dieſen Tagen.

5 dachte er. Grohberg hatte zehnmal recht. Nach ſeiner Ankunft fuhr er erſt einmal gleich zu einem Goldſchmied und kaufte das Hochzeitsgeſchenk ein. Er fühlte klar, das war nebenbei oder vielleicht ſogar in erſter Linie eine Repräſentationsausgabe. Es hieß, tief in die Taſche greifen. Der Familienchef durfte den zurzeit einzigen Anwärter nicht mit einer bloßen „Aufmerkſamkeit“ abſpeiſen, ſo fern man ſich auch innerlich ſtand. Er wählte ein Ist großes Silber⸗ geſchenk, alles, was es nur an Löffeln und Gabeln und Meſſerſorten gab, für eine Tafel von vierund⸗ zwanzig Perſonen.

Dann beſann er ſich: mußte nicht eine ſpezielle Gabe für Irma dabei ſein? Für das neue Familien⸗ mitglied?

ielleicht wäre es am taktvollſten, ihr ein Stück des Familienſchmuckes zum lebenslänglichen Gebrauch zu überreichen zu verſchenken war davon ja nichts.

Er fühlte ſich ratlos. So etwas ſollte ich mit Hardy beſprechen, dachte er. Jawohl, eine Frau ſollte man haben ... Und er lächelte ingrimmig in ſich hinein.

Aus lauter eſeubtoſche ließ er ſich vom Gold⸗ ſchmied eine Rieſenbroſche mit viel Brillanten auf⸗ reden, von der er das dumpfe Gefühl hatte: die iſt ſchauderhaft. „Na, Irma ſoll ſie ſich umtauſchen, ich ſag' ihr's extra.“ |

Heinz Philipp hatte er ſich durch eine Depeſche ins Hotel beſtellt. Um ungeſtört mit ihm ſprechen zu können, nahm er ſich für dieſen kurzen Aufenthalt doch ein Zimmer. Und im Veſtibül des Hotels wartete Heinz Philipp auch ſchon; überpräziſe war er gekommen, von brennender Neugierde getrieben.

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Mit lebhaften Worten begrüßte er Herrn Dieter. Unverhoffte Freude hatte nicht gedacht, ihn noch vor dem Hochzeitsfeſt in der Stadt ſehen zu dürfen Nottbeckſche Damen hofften gleichfalls ſehr, wenn auch nur kurz.

Dieter ſchnitt alles ab. Er ſei in einem eiligen Geſchäft hier. Und müſſe noch heute abend wieder zu Haus ſein. So verſage er es ſich, die Damen zu begrüßen.

Ob er wohl Hardy auch nicht ſieht? dachte Heinz Philipp neugierig.

Im Lift fragte Herr Dieter: „Wie geht es Hardy?“

Und bei der Frage wurde er dunkelrot. Von ihr etwas hören muß ich doch, dachte er.

„Wir bekommen Hardy kaum zu ſehen,“ ſagte Heinz Philipp, „ſie behauptet immer, ſie müſſe ſich abends von ihrer Arbeit ausruhen, könne dann nicht unter Menſchen ſein. Irma und ich ſind aber geſtern mittag bei ihr vorgegangen,“ verſicherte er eifrig, „und wir ſind traurig, daß Hardy keine Vernunft annimmt; ſie iſt ſo blaß, das Telephonieren ſoll überhaupt rieſig angreifen. Irma ſagt, wir wollen ihr ja gern geben, was ſie braucht, aber ich erzählte Irma, daß ſie Ihnen ein ähnliches Anerbieten abſchlug.“

Sie gingen nun den Korridor entlang; der Kellner, der ihnen voranſchritt, öffnete eine braune Tür in der Reihe all der vielen, die ſtumm und blöde auf den roten Läuferteppich hinzuſtarren ſchienen.

„Alſo, da ſind wir,“ ſagte Herr Dieter, ohne mit einem Wort ſich auf Heinz Philipps Erzählung zu 1 „bitte, ſetzen Sie ſich nur erſt mal etzen.“

Was hat er! dachte Heinz Philipp, er iſt offenbar aufgeregt, ob er wohl mit mir wegen Hardy ſprechen wi |

Und er bereitete ſich auf die korrekte Haltung vor, die er ſich für dieſen Fall ſchon ausgedacht hatte.

Herr Dieter ſtand, die Hände in dem Gurt ſeiner Joppe, die er aus lauter Zerſtreutheit anbehalten hatte, und ſann vor ſich hin. Etwas breitbeinig und mächtig

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ſtand er da, mitten in dem Hotelzimmer. Seine blauen Augen waren förmlich ſtarr.

Mit einem Male fuhr er auf.

Phi lippe haben natürlich wieder Schulden, Heinz

i

Das kam zu jäh. Heinz Philipp wurde rot.

„Na, alſo ja? Das ſehe ich Ihnen an. Hören Sie, damals ſagte ich: einmal und nie wieder. Ich bin ſonſt ein Mann von Wort. Ich hoffe, danach werde ich auch von Ihnen und i taxiert. Aber in dieſem Falle. „diesmal. .es gibt ja Lagen . . . ja, die gibt es.

Heinz Bhlipp dachte vergnügt: jawohl gibt es

„Lagen“... wenn man mein Schwager werden will, 1819 man ſich natürlich dafür intereſſieren, daß ich nicht mit Schulden in die Ehe komme! Er iſt ein famoſer Kerl. So 'n Schwager hat mir der liebe Gott extra aufgebaut.

„Alſo,“ fuhr Dieter fort und räuſperte ſich; er war befangen, weil er ganz unbefangen wirken wollte, „alſo, es gibt Lagen ... womit ich aber mein Wort wiederhole zweites und tatſächlich letztes Mal! Sie hören es!“

Heinz Philipp ſah mit einem ganz außerordentlich taktvollen Ernſt Herrn Dieter in die ſehr ſtrengen, blauen Augen und ſprach: „In wenigen Tagen bin ich Ehemann, dann kommt das Verantwortungs⸗ gefühl Äh 89 und Zukunft.“

| . Bravo. Wollen es hoffen. Alſo wieviel?“

Da ſtrahlte Heinz Philipp. Er war ſtolz, eine kleine Summe nennen zu dürfen. Er machte ſich ein Ver⸗ dienſt daraus.

„Gottlob, nur eine Kleinigkeit. Siebentauſend⸗ ſechshundertundfünfzig Mark.“

Er hätte noch hinzufügen können: und fünfund⸗ ſechzig Pfennig. Denn bei Antritt ſeines Urlaubs zur Hochzeit und Hochzeitsreiſe hatte er alles fabelhaft genau aufgerechnet, und zwar im Hinb nblick auf die Möglichkeit einer jovialen und e Anfrage me Schwiegervaters.

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Herr Dieter ſah aus feiner impoſanten, breiten un 85 ihn herab. Gewaltig erſtaunt, mißfällig, ja grollend.

„Donnerwetter, ſchon wieder ſo viel? Das iſt Auf⸗

ſolſſen Sie d . . . Kleinigkeit? Verehrter Herr Vetter, wiſſen Sie was? Als ich nichts war wie Beſitzer von Mohrhütte, da ſchuftete ich ſparſam von früh bis ſpät, wie ich's meinen Alten hatte tun ſehen, um zu den Terminen die Steuern und die Zinſen für die Ritter⸗ und b von der wir vierzigtauſend auf Mohr⸗ hütte ſtehen hatten, beiſammen zu kriegen. Ich ſag' Ihnen, ich war allemal ganz ſelig, wenn das Geld dalag, und ich fand es rieſig viel Geld! Es waren nämlich auch juſtament immer ſo um ſiebentauſend rum.“ Heinz Philipp machte ein beſchämtes Geſicht und dachte: So 'n großer Herr er auch iſt, 'ne Spur von Bauernenge iſt doch hängen geblieben na, wenn er man bezahlt! Es würde doch vorzüglich auf Schwieger⸗ papa wirken, wenn er auf etwaige Frage: Schulden? prompt ſagen konnte: Auf Ehrenwort, keine. Ein bißchen unruhig wurde er wegen der Geſchichte, er ſah, daß Herr Dieter mit einem bedrohlich finſteren Geſicht auf und ab ging. Zuviel Zorn für ſiebentauſend⸗ ſechshundertundfünfzig Mark, dachte Heinz Philipp.

Jawohl, Dieter ſah finſter aus. Und das hatte auch einen gewiſſen Zuſammenhang mit den Schulden und Heinz Philipps Bewertung ſolcher Summe.

Und an den fiele nun der Beſitz, wenn ich Aber ich werde leben. Was für eine tolle Vorſtellung. Ich will durchaus leben! Fröhlich und nützlich und ſehr lange! Jawohl, ſehr lange. Und Hardy will ich mir noch erobern.. Nein, dem Anwärter mache ich nicht Platz. Das kann das Schickſal nicht vorhaben, dem all die Menſchen und all das Land in die Hand zu geben

Und ein förmlich eherner Vorſatz, ſich zu behaupten, kam in ihm auf. Als könne ſo ein feſter Wille das Schickſal zwingen.

„Heinz Philipp,“ begann er und ſah den andern

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fo durchdringend an, daß der aufftand wie in Erwartung von etwas Feierlichem, „die Sache wird natürlich ge⸗ ordnet. Davon Schluß. Aber ein Wort, ſo apropos Ihrer Hochzeit. Es iſt ein ernſter Abſchnitt. Sie und ich wir ſind die letzten im Moment. Übers Jahr kann alles anders ſein. Sie können einen Sohn, ich ein Weib haben. Aber Männer bedenken die Gegen⸗ wart. Wir haben jähe Fälle erlebt in ns Haufe. Auch ich bin ein Menſch, dem brutalen Zufall jeden Augenblick ausgeſetzt und den geheimnisvollen Be⸗ ſchlüſſen, die der Höchſte über uns gefaßt hat, untertan. Wenn ih... Nun, bloß dies eine ‚wenn‘: Wenn alſo Sie der ver würden: Denken Sie mehr an die Pflichten, die auf Sie kommen, als an das Geld. Sie würden's vielleicht auch bald von ſelbſt ſpüren: das eh ernſt, koloſſal ernſt, jo viel Verantwortung zu aben.“

Er brach ab. Er nahm Heinz Philipps Hand und drückte ſie Hi

Auf eine ſolche Rede war Heinz Philipp nicht von fern gefaßt und in keiner Weiſe auf ſie vorbereitet geweſen. Vor Befangenheit wußte er gar nicht, was er dazu für eine Hang einnehmen ſollte. Aber gerade infolge ſeiner Verlegenheit ward er natürlich und traf das richtige.

„Da ſei Gott vor,“ ſprach er, von Dieters Bewegt⸗ heit angeſteckt, „ſolcher Aufgabe fühlte ich mich nicht gewachſen. Seit Generationen iſt der Beſitz nicht in ſo guten Händen geweſen. Möge er darin bleiben.“

Das tat Dieter doch irgendwie wohl. Er hatte faſt ein Gefühl verwandtſchaftlicher Zuneigung in dieſem Augenblick... er war eben weich. Und dann: dieſer da war ja auch Hardys Bruder...

Sie ſaßen dann noch ein Stündchen faſt zutraulich zuſammen. Jedenfalls dachte Heinz Philipp: So nett iſt er noch nie mit mir geweſen. Schon geradezu brüderlich iſt er. Und um ſo erſtaunter war er, als er ſchließlich Herrn Dieter an den Zug brachte, ihn ab⸗ dampfen ſah und doch kein einziges Wort über eine bevorſtehende Verlobung mit Hardy gehört hatte.

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Als Herr Dieter auf dem Heimwege war, dachte er: So, dies wäre geordnet.

Nun all die andern Dinge ... Aber ſeltſam war's: er kam abends an ſeinem Schreibtiſche nicht über ein paar ganz kurze teſtamentariſche Beſtimmungen hin⸗ aus. Er vermachte ſein Stammgütchen Mohrhütte und das Kapital, das er in den letzten drei Jahren erſpart, an Frau von Arnberg, nicht an Hardy. Er fand es zarter ſo. Die Frauen würden es verſtehen. Deſſen war er ſicher. |

Aber außerdem wollte er ja noch viel Schriftliches auflegen... Er wurde ungeduldig vor ſeinen Brief⸗ bogen. Und gab es endlich verzweifelt auf.

So etwas macht man am allerletzten Abend, dachte er ſchließlich, dann iſt die rechte Stimmung für die rechten Worte da.

Er erfuhr in dieſen Stunden, was „Nerven“ ſind. Schon das Bevormundende, das darin lag, daß andre Menſchen Ehrenrat und Sekundanten über ſein Tun und Laſſen verhandelten, machte ihn unruhig. Er fand ſeine Gelaſſenheit erſt wieder, als am Vor⸗ mittag des ſiebzehnten die Depeſche aus Wieſchenburg eintraf: „Erwarte dich heute! Prüttwitz.“

Alſo gottlob! Das verwünſchte Warten wurde nun durch die Tat abgelöſt. Man durfte als Mann 8 Als Schützer der Schutzloſen ſich hin⸗

ellen.

Er fuhr nach Wieſchenburg ab. Prüttwitz, der durch den vielfachen Wechſel von Depeſchen und Eilbriefen in dieſer Sache anderthalb ſehr gehetzte und wichtige Tage durchlebt hatte, empfing den Freund mit einer bedeutungsvollen Feierlichkeit des Weſens. Und dann vernahm Dieter den Bericht: der Ehrenrat bezog ſich auf eine Kabinettsorder des alten Kaiſers, die neu ergänzt und verſchärft ſei, daß der frivole Beleidiger unbedingt beſtraft werden ſolle. Und wenn auch die vorliegende Beleidigung einer Dame vielleicht nicht frivol ſei, müſſe man die Sache doch als zu ſchwer und ernſt anerkennen, um ſie durch einen Ausgleich für aus⸗ gelöſcht zu erklären.

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Da die Forderung, die Prüttwitz überbracht Hatte, eine Piſtolenforderung auf Diſtanz geweſen war, hatte man vereinbart: zehn Schritt und zweimaliger Kugel⸗ wechſel. Man würde die Piſtolen des Hauptmanns von Schleichheim haben, der auch, als ein in Duell⸗ ſachen ſehr erfahrener, kaltblütiger und in Ehrenhändeln autoritativer Mann, der Unparteiiſche ſein wollte.

Nachdem dies zu Ende beſprochen war, ſchien es plötzlich, als hätten die Freunde gar keinen Geſprächs⸗ ſtoff mehr. Jeder ſchien künſtlich herbeigeholt. Alle dachten nur an den nächſten Morgen.

„Ich zieh' mich zurück,“ ſagte Dieter früh, „hab' auch noch allerlei zu ſchreiben.“

„Keine Vorbereitungen!“ rief ihm Grohberg noch⸗ mals dringlichſt nach.

Der hat gut mahnen: keine Vorbereitungen. Der ſteht allein und frei, und wenn er heute davon müßte, ſackten ſeine Schweſtern glatt das kleine Barkapital ein, und damit reinen Tiſch . .. dachte Dieter.

Er ſah ſich in ſeinem Zimmer um. In den Wieſchen⸗ burger Fremdenſtuben gehörten Tintenfäſſer nicht zu den herkömmlichen Ausſtattungen.

Aber richtig, diesmal war ja alles da, lag bereit auf dem Sofatiſch. Und es war Dieter, als ſähe er das finſtere Rittergeſicht, mit dem Prüttwitz in Perſon das Papier und das enorm große, rote, neue Löſchblatt hingelegt. Die Lampe brannte daneben. Die Fenſter⸗ vorhänge waren geſchloſſen. Eine völlige Winter⸗ ſtimmung, traulich und einſiedleriſch, erfüllte das Zimmer ganz.

Dieter ſtand und beſann ſich.

Es war ja wohl eigentlich doch überflüſſig, noch einen langen Brief an Heinz Philipp zu verfaſſen. Ihm gute Lehren zu e kam ihm nicht zu. So eine mündliche Andeutung hatte er ſich ſchon heute mittag geſtattet. Wenn die im Ernſtfalle nicht nach⸗ wirkte, wirkte auch nichts Handſchriftliches. Sollte er ihm noch Lebrecht Philipps, ihres Vorbeſitzers un⸗ glückliche, unheilbare Gattin und deren kleines Töchter⸗ lein empfehlen, das von ihren nun verheirateten

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Schweſtern aufgezogen ward? Aberflüſſig! Das ver⸗ ſtand ſich ganz von ſelbſt, daß Heinz Philipp ſo fort⸗ fuhr, wie er zu ſorgen angefangen.

Und über die eigene Mutter und Schweſter brauchte er Heinz Philipp erſt recht nichts zu ſagen. Außerdem lag ja das Teſtament über Mohrhütte und das bißchen Kapital ſchon im Schreibtiſch in Arnberg.

Alſo nein! An Heinz Philipp wurde nicht ge⸗ ſchrieben.

177 ſeufzte auf. Förmlich erleichtert durch den Ent⸗

u

Aber ihr, der Einen, der Geliebten, der wollte und mußte er einmal ſo aus tiefſter Seele ſagen, wie un⸗ menſchlich lieb er 15 habe.

ächtig ſchwoll das Gefühl in ihm. Ganz blank wurden ſeine Augen und ſo über⸗übervoll das Herz.

Wunderſchöne, ſehr leidenſchaftliche Worte, in un⸗ em Bufammenhange, zogen durch ſeine Ge⸗

anfen...

Ja, das alles wollte er ihr jagen... Und wenn dann das Schickſal es ſo vorhatte, daß Hardy den Brief zu leſen bekam, dann wurde es ihr doch vielleicht leid, daß ſie nicht „ja“ esche habe ... Ich, du Liebe, ſieh

mal, ich bin ſo 'n beſcheidener Kerl, ich wär' auch mit deiner Freundſchaft zufrieden geweſen bloß dich haben! Dich hegen und pflegen dürfen nach all deiner harten Jugend! Ja, und ſchließlich hätt'ſt du am Ende eingeſehen, daß ich doch ein bißchen Liebe von dir ver⸗ dient babe...

Er ſaß vor dem Papier, die Feder in der Hand. So klein und einſam lag der weiße Briefbogen auf der mächtigen roten Unterlage.

„Liebe Hardy!“ ſetzte die Feder hin, mit großen, etwas herriſchen Zügen.

Dieter ſtarrte auf das weiße Blatt.

Er dachte nach. So ärgerlich war es ... all das, was ſo groß und zärtlich, ſo ganz und gar hingegeben und voll tiefer Leidenſchaft in ihm brannte er konnte es nicht in Worte faſſen. |

„Liebe Hardy!“ ſtand da in Rieſenbuchſtaben.

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So 'n Blatt datiert man, fiel ihm ein.

Er ſchrieb noch oben drüber: „Wieſchenburg, den 17. September 1904.“

Dann ruhte die Feder. 15 rn Geele war ganz erfüllt von inbrünftiger

iebe.

Ich muß ja leben bleiben und muß fie mir erringen, dachte er.

Aber doch für alle Fälle...

Da ſtand der e

„Liebe Hardy!“

Die Stirn ward ihm feucht. Er war ja nie ein Schreiber 5 En

Und wie er jo auf dies Wort ſtarrte, das unter dem Datum einſam ſtand, da fühlte er, als umſchlöſſe es alles, alles, was ſein Herz nur überhaupt zu ſagen vermöchte .

Er nahm das Blatt es konnte hier natürlich nicht liegen bleiben.

Zerreißen hätte er's nicht mögen ihm war es was Bedeutungs volles.

Ihr lieber Name ſtand da ſo, wie Troſt und Ver⸗ heißung.

Er faltete es ſorgſam zuſammen und legte es in ſeine Brieftaſche.

Dann erhob er ſich ganz ſchwerfällig vor Ver⸗ ſonnenheit. ö

Und eine geſunde, gute Müdigkeit war in all ſeinen Gliedern.

Er beſchloß ins Bett zu gehen.

Unterm Auskleiden dachte er immer wieder an die beiden Worte: „Liebe Hardy!“

Und als er ſich ausſtreckte, ſtellte er nochmal bei ſich feſt: Ein Schreiber bin ich nie geweſen nein

„Liebe Hardy!“ murmelte er wieder und ſchlief ſchnell und feſt ein.

® ® ®

So ſtarke und ernſte Worte hatte Borwin in jeiner Ehe noch niemals gebraucht, wie die es waren, mit

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denen er Doraline zum Schweigen über den Vorfall im Münchower Park zu zwingen hoffte.

„Jetzt nur Haltung, Faſſung und Schweigen,“ bat,

ja befahl er zunächſt.

enn Doraline machte Anſtalten, einen Wein⸗ krampf zu bekommen. Seine Härte ließ ſie ſo ſehr erſchrecken, daß ſie in dieſem Schreck eine leidliche Haltung fand. Ihr verweintes Ausſehen wunderte die Eltern und das Brautpaar nicht. Man war ge⸗ wohnt, daß Doraline häufig Szenen machte. Immer auf ihr eigenes Behagen bedacht, vermied Frau Not⸗ beck ernſte, ichle die ei Geſpräche und Vorſtellungen; höchſtens machte ſie einmal gelegentlich eine recht ob⸗ jektive Bemerkung. Der Generalkonſul, in einer ſchwachen Aufwallung von Mitleid und tatunkräftiger Gutmütigkeit, dachte wohl manchmal: wer hätte das gedacht, daß die beiden, trotz der großen Verliebtheit, ſich ſo ſchwer miteinander einrichten würden.

Nach der Münchower Fahrt ſollte die Familie noch auf einem Abendfeſt beim General von Schleichheim und Frau ſein. Die Frau war eine Couſine von Dora⸗ lines Mutter. Das Feſt fand zu Ehren Irmas und Heinz Philipps ſtatt.

Aber Doraline ſagte, ſie ſei ſehr elend und wolle nicht mit, und es verſtünde ſich wohl ganz von ſelbſt, daß ihr Mann kein Vergnügen daran fände, ohne ſie auf Feſte zu gehen. Nach dieſer Erklärung lehnte ſie ſich mit geſchloſſenen Augen in die Coupeede zurück und legte ihre Schläfe gegen das zuſammengeknüllte Taſchentuch am Polſter. |

Borwin war dies willkommen . .. jo brauchte die Abſage zum heutigen Abend nicht von ihm auszugehen. Er hätte es unerträglich gefunden, ſich unter Menſchen zu bewegen, heitere Unbefangenheit zu heucheln. Er wußte auch: eine ſehr ernſte und endlich einmal alle gragen ihrer Ehe berührende Auseinanderſetzung mit

a war nun unumgänglich. Und vielleicht auch gejund....

Obgleich ... wie ſollte er zu dieſem hitzigen Kinde ſprechen? ... Denn ein kindiſches Kind war fie...

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Nichts hatte ſich in ihr durch die Ehe fortentwickelt, außer ihrer Sinnlichkeit.

Ja, ihm ſchien zuweilen, als ſei ſie zurückgegangen. An der Braut hatte er mehr holde, mehr weibliche Weſenszüge geſpürt ... Aber das alles waren für ihn, den Mann, keine Rätfel... Die Natur Hatte Doraline nach der einen Seite zu ſtark veranlagt... Doralines ganzes Empfinden und Denken war von ihrer Liebe bejtimmt... Und Liebe war für ſie: körperlicher ale | Ä

Und weiter ſchien ihm, als fei er in dieſer Ehe ſchon ſelbſt surhdgegangen .. . Man ſinkt, wenn man ſich beſtändig verteidigen, erklären, in acht nehmen, in Schwüren ausdrücken ſoll. Man lernt zu gewandt mit kleinlichen Waffen fechten

Sein Überdruß kannte oft keine Grenzen.

Und ſchmachvoller noch war es ihm, daß ihn zu Stunden dieſe Glut der Frau dennoch wieder hinriß ...

Aber jetzt vielleicht, nach dieſem Erlebnis jetzt kam man in einen geſunderen Zuſtand hinein.

Im Wagen ſagte Doraline, als ſie vom Bahnhof nach Haufe fuhren: „Du wärſt wohl gern zu Schleich⸗ heims gegangen. Aber ich hätte es heute abend nicht ertragen, allein zu ſein.“

„Das erträgſt du ja nie,“ ſprach er, aber ohne Schärfe. „Nein, ich meine auch, wir haben zuviel auf dem Herzen und ſind am beſten in unſerm eigenen Heim aufgehoben.“

Aber das mußten ſie ſich auch noch erkämpfen.

Frau Eggsdorf ſchickte herauf: ſie ließe bitten, daß die junge Frau pünktlich fertig ſei, damit man präziſe 1795 neun zu Schleichheims fahren könne; das ewige

arten mache ſie zu nervös. Auf dieſe Beſtellung ber deren Schroffheit nur aus Nachläſſigkeit und Eile erkam, keineswegs aus Streitſucht, ließ Borwin ſagen, ſie blieben daheim, ſeine Frau ſei elend, man habe ſoeben bei Schleichheims telephoniſch abgeſagt. So⸗ fort usch eilenden Schrittes kam Frau Eggsdorf treppan gerauſcht.

Sie fand Doraline mit einem etwas verſchwollenen

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Geſicht. Man ſah der jungen Frau ſtets noch lange an, wenn ſie Tränen vergoſſen hatte.

Borwin war gerade dabei, für ſie ein Brauſepulver zuſammenzurühren. Er hatte den Eindruck: Doraline glaubt es ſich ſchuldig zu ſein, körperliche Beſchwerden zu fühlen. Er begriff, das war keine Schauſpielerei Doraline war nie unehrlich mit Vorſatz ſondern unterlag dem inſtinktiven weiblichen Bedürfnis, ihre Leiden vor dem, der ſie verurſacht, zu erhöhen. Er fühlte es als ſeine einfachſte Pflicht, geduldig und für⸗ ſorglich 1 einzugehen.

Nun kam ſeine Mutter, getrieben halb von Neu⸗ gier, halb von der Beſorgnis, daß es am Ende noch ihre mütterliche Pflicht werden könne, zu Hauſe zu bleiben. Und ſie ging immer ſo gern und in einer be⸗ ſonders pikanten Stimmung zu Schleichheims, mit denen ſie auf verſtecktem Kriegsfuße lebte.

„Na, was iſt denn los? Nimm dich nur zuſammen. Du ſiehſt verſchwollen aus. Ihr habt wohl was mit 'nander gehabt. Herrje, alle jungen Eheleute zanken Ku Nimm dich nur zuſammen. Mit Anſtellerei fällſt

u höchſtens deinem Mann auf die Nerven,“ ſagte ſie wohlmeinend. f d c ſtelle mich nicht an,“ ſagte Doraline, ſehr be⸗ eidigt. |

„Bitte, liebe Mama du ſiehſt, Doraline ift wirk⸗ lich erſchöpft,“ ſprach Borwin.

„Na dann fährſt du wohl allein mit?“

„Er bleibt bei mir,“ rief Doraline, ängſtlich auf⸗

ſehend.

„Mein Gott! Man gönnt dem Manne doch das Vergnügen, anſtatt es ihm zu ſtören! Wie oft Hab’ ich allein zu Haus ſitzen müſſen! Du tyranniſierſt Borwin. Das ſagt Fräul'n Hintze auch.“

„Ich habe kein 1 daran, heute ohne Dora⸗ line auszugehen,“ ſprach Borwin ärgerlich.

Frau Eggsdorf ließ ſich nieder. Sie hatte ja Zeit. Sie war ſchon in einem dunkelgrauen Seidenkleide, mit deſſen echten Spitzen ſie die Generalin Schleich⸗ heim recht zu übertrumpfen hoffte.

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„Liebe Kinder,“ begann fie entſchloſſen und redlich überzeugt, eine mütterliche Pflicht zu erfüllen, „ich muß euch mal ſagen: nehmt euch zuſammen! Man tuſchelt ſchon über euch. Ich hab' feine Ohren. So etwas entgeht mir nicht. Alle Augenblick eine große Szene. Das iſt ja gräßlich. Ich mag nicht, daß ihr in den Mund der Leute kommt. In meiner Familie muß es korrekt zugehen. An Borwin kann es nicht liegen. Er ne immer ein ruhiger Menſch, der wußte, was er wollte.“

„Ach,“ machte Doraline, und ihre Augen be⸗ gannen zu funkeln. Borwin ſah es ihr an: auf ihrer Zunge ſchwebten Anſchuldigungen die eine, ee vor den Ohren feiner Mutter laut werden

urfte!

„Ganz gewiß,“ ſprach er raſch, „habe ich ebenſo⸗ viel Schuld. Ich bitte dich, Mutter, laß du Doraline und mich nur allein verſuchen, in die rechte Tonart miteinander zu kommen. Und weil du dies Thema doch einmal angeſchlagen haſt: ich danke dir für deine herzliche Meinung. Aber auch ſonſt: kümmere dich, bitte, nicht um Doralinens junge Hausfrauentätig⸗ keit. Alle Augenblicke höre ich Klagen, du oder deine Dienſtboten haben in Doralinens Anordnungen hinein⸗ geſprochen. Es wäre doch vielleicht richtiger . wir bewohnten nicht das gleiche Haus. Das ſagt Fräulein Hintze auch.“

„Was Fräul'n Hintze ſagt, hat ja nun gar keinen weiteren Wert,“ bemerkte Frau Eggsdorf und erhob ſich in ſehr vornehmer Haltung. „Aber das iſt Mütter⸗ los. Man meint es liebevoll und erntet Undank. Gute

Durch dieſen Zwiſchenfall waren Doraline und Borwin ſich in der Stimmung gleichſam näher ge⸗ kommen. Doraline, immer ganz dem Augenblick unter⸗ tan, hatte einen kleinen Triumph darüber gefühlt, daß Borwin ſeiner Mutter mal ein wenig die Wahrheit ſagte. Sie ſpürte auch darin den Beweis, daß Borwin ſich ſehr ſchuldig wiſſe. Und das gab ihr inſtinktiv das Gefühl, daß er nun ihr noch höriger Ben ſei,

XXVIM. 2. |

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durch unendliche Zärtlichkeit dauernd verſuchen müſſe, ſie zu verſöhnen. |

Und für dieſe ihre Empfindungen war jie von einer unbeſtimmten Dankbarkeit erfüllt, deren ſie ſich nicht bewußt wurde. Sie hatte Borwin ſehr lieb und dachte ihn durch eine nachſichtige Haltung ganz zu be⸗ zaubern.

