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ROLF HOFFMANN

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Iwan Gontfcharom

Geſammelte Werfe

Swan Sontfcharom Geſammelte Werke

in vier Baͤnden

Vierter Band:

Die Shludt

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Dritter bis fünfter Teil

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Berlag von Bruno Gaffirer Berlin 1920

Die Schlucht

Roman in fünf Teilen von

Swan Sontfharom

Dritter bis fünfter Teil

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Berlag von Bruno Gaffirer Berlin 1920

Zweite Auflage Deutfch von Auguft Scholz

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Die Schlucht

Dritter Teil

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Erſtes Kapitel

wenig für einen rüdftändigen Philifter, Er erflärte offen, daß er an den Fort fchritt glaube, ja er Außerte fogar feinen #5 unverhohlenen Ürger über dag „Schild: - frötentempo”, in dem fich diefer Forts fchritt vorwärts bewegte. Dabei hatte er es jedoch durch⸗ aus nicht eilig damit, fich in irgendein, faum in den Um⸗ riffen erfennbares „Jahrzehnt“ eineubrigieren gu laffen und leichten Herzens auf alle Übergengungen, Beobachtungen und Erfahrungen zu verzichten, die durch die Gefchichte überliefert, durch die MWiffenfchaft errungen oder durch die Praxis des eigenen Lebens erworben waren, um an ihre Stelle das faum empordämmernde Morgenrot irgendwelcher fheinbar neuen Ideen und mehr oder weniger glänzenden oder fcharfinnigen Hypotheſen gu feßen, auf die er die Jugend fih in heißer Gier ſtuͤrzen fah.

Er pflegte auf feine Jahre hinzumeifen und fagte, daß für ihn die Zeit des vorfihtigen Abwartens gefommen fe:

aiſki hielt fich zwar nicht gerade für einen ER der allermodernften Köpfe, aber ebenfos

Nun ——

38 CH

dort, wo die Phantafle ihn nicht mit forteiß, trottete er geduldig hinter feinem Zeitalter ber.

Er intereffierte fih für den allgemeinen Gang und bie Entwidlung der been, ber Triumphe bee MWiffenfchaft, Doch er wartete erft fihere Refultate ab, machte feine Lufts fpränge mit, beeilte ſich nicht, den neuen Glauben ans zunehmen, der die Geifter mit allen möglichen waghbalfigen Spekulationen lockte.

Er hieß jeden fühnen Schritt auf dem Gebiete ber Kunſt willtommen, freute fich aller neuen Erfindungen und Ent dedungen, bie das alte Leben zwar ummobelten, aber doch nicht gerbrachen, begrüßte jebes neue, auf natürliche Weiſe, ohne Anwendung von Gewalt hervortretende Bedürfnis, wie et dag junge Grün bes Frühlings begrüßte, hegte jedoch dabei durchaus Feine unfruchtbare, undankbare Feindfchaft gegen die abgetane Drbnung ber Dinge und bie abfterbens den Elemente, glaubte vielmehr feſt an ihre hiftorifche Not⸗ wendigfeit und ihren engſten Zuſammenhang mit dem jungen Fruͤhlingsgruͤn, fo nen und friſch fich dieſes auch präfentierte.

Wenn er daher jet in ber Hitze des Gefechts gelegentlich eine „Bombe“ in das Lager ber flarrfinnigen alten Zelt warf und bei feinem Eintreten für Die Idee der Menfchlichs feit aller defpotifchen Willkuͤr und altbojarifchen Selbftfucht entgegentrat, fo haftete doch feiner Kriegsführung, ſoweit fie fih gegen Tatjana Markowna wandte, ein Zug von Gutmütigfeit und Verföhnung an, da er fah, baß hinter den eingelernten alten Marimen fih ein reichlihes Maß von gefundem Menfchenverftand und Lebensflugheit barg, daß in ihnen die Keime derfelben Elemente enthalten waren, aus denen auch die nene Zeit ihre Lebensauffaffung aufbante, und daß dieſe Keime dort, in ber alten Drbnung

2.0 21. use

der Dinge, nur duch das Unkraut ber Vorurteile übers wuchert und niebergehalten waren.

As er nun in Miera ganz unerwartet diefe Kuͤhnheit des Verſtandes, diefe Freiheit des Geiftes, diefen ſtarken Drang nach dem Neuen entdedte, war er zuerft Höchft verwundert, dann durch diefe feltene Verbindung Außerer und innerer Schönheit in hohem Maße entzädt und endlich, als fie es abgelehnt hatte, ald „weiſe“ gu gelten, fogar ein wenig befrembet. „Sch bin fein weifes Maͤdchen!“ hatte fie ges. fast, und ein Schauer hatte fie dabei Aberlaufen. Und er hatte fie „wunderlich“ gefunden und fich feine Gedanken über fie gemacht. | Mein, das war kein fchlichtes, Harmlofes Kind, wie Mars finfa, und auch fein „gnaͤdiges Fräulein”. Sie fühlte fich beengt. und unbehaglich in diefer veralteten, verfhrobenen Lebensform, In die dag geiftige Leben, die Sitten, die ganze Bildung und Erziehung der jungen Mädchen big zu ihrer Berheiratung feit fo langer Zeit gepreßt worden waren, Ste fühlte die Verlogenheit diefer Lebensform und ſuchte ſich ihr im ehrlichen Ringen nah Wahrheit zu entwinden. Er fand in Wiera viel von dem, was er vergeblich in Nas tafha, in der Bjelowodowa gefucht hatte: Geift, Selbs fländigtfelt, Eigenart des Denkens wie des Charakters kurz alle jene Kräfte, die den Typus bes neuen, echten, felbftbewußten Weibes geftalten, die feinem eigenen Leben wie dem Leben ber andern die Richtung geben und dem ganzen Kreife, in den das Schiefal es geftellt, Licht und. Wärme bringen follten.

Noch war Wiera faft ein Kind, doch ein Kind mit kitanis ſchen Kräften: es kam nur darauf an, daß biefe. Kräfte richtig entwidelt und vernünftig geleitet würden.

Raiſki hätte feine ganze Kraft daran wenden mögen, um-

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ihr die Erreichung ihres Zieles zu erleichtern, bätte mie Begeifterung die Saat feines Wiflens, feiner Erfahrungen und Beobachtungen auf einen fo fruchtbaren und dank baren Boden ausſtreuen wollen: bag wäre fein „Dhantom“” gewefen, fondern ein Triumph des menfchlichen Geifles und bie Erfüllung einer Pflicht, die uns allen obliegt, ohne die ein Fortſchritt undenkbar if.

Doch ach, welche Hindernifle traten ihm da entgegen! Sie leiftete ihm Widerfland, verftedte fih vor Ihm, verſchanzte fih Hinter ihre Recht, hinter die Wand ihres jungfräulichen Gemachs fie will alfo nichts von feiner geiftigen Hilfe wiffen. Und dabet ift fie doch unzufrieden mit ihrer Lage, fehnt fih ans ihr heraus, hat alfo ein Bedürfnis nach einer anderen Luft, nach anderer Nahrung, anderen Mens fchen. Wo find diefe Menfhen? Wer foll ihr die neue Luft, die neue Nahrung gewähren?

Er iſt ihe Verwandter, ihe natürlicher Beſchuͤtzer er hat fomit ein Recht darauf, ihr gegenüber dieſe autoritative Rolle zu fpielen. Auch die Sroßtante hatte ja gefchrieben, daß fie ihm diefe Rolle zuweiſe.

Wiera ift wohl ein verfändiges Mädchen, boch er iſt er; fahrener und kennt das Leben. Er kann fie vor groben Irrtuͤmern bewahren, kann fie Lüge und Wahrheit unters fheiden Jehren; er wird, als Denker wie als Künftler, feine ersieherifche Arbeit an ihr verrichten, wird ihrem Freiheits⸗ hunger Nahrung geben, ihr die been des Guten und Wahren vermitteln, wird als Künftler ſich bemähen, die innere Schönheit ihres Weſens ans Tageslicht zu fördern. Er wird ihre Schidfal, ihre Lebensaufgabe erraten und... und... mit ihe gemeinfam an deren Erfüllung arbeiten. „Mit Ihe gemeinfam” das war es, wonach fein Wunfch ging. Diefem Wunfche gu entfagen, war ihm unmöglich,

CR II CH feine Abficht war fomit nicht ſelbſtlos und das war das zweite ber Hinderniſſe, die fih ihm in den Weg ftellten. Und noch ein drittes Hindernis war vorhanden: er fah es erft noch ganz im Nebel, erriet es erft Halb und Halb, doch fehlen es fatfächlich vorhanden gu fein und die Sachs lage gang befonders fohwierig gu geflalten: ed war ber Umftand, daß fihon irgend jemand ihm zuvorgekommen war, daß fie bereits einen andern dazu auserfehen hatte, ihr Schidfal zu erraten und „mit ihr gemeinfam” an ber Erfüllung ihrer Lebensaufgabe zu arbeiten. „Das ift das Fatalſte an der Sache!” fagte er fih und zog den Schluß, daß es für ihn das Vernünftigfie wäre, ohne erft fange Erflärungen, ohne erſt die Beſtaͤtigung feiner Vermutung über das Vorhandenfein diefes Mitbewerbere abzuwarten, auf ihre Freundſchaft gu verzichten und fich aus dem Staube gu machen. Wenn irgendein unfchuldiger Junge vom Schlage Wikent⸗ jews ſich etwas vormachen ließ, ſo waͤre das wohl ver⸗ zeihlich geweſen Ihm dagegen, dem welterfahrenen, herzenskundigen Lebemann, ziemte es zu wiſſen, daß alle dieſe verliebten Schwaͤrmereien, Traͤnen und Zaͤrtlichkeiten nichts weiter ſind als die Blumen, hinter denen ſich Satyr und Nymphe verfieden... Er mußte wiffen, daß all dieſes Spiel und Getändel ſpur⸗ los vorübergeht, wenn Satyr und Nymphe ſich nicht in Mann und Frau verwandeln ober fonftwie auf Lebenszeit befteunben. „Uber meine Nymphe will mich doch nun einmal nicht gu ihrem Satyr wählen,” fagte er fich mit einem ſtillen Seufs ger „alfo iſt's auch nichts mit ber Hoffnung auf eine Verwandlung in Mann und Frau, auf Släd, auf einen

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langen, gemeinfamen Lebensweg. Und was ihre Schönheit beteifft nun, mit ber werde ih mich ſchon abfinden, die foll mie nichts weiter anhaben ...“

In den Morgenftunden fühlte er fih Immer ganz beſonders feifh und kampfmutig: der Morgen verleiht Kräfte, bringt

einen ganzen Schwall von Hoffnungen, Einfällen und

guten Vorfägen für den ganzen Tag. Man geht am Morgen entfchloffener an bie Arbeit, nimmt die Buͤrde des Lebens mutiger auf die Schultern.

Auch Raiſki fühlte diefe heilfame Wirkung bee Morgens

ſtunden: der Gedanke an Wiera quälte ihn um dieſe Seit

weniger als fonft. Der neue Tag brachte neue Gedanken, brachte Begegnungen mit den Hausgenoſſen, mit neuen Menfchen, brachte den erfrifchenden Gang durch die Fluren, die Zeitungen, die neuen Bücher, mahnte ihn an ben Roman, an dem er fehrieb alles das verfchaffte ihm Zerfireuung.

Gegen Abend laufen dan all die Fäden der Tageserleb⸗ niffe in einen Knoten zuſammen, und mehr oder weniger bewußt zieht jeder die Summe bes Erlebten. Wenn Raiſki am Abend diefe Tagesbilanz aufftellte, mußte er fefts ftellen, daß von allen Gedanken, Wünfchen, Empfindungen, Unterhaltungen und Eindrüden bes, Taged ihm nichts übrig blieb als einzig und allein Wiera. Voll Arger und Unmillen wälzte er fih auf feinem Lager und fehlief fchlieglich mit dem einen Gedanken ein um mit dems felben Gedanken wieder gu eriwachen.

„Ich bedarf der Tätigkeit, der Beihäftigung,” fügte et fih, und da er feine wirkliche Tätigkeit hatte, warf er fich auf allerhand „Phantome“: er fuhr mit der Großtante zur Heuernte, befichtigte die Haferfelder, machte lange Spazier⸗ gänge, begleitete Marfinka Ins Dorf, ſtudierte die Lage ber

13 (#5

Bauern, machte Luftfahrten auf der Wolga oder Beſuche in Koltfchino bei Wikentjews Mutter, ging mit Marf auf den Fiſchfang oder die Jagd, firitt fih mit ihm herum und vertrieb fich die Zeit mit allerhand fonftiger Kurz⸗ weil,

„Ich muß mich beherefchen lernen, muß das Verfprechen, das Ich Wera gegeben, erfüllen,” dachte er und ſah fie bisweilen drei, vier Tage lang nicht,

Sie ließ fih den Kaffee auf ihr Zimmer bringen, er war häufig zum Mittageffen nicht gu Haufe, und fo ging alles beftens vonſtatten.

Auch fonft fuchte er feine Gedanken auf alle mögliche Weite abzulenfen. Er hatte eined Tages irgendwo in einem Senfter in der Vorftadt einen huͤbſchen Frauenkopf bes merkt und fich vor der Unbekannten lächelnd verneigt. Sie hatte gleichfallg gelächelt und war dann verſchwunden. Er brachte in Erfahrung, daß fie die Tochter irgendeines Auf⸗ fehers ſei was für eined Auflehers, konnte er nicht herausbekommen, es gibt bei ung in Rußland gar zu viel Arten von Auffehern. Jedenfalls aber konnte er feftftellen, Daß dieſer Auffeher es mit der Beauffichtigung feiner Tochter nicht genau nahm, denn wie er alsbald bemerkte, beglüdte fie noch manchen andern, ber an ihrem Senfter vorüberfam, mit ihrem Holden Lächeln. Er warf ihr eine Kußhand zu, und fie verneigte ſich dankend. Zwei⸗ oder dreimal hielt er, wenn er voruͤberſchritt, an Ihrem Fenfter, begann ein Gefpräch mit ihr und verficherte ihr, baß er fie ſehr huͤbſch finde und bis über die Ohren In fie verliebt

ſei.

„Ah, Ste ſchwi⸗indeln ja!” verſetzte fie, die Worte lang dehnend „ih glaube Ahnen nicht! Ihe Männer feid alte ſchlecht!“

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„Wirklich alle?”

Gewiß doch! Die Männer! Wie viele waren ſchon bei

ich kenne fiel Nein, mich werden Sie nicht bes

truͤgen! Machen Sie, bag Sie weiterlommen I” Lange noch beluftigte Ihn diefe duch Erfahrung eriworbene Weisheit der braven Buͤrgerstochter... Ans allen Kräften arbeitete er fo an dem Werke der Selbfts überwindung, ohne fi) die Brage vorzulegen, was eigentlich ber treibende Grund feines Eifers war: ob die aufrichtige Abſicht, Wera in Ruhe zu laffen und feiner Wege gu gehen, ober das Beftreben, ihr ein „Dpfer” zu bringen, ihr gegens Aber „Sroßmut” zu üben. Um nun diefem Werke bie Krone aufjufegen, verſprach er ber Großtante, mit ihr zu⸗ fammen in ber Stadt Befuche zu machen, ja fogar unter ben Gaͤſten zu erfcheinen, bie fie am nächften Sonntag „iu einer Paſtete“ befuchen wollten.

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Zweites Kapitel

m Sonntag traf Raiſki In Tatjana Markownas

Empfangssimmer eine große Gefellichaft. Alles glänzte und ſtrahlte nur fo. Von den farmefinroten Polfters möbeln waren bie Überzüge weggenommen, ber Fußboden war frifch gewachft, und die Familienporträts waren von Jakow mit einem feuchten Lappen gefäubert worden, daß fie nun noch einmal fo ernft und fireng breinfchauten ale fonft. Jakow trug einen ſchwarzen Frack und eine weiße Hals⸗ binde, waͤhrend Jegorka, Petruſchka und ber eben erſt friſch vom Dorfe unter die Lakaien aufgenommene Stepka, der das Geradeſtehen noch nicht gelernt hatte, mit alten, entweder gu großen oder zu Heinen Livreeroͤcken ausſtaffiert waren, von denen ein dumpfer Modergeruh ausging. Gegen Mittag waren im Saal und im Empfangssimmer Näucherferzen angezündet worden, deren Duft an irgend⸗ eine füßlihe Brühe erinnerte. Tatjana Markowna faß Im feidenen Kleide, bie Haube im Naden und den Schal um bie Schultern, auf einem Diwan. Um fie herum hatten im Halbireife die Gäfte ihrem Range nach auf Seffeln Plat genommen.

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Auf dem erſten Pate ſaß MU Andrejewitſch Tytſchkow, im Brad, mit dem Ordensſtern, ein wuͤrdevoller Sreis mit zuſammengewachſenen Augenbrauen, einem großen, verſchwommenen Gefihte und einem Kinn, das tief in Die Halsbinde hinabreichte. Er hatte eine ſehr herablaffende Art zu fprechen und war von einem tiefen Bewußtſein feiner Wuͤrde burchdrungen, das In jeder feiner Bewegungen zum Ausdruck kam.

Dann folgte als naͤchſter im Range ber beſcheidene und höflihe Tit Nikonytſch, gleichfalls im Brad, allen zus laͤchelnd und die Tante mit anbetungsvollem Blide betrach⸗ tend; neben ihm der Geiftlihe im feidenen Kirchengewand, mit breitem, geftidtem Gürtel, dann ein paar Gerichts; täte, der Oberſt der Garnifon ein dider, kurzgeratener Here mit rotem Geficht und biutunterlaufenen Augen, die jeden AYugenblid fürchten ließen, daß ihn ein Schlaganfall traf weiterhin zwei, drei Damen aus ber Stadt, ein paar flüfternd in der Ede fiehende junge Beamte und einige Freundinnen Marfinkas, ſchuͤchterne, noch nicht aus⸗ gewachfene junge Dinger, die ſich vor lauter Verlegenheit immer wieber bie Hände drädten und jeben Augenblid erroͤteten.

Endlich war da noch ein in der Naͤhe der Stadt beguͤterter Landedelmann mit ſeinen drei unerwachſenen Soͤhnen, der eigens nach der Stadt gekommen war, um Viſiten ab⸗ zuſtatten. Dieſe Soͤhne waren der Stolz und das Gluͤck ihres Vaters; ſie erinnerten an ſchlecht erzogene junge Hunde von großer Raſſe, deren Koͤpfe und Pfoten ſchon ausgewachſen ſind, waͤhrend der uͤbrige Koͤrper noch in der Ausbildung begriffen iſt, die Ohren weit vom Schaͤdel abſtehen und der Schwanz kaum ſeine halbe Laͤnge erreicht hat. Sie ſpringen uͤberall taͤppiſch herum, wiſſen nicht,

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was fie mit ihren unförmlih langen Pfoten anfangen follen, können Bekannte und Fremde nicht unterfcheiden, bellen ihren Vater an und find imftande, einen Baftwifch aufzufreffen oder den eignen Bruder ind Ohr zu beißen, wenn es ihnen zufällig zwiſchen die Zähne kommt.

Der Vater refommanbierte diefe hoffnungsvollen Sproͤß⸗ linge, von benen der Altefte vierzehn Jahre zählte, allen Anmwefenden insgefamt und jedem einzelnen im befondern, gab feinen Hoffnungen für ihre Zukunft beredten Aus; deud, berichtete alle möglichen Einzelheiten über ihre Geburt und ihre Erziehung, ſchilderte ihre Fähigkeiten, ihren Wis und ihre Schelmenftreihe und bat, Ihre Kenntniffe, nas mentlich ihre Fertigkeit Im Franzoͤſiſchen, gu prüfen.

Da fie noch nicht erwachfen waren, hatte man ihnen ihre Plaͤtze in einer befcheidenen Ede angemwiefen. Dort faßen fie nun mit ihren jugendlichen, dummen Gefichtern und blidten mit halbgedffnetem Munde auf die übrigen Gäfte, jungen Raben vergleichbar, die, die gelben Schnäbel weit öffnend, im Nefte figen und ewig gefüttert fein wollen. Ihre langen Beine fanden unter den Stühlen feinen Platz, fondern reichten big In die Mitte des Zimmers hinein, mo fie durcheinander gerieten und die übrigen Säfte am Sehen hinderten. Der Vater hatte ihnen ang Herz gelegt, huͤbſch leiſe zu fprechen, aber fo redlich die armen Kerichen ſich auch abmühten: ſtatt des anempfohlenen Fluͤſterns enfrang fich ber vierzehnjährigen Bruft ein droͤhnender Baß, und wenn ber Vater ihnen fagte, fie follten fein artig das figen und die Händchen huͤbſch am Leibe halten, fo hinderte dag nicht, daß dieſe Händchen, die fich bereits gu großen, knochigen Fäuften ausgewachfen hatten, die ganze Zeit Aber nicht wußten, wo fie bleiben follten. Die armen Burfchen hatten eine wahre Folter gu erbulden, und fie feuchten und

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ſchwitzten förmlich, bis endlich Tatjana Markowna teils aus Mitleid, teils weil fie im Zimmer su viel Platz weg⸗ nahmen und „nah Stockfiſch rochen“ ihnen geflattete, in den Garten zu gehen, wo fie fogleih im Vollgenuß der Freiheit und In froher Erwartung bes Srüpftäds mild umberzutoben begannen, daß die Ruten nur fo von den Sträuchern flogen.

Raiſki kam als letzter gu der Geſellſchaft, nah ber Paftete, als eben irgendeine füße Speife gereicht wurde. Er befand fi etwa in der Stimmung eines berühmten Schaufpielers, der zum erſtenmal auf einer Provinzbuͤhne auffreten foll, nachdem allerhand Nachrichten und Ge; rüchte über ihn feinem Auftreten borausgegangen find. Alle verſtummten plöglich bei feinem Eintritt, hielten im Kauen inne und fahen ihn mit gefpannter Aufmerkſam⸗ keit an.

„Mein Großneffe, der Sohn meiner verſtorbenen Nichte Sonitſchka!“ ſtellte Tatjana Markowna ihn vor, obſchon alle Anweſenden ihn ſehr gut kannten.

Der eine und andere ber Gaͤſte ſtand auf und verneigte ſich; Nil Andreltſch ſah ihn nur Herablaffend an und ers wartete offenbar, daß er zu Ihm hinkommen würde, und die Damen nahmen eine gegierte Haltung an und [hielten verftohlen nach dem Spiegel.

Die jungen Beamten in ber Ede, bie ihr Fruͤhſtuͤck ſtehend, mit dem Teller in der Hand, einnahmen, begannen auf ihren Plaͤtzen hin und her zu trippeln; die Maͤdchen wurden uͤber und uͤber rot und hielten ſich, wie im Augenblick einer großen Gefahr, gegenſeitig krampfhaft feſt; die vierzehn⸗ jaͤhrigen Juͤnglinge aber, die, dem Fortgang der Fuͤtterung entgegenſehend, ein wenig ruhiger geworden waren, ſtreckten fuͤr einen Moment die langgeratenen Gliedmaßen von ſich,

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sogen fie gleich wieder an den Leib und ließen dabei ihre Muͤtzen fallen.

Raiſki machte eine leichte Verbeugung, die für die ganze Geſellſchaft berechnet war, und fette fich dann ohne weiteres neben die Sroßtante auf den Diwan. Eine allgemeine Bewegung entftand.

„Da, wie er fich hingepatzt hat!” flüfterte einer der jungen Beamten feinem Nachbar zu. „Und wie ihn Seine Er; zellen; angucken ...!“

„Da iſt Nil Andreltſch,“ ſagte die Großtante „er wuͤnſcht dich ſchon lange kennen zu lernen... Vergiß nicht, daß er Erzellenz iſt!“ fügte fie fluͤſernd Hinzu,

„Wer ift denn die junge Dame dort?” fragte Raiſki leiſe die Sroßtante, „Was für prächtige Zähne fie hat, und was für einen üppigen Bufen .. .“

„Pfui, ſchaͤme dich, Boris Pawlytſch! Du bringft mich in Verlegenheit!“ flüfterte Tatjana Markowna. „Mein Neffe wollte laͤngſt Ihre Bekanntfchaft machen, Ni Andreltſch..“ wandte fie fih dann an biefen,

Maiffi öffnete den Mund, um irgend etwas einzuwenden, doch Tatjana Markowna trat ihm auf ben Fuß. „Warum haben Sie mir altem Manne noch nicht dag Vergnügen Ihres Befuches gemacht?” verfegte Nil Ans dreltfch gutmütig. „ch freue mich immer, wenn brave Menfchen mich befuchen. ’8 tft freilich langweilig, mit ung Alten zu verkehren, das junge Volt von heute liebt ung nicht, was? Sie find wohl auch fo einer von ben Neuen, fagen Sie’8 nur offen!”

„Ich teile die Menfchen nicht in alte und neue ein,” ſagte Raiſki, während er fih ein Stud Paftete auf ben Teller legte, „So warte boch mit dem Eſſen, fprich erft mit Ihm!” flüfterte die Großtante ihm zu.

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„Ich kann doch ſprechen und dabei eſſen,“ antwortete Raiſki laut.

Die Großtante wurde verlegen und wandte ſich aͤrgerlich von ihm ab.

„Stoͤren Sie ihn nicht, Muͤtterchen,“ ſagte Nil Andrejewitſch „die Jugend ſoll ihr Recht haben! Wie beurteilen Sie alſo die Menſchen, lieber Freund ?“ wandte er ſich an Raiſki. „Ich bin wirklich neugierig!”

„Ich beurteile fie nah dem Eindruck, den fie auf mid machen.”

„Seht Iobenswert! Diefe Aufrichtigkeit gefällt mir. Nun,

welchen Eindrud mache ich beifpielsmweife auf Sie?” „Bor Ihnen fürchte ich mich.”

Nil Andrejewitſch Tächelte zufrieden.

„Warum denn, wenn ih fragen barft Sprechen Sie ſich

ganz offen aus!“ ſagte er.

„Warum ich mich vor Ihnen fürchte? Ja, ſehen Sie...“

„Nenne Ihn doch Exzellenz!“ raunte die Großtante Ihm zu,

doch Raiſki hörte nicht auf fie.

„Man fagt, daß Sie gern allen Leuten ben Tert leſen,“

verfeßte er. „So follen Sie einem jungen Manne gehörig

den Kopf gewaſchen haben, weil er nicht in der Sonntags;

meffe war bie Großtante hat mir's erzählt. . .”

Tatjana Markowna war gang außer fih. Sie nahm fogar ihre Haube ab und legte fie neben fih, fo heiß war ihr plößlich geworden.

„Was redeft du da, Boris Pawlytſch? Warum ziehſt du mich hinein ?” fiel fie ihm ind Wort.

„Laſſen Sie ihn nur, Mütterchen, mag er ruhig fprechen ! Ganz recht, daß Sie es ihm gefagt haben, ich liebe eg, wenn man von mir die Wahrheit fpricht!”" bemerkte Nil Andreltſch.

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Doch die Großtante war nicht fo leicht zu beruhigen, fie bedauerte es ſchon, die Säfte eingeladen zu haben.

„Das ſtimmt fchon, daß ich den Leuten gern ben Tert leſe erinnerft du dich noch?” fagfe Nil Andreltſch, nach der Richtung hingewandt, in der die jungen Beamten fich durcheinander drängten. |

„Freilich erinnere ich mich, Exzellenz!“ gab rafch der eine von ihnen zur Antwort, während er feinen Fuß vorftellte und die Hände auf den Rüden legte. „Sch Hab’ auch mal mein Teil abbefommen . . .”

„om und wofür?”

„Weil ich mich zu bunt Hleidete.. .”

„Sans recht: eines Sonntags nah der Mefle machte er bei mir einen Beſuch, was ich ja fehr fhön fand aber flatt des Frads hatte er ſolch ein Roͤckchen angezogen, einen richtigen Lappen ...“

„Wohl fo, wie ich es trage?” fragte Raiſki.

„Sa, beinahe fo, und dazu gewürfelte Pantalons, und eine geftreifte Weſte ber reine Yansnarr !”

„And du haft du auch mal was von mir gu hören be; kommen?“ wandte er fich an einen zweiten jungen Mann. „Auch ich befam meine Strafprebigt, Exzellenz,“ antwortete diefer, fich befcheiden verneigend und mit ber Hand feinen Scheitel glättend.

„Warum hab’ ich Dich getadelt?”

„Wegen meines lieben Papas...” „Sehe rihtig er ließ fih namlich beikommen, über feinen eignen Vater herzuziehen. Der Alte hat einen Heinen Behler, er trinkt. Und der Herr Sohn nimmt fih heraus, ihm, feinem Vater, deshalb Vorwürfe zu machen und ihm das Geld wegzunehmen! Da hab’ ich mir ihn gang gehörig gekauft! Na, und fragen Gie

LH 22 IH

bie ungen Leute einmal, ob fie mir nicht dafuͤr dankbar find 12“

Die Beamten waren von biefer Belobigung ganz entzädt und beledten fih danach förmlich die Lippen.

„Ich frage euch: hat's euch gut getan oder nicht? Da hört man immer foldhe Redensarten, wie zum Beifpiel: ‚Das Alte taugt nichts, und bie alten Kerle find dumm, und es tft Zeit, ihnen den Mund gu flopfen‘,” fuhr Tytſchkow fort. „Wenn man biefen Herrchen den Willen ließe, wuͤrden fie uns am liebften bei lebendigem Leibe begraben und fi ſelbſt auf unfern Plag ſetzen das iſt der Zug ber Zeit! Es gibt da ein franzgöfifches Sprichwort, wie heißt es doch gleich, Natalia Iwanowna?“ wandte er fih an eine ber Damen.

„‚Öte-toi de lä, pour que je m’y mette...“ fagte dieſe. „Na ja alfa: dag iſt's, was fie gern möchten, biefe ſchlauen Leute in den kurzen Rödchen! Wie heißen doch biefe Roͤck⸗ hen auf franzoͤſiſch, Natalia Iwanowna?“ fragte er aber; mals die Dame, während er Raickis Jackett mufterte. „Ich weiß es nicht,” Tautete die verſchaͤmte Antwort. „O, du weißt e8 ſchon, Mütterchen,” verfegte Nil Andreltſch und drohte Ihr fchalkhaft mit dem Finger „aber bu willft eg hier nicht fo vor allen Leuten fagen, weil’8 nicht ganz anftandig klingt. Nun, dafür lobe Ich dich!“ Und zu Naiffi gewandt, fuhr er fort: „Sehen Sie alfo: wenn ih an einem jungen Menfchen fo was bemerfe, wenn ich Redensarten höre, wie zum Beiſpiel: Ich Bin ſelbſt ſchlau genug, ich Brauche niemand um Nat zu fragen‘ dann nehme ich mir den Betreffenden eben gang gründlich vor und wafche ihm den Kopf, ob's ihm gefällt oder nicht!” „Es führt auch zu nichts Gutem, dieſes neue Wefen,“ bemerfte ber Gutsbeſitzer. „Da iſt zum Beifpiel ber ungas

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rifhe und der polnifhe Aufftand: was foll der?! Das kommt alles von biefen neuen Grundfägen !”

„Meinen Sie?” fragte Raifki.

„Ja, ich bin diefer Meinung doch möchte Ich gern hören, wie Sie darüber denken...” verfeßte der Gutsbeſitzer, während er näher an Naftt heranrüdte. „Unſereins figt fein Leben lang auf dem Dorfe und weiß nicht, was in der Melt vorgeht, um fo mehr freut man fih, einmal einen gebildeten Menfchen zu hören...”

Raiſki machte ihm eine ironiſche Verbeugung.

„Da lieſt man in der Zeitung, wie geftern zum Beifpiel, daß der König von Schweden die Stadt Ehriftiania befucht hat ja, aus welhem Grunde denn? Davon erfährt man nichts!”

„Intereſſiert Sie denn das fo fehr?”

„Barum fchreibt man erft in ber Zeitung darüber, wenn der König feinen befonderen Grund hatte, Ehriftiania zu beſuchen ...“

„Iſt nicht vielleicht in der Stadt eine große Feuersbrunſt geweſen? Steht davon nichts drin?“ fragte Raiſki. Iwan Petrowitſch, der Gutsbeſitzer, machte große Augen. „Nein, von einer Feuersbrunſt wurde nichts geſchrieben, es ſtand da nur, daß Seine Majeſtaͤt die Volksverſammlung beſucht haben.“

Tit Nikonytſch und der eine der Gerichtsraͤte ſahen ein⸗ ander laͤchelnd an, verhielten ſich jedoch ſchweigend. „Noch eins wollte ich fragen,“ begann der Gutsbeſitzer von neuem. „Jetzt iſt doch in Frankreich wieder ein Napoleon Kaiſer geworden...“

„Ganz recht und was weiter?“

„Ra, der hat ſich doch mit Gewalt des Kaiſerthrones bes mädtigt ...“

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„Wiefo mit Gewalt? Dan bat ihn doch zum Kaifer ge; wählt...”

„Was waren bad aber für Wahlen! Es heißt doch, man habe Soldaten geſchickt, die die Mähler mit Gewalt heran; ſchleppten, man babe die Stimmen gefauft... Ich Bitte Sie, was für Wahlen find denn das: da lachen ja bie Hühner!”

„Und wenn auch ein bißchen Gewalt dabei war was ſoll man ſchließlich mit ihm machen?” fragte Raiſki, den dieſer Dorfpolitifer intereffierte, neugierig.

„Wie innen denn dag die andern Fürften dulden? Warum jagen fie ihn nicht mit Waffengewalt fort?”

„Verſuch's doch mal!” fiel ihm Nil Andreltſch ins Wort „wie follen fie denn dag anfangen ?“

„Sie follen eine Armee aufftellen, aus jedem Staate ein paar Regimenter, und follen gegen ihn ziehen, wie gegen den verftorbenen Bonaparte... Damals befand bie Hei⸗ lige Alliance ...“

„Sie ſollten einen Feldzugsplan entwerfen,“ bemerkte Raiſki „vielleicht würde man ihn annehmen ...“ „Gott bewahre!“ verſetzte der Gaſt beſcheiden. „Ich rede nur fo, aus Wißbegierde ... Dann wollte ih Sie noch eins fragen..." fuhr er, zu Raiffi gewandt, fort, „Warum gerade mich?”

„Run, Sie haben doc in ber Kefidenz gelebt, dort waren Sie fogufagen an der Quelle... nicht fo, wie wir hier auf bem Lande... Ich wollte alfo fragen: die Türken haben doch von jeher die Chriften unterdrüdt, haben fie mit Feuer und Schwert ausgerottet, haben ihre Frauen .. .” „He, du, Iwan Petrowitſch, huͤte deine Zunge, daß du nicht et⸗ was Unpaſſendes fagft ...! Sieh nur, wie Naſtaſſja Petrowna erroͤtet iſt ..“ mifchte ſich Nil Andreltſch ing Geſpraͤch.

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„Was reben Exzellenz nur wieder. ..! Warum follte ich denn errdten? Ach Habe nicht einmal gehört, wovon ges fprochen wurde ...“ verfegte die eine der Damen in fedem Tone, während fie kokett ihren Schal zurecht zupfte. „Kleine Schelmin!” fagte NH Andreitfh und drohte ihr mit dem Finger, worauf er fih an den Geiftlichen wandte: „Sat fie fih nicht in der Beichte beflagt, Väterchen, daß ihr Mann ...“

„Ach, was reden Sie nur alles zuſammen, Exzellenz!“ unterbrach die Dame ihn haflig.

„Bah, ſchon gut, fhon gut...! Alfo, mein lieber Iwan Petrowitſch: was haben die Türken den Chriftenfrauen ans getan? Was haft du darüber gelefen? Naſtaſſja Petrowna möchte e8 gar zu gern willen. Sieh dich nur vor, Naſtaſſja Petrowna, daß du nicht fchließlich felbft in die Türkei ausruͤckſt!“ |

Iwan Petrowitſch hatte mit -Ungebuld gewartet, daß Nil Andreiefh endlich mit feinen Späßen aufhören möchte, - und wandte ſich nun wieder an Raiffi, dem er feine Fragen jedesmal wie eine Piftole auf die Bruſt ſetzte.

„Ich wollte Sie alfo fragen, warum man eigentlich bie Türken nicht zur Vernunft bringt... .?“

„Weil die Weiber auf feiten der Türken ſind,“ fuhr Ni Andreitfch fort zu ſcherzen. „Diefe da zum Beifpiel ift die erſte ...“

Er zeigte nach derſelben Dame, die er vorher bereits einer Anrede gewuͤrdigt hatte.

„Ad, Tatjana Markowna... warum haben Exzellenz es heute gerade auf mich abgeſehen ...?“

Sie tat, als fei fie im hoͤchſten Maße verlegen.

„Ich wollte Sie alfo fragen, warum eigentlich nicht alle Mächte fih aufraffen und gegen die Türken ziehen,” wandte

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fih Iwan Petrowitſch in feiner hartnädigen Welle an Raiſki „warum fie zum Beifpiel nicht das Grab des Heilands ihrer Gewalt entreißen ?”

„IH habe, offen geftanden, nicht Kiefer baräber nach⸗ gebacht,” fagte Raiſki, „Doch will ih dee Sache jetzt meine befondere Aufmerkfamfeit zuwenden, und wenn Sie mid darüber genauer Informieren wollten, wäre ich nicht abs geneigt, mich an ber Löfung der orientalifhen Frage zu beteiligen . . .”

„Isa, fagen Ste,” fiel der Saft Ihm lebhaft ind Wort „Sie fagten foeben: ‚orientalifhe Frage‘, und ich leſe bag Mort fo häufig in der Zeitung: was verfteht man eigentlich unter dieſer orientalifhen Frage?”

„Das, was Sie foeben von den Türken fagten weiter nichts ...“

„So, fo...” ſagte ber Gutsbeſitzer nachdenklich. „Aber dag iſt doch eigentlich gar keine Frage!“

„Jetzt gibt es alle moͤglichen Fragen,“ bemerkte der voll⸗ bluͤtige Oberſt mit heiſerer Stimme. „So habe Ich neulich aus Petersburg von unferem Negimentsadiutanten einen Brief erhalten, in dem er fohreibt, daß man fich jet fehr lebhaft mit der ‚Frage‘ der Uniformänderung in ber Armee beſchaͤftige ...“

Die Gaͤſte ſchwiegen.

„Da iſt zum Beiſpiel Irland!“ begann Iwan Petrowitſch mit neuem Anlauf, nachdem er in der kurzen Redepauſe friſche Kraͤfte geſammelt hatte. „Es heißt, es ſei ein armes Land, die Einwohner haͤtten keine andere Nahrung als Kartoffeln, und auch die mißrieten nicht ſelten ...“ „Nun, alfo wag ?“

„Ra, Irland iſt doch unter ber Botmaͤßigkeit Englands, und England ift doch ein reiches Land: folche Gutshefiger,

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wie dort, gibt es fonft nirgends In der Well. Warum nimmt man nun nicht aus England, fagen wir: die Hälfte allen Getreides und allen Viehes, um damit Srland zu unterftügen ?”

„Was fallt dir ein, mein Leber du predisft ja den Aufſtand!“ rief Nil Andreiefch plöglich dazwiſchen.

„Was für einen Aufftand, Erzellens?... Sch frage doch nur aus Wißbegierde!“

„Was würdeft du fagen, wenn in Wiatla und Perm Hungersnot ausbrähe und du die Hälfte deines Getreideg dorthin abgeben ſollteſt ha?”

„Das iſt Doch ausgefchloffen! Bei ung liegen doch die Dinge ganz anders...”

„Wenn deine Bauern dich fo hörten, was wäre bie Folge?” fuhr Nil Andreltſch in ernfihaften Tone fort:

„Davor möge mich Gott bewahren !” fagte ber Gutsbeſitzer. „Mm des Himmels willen!” ſprach auch Tatjana Mars kowna.

„Schon jetzt ſpitzen ſie die Ohren, obgleich ſie noch nichts weiter wiſſen,“ fuhr Nil Andreltſch fort.

„Was denn? Was iſt denn paſſiert?“ fragte die Bereſch⸗ kowa ganz erſchrocken.

„Na, von der Aufhebung der Leibeigenſchaft reden ſie. Man hat dem Gouverneur gemeldet, daß auf Mamyſcht⸗ ſchews Gute Unruhen ausgebrochen find...“

„Bott befhäge ung!” riefen abermals fowohl ber Guts⸗ befiger wie Tatjana Markowna.

„Exzellenz haben vollkommen recht!” bemerkte ber Guts⸗ befiger. „Man foll’8 nur verfuchen, Ihnen bie Freiheit zu geben dann geht's gleich in die Schenke und zur Balas laika: trinken fih voll und trotten an einem vorKber, ohne auch nur die Muͤtze vom Kopfe zu ziehen.”

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„Die Sache gebt übrigens gar nicht von den Bauern aus,” verfegte Nil Andreltſch mit einem GSeitenblid auf Raiſki. „Das Übel ift vielmehr überall verbreitet, wie eine Epi⸗ demie. Zuerft hört folch ein Buͤrſchchen auf, bie Nachtmeffe zu befuchen: das ift fo langweilig, fagt er; dann findet er es uͤberfluͤſſig, dem Vorgefegten am Feiertag feine Aufs wartung zu machen, er fei fein Bedienter, fagt er; dann erfcheint er in einem unpaffenden Anzug sum Dienfte und laßt fih den Bart wachen” wiederum folgte ein Seitens blid auf Raifi „ufw. uſw., und fohließlich erklaͤrt er, wenn man ihn gewähren läßt, ed gebe feinen Gott im Himmel, und es habe feinen Zweck zu beten!.. .”

Eine allgemeine Bewegung ging durch die Gefellfchaft. „a, ja, fo iſt's! Da hatte mein Gutsnachbar einen Haug; lehrer, der kam fogar direkt vom Priefterfeminar !” erzählte ber Gutsbeſitzer, zu dem Geiftlihen gewandt. „Anfangs ging alles ganz fill und friedlich zu: gang Im Fluͤſterton brachte er den Alteren Kindern dies und jenes bei big eines Tages das eine Mädchen ber Mutter fagte: ‚Es gibt feinen Gott, Nikita Sergjeltfch hat e8 von jemand gehört.‘ Man nahm ihn fogleih ins Gebet: was foll das heißen es gibt feinen Gott? Der Vater der Kinder fuhr zum Bifchof, e8 gab eine große Unterfuchung im Seminar... .” „3a, ih erinnere mich,” fagte ber Geiftlihe. „Man fand verbotene Bücher...”

„Run, fehen Sie!”

„Sagen Ste doch, bitte,” wandte fih Iwan Petrowitſch wieder an Naiffi „wie kommt es nur, daß die Voͤlker fih empären ?”

„Welche Völker?”

„Ra, zum Beifpiel die Indier! Das find doch lauter heids nifhe Schufte, gar Feine Chriften: Lumpenpad, das nadt

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herumlaͤuft, und unverbefferlihe Saͤufer! Und dabei foll dag Land reich fein, die Ananaſſe wachſen dort fo maffenhaft wie bei ung bie Surfen... Was wollen fie noch mehr?” Raiſki fchwieg. Das Gefühl der Langenweile begann Aber ihn zu kommen.

„Was für ein abfcheuliches Lafter ift fie doch in Wahrheit, biefe vielgerähmte flawifche Tugend ber Gaſtfreiheit!“ Dachte er. „Was für Mißgeburten hat fih die gute Groß⸗ tante bier auf den Hals geladen I”

Auch die übrigen ſchwiegen, das reichliche Fruͤhſtuͤck hemmte ihre Sprechluſt. Iwan Petrowitſch teug ganz allein die Koften der Unterhaltung.

„Jetzt hat man den Ehinefen den Amur weggenommen,” begann er von neuem; „auch ein reiches Land! Wir werben jegt unfern eigenen Tee haben, brauchen feinen mehr vom Ausland zu kaufen das ift fehr angenehm und vorteil; haft! ...“

„Du kuͤmmerſt dich auch um alles moͤgliche, Iwan Petro⸗ witſch!“ ſagte Tytſchkow mit leichtem Tadel.

„Ich rede doch nur aus Wißbegierde, weil eben der Herr in der Reſidenz gelebt hat... Neulich lag ich auch in ber Zeitung, daß der Papft.. .”

In diefem Augenblick ftärzte vom Saal her Paulina Kar⸗ powna geräufhnoll ins Zimmer, im Muſſelinkleide, mit weiten Armeln, die ihre vollen weißen Arme faft big an die Schultern hinauf fehen Tießen. Hinter ihe ber ſchritt Michel, der Kadett.

„Eine entfegliche Hige! Bonjour, bonjour!“ fagte fie, ſich nach allen Seiten hin verneigend, und feßte fih neben Raiſki auf den Diwan.

„Es wird ung hier etwag eng werden,” meinte Raiſki und nahm auf einem Stuhle nebenan Platz.

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„Non, non, ne vous derangez pas,‘ fprach fie, während fie ihn feftguhalten fuchte. „Wie langweilig !” fuhr fie dann flüfternd fort. „Sie haben dag Haus voll Säfte, und Ich möchte Sie fo gern unter vier Augen fprechen I”

„Warum ?” fragte er laut. „Haben Sie irgendein Ans liegen ?”

„Allerdings!“ entgegnete fie, immer noch fläfternd, mit einem geheimnisoollen Lächeln.

„Bas tfl’8 denn?”

„Nun, das Porträt...”

„Das Porträt? Was für ein Porträt?”

„Mein Porträt! Sie haben doch verfpeochen, mich zu malen willen Ste das nicht mehr? Undankbarer!“ „Ah, Daltla Karpowna!“ rief Nil Andreltſch gedehnt „ſeien Sie willkommen! Wie geht's Ihnen?“

„Ich danke,“ ſagte ſie trocken, ohne ihn anzuſehen. „Warum begluͤcken Sie mich nicht mit einem holden Blicke? Wenden Sie ſich doch zu mir herum, laſſen Sie mich Ihren Schwanenhals bewundern ...“

In der Gruppe an der Tuͤr ließ ſich ein Lachen vernehmen, und auch die Damen laͤchelten.

„Der Grobian: er wird gleich irgendeine Gemeinheit vor⸗ bringen !” flüfterte Paulins Karpowna Raiſki gu.

„Denk nicht gering von dem Alten, er Fönnte darauf ver; - fallen, die einen Heiratsantrag gu machen! Dber gefällt er die nicht ... iſt er die nicht mehr jung genug? Er kann dich zur Generalin machen!”

„Ich fehne mich nicht nach diefer Ehre...” entgegnete fie, ohne ihn anzufehen. „Bonjour, Natalia Iwanowna wo haben Sie Ahr reigendes Huͤtchen gekauft: bei Madame Pichet?“ |

„Dein Dann bat ed aus Moskau kommen laſſen,“ fagte

CH gr Cl

Natalia Iwanowna mit einem fehüchternen Blide auf Raiſki „es follte eine Überrafchung fein... .”

„Sehe, fehr niedlich !” „Uber fo ſehen Sie mich doch endlich an: ich habe wirllich die Abſicht, mich um Ihre Hand zu bewerben!“ ſetzte Nil Andreltſch ihr von neuem gu. „Sch brauche eine Frau im Haufe, ein befcheibenes Frauchen, das nicht kokett iſt, nicht verwöhnt, nicht putzſuͤchtig. .. dag feinen andern Mann anfieht als nur mich allein... Nun, und in diefer Hinz ficht ftehen Ste doch in unferer Stadt als ein Mufter da...“ Paulina Karpowna tat, als höre fie ihn nichts fie bewegte ihren Fächer hin und her und fuchte Raiſki in eine Unters haltung zu sieben.

„Ste geben doch allen unfern Müttern und Töchtern ein gute Beifpiel,” fuhe Nil Andreltſch unbarmherzig fort. „Sie knien fo fromm in der Kirche, verwenden feinen Blick von den Heiligenbildern, fehen fich nicht um, haben feine Augen für die jungen Leute...” Das Lachen an ber Tür wurbe lauter, und bie Damen verzogen Ihre Gefichter, um ihr Lächeln gu verbergen. Tatjana Markowna fuchte die Attacke des Alten von ihrem Gaſte abzulenken.

„Ellen Sie doch von der Paftete, Paulina Karpowna ih werde Ahnen etwas auftun,” ſagte fie.

„Merci, merci, ih muß danken Ich habe foeben erfi gefruͤhſtuͤckt!“

Auch das Half nicht Nil Andoͤreltſch erneuerte immer wieder den Angriff auf ſein Opfer. „Sie kleiden ſich wie eine Nonne, Schultern und Arme huͤllen Sie huͤbſch ein... Überhaupt betragen Sie ſich ganz ſo, wie es Ihrem I: Alter geziemt,“ fagte er.

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„Warum fegen Sie mir denn heute fo gu?” ſprach Paulina Karpowna „est-il bete, grossier?‘ fügte fie, gu Raiſki gewandt, hinzu.

„Sa, ja, parlez-vous francais... .” unterbrach fie Tytſchkow. „Ich will Sie heiraten, meine Gnädige, darum feße ich Ihnen fo gu: wir beide paffen doch prächtig zueinander!” „Ich verzichte auf die Ehre, zu Ihnen zu paſſen!“ verfeßte die Krizkaja, ohne ihn anzufehen.

„Gewiß paflen Ste zu mir, erlauben Sie einmal: ich war noch Kollegienaffeffor, al8 Sie ben verftorbenen Iwan Je⸗ gorytſch heirateten. Das find jetzt ... wieviel Jahre ſind's doch gleich?“

„Wie heiß es iſt on étouffe ici: allons au jardin! Reichen Sie mir die Mantille, Michel!...“ wandte ſie ſich an den Kadetten.

Sn dieſem Augenblick trat Wjera ind Zimmer.

Alle erhoben fih und umringten fie, und das Geſpraͤch nahm eine andere ‚Wendung Raiſki war aller diefer Menſchen, zumal nach den legten Szenen, bereitd über; dräffig geworden und wollte fih fchon entfernen, doch bei Mieras Eintritt loderte plöglich bag Gefühl der „Freund; ſchaft“ für fie fo heftig in ihm auf, daß er wie feftgenagelt auf feinem Stuhle fißen blieb.

Miera überfchaute mit flüchtigem Blide die Gefellfchaft, wechfelte mit dem einen und andern der Anwefenden ein paar Worte, drüdte den jungen Mädchen, die ihr Kleid und ihre Srifur mit Aufmerkſamkeit mufterten, die Hand, lächelte ben Damen mit gleichgältiger Freundlichkeit gu und nahm dann auf einem Stuhle neben dem Kamine Pla. Die jungen Beamten zupften an Ihren Röden herum, Ni Andreltſch ſchmatzte wohlgefällig mit ben Lippen, und bie jungen Mädchen verwandten fein Auge von Miera.

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Marſinka kam gar nicht sum Sitzen: bald ſchenkte fie jemandem ein Glas Wein ein, bald bot fie Erfrifchungen an oder bemühte fich, ihre Freundinnen gu unterhalten. „Wera Waſſiljewna!“ begann Ni Andreltſch „nehmen Sie fih meiner an, mein ſchoͤnes Kind!”

„Hat man Ste gefräntt?”

„Sewiß hat man das! Dalila... oder vielmehr Pelageja Karpomwna hat mich gekraͤnkt ...“

„Impertinent!“ flüfterte die Krizkaja empört, erhob fich vom Plage und ging nach ber Tür gu.

„Wohin, Paulina Karpowna? Wollen Sie denn gar nicht von der Paftete koſten? Marfinka, halt fie doch zuruͤck! Paulina Karpowna!“ rief Tatjana Markowna.

„Nein, nein, Tatjana Markowna: ich bin immer gern zu Ihnen gekommen, und ich bin Ihnen ſo dankbar,“ ſagte die Krizkaja bereits vom Saal aus „doch mit dieſem Grobian will ich nicht zuſammen ſein, weder bei Ihnen noch ſonſtwo... Wenn mein Mann noch lebte, würde er es nicht gewagt haben...”

„Seien Sie dem Alten nicht böfe, er meint es nicht ſchlimm, er ift fonft ein fo ehrenwerter Menfch . . +“

„Rein, nein, laffen Sie mid, bitte ich komme ein ander; mal, wenn er nicht ba iſt ...“

Tief gekraͤnkt, mit Tränen in den Augen, fuhr fie bavon. Die andern blieben in heiterer Stimmung zuruͤck, und Ni Andreitfch konnte aus ihrem Lachen mit Genugtuung den Schluß ziehen, daß man fein Verhalten Billigte. Nur Raiſki und Wiera achten nicht. Einen fo komifchen Eins dend auch Paulina Karpowna auf Raiſki machte, bie groben Sitten biefer Leute und zumal ber Ausfall des Alten empoͤrten ihn. Er faß in duͤſterem Schweigen ba und bewegte nervoͤs die Fußſpitze. |

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„Ra, tft fie fort? Sie Hat fih wohl beleidigt gefühlt?“ begann Ni Andreltſch, ald Tatjana Markowna, offenbar erregt über das Vorgefallene, zuruͤckkam und fi wieder ſchweigend auf ihren Plag begab.

„Tut nichts, mag fie’d heeunterfchluden!” fuhr der Alte fort. „Was braucht fie bier halb nadt vor aller Welt herumsulaufen: bier iſt doch keine Badeanſtalt!“

Die Damen fenktten die Augen, und bie jungen Mädchen erröteten heftig und druͤckten ſich gegenfeitig die Hänbe. „Bas braucht fie in der Kirche fih nach allen Seiten ums sufehen und bie jungen Leute an fich zu ziehen?... Auch du, Iwan Iwangytſch, kamſt ja kaum noch von ihre fort. Mie ſteht's denn: gehft du immer noch bin?” fragte er einen ber jungen Leute in firengem Tone. | „Ich hab“s laͤngſt aufgegeben, Exzellenz: es paßte mir nicht, ihr ewig Komplimente zu machen.“ |

„Ss, fo du haft es aufgegeben! Was für ein fchlechtes Beiſpiel iſt das für unfere jungen Frauen und Mädchen ! Sie tft laͤngſt über vierzig, und geht noch immer in Roſa gekleidet, mit lauter Bändchen und Schleifen... Wie foll man ihre da nicht den Tert lefen? Sie fehen,” wandte er fih an Ratfi „ih bin nur dem Lafter furchtbar und dabei fagten Sie, Sie fürchteten fih vor mir! Man muß Ihnen ja wahre Mordgefchichten von mir erzählt haben wer war’8 denn, dee mich Ihnen fo fehilderte ?” „Wer es war? Mark war e8,” fagte Raiſki.

Eine allgemeine Bewegung entfiand einige der An⸗ wefenden befiel fogar ein Zittern.

„Was für ein Mark?” fragte Tyrfchkow, die Brauen runs zelnd.

„Mark Wolochow ... der hier unter Polizeiaufſicht lebt.“ „Dieſer Raͤuber? Sind Sie denn mit ihm bekannt?“

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„Wir find Freunde.”

„Freunde?“ rief der Alte gan verblufft und ließ einen Pfiff Hören. „Tatjana Markowna, was muß ich da vers nehmen ?”

„Slauben Sie ihm nicht, Nil Andreltſch: er weiß felbft nicht, was er ſpricht!...“ verfegte die Großtante. „Wie kannſt du den Menfchen nur deinen Freund nennen?” „Wie denn, Tanthen? Hat er nicht bei mir zu Abend gegeffen und übernachtet? Haben Sie nicht felbft anges ordnet, man folle ihm ein vecht weiches Lager zurecht machen ?...”

„Boris Pawlytſch, erbarme dich, ſchweig!“ flüfterte die Großtante zornig.

Doch es war ſchon zu ſpaͤt: Tytſchkow ſah Tatjana Mar⸗ kowna mit hoͤchſt entruͤſteten Augen an. Die Damen be⸗ trachteten ſie mit Mitleid, die Herren ſtanden mit offenem Munde da, und die jungen Maͤdchen drängten ſich ganz dicht zuſammen.

Um Wierag Kinn aber zuckte und zitterte ein Lächeln, Sie. mufterte mit fihtlihem Vergnügen die ganze Gefellfchaft und warf Raiffi einen freundfchaftlich danfbaren Blick zu, als Entgelt für diefen Genuß, den er ihr gang unverhofft bereitete. Marfinka verfiedte fih, fo gut es ging, hinter der Großtante.

„Was muß ich Hören!” rief Nil Andreltſch mit dem Nuss deud des hoͤchſten Erſtaunens. „Sie haben wirklich diefem Barrabas den Zutritt zu ihrem Haufe gewährt?”

„Nicht ich habe es getan, Ni Andreltſch, fondern Bors juſchka hat ihn zur Nachtzeit hierher mitgebracht. Sch wußte gar nicht, wen er in feinem Zimmer beherbergte.” „Sie treiben fih alfo zur Nachtzeit mit ihm herum?” wandte Tytſchkow fih nun an Raiſki. „Willen Sie denn

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auch, daß er ein hoͤchſt gefaͤhrlicher Menſch If, ein Feind der Regierung, ein Abtränniger, ber von Kirche und Bes ſellſchaft nichts willen will?”

„Enifeglich !” riefen einige ber Damen.

„Und der hat Ihnen alfo meine Perfon geſchildert ?“ fragte Nil Andreltſch.

„Allerdings ...“

„Er bat Ihnen wohl erzählt, ich ſei ein wildes Tier, ein Ungeheuer, das die Menſchen frißt?.. *

Das nicht gerade aber das ſich aus irgendeinem Grunde berausnimmt, ſie zu beleidigen.”

„And Sie haben ihm geglaubt?”

„Bis zum heutigen Tage nicht ...“

„Und heute?“

„Heute glaube ichs.“

Staunen und Schred bemaͤchtigten ſich ber Anweſenden. Einige der Beamten ſchlichen ſich leiſe nach dem Saal und horchten von dort her, was weiter geſchehen wuͤrde.

„G, ſieh doch!” ſprach Tytſchkow, verbluͤfft und hochfahrend zugleich, und zog die Brauen zuſammen. „Und warum glauben Sie es?“

„Weil ich ſoeben ſelbſt Zeuge war, wie Sie eine Stau bes leidigt haben.”

„Hören Sie, was er fagt, Tatjana Markowna?“ „Borjuſchka! Boris Pawlytſch!“ ſuchte die Großtante Raiſti gu beſchwichtigen.

„Diefe alte Kokette, dieſe Verfuͤhrerin, dieſe windige Per⸗ ſon!...“ fuhr Nil Andreltſch heraus. | „Was geht fie Ste an? Wer gibt Ihnen ein Recht, ſich sum Nichter über fremde Schwächen aufzuwerfen?!!” „And woher nehmen Sie, junger Mann, das Recht, mir Worbaltungen zu machen? Wiſſen Sie auch, daß ich fünfr

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zig Jahre lang gedient habe und nicht ein einziger Miniſter mir auch nur die geringſte Rüge erteilt hat? ...“ „Woher ich das Recht dazu nehme? Daher, daß Sie In meinem Haufe eine Stau beleidigt haben Ih wäre ja ein ganz erbärmlicher Wicht, wenn Ich das zuließe! Gie fcheinen das nicht zu begreifen nun, um fo ſchlimmer für Sie!”

„Wenn. Ste in Ihrem Haufe eine Frau empfangen, von der bie ganze Stadt weiß, daß fie ein leichtfertiges, windiges Flittchen if, daß fie fich für ihre Jahre viel gu jugendlich Heidet, daß fie Ihre häuslichen Pflichten vers nachlaͤſſigt ...“

„Nun, was weiter?”

„Dann verbienen Sie, ebenfo wie Tatjana Markowna, daß ich Ihnen beiden ganz gehörig den Tert lefe! Ja, ia, ih trug mich laͤngſt mit diefer Abficht, Mütteren Sie dulden es, daß diefe Perfon hierher kommt ...“

„Nun, ihre Leichtfertigkeit, ihr windiges Mefen, ihre Rofetterie find doch weiter feine großen Verbrechen,” fagte Raiſki „von Ihnen dagegen weiß die ganze Stadt, daß Sie Beftehungsgelder genommen und fich damit ein Ver⸗ mögen gemacht haben, daß Ste Ihre eigne Nichte auss geplündert und ind Irrenhaus gebracht Haben und doch hat meine Großtante, habe auch ich Ihnen diefed Haus geöffnet, obwohl das was Sie auf dem Gewiſſen haben, weit ſchlimmer iſt als ein bißchen Kofetteriel Dafür follten Ste ung einmal ben Tert leſen!“

Eine unbefchreibliche Szene des Schredeng fpielte fih num ab. Die Damen fprangen auf und drängten fich in dichten Haufen nach dem Saale, ohne von der Gaftgeberin Abs ſchied zu nehmen, und hinter ihnen her flüchteten gleich jungen Laͤmmern bie Mädchen. Alles brach auf, Die Groß⸗

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tante gab Marfinka und Wiera einen Wink, fie möchten fih entfernen. Marfinka gehorchte, Wiera aber blieb.

Mil Andreltſch war ganz bleich geworben,

„Wer... wer bat bir diefe Geruͤchte mitgeteilt! Sprich! Auch diefer Raͤuber, der Mark? Ich fahre fofort zum Gouverneur! Tatjana Markowna, entweder iſt's aus mit unferer Bekanntfchaft, oder diefer Burſche da” er wies auf Raiſki „darf nie mehr Ihr Haus betreten! Sonſt forge ich dafür, daß er fowohl wit das ganze Haus, und auch Sie felbft, Innerhalb vierundzwanzig Stunden abges führt werden, dahin, wo der Pfeffer wählt...” Tytſchkow rang nah Atem und wußte in feinem Zorne felbft nicht, was er ſprach.

„Wer... wer bat Ihm das geſagt? Ich will es willen! Wert... Sefteh es!“ kam es roͤchelnd aus feiner Kehle. Tatjana Markowna hatte fih plöglich von Ihrem Platze erhoben.

„Schwat’ keinen Unftnn, Ni Andreltſch! Sieh, wie bir das Blut ins Geſicht gefchoffen if: ehe du dich verfichft, keiegft du vor lauter Bosheit einen Schlaganfall. Trint einen Schlud Waſſer! Als ob’E Gott weiß wag für ein Geheimnis wäre, was er da gefagt hat! Nun denn, wenn du es durchaus wffen w.llft: ich hab's ihm erzähle! Und es ift die Wahrheit, was ich ihm ergählt Habe!” fügte fie hingen. „Die ganze Stadt weiß es!”

. „DBte dürfen Sie, Tatjana Markowna!...“ brällte Ril

Andreltſch.

„Seit fuͤnfundſechzig Jahren heiße ich ſo, ganz recht. Nun, und was darf ich oder darf ich nicht? Dir geſchieht nur, was du verdient haſt! Immer mußt du auf alle Welt losbelfern! Du haſt in einem fremden Hauſe eine Frau beleidigt, haſt dich nicht ſo benommen, wie es ſich fuͤr

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einen Edelmann ſchickt wenn dir der Hausherr deshalb die Wahrheit fagt, fo tft das nur in der Ordnung ...“ „Wie dürfen Sie e8 wagen, mir fo zu begegnen!” brüllte Tytſchkow von neuem,

Naiffi war vorgeftürzt, um fih auf Tytſchkow gu werfen, doch die Großtante Hielt ihn mit einer fo gebieterifchen Geſte zuruͤck, daß er wie verfleinert fiehen blieb und wars tefe, was nun weiter folgen wuͤrde.

Gie richtete fih plößlich Hoch empor, feßte ihre Haube auf, widelte fi fefter in den Schal und trat dicht an Nil Ans dreltſch heran, Voll Erfiaunen blidte Raiſki auf die Großs tante. Sie war es, nicht Nil Andreltſch, die feine Auf⸗ merkſamkeit fefielte. Ste war plöglich zu fo überlegener Größe emporgewachſen, daß er felbft fih ihr gegenüber Hein vorkam. |

„Wer bift du denn?” fagte fie „ein ganz erbärmlicher Kanzlift, ein Parvenu! Und du wagſt eg, eine Frau von altem Adel angufchreien? Du vergiße dich, mein Lieber du mußt eine Lehre haben! Ich will fie dir ein für allemal erteilen, daß du daran denken follft! Du Haft vergeffen, daß du einfimals, als junger Mann, wenn du meinem Bater die Akten vom Gericht brachteft, dich in meiner Gegenwart nicht einmal zu feßen wagteft und fo manches Mal von mir ein Trinkgeld in die Hand gebrädt bekamſt. Menn du ein ehrlicher Menfch wäreft, würde dir niemand folhe Dinge vorhalten aber du haft Geld zuſammen⸗ geftohlen, mein Neffe hat nur die reine Wahrheit gefagt! Und wenn man dich hier gelitten hat, fo geſchah es nur aus Schwäche, und darum follteft du ſchweigen und jeßt, furg vor beinem Ende, Buße tun für dein ſchwarzes Sünder; leben. Doch du kennſt fein Maß, du plagt ja vor lauter Hochmut, und Hochmut iſt ein Lafter, das den Menfchen

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beteunfen macht, daß er fich ſelbſt vergißt. Wohlen, ers nächtere dich wieder, ſteh auf und verneige bich, vor bir fiebt Tatjana Markowna Bereſchkowa!! Und bier ſteht mein Großneffe, Boris Pawlytſch Raiſki, fiehft bu: hätte ich ihn nicht zuruͤckgehalten, er hätte dich bie Treppe hinunter; geworfen, aber ich will nicht, daß er ſich die Hände an bie beſchmutzt um dich aus dem Haufe zu befdrbern, dazu genügt ein Lakai! Sch babe jemanden, der für mich eins tritt geb, fuch” du die erſt einen Fürfprecher! Heda, Leute!” rief fie laut, Hatfchte in bie Hände, redte fih in ihrer ganzen Größe empor und fah mit bligenden Augen um fih. Wie fie fo daſtand, glich fie Zug um Zug einer der vornehmen Frauen Ihres Sefchlechteg, deren Bildnis da mitten unter ben übrigen Porträts an dee Wand hing. Tytſchkow fand da und ließ die blöden Augen in bie Runde gehen.

„Ich werde nad Petersburg ſchreiben. .. bie Stadt iſt in Gefahr ...“ fprach er Haftig, mit Dumpfer Stimme. Dann ging er, von ihren bligenden Augen gefolgt, mit gebüdtem Naden zur Tür hinaus und wagte nicht einmal guräds sufhauen.

Er hatte das Haus verlaffen. Tatjana Markowna ſtand noch eine ganze Weile Hoch aufgerichtet, mit gornig blitzen⸗ ben Augen dba und zog in ber Aufregung ihren Schal Hin und her. Raiſki war ans feinem Staunen erwacht und trat ſchuͤchtern auf fie gu e8 war, als erkenne er fie nicht wieder, als fehe er in ihr nicht fein gutes, liebes Tantchen, fonbern eine andere Frau, bie er bisher nicht gefannt hatte, Ä „Wie tonnten Sie von diefem Tölpel erwarten, daß er Ihre Größe erkennen und fih vor ihr beugen würde!” fagte er. „Nehmen Sie dafür meine Huldigung ents

CH} ZI CH)

gegen nicht als Tante vom Neffen, fondern als Frau vom Manne! Ich fpreche Tatjana Markowna, der beften der Frauen, meine Bewunderung aus, und Ich verneige mich vor ihrer Frauenwuͤrde!“

Er füßte ihr die Hand.

„Ih nehme beine Anerkennung gern entgegen, Boris Pawlytſch, und ich betrachte fie alg eine große Ehre. Nicht umfonft wird mir deine Anerkennung zuteil: ich habe fie verdient! Für dein tapferes Eintreten aber danke ich dir mit dieſem Kuffe, den ich bir nicht ale beine Tante gebe, fondern als Frau...”

Sie füßte Ihn auf die Wange. Und in demfelben Augen, bi fühlte er auch auf der andern Wange einen Kuß. „Und dag iſt der Dank von einer andern Frau!” fpracdh leife Wiera, die ihn gleichfalls gekuͤßt hatte und nun raſch aus dem Zimmer fehlüpfte.

„Ach!“ rief Raiſki Teidenfchaftlih, während er bie Sand nah ihr ausſtreckte.

„Wir haben ung nicht verabredet,” fagte Tatjana Mars kowna „aber wie haben dich beide verſtanden. Wir teben beide nur wenig miteinander, doch find wir einander ſehr ähnlich!” fagte Tatjana Markowna.

„Tantchen! Sie ſind eine ganz ungewoͤhnliche Frau!“ ſagte Raiſki und betrachtete fie voll Entzuͤcken, als ſaͤhe er ſie zum erſten Male.

„Und du biſt ein ganz abſcheulicher Menſch, doch dabei ein praͤchtiger Junge!“ veſetzte ſie und klopfte ihn auf die Schulter. „Nun mußt du gleich zum Gouverneur fahren und ihm alles ganz haarklein fo erzählen, wie es fich zus trug, bevor diefer Halunke ihn noch angelogen hat. Sch fahre ingwifchen gu Paulina Karpowna, um ihr eine Ents ſchuldigungsviſite gu machen.”

TTE

Drittes Kapitel

il Andrei mußte beinahe aus dem Wagen ges

hoben werden, als er zu Haufe ankam. Seine Hauss halterin rieb ihm bie Schläfen mit Eſſig, legte ihm ein Senfpflafter auf den Leib und fehimpfte gang gehörig über Tatjana Markownaͤ. Doch die Hausmittel erwiefen fih als zu ſchwach, um dem Alten feine Ruhe vollfiändig wiederzugeben. Er erwartete, daß am nächften Tage der Gouverneur bei ihm erfcheinen würde, um fih nach dem Hergang der Sache zu erkundigen und ihm fein Beileid auszudruͤcken. Er wollte ihm dann empfehlen, Raiſki als einen unruhigen Menfchen aus ber Stadt zu vermeifen und ber Bereſchkowa bie fchriftliche Verfiherung abzunehmen, daß fie nie wieder Wolochow ihr Haus betreten laffen würde. Doch es vergingen drei Tage, ohne baß der Gouverneur, oder der Vizegouverneur, oder auch nur einer der Räte ſich bei ihm fehen ließ. Selbft mit einer Befchwerbe vorzugehen, all die alten Gefchichten aufzuwuͤhlen dag hielt er aus irgendwelchen Gründen nicht für geraten. Der frähere Gouverneur, der alte Pafnutjew, ber fo ges fürchtet war, daß fich nicht einmal bie Damen vor ihm bei

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Tiſche niederzuſetzen wagten, hätte die Schuldigen ſchon wegen der Reſpektsverletzung gegenuͤber einem Manne von Rang und Wuͤrden zur Rechenſchaft gezogen. Der gegen⸗ waͤrtige Gouverneur jedoch verhielt ſich in dieſer Beziehung vollkommen gleichguͤltig. Er achtete nicht einmal darauf, wie ſeine Beamten ſich kleideten, ging ſelbſt in einem ab⸗ geſchabten alten Rocke umher und war nur darauf bedacht, daß aus ſeinem Amtsbereich keine boͤſen Nachrichten nach Petersburg gelangten.

Nil Andreltſch Tytſchkow hatte auch erwartet, daß irgend⸗ einer ſeiner fruͤheren Untergebenen, der jungen Beamten, ſich bei ihm einfinden wuͤrde: er haͤtte dann vielleicht etwas aus dem feindlichen Lager erfahren koͤnnen. Doch die jungen Herrchen ließen ſich nicht ſehen.

Er ließ ſich ſchließlich dazu herab, wie von ungefaͤhr, beim Spazierengehen, in zwei oder drei ihm bekannten Haͤuſern vorzuſprechen, doch wurde er nicht empfangen, und die Bedienten muſterten ihn mit ſeltſam neugieriger Miene. „Die Dinge ſtehen ſchlecht fuͤr mich,“ dachte er und blieb nun ganz zu Hauſe.

Am naͤchſten Sonntag ſchickte er nach dem Arzte, der auch beim Gouverneur und in Malinowka behandelte.

Der Doktor war fihrlich bemüht, ihm nicht ins Geſicht gu fehen, und wenn er es tat, fo geſchah es mit dbemfelben Ausdruck der Neugier, der Nil Andreltſch auch bei den Lakaien aufgefallen war. Er hatte e8 eilig, und als Tytſchkow ihn sum Fruͤhſtuͤck einlud, fagte er, er fei bereits bei der Bereſchkowa eingeladen, wo auch ber Gouverneur und alle andern fein würden. Er habe gefehen, daß der Bifchof fogleich nach dem Gottesdienfte zu Ihr hinfuhr, und er muͤſſe zus fehen, daß er fich nicht verfpäte. Er empfahl fich, nachdem er Nil Andreltſch Ruhe und firenge Diät verordnet hatte,

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„les geht verkehrt!” fagte Tytſchkow, fließ einen tief aus dem Innern kommenden Geufjer aus und ließ den Kopf hängen. | Er begriff, daß feine Autorität nun für immer unters graben, baß er der „legte Mohikaner“, ber leute „Seneral Tytſchkow fei.

Auch die jungen Beamten, bie noch gang kürzlich ſich bie Lippen beledt hatten, wenn Nil Andreitf ihnen ein Wort bes Lobes fpendete, waren plöglich fehend geworben, hatten die in Raiſkis tapferem Verhalten liegende „Wahrheit” erkannt und fehämten fi, daß fie fo lange vor einem falſchen Goͤtzen auf den Knien gelegen hatten. Sie alle hatten Raiſki ihre Viſite gemacht.

Diefer hatte in einer kurzen Skizze die Erfheinung Tytſch⸗ kows für den Plan feines Romans fefigehalten weshalb, wußte er eigentlich felbft nicht, da er fih nicht recht Har war, welche Rolle ein Nil Andreltſch in feinem Merfe fpielen könnte.

„Se ift mir eben fo unter bie Feder gelommen, wie Opens fin,” fagte er fich, als er die letzte Zeile feiner Skigge nieder, gefchrieben hatte,

Drei Tage lang hatte Raiffi ganz unter dem Wanne des Ereigniffes vom Sonntag geftanden. Er war ganı hin gewefen von Tatjana Markowna, der guthersigen Tante, dee gafifreien Hausfrau, die ſich plöglich in eine mutige Loͤwin verwandelt hatte.

Diefe bligenden Augen, dieſe ſtolze Haltung, der ehrliche, gerade, gefunde Sinn, der plöglich, allen Vorurteilen und teägen Gewohnheiten zum Trog, in ihre zum Durchbruch gekommen war, gingen ihm nicht aus dem Kopfe.

Er hatte feine Leinwand aufgefpannt und ihre Geftalt in einer wohlgelungenen Skitzze feftgehalten, in der Abſicht,

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dann fpäter forgfältig das Ganze auszuarbeiten, ihre folge Haltung, ihren Zorn, ihre Aberlegene Größe zum Ausdruck in bringen und feinem Gemälde einen Platz unter ben Bamilienporträts anzumelfen,

Die Liebe und Zuneigung, die er für fie empfand, war, wenn dies uͤberhaupt möglich war, noch gewachſen. Auch fie ſah ihn jest mit freunblicheren Augen an als früher, obſchon fie es nicht verhehlen konnte, daß ihre „Ausfall“, wie fie ſich ausdrüdte, fie doch innerlich noch beunruhigte und fie nicht wenig Mühe hatte, den „Widerſpruch mit fich ſelbſt“, in dem fie fih nach Raiſkis Worten befand, ſchwei⸗ gend in fih auszugleichen. Da hatte fie nun einen Menfchen viersig Jahre lang refpektiert, Hatte ihn ſtets vor allen Leuten als einen ernfien, ehrenhaften Mann gerähmt, hatte fih vor feinem Urteil gefürchtet und andere damit gefchredt und nun hatte fie plößlich biefen felben Mann sum Haufe hinausgemworfen! Ste bereute nicht, was fie getan, fie fand ihr Verhalten volllommen gerechtfertigt, aber fie machte fich doch fo ihre Gedanken darüber, daß fie vierzig Jahre lang freiwillig biefe Lüge ertragen hatte, und daß ihre Großneffe im Handumdrehen das Richtige ges teoffen hatte...

Nie würde fie ihm fagen, daß er recht hatte nein, nie⸗ mals: dazu war er doch noch zu jung, wie leicht koͤnnte er fih überheben! Doch konnte fie ihm ja ihre Anerfennung auf eine folhe Weife zu erkennen geben, daß fie felbft dabei in kein Dilemma kam und er feinen Triumph nicht zu hoch anſchlug.

Das war ber Grund, weshalb fie jetzt für ihn fo freund⸗ lie Blicke hatte und ihn im ftillen höher einfchägte als

früher, | Immer noch biieb ihr indes dieſes unbehagliche Gefühl,

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das nicht fowohl in dem Kampfe mit dem inneren Wibers ſpruche feinen Grund hatte, als gang einfach in der Tat face, daß ber Skandal in ihrem Haufe paffiert war, daß fie einem alten Manne, einem ehrenhaften ... oder nein: einem ernfthaften ... oder nein: einem ordengefchmädten alten Manne bie Tür gewiefen hatte...