Und er ſah plötzlich all die tauſend kleinen Alltags⸗ ſchwierigkeiten deutlicher, die ſeine Frau umgaben und ſie gewiß nur hemmten, anſtatt zu reifen.

Zu dieſem allen kam jetzt als Außerſtes das heutige Erlebnis...

Er fühlte ſich ganz und gar ſchuldig. Und hoffte den rechten, den liebevollſten Ton zu finden.

Er ſetzte ſich neben Doraline und nahm ihre Hand. Er wußte, man kam weiter mit ihr, wenn man ein ernſtes Wort dadurch milderte, daß man ihr die Wange dabei ſtreichelte oder die Hand.

„Sieh mal, Liebling, darin hat Mutter recht: es kann nicht unbemerkt geblieben ſein, daß du dich recht oft in leidenſchaftlichen Verſtimmungen befindeſt. Aber wir wollen zuſehen, wie wir ohne Einſpruch und Ein⸗ wahr“ von andrer Seite uns verſtehen lernen, nicht wahr?“

Sie nickte voll Energie.

„Damals,“ fuhr er fort, „als ich es am Tage vor unſrer Hochzeit nicht über mich vermochte, dir etwas zu verleugnen, das ſehr tief und rein geweſen iſt, da⸗ mals ſagteſt du, du wollteſt mir verzeihen. Ich nahm es an, obgleich du laß mich es heute ausſprechen mir nicht das mindeſte zu verzeihen hatteſt. Trotz⸗ dem biſt du unaufhörlich auf das dir damals in heiliger Stimmung Anvertraute zurückgekommen. Ich weiß es nicht, wieviel das dazu beigetragen haben mag, das Vergangene, überwundene förmlich mit Gewalt in mir wachzurufen.“

Sie entriß ihm ihre Hand. In ihr kochte ein heißes Unglücksgefühl auf, ein Schreck ſie begriff blitz⸗ ſchnell: ja, ich hab' mir geſchadet, ich grub die tote Liebe immer wieder aus. Aber hinein in dieſe jähe

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Erkenntnis miſchte ſich auch Schon raſch der eiferſüchtige Zorn: „Hab' ich mir nicht gedacht, daß irgendwie ich die Schuld bekäme!“ rief ſie.

„Damals haſt du verziehen, als nichts zu verzeihen war. Nun bin ich in einer Aufwallung, vor der ich mich jetzt ſelbſt entſetze, nun bin ich in meinen Ge⸗ danken wirklich ſchuldig du wirſt, du mußt es deiner Art nach ſo anſehen! Auch vor einer andern habe ich ſchwer gefehlt, taktlos und unritterlich. Jetzt bitte ich dich in Wahrheit: verzeih mir! Bedenke aber auch, daß dies alles keine Kindereien ſind. Daß du deinen Mann bloßſtellſt und unſre Ehe gefährdeſt, wenn du jetzt nicht würdig handelſt! Das ganze Unheil wäre Scha entſtanden, wenn du mir nicht immer wie ein Schatten ſo nachgelaufen gekommen wärſt!“

„Ah, dann hätte ich nichts gemerkt! Und wer weiß.. All ihre Verſöhnlichkeit entfaltete mit Rauſchen die Flügel und flog pathetiſch davon.

„Ich wäre dann nach keiner Seite hin weniger ſchuldig geweſen,“ fiel er ihr mit ſehr feſtem Ton in die Rede, „aber es wäre mir die Zeugenſchaft des Herrn von Arnberg erſpart geblieben, es wäre mir die Furcht erſpart geblieben, daß dieſer Mann, der ſo offenkundig ſeine Neigung für Fräulein von Arnberg zeigte, nun vielleicht ſeine Bewerbung aufgibt, es wäre mir erſpart geblieben, dich ſchlimme Worte ſprechen zu hören, deren ich mich vor den beiden ſchäme.“

„Man vergißt ſich wohl mal,“ ſagte Doraline trotzig, ihre Beſchämung verleugnend. „Daß und wie man ſich vergeſſen kann, weißt du ja ſelbſt! Freilich bin ich hinter dir hergelaufen, wie du das nennſt. Das iſt mein Recht. Ich meine, dazu haben wir uns verheiratet, um immer zuſammen zu ſein.“ j

„Nein, nicht fo, wie du das Zuſammenſein ver- ſtehſt,“ ſprach er. „Eine ſolche unaufhörliche Nähe, ein ſolches ſtetes Hand in Hand muß zuletzt erſchöpfend anſtatt erfriſchend wirken, wenn es eben gar keinen andern Inhalt hat als immer die Liebe. Wir wollen am Leben, an der Welt und ihren Vorgängen teil⸗ nehmen, fie verſtehen lernen, an ihnen reifen. Selbſt,

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meinen Beruf ſiehſt du mit feindſeligen Augen an. Du holſt mich vom Kontor und geleiteſt mich zur Börſe. Du biſt nach der Börſe, zu Fuß oder im Wagen, wieder zur Stelle und führſt mich heim zu an Wenn wir in Geſellſchaft ſind, kann ich kein Geſpräch haben, weder mit einem Manne noch mit einer Dame, du kommſt raſch dazu. Werden wir zu einem Diner geladen, iſt ſchon vorher dein einziges Trachten, die Gaſtgeber irgendwie zu erwiſchen, um ihnen zu ſagen: laſſen Sie mich, bitte, neben meinem Mann ſitzen. Das muß mich lächerlich machen das kann, das ſoll nicht ſo fortgehen.“

Sie brach in Tränen aus.

„Jeder andre Mann wäre glücklich und gerührt über ſo viel Liebe. Aber dir bin ich eine Laſt, weil du dieſe Arnberg noch liebſt,“ ſagte ſie unter Schluchzen.

„Nein,“ ſprach er hart, „ich liebe Fräulein von Arn⸗ berg nicht mehr.“

„Warum haſt du ihr denn ſo heiß die Hand geküßt ja, umarmen wollteſt du ſie wenn wir nicht da⸗ zwiſchen gekommen wären!“ weinte ſie.

„Du haſt ein Recht, dich dadurch ſchwer verletzt zu fühlen, und ich bitte noch einmal: verzeihe mir,“ ſagte er. Er ſpürte, immer kälter und und immer gleichgültiger wurde er gegen die Tränen.

Er 95 Er erbitterte ſich daran, daß er lügen mußte. hatte es längſt begriffen: ungewöhnliche und verworrene Gefühlszuſtände muß man ver⸗ leugnen. Die werden immer nur verurteilt und nie and Und wie ſollte, was manchem Erfahrenen erſtaunlich erſcheinen konnte, was ihm ſelbſt ein furcht⸗ bares Rätſel war, wie ſollte dieſe junge, ganz unent⸗ wickelte Frauenſeele es verſtehen.

Er liebte Hardy verzweiflungsvoll und raſend liebte er ſie. Seine zerquälte und ermüdete Seele 5 vorbereitet geweſen für das Neuaufflammen diefer

iebe. |

Aber er konnte nicht in erniter eich in die ver⸗ trauensvoll ſeinem Ehekameraden ſich in die Hand geben und innig bitten: hilf mir, daß ich wieder zu

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1 und das andre ganz und für immer über⸗ winde

Nein, er mußte lügen. Und verſuchen, allein mit ſich fertig zu werden.

Vielleicht hatte das Schickſal, das ihn zum Opfer ns F auserſehen, eine Löſung ſchon zur Han

Die eine, die alles endet.

Ein leiſes Erſtaunen regte ſich i in ihm, daß Dora⸗ line gar kein Furchtgedanke kam ... fie hatte doch ge⸗ hört, daß Dieter Arnber ſchroff und ſtreng ſagte:

„Sie werden mir Rechenſchaft geben‘

Längſt hatte er vergeſſen, daß er, neben ſeiner Frau

r einen Worten durch bittende Geſten nachhelfen

woll 155 eo g auf und ab, und Doraline ſah ihm In

ſah, zu. Sie verſtand gar nicht, warum er böſe ausſah, und warum die zärtlichen, flehenden Bitten ausblieben.

„Ich kann dir nicht eher verzeihen, als bis ich weiß, warum du denn ſo erregt mit Fräulein von Arnberg warſt wenn du behaupteſt, du liebſt ſie nicht mehr. Se das, muß ich ja wohl glauben ſonſt bring' ich

um.“

= I Warumd⸗ fragte er zurück. Er ſuchte nach den klügſten Worten. Vor allem auch, um ſich ſelbſt viel⸗ leicht etwas Klärendes ſagen zu können. „Warum?“ Er ſtand in der Tiefe des Zimmers, neben Dora⸗ linens Klavier, den Ellbogen oben aufgeſtützt. Aber er fühlte wohl, ſie konnte doch jede ſeiner Mienen be⸗ wachen. Das grauſame elektriſche Licht ließ nicht einen Winkel unerhellt. daft kam es ihm vor, als leuchte es auch in ihn hine Nichts ſollte er 9 für ſich haben, nicht eine Miene, nicht einen Gedanken. | 5 fich. war auch Doralinens Liebe, ſo unerträglich eutli „Warum? Ich habe einſt ein armes Mädchen lieb⸗ ehabt und verlaſſen, eine, die in ganz dürftigen Ver⸗ hälkniſſen hart um ihren Lebensunterhalt kämpfte.

aufmer

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Und dieſe vom Schickſal ſo Gedrückte, durch meinen Gefühlswandel vollends Unglückliche, ſie hatte mir voll ſtiller Großmut verziehen. Ich fand Frauen wieder, die, obſchon fie heute wie damals arm find, doch be⸗ ſchützt ſcheinen, deren Zugehörigkeit zur allererſten Geſellſchaft mir plötzlich klar ward ich ſah ſo viel ſtolze Feindſchaft in dem Geſichte der Mutter ich wurde von der Furcht erfaßt, daß die Verzeihung von einſt mir vielleicht entzogen worden jei... ich war wie von Sinnen in dem Wunſche, das Wort noch ein⸗ hab zu hören. Das iſt alles, was ich dir zu ſagen abe.“ |

Doraline kam heran.

„An ihrer Verzeihung ſcheint dir mehr zu liegen als an der meinen.“

„Ich habe dich ſchon zweimal gebeten: Verzeih! Mehr kann ein Mann nicht tun.“ |

„Aber in was für einem Ton!“ ſprach fie.

Er wußte wohl, welche Töne allein von ihr ver⸗ ſtanden wurden. Er konnte ſie jetzt nicht finden

„Dieſe Angelegenheit iſt zu ernſt, um raſch in ein paar Küſſen begraben zu werden,“ ſagte er, „ſie be⸗ trifft nicht uns allein. Wenn du das, was du unglück⸗ ſeligerweiſe erfahren haſt, nicht als dein Geheimnis zu bewahren vermöchteſt, könnteſt du Fräulein von Arnberg in ein falſches Licht bringen, ſie zum Opfer eines Geredes machen. Die Klatſchſucht der Geſell⸗ ſchaft kennſt du. Die Frauenehre Haͤrdys ſteht hoch und ungetrübt. Die kurze Beziehung zu mir, die, wenn du dafür einen Namen haben mußt, eine heim⸗ liche Verlobung war, hat ihr nichts von dieſer Ehre genommen. Wohl aber könnten böſe Zungen ihr ſehr weh tun, wenn man ſich nachträglich mit der Sache beſchäftigte, an ihr herumdeutete. Du verſtehſt: das fiele auf mich zurück. Ich käme in das Licht eines Mannes, der Indiskretion begangen hat. Das wäre mir vor der Welt ſehr ſchwer zu ertragen, vor Hardy wäre es mir unerträglich! Und wie ſchuldig ich auch durch meine Aufwallung geworden ſein mag, wie ſehr ich auch deiner Verzeihung bedarf wenn du dich

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klein betrügeſt, herumſchwatzteſt das könnte ich dir nicht verzeihen. Und die Folgen fielen auf dich. Be⸗ greifſt du das? Ich denke doch.“

Nein, ſie begriff es nicht. Sie fand, daß Borwin viel zu viel Weſen von der Arnberg machte. Und von den Gefahren einer Indiskretion. Man wurde ja mit den Arnbergs verwandt! Wenn einem dann wirklich mal ein Wort über die Geſchichte entfuhr, blieb es doch in der Familie. Und wenn die Beziehung wirk⸗ lich ſo ganz ideal geweſen war, brauchte man doch erſt recht kein jo ängſtliches Geheimnis daraus zu machen.

Aber weil er ſo ſchrecklich ernſthaft ſprach und ſie beinahe drohend anſah, bekam Sie ein bißchen Herz⸗ klopfen und eine unklare, allgemeine, unbeſtimmte

Angſt.

Sie wollte ja auch endlich zu ihrem Verſöhnungs⸗ feſt kommen. |

„Ich ſchwör' dir's zu,“ ſprach fie voll Nachdruck, „ich kann ſchweigen. Das ſollſt du mal ſehen!“

1 1 0 fiel ſie ihm um den Hals.

„Und verzeihen will ich dir auch. Wir wollen nie ch davon ſprechen,“ flüſterte fie in leidenſchaftlichem

one.

Er unterdrückte einen Seufzer. Gerade dieſe ſelben Worte hatte er ſchon einmal von ihr gehört. Und fie hatten gar keinen Wert gehen Er

Doch zog er fie mit Herzlichkeit näher an ſich heran und küßte ſie auf die Stirn.

Da entriß ſie ſich ihm und trat von ihm zurück.

„Einen ſo gnädigen und kalten Kuß verbitt' ich mir.“

„Doraline ..“

Aber ſie war ganz in Zorn, ihre Naſenflügel bebten. Mit Aare opf und funkelnden Augen ſah ſie zu ihm empor. Der Rückſchlag in ihr war zu

ark.

„Du ſollſt dich nicht mehr darüber zu beklagen haben, daß ich dir zu verliebt nachlaufe,“ ſagte ſie böſe. „O, nein! Wenn eine Liebe ſo mißhandelt wird wie die En könnte ſie ſich auch einmal ins Gegenteil ver⸗ ehren.“

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Und um ihren Zorn, ja, es war faſt Haß, noch mehr zu beweiſen, ging ſie in ſtolzer Haltung hinaus. ſah ihr nach. Sah lange auf die weiße, kalte, blanke Tür, hinter der ſie den war. 2 ſicht Ausdruck ſchwerer Ermüdung war auf ſeinem eſicht.

Wie ein Kind, dachte er, das nach dem ſchlägt, der ihm den Willen nicht tut.

Vielleicht war das auch mehr. Das erſte Aufblitzen jenes Haſſes vielleicht, der aus dem Kampf zwiſchen Überdruß und Unerſättlichkeit entſteht ..

Einen ganzen Tag lang hielt Doraline ihren Schwur. Sie war von ſehr viel Vorſätzen zum Heroiſchen er⸗ füllt. Wollte Borwin zeigen, daß ſie Wort halten könne, beherrſcht zu ſein verſtehe, ihm keineswegs mehr nachzulaufen gedenke. Sie nahm eine Miene der Würde und Fraulichkeit an. An dieſem erſten Tage des „neuen Lebens“, wie ſie den Zuſtand bei NS nannte, holte fie ihn weder vom Kontor noch von der Börſe ab. Und war nun voller Erwartung, was er bei Tiſch darüber ſagen, und mit wie viel Innigkeit er ſie dafür loben und belohnen würde.

Aber Borwin ſchien es gar nicht einer Erwähnung für wert zu halten. Er war ſehr ſchweigſam, ſehr e

rnſt.

Da fand das „neue Leben“, das am vorigen Abend ſpät begonnen hatte, ſchon mittags um zwei Uhr ein Ende. Und Doraline verſteckte zunächſt ihre Enttäu⸗ ſchung unter einer gedrückten Miene und der Haltung einer ſchmerzlich Gekränkten.

Gegen Abend ſprach ein Herr vor, den Doraline nicht kannte. Er ſah ungefähr aus wie ein Stallmeiſter in einem vornehmen Zirkus, nur nicht ſo pomadiſiert und nicht ſo vergnügt. Doraline betrat zufällig den Flur, als dieſer Fremde mit dem Diener unterhandelte. Er wollte durchaus Herrn Eggsdorf ſelbſt ſprechen und ſeinen Namen nicht ſagen. Er war bereit, nach dem Kontor zu gehen, und als er hörte, daß nach aller Wahrſcheinlichkeit Herr Eggsdorf gerade unterwegs ſei, bat er, warten zu dürfen.

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Das wollte Doraline aber nicht haben. Ihr war dies ein „unheimlicher Menſch“, und ſie hatte noch keinen Blick, der unterſcheiden konnte.

Sie ſagte etwas kurz: der Herr möge ſich nur wieder herbemühen, aber ſie glaube kaum, daß ihr Mann ſich noch ſo ſpät würde ſtören laſſen. Und fragte, ob es denn 1 Geſchäftliches ſei.

Allerdings.

Als Borwin bald danach eintraf, wurde er gleich mit einer romantiſchen Erzählung beſtürmt: ein Abenteurer war dageweſen, der ihn gewiß anpumpen wolle, ſo habe er ausgeſehen. Die in der Tat etwas düſtere, hagere Rittererſcheinung des Herrn von Prütt⸗ witz wurde in Doralinens Beſchreibung die eines mord⸗ W Anarchiſten.

Aber noch war die Geſchichte nicht ganz zu Ende, und Doraline verweilte noch bei der Darſtellung ihrer ſehr ſtrengen und abweiſenden Haltung, als der Diener 5 und meldete: der fremde Herr ſei wieder

Zugleich gab er Borwin einen kleinen Brief⸗

mſchlag. Es mußte eine Viſitenkarte darin ſein. Ja, richtig. Es ſchienen aber nur ein paar Worte

und ein Name darauf zu ſtehen. Das ſah Doraline, als ihr Mann den Umſchlag zerriß.

Borwin ließ den Fremden in ſein Zimmer treten. Dort blieb er nicht ſehr lange mit ihm. Doraline ſchienen aber die paar Minuten eine Ewigkeit. Sie verging vor Spannung.

Sie hätte ja horchen können. Falls die Männer unbefangen und laut ſprachen, konnte man jedes ihrer Worte nebenan in Doralinens Zimmerchen hören.

Die Verſuchung war groß. Aber das ſei doch un⸗ anſtändig horchen! fühlte ſie. Nein, nein.

Als dann Borwin wieder bei ihr eintrat, fand ſie ihn ſehr blaß. Sie beſtürmte ihn mit Fragen. Wer war das? Was wollte der Menſch? Warum war Borwin bleich? Weshalb wies er ihre Fragen ab? Alſo wieder Geheimniſſe.

Er verſuchte ihr zu ſagen, daß es ja die Geteimnie | andrer Menſchen fein könnten zum Beilpiel ein

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beſonderes Geſchäft, das geplant und ihm unter dem Siegel der Verſchwiegenheit mitgeteilt werde. Allerlei Fälle erfand ſeine Phantaſie; er ſtellte viele Möglich⸗ keiten hin, die ihm verboten, ein Geſpräch, das er mit einem Fremden geführt, ſeiner Frau mitteilen zu können.

Doraline war außer ſich. Verziehen hatte ſie geſtern abend. Geſchwiegen hatte ſie ihren Schwur ge⸗ 1 jawohl! Und nun ſchon wieder Heimlich⸗ eiten!

Die Not lehrte ihn eine feige Taktik.

Er mußte unter allen Umſtänden noch fortgehen, ſeinen Sekundanten ſprechen, dem ſchleunigſt zu⸗ ſammengetretenen Ehrenrat Rede und Auskunft geben. Die Sitzung konnte bis in die Nacht hinein dauern.

Wie die Freiheit hierzu erobern, ohne neue Fragen und neue Lügen?

Und ſo ſagte er ſchroff, daß er den Klagen und Vorwürfen zu entgehen wünſche, und daß dies mehr ſei an Neugier, Mißtrauen und Eiferſucht, als ein Mann aushalten könne, und daß er deshalb im Klub zu Abend eſſen werde. Er ging davon.

Hinter ihm verfiel Doraline in ein heißes Schluchzen. Der Tag voll verſtändigen Betragens glich in ihrem Gefühl den Werten eines ganzen, aufopferungsvollen Lebens. Und dies war ihr Lohn

Am andern Morgen ſchien Doraline vor den Augen ihres Gatten in ſchweigendem Kummer und Elend zu vergehen. Aber ſo bedeutungsvoll ihre Haltung auch war, ſo auffordernd ihre Seufzer: er ſchien nichts von ihrem Unglück zu bemerken. Er war ſo in ſich gekehrt, daß er ihr nur flüchtig die Haare ſtreichelte, ehe er ins Geſchäft ging. Und gerade das war die einzige Zärtlichkeit, die Doraline nicht mehr haben mochte, ſeit ſie ihre Friſur geändert hatte. Ihr wunderhübſch und ſehr künſtlich geordnetes Haar ver⸗ trug es nicht, wenn gegen die Linie des Aufbaus von kräftiger Männerhand geſtrichen ward. Mit vorwurfs⸗ voller, ſchmerzlich beleidigter Gebärde rückte ſie ihre 1 eee wieder zurecht. Borwin ſah es gar nicht. |

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Nein, dies war zuviel! Aber ſie hatte geſchworen .. ſie wollte ſich großartig halten, das war ausgemacht dabei blieb es. Wenn Borwin zu Tiſch käme ſie wollte ihn abermals nicht abholen dann dachte ſie ihn zu fragen, ob er denn noch etwas an ihr auszu⸗ ſetzen habe, ob er denn nicht gerührt ſei von ihrem Benehmen.

Dieſen ihren Vorſatz konnte ſie nicht ausführen. Borwin ließ e abſagen: er habe Geſchäfte, er käme nicht zu T

Nun wallte etwas in ihr auf, das vielleicht der Ent⸗ täuſchung einer Schauſpielerin glich, die eine mühſam e ſehr ſchwere Rolle vor leerem Hauſe ſpielen muß. Wenn ſie kein Publikum für ihre ſchönſten Geſten und Worte hat, wirken ſie als Groteske vor ihrem eigenen Bewußtſein, werden zum unnütz verpufften Aufwand.

Geſchäfte! dachte Doraline erbittert.

Wie oft hatte ihre Schwiegermutter, die von einer triebhaften Mitteilſamkeit über ihr eigenes Leben und die Angelegenheiten andrer Leute war, wie vielmal hatte ſie geſagt: „Ach was, Geſchäft! Das iſt ſo 'n Paſſepartout für die Männer. Ihre Hintertür, aus der ſie uns entſchlüpfen. Der Punkt, auf dem man ſie nicht kontrollieren kann. Borwins Vater war faſt naiv darin. Zu den unwahrſcheinlichſten Tages⸗ und Nacht⸗ zeiten blieb er aus dem Haus. Immer in Geſchäften. Ich ſagte ihm auch, dazu hätte er ſich 'ne dümmere Frau nehmen müſſen

155 Doraline fühlte: Ich bin nicht dumm ich

i

und ſie ſteckte ſich mit zitternden Händen den Hut auf dem Kopfe feſt und ſtach ſich faſt eine Nadel in die Haut hinein. Sie nahm ſich nicht die Zeit, anſpannen zu laſſen. „Ich finde wohl einen Taxameter.“

Aber auf dem weiten Schmuckplatz, an dem das Eggsdorfhaus lag, war kein Wagenſtand. Die wenigen Villen, die in alten großen Gärten das geräumige Rund des Platzes umſchloſſen, lagen in N Ver⸗ laſſenheit.

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Vom Himmel, der dick und gleichmäßig trübe aus⸗ ſah, als ſei er mit hellgrauem Flanell beſpannt, troff ein ſehr dichter Regen in eiliger Gleichmäßigkeit. Auf dem Raſen ſtand die a die legten Rojen in den Rabatten neigten ihre waſſerſchweren dicken Blumen⸗ köpfe bis in ihre auf der Erde der Beete feſtgepflockten Zweige. Die mit feinem Kies beſtreuten Wege waren von Lachen durchſetzt. Der kreisrunde Fahrweg an den Villengittern vorbei zeigte kleine Ströme in den Wagenfurchen.

Doraline lief durch die Lachen und quer über den verſchlammten Fahrweg. Sie bog in eine der drei Gartenſtraßen ein, die auf den Platz mündeten. Auf ihrem Schirm prickelten die Regentropfen monoton.

Endlich traf ſie eine Autodroſchke. In ihr begann fie nun die Jagd auf Borwin. Er war nicht im Ge⸗ ſchäft; der Kaſſenbote, mit dem ſie in der Tür zu⸗ ſammenprallte, meinte auch, der Herr ſei nur ganz kurze Zeit dageweſen. Aber der Mann konnte ſich ja irren. Doraline ließ einen der Herren Prokuriſten. herausbitten, erzählte ihm mit raſchem Atem und weinerlicher Stimme, daß fie unter allen Umſtänden ſofort ihren Mann ſprechen müſſe. Der höfliche und ergebene Prokuriſt bedauerte es ſehr, aber er konnte ihr nicht dazu verhelfen. Daß er kopfſchüttelnd hinter nich 3 lächelte, als ſie wieder einſtieg, das ſah Doraline nicht.

Borwin war auch nicht im Klub. Die junge Frau folgte dem Klubdiener auf den Hacken. Vom Vor⸗ zimmer aus konnte ſie die Flucht der Räume halb und halb überſehen. Und ſah nur zwei alte Herren, die nichts mehr mit dem Leben zu tun hatten, als es zu kritiſieren. Der greiſe Konſul Dierkens guckte über ſeinen Kneifer weg mißbilligend auf die junge Frau an der Tür. Er hatte den Tatterich, und die dedtung in ſeiner Hand bebte, als ſchüttle er ſie mit Vorbedacht. Von dem andern Leſer war nur die Glatze ſeines Hinterkopfes ſichtbar, die ſich gegen die grüne Leder⸗ polſterung des niedrigen Klubſtuhls gedrückt hatte, und dieſes Stück Glatze zeichnete ſich blank und rund von

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dem Schwarzweiß einer breit entfalteten Zeitung ab. Vollkommene Stille herrſchte. Und draußen vor den großen Fenſterſcheiben rann der Regen. Es war be⸗ klemmend und traurig. Die ganze Lebensöde einſamer und unnützer Menſchen ſchien um dieſe beiden alten, ſchweigenden Männer zu schu Doraline ängſtigte ſich faſt. Es ſchien auch, als ſchüttle der eine alte Mann die Zeitung drohend gegen ſie. Und ſie glaubte es dem von ſeinem Gange durch die Räume zu ihr zurück⸗ kehrenden Diener: es ſei niemand weiter da. Abermals hinein in das vom Regen begoſſene Auto. Der Chauffeur, in ſeinen gelben Gummimantel ge⸗ hüllt, die Mütze über Nacken und Ohren, ſah wie ein phantaſtiſches Un ER aus, das eben aus dem Waſſer zur Oberfläche e iſt. N

„Zum Royal!“ befahl Doraline. Das war ein kleines, vornehmes Reſtaurant. Dort, das wußte ſie, hatte Borwin früher einen Vormittagsſtammtiſch ge⸗ habt, an dem ein beſtimmter Herrenkreis zwanglos kam und ging, wo man manchmal nur für Minuten vorſprach, um vor der Börſe noch eine Kaviarſchnitte und ein Glas Sherry zu nehmen.

Der Portier, der hinter der Glasſcheibe der Entree⸗ tür mit ſtumpfer Ergebung die 5 Stunden Aa kam, ſich zu eifrigen Allüren aufraffend, an die Tür der Autodroſchke.

Natürlich. Er kannte Herrn Eggsdorf ſehr gut. Nein, Herr Eggsdorf war beit noch nicht hier geweſen und verkehrte überhaupt ſeit Monaten kaum noch im Royal.

Wo ſoll ich ihn ſuchen? dachte Doraline verzweifelt und begriff, daß ſie ihn nirgends finden werde.

Der entſetzliche Gedanke kam ihr: er iſt bei der Arnberg. Ja, ganz gewiß. Die Unterredung im Münchower Park war ihnen geſtört worden, war nicht zum Abſchluß gekommen. Wer wußte, was 15 ſich noch zu ſagen hatten! Wer bürgte dafür, daß alles nur ſo ideal zwiſchen Borwin und ſeiner früheren Geliebten zugegangen ſei, wie er behauptete! Das zu verſichern, war ja ſeine einfachſte Pflicht!

Die alte Liebe flammte wieder auf. Die Verlaſſene

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rächte ſich, indem fie nun ihr, der Siegerin von einſt, den Mann wieder fortnahm. | |

Doraline fühlte: Ja, jo war es! Am liebften wäre ſie zum Telephonamt gefahren. Ein letzter Reſt von Wirklichkeitsſinn ließ ſie begeifen: das ginge nicht. Wo wohnte Hardy Arnberg? Ah, ja das war ein Gedanke mit ihr ſprechen: Frau zur Frau

Man kann auf der Polizei erfahren, wo jemand wohnt, wußte Doraline. Sie hatte auch einmal ge⸗ hört, daß Hardy Arnberg nach dem Fortzug 05 Mutter aus der Stadt in einer Beamtenfamilie Penſion genommen habe. Wo dieſe Leute finden?

Aber Mama mußte die Adreſſe haben. Sie lud doch Hardy Arnberg manchmal ein. Ja, nun war es klar,

warum die immer abgeſagt hatte unter dem Vor⸗ wande ihrer Arbeit ſie mochte kein ganz reines Gewiſſen haben ... Arbeit ... Geſchäft ... jawohl, bequeme Vorwände.

Die Autodroſchke raſte am Hauſe des General⸗ konſuls Nottbeck vor. Nun merkte Doraline, daß ſie kein Geld bei ſich habe.

Sie lief ins Haus. Da war eine ſchreckliche Unruhe. Die Mama befahl aller Welt: dem Tapezier, der Koch⸗ frau, ihrem Manne, dem Blumenlieferanten, dem Tafeldecker.

Was wollte Doraline? Jetzt, wo man alle Hände voll zu tun hatte? Geld? Frau Nottbeck nahm das Portemonnaie aus dem Schlüſſelkorb am Arm und gab der Tochter ein Silberſtück. Da ſagte Doraline klein⸗ laut, daß fünf Mark nicht reichten, ſie habe das Auto ſehr lange gehabt. Als dann der Generalkonſul ſelbſt hinausging, um zu bezahlen, erfuhr er, wo ſeine Tochter überall herumgefahren ſei. Er ſchüttelte ein bißchen den Kopf, und ſah ſie ſehr ernſt an. Aber er ſagte nichts, um ſeine Frau, die ja unerhört viel zu tun hatte, nicht zu ſtören.

Er hätte ſeine Frau beſſer kennen ſollen. Als ſie zwanzigfach gefragt, befohlen, geantwortet hatte, wendete ſie ſich plötzlich ihrer Tochter zu, die gedrückt, überflüſſig, die Freudloſigkeit und verftedte Angſt in

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Perſon, a einer Stuhlkante ſaß und ihren naſſen Rockſaum beſah.

„Wozu haſt du denn ſo viel Geld verfahren?“ fragte ſie.

4 Lach ſuchte Borwin. Er ließ melden, daß er nicht

Tiſch käme.

„Ah na, hör mal, Dorli, du beträgſt dich dumm!“ ſagte Frau Nottbeck träftig. „Dein Mann hat ein großes Geſchäft. Da kommen Abhaltungen vor. Dann darfſt du nicht hinter ihm drein ſuchen.“

f „Er war aber gar nicht im Geſchäft!“ ſprach Dora⸗ ine.

„So war er am Hafen. Oder bei Geſchäftsfreunden. Oder an Bord eines ſeiner Schiffe.‘

Daran hatte Doraline nicht gedacht. Eine Sekunde war ſie verdutzt. Aber nein: dergleichen hätte man ihr im Kontor geſagt, ſie hatte dort ſo dringlich nach⸗ gefragt, ob man ihr denn gar nicht Auskunft geben

önne Ach, Mama,“ begann Doraline weinend, „ich bin nicht ſo glücklich, wie ihr denkt.“

Frau Nottbeck war empört: heute abend kam ihr Sohn Fritz, in drei Tagen war Irmas Hochzeit, die Ausſteuer wurde noch heute vom Spediteur abgeholt, tauſend Anordnungen mußten noch für das Diner getroffen werden. Und dieſen Moment, dieſen wählte Doraline, um ihr etwas vorzuklagen.

„Mein Kind,“ nahm der Generalkonſul das Wort, denn dies ſchien ihm einer der äußerſten Fälle, wo er ſeine Frau vor dem Übermaß der ſtets an ſie geſtellten Anſprüche zu ſchützen hatte, „mein Kind, wir denken keineswegs, daß du glücklich biſt. Wir ſehen vielmehr leider, daß du in ewigen Exaltationen lebſt. Aber daß du dieſen Moment wählſt, um deiner Mutter das Leben ſchwer zu machen, iſt nicht liebevoll bedacht.“

Aber ſchon ſchob ſeine Frau ihn auch beiſeite.

„Dorli,“ ſagte ſie in ihrer entſchloſſenen Art, „wenn's bei euch ſchief geht, haſt du Schuld. Sieh deinen Vater und mich an. Haſt du je was andres geſehen hier im Hauſe als Liebe und Frieden? Je

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andre Gedanken gehört als ſolche, die ſich mit dem Wohlergehen und Behagen deines Vaters beſchäftigten? Nimm dir 'n Beiſpiel dran.“

„Ja,“ ſchluchzte Doraline, „Vater liebt auch keine Frau als dich und denkt nur an dich und iſt dir treu. Wenn ihr wüßtet.

„Ich hoffe, du willſt von Borwin nicht das Gegen⸗ teil behaupten. Sein Vater war ja en tiefgehendes Schiff. Er ſelbſt hat ja immer den beſten Ruf gehabt, und mir ſcheint, er iſt auch ſeit der Heirat von einwand⸗ freier Haltung. Aber wie geſagt: Heute habe ich für ſo was keine Zeit. Beſinne dich. Red dir nicht aus Eiferſucht gleich was ein, wenn du mal allein deine Suppe eſſen mußt. Das kannſt du ja auch bei uns. Geh, leg ab, bleib zu Tiſch hier.“

Doraline ſchüttelte den Kopf. Nein, ſie wollte nicht hier bleiben. . .

„Iſt Heinz Philipp oben bei Irma?“ fragte ſie.

„Soviel ich weiß, iſt er ausgegangen.“

Da war Doraline alſo ſicher, daß ſie dem Bruder Hardys nicht zu begegnen brauchte. Schweren Her⸗ zens, ganz und gar mit dem Gefühl einer vom Ge⸗ I 5 Mißhandelten, ſtieg ſie die Treppen inauf. |

Doraline fand Irma vor dem Schreibtiſch beim Ausräumen aller Kinder⸗ und Mädchenerinnerungen, ſoweit ſolche in Ballkarten, Briefchen, Kotillon⸗ eſchenken, Anſichtskarten hängengeblieben waren.

eben ihr ſtand ein Waſchkorb, in den flog ein zu⸗ ſammengeknülltes Papier nach dem andern hinein. Alte Gürtel, Bänder, Handſchuhe füllten ihn ſchon halb. Die ganze hellgrünen Polster die weißen Lack⸗ möbel mit den hellgrünen Polſtern, den dazu ab⸗ geſtimmten Teppichen und Vorhängen, ſollte mit Irma gehen oder vielmehr ihr nachfolgen. In ihrer eigenen Häuslichkeit wollte die junge Frau dann das Fremdenzimmer damit ausſtatten. Natürlich ſah es nun ſehr unordentlich aus, und Irmas eigene, ſorg⸗ fältig gekleidete und gepflegte Perſon vaßte nicht mehr hinein. f

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„Guten Tag, liebe Irma,“ . Doraline in einem merkwürdig be cheidenen, weichen T on.

„Nanu, ſagte Irma PN, „ganz Wehmut und Schlagiahne? Was iſt denn los?“

Sie ſah ſich in halber Wendung nach Doraline um. Da fiel ihr dieſe von rückwärts um den Hals und drückte ihre rechte Wange gegen Irmas linke.

„Es wird mir zu ſchwer, daß du fort von hier gehit uf meine einzige Schweſter!“ ſchluchzte Dora⸗ ine au

Irma wollte ſich erheben, und um das zu ermög⸗ lichen, mußte ſie Doraline förmlich abſchütteln; ſie tat es aber mit Sanftmut.

„Das hab' ich mir nicht träumen laſſen, daß ich dir mal fehlen würde,“ ſagte ſie „danach war dein Betragen gegen mich ja eigentlich nicht. Du haſt mir, ſeit ich Braut bin, das Leben redlich ſauer

gemacht. Wenn ich bloß an deine alberne Eiferſucht denke! Gott, wie war es geſchmacklos. Ich hab' den Humor bewundert, mit dem an Philipp dem zuſah.“

„Verzeih mir, Irma. Aber ich dachte ganz gewiß, daß du es teilt, die Borwin vor mir geliebt hat.“

„Verrückt

„Aber tet weiß ich, wer es iſt.“

Irma ſetzte ſich auf ihren Schreibtiſch, ſtemmte die weißbeſchuhten Füße auf den Stuhl davor, verſchränkte die Arme und ſah von da wie von einem Richterſitz A philoſophiſch und geiſtig äußerſt überlegen auf die verweinte und vom Regen ganz ſchlappe Schweſter hinab. Der hing das Haar, es hing ihr weißes Kleid, die Spitzen auf ihrem Hut waren in ſich zuſammengeſunken, die lila Tuchjacke ungleich ge⸗ tupft vom Regen.

Und weiſe und mokant ſagte Irma: „Du bekümmerſt dich um die Vergangenheit deines Mannes?! Weißt du nicht noch was Dümmeres? Jeder Mann hat vor⸗ her irgend 'n Verhältnis gehabt.“

ja. Das iſt aber was andres als 'ne große Liebe.“

„Na, und wenn ſchon Liebe. Fürs Geweſene gibt

XXVIII. 2. 16

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der Jude nichts. Jetzt biſt 19 ſeine Liebe. Gefühle wechſeln. Standesamt bleib

„Wenn ich feſt glauben könnte, es iſt ‚geweſen'“. Wenn ich nicht ahnte, wüßte, daß die alte Geſchichte von vorn wieder anfängt.“

„Ach, deine Eiferſucht phantaſiert. Erſt haſt du ihn mit mir im Verdacht gehabt, jetzt bildeſt du dir was andres ein. Wird wohl eb 'n blauer Dunſt ſein,“ ſagte Irma, die ungeduldig wurde und ſich ge⸗ langweilt fühlte.

Da trumpfte Doraline auf. Es war denn doch zu ihre Leden. Niemand hatte Zeit und Glauben für ihre Leiden.

„So?“ ſprach ſie. „Blauer Dunſt? Ich kann doch noch ſehen! Und wenn ich ſogar ſelbſt dazukomme, wie Borwin ſie umarmen will, wie er ihr heiß und e die Hände küßt.

Wo haſt du denn das . vac in mn. „Ach, Unſinn. Da?? er Es it doch die Arberg! tagte Doraline heftig und durch den beharrlichen * auben förmlich in ihrer Ehre ſich verletzt fühlend.

Irma kam blizſchnell von ihrem hohen Sitze herab⸗ geglitten.

„Meine Schwägerin Eberhardine?“ fragte ſie ſcharf.

„Wer denn ſonſt!“ Und Doraline weinte wieder. Sie wußte nicht genau, ob über alle Schwere des Lebens, oder weil ſie doch etwas erſchrak, daß es nun heraus war.

zähle. dein dummes Heulen,“ ſagte Irma grob. Aber erzä len konnte Doraline nicht im Zuſammen⸗ hange. Daß Irma ſie ſo anfuhr, hatte ſie vollends aus der Faſſung gebracht. Irma indes verſtand logiſch zu fragen, mit einem gewiſſen unterſuchenden Überblid.

Und nach ein paar Fragen hatte ſie ein Bild von der Sache .. In ihren Antworten und Auskünften 5 aber Doraline einen Umſtand, nämlich den,

daß Herr Dieter Arnberg Zeuge der Szene geworden

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ſei. Es erſchien Doraline in einer Hinſicht das neben⸗ ſächlichſte bei der ganzen Geſchichte, und anderſeits enierte ſie ſich heimlich ein wenig, daß ſie vor Herrn ieter ſo kleinliche Worte geſprochen hatte. Die brauchte Irma nicht zu wiſſen; im Verſchweigen eigener Kleinlichkeit iſt auch der Plauderhafteſte ſtark.

Nun aber, nachdem Irma, ihrer Meinung nach, genau Beſcheid wußte, nun erwies ſich etwas Über⸗ raſchendes. Es zeigte ſich, daß Irma bereits ganz und gar Arnbergiſch fühlte.

Vielleicht ärgerte es ſie auf das empfindlichſte, daß ihres Verlobten Schweſter ein „Abenteuer“ ausgerechnet mit Borwin Eggsdorf gehabt hatte. Aber was ſie auch von Hardy denken mochte und Irma hatte eine etwas überreife Phantaſie vor Doraline nahm ſie Partei für alles, was Arnberg hieß.

„Das habe ich allerdings nicht von Borwin er⸗ wartet,“ ſprach ſie in großartiger Haltung, „ich habe ihn für einen Ehrenmann und für einen, wenn au keineswegs über den Durchſchnitt ſich erhebenden, do guten Menſchen gehalten. Daß er ſich die ſchwierige Lage eines jungen Mädchens zunutze machen könnte, das, gewiſſermaßen vorübergehend deklaſſiert, für ihren Lebensunterhalt arbeiten muß, ihr Liebe vorſchwindelt, die Ehe verſpricht und ſie dann ſitzen läßt, das habe ich ihm denn doch nicht zugetraut. Er muß in Eberhardine den Glauben an ſeine redlichen Abſichten erweckt haben, ſonſt hätte ſie ſich gar nicht mit ihm eingelaſſen. Dazu iſt ſie viel zu ernſt und zu vornehm. Eines iſt ja gewiß: Heinz Philipp darf niemals das mindeſte davon er⸗ fahren, ſonſt ſchießt er dir deinen Borwin über den

aufen! O, nun iſt mir auch klar, weshalb Eberhardine ſich ſo fern von unſerm Hauſe hält. Es war ihr ein entſetzlicher Gedanke, etwa hier dem Verräter be⸗ gegnen zu müſſen. Aber ſie war zu ſtolz und edel, ihn anzuklagen. Sie litt und ſchwieg. Und er, er hat die Unverſchämtheit, kaum daß er ſie wiederſieht, zu⸗ dringlich zu werden! Ja, um Gottes willen daß nur Heinz Philipp nichts erfährt! Stell dir die Kon⸗ ſequenzen vor...“

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Doraline jaß mit offenem Munde. All die Pfeile dieſer Rede ſchwirrten auf ſie zu, und jeder traf. Ehe noch ihre Nerven dem einen aufzuckenden Schmerz recht nachhorchen konnten, bohrte ſich ſchon wieder ein neuer Stich in ihr Herz.

Die Herabſetzung Borwins verwundete ſie furcht⸗ bar. Der Gedanke, daß Heinz Philipp als Rächer auf⸗ treten könne, war ihr überhaupt noch nie gekommen.

Ihr ſchwindelte. Hilflos ſaß ſie da. Irma hatte immer viel Gewalt über ſie gehabt und ein unbedingtes Anſehen. Jetzt fürchtete ſie ſich geradezu vor Irma.

Sie wollte bitten. Und wußte nicht um was. Aber Irma fuhr gnadenlos in ihrer Rede fort. Sie hatte auch den einen, wichtigen Punkt heraus⸗ gefunden: „Niemals hätte ein Menſch was von der Sache erfahren, wenn du mit deiner unglücklichen Eiferſucht nicht hinter Borwin herſpioniert haben würdeſt. Begreif doch endlich die tiefe Lebensweis⸗ heit: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Aber ſo ſind Eiferſüchtige. Erſt denken ſie: Weil ich nicht weiß, macht's mich heiß. Und wenn ſie dann wiſſen, betragen ſie ſich erſt recht toll.“

„Immer krieg ich Schuld!“ wehrte ſich Doraline.

„Ich muß mit Mama ſprechen,“ ſagte Irma be⸗ ſtimmt, „die Tiſchordnung, die wir heute nach dem Frühſtück entwarfen, muß geändert werden. Borwin ſollte Eberhardine führen. Es war gegeben. Das iſt nun unmöglich. Man muß es ihr erſparen. O Gott, wenn ſie nur nicht abſagt! Dann iſt Dieter die Laune verhagelt ... Weißt du was: Rate Borwin, daß er „krank“ wird.“ |

„Was . ..?“ fragte Doraline langgedehnt. „In meinem Elternhauſe ſoll mein Mann unter einem Vorwand abſagen?“

„Selbſtverſtändlich. Ich heirate Herrn von Arn⸗ berg,“ ſagte Irma hochmütig, „ſeine Schweſter iſt uns näher als dein Mann, deſſen Geſellſchaft man Fräu⸗ lein von Arnberg kaum wird zumuten dürfen, jetzt, wo man weis. 3 N

Doraline wehrte ſich. Sie ftritten darüber. Es

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fiel der jungen Frau gar nicht ein, daß Borwin ſelbſt erleichtert aufatmen werde, wenn er nicht zur Hoch⸗ zeit zu kommen brauche. Sie konnte und wollte den Gedanken nicht ertragen, ohne ihren Mann das Feſt zu beſuchen oder auch abzuſagen.

Und in dieſer lächerlichen, nebenſächlichen Schwierig⸗ keit ſchien ihr zuletzt das ganze Ereignis zu gipfeln.

Bis jetzt war im tiefſten Grunde für Doraline alles Wortkampf geweſen, ein Eiferſuchtserlebnis mehr, nur ſchrecklicher, tränenreicher, berechtigter als zahlloſe andre, die vorangegangen waren und die vergeſſen wurden, ſpurlos verwehten, in Zärtlichkeit und Kuß ſich verſchmerzen ließen.

Dieſes aber, das erkannte ſie jetzt, ging nicht nur Borwin und ſie an, konnte nicht zwiſchen ihnen beiden allein ausgetragen werden. Es griff in die glatte Be⸗ haglichkeit des Familienlebens ein. Und dann dazu noch dieſe Drohung mit Heinz Philipp.

„Hätt' ich doch geſchwiegen!“ jammerte ſie.

„Das wäre bedeutend klüger geweſen,“ beſtätigte Irma kühl.

In dieſem Augenblicke klopfte es an die Tür, und Heinz Philipps fröhliche Stimme fragte: „Eintritt ins Allerheiligſte erlaubt?“

So mußte Doraline wohl gehen und nahm noch im Ohr das bedeutungsvolle Wort Irmas mit: „Denk über alles ernſt nach!“

Ohne ihren Eltern Lebewohl zu ſagen, ging ſie wieder hinaus in den Regen, die traurige Einförmig⸗ keit des Wetters als perſönliche Unbill und Erhöhung ihrer Leiden empfindend.

Sie fühlte: ſie konnte nicht mehr aus noch ein. Sie hatte ſchreckliche Dummheiten gemacht. Sie ge⸗ ſtand es ſich nicht deutlich, arbeitete vielmehr mit zahl⸗ reichen Selbſtentſchuldigungen gegen den Druck an, der auf ihr lag. Es gelang ihr nicht, ſich in ein ruhiges Sicherheitsempfinden hineinzuſteigern. Und ſie be⸗ ſchloß, ihre Schwiegermutter um Rat zu fragen. Nicht aus Vertrauen oder Neigung. Aber durch Irmas Drohungen ſah ſich Doraline wieder auf Borwins

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Seite gedrängt, ſtand in ihren Empfindungen wieder mehr neben ihm. Die Eiferſucht ging in der Angſt unter, daß er noch Fatalitäten haben könnte. Irma ſchwieg gewiß nicht gegen Heinz Philipp weil Dora⸗ line nicht ſchweigen konnte, traute ſie keinem Menſchen dieſe Fähigkeit zu. Und Borwins Mutter, ſo dachte ſie unbeſtimmt, mußte doch Intereſſe daran haben, daß ihm nichts geſchähe.

1 Eggsdorf empfing die Schwiegertochter etwas zerſtreut.

Sie horchte mit all ihren wartenden und neu⸗ un Gedanken eee hinaus in das

elephonkabinett neben dem Flur. Gerade tele⸗ phonierte nämlich Fräulein Hintze nach allen Wind⸗ richtungen, um für den Abend noch eine Kartenpartie zuſammenzuladen, nachdem vorhin das Diner bei Doktor Hagens abgeſagt worden war, weil Frau Hagen Influenza bekommen 1 Wie ſchrecklich, wenn es nicht gelingen ſollte, drei Partner zum Bridge zu⸗ ſammenzubringen. Dann wäre der Abend unbeſetzt, und man könnte ſich langweilen! Es war ja kaum zu glauben, daß Frau Hagen um vier Uhr einen Influenza⸗ anfall bekam, wenn ſie um halb ſieben Tiſchgäſte er⸗ wartete. Aus Frau Eggsdorfs Munde hörte es ſich ſo an, als ſei die Erkrankung eine Unhöflichkeit und Rück⸗ ſichtsloſigkeit gegen die Eingeladenen.

Doraline konnte nie recht von ſelbſt mit einem Be⸗ richte beginnen. Dem Stapellauf ihrer Rede mußte durch Fragen die Gleitbahn glatt gemacht werden.

Sie verging in heimlicher Verzweiflung, hatte das Gefühl, daß ſie nicht zu Wort kommen werde, und er⸗ ſeh ſich wieder. Da aber ſtreckte Frau Eggsdorf be⸗

ehlshaberiſch ihre Hand aus: „Einen Moment!“ Und

dann ſprach ſie zur Tür, durch deren Spalte Fräulein Hintze vergebliche Bemühungen meldete: „Telepho⸗ nieren Sie mal an Majors,“ worauf ſie ſich wieder an Doraline wendete und fragte: „Warum kam Bor⸗ win nicht zu Tiſch? Und warum biſt du über die Mittagszeit weggeweſen? Habt ihr bei deinen Eltern gegeſſen?“

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In jeder andern Stimmung wäre Doraline empört geweſen, wie genau ihre Schwiegermutter ſich über die Vorgänge in der Haushaltung ihrer Kinder unter⸗ richtet zeigte.

gen le Weite ſie auf: „Ich ich habe noch gar nicht gegeſſen!

Dieſe Tatſache u ihr plötzlich äußerſt tragiſch, machte aus 2 ein Opfer.

„Alſo wieder mal Zan und Streit?“ fragte Frau Eggsdorf, während Fräulein Hintze hinter dem Tür⸗ ſpalt auf die Gelegenheit wartete, mitzuteilen, daß auch Majors nicht frei ſeien.

„Verſuchen Sie mal, ob Liſe Steinmann kann!“ ‚Alſo, was Halt du, Kind?“

ch möchte deinen Rat oder vielmehr deine An⸗ ſicht a Mama... über... über.

Das fand Frau Eggsdorf von vornherein äußerſt vernünftig. Sonſt lief ja wen immer zu ihrer eigenen Mutter und holte ſich da Rat... und der war denn auch meiſt danach... Sehr wohlwollend rückte Frau Eggsdorf ſich in ihrem Armſeſſel am Fenſter zurecht.

Doraline kam mühſam mit ihrer Geſchichte her⸗ aus, nach den erſten Worten durch raſche, ſcharfe 8 gut gefördert durch ihre Zu⸗

rerin

Nein, wie das intereſſant war! Hatte Frau Eggs⸗ dorf es ſich + 5 daß es mit dieſem Mädchen einen Haken habe

„Weißt du,“ ſagte ſie, „es war mir gleich verdächtig, daß die Arnberg nicht mit ihrer Mutter aufs Land wollte, wo ſie es ſo bequem hätte haben können. Sie blieb lieber in der Stadt, und wenn ſie hier auch einer⸗ ſeits tüchtig arbeiten muß das heißt, ich glaube, das iſt auch nicht ſo ſchlimm, die Telephoniſtinnen ſitzen doch warm und trocken und werden großartig bezahlt na, und dann die vielen Freiſtunden! Wegen der Freiſtunden iſt ſie natürlich hier geblieben und 15 wahrſcheinlich froh, die Mutter los zu ſein. Ich hab die Arnberg einmal auf dem Platze vorm Telephon⸗

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amt gejehen, mit einer Perſon! Einer Perſon, ſag' ich dir! Doll! Ich guckte weg, um nicht grüßen zu müſſen.“

Frau Eggsdorf war ganz von Befriedigung ge⸗ ſättigt. Sie gönnte es der Irma, deren dreiſte Im⸗ pertinenz ſie ſo oft ärgerte, ſie gönnte es ihr von Herzen; ſo gewaltig tat die ſich mit den Arnbergs! Und nun kam es heraus, daß Fräulein von Arnberg ein ganz lockeres Mädchen war. |

„Es war aber doch wirklich nicht recht von Borwin!“ ſprach Doraline.

Fräulein Hintze meldete abermals an der Tür, daß Fräulein Liſe Steinmann leider ſchon für dieſen Abend verſagt ſei.

Frau Eggsdorf winkte entmutigt ab. „Denn laſſen Sie man. Zu dumm, nicht mal drei Menſchen zum Bridge kriegt man zuſammen. Was ſagſt du? Un⸗ recht von Borwin? Die Männer gehen nie weiter, als ein Mädchen ſie kommen läßt! Das darfſt du mir glauben. Und ſie muß doch recht nah mit ihm geſtanden haben. In dieſem Zuſammenhange fällt mir ja was koloſſal a Denk dir: Borwin und ich haben doch die zwölf Häuſer in der Tannenſtraße von Onkel Eggsdorf geerbt. Ich hatte ſie mir noch nie angeſehen. Während ihr auf der Hochzeitsreiſe wart, legte der bisherige Verwalter ſein Amt nieder, ich mußte alles einem neuen übergeben. Auch bat damals gerade meine einſtige Lehrerin, die alte Hüpeden, mit ihrer lahmen Tochter um eine in den Häuſern am 1. Juli frei⸗ gewordene Parterrewohnung, die ſie billiger haben wollte. Na, alſo ich ging mal mit Fräul'n Hintze hin, und wir beſahen uns denn die Parterrewohnung. Alles iſt da elegant und auffallend hübſch. Aber dem Niveau dieſer Wohnungen. Feine Tapeten, Küche und Badeſtube mit Kacheln Extraanbau für eine Badeſtube, die ſonſt nicht vorkommt in den Häuſern. Na, das fiel mir ja natürlich auf! Ich frage nach, wer da gewohnt hat. Eine Frau von Arnberg mit Tochter, ſagt der Vizewirt. Und fügt hinzu, daß Borwin alles ſelbſt beordert und fix dahinter hergeweſen ſei, daß es

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ſchnell gehe ich kann nur ſagen, mir ſchien, als lächle der Mann ſehr vieldeutig dazu. Jedenfalls iſt es ver⸗ dächtig. Läßt tief blicken. Das ſagt Fräul'n Hintze au 4

f 55 hatte einen trockenen Mund vor Eifer⸗ ucht. „Oh!“ ſagte fie. „Wie ſchrecklich ...“

Aber Frau Eggsdorf nahm das Leben, wie es nun einmal war.

„Gott,“ meinte ſie, „dieſe Mädchen wollen ſich amüſieren. Das iſt ihr Recht. Darin bin ich kulant. Warum nicht? Und warum ſoll ein junger Mann wie Borwin ſich genieren? Glaub nur, das machen alle. Und gerade die, die aus herabgekommenen guten Familien ſtammen, werden meiſt die Flotteſten. Das kennt man. Meinetwegen immerzu. Nur ſoll man N geſellſchaftlich ſolch Mädchen nicht aufdrängen wollen.“ |

Daß ihre Rivalin mit dieſem Ton und dieſen Worten ſo glattweg aus der Reihe der Achtbaren ge⸗ ſtrichen wurde, gab ja Doraline ein gewiſſes Gefühl von Genugtuung. Aber dennoch ängſtigte es ſie auch.

Sie brachte vor, daß Borwin ihr verboten habe, davon zu ſprechen, und daß ſie ſich nun Vorwürfe mache, ſich auch vor den Folgen ängſtige. |

Da lachte Frau Eggsdorf zurückgelehnt mit er- hobenem Geſicht und ſcheuchte mit einer ſchüttelnden Handbewegung Doralinens Sorgen davon.

„Da mach dir nur kein Gewiſſen draus,“ ſagte ſie, „wer weiß, ob es nicht ſo wie ſo eine ſtadtbekannte Geſchichte iſt. Die betreffenden Familien ſelbſt er⸗ fahren immer zuletzt davon. Die Freundinnen der Arnberg werden wohl eingeweiht geweſen ſein. Und im Klub prahlen die Herren gewöhnlich mit ſolchen Sachen. Was man heut im Klub ſpricht, weiß morgen die ganze 1 8 Alſo ängſtige dich nicht. Und Folgen? Bild' dir doch nicht ein, daß der Leutnant Borwin fordert. Darum?! Es iſt ja vielmehr ſein Intereſſe, fein ſtille zu ſein. Duell macht bloß Skandal. Irma hat dir nur imponieren wollen. Tröſt dich. Geh

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hinauf. SB. Zieh dir was Trockenes an. Und begrab die Geſchichte.“ b .

„Wie kann ich! Wie kann ich!“ klagte Doraline. „Das iſt's doch gerade, ich fühle, Borwin liebt mich nicht mehr kehrt zu ihr zurück.“

„Na, dann ſei hochnaſig. Tu, als merkſt du nichts. Das iſt das klügſte. Treue Männer gibt es nicht. Zügel locker laſſen damit kommt man weiter. Immer tun, als ob das, was außerhalb der eigenen vier Pfähle vorgeht, zu tief unter dir ſteht, um dich aufzuregen.“ .

Aber weil Frau Eggsdorf der Intelligenz ihrer Schwiegertochter gar nichts zutraute und von ihrem unbeherrſchten Temperament und ihrer Unfertigkeit nicht viel Diplomatie erwartete, beſchloß ſie, ernſthaft mit Borwin zu ſprechen. Es ſollte korrekt in der Eggsdorfſchen Familie zugehen. Unter „korrekt“ ver⸗ ſtand Frau Eggsdorf durchaus keine moraliſche Enge. Borwin konnte, wenn es ihm denn im Blute lag, ſich ſeine kleinen Abwechſlungen aan jo viel und wo er wollte. Aber keinerlei Beziehungen durfte er unterhalten, die ſo oder ſo zu fatalen Verwicklungen führen konnten. Mädchen, die halb und halb zur Ge⸗ ſellſchaft gehören, Mädchen, die arm, allein lebend, Berufsarbeiterinnen ſind und doch anſehnlichen Fami⸗ lienanhalt haben ſolchen Mädchen geht man klüger aus dem Wege. Die treten nach Bedarf eines Tages mit Ehrgefühlen, gebrochenen Herzen und rächenden Vätern oder ſonſtigen Tugendwächtern auf die Szene.

Jawohl, das mußte ſie mit ſehr deutlichen kräftigen Worten Borwin noch heute abend vorſtellen.

Jetzt wünſchte ſie Doraline los zu ſein. Aber die hatte noch die Hauptfrage ungelöſt auf dem Herzen.