Sie feufjte nun zwar über das, was gefcheben, hatte jes Doch nicht den Wunfch, ed ungefchehen gu machen wohl aber, es als etwas laͤngſt Vergangenes zu betrachten, es durch irgendein Wunder um gehn Jahre surädliegend und gänzlich vergeffen zu wiſſen.

Mas nun Raiſki betraf, fo hatte Wieras Kuß feine Seele in Aufruhr verfegt. Er war vor lauter Rührung ben Tränen nahe geweien und hatte von biefem Kuß neue, fühne Hoffnungen abgeleitet. Diefes fchlichte Ereignig, diefe unvorbereitete Szene, bei der er fi fo ehrenhaft und wader benommen, würden, fo glaubte er, ſchließlich zu bem Ziele einer Annäherung an fie führen, die er bisher unter ſolchen Mühen und mit fo geringem Erfolge ans geftrebt hatte.

Er befand fich jedoch im Irrtum dieſer Kuß führte durchs aus keine Annäherung herbei. Er war nichts weiter ale ein plögliches Auflodern der Sympathie, die Miera für fein Verhalten empfand, war ebenfo unvorbereitet und fpontan wie fein eigenes Eingreifen, ein Blis, ber aufs zuckte und verfchwand.

Wohl hatte fein tapferes Verhalten diefen Blitz ber Soms pathie hervorgerufen, aber fie hatte ja auch niemals an feinem Charakter gezweifelt, fie wollte nur nichts von jener engeren Freundfchaft willen, die er erfitebte, wollte ihm nur in ganz beſchraͤnktem Maße die Rechte des Brrunbes einräumen.

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Er hatte fein Wort ihr gegenuber gehalten: er befuchte fie nicht mehr, fah fie nur bei Tifch und verfolgte fie nicht. „Noch zwei, Drei Gefpräche mit ihr und fie ift für mid abgetan, wie es die Bjelowodowa, wie es Marfinka fchließs lich war,” fagte er fih. „Der Zauber wird, wie immer bei mir, feine Wirkung verlieren und ich kann getroft abs reifen.”

„Jegor!“ rief er „hol? doch einmal meinen Reiſekoffer vom Boden herunter! Sieh nah, ob Schloß und Riemen in Ordnung find: ich Bleibe nicht mehr lange hier.”

Im Haufe war es ftill, feit der Wette mit Marl waren bereit8 vierzehn Tage vergangen, und Boris Pawlytſch war noch immer nicht verliebt, beging noch immer feine Torheiten und Tollheiten. Tagsüber dachte er gar nicht mehr an Wiera, nur am Abend und Morgen erfchien ihre Bild, als wenn er es riefe, vor feiner Seele.

Er fuchte fih ihre gegenüber fo zu geben, als ob er gar nicht mehr an fie denke, und dag gelang ihm in der Tat. Gar zu gern hätte er in ihre auch die Erinnerung an fein früheres törichtes Benehmen getilgt.

„Sp weit wäre ich ja slüdlich gelommen: ich fchäme mich, Daß ich mich Habe hinreißen laſſen alfo iſt der Sieg nicht mehr fern!” frohlodte er insgeheim, obſchon er fih doch, nicht ohne firengen Selbſtvorwurf, fagen mußte, daß ihm feine noch fo geringe Einzelheit entging, die Wjera betraf, bag er, ohne hinzufehen, ihren Eintritt gleihfam fühlte, wenn fie ind Zimmer trat, daß er genau wußte, welche Miene fie machte, was fie jedesmal fagen würde, warum fie fchwieg.

„Das alles ift doch nur Schein, nur Schein,” fagte er fich, feine Empfindungen analpfierend „ein wirkliches Gefühl ft gar nicht vorhanden.” -

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Er malte an dem Porträt Tatjana Markownas und fchrieb an dem Entwurf gu feinem Romane, der fih Immer mehr auswuchs. Er fchilderte feine erfte Begegnung mit Wiera und den Eindrud, den fie auf ihn gemacht hatte; ald Bei⸗ werf fügte er bie Charakteriſtiken der fie umgebenden Pers fonen, eine Schilderung der Wolgalandfchaft, eine Bes ſchreibung feines Landgutes hinzu und wurde nah und nach bei der Arbeit lebendig. Der Schein, das „Phantom“ nahm allmählich greifbare Geftalt an. Das Geheimmis geiftigen Schaffens ging feinem Verftändnis auf.

Er war heiter und vergnügt, ging ein paarmal fogar mit Miera wie mit ber erften beften, liebenswuͤrdig plauberns den Dame ſpazieren und ließ ganz abfichtelos, ohne irgend⸗ einen befonderen Eindrud auf fie machen zu wollen, fein ganzes Raketenfeuer von Geift, Wis und Anekdoten vor ihr fpielen. Er fchwelgte in feinen Phantaften, erging fich in barmlofen Schergen, entwidelte in tieffinnigen Aus; einanberfegungen feine Weltanſchauung mit einem Worte: er führte ein ruhiges, angenehmes Leben, ohne irgendeine Zumutung an fie zu ftellen. Ä

Mit Vergnügen ftellte er feft, daß fie keine Furcht mehr vor ihm hatte, daß fie ihm vertraute, ihr Zimmer nicht mehr vor Ihm verfchloß, nicht mehr im Garten einer Bes gegnung mit Ihm auszuweichen fuchte, da fie ja nun wußte, daß er nach einer kurzen Begrüßung von felbft gehen würde; fie bat fih shne große Umftände Bücher von ihm aus, ja fie holte fih fogar felbft welche bei ihm, und er gab fie ihr, ohne fie zuruͤckzuhalten, ohne fich ihr alg geiftiger Mentor aufzudraͤngen. Er fragte fie auch nicht über das Geleſene aus, dagegen ſchilderte fie felbft ihm zuweilen die Eindrüde, die fie bei der Lektüre gewonnen. Sie faßen öfters nach dem Mittageffen zu zweien im Simmer ber

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SGroßtante, und Wiera empfand durchaus feine Langeweile, wenn fie ihm zuhoͤrte, ja fie lächelte fogar öfters Aber feine Scherze. Mitunter geſchah es dann, daß fie plößlich mitten im Gefpräch, oder bevor noch eine Seite gu Ende gelefen war, fih erhob und unter irgendeinem unauffälligem Vor⸗ wand fich entfernte. Niemand wußte, wohin fie ging. Nach einer, nach zwei Stunden kehrte fie gurüd, blieb auch wohl ganz weg aber was fie auch fun mochte: fragte und forſchte nicht nach.

Außer ſeiner Arbeit nahmen ihn auch einige Bekannt⸗ ſchaften in Anſpruch, die er in ber Stadt gemacht hatte. Er war öfters beim Gouverneur gu Tifh und hatte auch mit Marfinka und Wiera sufammen ein Sommerfeft bei dem Branntweinpächter mitgemacht, doch hatte deſſen Tochter, zum großen Leidweſen Tatjana Markownas, keinen befonders tiefen Eindrud auf ihn gemacht, und ale die Sroßtante ihn hierüber ausfragte, meinte er teoden, fie fei „ein Mädchen wie viele andere”,

Wiera war ihm gegenüber von einem unerſchuͤtterlichen Gleichmut: das war eine Tatſache, uͤber die er ſich nicht mehr taͤuſchen konnte, der er ſich notwendig beugen mußte. Obſchon er in ihrem Vertrauen und ihrer Freundſchaft Fortſchritte machte, blieb dieſe Freundſchaft doch noch immer ſozuſagen negativ, und ihr Vertrauen beſtand lediglich darin, daß ſie von ſeiner Seite kein unanſtaͤndiges Spio⸗ nieren mehr befuͤrchtete. Ein Laͤcheln zitterte um ihr Kinn, als er ſich mit einem Tollhaͤusler verglich, den man als geheilt entlaſſen, den man wieder allein zu laſſen wagt, in deſſen Zimmer man wieder die Fenſter oͤffnet, dem man bei Tiſch Meſſer und Gabel gibt und ſogar geſtattet, ſich ſelbſt zu raſieren deſſen Tobſuchtsanfaͤlle jedoch noch in aller Gedaͤchtnis ſind, ſo daß niemand die Garantie dafuͤr

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hbernehmen mag, daß er nicht eines fhönen Tages doch noch aus bem Fenſter fpringt oder fih die Kehle durchs ſchneidet.

Ihre Freundſchaft war noch nicht ſo weit gediehen, daß ſie ihn, als den Alteren, Erfahreneren, in irgendwelchen Dingen um Rat gefragt oder ihm anvertraut haͤtte, wofuͤr oder für wen fie ſich intereſſierte. Noch weniger natuͤrlich gab fie ihm ihre Geheimniſſe preis.

Der einzige Wunfch, den fie ihm gegenüber kategoriſch zum Ausdruck gebracht hatte, war, daß fie in ihrer Freiheit auf feine Weife befchräntt gu fein wuͤnſche, daß fie ſich ſelbſt überlaffen Bleiben wolle, daß man fie überhaupt nicht bemerken unb von ihrer Eriftenz feine Notiz nehmen folle.

„Run, biefe Bedingungen wären ja erfüllt was foll aber jeßt werben ?” fprach er bei fich felbf. „Iſt damit alles abgetan? Ach muß boch zufehen, ob ich nicht weiter gelange mit aller Vorficht natürlich .. .*

Er feste e8 durch, daß fie ihn nicht mehr Eoufin, ſondern „Bruder“ nannte, gu dem traulichen „Du“ jeboch wollte fie fih nicht verfiehen: fie meinte, daß biefes Wort ſchon an ſich zu mander Vertraulichkeit Anlaß gebe, bie der einen ober andern Seite doch unerwuͤnſcht fein könnte und den Schein einer Freundſchaft ergenge, die vielleicht nicht anf beiden Seiten vorhanden fei.

„Nun, bift du mit mir zufrieden ?” fagte er einmal nad dem Tee zu ihr, als fie allein geblieben waren.

„In welcher Hinficht ?” fragte fie, ihn neugierig anfehend. „Wie kannſt du nur fo fragen in welcher Hinſicht!“ wiederholte er erflaunt. „Mit ber Wandlung, die ich in mir vollgogen habe?” |

„Mit welher Wandlung ?”

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„ber ich Bitte dich: Ich habe an mir gearbeitet, habe alle meine Anfichten und Wünfche ganz die angepaßt, habe geſchwiegen, dich nicht bemerkt welche Mühe hat mich das gekoſtet! Und fie hat von alledem nichts gemerkt! Ich lege mir alle diefe Prüfungen auf, und fie... dag alfo ift mein Lohn!”

Ich denke, Ste haben das alles ſchon vergeffen ?” fagte fie gleichguͤltig.

„Saft du es denn ſchon vergeflen ?”

„Ja und bag ift eben Ihr Lohn...”

Er fah fie verwundert an.

„Ein ſchoͤner Lohn: fie hat alles vergeffen I”

„Mlerdingg ich Habe vergeflen, wie laͤſtig Sie mir fielen, und ich finde, daß Sie fich jest fo Benehmen, wie Sie fih von Anfang an hätten benehmen follen.” „Weiter nichts?”

„Was verlangen Sie denn noch mehr?”

„Und unfere Sreundfchaft ?”

„Das tft doch Freundſchaft! Ich bin mit Ihnen ſehr intim befreundet ...“

„Das babe ich verkehrte angefangen,” fagte er fih im fillen und tabelte fich febft darum, daß er fih von Wiera gleihfam ein Trinkgeld für fein Wohlverhalten erbitte. „Eine ſchoͤne Freundſchaft: ich Höre nicht dag Geringfte von dir, nichts ersählft du mir, nichts vertrauft du mir an ganz wie eine Fremde bift du...” verfegte er. Ich vertraue keinem Menfchen etwas an: weder Tantchen noch Marfinka...“

„Das iſt allerdings richtig. Doch Tautchen und Marfinka ſind wohl zwei recht liebe, gute Seelen, zwiſchen ihnen und Die aber gaͤhnt ein ganzer Abgrund ... wahrend ne die und mir recht viel Gemeinfames beſteht...“

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„Ach ja, ich Habe ganz vergeffen, daß ich nach Ihrer Meis nung ‚weife‘ bin,” fagte fie mit leichtem Spott.

„Du bift geiftig rege, biſt Hug, und wenn bein Herz noch nicht feine Eprache gefunden bat, fo bebt es doch fchon voll Erwartung... Ich fehe das...“

„Was fehen Sie?”

„Daß du dich verftedfi und irgendetwas verbirgfi . .. Gott mag wiffen, was!”

„Ss mag boch Gott allein um mein Geheimnis wiffen I” „Du bift ein Charakter, Wiera I”

„Iſt das ein Fehler?“

„Im Gegenteil: es iſt ein geoßer Vorzug vorausgeſetzt, daß der Charakter echt und nicht Bloß vorgefptegelt if.” Sie zuckte bie Achfeln, als Halte fie eine Antwort für uͤberfluͤſſig. „Fuͤhlſt du wirklich nicht das Bebürfnis, dich irgend jes mandem anzuvertrauen, beine Gebanten mit ihm gu teilen? Möchteft du nicht zuweilen das, was bir im Leben dunkel und rätfelhaft if, mit Hilfe fremben Verſtandes, ftember Erfahrung aufgeflärt ſehen? Es gibt doch ſo vielerlei, was für dich nen iſt ...“

„Nein, Bruder, bisher verfpäüre ich nichts von biefem Bes duͤrfnis. Falls es fich einftellen follte, werde ich mich viels leicht an Sie wenden .. .”

„Vergiß nicht, Wiera, daß bu einen Bruder, einen Freund befigft, der bereit ift, alles für dich gu tun und felbft zu bringen...“

„Warum wollen: Ste denn Dpfer bringen ?"

„Darum, weil du fo...” ‚schön biſt', hatte er forts fahren wollen, doch ein firenger Bid aus Ihrem Auge ſchnitt ihm das Wort Im Munde ab. „Darum, weil du ſo ... verftändig, fo originell bift... und weil ich eben Dpfer bringen will!” ſchloß er den Sag.

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„Und wenn Ich Ihre Opfer nicht annehmen mag?” „Run, dann iſt eben von Freundſchaft zwiſchen und. feine Rede.“

„ft denn die Freundſchaft ein fo ſelbſtſuͤchtiges Gefühl, und iſt ein Freund nur Danach zu beurteilen, ob. er dies ober jenes für. einen getan hat? Können zwei Menfchen einander nicht auch ohne das gern haben, um bed Ehas rakters, des Geiftes willen? Wenn Ich, jemanden liebte, würde ich es fogar um jeden Preis vermeiden, ihn mir ober mich ihm gu verpflichten... .“ | „Barum ?"

„Ib babe den Grund ſchon einmal genannt: weil ich mir die Freundſchaft nicht verderben will. Es würde dann feine Sleichberechtigung mehr vorhanden fein, bie beiden Steunde würden nicht durch dag reine Gefühl, fondern durch Dienftleiftungen miteinander verknüpft fein, und das würde ihre Verhältnis trüben; der eine würde höher, ber andere niedriger ſtehen wo bliebe da die Freiheit?” „Du biſt wirklich drollig, Wiera, mit deiner Freiheits⸗ fhwärmerei!. Wer hat die das nur eingeflüftert? .... Das war ficherlich nur ein Dilettant ber Freiheit! Nach diefer Theorie dürfte man ja niemanden mehr um eine Zigarre bitten, dürfte das Tafchentuch nicht aufheben, das du fallen gelaſſen Haft, ohne daß gleich ein Leibeigenfchaftss verhältnis begruͤndet würde! Merf’ dir’s: von ber Freiheit zur Sklaverei ift nur ein Schritt, wie vom Erhabenen sum Lächerlichen. Wer hat dir nur diefe Ideen beigebracht?” „Niemand,“ fagte fie und erhob fich mit leichtem Gähnen von ihrem Plage. "

„Es tft die doch nicht unangenehm, was ich Da fage, Wiera ?” fragte er haſtig. „Glaube nicht etwa, baß ich dich aus⸗ forſchen, dich verhören will, leg’ nicht gleich jedes Wort auf

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die Soldwage! Ich wollte nur ein wenig mit die plans bern ...“

„Ich bin ‚weile‘ genug, Bruder, um ſchwarz und weiß umterfcheiden gu können, und ich plaudere gern mit Ihnen. Kommen Sie doch heute Abend wieber gu mir, ober hier⸗ ber in den Garten wir wollen dann weiterplaudern, wenn es Sie nicht langweilt.“

Er wäre am liebften aufgefprungen vor Freude.

„Meine liebe Wiera!” fagte er.

Ich fürchte nur, daß es für Sie nicht ſehr Intereffant IR, mit mir fo zuſammen gu fein: ich bin immer fo ſchweig⸗ fam, Ste mäffen die Koften der Unterhaltung fat allein tragen...“

„Nein, nein bleib ganz fo, wie du biſt, fel, wie bu fein wink .. *

„Wirklich? Darf ich wirklich fo fein?”

„Lach mich nicht aus, Wiera Ih ſcherze nit, bei Gott! ...“

„Run kommen Sie ſchon mit Beteuerungen, wie Wikent⸗ jew... dba muß ih Ihnen wohl glauben. Heute abend alfo, nicht wahr?”

PEENTAERNG BUN 33 WENBWR,., FERERENENEMENENE"

Viertes Kapitel

uh am Abend kam Raifki mit Wiera nicht weiter.

Er redete, ſchwaͤrmte, geriet in Glut, wenn er in ihre bunfelbraunen Samtaugen ſah, doch die Glut erlofch im naͤchſten Augenblid wieder, weil diefe Augen gar fo gleihsültig dreinfchauten, Er fah vor fich ein herrliches Geſchopf, das alles in ſich zu vereinigen ſchien, was ein koͤſtliches Gluͤck voll Luſt, voll Qual gewaͤhrleiſten konnte aber dieſes Gluͤck war ihm verſchloſſen. Er hatte ſich ſelbſt des Rechtes begeben, ſeine Sehnſucht nach dieſem Gluͤck zu aͤußern und ſie, die dort vor ihm ſaß, anders als mit den Augen eines Bruders anzuſchauen. Sie mußte fuͤr ihn eine Fremde, eine Unbekannte bleiben. Ja, das mußte nun ſchon ſo ſein: er hatte ſich ſelbſt damit einverſtanden erklaͤrt. Er durfte keinen Verſuch machen, ſich Wiera zu nähern. Wäre hier nur, wie bei Marfinka, die naive Maͤdchenunſchuld, die unbewußte, kindliche Uns befangenheit in Frage gefommen, dann wäre es ihm weit leichter gefallen zu entfagen. Doch bei Wiera war von Unbewußtheit feine Rebe: aus Ihrem Wefen, ihrem Benehmen ſprach vielmehr, wenn

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nicht die Erfahrung dieſe hielt er fuͤr ausgeſchloſſen wenn nicht das Wiſſen, fo doch ein deutliches Vorgefuͤhl der Erfahrung und des Wiſſens. Nicht ihre Unfchuld, fondern ihr Stolz; war es, ber feinen zudringlichen Blick und fein Beſtreben, ihr su gefallen, in bie Schranken wies, Sie wußte jedenfalls ſchon, was der leidenfhaftlihe Blick, was diefe der Schönheit dargebrachten Huldigungen zu bedeuten hatten, wußte, wohin alles das führt, wann das Liebeswerben eined Mannes für ein Mädchen beleibigend ift, und weshalb es das if.

Sie ahnte oder erriet die Tragweite der Gefühle und Leidenfchaften und der Kämpfe, bie fie mit ſich Bringen, Sie fah die Entwidlung dieſer Leidenfchaften voraus, bie Katafteophen, die fih ans ihnen ergeben konnten, und fie ermaß, wie tief folche Kataſtrophen in das Leben des Weibes eingreifen.

Diefe ſpuͤrende, vorzeitig erratende Wachſamkeit war fihers fich keine Frucht der Erfahrung. Eine gewiſſe Vorausſicht, ein Borgefühl, ein Ahnungsvermögen findet fich vielfach bei Menfchen mit feharf beobachtendem Verſtande, naments [ich bei Frauen, oft ohne jede Erfahrung, der bei fein emp⸗ findenden Naturen ber Inſtinkt gleichfam die Wege ebnet. Er gibt ihnen Winte, die den naiven Naturen unverftänds ich bleiben, die aber dem fcharfen Auge ber Begabteren, das beim Leuchten des aus den Wolken niederfahrenden Blitzes momentan das Bild der Landfchaft erfaßt, alles oder vieles fagen, was für das Verſtaͤndnis ber zukünftigen Erfahrung von Wert iſt.

Und Wiera hatte dieſes raſch erfaffende Auge: fie brauchte in der Kirche oder auf ber Straße nur einen Bid auf die Menge zu werfen, und fie fand fogleich ben heraus, den fie gerade ſuchte. Ein raſcher Bid auf die Wolga

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jeigte Ihe alles, was das Bild belebte: das Schiff in der Berne, dad Boot am andern Ufer, bie weibenden Pferde anf der Inſel, die Flößer auf der Barke, die Möwe in der Luft und den Rauch, ber drüben Im fernen Doͤrfchen aus dem Schornftein aufftieg. Und fo raſch und fiher wie ihr Auge fehlen auch ihre Verftand alles zu erfaflen.

Gewiß wußte MWiera nicht alles, was ſich auf dag Spiel und ben Kampf der Leidenfchaften bezog, Doch begriff fie, wie fih aus allem ergab, fehr wohl, daß im Herzensleben des Menſchen fih eine ganze Welt von Freuden und Schmerzen birgt, daß Klugheit, Eitelkeit, Zärtlichkeit in diefem Wirbel eine wichtige Rolle fpielen und die Seele bes Menfchen von Grund auf gerwählen. Ihr lebhafter Inſtinkt eilte bier der Erfahrung offenbar weit voraus. Das waren bie „Themen“, uͤber bie Raiffi gern mit Wiera gefpeochen hätte gar zu gern hätte er gewußt, woher ihr biefe fcheinbare Bekanntſchaft mit der Welt der fees liſchen Erregungen kam, warum fie ihn als Verehrer fo bewußt, fo fol; und trotzig ablehnte. Aber fie tat, als bemerfe fie feine Bemähungen, ihr Ges heimnis zu erraten, überhaupt nicht. Wenn er eine Ans fpielung machte, fo ſchwieg fie, und wenn fie bei ihrer gemeinfamen Lektüre an eine Stelle famen, die von biefen Fragen handelte, hörte fie ganz gleichgültig zu, fo nachs dradlih auch Raiſki duch Betonung und Stimmfall auf bie Stelle hinwies. Diefe immer wieber ernenerte Bemuͤhung, hinter Wieras Geheimnis zu fommen und fie zum „Leben“ gu bekehren eine Bemähung, die nach feiner Meinung durchaus nichts mit Liebe gu tun hatte verfeßte feine Nerven in einen Zuſtand ſtarker GSereistheit und machte Ihn boshaft und bitter, Seine heitere Stimmung verſchwand wieder,

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die Arbeit fiel ihm laͤſtig, und alle Zerſtreuungen waren nicht imſtande, feine Laune gu verbefiern. j

„Das tft ſchon kein Forfchen und Studteren mehr, fondern eine Tortur!“ bachte er an folchen büfteren Tagen und legte ſich zaghaft die Frage vor, wohin eigentlich feine Tabs tie führen folle, und wie er überhaupt dazu komme, fie gu befolgen.

Wenn er zuweilen mit nuͤchternem Blicke Umſchau hielt, empfand er ein Gefühl der Beſchaͤmung, daß er einem jungen Mädchen gegenüber, dag ſich Aber ihn luſtig machte, tin wie einen Schüler bofmeifterte und feine ehrliche Freundſchaft mit kuͤhlſter Gleichgältigkeit vergalt, eine fo Häglihe Rolle fpielte.

Er erwifchte fih bald wieder babei, wie er Wiera mit args woͤhniſchem Blide mufterte; zwei⸗ oder dreimal hatte er Marina wieder gefragt, ob das gnädige Fräulein zu Haufe fet, und als er einmal Wiera nicht in ihrem Zimmer ans teaf, hatte er wohl einen halben Tag am Rande der Schlucht gefeflen und auf fie gewartet. Als fie noch immer nicht kam, ging er nochmals nah ihrem Zimmer: fie war laͤngſt zu Haufe, und auf feine in möglichft gleichgältigem Zone bingeworfene Frage, wo fie geweſen, hatte fie noch gleichz gültiger ertwibert: „Sch war unten am Ufer, an ber Wols ga...“.

Schon wollte er ihr ſagen, das ſei nicht wahr, er habe wieder einmal auf Wache geſtanden, doch hielt er an ſich und maß ſie nur mit einem erſtaunten Blicke, der ihr nicht entging. Sie blieb vollkommen gleichguͤltig und hielt es nicht einmal für notwendig zu erklaͤren, auf welchem Wege fie som Ufer heimgefommen, und wie ber feheinbare Widerſpruch zu erklären fei.

Sie fehlten wirklich dort gewefen gu fein, ober doch fonft

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einen größeren Weg gemacht zu haben, denn fie war er⸗ muͤdet, hatte ihre Stiefeletten mit den Hausſchuhen vers taufcht, trug einen Morgenrod ſtatt des Kleides und hatte ein wenig heiße Hände. Er fuchte fih zu ermannen und wieber Gewalt Aber fi gu gewinnen, um endlich zur Ruhe zu kommen. Er ritt wieder häufiger nach der Stadt, knuͤpfte Gefpräche mit der Auffeherstochter an und konnte fih über ihre Antworten totlachen. Auch mit Marfinta gab er fich wieder mehr ab, fuchte in ihr poetifhe Stimmungen hervorzurufen, pros bierte e8 bei ihr mit der Melancholie ober mit leidenfchafts licher Erregung nicht, um dabei etwas für fich gu pros fitieren, fondern um einen „frifchen, lebendigen Zug” in ihr Seelenleben zu Bringen. Doch an ihrem Haren, reinen, fillen Naturell fcheiterten alle feine Verſuche. Zuweilen fcheint es ihm, ale habe er ihr Gemuͤt ein wenig in Wallung gebracht, fie pflichtet ihm bei und Hört nachdenklich zu, wenn er ihr irgend etwas recht Kluges, recht Tieffinniges vorträgt, Doch fünf Minuten ſpaͤter hört er fie ſchon wieder oben in ihrem Stäbchen fingen:

„Du mein herziger Schatz,

„Ah, wie liebe ih di... ." Dber fie fißt vor ihrem Brett und zeichnet einen Blumen⸗ firauß, eine Taubenfamilte, ein Porträt ihrer Kate, wenn fie nicht in irgendeiner Ede eins ihrer Bücher „mit glüds lichem Ausgange“ lieſt oder mit dem gu Beſuch anweſenden Wikentjew ſchwatzt und disputiert. Noch eine Woche verging, und bald war der Monat herum, den Mark bei ſeinem toͤrichten Wettvorſchlage als Friſt geſetzt hatte. Raiſki fuͤhlte ſich noch immer frei von „Liebe“. Nein, er hielt ſich nicht fuͤr verliebt, ſeine Erregtheit war lediglich ein Ausfluß feiner Phantafie, ſeiner Neugier.

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Es fam vor, daß er einige Tage hintereinander uͤberhaupt nichts von Erregtheit verfpärte, Daß er Wiera mit den⸗ felben gleichgältigen Bliden anfah wie Marfinka. Die beiden Schweftern erfchienen ihm dann wie zwei in ben Ferien weilende reizende Inſtitutsfraͤulein, die Ihre bes fonberen Anftitutsgeheimniffe und Inſtitutsideale, ihre naiven, sufammengelefenen und sufammengeträumten Theos rien und Anfchauungen hatten, die der Sturm ber Wirk lichkeit, die Erfahrung bald auf ben Kopf ftellen wird. Wiera kam und ging, und er konnte ihre Tun und Treiben nun wieder beobachten, ohne jeden Augenblid zuſammen⸗ zufahren, ohne fich gu erregen, ohne auf einen Blick, ein Wort von ihr zu lauern. Und eines Morgens, als er aufs fand, fühlte er fih fo ſicher und feſt, fo gleihgältig und innerlich frei, daß er nicht nur auf die Erreichung irgend⸗ einer Gunftbegeisung von feiten Wierag, fondern auch auf ihre Freundſchaft gu verzichten bereit war.

„Jetzt bin ich gang kühl, ganz ruhig,” fagte er ſich „jett kann ich Ihe, laut unferer Abmachung, endlich fagen, daß die Probe beftanden ift, daß ich nun imſtande bin, ihr Freund zu fein, wie jeder andere auch. Und jegt kann ich auch ruhig abreifen.. Nur mit diefem Barrabag möchte ich noch einmal sufammenfommen, um ihm die legten Hoſen vom Leibe gu ziehen: warum laͤßt er fih auch auf Wetten ein !”

Im Vorbeigehen fagte er zu Jegorka, er möchte ben Koffer vom Boden holen und ihn zur Abreife bereit halten. Ä Er begab fih zu Leontij, um in Erfahrung zu bringen, wo fih Mark augenblidlich herumtreibe, und traf fie beide gerade beim Frühftüd an.

„Wiſſen Sie,” fagte Mark, während er ihn aufmerkſam mufterte „Ste haben eigentlich alle Anlage zu einem:

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anftändigen Kerl, nur etwas mehr ai koͤnnten Sie brauchen I”

„Mehr Mut vielleicht, um —— in die Beine zu ſchießen, oder zur Nachtzeit in Wirtshaͤuſer einzubrechen ie verſetzte Raifkt.

„Unfinn, was brauchen Sie in Wirtshaͤuſer zu geben - Sie haben ja bei Ihrem Tantchen daheim das ſchoͤnſte Wirtshaus! Nein aber danken will ich Ihnen doch, daß Sie dieſen alten Schuft, den Tytſchkow, aus dem Hauſe geworfen haben. Sie ſollen das gemeinſam beſorgt haben, mit der Tante zuſammen: das war brav von Ihnen!“

„Woher wiſſen Ste denn darum?”

„Die ganze Stadt fpricht davon. Ausgezeichnet! Ich wollte ſchon zu Ihnen kommen, um Ihnen perſoͤnlich meine Anerkennung auszuſprechen, doch da hoͤrte ich, daß Sie ſich mit dem Gouverneur zuſammengetan haben, daß er Sie beſucht, und daß Sie mitſamt der Tante vor ihm hön’ machen. Das iſt nun gar nicht ſchoͤn von Ahnen! Ich hatte ſchon gebacht, Sie haften auch ihn nur fommen loflen, um ihn bie Treppe hinunter gu werfen.”

„Das wäre nach Ihrer Meinung wohl ein Beweis buͤrger⸗ lihen Mutes geweſen?“ faste Raiſki.

„Ich weiß nicht, was es geweſen waͤre doch will ich Ihnen durch ein Beiſpiel klarzumachen ſuchen, was ich etwa unter Mut verſtehe. Seit einiger Zeit treibt ſich der Polizeimeiſter etwas gar zu haͤufig hier vor unſern Gaͤrten herum: es ſcheint, daß Seine Exzellenz ſich ein wenig dar⸗ uͤber beunruhigen, wie es mir geht, und womit ich mir die Zeit vertreibe. Na, mie ſoll's recht fein... Ich habe mie aber ein paar Bulldoggen angefchafft, die Ich mir abrichte: noch keine acht Tage habe ich fie, und nicht eine

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Kate läßt fih mehr in den Gärten fehen!... Jetzt habe ich fie in einen finfteren Schuppen gefperrt, und ſowie ber Holizeimeifter oder jemand von feinem Gefolge fich wieder bier zeigt, flärgen meine Lieblinge ans dem Hinterhalt los...“

„Run ich bin gekommen, um mid von Ihnen zu vers abſchieden,“ unterbrach ihn Raiſki. Ich verreife. . .“ „Sie verreifen ?” fragte Marl gang verblüfft.

„30. Barum?”

„Ich muß mit Ihnen noch Aber etwas reden...” verfeute Mark leife, in ernſtem Tone.

Raiſki fah ihn feinerfeitd gang erflaunt an.

„Womit kann ih Ahnen dienen?” fagte er. „Brauchen . Sie wieder Geld?”

„Auch das könnte ich gebrauchen aber diesmal handelt es fih um etwas anderes. Ich kann jetzt nicht Davon fprechen, ih komme gu Ihnen ...“

Er winkte mit dem Kopfe nah Koslows Frau hinüber, bie in demfelben Zimmer faß; offenbar wollte er in deren Gegenwart fein Anliegen nicht vorbringen.

Leontij war von feinem Gig aufgefahren, als er hörte, daß Naiffi abreifen wolle, während feine Fran ein boͤſes Geſicht machte.

„Was faͤllt Ihnen ein?” fluͤſterte ſie. Glauben Sie wirk⸗ lich, daß man Sie fortlaſſen wird? Sie find mir nett: fo denken Sie an Ihre Ulinka? Nicht ein einzigesmal waren Ste in Abweſenheit meines Mannes hier... .“

Sie ergriff feine Hand und hielt fie lange feft, während ihr Blick, Halb traurig und halb Tächelnd, auf ihm ruhte. „Haben Sie das Geld mitgebracht?” fragte Ihn plöglich Mar „bie dreihundert Rubel, die ich in der Wette gewonnen habe?”

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Raiſki ſah ihn ironiſch an.

„Wo ſind denn Ihre Hoſen wie?“ ſagte er.

„Nur ber mit den dreihundert Rubeln, ich ſcherze nicht %

„Wofür denn? Ich bin nicht verliebt, wie Sie fehen.” „sch fehe im Gegenteil, daß Sie big Aber die Ohren vers liebt find !" |

„Woran fehen Sie dag?”

"Un Ihrem Geſichte ...“

„Ste find ſehr im Irrtum: der Monat iſt voruͤber, was Sie prophezeiten, iſt nicht eingetreten, und Ihre Hoſen ſind mein. Doch ich brauche ſie nicht ich ſchenke ſie Ihnen als Zugabe zum Paletot.“

„Du willſt alſo wirklich ... abreiſen?“ ſagte Koslow ſchmerzlich bewegt. „Und die Buͤcher?“

„Was für Buͤcher?“

„Run, beine Bücher die hier in ‚den Regalen fieben, wohlgeordnet, nach dem Katalog. .

„sh babe fie die doch geſchenkt!“

„So laß endlich die Scherge fag’, was foll mit en werden ?”

„Lebt nun wohl, ich habe feine Zeit. Laß mich in Ruhe mit den Büchern, ſonſt verbrenne Ich fie,” ſagte Raiſki. „Nun, Sie weiſer Mann, der Sie am Geſichte erkennen, ob jemand verliebt iſt oder nicht leben Sie wohl! Ich weiß nicht, ob wir ung je wieder begegnen...“

„Rüden Sie erft mit dem Geld heraus es iſt nicht nobel, fih fo um eine Schuld herumzudruͤcken,“ fagte Mark. „sch fehe Ihnen doch die Liebe an: fie iſt wie die Mafern, noch ſieht man fie nicht, doch müffen fie jeden Augenblid berausfommen ... Da, das Geficht iſt fehon ganz rot! Wie dumm, daß ich einen Termin gefegt habe! Durch meine eigne Schuld verliere Ich nun dreihundert Rubel!“

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„geben Ste wohl!”

„Ste werben nicht abreifen”, fagte Mark.

„sch befuche Dich noch einmal, Koslow... In der nächften Woche reife ih ab”, wandte fih Naiffi an Leontij. „Und ich fage: Ste werben nicht abreifen!” wieberhbolte Mark,

„Wie flieht es denn mit deinem Roman?“ fragte Leontij „du mwollteft ihn doch hier beenden I"

„Ich bin ſchon an den letzten Kapiteln nur muß ich noch alles richtig ordnen. Das foll dann In Petersburg geſchehen.“

„Sie werden Ihren Roman nie zu Ende fuͤhren weder den, den Sie ſelbſt gern erleben moͤchten, noch den, den ſie ſchreiben!“ bemerkte Mark.

Raiſki drehte ſich lebhaft nach ihm um er wollte irgend etwas fagen, boch wandte er fi unwillig ab und ging. „Barum, glaubft du, wird er feinen Roman nicht bes enden?” fragte Leontij feinen Gaſt.

„Wie follte er!” antwortete Mark mit höhnifhem Lachen „er ift eben ein Pechvogel!“

Fuͤnftes Kapitel

aiſki ging nach Hauſe, um ſo bald wie moͤglich eine

Ausſprache mit Wiera herbeizufuͤhren, wenn auch nicht in dem Sinne, wie es zwiſchen ihnen abgemacht worden war. Der Sieg, den er uͤber ſich ſelbſt errungen, war ſo ſicher, daß er ſich ſeiner fruͤheren Schwaͤche ſchaͤmte und ſogar an Wiera ein Hein wenig Revanche nehmen wollte dafür, daß fie ihn in eine foldhe Situation ges bracht hatte. | Er legte fich unterwegs wohl zehn verfihiedene Faſſungen biefer letzten Unterredung mit ihe zurecht. Seine Phan⸗ tafie malte e8 ihm ganz deutlich aus, wie er vor ihr in einer ganz neuen, unerwarteten Geftalt erfcheinen würde, kuͤhn, soll uͤberlegener Ironie, frei von allem törichten Hoffen, unempfindlich gegen ihre Schönheit oh, wie wird fie flaunen... und vielleicht berrübt fein! Er entſchied ſich endlich für eine Faſſung dieſer legten Unterredung, die zwar in der Tonart durchaus freunds ſchaftlich und ruͤckſichtsvoll fein, dabei jedoch eines gönners haften Anſtrichs nicht entbehren und vor allem einen zuruͤckhaltenden, gleichgültigen Charakter tragen follte. Er wollte ihr fogar, natürlich in angemeflener, ihrem Ders Is

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fländnis angepaßter Form, eine Urt Generalbeichte Aber alle feine Suergenserlebniffe ablegen, wollte dabei bie Bielowodoma befonders Hoch erheben und im Lichte ſtrahlen⸗ der Schönheit und Frauenanmut erfcheinen laffen, damit die arme Wiera fich neben ihr wie ein Aſchenbroͤdel vors fame und dann wollte er ihr erflären, daß auch diefe Schönheit fein Herz nur für kurze acht Tage In ihren Bann sefchlagen habe.

Auch Marfinka follte ihe Teil von feinem gluͤhenden Lobes⸗ hymnus abbefommen, und zu guter Lest wollte er dann flüchtig auch Wiera erwähnen und in herablaffendem Tone ihre Meise anerkennen, die er nur gu raſch habe auf fi wirten laſſen. Während fo alle übrigen in ben hellen Borbergeund traten, follte Wiera möglihft im Schatten bleiben.

Er sitterte vor freubiger Erwartung, als er In feiner Phans tafte fih das alles ausmalte wie fie vor ihm fliehen, wie die Erregung, das Bebauern in ihren Zügen zum Aus⸗ drud kommen würde, Empfindungen, die er in ihrem Herzen heruorgerufen, deren fie fich vielleicht jet noch nicht völlig bewußt war, bie aber dann, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe weilte, ganz zum Durchbruch kommen mußten.

Er wollte dieſe Szene ganz fo, wie er fie bier entworfen, als Schlußfapitel feinem Romane anfügen und babei über feine Begiehungen zu Wiera einen geheimnisvollen Schleier breiten, der die Dinge halb im Duntel ließe: er reift ab, von ihr unverftanden und ungewärdigt, voll Abfchen gegen alles, was Liebe heißt, und was unter biefem Namen bie einfachen, natürlichen Beziehungen zweier Menfchenkinder truͤbt und faͤlſcht während fie mit einem Gefühl der Reue zuruͤckbleibt, noch nicht zwar die Liebe felbft im

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Herzen, wohl aber eine Vorahnung zukünftiger Liebe, und die Trauer über einen Verluft, und eine dunkle Empfins dung des Grams, der ihre Tränen hervorlodt und ihre Seele bedruͤckt big fie eines Tages irgendeinen Bezirkes tichter heiratet... Vielleicht wird die Sache in MWirklichs keit nicht fo verlaufen, aber der Roman iſt eben nicht ganz identifch mit der Wirklichkeit, gewiſſe Heine Abweichungen geftattet eben bie poetifche Lizenz.

Sein Atem ftodte förmlich vor Entzuͤcken, wenn er fich vor; felfte, wie effeftooll dag alles, in der Wirklichkeit ſowohl wie im Roman, fih ausnehmen werde.

Als er nah Haufe kam, begegnete ihm zu allererft bie Großtante, die bereits von Jegorka gehört hatte, daß der gnaͤdige Herr den Koffer habe nachfehen laſſen und für die naͤchſte Woche feine Kleider und feine MWäfche in Ord⸗ nung gebracht haben molle.

Die Neuigkeit hatte fih im Fluge duch das ganze Haus verbreitet. Alle Hatten gefehen, wie Jegorka den Koffer nah dem Schuppen terug, um ihn dort von Staub und

Spinnengeweben gu reinigen, und wie er unterwegs ihn der an ihm vorübergehenden Anjutka auf den Kopf ftälpte, die vor lauter Schred eine Kanne mit Sahne zu Boden follen Tieß, worauf Jegorka fich Teife Fichernd aus dem Staube machte.

Raiſki machte ein ziemlich ſaures Geficht, als die Groß⸗ tante, die über die unerwartete Nachricht ganz —— war, ihn mit Fragen zu beſtuͤrmen begann.

„Du willſt abreiſen, Borjuſchka was faͤllt bir ein 3” fagte ſie vorwurfsvoll. Aber Raiſki machte fich fo ſchnell wie möglich von ihr los und ging gu Wera.

Ganz leife ging er die Treppe zum alten Haufe hinauf er brannte vor Yngeduld, in der neuen Geftalt vor ihr

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gu erfheinen. Unbemerkt gelangte er in Ihe Zimmer, ſchritt über den weichen Teppich und trat bicht hinter fie. Die Ellenbogen auf den Tiſch ftägend, faß fie da und war in bie Lektüre eines Briefes vertieft. Es war ein Brief auf billigem blaßblauem Papier, und bie Schrift geilen Tiefen, wie er flüchtig bemerkte, ziemlich unregels mäßig durcheinander. Mit bunkelbraunem Siegellad war das Schreiben verfcloffen gewefen.

„Wjera!“ rief er leiſe.

Sie fuhe vor Schred fo jaͤh und heftig zuſammen, baf auch er zu zittern begann. Im Augenblid hatte fie die Hand mit dem Briefe in bie Tafche ihres Kleides vers fenft.

Starr blidten fie beide eine ganze Welle aufeinander. „Verzeih du bift beſchaͤftigt?“ begann er, langfam zuruͤck⸗ weichend, ohne fih indes zu entfernen.

Sie ſchwieg und erholte fih allmählich von ihrem Schred, doch fah fie ihn immer noch an und ſtand fo, wie fie füch vom Tlaße erhoben hatte, ba, bie Hand tief in der Tafche verſenkt baltend.

„Ein Brief?” fragte er mit einem Blicke nach ber Tafche. Ihre Hand verſchwand noch tiefer in dem Kleide. Ein jäher Verdacht flieg in ihm auf, und es fiel ihm ein, wie fie ihn auch neulich getäufcht habe, als fie fagte, fie ſei an der Wolga gemwefen, während fie offenbar nicht dort geweſen wat.

„Was bedeutet das alles?” dachte er, und bie helle Angſt befiel ihn.

„Wohl ein ſehr intereſſanter Brief, und ein wichtiges Ge⸗ heimnis?“ ſagte er ‚gestoungen lächelnd. „Du haft ihn fo raſch weggeſteckt..

Sie ſetzte ſich auf den Diwan, ohne ihren Blick von

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abzuwenden, doch ſchaute fie nun ſchon wieder mit der gewohnten Gleichguͤltigkeit drein.

„Mein,“ dachte er im flillen „beine Gleichguͤltigkeit fol mich nun nicht mehr täufchen I” „zeig mir Doch ben Brief...” fagte er in ſcherzendem Tone, doch mit einer Stimme, deren Klang feine Erregung deutlich verriet. Sie fah ihn erfiaunt an und hielt die Hand noch feſter in der Taſche.

„Du willſt ihn nicht zeigen?“ Sie ſchuͤttelte den Kopf. | „Warum wollen Ste ihn fehen?” fraste fie dann. Ich habe natürlich Fein befonderes Intereſſe daran: was kümmern mich fremde Briefe? Aber du kannſt mir jegt beweifen, daß du Vertrauen gu mir haft, und daß du dich wirflih mit mir befreunden willft. Du fiehft, ich Bin voll⸗ kommen gleichgültig gegen dich. Ich war eben zu Lir unters wegs, um mit dir gufammen über meine törichte Schwärs merei und deine uͤbertriebene Angſtlichkeit zu lachen. So ſieh mich doch an: komme ich dir nicht gang anders vor ale früher ?...” Im ftillen freilich mußte er fich fagen: „Hol's der Teufel, diefer Brief will mir nicht aus dem Kopfe!” Sie fah ihn prüfend an, ob er auch wirklich fo völlig gleichs gültig fet, und fein Geficht ſchien in der Tat feine Worte gu beftätigen, doch feine Stimme bettelte gleihfam um ein Almofen ...

„Du willſt mir den Brief nicht zeigen? Nun, wie du willſt!“ fagte er refigniert. „Ich gehe jetzt.“

Er wandte fih ber Tür zu.

„Warten Sie noch,” fagte fie.

Dann fuchte fie ein Weilchen in der zog einen Fr heraus und reichte ihn Raiſki hin.

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Er befah das Schreiben von beiden Seiten und blickte nach der Unterſchrift: „Pauline Krizki“, las er.

„Das tft nicht der Brief von vorhin,” fagte er, Ihr das Schreiben surädreichend.

„Haben Sie denn einen anderen Brief geſehen ?“ fragte fie trocken.

Er ſcheute ſich, zuzugeben, daß er Ihn gefehen hate fie follte ihn nicht wieder des Spionierens befhuldigen. „Rein,“ fagte er.

„Nun, dann leſen Sie bo!”

„Ma belle charmante,, divine Wjera Wassiljewna!" fo begann der Brief „ich bin entzuͤckt, ich Inte vor Ihrem berzigen, edlen, herrlichen Bruder! Er bat mich gerädt, ich triumphiere und vergieße Sreubentränen. Er war groß, erhaben! Sagen Sie ihm, daß Ich ihn ald meinen Nitter betrachte für alle Zeiten, und daß ich ewig feine demuͤtige Sklavin fein werde. Ach, wie ich ihn hochſchaͤtze!... Ich möchte meinen Gefühlen fo gern Worte leihen... fie fhweben mir auf der Zunge aber ich wage nicht, fie aussufprechen... Doch warum foll ich es nicht wagen? Ja, ich liebe ihn oder nein vielmehr, ich vergättere ihn! Ale Männer follten vor ihm in die Knie finten!.. .“ Raiſki gab ihr den Brief zuruͤck.

„Bitte, leſen Ste nur weiter,” fagte Wera „da flieht auch noch eine Bitte an Sie.”

Naifft ließ einige Zeilen aus und las dann weiter.

„Ich bitte Sie, tragen Sie Ihrem Bruder mein Anliegen vor er betet Sie an, nein, nein, beftreiten Sie es nicht: ich habe feine leidenfchaftlichen Blidde bemerkt... D Gott, marum bin ich nicht an Ihrer Stelle! Bitten Sie ihn alfo, herzallerliebfte Wiera Waffiljewna, mein Porträt gu malen, er bat es mir verfprochen. Es ift mir nicht fo ſehr

oo 73 ee um das ogifb gu U =" mit Ihm, ge g dem m Meiſter, will ich ufammelt "ran, gr ihn ſehen, —*— erquiden, will ii mie ihm ſorechen A t ihm die gleiche agle ... Ma

guft atmen hle,

tete, je deviens fone! Je Impie e sur V ma belle et

bonne amie, et p attends 1a pn

‚Bad ai ihr qu orten?" fragte als Raiſki

den Brief auf d Tiſch gelegt hatte.

Gr ſchwies Er hatte ihre Frage gar N. gehdtt und

dachte nur immer data, von wem wohl de andere hen

ſei, # arum fie ihn (9 angſtlich ve verſte =

„Sol ich ihr ſchreiben, Sie Anverſtand nden Br"

„Gott bewahre nichts in der weit!” rief d Kaiftl, n erwachend, vnwillig aus.

2 Sie wil doch mit Ihnen

„a was mach dieſelbe Luft un a um ihr ginn ul en be icher Spott.

\ y ac würde N jiden in, diefet

„Der enfel ott fie ho

Luft .

„Und wenn ich Sie um boͤte zu ſagte ſie mit it ihrer tiefen,

weichen Flu ſterſtimme gend fie ihn n kokett anſah.

Sein Je er rbebte in pahem Hoffen.

„Du? DV bitteſt m? welchem Geunde zu

Ich moͤchte ihr eine Freude machen u fügte Ne, vers

ſchwieg it weislich, daß r nor allem baranf gg Aufme amteit igſtens iw etwas von

ten. wußte, 6 {ins

CHI 72 CH)

„Uber es wäre doch ein Opfer, das ich dir ba bringe?“ „Sie haben fih ja gu Opfern bereit erklärt: alfo ...“ „Du verlangft es?“ fagte er, näher auf fie zutretend. „Rein, nein, ich verlange gar nichts!” verfegte fie haſtig, faft in Angſt, und wich gurüd.

„Siehft du: gleich beim erften Opfer, das ich die bringen will, erfehridft du! Wohlen bring auch du mir zwei Heine Opfer, bamit du nicht In meiner Schuld bleibſt! Du bift ja der Meinung, wahre Sreundfchaft dürfe nicht verpflichten: ich akzeptiere deine Theorie! Tu, was Ich verlange, und wir werden quitt fein.“

Sie fah ihn fragend an.

„Erſtens: ſei auch du bei den Sigungen zugegen, fonft laufe ich gleich da erfiemal fort. Biſt du einverfianden ?” Halb wider Willen nidte fie mit dem Kopfe. Sie ſah, daß ihre Lift mißlungen war, daß fie ihn auf diefe Weife nicht los wurde und überdieß bei ihm noch in eine moras liſche Schuld geriet. Doch konnte fie andererfeits feinen Wunſch nicht ablehnen, um feinem Mißtrauen feine Nabs rung zu geben.

„Und zweitens...” fuhr er ftehenbleibend fort, während fie voll Spannung wartete „zeig’ mir den andern Brief...” „Welchen Brief?”

„Den du fo raſch In die Tafche gefteckt Haft... .”

„3% babe feinen andern Brief.”

„Doch ich fehe, wie die Tafche abfleht... .“

Sie fuhr mit der Hand wieder in die Taſche.

„Sie fagten doch, Sie Hätten feinen andern Brief gefehen: ich zeigte Ihnen doch fchon einen Brief! Was wollen Sie noch mehr?”

„Diefen Brief hättet du nicht fo aa Kine Willſt du mir den andern nicht zeigen?“

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„Ste wollen durchaus auf Ihrem Schein beftehen,” fagte ſie vorwurfsvoll und begann in ihrer Tafche zu fuchen, ans der fich in der Tat das Geräufch kniſternden Papieres vernehmen ließ.

„Nun, laß nur Ich habe gefcherstl Denf nur um Gottes willen nicht wieder, daß ich den Defpoten oder den Spion fpielen wollte e8 war alles nur Neugier, nicht weiter. Behalt ruhig deine Geheimniffe für dich!” fagte er und erhob fich, um das Zimmer zu verlaffen.

„Ich habe gar feine Geheimniſſe,“ antwortete fie £roden. „Weißt du ſchon, daß ich bald abreife?” fagte er plöglich. Ja, ich hörte es. Iſt's wahr?”

„Barum zweifelft du daran?”

Sie ſchwieg und ſchlug die Augen nieder.

„Dir iſt's recht, daß ich abreiſe?“

va...” antwortete fie leife.

„Warum ?” fragte er büfter und trat näher zu ihr hin. Sie ſchwieg.

„Warum?...” fragte er noch einmal,

Sie dachte ein Weilhen nach, dann begann fie wieder in ihrer: Zafche zu fuchen und zog einen zweiten Brief hervor. Sie übers flog ihn rafch, nahm die Feder, ftrich forgfältig einige Stellen aus, daß fie unleferlich wurden, und reichte ihm den Brief. „Ich faste es Ahnen ſchon, warum aber weil Sie mich wieder danach fragen . .. fo lefen Ste dies da!” fagte fie und fuhr mit ber Hand In ihre Taſche.

Er verſenkte fih in die Lektüre bes Briefes, während fie sum Senfter hinausſah.

Der Brief zeigte eine gierliche, feine Hanbfchrift, die offens bar von einer Frau flammte.

Raiſki las: „Ich bin Dir gegenäber in ſchwerer a meine liebe Natalcha .. .“

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„Wer iſt dieſe Nataſcha?“ fragte er.

„Die Frau des Priefters, meine Penſionsfreundin...“ „Ad, die Popenfrau? Der Brief bier iſt alfo von bie? Dh, wie intereffant!” fagte Raiſki und rieb fih vor Vers gnügen die Knie in Erwartung bed Genufles, ber ihm bevorfiand. Voll Spannung begann er nochmals von Anfang an zu lefen:

„Ih bin Die gegenüber In ſchwerer Schuld, meine liebe Nataſcha, weil ih Die fett meiner Heimkehr noch nicht ges ſchrieben Habe. Wie gewöhnlich, iſt auch diesmal meine Faulheit ſchuld gewefen, doch lagen auch noch andere Gründe vor, die Du fogleih erfahren follft. Den haupt fächlichften Grund weißt Du e8 war...“ an biefer Stelle waren drei Worte ausgeftrihen „und das bes unruhigte mich allen Ernfied. Doch darüber wollen wir ausführlicher fprechen, fobald wir uns wieberfehen.

„Ein anderer Grund ift die Ankunft unferes Verwandten Boris Pawlowitſch Raiſki. Er wohnt jet hier bei ung, und zu meinem Ungläd geht er faft gar nicht aus dem Haufe, fo daß Ich in diefen legten zwei Wochen nur immer darauf finnen mußte, wie ich ihm entwifchen könnte, Wieviel Verftand und Wiffen, wieviel Geift und Talent, und nebenher auch Spektakel, oder Leben, wie er e8 nennt, iſt mit ihm ind Haus gefommen! Alles bat er in Unruhe und Aufregung verfegt, von ung der Großtante, Mars finfa und mir angefangen bis zu Marfinfas Geflügel. Vielleicht hätte auch Ich mich früher von diefem Wirbel mit fortreißen laffen, doch jegt ift mir dag alles, wie Du Dir denken kannft, peinlich, ja unerträglich...

„Er ſcheint, nachdem er jeßt feinem Gute einen Beſuch abgeſtattet hat, nicht nur dieſes Gut, ſondern auch alles, was darauf lebt und webt, fuͤr ſein Eigentum zu halten.

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Auf Grund irgendeiner verwandtfchaftlichen Beziehung, die faum noch als folche zu bezeichnen ift, und auf Grund der Tatfache, daß er mich und Marfinka einmal als Heine Kinder gekannt hat, behandelt er ung jeßt wie Schuls mäbchen oder Penfionatsfräulein. Ich verfiel’ mich, vers fie®’ mich, und kann es nur mit Mühe erreichen, daß er mich nicht auch noch im Schlafe belauert, nicht meine Traͤu⸗ me, meine Gedanken und Hoffnungen Eontrolliert.

Ich bin faft Frank geworden Infolge dieſer Nachftellungen, babe niemanden gefehen, an niemanden gefchrieben, nicht einmal an Dich, und ed war mir, als fige ich in einem Gefängnis. Es iſt, als fpiele ee mit mir vielleicht, ohne es felbft gu wollen. Heute ift er kalt und gleichgültig, und morgen glänzen und glühen feine Augen, und ich " fürchte mich vor ihm, wie man fich vor einem Wahnfinnigen fürchtet. Das Schlimmfte aber tft, daß er ſelbſt fich nicht fennt, und daß darum auf feine Entfchließungen und Vers fprechen fein Verlag ift: heute nimmt er ſich das eine vor, und morgen tut er etwas ganz anderes.

„Er ift nervoͤs, leicht erregbar und leibenfchaftlich, wie er ſelbſt, anfcheinend mit Recht, es nennt. Er ift kein Schaus fpielee und verftelle fih nicht dazu iſt er gu Hug und zu gebildet, und vor allem zu anfländig. Er hat einmal fol ein ‚Naturell‘, wie er fih ausdruͤckt.

„Er iſt eine Urt Künftler: er geichnet,, fcheiftftellert, phans taſiert ganz allerliebft auf dem Klavier, gebt ganz in ber Kunft auf, ſcheint aber im übrigen nicht viel mehr zu tun als wir übrigen Sterblichen und verbringt fein ganzes geben, wie er fagt, im Dienfte der Schönheit auf unfere Weife ausgebrüdt: er ift ein verliebter Nader, wie unfere - Dafchenta Sjemerfchlina im Penfionat, weißt Du noch die einmal ſogar in einen fpanifchen Prinzen verliebt war,

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deffen Bild fie im Kalender gefehen Hatte, und vor deren Liebe kein Menſch, nicht einmal der Klavierſtimmer Kifch, fihee war. Bei alledem aber iſt er ein herzensguter, vor⸗ nehm denkender Menfh, von großem Gerechtigkeitsfinn, Dabei heiter und freimätig, nur kommt das alles bei ihm immer in plöglihen Ausbruͤchen sum Vorfchein, daß man nie weiß, woran man mit ihm iſt.

„Jetzt wirbt er um meine Freundfchaft, doch auch vor feiner Freundſchaft tft mir angft alles, alles, was von ihm ausgeht, erfüllt mich mit Bangen ...“ an biefer Stelle waren drei ganze Zeilen ausgeftrihen. „Ach, wenn er doch wieder abreifen wollte! Schredlich, gu denken, daß er jemals...” wieder folgten ein paar durchgeftrichene, unleferliche Worte,

„Ich brauche nur eins: Ruhe und wieder Ruhe! Auch ber Arzt meint, meine Nerven feien angegriffen, ich muͤſſe sefhont, dürfe nicht gereist werden, und zum Gluͤck hat er dag alles auch der Großtante Har zu machen verflanden, fo daß man mich jeßt in Ruhe läßt. Sch möchte nicht aus dem Lebenskreiſe heraustreten, den ih um mich herum gesogen babe ich habe mich fo zu flellen gewußt, daß niemand jetzt diefe Linie überfchreitet, und darauf beruht nun meine Ruhe und all mein Gluͤck. | „Sollte Raiſki in irgendeiner Richtung über diefe Grenze hinausgehen, dann bleibt mir nur eins Abrig: ich muß von hier fort! Das ift freilich leicht geſagt: wohin follte ich fliehen? Andererſeits empfinde ich auch wieder Ger wiſſensbiſſe: er ift fo gut, fo lieb zu mir, als feiner Schwefter, er überfchütter ung förmlich mit feiner Liebenswuͤrdigkeit, feinen Freundſchaftsbeweiſen, ja er will ung fogar biefen lieben Winkel hier fehenten ... dieſes Paradies, in dem ich mir ‚bewußt geworben bin, daß ich lebe, daß ich geborgen

Pr} UT? PLLISR IR IH R / 7 %, .3. *

bin auf dieſer Welt... Es liegt mir ſchwer auf ber Seele, daß er uns fo viel unverbiente Güte zuteil werben läßt, daß er mir fo viel Aufmerkfamkeit widmet und in mir ein zaͤrtliches Gefühl gu erwecken fucht, während ich ihm doch jede Hoffnung in diefee Hinficht benommen habe. Ach, wenn er wüßte, wie vergeblich alle feine Anftrengungen find !

„Run ſollſt Du noch einiges hören über dieſes ...“

An diefer Stelle brach der Brief ab. Raiſki hatte ihn gu Ende gelefen und flarrte immer noch auf die Zeilen, als erwarte er noch etwas, als wolle er irgend etwas er; taten, was zwiſchen den Zeilen fland. Von Miera felbft faste ihm der Brief fo gut wie gar nichts fie blieb im Schatten, nur auf ihn fiel alles Licht: ach, und welch ein grelles Licht!

Er fann und bruͤtete noch eine ganze Meile über dem Briefe, den er von allen Seiten betrachtete. Dann erwachte er plöglich wie aus einer Betäubung.

„Huch Das ift nicht der richtige Brief: jener war auf blaßs blauem Papier gefchrieben !” fagte er fchroff, fich zu Wjera umwendend „und diefes Papier ift weiß...”

Doch Wiera war nicht mehr im Zimmer.

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Schftes Kapitel

18 Raiffi nach der Lektuͤre dieſes Briefes feine Faſſung

wiedererlangt hatte, war fein erfled, daß er Wierag Brief Wort für Wort abfehrieb und ihn als Material gu ihrer Charakteriftit feinem NRomanentwurf einverleibte. Dann verfant er von neuem in tiefed Bruͤten, nicht über dag, was fie von ihm gefchrieben hatte, denn er fühlte fich durchaus nicht verlegt burch ihr firenges Urteil, noch auch duch den Vergleich mit irgendeiner verliebten Dafchenta „was kann fie vom Wefen einer künftlerifch veranlagten Natur begreifen?” fagte er fich. Ihn intereffierte nur die eine Tatfache, baß biefer Brief ihm Antwort gab auf die Frage, ob fie ſich über feine Abreife freue. In diefer Hinficht blieb ihm nun faum ein Zweifel. Es focht ihn jetzt wenig an, ob feine Abreife ihr angenehm war oder nicht: um ihres Befindens willen dieſes Opfer gu bringen, fiel ihm num nicht mehr ein. Sobald erſt der Wurm des Zweifels fich wieder in feiner Seele geregt hatte, gewann ber grobe Egoismus von neuem Oberhand in ihm, fein Ich trat vor ihn Hin und verlangte „Dpfer”. Bon wem mochte nur jener dritte Brief fein? dieſe Frage quälte ihn unaufhörlih. In Nachdenken verfunten,

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ging er den ganzen Tag umher, halb unbewußt zu Mittag, ſprach weder mit der Großtante noch mit Mars finfa, ließ die Säfte, die fih am Abend einfanden, figen, ohne ein Wort mit ihnen gu wechfeln, und gab Jegorka Befehl, den Koffer wieder auf den Boden gu fragen und die Neifevorbereitungen abzubrechen. Der Gedanke an den Brief ftellte die Erſcheinung Wierag wieder ganz In den Vordergrund feines Intereſſes, fie nahm in feiner Vorſtellung die Geftalt einer geheimnigs vollen, in Schönheit prangenden böfen Zauberin an, und ber Reiz ihrer Schönheit übte aufihn eine um fo quälendere Wirs tung. Cr befam Eiferfuchtsanfälle, ging der Reihe nach alle Säfte des Haufes buch, forfchte forgfältig bei Marfinka und der Großtante, mit wen fie im Briefwechſel fländen. „Mit wem follen wir im Brieftwechfel fiehen?” fagte die Sroßtante. „An mich fchreibt kein Menſch, und Marfinka hat nur neulih vom Kaufmann einen Brief befommen.. .” „Das war bach fein Brief, Tantchen, fondern eine Rech⸗ nung über die Wolle und bie Stidmufter, bie ich neulich bei ihm gefauft habe!”

„Hat der Kaufmann nicht auch an Wiera gefchrieben ?” fragte Raiſki.

„Gewiß fie hat für die Frau des Geiftlichen Ware bei ihm entnommen...“

„Gebraucht er vielleicht blaßblaue Briefbogen ?”

„Isa, er fchreibt immer auf blaßblauem Papier, Woher willen Sie denn dag?”

Er gab feine Antwort, boch war ihm, als fiele ihm eine ſchwere Laft von der Bruft.

„Warum bat fie dann aber den Brief verfiedt?” ging's ihm fogleich wieder durch den Kopf, und abermals begannen ihn Sweifel und Sorge gu plagen.

[ir2 8o CH;

„ud, was geht e8 mich ſchließlich an, ber Teufel mag fie holen! Ich bin doch nicht verliebt In biefe kalte Statue!“ dachte er, blieb mitten auf dem Gartenwege fliehen und ſchaute wie betäubt mit ben rollenden Augen um fi. „Dort niftet fie, die Schlange!” dachte er und blidte voll Ingrimm nach ihrem Benfter, an dem der Wind den Vor⸗ bang bin und her bewegte.

„Ich will nur gehen, fonft glaubt fie am Ende, ich inter, effiere mich für fie... die Naͤrrin!“ brummte er halblaut vor fih hin, während feine Beine ihn ſchon nach der Frei⸗ treppe des alten Haufes trugen. Er hatte jeboch nicht ben Mut, bie Tür ihres Zimmers gu öffnen, und ging raſch nach feinem Zimmer, wo er, den Kopf auf ben Ellbogen geftäßt, bis zum Abend verblieb.

„Was mache ich nun aus meinem Roman?” dachte er. „Ich hatte fhon mein Schlußkapitel fertig, und nun iſt alles wieder anders gefommen, und ich fehe fein Ende!” Er ſchleuderte die Hefte in die Zimmerede.

Alles andere war wieder herausgeflogen aus feinem Kopfe: die Säfte der Großtante, Mark, Leontif, die lands liche Iyylle, die ihn umgab alles dag eriftierte für ihn nicht. Nur Miera fland ganz alıein auf dem Piedeſtal, von hellem Sonnenfchein beleuchtet, in marmorner Gleich⸗ guͤltigkeit erfirahlend, mit gebieterifcher Hanbbewegung jede Annäherung abwehrend; und er fehloß vor ihr die Augen, neigte den Kopf und ſprach in Gedanken: „Wera, Wiera, verfhone mich fieh, wie mich beine böfe, fiehende Schönheit zugrunde richtet! Nie hat ein Meib mir fo tiefe Wunden gefchlagen ...“

Zuweilen erſchien fie ihm in feltfamem Halbdunkel, wie die leibhaftige Nacht, von Sternenglang umleuchtet, mit böfem Lächeln, geheimnisvoll⸗zaͤrtlich mit irgend jemandem

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fläfternd, ihm felbft jeboch ſpoͤttiſch drohend, wie ein Irr⸗ licht verfchwindend und fommend, bald sitternd und zag⸗ haft, bald wieder kuͤhn und verwegen.

Sn der Nacht fand er feinen Schlaf, und am Tage ſprach er mit niemandem, nur wenig und magerte fogar etwas ab und alles dies um folcher Kleinigkeiten willen, alles wegen der einen lächerlichen Frage: wer ihe jenen Brief gefchrieben ?

Wenn fie ibm wenigſtens fagte: ber und der war es, oder die und bie, dann wäre alles gut, daun wuͤrde er fich bes ruhigen. Es war doch wirklich nichts weiter als eine ums bändige, aufgeflachelte Neugier, was ihn quaͤlte. Bes friedigte fie diefe Neugier dann war alle Dual, alle Uns euhe vorüber. Das war das ganze Geheimnis.

„Ih muß es um jeben Preis erfahren, von wen biefer Brief iſt,“ fagte er fih, „fonft verzehre ich mich Im Fieber. Nur dieſes eine will ich In Erfahrung bringen dann habe ich meine Ruhe wieder ‚und reife ab!”

Sogleich nach dem Tee begab er fih su Wiera hinauf, Sie war nicht zu Haufe Marina fagte, bag gnädige Fräulein babe den Hut aufgefest, die Mantille umgehängt, den Sonnenfhirm genommen und fei fortgegangen.

„Wohin denn?”

„Bott mag's wiſſen,“ antwortete fie „ſpazieren iſt fie gegangen; weiß benn unfereins, wo die Nerrfchaften hin⸗ gehen 2“

„Sagt das Fräulein es denn nicht?”

„Niemals und fragen darf man nicht, ba gibt's gleich Schelte!“

Auch zum Mittageſſen erſchien Wjera nicht. Ein neuer Schred befiel ihn.

„Wo iſt Wiera ?” fragte er bie Großtante.

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0830.

Sie rungelte bie Stirn und gab feine Antwort. Da wandte er fich mit feiner Frage an Marfinka.

„ch weiß nicht, wo fie if, Bruder,“ verfegte diefe. „Ih fab vorhin aus dem Benfter, daß fie nach dem Dorfe zus sing.”

„Wo ißt fie denn gu Mittag?”

„Sie bittet fi etwas Milch von ben Bauern aus, ober fie ißt, wenn fie kommt, Marina bringt ihe dann irgend etwas.“

„Lauter ſolche Einfälle gar nicht wie andere Leute!” murmelte bie Großtante vor fi hin. „San fo fonderbar, wie die Mutter war: an den Nerven liegt's bei ihr, wie bei der Mutter. Auch der Doktor redet immer nur von ben Nerven: laffen Sie fie in Ruhe, ſchonen Sie fie, wider⸗ fprechen Sie ihr nicht! Sie tanzt einem auf ber Nafe herum mit ihren Nerven !”

„Warum fragen Sie nicht, wohin fie immer ihre einfamen Spaziergänge macht?” fragte Raiſki.

„Wie darf ich mir denn erlauben, fie danach zu fragen? Sie würde ja böfe werden!” verfehte Tatjana Markowna ironiſch. „Mitunter fchließt fie fich für eine halbe Woche in ihrem Zimmer ein, und die Großtante darf nicht ein Wort fagen.”

„Wohin geht fie denn fo allein?” fagte Raifki leiſe. „Sie fagt es nicht. Ste geht immer allein aus, ſchon von jeher,” antwortete ihm Marfinka.

„und du?” „Ih würde um keinen Preis allein weggehen, ich würde mich fürchten I”

„Wovor?“

„Es gibt doch ſo vielerlei, wovor man ſich fürchten muß: vor Schlangen, Froͤſchen, Hunden, großen Schweinen,

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Raͤubern, Gefpenflern ... Auch vor Arina fuͤrchte ich. mich.” |

„Wer iſt Arina?“

„Eine Verruͤckte hier im Dorfe.“

„Und Wiera?“

„Die fuͤrchtet ſich vor nichts: ſie ließe ſich uͤber Nacht in der Kirche einſchließen, ohne auch nur einen Augenblick aͤngſtlich zu werden.“

„Frag' fie doch morgen, Marfinka, wo fie heute geweſen iſt!“ |

„Das würde fie fehr übel nehmen!”

„Alle Welt fürchtet ſich vor ihr wirklich fonberbar !” Tags darauf verließ fie wieder am frühen Morgen dag Haus und kehrte erfi am Abend wieder heim. Raiſki wußte nicht, was er beginnen follte vor innerer Dual und Uns gewißheit. Er ſpaͤhte überall in Garten und Feld nach ihre aus, er ging nach dem Dorfe, fragte dort fogar die Bauern aus, ob fie ihr nicht begegnet feten, forfchte in den Bauern⸗ hätten nach und verftieß auf jede Meife gegen fein Bers fprechen, ihr nicht nachzuſpuͤren.

Es war bereits dunkel geworben, als er, im dichten Ges hoͤlz der Schlucht umherirrend, fie plöglich von weitem ers blidte: gwifchen den Bäumen und Sträuchern, mit benen der Abhang beſtanden war, tauchte fie gang unerwartet auf, Ein Schred durchfuhr ihn förmlich, als er fie fo uns vermutet fab, und er ſtuͤrzte fo haſtig auf fie gu, daß auch fie erfchraf und ſtehen blieb.

„Wer tft da?” fragte fie,

„Biſt du ed... Wjera?“

„sa, ih bin es... warum?”

„Man hat dich überall gefucht ... . Niemand wußte, wo bu ſteckſt ? | |

6*

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„Ber bat mich geſucht?“ fragte fie, bie Stien runzelnd. „zantchen und Marfinta waren fo beforgt .. . .*

„Was iſt ihnen ploͤtzlich eingefallen? Niemals haben fie IH um mich Sorgen gemacht, und nun mit einem Male!l... Sie hätten ihnen fagen follen, ihre Angſt ſei überflüffig, Eein Menfch brauche ſich meinetiwegen zu bes unrubigen.”

„Auch Ich hatte Befürchtungen...”

„Anh Sie? Weshalb denn, wenn Ich fragen darf?” „Es kann bir fo leicht etwas zuſtoßen ...“

„Was zum Beifpiel?”

„Nun, irgendein Unfall was paffiert nicht alles! Bes teunfene treiben fich herum, dann gibt e8 Schlangen, und Raͤuber, und Hunde, große Schweine, Gefpenfter .. .” fuhr er fort, all die Dinge, vor denen Marfinka fich fürchtete, im Scherz aufjählend. „Sie könnten dir einen Schred einjagen ...“

„Das können nur Sie vor Räubern und Gefpenfteen fürchte ich mich nicht, dort wenigſtens“ fie jeigte nach der Schlucht „gibt e8 nichts derartiges.”

„Ein Ungläd iſt vafch gefchehen,” bemerfte er „wie leicht fommt man mitunter gu Schaden! . . .“

„Wenn ich einmal zu Schaden kommen follte, wuͤrde ich natürlich vorher nicht verfehlt Haben, mir dazu von Ihnen ober von Tantchen die Erlaubnis auszubitten,“ fagte fie fpöttifch und wandte fih zum Gehen.

„Welch ein hochmuͤtiges Geſchoͤpf!“ fläfterte er vor ſich bin. Dann fagte er laut: „Auf einen Augenblid noch, Wiera: entfehuldige, daß ich bir ben Brief an beine Freun⸗ din noch nicht zurüdgegeben babe. Hier iſt er. Ach wollte die ihn felbft bringen, aber du warft nicht da.”

Sie ftedte den Brief in die Tafche.

CH 85 CH)

„Und was ift mit dem anderen Briefe, ber noch da drin ſteckt? ..“ fragte er, fih nah ihr hinneigend, in freund; fihem Tone, doch mit zitternder Stimme.

„Welcher andere Brief... und wo foll er fleden ?”

„Der auf blaßblauem Papier... ben du noch in der Tafche haft...”

Mit banger Erwartung ſah er Ihrer Antwort entgegen. Sie fehrte ihre Tafche um.

„Ab, du haft ihn nicht mehr bei dir!” fagte Raiſki. „Won wem war er benn eigentlich ?”

„Der Brief auf dem blaßblauen Papier?... Der mar von der Frau des Geiftlichen, meiner Freundin,” fagte fie nach einem Meilen. „Sie hatte mir gefchrieben, und mein Brief war die Antwort auf ihe Schreiben.”

„Bon ber Frau des Geiftlichen 12” rief er laut, daß es weits bin durch den Garten Hang.

„Sa, natürlich!” beftätigte fie nochmals in gleichgältigem Tone und ging weiter.

„Bon der Frau des Geiftlichen I” wiederholte er im Stillen, und es war ihm, als würde ein Berg von feinen Schultern genommen. „Sch babe mich abgequalt und mir den Kopf gerbrohen und die Loͤſung des Raͤtſels iſt fo einfach! Bon der Frau des Geiftlihen! Die Sache iſt ganz Har: Brief und Antwort ftedten in derſelben Taſche! Nichte einfacher als das! Und daß fie mir diefen Brief nicht geigen wollte, ift wohl begreiflih: wer zeigt denn auch fremde Briefe herum, in benen von anderer Leute Ges beimniffen die Rebe iſt? ... Das ift doch fo einleuchtend ! Aber warum hat fie mir das nicht gleich geſagt, warum mußte fie mich erſt noch lange quälen ? Wie feltfam uͤbrigens: dieſer plöglihe Übergang von toller Unraſt und Aufs tegung zu vollem inneren Frieden! Jetzt herrſcht wieder

ON 86 CH

Ruhe und Harmonie Im ganzen Organismus. Mein Bott, weih ein herrlicher Abend! Diefer leuchtende Himmel, diefe lauen Lüfte wie koͤſtlich iſt das! Wie friſch, bes haglich und wohl ift mir zumute! Jetzt weiß ich alles, was ich wiſſen wollte, jet kann mich nichts mehr länger halten: in gwei Tagen reife ih ab!” „Jegor!“ rief er, als er auf ben Hof kam. „Was befehlen der Herr?” fragte eine Stimme aus dem Fenſter der Geſindeſtube.

„Sol doch morgen ganz fruͤh den Reiſekoffer vom Boden herunter!“

„Sehr wohl, anädiger Herr... .!” Am Hanbumbrehen war er gefund und munter geworben, eilte rafch Ins Haus, bat fich irgend etwas zu eflen aug, verwidelte die Großtante In ein unterhaltfames Ges fpräch, brachte Marfinka durch feine Iufligen Bemerkungen zum Lachen und fo viel, daß es für brei Tage ges reicht hätte, und daß die Großtante ganz außer fih war vor Freude. „Nun, Gott ſei Danf!” fagte fie. „Drei Tage lang ift er herumgeirrt, als wenn eine Schraube In ihm los wäre num foheint endlich wieder alles in Ord⸗ nung!... Wo fledt denn Wiera: Haft du fie gefehen ?“ fragte fie.

„Der. Brief ift von ber Frau des Geiftlichen,” platzte er flatt der Antwort heraus,

„Welcher Brief?” fragten Marfinka und die Großtante zu gleicher Zeit.

„Run, der auf dem blaßblauen Briefbogen, von bem ich neulih ſprach ...“

Er ſchlief in der naͤchſten Nacht ſo trefflich, daß alle die ſchlaflos verbrachten Stunden der letzten Naͤchte wett ge⸗ macht ſchienen. Wie einfach doch die Loͤſung des Raͤtſels

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war und er hatte fih drei Tage lang wahre Folter, qualen auferlegt!