„Irma verlangt,“ brachte ſie klagend vor, „daß Borwin unter einem Vorwande zur Hochzeit abſagen ſoll. Und Irma will es Mama ſagen. Mir iſt bange vor Uaſinn, schied Frau Eggsdorf, „b 0

„Unſinn,“ entſchied Frau Eggsdorf, „das wäre no ſchöner! Laß die Arnberg wegbleiben, wenn ſie kein reinliches Gewiſſen hat. Und deine Mama laß nur

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kommen. Der will ich wohl Beſcheid ſagen! Ich kann auch reden. Gottlob!“

Frau Eggsdorf drängte Doraline faſt hinaus. Aber war doch von ungewöhnlicher Herzlichkeit. Unter vier Augen mit Fräulein Hintze nannte ſie ſie ja „die dumme kleine Pute“. Aber in dieſem Augenblicke war ihr die junge Frau doch wert. „Beinah alſo war's drauf und dran, daß Borwin mir 'ne Telephoniſtin ins Haus

ebracht hätte!“ Das hob das Anſehen der Nottbeck⸗ chen Tochter. „Und Dummheit,“ ſchloß Frau Eggs⸗ a 59 5 Betrachtung, „iſt noch nicht die ſchlimmſte

ugabe.“

Doraline bekam einen Kuß und ging beruhigt mit von allem Schuldbewußtſein und Angſten befreiten Gefühlen hinauf in ihre eigene Wohnung.

Noch war Doraline auf der Treppe, da beſprach Frau Eggsdorf die Geſchichte ſchon mit Fräulein Hintze. Faſt war es ja ein Erſatz für die abgeſagte Geſellſchaft und die nicht ermöglichte Bridgepartie. Und Fräulein Hintze bekam den Auftrag, hinter der Gardine Borwins Heimkehr auszukundſchaften. Seine Mutter wollte ſogleich mit ihm ſprechen.

Der Abend ſank. Fräulein Hintze, in gemütlicher,

ekrümmter Haltung, ſaß zufrieden im En. am Fenſter. Ihren kleinen Kopf, den ſie immer ſchräg hielt wie ein äugendes Huhn, hatte ſie gegen die breite, ausgebogte Tüllkante vorgeſtreckt, die unter der dunkel⸗ roten Stoffgardine herausſtand. Es war ſehr däm⸗ merig im Raum.

In der Tiefe auf dem Sofa ſaß Frau Eggsdorf und ſprach emſig. Zwiſchendurch ſtimmte Fräulein

intze bei oder half dem Gedächtnis ihrer Herrin nach.

er dieſe Geſchichte ſprachen ſie. Und über viele, viele andre Geſchichten.

Unaufhörlich liefen die gleichmäßigen Stimmen durch die Dämmerung, wie ſchmutziges Waſſer durch Rinnſteine läuft, gelaſſen und ſtetig. Und von vielen Frauennamen und von mancher Mannesehre ſpülten dieſe ſacht hinfließenden Reden die Ehre ab...

Zwiſchendurch ſagte Frau Eggsdorf einmal: „Was

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für 'ne Stimmung unter diefen Umſtänden auf der Hochzeit ſein wird, darauf bin ich wahrhaftig neu⸗ gierig!“

Es trat aber ein Ereignis ein, das Frau Eggsdorf um die Befriedigung dieser Neugier brachte. ® | ® Ä G

Die Felder ſchienen zu rauchen, weißer Dunſt füllte den Wald. Der beginnende Morgen fand ein von Näſſe überſättigtes Gelände, aus dem die Feuchtigkeit aufſtieg wie Dampf von kochendem Waſſer.

In dieſen dichten, farbloſen Brodem hinein lief der Zug. Die dunkle Wagenſchlange ſchoß keineswegs in brauſender Eile vorwärts. Sie trollte in maßvoller Geſchwindigkeit dahin, als ſei der Verkehr noch ein bißchen ſchlaftrunken und habe ſich die Nachtruhe noch nicht ganz aus den Augen gerieben. In der Bahn⸗ hofshalle hatte noch Licht gebrannt, als die Herren den Zug beſtiegen. Nun aber war im Abteil die Gas⸗ flamme erloſchen, und draußen vor den Fenſtern zog die Landſchaft vorbei, in den Schleiern der veratmen⸗ den Regenſpuren. Sie war wie ein Aquarell, in dem nur erſt die Farben blaß angelegt ſind, und in das hinein der zeichnende Pinſel noch keine feſten Linien zog. Unter dem weißgrauen Haupttone, der alles überzog, erriet man blaugrüne und bräunliche Tinten.

Die Herren ſahen alle vier aus, als wollten ſie auf die Jagd. Es war ſo verabredet worden. Den vertragenen weichen Filz auf dem Kopfe, die netz⸗ beſponnene Taſche umgehängt, das Gewehr am Riemen über der Schulter in einer unverdächti⸗ geren Koſtümierung konnte man ja nicht zu ſo früher . mit dem Bummelzug ins Land hinein⸗ ahren.

Nur zwei von ihnen hatten je einen Kaſten bei ſich, der nicht zu dem Zwecke gehören konnte, den die Kleider der Herren vermuten laſſen wollten.

Das Geſpräch im Abteil war erſt ein wenig träge. Der erſte Anlaß dieſer Fahrt und die Morgenfrühe gaben vielleicht zu gleichen Teilen die Gründe zur

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mäßigen Geiſtesbeweglichkeit. Am lebhafteſten war der Hauptmann von Schleichheim. Er konnte weder im Hinblick auf ſeine Gabe zu munter hinfließender Rede noch auf ſeine äußere Erſcheinung die Bluts⸗ verwandtſchaft mit der Frau Generalkonſul ver- leugnen. Er war gedrungen, rötlichblond, ſehr friſch⸗ farbig wie ſie und hatte, wie ſie, im ſehr breiten, be⸗ weglichen Munde weiße Zähne, die auffallend aus⸗ einanderſtanden. Außerdem aber trug er noch einen Kneifer in Goldfaſſung vor den etwas herausquellen- den Augen. Wahrſcheinlich war er ſo ſehr bei der Sache, daß er, in der Naivität, deren ſich wichtig fühlende Leute fähig ſind, ſich faſt als Hauptperſon der Stunde empfand. Daß er ſie von allen Beteiligten am vollkommenſten beherrſchte, darüber konnte kein Zweifel beſtehen. Er ſaß hier in doppelter Eigenſchaft: als Mitglied des Ehrenrates war er von dieſem als Zeuge zum Duell delegiert. Und zugleich ſollte er als Unparteiiſcher wirken.

Während er zum Doktor Fritz Eggsdorf, Borwins Vetter, von den Piſtolen ſprach, machte er immer er⸗ klärende Geſten zum Deckel des Kaſtens hin, in dem eben dieſe Piſtolen wohlverwahrt lagen. Doktor Fritz, wie er in ſeiner Familie ſchlechtweg genannt wurde, hatte keiner ſchlagenden Verbindung angehört, ſchleppte den Ruf eines muſterhaften Mutterſöhnchens mit ſich herum, war wegen ſeiner Krampfadern gänzlich militär⸗ frei, und es ſtand zu vermuten, daß er, außer als Zu⸗ ſchauer etwa bei einem Feuerwerk, noch niemals habe Pulver knallen hören. Die zuverläſſige Herzlichkeit, mit der er an Borwin hing, hatte dieſen beſtimmt, Doktor Fritz zum Arzt für die Gelegenheit zu wünſchen. Mit heimlicher Genugtuung war der bereit geweſen, denn, ungeahnt von jedermann, brannte in ihm viel Luſt an romantiſcher Männertat.

Einen angenehmeren Zuhörer als dieſen Un⸗ erfahrenen hatte Schleichheim lange nicht gehabt. Der hübſche junge Arzt mit den etwas zierlich eiligen Be⸗ wegungen folgte denn auch voll Aufmerkſamkeit dem Vortrag, und jedesmal, wenn Schleichheim erklärend

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auf den Kaſten deutete, gingen Doktor Fritz' Blicke mit der demonſtrierenden Hand, als könne man durch den dunkelblanken Mahagonideckel hindurchgucken.

Schleichheim erzählte, wieviel Male er ſchon als Unparteiiſcher in ſolchen Fällen gewirkt habe, und wie manchesmal er ſeine Piſtolen ſchon hergegeben, auch wo er ſelbſt der Angelegenheit fernſtand. Man benutzte eben zum Duell immer noch Vorderlader, die nach alter Methode mit Pulver, Bleikugel und Zündhütchen von den Sekundanten aus ein und demſelben Pulver⸗ horn vor den Augen der Duellanten und des Un⸗ parteiiſchen geladen würden. Das war Uſus geblieben, weil bei dieſem Verfahren niemals hinterliſtiger Be⸗ trug unterlaufen könne, zum Beiſpiel durch Unter⸗ ſchiebung blinder Patronen. Ja, es kam vor, daß die Bleikugeln mit einem Hämmerchen oder ſonſtigen Metallgegenſtande vor dem Laden noch angeſchlagen würden, um durch den Klang feſtzuſtellen, daß nicht etwa eine Hohlkugel untergeſchoben ſei; Spitzkugeln ſeien verboten, es dürfe nur mit alten Rundkugeln geladen werden. |

Die Piſtolen, ein Paar, das ſich glich wie kaum ein Ei dem andern denn bei Eiern ſind doch noch immer minimale Verſchiedenheiten in der Größe und im Gewicht hatten einen beſonders langen Lauf. Das ermöglichte genaues Zielen. Schleichheim nannte auch den Namen des Büchſenſchmieds, bei dem er vor vielen Jahren dieſe berühmten Piſtolen habe machen 15 Denn berühmt waren ſie, das durfte er ch e ertreibung ſagen. Ja, förmlich verliebt ſprach er von den Waffen, die ſtill und dunkel in ihren ſeidenen Polſtern lagen, wie ſonſt Frauenſchmuck ge⸗ bettet liegt.

Die durſtige Andacht, mit der Doktor Fritz alles in ſich aufnahm, regte den Hauptmann an. Und er fuhr fort, die Ausbildung des Neulings zu fördern.

Er machte auf vielerlei Nuancen und Möglichkeiten aufmerkſam. Er hielt einen Vortrag über die Unter⸗ ſchiede zwiſchen einer Diſtanzforderung und einer Barrierenforderung. Als einmal eine ſolche zum

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Austrag gekommen, war er Sekundant geweſen. „Be⸗ kanntlich,“ ſagte er zu dem völlig kenntnisloſen Doktor Fritz, „haben die Sekundanten da in geſicherter Stel⸗ lung, mit geladener Piſtole in der Hand, den gegneri⸗ ſchen Duellanten im Auge zu behalten und das Recht, von ihrer Waffe Gebrauch zu machen, wenn eine In⸗ kommentmäßigkeit nicht mehr durch bloßen, warnenden Zuruf zu verhindern iſt.“ Und in dem Falle, von dem er ſprach, hatte die Erbitterung der Gegner die Situation unerhört gefährdet.

Das Thema war für ihn unerſchöpflich. Nur mit äußerſter Selbſtbeherrſchung verſagte er ſich den Ge⸗ nuß, noch weitere Geſchichten, ſolche mit ſehr ernſtem Ausgange, zu erzählen. Obſchon Borwin ſcheinbar nicht bemerkte, daß hier überhaupt geſprochen wurde, 5 der einfachſte Takt, von Tod und Wunden zu reden.

Außer dem Doktor Fritz hörte auch Borwins Sekundant, der ſchwarzhaarige Aſſeſſor Rochow mit dem zerhauenen Koſackengeſicht, ſehr genau zu. ſpitzte beſonders deshalb die Ohren, um als ebenfalls Erfahrener womöglich mal mit einem beiſtimmenden oder verbeſſernden Wort einfallen zu können, wozu ihn aber Schleichheim nur ſelten kommen ließ. Borwin hörte ganz bewußt, daß ſeine Freunde ſprachen. Die Stimmen vermieden die ſtarken Betonungen und den lauten Aufſchwung. Es lag eine Sordine über den Saiten. Gedämpft war alles. Das ſpürte er wohl. Aber er verſuchte nicht einmal, den Sinn der Worte zu erfaſſen. |

Dieſe gemilderten Töne, die den engen Raum des Abteils füllten und allmählich pauſenlos raunten, waren ihm peinigend. Sie machten ſeine Nerven vollends mürbe. Erhöhten die Unerträglichkeit der Lage. Aber er konnte von den Männern unmöglich erbitten, daß ſch ſchweigen ſollten. Sie würden ſeine Nervoſität falſch gedeutet, vielleicht Angſt in ihr ge⸗ wittert haben. Sie konnten nicht ahnen, mit wie finſterem Mut, mit wieviel Gleichgültigkeit gegen Ge⸗ fahr er der kommenden Stunde entgegenſah. N

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Ihn quälten ganz andre Dinge.

Mit bohrenden Blicken ſah er in die dampfende Morgenfrühe hinaus, die lichter zu werden begann, der aber kein klarer Sonnenaufgang Glanz und Freudig⸗ keit brachte.

Immer wieder erlebte er in ſich das Entſetzen, das ihn geſtern abend erfaßte, als die Reden ſeiner Mutter über ihn herfielen, einem Waſſerfalle gleich, in dem = Schwall den andern überftürzt, in Zielbegier und

e. Aus einem wunderlichen Gemiſch von Empfin⸗ dungen heraus ſprach ja ſeine Mutter: ihre erbitterten Erinnerungen an die lebemänniſchen Flottheiten ihres Gatten waren wieder ſehr wach in ihr geworden; hoch⸗ mütige Furcht kochte in ihr, daß die Nottbecks ihr den Sohn kontrollieren und tadeln könnten; Genugtuung chwellte ſie, daß ſie alles wußte, und daß Doraline ie um Rat angegangen ſei; Triumph hob ſie, daß auch

ie Arnbergs ihr Skelett im Hauſe hätten; das Inter⸗ elle ek fie, daß ſich überhaupt nur irgend etwas ega

Er wußte es wohl: alle möglichen weiblichen

Schwächen wirkten da zuſammen. Und von ihnen wie umnebelt, verlor ſeine Mutter ganz den Blick, worum es ſich hier denn eigentlich handelte.

Sein Schreck, ſeine Verzweiflung machten ihr nicht den geringſten Eindruck. Sein Zorn endlich erweckte auch den ihren. |

Sie ſchieden in Feindſeligkeit.

Nach einem Tage voll ernſter Zuſammenkünfte und wichtiger Vorbereitungen war er am Abend heim⸗ gegangen. In ſeinem Gemüt war eine ſeltſame Stille geweſen. Faſt verſöhnte Wehmut. Jeder kraftvolle Gedanke der Abwehr gegen Doraline war erloſchen. Er hatte nur das Bedürfnis nach Frieden Frieden nicht aus Liebe, ſondern Frieden um des guten Ge⸗ ſchmacks willen. Friede verhütet die häßlichen Worte und die aufreizenden Mienen. In ihm iſt man ſicher vor der Leidenſchaft und vor den Beleidigungen. In ihm können Verwundete atmen und Ermüdete ruhen.

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Er erinnerte ſich auch plötzlich, daß Doraline eine gute Haltung gezeigt hatte den ganzen Tag vorher. Das rührte ihn ein wenig. Beſchämte ihn beinahe. Ließ ein ſachtes kleines, hoffnungsvolles „Vielleicht“ im Untergrund ſeiner Seele aufkommen.

Er dachte auch: wenn ſie wüßte, wohin ich morgen früh 0 Sie würde außer ſich ſein. Vor Jammer und Angſt vergehen.

Gut und feſt wollte er ihr heute abend begegnen. So warm und doch auch ſo beherrſcht, daß, wenn... daß ſie ſich, wenn das Schickſal am andern Morgen eine düſtere Laune hatte, immer voll Ruhe und ohne Vorwurf dieſer letzten Stunden mit ihm ſollte erinnern können.

In ſolchen Gefühlen war er auf ſein Haus zu⸗ egangen. Der monotone Regen ſank unaufhörlich ernieder in die dunkle Abendluft hinein und füllte

ſie mit Schwere und Feuchtigkeit.

Oben, aus Doralinens Fenſter, kam ein rötlichgelbes Licht. Unten, in der Wohnung ſeiner Mutter, waren die Räume unerhellt. Vielleicht verbrachte ſie den Abend außer dem Hauſe. Sie hatte ja immer irgend⸗ welche geſellſchaftliche Unternehmungen vor. Er über⸗ dachte mit Erſtaunen wieder einmal die unerſchöpfliche Genußfreudigkeit feiner Mutter. Sie würde bis zum letzten Atemzug danach trachten, ihre Rolle in der Ge⸗ ſellſchaft zu ſpielen. Das war die Freude, der Ehrgeiz, der Inhalt ihres Lebens geweſen. Und ſie war in ihrer Oberflächlichkeit von einer ſolchen faſt beneidens⸗ werten Totalität, daß ſie niemals von den leiſeſten Zweifeln über den Wert oder Unwert ihres Tuns an⸗ gewandelt wurde.

Als er ſo ein paar Sekunden draußen am Gitter ſtehen blieb, und zu den dunkeln Fenſtern ſeiner Mutter hinüberſah, während der Regen raſtlos auf ſeinen Schirm niederprickelte, da kam ihm der furchtbare Gedanke: Wenn ich fiele es wäre ihr vor allen Dingen, vielleicht unbewußt und dennoch, dennoch hauptſächlich ja, es wäre ihr eine geſellſchaftliche

törung. ..

XXVIII. 2. 17

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Er erſchrak über dieſe Vorſtellung, und um ihr zu entrinnen, ging er raſch ins Haus.

Im Flur traf er auf Fräulein Hintze, und wieder ein paar Augenblicke ſpäter wußte er, was ſich be⸗ geben hatte.

Wie ein erlebtes Lied war das einſt geweſen, was zwiſchen ihm und Hardy an Glück und Leid von Herz zu Herzen Hang...

Nun war es eine häßliche, gemeine Alltagsgeſchichte geworden. Im Schmutz lag alles.

Doraline hatte gerade vierundzwanzig Stunden lang ſchweigen können. Und jetzt wußten alle von dem Erlebnis: Irma und ihre Eltern, ſeine Mutter und ihr Schatten und was ſeine Mutter und Fräulein Hintze wußten, war wie auf dem Markt aus⸗ gerufen.

Nur ein paar Stunden lang hatten eifrige Frauen⸗ reden und übelgeſchulte Frauenphantaſie an der Ver⸗ gangenheit herumgetaſtet, und ſchon war Hardys Rein⸗ heit und Ehre verdorben und zerbrochen.

Er vergaß ja keinen Augenblick, daß er der Haupt⸗ ſchuldige war und blieb. a

Aber dieſe Erfahrung ſättigte ihn mit ſolcher Bitter⸗ keit, daß ſich ſeiner ein völliger Widerwille gegen Dora⸗ line bemächtigte.

Er hatte das Haus wieder verlaſſen, ohne ſie zu ſehen. Bei ſeinem Vetter, dem Doktor Fritz, fand er eine Zuflucht.

Er fühlte ganz deutlich, daß das eine Augenblickstat war, die ſeine Lage nur verſchlimmern konnte. Man lebte doch in einer bürgerlich geordneten Welt, inmitten all ihrer Anſprüche und plumpen Wirklichkeiten. Sein Haus und ſeine Frau würden ihn zurückfordern Aber er hatte einen dumpfen Aberglauben und Troſt: der neue Morgen endete und löſte alles!

Dies ſtarke Gefühl zwang ihn auch noch einmal, zu Doraline zu ſprechen. Er ſaß die halbe Nacht über einem Brief an ſie. Zärtliche und 7 Worte fand er nicht. Sein Widerwille gegen ſie war von einer Art finſterer Entſchloſſenheit. Er rang ſich keine

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Lügen ab und fteigerte ſich in keine Wehmut hinein. Er hoffte, ihr nur zu helfen, indem er ihr ſagte, daß ihre Zuſammengehörigkeit nichts geweſen ſei als ein toller Rauſch, der würdiger durch ſeinen Tod als durch eine früher oder ſpäter doch unvermeidliche Trennung der Lebenden ende. Wie er ſie kannte, wußte er: dieſer Brief trocknete ihre Tränen, und ſie würde dem Toten all ihre Liebe entziehen. Beſſer ſo. Sie war jung neu lag gewiß bald die Welt vor ihr. So heftige Naturen ſtürmen weiter. Es iſt ihre Be⸗ ſtimmung, ſich kräftig dem Daſein entgegenzuwerfen.

Nun ſaß er hier. In regelmäßigen Rhythmen ratterte der Zug, und die Stimmen ſchien Gefährten vermengten ſich mit dem Geräuſch, ſchienen faſt das Gleichmaß der Bewegung von ihm anzunehmen.

Borwin dachte an ſeinen Gegner: Seine Sache iſt gerecht. Mehr noch, als er es ſelber ahnt.

Wenn er wüßte, wie dieſe raſchen Frauenhände, faſt freudig, als ſei es gern geübte Arbeit, wie ſie die Liebe, die Eine, Reine herabgezerrt hatten.. Borwin fühlte klar: das belud ihn mit.

Beinahe beruhigte es ihn, daß ſeine Schuld gehäuft war. Wenn es gerecht zuging... Es mußte, es würde gerecht zugehen!

Einmal fein die Stimme Schleichheims beſonders deutlich an ſein Ohr. Der brauchte eine Redewendung, die zum Nottbeckſchen Sprachbeſtande gehörte.

Auch Doraline führte bs manchmal im Munde.

a lich dachte er wieder ſtark an Doraline.

Doch mit aufwallender Wehmut. Das ſtieg un⸗ erwartet aus den Tiefen ſeiner Seele auf, die Er⸗ innerungen an heiße Glücksſtunden bewahrte.

Sie iſt ein Kind, dachte er entſchuldigend, und wie ein Kind hat ſie ſich in dieſer ganzen Sache be⸗ tragen.

Aber da war gleich eine Stimme in ihm, die ent⸗ gegenſprach: Warum gabſt du einem Kinde dein Leben und deine Ehre in die Hände?

Mit meinem Leben und mit meiner Ehre hätte ſie machen können, was ſie wollte, dachte er, was liegt

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daran. Aber um ihretwillen und durch fie hat eine andre Schaden gelitten.

„Noch fünf Minuten!“ ſprach jetzt ſehr laut durch den Raum hin des Aſſeſſors Rochow Baßſtimme. Es war wie eine Mahnung an den Helden dieſer Fahrt: er ſollte ſich aus ſeiner Verſunkenheit reißen, die den Reiſegefährten anfing ſehr zu mißfallen. Sie hatten ſich ſchon mit Blicken gefragt und geſagt, daß die düſtere Schweigſamkeit Borwins eigentlich nicht geduldet werden dürfe.

Irgendwie erriet Borwin, daß das für ihn geſagt worden ſei. In der mechaniſchen nachahmenden Ge⸗ bärde, die Vertiefte haben können, zog auch er ſeine Uhr und wiederholte: „Noch fünf Minuten.“

Damit hatte er wohl für die Herren den ge⸗ nügenden Beweis noch wachen Verſtandes und ſchick⸗ licher Sammlung erbracht, denn Schleichheim holte noch zu einer letzten Geſchichte aus, die ſich, wenn er flink ſprach, noch in den fünf Minuten abhaſpeln

eß. |

Was er wohl von mir denkt, grübelte Borwin, ihm muß ich ein 1 Schwächling ſcheinen. Scheine ich mir ſelber denn ſo ſehr anders? Und doch wo war damals der Ausweg? Rechtzeitige Flucht vor der Verſuchung, die von Doraline her mich be⸗ unruhigte? Das vielleicht. Nur vielleicht. Es gibt Unergründlichkeiten und Überraſchungen. Keine ſind ſo gefährlich wie die, die wir an uns ſelbſt erleben. Mein Mitmenſch iſt niemals ſo ſehr mein Feind, wie ich 1 es mir fein kann. Und es ſind die Unerflär- lichkeiten in uns, an denen wir ſcheitern.

Wie er nun ſo ſtark ſich davon beſchäftigt fühlte, was der andre Mann von ihm denke, erwachte ganz jäh eine Angſt in ihm. Die Großmut und die einfache Sicherheit Dieters erriet er. Und dieſe Eigenſchaften des Gegners wurden ihm 1 815 auf ſeltſame Art be⸗ drohlich. Wie, wenn Herr Dieter ihn nur moraliſch fein lie wollte es mit dem ernſten Vorſpiel genug ein ließ und an ihm vorbeiſchoß? Er ſollte ein Schütze erſten Ranges fein. Alles lag in ſeiner Hand..

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Und in dieſem Moment, der ſchon faſt der der Ankunft war, ftellte Borwin ſich feine Lage, ſtellte ſich die Zukunft vor, wenn er etwa nach zwei Stunden dieſen ſelben Weg zurückfahre ein unverletzter Mann zurück in all das Elend kleinlicher Kämpfe zurück in ſeine Ehe...

Unerhört! Unerträglich! Unmöglich! Und er be⸗ griff die tiefe Wohltat, das Erlöſende im Männerkampf. Nur zur leeren Form durfte der nicht herabſinken nur das nicht

Der Zug hielt. Eine kleine Station. Nur ein Schuppen, vorn offen, braun bemalt, umlaufende Bänke darin und ein Dach von ſchwarzgeteerter Pappe, die tauſendkörnig flimmerte; die blanke Näſſe auf ihr wirkte, als ſei da Sonnenſchein.

Auf dem Landwege hinterm Bahnſteige wartete ein Wagen. Ein Landauer von großmütterlicher Würde und ungewöhnlichen, breit ausladenden Formen. Viel⸗ leicht aus den Zeiten ſtammend, wo die Prüttwitze auf ihn als auf das Reiſegefährt angewieſen waren, und wo noch nicht dieſe Halteſtelle der Bahn Wieſchen⸗ burg an den Weltverkehr 8 0

Die brauende Feuchtigkeit, von der die Luft über⸗ füllt war, hatte ſich auch auf das Verdeck des Wagens geſchlagen, dg es ausſah wie friſch lackiert.

Auß dem Bocke ſaß ein Kutſcher, der mit ſeinem Biedermeierzylinder ſo altmodiſch wirkte, daß man a beinahe für ganz modern und ſtiliſiert nehmen onnte.

Die Herren ſtiegen ſchweigend ein.

Durch ein niedliches Dorf ging die Fahrt, ein Modelldorf, mit blauweiß gekalkten Hausmauern und rauhbewimperten Strohdächern unter gewaltigen Obſt⸗ baumwipfeln, die vom Vorhauch nahenden Herbſtes etwas rötlich⸗gelblich angeblaſen waren. Dann traten, in einer Niederung, Wieſen rechts und links heran. = re weiß. Und tief hing der trübe Himmel

erab.

Nun fuhr man durch einen Erxlenbruch, durch deſſen Sumpfboden ein ſchmaler Damm für den Verkehr auf⸗

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getragen war. Und hierauf ging der Weg durch eine Birkenſchonung.

Dieſe etwas ſchwankende Fahrt, im uralten Wagen, durch die im Nebel unklare Landſchaft, ermüdete die Herren auf eine merkwürdige Art, ſchläferte faſt ihre Spannung ein, ſo daß alle nervös erſchraken, als es einen Ruck gab und die Räder ſtanden.

Der Rittmeiſter von Grohberg war am Wege und winkte. „Halt!“

Er ſah ein wenig abenteuerlich aus in ſeinem ver⸗ tragenen Jagdanzug und dem zu kleinen Filz a dem vollen Geſicht mit dem blonden männlichen Vollbart.

Er war mit Schleichheim bekannt, und dieſer ver⸗ mittelte ein ernſtes Begrüßen und Vorſtellen.

Es ſchien, daß der Kutſcher ſchon wußte, was er zu tun habe. Sein verſchloſſenes, hartes Bauerngeſicht blieb ganz undurchdringlich. Mit der Haltung eines, der ſich auf langes Warten rüſtet, wickelte er die Zügel um die Peitſchenſcheide am Bock und ſteckte die Peitſche hinein, ſo daß ſie aufrecht ſtand wie eine Miniatur⸗ e Schlapp hing der Schmiß an ihr her⸗ nieder.

Die Herren ſchritten im Gänſemarſch hinter dem führenden Grohberg her. Das Gedränge der jungen Birken griff zuweilen faſt über den ſchmalen Pfad in⸗ einander. Er mündete nach wenigen Minuten in die Schmalſeite eines Platzes, der aus irgendwelchen forſt⸗ wirtſchaftlichen Gründen hier, länglich viereckig, zwiſchen die verſchiedenen Jahrgänge der Birkenbeſtände ein⸗ eſchoben war. Rechts zeigte ſich die Armee der weißen, fleckgen Stämme, ſchon zu ſtattlicher Höhe empor⸗ gewachſen, links ſtanden die anmutigen Bäume noch wie eine zarte Kinderſchar. In der Tiefe ſah man den Knick, der den Buchenwald vom Birkenrevier ſchied.

Herr Dieter von Arnberg war ſchon zur Stelle, mit ihm, mehr als je finſterer Raubritter in ſeinem Außeren, Herr von Prüttwitz. Dann war da noch ein alter, 958 Weißbart mit . Braunaugen im friſchen Geſicht und ſtarker Energie in jeder Be⸗ wegung. Das war der Doktor Barthelmann, der

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Wieſchenburger Arzt, Chirurg, Geburtshelfer, Zahn⸗ arzt und Berater in allen wirtſchaftlichen und ſeeliſchen Nöten. Ein entſchloſſener Praktikus, der mit den Bauern kordial und grob umging und ein Herz und eine Seele mit Prüttwitz war, in allen Dingen: Spiel und Trunk, Glauben und Politik, in Verachtung mo⸗ derner Wiſſenſchaft und im Vertrauen auf die Natur.

Man begrüßte einander in den ſchicklichſten Formen. Grohberg zog ſich zurück, ging dann aus Vorſicht den Weg ab, der hierherführte, und verbrachte die Zeit eigentlich wie jemand, der bei einem Verbrechen Schmiere ſteht.

Alles erſchien plötzlich ſo überaus nüchtern. Viel⸗ leicht kam es von den Jagdanzügen der Teilnehmer an dieſer Szene und von der Waldſtimmung. Dieſe Eindrücke hatten ſie alle ſchon ſo oft gehabt. Es war gar nichts Dramatiſches dabei.

Prüttwitz und Rochow fingen an, die berühmten Piſtolen zu laden.

Schleichheim maß die Diſtanz ab und ſteckte dort, wo die Gegner Stellung zu nehmen hatten, je ein Stöckchen in den mit ungleichen grünen Raſenflecken getigerten, feuchten, lehmgrauen Erdboden.