„Eine alte Erfahrung übrigens,” fagte er ſich „gerade die einfachften Löfungen findet man oft am ſchwerſten. Das Ei des Kolumbug in einer neuen Geftalt ...” Diefer Vergleih gab ihm viel gu denken.

Am nächften Morgen erhob er fich feifh und munter, bag Herz von neuer Kraft und frohen Hoffnungen gefchwellt. Und alles das hatte der Umftand bewirkt, daß der blaß⸗ blaue Brief von ber Popenfrau war...

Er feßte ſich raſch an den Schreibtifeh, nahm feine Hefte vor und brachte alle feine Zweifel und Seelenqualen zu Papier, famt der Loͤſung, bie fie fchließlich gefunden. Die geiftvollen Bemerkungen, die fcharffinnigen Einfälle, . die Szenen und Reden floffen ihm nur fo gu. Er wollte noch einmal lefen, was Wiera In ihrem Briefe an die Freundin Aber ihm felbft gefchrieben, und holte die Abſchrift hervor, die er von ihrem Briefe genommen.

Begierig durchflog er ihre Zeilen, lag mit ftillem Lächeln die wenig fihmeichelhafte Darftellung, die fie in großen Zügen von feinem Charakter gegeben, ſeufzte bei jener Stelle, die ihm ein für allemal beftätigte, daß er auf eine zärtliche Neigung von ihrer Seite niemals hoffen koͤnne, (a8 voll Betruͤbnis ihre Klagen über feine ihre fo uners wuͤnſchten Annäherungsverfuche, blieb aber doch bei alles dem ganz ruhig und gelaflen, während geſtern er dachte mit Entfegen daran ein wilder Sturm feine Seele durch⸗ tobt hatte.

„Wohlan denn: ich will abreifen I” fagte er ſich „Ich will ihr die Ruhe, den Frieden wiedergeben. Welch ein ſtolzes, unbeugfames Herz! Sch Habe hier nichts mehr gu ſuchen wir beide haben einander nichts gu fagen ...“

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Noch einmal überflog er flüchtig die Zeilen und plößs fich weiteten fich feine Augen, er erbleichte und lag:

„Ih babe niemanden gefehen, an niemanden gefchrieben, nicht einmal an Did...”

„Niemanden gefeben... an niemanden gefchrieben... diefe Worte find unterftrichen I" fläfterte er vor fich Hin, und feine Lippen bebten, während feine Augen wild gu rollen begannen. „Dahinter ftedt irgend jemand, den fie font geſehen, an ben fie gefchrieben hat. Mein Gott der Brief auf dem blaßblauen Papier war alfo doch nicht von der Popenfrau!“ fprach er ganz entſetzt.

Ein Schauer begann ihn zu fehätteln, er firedte ſich lang aus auf dem Diwan und faßte fich veriweifelnd an ben Kopf.

Siebentes Kapitel

m naͤchſten Tage, gegen zehn Uhr morgens, klopfte jemand an feinem Zimmer. Bleich, mit finfterer Miene öffnete er bie Tür und ward flare vor Erſtaunen. Bor ihm flanden Wiera und Paulina Karpowna, bie letz⸗ tere in einem grellgelben Tuͤllkleide, das fie wie ein Nebel umgab, mit tiefem Bruftausfchnitt und kurzen Ärmeln, ganz mit Blumen, Bändern und Lödchen bededt. Sie glich jenen weißen, Heinen Pudeln, die, huͤbſch glatt ges foren und mit Schleifen, Halsbändern und fonfligem Schmud verziert, im Zirkus vorgeführt werben. Raiſki muflerte fie ganz entfeßt, fah dann finfter auf Wiera und hierauf wieder auf Pauline Karpowna. Sie hatte die Lippen zu einem füßlich-fanften Lächeln vergogen und fah ihn ſchweigend an, mit einem Blicke, der fich tief in ihn hineinzubohren fürchte; in ihrem efftatifchen Zus ftande, der durch die Hitze noch gefteigert fehlen, erinnerte fie an einen weichen, Halb zerſchmolzenen Bonbon. Alle drei ſchwiegen. „Ich liege zu Ihren Süßen!” begann die Krizkaja endlich mit verhaltenem Fluͤſtern. „Womit kann Ich Ihnen dienen?” fragte er wütend.

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„gu Ihren Süßen..." wiederholte fie „hr ritters liches Eintreten fär mich... . Ich finde feine Worte... bin ganz hin...“

Sie führte ihr Tafhentuh an die Augen.

„Was hat dag zu bedeuten, Wiera ?” fragte er ungeduldig. Miera fagte fein Wort, nur ihr Kinn begann gu zittern. „Nichts, nichts verjeiben Sie...“ begann Panlina Karpowna haſtig „vos moments sont pr&cieux: ich bin bereit!”

„ch fchrieb an Paulina Karpowna, daß Sie eingemwilligt haben, ihe Bild gu malen,” fagte Wjera endlich.

„Ach!?“ tönte es fcharf aus Raiflig Munde,

Er rieb fich Heftig die Stien.

„Das war's, was mir noch fehlte!” murmelte er zaͤhne⸗ knirſchend.

„Kommen Sie, wir wollen gleich aufangen!“ ſprach er dann in entſchiedenem Tone. „Erwarten Sie mich dort, im Saale!“

„Gut, gut, befehlen Ste, und wie werben... Allons, chere Wjera Waſſiljewna!“ fagte die Krizkaja haſtig und zog Wiera mit fich fort.

Er hätte fih Paulina Karpowna ohne Umftände vom Halfe sefchafft, wenn Wiera nicht bei den Sigungen zugegen gewefen wäre. Das wurbe ihm fogleich Har, als die beiden fih entfernt hatten.

Das an Feindfeligkeit flreifende Mißtrauen, das Wera gegen ihn hegte, und vor allem biefer rätfelhafte Brief hatten ihn fo heftig gereist, daß er fie beinahe haßte und doch fehlen Ihm jede Minute, die er mit Ihr sufammen verbringen konnte, ein Eöftlicher Gewinn. Noch immer Brannte er vor Verlangen, zu erfahren, von wem der Brief war,

CHI gL CH)

Er holte aus einer Ede des Zimmers eine auf den Rahmen gefpannte Leinwand hervor, die eigentlich für ein Porträt Mieras beflimmt war, und nahm Palette und Farben, Er Tieß von Waſſiliſſa eine Art Vorhänge zum Abdämpfen des eindringenden Lichtes in ben Saal bringen und verhängte alle Fenſter bis auf eins. Die Krizkaja muflerte er nur zwei⸗ oder dreimal mit flüchtigen, finfterem Blick, ftellte ihre einen Stuhl hin und nahm felbft vor der Leinwand Plag, „Sagen Ste, bitte, wie ich figen folll Seten Sie mid richtig Hin!” fagte: fie in einem Tone, aus dem zugleich Demut und Zärtlichkeit hervorklang.

„Setzen Sie fih, wie Sie wollen, nur figen Sie fill und fprechen Sie nicht, das fidrt mich,” antwortete er kurz. „Nicht einmal atmen werde ihl...” fläfterte fie, neigte den Kopf anmutig zur Seite, ſchloß die Augen ein wenig und fegte ein füßes Lächeln auf.

„Was für eine abfcheulihe Frage!” ging es Raiſki durch den Kopf. Bart, meine Liebe, ich will dich ſchon ab⸗ konterfeien!.

Ohne Umſtaͤnde ſchickte er die Großtante und Marfinka, die gekommen waren, um zuzuſehen, aus dem Saal fort. Jegorka, der geſehen hatte, daß der gnaͤdige Herr ein „Pas trat” zu malen begann, fam herein, um zu fragen, ob er nicht den Neifekoffer auf den Boden tragen folle. Raiſki wandte fich ſchweigend um und wies Ihm die Fauſt.

Boris begann zunächft bie Umriffe des Kopfes mit Kreide bingugeichnen, wobei er immer wätender auf die „abfcheus liche Frage” ſchaute, und fo feft ſetzte er dabei die Kreide auf, daß die abfpringenden Städchen nach allen Seiten - - flogen.

Wiera faß an der Tür, flihelte mit der Nadel an einer Stidarbeit herum und gähnte häufig; nur wenn fie einen

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Blick auf Paulina Karpownas Gefiht warf, begann Ihe Kinn zu zittern und Ihr Mund gu guden, als muͤſſe fie mit Gewalt ein Lächeln unterbräden. „Suis-je bien comme ga $“ wanbte fich bie Krizkaja fluͤſternd an Wiera „Oh, oui, tout-A-fait bien!“ antwortete Wera. Raiſki machte eine unmwillige Bewegung. „Ih wage nicht zu atmen!” ſtammelte Paulina Karpowna erfchroden und erftarrte in ihrer Poſe. Raiſki war mit der Kreibefkisge fertig; er nahm nun bie Dalette und begann, während er der Krisfaja feindfelige Blide zumarf, Augen und Nafe zu untermalen.

„Arme Alte, ach, wohin

Schwand die Schönheit dein?

Niemand, niemand denkt daran

Als nur du allein!” sitterte er unwillkuͤrlich. So oft fie feinem Blick begegnete, bemähte fie fich, noch füßer und zaͤrtlicher gu lächeln, Nah zwanzig Minuten war fie, da fie das Stillſitzen und Nichtatmen faft buchftäblih nahm, fo erfchöpft, daß ihre Stirn fih mit großen, an weiße Johannisbeeren erinnernde Schweißteopfen bededte und ihre Schläfenlödchen gan feucht wurden. „Es iſt fo heiß!” flüfterte fie. Do Raiſki fah fie mit firenger Miene an und malte uns barmberzig weiter. Noch eine Viertelſtunde verging. „Un verre d'eau!“ flüfterfe die Krizkaja kaum hörbar. „Unmoͤglich, warten Ste noch!” fagte Raiſki fireng. „3% bin eben bei den Lippen.” Paulina Karpowna ſuchte fich zu beherrfchen, als fie vers nehm, daß er „ihre Lächeln” male. Nur ſtoßweiſe, mit

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größter Anftrengung, wagte fie Atem zu fehöpfen, und In ihrem Bemühen, fih nur um feinen Preis gu rühren, bes gann fie auch an Hals und Bruft zu fchwigen. Raiſki aber malte und malte, ald ob er nichts bemerkte,

„Paulina Karpowna ift erfchäpft!” fagte Wiera.

Raiſki fchwieg. Die Unterlippe ber Krizkaja ſank fchlaff herunter, fo fehr fie fih auch bemühte, fie an ihrem Plate feftzuhalten. Aus ihrer Bruſt kam ein leichtes Pfeifen. Raiſki tat nichts ald nur malen, malen. Paulina Karpowna bewegte tonlos die Lippen, als wolle fie etwas fagen, und die Schweißtropfen rollten ihr ſchon von ber Stirn auf die Arme hinab.

„Warten Sie noch ein Weilchen,” fagte Raiſki.

„Ih kriege keinen Atem!” kam es pfeifend aus Paulina Karpownas Munde,

Raiſki war felbft ſchon ermattet, doch feine Wut beherrfchte ihn ganz, und er fühlte weder Müdigkeit noch Mitleid mit feinem Opfer. Noch fünf Minuten gingen hin.

„Ah... ah... je n’en puis plus... ac, ach!” rief die Krizkaja und fiel vom Stuhle. Raiſki und Wiera fprangen auf fie zu und brachten fie nach dem Diwan. Gie holten Waffer, Eau de Cologne, einen Fächer, und allmählich kam fie, mit Wieras Hilfe, wieder gu fih. Sie ging in den Garten, und Raiſki blieb mie Wera allein zuruͤck. Er warf ihe einen rafchen, feindlichen Blick

iu. |

„Der Brief iſt nicht von der Frau bed Popen !” ziſchte er. Wiera antwortete ihm gleichfallg mit einem Blicke, fo jaͤh und rafch wie der Blitz; dann ließ fie ihre Augen auf ihm ruhen, bie num wieder fo burchfihtig und gläfern erſchienen wie Nirenaugen.

„Wiera, MWiera,” fprach er leiſe, mit teodenen Lippen,

00 94 00 während er ihre Hand ergriff „du haft kein Vertrauen gu mie!" | „Ad, lafien Ste mich!” fagte fie ungeduldig und entjog ihm ihre Hand. „Was foll Ihnen mein Vertrauen? Woyn bedürfen Sie feiner?” Sie begab fih zu Paulina Karpowna in ben Garten. „a, fie hat recht: was foll mir ihr Vertrauen? Und doch Ih muß es befigen, mein Gott, um endlich diefer Aufregung Here zu werben, um binter ihr Geheimnis gu fommen denn ein folches liegt vor und dann abs zureifen. Nein, ich kann nicht abreifen, ohne dahinter ges fommen zu fein, wer und was fie iſt!“ „Jegor!“ fagte er, Ind Vorzimmer Hinaustretend? „being ben Koffer wieder nach dem Boden!” Er arbeitete noch eine halbe Stunde lang an bem Porträt der Krizkaja, feste die naͤchſte Sitzung auf den folgenden Tag feft und wandte nun wieder feine ganze Aufmerkffams keit der Loͤſung ber Frage zu, von wem ber blaßblaue Brief fein könnte. Nur dies wollte ee noch in Erfahrung bringen weiter nichts, dann wollte er ganz beſtimmt abreifen. Das Schlimme an der Sache war eben diefe Heimlichkeit: fie war eg, die Ihm fo viel Pein bereitete. Mit mißtrauiſchem Blide fah er auf die Großtante, auf Marfinka, auf Tit Nikonytſch, auf Marina ja, naments lich auf diefe, die ja Wieras Kammerzofe war und ihre Vers traute zu fein ſchien. Marina aber huſchte nach wie vor, ſich in den ſchlanken Huͤften wiegend, wie eine Eidechſe uͤber den Hof, bald mit dem Buͤgeleiſen und friſch geplaͤtteten Unterroͤcken, bald auf der Flucht vor den Schlaͤgen Sawelijs, laut heulend und gleich darauf uͤbers ganze Geſicht lachend, und wie ſie ſonſt den Knuͤtteln oder Ziegelſtuͤcken auswich, die Ihr Mann

cn 08 (X ihe nachmarf, fo ging fie jet den Kragen Raiſkis aus dem Wege. Sie wandte, fobald fie ihn fah, ihr Geficht ab, fenfte die gelben, frechen Augen zu Boden und fuchte ihn in möglichft großem Bogen zu umgehen. „Diefe Kanaille fcheint in alles eingeweiht gu fein!” bachte er, doch feheute er davor zuruͤck, fie eingehender gu befragen, weil er dann wieber den Vorwurf bes Spionierens auf fih geladen hätte, und weil fein eigenes Gefühl fich doch gegen eine ſolche Schnüffelei ſtraͤubte. Da hatte er ihr nun in fo feierlicher Weife fein Wort vers pfaͤndet, fich beherrfchen gu wollen, ihr ein Freund im eins fachen, wahren Sinne diefed Wortes gu werden. Zwei Wochen hatte er fih dafür als Frift geſetzt o Gott, und was hatte er num erreicht! Welche törichte Dual hatte er da feiner Seele aufgeladen, ohne Liebe, ohne Leidenfchaft ganz freiwillig hatte er fih einer Folter unterzogen, die ihm nur Leiden bot, nur peinlihe Empfindungen bes reitete. Nun fchien es doch faft, daß er, der fo wählerifch, fo unabhängig und ſtolz war er wenigftens hielt fich für ſtolz daß er fie wirklich Tiebte, und daß man, wie der fharffinnige Zyniker Mark ſich ausdrädte, „ihm dies am Geſichte anfah”. Mitten in diefem Kampfe aber, biefen Inneren Qualen regte fich in feinem Herzen das Vorgefühl einer großen Leidenfchaft: er ſchwelgte im Vorgenuß der köftlichen Emps findungen, bie ihm bevorftanden, laufchte voll Entzuͤcken anf das Nollen des fernen Gewitter und malte fih aus, wie herrlich es fein müßte, feine Seele fo ganz in Luft und Wonne zu baden, fein Leben im Feuer hoͤchſten Gefuͤhles gu laͤutern und einen beftuchtenden Regen auf bag vers dorete Feld feines Dafeins niebergehen zu laffen. Was war bie Kunfl, was war ſelbſt ber Ruhm gegenüber

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diefen ſuͤßen Stärmen des Herzens! Was bebeuteten, im Vergleich damit, all die flidigen, ſchwuͤlen Gafe ber polls tifhen und ſozialen Stärme, in denen nur Ideen kämpfen, fhattenhafte Schemen ohne Glut, ohne Nerven, nicht wert der Begeifterung, mit der bie Jugend ihnen anhängtl Diefe „Leidenfchaften des Kopfes” find doch nichts weiter als ein Spiel der kalten Selbftfucht, Ideen ohne Schönheit, oft nur nachgebetet und zufammengelefen, bar alles inneren Seuerg, aller Luft und Dual.

„Rein, ich will nichts weiter als bie gang gewöhnliche, lebendige, animalifche Leibenfchaft, mit all Ihrem Blitz und Donner. Ad, die Leidenfchaft, die Leidenſchaft!...“ hätte ee am liebſten aufgefchrieen, wie er fo durch den Garten ſchritt und in vollen Zügen bie frifche Luft eins atmete.

Doch Wiera gab fie ihm nicht, diefe Leidenfhaft, und es ſchien ihrer Eigenlicbe fo gar nicht gu fehmeicheln, fie in ihm zu erregen. |

Auch in ihm hatte ja nicht die Eigenliebe allein die Hoffs nung genaͤhrt, baß er doch endlich Wiera näher treten würde. Er hatte fih nicht mit der vermeſſenen Abficht getragen, mit Gewalt von ihrem Herzen Beſitz zu ergreifen, wie es dem Weſen eines erften beflen Don Juans mit glatten Wangen und Heinem Hirn entfprochen hätte, Dem es nur darauf ankam, um jeden Preis einen Erfolg gu erringen. Seine Hoffnung war von fohüchterner, fliller Art geweſen vielleicht, hatte fie ihm sugeflüftert, wuͤrde er doch noch einmal auf Wera Eindruck machen; doch auch diefe Hoffs nung war num gefchwunden.

Als er Wjeras Brief an die Freundin las, hatte diefe leife Hoffnung, ohne daß er felbft es merkte, wieber einige Nahrung erhalten. Ste hatte in dem Briefe befannt, daß

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er, Raiſki, viel Verſtand und Wiffen, viel Geiſt und Talent befige, daß fie fich vielleicht früher von diefem Wirbel hätte fortreißen laffen, doch jet...“

Diefes „vielleicht”, das den Menfchen auch in der verzwels feltften Lage noch nach dem rettenden Strohhalm aus⸗ (hauen läßt, zog jeßt auch Raiſki, zwar nicht in die eigent⸗ fihe Wolfe der Leibenfchaft, aber doch in ihre heiße Atmo⸗ ſphaͤre hinein, aus der fih nur flarke, wahrhaft folge Cha⸗ raktere zu retten vermögen,

Ja, immer noch glähte in ihm dieſes Fuͤnkchen von Hoff, nung auf eine gegenfeltige Annäherung. ober fonft ein Etwas, über das er fich felbft noch nicht völlig Har war; und mit jedem Tage wurde es ihm, wie er deutlich fühlte, immer ſchwerer und ſchwerer, fich jener heißen, betäubenden Atmoſphaͤre zu entziehen.

Nicht vor einer Woche nein, vor einem Monat, oder vor Wieras Ankunft, oder gleich nach der erflen Begegnung mit ihr hätte er daran denken follen, abzureifen, fich vor ihr zu retten: jetzt wuͤrde Jegorka wohl kaum wieder in die Lage kommen, ben Reiſekoffer vom Boden su Holen. „Gib mir diefe Leidenfchaft!” ftöhnte er, während er fich in der ſchwuͤlen Sommernacht gwifchen den weichen Betten der Großtante waͤlzte. „Gib fie mir, die volle, ganze Leidenſchaft, die mich verzehrt und zugrunde richtet ja, mag fie es nur tun! die mich aber auch In vollen Zügen, bis zur Sattheit, trinken laßt aus Ihrem Becher! Oder fag’ mir kurz und bündig, von wem der Brief ift, und wen du Tiebft, feit wann bu ihn liebſt, und ob diefe Liebe ewig dauern wird! Dann werbe ich zur Ruhe kommen und ges funden benn die Hoffnungslofigkeit macht gefund! Sept aber raunt eine blinde, törichte Hoffnung mir immer wieder ins Ohr: vergweifle nicht, fürchte Ihre Strenge nicht, 17

C 98 0%

fie it jung wenn bie jemand zuvorgekommen if, fo kann das erft kürzlich gefcheben fein. Noch kann in biefem Saufe, wo Dutende von Augenpaaren fie beobachteten, wo Vorurteile, Befürchtungen und bie altfränfifhe Moral der Sroßtante fie auf Schritt und Tritt hemmen, ihre Liebe zu jenem andern nicht weit gebiehen fein. Wart“s nur ab bu wirft ben Eindrud verwifchen, und dann... ufw. Und folange diefe Hoffnung noch fläftert: fo lange kann bie Sefundung nicht erfolgen!“

„Ih will zu ihe geben! Ich halte es nicht mehr aus!“ entfchieb er eines Tages, ald eben ber Abend bereingebäms mert war. „Ich will ihr alles, alles fagen .. . und die Ant⸗ wort, die fie mir gibt, foll mein Schichſal entfcheiben. Ent, weber Heilung oder Untergang!”

Achtes Kapitel

ziesmal Hopfte er an ihre Tuͤr. „Wer tft da?” fragte fie.

Ich bin es,” fagte er und fledte fchüchtern den Kopf durch die Offnung. „Darf ich eintreten ?” Sie ſaß mit einem Buche am Fenfter, doch ſchien das Buch ſie nur wenig zu feſſeln: ſie war zerſtreut, oder in Nachdenken verſunken. Statt zu antworten, ruͤckte fie Raiſki einen Stuhl hin. „E83 iſt heut nicht fo heiß, das Wetter iſt angenehm," fagte er. „Sa, ich war an der Wolga dort iſt's fogar etwas fühl,” bemerkte fie. „Das Wetter fcheint fich gu ändern.” Sie ſchwiegen beide ein Weilchen. „Was lauten fie denn heute fo lange in ber —— gu fragte ee „iſt morgen Feiertag?” Ich weiß es nicht; warum?” „So ... ich wollte ein Schläfehen machen, aber dag Ges laut und bie Fliegen haben mich geſtoͤrt. Wie viel Fliegen es hier im Haufe gibt! Wo kommen die nur alle her?” „Es iſt jet die Zeit des ne da find fie befonders gefchäftig .. .“ 7*

CH} 100 (3

"a6, ganz recht! Dbfleinmacen... Darum läuft auch Paſchutka in einem fort Hin und ber und Deledt fi bie tippen ... Und die Mädchen In der Seſindeſtube, und auch Marfinka fie alle haben einen ſchwarzen Mund... Du machſt die nicht viel aus eingemachten Fruͤchten 7 Sie ſchuͤttelte ben Kopf.

Jegor hat geftern Ihren Koffer wieder auf den Boden getragen ich fah es zufällig..." fagte fie nach einem Meilen.

„a; warum?”

„Ich fage es nur fo...“

„Du möchteft willen, ob Ich abreife, und wann?.. .“ „Das nicht...“

„Leugne doch nicht, Wjiera! Ich würde ed ganz natürlich finden, daß du Danach fragſt. Und ich antworte bir darauf, Daß das ganz von dir abhängt.“

„Wieder einmal von mir!”

„Ja, nur von dir das weißt bu.”

Sie fah gleichgültig zum Fenſter hinaus.

„Sie legen meinem Tun eine viel gu große Bedeutung bei,” fagte fie.

„Bielleicht was wirft du alfo tun?“

„Soweit es fih um mich handelt gar nichts; und fowelt Sie in Betracht fommen, werde ich immer das tun, was Ihrem Gluͤcke, Ihrer Behaglichkeit, Ihrer Ruhe und froben Stimmung am meiften dienen fann .. .”

„Halt, du bringft die Begriffe durcheinander, bier heißt eg, nah Art und Verwandtſchaft unterfcheiben: Behaglichkeit und Ruhe fliehen auf der einen, Gluͤck und frohe SANS auf der andern Seite. Und nun entfcheide I“

„Was Ahnen am meiften koͤnnen Sie doch nur ſelbſt entfcheiben I”

GG 101 CH

„Ich habe die Beobachtung gemacht, baß du den Dingen gern ausweichſt: nie fprichft du einen Gebanten, einen Wunſch offen und gerade aus, fondern gehft erſt im Kreife herum. Nein, Wera, ich kann hier nicht frei wählen: ents fcheide du für mich, und was du mir zuteilft, will ich hin⸗ nehmen. Nimm feine Rüdficht auf mich, denk nur an dich und an das, wag bir genehm iſt.“

„Ste werben fich nach dem, was ich fage, boch nicht richten, darum ſchweige ich Lieber.”

„Wie kommſt du dazu, dag gu behaupten ?”

„Wie oft hat nun fhon Jegorka den Koffer vom Boden geholt und wieder zurudgetragen 7“ fragte fie, ſtatt Ihm zu antworten.

„Du willſt alſo im Ernſt, daß ich abreiſe?“

Sie ſchwieg.

„Sag’ ja, und ich reife morgen ab!“

Sie fah Ihn an und wandte ihren Blick dann nah dem Fenſter.

„Ich glaube Ihnen nicht,“ ſagte ſie.

„Verſuch's einmal, ſprich das entſcheidende Wort viel⸗ leicht wirſt du mir dann doch glauben.“

„Wohlan denn: ſo reiſen Sie!“ ſagte ſie ploͤtzlich. „Erlaube einmal...” entgegnete er, einen Seufzer unters druͤckend „es ift mir recht ſchwer, ja faft unmöglich, abs iureifen; aber wenn es dir fo unangenehm ift, daß ich Hier Bin...” „Bielleicht fagt fie doch: ‚nein, es ift mir nicht unangenehm‘, "dachte er und gögerte einen Augenblick

„dann ...“

„Dann reiſen Sie ab!“ wiederholte ſie, waͤhrend ſie ſich von ihrem Platze erhob und nach dem Fenſter hin⸗

ſchritt. „Gewiß, ich werde abreiſen, du brauchſt mich nicht fort⸗

O 102 CH)

ulagen,“ fagte er mit gegwungenem Lächeln „aber du fannft mir die Sache erleichtern, ja ſogar meine Abreife befchleunigen . . +“

„te dag?“

„Ich wiederhole dir: von die allein hängt es ab...“ „Verlangen Sie Irgendweiche Opfer? Ich Bin fogar bereit, ſelbſt Ihren Koffer vom Boden gu holen... .“

Er antwortete nicht auf ihren Scherz.

„Nun, alfo was?“

„Sag’ mir erftens, ob du jemanden lieb?”

Ste wandte fich lebhaft zu ihm um und ſah ihn erflaunt an. „Und fag’” mie dann zweitens, von wem ber Brief auf dem blaßblauen Papier war denn von ber Popenfrau war er nicht!” fügte er eilig hinzu.

„Muͤſſen Sie das wirklich willen, um über Ihre Abreife entfcheiben zu koͤnnen?“ fragte fie, ihn mit großen Yugen anfehend.

„Ich will dir diefe Frage beantworten, Wiera aber um das, was ich dir zu fagen habe, gu begreifen, darfſt du nicht fo erſtaunt breinfchauen, fondern mußt mich geduldig anhören und dann mit vollem Verſtaͤndnis entichels den...”

wit die Sache fo ſchwer gu begreifen ?“

„Deiner Herzensgäte und Teilnahme bedarf es, und deiner Sreundfchaft, deren du mich einft würbigen wollteft, und die du mir aus irgendeinem Grunde wieder entzogen haft...”

„Ich zahle mit Freundſchaft, wo man mir Freundſchaft entgegenbringt, Bruder,“ ſagte ſie ein wenig ſanfter. „Bringe ich dir vielleicht Feine Freundſchaft entgegen?“ Sie ſchuͤttelte verneinend den Kopf.

„Was iſt es denn ſonſt, was ich für dich empfinde: du ſiehſt

GA 103 CH

doch, daß ich bir nicht fremd bin, ganz abgeſehen von unſerer Verwandtſchaft ...“

„Das iſt nicht Freundſchaft...“

„Run, dann iſt es vielleicht Liebe?” „Ich bedarf Ihrer Liebe nicht ich teile fie nicht... .” „Ih weiß das und darum eben will ich bie erflären, weshalb nur du allein bewirken kannſt, daß auch in mie dieſes Gefühl aufhäre!” „Ich glaube nichts getan zu haben, was Ihm Nahrung geben koͤnnte...“

„Im Gegenteil: du haͤtteſt dich nicht anders Benehmen fönnen, wenn du es darauf abgefehen häfteft, mich zur Liebe zu entflammen. Du haft mich ſtolz von dir gewieſen und dadurch meine Eigenliebe gefränft, dann Haft du dich mit Geheimniffen umgeben und meine Neugier: gereist. Deine Schoͤnheit, dein Geift, bein Charakter haben dag übrige getan und num flieht ein Menfch vor die, der in dich wahnfinnig verliebt iſt! Mit Freuden würde ich mich in den Abgrund ber Leidenfchaft flärgen und mich dem Strome überlaffen: ich habe mich nach ihr gefehnt, habe geträumt von der Leidenſchaft und würde ihr den Meft meines Lebens opfern, du aber haſt es ... nicht gewollt... und bu willft es auch jegt nicht... wie?”

Er blickte ihe von der Seite ind Geſicht.

„Rein Ih will nicht,” fagte fie ruhig und beftimmt. „Rün, ich habe alles dagegen getan, was in meinen Kräften lag; ich habe ehrlich gefämpft, wie du felbft gefehen haft. Kein Mittel Habe ich unverfucht gelaffen, um biefe Liebe in Freundſchaft umzuwandeln, doch wurde es mir immer Harer und Harer, daß eine Freundſchaft mit einem jungen, ſchoͤnen Weibe ein Unding If, und num fehe ich nur zwei Möglichkeiten, ans meiner Lage herauszukommen . . .“

TMA IO4 TE:

Er hielt einen Ungenblid inne.

„Die eine dieſer Möglichkeiten haft du mir abgefchnitten: es war bie Hoffnung, doch noch auf deiner Seite Gegen; fiebe zu finden. Die Leidenſchaft findet ihre Auslöfung in gegenfeitigem Nachgeben, in der Erfüllung des Gluͤcks und verwandelt fich, je nach den Umfländen, in was man will: in Freundſchaft, in tiefe, heilige, unerſchuͤtterliche liebe an die ich freilich nicht glaube; doch in was fie fih auch immer umwandeln mag, jedenfalls hat fie Ruhe, Befrie⸗ digung im Gefolge... Du nimmft mir jede Hoffnung ... . - auf folh ein Gluͤck... nicht wahr?”

Er näherte fich wiederum ihrem Gefichte und fah ihre fors (chend in die Augen. Sie nidt beflätigend mit dem Kopfe. „3a, jede,” wiederholte fie.

„Nun ...“ fagte er „um ben Schmerz biefer Hoffnungs⸗ loſigkeit zu befeitigen, oder die Hoffnung für immer gu töten, iſt unbedingt erforderlich, daß du...“

„Was?“ | „Daß du tuſt, was ich ſchon immer fagte daß du bekennſt: ‚ja, ich liebe‘, und daß du mir fagft, von wen der blaßblaue Brief war, Dies wäre die zweite Möglichkeit, mic aus meiner unglüdlichen Lage gu erlöfen ...“

„Und wenn ich weder das eine noch das andere tue?” fragte fie ſtolz, fih vom Fenſter abwendend und Ihn voll ans blickend. | „Sprih nicht in diefem ſtolzen, geringfhägigen Tome!“ verfeßte er lebhaft „das kann meine Leibenfhaft nur reisen, während ich doch in der Hoffnung zu dir gelommen bin, bei die freundfchaftliche Teilnahme oder gar Hilfe gu finden, wenn du ſchon meine wahnfinnigen Träume nicht Aare kannſt. Doch Ich fehe, Wiern, daß du böfe biſt von Gemüt...”

CH} 105 CK)

„And Sie find ein Egoiſt, Boris Pawlowitſch! In Ihrem Kopfe tft irgendeine Phantafle aufgebämmert und bie ſoll ich num teilen, foll Ihren Schmerz heilen und lindern ja, was gehen Sie mich, was gehe ich Sie benn im Grunde genommen an? Sch verlange von Ihnen nur eins Ruhe! Ich habe ein Hecht auf fie, ich bin frei wie ber Wind in der Steppe, gehöre niemand, fürchte mich vor niemand...” „Auch ich war noch vor zwei Wochen frei und ſtolz und jest ift mein Stolz, meine Sreiheit hin, und ich babe Furcht... vor dir!” Ste fah Ihn geringfchätig an und zuckte leicht die Achſeln. bone mich mit diefen Bliden Ich möchte nicht wünfcen, daß die etwas Ahnliches begegnet!” ſprach er leiſe, faft für ſich. „Ich fürchte mich nicht, ed wird mie nichts begegnen I” „Auch die Kinder fürchten fich nicht, wenn bie Kinderfrau ihnen mit dem Wolfe droht, und ſtammeln tapfer: ‚Sch werde ihn £otfchlagen !! Deine Tapferkeit iſt gang die eines Kindes, und wie ein Kind wirft du hilflos fein, wenn deine Stunde fommt...” „sh fürchte mich vor nicheg,“ wiederholte fie „auch vor Ihrem Wolfe, der Leidenfchaft, nicht! Sie können mic nicht erfchredten: das iſt alles nur anempfunden bei Ihnen, und ich habe nicht einmal Mitleid mit Ihnen!” „Du biſt böfe! Und wenn ich krank würde, in ein Fieber verfiele? Tantchen und Marfinka würden mich dann bes fuchen, würden mich pflegen, mie Linderung verfchaffen. Wuͤrdeſt dn auch da gleichgültig Bleiben, dich nicht um mich kümmern, nicht nach mir erkundigen...” „Wenn Ste krank würden? Das wäre etwas anderes . . ." „Bin ich denn jeßt gefund ? Bin ich nicht Frank, bift du nicht die Urſache meiner Krankheit? ...“

GN 106 CO

„Zeifft mich vielleicht eine Schuld 1“

„Du wuͤrdeſt auch nicht ſchuld fein, wenn Ich mic bei einer Bootfahrt auf ber Wolga erlältete und mich frank ind Bett legen mäßte!“

„Dafür gibt es Mittel, Argneien .. .” „Auch für mein Leiden gibt es ein Mittel, das ficher wirken würde, und ich habe es die genannt. Ich ſcherze nicht: nur die volle Hoffnungsloſigkeit vermag die Leidenfhaft im Keime zu erftiden.“ „Habe ich Ihnen denn nicht ſchon jede Hoffnung benommen ? Ich würde Sie niemals lieben, ich fagte es Ihnen bereits I” „Mag fein aber leider kann ich deinem Worte nicht glauben, oder wenn ich ihm ſchon glaube, fo iſt's doch nur für einen Tag, und dann besinnen ſchon wieder neue Hoffnungen zu keimen. Die Leidenfhaft ſtirbt erſt, wenn auch der Grund geftorben ift, ber fie hervorruft, wenn fie nicht mehr gereist wird...“

„Sterben foll ih? Nein, Bruder, biefes Dpfer kann ich Ihnen doch nicht bringen...“ „Das ſollſt du auch nicht! Sag’ nur, ob bu einen andern liebſt, und von wen jener Brief war: das ift für mich fo viel, als waͤreſt du geſtorben.“ Er ſprach in einem Tone, aus dem Ernſt und Waͤrme deutlich hervorklangen. Sie verſank in Nachdenken und wandte ſich, offenbar in innerem Kampfe begriffen, dem Fenſter zu, um gleich darauf ihr Geſicht ihm zuzukehren. „Wohlen ...“ ſagte fie, ihre. Stimme daͤmpfend und ein wenig zoͤgernd „ih... liebe... einen andern...“ „Wen?“ ftieß er Jah hervor und fprang vom Stuhle auf. „Warum find Sie fo erfchroden? Sie wollten es doc um jeden Preis wilfen beruhigen Sie fich alfo und reifen Sie ab, denn Sie wiſſen es jegt.“.

00 107 c

„Wen?“ wieberholte er, ohne auf fie su hören.

„Was tut der Name sur Sache?”

„Der Name, der Name! Wer hat den Brief geſchtieben qu rief er mit gitternder Stimme.

„Niemand. Ich babe mir das nur ausgebacht, ich liebe niemanden, ber Brief war von meiner Freundin,” fagte fie gleihmätig und fah auf ihn, der feine glühenden Augen voll Erresung auf fie geheftet hielt. Der dunkle Samtfchleier ſchwand nad und nach von ihren Augen, fie wurden heller uUnd erſchienen fchlieglih gang durchſichtig. Alles Denken war gleichſam aus ihnen geſchwunden, nichts von dem, was in ihrer Seele vorging, war in ihnen zu leſen. „Sprich um Gottes Willen, laß mich nicht in dieſen Ab⸗ grund verſinken: die Wahrheit, die reine Wahrheit und ich kann mich retten; die geringſte Luͤge und ich gehe auf den Grund!“

„Sagen Sie, Bruder: ſpielen Sie nicht vielleicht mit mir irgendein abgefeimtes Spiel?...“

„Bei Gott, ich weiß es nicht: aber wenn das ein Spiel iſt, ſo iſt es jenem gleich, das der Menſch ſpielt, wenn er den letzten Groſchen auf eine Karte ſetzt, waͤhrend er mit der andern Hand nach der Piſtole in ſeiner Taſche greift. Oh, ende dieſe Folter, ſag mir die Wahrheit und die Leidens (haft verläfcht, ich werde ruhig, werde felbft mit die gu; fammen über mich lachen, werbe morgen abreifen. Ich kam zu bir, um dir das zu fagen ... .“

„Sie find nicht nur ein Egoift, fondern auch ein Defpot, Bruder: faum habe ich ben Mund geöffnet und gefagt, daß ich einen andern liebe nur, um Sie auf die Probe gu fiellen fo find Sie gleich ganz aus dem Häuschen: sieben finfter die Brauen zuſammen, unterwerfen mich einem peinlihen Verhoͤr... und dabei find Sie doc ein

00 108 OO

Menſch von Bildung, ein homme blase, ein großes Herz, ein Ritter der Freiheit ad, ſchaͤmen Sie ſich! Ich ſehe nun, daß Ste auch zur Freundſchaft nicht taugen. Rum, und wenn ich wirklich lieben follte,“ fügte fie mit leifer, doch fefler Stimme hinzu und ſchloß das Fenſter dann ?” „Nichts!“ fagte er in rubigem Tone. Sie fah ihn erftaunt an: es ſchien Ihm wirklich Eruſt zu fein mit diefem „Nichts“.

„Du ſiehſt, wie das Vertrauen wirkt,“ fuhr er fort „ich bin vollkommen ruhig, alles khmeigt in mir, bie Hoffs nungen flerben ab, wie bie Sliegen . . .“ ‚Run alfo, angenommen, ih... liebe,“ begann fie noch leiſer.

„Nimm dein ‚angenommen‘ zuruͤck: es laͤßt einen Zweifel zu, und der Zweifel weckt wieder die Hoffnung.“ gut alſo, ich liebe...“

Men?” fragte er laut fläfternd.

„Sie fragen wieder nach dem Namen |” „Ya, ich muß den Namen wiffen nur dann werde ich

mich beruhigen und abreifen. Sonſt glaube ich es nicht, und werbe eg fe lange nicht glauben, als du den Namen geheimhaͤltſt .. „Marfinka erzählte mir doch aber, Sie hätten ihr die Frei⸗ beit der Liebe geprebigt, hätten ihr geraten, nicht auf Tantchen zu hören und nun find Sie felbft ſchlimmer als Sie verlangen, fremde Geheimniſſe zu willen... „Ich nichts, Wiera Ich bitte nur, daß du mid in Ruhe abreifen Iaffen mächteft: das tft alles! Fluch über den, ber dich in deiner Freiheit befchränfen will...“ „Ste verfluchen nur ſich felbfe: warum wollen Sie ben

COX 109 CK.

Namen wiflen? Wenn Tantchen fich. in dieſer Beziehung uneuhig zeigte, würde ich's begreifen: fie könnte eben fhrchten, daß ich mein Herz an jemanden verfchente, ber

ihr unwuͤrdig ſcheint. Aber Sie, der Sie die Freiheit pre⸗ digen! ...“

Wuͤrde ich dir denn verbieten wollen, zu lieben, wen bu will? Und wenn deine Wahl ſelbſt auf Nil Andreltſch file mir wäre alles gleich! Ich muß den Namen wiflen, uam davon überzeugt gu fein, Daß es wahr tft, um ganz erfalten gu können. Ich weiß, daß mich dann fofort die Langeweile erfaßt, und daß ich beſtimmt abreife. . .” Sie verfiel in tiefes Nachfinnen.

„Iſt die Leidenfchaft eine Rechtfertigung für jede Wahl, auf wen fie auch fallen mag?"

„sa, Wera, für jede. Ich wieberhole dir, was ich auch (bon zu Marfinka fagte: liebe, wen du will, ohne jes manden zu fragen, ob der, | den du liebſt, auch würdig iſt geh kuͤhn deinen Weg...“

„Und neulich Im Garten warnten Sie mich doch ſelbſt vor der Gefahr...“

Ich warnte dich vor Raͤubern und Hunden, aber nicht vor der Leidenſchaft!“

„Und ich kann lieben, wen ich will?“ fragte ſie in leicht ſcherzendem Tone „ohne jemand zu fragen?...“

„Weber Santchen, noch die oͤffentliche Meinung...”

„Roh Sie?...“ |

„Mich noch weniger als jeben andern: ich bin im Gegenteil bereit, die zu helfen, beine Leibenfchaft angufachen... Du zweifelft an meiner Großmut da haft du fiel Wähle mid zu deinem Vertrauten! Ach werbe bich ſelbſt tiefer in diefe Glut hineinftoßen . . .”

Sie blickte ihn verfiohlen an,

GO 110 O0

„Run fag’ mir den Namen bed Glädlihen, Wiera .. .” „Ja, ja... fpäter einmal, wenn..."

„Wenn ich abreife? Ach, wenn mir doch ſolch ein Sluͤck zuteil würde!” fagte er, während er Wiera mit glähenden Biden anfah und ihre Hand ergriff. Ein Raufh ums nebelte wieder, wie bei einem Betrunkenen, fein Hirn. „Die Leidenfhaft! Höre, Wiera es gibt noch einen Ausweg aus meiner Lage,” fuhr er in heißer Erregung fort. „Ich wollte dir ihn nicht nennen, bu biſt fo fireng: gib mir trotz allem die Leildenfhaft! Du vermagſt es! Versi deine Liebe... Wenn fie noch nicht alt, wenn fie noch im Werden iſt, und... und... Rein, nein, ſchuͤttle nicht den Kopf das iſt ja Unſinn, ich weiß ed... Nun alfo, ganz einfach: jag” mich nicht fort, laß mich zuweilen mit dir zuſammen fein, dich hören, in Entzuͤcken ſchwelgen und Foltergqualen dulden! Nur um jeden Preis leben and nicht fchlafen, nicht fo einem Holzklotz gleichen, tote ich jegt! Überall Schlaf, und ftumpfe Langeweile, und truͤbe Schwermut, nirgends ein Ziel, auch In ber Kunſt nicht,

in der ich’8 gu nichts bringe, für die ich nichts tue, Alles,

was man fonft als ernfihaftes Lebenswerk betrachtet, ers

ſcheint mir fo kleinlich, fo erbärmlich. Ich möchte den Reſt

meines Lebens irgendeinem ernfihaften Werke, einem

großen, würdigen Ziele wibmen, boch ich Bin nicht fähig

Dazu, nicht darauf vorbereitet: es gibt bei ung kein folches

Merk, keine folche Arbeit! Dder ich möchte, daß diefer mein

Lebengreft in einem gewaltigen Feuerwerk, in einer großen

Leidenfchaft aufflammt! Du haſt das Zeug dazu, fol

einen Sturm in mir gu entfachen, ja du haft ihn ſchon ent

facht: noch ein Funke, noch ein wenig Kofetterie und Tan

fung ... und ich beginne zu leben... .*

„Und was foll ich dabei gewinnen?” fagte fie... „Sch ich

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5

Cr III X

mid an biefer Fieberglut weiden, ohne fie gu teilen? Sie phantafieren, Boris Pawlowitſch!“ |

Was geht dich das an, MWiera? Ich verlange feine er— widerung aber ſtoß mich auch nicht von dir, laß mich gewähren! Ich fühle es, daß nicht nur bei deinem Anblid, ſondern wenn auch nur zufällig jemand beinen Namen nennt, e8 mich heiß und kalt überläuft.. .“

„ie foll dag aber enden?” fragte fie nicht ohne Neugier. „Ich weiß es nicht. Vielleicht verliere Ich den Verſtand, ſtuͤrze mich in die Wolga, ober fierbe... Doch nein, ic bin zaͤh nichts wird gefchehen, ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr wird vergehen, und ich werde leben wie früher. .. Gib mir die Leidenfchaft, Wiera, gib mir diefeg Städt... .* Lippen und Zunge waren ihm förmlich teoden geworben. „Eine fonderbare Bitte, Bruder: jemand zum Fieber zu verhelfen!... Ich glaube nicht an die Leidenſchaft was tft denn die Leidenfchaft? Das Gluͤck, ſagt man, beruht auf einer tiefen, flarfen Liebe...”

„Lüge, Lüge!” unterbrach er fie. „Die Liebe eine Lüge?”

„Sa, diefe heilige, tiefe, hehre Liebe En iſt eine Lage! Sie iſt ein erdichtetes, ausgekluͤgeltes Geſpenſt, das uͤber dem Grabe der Leidenſchaft ſpukt. Die Menſchen haben es erſonnen, wie fie bie Juſtizpalaͤſte das Branntweinmonopol, die Moden, das Kartenſpiel, die Baͤlle erſonnen haben. Die hehre, heilige Liebe iſt die Uniform, in die ſie die Leiden⸗ ſchaft hineinſtecken wollen, doch ſie will immer wieder heraus und zerreißt die Uniform. Die Natur hat in die lebendigen Organismen nur die Leidenſchaft hineingelegt, nichts weiter. Die Liebe iſt nur in der einen, durch die Leidenſchaft bes fimmten Form vorhanden, es gibt keine andere Art von Liebe. Rimm das erbärmlichfte, ſchlaͤfrigſte Weſen, irgend;

on 112 O2

eine Krämersfran aus ber Borfladt, irgendeinen noch fo ehrbaren und loyal gefinnten Ranzleibeamten, kurz, wen du willſt: fie alle Haben unbedingt einmal im Leben, ober je nach dem Temperament no öfter, bald auf feine, bald anf ganz grobe, tierifche Art, ihrer Erziehung entfprechend, biefe Aufregungen ber Leidenſchaft fennen gelernt, dieſen Krampf, diefe Pein und Qual, dieſes Selbftvergeflen, dieſes zweite Lehen mitten im Leben, biefes trunfene Spiel der Kräfte... dieſe Seligkeit!. . .":

Er hielt in feiner Rebe Inne.

„Run?“ ſagte fie ungeduldig.

„Run —“ fuhr er ungefiäm, die Worte raſch Aberhaftend, fort „auf bie erkaltete Spur diefer Feuerſaͤule, dieſes Blitzes, der das Leben durchzuckt, legt fih dann ber Friede, das Lächeln des Ausruhens nach dem füßen Sturme, bie verflärte Erinnerung an die Vergangenheit, bie Stille. Und diefe Stille, diefe Benerfpur bezeichnen die Menfchen als die hehre, erhabene Liebe nachdem bie Leidenfchaft vergläht und erlofchen iſt ... Siehſt du, Wiera, fo herrlich und ſchoͤn iſt die Leidenfchaft, daß ſchon Ihre Spur allein dem ganzen Leben ein helles Siegel aufdrüdt; die Mens fchen find nur gu feig, fich zur Wahrheit zu befennen, zu geftehen, daß das, was in Wahrheit bie Liebe ift, laͤngſt verging, daß fie, vom Rauſche umfangen, nicht fahen und hörten, was um fie herum vorging, daß aber diefer Rauſch genuͤgte, um ihrem ganzen Leben etwas von jenem farbigen Glanze zu geben, in dem die Leidenſchaft loderte... Und diefer farbige Abglanz ift die ewige Liebe, die Freundſchaft, das feſte Band, das zuweilen die Menſchen für das ganze Lehen aneinander feffelt... Nein, nichts auf ber Welt vermag ſolche Seligfeiten zu geben, fein Ruhm, feine Der feiedigung der Eitelkeit, fein Märchenreichtum der Schehere;

CH 113 {X

zade, nicht einmal bie Kraft des fchaffenden Genies, nichts... als nur einzig die Leidenſchaft! Möchteft du wohl eine folche Leidenfchaft fennen lernen, Wiera ?“

Sie hörte nachdenklich zu.

„Ja, wenn fie fo ift, wie Sie fie fchildern, wenn fie ſo viel Gluͤck zu bieten vermag...“

Sie fuhr zuſammen und öffnete dag Fenſter.

„Die Leidenfchaft ift wie ein beftändiger Naufch, ohne dag grobe Gefühl dumpfer Trunfenheit,” fuhr er fort „fie tft wie ein ewiges Wandeln auf Blumenpfaden. Bor dir ſchwebt ſtets dein Idol, das bu beftändig anbeten, für dag du fierben moͤchteſt. Steine fliegen dir an ben Kopf, und du glaubft in deiner Leidenfchaft, es feien Nofen, Zaͤhne⸗ knirſchen erfcheint dir wie Muſik, Schläge von der geliebten Hand fommen dir Eöftlicher vor als die Liebkoſungen einer Mutter. Die Sorgen, dad Gezaͤnk bes Lebens, alles ver; ſchwindet ein einziger endlofee Jubel erfüllt did ein Gluͤck nur gibt es: nur immer zu ſchauen ... auf dich ...“ er trat gang dicht an fie heran „beine Hand zu ers greifen” er faßte ihre Hand „das Feuer, die Kraft beiner Seele, das Beben in deinem Organismus zu fühs len...“ Wiederum erbebte fie und er desgleichen.

„Ich bin nicht mehr fern von diefem Zuftande, Wiera: noch ein einziger holder Blid, ein Drud deiner Hand und ich lebe, ich bin ſelig... Sag’, was foll ich tun?” Sie ſchwieg.

„Wiera!“

Sie erwachte allmaͤhlich aus dem ſtillen Bruͤten, in dem ſie ihm gelauſcht hatte, wandte ſich zu ihm herum, nahm freundlich, faſt zärtlich feine Hand und ſprach in bittendem Ton mit ihrer tiefen, weichen Stimme:

11 8

CH 114 CO

„Reifen Sie fort von bier!“

Er erhob fich wie einer, ber tief verwundet worden. „Du bift herzlos, Wiera. Wohlan denn fo fag’ mir den Namen!” „Den Namen? Was für einen Namen ?” fragte fie erfiaunt, wie vollends zum Bewußtfein erwacheno.

„And von wem der Brief auf dem blaßblauen Papier war...” fügte er hinzu.

Sie mufterte ihn foöttifch vom Kopf bie gu den Füßen. „Ich liebe niemand,” fagte fie laut „ih babe mir das nur ausgebacht, aus Langerweile . . .“

„Und der Brief?”

ne +. iſt von ber Frau des Popen!“ ergänzte fie den Sat ironiſch.

„Haſt du mir ſonſt nichts gu ſagen?“

„Ich werde ſtets nur dasſelbe ſagen.“

„Was?“

„Reiſen Sie ab!“

„Dann bleibe ich!“ ſagte er kalt.

Sie ſah ihn eine ganze Weile an.

„Wie Sie wollen: Sie ſind in Ihrem Hauſe!“ antwortete fie und neigte mit ſpoͤttiſcher Höflichkeit den Kopf, „Ents (Huldigen Sie mih nun... verzeihen Sie... ih muß morgen ganz früh auffichen,” fügte fie freundlich, faft lächelnd, hinzu. . „Sie wirft mich hinaus!” dachte er mit einem Gefühl ber Bitterkeit und wußte nicht, was er fagen follte, als plößs ei draußen auf dem Korribor jemand auf die Tuͤrklinke druͤckte.

NE NE EINEINE NE BEE KIT SIE Sie ste 0000006606000 600000000000000000000000e

Neuntes Kapitel

er ift da?” fragten beide auf einmal.

Die Tür ging auf, und Waſſiliſſas verträumtes Geficht erſchien in der Öffnung, „Ich bin e8,” fagte fie leife. „Sie find hier, Boris Pawlo⸗ witſch? Man fragt nah Ihnen bitte, fommen Sie raſch, es ift kein Menfch im Vorzimmer. Jakow ift in der Nachtmeſſe, und Jegorka holt Fifche unten an der Wolga.. Ih bin ganz allein da mit Paſchutka.“ „Wer fragt nach mir?” | „Ein Gendarm tft vom Gouverneur gelommen: ber Gou⸗ berneur läßt Sie bitten, doch, wenn möglich, gleich gu ihm gu kommen, wenn’s aber heute nicht geht, dann morgen in aller Brühe: es fet fehr eilig, läßt er ſagen.“ i „Was mag da 108 fein?” fagte Raifti verwundert. „Nun, gut fag’ alfo, ich kaͤme gleich... .” „Nur kommen Sie, bitte, recht raſch,“ bat ihn Waſſiliſſa „es iſt außerdem noch ein Gaſt da...“ „Wer denn noch?“ | „Ra, jener mit der großen Stirn...“ „Mit der großen Stien? Wer iſt dag?” „Ra, der naͤchſtens die Knute befommen foll, wie bie

8*

GO 116 GG

Leute fagen ... Kat fih da groß und breit im Saal hin⸗ gepflanzt und erwartet Sie. Und die guädige Fran ift mie Marfa Waſſiljewna in der Stadt...”

„Sa, haft du denn nicht nach bem Namen gefragt, Waſſi⸗ liſſa?“

„Das hab ich wohl, und er ſagte ihn auch, aber ih hab’ ihn vergeſſen.“

Raiſki und Wiera fahen einander verwundert an. „Daraus foll jemand Aug werben! Irgendein Belaunter aus ber Stadt wie überfläffig I”

„Nicht Boch, es iſt ja berfelbe, ber fih Damals hier betrunken hat und in Ihrem Zimmer über Nacht blieb... .”

„Markt Wolochow etwa ?”

Miera machte eine Bewegung.

„Sehen Sie rafh hören Sie, was ihn hierher führe!” fagte fie.

„Was bift du denn fo erfehroden? Er iſt doch Fein Hund, kein Gefpenft, fein Räuber, fondern nur... ein barmlofer gandftreicher ...“

„Sehen Sie, gehen Sie,” ſprach Wiera haſtig, ohne auf ihn gu hören, „Die Sache iſt intereffant . . .”

„Nur raſch, bitte, Boris Pawlowitſch!“ trieb auch Waſſi⸗ fiffe ihn an. „Wie haben ihn im Saal eingefchloffen und ung im Zimmer eingeriegelt . . .“

„Barum denn?”

„Wir fürchten ung vor ihm.“

„Weshalb ?”

„Sp, wir fürchten ung eben. Ich bin zum Fenſter hinaus; gekrochen, auf den Heinen Hof, um hierher gu kommen. Daß er dort nicht irgend etwas wegfchleppt.”

Raiſki lachte und folgte ihre. Er entließ den Gendarm, dem er fagte, baß er in einer Stunde beim Gouverneur

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fein würde; dann ging er zu Mark hinein und führte ihn in fein Simmer.

„Na, wollen Ste wieder einmal bier übernachten ?” fragte er Wolochow.

Er konnte nicht mehr anders mit ihm reden als in ironi⸗ (dem Tone. Diesmal jedoch lag ein forgennoller Aus⸗ druck auf Marks Geſichte. Als dann aber Licht ins Zimmer gebracht wurde und er Raiſkis erregtes Geſicht ſah, glitt ein boshaft kaltes Lächeln über feine Züge.

„Ste find alfo noch da?” fagte er ſpoͤttiſch „und Ich fürdhtete ſchon, Sie feien längft über alle Berge!”

„Ich habe noch Zeit,” verfeßte Raiſki mit leichter Gerings ſchaͤtzung. „Nein, jetzt iſt's zu ſpaͤt: was fuͤr Augen machen Sie denn ?” „Was ift mit meinen Augen? Gar nichts!” ſprach Raiſki und fah in den Spiegel. „Auch abgemagert find Sie: die Mafern kommen ſchon sum Vorſchein.“ „Reden Sie keinen Unſinn,“ verfegte Raiſki, feinem Blide ausmweichend. „Sagen Sie lieber, was Sie mitten in ber Nacht hierher führe!” „Ich bin doch ein Nachtuogel: am Tage kümmern fich bie Leutchen ſchon gar nicht mehr um mich. Es dürfte auch für Ihre Großtante fo weniger peinlich fein. Eine prächtige alte Dame daß fie den Tytſchkow hinausgeworfen bat, war wirklich brav!“

Er nahm plöglich eine ernſthafte Miene an.

„Ich babe ein Anliegen an Sie,” fagte er.

„Ein Anliegen ?” verfeste Raiſki „Has ift Intereffant.” „30, das iſt's. Hören Sie alfo! Ich war foeben auf der Polizei, d. h. ich bin natuͤrlich nicht felbft Hingegangen, um

co 118 OO

dort meine Aufwartung zu machen, fonbern bin vom Dolizeimeifter eingeladen und fogar mit einem Schimmel, paar abgeholt worden.“

„Warum? Iſt etwas vorgefallen ?”

„Eine Lappalie: ich hatte hier ein paar Bücher verborgt . . .” „Was für Bücher? Aus meiner Bibliothek, Die bei Leontij iſt 2“

„Sa, auch folche, und außerdem noch andere bier Ift das Verzeichnis.”

Er reichte Raifft einen Zettel.

„Wem haben Sie die Bücher gegeben?”

„Allen möglichen Leuten, Seminariften belamen fie und Gymnaſiaſten au ein Lehrer... .“ | „Haben Sie denn fonft nichts zu leſen?“

„Was follen die Leute hier lefen? Koslow zum Beiſpiel der lieſt fett fünf Jahren mit den Jungen nichts weiter als den Salluft, den Zenophon, Homer, Horaz: das eine Jahr von vorn nach hinten und dag nächte Jahr von hinten nach vorn. Das junge Volk verfauert dabet, der Schimmel hat fih fon im Gymnaſium angefeßt ...“

„Hat man denn dort gar feine neueren Bücher?”

„Ste haben da wohl noch folch einen Efel, der ſich Literatur⸗ lehrer nennt und ihnen den Karamfin und Puſchkin auss legen foll, aber diefe Burſchen haben eine fo fade Mas nier ...“

„Und da wollten Sie nun ein wenig Saly hinzutun, nicht? Wollen einmal ſehen!“

„Oh, wie feierlich das eben klang: wollen einmal ſehen! Der richtige Nil Andreltſch!“

Raiſki uͤberflog den Zettel, den Ihm Mark gereicht hatte, und ſah feinen Saft ganz erflaunt an.

„Ra, was guden Ste mich denn fo verbläfft an?“

I III

„Ste haben ben jungen Leuten diefe Bücher gegeben ?” „Sa; warum ?”

Raiſki blickte noch immer mit allen Zeichen der Verwunde⸗ rung auf Marf,

„Das foll eine paflende Lektüre für die Jugend fein?” flöfterte er.

„Sie fcheinen noch gu den gottglaͤubigen Seelen gu gehören ?” fragte Mark.

Raiſki ließ noch Immer feinen Blick auf ihm ruhen. „Ste waren wohl heute zur Nachtmefle, wie?” fragte Mari in demfelben fühlen Tone weiter.

„And wenn ich dort gemwefen wäre?”

„Nun, dann wundere ich mich auch nicht, daß Sie fi verlieben und Tränen vergießen Hönnen... Warum haben Sie dann aber Heren Tytſchkow aus dem Haufe geworfen? Cr ift doch auch einer von den frommen Brüdern!"

„Ich frage Ste nicht nach Ihrem Glauben: wenn Sie ſchon, als Sie beim Regiment waren, nicht an den Dberft und auf der Univerfität nicht an den Rektor glaubten, und wenn Sie jeßt fo handgreiflihe Dinge wie den Gouverneur und bie Polizei negieren wie follten Sie ba noch an den lieben Gott glauben !” fagte Raiſki. „Neben wir doch lieber von der Angelegenheit, die Sie herführt um was hanbelt eg ſich zu

„Sa, fehen Sie ein junger Menſch, der Sohn des Ads vofaten, verfiand einen Satz in einem der franzoͤſiſchen Bücher nicht und zeigte das Buch feiner Mutter. Die sing damit zum Vater, und der Tief zum Staatsan⸗ walt. Als diefer den Namen bed Verfaſſers hoͤrte, mels dete er bie Sache dem Gouverneur. Der Junge wurbe ind Gebet genommen und gehörig verprägelt, und

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unter der Fuchtel geftand er, daß er das Buch von mir befommen babe. Na, und heute wurde Ih nun vers nommen ...“

„Und was haben Sie gefagt?”

„Was ich gefagt habe?” verſetzte Markt und ſah Raiffi lächelnd an. „Als man mich fragte, woher Ih die Bücher hätte, und wem fie gehörten, da...”

„Run?“ |

„Da fagte ich, Ich hätte fie... von Ihnen. Einen Tell davon hätten Sie mitgebracht, und die Abrigen, mie den Voltaire, hätte ich in Ihrer Bibliothek gefunden...

„Ih danke ergebenft: wie fommen Ste dazu, mie biefe Ehre zu erweiſen?“

„Weil ich feit Dem Tage, an dem Sie Trytſchkow ben Lauf⸗ paß gaben, Sie für einen leidlich vernünftigen Menfchen halte.“

„Ste hätten mich vorher um meine Einwilligung fragen follen. Ich weiß nicht, ob das alles fih mit den Geſetzen der Ehre verträgt...”

„Nun, ich habe ohne Ihre Einwilligung gehandelt, und was bie Gefege ber Ehre betrifft fo wollen wir darüber fpäter einmal reden. Was verftehen Sie uͤberhaupt unter Ehre?” fragte er finfter.

„Ich denke, davon foll fpäter bie Rede fein? Meine Eins willigung gebe ich jedenfalls nicht.”

„Ich meine, bie Ehre kommt bier überhaupt nicht in Frage es handelt fih darum, was mir von Nuten iſt ...“ „Wenn es mir auch hundertmal Schaben bringt... eine herrliche Logik!”

„Ja, auf die Logik kam es mir eben an,” fagte Mark. „Nur fürchte ich, daß wir beide zwei verfchlebene Arten von Logik haben...”

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„And vielleicht auch zwei verſchiedene Arten von Ehre,“ fügte Raiſki hinzu.

„Ihnen wird man nichts tun, Sie ftehen bei Sr. Erjelleng in hoher Gunſt,“ fuhr Mark fort, „und Sie leben hier auch nicht als Verbannter. Ich dagegen werde fogleich irgends wohin an einen dritten Ort gefchtdt, nachdem ich ſchon an zweien gewefen. Zu einer andern Zeit wäre mir dag ziem⸗ lich gleichgültig, doch gerade jetzt ...“ fügte er nachdenklich hinzu ‚möchte ich lieber hier bleiben fuͤr unbeſtimmte Zeit...

„Run und was weiter?” fagte Raiſki Kalt.

„Nichts weiter. Sch wollte Ihnen nur \berichten, was Ich getan habe, und Sie fragen, ob Sie die Sache auf Ihre Kappe nehmen wollen ober nicht?”

„Und wenn Ich es nicht will? Und ich will es nicht!” „Nun, dann ift nichts zu machen dann ſchiebe ich eben alles auf Koslow. Der Menſch braucht eine Abmwechfelung, er verfchimmelt fonft ganz mag er ein Weilchen auf der Hauptwace fiten! Dann kann er wieder feine alten Gries hen vornehmen...”

„Die wird er dann kaum noch vornehmen können, denn die Sache wird ihn feine Stellung koſten.“

„sa, das tft möglich... das war alfo nicht logiſch gedacht. Dann iſt's fchon beffer, Sie nehmen die Sache auf ſich.“ „Was berechtigt Ste, von mir einen folchen Dienft zu vers langen ?”

„Das, was mich auch dazu berechtigt hat, von Ihnen Geld gu leihen: ich brauchte eben Geld, und Sie hatten welches. Ganz ähnlich liegt die Sache hier wenn Sie die Schuld auf fich nehmen, geſchieht Ihnen gar nichts, während man mich auf den Schub bringt. Das ift doch wohl logiſch, folfte ih meinen ?”

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„And wenn mir daraus Unannehmlichkeiten erwachfen ?” „Was für Unannehmlichleiten? Nil Andreltſch wird Sie einen Räuber nennen, der Gouvernenr wirb über den Fall nach Petersburg berichten, man wird ein fchärferes Auge auf Sie haben... Ermannen wir und doch endlich: fos lange wir biefe Angftlichkeit zeigen, bringen wir die Gou⸗ verneure nicht zur Raiſon...“

„Ste haben doch aber felbft Angſt, die Sache auf fih gu nehmen I”

„IH habe durchaus keine Angſt, es paßt mie nur nicht, jest von hier fortzugehen.“

„Warum nicht?”

„Darum... es paßt mir eben nicht. Später werde ich felbft hingehen und fagen, daß bie Bücher mir gehören. Und wenn Sie einmal etwas auszubaden haben follten, dann fehieben Sie e8 nur auf mich: ich bin gern bereit, für Sie einzutreten...“

„Es ift ein fonderbarer Dienft, den Sie da von mir vers langen ich foll da etwas auf mich nehmen... .” „Berfuhen Sie e8 nur! Und wenn bie Angelegenheit . eine gar zu ernfte Wenbung nehmen follte, was, wie Sie zugeben müflen, faum gu erwarten ift, bann bleibt eben nichts weiter übrig, als mich anzugeben. Zu bumm, biefe ganze Geſchichte!“ brummte Mark vor fih Hin. „Diefer Junge hat alles verdorben! Das begann bier fchon alles fo huͤbſch fih zu regen!”

„Ich will jegt gleich zum Gouverneur fahren,” fagte Raiſki „er bat nach mir gefchidt. Leben Sie wohl!”

„Ah er hat nach Ahnen gefchide!”

„Was foll ih tun? Was foll ich ihm fagen ?“ | „Der Gouverneur wird die Gefchichte vertufchen, wenn Gie fagen, daß die Bücher Ihnen gehören. Er berichtet nicht

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gern etwas nach Petersburg. Sch muß aus der Sache wegbleiben ich fiehe bier unter Poligeiaufficht, und er bat jeden Monat über mich Bericht zu erflatten, ob ich ges fund bin, und wie e8 mir geht. Er möchte mich am Tiebften loswerden und wuͤnſcht nichts fehnlicher, ald daß man mir geftatten möchte, die Stadt gu verlaffen; ich bin ihm, möcht ich fagen, ein Doen im Auge. Neulich fchon konnte er bes richten, daß ich Reue zeige: wenn jeßt bie Gefchichte mit den Büchern für mich gut abläuft, kann er melden, ich fet ein Ioyaler und ehrbarer Staatsbürger geworden, wie weder Rom noch Sparta einen aufjumweifen gehabt hätten. Man wird mich dann aus ber Poliseiaufficht entlafien. Wenn Sie alfo die Geſchichte jet auf Ihre Kappe nehmen, ers weifen Sie auch ihm einen Gefallen... Im übrigen fun Sie, was Ste wollen!” fagte Mark zum Schluß in gleich, gültigem Tone. „Kommen Ste, auch Ih muß fort!” „Wohin wollen Sie denn? Da hinaus geht ed...“ „Rein, ich möchte lieber duch Ihren Park gehen, den Abs hang hinunter... ich habe es da näher... Beim Fifcher auf der Inſel will ich abwarten, welchen Ausgang die Sache nimmt.”

Ste gingen bis an den Rand ber Schlucht, wo Mark in den Büfchen verſchwand, während Raiſki umlehrte und fih sum Gouverneue begab. Gegen zwei Uhr nachts kehrte er zuruͤck. Obſchon er erft ſpaͤt zu Bett gegangen war, ſtand er doch fruͤh auf, um Wiera zu berichten, was ſich zugetragen hatte. Ihre Fenſter waren dicht verhaͤngt. „Ste ſchlaͤft,“ dachte er und ging nach dem Garten. Wohl eine Stunde lang fpasierte er in den Parkwegen auf und ab und wartete, ob nicht endlich der lila Vorhang surädgesogen würde. Uber nichts bewegte fih an dem verhüllten Fenſter. Er gab acht, ob nicht Marina über

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den Hof gehen würde, doch auch Marina befam er nicht zu ſehen.

Im Zimmer der Sroßtante gingen die Vorhaͤnge in die Hoͤhe, im Hausflur ziſchte und brodelte der Samowar, und die Tauben und Spatzen begannen ſich an dem Platze zu ſammeln, an dem ſie von Marfinka ihr Futter entgegen⸗ zunehmen gewohnt waren. Tuͤren wurden geoͤffnet und zugeſchlagen, die Kutſcher und Lakaien erſchienen auf dem Hofe und der Vorhang bewegte ſich noch immer nicht. Jetzt tauchte auch Ulita in der Naͤhe des Kellers auf, die Frauen und Maͤdchen erſchienen auf dem Hofe, und nur Marina blieb unſichtbar. Bleich und duͤſter trat Sawelij auf die Schwelle ſeiner Wohnung und blickte ſtumpf auf den Hof hinaus.

„Sawelij!“ rief Raiſki Ihn an.

Mit feiner breiten Gangart kam Sawelij auf ihn zu. „Sag’ doch Marina, fie möchte es mich fogleich wiſſen laffen, wenn MWiera Waſſiljewna aufgeftanden iſt und fih ans gesogen hat!“

„Marina ift gar nicht ba!” fagte Sawelij ein wenig leb⸗ bafter als fonft.

„Wieſo denn? Wo tft fie?”

„Ste ift beim Morgengrauen mit dem gnaͤdigen Fräulein über die Wolga gefahren, zur Popenfrau.“

„Mit welchem Fräulein: mit Wjera Waſſiljewna?“ „Ganz recht.“

Raiſki war ſtarr vor Erſtaunen und ſah Sawelij faſt ers ſchrocen an. | „Wer hat fie denn hingebracht?“ fragte er nach einem Meilen.

„Prochor bringt fie immer mit dem Salben anf dem Heinen Wagen hin.”

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Raiſki ſchwieg.

„Gegen Abend kommen ſie zuruͤck,“ fügte Sawelij hinzu. „Du meinſt, fie kommen heute noch zuruͤck?“ fragte Raiſki lebhaft.

„Das werben fie wohl Prochor wenigftens mit dem Dferd, und auch Marina. Sie begleiten dag Fräulein und fommen dann noch am felben Tage zurüd.”

Raiſki flarrte mit weit geöffneten Augen auf Samelif, ohne ihn gu fehen. Lange noch fianden fie fo einander gegenüber.

„Befehlen Ste fonft noch etwas?” fragte Sawelij dann langfam.

„Wie? Was?” fuhr Raiſki aus feinem Brüten auf. „Du ... warteft wohl au... auf Marina ?”

„Verrecken foll fie, die Ruchlofe!” fagte Sawelij finfter. „Warum fchlägft du fie immer? Ich wollte die ſchon lange den Rat geben, bag zu unterlaflen, Sawelij.“

„Ich ſchlage fie jetzt nicht mehr.“

„Seit wann ?”

„Seit einer Woche... feit fie fich beſſer auffuͤhrt...“ Die Falten anf feiner Stirn begannen eifrig gu arbeiten, um feinen Worten Nachbrud zu geben.

„Geb, ich brauche jetzt nichts weiter... Nur ſchlag, bitte, die Marina nicht mehr, laß ihr volle Freiheit: es wird für dich wie für fie beffer fein...” fagte Raiſki.

Den Kopf tief gefenkt, ging er nach feinem Zimmer, nur einen kurzen, fchmerzlihen Blick nah Wieras Fenſter wers fend. Sawelij fand noch eine ganze Weile da, die Mübe in der Hand, und fann verwundert über Raiſkis legte Worte nach.

„Auch ein Dpfer der Leidenfchaft!” dachte Raiſki. „Armer Sawelij wir können ung gegenfeltig tröften |”

Zehntes Kapitel

Me Schreden der Einſamkeit fuchten Raiſki heim, feit

Wiera abgereift war. Er kam fi ganz verwaiſt vor, die ganze Welt erſchien ihm fo troſtlos und öde; er hatte das Gefühl, als befinde er fich in einer duͤrren Wuͤſte, und er überfah ganz, daß dieſe Wuͤſte in Appigem Blätters und Bluͤtenſchmuck prangte, und fühlte nicht, baß die Fäftlich warme Sommterzeit, die draußen bie Natur in vollem Schmude erprangen ließ, auch ihn umfchmeichelte und ums koſte. Er hatte für nichts mehr Sinn, nicht für Tatjana Mars kownas häuslihes MWalten, noch für das muntere Wefen Marfinkas, die ihre traulichen Liedchen fang und mit dem frifhen Springinsfeld Wikentjew fröhlich plauderte, noch für die Gäfte, die fich zuweilen einfanden die ſtets komiſch wirkende Paulina Karpowna, den Iärmenden Openkin, bie forsfältig frifierten, elegant gefleideten Damen und bie jungen Stußer: nichts, nichts Intereffierte ihn. Sie bes luſtigten ihn nicht und Tangweilten ihn nicht, fie machten ihm nicht Falt noch warm er fah nur Immer wieder das eine: daß der lila Vorhang fich nicht bewegte, daß bie Fenſter Wieras drüben im alten Haufe dicht verhängt waren und

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die Bank im Parke leer blieb, daß, mit einem Worte, Wiera nicht da war, was für ihn fo viel hieß, wie, daß niemand und nichts da war, daß das ganze Haus und die ganze Umgegend ausgefiorben waren.

Nicht lieben wollte er Wera und wenn er es felbft ges wollt hätte, fo hätte er’ doch nicht gedurft: alle Rechte, alle Hoffnungen waren ihm ja genommen. Die einzige zaͤrtliche Bitte, die fie jemals an ihn gerichtet hatte, lautete immer wieber: „Reifen Sie fo bald wie möglih ab!” Und er war doch fo ganz von dem Gedanken an fie, an fie allein erfüllt, er fannte und fah nichts anderes!

Selbft ihre Schönheit ſchien die Macht über ihn verloren gu haben e8 war eine andere Kraft, die Ihn jetzt gu ihr hinzog. Er hatte dag Gefühl, daß er nicht durch belebende, vielverfprechende Hoffnungen, nicht durch ein erwartungs⸗ volles Beben ber Nerven mit ihr verknüpft war, ſondern duch ein feindfeliges, hirnaufftachelndes Gefühl des Schmerzes, durch Empfindungen und Beziehungen, die eher mit dem Gegenteil der Liebe ald mit ber Liebe vers wandt waren.

Ihn peiniste vor allem jet das geheimnisvolle Nätfel: wie es möglich war, daß fie fo plöglich vor aller Augen aus dem Haufe, dem Park verfchwinden konnte, um dann plöglich wieder zu erfcheinen, als fleige fie vom Grunde ber Wolga empor, einer Nire gleich, mit leuchtenden, Durchs ſichtigen Augen, mit diefem Stempel der Unergründlichkeit und der Taͤuſchung im Geficht, mit der Lüge auf den tippen nur ber Kranz aus Wafferrofen fehlte noch auf dem Kopfe, damit fie einer wirklichen Nire gliche!

Wie fchön, wie drohend und berädend ſchoͤn leuchtete Ihm dieſes geheimnisvoll ſtrahlende Nachtweſen ents gegen!

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Aber wenn es nur das gewefen wäre: doch fie hatte ihm da ein halbes Geſtaͤudnis abgelegt, daß fie liebe, daß es irgend jemanden bier in der Nähe gebe, ber ihrem Leben Inhalt verleiht, der ihr dieſen Winkel teuer macht, ber diefen Baͤumen, biefem Himmel, diefen Fluten in ihren Augen alle Reise gibt.

Kaum hatte fie die geheimnisvolle Tuͤr für einen Augens bild geöffnet, als fie fie auch ſchon wieder eigenwillig zu⸗ flug und plöglich verfhwand, unter Mitnahme der Schläfs fel zu allen diefen Geheimniffen: zu ihrem Charakter, gu ihrer Liebe, zu der ganzen Sphäre ihrer Gedanken und Ges fühle, diefem ganzen fonderbaren Leben, bag fie führte. Alles, alles hatte fie mitgenommen und vor Ihm fand wieber die einzig verfchloffene Tuͤr.

„Alle Schlüffel hat fie mitgenommen!” ſprach er ärgerlich für ſich, als er fih mit der Großtante über Wiera unters hielt. |

Tatjana Markowna hatte die Worte gehört und war vor Schreck sufammengefahren.