Dann nahm er eine feierliche Haltung an und be⸗ gann: „Meine Herren, es iſt meine Pflicht, mich an Ihre Loyalität zu wenden und einen Verſuch zur friedlichen Beilegung...“

Weiter kam er nicht. Faſt zugleich winkten die beiden Männer ſeinem Verſöhnungsverſuch ab. Schleich⸗ heim verbarg kaum ſeine Befriedigung und trat ſtramm

zurück.

Die Sekundanten waren mit ihrer Arbeit fertig, und ea trat an feinen Duellanten heran und gab

ihm die geladene Piſtole in die Hand.

Der Vorſchrift gemäß hoben beide ihren Arm und

hielten die Waffe aufwärts geſtreckt.

Plötzlich war es, als wage niemand, recht Luft zu olen. Seitwärts am Rande der jungen Birken⸗ chonung ſtand Doktor Fritz leichenblaß neben ſeinem Kaſten, über den faſt die naſſen Gräſer zuſammen⸗

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ſchlugen. Der alte Doktor Barthelmann war an der andern Seite, hielt mit ſeiner derben Rechten einen Birkenſtamm umſchloſſen und drückte mit ſeinem linken Arm ſeinen uralten Verbandskaſten an ſeine Rippen. Er ſah intereſſiert auf Herrn Dieter von Arnberg und hatte Jägerſpannung auf deſſen Schuß.

Rochow und Prüttwitz warteten in ſchweigendem Ernſt auf HR Plätzen.

Die Luft war überſättigt von Näſſe. Sie drückte förmlich ſchwer, und ein ſeltſamer Hauch von Lau⸗ heit erfüllte ſie. In der Tiefe zwiſchen den Birken⸗ ſtämmen ſtand der dicke weiße Morgendampf. Wie Kirchenſäulen waren am Ende des Platzes die grauen hohen Buchenſtämme erkennbar. Das überreife re miſchte feinen ſtarken Geruch in den feuchten

tem.

In der tiefen, tiefen Stille, die ſich jäh und ſekunden⸗ lang über dieſen Schauplatz legte, war es, als ver⸗ nähme man das Rinnen und Rieſeln, das Prickeln und Dampfen der Näſſe, die aus dem Waldboden auf⸗ ſtieg und von den Wipfeln herabtropfte.

„Eins!“ rief Schleichheims Stimme ſcharf und kurz.

Und zugleich ſenkten die Gegner ihre Piſtolen.

„Zwei!“ ſcholl es wieder und ſchien geheimnisvoll widerzuhallen aus den Tiefen, die der weiße Nebel füllte.

„Drei!“

Und zugleich knallten zwei Schüſſe, und die durch⸗ einander taumelnden, aufeinanderplatzenden Schall⸗ wellen füllten mit ſeltſamen Geräuſchen die ſchwere Luft, die ſie nicht glatt entrollen ließ, ſondern mit ihren naſſen Händen in ſie hineinſchlug.

Nichts war geſchehen. Aufrecht ſtanden beide Männer und antworteten auf die Fragen ihrer Arzte mit verneinender Gebärde.

Prüttwitz und Rochow traten heran und nahmen die Piſtolen, um ſie zu dem zweiten Schuſſe zu laden.

Und abermals trat Schleichheim vor, wieder voll Feierlichkeit. Und begann: „Nachdem der erſte Schuß gewechſelt ward, meine Herren, iſt es meine Pflicht,

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mich an Ihre Loyalität zu wenden und auf eine fried- liche Bei.

Borwin winkte ſehr haſtig ab. Beinahe ſchien es, als zögere Dieter... aber als er die Gebärde des andern ſah, ſchnitt auch ſeine abwehrende Hand Schleich⸗ heim die Rede entzwei. .

Mit einer Verbeugung, voll tiefen Ernſtes, innerlich aber durchaus zufrieden mit der Haltung der Duellanten, trat Schleichheim zurück.

Das Laden der Piſtolen alter Konſtruktion dauerte an die zehn Minuten...

Zehn Minuten... lange, lange zehn Minuten... Alles, was fich bis zu dieſem Augenblick begeben hatte, war ſo furchtbar leer geweſen. Wie Formelkram. Nichts weiter.

Es deuchte Borwin mit einem Male, als werde es ein ſolcher bleiben. Ein Gefühl von Flauheit, von Verlorenſein erfüllte ihn ganz. Dieſe Stunde ſchien alles zu krönen, was er in ſich erlebt. Schwankende Gefühle, Anſätze zur Tragik, Schuldbewußtſein ohne rechte kraſſe Schuld, Todeswunſch. Und das Ende? . . . Ein paar Schüſſe in die Luft und morgen wieder das alte Leben. Unerträglich. Unrühmlich. Eine Karikatur auf Mannesgefühle und Manneserleben.

Eine ironiſche Strafe. Die härteſte von allen. Das Verſanden eines unklaren und leidvollen Schick⸗ ſals in Banalität.

Schonte ihn der andre? Aus Gutmütigkeit? Aus berechnendſter Grauſamkeit?

Borwin ſah ihn an. Ein wenig breitbeinig ſtand er da, hoch und gerade, ein mächtiger Mann, mit einem guten, offenen Geſicht. Und die merkwürdig blauen, zu blauen Augen ſahen ihn an. Wie? In Mitleid?

Ich kann ihn nicht erſchießen ich ihn nicht, fühlte Borwin. Dieſer Gedanke war ihm entſetzlich auf einen Mann zielen einen Menſchen vielleicht töten . . faſt phantaſtiſch war ihm das... Er haßte den andern nicht.

Wenn ich ſterbe, iſt er ihre Zukunft, dachte er.

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Die Vorſtellung tat ihm weh... aber ihm kam's zum Bewußtſein, wie wahnwitzig das war: für ſie zu leben, ihr Treue zu halten, dazu hatte ihm die ſtarke Gefühlslinie gefehlt. Und nun war er ganz und gar von der Begierde erfüllt, für ſie ſterben zu dürfen.

Nein, nicht nur für fie... Um nie, niemals in feine Ehe, in ſein Haus, in ſein verworrenes Daſein zurück⸗ kehren zu müſſen

Wie langſam die Minuten jchlichen....

Auch Dieter kam erſt jetzt zum klaren Überdenken dieſer merkwürdigen Stunde.

Bis hierher hatte ſich alles ſo mechaniſch abgewickelt. Ganz ebenſo wie hundert andre Male hatte man ſich ſeine Jagdgamaſchen umgeſchnallt, ganz wie gewöhn⸗ lich das Gewehr über die Schulter gehängt und war hineingewandert in die graue, naſſe Morgenfrühe. Man mußte ſich förmlich mit Gewalt beſinnen, daß es einem andern Gange galt...

Der Knall der Piſtolen und die raſche, furchtbare, jäh aufwallende Spannung hatte alles verändert...

Gottlob, da ſtand ſein Gegner, blaß zwar, aber feſt und aufrecht.

Wieder kam das tiefe Schweigen. Sie warteten Zehn Minuten lang.

Der Morgendampf füllte mit ſickernden, leiſe quellenden Geräuſchen die laue, laſtende Luft.

Dieter dachte an Hardy.

Ja, jetzt um eben dieſe Zeit hatte ſie wohl gerade ihren Platz am Apparattiſch eingenommen, und um ihren Kopf wand ſich die ſchwarze Bandage, an der die Fernhörer ſaßen, gleich häßlichen Auswüchſen. Vor ihr auf dem Tiſche hoben die Glühwürmchen ihre Flügel und ließen ihr Lichtlein glimmen, und die ſanfte, liebe Stimme meldete ſich geduldig: „Hier Amt.“ So deutlich konnte er es ſich vorſtellen, nach ihren lebendigen Erzählungen.

Ihm war faſt, als habe er eine lefg full Vor den bleichen Nebeln, die die Waldestieſe füllten, vor dem Hintergrunde der ernſten Buchenſäulen ſchwebte ihr Bild in der Luft ein gebeugtes, horchendes Haupt

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den feinen Nacken mit dem Anſatz des dunklen Haares ſah er genau...

Sie tat das Allermodernſte, was ein arbeitendes Mädchen nur tun konnte: ſie telephonierte ſie machte ſich zur Maſchine, zu einem Rädchen des un⸗ geheuren Rieſeninſtruments, das man den Verkehr nennt.

Und er er ſtand hier und tat das Urälteſte, Ein⸗ fachſte, was ein Mann tun kann: ſchlug drein für die Ehre der Geliebten.

Was die klugen und kaltblütigen Leute auch dar⸗ über ſchreiben, dachte er: das bleibt ewig! Das ſitzt drin in der Fauſt eines rechten Mannes, daß er den ln muß, der ihm die Liebſte, Reinſte, Feinite ränkt.

Eine tiefe Rührung wallte in ihm hoch wollte ihn weich machen.

Daß ſie nur nichts erfährt von dieſer Geſchichte hier! dachte er beſorgt, denn er fühlte: ſie würde hart darunter leiden.

Vielleicht ſich nachträglich entſetzen, daß um ihret⸗ willen zwei Männer ſich in Gefahr begeben hatten.

Mehr um ihn als um mich würde ſie zittern natürlich dachte er ſchmerzlich.

Er 5 ſich den Gegner an.

Dieſen alſo liebte fie liebt ihn wohl noch ... ſo muß man ausſehen, um ihr zu gefallen... er ſieht männlicher aus, als er ilt...

Wie denn? dachte Dieter weiter, weiß ich was da⸗ von, ob männlich oder unmännlich? Hier, heute morgen hält er ſich gut. Jawohl, das tut er. Und dieſe Sache mit Hardy und von ihr zu der Kleinen, die er dann heiratete was offenbar nicht ſein Glück ward ja, das ſind ſo Geſchichten ich verſteh' das nicht. Ich kann mich nicht da hineindenken: von einer zur andern. Aber er iſt ja nicht der einzige. Und be⸗ kommen iſt das noch niemand. Gut zumute kann ihm nicht ſein.

Das begriff Herr Dieter ganz und gar. Er wollte ihn nicht richten. Dieſe ſeine Lage war ja Strafe genug.

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lh viele Genug? Nicht etwa ſogar zuviel? Unerträg⸗ ich viel?

Wie mußte ihm denn nachher zumute ſein, wenn er dieſen Platz verließ, auf dem nichts geſchah, als daß man ein paar Schüſſe in den weißen Dunſt hinein abgab? Elend mußte ihm zumute ſein. Wenn er an ſeiner Doppelliebe litt wie an einem Gebrechen, das ſeine Männlichkeit ſchädigte, dann mußte er ſich ſelbſt unerträglich werden, und ſeine Lage mußte ihm noch grauſamer erſcheinen, wenn er von dannen ging, ohne ein Tröpflein Blut verloren zu haben.

Was für eine lange Zeit ſind zehn Minuten.

Förmlich wirbelnd ſtieg der weiße Dampf am Saume der Birkenſchonung auf, ſich kräuſelnd, als käme er aus den Ritzen eines Meilers.

Und in feinen, feinen Perlchen hing all die Näſſe ſchon in Dieters Bart.

Er ſtrich ſich mit der Hand darüber.

Ja, zehn Minuten ſind eine verflucht lange, pein⸗ liche Zeit wenn in ihr zwei Piſtolen geladen werden.

Dieter grübelte weiter, immer faſt ſtarr hinüber⸗ ſchauend auf den Gegner.

Wie das reinigt, wie das entſühnt, wie das ab⸗ wäſcht ein paar Tropfen Blut, dachte er.

Plötzlich verſtand er die uralte Rede „mit Blut ab⸗ waſchen“. Ja, das hatte tiefen Sinn.

Wenn er dem andern da drüben eine kleine, harm⸗ loſe Verwundung beibrächte ſo einen glatten Schuß durch den Oberarm gefahrlos eine kleine Fleiſch⸗ wunde nur.

Dieter fühlte in wunderbarer Klarheit: das würde dem zur Wohltat. Eine eingebildete Wohltat. Viel⸗ leicht! Wer konnte ſolche Gefühle entwirren, die in⸗

einander hineingewachſen waren, voneinander lebten

wie das Pflanzengeſchling im Urwald. Ein letzter Reſt von Wildheit, von völligſter Einfachheit bleibt in uns allen, dachte er; wir wollen ſtrafen wir wollen ge⸗ ſtraft werden wir haben Verlangen nach der Abſo⸗ lution durch die Tat hier ſcheidet die ſchöne Lüge von der Verzeihung aus nur nach der Strafe kann

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das Leben neu anfangen. Wunderbar ſehr klar und doch ſehr undeutlich zugleich. |

Er atmete tief auf.

„Ich will ihm helfen!“ dachte er.

Es war ſein erſtes Duell. Er hatte noch nie auf einen Menſchen gezielt... Das iſt ein wunderliches Ziel, auch für eine ſonſt unfehlbare Schützenhand.

Prüttwitz und Rochow traten zum zweitenmal an 9a 5 heran und gaben ihnen die Piſtolen in die

ände.

Und wieder reckten ſich ſtraff die Arme in die Luft, und die Piſtolenläufe wieſen empor zum trüben Himmel wie in einem merkwürdigen Pathos der Rache.

„Eins!“ kommandierte Schleichheim.

Zugleich ſenkten ſich die Hände, als ſeien ſie ſchwer von den Waffen.

„Zwei!“

Und die Männer zielten

f en zuckte es durch ihn hin ... wie denn? Iſt Schützen⸗ i

und B einen raſchen Untergang in dem dicken Nebeldampf zwiſchen den Stämmen

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„Nichts ſchien geſchehen. Aufrecht ſtanden die beiden änner.

Der eine wie erſtarrt von dem Gefühl einer ſchmach⸗ vollen, furchtbaren Ernüchterung ... zu Ende war die Komödie, und alles wieder wie vorher... das Elend und die Kleinlichkeit und die Scham warteten auf ihn.

Der andre erſtaunt, faſt lauſchend, er horchte dem Stoß nach, den er in die Seite bekommen hatte da ſchlug ihn was hart

Nun mit einem Male war es kein Schlag mehr, ſondern ein Stich..

Und faſt zugleich empfand er eine merkwürdige Wärme an der Seite, als begöſſe man ihn mit heißem Waſſer.

Er machte eine Bewegung... f

Er wollte atmen ... es tat ihm ſehr weh..

„Ich ich. ..“ ſagte er.

Schon ſprangen Doktor Barthelmann und Prütt⸗ witz herzu.

„Da,“ ſagte Dieter, „jawohl ... da... das hat getroffen ...“

Und dann nichts mehr

Sie hatten beide ihr Ziel verfehlt. Unbeſchädigt ſtreckte ſich der anmutige Birkenaſt, über den die grünen Schleier hingen, in die nebelgeſättigte Luft hinein. Unzerlöchert deckte der Stoff den Arm Borwinns

Sie ließen die gleitende, mächtige Geſtalt ſanft auf den Erdboden. |

„Nu nu nu,“ ſagte Doktor Barthelmann faſt er- munternd zu dem Sinkenden.

Dieter hörte es noch. Ein leiſes Lächeln trat auf ſeine Lippen und blieb ihm noch ein paar Augenblicke 1755 Mundwinkeln. Er wurde raſch erſchreckend

eich. Doktor Barthelmann ſchnitt ihm den Rock und die Weſte auf. Das emſig fließende Blut quoll ſchon in den Stoffen. |

Ratlos ſtand Doktor Fritz und war fait jo bleich wie der Verwundete ſelbſt. Von tauſend „Nuancen“ hatte man ihn unterrichtet, nur nicht über die Möglich⸗

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keit, daß der gegneriſche Duellant fallen könne, und ob er dann mit Hand anlegen dürfe. Aber als er nun ſah, wie die Sachen in des alten Barthelmanns Ver⸗ bandskaſten ausſahen, mit was für einer Schere der die Stoffe zerſchnitt, und wie alte Watteklumpen frei neben allen möglichen andern Dingen im Kaſten lagen, da hielt es ihn nicht mehr. Er kam mit ſeinem Rüſtzeug heran und reichte dem Kollegen alles zu... Der tat das, was jeder Arzt in ſolchem Fall nur tun konnte: er hemmte mit einer Tamponade die Blutung. Aber die Art, wie er das feſte Ausſtopfen der Wunde mit Jodoformgaze beſorgte, die Langſamkeit und Um⸗ ſtändlichkeit und die harte Handhabung erregten Doktor Fritzens Beſorgnis und Ungeduld. Die Wunde blieb ſo lange der Luft ausgeſetzt, dieſer gefährlichen, in⸗ fizierenden Luft...

Inzwiſchen wechſelte Prüttwitz ein paar Worte mit Rochow. Dann eilte er in die Birkenſchonung hinein, den Weg entlang, auf dem er ja ſicherlich Grohberg treffen mußte. |

So ſchwer vor Schreck ihm auch das Herz war, er blieb ganz beſonnen.

Seltſam, dachte er, es war ſchon ſolche Ahnung in ihm. All die Vorbereitungen . .. jo früh ging er geſtern abend hinauf, um noch zu ſchreiben .. Und dann heute, als wir aufbrechen, ſagt er noch: Prüttwitz, ſagt er, wenn was is rufen Sie gleich Frau von Arn⸗ berg. Die ſoll gleich kommen im Ernſtfall. Jawohl, die.

Und neben all dieſen Gedanken wußte er: der Wagen mußte eiligſt zum Hof zurüdjagen, von einem Heuwagen die eine Seitenleiter nehmen, im Herren⸗ haus Bettzeug holen ſo konnte eine tisch für den „auf der Gade Verunglückten“ am praktiſchſten her⸗ gerichtet werden. An alles dachte er. Keine Maß⸗ regel, weder für den Verwundeten, noch für die Geheimhaltung des Unglücks, überſah er.

Schleichheim und Rochow blieben natürlich zurück. Ihre Pflicht war, am Schauplatze Beiſtand, auch ſeeliſchen, zu leiſten, wo es ging. Und ſie ſahen es: Borwin brauchte fie... Sie traten zu ihm.

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Der war aus feinem Wahn, daß nichts geſchehen ſei, ſo jäh, ſo furchtbar geriſſen, daß er ſich keine ge⸗ faßte Haltung abzwingen konnte.

Feſt ineinandergeklemmt, wie ein Betender, hielt er die Hände emporgehoben gegen einen Birkenſtamm 11 7 5 und ſeine Stirn gegen dieſe eiſernverſchrankten

inger.

Er konnte nichts Klares denken. Verzweiflung er⸗ füllte ihn ganz und gar. |

Räg’ ich dort ich ich, fühlte er.

Unter der ſeine Schulter berührenden Hand Schleichheims zuckte er zuſammen.

„Faſſung, lieber Freund,“ ſprach Schleichheim ernſt.

„Tot?“ fragte Borwin, „tot?“

Die beiden andern errieten es eigentlich nur an a Mundbewegung, daß er fo fragte er lallte onlos.

Sie wußten es ſelbſt noch nicht. Schleichheim drückte ihm feſt die Hand, um ihn zu ermutigen, auch zum Schlimmiten...

Rochow, mit vorſichtigen Schritten, als mache ihn der dumpfe Widerhall des Auftretens auf der Erde nervös, ging an die Arzte heran.

„Wie iſt es?“ fragte er flüſternd und beugte ſich zu Barthelmann hinab.

„Wer kann's wiſſen eh' wir ihn nicht im Bett 5 und ordentlich unterſuchen können, iſt nichts zu agen,“ antwortete der Weißbart kurzen Tones.

Rochow aber ſah mit Entſetzen den Hingeſtreckten. Ihm ſchien dies ein vom Tode gezeichnetes Geſicht.

„Was meinen Sie, Fritz?“ flüſterte er weiter.

„Dieſe tiefe Ohnmacht ſagt nichts. Gerade ſo große, ſtarke Männer verfallen in Bewußtloſigkeit, wenn ſie ihr Blut fließen fühlen. Das iſt eine alltägliche Er⸗ ſcheinung,“ ſagte Doktor Fritz ſehr leiſe.

Aber Barthelmann hatte es doch verſtanden und bekräftigte das: „Baumkerls von ſechs Schuh ſchlagen mir hin wie 'n blutarmes Frauenzimmer, wenn ich ſie in den Finger ſchneide,“ ſagte er derbe.

Er hatte nun den Notverband angelegt und ſprach

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jovial und ermunternd über den Platz hin: „Nie die ine verlieren die Natur Hilft ſich ſchon . jawohl ... das tut fie... Sagen Sie mal, meine Herren, hat denn keiner 'n Kognak bei ſich? Und ich möchte wohl, daß wir unſern Verwundeten hochhöben und ihm ein paar Röcke unterlegten feucht iſt der Boden verflucht feucht ...“

Nein, Kognak hatte niemand bei En Aber Doktor Fritz nahm das Atherfläſchchen aus ſeinem Verbands⸗ kaſten. Auch nahm er ſich nun den Mut zu ſagen, daß es wohl geratener wäre, wenn man den Ver⸗ wundeten ſo wenig als möglich 99 und daß der feuchte Boden als das kleinere Übel anzuſehen ſei.

Barthelmann ſah energiſch auf, mit dem offen⸗ kundigſten Ausdrucke des Erſtaunens darüber, daß ihm ein Menſch widerſpreche. Wahrſcheinlich wäre er 1 geworden, wenn in dieſem Augenblicke nicht, von der Einwirkung des ſcharfen Athers belebt, Dieter ſchwer geſeufzt hätte.

Die Männer um ihn warteten . .. ihre Blicke hingen an dem blaſſen Geſichte.

Sie waren alle 1 von der feierlichen und ſtolzen Schönheit auf dieſem farbloſen Antlitze ..

War das nicht der Tod?

Wieder ſeufzte Dieter, ſchwerer noch und es war, als ſtocke der Seufzer, als ließe irgendein Hemm⸗ nis nicht ganz frei den tiefen Atem erlöſend aus der Bruſt quellen.

Nun ſchlug er die Augen auf.

Er ſah ein wenig verwundert und traumſchweren Blicks über dieſe Männer hin, die ihre Köpfe zu ſteh an im Gras um ihn knieend oder gebückt

ehend.

Nun wußte er auch ſchon, was dies alles war..

Etwas Farbe kehrte in ſein Geſicht zurück.

„Ja,“ ſagte er, „nun hat es mich getroffen. Schwer?“

„Ih nee!“ antwortete Barthelmann, „das kriegen wir ſchon zurecht.“

„Ich möchte hier weg..“

„Jeden Moment us Prüttwitz zurück fein.“

XXVIII. 2. 18

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Barthelmann hielt die Hand des Liegenden um⸗ ſchloſſen. Er fand den Puls angemeſſen.

Nun ſchwiegen wieder alle.

Herr Dieter ſchloß die Augen. So vergingen ein paar Minuten. Es war ein quälendes Warten.

Da rührte der Verwundete die Hand. Doktor Barthelmann fühlte das zwiſchen ſeinen feſten Fingern. Er neigte ſein Geſicht näher zu Herrn Dieter hin. Der öffnete wieder die Augen: „Iſt iſt mein Gegner.“ 5 „Rochow ſtürzte ſofort auf Borwin und Schleich⸗

eim zu.

„Herr von Arnberg fragt nach Ihnen,“ ſagte er.

Schleichheim nahm Haltung. Er ſah, es war der Moment, wo die Gegner ſich verſöhnt die Hand zu reichen hatten.

„Kommen Sie, Eggsdorf,“ ſprach er ernſt.

Sie gingen auf den am Boden Liegenden zu. Rechts und links von ihm hockten Doktor Fritz und Barthelmann. Sie erhoben ſich zugleich, als die Männer herantraten.

Borwin verſuchte zu ſprechen. Seine Lippen N Sein Herz klopfte. Er konnte nichts ſagen nichts

„Herr von Arnberg,“ begann Schleichheim, ſelbſt kaum Herr ſeiner Stimme, 1 br Gegner hat den Wunſch, von Ihnen einen Händedruck und Ihre Ver⸗ ſöhnung zu erbitten. Das tückiſche Schickſal hat in einer Weiſe entſchieden, die den Empfindungen Ihres Geg⸗ ners widerſtreitet ..“ |

Er ſchwieg. Dieter hatte eine leiſe Handbewegung gemacht es ſchien eine Bitte, zu ſchweigen.

Die beiden Männer ſahen ſich an.

Und Borwin war es, als hätten ihn ſchon einmal zwei Augen ſo 1 gerade ſo klar und tief in jener Winternacht das gleiche Mitleid, deuchte ihn, hatte damals in ihren Augen geſtanden, als ahnten lie all fein Elend voraus... |

Lange ſahen fie ſich an in feierlichem Schweigen.

Keine Feindſeligkeit war in ihren Blicken, nur heiße Bitten, Fragen, Hoffnungen

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Und eine große, ernſte Begier, zu wilfen... Leben oder Tod? ...

Und wem die Zukunft? Und ihre Liebe?

Endlich erhob Herr Dieter leiſe die Hand.

Da neigte der andre Mann ſich tief herab. Als er dieſe Hand nahm, als er ſie in leidenſchaft⸗ licher Erſchütterung feſt, ſehr feſt drückte, waren ſeine Augen unklar von Tränen.

Dann trat er zurück. Scheu, wie von einem Thron oder einem Sterbebett.

® ® ®

Es war Abend. Auf dem großen runden Tiſche, deſſen Platte von einer Mahagoniſäule getragen ward, ſtand eine Lampe. Ihr derber grüner Pappſchirm hielt das Licht feſt zuſammen, ſo daß es nur die Tiſch⸗ decke erhellte und oben mitten an den Plafond eine runde helle Scheibe malte. Das Zimmer ſelbſt blieb im Halbdunkel. Außer dem einſam wirkenden Tiſche gab es nur die notwendigſten Möbel im weiten, vier⸗ eckigen Raume, deſſen Eſtrich ein wenig gegen die Fenſter hin ſich ſenkte, wie es in ſehr alten Häuſern vorkommt. Lazarettluft erfüllte das Zimmer, ein Gemiſch von Lyſol und Jodoformdunſt, und drang 55 hier aus durch das ganze Herrenhaus von Wieſchen⸗

urg.

In ſeinem Bette lag der Kranke und atmete ſo kurz, wie es Menſchen tun, die an einer Rippenfell⸗ entzündung darniederliegen, und war ſo unruhig wie ein Fiebernder. Er hielt die Augen geſchloſſen, als läge er im Halbſchlummer.

Daß er noch lebte, war ein Wunder, ein Triumph ſeiner kraftvollen Natur. Schwere Fehler waren an ihm begangen worden. Kaum, daß man ihn hierher⸗ gebracht Da ſo fing Doktor Barthelmann an, nach der Kugel zu ſondieren. Ohne ein andres Reſultat, als daß eine neue ſchwere Blutung eintrat, die er durch abermalige Tamponade zu hemmen ſuchen mußte.

Aber auf Frau von Arnbergs dringliches und ſehr langes Telegramm hin kam dann noch am Nachmittage

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der Profeſſor Steen. Er brachte einen Aſſiſtenzarzt, eine Schweſter und ein förmliches Inſtrumentarium in ſeinem Auto mit.

Man bereitete ein Zimmer gründlich zu einem im⸗ proviſierten Operationsſaal vor, und unter dem hef⸗ tigen Mißtrauen Prüttwitz' und unter beleidigendſter Ausſchließung Barthelmanns war der Verwundete in der Narkoſe operiert worden. Der Profeſſor hatte Frau von Arnberg nachher erklärt, daß es ihm ge⸗ lungen ſei, das blutende Gefäß zu finden und zu unter⸗

binden. Es ſei techniſch eine ſehr ſchwere Arbeit ge⸗ weſen. Man habe dabei auch die Kugel gefunden, nach der man in ſolchen Fällen nicht in erſter Linie mehr zu ſuchen pflege. Sie habe an der fünften Rippe geſeſſen. Die Pleuralhöhle habe man glücklicherweiſe nicht zu öffnen brauchen. Trotzdem aber ſei die Lage 7 beſonders angeſichts der vorangegangenen Maß⸗ nahmen.

Das eigenmächtige und herriſche Benehmen der Frau von Arnberg hatte Prüttwitz und Barthelmann ſchwer beleidigt.

Kaum, daß ſie hier eingetroffen war, nahm ſie die Dinge in die Hand. Prüttwitz ſtellte ihr gleich vor: Dieter Arnberg könne von keinem Arzte beſſer betreut werden als von dem famoſen alten Barthelmann, der eine Seele von einem Menſchen und ſchon der bewährte Freund ſeiner Eltern geweſen ſei.

Aber dieſe Frau hörte auf niemand. Sie war wie taub für alles, außer für den Kranken. Sie waltete hier, als ſei ſie eine Majeſtät, der im fremden Hauſe ſofort das Hausherrnrecht zufällt. Sie kannte keine Rückſicht, kaum Höflichkeit. Sie ſchien wie beſeſſen.

Und weil die Männer keine Träne in ihrem Auge ſahen, und weil ſie keine ſchönklingenden Worte von ihr hörten, kein Bedürfnis in ihr erkannten, ſich in ſorgenvollen Geſprächen das Gemüt zu erleichtern, fingen ſie an, ſich zu fürchten.

Prüttwitz war das Herz ſchwer. Freilich, auch die Krankenſchweſter wachte ab und zu neben dem Ver⸗ wundeten und ging der Frau zur Hand. Aber eigentlich

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war doch jie die Pflegerin. 11 5 ſeltſame Pflegerin fand Prüttwitz eine, die nel Unerbittlichkeit als Mitleid in ihren Zügen hatte.

Sie erinnerten ſich eigentlich nur mit Blicken und halben Worten daran, daß der Sohn dieſer Frau mit dem ehernen, undurchdringlichen Geſicht der 1 5 wurde, wenn der arme Dieter ſtarb und das Geſchick der Arnbergs ſtand ſehr deutlich vor ihrem Gedächtnis ... Wie fie hinſtarben einer nach dem on wie der Tod fie ſchlug, ehe noch das Alter

en Sie fragten 55 nicht: wartet, hofft ſie am Ende auf Dieters Tod?