„Welche Schlüffel hat fie mitgenommen?” fragte fie voll Angſt.

Er ſchwieg.

„So ſprich doch!“ draͤngte ſie ihn und begann in allen Taſchen und Koͤrbchen zu ſuchen. „Welche Schluͤſſel denn? Es ſcheint doch, daß alle da ſind! Marfinka, komm doch einmal her: welche Schluͤſſel hat Wjera Waſſiljewna mit⸗ genommen?“

„Ich weiß es nicht, Tantchen; ſie nimmt nie irgendwelche Schluͤſſel mit, hoͤchſtens den Schluͤſſel von ihrem Schreib⸗ tif „'

„Aber Borjuſchka fagt doch, fie Habe fie mitgenommen ! Sieh einmal nach, und frag’ auch Waffiliffa, ob alle Schlüffel

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ba find, ob nicht vielleicht dieſe windige Perfon, die Marina, die Schläffel von der Vorratskammer mitgenommen bat. Geh, mach’ rafch! Warum tuſt du denn fo geheimnisvoll, Boris Pawlowitſch? So fag’ doch, welche Schläffel fie mits genommen bat: haft du fie gefehen ?”

„Sa, ich habe fie gefehen,” fagte Raiſti boshaft. „Sie geigte fie mie und verfiedte fie dann wieder...”

„ie ſehen fie denn aus: hatten fie einen Bart, oder glichen fie diefem hier? ...“

Sie zeigte ihm einen Schlüffel.

„Es waren die Schlüffel gu ihrem Geifte, ihrem Herzen, ihrem Charakter, ihrem Denten und ihren Geheimniffen ...” Der Großtante fiel eine Laft von ber Seele.

„Die Schlüffel meinft du!” fagte fie, wurde nachdenklich und feufste dann. „Ja, beine Mlegorie enthält die Wahrs heit. Diefe Schläffel überläßt fie niemandem. Und doch wäre es beffer, wenn fie an Tantchens Gürtel hingen!’ „Barum ?”

„Run, ſo

„Sagen Ste mir, Tantchen mes Geifted Kind ift eigents lich Wera?” fragte Raiſti plöglich, während er neben Tatjana Markowna Plag nahm.

„Du fiehft es doch felbft: was foll ich dir's erft fagen? Wie du fie fiehft, fo ift fie.“

Ich fehe aber nichts ...“

„Ans allen geht es nicht beſſer: fie hat ihren Kopf für ſich, ſiehſt du, und ihre freier Wille geht Ihe über alles. Wehe, wenn Tantchen einmal nach etwas fragt: ‚Nein, nein, es iſt nichts, ich weiß von nichts, von gar nichts!" ‚Won ihrer Geburt an hatte ich fie bei mir, all die Zeit war fie bei mir im Haufe, und doch weiß ich nicht, was in ihrem Kopfe vorgeht, was fie licht oder haßt. Selbft wenn fie Frank iſt,

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fagt fie es nicht: Aagt nicht, will Feine Arznei Haben, fons bern ſchweigt nur um fo hartnädiger. Man kann fie nicht gerade faul nennen, und doch tut fie nichts: naht nicht, ſtickt nicht, treibt keine Muſik, macht feine Beſuche fie ift einmal fo von Geburt an. Nie habe ich gefehen, daß fie einmal fo recht von Herzen lachte, oder daß fie Tränen vers goß. Wenn fie fhon das Lachen anfommt, fo unterdrädt fie eg, ale wäre e8 etwas Suͤndhaftes. Und fowie ihr etwas Unangenehmes wiberfährt, oder irgend jemand fie ärgert, zieht fie fich gleich in ihren Turm gurüd und macht ihren Summer, ihre Freude ganz mit fich allein ab. So iſt fie, ſiehſt du!“

„Aber das iſt doch nur zu loben: fie hat Charakter, hat ihren eigenen Willen, hat Selbfibewußtfein! Das find doch bei einem jungen Mädchen ſebt ſchaͤtzbare Eigen⸗ ſchaften !

„Ich danke! Wozu braucht ein junges Mädchen feinen eigenen Willen? Beftärke fie nicht noch darin, Boris Pawlowitſch, ich Bitte dich fehr darum. Du biſt doch ein verftändiger, guter, ehrenhafter Menſch, und bu wänfcht ben beiden Mädchen ficherlich alles Gute, mitunter aber plagft du mit etwas heraus... .”

„Womit bin ich denn ſchon herausgeplatzt, Tantchen ?” „Womit? Haft du nicht Marfinfa den Rat gegeben, fit ſolle, wenn fie jemanden liebgewinnt, nicht erft lange bie Tante fragen? Überleg’ einmal, ob das recht gehandelt war! Ich hätte dag von dir nicht erwartet! Wenn du di auch felbft meiner Botmaͤßigkeit entzogen haft, fo brauchſt bu darum noch nicht dem armen Mädchen ben Kopf gu verwirren.“

„Ach, Tantchen, was fuͤr eine herrſchſuchtige Frau Sie doch ſind: immer wollen Sie recht haben! Wie oft haben

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wie ſchon miteinander bacdber geftritten, daß es keine elebe

auf Kommando gibt...”

„Steh, Borjuſchka, darauf hätte die nun Mil Andreitſch

die richtige Antwort gegeben Ich vermag's nicht. Leider

haben wir den aus dem Hanfe geworfen. Sch weiß nur fo

viel, daß du Unfinn redeft, nimm mir’d nicht Abel! Sind

das am Ende die neuen Prinzipien?”

„Sa, Zantchen, dag find fie; die alte Zeit iſt vorüber, fe

kann nicht wieder von vorn beginnen. Auch das Neue muß

doch einmal an die Reihe kommen!”

„Sie fcheint ja ſehr merkwuͤrdig aussufehen, deine neue

Zeit!"

„Meteilen Ste doch felbft, Tantchen: bie Zeit der Liebe if

gleihfam ber Frühling im Leben eines Mädchens. Und

nun wird folch einem jungen Weſen die Möglichkeit freien

Aufbluͤhens genommen, man fchließt es ab, entzieht ihm

die friſche Luft, pflüdt feine Blüten von den Zweigen...

Mit welchem Rechte wollen Sie beifpielsweife Marfinla

gwingen, nach Ihrem Rezept glüdlich zu werden, und nicht

nach ihrer eigenen Neigung und Wahl?”

„So frag’ doch einmal Marfinka, ob fie ſich gluͤcklich fühlen

wird, und ob ihr überhaupt ein Gluͤck erſtrebenswert feheint,

su Dem bie Tante nicht ihren Segen gibt.”

„Ich habe fie ſchon gefragt.“

„Nun, und?...”

„Ohne Sie, fagt fie, tut fie feinen Sch

Da ſiehſt du es!”

Ja ift denn das in ber Drönung: wo bleibt denn da

die Freiheit, das Recht? Ste iſt Doch ein denkendes Wefen,

ein Menſch wie kann man ihr denn einen fremden Willen,

2 a. das fie gar nicht Haben will, aufjwingen mol n u

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„Wer zwingt Ihe denn etwas auf? Go frage fie doch eins mal! AS ob Ich fie hier beide unter Verſchluß hielte, als ob fie nicht lebten wie Die Vögel in ber Luft und tun könnten, was ihnen gefällt...”

„3a, Zantchen, bag iſt richtig,” fagte Raiſti in aufrichtigem Tone „in biefer Hinficht Haben Sie recht. Nicht Furcht und Autorität ift in Ihrem Verhältnis gu ihnen maßgebend, fondern bie warme Zärtlichkeit eined Taubennefted... Und fie vergöttern Sie au, gewiß... . Uber dennoch fehlt da etwas in Ihrem Erziehungsſyſtem: warum wollen Sie ihnen durchaus dieſe veraltete Anfchauungen einimpfen und fie großsiehen wie die Vögel im Käfig? Laflen Sie fie boch felbft ein Hein wenig Erfahrung fammeln im Leben... . Solch ein Vogel, der immer nur im Käfig eingefchloffen war, entwöhnt fih bes freien Fluges, und wenn man ihm dann das Pförtchen äffnet, wagt er fich nicht hinaus, Dasfelbe Habe ich auch gu unferer Eoufine Bjelowodowa geſagt: dort iſt die eine Art von Unfreiheit, hier die andere.” „Ich habe weder Marfinka noch Wierotfchla irgend etwas eingeimpft; von Liebe war noch nie auch nur mit einer Silbe die Rede, ich fürchte mich, Daran auch nur zu fippen: das aber weiß ich, daß Marfinka ohne meinen Rat und meinen Segen niemals ihr Herz verfchenfen wuͤrde.“ „Das will ich wohl glauben,” fagte Raiſki nachdenklich. „Und wenn du, oder fonft jemand, fie zu diefer Freiheit der Liebe befehren und fie fih banach richten follte, dann...” „Dann würde fie das unglüdlichfie Gefchöpf werben gewiß, Tantchen, bag will ich glauben; und wenn Mars finka Ihnen das Gefpräch mitgeteilt hat, das ich über dieſen Punkt mit ihr hatte, dann hätte Ste Ihnen auch :fagen follen, daß ich ihren Standpunkt billigte und ihr den Mat gab, flets auf Ste und auf Vater Waffili gu Hören..."

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„Auch das weiß ich: alles Habe ih mir von ihre wieder, erzählen laſſen, und ich fehe, daß du nur ihe Gutes willſt. Laß fie alfo in Ruhe, rede ihr nichts ein, fonft kommt es ſchließlich darauf hinaus, daß nicht ich, fondern du Ihr ein Gluͤck aufzwingen willft, dag fie gar nicht mag, und baß ber Borwurf des Defpotismug, den du mir machft, auf Dich zuruͤckfaͤllt. Glaubſt du vielleicht,” fuhr fie nach kurzer Paufe fort „wenn irgendein reicher Mann von gutem Herz fommen, von Rang und Stand fih um Marfinkas Hand bewerben, ihr aber mißfallen follte daß ich dann auch nur einen Augenblid daran denken würde, fie umzuſtim⸗ men?”

„Run gut, Tantchen, ich will Ihnen Marfinka gern abs treten aber dafuͤr laffen Sie mir Wiera in Ruhe! Mars finfa und Wiera find fo grundverſchieden! Wenn Sie bei Wiera dasſelbe Syſtem verfuchen follten, wärben Sie fie unglädlih machen.”

„Wer Ich?” fragte die Großtante. „Sie täte gut daran, nicht ſo ſtolz zu ſein und mehr Vertrauen zur Tante zu haben: vielleicht wuͤrden wir auch noch Verſtand genug haben, um ein anderes Syſtem anzuwenden.“

„Tun Sie ihr nur feinen Zwang an, laſſen Sie Ihr ihren Willen. Es gibt Vögel, bie für den Käfig geboren ſcheinen, und andere, die nur in ber Sreiheit leben können... Sie wird ihe Schidfal ſchon felbft zu lenken wiſſen ...“

„zu’ ich Ihe denn Zwang an? Lege ich Ihr denn etwas in den Weg? Sie vertraut mir nicht, fie verſteckt fich, ſchweigt, lebt gang nach ihrem Kopfe. Ich wage es nicht einmal, bei ihr nach den Schläffeln zu fragen und du feheinft bie deshalb Kopfſchmerzen zu machen ?” BER Sie ſah ihm forfchend ins Geſicht. u. Raiſti errdtete, ais die Großtante Ihm ploͤtzlich ſo ſchlicht

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und Bar bewies, daß Ihr ganzer „Defpotismus” auf ber Srundlage muͤtterlicher Zaͤrtlichkeit und unermäblicher Sorge um das Gluͤck ihrer geliebten Waifen berubte.

„sch fehe nur immer wie ein Polizeimeifter darauf, daß draußen auf der Straße alles in Ordnung ift, in bie Haͤuſer gebe ich nicht hinein, folange man mich nicht hineinruft,“ fügte Tatjana Markowna hinzu.

„a nun, das iſt ja das deal, die Krone ber Freiheit! Tantchen! Tatjana Markowna! Sie fieben auf dem Gipfel der geiftigen, fittlichen und ſozialen Entwidlung! Sie find In jeder Beziehung ein fertiger, vollendeter Menſch! Und Sie haben diefes Ziel ganz mühelos erreicht, während unfereing fih quält und quält, um gu ihm emporzuklim⸗ men. Schon einmal habe Ich mich vor Ihrer Frauenwuͤrde gebeugt Ich tue ed nun zum weiten Male und erkläre mit Stolg: Sie find groß!”

Ste ſchwiegen beide.

„Sagen Sie, Tantchen, was für eine Popenfrau IE benn bas, mit ber Wjera verkehrt, und was für Beziehungen bes fieben zwifchen Ihnen?” fragte Raiſki.

„Du meinft Natalia Iwanowna, die Frau bes Priefters ? Sie waren gufammen in ber Penſion und haben ſich dort befreundet. Wir haben fie oft hier gu Saſte. Sie iſt eine gute, brave Frau, und fo beſcheiden...“

„Wie kommt es, daß Wiera ihr fo zugetan iſt? Sie ſcheint eine geiſtig hervorragende, charaktervolle Perſon zu fein ?” „Oh, nicht im geringſten was heißt da Charakter? Sie iſt nicht dumm, hat gut gelernt, lieſt viele Buͤcher und kleidet ſich gern nett. Ahr Mann, der Geiftliche, bat eine gute Stelle. Michajlo Iwanytſch, fein Patron, hat ihn gern er lebt für einen Popen fo recht aus dem Vollen. An nichts fehlt es ihm, nicht an Getreide, noch fonft an was; Wagen

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und Pferde hat er Ihm geſchenkt, ja er ſchickt ihm fogar Zimmergewaͤchſe aus feiner Drangerie. Der Pope ift ein Heiner Menfch, einer von den ‚Jungen‘ nur daß er fi fehon gar zu weltlich benimmt, er bat das fo von feinem Verkehr mit ben Gutsbefigern ber an ſich. Franzoͤſiſche Bücher lieft er fogar, und raucht auch, was eigentlich zu feinem Meßgewande fehr wenig paßt...”

„Run, und bie Frau des Geifllihen? Sagen Ste: warum iſt Wiera Ihe fo zugetan, wenn fie, wie Ste fagen, nicht eins mal Charakter beſitzt?“

„Darum eben hängt fle ihre fo an, weil fie feinen Charakter beftgt. u

„te denn? Kaunn man einen Menfchen deshalb lieben ?” „Allerdings. Haft du das noch nicht beobachtet? Und dabei wollte du mir Doch Belehrungen geben! Ja, fo iſt's wirklich . . .”

„Wie foll ich das verfiehen?”

„Run der Starke liebt eben niemals den Starten: wenn wei Starke zuſammenkommen, gehen fie aufeinander log wie die Ziegenbdde und bearbeiten fich gegenfeitig mit den Hörnern. Ein Starker aber und ein Schwacher die vers tragen fich miteinander recht gut. ‚Dieter lebt jenen um feiner Stärke willen, und jener...”

m. . liebt biefen um feiner Schwäche willen, wie?”

„Sa, um feiner Nachgiebigkeit, feiner Anhaͤnglichkeit willen darum, daß er fih ihm ſtets unterorbnet.”

„Ganz recht, Tantchen, Sie find wirklich eine Weife! Ich entdede jetzt, baß ich bier förmlich in ein Heiligtum ber Weisheit geraten bin. Ich will mir's nicht mehr beikommen laſſen, Tantchen, Ste ummodeln gu wollen, ich will fortan Ihe gehorfamer Schüler fein; nur um eins bitte Ich Sie: geben Sie es auf, mich zu verheiraten. In allen übrigen

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Dingen will ich ſtets auf Ste hören. Run, alfo weg Geiſtes Kind iſt dieſe Popenfrau ?

„Ste iſt ein gutmuͤtiges, vertraͤgliches Hähnchen, ſchwatzt in einem fort, ſingt, fluͤſtert gern, namentlich mit Wiera: ein ewige Fläftern ift bag, und immer ind Ohr. Und Wiera die hört nur gu und ſchweigt, nickt hoͤchſtens einmal mit dem Kopfe ober läßt ein Wort fallen, Ein Blick von Wieruſchka, eine Laune von ihr iſt ihr heilig. Nur was Wjera fast, iſt verfiändig, if gut. Und das gerade iſt's, was Wiera braucht: nicht eine Freundin will fie haben, fondern eine gehorfame Sklavin. Dazu gibt fich jene her und darum eben hat Wiera fie fo gern. Sowie Wiera mit etwas unzufrieden if, befommt Natalla Iwanowna eine Heidenangft, bittet gleich: vergeih nur, mein Seelchen, mein Herschen, küßt fie auf Die Augen, auf den Hals und jene nimmt es hin, als mäfle es fo fein.“

„So liegen die Dinge!” dachte Raiſki bei fih. „Diefer ſtolze und unabhängige Charakter will Sklaven um fich ſehen! Und dabei rebet fie von Freiheit und Gleichheit und will nichts davon wiſſen, baß ich ihr ben Hof made. art’, meine Liebe!”

„Über Wera liebt doch auch Ste, Tantchen ?” fragte Raiſki, der darauf hinaus wollte, zu erfahren, ob Wiera noch für jemand anders als Natalia Iwanowna zaͤrtliche Emp⸗ findungen hege.

„Gewiß liebt ſie mich!“ ſprach die Großtante in zuverſicht⸗ lichem Tone „nur eben auf ihre Weiſe. Sie zeigt es nie und wird es nie zeigen. Und dennoch liebt ſie mich und iſt imſtande, fuͤr mich durchs Feuer zu gehen.“ „Wer weiß vielleicht liebt ſie auch mich und will es nur nicht zeigen!“ ſuchte Raiſki ſich zu troͤſten, doch gab er dieſe Moͤglichkeit ſogleich wieder als voͤllig ausgeſchloſſen auf.

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„Woher willen Ste es denn, daß fie Ste liebt, wenn fie es Ahnen nicht ſagt?“ „ch weiß nicht, was Ich bie antworten foll; jebenfalld aber bat fie mich lieb.” „And Sie lieben fie wieder?” „Ob ich fie liebe!” fagte die Großtaute halblaut. „Ad, und wie ich fie liebe!” fügte fie mit einem Seufzer hinzu, und die Tränen traten ihr faft in die Augen. „Sie weiß es nicht einmal, wie fehr: Doch vielleicht erfährt fie es noch.“ „Haben Sie es nicht bemerkt, daß Wiera feit einiger Zeit fo merkwürdig nachdenklich iſt?“ fragte Raiſki zögernd, In der flillen Hoffnung, daß ihm vielleicht die Großtante eine Antwort auf die ihn quälende Frage, von. wem ber blaß⸗ Blaue Brief fet, geben könnte.

„Iſt dir etwas aufgefallen ?” „Das nicht gerade... Ih weiß ja nicht, wie fie fonft war, nur fam es mir fo vor...” „Ich müßte fie nicht lieben, wenn ich es nicht bemerkt haben follte. So mande Nacht ſchon habe ich ſchlaflos gelegen and mich mit bem Gedanken herumgequält, warum fie eigentlich feit dem Frühjahr fo fonderbar geworden iſt. Bald ift fie Heiter und vergnägt, bald ganz in fich vers funten; fo Taunifch ift fie oft, und manchmal fogar aufs brauſend. Es iſt eben Zeit, daß fie heiratet!” fagte bie Tante, mehr vor fih hin. „Ich fragte ben Arzt darüber, der (hob alles auf die Nerven; die Nerven muͤſſen jegt immer ald Vorwand dienen. Was heißt überhaupt Ner⸗ von? Früher wußten die Ärzte gar nichts von Nerven. Da hieß e8 einfach: das Kreuz fut einem weh, ober man Hat Schmerzen in der Hersgeube, und danach wurde bie Kur eingerichtet, Jetzt aber muͤſſen die Nerven für alles herhalten, Wenn dazumal einer verrädt wurde, ſagte man

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einfach: er hat den Verſtand verloren, vor lauter Kummer, oder weil er zu viel frank, ober aus fonft einem Grunde, und jet heißt es: fein Gehirn iſt erweicht.. . .”

„Iſt fie nicht am Ende verliebt?” verſetzte Raiſki halblaut, bereute aber fchon im naͤchſten Augenblid, das Wort aus⸗ gefpeochen zu haben, Es war, ale hätte er der Großtante einen Stoß gegen die Stirn verfegt.

„Am Gottes willen!” rief fie und bekreuzte ſich, als wäre ein Blig vor ihr niedergefahren „ber Kummer hätte gerade noch gefehlt!”

„Was reden Sie da von Kummer: was Ihe Gläd aus⸗ macht, bereitet Ihnen Kummer!”

„zreib damit keinen Scherz, Borjufchla! Du haſt felbft vorhin gefagt, Wiera fei nicht das, was Marfinfa iſt. Solange Wera nur fo ihre Launen hat, und fchweigt, und vor fich hinbruͤtet, ohne tieferen Grund fo lange ift die Sache nicht gefährlich. Aber fobald erſt die Schlange ber Liebe fich in ihe Herz geſchlichen bat, wird mit ihr nicht auszukommen fein! Diefen ‚Schröpftopf‘ wuͤnſche Ich nicht einmal dir, um wieviel weniger meinen Mädchen. Wie kommſt du eigentlich darauf: haft du mit ihr über diefe Frage gefprochen, ober haft du irgend etwas bes merkt? Sag’ mir nur alles, alles, mein Lieber!” fügte fie in flehendem Tone hinzu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Richt doch, Tantchen, beruhigen Sie fich nur, um Gottes willen! Ich bin nur fo mit der Tür ind Haus gefallen, wie Sie zu fagen pflegen, und Sie find gleich Angftlich ges worden, wie neulich, ale ich von den Schlüffeln ſprach...“ „sa, diefe Schlüffel,” fiel die Großtante, das Wort voll Eifer ergreifend, ihm in die Rede „diefe Allegorie: was bat fie zu bedeuten? Du ſprachſt von dem Schläffel

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gu Ihrem Herzen was meinteft bu damit, Boris Pawlo⸗ wirfh? Beunruhige mich nicht unnuͤtz, tag’ mir alles ganz offen, wenn du irgend etwas weißt...

Raiſki Argerte ſich Aber feine eigene Boreiligkeit und war bemuͤht, die Großtante auf jegliche Weiſe zu beruhigen, was ihm zum Teil auch gelang.

„Ich habe nichts weiter bemerkt, als was auch Sie be⸗ obachtet haben,“ ſagte er. „Und wie koͤnnen Sie glauben, daß ſie mir etwas anvertrauen wird, was ſie vor Ihnen allen verbirgt? Ich wußte ja nicht einmal, wohin ſie immer faͤhrt, und was fuͤr eine Popenfrau das iſt ich fragte ſie, fragte ſie, und bekam nicht ein Wort aus ihr Er Erſt von Ihnen erfuhr ich, um was es fih hans

= nein, fie fagt nichts, das fimmt nichts iſt aus the herauszubekommen!“ fügte Tatjana Markowna Bes ruhige hingen. „Kein Wort verrät fie! Und diefe Schwäßes ein, die Popenfrau, erfährt alles von ihr, aber fie flirbt lieber, ehe fie Wjeras Geheimniffe preisgibt. Tiber fich felbft plaudert fie alles aus, doch von dem, was Miera ihr anvertraut, kommt nicht eine Silbe Aber ihre Lippen I“ Sie ſchwiegen beide.

„In wen hätte fie fi auch Hier verlieben follen?” fuhr die Sroßtante dann nachdenflich fort. „Es ift ja niemand da, ber fie intereſſieren könnte.”

„Wirklich niemand?” fragte Raiſki lebhaft. „Kein Menfch in der ganzen Stadt und Umgegend?.. .”

Tatjana Markowna ſchuͤttelte den Kopf.

„Hoͤchſtens der Forſtmeiſter ...“ ſprach fie nachdenklich „ein trefflicher Menſch! Ich glaube, er intereſſiert ſich fuͤr

... Es waͤre für Miera eine ſeht gute Partie... a ., *

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„Nun und?!"

„Ste tft fo wunderlich. Es ſcheint, daße er es nicht wagt, ſich Ihr gu nähern, um ſie gu werben. Doch iſt's ein praͤch⸗ tiger Menfch, fo folide, und reich dabei, allein an Wald bat er einige Tauſend Deßjatinen ...“

„Der Forſtmeiſter!“ wiederholte Raiſki. „Was für ein Forfimeifter denn? Was für ein Menſch iſt er ſonſt jung, gebildet, repräfentabel?.. .”

Waſſiliſſa seat in diefem Yugenblid ins Zimmer und mels dete, daß Paulina Karpowna vorgefahren fet und fragen laffe, ob Boris Pawlowitſch Luft Habe, an ihrem Porträt weiterzuarbeiten.

„Nicht einmal ein Weilchen plaudern kann man... muß die der Teufel reiten!” brummte die Großtante vor fi hin. „Wie Iaffen bitten... Gorg’ dafür, daß das Fruͤh⸗ ſtuͤck bald fertig it!”

„Laſſen Sie ihr doch. fagen, Tantchen, wir könnten heute nicht empfangen! Richte ihr doch ans, Waſſiliſſa, Ich würde an dem Porträt nicht weiter malen, bis Wiera Waſſil⸗ jewna wieder gu Haufe wäre.”

Waſſiliſſa sing Hinaus, kehrte jedoch fogleich wieder zus ruͤck.

„Ste laͤßt Sie herausbitten,“ fagte fie zu Raiſki „ſie will nicht aus dem Wagen ſteigen.“

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Elftes Kapitel

8 ift nie and Tageslicht gefommen, was Pauline | Karpowna eigentlich mit Raiſki gefprochen hat, als er zu ihr hinauskam. Fünf Minuten fpäter jedoch hatte er Hut und Spazierſtock geholt und fuhr mit ber Kriskaja, die nach allen Seiten frinmphierende Blide warf, durch die Haupffiraßen der Stadt. Man konnte ihre ben Stolz auf ihren Sieg vom Gefichte ablefen, und als fie die Rund⸗ fahrt mit ihm beendet hatte, führte fie ihn wie einen Krieges sefangenen nach ihrem Heim.

Neugierig ſchritt Raiſki hinter Paulina Karpowna durch die Zimmer dahin und antwortete in liebenswuͤrdiger Weiſe auf ihr zaͤrtliches Fluͤſtern und ihre leidenſchaftlichen Blicke. Sie bat ihn flehentlich, doch endlich zu geſtehen, daß ſie ihm nicht gleichguͤltig ſei, was er denn auch ſchon im naͤchſten Augenblick tat, voll geſpannteſter Erwartung, was nun weiter folgen wuͤrde.

„Dh, ich wußte es ja, ich wußte es, ſehen Sie! Habe ich's nicht vorausgeſagt?“ rief fie frohlockend.

Das erfte, was fie tat, war, baß fie die Vorhänge an den ‚Benftern herabließ, wodurch fie ein lauſchiges Halbdunkel im Zimmer erzeugte. Dann ließ fie fich in halbliegender

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Poſe, mit dem Ruͤden nad) dem Lichte zu, auf einem Ruhe⸗ bett nieber.

„Sa, ich habe es gewußt: ob, vom erften Augenblick an wußte ich es, que nous nous convenons ja, cher Mon- sieur Boris nicht wahr?“

Sie geriet in Verzädung und mußte nicht, wo fie ihm einen Plag anweiſen follte. Ste beftellte ein üppiges Fruͤhſtuͤk, dazu gefühlten Ehampagner, ftieß mit ihm an und fcehlärfte den perlenden Wein tropfenweife aus dem Glaſe, zwifchendurch feufzend, ſchwer atmend und fi Luft zufächelnd. Dann rief fie ihre Zofe und fagte prahlend, daß fie für niemand gu fprechen fei; basfelbe fagte fie au zu dem Diener, der ind Zimmer trat, und dem fie befahl, auch im anftoßenden Saale die Fenſter zu verhängen. Sie faß in ihrer reigenden Haltung, gerade einem großen Spiegel gegenüber, und lächelte ſchweigend, ganz aufgelöft in lauter Behagen, ihrem Gafte zu. Sie rüdte nicht näher zu Raiſki bin, nahm nicht feine Hand, bat ihn nicht, feinen Stuhl mehr in ihre Nähe zu rüden: fie begnuͤgte ſich ganz und gar damit, fih vor ihm in dem ganzen firahlenden Slanze ihrer interefianten Perfönlichteit zu zeigen, und firedte nur ab und zu ganz plöglich ihr Fuͤßchen vor, wobei fie an die Wirkung dieſes Mandvers auf ihn bes obachtete. Als er fchließlich doch näher gu ihr hinruͤckte, machte fie ihm in einwandfreier Weiſe Plag und ließ ihn an ihrer Seite ſich niederſetzen.

Er ſah ſie neugierig an und wollte ein fuͤr allemal dahinter⸗ kommen, was eigentlich an ihr wäre. Als fie gleich nach feinem Eintritt all die bedenklichen Vorbereitungen traf, war er. wohl erfchroden, bach ſchwanden feine Befürchtungen mit jeder ihrer Bewegungen. Offenbar war er gu ber Übers jengung gelangt, daß feiner Tugend Feine Gefahr brobe,

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„Was will fie eigentlich von mir?” fragte er fich, fie immer

wieder mit Neugier betrachten. „Erzaͤhlen Sie mir boch irgend etwas von Petersburg, von Ihren dortigen Eroberungen: bie waren wohl gar nicht zu zählen, wie? Sagen Sie, bitte find die bortigen Frauen huͤbſcher als die Hiefigen ?” Ste warf einen Bid nad Ihrem Bilde in dem Spiegel. „Kleiden fie ſich mit mehr Geſchmack?“ Sie zupfte an ihrem Kleide herum und ließ die Spigenmantille von ihren Schultern gleiten. Diefe Schultern waren fo weiß und rund, daß Raiffi fie immer⸗ bin der Verewigung durch den Pinfel wert fand. |

„Barum fchweigen Sie? Sagen Sie doch, Bitte, irgend etwas!” fuhr fie fort, zuckte kokett mit dem Füßchen und ließ es fogleich wieder unter dem Kleibe verſchwinden. Dann ſah fie ihn ſchelmiſch an und beobachtete, ob es bei ihm wirke.

„Bas ift eigendlich mit ihre? Halt das muß fi. fogleich zeigen!...“ dachte er.

„sh habe alles geſagt!“ ſprach er mit fomifcher Efftafe. Jetzt bleibt mir nur noch eins Abrig: Sie gu kuͤſſen!“ Er erhob fih von feinem Plate und trat entfchloffen auf fie gu.

„Mr. Boris! De gräce oh, oh rief ſie verwirrt zu⸗ gleich und erwartungsvoll „que voulez-vous nein, um Gottes willen, nein! Oh, ſchonen Sie mic, fhonen Sie mich!”

Er neigte ſich zu ihr hinab und fehlen allen Eenſies an die Ausführung feines Unternhemens geben gu wollen. Sie hielt ihm in ungeheuchelter Ungft die Arme entgegen, er⸗ bob fih von dem Ruhebett, zog die Vorhänge guräd, brachte ihr Meid in Ordnung und fette fich in hoͤchſt korrek⸗ ter Haltung, doch mit triumphierendem Gefichte, auf einen

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Seffel. Sie erfchten wie in hellen Strahlenglanz getaucht, und den Kopf wie ermüdet auf bie Schulter finten laſſend, flöfterte fie ſuͤßlich: | „Pitie, pitiel“ „Grä-ce, grâce!“ bat Raiffi in fingenbem Tone, nur mit Mühe das Lachen verhaltend. „IH Habe nur gefcherst, Paulina Karpowna haben Sie feine Angft, ich ſchwoͤre Ihnen, Sie haben nichts zu befürchten . . .” „Dh, ſchwoͤren Ste nicht!“ fagte fie, fich plöglich erhebend, mit pathetifcher Stimme und blinzelnden Augen. „Es gibt fchredliche Augenblide im Leben der Frau... Doch Gie find großmuͤtig! ...“ fügte fie hinzu und ließ wieber wie erfhöpft den Kopf auf bie Säulter finten „Sie werben mich nicht zugrunde richten... .“ „Nein, nein,” fagte er, aufs hoͤchſte ergögt duch dieſe Szene „wie kann man denn eine Familienmutter zus grunde richten?... Sie haben doch Kinder wo find denn Ihre Kinder?” fragte er, ſich umſehend. „Warum haben Sie mir Ihre Kinder nicht vorgeftellt ?” Sie war Im Augenblid ernüchtert. „Sie find... nicht da...” fagte fie. „Machen Ste mich doch mit ihnen bekannt, ich Habe Kinder, chen fo gern!” „Parbon, Mr. Boris fie find nicht in der Stadf.. .” „Wo find fie denn?” | „Sie find... auf dem Lande, bei Bekannten...“ Tatfache war, daß ihre beiden „Kinderchen“, zwei Söhne, bereits im Alter von fechzehn und viergehn Jahren ſtanden. Die Krizkaja hatte fie weit fort aufs Land geſchickt, gu einem Ontel, ber fie erzog fie wollte nicht, daß duch ihre Anweſenheit in ber Stadt ihr Alter kund wuͤrde.

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Raiſki begann fich zu Iangweilen und machte fih auf den Heimweg. Paulina Karpowna hielt ihn nicht nur nicht suräd, fondern war fogar, wie man ihr anfehen konnte, ganz zufrieden, daß er ging. Sie ließ ihren Wagen vor; fahren und wollte ihn auf jeden Fall begleiten. „Sehr Tiebenswürdig,” fagte Raiſti „Sie können mich dann gleich nach einer Stelle bringen.” Paulina Kars powna willigte mit Sreuden ein, und fie fuhren wieder sufammen durch die Straßen. Am Abend wußte die ganze Stadt, daß Raiffi den Morgen als einziger Saft bei Paulina Karpowna zugebracht hatte, daß nicht nur die Vorhänge heruntergelaffen, fondern auch die Senfterläden in ihrer Wohnung gefchloffen waren, daß er ihr eine Liebeserflärung gemacht, fie um einen Kuß gebeten und vor ihr geweint habe, und daß er jekt unter allen Dualen einer rafenden Leidenfchaft feufje. Lange fuhren Raiſki und Paulina Karpowna in der Stadt umber. Sie bemühte fi, die Fahrt fo einzurichten, daß fie bei allen Bekannten vorüberfam, bis Raiſki endlich in ein Gaͤßchen einzulenfen bat und vor Koslows Haufe abs flieg. Die Krizkaja fah, wie Leontijs Gattin Raiſki ſchon vom Fenſter aus Zeichen machte. Sie war ganz entfegt darüber. „Iſt's moͤglich Sie fahren zu diefer Frau? Ich bin fompromittiert I” fagte fie. „Was werden die Leute fagen, wenn fie hören, daß ich Sie im Wagen hierher gebracht babe? Allons, de gräce, montez vite et partons! Cette femme: quelle horreur !” n. Raiſki winkte mit der Hand ab und ging ind Haus inein. „Sie bat den Splitter im fremden Auge bemerkt,” dachte er,

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Zwoͤlftes Kapitel

SaDyr des Befuches bei ber Krizkaja hatte Raiffi fich erinnert, daß er Leontij gegenüber immer noch jene heilige Freundespflicht zu erfuͤllen habe, auf die er ſich juͤngſt ſo feierlich vorbereitet hatte, die jedoch infolge feines Zuſammentreffens mit Wiera unerledigt geblieben war. Sein Herz begann förmlich raſcher zu ſchlagen, als er jebt feiner guten Abficht, das häusliche Gluͤck feines Freundes vor fiherer Schmach zu bewahren, wieber ges dachte.

Leontij war nicht zu Hauſe, dafuͤr kam Uliana Andre⸗ jewna ihm mit offenen Armen entgegen, doch lehnte er ihre allzu zaͤrtliche Begrüßung trocken ab. Sie nannte ihn ihren alten Freund, ihren Heinen Schäfer, zog ihn leicht am Ohr, ließ ihn auf dem Diwan Platz nehmen, fegte ſich Dicht neben ihn und nahm feine Hand in bie ihrige. Kaifki war verblüfft, ja unwillig über diefe allzu unmittel⸗ bare Attade und die raſch zugreifende Art Ulianas, bie ihn plöglich in die Zeit feiner erfien Bekanntſchaft mit ihr und feiner ſtudentiſchen Torheiten zuruͤckverſetzte. Wie wett lag diefe Zeit ſchon zuruͤck!

„Bas fallt Ihnen ein, Uliana Andrejewua nehmen

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Ste Hoch Vernunft an!” fagte er vorwurfsvoll. „Ich Bin doch fein Stubent, und Sie find fein junges Mädchen mehr I” „Fuͤr mich find Sie immer noch derfelbe liebe, Heine Stus dent, derfelbe Heine Schäfer, und ich bin für Sie dasſelbe folsfame Heine Mädchen . . .“ | Sie fprang von ihrem Plaße auf, g0g ihn am Arme empor und tanzte dreimal im Walzertakt mit ihm durchs Zimmer, „Wer bat mir denn damals dag Kleid zerriffen erinnern Sie fih noch?” Er fah fie an und fuchte fich zu beſinnen. „Wiſſen Sie noch, wie Sie mich damals um die Taille faßten, als ich fortlaufen wollte?... Und wer hat denn dor mir gefniet? Wer hat mir bie Hände gefüßt? Da, füffen Sie fie wieder, Sie Undankbarer! Ja, ja, ich Bin Immer noch für Sie diefelbe Ulinka!“ „Haben Sie diefe weit zurüdliegenden Albernheiten noch nicht vergefien ?” fprach er mit einem Geufer. „Mein, nein alles weiß ich noch, alles!” Und fie twirbelte mit Ihm durch das Zimmer. Es war ihm in der Tat leichter gefallen, dag dumme, laͤcherliche, ungefährliche Kofettieren der ewig nach ihrem Odyſſeus ausfchauenden alternden Kalypfo gu ertragen, als das unverfeorene Liebesfpiel diefer Nymphe, die ihren Satyr ſuchte ... Mit flammenden Augen und einer ſelbſtſicheren, freudig kuͤhnen Entſchloſſenheit, hinter der ſich ein heimliches Lachen barg, ſah ſie ihm gerade ins Geſicht, waͤhrend durch das flammende Rot ihrer Wangen die Sommerfproffen grell hervortraten und von dem hochblonden Scheitel und den Augenbrauen ein goldiger Glanz ausſtrahlte. Er wandte ſich von ihr ab, ſuchte das Geſpraͤch auf Leontij

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und feine Arbeiten zu bringen, ſchritt von Ede zu Ede durchs Zimmer und ging wohl zehnmal nah ber Tär, um fich gu entfernen, hatte jeboch das Gefühl, daß dies feineswegs leicht war.

Es war ihm, als fei er In ben Käfig einer Tigerin geraten, bie, in einem Winkel figend, jede Bewegung ihres Opfers beobachtete: faum faßte er einmal nach der Türklinte, fo ftand fie auch ſchon vor ihm, lehnte fih mit dem Rüden gegen das Schloß und fah In mit jenem ſeltſam flarren Ausdruck der Augen an, hinter dem fich ein Lachen gu ver⸗ bergen fchien, ohne daß fie in Wirklichkeit lachte.

Mohin er fih auch wandte Immer wieder war es Ihm, als könne er nicht fort aus dem Banne diefes Blickes, der wie der Blick eines Porträts ihn überallhin gu vers folgen ſchien.

Er fette fih und begann darüber nachzufinnen, wie er ſich feiner Freundespflicht Leontif gegenüber am beflen ents ledigen follte. Es wurde ihm nicht leicht, einen Anfang zu finden. Er fah, daß hier mit Milde nichts auszurichten war: er mußte fchon ein Donnerwetter über dieſe mit der Schande fpielende Frau hereinbrechen laflen, mußte bie Dinge beim Namen nennen und ihr bie Schmach vors halten, bie fie fo reichlih auf das Haupt feines Freundes haͤufe.

Er maß ſie ſchweigend, mit kaltem Blicke, vom Scheitel bis zu den Sohlen, und ein leichtes Laͤcheln der Gering⸗ ſchaͤtzung ſpielte dabei um ſeinen Mund.

Sie wich dieſem wenig freundlichen Blicke aus, ging um ſeinen Stuhl herum, beugte ſich ploͤtzlich zu ihm herab, legte ihre Hand auf ſeine Schulter und ſah ihm aus naͤchſter Naͤhe in die Augen. Dann zupfte ſie ihn zaͤrtlich am Ohr, blieb ploͤtzlich wie verſteinert ſtehen, blickte in tiefem Nach⸗

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finnen zur Seite, als kaͤmpfe fie mit fich felbft, ober alg gedenke fie jener fernen, fchönen Tage, da Raiſki noch ein Juͤngling und noch sugänglicher war. Und plöglich ſeufzte fie, erwachte aus ihrer Erſtarrung und begann ihr Spiel mit ihm von neuem...

Er beobachtete fie mit feharfem Auge.

„Barum fchauen Sie mich fo finfter an, lieber Freund, gar nicht fo wie früher?” fagte fie leife, mit fingender Stimme. „Iſt in diefem Herzen nichts mehr für mich übrig geblieben? Erinnern Sie fich noch, wie ſchoͤn es war, als damals die Linden bluͤhten?“ | „Un nichts erinnere ich mich mehr,” fagte er troden, „alles hab’ ich vergeſſen!“

„Andankbarer!” flüfterte fie und legte ihre Hand an fein Herz. Dann Eniff fie ihn wieder ins Ohr und in die Wange, und frat raſch auf die andere Seite.

„Haben Sie wirklich alles an Wiera abgegeben ?” flüfterte fie.

„In Wiera?” fragte er plöglih und ſtieß fie zuruͤck. BT! Ich weiß alles ſchweigen Sie! Jetzt muͤſſen Sie Ihr Schätchen für einen Augenblid vergeflen ...“ Nein,“ fagte er fh „Ih muß es auf ein andermal verfchieben, wenn Leontif gu Haufe if. Ich will ihr dann irgendwo im Winkel oder im Garten eine Lektion erteilen, wit ine unverbluͤmt fagen, wer fie Ift, und was ich von ihrem Benehmen halte, aber jetzt ...“

Er erhob fi.

„Laſſen Sie mich, Uliana Andrejewna: ih komme ein andermal wieder, wenn Leontii zu Haufe ift,” fagte er ttoden und verfuchte, fie von der Tür wegzuſchieben. „Und das gerade will ich nicht,” antwortete fie. „Was habe ich davon, daß Sie herfommen, wenn er da iſt? Sch

will mie Ihnen allein fein: feien Ste wenigſtens für eine Stunde mein... ganz mein... daß niemand auch nur .ein Teilchen von Ihnen abbekommt! Und auch ich will die Shrige ganz bie Ihrige fein!” fläfterte fie leibens fhaftlih und legte ihren Kopf an feine Bruſt. „Sch habe mich gefehnt nach diefer Stunde, habe von Ahnen ges träumt und wußte nicht, wie ich Ste herloden follte. Der Zufall ift mir gu Hilfe gelommen Sie find mein, mein, mein!” fprach fie und fchlang ihre Arme um feinen Hals, ihren Mund dabei sum Kuffe fpigend.

„Run... dag tft nicht mehr Paulina Karpowna, bier heißt es entfchloffen auftreten,” dachte Raiſki, umfaßte energiſch ihre Taille, führte fie auf die Seite und öffnete die Tür. „zeben Sie wohl,” fagte er, feinen Hut nach ihre hin ſchwen⸗ fend „auf Wiederfehen! Vielleicht komme Ich morgen ..“ Ste hielt plöglich feinen Hut in der Hand, und während fie den Kopf nach Ihm vorneigte, hob fie den Aut hoch empor und fuhr damit in ber Luft hin und ber.

Er wollte ihr den Hut wegnehmen, doch war fie bereite Damit im anderen Zimmer und bielt ihm nun, ihn gleichs fam lodend, die Kopfbebedung hin.

„Nehmen Sie ihn doch!” nedte fie ihn,

Er beobachtete fie fehweigend. „Geben Sie mir den Ba j“ fagte er nach einer Weile,

„So nehmen Sie ihn doch!”

„Seben Ste ihn her!”

„Hier ift er!”

„Stellen Ste Ihn auf ben Fußboden !”

Sie fat, was er verlangte, und trat dann ans Fenfter, Er ging in dag andere Zimmer und nahm rafch den Hut, fie aber Tief flink nach der Tür, ſchloß Ir ab und ftedfe den Schluͤſſel in bie Tafche. |

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Sie fahen einander an: fühle Nengier lag in feinen Bliden, während fie mit einem feden Ausdruck des Triumphes in den Iachenden Augen ihn anfchaute. Schweigend be; wunderte er die Schönheit ihres römifchen Profils, „Ja, Leontij hat recht: dag ift ein Kameenfopf diefeg Profil, diefe firenge, reine Nadens und Halsliniel Und ihr Haar iſt noch ebenfo dicht wie früher...“ Pöglich fiel ihm ein, weswegen er gekommen, und er fegte eine firenge Miene auf, „Begreifen Sie auch, was für ein keckes Spiel Sie fptelen ?” fprach er kalt und würde; voll, „&eber Boris,” fagte fie zärtlich, Ihm die Hand hinhaltend und ihn zu fich Iodend „haben Sie den Garten und bie Laube in Moskau fchon vergeflen? Iſt Ihnen diefes Spiel wirflih fo neu? Kommen Sie doch näher!” fügte fie tafch, im Flüftertone, hinzu, während fie auf dem Diwan Platz nahm und ihm ein Zeichen machte, fih doch neben fie zu feßgen. „And Ihr Mann?” fagte er ploͤtzlich. „Mein Mann? Der ift immer noch derfelbe Tälpel, der er früher war.” „Toͤlpel‘ fagen Ste?” verfeßte er vorwurfsvoll, mit er; hobener Stimme. „Lohnen Ste ihm fo für feine Güte, fein Vertrauen ?”

„Kann man ihn denn Aberhaupt Lieben ?”

„Barum nicht?”

„Nein, dieſe Art Männer liebt man nit... Kommen Sie her!” flüfterte fie.

„Aber Sie haben ihn doch früher geliebt

Sie fehüttelte verneinend den Kopf.

„Barum haben Sie ihn denn dann geheiratet ?”

„Das if etwas ganz anderes: er wollte mich haben, und

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da fagte ich eben ‚ja‘. Wo hätte ich denn fonft bleiben follen ?"

„And fo Beträgen Sie ihn denn Ihr Leben lang, Tag für Tag, verfihern ihm Ihre Liebe...“

„Das habe ich noch nie getan, und er fragt auch nicht, ob ich ihn liebe. Sie fehen alfo, daß ich ihm nicht Beträge!“ „Aber ich bitte Ste, was tun Sie denn fonft?” fagte er und bemühte ſich dabei, feiner Stimme einen Ausdrud des Entſetzens zu verleihen.

Sie fah ihn mit einem kecken Blide, in dem wieder Ihe heimliches Lachen lag, an, und Ihre Augen funfelten das bei.

„Was ich fonft tue?” verfegte fie, fein Entfegen in fomis ſcher Weife nachäffend. „Ich liebe Ste noch immer, Sie Undanfbarer, bin immer noch meinem lieben Studenten Raiſki treu... Kommen Sie her!”

„Wenn er ed wüßte!” fagte Raiſki und ließ feine Augen ängftlich in die Runde gehen, Bis fie auf ihrem Profil haften blieben.

„Er wird nichts erfahren und wenn er etwas erfährt, macht’8 auch nicht viel aus. Er iſt doch ein Toͤlpel.“ „Nein, er tft kein Tölpel, fonbern ein ſchwacher Menſch, der Sie Itebt und Ihnen blind vertraut. Und das iſt nun fein häusliche Gluͤck!“

„Wo ſteckt denn fein Ungläd, möcht’ ich wiſſen ?“ brauſte Uliana Andrejewna auf. „Suchen Sie ihm doc erft eine zweite folhe Frau, wie ih bin! Wenn ich auf ihn nicht acht gebe, führt er ben Löffel am Munde vorbei. Er hat feine Kleider und Stiefel richtig In Ordnung, ißt gut, trinkt gut, fchläfe ruhig, treibt fein Latein was fehlt ihm noch? Das genügt ihm vollkommen. Die Liebe ift nicht für folde Männer geſchaffen!“

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„Sur welche denn?”

„Ra... für folche, wie Sie find... Kommen Sie her!” „Uber er vertraut Ihnen doch, er betet Sie an...“

„sh Habe auch nichts dagegen: er ift mein Mann was will er noch mehr?”

„Shre Zärtlichkeiten, Ihre Fuͤrſorge alles dag follte ihm allein gehören !”

„Es gehoͤrt ihm auch bin ich nicht zärtlich genug gegen ihn, dieſen haͤßlichen Kerl? Ach, wenn Sie doch...” „Über diefe Leichtfertigkeit, dieſer Mr. Charles!”

Sie fuhr beleidigt auf.

„Solcher Unfinn Charles! Wer bat Ihnen das aufs gebunden? Sicherlich Ihre abfchenliche Tante aber ich ſage Ihnen: es iſt Unſinn, Unſinn!“

„Ich habe doch ſelbſt gehoͤrt ...“

„Was haben Sie gehoͤrt?“

„Im Garten neulich, wie Sie fluͤſterten, wie Sie...” „Das iſt alles dummes Zeug, es ſchien Ihnen nur ſo! Mr. Charles ſpricht wohl oͤfters vor, trinkt ein Glas Rot⸗ wein und ißt einen Zwieback dazu aber wenn er aus⸗ getrunken hat, geht er gleich wieder.”

Sie ging wieder ans Fenfter und begann in ihrem Arger die Bluͤten und Blaͤtter der Zimmerpflanzen, die dort ſtanden, abzureißen. Ihr Geſicht nahm den ſtarren Aus⸗ druck einer Maske an, und ihre Augen hoͤrten auf zu leuch⸗ ten und wurden farblos und durchſichtig. „Wie damals bei Wiera ...“ dachte er „ja, ja, ja das iſt er, dieſer

Blick, er iſt bei allen Weibern ganz derſelbe, wenn ſie luͤgen, betruͤgen, ein Geheimnis haben... Der Nixenblick!“ „She Herz, Uliana Andrejewna, Ihr Inneres Gefühl...“ fagte er laut.

„Was denn noch?”

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„Ihr Gewiſſen, mit einem Wort peinigt ed Ste nicht, flüftert eg Ihnen nicht gu, wie tief Sie meinen armen Freund kraͤnken?...“

„Was für albernes Zeug Sie zuſammenreden nicht ans zuhören !” fagte fie, während fie fich plöglich nach ihm ums wandte und feine Hand ergriff. „Ich möchte nur wiffen, wo die Kränkung fiedt? Wie kommen Sie dazu, mir Moral zu predigen? Leontij beklagt fih doch nicht, Fein Wort fagt er; ich habe ihm mein Leben geopfert, mich ihm ganz hingegeben; er ift fo ruhig, fo zufrieden, und wänfcht fih gar nichts weiter. Was für ein Leben aber führe ich, fo ohne alle Liebe! Wo fände er noch eine seite Stan, bie ihr Leben fo an das feinige knuͤpfen wuͤrde?“

„Se liebt Sie fo aufrichtig!”

„Reden Sie doch nicht! Was weiß er von Liebel Nicht ein Wort ſpricht er, das von Liebe handelt: macht nur große Yugen und gudt mich an, das iſt eine ganze Liebe! Der richtige Klog! Nur für feine Bücher lebt er, hat ewig die Naſe darin fieden und kümmert fih um nichts anderes, Gut dann foll er fich bei ihnen auch Gegenliebe fuchen ! Seine Hausfrau will ich bleiben, doch feine Geliebte” fie fchüttelte energifch ben Kopf „niemals!“

„Das tft ja eine Philoſophie gang neuer Urt,” verfegte Raiſkki in heiterem Tone „Liebe und Ehe find danach . zwei ganz verfchiedene Dinge: der Gatte. . .”

„Der Gatte befommt feine Kohlfuppe, fein fauberes Hemd, fein weiches Bett, feine Ruhe...“

„And die Liebe?“

„Die Liebe... die ift für den da!” fagte fe, ſchlang plößlich ihre Arme um Raiffis Hals und ſchloß ihm den Mund mit einem langen, Teidenfchaftlichen Kuffe.

Er war fo beſtuͤrzt und überrafcht, daß er faft feinen Halt

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verlor. Ste aber ließ ihn nicht Io8 aus ihrer Umarmung, fondern bliste ihn nur fo aus den flammenden Augen an und fah mit Mohlgefallen die Wirkung ihres Kuſſes. „Hören Sie auf... hören Sie auf,” fagte er, fie verwirrt abwehrend „Sie vergefien . .. Ich bin Leontijd Freund, ih babe bie Pflicht...“

Sie verfhloß ihm den Mund mit ihrer Heinen Hand, und et... füßte dieſe Hand.

„Nein, ich darf nicht...” Dachte er und bemühte ſich, dag eömifche Profil und bie weit geöffneten, funkenſpruͤhenden Augen nicht zu fehen. „Jetzt ift der Augenblid da, jeßt will ich meinen Stein gegen biefe Kalte, herzlofe Statue fhleubern ...“

Er machte fih aus ihrer Umarmung los, firich fein zer⸗ zauſtes Haar zurecht, trat einen Schritt zuruͤck und flellte fih in Poſitur.

„Und die Scham wo iſt Ihre Scham geblieben, Uliana Andrejewna?“ fagte er fchroff.

„Die Scham... die Scham... .” fläfterte fie tief erroͤtend und barg ihren Kopf an feiner Bruſt „die Scham will ih in Kuͤſſen erftiden I”

Sie preßte wieder und Immer wieder ihre Lippen auf feine Wangen.

„gaflen Sie mih! Kommen Sie zur Befinnung!” fagte er fireng. „Wenn fih im Haufe meines Freundes ein Damon eingeniftet hat, fo will ich als Schugengel über feinem Stieden wachen...”

„Reden Sie nicht, oh, reben Sie nicht fo fehredliche Worte. .” tief fie faft ſtoͤhnend. „Wie kommen Sie dazu, mich zur Scham zu rufen? Jeder andere... ja! Aber Sie? Haben Ste denn vergeffen?... O, mir ift fo entfeglich zumute, diefer Schmerz ... ich werde krank werben, ich werde flers

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ben... Jh hab's ſchon über, diefes Leben, dieſe ſchred⸗ fiche Langeweile bier...“

„Stehen Sie auf, faffen Sie ſich ... vergeffen Sie nicht, daß fie eine Frau find...” fagte er.

Sie fehmiegte ſich noch Teidenfchaftlicher, faſt krampfhaft, an ihn an und barg Ihren Kopf an feiner Bruſt. „Ach,“ fagte fie „warum, warum... muͤſſen Sie mir das fagen?... Sie, Boris, mein lieber Boris... . warum ?” „Laſſen Ste mich los! Ich erftide in Jhrer Umarmung!” fagte er. „Ach habe das heiligfie Gefühl das Vertrauen eines Freundes verraten ... Möge biefe Schande auf Ihr Haupt fommen!...”

Sie zudte zuſammen, nahm plößlich den Schlüffel aus der Taſche, den fie von der Tür abgesogen hatte, und warf ihn Naifki vor die Füße. Dann fanten ihre Arme ſchlaff herab, und während fie mit trübem Blide, wie geiftesabmwefend, auf Raiſki fah, ſtieß fie ihn heftig zuräd. Ihr Auge irrte durchs Zimmer, ihre beiden Hände fuhren nach dem Kopfe, und plöglich ftieß fie einen fo jähen Schrei aus, daß Raiſki heftig erfchrat und fein Unterfangen, das fhlummernde Ges fühl der Scham In Ihe zu weden, aufs tieffte bereute. „Uliana Andrejewna! So fallen Sie fih doch! Kommen Sie zur Beſinnung!“ fprach er und fuchte fie an den As men feftzubalten. „Sich habe dag nur fo hingeredet... nur geſcherzt ... verzeihen Sie mir!...”

Doc fie hörte feine Worte nicht, fondern ſchuͤttelte ganz vers zweifelt den Kopf, riß fih an den Haaren, rang die Hände, krallte fich die Nägel ing Fleifch und fchluchste ohne Tränen. „Was bin ih? Wo bin ich 2” rief fie, mit entfesten Bliden um fich fhauend. „Die Scham... die Scham...” kam es abgeriffen aus ihrer Bruft „o mein Gott, die Scham... ja, fie brennt fo da, da!”

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Sie riß fih das Chemifert von der Bruſt.

Er Indpfte, oder riß vielmehr ihe Kleid auf und legte fie auf den Diwan. Sie warf fich Hin und her, wie in heftigen Sieber, und fohrie, daß man fie auf der Straße hörte. „Uliana Andrejewna, fo fommen Sie doch zu fih!” rief er, vor ihr nieberfniend und ihre Hände, ihre Stirn, ihre Augen füflend.

Sie fah ihn wie zufällig an und machte dann große Augen, als fei fie erfiaunt, ihn zu fehen. Dann warf fie fich plöglich krampfhaft sudend an feine Bruft, fließ ihn wieder von fih und rief von neuem: „Die Scham! die Scham! es brennt fo... da, da... th erfide.. .”

Er begriff in diefem Augenblid, daß, wenn er ihr laͤngſt eingefchläfertes Schamgefühl hatte weden wollen, dies nur ganz allmählich, nur mit größter Schonung hätte ges ſchehen muͤſſen vorausgefest, daß diefes Gefühl übers haupt bei ihr noch vorhanden und nicht fchon abgeftorben war. „Es ift wie mit den Trunkenbolden,“ ging's ihm durch den Kopf „auch die kann man nur allmählich ent, wöhnen.. .”

Er wußte nicht, was er tun follte, öffnete die Tür, lief in dag Eßzimmer, geriet dann, im feiner Verzweiflung bin und her eilend, in einen dunklen Winkel und gelangte fhlieglich in den Garten. Von da fam er in die Küche, tief vergeblich nach ber Köchin, traf Jedoch im ganzen Haufe feinen Menfchen und eilte, die Türen laut hinter fich zu⸗ ſchlagend, wieder zurüd, nachdem er unterwegs eine Karaffe mit Waſſer ermifcht hatte.

Einen Augenblid ſchwankte er, ob er fih nicht aus dem Staube machen follte, doch erſchien es Ihm graufam, fie in diefer Lage zuruͤckzulaſſen.

Er kam in das Zimmer zuruͤck, wo fie noch immer fi

ER

ftöhnend hin und her warf. Das aufgeldfte dichte Haar fiel ihre über Bruft und Schultern. Er Iniete neben ihr hin, vers fchloß ihe den Mund, um ihr Stöhnen nicht langer hören zu müffen, mit feinen Lippen und füßte ihre Hände, ihre Augen.

Allmaͤhlich verſtummte ihr Schreien, fie lag ein paar Mis nuten wie felbftvergeffen da und kam enblich gu fih. Sie richtete den mübden, matten Blid auf ihn, fiel ihm dann plöglich in wilder NRaferei um ben Hals, preßte ihn leiden; ſchaftlich an fih und flüfterte:

„Sie find mein... mein!... Sprechen Sie nicht mehr fo Entfeglihes gu mir!... ‚Laß deine Drohung, ſchilt Tamara nicht!“ zitierte fie aus Lermontow mit muͤdem Lächeln.

„D Gott, wag foll ich tun?” Hang eg verzweifelt in feinem Innern.

„Bleiben Sie!“ bat ſie fluͤſternd, waͤhrend ſie ſeinen Kopf wie eingezwaͤngt in ihren Armen hielt „Sie ſind mein!“ Raiski konnte ſeinen Kopf in ihren Armen nicht ruͤhren, waͤhrend er ſelbſt ihren Nacken und Hals in den Haͤnden hielt: die roͤmiſche Kamee lag ihm gleichſam auf der flachen Hand, in all dem Reiz ihrer flehenden Augen, ihrer halb⸗ geöffneten, gluͤhenden Lippen...

Er fonnte den Blick nicht von ihrem Profil losreißen, ein jaͤher Schwindel beflel ihn ... Ihre slühend roten Wangen farbten fih noch tiefer und verfengten ihm förmlich die Augen. Sie küßte ihn, und er erwiberte ihren Kuß. Sie umfhlang ihn noch Teidenfchaftlicher, noch heißer und flüfterte kaum hörbar: |

„Jetzt find Ste mein: niemand fonft foll Sie haben!. . .” Er [halt nicht mehr, ſprach fein einziges „entfegliches” Wort mehr... Der Donner hörte auf zu rollen...

DA: IS’ IX 7,8 ERRRRRRE

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Dreisehntes Kapitel

achdem Raiſki fo feine Freundespflicht erfüllt hatte,

fohritt er langſam bergan durch die Gaffe und blidte gleichgültig auf die im Straßengraben wuchernden Brenn: neffeln, auf die oben am Abhang weidende Kuh, dag an ber Hede feine Löcher wühlende Schwein und den einförmigen, fih lang binftredenden Zaun. Er warf einen Blick zuruͤck, nah Koslows Haufe, und fah, daß Uliana Andrejewna immer noch am $enfter ſtand und ihm mit dem Tafchens tuche winkte. „Ich habe alles getan, was Ich konnte, alles!” fagte er, fih entfeßt von dem Fenſter abwendend und feine Schritte befchleunigend. Dben auf bem Hügel angelangt, blieb er fiehen und rief in ungeheucheltem Schreden: „Mein Gott, o mein Gott!” „Hamlet und Ophelia!” fuhr es ihm plöglich durch den Kopf, und er fehüttelte fich bei diefem Vergleich vor Lachen fo heftig, daß er fih am Gitter des Kirchhofs, an dem er gerade vorüberfam, fefthalten mußte. Ultana Andrejewna und DOphelia! Daß er fich ſelbſt mit Hamlet verglich, fam ihm nicht lächerlich vor: jeder Mann, fagte er fi, bat zumeilen feine Hamletſtunde. Der fogenannte Wille

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fpielt uns allen irgendeinmal einen Steeih! „Rein, der Menfch hat feinen freien Willen” fagte ee „wohl aber gibt e8 eine Lähmung des Willens, eine Willenlofigkeit, die er nötigenfalls willkürlich ind Spiel ſetzen kann. Das, was man den freien Willen nennt, dieſe vermeintliche Seelenkraft, fiehbt dem Herrn der Schöpfung durchaus nicht zur Verfügung, fondern iſt gewilfen von ihm unabs hängigen Gefegen unterworfen, nach benen fie wirkt, ohne daß er um feine Einwilligung gefragt wird. Gleich dem Gewiffen meldet fie fih immer erft dann, wenn der Menfh dag getan hat, was ihm nicht richtig ſcheint; geigt ee wirklich einmal feſten Willen, fo gefchiehbt das nur zu⸗ fällig, oder in Dingen, bie ihm gleichgültig find. „Leontij!“ rief er plößlich aus und faßte fih an den Kopf

„in weſſen Haͤnde iſt dein Gluͤck gelegt! Mit welcher Miene werde ich ihm das naͤchſte Mal gegenuͤbertreten! Und doch wie feſt war mein guter Wille?“ Wie aufrichtig und ehrlich hatte er ſich fuͤr dieſe edle Rolle eines Schutzengels vorbereitet, wie erhaben war ihm die Idee freundſchaftlicher Pflichterfuͤllung erſchienen, und welche ſittliche Genugtuung hätte es ihm bereitet, wenn... „Doch was follte ih tun?” fragte er fich zum Schluß, und allmählich richtete er den Kopf wieder empor, redte und ſtreckte fich, die duͤſteren Runzeln verſchwanden von feiner Stirn, und fein Geficht wurde wieder ruhig.

„Ich habe alles getan, was ich konnte ja, alles, was ich konnte!” fprach er, fich felbft befchwichtigend. „Nur ift die Sache leider anders verlaufen, als fie follte. ..” flüflerte er mit einem Seuffer.

Mit diefem „leiber” und diefem Seufjer fam er, in

feinen eigenen Augen leidlich gerechtfertigt, zu Haufe am, wo er, zu Tantchens höchfter Freude, ganz vergnägt und

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mit gutem Appetit in ihrer und Marfinkas Gefellfchaft zu Mittag af.

„Diefed Kapitel muß ich in dem Roman auslaffen.. .“ Dachte er, ald er am Abend feine Hefte vornahm, um die Eharakteriftit Uliana Andrejewna zu ergänzen. „Übris gens, warum foll ich Tügen, mich verftellen, auf Stelzen einherſchreiten? Ich will es doch fo laffen, wie es fich wirk lich zugetragen, nur etwas mildern will ich diefes Rendez⸗ vous ... will vor die Nymphe und den Satyr eine Girlande ziehen...

Boll Eifer vertiefte ſich Raiſki in feinen Roman. Er ſah darin gleichfam fein eigenes Leben, in lauter öloden zer⸗ riſſen, an ſeinem Geiſte voruͤberziehen.

„Ein naiver Leſer wird freilich annehmen, ich ſelbſt ſei fo, und zwar nur einzig fo, wie der Held des Ganzen da ges ſchildert if,” fagte er fich, während er feine Niederfchriften durchblaͤtterte. „Er wird fich nicht vorftellen können, daß es fich hier nicht um mich, nicht um irgendeinen Karp oder Sidor handelt, fondern um einen allgemeinen Typus: Daß im Drganismus eines Kuͤnſtlers viele Epochen, viele verſchiedenartige Perfönlichkeiten fleden... Was foll ich mit allen diefen Geftalten anfangen, wie foll ich diefe gehn, zwanzig mannigfachen Typen im Rahmen bes Ganzen unterbringen? .. .”

„Es wird eben nichts anderes Abrig bleiben, als auch biefe zehn, zwanzig Typen noch zu formen und zu geſtalten,“ flüfterte eine Stimme in ihm. „Das iſt eben die Mufgabe des Künftlers, wenn er ein echtes Werk fchaffen und nicht beim Phantom ſtehen bleiben will!”

Er fließ einen Seufzer aus,

„Wie kann ich daran denken, folch ein Wert gu fchaffen ich, der ‚Pechoogel‘!” dachte er reſigniert.

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Nah dem Rendezvous mit Uliana Andrejewna waren einige Tage vergangen. Es war gegen Abend, und ein Gewitter zog am Himmel herauf. Über der Wolga fland ganz ſchwarzes Gewoͤlk, auf dem Hofe herrſchte erdrüdende Schwuͤle, und auf dem Felde und der Straße jagte der Wind dichte Staubwirbel empor.

Unbeimliche Stille lag über der Landfchaft. Tatjana Mars kowna hatte alles auf bie Beine gebracht, um die Ablichen Vorbereitungen für das Gewitter zu treffen. Fenſter, Türen, Schornfleinen wurden verfchloffen. Sie hatte nicht nur felbft Angft vor dem Gewitter, fondern verurteilte bies jenigen, bie feine Angft davor harten, unbarmherzig als ſchlimme Sreigeifter. Alles bekreuzte fih im Haufe, fos bald nur ein Blitz zudte, und wer es nicht tat, den nannte fie einen Tölpel, Jegorka wurde von Ihe aus dem Vor⸗ zimmer nad) bem Geſindehaus gejagt, weil er auch anges fihts des Gewitters nicht aufhörte, mit dem Stuben, mädchen zu fchäfern und gu fichern.

In mojeftätifher Pracht kam das Gewitter heranges sogen; von ferne ließ fich das Mollen des Donner vers nehmen, immer bichtere Staubfäulen zogen auf der Straße daher.

Plöglih zudte ein jäher Blitz Aber den Himmel, und im felben Augenblid erdröhnte gerade über dem Dorfe ein furchtbarer Donnerfchlag.

Raiſki nahm Muͤtze und Schlem und ging raſch nach dem Garten, um das gewaltige Naturfchaufpiel unmittelbar beobachten zu können und dann nachträglich feine SchHl- derung nebft ber Analyfe deffen, was er felbft dabei emps funden, In feinen Plan eingutragen.

Tatjana Markowna fah Ihn aus dem Fenſter und llopfte gegen die Scheibe.

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„Wohin denn, Boris Pawlowitſch?“ fragte fie, ihn ang Benfter rufend.

„An die Wolga, Tantchen, ich will mie das Gewitter ans ſehen.“

„Biſt du bei Troſte? Komm ſogleich zuruͤck!“

„Rein, ih geh’ hin..."

„Bleib hier, fag’ ich die!” rief fie im Befehlston Ihm gu. Wieder zudte ein Blitz, und der Donner knatterte und rollte. Die Sroßtante floh entfett, Raiſki aber flieg in bie Schlucht hinab und fchritt auf bem faum erfennbaren, ges mwundenen Flußpfade vorwärts.

Der Negen goß wie aus Eimern, Blitz auf Blitz fuhr nieder, der Donner dröhnte und srollte. Alles war von der Daͤm⸗ merung und ben finfteren Wolfen in tiefes Duntel gehuͤllt. Raiſki bereute gar bald feine Fünftlerifche Abſicht, dag Gewitter zu findieren: ber Regenſchirm hielt laͤngſt nicht mehr dicht gegenüber den Fluten, die auf ihn niederſtroͤmten, und er war am ganzen Leibe burchnäßt. Seine Füße vers fanten In dem aufgemweichten Lehm, er verlor den Weg im Dieicht, fileg auf Hügel und Baumſtaͤmme oder geriet in ttefe Löcher und Gruben,

Sieden Augenblid mußte er ſtehen bleiben, und wenn ein Blitz niederfuhr, tat er ein paar Schritte vorwärts. Er wußte, daß da irgendwo auf bem Grunde der Schlucht ein Pavillon geftanden hatte, ald die Sträucher und Bäume, die am Abhange ber Schlucht wuchfen, noch einen Teil des Darts bildeten.

Ganz fürglich erft hatte er, als er zum Ufer hinabftieg, diefen Pavillon flüchtig im Didicht gefehen; jest wollte er dahin, um Schug gu finden und gleichzeitig von dort aus das Gewitter zu beobachten, doch wußte er nicht, in welcher Richtung er ben fhägenden Suflachtsort gu fuchen hätte,

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Auch ben Ruͤckweg wollte er nicht antreten: zwiſchen ben Dichten, naffen Sträuchern, Aber Löcher und Hügel hinweg emporzullimmen, hatte bei dem berrfhenden Ountel und dem weichen Grund feine Schwierigkeiten. Er entichloß fih daher, fih noch eine Strecke weitergufchleppen bis sum naben Berge, über den ein fhmaler Weg binführte, dort über den Hedenzaun su Hettern unb auf dem Wege ins Dorf zu gehen.

Seine Stiefel waren ganz durchnaͤßt, er kam kaum vors waͤrts in dem weichen Boden unb dem hoch emporgewucher⸗ ten Unkraut. Er mußte ſich auch eingeftehen, daß biefes unerträglich grelle Leuchten der Blitze und diefed ewig drohende Grollen des Donners über feinem Haupte ihn nicht ganz gleichgültig ließ.

„Ich hätte doch von meinem Zimmer aus den Anblid bes Gewitterd bequemer genießen koͤnnen,“ fagte er fih im ftillen.

Endlih war er an die Hede gelangt, taftete fich mit den Händen daran entlang, wollte eben ben Buß ind Gras fegen und fiel ausgleitend in einen tiefen Graben. Mit Mühe und Not roch er heraus, Hetterte über ben Hedens jaun und Fam auf den Weg. Diefer war fleil und gefährs ih und wurde von den Bauern höchftens benutzt, wenn fie mit leerem Einfpänner fuhren und ihre abgetriebenen, gebulbigen Heinen Pferdchen keinen großen Umweg laſſen wollten.

Von oben bis unten triefend, den uͤberfluͤſſig gewordenen Schirm unterm Arme, ſchritt Raiſki, jedesmal vor den blendenden Blitzen die Augen verſchließend, langſam und ſchwerfaͤllig bergan, immer wieder in dem weichen Straßen⸗ kot ausgleitend und ſtehen bleibend. Da vernahm er ploͤtz⸗ lich das Knarren von Wagenraͤdern.

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Er horchte auf: ia, jet hörte er das Geraͤuſch ganz In der Nähe. Er machte Halt, Immer deutlicher vernahm er das Suarren, und bald hörte er auch das Keuchen und Stamps fen der muͤhſam bergan fehreitenden Pferde, ihr Pruften und Schnauben und den Zuruf eines Mannes, der fie ans trieb. Es bligte jetzt ſchon feltener, und fo konnte Raiffi den Wagen noch nicht unterfcheiden.

Er trat an bie Seite und hielt fih an ber Hede feſt, um das Gefährt, fobald es ihn erreicht Hätte, auf dem fchmalen Wege voräberzulaffen. Jetzt zuckte wieder ein Blitz auf, und bei feinem Aufleuchten fonnte er den Wagen deutlich unterfcheiben: es war eine breite, mehrfigige Droſchke mit einem Verdeck, unter dem mehrere Perfonen faßen; ein Paar wohlgenaͤhrte, anfcheis nend ausgeseichnete Pferde waren vorgefbannt.

Wider fuhr ein DBlig herab und Raiſki ward flare vor Erfiaunen, als er unter den Inſaſſen des Wagens Wera erkannte. „Wiera!“ rief er, fo laut er konnte. Der Wagen machte Halt.

„Ber ift da?” „erflang ihre Stimme. „sh bin’s..

„Ste, Sender)! Was fun Sie denn hier 3” fragte fe hoͤchſt verwundert.

„Und wie kommſt du hierher ?” Ich bin auf dem Heimwege begriffen.”

„Und ich desgleichen.“

„Woher fommen Sie denn?”

„Ich trieb mich. in der Schlucht umher und babe ben Weg verloren. Nun gehe ich wieber über ben Berg nach Haufe. Doch du wie konnteſt du dich nur auf dieſen flellen Weg wagen? Mer fährt denn ba mit

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bie? Wem gehört der Wagen? Könnte ich nicht mit ein, felgen ?*

„Bitte ergebenft, wir haben Platz genug. Heichen Sie mir bie Hand, ih will Ihnen beim Einſteigen helfen,“ fagte eine männliche Stimme.

Haiffi hielt feine Hand bin, und irgend jemand zog ihn mit kraͤftigem Griff unter das Schutsdach des Wagens, Dort fand er außer Wiera auch noch Marina vor. Ge faßen beibe Dicht aneinander geſchmiegt wie ein paar nafle Huͤhner umd fuchten fih durch dag Schugleder fo gut, wie es ging, gegen den von der Seite einfallenden Regen zu beden.

„Mit wem fährf du denn da? Wem gehört ber Wagen, wer lenkt ihn?” fragte Raiſki leiſe, zu Wiera gewandt. „Iwan Iwanytſch.“

„Was für ein Iwan Iwanytſch ?“

„Der Forſtmeiſter...“ fihfterte fie ihm leife zu.

„Der Forſtmeiſter? ...“ fagte Raiſki, und wollte weiter fragen, aber Wiera ſtieß ihn sum Zeichen, daß er ſchweigen folle, in die Seite, da ber Forſtmeiſter bicht ver ihnen faß und fie leicht Hören konnte.

„Später !” flüfterte fie.

„Der Forſtmeiſter!“ dachte Raiſki, und fogleich fiel ihm das Geſpraͤch mit der Großtante ein, die den Mann da vorn ſo gelobt und als eine gute Partie bezeichnet hatte. „Das alſo iſt der Held des Romans: der Forſtmeiſter. ber Forſimeiſter!“ ſprach er zu ſich, und war ganz auf⸗ geregt. |

Er verfuchte es, fich den Forſtmeiſter etwas näher anzu⸗ ſehen, doch bekam er nichts weiter zu Geſicht als einen großen, niedrigen Hut mit breiter Krempe, der dicht vor ſeiner Naſe uͤber einem mit einem Segeltuchmantel bekleideten kraͤfti⸗

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gen Schulternpaar auf und nieder wippte. Vom Geficht ſah er nur im Profil etwas von ber Nafe und, wie ihm ſchien, einen Vollbart.

Der Forſtmeiſter lenkte die Pferde recht geſchickt den ſteilen Berg hinan, trieb bald dag eine, bald das andere an, ers munterte fie gelegentlich duch einen Pfiff und zog die Ziegel fefter an, wenn fie beim Juden der Blige zuſammen⸗ fuhren.

„Run, wie befinden Sie fih, Wera Waffiljewna?” ers kundigte er fich feilnehmend, während er fich nach den In⸗ fafien des Wagens umwandte. „Sind Sie nicht naß ges worden? Frieren Ste nicht?”

„Nein, nein, mir iſt gan, wohl, Iwan Iwanowitſch, ber Regen dringt nicht big gu mir durch.”

„Sie follten meinen Mantel nehmen...” ſchlug Iwan Iwanytſch ihr vor. „Daß Sie fih nur nicht erfälten: ich würde es mir mein Lebtag nicht verzeihen, daß ich dieſe Fahrt mit Ihnen gemacht babe...”

„Ach, reden Sie doch nicht ich kann's wirklich nicht Hören 1” antwortete Wjera in freundfchaftlihem Tone. „Fahren Sie nur zu, achten Sie auf Ihre Pferde!” „Wie Sie befehlen,” fagte Iwan Iwanowitſch gehorfam und fah wieder nach feinen Pferben. Immer wieder frieb er fle mit Pfiff und Zuruf an, doch tonnte er nicht umhin, von Zeit gu Zeit, gleihfam heims lich, nah Wiera zuruͤckzuſchauen, um su fehen, was fie machte. Sie fuhren um ben Sud herum und gelangten vor das Hoftor.

Der Forfimeifter fprang von feinem Sig herab und lopfte mit dem Peitfchenftiel gegen bag Tor. Un ber Sreitreppe vorfahrend, überließ er den Wagen famt den Pferben ben

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dienenden eiftern, bie herbeieilten, und während bie Prochor, Taraska und Jegorka fih um bie Pferde mähten, trat er felbft rafch auf Wiera gu, flieg auf den Wagentritt, nahm fie in feine Arme und trug fie wie eine koſtbare Lafl forgfam und ehrerbietig die Treppe hinauf, An den mit Kerzen herbeieilenden, verdutzt breinfchauenden Lalaien und Mädchen vorüber fohritt er mit feiner Bürde nach dem Saal, wo er fie fanft auf den Diwan nieberfeßte. Bes ſchmutzt und ducchnäßt, wie er war, folgte ihm Raiſki auf dem Fuße, und nicht eine Bewegung, nicht ein Blid des andern entging Ihm.

Sobald Wiera im Saal untergebracht war, ging ber Sorftmeifter ins Vorzimmer zuruͤck, legte feine Überkleider ab und brachte feinen Anzug in Drönung. Dann fuhr ex fih mit den gefpreisten Fingern wie mit einem Kamm durch das dichte Haar und bat die Diener um eine Buͤrſte ober einen Badequaft, um fich gu ſaͤubern.

Die Großtante hatte inzwifchen Wiera begrüßt und Ihr ganz gehörig den Kopf gewafchen, daß fie fih auf ſolche Tollheiten einlaffe, bei ſolchem Unwetter, mitten in- ber Nacht, bei dem fteilen Wege, daß fie fo wenig auf ihre eigene BSefundheit achte, auf fie, die Großtante, gar keine Ruͤck⸗ fiht nehme, fie ewig in Unruhe verfege und fie noch Ins Grab bringen werde. Dann hieß fie fie fo raſch wie moͤg⸗ fh Kleider und Wäfche wechfeln, ermahnte fie, fih nur ja recht warm zu. halten, ließ den Samowar bereitftellen und alle Vorbereitungen zum Abenbbrot treffen.

„Ah, Tantchen, wie hungrig bin ich, und wie durſtig!“ rief Wiera, die Großtante gleich einer Katze umfchmeichelnd „Zee möchte ich haben, und Suppe, und Braten, und Mein! Und auch Zwan Iwaunptſch wird Appetit haben. Nur raſch, liebes Tantchen!“ z

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Sie wußte ſehr gut, wie bie Großtante am fchnellften zu beruhigen war. | |

„Gleich, gleich das iſt ja ausgezeichnet! Alles, alles ſollſt du haben! Und wo ift denn Iwan Iwanytſch? Iwan Iwanytſch!“ rief fie dem Forſtmeiſter zu, „fo kommen Sie doch, was machen Sie denn dort ? Marfinka! Wo ift Marfinka? Wo ſteckt fie denn? Wohl noch in ihrem Zimmer 2” |

„Ich will mich nur etwas in Drdnung Bringen, Tatjana Markowna,“ ließ eine Männerftimme aus dem Vorsimmer fih vernehmen. = Ä

Jegor, Jakow und Stepan bürfteten, rieben und ſtriegelten förmlich an dem Forſtmeiſter wie an einem teuren Pferde herum. Alsbald trat er ing Zimmer und füßte der Groß; fante und Marfinka die Hand die leßtere war eben erſt aus ihrem Zimmer herbeigeeilt, wo fie fo lange aus Angſt vor dem Gewitter, in ihre Kiffen vergraben, ſich verborgen hatte, | |

„30 verkriechen brauchſt du dich nicht vor dem Gewitter,“ fagte die Großtante „nur beten mußt du,. dann seifft dich der Blitzſtrahl nicht!“ |

„Davor fürchte ich mic auch nicht,” fagte Marfinka „ber Blitz trifft ja faft immer nur die Bauern aber fo, im allgemeinen, Angfligt man fih doch !”

Raiſki land immer noch, durchnaͤßt wie er war, am Fenſter und muſterte ben wieder eintretenden Gaſt mit gefpannter Aufmerkſamkeit.

Iwan Iwanowitſch Tuſchin war eine recht ſtattliche Er⸗ ſcheinung. Er war hochgewachſen und breitſchultrig, doch Dabei wohl peoportioniert; er mochte gegen achtunddreißig Jahre zaͤhlen, hatte dichtes, dunkles Haar, kraͤftige Ges fichtszuͤge, große graue Augen, bie ſchlicht und beſcheiden,

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ja faft ein wenig ſchuͤchtern breinfchauten, und einen dichten dunklen Vollbart. Seine Hände waren, dem Wuchſe ent fprechend, groß, mit breiten Mägeln befegt und ſtark ges braͤunt.

Er trug einen grauen Äberroch, eine „falſche Weſte“ und ein Hemd aus Hausmacherleinen, beffen weicher Umleges fragen breit über die Krawatte fiel. Die Hände fledten in gemsledbernen Handſchuhen und hielten eine lange Peitfche mit filbernem Griff.

„Ein ganzer Kerl, und huͤbſch Dabei aber wie ſchlicht um nicht noch mehr zu fagen in Blid und Manieren ! Sollte das wirklih Wieras Held fein?" dachte Raiſti, immer wieder ben Gaft anfchauend, und von Erwartung gefpannt, was bie weitere Beobachtung ergeben wuͤrde. „Run warum follte er’8 nicht fein?” dachte er weiter, und die Eiferfucht regte fich lebhaft in ihm. „Die Frauen lieben diefe hochgewachfenen Geftalten, diefe offener Ge⸗ fichter, diefe großen, kräftigen Hände diefen muskuloͤſen, zur Arbeit gefchaffenen Typus... Aber Wiera follte gerade fie. ..?”

„And du, mein Lieber, was ftehft du denn hier herum ?* tief plöglich die Großtante, die jeßt erft Raiſki bemerkte, und flug die Hände über dem Kopfe zuſammen. „Wie fiehft du denn aus? Heda, Leute, Jegorka! Wie feid ihr denn eigentlich sufammengelommen? Wie aus dem Duntel der Hölle taucht ihr auf! Sieh Doch, wie ed von die frieft eine ganze Pfuͤtze ift auf dem Fußboden! Bors juſchka! Du willft dich wohl mit Gewalt umbringen? Die anderen fuhren hierher und wurden überrafht aber du, wer bat dich aus dem Haufe gefhidt? Nun geh rafch, sieh dich um und nimm dann einen füchtigen Schuß Rum in ben Tee! Iwan Iwanytſch auch Gie follten gleich

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Tee mit Rum teinten... Doch Sie find wohl gar nicht miteinander befannt? Mein Großneffe, Boris Pawlytſch Raiſki Iwan Iwanytſch Tuſchin! ...“

„Wir kennen uns ſchon,“ ſagte Tuſchin ſich verneigend „wir haben Ihren Herrn Neffen unterwegs getroffen und im Wagen mit hergebracht ... Sch danke ergebenſt, Ich brauche nichts weiter doch Sie ſollten ſich raſch umziehen, Boris Pawlytſch, Ihre Schuhe ſind ganz durchnaͤßt!“ „Ihr muͤßt es einer alten Frau nicht veruͤbeln aber, offen geſagt: ihr kommt mir wirklich alle miteinander ein bißchen verruͤckt vor! Bei ſolchem Unwetter wagt ſich kein Tier aus feiner Hoͤhle!... Da, o Gott, wie das noch immer blitzt! Schließ die Fenfterläden ganz dicht zu, Jakow raſch, rafh! Und ihre fahre an einem folchen Abend aber bie Wolga!”

„sh babe doch meine eigene Fähre, die ift feſt und zu⸗ verläflig,” fagte Tuſchin. „Ein gefchloffenes Verdeck ift darauf Wiera Waſſiljewna war dort fo fiher wie in ihrem eigenen Zimmer: nicht ein Regentropfen drang durch.”

„Uber diefe Gewitter fchredlich geradezu!“

„Ein Gewitter kann doch hoͤchſtens noch alte Weiber fohreden ...“

„Ich danke verbindlichſt bin ich nicht auch ein ſolches?“ verfegte die Großtante raſch.

Tuſchin wurde verlegen.

„Berzeihbung es ift mir fo entfahren, Ich fagte das wirk⸗ lich nicht mie Abſicht! Es gilt doch auch nur von ben Weis bern aus bem Volke...“ E

„Nun, Gott wird Ihnen verzeihen!“ ſagte die Großtante lachend. „Ich weiß, Sie dachten ſich nichts dabei. Und daß Sie ſich nicht fuͤrchten Gott hat Sie eben ſo geſchaffen!

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Aber Wiera daß die feine Angſt bat: woher kommt dir eigentlich dieſer Heldenfinn, meine che?”

„Wenn ih mit Iwan Iwanowitſch zuſammen bin, fürchte ich mich vor nichts, Tantchen.”

„Iwan Iwanytſch geht doch auch auf bie Bärenjagd wuͤrdeſt du auch da mitgehen 7

„Gewiß, Tantchen, ſehr gern wuͤrde ich dabei fein. Neh⸗ men Sie mich doch einmal mit, Iwan Iwaunptiſch... das muß fehr intereſſant fein... .”

„Mit dem größten Vergnügen, Wiera Waſſtljewna: wenn ih im Winter wieder losziehe, laſſe ich es Ihnen ſagen... Die Sache hat wirklich ihren Reiz.“

„Sehen Sie, fo ift fie!” fagte Tatjana Markowna „Und daß bie Großtante fich tot aͤngſtigt, das iſt bie natuͤrlich gleich? au „Ich habe doch nur geſcherzt, Tantchen |“

„Rein, nein bie trau’ ich alles zul Wie konnteſt bu Hberhaupt Iwan Iwanowitſch ſo in Anfpeuch nehmen... diefe weite Strede. . .”

„Daran bin Ich ſchon ganz allein ſchuld,“ verſetzte Tuſchin.

„Sowie ih von Natalia Iwanowna hörte, daß Wiera Waſſiljewna nach Haufe fahren wolle, bat ich gleich um bie Ehre, fie hierher gu Bringen...”

Er blickte beſcheiden, faft Demätig, gu Wiera hinuͤber. „Eine ſchoͤne Ehre bei folhem Unwetter...“

„Macht nichts, wir hatten es wenigſtens hell genug... und Wiera Waſſiljewna hatte auch gar keine Angſt.“ „Wie geht es denn Anna Iwanowna, iſt fie gefund ?“ „39, Gott ſei Dant, fie läßt Sie. vielmals grüßen. Sie ſchickt Ihnen auch etwas von Ihren Früchten: Pfirfiche aus der Drangetie, 1 und —— und er es alles noch im Wagen...”

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„Barum macht fie fich folche Umftände? Wie haben ſelbſt fo viel Obſt... das heißt: für bie Pfirfiche Laffe ich beſtens danken, die haben wir nicht,” fagte bie Großtante. „Ih will ihe dafür von meinem Tee etwas fchiden. Eine aus⸗ gezeichnete Sorte, Borjuſchka hat ihn mir mitgebracht, und ih hab’ auch an Sie gedacht...”

„Meinen berzlichen Dank!”

„Daß Sie fih in diefer Finſternis hier auf ben Berg ges wagt haben! Wenn nun bie Pferde durchgegangen wären .. Gott behüte!”

„Meine Pferde gehorchen mir wie bie Hunde. Hätte ich fonft wohl gewagt, Wiera Waſſilewna dag Anerbieten gu machen, wenn ich eine Gefahr bei ber Sache gefehen hätte?”

„Sie find ein guverläffiger Freund,“ fagte Wera, „ich verlaffe mich vollkommen auf Sie, und auch auf Ihre Pferde ..“

Am Augenblid, da fie diefe Worte fprach, frat Raiſki, ber fih nach dem anftrengenden Abenteuer bereits erholt hatte, in einem eleganten Neglige ing Zimmer. Er hörte Wieras Worte und fah den Blid, den fie Tufchin dabei zuwarf.

„Ich verlaſſe mich vollkommen auf Sie und Ihre Pferde‘,” wieberholte er ſtill für fih. „Ste nennt ihn mit den Pferden in einem Atem!“

„Ih danke Ihnen verbindlichft, Wiera Waſſiljewna,“ ants wortete ihr Tuſchin. „Vergeſſen Sie nicht, was Sie fps eben gefagt haben: wenn einmal ber Augenblid eintreten follte... dann ...“

„Wenn wieder einmal ſolch ein Unwetter heraufziehen ſollte ...“ ſagte bie Großtante.

„Oder ſonſt ein Ungemach ...“ fügte er hinzu.

„Ach ja, es gibt mancherlei Unwetter im Leben!” ſagte Tatjana Markowna mit einem tiefen Seuffjer.

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„Was es auch fein mag,” fagte Tufchin, „ſowie ein Wetter Aber Ihrem Haupte heraufzieht retten Sie ſich Aber die Wolga, in den Wald! Dort hauſt ein Bär, der Ihnen ſtets zu Dienften fein wird, wie es im Märchen heißt... .” „Gut, ich will e8 mir merken!“ antwortete Wiera lachend. „Sobald ein böfer Zauberer, wie es im Märchen heißt, kommt, um mich gu entführen fluͤchte ich mich beftimmt su Ihnen in den Wald!”

RR

Vierzehntes Kapitel

aiffi beobachtete diefe Innigen, verehrungsuollen und

dabei befcheiden zurüdhaltenden Blicke, die Tufchin immer wieder auf Wiera richtete, und hörte feine herzlichen Morte, aus denen eine gleihfam unbewußt heruorbrechende Särtlichkeit fprach. Selbſt einem gleichgältigen Augenzeugen, geſchweige denn einem eiferfüchtisen Rivalen wie Raiſki oder einer bes forgten Beobachterin wie Tatjana Markowna mußte es auffallen, daß Im ganzen Weſen des Korfimeifters, in feiner Seftalt, feinen Mienen und Bewegungen eine tiefe Sympathie für Wiera zum Ausdruck fam, bie durch einen gewiffen rührenden Reſpekt am freien Heraustreten ges hindert wurde, Diefer Huͤne an Kraft und Wuchs, der offenbar Feine Bucht und Gefahr kannte, fand ſchuͤchtern vor dem ſchoͤnen, ſchwachen Mädchen, flüchtete fich ſcheu in eine Ede vor ihren Bliden, wog forsfältig die Worte ab, die er zu ihe fprach, um nur ja nichts Ungehöriges zu fagen, nit vor ihre als ein plumper Toͤlpel dazuſtehen, und fuchte ihr jeden Wunfch, jedes Begehren vom Geſicht abs zuſehen.

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„Auch der iſt auſcheinend nur ihr Shave,“ dachte Raiſki und beobachtete ihr Verhalten gegen Tuſchin.

Er nahm an, daß auch ſie ihre Verwirrung nicht verbergen, ihre Sympathie fuͤr dieſen Helden vor ſo vielen Augen nicht wuͤrde verheimlichen koͤnnen; er war feſt davon uͤber⸗ zengt, daß der Forſtmeiſter ber Held ihres Romans und bes Geheimniſſes war, das fie fo Angftlich vor ihm huͤtete. „Wer follte fonft noch feine Briefe auf biefer blaßblauen Papierforte fchreiben ?” fagte er fi.

Er war gefpannt, auf welche Art fih ihr Gefühl offenbaren würde: ob durch ein sittriges Flimmern bes Blides, ober durch fiarres Schweigen.

Doc weder das eine noch das andere frat ein. Wiera geigte fich vielmehr in ganz neuem Lichte. In jedem ihrer Blicke, jedem Worte, das fie an Tufchin richtete, fiel Raiſki vor allem eine fehlichte Natürlichkeit, ein Vertrauen, eine Liebenswuͤrdigkeit und Wärme auf, wie er fie bisher an ihe felbft der Sroßtante und Marfinka gegenäber nicht bes obachtet hatte,

Der Großtante gegenüber befleißigte fie fich einer gewiſſen Vorſicht, und in ihrer Beziehung zu Marfinka seat eine leichte Geringſchaͤtzung zutage; wenn fie Dagegen Tuſchin anſah, oder mit ihm ſprach, ihm die Hand reichte, ſah man ſogleich, daß ſie Freunde waren.

Ja, das war ſie, dieſe ſelbſtloſe Freundſchaft, von der ſie ihm geſprochen hatte, und die er bisher vergeblich an⸗ geſtrebt hatte.

Wie hatte nur dieſer Forſtmeiſter es angefangen, ſich ihre Freundſchaft zu erringen? Was verband ſie beide mit⸗ einander? Wie waren ſie zuſammengekommen? Hatten ſie bewußt aneinander eine gewiſſe Summe von ſym⸗ pathiſchen Eigenſchaften entdedt und ſich auf Grund deſſen

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gegenfeitig. Tiebgewonnen? Oder war ihre gegenfeitige Zuneigung unbewußt entflanden, ohne bie Mitwirkung des analyfierenden Verſtandes?

Drei Tage lang blieb der Forfimeifter in der Stadt, wo er verfchiebene Gefchäfte zu erledigen hatte, und während diefer ganzen Zeit war er Tatjana Markownas Saft. Drei Tage lang fuchte Raiffi den Schlüffel zu biefem neuen Charakter, feiner Stellung im Leben und der Molle, die er in Wieras Herzensleben fpielte.

Swan Iwanowitſch Hatte von feinen Belannten den Beinamen der „Forſtmeiſter“ befommen, weil er mitten im Waldesdidicht auf feinem Gute lebte, fih mit ber Sorfttultur abgab, den Wald anpflanzte, beste und pflegte und andererfeits die ausgewachfenen Beſtaͤnde für den Handel fällen und auf der Wolga durch Floͤßer bes fördern Tieß. Sein Walbbefig erftredte ſich uber einige taufend Deßfatinen, und er betrieb die Bewirtfhaftung dieſes Beſitzes auf fehr rationelle Weiſe. Er war der eins sige Beſitzer einer Dampfiagemühle in der ganzen Gegend und leitete fein Etabliffement ganz perfönlich.

Sn feiner freien Zeit ging er auf die Jagd, frieb Fiſch⸗ fang, befuchte gern einmal feine unverheirateten Guts⸗ nachbarn und veranftaltete gelegentlich Iuftige Ausflüge: eine Anzahl Dreigefpanne fuhren vor, und mit einer Schar von Freunden jagte er vierzig Werft weit gu irgendeinem entfernten Nachbar, wo bie ganze fröhliche Gefellichaft drei Tage lang ſchmauſte, um dann auf fein Gut zuruͤck⸗ zukehren oder in die Stadt gu fahren, deren fchläfrige Ruhe duch ein tolles Gelage aufgeftört wurde, daß alles drunter und drüber ging. Für drei Monate verfhwand er dann ganz von dee Bildfläche, rührte fich nicht von der Scholle weg, und niemand fah, niemand hörte etwas von ihm.

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Dann fällte er fein Holz, ließ bie Baumſtaͤmme nach dem Strome bringen oder in der Saͤgemuͤhle kreuz und quer fehneiben, fuhr die neuen Dreigefpanne ein, Die er auf dem Jahrmarkt gelauft hatte, ging im Winter auf die Wolfe, jagd oder befchlih den Bären im Didicht des Waldes, Nicht felten teug er nach folhen Beluftigungen wochenlang den Arm in ber Binde, ober hatte eine ausgerenkte Schulter, ober ging mit bintiger, von einer Baͤrentatze zerkratzztter Stirn umher.

Er liebte diefes Leben Aber alles und hätte es um kein ans deres vertaufhen mögen. Zu Haufe las er Iandwirtfchafts fihe Schriften und fonftige Bücher oͤonomiſchen Inhalte. Er hatte einen forfitunbigen Deutſchen im Dienft, deſſen Ratſchlaͤge er einholte, ohne die Zügel des Betriebes ang der Hand gu geben. Mit Hilfe zweier Buchhalter und einer Sefpannfchaft von teils leibeigenen, teild gemieteten Arbeitern hielt er fein Unternehmen erefflih im Gange. Gelegentlich las er einen franzoͤſiſchen Roman e8 war die einzige Verweichlichung, die er ſich bei feiner rauhen, übrigens von vielen Gutsbeſitzern unferer entlegeneren Gaue geteilten Lebensweiſe geftattete,

Raiſki erfuhr, daß Tufchin mit Wiera bei bem Popen bes fannt geworden war und jebesmal bei diefem als Gaſt ers fhlen, wenn er hörte, daß MWiera bei ber Popenfrau gu Befuch war. Wiera felbft erzählte ihm das und fügte hin⸗ zu, daß fie mit Ihrer Freundin sfterd nach Tuſchins Walds gut fahre, Er lebte dort mit Anna Iwanowna, einer uns verheirateten dlteren Schwefter, der auch die Großtante herzlich zugetan war: jedesmal, wenn Anna Iwanowna nach der Stadt kam, war Tatjana Markowna ganz gläds lich. Mit niemandem faß die Großtante fo gern plaudernd und allerhand Gcheimniffe austaufhend beim Taͤßchen

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Kaffee. Das gemeinfame Intereſſe an wirtfchaftlicden Ans gelegenheiten bildete ein verfnäpfendes Band zwiſchen beiden, vor allem aber machte die hohe Achtung, die Anna Iwanowna vor der Perfon ber Gaftgeberin, vor ihrer Abs ſtammung und ihren Samilientrabitionen bewies, auf Tatjana Marfomna einen tiefen Eindruck.

Zufhins ganzes Wefen bot dem Beobachter kein allın ſchwieriges Problem dar. Er war ein einfacher Menfch aus einem Guſſe, der ewig fich felbft treu geblieben war; ſchlicht in feinem Außeren wie im Charakter, war er weder nach der Gefühlsfeite bin noch bezuͤglich feines Verſtandes eine irgendwie fomplisierte Natur.

Er war das Urbild der Offenheit, alles an ihm war durchs fihtig und Har, nichts Geheimnisvolles, nichts Romans tiſches, nichts, das die Einbildungskraft gereist Hätte, baftete ihm an. Er war kein kluger Menſch Im gewoͤhn⸗ fihen Sinne biefes Wortes, weder Findigkeit noch Scharfs finn fonnte man Ihm nachſagen. Wohl aber befaß er ein gewiſſes Maß natürlichen Verſtandes, das er, ohne ſich irgendeinen geifligen Luxus gu erlauben, unmittelbar auf die Bedärfniffe und Forderungen des praftifchen Lebeng verwandte. Man findet biefe Art von Verftand fo gut beim Banern wie beim Gebildeten, und er ift mehr als der ſo⸗ genannte „gefunde Sinn“, der fo manchen, dem er eigen ift, doch nicht abhaͤlt, bei aller GSeſundheit feines Sinnes auf ungefunden Lebenswegen gu wandeln.

Diefe Art von Verſtand wurzelt nicht im Kopfe allein, fondern auch im Herzen und im Willen. Mer mit ihn aus⸗ gerhftet if, wird in der geoßen Menge nicht gerade leicht bemerkt, tritt nicht in den Vordergrund. Die feinen, ſcharfſinnigen Köpfe, denen das raſche Wort zur Verfügung ftebt, ftellen folche Perfönlichkeiten Häufig in den Schatten.

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Doch find gerade biefe zumeiſt die unfichebaren Fuͤhrer, die regulierenden Faktoren der menfchlichen Tätigkeit, wie Aberhaupt des ganzen Lebenskreiſes, in den das Schickſal fie geftellt hat.

In Tuſchins Verhalten gegen Wiera fiel Raiſki eine ſchon faft monoton wirkende Verehrung auf, die fih in feinen Biden und Worten kundtat und fa an Schüchternheit fireifte, während auf ihrer Seite ein ebenfo monoton ers ſcheinendes, ſich ſtets gleichbleibendes, mit Wärme und Dffenheit gepaartes Vertrauen zutage trat.

Das war alles, was er feftftellen konnte. So fehr er fih auch bemühte, irgendein Zeichen, einen Hinweis, ein aufs fallendes Wort, einen verräterifchen Blick zu konſtatieren es gelang ihm nicht. Immer nur diefelbe offene, gerade Zutraulichkeit auf ihrer Seite, diefelbe Ergebenheit, Hochs ſchaͤtzung und baͤrenhafte Dienftbereitihaft auf der feinen das war alles, was fein ſpaͤhender Sinn feflfiellen konnte.

Auch Tuſchin war alſo nicht der Geſuchte von wem ſtammte der blaßblaue Brief?

„Was für ein Forſtmeiſter iſt denn das?“ fragte Raiſtki am naͤchſten Tage, als er ſchon fruͤhzeitig Wieras Zimmer betrat. „Wie ſteht ihr denn zueinander?“

„Er iſt mein Freund,“ antwortete Wiera.

„Das iſt zu allgemein geſagt. In welchem Sinne iſt er dein Freund?“

„Im beſten und intimſten Sinne.“

„So, ſo! Iſt er vielleicht der Gluͤckliche, auf den du neu⸗ lichſt anſpielteſt, und deſſen Namen du mir gu nennen vers ſprachſt?“

„Wann?“

„Bor deiner Abreiſe...“

Hr IV8I CH

„Ich erinnere mich nicht, Was für ein Städlicher ? Was für ein Name? Was habe ich verfprochen ?“

„Wie fchlecht doch bein Gedächtnis iſt! Haft du ben Brief anf dem Blauen Papier ſchon vergeffen ?”

„Ad ja, ich erinnere mich. Sch habe durchaus Fein ſchlechtes Gedächtnis, Bruder, ich erinnere mich an jede Kleinigkeit, fofern fie mich angeht oder mich intereffiert. Doch geftehe ih offen, daß ich diesmal alles vergeflen habe, weber bes Gefpräches mit Ihnen noch des Briefed auf dem blauen Papier konnte ich mich erinnern...” „Auch ich war die wohl fhon aus dem Gedaͤchtnis ent, fhwunden ?” fagfe er.

Sie lächelte und nidte zuſtimmend mit dem Kopfe. „Du fcheinft dich dort ſehr gut unterhalten zu haben...” „a, e8 war dort fehr nett,” fagte fie und blidte zerſtreut jur Seite, „Niemand. horchte mich aus, niemand verdaͤch⸗ tigte mich ...“

„Und der treuergebene Freund war dir ſtets zur Seite? ...“ Sie nickte wieder bejahend mit dem Kopfe. „Ih meine ihn, den Forſtmeiſter...“ warf Raiſki raſch bin und fah dabei Wera fragend an. Sie hörte ihn nicht. Hinter ihrem gewohnten, alltäglichen Geſicht ſchien fih ein zweites Geficht gu verbergen. Es machte den Eindrud, als bemühte fie ſich ohne rechten Erfolg ein inneres Frohlocken zu verheimlidhen, als leuchte in ihren Bliden, ihrem Lächeln der Widerfchein einer feelifchen Befriedigung, die fie offenbar für fich bes halten und mit niemandem teilen wollte.

Das sittrige Flimmern in ihrem Blick wurbe feltener, ber mißtrauiſche, ungufriebene Ausdruck ihrer Augen ſchwand, and. auf ihrem. Geſicht, anf ihrem ganzen Wefen lag ber Stempel einer unerfchätterlihen Ruhe, während es aus

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ihren Augen zuweilen wie ein Strahl der Wersädung her⸗ vorfhoß, als hätte fie vom Becher bes Glhdes gekoſtet. Raiſki bemerkte das alles fehr wohl. „Was für ein SIäd aber war da8? Von welcher Art war es, wer bat es Ihe gegeben? Diefer Freund vielleicht, dieſer Hinterwälbler ?” ging es ihm durch das gräbelnde Hirn. Aber fie verheimlichte doch nichts, was auf feine Perfon Bezug hatte, fie pofaunte ihre Freundſchaft mit ihm ganı offen hinaus: wo konnte hier ein Geheimnis fieden ?“ „Du fcheinft recht gluͤcklich, Wiera...“ fagte er. „Wieſo?“ fragte fie. „Ih weiß es nicht, wiefo... Du ſuchſt dein läd zu verheimlichen, doch es fchant die and den Augen heraus.“ „Wirklich 2” fragte fle lächelnd, während fie Ihn anfah. Dann verfant fie in nachdenklihes Schweigen, alle Luft am Leben ſchien ihe vergangen zu fein. Er nahm ihre Hand und dradte ſie, und fie erwiberte den Druck. Er kuͤßte fie auf die Wange; fie wandte fih nach ihm um, ihre Lippen begegneten fih, und fie drüdte ihm einen Kuß auf, immer noch in demfelben nachdruͤcklichen Schweigen verharrend. Diefer Kuß, den er fo lange erwartet und erſehnt hatte, freute ihn num gar nicht: fie hatte ihn fo mechaniſch ges geben.

„Wiera,“ fagte er, „du flehft ganz im Banne irgendeine? Gluͤcksgefuͤhls du bift in Effigfel.. .” fagte er.

„Und was weiter?” fragte fie plöglich, aus ihrem Sinnen erwachend.

„Nichts, es fcheint, daß du ... irgendein Hindernis, einen Widerſtand beſiegt haft... und bu fcheinft gluͤcklich im biefem Gefühl des Stege... Ich weiß nicht, was bet Grund fein mag, aber bu triumphierſt! Die Stunde des Gluͤcks ſcheint für dich gekommen ...“

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„Ad, wie weit iſt e8 noch bis dahin!” flüfterte fie für fich. Und dann fügte fie laut hinzu: „Nein, es iſt nichts Bes fonberes gefchehen ...“ Ste fhien zerſtreut, fuchte jeboch heiter und ſorglos gu ers fcheinen und fah Raiffi freundfhafrlic ind Geficht.

„Da liebft ihn alfo fehr, dieſen ...“ „Den Forſtmeiſter? Sa, fehr!” fagte fi. „Männer von feiner Art find felten; er iſt einer der frefflichfien Mens ſchen, die ich hier fenne, wenn nicht der Trefflichfte.” Miederum fühlte Raiffi dad Nagen der Eiferfucht. „Der trefflichfte Menſch nun ja, fo im Außeren: er iſt groß und ſtark, er fürchtet fih vor feinem Gewitter, fchlägt Bären tot, ift als Wagenlenker fo gefchidt wie Phoebus ſelbſt, ift ein fehöner Mann ja, das iſt er!” „Put, Boris Pawlowitſch!“ „Du Argerft dich wohl, wenn man bein Ideal vom Piebeftal berunterholen will?” „Was für ein Ideal?“ „Run, er ift doch... der Held deines Geheimniffes und der Schreiber des blaßblauen Briefes! Go fag’ es doch endlich, du haft eg mir verfprochen ...“ Saab’ ich dag wirfiih? Ach, ja, ja Sie denken an gar nichts anderes mehr... Nun ja, er il ed.. was denn noch zu | * „Nichts!“ ſagte Raiſki heftig erroͤtend er hatte eine fo raſche Loͤſung des Raͤtſels nicht erwartet. „Dieſe Koͤrper⸗ kraft, dieſe Muskeln, dieſer Wuchs!...“ ſagte er.

„Sie ſagten doch, daß die Leidenſchaft jede Wahl rechts fertige |” „Ich fage auch nichts weiter I” verfeßte er mit einem Achſel⸗ suden. „Du fiehft, ich Bin vollkommen ruhig! Du wirft ihn alfo heiraten ?“

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„Vielleicht.“

„Er ſoll mehrere Tauſend Deßjatinen Wald befitzen? ...“ „Pfui, Boris Pawlowitſch!“

„Nun, jetzt kann ich alſo abreiſen,“ ſagte er, ſteckte den Kopf zum Fenfter hinaus und rief einer voruͤbergehenden Dienfimagd zu, fie folle Jegorka rufen.

„Sol’ ben Meifeloffer vom Boden und bring ihn in mein Zimmer Ich reife morgen ab,“ fagte er, ohne Das Lächeln zu bemerten, das um Wieras Mund fpielte.

„Ich bin wirklich froh,“ fagte er in boshaftem Tone, wähs rend er fi bemühte, ihrem Blide auszuweichen. Jetzt haft du doch einen Beſchuͤtzer! Ein richtiger Held, vom Scheitel bis zur Sohlel...“

„Ein ganzer Menfh, vom Scheitel Bis sur Sohle,” vers beflerte ihn Wera, „wenn auch fein Romanheld!“

„Wie tft e8 denn aber mit dem menfchlihen Denten fommt er bamit vorwärts? Nimrod, der Altmeifter. aller Sportsmen, und Humboldt find ja beide Menfhen doch befteht zwiſchen ihnen ein Unterfhied —..." „Ih weiß nicht, wie fie als Menfchen waren. So viel aber weiß ich, daß Iwan Iwanowitſch ein Menfch if, den alle anderen fich zum Mufter nehmen könnten. Er handelt, wie er denkt und fpricht; fein Kopf denkt richtig, fein Herz fühlt ſtark und warm, und er ift ein Charakter. Ich vers traue ihm In allen. Dingen, und ich wuͤrde nichts, felbft das Leben nicht fürchten, wenn ich Ihn an meiner Seite weiß |“ | „Ss fo! Bor allem fein Gewitter, wenn er den Wagen lenkt!" ergänzte Raiſki fpöreifch. „Er iſt wohl auch ein ſehr kurzweiliger Gefellfchafter ?” fügte er hinzu.

„sa, auch dag: er hat viel Mutterwig und Humor nur daß er nicht damit prahlt und fich laͤſtig macht. . .”

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„Mit einem Wort: ein ganzer Mann! Nun, ich gratuliere dir, Wiera und fage bir gleichzeitig Lebewohl!“ „Wohin wollen Sie denn?” „IH reife morgen früh ab und will nicht mehr von bir Abſchied nehmen...” „Barum nicht?” . „Du weißt, warum nicht... Sch würde mich nicht bes herefchen können... ich Bin Fein Städ Holy...“ Sie legte ihre Hand auf bie feinige und fah ihm fchelmifch, wie ein fchmeichelndes Kätchen, in die Augen, während ihr Kinn in verhaltenem Lachen zuckte.

„Mund wenn ich wuͤnſche, das Sie nicht abreifen??” „Du?“

„Ja, ich.“ „Wie kaͤmeſt bu dazu?” Mit hoͤchſter Spannung erwartete er ihre Antwort. „Raten Sie einmal!”

„Willſt du vielleicht, daß ich bei deiner Hochzeit zugegen fein fol?”

Sie fah ihn noch Immer lächelnd an und hielt ihre Hand nach wie vor auf der feinigen.

„a, ih will es,“ fagte fie. „Waunn wird fie denn flattfinden?” fragte er troden.

Sie ſwieg

„Wiera...“

Sie lachte ploͤtzlich laut auf. Er ſah ſie an: noch niemals hatte er ſie ſo lachen hoͤren.

„Er iſt's nicht, er iſt's nicht... Der Forſtmeiſter kann ihe Held nicht fein! Das Geheimnis. des blauen Briefes iſt ungeloͤſt!“ Tantete feine Folgerung.

Es ward ihm leichter ums Herz. Er wurde heiter geftimmt, fang und plauderte, ſcherzte und lachte. |

CXA 186 CH:

„Sagen Sie nur Jegorka, er folle ben Koffer wieber fort; bringen I” fagte fie. „Warum willft du mich nun bier behalten, Wiera? fragte er, „Sag’ mir die Wahrheit! Vergiß nicht, daß ich mich allen deinen Bedingungen füge...“ „Wirklich allen ?“ „Aa, ohne jede Ausnahme Was bu auch mit mir ans fangen, welche Rolle du mir auch zuweiſen magſt Ich laffe alles über mich ergeben, nur jage mich nicht fort. . .“ „Alles?“ „Ja, alles!“ verſicherte er in blinder Ergebung. „Sehen Sie, Bruder jetzt find auch Sie in Ekſtaſe! Daß es Ihnen nur fpAter nicht leid wird, wenn ih She Aners bieten annehme ...“

„Ich ſchwoͤre es dir, Wiera,” rief ee aufſpringend, „es gibt feinen Wunfch, keine Laune, die ich die nicht erfüllen, keinen Kelch der Erniedrigung, ben Ich nicht bis zum leßten Tropfen leeren würde, wenn ich Damit nur einen Augens blick...“ „Genug! Ich nehme Ihr Anerbieten an Sie find jetzt ...“

„Dein Sklave? Dh, fag’ es, fag’ es...“

„Wohlan denn: ja,” fagte fie, während ihre mn auf ihm ruhte.

„So kann ich alfo bleiben?...“

„Bleiben Sie...”

„Welche Wandlung!” fagte er, innerlich jubelnd. „Wie haft du nur plöglich beine Meinung fo ändern können?” „Ich wollte nicht ...“

Sie ſah ihn an, und er ſchwelgte in Entzuͤcken, waͤhrend er ſich in ihre ruhig blickenden Samtaugen verſenkte, deren Ausdruck ihm noch immer ſo raͤtſelhaft ſchien. |

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„Ich wollte niht... daß Ste... fih morgen über ſich ſelbſt ärgern, wenn Sie Ihren Reiſekoffer wieder hinauf⸗ tragen laſſen. Sie wären ja doch nicht abgereiſt!“ „Doch, doch Ih wäre abgereift!“ Sie fchättelte unglaͤubig den Kopf. „Ich gebe dir mein Wort darauf...” „Nein... Sie wären nicht abgereiſt...“ „Barum nicht?” „Weil ich es nicht will...“ „Du, du, du Wiera! Höre ich richtig, iſt es Feine Taͤu⸗ ſchung? „Nein.“ „Wiederhole es noch einmal!” „Ich will wicht, Daß Sie abreifen und Sie werben bleiben ...“ | „Warum denn?” fragte er leidenfchaftlich fihfternd. „Weil ich es will!” ſprach fie, gleichfalls fluͤſternd, doch in befehlendem Tone. „Wera... ſchweig, kein Wort mehr! Wenn du mir jegt fagft, daß du mich liebſt, Daß ich dein Ideal bin, dein Gott, daß du den Verſtand verlierft, daB du ſtirbſt vor lauter Sehnſucht nah mir dann werde Ich dir glauben... alles, alles werde ich dir glauben und dann ...“ „Was dann?” „Dann wird es in der Welt keinen größeren Narren geben als mich... Ich werde dich vergättern, anbeten... big sum Überbruß. . .* „Mir iſt nicht bange davor...” „Du ... du ſelbſt geſtatteſt mir, dich gu lieben in Selig⸗ keit zu ſchwelgen, gu ſchwaͤrmen, zu lieben... Wiera, Wiera!“ Er kuͤßte ihre Hand.

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„Sie wollten es Doch, Sie flebten darum nun, und... fo will ich denn Mitleid haben!” fagte fie laͤchelnd.

„Die ift etwas widerfahren, irgendein großes Gluͤck und du fühlft das Bedürfnis, ein wenig davon abzugeben: nun benn, was auch bein Beweggrund fein mag, ich nehme alles an, will alles ertragen nur gib mir bie Möglichkeit, in deiner Nähe gu weilen, jage mich nicht fort, laß mich hier bleiben... .“

„Bleiben Sie, ich befehle es Ihnen !” fagte fie mit gutmätigs ſpoͤttiſcher Miene.

Er waͤhnte, das Städ ſei endlich gu ihm gelommen. Ja, Zantchen hat ſchon recht,” frohlodte er im flillen, „wenn man ed am wenigften erwartet, fucht das Sluͤck einen heim. ‚Zum Lohn für die Demut', fagt fie nun denn, ich hatte ſchon demuͤtig verzichtet, und jeßt... o gnädiges Geſchick!“

Wie beraufcht hatte er Wierad Zimmer verlaffen und war im Hausflur Jegorka begegnet, ber eben mit dem Reiſe⸗ koffer voruͤberkam.

„Trag ihn wieder zuruͤck,“ ſagte er und ging raſch nach ſeinem Zimmer, wo er ſich aufs Bett legte und ſeine hef⸗ tige Gemuͤtsaufwallung ſich in Traͤnen ausloͤſte.

„Das iſt ſie die Leidenſchaft, die Leidenſchaft!“ fluͤſterte er, immer heftiger ſchluchzend.

Der Forſtmeiſter reiſte ab, und alles kam wieder ins alte Geleiſe. Raiſki war ſehr gluͤcklich; ſeine Leidenſchaft fuͤr Wiera glich faſt ganz derjenigen des Forſtmeiſters: ſie wurde zur ſtummen, andachtvollen Verehrung.

Ganz ſo wie jener beobachtete er faſt ſchuͤchtern ihre Blicke, lauſchte mit ſeltſamem Bangen auf den Klang ihrer Stimme, zupfte unwillkuͤrlich, wenn er ihren Schritt vernahm, au ſeinen Kleidern herum, wechſelte, wenn er mit ihr ſprach,

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mehrmals die Haltung und wog forgfältig feine Worte ab, um nur ja nichts gu fagen, was ihr mißfiel.

Auch fie war in einer felfam feierlichen Stimmung: bie ſtille Ruhe des Gluͤcks, oder der inneren Befriedigung, lag auf ihrem ganzen Wefen, fie fehwelgte gleichfam ſchwei⸗ ‚send in Entzüden, war guf und freundlich gegen die Großs ante und Marfinka und wurde an einzelnen Tagen von einer feltfamen Unruhe befallen. Dann hielt fie ſich in ihrem Zimmer auf, oder fie ging in ben Park, ober den Abhang hinunter ind Gehoͤlz. Wenn dann Raiſtki ober Marfinfa fie drüben im alten Haufe auffuchten oder fie auf ihren Spaziergaͤngen begleiten wollten, wurde ihre Miene finfter und unfreundlih, Bald aber nahm fie wieder ihr gleichmäütiges, ruhiges Wefen an, war beim Mittags efien und des Abends mitteilfam, Intereffierte fich fogar für die Wirtſchaft, half Marfinfa beim Auswählen der Stidmufter, ſah Tantchens Rechnungen duch und machte bei den Damen ber Stadt Befuche. Mit Raiffi fprach fie viel über Literatur; er entnahm aus der Unterhaltung mit ihe, daß fie viel gelefen haben mußte, und fie laſen auch, wenn auch nicht regelmäßig, verſchiedenes en Sie ließ fich dabei leicht ablenfen, bald nach diefer, bald

nach jener Richtung, und zumellen geriet fie in eine ers altierten Zuftand, der faft in einen Raufch jäher Freude ausartete. Als fie eines Abends in biefer Stimmung aus dem Zimmer verfhtwand, fahen fih Raiſki und Tatjana Markowna mit einem langen, fragenden Blide an. „Was iſt mit Wiera?” fragte die Großtante, „es fcheint, daß fie wieder geſund geworben iſt...“

„ch fürchte im Gegenteil, Tantchen, daß es um fie ſchlim⸗ mer beftellt ift als Bisher... .“

„Was redeſt du da, Borjuſchka du ſiehſt doch, daß ſie

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ganz anders geworben iſt, fo vergnägt und lebhaft, fo ges ſpraͤchig, zuvorkommend ...“

„HE fie nicht Doch gegen fruͤher ſehr veraͤndert?... Ich fuͤrchte, ihre Heiterkeit iR krankhafter Art, ein Rauſch der Erregung..."

„Du haft recht... fle if noch nie fo gewefen... was tönnte es denn fein?”

„Ste ift in Ekſtaſe fehen Sie das nicht?“

„In Elſtaſe!“ wiederholte Tatjana Markowna ganz ers fehroden. „Warum ſagſt bu mir dag jegt, zur Nacht? Ich werbe nicht einfchlafen können. Ein junges Mädchen, das in Ekſtaſe iſt ... die Sache iſt ernſt! Haft du Ihe vielleicht irgend etwas eingerebet? Wovon follte fie in Ekſtaſe ges raten? Was iſt nun gu machen?“

„Wir müuͤſſen acht geben, welchen Verlauf die Sache nimmt.“

Die Großtante ſah Raiſki mit aͤngſtlichen Augen an, waͤh⸗ rend er laͤchelte.

„Du ziehſt alles ins Laͤcherliche!“ ſagte fie, und mit ſtrenger Miene fügte fie hinzu: „Stel! du deine Verſuche mit Sfawelif und Marina, mit Paulina Karpowna oder Ullana Andrejewna an, dichte Verſe, Komödien, oder was bu fonft willſt von Wera aber laß deine Hand weg! Die mag’8 eine Komoͤdie feheinen, mir aber iſt es eine bittere Tragoͤdie!“

Nicht nur Raiſki, ſondern auch die Großtante gab ihre paſſive Haltung auf, und beide beobachteten nun insgeheim das Verhalten Wjeras. Tatjana Markowna nahm bie Sache ſehr ernſt, ſie vernachlaͤſſigte daruͤber ſogar die Wirtſchaft, ließ die Schluͤſſel auf den Tiſchen herumliegen, kuͤmmerte ſich nicht mehr um Sſawelijs eheliche Angelegen⸗ heiten, revidierte die Rechnungen nicht und fuhr gar nicht

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mehr aufs Feld hinaus. Die Heine Paſchutka ſtand nad wie vor auf ihrem Poſten an der Ecke und verwandte keinen Blick von der Gnaͤdigen, und wenn Waſſiliſſa fragte, was dieſe mache, antwortete die Meine: „Sie fläftert nur immer fo vor fich bin.”

Die Großtante ließ traurig den Kopf bangen und fann vergeblih auf Mittel, bie Wiera zu einer offenen Aus⸗ fprache bringen koͤnnten. Sie verzweifelte fchließlich an diefer Möglichkeit und zerbrach fich den Kopf darüber, ob fie nicht vielleicht auf Umwegen dahinter kommen koͤnnte, was eigentlich vorliege, damit fie rechtzeitig ein drohendes Un⸗ glüd abzuwehren vermoͤchte.

„Ste ift verliebt, if in Ekſtaſe!“ Das ſchien ihr fchredlicher als die Pocken, die Maſern, das Wechſelfieber oder ſonſt eine ſchlimme Krankheit. In wen konnte ſie ſich denn ver⸗ liebt haben? Wenn es Iwan Iwanowitſch waͤre ja, dann wuͤrde fie Gott danken. Würde Wiera den heiraten, dann koͤnnte fie ruhig die Augen ſchließen.

Aber die Großtante hatte mit dem feinen Inſtinkt des Weibes erraten, welche Beziehungen zwiſchen Wjera und Tuſchin beſtanden: mit einem Seufzer hatte ſie ſich geſagt, daß hoͤchſtens auf ſeiner Seite von einer tieferen Neigung die Rede ſein konnte, waͤhrend Wiera fuͤr ihn nur Gefuͤhle der Freundſchaft oder des Dankes hatte dafuͤr, daß er ſie ſo verwoͤhnte, wie Tatjana Markowna es im ſtillen bezeichnete.

„Er vergoͤttert ſie,“ ſagte fie, „und das gefällt einem jungen Mädchen immer.“ |

Wer konnte e8 nur fein, wer? Unter den Gutsbeſitzern ber Umgegend fam außer Tuſchin Feiner in Betracht ſie ſah keinen, ſprach mit keinem. Mit den jungen Leuten aus der Stadt kam fie hoͤchſtens ein paarmal im Winter zu⸗

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fammen, bei den Baͤllen, die ber Branntweinpaͤchter ober der Vizegouverneur gab; Ins Hans, nah Malinowka, famen fie nur felten. Die Dffigiere und die Herren vom Gericht Hatten laͤngſt die Hoffnung aufgegeben, auf Wiera Eindend zu machen fie fam mit ihnen faſt gar nicht in Beruͤhrung.

„Sie hat ſich doch nicht etwa in ben Geiftlichen verliebt? D Gott, das wäre ſchrecklich!“ fagte fih die Großtante. So war fie beffändig von Zweifeln beunruhigt, beobachtete Wiera aufmerkfam, wenn fie zum Mittageflen oder zum Tee kam, und fuchte ihe auch im Park auf den Ferien zu bleiben. Doch Wiera erfpähte fie jedesmal von weitem, befchleunigte ihren Schritt und war verſchwunden, ehe Tatjana Markowna fie erreicht hatte, |

„Ehe ich mich's verfah, war fie fort, wie ein Seiſt!“ ers zählte fie Raiſki. „Ich wollte fie einholen, aber bie alten Beine kamen nicht mehr mit. Wie ein Vogel huſchte fie in die Buͤſche und war fpurlos verſchwunden.“

Raiſki ging nach diefem Gefpräc in den Park, ſchritt ben Abhang hinunter, durchquerte die Schlucht und Hetterte auf der anderen Seite hinan, um ins Dorf zu gelangen. Er begegnete Jakow und fragte ihn, ob er nicht das gnaͤdige Fraͤulein gefehen habe. |

„Gewiß doch, den Augenblid ſah ich fie, Dort, bei der Kar pelle,” ſagte Jakow. |

„Was macht fie denn dort?”

„Wird wohl zum Herrgott beten.”

Raiſki begab fich nach der Kapelle.

„Sie betet alfo auch ſchon!“ ſprach er nachdenklich vor ſich bin.

Zwiſchen dem Walde und dem ftellen Fahrweg ſtand abs ſeits auf einer Wiefe eine einfame Kapelle, von Hols ers

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richtet, ganz ſchwarz und halb zerfallen, mit einem Bilde des Heilands in byzantiniſchem Stil, in einem Bronze⸗ rahmen. Auch das Bild war vom Alter gefchwärst, da und dort waren bie Farben abgefallen, und die Geſichts⸗ zuͤge Chrifti waren kaum noch zu unterfcheiden nur die Augen fahen zwiſchen den halbgeoͤffneten Lidern nachdenk⸗ lich auf den Betenden, und auch die ſegnenden Haͤnde waren noch zu ſehen.

Raiſki ſchritt durch das Gras nach der Rapelle hin, Wera hörte ihn nicht fommen. Sie fand mit dem Rüden ihm zugewandt und war ganz in den Anblid des Heiligenbildes vertieft. Ihr Schirm und ihr Strohhut Tagen neben der Kapelle im Grafe. Sie bekreuzte fich nicht, und ihre Lippen murmelten Fein Gebet, doch in ihrer ganzen Geftalt, ihrer in fih gefehrten Haltung, dem verhaltenen Atem und dem tegungslofen, ſtarr auf das Bild gerichteten Blicke fprach fih eine innige, aufrichtige Andacht aus.

Raiſki hielt unwillkuͤrlich den Atem an.

„Was mag ſie nur erflehen?“ dachte er bang. „Bittet ſie um Freude, um Stillung ihrer Sehnſucht? Will ſie hier, am Fuße des Kreuzes, ſich ein Leid von der Seele waͤlzen? Oder will fie nur fo, in einem ploͤtzlichen Ges fuͤhlsausbruch, ihr Inneres vor dem Alltröfter ſich laͤutern laſſen? Welches Gefühl iſt's, das fie bewegt: will bie Betende ihre Seele, ihre Kraft vor dem Kampfe ermeffen, oder dankt fie weinend für einen Augenblid des Gluͤcks...“ Wiera erwachte gleihfam plöglich aus ihrem Gebet. Sie wandte fih um und erfchraf, als fie Raifkt erblickte. „Was tun Sie bier?” fragte fie fireng.

„Nichts. Ich traf Jakow, der fagte mir, daß du bier feieft, und fo fam ich her. Tantchen .. .”

„Da Sie gerade von Tantchen fprechen . . .” unterbrach fie

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ihn, „ich merke, daß fie mic feit einiger Zelt beobachtet; wiſſen Sie nicht vielleicht, warum fie das tut?“

Sie ſah ihn forfchend an, und er errdtete. Er fuchte, waͤh⸗ rend dr neben ihr über bie Wiefe nach dem Walde zu ging, nach einer Antwort.

„Sch meine doch, daß fie Immer...” begann er. „Rein, nicht immer... Ste wäre nie Darauf verfallen, mir nachzufphren. Hören Sie einmal, mein Sklave,” fuhr fie mit leichtem Spotte fort, „fagen Ste mir ohne alle Umfchweife: haben Sie ihre vielleicht etwas von Ihren Vermutungen betreffs des blaßblauen Briefes, der Liebe und fo weiter gefagt ?” =

„Bon bem Briefe habe ich, ſoviel ich weiß, nichts geſagt.“ „Ufo nur von der Liebe. Run, und was haben Sie ihr Darüber gefagt ?”

Er ſchwieg und fah von Ihe weg nach dem Walbe bin. „Ih muß das unbedingt willen,” fagte fie beſtimmt. „Reben Sie alfo! Sie wollten doch felbft meine Launen erfüllen, und dag iſt wirklich eine bloße Laune! Sie haben es ihr gefagt, nicht wahr? Sie werben boch ficher nicht ‚nein‘ fagen, wenn e8 der Fall iſt!...“

„Wozu bie vielen Worte? Wenn du darauf beftehft, fage ich die natürlich alles. Ya, es wurde von bir gefprochen. Zantchen machte ſich daruͤber Gedanken, daß bu früher fo in dich gekehrt und nachdenklich warft und nun mit einem Male fo froh geſtimmt ſcheinſt...“

„Run und?...“

„Nun, und da ſagte ich nur: iſt ſie nicht am Ende verliebt? ... Das war bereits vor einiger Zeit...“

„Und was fagte Tantchen darauf?“

„Sie erfchraf.”

„Wovor denn?”

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„sumeift wohl vor dem Ausdruck ‚Ekftafe‘ ... .“

„Haben Sie denn von Efftafe gefprochen ?”

„Ste hatte felbft bemerkt, daß du fo frob geſtimmt und fie war ſogar erfreut daruͤber...“

„Und Sie haben fie dann erfchredt?.. .”

„Das nicht Ich. bezeichnete deinen Zuſtand nur mit dem richtigen Namen, und fie erfchraf vor dem Worte.” „Hoͤren Sie einmal,” ſagte fie ernſthaft, „die Ruhe der Tante liegt mir fehr am Herzen, mehr ‚vielleicht, als ſie ſelbſt annehmen mag...” ...

„Nein,“ unterbrach Raiſki fie lebhaft, —— iſt feſt uͤberzeugt, daß du ſie uͤber alles liebſt. Sie hat mir

das ſelbſt geſagt.“

„Gott ſei Dank! Sie machen mir eine große Freude durch dieſe Nachricht. Nun hoͤren Sie, was ich Ihnen ſage, und

fuͤhren Sie meine Befehle blindlings aus: gehen Sie zu Tantchen und zerſtreuen Sie ſofort alle ihre Befuͤrchtungen und Vermutungen betreffs der Ekſtaſe, der Liebe und ſo weiter. Das kann Ihnen nicht ſchwer fallen... Sie werden e8 beſtimmt fun, wenn Sie mich lieb haben.”

„Was würde ich nicht alles tun, um dies zu beweiſen! Reg heute Abend will ih...”

„Rein, jett gleich, in diefem Augenblid! Wenn ich zum Mittageſſen komme, ſollen ihre Augen mich wieder ſo au⸗ ſchauen wie früher... hören Sie?"

„Gut, ich will geben...” fagte Raifki, ruͤhrte fich jeboch nicht von der Stelle.

„Sp laufen Ste doch, ſofort, in dieſem Augenblick!“ „Und du... gehft jegt auch heim?” | Mit einer faſt gebieterifchen Hanbbewegung bedeutete fie ihm, daß er nach Haufe gehen folle.

„Noch eine,” fagte fie, ihn für eltien Moment zuruͤckhaltend,

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„reden Sie mit Tauschen nie wieder von mir, en Sie ? Ach höre, Schweſterchen,“ fagte er laͤchelnd. „she Ehrenwort!“ Er zoͤgerte verlegen. „Und wenn fie davon anfängt?...” verſetzte er. „Dann ſchweigen Sie Ehrenwort ?” „Ehrenwort I” „Merci... und nun eilen Ste raſch gu ihre!“ „Gut, gut, ich eile fhon..." fagte er, langfam bavons ſchreitend und fih nach ihre umfchauend. Sie winkte ihm zum Zeichen, daß er rafcher gehen folle, und blieb ſtehen, um zu beobachten, ob er wirklich gehe. Er bog in die Allee ein, machte dann jedoch Kehrt und kam zuruͤck um ihr noch irgend etwas zu fagen. Doc fie war nicht mehr da. „Zanthen hat recht: wie ein Geiſt iſt fie verfchwunden !” fiäfterte er vor fih hin. In diefem Augenblid fiel unten auf dem Grunde ber Schlucht ein Schuß.

„Wer bat fih ba wieber einen Spaß erlaubt?” fragte fich Raiſki, während er nach Haufe fehritt. Wiera erfchien rechtzeitig zum Mittageffen, und fo ſcharf auch Raiſkis forfehernder Blick fie beobachtete er konnte feine Spur von Efftafe oder Grübelei an ihr entbeden. Sie war ganz fo, wie er fie fräher gekannt hatte. Die Großtante fah zwei⸗ oder dreimal heimlich gu ihr hin⸗ über und ſchien fich zu beruhigen, als fie nichts Beſonderes an ihr bemerkte. Raiſki hatte Wjeras Auftrag erfüllt und Tantchens lebhafte Befürchtungen zerſtreut ganz freilich fonnte er ihr Mißtrauen nicht befeitigen. Sie unterhielten ſich alle drei über gleichgältige Dinge und faßen dann in

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nachdenklichem Schweigen da. Wiera nahm fogar irgend; eine Handarbeit vor, ber fie Ihre ganze Aufmerkſamkeit zuwandte, doch es entging der Großtante nicht, daß fie den Seibenfaben ziemlich regellos kreuz und quer führte, während Raiski feftftellen konnte, daß fie zumeilen wie ers (dauernd zuſammenfuhr oder Angftlih um fich fchaute, ob nicht etwa bie anderen mit Argwohn auf fie blidten. Am naͤchſten und übernächften Tage jedoch war auch bag überwunden, und wenn Wiera zur Großtante kam, war fie vollkommen ruhig, ja ſogar leiblich Heiter geftimme. Nur ſchloß fie fich jegt häufiger in ihrem Zimmer ein und hatte in ber Nacht länger als fonft das Licht in ihrem Zimmer brennen. | | „Was treibt fie eigentlich?” ging es der Großtaunte duch ben Kopf. „Bücher lieft fie nicht fie hat keine da, fontel ich weiß. Uber vielleicht fchreibt fie: Papier und Tinte find oben.” |

Am wenigften fonnte Tatjana Markowna diefe Heimlich⸗ keit vertragen, bie fie gerabegu als perfönliche Kräntung empfand... Ein junges Mädchen, dag heimlich korreſpondiert, das vielleicht gar vom Fenſter aus mit irgendeinem Sant verſtohlene Signale wechfelt das wollte ihr gar nicht in den Kopf! Und wer, wer war benn diefes Mädchen ? Ihre Großnichte, ihre liebes Kind, dag die fierbende Mutter ihe anvertraut. hatte o, ſchrecklich, fchredlih! „Es übers lauft einen kalt,” flüfterte fie vor fih Hin, ohne gu ahnen, daß dieſe Kälteempfindung eine Wirkung ihrer Nerven war, an deren VBorhandenfein fie nicht glaubte.

‚Ste wartete ab, ob nicht vielleicht ber Zufall ihr etwas entbeden, ob nicht Marina aus ber Schule plaudern oder Maiffi etwas verraten würde. Doch nichts von alledem geſchah. Sooft fie auch zur Nachtzeit fpähend umherging,

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fd eindringlich fie, bei aller Vorſicht, Marina ausfragte, ſoviel fie auch Marfinka auf Kundſchaft ſchickte, um zu erfahren, was Wiera trieb nichts brachte fie in ihren Nachforſchungen weiter, alles blieb erfolglos.

Da kam ihre plöglich ber glädlihe Gedanke, fih dadurch eine beruhigende Gewißheit zu verfhaffen, Daß fie auf Wieras Gemüt gleihfam Hinten herum, buch ein Bei⸗ fpiel oder, wie Raiffi fih ausdrädte, Durch eine Allegorie einzuwirken verfuchte.

Sie erinnerte ſich, daß ſie noch irgendwo in ihren Koffer einen ſehr lehrreichen Roman fteden haben mußte, ben

fie einftmals, in ihren jungen Jahren, ſelbſt mit großem Intereſſe gelefen, und Aber dem fie fogae Tränen vers goffen hatte. . .

Der Roman handelte von ben fchrediihen Folgen ber Liebe, ber fih Kinder ohne Einwilligung ihrer Eltern bins geben. Ein Juͤngling und ein Mägdlein hatten einander fiebgewonnen, wurden jedoch buch ihre Eltern getrennt und fahen einander fortan nur aus ber Ferne, vom Balkon aus, verſtaͤndigten fi aber durch Zeichen und fchrieben ‚einander heimlich.

Diefer heimliche Verkehr -wurde von. den Nachbarn bes obachtet, das Mägdlein kam um feinen guten Ruf und mußte in ein Klofter gehen, der Füngling aber wurde vom Vater irgendwohin nach Amerika verbannt.

Tatjana Markowna glaubte gleich vielen andern Leuten an bie Macht des gedrudten Wortes, ſofern biefes eine erbauliche Tendenz hat, und in diefem fie ganz perfönlich ‚angehenden Falle erwartete fie von ber Lektüre des Buches fogar eine gewiffe Zauberwirfung, wie etwa von einem Hexenſpruche oder von den. Linien der Handflaͤche.

‚Sie holte dad Buch aus einer alten Kifte hervor, wo es

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unter allerhand Rumpelkram verſteckt gelegen hatte, und legte e8 auf den Tifch neben ihr Arbeitskoͤrbchen. Beim Mittageſſen fprach fie den jungen Damen gegenüber den Wunſch aus, fie möchten ihre doch, namentlich bei fchlechtem Wetter, abwechfelnd etwas vorleſen; ihre Augen felen ſchon (wach, und fie Fame felbft nicht mehr recht vorwärts mit den Büchern.

Marfinta hatte ihr Bereits früher mitunter etwas vor⸗ geleſen, im allgemeinen jedoch verhielt ſich die Großtante der Literatur gegenüber ziemlich gleichguͤltig. Nur wenn Tit Nikonytſch ihre irgendeine Zeitungsneuigkeit mitteilte, etwas von blutigen Mordtaten oder großen Feuersbruͤnſten, vielleicht auch gelegentlich eine wirefchaftliche oder hygieniſche

Belehrung, ward ihr Intereſſe rege. | NE fie nun diesmal mit ihrem Vorſchlage herausrudte, ſchwieg Wjera ſich ganz aus, während Marfinka, a das Buch zeigend, fragte:

„Seht die Sache auch aut aus, Tantchen ?”

„Warte, bis du das Buch ausgelefen haft, Dann wirft du es willen,” antwortete bie Großtante.

„Was für ein Schmöker ift benn das?” fragte Raifki am Abend. Er nahm das Buch, ſah hinein und lachte. „Kaufen Sie ſich doch lieber ein Traumbuch und laſſen Sie ſich daraus vorleſen!“ ſagte er. „Dieſe alte Schartefe aussugraben! Die haben Ste jedenfalls damals gelefen, als Sie in Tit Nikonytſch verliebt waren? .. .“

Tatjana Narkowna erroͤtete und wurde ernftlich boͤſe. „Laß deine albernen Scherze, Boris Pawlowitſch!“ ſagte fie. „Ich bitte dich nicht, dabei zu fein, wenn wir leſen, ſtoͤr ung alfo nicht in unferem Vorhaben!” .

„Aber das iſt ja ein ganz vorfintflutliches Erzeugnis...“ „Gewiß doch, ja Ich weiß, daß du nach der Sintflut

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geboren bift, und ich habe nichts dagegen, daß du auf deine Weife Romane und Dramen fchreibft, Ich Bitte dich aber, uns bei unferem Geſchmack zu lafien. Bang nur an, Marfinta und du, Wiera, hör zul Sobald Marfinka muͤde ift, wirft du weiterlefen. Das Buch iſt ſehr anregend und lehrreich.“

Wiera fügte ſich fchweigend, Marfinta aber wollte raſch nachfehen, ob Im legten Kapitel von einer Hochzeit bie Rede iſt. Doch die Sroßtante hinderte fie daran.

„Bang nur von vorn an,“ fagte fie, „bu wirft noch früh genug zu Ende kommen. Wie fann man nur fo ungebulbig fein I“

Maiffi verließ das Zimmer, und Tantchens Kabinett ver, wandelte fich in eine Lefehalle. Wiera litt entfegliche Lange⸗ weile, doch wiberfprach fie nie, wenn die Großtante ihr gegenüber auf ihrem Willen befland.

In dem Roman wurden gunächft die Eltern des jungen Mannes und das Mägdlein fehr ausführlich gefchildert, dann wurde erzählt, wie bie beiden Familien gleich ben Montecht und Eapulet miteinander in Zwiſt geraten waren, und hierauf folgte eine eingehende Darfiellung des Außeren und der Eigenfchaften der jungen Leute, die mits einander aufgewachſen und erjogen, dann aber getrennt worden waren.

Am dritten oder vierten Vorlefungstage kam man endlich nach langer Geduldprobe zu ber gegenfeltigen Neigung ber beiden jungen Leute, zu ihrer Liebeserflärung und dem erften heimlichen Stelldichein. Die ganze Gefchichte war hoͤchſt moralifh und fittenrein, dabei jeboch unerträglich langweilig. |

Wiera faß zumeiſt fill in Gedanken verfunfen da. Sobald das Wort „Liebe“ vorkam, blidte Tatjana Markowna vers

an

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ftohlen zu ihr hinuͤber, um feftsuftellen, ob fie vielleicht erröte oder erbleiche oder fonftige Zeichen der Aufregung an ihr fihtbar würden. Nichts von allebem geſchah: fie gähnte nur. Und als eine zudringliche Fliege fich ihr auf die Nafe fegen wollte, jagte fie fie fort und beobachtete, wohin fie floͤge. Dann gähnte fie von neuem.

Am naͤchſten Abend erſchien Wiera Aberhaupt nicht zum Tee, ſondern bat, ihn auf ihrem Zimmer trinken zu duͤrfen. Als die Großtante ihr ſagen laſſen wollte, ſie ſolle zur Vorleſung kommen, ſtellte ſich heraus, daß Wiera nicht zu Hauſe war: ſie ſei ſpazieren gegangen, hieß es.

Wiera glaubte nun gluͤcklich den Schrecken der Vorleſung entflohen zu ſein, aber die Großtante kannte kein Er⸗ barmen: fie ließ in Wjeras Abweſenheit nicht weiterleſen und feßte bie Fortſetzung ber Lektüre für den nächften Abend feſt. Wera warf Raiſki einen truͤbſeligen Blick zu er verfiand biefen Blick und ſchlug vor, doch lieber ſpazieren zu gehen.

„Meinetwegen aber dann wird weitergeleſen, ſagte Tatjana Markowna und ſah dabei argwoͤhniſch auf Wiera, deren verzweifelten Blick fie aufgefangen hatte.

Es war nichts zu machen, Wiera mußte kapitulteren. Gie zeigte nun feine Langeweile, feine Müdigkeit mehr, ſondern wußte fich tapfer zu beherrfchen und hörte mit. Aufmerk ſamkeit auf bie Iangfchleppende Erzählung. Raiſki hörte ein Weilchen zu und entfernte fih dann.

„Ein fchredlicher Kerl, diefee Autor: ald wenn er im Schlafe läge und Lindenbaft faute,” meinte er im Weggehen, und Marfinka mußte noch lange über den Ausdruck lachen. Miera gähnte nicht mehr und beobachtete auch nicht mehr bie Flugkuͤnſte der Fliegen, fondern faß, die Lippen feſt aufeinander gepreßt, auf ihrem Stuhl. Kam bie. Reihe

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bes Vorlefens an fie, dann las fie Har und deudlich, und die Großtante freute fich Aber ihre Aufmerkfamteit.

„Bott fei Dank,” dachte fie, „fie hört zu, fie Intereffiert fih, nimmt fih’8 zu Nergen: vielleicht wird alles gut...” Sehr ausführlid wurde in dem Roman gefchildert, wie das Gefühl der jungen Leute immer heißer und glähender wurde, wie bie Eltern fie auf Schritt und Tritt übers wachten und alle möglichen fittlihen Kolterqualen ers fannen, um Ihre Herzen zu frennen. Marfinka konnte fi der Tränen nicht enthalten, Wiera dagegen lächelte nicht felten, blidtte jedoch zumellen auch wieder nachdenklich und finfter drein. | „Es fcheint fie wirklich gu paden,” dachte Tatlanı Mars fowna. „Nun, Gott fei Dank!”

Wie alles in der Welt, fo fand auch der Roman allmählich ein Ende. Nur wenige Kapitel waren noch Abrig, und ber legte Vorlefungsabend brach an. Sobald das Teegeſchirr weggeräumt war, fegte man fih um den Tiſch, und bie Borlefung, der auch Raiſki beimohnte, begann,

Auch Wilentjew war anweſend. Er konnte nicht ſtill fißen, fondern fprang jeden Augenblid auf und Tief gu Marfinka, mit ber er dann leife plauderte. Er bat, man möchte auch ihn vorlefen lafien, und als es ihm geftattet wurbe, flocht er ganze Abfchnitte feiner eigenen Erfindung in die Hands fung ein und. las mit veränderter Stimme: fprach die verfolgte Heldin, fo las er in fanften, Harem Diskant, während er dem Helden feine eigene Stimme lieh und bie Worte, bie diefer gu fprechen hatte, ſtets an Marfinka richs tete, die ihrerfeits jeden Augenblid rot wurde und ihm ein böfes Geficht machte. In der Geftalt des finfter drohen⸗ ben Vaters fuchte Wikentjew den moralifchen Eiferer Nil Andreltſch zu verkörpern. . Das ging den Damen gu weit

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fie nahmen ihm das Buch weg und hießen ihn ſtill ſitzen. Er begleitete nun Hinter dem Rüden der Großtante die Vorlefung mit. allerhand mimifchen Künften, die nur Marfinta fehen konnte. Marfinka aber übte Verrat und machte die Großtante auf ihn aufmerffam dba nahm Tatjana Markowna ihn bei der Hand und führte ihn in ben Garten hinaus, wo er bis zum Abendbrot fpagieren gehen follte. Die Vorlefung wurde fortgefegt. Marfinka war In fohlechter Stimmung; das Buch war ſchon faſt zu Ende, Immer noch wurden lauter traurige Sachen erzählt, nichts deutete auf einen gluͤclichen Ausgang hin.

„Kann'“s dir denn nicht gleich fein, ob bie Sade gluͤcklich oder ungluͤcklich endet?” fragte Raiſki. „Dh, nur fein trauriges Ende!” fagte fie, „Ih werde weis nen, ‚werde nicht einfchlafen können!” Das Drama der Verfolgungen war noch mitten im Gange, und die Strafpredigten der Eltern rollten in unendlich langweiligen Sentenzen über den Haͤuptern der Liebenden dahin. . „Sieb bo, wie Wiera zuhoͤrt!“ fläflterte die Großtante Raiſki zu. „Die Seſchichte hat fle tief ergriffen fieh, wie fie die Stirn rungelt und ſich auf die Lippen beißt... !” Endlich trat die Kataftrophe ein: die Liebenden wurden Im Garten überrafht. Der Held des Romans hatte aus Bettlaken und Tafchentüchern eine Stridleiter hergeftellt, auf der die Heldin zu ihm Hinunterkletterte. Weinend lagen fie einander in den Armen, als plöglich die Schar ber. Verfolger beim Scheine ber Fadeln fie umringte und unter Ausrufen des Entſetzens und Unmillens ber Fluch des Vaters auf ihre fohuldigen Haͤupter fill. Die Heldin belam einen Obnmachtsanfall, der Held flürite vor dem

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barthersigen Vater auf die Knie. Das Mägblein wurde eingefperrt, nicht einmal verabſchieden durften fich bie Unglüdlihen. Bier Wochen fpäter vertündete bumpfes Slodengeläut, daß fie in ein Nonnenkloſter aufgenommen war, während am felben Tage vom Hamburger Hafen ein Schiff abfuhr, das ihn nach Amerika Bringen follte. Die beiden Elternpaare blieben allein und verlaffen zuruͤck und bäßten ihre Hartherzigkeit bis an ihr Lebensende In teoftlofer Einſamkeit.

Das lebte Wort war verflungen, der Dedel bes Buches sugeflappt, und unter ben Anweſenden berrichte tiefes Schweigen. | „Was für ein abgeihmadtes Zeug!" fagte Raiski nad einer Weile,

Marfinka trodnete ihre Tränen.

„Und was meinft du, Wierotſchka?“ fragte die Groß; tante.

Wiera ſchwieg.

„Ein abſcheuliches Buch, Tantchen,“ ſagte Marfinka, „was fie alles durchmachen mußten, bie armen Kinder!...“ „Ja, dag ift einmal fo!” verfegte bie Sroßtante mit einem Seitenblid auf Wera. „Wenn Kunigunde erfahrene Leute, die das Leben und die Macht der Leibenfchaft fennen, um Rat gefragt hätte, dann hätte fie das alles nicht gu ers dulden brauchen ...“ Raiſki nickte ihr mit ironiſchem Bei⸗ fall zu.

„So mußte die Sache ein boͤſes Ende nehmen,“ fuhr die Großtante fort; „haͤtten ſie ihre Eltern befragt, dann waͤre es nicht fo weit gekommen. Was ſagſt du, Wierorfchla ?” Wiera. hatte fich bereits aus dem Zimmer entfernt, blieb jedoch. auf. ber Türfchwelle ftehen.

„Warum haben Sie ‚mich eine ganze Woche lang mit dieſem

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albernen Buche gequält, Tantchen ?” fragte fie, bereits Die

She in der Hand haltend, und ohne erft die Antwort abs

zuwarten, fehlüpfte fie wie eine Kage aus dem Zimmer.

Die Großtante ging ihe nach und holte fie zuruͤd.

„Bas heißt dad warum?” fagte fie. „Ih wollte bir

ein Vergnügen bereiten...“

„Rein, Sie wollten mich für irgend etwas beftrafen. Wenn

Sie wieder einmal glauben, daß ich Strafe verdiene, dann

fperren Ste mich lieber acht Tage lang bei Waller und

Brot ein.”

Sie kniete auf dem Baͤnkchen zu Füßen Tatjana Mats

kownas nieder.

„Gute Nacht, Tantchen ſchlafen Ste wohl!" fagte fie.

Die Großtante beugte fich zu ihr hinab, um fie gu kuͤſſen,

und flüfterte Ihe Ind Ohr: ie =

„Nicht firafen wollte ich dich, fondern warnen, bamit bu

nicht irgend einmal... Strafe verdienſt ...“

„And wenn ich fie verdiene...” gab Wiera fluͤſternd zur

Antwort, „würden Ste mich dann auch ins Klofter ſchicken,

wie jene Eltern ihre Kunigunde?“

„Wie denn? Bin ich denn ein graufames Tier?” verſetzte

Tatjana Markowna gekraͤnkt. „Bin ich vielleicht ebenfo

böfe wie dieſe entmenfchten Eltern? Wie kannſt dus nur fo

von mir denken, Wiera... es iſt einfach ſuͤnd⸗ af...“

„Sch weiß, Tantchen, daß es fündhaft iſt, und ich denke

Bauch nicht... Wie kamen Ste dann aber darauf, mid

durch dieſes Dumme Buch da warnen gu wollen?”

„Wie ſoll ich dich denn fonft warnen und fchägen, mein

liebes Kind? ... Sag’ es mir, beruhige mih!. . .“

Miera wollte etwas antworten, hielt jedoch an fih und

fah einen Augenblick zur Seite,

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„Geben Sie mie Ihren Segen!” fagte fie dann, und nachdem die Großtante fie bekreuzt hatte, kuͤßte fie ihre die Hand und ging aus dem Zimmer.

Raiſki nahm das Buch vom Tifche,

„Ein wunderlihes Buch!” fagte er laͤchelnd. „Sind Sie mit dem Erfolge Ihrer fhönen Kunigunde gufrieden ?“ Die Großtante ließ ſtatt jeder Antwort einen ſchmerzlichen Seufzer hören. Sie war nicht zum Scheren aufgelegt. Sie nahm ihm das Buch fort und gab es Paſchutka, Damit fie e8 nach der Gefindeftube frage.

„Ma, Tantchen,” fagte Raiſki, „jet Hätten Ste Wiera glädlih auf den rechten Weg gebracht. Wenn nun noch Segorka und Marina biefe Mllegorie mit gutem Erfolge lefen, wird in diefem Haufe vor lauter Tugend fein Platz gu finden fein!”

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Fünfzehntes Kapitel

Vikentjew hatte Marfinfa in. den Garten gerufen, Raiſki war in fein Zimmer gegangen, und bie

Großtante blieb, in Nachdenken verfunten, auf dem Kanapee fiten. Eine ganze Weile faß fie da. Das Buch hatte fie bereit vergefien, ihr Glaube an bie Wirkfamfeit der ges bendten Moral war flark erſchuͤttert, und fie ſchaͤmte fich insgeheim fogar ein Hein wenig, weil fie zu einem fo banalen Mittel ihre Zuflucht genommen hatte. Ihe Auge Hatte einen Karen, bewußten Ausdrud, fie fehlen irgend etwas zu überlegen oder alte, ruhende Erinnerungen zu erneuern. Ein hellfeherifches Ahnen Tag, mit Furcht, Mitleid und Ruͤhrung gepaart, auf ihrem Geſichte. Marina, Jakow und Waffiliffe kamen nacheinander, um ihr zu melden, daß das Abenbbrot ſerviert ſei. „Ih mag nicht effen,” antwortete fie nachdenklich. | Marina ging hinaus, um bie jungen Damen zu Tifch zu rufen. „Ich mag nicht eſſen,“ ſagte auch Wiera. Ich mag nicht eſſen,“ verſetzte zu Marinas Erſtaunen auch Marfinka, die noch niemals ohne Abendbrot zu Bett ges gangen war.