Ja, ſie verboten es ſich geradezu, das zu denken.

8 Aber umdüſtert war ihnen das Gemüt von unklaren orgen.

Barthelmann hatte auch viel Gedanken über den „Profeſſor“. Der bloße Titel wirkte ſchon auf den alten, temperamentvollen Dorfarzt wie ein rotes Tuch.

Und wenn ſie ganz niedergeſchlagen abends bei⸗ ſammen ſaßen, bei ſchwerem Rotwein und ſtarken Zigarren, dann erhoben ſie ſich ſchließlich an Barthel⸗ manns Wort: „Die Natur hilft ſich ſchon und Dieter Arnberg hat eine ſolche Konſtitution, die trotzt ſelbſt einem Profeſſor.“

Sie grübelten viel über die Frau nach, aus der ſie nicht klug wurden, und Barthelmann flüſterte ein⸗ mal, als ſei ihm ſein eigenes Wort nicht geheuer: „Sie hat was von ner Parze.

Sie ſelbſt, die ſo unter erquälter Starrheit das ungeheure Leben bändigte, das in ihr kochte, ſie ahnte nicht, daß ihre Haltung irgendwie auffallend war.

Zeh n Tage sch ſchon ſaß ſie hier, in zäher Kraft, wach⸗ ſam, warten Rub e ſaß ſie und erhobenen Hauptes. Und wer ſie ſo ſah, dem konnte ſie wohl unheimlich cheinen in ihrer faſt rätſelhaften Unermüdlichfeit, mit ihren ſcharfgeſchnittenen Zügen und der glei mäßigen Elfenbeinfarbe ihrer Haut.

Die Not dieſer Tage am Bett des Kranken wurde

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für Frau von Arnberg noch verſchärft, weil fie jo regungslos ſitzen mußte. Wer mehr als fünfundzwanzig Jahre lang unaufhörlich die Gedanken und die Hände erührt hat, verlernt das Stillhalten und das müßige arten.

Sie war es ſo gewöhnt geweſen in ihrem ſchweren Leben, ihren leidenſchaftlichen Erregungen gewiſſer⸗ maßen dadurch zu Hilfe zu kommen, ſie erträglicher zu machen, daß ſie die raſende Eile und Emſigkeit ihrer arbeitenden Finger noch ſteigerte oder beflügelten Schrittes im Zimmer hin und her eilte.

Nun aber hielt ſie ſtille Wacht. Am Bette ſaß ſie und lauſchte auf den Atem des Mannes und ſein leiſeſtes Flüſterwort. Jede ſeiner Mienen beobachtete ſie, und auch nur der Schatten einer tieferen Bläſſe, einer A Erhitzung, auch nur die Andeutung einer Linie größeren Elends in ſeinem Geſicht ließ ſie erbeben.

N Je beherrſchter ihre Haltung nach außen ſein mußte, deſto leidenſchaftlicher war die Bewegung ihres Innern.

Zuerſt hatte ſie immer nur den einen Gedanken gehabt: Mich rief er mich mich!

Ihr war, als ſei damit ſein Leben in ihre Obhut gegeben, und ſie allein habe es zu verteidigen.

Immer hatte im Untergrund ihres Gemüts ein zitternder Aberglaube gelegen. Und nun kamen all dieſe dämoniſchen Hoffnungen von einſt zurück und nn ſich auf das furchtbarſte mit dem letzten

eignis.

Sie hatte einſt geglaubt, das Schickſal heranſchleichen zu ſehen es ſchien Todesurteile in den Händen zu haben für die, die zwiſchen dem Beſitz und ihrem Sohn ſtanden ... was ihrem ee gehörte, ward auch ihr und ihrer Tochter wie von ſelbſt zum Lebensreichtum. Sich und die Ihrigen hatte ſie erhöht ſehen wollen. Und dem Manne, der beſaß, nicht den Beſitz ge⸗

önnt. . als ſie noch nicht wußte, was für ein Mann er

. Waren ihre Hoffnungen und Wünſche wie Gift⸗

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pfeile geweſen, die man nicht auf ihrem Fluge wieder einholen kann, wenn ſie einmal abgeſchnellt wurden?

Und bei ihrer Veranlagung, alles auf das geheim⸗ Sinn hei miteinander zu verknüpfen, tiefwaltenden Sinn herauszudeuten, war es ihr furchterregend, daß Ba Schickſal ſich Borwin Eggsdorfs Hand bedient

atte .

Wie ſie hier nun ſo ſtarr und voll ſcheinbarer Ruhe am Bette ſaß, dachte ſie oft an jene Nacht zurück, wo ſie, raſend vor Zorn und Schmerz, danach gelechzt hatte, ſich einſt über den Mann erheben zu können, der ihr Kind verſchmähte; wie ſie ſich dagegen auf⸗ gebäumt, ihm zu verzeihen

Sie wußte natürlich, was geſchehen war. Sie hatte es Prüttwitz auf den Kopf zugeſagt. Daß jener Vorfall im Münchower Park ernſte Folgen haben würde, hatte ſie von ſelbſt gedacht gehabt. Seit der Nacht, wo Dieter davonritt, lebte ſie in heißer Unruhe, umhergetrieben von Sorgen, die ſie ſtumm in ſich ver⸗ ſchen et mußte. Und als Prüttwitz' Telegramm kam, chien es ihr förmlich die ei zuzuſchreien; ihre Blicke gingen über das Wort „Jagdunglück“ unwillig hin wie über eine zu durchſichtige und törichte Lüge.

Dieter, der ihr ſchwach entgegenlächelte, als ſie an ſein Bett trat, hatte ihr zugeflüſtert: „Hardy darf nichts wiſſen.“ .

Nein, dachte die Frau immer wieder in ihrer herben Leidenſchaftlichkeit, in ihrem ſtrengen Selbſtgericht, nein, meine Kinder dürfen es nicht wiſſen; wie ſoll Hardy es ertragen, wenn er ſtirbt? Wie es tragen, wenn er lebt?

Und ſie ſelbſt? Wie ſollte ſie weiterleben, wenn er ſtürbe? Mußte ihr nicht ſein, als habe 15 Wunſch ihn getötet? Dieſer 5 tauſendmal in heißer Scham bereute Wunſch, den im Unterbewußtſein in ſich gefehlt zu haben, kaum ihr Gedächtnis zugeben mochte

Auf der Wacht ſaß ſie hier, als ſei ihren ſchwachen Menſchenhänden die Gewalt gegeben, den Tod ver⸗ jagen zu können, wenn er wirklich kommen wollte...

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Dieter rührte ſich ſeine Lippen bewegten ſich wie in lautloſem Sprechen.

Die wachende Frau beugte ſich vorſichtig und un⸗ an: über ihn. Alle ihre Nerven ſpannten ſich, im

unſch, zu hören.

Sie vernahm auch Worte ſeine Stimme erhob ſich aber ſie begriff nichts inhaltslos waren ihr ſeine Reden.

„Zwölf Geſpanne ... ſagte er, als zähle er, „zwölf ... zwölf ... der ſchöne Morgen

Dann verſank alles wieder in Gemurmel. Die Frau ſah ihn unverwandt an. |

Sähe Hardy ihn ſo fie müßte ce lieben

Eine Art verzehrender, mütterlicher Ergebenheit für dieſen Mann war nach und nach in ihr ſtark ge⸗ worden. Hier an ſeinem Lager hatte ſie oft ein Ge⸗ fühl, als ſei er ihr eigenes Fleiſch und Blut, vielleicht

mehr ihr Sohn als Heinz Philipp. | Aber auch an dieſen dachte ſie nun mit klarerer Liebe. Sie hatte es erlebt, daß er hier am Bett in einer ganz einwandfreien, mannhaften Haltung wahr⸗ ſein erſchüttert geſtanden. Sie hatte begreifen dürfen: ein Weſen, ſo ſehr es auf Schein, Eitelkeit und Genuß gerichtet war, erſchrak doch tief vor der Möglichkeit, daß er durch Dieters Tod zu Glanz und großem Beſitz kommen ſollte. Sie erwog es: der Umſtand, daß er durch ſeine Heirat ein wohlhabender Mann wurde, erleichterte ihm das ſeeliſche Verhältnis zu dem Er⸗ eignis. Aber dennoch ſie erkannte es klar: die Vor⸗ ſtellung war ihm furchtbar, auf Koſten dieſes wert⸗ vollen Lebens der Herr zu werden. Und er erinnerte ſich daran, wie manchesmal Dieter von dem Beſttz geſprochen, als ſei der nur geliehen, ja, wie er noch vor kurzem ſich in Reden ergangen, die auf Todes⸗ ahnungen ſchließen ließen. Heinz Philipps Jugend⸗ gefühl ſträubte ſich nun in geſundem Egoismus gegen dieſes Erbe, mit dem vielleicht der Verluſt unbefangener Lebensfreudigkeit verbunden war. Er ſchien plötzlich zu begreifen, wie verantwortungsvoll das Daſein eines Mannes in Dieters Verhältniſſen ſei. Und ſo

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en 5 Wunſch, daß Dieter geneſen möge, heiß und ehrlich.

Merkwürdigerweiſe glaubte Heinz Philipp an das „Jagdunglück“ oder wollte daran glauben. Ent⸗ weder hatte Prüttwitz es ihm ſo wahrſcheinlich oder ſo unwahrſcheinlich dargeſtellt, daß Heinz Philipp gar nicht zum Zweifel kam oder völlig begriff: die Ge⸗ ſchichte hatte einen Haken, und es ſei am klügſten und diskreteſten, ſich etwas vorlügen zu laſſen.

Frau von Arnberg hütete ſich, daran zu rühren. Bei ihrem Zuſammenſein gingen Mutter und Sohn vorſichtig daran vorbei.

Auch mit Irmas Benehmen konnte ſie zufrieden ſein. Die Hochzeit wurde aufgeſchoben. Man hoffte, ſie in etwa vierzehn Tagen und dann in aller Stille zu feiern, ſobald Profeſſor Steen jede Lebensgefahr für ausgeſchaltet erklärte. Irmas Eltern waren darüber ja etwas betroffen geweſen, denn ſie liebten das gleich⸗ mäßige Behagen im Gange ihres Lebens. Sie waren auch Optimiſten und meinten, „man müſſe nicht immer gleich das Schlimmſte denken“. Aber im Grunde waren fie ohne ſich darüber klar zu fein

ewöhnt, ihren Kindern zu gehorchen. Und ſo fand

Sean Nottbeck ſich darein, daß all ihr Aufwand und Regieren und Vorbereiten unnütz verpufftes Pulver geweſen ſei. Irma ſchrieb ihrer Schwiegermutter jeden Tag einige Zeilen. In ihren Worten war mehr als bloße Klugheit. Es war ein faſt merk⸗ würdiges Vorgefühl darin für den Ernſt und die Aufgaben des Lebens. Frau von Arnberg wußte es wohl, daß wahrhaft intelligente Menſchen plötz⸗ lich wie ſehend werden können, wenn ein ſchweres Ereignis in ihrer Nähe ſie aus ihrer Unbekümmert⸗ heit reißt. Und ſo faßte ſie das gute Zutrauen, daß Irma nicht nur ihr noch eine wahre Tochter werden, ſondern auch Heinz Philipp in jeder Weiſe fördern könne.

Oft wollten die ſchweren Erſchütterungen ihres Gemüts ſich in Weichheit auflöſen. So hart war der Tag ihres Lebens geweſen. Wollte der Abend milde

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werden? Der Gedanke rührte fie... Aber ſie nahm ſich wieder eiſern zuſammen.

Alles hing an dieſem Einen, der ſo kurz, ſo ſchnell und unter Schmerzen atmete, von Gefahren noch um⸗ lauert, auf ſeinem Lager ſchwach darniederlag.

Starb er, zerbrach alles alles...

Rührte er ſich nicht? Nein, er ſchien zu ſchlafen.

Wie bleich er war. Und wie das den ganzen Cha⸗ rakter dieſes Hauptes veränderte.

Nun erſt ſah man den Adel der Züge, die Schön⸗ heit der Stirn.

Seltſam, dachte Frau von Arnberg, daß ein leiden⸗ der Mann noch ergreifender wirkt als ein leidendes Weib. Vielleicht iſt es das Schauſpiel zerbrochener Kraft, das ſo erſchüttert.

In ſolchen raſtlos bewegten Gedanken ſaß die Frau hier ſeit zehn Tagen und Nächten, ganz ohne Empfin⸗ dung für die Zeit, unermüdet in zäher Widerſtands⸗ kraft. In ihrem arbeitſamen Leben hatte ſie ihre Nerven geſchult und ſich immer fo viel zumuten müſſen, ford ie aufrecht bleiben konnte, wenn die Stunde es orderte.

Die Pflegeſchweſter hatte jedesmal einen förm⸗ lichen Kampf zu beſtehen, wenn ſie Frau von Arn⸗ berg zum Ausruhen bewegen wollte.

Auch an dieſem Abend ſträubte ſich Frau von Arn⸗ berg, den Platz zu verlaſſen. Ihre Angſt um den Kranken ſteigerte ſich bis zur Unerträglichkeit, wenn ſie ihn nicht ſah; in einem merkwürdigen Eiferſuchts⸗ gefühl ertrug ſie es ſchwer, daß eine andre Hand als die ihre ihm wohltun könne.

Aber die Pflegeſchweſter erinnerte ſie daran: morgen ſei Sonntag, ihre Kinder würden kommen und ſollten doch eine leidlich friſche Mutter finden keine, in deren Zügen ſie mit Sorge die Spuren vieler durchwachter Nächte fänden.

Ja, ja, das würde ſie ängſtigen, beſonders Hardy die arme Hardy

Und Frau von Arnberg verbrachte endlich einmal gehorſam eine ganze Nacht im Bett.

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Zu einem kurzen Beſuch nur wollten ihre Kinder morgen kommen. Man durfte doch ſchließlich nicht Herrn von Prüttwitz' Haus zu einem förmlichen Feld⸗ lager der Arnbergs machen. Heinz Philipp hatte ge⸗ ſchrieben, er würde ein Auto mieten und mit Hardy und Irma ſich etwa eine halbe Stunde aufhalten.

Gut, daß ich ſie nicht allein ſehe, fühlte die Mutter. Sie 5 Hardys Fragen. Sie wollte Dieters Wunſch gehorchen; die Tochter zu belügen, fiel ihr aber ſehr ſchwer. Hardy hatte doch, ebenſo wie ſie ſelbſt, fürchten müſſen, daß der Vorfall im Münchower Park zwiſchen den beiden Männern noch einen Ehren⸗ handel nach ſich ziehen werde; ſie hatte doch mit eigenen Ohren Dieters Worte gehört: „Sie werden mir Rechenſchaft geben“ ſie mußte wiſſen, was das ſagen wollte, was das zeitigen mußte zwiſchen Män⸗ nern von Ehre.

Sie fragte in verzweifelten Briefen an: „Mutter, iſt es wahr, kann es wahr ſein, das ‚Sagdunglüd‘?“ Und die Mutter konnte nichts tun, als an dieſen Fragen vorbeihören.

Der Sonntagmorgen kam mit rauſchenden Stürmen und praſſelnden Regengüſſen. Welkes Laub jagte durch die Luft, und eine große, leidenſchaftliche Traurig⸗ keit war in der Natur. Das alte Wieſchenburger Herren⸗ haus ſah beinahe trübſelig aus in dieſer Stimmung. Und die rieſengroßen Kaſtanien, die mit ihren Aſten über der immer feuchten Zufahrtsallee ineinander⸗ griffen, ſchüttelten ihre Wipfel. Der große Herbſt⸗ lärm, der mit Brauſen und Krachen, mit Heulen und Klatſchen herumtobte, wurde für ein paar Minuten faſt noch übertrumpft vom dumpfen Rattern des Autos. Eine Erſcheinung von düſterer Unförmigkeit, von einem phantaſtiſch vermummten Lenker geführt, huſchte es heran und hielt vor der Tür.

Herr von Prüttwitz, ſo fürchterlich ihm all dieſe Störungen auch vielleicht ſein mochten, war viel zu ſehr Kavalier, um Heinz Philipp und Hardy nicht mit der größten Verbindlichkeit deren feierlich⸗finſtere Färbung er freilich nicht ahnte zu begrüßen.

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Nachher ſagte er zum Doktor Barthelmann: „Der Oberleutnant iſt ein feiner Kerl. Zwar zu tipp topp für meinen Geſchmack. Aber Haltung. Und ſagt einem doch 'n verſtändiges Wort. Während die Alte na Die Braut wär' übrigens auch mein Genre. Donner⸗ wetter, die hat Raſſe. Aber die Schweſter ...“

Er ſchwieg einen Moment. Aus diskreten Gedanken heraus. Denn obſchon kein Name genannt worden war bei den ganzen Verhandlungen, die dem Duell voraufgegangen, konnte Prüttwitz es ſich doch an den Fingern abzählen, daß dieſe Eberhardine es geweſen ſei, um derentwillen man ſich ſchoß.

Nach der Pauſe ſchloß er dann ſeine Kritik: „Sie ſieht der Mutter ähnlich. Alles, was da ſcharf iſt, ins Liebliche, ins Anmutige gemildert. Sehr vornehm. Geb' ich zu. Aber die bloße Ahnlichkeit mit der Mutter wär' mein Hindernis.“

Er konnte nun mal die Frau nicht leiden. Frauen, die keine Tränen hatten, waren ihm zu unnatürlich und zu verdächtig. Die konnten kein Herz haben.

Und gerade während er das lang und breit mit Barthelmann erörterte, hielten Hardy und ihre Mutter ſich in feſter Umarmung aneinander und ſuchten ihr heißes Aufweinen zu bemeiſtern.

Heinz 1 ſtand gerührt und Irma ein wenig befangen dabei. Auch ſie hatte vielleicht nicht erwartet, daß ihre Schwiegermutter einer weichen Erſchütterung ſo fähig ſei. Außerdem war ſie von einem Gefühl der Fremdheit etwas benommen. Sie empfand ſich als das neue, noch nicht mit den andern verwachſene Familienmitglied. |

Aber es ſchien fait, als habe Frau von Arnberg dieſe zögernde, unfreie Haltung der ſonſt ſo ſichern Irma geſpürt. Sie ließ von Hardy und ſtreckte ihre Arme der Braut des Sohnes entgegen. Irma wurde rot. Und in der Verlegenheit, die die Keuſchheit der e Weltkinder iſt, umſchloß nun auch ſie ihre

chwiegermutter herzlich. Und dann fand Irma ſich IK wieder und konnte ſich auch hier geben, wie fie ich zwiſchen ihren eigenen Verwandten ſchon lange

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ab: als eine Arnberg, der die Angelegenheiten dieſer amilie über alle andern gehen.

Man ſaß zuſammen, noch aufgeregt vom Wieder- ſehen, Hardy Hand in Hand mit ihrer Mutter. Aber man beſprach doch nun im Zuſammenhange Dieters Befinden.

Es ſchien hoffnungsvoll. Gottlob. Noch vier, fünf Tage, und dann würde man fehen... Ginge es zum Guten, ſo konnte er in ungefähr ſechs Wochen ganz hergeſtellt ſein.

Er phantaſierte noch zuweilen, abends, wenn ſeine Temperatur ſtieg. Vom Fieber und von den erlittenen Blutverluſten war er ſchwach; faſt unwahrſcheinlich war es, den ſtarken Mann, mit ſeinen breiten Schultern und dem blonden Bart auf dem weißen Nachthemd, ſo daliegen zu ſehen. 8

Aber er war vormittags doch ganz fieberfrei. Auch heute. Und er wußte, daß Heinz Philipp und ſeine Braut und daß Hardy kommen wollten. Er hatte ſchon vor drei Tagen geflüſtert: „Kommen Ihre Kinder nie?“

„Sonntag ja, Sonntag wollen ſie kommen,“ antwortete ihm Frau von Arnberg.

Und da bat er: „Ich will ſie ſehen.“

Sie verſtand wohl, daß es eigentlich hieß: Ich will Hardy ſehen.

„Wir ſollen zu ihm?“ fragte nun Hardy zitternd.

Wenn doch Heinz Philipp und ſeine Braut nicht hier ſäßen! Die Frage, die Hardy auf der Seele brannte, konnte ſie vor keinem Zeugen tun. Sie wollte, ſie mußte wiſſen: War es wirklich ein Jagd⸗ unglück? Was war es? Was war es?

9 En von Arnberg drückte Hardy ermutigend die

and.

V Und deine Eltern, liebe Irma,“ begann ſie freund⸗ lich, „deine Eltern haben ſo liebenswürdig begriffen, daß von einer lauten großen Hochzeitsfeier keine Rede ſein konnte unter dieſen Umſtänden. Danke ihnen innig in meinem Namen. Eure Lage iſt ja ſchwer. Zwei Tage vor der Hochzeit noch zum Warten ver⸗ urteilt zu werden.“

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„Es verſtand ſich von ſelbſt. Wie hätten wir heiraten und abreiſen können, während Dieter ſich in Lebens⸗ gefahr befindet. Meine Eltern natürlich ſind im Augenblick konſterniert wie über alles, was ſo ihre Gemütlichkeit umwirft. Sie können es immer ſchwer begreifen, wenn es nicht nach dem Programm geht. Der Aufſchub meiner Heirat iſt aber gegenwärtig ihre kleinſte Sorge.“

Hardy wußte ſchon, wovon gleich die Rede ſein würde. Im Auto hatte ſie Heinz Philipp und Irma unerſchöpflich über alles reden hören... Sie ſtand plötzlich auf.

Ihr ſchien, als müßten ihre Empfindungen ſich wie von ſelbſt auf die Mutter übertragen, wenn ſie Hand in Hand mit ihr ſitzen bliebe.

Sie trat an das Fenſter und ſah hinaus. Auf dem Hof praſſelte der Regen nieder in großen, raſchen Tropfen. Drüben im Rundbogen der offenen Scheunen⸗ tür lehnte faul ein Knecht an dem rechten Pfoſten. Seine blauen Hemdärmel bildeten muntere Farben⸗ punkte vor dem Schwarz des Toreingangs. Er guckte in das eilige Rauſchen hinein mit der gelaſſenen Miene eines, von dem aus es ſo lange regnen kann, wie es will, denn die Arbeit preſſiert nicht.

Hardy war es, als ſei ihr ganzer Kopf erfüllt von dem monotonen Geräuſch des ſtarken Regens. Und doch hörte ſie jedes Wort, das im Zimmer geſprochen ward.

„Haben denn deine Eltern noch andre Störungen?“ fragte die Mutter mit mehr erzwungenem als wirk⸗ lichem Intereſſe. Denn eigentlich konnte ſie jetzt für nichts in der Welt Anteilnahme aufbringen, was nicht mit dem Kranken zuſammenhing.

Und nun erzählte Irma. Hardy konnte nicht wiſſen, wie klug abgewogen und gefärbt dieſer Bericht war.

Irma hatte ja keine Ahnung davon, daß Dieter an Doralinens Seite Zeuge jener verhängnisvollen Selbſt⸗ vergeſſenheit Borwins geweſen war. Deshalb beſtand für ſie eigentlich kein Grund, ſich beſondere Gedanken über das „Jagdunglück“ zu machen. Aber ſie wußte, daß in der Stadt die allertollſten Klatſchereien im Um⸗

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lauf waren. Ihre ſehr gewitzigte Phantaſie und ihre Klugheit machten ſich wohl ein Bild von allerlei Möglichkeiten. Indeſſen verſchwieg ſie das Heinz Philipp gegenüber völlig. Sie konnte wirklich, was Doraline keinem Menſchen zutraute: ſchweigen! Sie laubte auch, daß weder ihre Schwiegermutter noch Heinz Philipp oder Hardy je irgend etwas von den Klatſchereien erfahren würden. Wie ſollten ſie! Sie hatten keine Beziehungen zur Geſellſchaft der Stadt 19 waren die Betroffenen; die bleiben meiſt ahnungs⸗ os.

Und ſo erzählte ſie alles, wie ſie es vor ihrer neuen Familie und in deren Intereſſe ſehen wollte.

„Kaum mag ich davon ſprechen,“ ſagte Irma, „es geniert mich faſt vor euch, daß ſich in meiner Familie Unbegreiflichkeiten zutragen. Denke dir, Mama: Dora⸗ line iſt in das Elternhaus zurückgekehrt, und Borwin iſt abgereiſt. Ich glaube, aus Rückſicht auf meine be⸗ vorſtehende Hochzeit hätten ſie ſich noch ein paar Tage bezwungen. Aber im Moment, faſt als es bekannt wurde, daß wir ſie aufſchieben müßten, haben dieſe beiden ſich nicht länger beherrſchen können. Es ſcheint, ſie haſſen ſich jetzt faſt ebenſo leidenſchaftlich, wie ſie ſich eine kurze Zeit liebten.“

„Und und...“

„Ja, und Doraline will ſich durchaus ſcheiden laſſen. Papa bildet ſich noch ein, es ſei nur ſo ein vorübergehender Streit. Mama kann ſolchen ‚Kinder- kram“, wie ſie ſagt, nicht faſſen und bereut, daß ſie die Heirat überhaupt erlaubt habe, da doch Doraline noch ſo unreif geweſen ſei. Sie befiehlt Doraline alle Tage mit der größten Energie, Vernunft anzunehmen. Natürlich hilft es gar nichts. Doraline ſucht förmlich einen Triumph darin. Kein Beweis, daß ſie Borwin haſſe, ſcheint ihr ſtark genug.“

„Ich glaube,“ ſagte Heinz Philipp ſehr erfahren dazwiſchen, „das iſt ſo 'ne Art mißverſtandener Liebe. Das kommt vor. Man ſollte Doraline hindern, ſich ſcheiden zu laſſen. Es wird ſie ſpäter reuen.“

„Kann ſein,“ meinte Irma, „aber hindern läßt ſie

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ſich nicht. Dazu iſt fie zu temperamentvoll. Und alle Leute wiſſen es ſchon. Wie ein Lauffeuer iſt es herum. Solche Offentlichkeit treibt auch vorwärts. Borwins Mutter läuft von Haus zu Haus, um ſchon vorweg die Parteinahme unſrer Kreiſe für ihren Sohn zu erringen. Ja, 165 hätte das gedacht, das alles iſt nur Strohfeuer geweſen ...“

Heinz Philipp drückte ihr verſtohlen die Hand, als wollte er ſagen: und wir beide finden uns jeden Tag näher zuſammen. |

Frau von Arnberg fühlte, fie müſſe etwas jagen. Unbefangene Teilnahme an den Kümmerniſſen zeigen, die Irmas Eltern zu erdulden hatten.

„Es iſt nicht das erſtemal, daß man von der raſchen Vergänglichkeit ſolcher übermäßigen Verliebtheiten hört,“ ſagte ſie, „wie tun mir deine Eltern leid.“

Hardy hörte es: ganz nervös klang die Stimme ihrer Mutter, tonlos, mühlam...

Gegen ihren Willen wandte ſie ſich ihr Blick ſuchte doch den der Mutter... Und Sie fand, daß auch die Mutter den ihren ſuchte ..

Sie ſahen ſich an... ſtumm fragten fie einander: Was denkſt du? Was fühlſt du? Was hoffſt du?

Und zugleich war in 1 eine Furcht, daß dieſe Fragen zwiſchen ihnen je laute Worte finden könnten.

Frau von Arnberg erhob 95 5 Sie fühlte: dies Geſpräch konnten ſie und Hardy nicht ertragen. Es mußte abgeſchnitten werden.

„Ich glaube,“ ſprach fie, „Dieter wartet ...“

Nun entſtand die Frage, ob Irma ſchon heute mit an das Krankenbett treten oder mit ihrem Beſuch noch warten ſolle, bis Dieter ſich mehr erholt habe. Irma ſelbſt fand es taktvoller, zu warten, und ſo verblieb ſie a wo ſich alsbald Herr von Prüttwitz zu ihr geſellte.

Da dieſes ſchöne Mädchen, wie er glaubte, unmög⸗ lich ſehr betrübt über Dieters Krankheit ſein konnte, zog wie eine Wandeldekoration wieder der kühne Lebe⸗ mannsausdruck auf ſeinem Geſicht herauf, und er machte Irma ſtark den Hof. Sie erwies ſich als Diplo⸗

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matin, indem fie es gern hinzunehmen ſchien, und ver⸗ trat die Familie von Arnberg dadurch, daß ſie Herrn von Prüttwitz mit Dank und Teilnahme überhäufte für alles, was er und ſein Haus an Dieter taten. Das gefiel ihm ſo wohl, daß er nachher zu Barthelmann ſagte, das verſtändigſte und liebenswürdigſte Familien⸗ glied der jüngeren Arnbergſchen Linie ſei Irma Nottbeck.

Frau von Arnberg ſtieg mit ihren Kindern treppan. Sie ſchwiegen. Heinz Philipp nahm eine ſehr ernſte Haltung an, halb aus der Gewohnheit heraus, ſich immer die angemeſſenſte Miene zu geben, halb in der echten Erregung und Sorge um den verehrten Kranken und ſehr geſpannt darauf, ob ſich deſſen Züge zum Guten oder zum Schlechten verändert hätten.

Mutter und Tochter hatten ſolchen Tumult von Gefühlen in ſich zu bekämpfen, daß ſie gar nicht im⸗ ſtande geweſen wären, miteinander zu ſprechen.

Die Frau wagte nicht, über das nachzudenken, was in Hardys Gemüt vorgehen mußte... Aber wie be- täubt und verwirrt Hardy auch ſein mochte durch die Wendung in Borwins Leben die Mutter wußte: ihr Kind hielt ſich immer tapfer, und ein unbefangenes, liebes Lächeln für den Kranken würde ſie aufbringen. Und ſie würde es auch verſtehen, vor ihm ihre Ahnung der Wahrheit zu verſtecken.

So, in beklemmtem, faſt feierlichem Schweigen kamen ſie bis an die vergilbte weiße Lacktür in der grauen Wand des kahlen Korridors, deſſen Eſtrich zwiſchen dem Bohlenbelag weite Ritzen zeigte. Heinz Philipp und Hardy warteten, während die Mutter Veſuchſ nachſah, ob es der rechte Augenblick für den

eſuch ſei.

Hardy zitterte ſo ſehr, daß ſie die flache Hand gegen die graue Wand legte, um ſich zu ſtützen.

Und nun öffnete die Mutter ganz geräuſchlos die Tür. So ſeltſam lächelte das bleiche Frauengeſicht faſt verlegen erzwungen und doch weich, wie im Kampf gegen eine aufwallende Rührung.

Leiſe traten ſie ein. Hardy zuerſt. Daß hinter ihr der Bruder folgte, ſpürte ſie nicht. Sie men auch

XXVIM. 2.

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nichts von der Anweſenheit einer weiblichen Geſtalt, die ſtill an dem mittleren der drei Fenſter ſtand einer Geſtalt im ſchwarzen Kleide mit großer weißer Schürze und einem Häubchen, das wie ein glattes, ſteifes Leinendiadem auf den Haarſcheiteln ſaß.

Hardy vergaß auch die Gegenwart der Mutter. Einen allgemeinen unklaren Eindruck hatte ſie von einem ſehr großen, viereckigen, merkwürdig leer wirken⸗ den Zimmer und einem gewaltigen runden Tiſch in der Mitte.

Und dort an der Wand, am Kopfende mit einem alten, verſchoſſenen, grünſeidenen Bettſchirm umitellt, 0 daß das Fenſterlicht etwas ferngehalten ward, ein

ager...

Und darauf lag ein Mann war e3 nicht ein ganz fremder Mann? Zwar ließ die weiche, leichte, dunkel⸗ grüne Decke wohl erraten, daß eine mächtige Geſtalt ſich unter ihr hinſtreckte. Und das war der große blonde Bart Herrn Dieters auf dem weißen Leinen lag das Haar das alles gab ſo 1 ſtrenge, aſſyriſche Linien mit den auf der Decke geradehin ruhenden Armen ... Aber war er es wirklich ſelbſt? Der hohe, breite, gutmütige, heitere Herr Dieter in all der un⸗ bekümmerten Geſundheit ſeiner Erſcheinung und ſeines Weſens?

Hardy kam näher mit ſchweren Füßen ging ſie ganz benommen war ſie von dem verzweifelten Vorſatz und Wunſch, ein herzliches, zuverſichtliches, unbefangenes Lächeln aufbringen zu wollen.

Aber in dem faſſungsloſen, ſeltſamen Erſtaunen, das in ihr emporwuchs, vergaß ſie das erzwungene Lächeln

Sie ſtarrte den blaſſen Mann an, der da lag ſein neues Geſicht all das Stolze Ernſte Tiefe darauf das nun unverhüllt leuchtete unverhüllt von den Nüchternheiten des Alltags das ſich ſo klar . in jener Klarheit, die die Nähe des Todes

1

Eine Befangenheit ohnegleichen drückte ſie nieder. Ihr war, als belauſche ſie eine Seele als begehe

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fie eine beſchämende Zudringlichkeit. Als ſei es ein unerlaubtes Wagnis, dieſes ernſte Dulderhaupt ſo an⸗ zuſehen.

Nun traf ihr erſtaunender Blick die blauen Augen.

Und ſie wurde ſo rot, daß ihr ſchien, als füllten ſich ihre Augen vielleicht waren es Tränen.

Denn plötzlich war das ſtolze Haupt auf dem weißen Kiffen nicht mehr deutlich zu erkennen.

Aber ſie hielt ſchon die Hand, die ſich ihr mit leiſer Bewegung entgegengeſtreckt, feſt mit ihren beiden Händen umſchloſſen. Und ſie mußte ſich mit ihrer letzten Kraft bezwingen, nicht an dem Bett nieder⸗ zuknieen und dieſe Hand zu küſſen.

Herr Dieter lächelte. Ein tröſtendes und zuverſicht⸗ liches Lächeln war es.

Er ſah, ſeine Hand zwiſchen Hardys Fingern laſſend, herzlich zu ihrer Mutter auf, die daneben ſtand.

„Sie,“ ſprach er, und ſeine Augen machten dies „Sie“ zu einem zärtlichen Wort, „ſie paßt auf läßt mich nicht ſterben.“

„Nein nein . . ., rief die Frau leidenſchaftlich.

Die eiſernen Reifen zerſprangen, ihre Haltung zer⸗ brach. Und in dieſem ſtarken Ruf ſprach ſich alles aus: ihr heißer Wille und Glaube, dem Tod den Sieg ſtreitig machen zu können; ihr Jubel, daß der geliebte Kranke ihre Hingebung und ihre Wachſamkeit verſtehe.

Ihr war, als entjühne fie das ... erlöſe ſie von dem letzten qualvollen Gedanken an die dunkeln Wünſche von einit...

Sie brach in Tränen aus wie damals, als dieſer Mann die Laſt der Not von ihrem harten Leben nahm.

® ® ®

Nun liefen die Monate hintereinander her. Jeder ſchien nur den einzigen Zweck zu haben, ſeinem Vor⸗ gänger dem Inhalt nach zu gleichen. Nichts unterſchied ſie faſt voneinander wie die Stimmung, in die Wind und Wetter ſie hüllten. N

Durch die Morgenfrühe wanderte Hardy täglich aufs Amt. Oktoberſtürme peitſchten ihr den Regen

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ins Geſicht, und an umbrauſten Straßenecken kämpfte ſie ſich in den flatternden Falten ihres Kleides vorwärts. In ſtillen Novembernebeln, die rauh die Luft erfüllten, fröſtelte ſie und hatte das Gefühl, als legten ihr weiße Geiſterhände naſſe Tücher um die Schultern. Mühſam ging ſie durch den Winterſchnee, der in den Nächten emſig und dick auf die Straßen gefallen war; die Bürgerſteige hallten wider von den hellen Eiſen⸗ klängen der Schaufeln und Hacken, mit denen für ſpätere Gänger der Weg freigeräumt wurde. Die Tauwaſſer des März drangen in die Überſchuhe ihres ſchreitenden Fußes und ſäumten ihr den Rand ihres Kleides naß.

Dann ſchien der helle und warme Telephonſaal faſt ſo etwas wie Behagen in ſich zu bergen.

Die Arbeit hatte ihr ewig gleiches Geſicht. Einen Tag wie den andern vollzog ſie ſich in nie wechſelnder Form. Horchend und wachſam, Augen⸗ und Gehör⸗ nerven immer geſpannt zu raſcher Leiſtungsfähigkeit, ſaßen die uniformierten Frauen mit den ſchwarzen Bandagen um das Haar und den grotesken Auswüchſen an den Ohren. Und die tauſend⸗ und abertauſendfache Meldung: „Hier Amt!“ floß zu einem diskreten, end⸗ loſen Tongeraun zuſammen es war, als dämpften all die Inſtrumente eines Rieſenorcheſters ihren Klang, um einen lang, langgeſponnenen Pianoſatz auszuführen.

Hardy hatte in all dieſen Monaten ein ganz eigen⸗ artiges ſeeliſches Verhältnis zu ihrem Beruf. Sie ſehnte ſich nach dieſem weiten Saal, den die gedrückten Geräuſche pauſenlos füllten; ſie wurde ruhig, wenn vor ihren wachſamen Blicken die ſtillen kleinen Signal⸗ ſich de erglühten und hinloſchen. Sie fühlte ſich von ſich ſelbſt befreit, wenn ſie als Sklavin unſichtbarer Tyrannen auf die körperloſen Stimmen horchte dieſe wunderbaren Stimmen, die nicht auf natürliche Weiſe, von Schallwellen getragen, durch die Luft zu ihr kamen die den Hexenweg der modernen Technik nahmen, um ſich ihr vernehmbar zu machen.

Die Härte gerade dieſer Arbeit, die aus Menſchen denkende Maſchinen macht, wurde ihr zur Wohltat.

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Sie fühlte fi einem märchenhaften Betrieb ein- geordnet, der mit ſeinen ungeheuren Drahthänden millionenfache Fragmente des Lebens zuſammenpackte und ihnen ein einziges, großes Wort aufprägte.

Und dies Wort „Verkehr“ wurde ihr faſt zum Symbol des Lebens.

Die Haſt, die Verwirrung, die Not, das dringliche Fragen des einzelnen, ſeine Tränen, ſein Zorn, ſeine Ungeduld, ſeine Freude alles klang kurz auf und verklang ... Die Lichter loſchen hin, neue glühten auf raſtlos jagte das Leben weiter.

Ihr war, als nähme das ſich raſend drehende Rad des Verkehrs auch ihre eigene 5 und ihre eigenen Kämpfe mit 2 und wirble alles davon, daß nichts blieb wie ein betäubtes Nachſchauen. Und i große, ſtille Wundern: das habe ich erlebt i

Alle vierzehn Tage aber kamen Stunden, die ihr bewieſen, daß ſie noch mitten drin ſtand in den Er⸗ lebniſſen, die ihr ſo ferne, phantaſtiſche Träume ſchienen, wenn ſie im Berufe war. |

Dann fuhr fie zu ihrer Mutter hinaus. Anſtatt des alten, hochrädrigen, hart arbeitenden Jagdwagens mit den grauen Tuchpolſtern kutſchierte Lübbers nun eine neue, leichte Viktoria, unter deren Verdeck man bei Sturm und Regen ſicher ſaß. Manchmal hielt auch ein Schlitten an der Bahn, ein ſimpler Bauernſchlitten, mit einem wahren Strohlager auf ſeinem Boden. Und dann ſchien es, als wache ſogar in Lübbers noch Tem⸗ perament auf, und die Braunen liefen, als ſeien ſie von Lebensfreude befeuert. Das tat wohl! Die weißen Felder ſauſten vorbei, dick ſtand der Wald er ſah aus, als beſtehe er nicht aus beſchneiten Tannen, ſondern als ſei er eine Wolkenbank, die ſich lang hin⸗ geſtreckt auf das Gelände niedergelaſſen habe. Aus dem Schutze der entlaubten Knicke raſte zuweilen ein entſetzter Haſe heraus und ſtob davon.

Aber wenn Wagen oder Schlitten ſich dem Ziele näherte, wandelte ſich die erfriſchende Wohltat der Fahrt in Unruhe.

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Hardy fragte ſich oft: Angſtige ich mich vor meiner Mutter? Angſtige ich mich vor Dieter?

Sie wußte es nicht. Sie wußte nur: ihr Herz klopfte, als gehe ſie großen Verantwortungen oder großen Aufregungen entgegen, vielleicht großen Leiden.

Und doch ſpürte ſie, ſobald dieſe Ankunftsſenſation überwunden war, daß man ihr nur wohltun wollte und gar nichts andres.

Niemals ſprach ihre Mutter zu ihr von den Dingen, die am Horizont ihres Lebens ſtanden, und von denen man noch nicht wußte: kamen ſie wieder nahe heran, oder blieben ſie dort, als ein erſtaunliches Schauſpiel und Phänomen für die betroffenen Zuſchauer.

Dabei mußte Hardy als ſicher annehmen, daß ihre Mutter ſo genau wie ſie ſelbſt aus Irmas Briefen da⸗ von unterrichtet war, daß die Scheidung Borwins von Doraline ihren raſchen Gang nahm.

Borwin Eggsdorf war ſeit ſeiner damaligen jähen Abreiſe nicht wieder l e er nahm die Ge⸗ len ſeines Hauſes von London aus wahr. Irma ſchrieb, die Rechtsanwälte hätten dazu geraten. Auf dieſe Weiſe könne gegen Borwin wegen „böswilligen Verlaſſens“ geklagt werden. Sobald die Scheidung ausgeſprochen ſein würde, wollte er zurückkehren. Dann dachte Doraline mit ihren Eltern eine Auslands⸗ reiſe von mindeſtens einem Jahre zu machen. Weiter hinaus in die Zukunft brauchte man nicht zu denken. Das Leben brachte ja ſtets Uberraſchungen, das ſehe man wohl an dem unglaublichen Verlauf und Ende dieſer kurzen Ehe.

Aus der Tatſache, daß Irma ihr dies alles mit den unbefangenſten Worten mitteilte, ſchloß Hardy, daß ihr Bruder und ihre Schwägerin ganz ahnungslos in betreff der eigentlichen 5 geblieben ſeien .

Mit keinem Worte ſtreifte die Mutter dieſe Sache, auch nicht unter vier Augen, mit ihr. Das war eine Erleichterung. Und während Hardy das Schweigen ſo dankbar empfand, verzehrte ſie ſich doch in dem Wunſche, zu lte f Was denkt Mutter? Was glaubt ſie? Was hält ſie für möglich?

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Dieter hingegen, ſeit langem wieder ganz der frühere, nach ſehr, nach erſtaunlich mühſamer Ge⸗ neſung, von ernſter Kraft und friſcher Lebensſicher⸗ heit getragene Mann, Dieter ſprach oft und ſehr aus⸗ führlich mit ihr von der Vergangenheit. Nur von ihr nie von der Zukunft und ihren Möglichkeiten. Aber die Vergangenheit hatte er gleichſam mit in Beſitz genommen. Er hatte Hardy daran gewöhnt, ſie offen mit laut geſprochenen Worten vor ihm und mit ihm immer wieder zu durchdenken.

Es ſchien, daß er nie daran ermüdete, die Geſchichte ihrer unglücklichen Liebe zu hören, und daß ſie ſich nie daran erſättigte, ihm davon zu erzählen. Und ganz merkwürdig war es, wie ſie dabei ſich immer freier fühlte, alles klarer und ferner ſah. Und doch entzog er ihr gerade den Halt, an dem ſie ſich damals erhoben hatte. Er blieb dabei, ſie habe ſich an dem ſchönen Wort: „Ich verzeihe dir!“ nur berauſcht. So wie ſie geh damals empfunden habe, gäbe es gar keine Ver⸗ zeihung. ä

„Wir Menſchen machen uns immer en viel vor,“ ſagte er, „dahinter mußte ſelbſt ein N einfacher Menſch wie ich allmählich kommen. Wir ſollten doch mehr die Natur angucken, von ihr lernen. Ja, glauben Sie denn, wenn die Bäume zu denken vermöchten, daß ſie es dem Herbſt verzeihen könnten, daß er ihnen die Blätter raubte? Sie würden um ihr verlorenes Laub weinen, bis ſie das verlorene vergeſſen, weil ihnen neues ſprießt? Meinen Sie denn, daß das bei uns Menſchen anders zugeht? Solange man noch weint, verzeiht man nicht, und anſtatt zu ſagen: ich verzeihe, ſollte man lieber ſprechen: ich liebe noch.“

Und dann fragte ſich Hardy: Liebe ich ihn noch?

Und voll Verzweiflung über den wunderlich un⸗ klaren, ſchweren, zerquälten Zuſtand ihres Gemütes erſehnte ſie ſich irgendein Zeichen, einen offenbaren⸗ den Blitz. Aber ſie wußte wohl: dergleichen fällt einem nicht vom Himmel. In hartem Kampf mit ſich ſelbſt muß man zur Klarheit zu kommen ſuchen.

Sonntagvormittags gingen ſie zuſammen ſpazieren.

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Und das war bald, obgleich die Mutter ihrem Fortgang zuſah, wie eine Art Heimlichkeit. Was ſie da zuſammen ſprachen und in welchen Stimmungen ſie oft lange miteinander ſchwiegen, davon berichteten ſie nach ihrer Heimkehr nichts.

Wenn gelegentlich das Wetter zu ſchlecht war und man durchaus nicht hinausgehen konnte, litten beide in einer Ungeduld, die ſie kaum verſtecken konnten.

Hardy war dann ſchwer enttäuſcht. Sie fühlte: dieſe Geſpräche helfen mir ſo. Sie wußte nicht in welcher Art. Aber es war kein richtiger Sonntag ge⸗ weſen, wenn es nicht zum Spaziergang kam.

Bei ihren Beſuchen auf Münchow konnte Hardy ſich auch niemals genug über die Herzlichkeit wundern, die ſich zwiſchen Dieter Arnberg und ihrer Mutter herausgebildet hatte. Hardy wußte ganz gut: ihre Mutter war ein ſchwerverſtändlicher Menſch, ſie war auch früher im Regiment nicht beliebt geweſen. Später lebte man ja ſehr einſiedleriſch, aber auch die wenigen Menſchen, mit denen die Mutter dann im Getriebe des Alltagslebens zuſammenſtieß, wurden nie von ihr gewonnen. Ihre Züge hatte das herbe Daſein zu ſehr geſchärft, leidenſchaftlich und bitter war ſie und nicht immer gefaßt. Um ihren echten Stolz und ihre heiße Opferfähigkeit, on zähen Mut und ihre brennende die DunaaNaIG eit zu erraten, dazu gehörte Nähe und

iebe .

Hardy erinnerte ſich wohl, daß Dieter ſchon vor ſeiner langen, ſchweren Krankheit ſich voll zutraulicher Güte an ihre Mutter geſchloſſen hatte. Als ob er ihr Weſen erkenne und verſtehe; als ob ſeine Milde und Rückſicht all die Plage ihres Lebens wieder gutmachen wolle. Dann pflegte die Mutter ihn; mehr als zwei Monate umgab ſie ihn mit unerhörter Wachſamkeit, nahm ihre letzten Kräfte zuſammen, die ihr der viel⸗ jährige Daſeinskampf gelaſſen, um ſie für ihn dahin⸗ 8 tte ihn wohl erſchüttert und gerüh

as hatte ihn wohl erſchüttert und gerührt.

Wie ein Sohn betrug er ſich zu ihr reſpektvoll

und zärtlich. g

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Hardy ahnte, daß dies ein großes, verſöhnendes Glück für ihre Mutter bedeutete.

Einmal verſuchte Hardy, die Mutter nach den näheren Umſtänden des „Jagdunglücks“ zu fragen. Ausweichend antwortete ſie: „Laß das ruhen. Ich ſelbſt kann dir nichts Genaues erzählen. Du weißt, ich vertrug mich nicht mit Prüttwitz, und er hat mir keine ausführliche Beſchreibung gegeben. Ich ma auch gar nicht mehr davon hören. Noch immer iſt mir, als hätte ich ſelbſt nicht weiterleben können, wäre er uns genommen

Da ſchwieg Hardy. Aber immer und immer wieder umkreiſten ihre Gedanken die für ſie im Dunkeln lauernde Frage: War es um meinetwillen?...

Nein, dachte ſie, es ſoll, es kann, es darf nicht um meinetwillen gewefen ſein.

So war nun ihr Leben wunderlich zweigeteilt.

n den Stunden mit Dieter und der Mutter begriff ſie, daß ſie noch mitten darin I in den heißen Kämpfen, und daß ihr Herz noch nicht zum Frieden gekommen ſei.

Und am andern Morgen nahm ſie alle ihre geiſtige und körperliche Energie zuſammen; ſie warf ſich ihrem Berufe förmlich entgegen es war wie eine Flucht nach vorwärts, mit der man die Feigheit betäubt, mit der man ſich zum Kampfe zwingt.

Wenn ſie dann in der blauen Litewka mit dem ſchwarzen Band um den Kopf und den Fernhörern an den Ohren daſaß, kaum unterſcheidbar von ihren Kameradinnen, die dem flüchtigen Blicke wie die zwanzigfache Wiederholung eines Modells erſchienen wenn ſie das Geraun der Halbgeräuſche vernahm, die den großen Saal füllten wenn I mit raſtloſen Fingern die Verbindungsſtifte in die Mauslöcher des Vielfachumſchalters ſteckte und das Aufglänzen der winzigen runden Signallichtlein erwartete, dann kam ſo etwas über ſie wie ein Kloſterfriede eine ſtumpfe, unfruchtbare Ergebenheit und ein Verlöſchen aller Jugend ... Eine gute Verborgenheit war das, hier ungeſehen am ſauſenden Rieſenrade des Verkehrs zu

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helfe und ſeine raſenden Schwingungen fördern zu helfen. ö

Aber eines Tages erfuhr ſie, daß dieſe Verborgen⸗ heit nur in ihrer Einbildung beſtanden hatte.

Ihre Stellung zu ihren Genoſſinnen war nach ihrer Meinung immer die gleiche geblieben. In freundlicher Haltung ſuchte ſie für ſich zu bleiben. Der ſchwärme⸗ riſchen Ergebenheit der blonden Anna Behrens hatte ſie ſich nicht entziehen können, und ſie empfand auch eine wirkliche Dankbarkeit für die etwas plumpe, aber ehrliche Liebe des robuſten Mädchens.

Daß einige ihrer Kameradinnen ſie oft neugierig und zudringlich anſahen, daß die hochmütige Marie Heinrichs, die nie vergeſſen konnte, daß ihr Vater mal ein großer Mann in der Stadt geweſen war, ſie völlig ſchnitt, kam Hardy gar nicht zum Bewußtſein.

Wohl aber bemerkte ſie, daß Anna Behrens ſeit einiger Zeit viel gepflegter ausſah, daß der Frühlings⸗ hut, der angeſchafft werden mußte, ſehr einfach aus⸗ fiel, daß zugleich mit dieſer äußeren Wandlung eine ſtillere, faſt ſtolze Haltung über das Mädchen kam.

Hardy wußte: das waren nicht die Reſultate ihrer erzieheriſchen Winke. Die hatten wohl etwas, aber nicht ſo augenfällig gefruchtet. Da mußte ein Mann im Spiele ſein. Aber fie wollte nicht fragen.

Oſtern ſtand vor der Tür, und alle Menſchen nahmen die leichtlebige Miene an, die den Gedanken an nahende Ferien und eds verrät. Anna Behrens ſprach oft mit bedeutungsvollen Seufzern vom erſten Oſtertag, als könne man ſich gelegentlich ſeiner eines Ereigniſſes verſehen, davon ſich niemand etwas träumen laſſe.

Der Dienstag in der Palmwoche kam. Es war ein ſonniger Apriltag, durch deſſen herbklare Luft ein fröhlicher Wind blies. Und an dieſem von Frühlings⸗ freudigkeiten beſchwingten Tage nun bat Anna Behrens am Schluſſe der Amtsſtunde Hardy um einen gemein⸗ ſamen e, Hardy war abgeſpannt wie immer nach dem langen, geſammelten Aufmerken, das alle Kopfnerven ſo in Anſpruch nahm.

Aber ſie mochte nicht nein ſagen. Und Anna

299 Behrens ſchob ihren Arm in den Hardys und gab die Wegrichtung an unwillkürlich, wie es energiſche Menſchen zu tun pflegen, wenn ſie im Schreiten ſprechen.

Es ging auf die Anlagen zu, unter allerlei gleich⸗ gültigen Geſprächen. Die gußeiſerne, hochgewölbte, ſchmale Brücke, die den Stadtgraben überſchlug, klang nun wider vom Schritt ihrer Füße. Rechts drüben vor der Taxushecke gleißte die Bronzebüſte des Herrn Engelmann auf dem Porphyrunterbau. Sein Geſicht war ſo glanzvoll, als ſei es mit Fett eingerieben, und gerade auf der Naſe brannte ein Reflexlicht es ſah aus, als flimmere da ein Brillant inmitten eines Strahlenkreiſes. |

„Da wollen wir uns hinſetzen,“ ſagte Anna Behrens.

„Nein bitte nicht es iſt da ja es iſt mir = zu heiß in meiner Winterjacke,“ ſtotterte Hardy

eraus.

„Warum N Sie nichts Dünneres an?“

„Sommerjackett iſt mir noch zu gefährlich.“

„Herrjes Sie werden ſich doch noch 'n Früh⸗ lingsmantel leiſten können wer ſo viel reiche Ver⸗ wandte hat!“

„Das Geld meiner reichen Verwandten iſt nicht mein Geld.“

„Arnberg, Sie ſind 'n unbegreiflicher Menſch. Auch zum Beiſpiel in Ihrem Verhalten zu mir. Iſt Ihnen nie was an mir aufgefallen in der letzten Zeit?“ fragte Anna Behrens und ſchwenkte nach links ab, wo es ebenſo ſonnig war wie am Engelmanndenkmal. Aber Hardy ſchien es hier nicht läſtig zu empfinden.

„Gewiß. Ich ſah, daß Sie verändert im Weſen ſind. Aber ich mochte nicht indiskret ſein und fragen.“

„Gott wo wir ſo intim ſtehen! Das hätten Sie dreiſt können. Na, denn los: ich verlobe mich erſten Oſtertag.“

Sie ſtanden nun ſtill vor einer Hyazinthenrabatte, die ſich vor einem von ſpringenden Blattknoſpen grün⸗ geſprenkelten Gebüſch hinzog. Hardy zeigte ſich freudig überraſcht, und die wirklich herzliche Teilnahme,

300 die fie für das gute Mädchen empfand, gab ihr die rechten Worte, ihr Glück zu wünſchen.

„Ach,“ ſagte Anna Behrens in einem ſehr erkenn⸗ baren Gemiſch von Zufriedenheit wider Willen und ſentimentaler Enttäuſchung, „das hat man ſich alles ja mal anders gedacht. Poetiſcher. Großartiger. Es it ein Witwer mit Kind. Das iſt ja 'ne niedliche kleine Deern, und ich mag Kinder ſchrecklich gern leiden. Er hat auch ein ſehr anſtändiges Vermögen und ein gutes Geſchäft. Meine Eltern ſind rieſig glücklich. Aber ich hätte es wohl mögen, daß es romantiſch zugegangen wäre ſo wie bei Ihnen.“

„Bei mir? ... Bei mir?“ fragte Hardy.

„Gott, na ja. Sie denken nun vielleicht, ich bin ‚indiskret“, wie Sie vorhin ſagten. Aber im Gegenteil: koloſſal diskret bin ich geweſen. Ich weiß doch all die Geſchichten ſchon ſo lange. Und wenn es mich auch gewurmt hat, daß Sie mir nichts anvertrauten, hab' ich Ihnen gegenüber doch nie einen Muck getan, und den andern gegenüber hab' ich Sie immer rieſig in Schutz genommen. Das trauen Sie mir wohl von ſelbſt zu. Wo wir doch ſo intim ſtehen ..“

„Geſchichten?“ fragte Hardy verſtört, „von mir Geſchichten? ...“

„Ach,“ ſprach Anna Behrens begeiſtert, „das iſt doch noch was! Wenn zwei ſich um ein Mädchen ſchießen! Und einer ſich ſcheiden läßt, um die Geliebte heiraten zu können!“

So bleich, ſo entſetzt ſtierte Hardy ſie an, daß Anna Behrens tief erſchrak.

„Wer ſagt das?“ fragte Hardy.

„Die ganze Stadt! Die einen ſagen, Ihr Bruder habe 95 mit Borwin Eggsdorf geſchoſſen, der gleich danach abgereiſt ſei; die andern ſagen, daß es ein andrer Arnberg geweſen iſt, denn 57 Bruder habe = und geſund zwei oder drei Wochen nachher ge⸗

eiratet. Sogar die Polizei ſoll ſich um das Gerücht gekümmert haben, hat aber nichts 'rausgekriegt .“

„Woher woher willen die Menſchen

„Ich hab's von meiner Stiefmutter. Unſer Nach⸗

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bar, der Lohndiener, der in den erſten Häuſern der Stadt bei Geſellſchaften das Servieren leitet, hat's ihr erzählt. So 'n Mann hört ja immer, was die Herrſchaften klatſchen, die er bedient ...“

Anna Behrens hätte noch viel mehr ſagen können. Nämlich, daß erzählt wurde, Herr von Arnberg habe mit der Piſtole in der Hand von Eggsdorf das Wort verlangt, daß er Hardy heiraten und ihre Ehre wieder herſtellen werde. Aber dies zu berichten, davon hielt ſie doch ein Anſatz von Taktgefühl ab. Sie hatte ſich auch verſchworen, daß das gelogen ſein müſſe, denn bei Hardy Arnberg gäbe es keine Ehre wieder herzu⸗ ſtellen, da die kein Mädchen ſei, überhaupt jemals ihrer Ehre was zu vergeben. Romantiſch, beneidens⸗ wert romantiſch ſei das wohl alles. Aber was Schlechtes ſei nicht dabei. Dafür verbürgte ſie ſich und tat, als ſei ſie ganz eingeweiht, und ſagte immer, „wo ich ſo intim mit Arnberg bin, werd' ich das doch wohl wiſſen!“

Nun ſah ſie, daß Hardy faſt ohnmächtig wurde und auf die Bank neben dem bunten, ſtarkriechenden Beet förmlich hinſank und vor ſich hinſtierte.

„Gott Arnberg wenn ich ahne, daß Sie ſich was draus machen ... dann beiß ich mir ja lieber die Zunge ab, eh' ich was ſage. Nu ſeien Sie bloß cou⸗ ragiert, was liegt denn dran, daß die Leute klatſchen. Nachher, wenn Sie erſt unter Dach und Fach ſind in der reichen Ehe, mit einem Mann, der Sie ſo liebt na, da bücken ſich die 7 Menſchen ja doch vor Ihnen, die nu 's Maul aufreißen.“

Das hörte Hardy, ſie verſtand auch jedes Wort, hörte auch all die vielen, langen Beruhigungsreden noch, in denen Anna Behrens ſich reuevoll erging. Sie dachte immerfort: Schwieg ſie doch, ſchwieg ſie doch ... Ihr war nachher, als habe fie ſtundenlang dieſe gutmütige, eifrige Stimme zu ertragen gehabt.

Als ſie ſchon lange wieder allein in ihrer ſtillen, von lachendem Sonnenſchein erfüllten Stube einſam ſaß, war ihr immer noch, als rede ihr jemand die furchtbaren Dinge vor...

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Nun wußte fie es: um ihretwillen hatte Dieter ge- blutet und ſo lange mit dem Tode gerungen.

Nun wußte ſie es: ihr leidvolles Lieben und Scheiden mit Borwin war auf dem Markt aus⸗ geſtellt, und rohe Hände wieſen darauf hin wie auf ein Kirmesbild: hier iſt zu ſehen die Geſchichte eines Herzens.