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„Sol ich's nicht in Ihrem Zimmer anrichten?” meinte Marina.

„Ich danke, Ih mag nicht effen,” lautete bie Antwort. „Das geht nicht mit rechten Dingen gu,” dachte Marina, „das ift noch niemals dbagemwefen! Ich muß es der nd, digen melden.”

Zu Marina Verwunderung war Tatjana Markowna jes boch keineswegs erfiaunt Aber Marfintas Verhalten und fagte nur kurz: „She könnt abraͤumen!“

Marina ging hinaus, während Waſſiliſſa ſchweigend das Bett ber Gnädigen zurecht machte.

In ber Zeit, dba Marina fragen ging, was mit bem Abends brot gefchehen folle, hatte Jegorka, der es bereit als ficher annahm, baß bie Herrfchaften heute nicht mehr zur Nacht fpeifen würden, den Dedel einer Bratenfchäffel abgenoms men und, nachdem er ben Anhalt berochen, ein Stüd davon mit ben Fingern berausgefifcht, „um’s gu probieren”, wie er Jakow gegenüber, der ihn bei feinem Tun ertappte, erklärte. Er forderte Jakow auf, feinem Beifpiel zu folgen; diefer fchüttelte anfangs den Kopf, bekreuzte fih dann jeboch nach guter frommer Sitte und holte fich gleichfallg ein Stud von dem Braten mit den Fingern aus ber Schuͤſſel heraus, „um's zu probieren”.

„Es fcheinen Lorbeerblätter an ber Sauce zu fein,” bes merkte er fcharffinnig.

„Koften Sie auch von biefer Schüffel hier, Jakow Petro⸗ witſch,“ meinte Jegorka, während er feine Hand nach einem Stuͤck Sterlet in Gelee ausftredte.

„Wenn nur die Gnädige morgen nicht danach fragt!” meinte Jakow und nahm gleichfalls ein Städ von dem Fiſch. As Marina ind Simmer kam, waren bie beiden bereits beim Backhuhn angelommen.

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„les aufgepugt!” rief fie ganz verbläfft und ſchlug fich dabei auf bie Hüfte, Jakow und Jegorka nahmen fehlen; nigſt Reißaus wie ein paar aufgefcheuchte Wölfe, guckten fih nach ihe um und grinſten dabei.

„Was fol ich nun morgen zum Fruͤhſtuͤck ſervieren ?” fagte fie, ihnen verzweifelt nachſchauend.

Alles war im Haufe verftummt. Das Bert war gemacht. Tatjana Markowna erwachte aus ihrem Hinbräten und blidte nach dem Heiligenbilde an der Wand, vor dem fie jedoch nicht wie fonft niederfniete. Sie bekreuzte fich nur, ohne zu beten fie war zu unruhig, um die rechte Ans dacht zu finden. Sie fegte fih aufs Bett und verfant wieber in büfteres Grübeln. „„Wie ſoll ich Dich warnen und ſchuͤtzen? ‚Geben Sie mir Ihren Segen!‘ flüfterte fie bang, ihr Gefpräch mit Wiera wieberholend. „Wie kann ich erfahren, was In ihrer Seele vorgeht? Nun denn: der Morgen ift kluͤger als der Abend... jeßt will ich zu Bett gehen...” fprach fie gu ſich ſelbſt. Sie ſollte jedoch in dieſer Nacht nicht ſo bald den Schlaf finden. Eben wollte ſie ſich niederlegen, als ſie ein Kratzen und Raſcheln an ihrer Tuͤr vernahm. „Wer iſt da?“ fragte ſie erſchrocken. „Ich, Tantchen Öffnen Sie” Es war Marfinkas Stimme. Tatjana Markowna oͤffnete die Tuͤr. „Was iſt dir, mein Kind? Du willſt mir wohl gute Nacht ſagen? Warum haſt du nichts zum Abend gegeſſen? Wo iſt Nikolaj Andreltſch?“ ſagte fie. Als fie jedoch einen Blick auf Marfinka warf, erſchrak ſie.

„Was iſt die, Marfinka? Was iſt geſchehen? Wie ſiehſt du denn aus? Du zitterſt am ganzen Leibe! Biſt du II 14

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krank? Hat dich etwas erfchredi?” ſprach fie, Marfinka mit Kragen uͤberſchuͤttend. „Mein, nein, Tantchen es iſt nichts, If nichts... Ih fam nur... Ih muß Ihnen etwas ſagen ...“ ſprach fie, fih aͤngſtlich an bie Großtante ſchmiegend. „Setz' dich, ſetz dich... dahin, ba, auf ben Stuhl... .“ „Nein, Tantchen Ich fege mich lieber zu Ihnen, und Sie legen fich Hin. Ach will Ihnen alles erzählen das Licht bitte ich aussulöfchen . . .“

„Aber was ift denn nur geſchehen? Du machſt mich aͤngſt⸗ ih...” „Nichts weiter, Tantchen legen Sie ſich nur raſch hin, ich ſage Ihnen alles ins Ohr...“ Die Großtante beeilte ſich, ihren Wunſch zu erfuͤllen, und Marfinka erzaͤhlte ihr nun alles, was ihr nach der Vor⸗ leſung im Garten begegnet war. Folgendes aber war ihr begegnet. Als ſie nach Beendigung des Romans hinaustrat, bat Wikentjew ſie, doch mit ihm in den Hain zu kommen und zuzuhoͤren, wie herrlich die Nachtigall dort ſchlage. „Waͤhrend Sie dort laſen, hoͤrte ich ihr in einem fort zu: ach, wie ſie ſingt, wie ſie ſingt! Kommen Sie!“ ſagte er. „Es iſt aber ſo dunkel, Nikolaj N) meinte Marfinka.

„Haben Ste denn Angſt?“

„Allein würde ich Angſt haben, mit Ihnen aber nicht.” „Dann fommen Sie! So wunderbar fingt fie hören Sie? hören Sie? Man kann es von hier aus hören, Ein Uhu fit dort in einem hohlen Baumſtamme, der fehrie erft, aber wie er den Gefang hörte, verfiummte er. Kom⸗ men Sie!”

Sie ging unentfchloffen. von der Freitreppe in den Garten

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hinab, und er.reichte ihe den Arm. Langfaım, halb wider Willen, fehritt fie neben ihm ber durch die Allee.

„Wie duntel es iſt... nein, ich geh’ nicht weiter! Geben Sie meinen Arm frei!” fprach fie faft unmwillig, ging jedoch unmillfürlich weiter; e8 war, ale siehe fie etwas gewaltfam vorwärts, obſchon Wikentjew ihren Arm Iosgelaflen hatte. „Sehen Sie näher heran, hierher!” flüfterte er.

Sie machte noch zwei Schritte, fich gleichfam durchs Dunkel taftend, und blieb ſtehen.

„Noch näher, noch näher, fürdten Ste ſich nichel”

Sie ging noch einen Schritt weiter; ihr Herz fchlug heftig, fie fürchtete fih in der Duntelbeit.

Es ift fo finſter ... ich habe Angſt . . .” fagte fie. „Wovor denn? Es iſt doch niemand da, vor dem Sie Angſt su haben brauchten! Treten Ste hierher geben Sie acht, bort iſt ein Graben | Stuͤtzen Sie ſich auf mich ſo u

„Was denn? Laflen Sie mich doch, ich finde mich ſchon felbft duch... .” fagte fie voll Angft, kaum aber hatte fie das Wort ausgefprochen, als er auch bereits ihre Taille umfaßt und fie über den Graben getragen hatte.

Sie famen in den Hain.

Ich gehe nicht einen Schritt weiter... .” Ä

Dennoch fehritt fie langfam vorwärts, jedesmal zuſammen⸗

fahrend, wenn ein trockener Zweig unter ihrem Fuß knackte.

„her wollen wir ſtehen bleiben leiſe!...“ flaſterte er „hören Sie?”

Die Nachtigall ſchlug ihre Triller. Der Zauber ber lauern.

Nacht umfing Marfinlas Sinne. Der Nebel, das leiſe

Rauſchen ber Blätter, das Lied ber Nachtigall ließ fie ſtill

erſchauern. Starr und ſchweigend fland fie da und faßte

24*

X 212 0X

in ihrer Angſt zuweilen nach Wikentjews Hand. Als er dann jedoch nad ber ihrigen griff, 308 fie fie zuruͤc.

„Wie ſchoͤn iſt das doch, Marfa Waffiljewna, welch eine Nacht!” ſprach er.

Ste bedeutete ihm buch eine Handbewegung, daß er fie nicht im Zuhören ftdren folle. Die koͤſtliche Stimmung ber Nacht hatte eben auf fie zu wirken begonnen.

„Marfa Waſſiljewna,“ fläfterte er kaum hörbar, „mir ift fo wunderbar zumute, fo wohl, wie ich es noch nie emp; funden ... les in mir ift in Bewegung .. .“

Sie ſchwieg.

„Ich könnte jetzt aufs Pferd fleigen und bavonrafen, daß mir der Atem vergeht... Oder Ich möchte in die Wolga fpringen und ans andere Ufer fhwimmen... Unb m ift Ihnen zumute ?“

Sie fuhr zuſammen.

„Was ift Ihnen? Sind Sie erfchroden ?” „Geben wir fort von hier! Wir haben lange genug zus gehört... Tantchen wird fonft böfe werben...” | „Ah, noch einen einzigen Angenblid bitte, bitte!“ flehte er.

Sie blieb wie gebannt fliehen. Immer herrlicher Hang das Lied der Nachtigall.

„Wovon mag fie nur fingen?“ fragte er.

er weiß es nicht...“

„Ihr Lied muß doch einen Sinn haben; fie fingt doch nicht bloß fo ins Blaue hinein! Sie fingt doch für irgend jemanden...”

„Ste fingt für ung...“ fluͤſterte Marfinka und lauſchte dann ſchweigend.

„Mein Gott, iſt das ſchoͤn... Marfa Waſſiljewna...“ ſtuͤſterte Wikentjew und verſank in ſtilles Sinnen.

21 c

„Vo find Ste denn, Nitolaj Andreltſch gu fengte fie. ‚Barum ſchweigen Se? ME wenn Sie gat nicht da wären; find. Ste denn noch hier?”

„Ich glaube, die Nachtigall ſingt dasſelbe, wovon auch ich jetzt ſingen moͤchte ... nut daß ich's nicht vermag... * „So bedienen Sie fich doch bet Nachtigallenſprache ..“ ſagte ſie lachend. „Woher wiſſen Sie denn, wovon fie ſingt? Ich weiß es eben!“ | „Dann fagen Sie es mir doch!“

„Sie fingt von der Liebe.”

„Bon was für einer giche? Wen foll fte denn lieben? „Ste ſingt von meiner Liebe, .. 5% Amen... Er war feldft über feine Worte erſchrocken loͤtzlich aber zog er Ihre Hand am feine gippen und kuͤßte fie leiden

ſchaftlich.

Blitzſchnell entriß ſie ihm die Hand, lief Hals uͤber Kopf davon, ſprang leicht über den Graben, eilte die Parkallee entlang und die Sreitreppe hinauf und blieb dort einen Augenblick flehen, um Atem zu ſchoͤpfen.

Er war hinter ihr hergeſtuͤrzt. |

„Nicht einen Schritt weiter daß Sie ed nicht wagen!" fagte fie, ſchwer atmend und die Tuͤrklinke in der Hand haltend. „Gehen Sie nach Hauſe!“

„Marke Waſſiljewna! Mein Engel, meine Herzens⸗ freundin ...

„Wie koͤnnen Sie es wagen, mich fo zu nennen: bin ich Fielleicht Ihre Schweſter, oder Ihre Couſine zu oo.

„Mein Engel! Meine Teuerſte . Sie find mir alles auf diefer Welt! Bei Gott. .«" |

„A werde ſchreien, Nikolaj Andreltſch! Sehen Sie nach Hauſe!“ ſprach ſie in gebieteriſchem Tone und bebte dabei wie Eſpenlaub. J

9 214 X

„Sagen Sie doc, bitte warum find Sie fo fonderbar ‚gegen mich ?... Gie weichen mir feit einiger Zeit aus, wollen nicht mehr mit mir allein bleiben... .* „Wir find doc keine Kinder mehr, muͤſſen unfere Tor; beiten laffen I” fagte fie. „Tantchen meinte... .” „Was meinte Tantchen ?“ „Gar nichts. Sie haben doch gehört, wie es mit Richard und Kunigunde In bem Buche kam, was dort das Ende vom Liede war!... Wie konnten Sie fih erlauben... .* „Dtefes alberne Buch tann niemand fonft geſchrieben haben als. Nil Andreltſch...“ „Gehen Sie nach Saufe! Gott weiß, was bie Leute fon von ung reden...“ „Ste lieben mich alfo nicht mehr, Marfa Waſſiljewna?“ fagte er düfter und fuhr ſich dabei nicht einmal mit den Fingern durchs Haar, wie er es fonft zu fun pflegte, „Habe ich Sie denn je geliebt?" fragte fie mit unbewußter Kofetterie. „Wer hat Ihnen das eingerebet? Was für dummes Zeug! Wie fommen Sie nur darauf? Ich will’s Tantchen fagen!” „Was wollen Ste ihr fagen? Sch werde es ihr ſelbſt fagen !" „Was werden Sie ihr fagen? Gar nichts können Sie ihr son mie fagen!” fagte fie Biffig, doch nicht ohne Innere Unruhe. „Wie find Sie denn heut überhaupt? Es fcheint etwas Aber Sie gekommen gu fein...“ „30, das iſt's in der Tat. Hören Sie mich an, Marfa Vaſſiljewna, mein Engel... Auf ben Knien Bitte ich Sie...” Er kniete vor Ihr. nieder. | „Ich gehe fort, wenn Sie noch ein einziges Wort. ſagen! Ich will nur zu Atem kommen... Tantchen wird. ers

I as (X)

fchreden, wenn fie mich fo ſieht ... ih —— an allen Gliedern ... Ich gehe gu ihr!...“

Er ſtand auf, trat entſchloſſen auf ſie zu, nahm ſie bei der Hand und fuͤhrte ſie faſt gewaltſam nach der Allee.

„Ich will nicht, ich geh” nicht... Sie find zudringlich! Sie vergeſſen fih . . .” fagte fie und bemühte fih, ihm ihre Hand zu entziehen und von Ihm loszukommen, ging aber doch gegen ihren Willen mit. „Was tun Sie, wie können Sie es wagen? Laffen Sie mich log, ich ſchreie fonft!... Ich will Ihre Nachtigall nicht mehr Hören!”

„Nicht bie Nachtigall follen Sie hören, fondern mid 1 fagte er zärtlich, Doch mit Entfchiebenheit. „Ach bin jetzt nicht der luſtige Junge, fondern fpreche als Erwachfener, hören Ste mich alfo an, Marfa Waſſiljewna!“

Sie hörte plöglih auf, an ihrem Arme gu gerren, und überließ ihn ihm, während fie mit Hopfendem Herzen und in gefpannter Erwartung fliehen blieb.

„Sie haben recht,” begann er, „wir find feine Kinder mehr, und es war unrecht von mir, das nicht fehen gu wollen, obfehon mein Herz mie längft fagte, daß Sie fein Kind mehr find ...“

Sie begann wieder an ihrer Hand gu jEREN, doch hielt er fie feft und ficher in der feinen.

„Sie find erwachſen und können daher furchtlos hoͤren, was ich Ihnen zu ſagen habe: es iſt nicht fuͤr Kinderohren berechnet. Sie waren ſo friſch, ſo jung, ſo lieb, daß ich in Ihrer Geſellſchaft meine Jahre vergaß und noch Zeit zu haben glaubte... und vielleicht iſt's auch wirklich noch zu fruͤh für mich, Ihnen gu fagen, daß ich...”

„Ich gehe fort... Sie wollen wieder irgend etwas Schreck⸗ liches ſagen, wie dort im Hain... Laſſen Sie mich los!“ ſagte Marfinka fluͤſternd, und er fühlte, wie ihre Hand

CH 216 (5

zitterte. „Ich gehe, Ih mag Gie nicht hören, ich fage alles ber Tante...” |

„Gewiß, Marfa Waſſiljewna, fagen Sie es ihr noch heute, jet gleich. Doch zuvor muͤſſen Sie erft hören, was ich Ihnen zu fagen habe. Wir haben ung fo befreundet, find einander feelifch fo nahe getreten, daß, wenn man ung trennen wollte und das wollen Sie ja, niht wahr ?...” Sie ſchwieg.

„Wollen Sie das wirflih, Marfa Waſſiljewna?“

Sie ſchwieg und machte nur eine heftige Bewegung, deren Sinn im abendlichen Dunkel nicht gu erlennen war. „Wenn Sie das wollen gut, dann trennen wir ung, jegt glei, auf der Stelle...” fagte er düfter. „ch weiß, was dann mein Schidfal fein wird: ich melde mich auf einen andern Poſten, ich reife nach Petersburg, ang Ende der Welt... Ufo fpreden Sie enticheiden Sie mein Schickſal! Nur, wenn Sie es wollen, gehe Ih um Tatjana Markowna, oder um meine Mutter würde Ich mich nicht befümmern, wenn die noch fo fehr unfere Tren⸗ nung verlangen follten. Alſo wenn Sie wollen, gebe ich, fogleich von biefer Stelle, und fomme nie wieder hier, her. Und ich weiß auch, daß ich niemals wieder eine Frau lieben werde... nie im Leben, bei Gott!“

Sie ſchwieg.

„Sprechen Sie nur ein einziged Wort: darf ich Sie lieb haben? Wenn Sie nein fagen gehe ich fort... für immer...” Marfinka brach plöglih in Schluchzen aus, und als er einen Schritt von ihr wegtrat, faßte fie Eräftig nach feiner Hand,

„Sehen Sie, fehen Sie! Sind Sie nicht wirklich ein Engel? Hatte ich nicht recht, als ich fagte, daß Sie mich lieben?

CH 217 CH

Sa, Ste lieben, lieben, lieben mich!” rief er jauchzend „freilich nicht fo, wie Ich Sie liebe... nein!“

„Wie können Sie e8 wagen... fo mit mir gu reden?” fagte fie, während die Tränen ihr Aber die Wangen rannen. „Slauben Sie nicht etwa, daß ich weine, weil... . ich weine auch um ein Kaͤtzchen, oder um ein Vögelchen ... ch weine fo leicht... . die Nachtigall hat mich fo gerührt, und dann iſt's auch dunkel! Bei Licht, oder am Tage würde ich eher fterben, als daß ih weinen würde... Vielleicht habe ich Sie geliebt... und mußte ed nicht...”

„Auch ich wußte e8 kaum, daß ich Sie liebe... Die Nach; tigall hat das alles bewirkt: fie hat unfer Geheimnis ang Licht gebracht. Ihr wollen wir auch alle Schuld zuſchieben, Marfa Waſſiljewna ... Auch ich Hätte bei Licht, oder am Tage um feinen Preis der Welt Ihnen das geſagt... bei Gott!”

„And jetzt haſſe, jetzt verachte ich Sie,” fagte fie. „Sie find ein abfcheulicher Menſch, Sie haben mich zum Wels nen gebracht und freuen fich Aber meine Tränen... ja, Sie find vergnuͤgt ...“

„Ich verguügt? Gewiß Bin ich's, und auch Sie find es Sie verftellen fih nur... Gott fegne die Nachtis galt!”

„Sie find ein boͤſer, gottlofer Menſch... find nicht ehr; lich!“

„Mein, nein,” unterbrach er fie und fuhr ſich haſtig mit der gefpreisten Hand durchs Haar „fagen Sie dag wicht! Nennen Sie mich meinefwegen einen Dummkopf, aber ehrlich bin ih ja, ganz gewiß! Niemand darf dag bezweifeln... Niemand foll e8 wagen...“

„Und ich wage e8 doch!” fagte Marfinka hitzig. „War ee vielleicht ehrlich, ein armes Mädchen fo weit zu bringen,

IXM 218 CO

DaB es etwas ausplauberte, was es ſonſt niemandem,

ſelbſt Gott, ſelbſt Vater Waſſilij nicht geſtanden hätte?...

Und jetzt o mein Gott, welche Schandel” Sie war von

ihrer Schuld feft überzeugt, und Tränen aufrichtiger Reue

floffen aber ihre Wangen.

„Es war nicht ehrlich, nicht ehrlich!” wiederholte en in traurigem Tone. „Ich liebe Ste nun nicht mehr. Was

wird man von mir denken, was wird man fagen? Ich

bin verloren . . .*

„Meine Herzensfreundin, mein Engell..."

„Fangen Sie fhon wieber an?”

„Bedenken Sie, daß Sie fein Kind find!” redete Wilents

jew ihre gu.

„Wie fonderbar Ste heute reden!” fagte fie ploͤtzlich und

hörte auf zu weinen. „Noch nie find Sie fo gewefen, noch

niemals habe ich Sie fo gefehen! Damals zum Beifpiel,

als Sie im Kornfeld Purzelbäume hoffen und den Wachtels

ſchlag nahahmten, oder geftern, ald Sie meiner Kate aufs

Dach nachkletterten ab, da waren Sie ganz anders!

Und wiſſen Sie noch, wie Sie in der Mühle fih ganz mit

Mehl beftäubten, nur um mich zum Lachen zu beingen?...

Warum find Sie nun mit einemmal fo gang anders ges

worden ?”

„Wie bin Ich denn geworben, Marfa Waſſiljewna?“

„Run, (0... fedl Sie wagen ed, mir fo törichte Dinge

ing Geficht gu fagen....“

„Und find Sie vielleicht noch diefelbe, die Ste noch kuͤrzlich,

noch heute abend waren? Haben Ste fich vielleicht früher

vor ‚mir gefhämt, oder mich gefürchtet? Haben Sie viel,

leicht früher fo mit mir gefprochen wie jetzt eben? Auch

Sie find wie umgewandelt!”

„Ja wie mag bag nur fommen ?”

on 219 00

„Die Nachtigall hat's uns doch geſagt: wir find beide jest groß und erwachfen, find heute reif geworden, dort im Hain... Wir ſind Feine Kinder mehr...” „Ja und darum eben war es nicht ehrlich von Ihnen, mir das alles zu fagen, was Sie mir ſagten. Sie haben feichtfertig gehandelt es iſt nicht ehrlich, einem jungen Mädchen fein Geheimnis zu entloden ... .“ „Es wäre doch nicht ewig She Geheimnis geblieben: irgend einmal hätten Sie es boch jemandem anvers traut...” | Sie dachte nad. „sa, das hätte Ich vielleicht doch nur der Tante ins Ohr... und dann hätte Ich den Kopf in die Kiffen ges fiedt und mich den ganzen Tag geſchaͤmt. Doch hier... wo wir beide fo ganz allein find... o mein Gott!” ſprach fie tief aufleufjend und blidte voll Entfegen zum Himmel anf. „Ich fürchte mich, jegt ind Zimmer hineinzugehen, Tantchen wird mir alles vom Geficht ablefen I“ „Mein Engel! Mein holder Schag!” fagte er, fich Aber ihre Hand neigend „ich fegne biefes Dunkel, fegne ben Hain und bie Nachtigall!” „Fort von hier, fort!” rief fie und lief wieder bie Treppe hinauf. „Sie nehmen fich wieder Kedheiten heraus! Ach, ih glaubte immer, es gebe Heinen befcheideneren, feinen ehrbareren Menfchen in der Welt! Auch Tantchen glaubte dag, und Sie...” „Was hätte ich denn fun follen, um ehrbar gu bleiben ? Wen hätte ich mein Geheimnis anvertrauen follen ?” „Run ber Tante, ind andere Ohr! Und dann hatten Sie fie fragen follen, ob ich Sie liebe...“ „Ei, fo fagen Sie ihr doch fett alles felbfil" „Jetzt ift die ganze Sache verborben, Es war ſchon un,

CH 220 CH)

zecht von mir, daß ich auf Sie gehört, daß Ich Tränen vergoffen habe. Sie wird mir särnen, wird mir nie vers jeihen, und daran find Ste fhuld.. .“

„Sie wird Ihnen ſchon verzeihen, Marfa Waſſiljewna wird uns beiden verzeihen. Sie bat mich doch gern... .” „Ste bilden fi ein, alle Welt habe Sie gern: was muͤſſen Sie für ein Prachtmenfch fein!”

„Tantchen fagte fogar, fie liebe mich wie einen Sohn...” „Das fagte fie nur, weil Sie fo viel effen, fie licht eben die ſtarken Effer, felbft einen Openkin!“

„Nein, ich weiß, daß fie mich liebt und wenn fie mid nicht noch für gu jung hält, dann wird ‚fe fiher nichts dagegen haben, baß wir ung heiraten... .”

„Schrecklich! Was für Gedanken Sie haben!...“

Sie wollte fich entfernen.

„Bleiben Sie doch, Marfa Waſſiljewna!“ fagte er. „Haben Sie feine Angft, ich werde fo ſtill daftehen, wie eine Statue...”

Sie zögerte einen Yugenblid, ging dann aber plöglich von felbft die Stufen hinab auf ihn zu, ergriff feine Hand und ſah ihm ernft und feierlich ing Geſicht.

„Weiß auch Ihre Mama von alledem, was Sie mie jegt ‚hier gefagt haben?” fragte fi. Ja? Weiß fie darum? Sagen Sie ia oder nein?”

„Roh nicht...” fagte er Teife.

„Roh nicht!” wiederholte fie bang.

Sie ſchwieg ein Weilchen.

„Wie fonnten Ste e8 dann wagen, fo mit mit gu reden Ef fragte fie dann. „Sie fprechen ſchon vom Heiraten, und Ihre Mama weiß von nichts! Sagen Sie felbft: iſt dag ehrlich gehandelt ?”

„Sie wird eg morgen erfahren.”

eo ..* o0 “., a, 221

„Wenn ſie uns nun ihren Segen verweigert?“

„Dann werde ich ihr nicht gehorchen!“

„Und ich werde ihr gehorchen nicht einen Schritt werde ich ohne ihre und der Tante Erlaubnis tun. Wird uns dieſe Erlaubnis nicht erteilt, dann iſt Ihnen dieſes Haus verſchloſſen. Merken Sie ſich das, Mr. Wikentjew!“

Sie wandte ſich raſch von ihm ab und ſchritt davon. „Ich bin feſt davon uͤberzeugt, daß meine Mutter ein⸗ willigt!“ .

„Sie hätten ihre Einwilligung vorher einholen follen, dann hätten Sie mir diefe Tränen erfpart!. . .”

„Wollen Sie wirklich gehen... ohne mir gu verzeihen, daß ich mich fo übereilte?.. .”

„Wir find feine Kinder, daß wir ung übereilen und dann um Verzeihung bitten follten. Die Sünde iſt begangen...” „Wir find allzumal Sünder... leben Sie wohl! Heut’ Nacht bin ich in Koltfchino, und morgen komme ich zum Mittageffen hierher und bringe bie Einwilligung meiner Mutter mit. Gute Nacht... geben Sie mir die Hand!“ „Dann werde ih... vielleicht...” fagte fie nach kurzer Überlegung, fah ihn an und reichte Ihm bie Hand. Kaum hatte er ihre Hand ergriffen, als fie fie ihm fogleich wieber entzog.

„Nein Gott, was wird nur bie Tante fagen! ‚Gehen Sie nun raſch, rafch, und vergeffen Sie nicht, daß, wenn Ihre Mama Sie tabelt und Tantchen mir nicht vergeiht, Sie nie wieder fich bier fehen laſſen dürfen. Sch ſchaͤme mich fonft gu Tode und muß Ihnen fietd den Vorwurf machen, baß Sie gegen mich micht ehrlich gehandelt

haben. Ste ging ins Haus hinein, während Wilentjew ſchleunigſt den Garten verließ.

(#} 222 O0

„D Sott, o Gott was wird nur bie Tante fagen!” dachte Marfinka, die fih in ihrem Zimmer einfhloß und wie im Fieber zitterte. „Was haben wie da nur aus gerichtet!” ging es Ihr durch ben Kopf. „Wie foll ich ihr das nur beibringen . . . und wie wird fie e8 aufnehmen?.. . Ob ich’8 nicht lieber zuerſt Wierotfchla fage?... Nein, nein werſt foll’8 die Tante erfahren! Ob wohl noch jemand unten bei ihr iſt?...“

Sie war aufs heftigfte erregt, fah in einemfort auf das SHeiltgenbild in ber Ede und bekreuzte fih bis Jakow heraufkam und fie sum Abendbrot rief.

„Ich mag nichts eſſen,“ rief fie ihm durch die verſchloſſene Tür hindurch zu. Dann kam Marina. |

„Ih mag nicht effen,” wiederholte fie truͤbſelig auch dieſer gegenüber. „Was macht benn Tantchen?“

„Die Gnaͤdige iſt fchlafen gegangen, mochte auch nichts eilen,” fagte Marina.

Marfinta konnte es nicht erwarten, bis endlich alles im Haufe fich zur Ruhe gelegt Hätte wie eine Maus huſchte fie Dann aus dem Zimmer und ſchlich ſich zur Großtante hinunter. | Sie flüfterten lange, und bie Großtante bekreuzte und kuͤßte Marfinka viele Male, bis dieſe endlich, an Tantchens Schulter gelehnt, einſchlief. Tatjana Markowna legte Mar⸗ finkas Kopf vorſichtig auf das Kiffen, erhob ſich dann, kniete nieder und flehte unter Tränen ben Gegen bes Himmels auf dag junge Süd und bag neue Leben ihrer. Großnichte herab. Noch heißer aber und inniger betete' fie für Wiera. Gang mit diefer befchäftigt, neigte fie lange dag graue Haupt vor dem Bilde bes Heilands und ui heiße Gebete,

—E

LE 223 CH:

Dann firedte fie fich leife neben der fchlafenden Marfinka bin, fohlug noch einmal dag Kreuz über ihr und dachte bet fi:

„sm Garten hat fie ihn getroffen ganz fo wie Kuni⸗ gundel Ach würde mich nicht wundern, wenn es Wiera gewefen wäre aber Marfinfal... Sch fage es ja immer: das Eidſat Be feine Pollen mit ung armen Menſchen⸗ findern ...“

AA

Sechzehntes Kapitel

ikentjew hielt Wort. Am naͤchſten Tage brachte er

feine Mutter zu Tatjana Markowna, ſchob fie durch bie Tür bes Empfangszimmers und machte fich felbft aus dem Staube. Er wußte nicht, was werben würde, und faß wie auf Nadeln in der Gutskanzlei. Seine Mutter, eine noch jugendlich ausfehende Vierzigerin, batte basfelbe lebhafte und muntere Wefen wie ber Sohn, doch paarte fih damit ein gut Teil praktifcher Klugheit. Zwifhen ihr und dem Sohne fanden beftändig komiſche Wortkaͤmpfe ftatt. Ste zankten fich auf Schritt und Tritt, um jede Kleinigkeit, und zwar eben nur um Kleinigkeiten. Sobald es fih um wichtige Dinge handelte, änderte fie im Moment Ton und Blick und brachte ihre Autorität zur Geltung, und wenn er auch anfangs proteflierte, fo gab er doch ſchließlich, wenn er einfah, daß fie recht hatte, Hein bei. | | Anfcheinend in ewiger Fehde Iebend, harmonierten fie in Wirklichkeit Doch ausgezeichnet miteinander. „Zieh das an!" fagte beifpielsweife Maria Yegoromna. „Rein ich nehme lieber jenes,” widerfprach er. nBefuch’ doch einmal Michail Adreltſch!“

CH} 925 CH

Ich bitte Sie, Mama, der Menſch iſt doch fo langwellig! Ir antwortete er.

„Unſinn, du wirft doch hinfahren.“

„Nein, Mama, um keinen Preis, und wenn Sie mich tot⸗ ſchlagen.“

„Wirſt du wohl gehorchen, Nikolka?“

„Sederzeit, Mama, nur diesmal nicht!”

Lest fie aber wirklich Wert darauf, daß er Hinfährt, dann tut er es eben doch, wenn auch unter allerhand Protefts verfuchen, die Ihe noch im Ohr Hingen, wenn fie ihn laͤngſt aus den Augen verloren hat.

Vom frühen Morgen bis sum ſpaͤten Abend währte biefer ewige Streit und Zank zwiſchen ihnen, ben nur ab und zu eine laute Lachfalve unterbrach, War ihre Freundfchaft fhon gar zu eng und herzlih, dann verhielten fie fich mäuschenftill, Big eins von Ihnen das Schweigen durch irgendeine Bemerkung unterbrach, worauf dann von ber andern Seite ganz ficher ein Einwurf erfolgte und ber Streit von vorn begann.

Wikentjews Liebe zu feiner Mutter äußerte fich in der; felben ftürmifchen, faft efftatifchen Weiſe. Wollte er gegen fie zärtlich fein, dann warf er fich plößlich auf fie, legte feine Arme feft um ihren Hals und preßte heiße Kuͤſſe auf ihre Wangen: das gab dann buchftäblich einen foͤrm⸗ lichen Ringkampf zwiſchen ihnen. Sie padte Ihn bei den Ohren und zog Fräftig daran, Eniff ihn in die Baden, flieg ihn zuruͤck und rief fchließlich die breithuͤftige, Aber ein paar Eräftige Faͤuſte verfügende Haushälterin Mara berbei, damit fie ihre den frechen „Jungen Wolf” vom Halſe ſchaffe.

Nach der Unterredung mit Marfinka ſetzte Wikentjew noch in derſelben Nacht uͤber die = ftürste in das Zimmer

11 15

EX 206 N

der Mutter und umarmte fie nach feiner Art unter leiden; ſchaftlichen Kuͤſſen. Als fie ihn mit Aufbietung ihrer ganzen Kraft zuruͤckſtieß, Iniete er vor ihe nieder und begann in feierlihem Zone:

„Schlag mich, Mutter, doch höre mich an: ber entſcheidende Augenblid meines Lebens iſt erfhienen! Ich...”

„Was ih? Du bift verrüdt geworben, nicht?” ergänzte fie feine Worte, „Woher kommſt du denn und in welchem Zuftande biſt bu: als haͤtteſt du dich irgendwo von ber Kette losgeriſſen! Wie darfſt bu hier fo herein⸗ ſtuͤrmen? Mich fo zu erfchreden, das ganze Haus rebelliſch zu machen! Was ift denn mit die?” fragte fie, ihn hoͤchſt erfiaunt vom Scheitel big zu ben Sohlen betrachtend und ihr zerzauſtes Haar ordnend.

„Erraͤtſt du es nicht, Mutter?” fragte er, nicht ohne im ſtillen gu fürchten, daß feinen Wünfchen noch irgendwelche unbefannten Hinderniffe in den Weg treten koͤnnten. „Du haft wohl irgendeinen bummen Streid gemacht und ſollſt eingefperrt werden?” fragte fie und ſah ihm for fhend in die Augen.

Er fchüttelte verneinend den Kopf.

„Borbeigeraten !” fagte er mit fehelmifchem Lächeln. „Run, dann fag’s doch!” | „Gut, ich will e8 fagen aber du darffi Feine Einwens dungen machen!”

Sie fah ihn nicht ohne Zucht und Beſtuͤrzung an und fuchte noch immer aus feinen Mienen die Wahrheit zu erraten.

„Du haft Schulden gemacht?“

Er ſchuͤttelte den Kopf.

„Du willft doch nicht etwa bei den Huſaren eintreten ?“ „Rein, nein!”

CHI 227 Hl

„Woher ſoll ich/s willen, was für eine Tollheit bu wieder begangen haft? Von dir kann man alles erwarten! Sag’ alſo was iſt es?“

„Wirſt du auch nichts einzuwenden haben?“

„Sicher werde ich das, denn es iſt jedenfalls eine Dumm⸗ heit, die du wieder gemacht haſt. Nun rede alſo!“

„Sch will heiraten!” ſagte er kaum hörbar.

„Was?“ fragte fie in einem Tone, als babe fie ſich verhört.

„Ich will heiraten!” wiederholte er.

Sie warf ihm einen raſchen Blick zu.

„Mawra! Anton! Iwan! Kusma!“ ſchrie fie dann laut „tommt alle rafch hierher, gang raſch!“

Mawra war die einzige, die dem Rufe Folge leiftete. „Ruf alle Leute zuſammen: Nikolaj Andreltſch iſt an geworden !"

„Gott ſteh' ihm beit Ach, wie haben Sie mich * ſagte Mawra, mit den Haͤnden in der Luft fuchtelnd. Wikentjew winkte Mawra, ſie moͤchte ſich entfernen.

„Ich ſcherze durchaus nicht, Mutter!“ ſagte er, ihre Hand ergreifend, als ſie ſich erhob.

„Geh fort, ruͤhr mich nicht an!” fiel fie Ihm zornig ins Wort und begann erregt im Zimmer auf und ab gu gehen.

„Ich ſcherze nicht!“ wiederholte er beſtimmt. „Morgen muß ich mich entſcheiden, muß ich das entſcheidende Wort ſprechen. Wie denkſt du alſo daruͤber?“

„Einſperren laſſ' ich dich ... du weißt, wo!” fluͤſterte ſie ſichtlich beſorgt.

Er ſprang auf, und eins der ſtuͤrmiſchſten Wortgefechte brach zwiſchen ihnen los. Bis tief in die Nacht hinein hoͤrten die Leute ſie leidenſchaftlich ſtreiten, ſchreien, ja

15*

CH: 228 CH

faft kreiſchen; dazwiſchen lachten fie, oder er fprang ums ber, und dann küßten fie fih, und fie ſchrie wieder zornig auf, und er gab Ihr Iuftig Antwort und fehlteßlich trat tiefes Grabesſchweigen ein, ein Zeichen, baß die Harmonie volltommen wieber bergeftellt war.

Wikentjew hatte offenbar den Sieg errungen einen Sieg, der übrigens ſchon vorbereitet war. Als Marfinka und Wikentjew fich vielleicht über ihre Gefühle noch im Unflaren waren, hatten die Großtante und Maria Jego⸗ rowna laͤngſt begriffen, wozu das führen wuͤrde, doch hatten ſie weder unter ſich noch den jungen Leuten gegenuͤber auch nur ein Sterbenswoͤrtchen geaͤußert. Nur ganz fuͤr ſich, in aller Stille, hatte jede von bei⸗ den die Sache uͤberlegt und genau erwogen, um ſchließlich zu dem Reſultat zu kommen, daß die Partie gar nicht ſo uͤbel waͤre.

Aber wie einmal die Beziehungen Maria Jegorownas zu ihrem Sohne beſchaffen waren, war vorauszuſehen, daß er ihre Einwilligung nicht ohne einen heißen, leidenſchaft⸗ lichen Kampf erhalten wuͤrde.

„Es kommt noch darauf an, was Tatjana Markowna ſagen wird!“ meinte Maria Jegorowna, immer noch ge⸗ reizt, wenn ſie auch ſchon halb wider Willen nachgab, als bereits der Wagen zur Fahrt nach der Stadt angeſpannt war. „Wenn fie deinen Antrag ablehnen follte, werbe ich die die Schande nie verzeihen! Hört du?“

„Mach’ dir Feine Sorgen, fie liebt mich mehr als meine leibliche Mutter.” |

„Ih liebe dich uͤberhaupt nicht, du wilder Burſche, laß mich in Ruhe!” rief fie aus und fah ihn boͤſe von ber Seite an.

Er firedte feine Hand nach ihrem Halle aus, um fie an

EEE 229 CE ©

ſich zu sieben und gu umarmen, fie holte jedoch drohend mit dem Sonnenſchirm nach Ihm aus,

„Du follft ed nur wagen! Wenn du mir den Hut zerdruͤckſt, fahre ich nicht Hin,” fügte fie hinzu.

Auf ihre Drohung hin ließ er von ihr ab.

„Hierher, in den Wagen!” rief fie Inurrend. „Von jetzt an bift du der Heiratskandidat!“

Er Hörte nicht auf fie, fondern kroch aus dem Wagen auf ben Bod, nahm dem Kutfcher die Zügel aus der Hand und ließ die Pferde ausgreifen, was das Zeug hielt.

ekekek eek ei

Siebzehntes Kapitel

aria Jegorowna hatte große Toilette gemacht: dag

ſeidene Kleid, die Spigenmantille, bie gelben Slacks handſchuhe, dazu der Fächer fie ſah fo huͤbſch und kokett aus, als fet fie felber bie Braut. Kaum hatte Tatjana Markowna die Meldung von ber Ankunft der Wikentjewa erhalten, als die alte Dame, die fie fonft immer fo fchlicht und freundfchaftlih vers gnügt empfangen hatte, plöglich einen ganz veränderten Ton und andere Manieren annahm: nah Marfinkas Geſtaͤndnis wußte fie natürlich fofort, welchen Zweck ber Befuch hatte, Sie ließ Maria Jegorowna bitten, im Salon zu warten, und ging fogleih daran, ebenfalls große Toilette gu machen. Waſſiliſſa mußte durchs Schlüffelloch guden und ihr Bericht erflatten, wie bie Befucherin angesogen fei. Tatjana Markowna legte darauf das filbern ſchimmernde, taufchende Seidenkleid und ben fürkifhen Schal anz fie verfuchte auch, die maffiven Brillantohreinge anzulegen, warf fie jeboch ärgerlich wieder In das Käftchen zuruͤck. „Es gebt nicht, die Ohrloͤcher find zugewachſen!“ fagte fie.

CHI CH

Sie ließ Marfinka und Wierotſchka fagen, fie möchten fi gleichfalls anziehen, und befahl im Vorbeigehen Waſſiliſſa, dag gute Tiſchzeug fowie das alte Silber und Kriftall zum Fruͤhſtuͤck und zum Mittageffen herauszugeben. Dem Koch wurde aufgegeben, außer einer ganzen Anzahl von Ertras gerichten noch Schokolade zu bereiten. Auch Konfeft und Champasner ließ fie Holen.

Nachdem fie noch eine ganze Anzahl Eoftbarer alter Ringe an bie Finger geftedt hatte, begab fie fih mit feterlihem Schritt in den Salon. Beim Anblid des ihr befannten, lieben Gefichtes wäre beinahe Ihre ganze feierliche Haltung in die Brüche gegangen, bach befann fie ſich noch rechts geitig und mußte ihre ernfle Miene gu bewahren. Auch Maria Jegorowna ward beim Anblid dee Sroßtante freudig bewegt und fprang raſch vom Stuhl auf, um ihr enfgegen; sugehen.

„Denken Sie fih nur, was mein Junge, biefer Duerkopf, fih wieder ausgebacht hat!.. .” begann fie lebhaft, hielt aber, als fie die Bereſchkowa fo feierlich ernft fah, ploͤtzlich inne, wurde zaghaft und fand wie im Zweifel de.

Beide verneigten fich geremontell; Tatjana Markowna bat ihren Gaſt, auf dem Diwan Plab gu nehmen, und fette fih daneben.

„Wie iſt denn heute das Wetter?” fragte Tatjana Mars fowna, die Lippen verziehend. „Ed war wohl anf ber Wolga fehr windig ?”

„O, durchaus nicht, es war fehr ruhig.”

„Haben Ste die Fähre benutzt?“

„Nein, wie find in einem Boote gerudert. Nur ben Wagen bat die Fähre herübergebracht.”

„Da fallt mir ein... Jakow, Jegorka, Petruſchka, iſt denn niemand da? Man kann ſich heiſer ſchreien, und kein Menſch

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geigt ſich!“ fagte die Bereſchkowa, als die drei Gerufenen gu gleicher Zeit ind Zimmer flärzten. „Spannt die Pferde vom Wagen Maria Jegorownas aus, gebt ihnen Hafer und bemwirtet ben Kutfcher!”

Ale drei flürgten davon, um ben Befehl ausführen, obs fhon die Pferde Iängft ausgefpannt waren und der Wagen bereit8 im Schuppen fand, während ber Kutfcher in ber Leuteſtube bei einer Flaſche Bier feine Späße zum beften gab.

„Nein, nein, nicht bach, nicht Doch, Tatjana Markowna,“ fagte die Wikentjewa „ich bin nur auf ein halbes Ständs hen hergefommen, Halten Sie mich um Gottes willen nicht auf ih wollte nur eine Angelegenheit befprechen .. .” „Wer wird Gie denn fortlaffen?” fagte Tatjana Mars kowna in einem Tone, der feinen Widerfpruch litt. „Wenn Sie hier aus der Nachbarfchaft wären, dann wuͤrde ich nichts fagen aber nun kommen Sie von jenſeits der Wolga! Iſt unfere Bekanntſchaft vielleicht erſt vom geftern ? ... Oder wollen Sie mich beleidigen?.. .”

„Ad, Tatjana Markowna, ich bin Ihnen fo dankbar, fo dankbar! Gie find beſſer ald eine Verwandte und meinen Nifolaj haben Sie fo verwöhnt, daß dieſes Buͤrſch⸗ chen mir heute plöglich unterwegs eine Pille zu fchluden gab: ‚Tatjana Markomna liebt mich mehr als meine leibs fihe Mutter!” fagte er. Sch wollte ihn bei den Ohren nehmen, aber er rüdte mir auf den Bod aus und hat den ganzen Weg die Pferde fo gehetzt, daß ich vor Angſt nur fo zitterte.“

Alle Seierlichkeit war wieder von Tatjana Markownas Ges fihte verflogen.

„Es fiimmt auch beinahe, was er da gefagt hat,” verfeßte fie „er geht doch bei: mir aus und ein, ald wenn er gu

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uns gehörte! Einen prächtigen Sohn hat Ihnen Gott geſchenkt...“ „Ich bitte Sie ber Menſch bringt mich rein um, feine Minute leben wir, ohne daß es Zank und Streit gibt...” „Was fich liebt, das neckt fih eben!” „Sie haben ihn viel zu fehr verwöhnt, Tatjana Martonna, und nun hat er fich gar in den Kopf geſetzt ...“ Maria Jegorowna blieb in ihrer Rebe fteden, begann vers legen mit dem Fuße zu foharren und an ihrer Mantille zu zupfen. Tatjana Markowna ſtreckte fich plöglich kerzen⸗ gerade in die Höhe und fette wieder ihre feierliche Miene

„Bas ?" fragte fie mit erheuchelter Gleichguͤltigkeit. „Heiraten will ee denken Sie ih! Erwuͤrgt hat er mich geftern beinahe darum! Auf dem Teppich hat er fih ges wälst, meine Füße umfaßt... Sch hab’ ihm gehörig Beſcheid gejagt, aber er ſtuͤrzt fih auf mich und verfchließt mir den Mund mit Käffen, und lacht und weint...“ „Mm was handelt es fich denn?” fragte die Bereſchkowa geremoniell, ohne auf diefe Details gu achten.

„Er bittet und fleht, ich folle zu Ahnen fahren, folle Sie um die Hand Marfa Waſſiljewnas bitten...” beendete Maria Jegorowna verwirrt ihre Rebe.

Tatjana Markowna verneigte fich leicht, mit einer Affektierts heit, die ihr gar nicht gu Geſichte ſtand.

„Was ſoll ich Ihm num fagen ?” verfegte Die Wikentjewa. „Die Sache iſt von einer ſolchen Wichtigkeit, Maria Jego⸗ rowna,“ fagte Tatjana Markowna, nachdem fie ein Weilchen nachgedacht hatte, in wuͤrdevollem Tone, während fie zu⸗ gleih die Augen zu Boden ſchlug „daß ich jetzt gleich keine Entfcheidung treffen kann. Ich muß erft überlegen und auch mit Marfinfa fprechen. Meine Mädchen find

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zwar gewöhnt, mie zu gehorchen, doch möchte ich ihnen auch feinen Zwang antun...”

„Marfa Waſſiljewna bat eingewilligt: fie liebt meinen Nikolenjka...“

Maris Jegorowna haͤtte mit dieſen Worten bie Sache ihres Sohnes faſt verdorben.

„Woher weiß er denn das?“ fragte Tatjana Markowna ploͤtzlich auffahrend. „Wer hat ihm denn das geſagt?“ „Er bat ſich wohl Marfa Waſſiljewna gegenuͤber erklaͤrt...“ murmelte die Wikentjewa verwirrt.

„So und dafuͤr, daß Marfinka ihm auf ſeine Erklaͤrung Antwort gegeben hat, ſitzt ſie jetzt eingeſchloſſen in ihrem Zimmer, im bloßen Unterrock, ohne Schuhe!“ log die Großtante, um ber Sache einen beſonders wichtigen Aus ftrich zu geben. „Und damit Ahr Sohn dem armen Mäds chen nicht noch mehr den Kopf verdreht, habe ich verboten, daß man ihn Ins Haus laffe!” Iog fie, um ber Sache vollends die Krone aufzufegen, lehnte fih dann im Diwan zuruͤck und fah mit firengem Blick auf Die Beſucherin. Diefe fuhr erregt von ihrem Sig empor,

„Wenn ich vorausgefehen hätte,” fagte fie im Tone tieffter Kraͤnkung, „baß er mi In eine fo unangenehme Sache hineinziehen würde, dann würde ich ihm anders geants wortet haben. Aber er gab mir die heiligfte Verficherung umd auch Ich felbft war big zu diefem Augenblide feft davon überzeugt daß Ste ihm wie auch mir wohl ges - wogen feien. Verzeihen Ste, Tatjana Markowna, befreien Sie Marfa Waſſiljewna nur raſch aus ihrer Haft... bie Schuld an allem trägt einzig mein Sohn, er allein verdient Strafe... Und nun leben Sie wohl, entſchuldigen Sie vielmals ... Wielleicht Haben Sie die Güte, zu Befehlen, daß mein Wagen vorfährt. . .“

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Sie wollte fchon felbft nach dem Klingelgug greifen, aber Tatjana Marfowna hielt fie bei ber Hand feft.

„Ihre Pferde find ausgefpannt, Ihren Kutfcher haben meine Leute wahrfcheinlich ſchon tüchtig betrunfen gemacht, und Sie, meine liebe Maria Jegorowna, Bleiben heute, und morgen, und die ganze Woche bei mir...”

„Uber ich bitte Sie, nach dem, was Sie foeben gefagt haben, bei dem Zorn, den fie gegen Marfa Waffilfemna und gegen meinen Kolja hegen? Er verbient in der Tat eine Strafe... ich begreife das...” |

Aller Ernſt und alle Feierlichkeit wich plößfih von Tat; jana Markownas Gefichte. Die Runzeln in biefem glätteten fih, und Freude firahlte aus ihren Augen. Ste warf ben Schal und bie Haube auf den Diwan.

„Ich halt's nicht aus fo heiß iſt's! Entichuldigen Sie mich nur, mein liebes Herz, legen Sie die Mantille ab fo! und auch den Hut! Eine folde Hige, wie? Nun... und jegt wollen wir die beiden abftrafen, nicht wahr, Maria Jegorowna: wir wollen fie sufammengeben, und ich werde noch einen Großneffen mehr haben, und Sie eine Tochter. Umarmen Sie mich, meine Liebe, Gute! Ach wollte ja nur ben alten Brauch wahren. Aber fie fcheinen eben nicht Aberall angebracht, diefe alten Bräuche! Ich wollte über ihrer Moral wachen, und ich habe fogar ein fehr belehrendeg, erbaulihes Buch zu Hilfe genommen: eine ganze Woche haben mir gelefen und gelefen, und wie wir’ eben aus⸗ gelefen hatten, haben fie diefelbe Sache, die in dem Buche geſchildert wird, praftifch im Garten ausgeprobt!... Das war der Erfolg meiner Morallehren! Und was’ follen ſchließlich zwiſchen uns alle fteifen Werbungen und Zeres monien! Wir wußten doch beide, wohinaus bie Reiſe geht, und wenn wir's nicht gewollt hatten ja, dann

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hätten wir’# eben nicht leiden duͤrfen, daß fie hingehen und die Nachtigall fingen hören.“

„Ach, wie konnten Sie mir nur eine folche Angſt einjagen, Tatjana Markowna nein, fi fo gu verfündigen I” fagte die Befucherin, während fie die Alte umarmte.

„Ja, Ste haben recht: nicht Ihnen, fondern ihm hätte ich einen Schred einjagen follen!” verfegte Tatjana Mars kowna. „Seien Ste mir nicht boͤſe Nikolaj Andrei aber foll von mir noch feine Strafpredigt hören. Ich will ihm einen Schred einjagen aber ſchweigen Sie, Bitte! Nein, diefer ducchtriebene Junge!” „3a, ta Ich werde Ihnen dafuͤr dankbar fein! Ich wäre ja um nichts in der Welt ſchon fo bald zu Ihnen gelommen, wenn er mich geſtern nicht durch die Mitteilung Angftlich gemacht hätte, daß er ſchon mit Marfa Waſſiljewna ges fprochen babe. Ich weiß, wie fehr fie Sie liebt und ihnen gehorcht und dabei iſt fie doch noch das reine Kind. Ich hatte das Gefühl, daß da etwas nicht geheuer mar. Was mag er ihre nur vorgeſchwatzt haben?“ dachte ich bie ganze Nacht und konnte vor Angft nicht einfchlafen. Ich wußte nicht, wie ich Ihnen unter die Augen treten ſollte ... Bon ihm war nichts herauszubekommen. Er huͤpft und fpringt nur im Zimmer herum, wie Duedfilber. Ich babe, offen gefagt, eigentlich nur eingemilligt, damit er mid endlich in Ruhe läßt und nicht laͤnger quält; fpäter, dachte ich, werde ich Ihm fehon eins auswifchen und mein Wort zuruͤknehmen. Ich wollte Ste fogar bitten, ihm einen Korb zu geben, damit es fo ausſieht, als ob nicht Ich, fons dern Ste dagegen ſeien ... Ste glauben nicht, wie er mir zugeſetzt hat ganz zerzauſt und abgehegt hat er mid! Das war ein Gefchrei bei ung, ein Laͤrm ach du lieber ‚Gott, ich bin wirffich gefteaft durch dieſen Menfchen !”

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„Auch ich Habe nicht gefchlafen. Meine Heine Duckmaͤuſerin kommt mitten in der Nacht gu mir ins Zimmer gefchlichen, am ganzen Leibe zitternd, und ſtammelt: ‚Werzeihung, Tantchen, Verzeibung was ich angerichtet habe, ein Unglüd iſt gefchehen!‘ Ich bekam einen Heidenfchred und wußte nicht, was ich denken follte... Und nun begann fie gu ersählen, kaum daß fie eg herausbrachte fünfmal wohl mußte fie anfegen, Big fie Damit fertig war.”

„Was gab’8 denn eigentlich zwifchen ihnen? Was bat ihre denn mein Junge eigentlich vorgeredet?“

Tatjana Markowna winkte lächelnd mit ber Hand ab. „Ad, eins ift ja wie das andere fie iſt nicht beffer als er. Wie bie Tauben!”

Tatjana Markowna ſchilderte die Szene buchftäblich fo, wie Marfinka fie ihr befchrieben hatte, und beide lachten durch Tränen.

„Ih babe es mir längft gedacht, baß die zwei ein Paar werden, Maria Jegorowna,“ fagte bie Bereſchkowa. „Jh fürchtete nur Immer, daß fie beide viel gu jung find. Aber wenn ich mir fie fo genauer betrachte und bie Sache übers lege, dann muß ich mir fagen, daß fie nie anders fein werden.”

„Mit ben Jahren kommt ja auch der Verftand, die Sorgen werben nicht ausbleiben, fie werben reif werben,” bemerkte Maria Jegorowna. „Ste find doch eben erſt vor unfern Augen groß geworben, woher hätten fie ben Verſtand und die Erfahrung haben follen? Sie haben ja noch gar nicht gelebt I”

Wilentiew hatte inzwifchen noch immer nicht gewagt, ing Zimmer gu fommen, fondern war im Garten geblieben und wartete dort, ob feine Mutter nicht aus dem Fenſter biiden würde. Hinter den Buͤſchen verborgen, ſteckte er

IMA 238 GC ſpaͤhend den Kopf hervor, Doch blieb im Hanfe noch alles fill.

Seine Mutter und bie Großtante waren inzwiſchen ſchon hundert Werft in bie Zukunft vorausgeeilt. Zunächft hatten fie, nur ganz beiläufig, die Frage ber Mitgift erledigt, und dann waren fie auf die Zukunft der beiden jungen Leute eingegangen, wo und mie fie leben follten, ob ber junge Mann im Staatsbienft bleiben follte, und wie fie fich fonft einzurichten hätten: im Winter follten fie in der Stadt und im Sommer auf dem Lande wohnen, fo wollte es Tatjana Markowna haben, und um keinen Preis mochte fie auf Maria Jegorownas Vorſchlaͤge eingehen, bie fie nah Moskau, nach Petersburg und fogar ins Ausland reifen laſſen wollte.

„Ste wollen mir die Kinder verderben,” fagte fie. „Nichts als allerhand neue Liederlichkeiten würden fie Dort lernen . . » Nein, laffen Sie mich nur erſt ind Grab ſteigen! Ich laſſe Marfinka nicht eher fort, ale big fie eine richtige Haus⸗ frau und Mutter geworden iſt!“

Unter ſolchen Gefprächen waren fie fchon beinahe bis zum dritten Kinde gefommen, ald Maria Jegorowna ploͤtzlich bemerfte, wie hinter dem Gebüfh ein Kopf immer abs wechfelnd herausgudte und verfchwand. Sie erkannte ihren Sohn und machte Tatjana Markowna auf ihn aufmerffam. Beide riefen ihn herein, und er entfchloß fih, dem Rufe zu folgen, machte fich jedoch noch eine ganze Weile im Vorzimmer zu fchaffen, ald puge und fäubere er fich. „Darf ich bitten, Nikolaj Andreltſch!“ begrüßte Tatjana Markowna ihn fpöttifch, während auch die Mutter ihn mir: ironiſchem Blicke maß.

Er ſah raſch erſt auf die eine und dann auf die andere der beiden Damen und fuhr ſich mit der Hand durchs Haar.

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„Mein Kompliment, Tatjana Markowna,“ ſagte er und trat näher, um ihr die Hand zu kuͤſſen. „Ich habe Ihnen Konzerte zum Billet mitgebracht...” fagte er in raſcher Rede.

„Was ſchwatzt du? So überleg’ doch, was du ſagſt...“ fiel die Mutter ihm Ins Wort.

„Richt doch Billets zum Konzert, meinte ich, gu einer Wohltaͤtigkeitsveranſtaltung. Ich habe auch für Sie eins genommen, Mamachen und für Wiera Waſſiljewna, für Marfa Waſſiljewna, für Boris Pawlytſch... Ein großs artiges Konzert bie erſte Moskauer Sängerin wird auf; treten, .. .”

. u Was follen wir im Konzert?” fagte die Großtante und warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Wir haben hier fo viel Nachtigallen im Hain, die fingen fo wunderfhön. Die. wollen wir uns anhören und fparen dabei unfer Geld.” Maria Jegorowna big ſich auf die Lippen, um ihr Lachen su verhalten. Wikentjew warb erft verlegen, dann lachte er heil Heraus, und dann fprang er auf.

„Ich muß jet nach der Kanzlei gehen,” fagte er, doch Tats jona Markowna hielt ihn zuruͤck.

„Setzen Sie fih, Nikolaj Andreitfh, und hören Sie, was ih Ihnen zu fagen habe,” begann fie mit ernfier Miene. Er ſah, daß ein Gewitter fich über feinem Kopfe zuſammen⸗ zog, und er begann unruhig hin und ber zu fligen und: wußte nicht, wie er es abwenden follte. Er fette fich, zog die Beine an und legte feierlich feinen Hut auf den Schoß, um dann plöglih aufjufpringen, nach dem Kenfter gu laufen und ſich faſt bis an die Knie hinauszulehnen. „So fiß’ doch fill, wenn Tatjana Markowna mit die reden will!” fagte die Mutter.

„Sagen Ste einmal: macht Ihr Gewiſſen Ihnen feine.

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Borwhrfe?” begann bie Bereſchkowa ihm zuzuſetzen. „Wie haben Sie mein Vertrauen gemißbraudt! Und babe wagen Sie noch zu behaupten, daß Ste mich lieben, und Daß auch ich Sie liebe wie einen Sohn! ft dies das Benehmen eines guten Sohnes? Ih habe Sie für bes fheiden und geborfam gehalten, ich glaubte ficher zu fein, daß Sie mein armes Mädchen nicht vom rechten Wege abbringen, ihm keine Dummheiten vorreben würden ...” Sie hielt in ihrer Strafpredigt inne. Er blidte bäfter zu feiner Mutter binäber.

recht!“ ſagte dieſe „bu haſt es nicht beſſer ver d 4

„Tatjana Markowna, ih habe heute noch nicht gefruͤhſtuͤckt baden Sie nichts zu eflen da?” bat er ploͤtzlich. Ich bin fo hungrig ...“

„Run feh’ einer diefen fhlauen Fuchs!” fagte die Bereſch⸗ kowa, gu feiner Mutter gewandt. „Er kennt meine ſchwache Seite ganz genau! Und wir haben ihn für ein Kind ger halten! Nun, aber diesmal iſt's ihm nicht gelungen, wenn er fih mir auch als Bräutigam meiner Nichte refommans diert!“

Wikentjew drehte feinen Hut mit dem Deckel nach oben und begann darauf mit ben Fingern gu trommeln. „Laffen Sie Ihren Hut in Ruhe, er ift an allem unfchuldig. Sagen Sie lieber: wie famen Sie auf den Einfall, daß man Ihnen Marfinka zur Frau geben würde?”

Die Farbe wich plöglich von feinem Geſichte mit ſchmerz⸗ licher Beſtuͤrzung fah er zuerfl auf Tatjana Markowna und dann auf feine Mutter. „Hören Sie, treiben Sie feinen Scherz mit mir,” fagte er unruhig. „Wenn dies ein Schers fein foll, fo ift e8 ein graufamer Scherz. Scherzen Sie, Tatjana Markowna oder ſcherzen Sie nicht?“

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„Run was glauben Sie?”

„Ich glaube, daß Sie fiherzen: Sie haben ein gutes Herj, nicht fo wie...

Er fah auf feine Mutter.

„Hören Sie nur, Tatjana Markowna, diefes Bürfchehen !” „Rein, ich fage es nicht im Scherz, mein Lieber, daß Sie nicht recht gehandelt haben, als Sie mit Marfinka fprachen und nicht mit mir. Sie ift ein Kind, und fie würde Ihnen ohne mein Wiſſen und meine Einwilligung doch nichts fagen. Und wenn ich nun nicht einwilligte?“

„Sie haben alfo eingewilligt ?” fagte er, ploͤtzlich aufs fpringend.

„Wart’, wart” bleib fißen, bleib fißen!” fchrien beide auf ihn los.

„Bel einer andern wäre bein Verhalten vielleicht angebracht gewefen, bei ihr aber nicht,“ fuhr Tatjana Markowna fort. „Du bätteft erft einmal ganz leife bei mie anflopfen follen, mein Verehrter, und ich hätte e8 dann, weit beſſer als du, aus ihr herausbekommen, ob fie dich Tiebt oder nicht. Und du fallft gleich mit der Tür ins Haus!”

„Bei Gott, e8 Fam fo plötlih... Tatjana Markowna...“ „Rufen Ste doch bloß Gott nicht zum engen an, ich kann das nicht hören...”

„An allem iſt bie verdammte Nachtigall fchuld ...“

„Ss jeßt tft fie auf einmal verdammt, und geftern konnte er fie nicht genug preifen !”

„Fiel mie gar nicht ein, nicht in den Sinn iſt eg mir ge; fommen bei Gott. ..! Laſſen Sie mich nun auch etwas zu meiner Berteidigung fagen,” ſprach Wifentiem haſtig, fuhr fih mit den Händen durchs Haar und fah beiden fed in die Augen, „Ste wünfchen, daß ich mich wie ein töohlergogener, gehorfamer Knabe benehme, daß ich zu⸗

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snze 7 | Zune)

nähft mal zu die fahre, liebes Mamaden, unb bi um deinen Segen bitte, daß ih dann mich an Sie wende, Tatjana Markowna, und Sie bitte, die Dolmetfcherin meiner Gefühle zu fein, daß ih dann durch Ihre Vers mittelung das Jawort erhalte, vor Zeugen das Liebes; geftändnis meiner Auserwählten dernehme und ihr mit einem bummen Gefichte die Hand kuͤſſe und daß wir dann beide, ohne daß wir wagen, einen Blid miteinander zu wechfeln, mit Erlaubnis ber geehrten Erwachfenen eine Komddie aufführen ja, iſt denn das noch ‚Släd zu nennen ?”

„Rah deiner Meinung iſt's alfo richtiger und fchöner, mitten in dunkler Nacht im Garten dem jungen Mädchen etwas ind Ohr zu fläflern?..." unterbrach ihn bie Mutter.

„Sewiß ift das ſchoͤner, Mama, dent doch an beine jungen Sahrel...”

„Run hört doch nein, fo etwas!” fehrlen beide auf ihn los. „Was fällt bie denn ein, Junge? Woher haft bu da8? Hat die dag auch die Nachtigall zugeflüftere ?“ „Isa, auch das hat ung die Nachtigall erzählt alles hat fie ung erzähle, und folange wir beide, ich und Marfa Waſſiljewna, am Leben bleiben, werben wir dieſe Nachtis gall, diefen Abend, diefes Flüftern im Garten und ihre Tränen nicht vergefien. Das iſt das wahre Gluͤch es if der erfte und der fchönfte Schritt auf feinem Wege, und ih danke Gott dafür und danke euch beiden, die, Mutter, und Ahnen, mein liebes Tantchen, daß ihr ung euren Segen dazu gegeben habt... Ihr denkt ja auch beide ganz genau fo wie Ich und wollt es nur fo, aus Troß, nicht zugeben, und das ift nicht ehrlich gehandelt... .“

Er war faft den Tränen nahe vor innerer Erregung.

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„Und wenn das Ganze fih noch einmal wiederholen follte, fo würde ich wieder damit anfangen, daß ich Marfinta in den Garten rufe...” fügte er hinzu. Tatjana Markowna ſchloß ihn gerührt in ihre Arme. „Gott wird dir verzeihen, mein guter, lieber Neffe! Ja, ja, du haft recht mit dir durfte Marfinka fchon der Nachti⸗ gall Taufchen, nur mit dir, aber mit feinem andern! ...” Wikentjew kniete vor ihr nieder.

„zantchen, mein liebes, herziges Tantchen!“ rief er. „Sieh doch, nun nennt er mich ſchon Tantchen: iſt dag nicht zu früh? Schickt fih dag Heiraten überhaupt ſchon für dich? So wart’ Doch noch zwei, drei Jahre, bis du ges reifter biſt!“

„Nimm erft noch Vernunft an, laß deine Iofen Streiche * mahnte auch die Mutter. „Wenn ihr beide nicht einwilligt,“ ſagte er „dann... .” „Bas dann?” . „Dann geh’ ich noch heute auf und davon, trete bei den Hufaren ein, made Schulden über Schulden und vers bummle ganz und gar |”

„Run hört doch! Er droht ung no! I” fagte Tatjana Markowna.

junger Herr, ich geſtatte Ihnen keine ſolchen Ked⸗ heiten!“ „Geben Sie mir Marfa Waſſiljewna, und ich werde ſtiller ſein als das Waſſer im See, beſcheidener als das Gras auf der Wieſe, ich werde fo folgſam fein... nicht einmal ein Haͤppchen eflen werde ich ohne Ihre Erlaubnis...” „Wirklich ?“

„a, ja ze bei Gott!...” „Dann gewöhnen Sie fih nur noch dieſes Bin ‚dei Gott! ab, fonft...”

16*

CHE 244 SE .. .. .. ..

Er ergriff die Hand ber Großtante und begann fie ſchaftlich zu kuͤſſen.

„Und nun möchten Sie etwas zum Fruͤhſtuͤd ae: nicht ?” fagte Tatjana Markowna.

„Rein, jett ift mir aller Hunger vergangen!”

„Bas meinen Sie, Maria Jegorowna follen wir ihm Marfinta geben ?“

„Berbient bat er's ficher nicht, Tatjana Markowna jeden, falls iſt es noch gu früh. Vielleicht in gwei Jahren . . .” Er flärste gu feiner Mutter bin und verfhloß ihr ben Mund mit einem Kuffe. „Da fehen Sie, was für einen Wildfang Sie in Ihre Haus aufnehmen wollen!” fagte bie Mutter und ſtieß ihn fort, „Bei mir wird er das nicht wagen, ich würde mit ibm fon fertig werden fomm einmal ber...“ Er ging zu Tatjana Markowna hin, und fie feguete Ihn und kuͤßte ihn auf die Stirm. „uch!“ rief er aus und ließ fih auf einen Seſſel finten. „Habt ihe beide mir zugeſetzt: mich fo gu qudlen... ganz von Kräften bin ich!“ „Du mußt eben in Zukunft verfändiger fein,”

„Wo iſt denn Marfa Wafliljemna?... Ih will fie holen...” „Salt, nur Sebuld!... Meine Mädchen find Feine folche wilden Hummeln!” fagte die Tante.

„Ah, Geduld ewig nur Geduld!”

„sa, jetzt heißt ed gebuldig fein: jest if’ aus mit bem Umberfpringen und Umberlaufen, du bift fein Knabe mehr, und fie iſt fein Kind. Du fagteft doch felbft, die Nachtigall habe e8 euch verkuͤndigt, baß ihr beide reif geworben ſeid dann zeig’ Doch auch, daß du ein geſetzter Mann biſt!“

DER 245 GEF

Er ward ein wenig verwirrt durch biefe zutreffende Bes merkung und blieb befcheiden abmwartend im Salon, wähs rend Marfinka geholt wurde.

„Am feinen Preis! Gott foll mich behuͤten!“ Tautete die Antwort, die Marfinka ſowohl Marina wie auch Waſſiliſſa gab. J | | Endlich ging die Großtante felbft mit Maria Jegorowna nach ihrem Zimmer, um ſie zu holen. Sie entdeckten ſie hinter den Vorhaͤngen ihres Betts, ganz im Winkel unter den Heiligenbildern, und fuͤhrten ſie heraus noch nicht an⸗ gezogen, mit fenerrotem Geſicht, das ſie mit den Haͤnden zu bedecken ſuchte.

Beide begannen ſie zu kuͤſſen und ſuchten ſie zu beruhigen. Sie weigerte ſich jedoch ganz entfhieden, am Brühftüdss tiſch oder beim Mittageffen gu erfcheinen, wenn nicht alle miteinander vorher nach ihrem Zimmer kaͤmen und fie der Reihe nach begluͤckwuͤnſchten. Auch den Gratulanten aus der Stadt, wo die Nachricht von ihrer Verlobung ſich fehr raſch herumgefprochen hatte, wollte fie fich um feinen Preis zeigen. |

Wiera hörte es mit ruhiger Freude an, ald die Großtante ihr die frohe Nachricht brachte. |

„Ih habe es fchon lange erwartet,” ſagte fie.

„Wenn nun Gott mir noch die Gnade ſchenkt, daß ich auch dich untergebracht weiß...” begann Tatjana Markowna mit einem Seufzer, doch Wiera fiel Ihe fogleich Ind Wort. „Zantchen!” fagte fie Haftig, mit bebender Stimme „um Gottes willen, wenn Ste mich fo lieben, wie ich Sie liebe dann wenden Sie alle Ihre Fuͤrſorge Marfinka zu! Machen Sie ſich um mich feine Sorge...”

„Liebe ich dich vielleicht weniger als fie? Mein Herz bangt im Gegenteil noch viel mehr um dih...” .

#3 246 CH

„I weiß es, und das eben quält mich fo ſehr . .” fagte Wiera faft verzweifelt. „Es Site mich, Tanthen, wenn Ihr Herz um mich bangt.. .”

„Was redeft du dba, Wierotfchla? Go komm doch zur Des ſinnung!...“

„Ih rede nicht im Scherz, Tantchen es tötet mich!” „3a wie denn, was denn? Was birgf du in beimem Herzen ?” fagte die Großtante, gleichfalls in faft verzweifel⸗ tem Tone. „Hälft du mich nicht für befähigt genug, oder bin ich die gu herzlos, Daß du vielleicht meinft, Ich koͤnnte dein Stüd oder Ungluͤck... nicht begreifen ? ...“ „Mein Gluͤck und mein Ungläd ift nicht von der Art wie basienige Marfinkas, Tantchen. Sie find auch wicht herz⸗ (098, fondern ‚gut und Aug... laffen Sie mir nur meine Freiheit! ...“

„So beruhige mich wenigſtens: fag’ mie, was iſt dir?....”

„Nichts, Tantchen, gar nichts nur bemäßen Sie ſich nicht, mich unter die Haube gu bringen...

„Du bift fo ſtolz, Wjera!“ fagte bie Sroftante bitter. „Ja, Tantchen, das kann fein aber was foll ich dagegen tun?”

„Nicht Gott iſt's, der diefen Stolz in bein Herz gelegt hat!”

Miera antwortete nicht, litt jedoch fichtlich darunter, daß

fie die Großtante nicht in das, was ihr Herz bewegte, eins weihen konnte. Eine qualvolle Unruhe kam in Ihrem Weſen sum Ausdrud,

„Laß mich in deine Seele bliden ich werde dich verſtehen

und dir vielleicht auch Erleichterung ſchaffen Eönnen, wenn

ein Sram dich dradt.. .”

„Sobald er mich heimſucht und Ih ihn nicht allein bes wältigen kann ... dann wende ich mich an Sie, Tantıhen,. an niemand fonft... außer noch an Gott! Quaͤlen Sie

CH} 247 CH

mich jetzt nicht, quälen Ste auch fich felhft nicht... . Sehen Sie mir nicht nach, ſpaͤhen Sie nicht hinter mir her. . .“ „Wied e8 nicht zu ſpaͤt fein, wenn der Sram ſchon da iſt?..“ flüfterte die Sroßtante. „Wohlen denn,” fügte fie laut hin⸗ zu „beruhige dich, mein Kind! Ich weiß, daß du nicht Marfinka bift, und werde dich nicht belaͤſtigen.“

Sie kuͤßte fie fenfjend und verließ rafch, mit geſenktem Kopfe, dag Zimmer. Es war die einzige bunfle Wolke, die ihre Freude beichattete, und fie betete voll Inbrunſt, daß fie voruͤberziehen und fich nicht in einem Unwetter entladen möchte, Wiera sing lange Zeit erregt im Garten auf und ab und beruhigte fich erft allmählich. In einer Laube fah fie Mars finfa und Wikentjew fiten und ging rafch zu ihnen. Sie hatte mit Marfinka noch nicht ein Wort geſprochen, feit fie am Morgen die Nachricht von ihrer Verlobung gehoͤrt hatte.

Sie ging zu ihr hin, ſah ihr tief und zärtlich in die Augen und tüßte fie dann lange auf die Augen, bie Lippen, bie Wangen. Gie ließ ihren Kopf wie den eines Kindes auf ihrem Arme ruhen, ſchwelgte entzädt in ihrer reinen, jugend⸗ feifhen Schönhelt und preßte fie leidenſchaftlich an fich. „Du verbienft es, gluͤcklich zu fein!” fagte fie, und plößlich, nur für wenige Augenblide, blinkten Tränen in ihren Augen.

„Ste wird auch glädlich fein!” verfegte Wikentjew.

„Du wirft noch slüdlicher fein als ich, Wierotfchla!” vers fegte Marfinka errötend. „Sieh doch: du biſt fo ſchoͤn und fo Hug wir find beide gar nicht wie Schweflern! Hier findeft du überhaupt feinen, der dich verdiente. Nicht wahr, Nikolaj Andrejewitſch?“

Wiera druͤckte ihr ſchweigend die Hand.

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„Wiffen Sie auch, Nikolaj Andrejewitſch, wer fie iſt?“ fragte Wjera, auf Marfinka jeigend.

„Ein Engel!” antwortete er unverzüglich, wie ein tüchtiger Soldat in der Inſtruktionsſtunde.

„Ein fchöner Engel!” meinte Marfinta lächelnd.

„Ich dachte an etwas anderes,” fagte Wiera und zeigte sach einem Schmetterling, ber eine Blüte umgaukelte. „Ses ben Sie den Falter da faflen Sie ihn zu derb an, dann ftreifen Sie den Staub von feinen Fluͤgeln ab, verlegen vielleicht gar einen Flügel. Hüten Sie fie! Hätfcheln, lieb⸗ koſen, ftreicheln Ste fie aber Gott verhüte eg, baß Sie fie verlegen! Wenn Ste Luft verfpären, jemandem einen Flügel auszureißen, Dann kommen Sie gu mie ich werbe Sie ſchon lehren!...“ ſchloß fie und drohte an ſchalkhaft mit dem Finger.