Sie vergaß ganz, daß die meiſten dieſer Menſchen, die ſich in fahrläſſigen, unterhaltenden, platten, nied⸗ rigen Reden mit ihren Erlebniſſen beſchäftigten, ſie ſelbſt von Angeſicht gar nicht kannten. Ihr war es, als könne ſie nicht mehr über die Straße gehen, ohne daß man einander mit den Ellbogen ſtieß und ſagte: „Das iſt fie... Sie, um derentwillen Herr Dieter von Arnberg beinahe ſtarb und Borwin Eggsdorf ſeine junge Frau verließ ...“

lötzlich, als ſie lange, lange in verzweifelter Stummheit geſeſſen, ſchluchzte ſie auf. 1 „Hab, ich denn Schuld? Welche? Nein, keine, eine ... N

Förmlich von einer Selbſtgeißlungsſucht befallen, ſuchte fie, wie und womit fie ſich denn beladen könne.

„Vielleicht,“ ſagte ſie ſich fiebernd, „wenn ich bei dem Wiederſehen meine Erregung feſter in mich ver⸗ ſchloß, würde er nicht gewagt haben, ſich zu erinnern..“

Und hatte er denn Schuld? Ein trauriges Wunder hatte ihr ſeine Liebe genommen. Ein neues Wunder die Liebe ihr wieder zugewendet. Oder war das alles ſo geworden, weil er nicht verſtand, ſich ſelbſt ſtark zu bewachen.

Und indem ſie ihre Gedanken zerquälte an den bizarren Rätſeln der Liebe und den grotesken Unſicher⸗ heiten all der Beziehungen von Herz zu Herz, von Blut zu Blut, fiel ihr jäh eine Erinnerung dazwiſchen: Wenn alle Menſchen davon ſprechen, weiß es auch Irma . . . Irma, ja, gewiß. Ob auch Heinz Philipp?

Oſtern wollten die beiden kommen. Hardy hatte eine kleine, blaſſe Vorfreude gehabt. Natürlich würde das junge Paar bei Irmas Eltern wohnen, wohin Hardy nicht gehen konnte, weil ja Doraline dort

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wohnte. Es war Hardy niemals aufgefallen, daß Nottbecks gar keine Notiz von ihr mehr nahmen. Aber nun, nun hatte das plötzlich einen furchtbaren Sinn. Nottbecks ſahen in ihr wohl die, die das Eheglück ihrer Tochter zerſtört habe.

ch muß mit Irma ſprechen ohne Zeugen, dachte Hardy wie gehetzt, ich muß doch wiſſen, was meines Bruders Frau denkt und weiß.

So freundlich ſchrieb Irma immer. Mit einer etwas programmäßigen Pünktlichkeit, jeden Monat zweimal. Die Briefe waren ausführlich und ließen Hardy an den Erlebniſſen der jungen Ehe in ſchicklicher Weiſe teilnehmen.

Heinz Philipp und Irma ſchienen ſehr glücklich, auf eine etwas verſtändige, nüchterne Art. Aber das Glück hat ja hunderttauſend verſchiedene Geſichter wenn es nur jeden ſo anlacht, wie er ſich das Lächeln ausgemalt hat. |

Am erſten Oſtertage, wenn Hardy auf Münchow war, wollte das junge Paar auch hinauskommen und die Mutter und Dieter ſehen, der nie auf Münchow fehlte, wenn Hardy frei hatte. Und daß ſie hofften, auch einmal bei Hardy vorſprechen zu können, hatte Irma auch geſchrieben ... Sehr freundlich war das alles... Aber nun begriff Hardy es erſt: es ſchob fie doch ganz fort von Irmas Elternhaus... Hardy ver⸗ gaß, daß ſie früher dort ſtets Sie fh habe und gezeigt, ſie wolle für ſich bleiben. Sie fühlte nur dies eine: Verfemt verfemt...

Sie ſchrieb an Irma. Die Zeilen ſollten Irma gleich bei der Ankunft im Elternhauſe treffen:

„Liebe Irma! Ich muß Dich wichtig und allein ſprechen. Ich flehe Dich an, komme zu mir. Ich habe Gründonnerstag von zwei bis fünf keinen Dienſt. Deine Hardy.“

Wie ſchlich der Mittwoch. Wie wurde die Nacht bis zum Donnerstag lang. Und diesmal wurde der Dienſt nicht zum narkotiſchen Mittel, das die eigenen Gedanken einſchläfert ...

Hardy ging mittags ſehr langſam nach Hauſe.

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Damit mir das Warten nicht zu lange wird! dachte lie. Vor jeder Minute fürchtete ſie ſich ..

Als lie ihre Stubentür öffnete, erjchrat fie.

fagte fie nur, „ach

Irma w war ſchon da. Nicht mehr ſo ſchön und friſch wie vor einigen Monaten und nicht mehr ſo ſchlank. Aber fie ſtrahlte in Wichtigkeit und Selbſtbewußtſein, in ihrer Eitelkeit durch die vorübergehenden Entſtel⸗ lungen nicht im mindeſten betrübt.

„Irma Irma!“ ſtammelte Hardy und umarmte ihre Schwägerin.

„Ich wollte dir und eurer Mutter es nicht brieflich, ſondern mündlich ſagen. Wir 9055 ſehr ſtolz, das kannſt du dir denken. Ich habe ſchon zu meinem Manne geſagt: wenn es ein Junge wird, muß Papa uns ein Gut kaufen, damit auch die jüngere Linie Arnberg zu befeſtigtem Grundbeſitze kommt.“

Hardy dachte an die tumultuariſche Freude, an das grenzenloſe Glück ihrer Mutter. Und daß ſie vielleicht mit Irma nichts Aufregendes ſprechen dürfe. Und wie häßlich ihre eigenen Leiden in dieſe ſchöne Stim⸗ ie‘ der Ihren hineinſchrillten.

u wollteſt etwas von mir?“ fragte Irma und ſetzte ſich würdevoll. Sie war ja nun vollends über⸗ legen geworden in ihrem Benehmen.

„Ach, Irma ich wage es nicht es ſind ſo pein⸗ volle Dinge.

„Ich rege mich nicht leicht auf. Das weißt du ja. Alſo nur los.“

Sich zutraulich und zärtlich neben die junge Frau ſetzen, das konnte Hardy nicht. Dazu lud nichts in Irmas Weſen ein. Aber es war beinahe, als könne man 1 aufrichtig zu ihr ſein wie zu einem geſchickten Advokaten, dem man vertraut.

Hardy erzählte alles, was ihr Anna Behrens ge⸗ ſagt hatte.

Sie ſaß Irma gegenüber: ſie hatten das Näh⸗ tiſchchen am Fenſter zwiſchen ſich. Im hellſten Lichte des Fenſters waren ſie, und Hardy konnte jede Miene der andern bewachen.

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Keinerlei Arger oder Schreck zeigte ſich in Irmas Zügen. Nichts ſt 8 and in ihrem Geſichte zu leſen als ein e u Intereſſe.

„Alle dieſe Redereien,“ begann ſie dann, „ſind mir ſeit langer Zeit bekannt. Ich verachte jeden Klatſch. Er iſt eine ſoziale Krankheit der Gegenwart. Nur wenige, ſehr Hochgebildete oder ſehr Vorſichtige, halten ſich von ihm frei.“

„Man kann leicht den Klatſch verachten, der andre betrifft, ſprach Hardy.

„Meinetwegen kann man von mir ſagen, ich hätte filberne Löffel eee, fuhr Irma voll kalter Ge⸗ laſſenheit fort. „Ich habe es mir damals gleich gedacht, daß das Jagdunglück Dieters kein Jagen üd war, ſondern irgendwie mit Borwins Benehmen egen⸗ über zuſammenhing. Aber ich will dir was ſagen: nie habe ich von meinem Wiſſen der Dinge, ſoweit Doraline zu mir geſprochen hatte, nie von dem Klatſch über dich, nie von dem Geflüſter über ein Duell zu Heinz Philipp auch nur ein Wort geſagt. Menſchen wie er, die ſo kehr auf Außerlichkeiten halten, ſind in ihren Beziehungen zur Welt leicht irritiert, wenn ſie denken, man beſchäftigt ſich mit ihren Familienangelegenheiten.

ch dachte mir: er wird die allerrichtigſte Haltung be⸗ wahren, wenn er ahnungslos bleibt.“

Hardy ſah die junge Frau ganz benommen an.

„Irma,“ hoff Ne „DU bitt Mi ng:

„Nun, ich hoffe, ich habe ben erſtand auf dem rechten Fleck,“ ee 58 unge Frau ſelbſtzufrieden. „Ich hab' es in der Familie und bei Frau Eggsdorf und in unſrem ganzen Kreiſe nur zu oft beobachtet: alles wird ſchlimmer und verworrener und unreparier⸗ barer, weil alle zuviel durcheinander davon ſprechen und ſich mitteilen.“

„Unreparierbarer?) .. Meinſt du... daß ſonſt vielleicht deine Schweſter und er.

„Ach nein. Die Scheidung iſt N Doraline kommt ſich großartig tragiſch vor. Ich kenne ja Dora⸗ line: leidenſchaftlich und dumm! Das iſt eine hilfloſe Miſchung. Da können ſonſt noch eine Fülle ar neuen,

XXVIII. 2.

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lieben Eigenſchaften dabei fein es hilft nichts: ſolche Menſchen verderben ſich doch alles. Doraline wird ſich tröſten und im Troſt bald eine neue Quelle zu ſtürmiſchen Erlebniſſen finden.“

Irma machte eine Pauſe, ſah mit ihren hellen, klugen Augen Hardy ſehr ſcharf an und gab dann eine weitere Probe ihrer verſtändigen Art.

„Ich will, da du dich mir anvertrauſt, noch Dur ſein. Von mir aus, das wiederhole ich, hätte ich nie mit dem leiſeſten Wort verraten, daß ich etwas von den Geſchichten weiß. Vor einigen Tagen habe ich einen Brief von Borwin erhalten. Er ſchreibt, daß er gutes Zuvertrauen zu meiner objektiven Haltung habe, da ich als deine Schwägerin und Doralinens Schweſter mitten zwiſchen den Parteien 9 und er mich auch als gerecht kenne. Er liebe dich und hoffe, ſich nun um dich bewerben zu dürfen, denn du ſeieſt damals nicht im Zorn, ſondern verzeihend von ihm geſchieden. Da ihm all die Klatſchereien durch ſeine Mutter ſtets eifrigſt nach London gemeldet worden ſeien, fühle er es als Pflicht, raſcher, als es die Rück⸗ ſicht auf Doraline wohl geſtatte, dir ſeine Hand anzu⸗ bieten. Ferner weiß er, daß wir die Hoffnung hegten, dich als Dieters Gattin zu ſehen, und er nimmt an, daß entweder Dieter ſich wegen der Geſchichten von dir zurückzog, oder daß du Dieter nicht wollteſt, weil du noch immer ihn liebſt. So zwinge Gefühl und Ehre ihn, ſein Leben und ſeine Zukunft dir anheimzugeben. Er bat mich, ihm irgendwie bei der Wiederannäherung an dich dienlich zu ſein. Sei es, indem ich ihm eine Begegnung mit dir ermögliche oder dir ſeine Wünſche andeute. Er ſcheint es durchaus für taktvoller zu halten, zu dir gewiſſermaßen geführt von einem Familien⸗ ne zu kommen. Wogegen man ja nichts jagen kann.“

„Was haſt du geantwortet?“ fragte Hardy mit weißen Lippen und faſt unhörbar, aber doch nicht ohne Beſtreben, ſich beherrſcht zu 8 ich na

„Ich habe ihm geſchrieben, daß ich es ablehnen müffe, mich in die Angelegenheit zu miſchen. Ich habe

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ihm erzählt, daß ich meinem Manne, dir und eurer Mutter gegenüber ganz ahnungslos täte. Nichts konnte ja taktvoller, bequemer für alle und klüger ſein als eine ſolche geheuchelte Ahnungsloſigkeit ſcheint mir wenigſtens. Ich habe ihm geraten: wende dich an Hardys Mutter! Nicht wahr, das war doch richtig? Und dann habe ich ihm noch geſchrieben, auch wenn er zum zweitenmal mein Schwager würde, ſollte er auf meine freundſchaftliche Haltung rechnen.“

Nun fragt ſie nun fragt ſie, dachte Hardy zitternd: Liebſt du ihn noch? Willſt du ſein Weib werden? Und es kam Hardy ſo vor, als riefen tauſend Stimmen es ihr fragend zu.

Aber niemand erhob hier ſeine Stimme. Irma ſaß ſchweigend. Sie war zu klug, zu beherrſcht, um ae De zu tun, die ſie doch mit ſehr ſtarkem Intereſſe

edachte.

Und als ſie fühlte, daß Hardy nicht ſprechen konnte oder wollte, ſtand ſie auf gut berechnet, nach einer ſchicklichen Pauſe, die wie Schonung wirkte. Ihr Ver⸗ ſtand erſetzte völlig die Kräfte, die ſonſt das Herz findet. Sie tat wohl...

Das ſpürte Hardy doch, in all ihrer Verwirrung. ich 3870 danke dir,“ murmelte ſie, „oh ſo ſehr danke ich dir..“

Irma umarmte ſie und gab ihr einen Kuß auf die Stirn weil ſie empfand, daß der Augenblick eine zärtliche Geſte von DE forderte.

„Beruhige dich, liebe Hardy,“ ſprach fie warmen und beinahe mütterlichen Tones, „du biſt nun auf die Frage vorbereitet, die an dich herantreten wird. Du wirſt entſcheiden, wie du mußt.“

Und dieſes letzte Wort hallte unaufhörlich in Hardy wider... wie ich mu ß?

Wer weiß, was er muß? Wer iſt klar über ſich und ſein Leben? fühlte ſie.

nd ihr war, als wiſſe ſie es nicht. Die Erinne⸗ rung an das ſchöne Wort, das ſie ihm einſt in jener furchtbaren Stunde geſagt, kam und wollte ſie ver⸗ pflichten.

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Schien es nicht, als leite er daraus Rechte an ihr Herz her; hänge gerade an dies Wort ſeine Hoffnung?

War es nicht wie ein Gelübde geweſen? Und nun trat er vor ſie hin und forderte, daß ſie es durch die Hingabe ihres ganzen Lebens beſtätige?

Denn Verzeihung iſt doch nicht wie ein Geſchenk, das man zurücknehmen darf, wenn man erkennt, es ward übereilt gegeben?

Sie fragte ſich: könnte ich es ihm noch einmal ſagen? In dem gleichen Mitleid und mit der gleichen Hingabe?

Nein nein wenn ich wahrhaft verzieh dann müßt' ich auch heute noch freudigen Glauben haben hätte keine Wunden und Demütigungen ge⸗ ſpürt wer verzeiht, läßt ſich treten. Nichts wäre mir entglitten von meinem Wiſſen über mich ſelbſt es gäbe keine Zweifel... ö

1 ſchien ihr: ſie habe es mehr für ſich als für ihn geſagt das Wort half ihr damals ſelbſt in jener harten Zeit. Ihr Herz konnte nicht haſſen. Ihr Stolz durfte nicht bitten. Und als ſie ſagte: „Ich verzeihe 27 5 aa fie eigentlich gemeint: „Ich liebe dich

ennoch.“ |

Sie war ſich nicht bewußt, daß fie jetzt mit Dieters Gedanken dachte, daß all die vielen Geſpräche mit ihm geweſen waren wie Geſpräche an einem Grabe.

Und nun war auf einmal wieder alles Leben voll Anſpruch und neuem Kampf? Was zu Ende geweſen war, ſollte wieder beginnen? Zu Tode Gequältes ſollte noch einmal ſo viel Kraft gewinnen, zu lachen in Friſche und Glück? Was aus Himmelshöhen lang⸗ ſam hinabgeſunken war in den Staub, ſollte ſich wieder erheben können? N

‚Nein, dachte fie müde, immerfort nur nein

nein

Aber vielleicht muß ich! dachte ſie dann weiter. Vielleicht iſt es wie eine Pflicht! Gegen ihn und mich Hund die Welt! Und wenn ich es nicht in heißem, freudigem Glauben kann, ſollte ich es vielleicht aus Klugheit tun. Ich ſehe doch an Irma, was Klugheit

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n ſogar zum ſichern Glück kann man mit ihr omm

Wenn ich es doch mit Dieter beſprechen könnte! Natürlich muß ich es mit ihm beſprechen, fühlte ſie. Wie ein Bruder hatte er ſich zu ihr geſtellt. Und als er glaubte, er müſſe für ihre Ehre eintreten, hatte er faſt ſein Leben verloren. Und niemals ließ er ſie es noch fühlen, daß es einſt eine Zeit gegeben hatte, wo er anders als brüderlich für fie empfand damals, als er noch nichts von der Vergangenheit wußte; dies Wiſſen hatte alles, alles in ihm verwandelt natürlich aber es war doch tröſtlich, mit ihm ſprechen zu können.

Vielleicht ſagte er wie Irma: entſcheide dich, wie u mußt.

Käme doch eine Gewißheit vom Himmel gefallen 8 Blitz und zeigte mir, was ich muß, dachte Hardy Schwer und langſam zog der Karfreitag vorbei. Wie eine Trauerprozeſſion, mit trüben, gedämpften Bewegungen. Die Gehaltenheit des Tages trat ſelbſt auf dem Amt in Erſcheinung. Viele von den Kol⸗ leginnen waren beurlaubt. Alle Geſchäfte ruhten, auch der Privatverkehr ſchien nur ein ſpärliches Leben zu friſten. Die wenigen Beamtinnen ermüdeten faſt an der Schläfrigkeit der Bewegung. Sie waren es Ben, gehetzt zu werden, ſich von der Eile betäuben zu laſſen, daß ſie erſchlafften, weil das raſende Rad ſie nicht mit ſich fortwirbelte.

Und niemals, ſeit Hardy ihren Beruf ausübte, hatte ſie die Verbindungs tifte ſo 15 häufig falſch in die kleinen Löcher des Vielfa a alters gejtedt wie an dieſem bleiernen Tage. Der zornige Ruf: „Falſch verbunden!“ klang mehr als einmal an ihr Ohr, u mit einem bittern Lächeln dachte ſie, das Publikum wird ſich noch beſchweren hier ſitzt eine Maſchine, die nicht genug Maſchine iſt.

Draußen, die Welt, war in die Melancholie eines ſtill ſickernden Regens gehüllt, der lau und ſtetig vom e Himmel herabkam.

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Keine Note der Energie heute weder in der Arbeit noch in der Natur.

Auch der Oſterſonnabend putzte ſich nicht in Vor⸗ freude mit Frühlingsſonnenſchein heraus. Düſter und lautlos lag die Erde und ſog noch den überreichlichen Regentrunk ein, der geſtern die Schollen übergoſſen. Wie eine weiße, runde Milchglasſcheibe, ſtrahlenlos und doch von beizender Helle, ſtand die Sonne am Himmel, deſſen Grau ſich langſam zu ſchattieren und in feines Gewölk zu zerteilen begann.

So war das Angeſicht der Landſchaft: wie das einer Mißhandelten, die noch nicht die Tränen getrocknet hat und noch nicht wieder zu lächeln vermag.

Unter der gedrückten Stille des Tages litt Hardy, weil die Naturſtimmung zu ihrer eigenen in ſo völligem Gegen⸗ ſatze ſtand. In einer unerhörten Aufregung und Ungeduld fuhr ſie dem Wiederſehen mit der Mutter entgegen.

Wußte ſie ſchon? Hatte Borwin ihr ſchon ge⸗ ſchrieben? Hatte er vielleicht gar gewagt, ſelbſt vor ſie hinzutreten, um ſich ihre Verzeihung und ihre Ein⸗ willigung zu erobern?

Was würde die Mutter ihr raten? Vielleicht gar befehlen?

Sie haßte Borwin. Das wußte Hardy ja gewiß. Aber ſie kannte auch ihre Mutter und hielt es für mög⸗ lich, daß ſie, unlogiſch, herriſch, in Begier nach einem Triumph oder im zähen Gedanken an die Unſterblich⸗ keit von Hardys Liebe zu Borwin, ihr ſagen würde: „Du mußt nun fein Weib werden.“

Der Wagen fuhr an der weißen Gitterpforte zwiſchen den Pappeln vor. Ä

Leer lagen die Wege und Plätze vor dem Haufe, auf dem Raſen ſtand der Überreſt einer verſiegenden Waſſerlache. In den geſchorenen Lindenwipfeln vor dem Hauſe hockten zwei Raben. Nun flatterten ſie wichtig mit den Flügeln, hoben ſich und flogen mit durchdringendem Geſchrei davon.

ardy erſchrak darüber, als habe man ihr eine Drohung zugerufen. Sie dachte: Werde ich krank? So nervös bin ih...

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Wo blieb das Geſicht der Mutter, die doch ſonſt voll liebender Ungeduld hinter dem Fenſter wartete und zie ſche

Wie ſchrill klang die Hausglode...

Aber nun war es, als ſei mit einem Male die un⸗ erträgliche Spannung gemildert.

Kaum, daß ſie den Flur betrat, war die Mutter da. Und hinter ihr noch jemand.

Sie verbarg ihr Geſicht an der Schulter der Mutter und dachte verzweifelt: Ich will nicht weinen.

Sie erriet es auf der Stelle: die Mutter wußte ſchon, was zur Entſcheidung ſtand. Ein ſo ſchwerer, Nei Ernſt war in ihrem Geſicht das ſah Hardy gleich

Aber Herr Dieter ließ die Frauen nicht in dieſer ſtummen Erſchütterung, in der ſie ſich aneinander⸗ Hammerten...

Wohlgelaunt und unbefangen tat er und ſprach allerlei davon, daß er eigentlich Fräulein Hardy von der Station habe holen wollen, daß aber der In⸗ pen mit einem langen Zettel gekommen ſei, und

Anliegen eins bis Anliegen ſieben inkluſive hätten durchgeſprochen werden müſſen. Anliegen acht und ſo weiter könnten warten.

Dabei war in 1 blauen Augen ein ſcharfer, durchdringender Blick, den ließ er nicht von Hardys liege, als wolle er leſen, was ſich daraus erraten ieße.

Dann ſaßen ſie in der Stube um den Veſpertiſch, den Fräulein Krull wieder übermäßig beladen hatte. Und Herr Dieter neckte ſie und ſagte, ſie müſſe eine Anſtalt übernehmen, wo Ernährungskuren gemacht würden. Sie waltete in ihrem breitgeſtreiften Kattun⸗ kleide ſo überſorglich um den Tiſch, bis Herr Dieter fe hinauslobte. Man wußte es: ſie zog ſich nicht rüher zurück, bis man ihren Gödimerehtgeis recht zärtlich geſtreichelt und gefüttert hatte.

Und als die Tür ſich hinter der geſtreiften Dame ſchloß, fiel von ihnen dies ganze Gebaren ab, in dem ſie getan, als ſei heute ein Tag wie andere Tage

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1 voll harmloſem Behagen am Laufe der kleinen inge. ie ſuchten nicht einmal nach einem Übergange.

Herr Dieter ſtand auf. Frau von Arnberg ſah ihn fragend an. Er nickte.

Hardy fühlte: dieſe ſtumme Frage, dies ſtarke, er⸗ mutigende Zunicken handelte von ihr, von ihrem Leben, das zur Entſcheidung ſtand.

Sie erhob ſich, fühlte, als könne ſie kaum ſtehen, und hielt hie mit ihren beiden Händen an die Lehne ihres Stuhles.

„Mein Kind,“ begann Frau von Arnberg mit ſehr unſicherer Stimme. Sie ſuchte in ihrer Taſche mühſam nur fanden ihre Finger den Brief. Und doch war nichts in der Taſche als nur er...

„Mein Kind . .., ſie ſtockte zum zweitenmal. Aber dann ſiegte ihre Energie über ihre Schwäche, und wie hundertmal in ihrem Leben, war ſie bereit, ſich in das Schickſal trotzig zu fügen aber eben doch zu

ügen... Hardys Blicke hingen an den Lippen der Mutter „Mein Kind, ich habe einen Brief bekommen von Borwin.“

der Mutter... „Du weißt? Von ihm ſelbſt?“ fragte fei ruhig wollte ſie fragen und es klang doch eindſelig. |

„Von Irma. Er hatte Irmas Vermittlung erbeten. Sie lehnte es ab.“

„Ah ganz Irma!“ ſprach Herr Dieter zufrieden dazwiſchen, und Frau von Arnberg nickte wieder ja, das gefiel ihr auch. |

„Wieſo es kam, daß Irma mir doch davon ſprach, iſt ja gleichgültig. Sie ſprach aber nicht als Botin,“ ſagte Hardy.

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Frau von Arnberg hielt mit ihren kalten Fingern immer den Brief feſt.

„Ehe ich dir den Brief gebe, will ich dir ſagen, daß ich als Mutter 10 in deine Entſchließung s füge, wie ſie auch falle.“

„Mutter!“ rief Hardy.

Das tat äußerſte Liebe das konnte nur eine Mutter ſagen „ich bin zufrieden, auch wenn du mir den Mann als Sohn gibſt, gegen den ſich mein Herz wehrt.“

Frau von Arnberg kam b f Anſtrengung an ihrer Sofaecke heraus. Nun ſt icht ein ie da, groß und mager, 1 en ſcharfen Geſicht einen wahrhaft königlichen

usdruck

„Lies!“ ſprach ſie kurz.

Hardy nahm den Brief. Es war, als wolle die Mutter nicht mit anſehen, wie nun all die beſchwören⸗ den, reuevollen Worte von dem toten Papier ſich er⸗ heben würden, um gegen Hardys Herz anzuſtürmen, eine Armee mit den tauſend Waffen der Erinne⸗ rungen.

Sie trat ans Fenſter ſtarrte hinaus in die ſteifen, breiten Querſtreifen der beſchnittenen Lindenwipfel, die durchſprenkelt waren von ſmaragdgrünem Knoſpen⸗ werk. Starrte hinüber zum grauen Himmel, vor dem ſich die braunglänzenden, von winzigen Blättchen ſchon durchflimmerten Pappeln abhoben. |

Hardy ſtand mitten im Zimmer und ſah auf den Brief in ihrer Hand. |

Da trat Dieter an fie heran. Er griff in feine Bruſt⸗ ie olte da fein Buch heraus, deſſen Leder⸗

chlag ſich dick wölbte von dem vielen Inhalt an Zetteln und Briefen.

„Hardy,“ ſagte er ein bißchen haſtig, während er die ache auf den Tiſch legte und ſie auseinanderſchlug, „Hardy, ich hab' Ihnen auch einmal geſchrieben .

Er nahm ein zuſammengefaltetes Blatt aus einer e Taſche des moirierten braunen Futters.

n ſtand er vor Hardy. „Vielleicht ehe Sie das da leſen, Hardy viel⸗

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leicht oder auch nachher leſen Sie mal, was ich Ihnen ſchrieb .

Er reichte ihr das Blatt. Sie nahm es darüber fiel Borwins Brief zur Erde. Aber ſie ſahen

es nicht denn ſie ſahen nur einander in die Augen.

Und die blauen Augen befahlen den andern...

Hardy fühlte ſich ganz und gar unter ſeinem Willen ſtehend. Sie konnte nicht anders, ſie mußte das Blatt entfalten, das er ihr gegeben hatte.

In tiefſter Verwunderung ſah fie... Benommen von einem unerhörten Erſtaunen

Was war denn dies für ein Blatt?

Da ſtand ja nichts faſt nichts ſtand ja darauf geſchrieben? ... Was ſollte das bedeuten?

Auf dem ganzen, großen weißen Bogen ziemlich oben nur dies: |

„Wieſchenburg, d. 17. September 1904“.

Und dann noch etwas...:

„Liebe Hardy!“

Mit wahren Rieſenbuchſtaben, weiter nichts als:

„Liebe Hardy!“

i Sie ſtarrte auf dies merkwürdige Blatt. Lange, ange.

Und dieſe paar Buchſtaben fingen an, ſich zu ver⸗ mehren tauſend wurden ſie. Und formten ſich zu heißen, treuen, tiefen Worten von heiliger Schlichtheit, wie ſie nur ein Herz von Gold und ein Mann von Eiſen finden kann. Sie erzählten es ihr, daß ſeine Seele an nichts gedacht hatte als an ſie, in jenen Stunden, da er bereit war, um ihretwillen zu ſterben.

Sie hob den tränenſchweren Blick. Und ſah in feine Augen. Darin war ein ſicheres Warten... fo, als ſei er des Erfolges ſeiner ſchriftlichen Beredſamkeit gewiß. So, als wiſſe er, daß ihr dieſe Handvoll Buch⸗ ſtaben da alles, alles, alles von ſeinem Herzen mit⸗ geteilt hätten...

„Den 17. September,“ ſprach ſie leiſe, in zitternder Scheu vor dieſem Datum und an das, woran es mahnte, „Wieſchenburg, den 17. September ..“

„Ach nein,“ ſagte er, wie verbeſſernd und als käme

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nichts auf dieſen Ort und dieſes Datum an, als ſei das nur zufällig. Und er wiederholte das wichtigste, das für ihn allein ſprechende Wort

„Liebe Hardy!“

Er ſagte es in einem unbeſchreiblichen Ausdruck faſt vorſichtig, wie man ein Heiligtum nennt.

Und er ſah ſie an gerührt lächelnd in voll⸗ kommener Sicherheit und ſtreckte ihr ſeine beiden Hände entgegen.

Und da mußte ſie genau das tun, was er ſich in jener Mondſcheinnacht ausgedacht hatte, das geſchehen Dr a heißen Tränen lachend fiel fie ihm um

en Hals

3m Verlag von Z. Engelhorns Nachfolger in Stuttgart iſt von

Ida Boy⸗Ed

erſchienen:

Nichts über Mich! Roman Geſchenkausgabe. 5. Aufl. geb. M. 5.—

Ferner in „Engelhorns Allgemeiner Roman- bibliothek“: |

Heimkehrfieber.

Roman aus dem Marinevffiziersieben. 2 Bände Die holde Törin. Roman. 2 Bände Ein Echo. Roman. 2 Bände

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