RER SENSE SEN ARE

Achtzehntes Kapitel

N% Tage nach dem frohen Ereignis kehrte die frühere Drbnung im Hanfe wieber zuruͤck. Wikentjews Mutter war auf ihe Gut zuruͤckgekehrt, und ber junge Wilentiew war num täglicher Saft im Haufe und wurde faft ganz als Samilienmitglied behandelt. Weber er noch Marfinfa hüpften jest noch umber. Beide waren zurüdhaltend und disputierten zumeilen nur etwas lebhaft, oder fangen, ober lafen zuſammen. De

Es beftand zwiſchen ihnen jedoch kein fentimentaler, poetis ſcher Gefühlsaustaufh, Fein feingelftiiger, erlefener. Ges dankenverkehr mit feiner ewigen Abwechslung, feinem bunten Phantafiefpiel Kurz, es fehlten jene. köftlichen, unerfchöpflichen geiftigen Genüffe, wie die Liebe fie nur ent⸗ widelten Menfchen zuteil werben läßt.

Auch. der Geift der Analyſe blieb ihren Herzensbeziehungen fern. Ihren Bedarf an geiſtiger Anregung entnahmen ſie den Erzaͤhlungen, die ſie gemeinſam laſen, den Neuig⸗ keiten, die aus der Reſidenz zu ihnen drangen, und den fluͤchtigen Eindruͤcken, die die ſie umgebende Natur und Menſchenwelt auf fie ausuͤbten.

Eine friſche, unmittelbare, unverhuͤllte Poeſie ſprudelte

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wie ein lebendiger Duell in der jugenbliden Unverborbens heit ihrer jungen, reinen Herzen.

Keine Ferne Iodte fie, fein Nebel, keine Raͤtſel waren für fie vorhanden. Klar und einfach lag die beiden gemein, fame Perfpektive vor ihnen. Nur eng war der Horizont ihrer Beobachtungen und Gefühle.

Marfinka hielt fich die Ohren gu oder ging aus dem Zimmer, fobald Wikentjew in feinen Gefühlsäußerungen über bie Grenzen der gewohnten Ausdrudsmeile hHinausging und von ber Liebe im Stil der Romane und Novellen fprach.

Ihr Verkehr trug den Stempel der Einfachheit und Natuͤr⸗ fichleit, wie die Natur fie vorfchrieb, und wie fie auch der fauteren Moral ber Großtante entfprach. Nicht einen Kuß gab ihm Marfinta bis zum Tage der Hochzeit, nicht eine Zärtlichkeit mehr durfte er fich gegen früher erlauben, und wenn er ihr einen Kuß ftahl, fo betrachtete fie dag als eine Vermeſſenheit und drohte ihm, fofort wegzugehen ober es Tantchen zu fagen.

Dabei überließ fie ihm jedoch unbewußt ihren Arm, went er ihn einfach ohne meitere verliebte Praͤludien nahm, ja fie hing fih ſogar ſelbſt in den feinen, ftäßte ſich vertrau⸗ ih auf feine Schulter, Tieß fih von Ihm über eine Pfuͤtze tragen und fuhr ihm fogar koſend mit ber Hand buche Haar, oder nahm Kamm und Bürfte, trat ganz nahe an ihn heran, daß Ihre Köpfe fich beruͤhrten, kaͤmmte ihn, machte ihm einen Scheitel und falbte fein Haar gelegentlich auch mit Pomade ein.

Sobald er fie jedoch bei einer folchen Gelegenheit um bie Taille faßte, oder fie füßte, dann wurde fie rot, warf ben Kamm gegen Ihn und sing fort.

Die Hochzeit war aus irgendwelchen wirtſchaftlichen Er⸗ waͤgungen von Tatjana Markowna auf den Herbſt ver⸗

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legt worden, und im Haufe begann man nun mit ber Herrichtung der Ausflattung. Aus den Vorratskammern wurden bie alten Spigen hervorgeholt, das alte Familien⸗ flber wurde herausgeſucht, die Goldſachen, die Perlen und Brillanten, das koſtbare Geſchirr, das Pelzwerk, die Waͤſche und fonfligen Wertdinge in zwei gleiche Zeile geteilt.

Mit der Afkuratefle eines Juweliers beſtimmte Tatjana Markowna die Karate und Lote, wog die Perlen und zog Jumeliere, Goldarbeiter und ſonſtige Fachleute zur Des gutachtung heran. | „Sieh her, Wijerotſchka das gehoͤrt dir, und das hier Marfinka. Nicht eine Schnur Perlen, nicht ein Karat Gold ſoll die eine mehr haben als die andere. Seht beide her!“

Doch Wiera ſah nicht hin. Sie ſchob den für fie beſtimmten Haufen von Perlen und Brillanten mit Marfinfas Haufen sufammen und erflärte, daß fie nur ganz wenig von dem Zeng brauche. Die Großtante wurde boͤſe und begann alles von neuem herauszuſuchen und zu teilen,

Raiſki Hatte fich von feinem ehemaligen Vormund die von feiner Mutter geerbten Brillanten und Silberſachen ſchicken laffen und fie den beiden Schweftern gefchentt. Aber bie Großtante vergeub diefe Schäße in ben Tiefen ihrer Truhen bis zu gelegener Zeit, wie fie fagte.

„Du wirſt fie felbft noch einmal brauchen,” ‚meinte fie. „Vielleicht kommſt du doch noch einmal anf den Einfall, zu heiraten.“

Er ließ auch eine Urkunde daruͤber ausſtellen, daß er das Haus ſamt dem Grunbdbeſitz und dem Dorfe den beiden Schweſtern geſchenkt habe, wofuͤr Ihm beibe, jede auf Ihre, Weife, Ihren Dank abflatteten. Die Großtante brummte,

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machte ein finfteres Geficht und ſah ihn unsufrieben an. Dann aber konnte fie fih doch nicht Halten und ſchloß ihn in ihre Arme.

„Du bift Doch ein ganz ungewöhnlicher Menſch, Borjuſchta, fagte fie „gang abſcheulich, und doch wieder fo lieb! Gott mag willen, wer du eigentlich biſt!“

Am ganzen Haufe im Maͤdchenzimmer, im Kabinett ber Großtante, felbft im Empfangszimmer und noch in zwei weiteren Räumen waren Tifche aufgeftellt, an denen Wäfche genäht wurde. Das Parabebett war in Arbeit, desgleichen die Kiffen mit den echten Spigen und bie Betts beden. Ein Heer von Näherinnen und Schneiberinnen war ſchon vom frühen Morgen am tätig.

Wikentjew nahm Urlaub, um nah Moskau zu fahren und dort Equipagen und Garderobe zu beftellen. Bet biefer Gelegenheit kam Marfintas Gefühl zum vollen Durchbruch: ganze Bäche von Tränen entfirömten Ihren Augen, daß Naſe und Augen the anfchwollen und ganz rot wurden. As Wikentjew fie fo fah, weinte er mit nicht aus Kum⸗ mer, fondern weil er nach feiner beſtimmten Verſicherung immer weinen mußte, wenn andere weinten, wie er auch immer lachen mußte, wenn andere lachten. Marſinka blickte ihn durch ihre Tränen hindurch an und Härte plötlich anf gu weinen.

„Ich will ihn nicht heiraten, Tantchen fehen Sie doch, er kann nicht mal fo weinen wie andere Menfchen! Bei onberen rinnen die Tränen über die Baden, und bei ihm . Aber die Nafe da, fehen Sie doch: gerade an ber Spike hangt eine Träne, fo groß wie eine Kirſche!...“

Er trocknete raſch feine Tränen.

„Ja, ſehen Ste namlich bei mir iſt da ſolch eine Rinne, die gerade nach ber Nafe führt,” fagte er und neigte fich

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vor, um feiner Braut bie Hand zu küffen, doch gab fie fie ihm nicht. Eine Stunde nach feiner Abfahrt fang fie ſchon wieder, wie früher, im Garten: |

„Du mein bersiger Schag,

Ach, wie liebe ih dich! ...“ Man brachte Pferde auf den Hof, die Wilentjew irgendwo in einem Geſtuͤt gekauft hatte. Eine muntere, gefchäftige Tätigkeit erfüllte, mit einem Wort, dad ganze Haus, und nur Raiſki und Wiera merkten nichts davon. Raiſki hatte für nichts anderes Augen, als nur für fie. Er ſuchte feine Gedanken abzulenken, ritt über die Felder, machte fogar Befuche. Beim Gouverneur lernte er einige Mäte, irgendeinen Großgrundbeſitzer, einen aus Peters; burg heruͤbergeſchikten Adjutanten und fonflige Leute fennen; die Unterhaltung drehte fich um das, wag in der Petersburger Welt vorging, oder um die Landwirtfchaft, um die Pachten. Doch alles das Intereffierte ihn nicht im gerinsften. | | Er hatte, wenn auch ungern, Marks Bitte erfüllt und dem Gouverneur gefagt, daß er die beſchlagnahmten Bücher mitgebracht und an Belannte weitergegeben babe, von benen fie dann ind Gymnaſium gelangt feien. Die Bücher waren fonfisgiert und verbrannt worden. Der Gouverneur gab Raiſki den Kat, in Iukunft vorfichtiger gu fein, doch erflattete er nach Petersburg keinen Bericht Aber die Sache, Damit dort nicht erft eine große Frage daraus gemacht wuͤrde. | | Mark ſchlich fih einmal nach feiner Gewohnheit zur Nacht; geit quer durch ben Garten nad) Raiſkis Wohnung, um zu hören, welches Ende bie Sache genommen. Er dachte nicht daran, Raiſki für ben ihm geleifteten Dienft gu danken,

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fondern fagte nur, das fi das fo gehört habe, und daß er ihm fchon eine große Ehre erweile, wenn er ihm etwas fo Einfaches und Selbſtverſtaͤndliches zumute anders zu handeln, fei nur ein Denunziant und Spion imſtande. Seinen Freund Leontif bekam Raiſki nur felten zu Geficht; er vermied es, Ihn zu befuchen. Kam er einmal hin, fo empfing ihn Uliana Andrejetona, innerlih triumphierend, mit Teidenfchaftlihen Blicken und dem heimlichen Lachen in ben unbeweglichen Zügen, und die Erinnerung au bie Art, wie er großmätig feine Freundespflicht erfüllt Haste, nagte an ihm. Unwillkuͤrlich verfinfterten fich feine Züge, und er entfernte fich, fo raſch er konnte.

Ste nahm nun, um ihn ansuloden, zu einem andern Manöver ihre Zuflucht: fie fagte ihrem Manne, daB fein Sreund fie nicht kennen wolle, fie nicht anfehe, als ſei fie nichts weiter als ein Städ Möbel, daß er fie mifachte, daß fie dag fehr verlegen muͤſſe, und daß er, Leontij, an alledem ſchuld fei, da er es nicht verftehe, anſtaͤndige Leute in fein Hans zu ziehen und dafür zu forgen, daß fie feiner Frau den nötigen Reſpekt erwielen. |

„Sprich du doch wenigſtens mit mir,” llagte fie „leg deine Bücher beifeite und befchäftige dich mit mir!" Koslow nahm fih vor, den Wunſch feiner Frau nach Kräften zu erfüllen, und als Raiffi am Abend desfelben Tages an feinem Fenfter vorüberging, rief er Ihn an: „Komm boch herein, Boris Pawlowitſch, du Haft mich ganı vergefien ... Auch meine Srau beklagt ſich ...“ „Worüber beklagt fie fih denn?” fragte Raiſki, ald er zu ihm Ins Zimmer trat.

„Sie glaubt, daß du fie mißachteft. Ich fagte Ihe: ‚Das iſt ja Unfinn, er ift gar nicht ſtolz du biſt Doch nicht ftolg, nicht wahr? ‚Aber er iſt ein Pet,‘ fagte ich, ‚er hat feine

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eigenen Ideale bu bift ein Rotkopf, und du gefällt ihm einmal nicht.‘ Sei doch ein bißchen nett zu ihr, Boris Pawlowitſch, befuch’ fie gelegentlih einmal, wenn ich im Gymnaſium bin!“

Raiſki wandte fih von ihm ab und ſah sum Senfter bins ans, | „oder noch beſſer komm am Donnerstag und am Sonnabend Abend: an biefen beiden Tagen gebe ich naͤm⸗ ih hier in drei Familien Privatfiunden und komme erſt gegen Mitternacht nach Haufe. DOpfere doch einmal einen Abend, unterhalte fie ein bißchen, fofettiere ein wenig mit ihr! Du plauderft doch fo gern mit den Weibern und fie phantafiert nur von bir...”

Raiſtki blickte durch das zweite Fenſter hinaus.

„Ich felbft verſteh/ mich nicht darauf,” fuhr. Leontij fort, „dem Gatten fteht das auch nicht fo an: ich liebe, du Tiebft, wir lieben... dieſes ewige SKonjugieren hab’ ich auch ſchon im Gymnaſium über. Ihre ganze Liebe, all ihre Fuͤr⸗ forge, ihr Leben alles gehört mir...”

Raiſki mußte huſten. „Wie foll ich ihm nut die Sache beibringen?” dachte er.

„Iſt's wirklich fo, Leontij?“ ne er.

„Wie denn fonft?”

„Alle Liebe, ſagſt du?”

„Isa, natürlich, fie Ift fogar auf meine Griechen und Römer eiferfüchtig. Ste kann fie nicht leiden, nur lebende Mens ſchen liebt fie I” fagte Koslow mit einem gutmütigen Lächeln. „Diefe Weiber find doch überall und zu allen Zeiten bier felben,“ fuhr er fort. „Die römifchen Matronen, felbft die Sranen ber Zäfaren, der Konfuln und Patrizier, hatten immer einen ganzen Schweif von Liebhabern ... Ich kann mich Ihe leider nicht fo widmen, ich habe meine Beſchaͤfti⸗

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gung. Sie forget für mich, fie ift mie treu, während ich ihr, offen geftanden” er bampfte feine Stimme zum Fluͤſtern „bisweilen untren werde und gar nicht weiß, ob fie im Haute iſt oder nicht...”

„Das tft ſehr unrecht,” fagte Raiſki.

„Ich habe einfach keine Zeit... Im vorigen Monat zum Beiſpiel fielen mir zwei deutfche Werke in die Hände, Kom; mentare gu Thucydides und Tacitus. Die deutſchen Korfcher Haben den beiden Autoren förmlich die Eingeweide umgekehrt, ich hatte wirklich Mühe, alle diefe Details nach⸗ supräfen. Ganz eingegraben hatte Ich mich in meine Bücher und fie fagte einfach, fie efle fih, wenn fie mic fo fehe. Komm doch gelegentlich, befuch’ fie! Der einzige, der fich noch zeigt, ift mein Kollege Charles, ber Franzoſe ein fo netter Plauderer, mit Dem langweilt fie ſich wenigfteng nicht.”

„Leb/ wohl, Leontij,“ fagte Naifti. „Übrigens, diefen Charles folltert du doch nicht fo oft ind Haus laflen. . .” „Warum nicht? Wenn ber nicht noch wäre, hätte ich ja gar Feine Ruhe vor ihr. Warum foll ich ihn nicht ing Haus laflen?

„Run, damit fich wicht folch ein Schweif bildet, wie bei den römifchen Matronen ...“

„An meine Ulinka reicht, wie an die Gemahlin bes Caͤſar, fein Verdacht heran !” bemerkte Koslow humorvoll. „Komm nur, ich will's ihr fagen ...“

„Rein, fag’ the nichts und laß den Eharles nicht ing Hans!" fagte Raiſki und verließ raſch das Zimmer,

Bei Paulina Karpowna zeigte fih Raiſki gar nicht, dafür erſchien fie um fo oͤfter bei ihm im Haufe und langmeilte entweder ihn mit ihren faden Zärtlichkeiten oder die Groß⸗ tante mit ihren unerbetenen Natfchlägen betreffs der

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Hochzeitsvorbereitungen. Ganz befonders mißfiel Tatjana Markowna ihre Behauptung, daß die Ehe das Grab ber Liebe fet, und daß, wie fie mit einem füßlichen Blicke auf Raiſki hinzufuͤgte, auserleſene Herzen fich troß aller Hinder; niffe auch außerhalb der Ehe zu finden müßten.

Noch zwei⸗ oder dreimal begann er an ihrem Porträt zu malen, beendete es jeboch nie und fagte, er wife nicht, in was für einem Kleide er fie malen, und was für eine Blume er ihr an die Bruft ſtecken folle.

„Eine gelbe Georgine wird mir fehr gut fiehen ich bin doch bruͤnett!“ meinte fie.

„But, fpäter, fpäter!” fagte er, um fie nur irgendwie 108; zuwerden.

Tit Nikonytſch kam nach wie vor, hoͤflich und liebenswuͤrdig, wie immer, kuͤßte der Großtante das Haͤndchen und brachte ihr eine Blume oder irgendeine ſeltene Frucht. Openkin fand ſich ein, hielt ſeine langen, laͤrmenden Reden und betrank ſich zuletzt. Junge Damen und Herren erſchienen, ein Taͤnz⸗ chen wurde im Haufe ber Braut arrangiert und alles das langweilte Raiſki und Wjera, und jedes von ihnen fuchte, wonach fein Herz and: er fie, fie die Einfam; feit, und er war nur glüdlich, wenn er mit ihr zuſammen war, und fie nur dann, wenn niemand fie fah, niemand fie bemerkte, wenn fie im Dorfe, ober im Dickicht der Schlucht, oder jenſeits der Wolga, bei ihrer Popenfrau, wie ein geiſt verſchwinden konnte.

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WVESLNIOAHNECAND

Neunzehntes Kapitel

a babe ich mich num mach ber Leibenfchaft geſehnt,

dachte Raiſki, „habe mich förmlich Danach gedrängt und num weiß ich gar nicht, ob das wirklich bie Leidenfchaft ift! Ich betafte mich, um dahinter zu fommen, ob ich wirklid von der Leidenfchaft beherefcht bin wie man fich fonft betaftet, um feftzuftellen, ob man nicht eine Rippe gebrochen oder fich irgendein Glied ausgerenkt Hat. Und mein Heri das Hopft fo ganz ruhig; faft feheint es, daß Ich gar nicht fähig bin, eine Leidenfchaft su empfinden.” Trotz alledem wollte Ihm jedoch Wiera nicht aus dem Sinn,

„Wenn fie mich nicht liebt, wie fie felbft fagt, und wie aus

allem erfichtlich ift warum bat fie mich dann zuräds gehalten? Warum hat fie mir erlaubt, fie zu lieben?! Iſt das Kofetterie, ober Laune, ober was fonft? Ich muß entfchieden dahinter kommen...” flüflerte er vor fih Hin.

Er ſuchte fie mit den Augen im Garten und bemerkte fie am Fenfter ihres Zimmers.

Er trat vor das Fenfter.

„Darf man dich befuchen, Wiera?“ fragte er.

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„sa, aber nicht auf lange.” nn Fa „Nicht auf lange!” Dachte er, während er nach Ihrem Zimmer ging. „Warum fagt fie das erfi? Warum fehidt fie mich nicht einfach fort, wenn fie meiner uͤberdruͤſſig iſt?“

Er trat bei ihr ein und nahm Ihe gegenüber Platz.

„Du fagteft nicht auf lange: warum dag?“

„Weil ich bald wegfahre, nach der Inſel. Natalia wird dort fein, und Iwan Iwanowitſch, und Nikolaj Imanowitfch . . .” „Das tft der Priefter ?”

„Ja, er will dort fiichen, und Iwan Iwanowitſch will auf Hafen jagen.“

„Ich möchte mittommen.”

Sie ſchwieg.

„Oder foll ich nicht?“

„Kommen Ste lieber nicht, Sie würden unfern Heinen Kreis ftören. Der Priefter wird gleich anfangen, Gott weiß was für gelehrte Reden zu halten, und Natalia wird fich verlegen fühlen, umd Iwan Iwanowitſch wird die ganze Zeit über ſchweigen.“

„But, ih komme alfo nicht,“ fagte er, ſtuͤtzte fein Kinn auf bie Hand und betrachtete fie. Sie faß eine Meile untätig da, dann nahm fie eine Mappe aus der Schublade bes Schreibtiſches, zog einen Heinen Schläffel hervor, den fie an einer Schnur um ben Hals trug, oͤffnete die Mappe und ſchickte fih an, zu fehreiben.

„Du willft Briefe fchrieben ?”

ns, zwei kurze Briefe, ich muß Natalia Iwanownas Ein; ladung beantworten. Der Kutfcher wartet.“

Sie ſchrieb ein paar Worte und ſchloß den Brief.

„Hoͤren Sie, Sender rufen Sie doch jemanden durchs Genfter herauf!” | Er erfüllte ihren Wunſch. Marina kam herauf und erhielt 17*

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ben Befehl, ben Brief dem Kutfcher Waſſilij zu übergeben. Dann legte Wiera bie Haͤnde In den Schoß. „Und ber zweite Brief?" fragte Matıll.

„Der bat noch Zeit.”

„ah! Alle ein Geheimmig I"

„Vielleicht ...“

„Wie lange wirft bu noch dieſe Geheimniſſe vor * haben, Wiera?“

„Habe ih welche? Dann werde ih fie wohl ewig haben.”

„Wenn du mich genauer kennen wuͤrdeſt, würbeft du fie mie anvertrauen, ſoviel du ihrer auch haft... .” „Barum ?“ „Es iſt für mich Bedürfnis, fie gu kennen Ich liebe Dich.” „Es iſt aber für mich nicht Bedürfnis, fie gu erzählen...“ „Aber das iſt doch die einzige Möglichkeit, mich loszuwerden, wenn ich dir fchon fo unerträglich bin.” „Ste haben Ahr Xenehmen in letter Zeit ein wenig ges Andert, und Ich will Sie nun nicht mehr loswerden.” „Du haft mir fogar geftattet, dich zu lieben... .“ „Ich habe verfucht, e8 Ahnen gu verbieten und was iſt dabei herausgefommen ?” „Und da haft du num befchloffen, mich in Zukunft laufen zu laſſen?“ „Ja, ich wollte Sie gewaͤhren laſſen ich dachte, es wird ſo eher vergehen, als wenn ich irgendwie eingreife. Und das ſcheint nun auch zuzutreffen ... Sie haben mich fa ſelbſt darüber belehrt, daß Widerfland die Leidenſchaft nur aufflachelt ...“ „Ei, wie ſchlagfertig du biſt!“ ſagte er und fah fie liſtig an. „Und warum haft bu mich denn N als Ih abs reifen wollte?”

CXBM 261 ILX.n

„Sie waͤren doch nicht abgereiſt; die Geſchichte mit dem Reiſekoffer hat mir alles geſagt.“

„Du meinft alſo, meine Leidenſchaft ſei verflogen?“ „Es war nie eine Leidenſchaft da: alles nur Eitelkeit und Einbildung. Sie ſind ein Kuͤnſtler, ſind gleich in jede Schoͤne verliebt ...“

„Aber du biſt die Schoͤnſte der Schoͤnen, biſt die verkoͤrperte Schoͤnheit! Du biſt der Abgrund, in den ich willenlos hineinſtuͤrze, der Kopf ſchwindelt mir, das Herz wird mir beklommen ich lechze nach dem Gluͤck und, wenn es nicht anders iſt: nach dem Untergang. Denn auch im Unter⸗ sang liegt ein Gluͤksempfinden...“

„Das haben Sie alles ſchon einmal geſagt und das iſt nicht gut.“ „Warum nicht?“

„So es iſt nicht gut!“ „Ja warum denn nicht?”

„Weil es übertrieben... mithin unwahr iſt.“

„Wenn es aber doch wahr, wenn es aufrichtig if?”

„Dann If’8 um fo ſchlimmer.“

„Warum?“

„Weil es dann unſittlich iſt.“

„Ei ſieh doch, Wiera nun rebeſt du ja ganz fo wie Tantchen!“ „Ja, diesmal bin ich mit ihr einer Meinung.” „Unſittlich!“

„Ja, unſittlich Sie wandeln auf den Wegen Don Juans, und der kann doch auf Sittlichkeit keinen Anſpruch machen..

„Nenne mich unſittlich, wenn ich es verdiene, Wijera, aber wirf keinen Stein auf das, was du nicht verſtehſt. Der echte, wahre Don Juan iſt edel und rein; er iſt ein humaner,

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fein empfindender Künftler, ein Typus, ein chef-d’oeuvre unter den Menſchen. Es gibt natärlich nicht viele von diefem Typus. Ich bin Kberjeugt, daß auch an Byrons Don Yuan ein Känftler verloren gegangen iſt. Diefer Zug nach jeder finnlih wahrnehmbaren Schönheit, vor allem nach der Schönheit bed Weibes, ald des edelften Produkts ber Natur, beiundet bie hoͤchſten menfchlichen Inſtinkte und bie Hinnelgung zu jeber anderen, nicht finns ih wahrnehmbaren Schönheit, zu den Idealen des Guten als der Schönheit ber Seele, der Schönheit im Leben. Und endlich findet fih unter diefen edlen Inſtinkten bei fein empfindenden Seelen auch das Bedürfnis nach ber großen, allumfaffenden Liebe. In der Menge, im Schmug, in ber Enge des Lebens verfümmern und vergröbern fich dieſe feinen natürlichen Inſtinkte... In mir fledt ein wenig von biefem reinen euer, und wenn es nicht bis zuletzt tein blieb, fo liegt das... an mancherlei Urfachen... auch an den Frauen felbf.. .“

„Btelleicht verftehe ich das Weſen des Don Juan nicht ganz, Bender; ih will's Ihnen einmal glauben, aber warum gaben Sie fich diefer Leidenfchaft für mich fo lebhaft hin, während Ste doch willen, daß ich fie nicht teile?“ „Nein, das weiß ich nicht.”

„Ah, Ste hoffen noch immer?” fagte fie verwundert. „Ich fagte dir, daß die Hoffnung in mir nicht fierben wird, fofange ich nicht weiß, daß du nicht frei biſt, daß bu einen andern liebſt ...“

„Wohlan, Bruder nehmen wir einmal an, ich koͤnnte Ihre Leidenſchaft teilen: was dann?“ |

„Dann wäre beiden Seiten bag Süd gefichert.”

„Sind Sie fo feft Abergengt, daß Sie es mir geben koͤnn⸗ ten?"

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„Ich? O Gott, o Gott!” begann er mit flommenden Augen „ih würde mein ganzes Leben hingeben, wir würden nah Italien fahren, du wuͤrdeſt meine Frau fein...” Sie blidte ihn eine Zeitlang an.

„Wie oft haben Sie andern Frauen dieſes Süd ſchon ans geboten?” fragte fie.

„Gewiß, ih Bin fhon Frauen begegnet... aber einen fo tiefen Eindrud babe ich noch nie empfangen ...“

„Und wie oft Haben Sie diefe felben Worte ſchon gebraucht ? Sicherlich doch jeder Frau gegenüber, der fie einmal bes gegnet find ?”

„Was follen diefe Fragen, Wiera? Wohl möglich, daß ih biefe Worte ſchon fo mancher gegenüber gebraucht babe, doch niemals Habe ich fie fo wahr und aufrichtig empfunden...”

Sie fahen einander prüfend und forfhend an.

„Wer hat dich in der Schule gehabt, Wiera?” fragte er dann.

„Genug,“ unterbrach fie ihn. „Ste haben fih in diefen wenigen Worten ganz offenbart. Sie würden mir für ein halbes, vielleicht auch für ein ganzes Jahr oder noch länger das Glüd geben bis zur naͤchſten Begegnung eben, bis eine Schönheit, die noch neuer und eindruds; voller wäre, von Ihrer Seele Befig nahme. Ich könnte dann meiner Wege gehen! Iſt es nicht fo wie ?“ „Woher weißt du das? Wie kommſt du zu diefer Ans nahme? Warum urteilft du fo raſch und leicht über mich? Woher haft du diefe Gedanken, woher kennſt du den Gang, ben die Entwidlung einer Leidenfchaft nimmt?”

„Ich weiß nichts von irgendeiner Entwicklung der Leidens (haft, ich weiß und kenne nur fo einiges von Ihrem Wefen, dag iſt alles.”

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„Was weißt du denn, und von wem weißt bu es?“ „Bon Ihnen ſelbſt.“

„Bon mie? Wann hätte Ich die etwas geſagt?“

„Wie kurz Doch Ihr Gedaͤchnis iſt! Haben Ste mir nicht felbft erzähle, welchen tiefen Eindrud die Schönheit der Bjelowodowa auf Ste gemacht hat, und wie fehr Sie fich, leider vergeblich, bemäht haben, in Ihr den Strahl... oder ben Keim... von irgend etwas gu weden? Genau weiß ich Ihre Worte nicht mehr, jedenfalld aber war es ſehr poetifch ausgedruͤckt.“

„Die Bjelowodowa! Das war eine Statue ſchoͤn, aber kalt, ohne Seele. Nur ein Pygmalion hätte fich in die vers fieben koͤnnen.“

„And Nataſcha?“

„Nataſcha? Habe ich dir auch von Natafcha etwas gefagt ?“ „Das haben Sie alfo fehon vergeffen ?”

„Nataſcha war eine eble, Doch dabei farbiofe, ſchuͤchterne Natur. Sie lebte, folange die Strahlen bee Sonne fie beſchienen, folange das Feuer der Liebe fie erwärmte, beim erften rauhen Hauch jeboch welkte fie bin und verging. Sie wurde geboren, um fo bald wie möglich zu ſterben.“ „Auch von Marfinka ſprachen Sie auch in die hätten Ste ſich beinahe verliebt!”

„Das find alles fo leichte Eindräde, bie einen oder zwei Tage andauern... wie fie etwa auch ein fchönes Bild auf mid ausübt... Iſt e8 denn ein Verbrechen, ben Reis der Schönheit zu empfinden, fo wie man die Wärme ber Sonne empfindet? Sich auf eine oder einige Wochen einem Eindruck hinzugeben, ohne daß man Ihn Kiefer Wurzel ſchlagen laͤßt? ...“

„Und den ſtaͤrkſten Eindruck taxieren Sie etwa ein halbes Jahr, nicht wahr?“

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„Rein. Wenn du sum Beifpiel meine Leidenfchaft erwidern wuͤrdeſt, würde mein Einbeud fih zu einem bauernden seftalten, wir würden uns verheiraten... es wäre ein Bund für Leben. Das Ideal eines vollkommenen Slädes iſt für mich nicht unvereinbar mit bem deal des Familien; lebens ...“ | „Hören Sie, lieber Bender: überlegen Sie einmal, welche Ihrer früheren Leidenfchaften die ſtaͤrkſte war, und fellen Ste fih vor, daß die Frau, die diefe Leidenfehaft in Ihnen hervorrief, jegt Ihre Gattin wäre..." „Sag’ mir nur dag eine: wer hat dich In der Schule gehabt? Du weichft immer wieber ber Beantwortung diefer Frage aus. Wer war dein Lehrmeifter ?” „Wer fonft als Sie felbft? Ich habe alles bag aus ber Unterhaltung mit Ihnen gefchäpft.” „Dun biſt ein herrliches Geſchoͤpf, Wiera bu biſt ent; sädend! In deinem Verftande ruht ebenfoniel Schönheit wie in deinen Augen! Du bift gang Poefle und Grazie du biſt das ebdelfte Gebilde der Natur! Du biſt die vers förperte Idee ber Schönheit, biſt bie Schönheit ſelbſt und da foll man nicht flerben vor Liebe gu dir? Bin ich vielleicht ein Stuͤck Holz? Selbſt Tuſchin iſt ganz hin...” Sie machte eine unmillige Bewegung. „Run, laſſen wir das! Du liebſt mich nicht noch kurse Zeit, und der Eindrud wird ſchwinden, ich werde abreifen, und du wirft nie mehr von mir hören. Meich’ mir die Hand, fag’ mir ganz kameradſchaftlich wer war bein Lehrmeifter, Wiera? Wer ift diefer Kulturapoftel? Iſt e8 derfelbe, der die Briefe auf dem blaßblauen Papier fehreibt ?” „Vielleicht iſt er's. Verzeihen Sie, Bruder Sie erinnern . da zur rechten Zeit, daß ich noch einen Brief zu en A

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„Das iſt es nun, das Sluͤck fo nahe iſt's und läßt fich doch nicht fallen!” fagte er.

„Sie können doch auch ohne mich noch glädlich werben, mit einer andern...“

„Mit wen? Speih! Wo find fie, dieſe Frauen?”

„Sie müffen fih eben an jene balten, bie Ihr Herz auf einen Monat, auf ein halbes Jahr, auf ein Jahr vermieten aber nicht an mich!” verſetzte fie.

„Du glaubft mir nicht, und du verftehft mich nicht. Wer wird mir glauben, wer mich verfiehen ?”

Er verfant in Nachdenken, während fie einen Briefbogen nahm, mit dem Bleiftift ein paar Worte darauf fchrieb und das Papier sufammenfaltete.

„Sol id Marina rufen?” fragte er.

„Mein, es ift nicht nötig.”

Ste barg ben Brief in ihrem Kleide an der Brufl, nahm den Schiem, nidte ihm gu und ging.

Ohne jemandem im Haufe ein Wort zu fagen, ging Raifti nah dem Mittageflen zur Wolga hinunter. Er wollte möglihft unbemerkt nach der Inſel gelangen und fuchte nach einer Stelle am Ufer, von der aus er bequem über ben diegfeitigen Arm des Stromes gelangen könnte. Eine Übers fahrt war an diefer Stelle nicht vorhanden, und er ſpaͤhte ringsum, ob er nicht in der Nähe einen Fifcher erblidte. Er ging wohl eine halbe Werft am Ufer entlang und fließ endlich auf ein paar Knaben, die von einem alten, morfchen, big zur Hälfte mit Waffer gefüllten Kahn aus ihre Angeln ausgeworfen haften. Fuͤr ein Zehnkopekenſtuͤck waren fie mit Freuden bereit, ihn hinuͤberzubringen, und eilten nach ber Hütte Ihres Vaters, um die Ruder gu holen.

„Wo follen wir anlegen?” fragten fie.

„Ganz gleih wo ihr wollt.”

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„Dort kann man ausſteigen,“ fagte der eine und zeigte nach einer Stelle am Inſelrand.

„Sa, da wird’8 geben ba hat auch der Here mit ber Dame vorhin angelegt...”

„Welcher Here?“

„Wer foll ihn kennen! Sirgendeiner von oben, aus der Stadt.” Ä Raiſki flieg aus dem Boote und begann auszuſchauen. „Ob e8 wohl Wiera war?” dachte er.

„Wenn fie e8 war dann würde er ihr Geheimnis bald erfahren... Sein Herz begann heftig zu fchlagen. Ganz bedächtig und vorfichtig fehritt er durch dad Riedgras und ſcheute fi, felbft zu Hufen.

Plöglih vernahm er ein Plaͤtſchern im Wafler, ſchob dag. Ried zur Seite und erblidte... Ullana Andrejewna. Ganz durch das Gebuͤſch verbedt, faß fie am Ufer. Die nadten Beine hingen ind Waffer hinab, und fie wuſch ihr aufgelöftes Nirenhaar in den Fluten. Raiffi ging weiter, bog um einen Vorfprung und ſah Mr. Charles, ber, bis an den Hals im Waſſer ſtehend, fih durch ein Bad erfrifchte.

Raiſki entfernte fich, ohne von Me. Charles bemerkt wor⸗ den zu ſein. Er ſchritt zwiſchen den Heckenroſen weiter, nach den kleinen Seen zu, an denen er die Geſellſchaft, von der Wiera geſprochen, vermutete. Alsbald vernahm er Schritte in der Naͤhe und verſteckte ſich. Mark war es, der an ihm voruͤberging.

Raiſki rief ihn an.

„Ah, willkommen! Wie geht’8?” ſagte Wolochow. „Vor wem verſtecken Sie ſich denn?“

„Ih verſtecke mich nicht ich hätte Ste doch fonft nicht angerufen !”

CH: 268 CH:

„Ih fage nicht, daß Sie fih vor mir verfieden aber vielleicht vor fonft jemandem. Sagen Sie's doch offen Sie ſuchen Ihre ſchoͤne Kufine, nicht wahr? Das ift aber nicht anftändig: Sie haben Ihre Wette verloren und wollen nicht zahlen ...“

„Woher wiſſen Sie denn, daß ſie hier iſt?“

„Ich habe eben am See auf Enten gejagt und da ſah ih bie Herrſchaften alle beieinander. Der Pope iſt ba, und Tufchin, und die Frau des Popen, und ... Ihre Wera,” faste er zum Schluß mit Sronie. „Gehen Sie nur hin, raſch!“

„Ich will nicht, ich gehe nicht dahin.“

„Genieren Sie ſich vor mir durchaus nicht ich ſehe ja, wie die Dinge liegen. Sie wollten von weitem einen ſchuͤchternen Blick auf ſie werfen nicht wahr? Sie lang⸗ weilen ſich, das Haus kommt Ihnen ſo verlaſſen vor, wenn fie nicht da iſt ...“

„Unſinn! Sch wollte einfach einen Heinen Ausflug mas

„Rüden Sie heraus mit den breihundert Rubeln !” Raiſki begab fih wieder nach dem Anlegeplag, an dem die Knaben ihn mit Dem Boote erwarteten. Mark ſchritt hinter ihm her. Sie famen an der Stelle vorüber, wo Mr. Charles gebadet hatte. Naiffi wollte ſchweigend vors übergehen, bach da kam ihm aus dem Gebäfch ſchon der Franzoſe entgegen, während von ber andern Seite auf einem fchmalen Fußweg Altena Andrejewna mit aufgelöftem, naſſem Haar fih nahte.

Sie wollten fih rafch verfieden, doch Mart rief ihnen zu: „Charme de vous voir tous les deux! Habe bie Ehre, mich zu refommanbieren !” | Mr. Charles Fam aus dem Gebuͤſch heraus.

DE 269 CH

„Mr. Raiſki Mr. Charles!” ftellte Mark mie ſpoͤttiſcher Miene bie beiden vor.

„Uliana Andrejewna bitte, treten Sie boch näher, vers fieden Ste fih nicht! Es find ja lauter Bekannte, Sie brauchen Feine Angſt gu haben.”

„Wer hat denn Angſt?“ fagte fie, während fie zoͤgernd vor; trat und Raiſkis Blick gu vermeiden fürchte.

„Wie naß Sie beide find!” verfegte Wolochow.

„Der widerwärtigfie Menfch auf der Welt!” flüfterte Uliana Andrejewna Raiſki gu, während fie Mark einen haßerfüllten Blick zuwarf.

„Na, leben Sie wohl, ich muß gehen,“ ſagte Mark. „Was macht denn Freund Koslow? Warum haben Sie ihn nicht mitgenommen? Er haͤtte Sie beide uͤberhoͤrt und Ihr Bad haͤtten Sie auch in ſeiner Gegenwart nehmen koͤnnen, er ſieht ja doch nichts. Er haͤtte Ihnen hier am Ufer, unter dieſem Baume, etwas aus Homer vordeklamiert,“ ſchloß er feine Rede, warf Uliana Andrejewna und Der. Charles einen unverſchaͤmten Blick zu und ging davon,

„I faut que je donne une bonne lecon à ce mauvais dröle !“ prahlte Mr. Charles, ald Mark aus dem Gefichts, kreiſe entſchwunden war.

Dann traten alle drei den Heimweg an.

„Ich danke die recht herzlich,” ſagte Koslow zu Raiſki, „daß du meiner Frau bei dem kleinen Ausfluge Geſell⸗ ſchaft geleiſtet Haft... .“

„Diesmal gebührt bein Dank Dr. Charles,“ ſagte Raiſki. „Merci, merci, Mr. Charles |“

„Bien, trös bien, cher collegue !‘“ antwortete Charles und flopfte Leontij auf die Schulter.

o.u...u.u.u......o.os.os.ssa..0.s.s.®. ® 2

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Zwanzigſtes Kapitel

RN fam in verärgerter Stimmung nach Haufe. Er nicht zum Abend, ſcherzte nicht mit Marfinka, nedte die Großtante nicht und begab fich fehr bald in fein Zimmer. Yuch tags Darauf noch war er muͤrriſch und unzufrieden. Das Wetter war noch unfreundlicher geworden. Ein durchdringender, feiner Regen ging unaufhoͤrlich nieber. Der Himmel war bedeckt nicht mit Wolken, fondern mit einer Art Dunſt. Über der ganzen Gegend lag ein Nebel. Auch Wiera war nicht bei Laune. Sie war in ein großes Such gehällt, und auf bie Brage der Großtante, mas ihr fehle, antwortete fie, fie habe in ber Nacht einen Schättels froft gehabt. | Ä Es folgte num eine Flut von Fragen, von Vorwürfen, warum fie niemanden geweckt habe, und von Natfchlägen ſofort follte fie ein Taffe Lindenbluͤtentee trinken und ſich ein Senfpflaſter auflegen laſſen. Wiera weigerte fih jedoch ganz entfchieden, eins diefer Mittel angumenden, und fagte, fie fühle fich jegt volltommen wohl | | Alle drei ſaßen fehweigend da und gähnten; nur ab und zu warf eins wie von ungefähr eine Frage hin, auf bie eine laͤſſige Antwort erfolgte.

Qc. 271 x.

„Ste find auch auf der Inſel geweſen?“ ſagte Wiera, zu Raiſki gewandt.

„Ja woher weißt du es?“

„3% hörte vorhin, wie Jegor darüber Hagte, daß Ihre Kleider ganz voll Lehm und Schlamm feien, er habe fie faum fauber befommen. ‚Sr muß wohl auf der Juſel ges weſen fein,‘ meinte er.” - | „Du hoͤrſt auch alles!” verfeßte er. „Ach war nicht allein dort; au Mark war ba, und Koslows Fran.“

„Eine ſchoͤne Geſellſchaft haft du dir da ausgeſucht!“ fagte bie Großtante. „Sonft iſt doch Mr. Eharles immer ihr Begleiter I” '

„Auch er war da.”

Sie ſchwiegen wieder und wollten fich bereit trennen, als ploͤtzlich Marfinka erfchien. Ä

„Ach, Tantchen, welche Angft habe ich ausgeflanden! Ich hatte einen fo fchredlihen Traum,” fagte fie, bevor fie die Großtante noch begrüßt hatte. „Daß ich Ihn nur nicht vergeſſe!“

„Erzaͤhl', raſch, raſch!“ ſagte Raiſti. Wir wollen ung mal unſere Traͤume erzaͤhlen! Auch ich habe etwas ganz Merkwuͤrdiges getraͤumt. Fang du an, Marfünka! Was ſoll man bei dieſem abſcheulichen Wetter ſonſt beginnen? Laßt uns wenigſtens Maͤrchen erzaͤhlen!“

„Gleich, gleich, warten wir noch ein Weilchen in fuͤnf Minuten iſt auch Nikolaj Andreltſch da, dann erzähl” ich.“ „Schon in fünf Minuten?“ ſagte die Großtante. „Woher weißt du denn das? Und wenn er nun noch fchläft ?“ „Mein, er wird kommen, ich hab's ihm befohlen I” verfeßte Marfinka kokett. „Heute wird ein Heines Mädchen im Dorfe getauft, beim Bauer Soma ich habe verfprochen, es über die Taufe gu halten, und er wird mich begleiten...“

Hr 272 55,5

„Fuͤr die Taufe im Dorfe haft du alfo bein neues Bareͤge⸗

Heid angegogen, und noch dazu bei folhem Regenwetter!

Mer wird dich benn fo ausgehen laflen ? Zieh es aus, meine

Liebe!”

Ich ziehe es gleich wieder aus, Tantchen, ich habe es nur

sur Probe angezogen.”

. „Du haft es doch neulich ſchon anprobiert !”

„eaflen Sie doch, Tantchen, fie will fih ihrem Bräutigam

in dem neuen Kleibe zeigen.”

Marfinka erroͤtete.

„Rein, ihr ſeid wirklich ... ich dachte gar nicht daran!“

fagte fie, ärgerlich darüber, Daß man ihre Abficht erraten

hatte, „Ich geh’ fofort und ziehe es aus...”

Raiski hielt fie bei der Hand feft; fie riß fih los und ſtuͤrzte

anch der Tür, kaum aber hatte fie diefe geöffnet, als Wikent⸗

jew ihr entgegenfrat und, bie Arme weit ausbreitend, fie

zuruͤckhielt.

„Kommen Sie raſch warum haben Sie ſich verſpaͤtet?“

fagte fie, gang rot vor Freude, und wehrte ihn ab, als er

durchaus ihr die Hand kuͤſſen wollte,

„Was für eine abfchenliche Gewohnheit iſt dag, immer bie

Handfläche kaflen zu wollen ?” fagte fie, ihm die Hand ent;

jiehend. „Den ganzen Arm renken Sie einem dabei aus!”

„Sa, fehen Sie Ihr Händchen iſt da drinnen fo warm

und fo duftig ... geflatten Sie...”

„Sehen Sie! Sie haben Tantchen noch nicht begruͤßt!“

Er füßte der Sroßtante die Hand und machte dann Raiffi

und Wiera eine tomifche Verbeugung.

„Erzählen Sie mal, was Sie heute geträumt haben!”

fagte Raiſki gu ihm. „Mafch, raſch!“

| zuerſt will ich erzaͤhlen!“ fiel Marfinka ihm ins ort.

CH 273 CK

„Ah, nein Ich hatte einen fo fhönen Traum!” fagte Wikentjew. „Sch träumte, ich ſei ...“

„Nein, laſſen Ste mich zuerſt meinen Traum erzählen,“ fagte Marfinka.

„Erlauben Sie, Marfa Waſſiljewna ich vergeffe fonft ben ganzen Traum!” rief er dazwiſchen. „Bei Gott ich hatte ihn beinahe ſchon vergeflen! Ich träumte alſo...“ Sie hielt ihm den Mund mit der Hand zu.

„Immer der Reihe nach, immer der Reihe nach !” komman⸗ bierte Raiſki. „Marfinfa bat das Wort. Legen Sie Iog, Marfa Waſſiljewna!“

„Ich traͤumte alſo, ih ſei die Großtante ... Hör zu, Wierotſchka, was fuͤr ein merkwuͤrdiger Traum! So hoͤren Sie endlich, Nikolaj Andrejewitſch, ſitzen Sie endlich fiill!... Draußen war es dunkel, und der Mond ſchien ſo hell, und die Blumen dufteten, die Voͤgel ſangen ...“

„Wie in der Nacht?” ſagte Wikentjew.

„Die Nachtigallen ſingen doch immer in der Nacht!“ be⸗ merkte die Großtante und warf beiden einen Blick zu. Marfinka erroͤtete.

„Jetzt habt ihr mich aus dem Tert gebracht ich erzaͤhle nicht weiter!”

„Nein, nein, erzähl! Erzählen Sie!” riefen alle durchs einander; nur Wiera ſchwieg.

„Nun, alfo die Vögel...“

„Die Vögel fingen nicht in der Naht...”

„Schon wieder flören Sie mich, Nikolaj Andreltſch! Ach breche fofort ab hören Ste? Übrigens, Tantchen, denken Ste ſich er ſchnarcht, wenn er fchläft!” rief fie lebhaft und zeigte auf Wikentjew.

„Woher weißt du benn das?”

II 18

CO 274 GO

„Marina hat es mir gefagt und bie weiß es von Sems jon ...“

„Das kommt von den Skropheln er muß Baldriantee trinken,“ bemerkte Tatjana Markowna.

„sh fürchte mich vor Leuten, die ſchnarchen. Haͤtt/ ich dag früher gewußt, dann...“

Sie hielt plöglich Inne.

„Warum fprichft dus es nicht aus?” fragte Raiſki. „Wir fönnen ja die Verlobung aufheben. Wenn er dich in der Naht am Schlafen hindert bag iſt ein Grund...” Marfinfa wurde fo rot wie eine Kirfche und wollte aug dem Zimmer flürgen.

„Dicht doch, Borjufchla!” fagte die Sroßtante. „Du fiehft doc, fie ſchaͤmt ſich ohnedies fchon, daß fie etwas Toͤrichtes gefagt hat.”

Wikentjew Tief hinter Marfinka ber und brachte fie ind Zimmer zuruͤck.

„Ih werde mir für bie Nacht die Nafe immer mit Watte verfiopfen, Marfa Waffiljewna,” fagte er.

Marfinta war beruhigt und begann ihren Traum zu ers zaͤhlen.

„Ich traͤumte alſo, ich ſei ganz leiſe in das Haus des Grafen geſchlichen,“ begann ſie, „gleich in die Galerie, wo die Statuen ſtehen. Ich trat ein und verſteckte mich, und ich ſah, wie der Mond ſie alle beleuchtete, waͤhrend ich ganz im Dunkeln in einer Ecke ſtand. Mich konnte man nicht ſehen, ich aber ſah ſie alle. Ohne zu atmen, ſtand ich da und betrachtete ſie. Alle ſah ich mir an den Herkules mit der Keule, und die Diana, und die Venus, und auch die mit der Eule, die Minerva... Und dann den alten Mann, den die Schlangen umminden ... wie heißt er doch ? oe... Da, mit einemmal” fie machte ein erfchrodenes

MA 275 0

Geſicht und fah fih nach allen Seiten um „noch jetzt iſt mir ganz Angfilich zumute, fo lebhaft traͤumte ih...” „Run, alfo mit einemmal? ...” fragte die Großtante. „Ach, es war fo ſchrecklich, Tantchen! Mit einemmal war es mir, als ob die Statuen fich bewegten. Zuerft wandte die eine ganz, ganz langfam den Kopf zur Seite und fah nach einer andern, und auch die wurde ganz langfam lebens dig und reichte jener langfam die Hand e8 war bie Diana, und die andere war die Minerva. Dann erhob fi langfam die Venus, und ohne augsufchreiten... wie fhredliih!... ſchwebte fie einer Toten gleich auf den im Helm zu, auf den Mars... . Und dann krochen und ringelten fich die Schlangen wie lebendig um den alten Mann herum, und er beugte den Kopf zuräd, und über fein Geficht ging ein frampfhaftes Zuden, als wenn er lebte, und ich dachte, er würde jeden Augenblid auffchreien. Und auch die andern ſchwebten alle aufeinander zu, und einige traten and Fenſter und fahen auf den Mond... Dabei hatten fie alle ganz fleinerne Augen, ohne Pupillen ... Ach! Ein Schauer überlief fie.

„Daß ift ja ein ſehr poetifcher Traum den will ich nieder; fchreiben I” fagte Raiſki.

„Kinder liefen dahin und dorthin,” fuhr Marfinka fort, „und immer fo ganz leife, ohne aussufchreiten... Die Statuen ſchienen miteinander zu beraten, fie neigten ihre "Köpfe vor und flüfterten.... Die Nymphen faßten fich bei den Händen, blidten auf den Mond und begannen einen Meigen zu fangen... Ich zitterte am ganzen Körper, an allen Gliedern vor Angſt... Die Eule fohlug mit den Slügeln und pußte fih mit dem Schnabel die Federn auf der Bruft... Mars umarmte die Venus, fie legte ihren Kopf an feine Schulter, und fo ſtanden fie da, während alle

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X 276 CH

anberen umbergingen oder in Gruppen bafaßen. Nur Hers kules bewegte fich nicht. Ploͤtzlich aber hob auch er den Kopf auf, richtete fih Dann langſam auf, und ſchwebte von feinem Date fort. So mächtig groß war er, bis an bie Dede. Er ließ feine Augen Aber alle Hinfchweifen, dann blickte er in meine Ede... und plöglich ſchuͤttelte ee ſich, ſtreckte fih in feiner ganzen Größe und hob die Hand empor... Alle fahen auf einmal dahin, wo ich ſtand, ſahen auf mih einen Augenblid blieben fie ganz flarr, und dann ſtuͤrzten fie dicht gefchart gerade auf mich los..."

„Nun, und Sie, Marfa Waſſiljewna?“ fragte Wikentjew. „Ich ſchrie ganz entfegt auf...”

„Und dann?”

„And dann erwachte ih und lag wohl eine halbe Stunde sitternd da und wollte Fedoßja rufen, doch Hatte ich Angſt, mich auch nur gu rühren, und lag fchlaflog da, big zum Morgen. Es hatte 908 fieben gefchlagen, als ich wieder einſchlief.“

„Ein ganz koͤſtlicher N Marfinka!“ fagte Raiſki. „So poetifch, fo voll Grazie! Haft du nichts hinzugefügt?" „Ach, Bruder, wie follte Ich mir fo etwas ausdenken? Ich fehe alles noch fo deutlich vor mir, daß Ich eg zeichnen könnte, wenn ich das Zeug dazu hätte...”

„Du mußt Mohrrübenfaft trinken,” meinte bie Großtante, „das reinigt das Blut.”

„Run, jet geftatten Sie mir, meinen Traum gu erzählen,” begann Wikentjew haftig. „Ich fräumte, ich ging Über den Berg, nach der Kathedrale, und plöglih fommt mir N Andreitfch entgegen, auf allen Vieren, fplitternadt. . .” „Hör auf, du was fällt dir ein? In Gegenwart beiner Braut...” fiel Tatjana Markowna ihm ins Wort.

„Bei Gott, es iſt wahr...“

tu) 277 Ce

„Das ſchicktt ſich nicht, iſt nicht paſſend ...“

„Immer erzaͤhlen Sie, erzählen Sie!“ ermutigte ihn Raiſti.

„Und auf ſeinem Ruͤcken ritt Paulina Karpowna, gleich⸗ falls ...“

„Wirſt du wohl den Mund halten?“ ſagte Tatjana Mar⸗ kowna, waͤhrend ſie ſich vor Lachen kaum halten konnte. „Ich bin gleich fertig. Hinterher ging Mark Iwanowitſch mit einem Knuͤppel in der Fauſt und trieb ihn an, und voraus ſchritt Openkin, mit einer Kerze in der Hand, und ein Muſikchor...“

Alles ſchuͤttelte ſich vor Lachen.

„Das hat er ſich alles ausgedacht, Tantchen, fett eben, in diefem Augenblid glauben Sie ihm nicht!” fagte Marfinka.

„Bei Gott, es iſt wahr! Und alle ſtuͤrzten ſich ploͤtzlich, als ſie mich erblickten, wuͤtend auf mich, ganz ſo wie Ihre Statuen, und ich riß aus und ſchrie und ſchrie. Semjon kam ſogar herein und weckte mich. Bei Gott, es iſt wahr, fragen Sie Semjon...“

„Na, die, mein Lieber, will ich für die Nacht Rhabarber eingeben, ober Faſtenoͤl mit Schwefel. Du haft jedenfalls die Würmer. Und darfſt du kein Abendbrot eſſen. —4

„Ja, das iſt ganz recht Ich werde Sie daran erinnern, Santchen,” ſagte Marfinka.

„Nun, Wiera jetzt erzähl” du deinen Traum du bift an der Reihe!” wandte fih Raiſki an Wiera.

„Was habe ich eigentlich geträumt?” fagte fie, ſich be finnend. „Se: ich fah, wie es bfißte, und der Donner rollte fo laut, und es ſchien, als fchlage es immer an einer. Stelle ein...”

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„Wie ſchrecklich!“ fagte Marfinka, „ih hätte laut aufs geſchrien.“

„Ih ſtand irgendwo am Ufer,” fuhr Wiera fort, „am Meere, und vor mir lag eine Bräde, die ins Meer hinein, sing. Ich lief auf der Bruͤde bin und kam bis in die Mitte da fehe ich, daß die andere Hälfte weg iſt, ber Sturm hatte fie zerſtoͤrt . .*

„Iſt das alles?” fragte Raiſki.

ua.”

„Auch diefer Traum iſt ſchoͤn, auch er enthält Poeſie!“ „Ih träume gewöhnlich nicht, oder Ich vergeſſe, was ich träume,” fagte fie, „heute aber hatte ih Fieber ba haben Sie bie Poefie!”

„Du darfft damit nicht fehergen,” meinte die Tante, „boffentlih fommt das Fieber nicht wieder.”

„Und jegt erzählen Sie, Bruder, was Sie geträumt haben !* ‚fagte Marfinta zu Raiſki. „Dent dir Ich bin die ganze Nacht geflogen!” „Wieſo denn geflogen?“ Er „Ss: ih hatte Flügel bekommen.“

„Das träumt man immer, wenn man wacht,” ſagte bie Groß, tante. „Darüber bift du Doch eigentlich fchon hinaus...” „Zuerſt verfuchte ih im Zimmer zu fliegen,” fuhr er fort, „e8 ging ganz famos! Ihr ſaßet alle im Saal, auf Stuͤh⸗ fen, und ich flog wie eine Fliege, bis an bie Dede. Ihr ſchriet alle auf mich los, und Tautchen fohrie am lau⸗ teften. Sie befahl Jakow, mid) mit dem Befenftiel herunter zuholen, aber ich fließ mit dem Kopfe das Senfter ein, flog hinaus und erhob mich Hoch über den Hain... Wie Föftlich war das, was für ein neues, wunderbares Gefühl! Das Herz ſchlug mir in der Bruft, das Blut fchien in ben Adern zu floden, bie Augen Blidten fo weit! Ich ſchwebte

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abwechſelnd Höher hinauf oder tiefer hinab, und als ich

einmal ganz hoch oben war, ſah ich plöglih, wie hinter

einem Gebäfch hervor Mark mit feiner Büchfe auf mid

jielte ...“

„Diefee Menfch erfcheint doch allen im Traume das

reine Schredigefpenft!” fagte Tatjana Markowna.

„Ich fah ihn geftern mit feiner Büchfe auf der Inſel, und

da traͤumte ich von ihm. Ach fehrie, wie ich ihn da unten auf mich zielen fah, aus vollem Halfe auf ihn los, doch er ſchien mich nicht zu hören und fuhr fort gu zielen... und ſchließlich ...“

„Ach, wie intereſſant, Bruder und ſchließlich?“ „Schließlich erwachte ich!“

„Iſt das alles? Ach, wie ſchade!“ ſagte Marfinka.

„Du wollteſt wohl, daß er mich erſchießen ſoll?“

„So rede doch nicht der iſt imſtande, es am lichten

Tage zu tun,“ murmelte die Großtante. „Hat er dir denn

ſchon die achtzig Rubel zuruͤckgegeben?“

„Nein, Tantchen, ich habe ſie auch nicht von ihm zuruͤck⸗ gefordert.“

„Ihr betet alle nicht andaͤchtig genug, wenn ihr euch ſchlafen legt,“ ſagte die Großtante, „darum traͤumt ihr ſo toͤrichtes Zeug! Ich ſehe ſchon, ich muß euch allen Glauber⸗

ſalz eingeben, damit euch ſolcher Unſinn nicht erſt in den

Kopf kommt.“

„Und was haben Sie getraͤumt, Tantchen? Erzaͤhlen Sie

Be Sie find an der Reihe,” wandte fih Naiffi an e.

„Ich ſoll doch hier nicht auch ſolches Zeug zum beſten

geben?“ |

> doch erzählen Sie, Tantchen!” drängte Mars nka.

[Hr 280 GH

„Darf ich vielleicht erzählen, Tantchen, was Sie geträumt haben ?* ſchlug Wikentjew vor.

„Wie kannft du denn willen, was ich geträumt habe?” Ich errate es eben.“

„Nun, dann rate einmal darauf los!“

„Sie haben geträumt,” begann er, „daß bie Bauern alles Getreide auf ben Markt gebracht und verlauft und das Geld vertrunfen haben ... Das war Ihr erfier Traum...” Alles lachte.

„Du bift ein Meifter im Erraten!“ fagte die Großtante. „Dann haben Sie geträumt, daß Jakow, Jegor, Prochor und Motka beteunfen auf ben Heuboden krochen, ihre Dfeifen anrauchten und den Hof angezündet haben..." „Daß du dich in die Zunge beißt fol ein Schwäger! Komm ber, ich will dich bei den Ohren nehmen!” „Drittens haben Sie geträumt, daß die Dienfimägbe eines fchönen Abends alles Eingemachte und alle Apfel anfı gegeffen und fämtliche ZIuders und Kaffeevorraͤte weg⸗ gefhleppt haben.”

Wiederum erfolgte eine Lachfalve.

„Weiter: daß Sawelij Marina alle Knochen im Leibe ent zweigeſchlagen bat...“

„Halt ein, fag’ ich dir!...“ rief Tatjana Markowna aufs gebracht dazwiſchen.

„And endlich träumten Ste,” ſchloß er fo haſtig, daß Ihm foͤrmlich Schaum vor den Mund trat, „Daß die Kreigs behoͤrde den Befehl erließ, die Dorfſtraße gu pflaftern und mit Trottoirs gu verfehen, und daß Ihnen eine Koms panie Soldaten als Einquartierung auf den Hof gelegt wurde...”

„Wart', Junge, dich will ih, dich will ih da, ba, da,” tief die Großtante, von Ihrem Plate anfftehend und

Hr 281 CH)

Wikentjew beim Ohr nehmend. „Solchen Unfinn gu reden und dag will ein Bräutigam fein!“

„Ganz ausgezeichnet hat er Sie abgemalt!“ fagte Raiſki aufmunternd. Marfinka lachte, daß ihr die Tränen in bie Augen traten, und felbft Wijera lächelte. Die Großtante feste fich wieder.

„Wie ihe nur auf all das dumme Zeug komme!” fagte

fie.

„Haben Ste überhaupt Träume, Tantchen ?” ſagte Raiſki. „Gewiß doch nicht fo unfinnige und fo törichte wie ihr alle!”

„Run, was haben Ste zum Beifpiel heute geträumt?“ Die Großtante begann nachzufinnen.

„sh traͤumte ... wartet einmal... ja: Ich fräumte von einem Felde, und darauf lag... Schnee.”

„Und weiter was?” fragte Naiftl.

„Und auf dem Schnee lag ein Holzſpaͤnchen ...“

„I das alles?” |

„Was wollt ihr noch mehr? Da braucht man, Gott fe Dan, wenigſtens nicht gu fchreien und zu fliegen I“

E

ISIIPISIIISIS

Einundzwanzigſtes Kapitel

en ganzen Tag faßen alle wie die naffen Hühner

zuſammen, trennten fih am Abend zeitiger als fonft und gingen zu Bett. Um zehn Uhr abends war alles ftill geworden. Der Megen hatte inzwifchen aufgehört. Raiſki zog feinen Paletot an und ging hinaus, um einen Kleinen Rundgang um das Haus zu mahen. Das Hoftor war verfchloffen, auf der Straße lag ber Schmug fo hoch, daß nicht durchzukommen war, und fo begab er fih in den Garten, Es war fill, die Bäume und Sträucher rauſchten nur ganz leife, und es tropfte von ihnen. Raiſki durchichritt mehrs mals den Garten und fieg dann über den Zaun bes Küchengarteng, um einen Blick über die Wolga aufs Feld zu werfen. Es war völlig dunkel. Am Horizont hatten fich die abs ziehenden Wolten zufammengeballt, und nur ganz hoch über feinem Kopfe flimmerten da und dort ſchwach bie Sterne. Er laufchte in dieſe Stille hinein und ſchaute in das Duntel, ohne etwas gu hören ober zu ſehen. Zur Rechten wogte der Nebel, nad links hinüber lag, wie ein ſchwarzer Fled, das Dorf, und weiterhin dehnten fich

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als gleihfärmige Maffe die Felder. Er atmete zweimal ganz kief die feuchte Luft ein und nieſte.

Piöglich hörte er, wie in dem alten Haufe ein Fenſter fi öffnete. Er blidte hinauf, doch es war keins der nad dem Garten gehenden Fenfter, dag geöffnet wurde, fondern eins, - das auf das Feld hinaus lag. Er eilte nach ber Akazienlaube, fprang dort über den Saun und trat in eine Pfüge, in der er, ohne fich zu rühren, ſtehen blieb.

„Sind Sie es?“ fragte eine flüfternde Stimme aus einem Senfter des unteren Stockwerkes. Es konnte nur Wera fein, da außer ihr niemand in dem alten Haufe wohnte. Raiſki fühlte, wie feine Knie bebten in faum vernehms barem Flüftertone antwortete er: „Ja.“

„Ich konnte heute nicht fommen es regnete ben ganzen Tag; fommen Sie morgen fruͤh um zehn Uhr nach ders ſelben Stelle... Gehen Sie raſch fort, es kommt jes mand !”

Das Senfter wurde leife gefchloffen. Raiſki fand Immer noch unbeweglich.

„Nach derfelben Stelle,” wiederholte er im fällen, und eg war ihm, als krampfe fein Herz fich zuſammen. „Wer ift er? Und wohin foll er kommen?” ging's ihm durch den Kopf, und er fchalt im fillen den Herannahenden, deſſen Schritte MWiera verſcheucht hatten. „Mein Gott alſo iſt's doch wahr: fie hat ihr Geheimnis!“ Und er hatte noch immer nicht daran glauben wollen! „Der Brief auf dem blaßblauen Papier er iſt kein Traum! Sie gibt Ihm ein Stelldichein! Da iſt fie, die geheimnisvolle Nacht! Und mie predigt fie Moral!“

Er ging den Schritten entgegen.

„Wer iſt da?“ rief ganz laut eine Stimme, während der

CH 284 CH " Syerannahende gleichzeitig mit aller Kraft gegen ein Brett flug. „Scher dich zum Tenfell” fagte Raiffi ärgerlich und ftieß Sſawelij denn diefer war es, ber auf ihn zugeſchritten kam heftig zur Seite. „Seit wann bewacht bu denn dag Haus?” „Die Snädige hat's befohlen,” antwortete Sſawelij. „Es gibt hier am Ort allerhand Spigbubenvolt ... entflohene Sträflinge ... auch die Klößer vom Strome treiben ihren Schabernad.. .” „Lüge doch nicht!” verfehte Raiſtki unwillig, „du lauerſt wieder nur beiner Marina auf das iſt ...“ „unrecht von dir,” hatte er fagen wollen, Doch ſprach er den Gag nicht zu Ende, machte Kehrt und ging fort. „Dorf ich wohl ein Wort über Marina fagen?" fprad Sſawelij hinter ihm ber. „Nun?“ „Könnte fie nicht auf die Polizei gebracht werden?“ „Du biſt wohl nicht recht gefcheit ?” fagte Raiſki und ging weiter. Doch Sſawelij ließ nicht von ihm ab. „Tun Sie mie doch um Gottes willen die Gnade an (hidden Sie fie wenigſtens nah Sibirien!” fagte er. Raiſki war ganz In das neue Problem vertieft, vor bag Mieras Gefpräh aus dem Fenſter ihn geftellt hatte, und er ging weiter. „Oder vielleicht könnte fie ind Arbeitshaus kommen auf Lebenszeit...” bat Sſawelij, immer hinter ihm her⸗ fohreitend. „Wofür denn?" fragte plöglich Raiffi und blieb flehen. „Ma, fie hat doch wieder... mit einem Briefträger angebandelt ... Laſſen Sie fie wenigſtens auspeits ſchen ...“ |

IM 285 GH

„Dich werde Ich auspeitfchen laſſen,“ fagte Raiſki, „damit du fie nicht wieder ſchlaͤgſt ...“ |

„Wie Ste wollen !”

„And damit du nicht ewig hinter ihr herſpionierſt. Das fe... gemein...” murmelte er duch die Zähne und blickte nach Wieras Fenſter. |

Er entfernte ſich, während Sſawelij wie toll auf das Brett losſchlug.

Raiſki ſchlief faſt die ganze Nacht nicht und erſchien am naͤchſten Morgen mit geroͤteten, heißen Augen im Kabinett der Tante. Der Tag war hell und klar. Alle waren zum Tee erſchienen. Wiera begruͤßte ihn munter. Er druͤckte ihr fieberhaft die Hand und ſah ihr forſchend in die Augen. Sie war ganz ruhig und heiter, als ob gar nichts waͤre.

„Wie kokett du heute angezogen biſt!“ ſagte er.

„Sie finden dieſe einfache helle Bluſe kokett?“

„And die hochrote Haarſchleife, und die Friſur mit der langen, achtlos über die Schulter geworfenen Haarfträhne, und der Gürtel mit der fehönen Schleife, die Stiefeletten mit dem rotſeidenen Befag! Du haft einen ganz erlefenen Geſchmack, Wiera, ich bin entzuͤckt.“

„Freut mi, daß ih Ihnen gefalle; aber Ste äußern Ihr Entzüden auf fo fonderbare Weife. Warum bag, fagen Ste ?” „Ih will e8 die fagen wollen wir einen Spaziergang machen?“

„Bann?“

„um gehn Uhr.”

Sie warf ihm einen raſchen, forſchenden Blick zu. Er be⸗ merkte dieſen Blick.

„Es war verkehrt, daß ich das ſo beſtimmt ſagte um zehn Uhr,“ dachte er, „ich haͤtte re follen: u gegen Er Uhr... Sie bat alles erraten.

00 286 CO

„Out, gehen wie!“ willigte fie ein, nachdem fie ein Wells hen überlegt hatte. „Es ift jegt noch zu früh, noch nicht sehn Uhr.”

Sie ſetzte fich ſchweigend und feinen Blicken ausweichend in eine Ede und antwortete nicht auf feine Fragen. Kurz vor zehn Uhr nahm fie ihre Urbeitstörbehen und ihren Sonnenfhirm und machte ihm ein Zeichen, er folle ihr folgen.

Sie gingen wortlos in ber Allee daher, die vom Haufe mwegführte, lenkten dann in eine zweite Allee ein, durch⸗ fhritten den Park und machten endlih am Rande ber Schlucht Halt. Dort war eine Bank, auf die fie fich fegten. „Wijera!“ begann er, feine Erregung kaum bemeifternd „e8 fcheint, daß mir ber Zufall einen Teil deines Geheim⸗ niſſes enthüllt hat...“ | „3a, es fcheint in der Tat fo,” fagte fie kühl. „Ste haben geftern meine Worte gehört...”

„Ganz zufällig, ich gebe dir mein Ehrenwort ...“

„sh glaube es Ihnen,” unterbrach fie ihn und warf ihm einen flüchtigen Blid zu. „Nun, was weiter ?” „Nichts... Sch weiß jegt: bu Tiebft einen andern. Meine Zweifel find gefhwunden ... Aber wer iſt's?“

„Ich fage es nicht, fragen Sie nicht!” fagte fie troden. Gie feufste.

„IH weiß felbft, daß meine Frage töricht it und doch möchte ich eg wiffen ... Ach, Wiera, Wiera wer könnte die wohl mehr Süd geben als ih? Warum glaubft du ihm und nicht mir? Du haft fo kalt, fo fireng über mich geurteilt und wer fagf dir, daß ber, den du liebſt, die ein bauerhaftes Gluͤck geben, dich für länger als ein halbes Jahr glüdlich machen wird? Warum glaubft bu ihm?” „Weil ich ihn liebe.“

GO 287 GC

„Du liebſt ihn!” fagte er in fchmerzlihem Tone. „Mein Gott, diefer Südliche! Und womit wird er dir diefeg große Gluͤck vergelten, das du ihm ſchenkſt? Du Tiebft, meine Freundin fei auf der Hut und prüfe, ob du ihm auch wirklich vertrauen kannſt ...“

„Borläufig vertraue ich noch mir ſelbſt...“

„Wer ift es, den du Tiebft 2” |

„Wer es iſt?...“ fagte fie und fah ihn mit ihrem farblofen, raͤtſelhaften Nirenblid ducchdeingend an. „Nun Sie find es!“...

Der Atem fiodte ihm.

In diefem Augenblid fiel unten in der Schlucht ein Schuß, Sie fand raſch von der Bank auf.

„Was iſt das ifl... er es?“ fragte Raiſki mit vers zerrtem Geficht. Ä

„Ich muß gehen e8 ift gehn Uhr,” fagte fie, von fichrlicher Unruhe ergriffen, während fie Raiftis Blick zu vermeiden ſuchte.

Sie ging weiter nach der Schlucht zu, und er machte Miene, ihr zu folgen. Sie bedeutete ihm durch eine Handbewegung, daß er zuruͤckleiben ſolle.

„Was hat dieſer Schuß zu bedeuten ?” fragte er mit dem Yusdrud des Schredeng.

„Er ruft mid...”

„Ber ?”

„Der Schreiber des Blauen Briefes... Bleiben Sie nicht einen Schritt weiter I” fagte fie nachdrudsvoll flüfternd „wenn Sie nicht wollen, daß ich...”

„Wiera!“

„Richt einen Schritt niemals!“ wiederholte fie, den Ab⸗ hang hinunterfchreitend „oder ich verlaffe diefes Haug für immer!”

CH 988 CH;

Sie entfhwand im Gebuͤſch.

„Wiera, Wieral Set auf bee Hut!” rief er verzweifelt hinter ihr ber und laufchte in das Didicht hinein.

Er hörte nur, wie zwei⸗ oder dreimal bag trodene Geaͤſt unter ihrem raſchen Schritte knackte, dann wurbe es ftill. „Mein Gott!” rief er voll Neid und Vergweiflung „wer ift er, wer iſt dieſer Städliche?... ‚Sch liebe Sie!‘ fagte fie. Mich! Mie, wenn es doch der Fall wäre?... Aber der Schuß?” flüfterte er entfegt. „Und der Schreiber des blaßblauen Briefes?! Welch ein Geheimnis! Werifter?..”

INN. ADAM DI,

Av

Zweiundzwanzigſtes Kapitel

8 war niemand anders als Markt Wolochow, der Paria,

der Zynifer, der bag Leben eines Landftreicherg, eines Zigeuners führte, der alle Welt anborgte, auf harmloſe Menfchen ſchoß, bee Gefellfchaft als ein „zweiter Karl Moor“, wie Raiſtki ſich ausgedrädt hatte, den Krieg ers flärte, mit einem Wort... der Verſtoßene und Schächer Barabbas, der ald Staatsfeind unter Poligeiaufficht ſtand. Und diefem Menſchen gab Wiera, dieſes in dem behaglichen trauten Neft unter den Fittihen der Großtante aufges wachſene reizende Gefchöpf, dieſe bewunderte Schönheit, zu der die vornehmſten Freier der Gegend nur ſchuͤchtern den Blick zu erheben ſich trauten, der die keckſten Maͤnner nicht mit einem unbeſcheidenen Blick, einer Schmeichelei, einem Kompliment ſich gu nahen wagten, dieſelbe Wiera, vor der felbft eine Defpotin wie die Großtante fich beugte, nun mit einemmal heimliche Nendesuons! Wo hat fie ihn getroffen, wo ihn kennen gelernt, da ihm doch ber Zutritt zu allen guten Häufern verwehrt war? Es war auf Höchft einfache, zufällige Weiſe gefchehen. Im Spätfommer des vorigen Jahres, als bie Apfel eben reif waren und gepflüdt werden follten, ſaß Wera eines

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Tages In der Heinen Akazienlaube, die in ber Nähe des alten Haufes dicht am Zaune fand, und ſchaute gleichgältig auf das Feld, die Wolga und bie Berge hinaus. Plöglich bemerkte fie, daß nur wenige Schritte von ihr entfernt im Obſtgarten die Zweige eines Apfelbaumes fi über ben Zaun neigten. Sie beugte fih vor und fah einen Menfchen ruhig auf dem Zaune figen, der ein paar Apfel in der Hand hielt und eben vom Zaune hinabfpringen wollte. Es war weder ein Schuljunge noch ein Diener oder fonft einer der gewoͤhn⸗ lichen Obſtdiebe. „Was machen Sie bier?” fragte fie ihn plöglich. Er fah fie ein Wellchen an. „Sie fehen, ich delektiere mich,” fagte er dann und biß in einen Apfel hinein. „Wollen Ste nicht auch einen koſten ?“ meinte er, rüdte auf dem Zaune näher gu ihre heran und bot ihr gleichfalls einen Apfel an. Sie frat einen Schritt vom Zaune zuräd und betrachtete ihn mit Neugier, ohne eine Spur von Furcht. „Wer find Sie?” fagte fie fireng „und warum klettern Sie auf fremde Zäune hinauf?“ „Wer ich bin, geht Sie nichts an. Und warum ich auf die Zäune Hettere? Ich ſagte es Ihnen doch ſchon: Ich Hole mie Apfel von den Bäumen.” „Und Ste fhämen fich nicht? Sie find doch, wie es ſcheint, fein Schuljunge mehr!” „Warum foll ich mich ſchaͤmen ?” Er lachte,

„Heimlih fremde Apfelbäume zu pluͤndern!“ fagte fie vorwurfsvoll. „Fremde Apfelbaͤume? Die Apfel gehören mir Sie haben fie mir geflohlen !“

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Sie ſchwieg und fuhr fort, ihn mit Neugier zu be⸗ trachten. „Sie haben jedenfalls Proudhon nicht geleſen,“ ſagte er und ſah ſie durchdringend an. „Das heißt, Sie ſind wirk⸗ lich eine Schönheit!” fügte er gleichſam in Parentheſe hin⸗ zu. „Ste wiffen natürlich nicht, was Proudhon ſagt?“ „La propriete c’est le vol‘, fagte fie.

„Ei, Ste haben ihn gelefen?” fagte er ganz erflaunt und fah fie mit großen Augen an.

Sie fihüttelte verneinend ben Kopf.

„Nun ja, diefe göttliche Weisheit macht ja jet bie Runde durch die ganze Welt. Sollich Ihnen ben Proudhon Bringen ? Sch beſitze ihn.”

„Ste ftehlen Apfel und glauben, das fei kein Diebftahl, weil Here Proudhon ſagte ...“ | Er warf ihr einen rafchen Blick zu.

„Mnd Ste glauben, das, was man Ihnen in ber Penfion oder Im Inſtitut gefagt hat... oder was... Aber fagen Sie, wer find Sie? Diefer Garten gehört doch ber Bereſch⸗ kowa Sie find wohl ihre Großnichte? Sie foll zwei huͤbſche Maͤdchen im Haufe haben...”

„Was geht e8 Sie an, wer ich bin? Warum wollen Sie dag wien?”

„Ich wollte Ihnen nur fagen, daß Sie an bag glauben, was Ihre Großtante Ihnen ald Wahrheit bezeichnet..." „Ich glaube an dag, was mich überzeugt.“

Er 09 die Muͤtze und verneigte fi.

„Genau fo wie ihr Ste halten eg alſo fuͤr ein Verbtechen, daß ich dieſe Äpfel hier pfläder.. .“

„3% halte es für unanftändig.”

= das Ihre Übersengung ?”

„Ja.“

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„Nun ich Bin noch nicht gu dieſer Überzeugung belehrt, aber ich will Ihnen eine Konzeſſion machen: nehmen Sie die vier Apfel, Die Ich noch habe, zuruͤc!“ fagte er und reichte ihre die Apfel. „Ich ſchenke fie Ihnen.” Er zog wieder die Muͤtze, verneigte ſich ironiſch und biß in einen zweiten Apfel. „Sie find in der Tat eine Schönheit,” wiederholte er dann und zwar eine Schönheit in doppeltem Sinne: Sie befiten auch Geiſt. Schade, daß Sie dazu beſtimmt find, das Leben irgendeines Idioten zu verſchoͤnern. Man wird Site weggeben, Ste Yrmfte .. .” „Bitte, kein Mitleid! Man wird mich nicht weggeben denn ich bin fein Apfell.. .” „Weil Sie gerade von Apfeln reben: zum Dank für Ihr Geſchenk will ich Ihnen Buͤcher bringen. Leſen Ste gern 2“ „Den Proudhon?“ „Sa, und was es fonft dergleichen gibt. Ich bekomme immer die neueſten Sachen. Aber zeigen Sie Ihrer Groß⸗ tante oder Ihren ſtumpfſinnigen Gaͤſten nichts davon. Ich kenne Sie zwar nicht, doch glaube ich, daß Sie nicht von dem gleichen Schlage ſind ...“ | „Woraus fehlteßen Ste das? Sie kennen mich doc erft feit fünf Minuten ...“ „Man merkt's an ber Kralle, gu welcher Art ein Vogel gehört. Es iſt ein freier Schwung in Ihrem Denten Sie gehören zu ben Lebenden, nicht gu ben Toten, und das iſt heute die Hauptſache. Alles andere kommt Er ſelbſt, nur der Anftoß iſt nötig. Wollen Sie, A „Gar nichts will ich! Sie reden vom freien Schwung in meinem Denken und wollen mir dabei ſchon Feſſeln

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anlegen! Wer find Sie, und wie fommen Sie dazu, mid belehren zu wollen, fih zu meinem Lehrmeifter aufzu⸗ werfen?”

Er ſah fie Höchft verwundert an.

„Bringen Sie mir feine Bücher, und fommen Sie auch felbft nicht mehr Hierher,” fagte fie und trat weiter vom Zaune zuruͤck. „Es iſt ein Wächter Hier im Garten wenn der Sie zu fafien befommt, geht es Ihnen ſchlecht!“

„Jetzt riechen Ihre Worte wieder nach der Großtante, nah dem Staͤdtchen, nah Faſtenoͤll Und Ich dachte (don, Sie liebten die weiten Fluren und bie Freiheit! Fuͤrchten Sie fih vor mir? Wer bin ich wohl nach Shrer Meinung ?”

„Ich weiß nicht wahrfcheinlich irgendein Seminarifl,” fagte fie obenhin.

Er lachte laut auf.

„Woraus ſchließen Ste dag?”

„Die find immer hungrig, unſauber und Armlich anges zogen ... Kommen Sie in die Küche, ich will Ihnen etwas. oorfegen Taffen I” | „Ich danke Ihnen beftens... Weiter haben Ste alfo an dem Seminariften nichts bemerkt 7”

„Ich babe noch nie einen näher kennengelernt und nur wenige gefehen. Ste find fo ungehobelt, führen eine fo lächerliche Sprache... .”

„Das find unfere wahren Miffiondre ob ihre Sprache Ihnen noch fo lächerlich Hingen mag. Diefe Hungrigen, Yusgemergelten find es, die vor allem heran mäffen! z gehen mit Eifer Ind Feuer, nn blind darauf os.“ |

„Yuf was denn ?

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„Auf das Licht, auf bie neue Wiſſenſchaft, das neue Les ben... Wiffen Sie denn von nichts, haben Gie von alles dem nichts gehört? Wie naiv Sie doc find...“ „Was ift alfo mit diefen Seminariften ?” „Man hält fie im Dunteln, füttert ihre Seelen mit totem Aas und prügelt fie obendrein unbarmherjig. Und bie gang befonders heißblätig find, befommen nicht einmal Has zu freffen, fondern einfah nur Pruͤgel. Was Wunder, daß fie aus ihrer Finſternis and Leben ftreben, daß fie fih begierig auf alles Neue fürgen... Es iſt gefundes, friſches junges Boll, das nah Luft und Geiſtesnahrung hungert, unb gerabe diefe Art brauchen wie...” „Wen verftehen Ste unter ‚wir‘ ?” „Soll ih’8 Ahnen tagen ? Ach verſtehe Darunter bie neue, fommende Macht ...“ „Die neue, kommende Macht die alſo ſind Sie!“ ſagte ſie und ſah ihn zugleich neugierig und ſpoͤttiſch an. „Doch wer ſind Sie denn ſonſt? Oder iſt Ihr Name ein a nis ?“

„Mein Name? Werden Ste nicht erſchrecken?“

„ch weiß nicht vielleicht. Aber nennen Sie ihn nur!” „Ich bin Mark Wolochow. Das tft Hier in dieſem muffigen Erdenwintel etwa gleichbedeutend mit Pugatſchew oder Stenjka Raſin.“ Sie blickte ihn immer wieder voll Neugierde an. „Der find Sie alſo!“ ſagte fie. „Sie ſcheinen nicht wenig ſtolz zu fein auf Ihren großen Namen! Ich habe von. Ahnen fehon gehört Sie haben auf Nil Andreltſch ges ſchoſſen und Ihren Hund auf eine Dame gehegt... Und das ift die neue Macht? Gehen Sie und kommen Sie nicht wieder her...”

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„Sie fagen es wohl fonft der Sroßtante?”

„Unbedingt. Leben Sie wohl!”

Sie entfernte fih, während er Ihr mit heißen, gierigen Yugen folgte.

„Wenn man diefen Apfel fo ftehlen könnte!” murmelte er für fih, während er vom Zaune herabfprang.

Ste hörte feine legten Worte nicht. Der Großtante ſagte fie nicht ein Wort von ihrer Begegnung nur Ihrer Freuns din Natalta Iwanowna erzählte fie von dem Abenteuer, vers pflichtete fie jedoch, niemandem etwas davon zu fagen.

Die Schlucht

Vierter Teil

Erſtes Kapitel

Ve Wiera Raiſki verlaffen Hatte, blieb fie noch ein Weilchen ftehen und lauſchte, ob er ihr nicht folge, dann f&hlüpfte fie plöglich feitwärts Ins Gebuͤſch, bahnte fich mit dem Schirm einen Weg durchs Gezweige und huſchte wie ein Schatten auf dem ihr bekannten ſchmalen Fuß⸗ wege hin.

Ste gelangte nah dem verfallenen, halb vermorfchten Pavillon in dem Haine, der einfimals einen Teil des Parks gebildet Hatte. Die Treppe war losgeloͤſt, die Stufen Hafften auseinander, der Boden im Innern hatte fich ge⸗ ſenkt, einige Bretter waren eingeſtuͤrzt, andere gaben unter den Fuͤßen nach. Nur der ſchiefſtehende Tiſch und die beiden ehedem gruͤnen Baͤnke waren unter dem moosbedeckten Dache noch uͤbrig geblieben. In dem Pavillon ſaß Mark Wolochow, und vor ihm auf dem Tiſche lag feine Buͤchſe und feine Ledertaſche. Er reichte Wjera die Hand und zog fie fat Aber Die zer⸗ brochenen Treppenftufen in den Pavillon hinein, „Barum fo fpat?”

„Der Bruder hat mich aufgehalten,” fagte fie und blidte anf die Uhr. „Übrigens befrägt die Verfpätung nur eine

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Viertelftunde. Nun, wie geht es? Iſt nichts Neues vors gefallen ?” „Was fol vorgefallen fein?” fragte er. „Haben Sie etwas erwartet?” „Hat man Ste nicht wieber auf bie Hauptwache gebracht, oder auf der Polizei eingefperrt? Ich erwarte es jeben

Tag..."

„Nein, ich bin jegt vorfichtiger geworben, ſeit Raiſki in einer Anwandlung von renommiftifher Großmut bie Ges fchichte mit den Büchern auf feine Kappe genommen „Ach liebe das nicht an Ahnen, Mark...“

„Was lieben Sie nicht?”

„Diefes trodene, höhnifhe Verhalten gegen alles, mas nicht Ihre eigene Perfon betrifft. Der Bruder hat durch⸗ aus nicht renommiert, er hat mir nicht einmal ein ort davon gefagt. Sie wollen den guten Dienft, ben er Ihnen geleiftet Hat, nicht anerlennen.” |

„Doch aber ich tue es auf meine Weile.”

„3a, wie der Wolf den guten Dienft bes Kranichs ans erkennt. Warum können Sie ihm nicht fo von Herzen, ganz fchlicht und einfach, Dank fagen, wie er ſchlicht und einfach getan hat, was Sie verlangten? Der richtige Wolf find Sie,“ fagte fie, indem fie im Scherz mit dem Sonnen⸗ ſchirm nach ihm ausholte. „Miles verneinen, alles vers. laͤſtern, alles fcheel anſehen ... Iſt das Stolg, oder... .”. „Dder was?“ | | „oder Renommage, eifle Poſe die neue Erziehungs; methode der ‚Iommenden Macht?...“

„Ach, Ste Spötterin!" fagte er, fich dicht neben fie fegend. „Ste find noch jung, haben noch nicht gelebt, noch nicht. Zeit gefunden, Ihre Seele mit all den Giften. ber guten

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alten Zeit zu infigieren. Wann wird es mir endlich gelingen, Ihnen den Wert echt menfchlicher Wahrheit begreiflich gu machen ?” |

„And wann wird es mir gelingen, Sie von dem Unwert echt wölfifcher Lüge zu überzeugen ?” |

„Am Worte find Sie nicht verlegen: ein kluges Mädchen ! Langeweile empfindet man in Ihrer Gefellfchaft nicht. Wenn ich jet obendrein noch... .”

Er fragte fih nachdenklich Hinter dem Ohr.

„Ins Polizeigefängnis gefperrt würde...” ergänzte fie den von ihm begonnenen Sag. „Ich glaube, das fehlt Ihnen noch zu Ihrem Gläde!“

„Wenn Sie nicht wären, wide ich laͤngſt Irgendwo hinter Schloß und Riegel figen. Sie hindern mich daran...” „Ste koͤnnen nicht friedlich leben, Ste wollen immer Sturm haben! Und dabei haben Ste mir doch verfprochen, ein anderes Leben zu beginnen, und was fonft noch alles. Ich war fo glädlich, daß man fogar zu Haufe meine Vers südung bemerkt hat. Und Sie fchlagen ſchon wieder die alte Tonart an!”

Er nahm ihre Hand in die feine.

„Eine reisende Hand,” fagte er, kuͤßte mehrmals ihre Hand, preßte einige Küffe darauf und fuchte fie an fich zu sieben und auf die Wange zu kuͤſſen, doch rüdte fie von ihm „Wieder nicht! Wann wird diefe Zurädhaltung ein Ende nehmen? Sie halten wohl jest, um Mariaͤ Himmelfahrt, bie Faſten inne? Oder fparen Ste Ihre Zärtlichkeiten fo lange auf...”

„Ich liebe es nicht, wenn Ste darüber ſcherzen!“ fagte fie, ihm ihre Hand entziehend. „Sie wiſſen das ganz genau.“ „Der ‚Ton‘ gefällt Ihnen nicht?”

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„Mein, er If mie unangenehm. Sie mäffen fih ihn ab» gewöhnen, wie Aberhaupt biefe Wolfsmanteren | Das wird der erfte Schritt zur menfchlihen Wahrheit fein.” „Ach, feht doch das gnädige Fräulein, das Heine Penſions⸗ daͤmchen! Sie buchſtabieren ja noch kaum vom Ton zu ſprechen, und von Manieren! Es geht verdammt lang⸗ ſam mit Ihrer Entwidlung zum Weibe! Bor Ahnen liegt die Freiheit, das Leben, die Liebe, das Gluͤck und Sie reden vom Ton und von Manieren! Wo bleibt dba ber Menſch, mo das Weib in Ihnen?... Bon was für einer Wahrheit kann ba bie Rede fein?”

„est fprechen Ste ganz wie Raiſki...“

„Ya, Raifti was macht er denn? Hat ihn noch immer die Leidenfchaft in Ihren Krallen?”

„Schlimmer denn je. Ich weiß wirklich nicht, was ih mit ihm machen foll.” |

„Was Ste mit ihm machen follen? Zum Narren möffen Ste ihn haben, nasführen muͤſſen Sie ihn...“

„Das iſt fo Häßlich, fo peinlich und befhämend,“ fagte fie fopffchättelnd. „Ich verfiehe mich nicht baranf, es liegt mir nicht.“

„Weſſen ſollten Sie ſich denn ſchaͤmen? Meinen Sie nicht, daß auch er Sie nasfuͤhrt?“

Sie ſchuͤttelte zweifelnd den Kopf,

„Nein, er fcheint wirklich verliebt...”

„am fo ſchlimmer; er wirbt um Sie wie um feine Leib⸗ eigene. Diefe Verſe, bie Ste mir zeigten, bie Bruchſtuͤcke Ihrer Unterhaltung mit ihm alles das zeigt deutlich, daß er nur einen Zeitvertreib ſucht. Man muß ihm eine Lektion erteilen ...“

„Richtiger iſt's jebenfalls, ihm alles zu ſagen dann reiſt er ab. Er ſagt, dieſe Heimlichkeit errege ihn

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fobald er alles wiffe, werde er fih beruhigen und ab; reifen... .” |

„Slauben Ste ihm nicht, er luͤgt, er fucht Ausflüchte. So⸗ bald Sie ihm die Wahrheit fagen, wird er Sie haffen, oder er wird Ihnen Moral predigen, wenn er e8 nicht gar ber Großtante ſagt ...“

„Das verhuͤte Gott!“ unterbrach ihn Wiera erſchreckend „niemand anders darf es ihr ſagen, als nur wir ſelbſt ... Ah, könnten wir e8 doch recht bald tun! Soll ich vielleicht für einige Zeit verreiſen?...“

„Wohin wollen Ste reifen? Für längere Zeit Könnten Sie nicht fort, wohin follten Ste gehen? Und wenn Sie nur fuͤr kurze Zeit verfchwinden, reist ihn das nur wieder. Sie waren doch ſchon fort und was hat es geholfen? Nein, e8 gibt nur ein Mittel ihm nicht die Wahrheit zu fagen, ſondern ihn hinzuhalten. Laffen Sie ihn den Kopf verlieren, Verſe beflamieren, den Mond an fihauen... er iſt Doch ein unheilbarer Romantiker... Er wird ſchließ⸗ lich nüchtern werben und abreiſen ...“

Ein Seufzer entflieg ihrer Bruſt.

„Er ift fein Romantifer, fondern ein Poet, ein Kuͤnſtler,“ fagte fie. „Ich beginne an ihn gu glauben. Es ſtedt viel echte Empfindung, viel Wahrheit in ihm... Ich wuͤrde ihm nichts verheimlichen, wenn er felbft nicht von biefer . .. Leidenfchaft, wie er es nennt, beherrfcht wäre. Nur um ihn ein wenig abzukühlen, fpiele ich dieſe törichte Doppeltolfe . . . IE diefer Rauſch erft bei ihm verflogen, dann zoͤgere ich nicht, ihm alles zu fagen, ans eigenem Antrieb... und tie werben Freunde fein...“

„allen wie ihn fchon I” fagte Mark und ergriff wieder Ihre Hand, „Wir find doch nicht sufammengelommen, um ung über ihn gu unterhalten I” =

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Er kuͤßte ſchweigend ihre Hand. Ste überließ fie ihm mit nachdenklicher Miene.

„Run, was gibt es fonft gu erzählen?“ fagte fie, Ihre truͤben Gedanken mit Gewalt verfcheuchend.

„Was foll es geben?”

„Was haben Sie in biefen Tagen getrieben, wen haben Sie gefprohen? Haben Ste fi nicht wieder irgendwo verfhnappt, von der kommenden Macht, bem heimlichen Katfer, den jungen Hoffnungen gefprochen? Ich erwarte es jeden Tag; zuweilen bin ich ganz hin vor Angft und Unruhe.”

„Nein, nein,” fagte Mark lachend, „haben Sie feine Angſt, ich laſſe fie laufen, diefe Idioten. Es lohnt fich nicht, fich mit ihnen abzugeben.”

„Ach, wenn’d doch der Fall wäre: das wäre fehr vernünftig! Sie find auf Ihre Art ſchlimmer als Raifi, Sie verbienen eine Lektion weit eher ald er. Er ift ein Künftler, er zeichnet, ſchreibt Geſchichten. Seinetwegen kann ich ruhig fein um Gie aber muß ich mich ewig Angfligen. Neulich war wieder bei den Lofgins folch eine Gefchichte der jüngere Sohn des Hanfes, Wolodja, ein viergehnjähriger Junge, erklaͤrte plöglich feiner Mutter, er würde nicht mehr zur Meſſe gehen.”

„Run und was weiter?”

„Er bekam eine Tracht Prügel, und man nahm ihn ing Gebet, wie er auf folde Einfälle komme. Da fagte er, er babe das von feinem älteren Bruder. Diefer wiederum hatte im Mädchenzimmer einen ganzen Abend Propaganda getrieben es ſei ein Unfinn, gu faften, es gebe keinen Gott, und die Ehe fei der größte Blödfinn . . .“

„Ach!“ vief Mark erfehredend „im Mädchensimmer ? Iſt das wahr? Und ich habe ihn für einen fo verfiändigen

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Menfchen gehalten, habe ſtundenlang mit ihm geredet und ihm Bücher gegeben . . .”

„Mit denen ging er zum Buchhändler und fagte: ‚Seht ber, folche Bücher müßt ihe feilhalten!...“ Wenn er nun Ihren Namen nennt, Mark?” fagte Wiera im Tone ernften, zärtlihen Vorwurfs. „Jedesmal, wenn Sie Abfchied nahmen und mich um ein neues Stellbichein baten, haben Sie mir verfprochen, dag gu laſſen ...“

„Ah habe es auch nicht mehr getan, feit ich es Ihnen vers ſprach. Sch habe jede Verbindung mit ihnen abgebrochen. Schelten Sie mich nicht, Wiera!" fagte Mark düfter. Er verſank in tiefe Bruͤten.

„Wenn Ste nicht wären,” fagte er, von neuem ihre Hand ergreifend, „würde ich morgen von bier entfliehen.” „Wohin? Überall ift dasſelbe überall gibt es junge Bürfchchen, die fih danach fehnen, daß ihnen der Schnurr⸗ bart recht bald wachfen möchte, und überall gibt es auch Mäbchenftuben ... Erwachfene Leute Hören Doch auf fo etwas nicht! Schämen Sie fih nicht der Rolle, die Sie fpielen ?” fagte fie nach einem Meilchen und krante ihm, während er fich über ihre Hand beugte, das Haar. „Glau⸗ ben Sie wirflih an fie, halten Ste fich wirklich im Ernft für einen Berufenen ?“”

Er warf den Kopf in den Naden.

„Ste reden von einer Rolle... e8 handelt fih darum, die Geifter mit einem Strahl lebendigen Waffers anzufrifchen I” „Slauben Sie an die Kraft diefes ‚lebendigen Waffers‘ ?” „Sören Sie, Wiera Ich bin nicht Raiſki,“ fuhr er, fich von ber Bank erhebend, fort. „Sie find ein Weib, ober viels mehr noch nicht einmal ein Weib, fondern eine Kuofpe, die ſich erft noch entwideln, erft zum Weibe werben foll. Erft wenn Sie zum Weibe geworben, werben Sie viele

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Geheimniffe begreifen, die ſich ein Mäbchenkopf nicht eins mal träumen läßt, die fich nicht mit Worten erflären laſſen, fondern nur auf dem Wege ber Erfahrung erfaßt werden fönnen.... Ich zeige Ihnen ben Weg der Erfahrung, zeige Ihnen, wo bag Leben ift, und worin es befteht und Sie machen auf der Schwelle Halt und fträuben fich, weiters zugehen! Sie haben fo viel verfprohen und fchreiten doch fo langfam vorwärts! Und dabei wollen Sie mich noch belehren! Vor allem aber: Sie glauben nicht!” „Seien Sie mir nicht böfe,” fagte fie aufrichtig, in herzlichen Tone „ih ſtimme mit Ihnen in dem überein, was mir recht und wahr fcheint. Und wenn ich Ihnen nicht entfchieden genug auf diefes Leben, biefe Erfahrung, von ber Sie reden, loszuſchreiten fcheine, fo gefchieht es deshalb, weil ich felbft fehen und wiffen will, wohin ich gehe.”

„Mit anderen Worten: Sie räfonnieren, erwägen.”

„Ja wollen Sie denn, daß ich nicht erwaͤge?“

„Hören Sie, Wiera,” fagte er, „erſtens liebe ich Sie und vers lange eine volle, Hare Antwort und dann bitte ich Gie, mir Glauben zu ſchenken und auf mich zu hören. Iſt in mir vielleicht weniger Glut, weniger Leidenfchaft ale in Ihrem Raiſki mit all feiner Poefie? Ich weiß nur von meiner Leidenfchaft nicht fo poetifch zu reden und halte dag auch für aberflüffig. Die echte Leidenfchaft ſchwatzt nicht... . Aber leider glauben Sie mir nicht, hören nicht auf mich und wollen mich nicht hören... .”

„Mberlegen Sie doch, Mark, was Sie von mir verlangen: ih foll durchaus duͤmmer fein, als ich es wirklich bin! Sie haben mir felbft die Freiheit gepredigt, und nun wollen Sie den Heren fpielen und flampfen mit dem Fuße auf, weil ich Ihnen nicht ſtlaviſch gehorchen will... .“

„Wenn Sie fein Vertrauen zu mir haben, wenn Sie an

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mir zweifeln dann laffen wir lieber voneinander,” fagte er, „bann iſt es befier, wir fehen ung nicht mehr...” „sa, es ift wirklich beffer,” fagte auch fie in beſtimmtem Zone, „ih will jedenfalls niemandem blindlings glauben | Ich will es nicht. Sie weichen jeber offenen Erflärung aug, während ich verlange, baß fein Nebel, keine Zweideutigkeit, fein Mißverfiändnig zwiſchen ung beftehe, daß wir einander fennen lernen und uns gegenfeitig vertrauen... Ich fenne Sie nicht... und kann Ihnen nicht vertrauen!” „Ad, Wera!” faste er unwillig, „Ste flüchten fih noch immer unter bie Roͤcke Ihrer Großtante, wie ein Hühnchen unter die Fittihe der Henne: Sie haben ganz diefelben fittlichen Vorftellungen wie fie! Sie pugen die Leidens [haft mit irgendeinem phantaftifchen Koftüm aus, genau fo wie Raiſki, ſtatt einfach bei der Erfahrung bie Wahrheit gu fuchen... und dann zu glauben, gu vertrauen...” fagte er und blidte dabei zur Seite. „Laffen wir alle andern Fragen aus dem Spiel ich will fie jetzt nicht berühren, Es liegt doch alles fo einfach, fo Har zwiſchen ung: wir lieben einander... ja oder nein?”

„Was folgern Sie daraus, Mark?”

„Wohlan, wenn Sie mie nicht glauben tollen, dann ſchauen Sie einmal ringsum: von Hein auf leben Sie in Geld und Wald und fehen dieſe Erfahrungen nicht ... blicken Sie hierhin, dahin... .“

Er zeigte nach einer Taubenfchar, die fi auf und nieder ſchwingend durch die Luͤfte ſchwebte, und dann nach einem Schwalbenpaar, das, einander jagend, in raſchem Fluge voruͤberſchoß. „Lernen Sie von Ihnen, ſie raͤſonnieren und kluͤgeln nicht!“

„Ja,“ ſagte fie, „aber lernen auch Sie von Ihnen: ſehen Sie, wie fie um das Neft Ereifen ?“

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Er wandte ſich ab.

„Da fliegt eine irgendwohin jedenfalls Holt fie Butter...“ „Und zum Winter fliegen fie alle auf und davon!” warf er achtlos, immer noch zur Seite blidend, hin.

„Doch zum Frühjahr kehren fie nach bemfelben Nefte suräd,“ bemerkte fie.

„Ih höre auf Sie und glaube Ihnen, wenn ich fehe, daß Sie vernünftig reden,” fagte er. „Meine fehroffe Art gefiel Ihnen nicht und ich habe fie gemilbert. Ich habe mich wieder in die alten Manieren hineingefunden und werbe bald der reine Tit Nikonytſch fein, werde Kragfüße machen, und Komplimente fehneiden, und ſuͤßlich lächeln. Ich ſchimpfe nicht, ich zanke nicht, man Hört mich kaum noch. Wie lange dauert es noch, und ich gehe alle Tage in die Fruͤh⸗ meſſe. Was wollen Sie noch mehr?”

„Alles das find nichtsfagende Dinge, nicht das iſt's, was ich wollte!” fagte fie mit einem Seufzer. z „Was wollten Sie benn fonft?”

„Alles wollte ih! Dder wenn nicht alles, fo doch vieles! Und bisher habe Ich noch nicht einmal erreicht, daß Sie fich ſelbſt fchonen ... wenn auch nur für mi... daß Sie aufhören, die ‚Seifter anzufrifchen‘, und fih fo benehmen wie andere Menfchen .. .”

„Wenn ich aber ans Überzeugung handle?”

„Bas wollen Sie denn erreihen? Was erhoffen Ste?” „Die Dummen will ich belehren...“

„Was wollen Sie lehren? Sind Sie denn felbit Ihres Wiſſens fo ficher? Wollen Sie fie zu alledem befehren, worüber wir uns bier fchon feit einem Jahre fireiten? Es iſt doch unmöglich, fo auf Ihre Art zu leben. Das iſt ja alles ſehr kuͤhn, fehr nen, ſehr intereſſant ...“

„Ah, num find wir wieder bei dem alten Thema! Es weht

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wieder fo modrig dort vom Berge herunter I” fiel Mark ihr ins Wort. „Das ift immer Ihre Antwort, Mark!” fagte fie kurz. „les muß umgeftürst werben, alles ift Lüge was aber Wahrheit ift, wiffen Sie felbft nit... Darum bin Ich auch fo mißtrauiſch ...“ „Der reflektierende Verftand iſt bei Ihnen flärker als Natur and Leidenfchaft,” fagte er. „Ste find ein junges Dämchen, das heiraten will. Das tft nicht Liebe!... Das tft Langes weile! Sch will Liebe, läd...” fagte er mit Nachdruck. „Wenn ich ein Daͤmchen wäre, dem es nur aufs Heiraten ankommt, dann würde ich fiher eine andere Wahl treffen, Mark!” fagte fie verlegt und erhob fih von ihrem Platze. „Verzeihung ich bin grob gemwefen,” fagte er, fih ents ſchuldigend, und Füßte ihr die Hand. „Aber Sie unterbrüden Ahr Gefühl, Sie zögern, Sie fuchen und fragen, ſtatt zu genießen ...“ „Ich ſuche und frage, wer und was Sie find, weil ich mit meinem Gefühl feinen Scherz treibe. Sie aber fehen alles nur als eine Zerfireuung, einen Zeitvertreib an...” „Nein, fondern als eine Notwendigkeit, ein Bedürfnis, Dir ift wahrhaftig nicht ſcherzhaft zumute, ich verbringe meine Nächte ganz ebenfo fehlaflos wie Raiſki. Das iſt eine Folterqual! Ich hätte nie gedacht, daß die Aufregung einen folchen Grad erreichen könnte.” = ee Zorn, ja fall Bosheit, was aus feinen Worten prach. „Ste ſagen, daß Sie mich lieben... Ste fehen, daß auch ich Sie liebe ... Ich rufe Ste zum Gluͤcke, und Sie fürchten ſich davor!“ „Nein ſondern ich will von einem Glüde nichts wiſſen, das nur einen Monat, nur ein halbes Jahr währt...”

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„Sie wollen ein Gluͤd für das ganze Leben, womoͤglich über das Grab hinaus?” meinte er ſpoͤttiſch.

„Ja, für das ganze Leben! Ich will fein Ende nicht ſehen und Sie fehen fhon jest fein Ende und fagen es voraus! Ich glaube nicht an folch ein Gluͤch, und ich vermag es nicht! Es iſt nicht echt, nicht zuverlaͤſſig ...“

„Wann habe ich etwas vorausgeſagt?“

„Schon oft vielleicht nicht ausdruͤcklich, nicht in beſtimm⸗ ten Worten, aber doch dem Sinne nad, ber mie nicht ents gangen if. ‚Wozu In bie Ferne fchauen? fagten Sie. Dann fprachen Sie von einem Philiftertum, das fich fein Gluͤck nach Ellen und Pfunden zumeffen laffe. Ich habe mir alle diefe Sprüche wohl gemerkt! ‚Im Fluge muß man vom Becher des Glüdes trinken und dann, nad) zwei, drei Schluden, fliehen und ein neues Gluͤck ſuchen, damit einen der Überdenß nicht ankommt.‘ ‚Laß ben Apfel nicht erſt vom Baume fallen, pflüde ihn raſch, und pflüde dir morgen einen anderen.‘ ‚Bleib nicht an einem Orte figen, wie eine Schnede, und Feb’ nicht an der Scholle‘ ‚Man bleibt beieinander, folange es eben dauert und trennt fih dann..." Das alles find Außerungen, die Gie getan haben, und die doc ficher Ihren Übergeugungen entfprechen ...“

„Nun, und wenn fie ihnen entfprechen was dann?” Sie fehen, daß ich nicht heuchle, daß Sie mir glauben können warum fun Sie es alfo nicht?”

„Weil Ih an etwas anderes, Beſſeres, Zunerläffigeres glaube, und weil ih Sie...”

„Zu diefem befferen Glauben befehren will...”

„Ja!“ fagte fie, „bag will ich, und dag iſt bie eine und einzige Vorbedingung meines Gluͤcks; ein anderes Gluͤck fenne und wänfche ich nicht.”

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„Leben Ste wohl, Wera, Sie Iteben mich nicht. Sie fpähen hinter mie her wie ein Spion, Sie Hauben an meinen Morten herum, ziehen allerhand Schlüffe... Sooft wir zuſammen find, fireiten Sie mit mir, unterwerfen mich einem peinlichen Verhoͤr im Punkte des Gluͤcks aber halten wir noch immer dort, wo wir vor einem Jahre hielten... . Lieben Sie doch Ihren Raiffi: aus dem können Sie, wie aus einer Puppe, machen, was Sie wollen... koͤnnen ihn mit allen möglichen bunten Lappen aus der Schneiderftube der Großtante auspußen, können jeden Tag einen neuen Romanhelden aus ihm formen, big ind Uns endliche. Sch habe dafür keine Zeit, ich habe ernftere Dinge vor...”

„Ach, fehen Sie ernfiere Dinge! Und bie Liebe, dag Gluͤck das iſt nur Zeitvertreib ?”

„Ste möchten wohl fo recht nach alter Manier die Liebe sum ganzen Lebensinhalt machen, möchten fich ein Neft bauen, wie e8 die Schwalben da haben, möchten darin figen und immer nur augfliegen, wenn Futter nötig iſt? Das iſt fo Das Leben, wie Sie eg fich vorftellen !“

„And Sie möchten für einen Augenblid in ein fremdes Neſt hineinflattern und dann wieder fortfliegen und es vergeflen.... aus den Augen, aus dem Sinn...“

„3a fobald es mir aus dem Sinn entfchwindet! Und ift Dies nicht ber Fall dann fehre ich eben zuräd. Oder wollen Sie, daß ih mir Zwang antue und auf jeden Fall zuruͤckkehren foll, auch wenn ich feine Luft dazu verfpüre? Iſt dag vielleicht Freiheit? Wie denken Sie darüber?” „Ich verftehe das nicht... dieſe Vogelſitten,“ fagte fie. „Sie meinten es vorhin doch nicht Im Ernſt, als Sie auf die Natur, auf die Tiere hinwieſen ...“

„And Sie find Sie Fein Tier? Ste find wohl ein Geift,

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ein Engel, ein unfterblihes Weien?... Leben Ste wohl, Wiera, wir haben ung ineinander getäufcht: ich bedarf feiner Schülerin, fondern eines Kameraden...”

„Ja, Mark, eines Kameraden!” fie fie ihm leidenſchaftlich ins Wort, „eines Kameraden, ber ebenfo ſtark wäre wie Sie, der Ihnen gleichfländel Nichte Ihre Schülerin will ich fein, fondern Ihr Kamerad fürs Leben! Iſt's nicht recht fo?”

Er antwortete nicht auf ihre Frage, ald hätte er fie gar nicht gehört.

Ich dachte,” fuhr er fort, „wir wuͤrden bald eins werben und uns dann trennen das hängt eben von den Drgas nismen, den Temperamenten, ben Umſtaͤnden ab. Freiheit auf beiden Seiten und was dann weiter kommt, muß eben ertragen werben: Freude, Luft und Gluͤck für beide Teile, oder Freude und Ruhe für den einen, Dual und Kummer für den andern Teil. Das iſt dann ſchon nicht mehr unfere Sache, darüber würde das Leben felbft ent; fcheiden, und wir hätten ung blindlings feiner Entfeheibung zu fügen und fein Gefet zu erfüllen. Sie aber grübeln über alle möglichen Folgen, gehen der Erfahrung aus dem Wege und laffen wie eine alte Jungfer Ihr Urteil kreuz und quer laufen. Sie gehören noch ganz zum Heerbann der Sroßtante, find diefen Provinggeden, Dffisieren und fiumpfinnigen Gutsbefigern ebenbürtig. Wo Wahrheit und Licht iſt davon haben Sie keine Ahnung, Wiera! Ich babe mich in Ihnen getäufcht. Schlaf, mein Kindchen! Adieu! Es iſt ſchon am beften, wir gehen einander aus dem Wege.”

„Ja, Mark, e8 wird wohl das befte fein!” verſetzte fie duͤſter. „Bir können miteinander nicht glüdlich werben... . Sollten witr es wirklich nicht werden können?“ fagte fie dann ploͤtz⸗

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lich, die Hunde zuſammenſchlagend. „Was ſteht dem

eigentlich entgegen? Hören Sie...” fagte fie, ihn bei der Hand nehmend, und hielt ihn zuruͤck „fprechen wir ung

doch ganz offen aus... fehen wir gu, ob wir nicht Doch

eines Sinnes werden koͤnnen!...“

Sie ſchwieg und verfiel in tiefes, duͤſteres Nachdenken.

Er antwortete ihr nicht, fondeen warf die Büchfe über die

Schulter, verließ den Pavillon und ſchritt burch die Buͤſche

davon. Sie blieb unbeweglich, wie von tiefem Schlafe bes

fangen, zuräd. Dann erwachte fie plöglih aus ihrem

Sinnen, fah traurig und erflaunt zugleich Hinter ihm

ber und wollte e8 nicht glauben, daß er wirklich gehen

würde,

„Es heißt: wer nicht glaubt, der liebt nicht,” dachte fie.

„Ich glaube ihm nicht alfo müßte ich... . ihn auch nicht

lieben? Doch warum ift mir dann fo fehmerzlich, fo traurig

zumute, fobald er von mir geht? Ich könnte niederfinten

und fierben ... bier an diefer Stelle! . . .”

„Mark!“ rief fie leiſe.

Er ſah fih nicht um.

„Mark!“ wiederholte fie lauter.

Er ging weiter,

„Mark!“ rief fie ganz laut und lauſchte atemlos.

Mark ging raſch ben Berg hinan. Ahr Geficht verzerrte

ſich. Fünf Minuten wohl fand fie da, dann band fie me;

chaniſch ihr Tuch um den Kopf, nahm den Sonnenfhirm

und ging langfam, in tiefen Gedanken, den Berghang

hinauf.

„Wahrheit und Licht,” fprach fie zu fich felbft, während fie

dahinſchritt „wo feib Ihe? Dort, wo er fagt, daß Ihr

feid, und wohin... mein Herz mich sieht? Iſt es wirklich

mein Herz? Bin ich eine Raͤſonneurin, wie er fagt?...

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Oder iſt bie Wahrheit hier 71” fagte fie, aufs Feld hinaus; tretend und ſich ber Kapelle nähern.

Schweigend, mit tiefem, fuchendem Blide ſah fie in dag finnende Antlig bes Heiligenbildes, das fie anzufchauen ſchien.

„Wird er dag niemals begreifen, wird er nie zuruͤckkehren ... gu biefer ewigen Wahrheit... noch gu mir, zur Wahrheit meiner Liebe?” flüfterten ihre Lippen. „Niemals! Welch ein fohredliches Wort 1”

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Zweites Kapitel

ter Tage lang irrte fie im Hain umher oder wartete

dort unten im Didicht, In dem Papillon, ob er nicht kommen würde. Doc es war vergeblihd Mark erſchien nicht. „Es iſt das befte, wir gehen einander aus dem Wege’ das waren feine legten Worte, „Sollte es wirklich nicht möglich fein, daß wir ung verſtehen lernen? Sehen wir zu, ob wir nicht doch eines Sinnes werden Finnen!” hatte fie ihm geantwortet und er hatte fich nicht einmal ums gewandt auf dieſe Worte ber Hoffnung, biefen Ruf des Herzens. Bor Raifki verfiedte fie fih nun gar nicht mehr. Er bes obachtete fie noch immer, doch war alles vergebeng, er fand feinen neuen Anhaltspunkt und wurde immer ſchwer⸗ mütiger. Sie befam feine geheimnisvollen Briefe und fchrieb auch keine folchen, war Im übrigen freundlich gegen ihn, Doch zumeiſt ſchweigſam, ja faft niedergefchlagen. Hfter als bisher traf er fie jet betend in ber Kapelle. Sie verheimlichte es nicht, wenn fie dahin ging, und einmal nahm fie fogar fein Anerbieten an, fie nach der Dorfkirche auf dem Berge zu begleiten. Dahin ging fie jetzt oft allein,

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ob Gottesdienft war oder nicht, und lag dort lange regungss (08, ganz in fich gefehrt, betend auf den Knien.

Er ftand ſchweigend hinter ihr, wagte ſich nicht zu rühren, um fie nicht aus ihrem Gebetstaumel zu weden, und beobs achtete fie fill aus feinem Winkel hinter der Säule. Dann reichte er ihe ſchweigend ben Sonnenſchitm oder die Mans tille.

Ohne ihn anzuſehen, nahm fie feinen Arm und ging ſtumm, fich zumellen ermädet an feine Schulter Ichnend, neben ihm ber nach Haufe. Ste drüdte ihm die Hand und ging nach ihrem Zimmer. Er aber ging weiter, von Zweifeln ges quält und für fie wie für fich felbft zu gleicher Zeit leidend. Ste ahnte feine geheimen Qualen nicht, fie hatte Feine Borftellung davon, welche leidenfchaftliche Liebe er für fie als Mann für die Frau und als Künftler für fein Ideal empfand.

Sie wußte auch nicht, daß neben dieſer Leidenfchaft, bie er, gleihfam mit ihrer Erlaubnis, für fie hegte, auf dem Stunde feiner Seele immer noch eine leife Hoffnung fchlummerte, ee würde bei ihre doch noch Gegenliebe oder wenigftiens, als Entgelt für feine Leidenfchaft, ein Gefühl zarter Frauenfreundfchaft finden. Wenn fie Ihm geftattet hatte, ſeiner Leidenschaft für fie nachzuhängen, fo war es einerfeit8 deshalb gefchehen, weil fie durch eine folde kuͤhle Duldung feine Leidenſchaft abzuſchwaͤchen hoffte, andererfeitg weil fie, und zwar auf Marks Anraten, feine Aufmerkſamkeit von der Schlucht ablenten, ihm in aller Steundfchaft eine Heine Lektion erteilen und fih nebenbei über ihn ein wenig Iuflig machen wollte. Und obſchon er fab, daß fie ihre eigenen quälenden Sorgen hatte, obſchon ihm diefe geheimnisvollen Spaziergänge tief unten in der Schlucht zu denken geben mußten, hielt er Doch immer noch

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an feiner füllen Hoffnung fell. Die Möglichkeit, daß bie Hoffnung auf ihre Gegenliebe ihm ganz und gar ents riffen werben könnte, erfüllte ihn mit geheimem Grauen. Sein ganzes Gluͤck lag darin, an biefer Hoffnung feſt⸗ halten zu koͤnnen, und er hegte und nährte fie in fich auf jede möglihe Weife, Die rätfelhaften Spaziergänge aber fuchte er fih auf feine Weife, gu feinen Gunften, zu deuten.

„Diefe Schüffe,” dachte er, „bedeuten vielleicht etwas ganz anderes: bier fheint nicht Liebe, fondern irgendein anderes Geheimnis im Spiel zu fein. Vielleicht hat Wera die ſchwere Buͤrde irgendeines verhängnisvollen Fehltrittes zu tragen; irgend jemand hat ſich ihre Jugend und Un⸗ erfahrenheit zunutze gemacht und haͤlt ſie jetzt unter ſchwe⸗ rem, druͤckendem Joche nicht unter dem Joche der Liebe, von der ſie nichts weiß gefangen. Sie will ſich einfach frei machen von dieſen qualvollen Feſſeln, die ihr vielleicht ſchon in den Halb unbewußten Jahren ihrer Maͤdchenzeit angelegt wurden, und dieſes Verſchwinden in der Schlucht, dieſe Geheimniffe, dieſe blauen Briefe find nichts meister als verzweifelte Manöver, um fih nicht vor ber Leidens (haft, fondern vor irgendeinem dunklen Verhängnis zu tetten, das irgendein Schritt vom Wege Aber fie heraufs beſchworen hat, und dem fie nun vergeblich zu entfliehen fucht.... Und ſchließlich wird doch noch die Liebe... zu ihm, zu Raiſki... in ihe zum Durchbruch gelangen, und E wird ſich an feine Bruſt werfen und bei ihm Rettung chen.”

Es ſchien Ihm zuweilen, ald wende fie fih an Ihn mit einem ſtummen Blide, ber ihn um Hilfe anflehe, ober als fchaue fie ihn fragend und forfhend an, ob er auch flarf und frei genug fei, um fie wieder aufzurichten, ihr ihre Selbftachtung

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wiederzugeben, den unfihtbaren Feind gu vernichten und fie wieder auf den rechten Weg zu geleiten.

So träumte und brütete er in wilder Unraft, fant jet hinab in den Abgrund der Hoffuungslofigkeit und warb dann wieder emporgettagen zu den lichten Höhen der Hoffnung und alles nur darum, weil fie auf feine Stage, wen fie liebe, ihm flüchtig das eine Wort: „Sie!“ bingeworfen hatte. Und obſchon fie das Wort mit ihrem raͤtſelhaften Nixenblicke begleitet hatte und gleich darauf im Didicht ber Schlucht verſchwunden war, hatte es ihn Doc in namens loſem Gluͤck erbeben laſſen.

„Wenn es nicht wahr iſt warum hat fie ed dann ges fagt? Und wenn es ein Scherz fein follte 0, das märe ein grauſamer Scherz! So feherzt eine Frau nicht mit ber Liebe, die man ihr entgegenbringt, felbft wenn fie dieſe Liebe nicht erwidert. Sie hat noch kein Vertrauen zu mit... glaubt nicht an meine Gefühle, meinen Kummer re

Er litt Höllenqualen in den kniſternden Flammen biejer Zweifel, dieſer Pein, die er fich felbft geſchaffen, und ſchluchzte zuweilen laut, ſchlief ganze Nächte nicht und ſchaute heim⸗ lich nach dem ſchwachen Lichtfehimmer in ihrem Senfter. „Sie ahnt nicht, wie graufam fie mir zuſetzt ein Henker im Weiberrod I” zifchte er durch die Zähne.

Und plöglich wurde er nüchtern. er fühlte die Lüge, bie in ihrem „ch liebe Sie!” Tag, und die Lüge feiner toͤrichten Hoffnung auf ihre Gegenliebe, die Lüge feiner ganzen vers zweifelten Lage.

Eines Tages, im Zwielicht ber Abenddaͤmmerung, traf er fie wieder betend in ber Kapelle. Sie war ruhig, und ihr Blick war fo Har, fo voll ſtiller Zunerfiht und demuͤtiger Ergebung in ihre Schidfal, als habe fie fih damit abgefuns den, daß jene Schüffe nicht mehr fielen, daß fie nicht mehr

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nach der Schlucht zu gehen brauche. Diefen letzten Schluß wenigſtens zog er aus ihrer Ruhe, und fogleich wieder war er bereit, feinem heimlichen Traume von ihrer Gegenliebe zu glauben. Sie reichte ihm freundlich die Hand und ſagte, fie freue fih, ihn zu fehen, gerade in diefem Augenblick, da ihr Herz ruhiger geworben. Sie hatte fih in biefen Tagen, nah der Zuſammenkunft mit Mark, überhaupt bemüht, ruhiger gu erfcheinen. Beim Mittageffen, gu bem fie jegt regelmäßig erfohien, wußte fie fich völlig zu beherrſchen, fprach mit allen, fcherzte zuweilen fogar und bemühte fich, Appetit gu jeigen. Die Großtante merkte anfcheinend nichts, beobachtete fie nicht mißtrauiſch und warf ihr Feine forfchenden Seitens blide gu. „Wiera, verzeih, wenn ich ſtoͤre ...“ begann Raiſki ſchuͤch⸗ tern, als er ſie an der Kapelle ſah.

„Alles verzeihe ich, Bruder, ſprechen Sie!“ ſagte ſie ſanft. „Du kannſt dir nicht vorſtellen, wie gluͤcklich es mich macht, daß du ruhiger geworden biſt. Sieh, welchen Frieden dein Geſicht ausſtrahlt: woher iſt dir dieſer Friede gekommen? Von dort?“

Er zeigte nach der aapelle. „Woher ſonſt?“ „Du gehſt, wie es ſcheint, nicht mehr... dorthin?” fragte er und zeigte nach ber Schlucht, Sie fhüttelte den Kopf. = werde auch in Zukunft nicht mehr hingehen,” fagte fie eife. „Gott fei Dant welh ein Gluͤck! Wohin gehft du jegt, nach Haufe? Nimm meinen Arm, ich werde dich begleiten,”

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Er reichte ihr feinen Arm, und fie gingen fill auf dem Fuß⸗ wege bin, ber über die Wiefe führte.

„Du führt einen Kampf, Wiera... einen verzweifelten Kampf: das kannſt du nicht verbergen...“ fläfterte er. Sie ſchritt mit gefenktem Kopfe daher. Ihr Schweigen ließ ihn hoffen, daß fie fich endlich ganz ausfprechen würde. „Wenn bu deine qualoolle und gefährliche Leidenſchaft bes fiegt haben wirft...” fuhr er fort und hielt dann in feiner Rede inne, in der Erwartung, daß fie vielleicht auf feine Ynfpielung hin Ihm ein offenes Bekenntnis ablegen würbe. „Was wird dann fein, Bruder?“ fragte fie dumpf. „Dann wirft du um eine große Erfahrung reicher fein, wirft gefeit fein gegen alle Stürme...”

„Und was weiter?“

„And ein beſſeres Los wird die zuteil werben...”

„Was für ein befferes Los?“

Er ſchwieg: e8 fiel ihm ein, mit welchen gluͤhenden Farben er ihr in den fruͤheren Geſpraͤchen das Bild der Leidenſchaft gemalt hatte, wie eifrig er ſelbſt ſie unter dieſe Gewitter⸗ wolke geſtoßen hatte. Und nun wußte er nicht, wie er ſie wieder darunter wegfuͤhren ſollte.

„Das Los eines ſchlichten, tiefen, verſtaͤndigen und zuver⸗ laͤſſigen Gluͤckes, bag ein ganzes Leben ausfüllen würde...“ „Ich verfiehe das Gluͤck auch nur in diefem Sinne...” fagte fie nachdenklich und blieb, bie Stirn an feine Schulter Iehnend, ftehen, als fei fie ermuͤdet.

Er fah ihe in die Augen: fie waren mit Tränen gefüllt. Er ahnte nicht, daß er den Finger in bie Wunde gelegt hatte darum gerade, um biefes dauernde Gluͤck, war fie mie Mark in Zwift geraten.

„Du weinft... Wiera, meine Freundin!” fagte er teils nahmsvoll.

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In diefem Augenblid fiel unten in der Schlucht ein Schuß, deffen sifchendes Echo am Berge widerhallte. Wiera und Raiſki gudten beide zuſammen.

Sie hob wie in jaͤhem Schred ben Kopf empor, fland einen Augenblid wie erftaret da und laufchte. Ihre Augen waren weit geöffnet und unbeweglich. Die Tränen fanden noch darin. Dann riß fie ihren Arm heftig aus dem feinigen und flürgte nach der Schlucht.

Er folgte ihr. Sie blieb auf halbem Wege ftehen, legte bie Hand auf ihe Herz und laufchte wieder.

„Vor fünf Minuten noch warft du feſt, Wiera .. .” fagte er, ganz bleich und durch den Schuß nicht weniger erregt als fie.

Sie fah ihn wie leblos an, ohne feine Worte zu hören, machte noch einen Schritt nach der Schlucht hin, kehrte dann jedoch um und ging langfam auf die Kapelle zu. „Nein, nein!” flüfterte fie, „ich geh’ nicht. Warum ruft er mich? Hat er fih anders befonnen in diefen Tagen? ... Nein, nein, es kann nicht fein, daß er, . .„”

Sie fniete auf der Schwelle der Kapelle nieder, bebdedte ihr Geſicht mit den Händen und verharete unbeweglich in biefer Stellung. Raiſki trat leife von hinten auf fie zu.

„Geb nit, Wiera ...” flüfterte er.

Sie fuhr zuſammen, hielt jedoch den Blick feſt auf das Bild in ber Kapelle gerichtet: e8 lag ein fo nachdenklicher, leiden; fhaftslofer Ausdrud in diefen gemalten Augen. Nicht ein Strahl leuchtete darin, nicht eine leiſe Hoffnung, nicht eine Spur von Hilfe, von Ermutigung. Bon Grauen erfüllt, richtete fie fich langfam empor; Raiſkis Anweſenheit ſchien fie gar nicht gu bemerken.

Ein zweiter Schuß fiel. Sie flürgte raſch über die Wieſe Davon, nach der Schlucht.

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„Wie, wenn er doch zurhdiehrt?... Wenn meine Wahrs beit geflegt bat? Warum wuͤrde er mich fonft zufen?... D Gott!” dachte fie und eilte nach der Nichtung, in ber ber Schuß gefallen war.

„Wera! Wiera!” rief Maifi entfegt hinter ihre ber und firedte die Arme aus, um fie zuruͤckzuhalten.

Ohne ihn anzufehen, machte fie fih von ihm los und eilte, mit den Füßen faum das Gras berährend, über die Wieſe. Nicht einen Blid warf fie gurüd und verfhwand zwiſchen den Bäumen bes Gartens, in ber Allee, bie nach der Schlucht

führte.

Ganz ſprachlos blieb Maiffi ſtehen.

„Was ift das nun: ein ſchickſalſchweres, dunkles Schein; nis ober eine Leidenſchaft?“ fragte er fih im ftillen. „Oder vielleicht beides ?“

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Drittes Kapitel

bäfterer Stimmung fam Wiera zum Abendbrot.

Sie bat um ein Glas Mil, das fie begierig leerte, und fprach mit niemandem ein Wort. „Warum bift du fo niedergeſchlagen, Wierotfhla? Fuͤhlſt du dich nicht wohl?” fragte die Großtante teilnehmend. „Sa, ja, auch Ich wollte Sie fhon danach fragen,” bemerkte Tit Nikonytſch „aber ich wagte es nicht. Seit einiger Zeit haben Sie fih auffallend verändert, Wiera Waſſiljewna“ Miera bewegte bei biefen Worten leicht die Schultern „Ste find magerer geworden, und ein wenig bleicher ... Das fteht Ihnen fehr gut zu Gefichte,” fügte er liebenswuͤrdig hinzu „aber man darf doch auch nicht überfehen, daß das ebenfogut Anzeichen einer Krankheit fein können...” „3a, ich babe etwas Zahnfchmerzen,” antwortete gleichz gültig Wiera. „Doch das geht rafch vorüber...” Die Sroßtante blickte zur Seite und ſchwieg niebergefchlagen, Raiſki hielt nachdenklich die Gabel zwifchen dem Mittel; und Zeigefinger und ließ fie gegen den Teller klirren. Auch er nichts und faß wortlos da. Nur Marfinta und Wilents jew aßen von allen Gerichten, bie gereicht wurden, und ſchwatzten ununterbrochen. |

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Ich möchte Ihnen doch raten, Wiera Waſſiljewna,“ vers feste Tie Nikonytſch auf Wieras Bemerkung, „mit Ihrer Sefundheit nicht leichtfertig umzugehen! Wir ftehen ſchon im Auguft, die Abende werben kühl und feucht. Sie machen fo lange Spaziergänge das iſt gewiß fehr fchön, nichts dient der Geſundheit fo fehr wie frifche Luft und Bewegung, auf keinen Fall jedoch darf man jetzt bed Abends mit bloßem Kopfe ausgehen, und mit Schuhwerk, das feine Doppelfohlen hat. Namentlih die Damen muͤſſen bei ihrer garten Konftitution fehr vorfichtig fein... . ein wollenes Tuch tut ba jedenfalls fehr gute Dienfle... Man trägt jet folche hübfche warme Tücher aus Ziegenhaar... Ich babe mir erlaubt, drei Stud davon kommen zu laſſen für Sie, für Tatjana Markowna und für Marfa Waſſil⸗ jewna ... Ich wollte fie jedoch nicht mitbringen, ohne vorher um Erlaubnis gefragt zu haben...”

Die Großtante nidte ihm freundlich gu; Wiera bemühte ſich zu laͤcheln, und Marfinka ſagte ohne weitere Umſtaͤnde: „Ach, wie gut Sie find, Tit Nikonytſch! Nach dem Abends brot werde ich Sie bafür auch küffen: darf ich?“

„Das erlaube ich nicht, Ich bin eiferfüchtig I” fagte Wikent⸗ jew.

„Wer wird Sie denn fragen?” antwortete Marfinka.

Tie Nitonytfch begann verlegen zu lächeln.

„Ich ftehe zu Dienften, Marfa Waſſiljewna!... Ich werbe mich glüdlich ſchaͤtzen ...“ fagte er. „Was für ein reigendeg Mädchen!" fügte er, zu Maiffi gewandt, halblaut hinzu. „Wie eine Roſe, die fich eben erſt öffnet, fogufagen, und bie ſelbſt der Hauch des Windes nicht zu berähren wagt!” Und er ſchmatzte gerührt mit den Lippen.

„sa, eine Rofe in voller Pracht!” dachte Raiſki ſeufzend. „Und die andere ift wie eine Lilie, Die anfcheinend nicht nur

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ein Windhanch, fondern ſchon ein ganz gehäriger San gefhüttelt hat.”

Er blidte zu Wijera hinüber. Sie fand auf, Füßte ber Großtante bie Hand, nahm von den übrigen mit einem Blicke flatt einer Verbeugung Abfchied und ging hinaus, ı Auch die anderen erhoben fih. Marfinfa lief auf Tit Nikonytſch zu und brachte ihre bereits angelündigte Abſicht zur Ausführung, indem fie ihm einen berzhaften Kuß gab. „Kann Ih das Tuch vielleicht morgen ſchon haben?” fläfterte fie ihm ing Ohr. „Wir wollen ganz zeitig früh mit Nikolaj Andrejewitſch eine Spazierfahrt auf der Wolga machen, da könnte ich’8 brauchen ...“

„O, ſicherlich Ich bringe es felbft ber...” fagte Tit Nikonytſch und machte einen Krabfuß.

Sie gab ihm noch einen Kuß auf die Stirn und lief zur Großtante, ber Ihr Gefläfter mit Tie Nikonytſch verdächtig vorkam.

„Nichts, nichts, Tantchen!“ ſuchte ſie die unruhig fragende Großtante zu beſchwichtigen, was ihr jedoch nicht gelang. Sie fragte Tit Nikonytſch, was es denn da gegeben habe; dieſer wagte nicht, ihr die Wahrheit zu verbergen, und er⸗ zaͤhlte ihr, Marfinkas Schuld nach Moͤglichkeit mildernd, um was ſie gebeten.

„Du Bettlerin!“ ſagte Tatjana Markowna vorwurfsvol⸗. „Geh jetzt ſchlafen, es iſt ſchon ſpaͤt. Und auch Sie muͤſſen nun nach Haufe, Nikolaj Andreitfhl Gute Nacht, Gott mit Ihnen!”

„Ih fahre Sie nach Haufe... ich babe meine Droſchke da,“ ſagte Tit Nikonytſch liebenswuͤrdig zu Wikentjew. Kaum war Wijera aus dem Zimmer gegangen, als Raiſki ihr leife folgte, Sie ging nach dem Hain zu, ſtand eine Weile,

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in die dunkle Tiefe zu ihren Füßen blidend, am Rande der Schlucht, widelte fih dann in ihre Mantille und nahm auf der Bank Platz.

Raiſki kündigte feine Ankunft ſchon von fern durch ein Häfteln an und ging gerade auf fie an.

„Ich will mich hier neben dich fegen, Wiera,” fagte er „barf ich?“

Sie rüdte fchweigend ab, um ihm Play gu machen.

„Du bift fo traurig, du leideſt!“

„I habe Zahnſchmerzen . . .” antwortete fie.

„Mein, nicht nur die Zähne ſind's bein ganzes Wefen iſt frank; fag’ mie was iſt bie? Vertraue mir deinen Kummer an!”

„Barum? Ich bin imſtande, ihn allein zu fragen. Ich Hage doch nicht.”

Er ſeufzte.

„Du Tiebft unglädlih doch wen?“ fläfterte er. „Wen?! Schon wieder diefe Frage! Ich fagte es Ihnen doch ſchon, mein Gott: Sie!” fagte fie und rüdte unges duldig auf der Bank hin und ber.

„Warum nun wieber dieſes böfe Lachen? Womit habe ih das um dich verdient? Damit, daß ich dich fo leidenſchaft⸗ lich Itebe, daß ich bir glaube und vertraue, daß ich bereit bin, für dich gu ſterben? ...“

„Was für ein böfes Lachen? Mir ift weiß Gott nicht zum Lachen !” fagte fie faft verzweifelt, erhob fih von der Bauk und begann in der Allee auf und ab gu gehen.

Raiſki blieb auf der Bank figen.

„Und ich babe noch immer gehofft... und hoffe noch immer... ih Toͤrin! O mein Gott!” fprach fie ſtill für fih und rang die Hände. „Ah will verfuchen, auf eine Woche, oder auf zwei, dieſem higigen Fieber gu entfliehen... .

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Ich will aufatmen... wenigſtens eine Zeitlang, ich bin ganz von Kräften!”

Sie blieb vor Raiſki fliehen.

„Bender,“ fagte fie „ich fahre morgen über die Wolga ich werde vielleicht laͤnger dort Bleiben als ſonſt ...“ „Das fehlte gerade noch !” fiel ihr Raiſki bitter ind Wort. „Ich babe von Tantchen feinen Abfchied genommen,” fuhr fie, ohne auf feinen Einwurf zu achten, fort „Te weiß von nichts. Sagen Ste es Ihe, bitte, Ich fahre ſchon mit Anbruch des Tages fort.”

Er ſchwieg wie vernichtet.

„Dann reife auch ich ab I” fagte er, gleichſam laut denkend. „Nein, warten Sie noch...” fagte fie, und ihre Worte Hangen faft aufrichtig. „Sobald ich mich ein wenig Des euhigt habe...“

Sie hielt einen Augenblid inne, |

„... werde ich Ihnen vielleicht alles fagen.... Und dann werben wir anders voneinander feheiden ... richtig als Bruder und Schwefter ... Jetzt aber kann ich das nicht ... Übrigens, nein...” fügte fle raſch, mit einer vergichtenden. Handbewegung, hinzu „reifen Sie lieber! Und haben Sie doch bie Freundlichkeit, in der Leuteſtube gu fagen, daß Prochor um fünf Uhr den Wagen bereithalten foll. Schiden Sie auch Marina gu mir. Für den Fall, daß Sie in meiner Abweſenheit wegreifen,” fügte fie nachdenklich, faft traurig, hinzu „wollen wir jegt voneinander Abs fchied nehmen. Verzeihen Sie mir. meine Abſonderlich⸗ keiten ...“ fie ließ einen Seufjer hören „und empfangen Sie meinen Schwefterfuß .. .” Ä

Sie nahm feinen Kopf zwifchen ihre beiden Hände, kuͤßte Ihn auf die Stirn und entfernte fich raſch.

„Ich dante Ihnen für alles,” rief fie, ſich plöglih ums

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wendend, von weitem. Ich bin jegt nicht imflande, Ihnen su fagen, tie fehr ich Ihnen für Ihre Freundſchaft namentlich für diefen Winkel hier danke. Leben Sie wohl und verzeihen Sie mir!“

Sie ging davon, während er wie gebannt zuruͤdblieb. Fuͤr ihn war die ganze Welt außer diefem Winkel bier eine Wuͤſte, und fie ſchickte ihn von hier fort, in die troſt⸗ Iofe, weite Wüfte! Sie konnte doch nicht verlangen, daß er fich lebendig ins Grab legte!

„Wiera!“ rief er und lief raſch Hinter ihr ber.

Sie blieb ftehen.

„Laß mich noch hier bleiben, folange du bort deüben biſt ... Wir werden ung nicht fehen, Ich werbe die nicht Läftig fallen ! Aber ich werde wiffen, wo du bift, werde warten, big du dich beruhigt haft und mir wie du es verfprochen alles fagft ... Du haft mir das foeben verfprocen ... es iſt nicht weit von hier, wir koͤnnen einander ſchreiben ...“

Er fuhr mit der Zunge über die heißen Lippen und warf ‚die Säte haſtig und abgeriffen hin, als fürchte er, daß fie ſchon im nächften Augenblid fortgehen und für ihn auf immer verfchwinden koͤnnte.

Es lag etwas Flehendes in feiner Miene, und er ſtreckte die Hand nach ihr aus. Sie ſchwieg unentichloffen und kam dann langfam auf ihn zu.

„Reich” dem armen Bettler wenigftens biefen Pfennig... . um Chrifii Willen!” flüfterte er leidenſchaftlich und hielt ihr die Hand bin „gib ihm noch von diefem Himmel und von dieſer Höllel Laß mich leben, ſcharre mich nicht lebendig in die Erde ein!...“ flüfterte er kaum hörbar und fah fie gang verzweifelt an.

Sie blickte ihm feft in die Augen und bewegte ihre Schultern, als empfinde fie einen Kältefchauer. Ä

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„Ste wiſſen felbft nicht, um was Sie bitten ...“ antwortete fie leiſe.

„Um Ehriftt willen!” wiederholte er, ohne auf ihre Worte gu hören, und hielt ihe noch immer bie bettelnde Hand hin. Sie verfant in Nachdenken und warf ihm von Zeit gu Zeit einen Blick zu, in dem fih ihr Mitgefühl und doch auch ihe Mißtrauen ausdrüdte.

„Gut denn, fo Bleiben Ste!” fügte fie dann beftimme Hinzu. „Und fohreiben Ste mir aber fluchen Sie mir nicht, wenn Ihre Leidenfchaft” fie gab dem Wort eine geringichäßige Betonung „auch davon nicht vergeht.” Und im ftillen dachte fie, während fie ihn anfah: „Mer weiß, vielleicht vergeht fie auch... es iſt Doch alles nur leere Phantaſie!“

„les will ich ertragen alle Qualen!... Eher würde ich vielleicht das Süd nicht ertragen aber Dualen: 9, gib fie mir, auch fie find Leben! Nur jag’ mich nicht fort, heiß mich nicht weggehen dazu iſt e8 zu ſpaͤt!“

„Wie Ste wollen,” verfegte fie zerſtreut: fle fehlen an etwas ganz anderes zu benfen.

Er lebte auf, feine Nerven waren plöglich wie verjüngt. Sie dachte traurig: „Warum höre ich dies alles nicht von ihm?” Und dann ſprach fie laut: „Gut alfo ich fahre nicht morgen, fondern erft übermorgen.”

Und fie ſchien felbft mit aufzuleben, und in ihrer Seele begann etwas zu Feimen, halb Hoffnung und halb Plan. Beide waren plöglich zufrieden miteinander wie auch mit ſich ſelbſt.

„Schicken Sie nur jetzt gleich Marina gu mir und übrigen: Gute Naht!”

Er druͤckte einen leidenſchaftlichen Kup ihre Hand, und ‚fie trennten fid.

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DBiertes Kapitel

98 darauf, gleich am frähen Morgen, übergab Wiera

ihrer freuen Marina einen Brief zur Beforgung, auf den fie fogleich Antwort bringen follte. Als diefe einge troffen war, wurde fie beiterer geſtimmt, machte einen Spaziergang am MWolgaufer und bat die Großtante um Erlaubnis, über den Strom zu Natalia Iwanowna fahren gu dürfen. Ste nahm von allen Abfchied, lächelte, als fie abfuhr, Raiſki gu und fagte ihm, fie würde ihn nicht vers geſſen. Am uͤbernaͤchſten Tage brachte ein Wolgafiſcher fruͤhmor⸗ gend einen Brief von Wiera mit ein paar freundlichen Worten. Sie gebrauchte darin die Anrede „mein lieber Bruder”, fprad von Hoffnungen auf eine beffere Zukunft, von zarten Empfindungen, die emporgeleimt wären uſw. Und Raiſki war hochbesladt von diefen traulichen Worten. Der Brief wirkte auf ihn förmlich beraufchend, er lernte ihn fogar auswendig. Sein GSelbfivertrauen und fein Glaube an Wiera fehrten wieder in fein Herz zuruͤck fie erfohien ihm jet wie in einem verflärenden Lichte der Wahrheit und Grazie, ber Reinheit und Milde, Er vergaß alle Zweifel und Sorgen, ben blauen Brief

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und die Schlucht, eilte an feinen Schreibtifch und fchrieb eine kurze, Tiebenswärbige Antwort, die er an Wiera fchidte, während er felbft fih im die chaotiſchen Empfins dungen feiner Leidenfchaft verfenfte. Da er Wera nicht vor Augen hatte, trat an Stelle der angefpannten Bes obachtung ihres Tuns ein flilled Sinnen über all die Einzel süge ihres Weſens, über das, was er ſchon gefehen und beobachtet hatte. Und aus diefem Sinnen heraus begann er dann mit Eifer die Schlüffel gu ihren Geheimniſſen gu ſuchen.

Er ſucht und forſcht, er bemuͤht ſich, das, was ihm an ſeinem Ideal noch dunkel iſt, in helleres Licht zu ſetzen, er ſucht feſtzuſtellen, was er von Wjera erwartet und vers langt, was ihr fehlt, um ein vollendetes Bild harmoniſcher Schoͤnheit zu ſein. Er hielt eine Ruͤckſchau in ſein eigenes Leben und ſuchte ſich daruͤber klar zu werden, was er an ſeinen fruͤheren Idealen vermißt, was ihnen zur Voll⸗ kommenheit noch gefehlt Hätte,

Alles, was er an weiblicher Unbildung und Gemeinheit tennengelernt, was weder Pug noch Schminfe, weder Gold noch Brillanten gu verdeden vermocht hatten, ſchwebte an feinem Geifte vorüber. Er erinnerte fich all der Leiden und ‚bitteren Kraͤnkungen, die ihm in den Kämpfen des Lebens zugefügt worden waren: er fah feine Ideale von der Höhe herabſtuͤrzen, fah fich febft zugleich mit ihnen fallen und wieder aufftehen und hörte, wie er, ohne zu verzweifeln, immer wieder von den Frauen wahre Menfchlichkeit und Harmonte der äußeren und inneren Schönheit verlangt hatte.

Ein Vorgefühl fagte Ihm, daß dies der legte Verſuch fei, daß er entweder in MWiera dag endgültige deal der Frau finden oder das Suchen nach diefem Ideal für immer aufgeben und feine Diogeneslaterne ausloͤſchen muͤſſe.

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Es peinigte ihn, daß er an Ihe mitten in all dem Licht den dunklen Fled der Lüge fah. Was bedeutete biefes raͤtſel⸗ hafte Beginnen, dieſes Verſchwinden für ganze Tage, dieſe geheimnisvolle Korrefpondenz, das Verftedenfpielen und Verſchweigen, hinter bem fich vielleicht eine grobe Intrigue, oder eine verhaͤngnisvolle Leidenfchaft, oder ein dunkles Geheimnis, oder fonft irgend etwas Mätfelhaftes vers barg?

„Sie iſt eigenwillig und ſtolz,“ fagt die Großtante. „Sch will frei und unabhängig fein,” verfichert fie ſelbſt und gefällt fih dabei in hundert Heimlichkeiten und Liften. Ein wahrhaft ftolger und unabhängiger Wille fürchtet ſich vor niemand, fondern fchreitet offen auf dem einmal er wählten Wege daher, verachtet alle Lüge und alles Hein; liche Tun und trägt mit tapferem Sinn alle Folgen der fühnen, eigenwilligen Schritte. „Bekenne dich zu biefen Schritten, verfte’ dich nicht und Ich werde mich beugen vor deiner Dffenheit und Geradheit!” fagte er im füllen. Eine Frau, die eigenwillig fich felbft durchzuſetzen fucht, darf ihre eignen Begriffe von Liebe, Tugend und weiblicher Ehre haben, aber fie muß auch ben Mut befiten, alles Shlimme zu ertragen, das ihe daraus erwaͤchſt. Und Wiera fordert und predigf zwar die Freiheit, die Unab⸗ hängigfeit des Denfend und Empfindens, aber fie Handelt nicht diefer Forderung gemäß, fie ift verftedt, fie beluͤgt ihn, belügt die Großtante, und bag ganze Haug, die ganze Stadt, die ganze Welt!

Nein, das ift nicht das Weib, wie er es fih als ideal, als vollendet vorſtellt! Es wäre für die Kran felbft, ja für die Menfchheit verhängnisuoll, wenn die Wahrheit und Aufrichtigkeit der Fran vom Zufall abhängen follte, wenn fie nur demjenigen gegenüber wahr und ehrlich fein follte,

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ben fie liebt, wenn fie ed nur bann fein follte, wenn fie liebt. Kalle nun die Natur Ihe die Schönheit verfagt und Leidenſchaft und Liebe ihr fernbleiben foll es dann gleichgültig fein, wie fie zu Wahrheit und Lüge, zu Aufs richfigfeit und Ehrlichkeit fich ftelle?

„Die Lüge,” fagte er fih, „ift einer bee Fluͤche, die ber Satan in bie Melt gefchleudert hat... Doch nein, fie kann nicht lügen... .” £röftete er fih dann wieder, vers fant in Nachdenten und ftellte fich die edle, Huge Schönheit ihres Gefichtes vor, die Doch ein Ausdrud ihrer Seele war. Welche Wahrheit prägte fich in dieſem Gefichte aus! „Die Schönheit ift felbft eine Macht warum follte fie zu einer andern, fo wenig zuverlaͤſſigen Macht, wie die Lüge e8 ift, ihre Zuflucht nehmen?... Und doch!” zuckte es ihm wieder duch den Kopf, und er verfanf auf feiner MWahrheitsfuche in förmliche Verzweiflung warum tauchte nun fo plöglich dicht vor feiner Nafe diefes „und doch” auf? Und er gab fih Antwort auf diefe Frage: es wuchs einfach aus feinen Lebenserfahrungen hervor, aus ber Fülle weiblicher Porträts, die er fennen gelernt, aus all ben Liebſchaften, die er im Laufe der Jahre gehabt hatte... Liebfchaften !

Schamroͤte übergoß fein Geficht, und er bededte es mit den Händen.

„Liebſchaften! Was find fie anders, als Begegnungen ohne Liebe?” fagte er fih und empfand ein Nagen an feinem Herzen. „Welcher Fluch ruht doch auf den Sitten und Unfchauungen der Menfchen! Wir, bag fiarfe Ges ſchlecht, die Väter, Gatten, Brüder und Söhne biefer Grauen, fprechen mit finfterer Miene unfer Verdammungs⸗ urteil über fie aus, daß fie fih wegwerfen, fih im Schmuge wälzen, gleich den Katzen Aber bie Dächer laufen... Wir

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verbammen fie und verführen fie zugleih. Wir fehen den Ballen im eigenen Auge nicht, verzeihen voll Nachs ficht unfere eigene Schwäche, bie an biefen ... Hundelieb⸗ (haften... Gefallen findet!... Wir tragen offen vor aller Welt unfere Schmach, unfere Verirrung jur Schau, bie wie an der Frau voll Empörung verdbammen! Hier iſt das Feld, auf dem beide Gefchlechter noch bag große Merk der fittlichen Erziehung an ſich gu vollenden haben, Damit fie in voller Ebenbuͤrtigkeit nebeneinander hergeben und nicht die einen den Hunden, bie andern ben Katzen und alle miteinander den Affen gleichen! Dann wirb auch der fittliche Zwiefpalt zwifchen den beiden Gefchlechtern aufs hören, diefe Begriffsverwirrung, diefe Hölle von Taufchung, Vorwurf und Verrat. Dann wirb es nicht mehr biefe doppelte Moral geben, welche die Männer ausgeklügelt baben: die eine zum eigenen Gebrauch, bie andere für die Frauen!"

Er verfentte fih gang in die Erinnerungen an bie ent; ſchwundenen Jugendjahre und lag lange In qualvollem Gruͤ⸗ bein auf dem Diwan Hingeftredt da. „Welche Perſpektive von Roheit und Lüge, welche Vergiftung des Lebens! Und ganze Jahrhunderte find verfloffen, ganze Generationen hingegangen in diefer Flut, dieſem Abgrund fittlicher und phnfifcher Verderbnis und niemand und nichts hat diefen trüben Steom blinder Lafterhaftigfeit aufzuhalten vermochte! Die Unfittlichkeit hat fich ihre eigenen Bräuche, ja faft Prinzipien gefchaffen, und fie herrfcht in der menſch⸗ lichen Sefellfehaft, in bem Chang der Begriffe und Leidens (haften, in der Anarchie der Sitten... .”

Dann wandte fih feine Vorftellung wieder Wiera su er fuchte in ihr dag ſtrahlende Licht ber Neinheit und Wahrs beit, vergegenmwärtigte fich Ihr unverdorbenes Gefühl, ihr

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gerabes, fchlichtes Denken, ihre geifige und koͤrperliche Schönheit, die erft in ihrer Vereinigung die wahre Schöns heit ergaben. Er prüfte und fondierte wie ein Inquiſitor jeden ihrer Schritte, er zitterte abmwechfelnd vor Freude oder verfant in dumpfe Betrübnig, je nachdem das Ergebnis für fie günftig oder ungünffig war, und er ging aus dem Abs grund dieſer Analyfe weder hoffnungsloſer noch guverfichts licher hervor, als er vorher gewefen. Er ſchwebte immer noch in berfelben qualvollen Ungewißheit, wie ein Badens der, ber Gott weiß wie tief unter Waffer geſchwommen zu fein glaubt und in Wirklichkeit an derfelben Stelle wieber emportaucht. Er fuchte die Raͤtſelhaftigkeit ihres Benehmens ihm gegen, über zu rechtfertigen und gedachte feiner eigenen, unges ſtuͤmen Zudringlichkeit: wie er plöglich fich gleichfam ein Recht an ihrer Schönheit angemaßt, wie er fein Erftaunen, feine Verehrung, fein Entzuͤden dieſer Schönheit gegenüber zum Ausdruck gebracht; er erinnerte fich, wie fie zuerſt nut läffig, dann aber um fo energifcher fich feiner erwehrt, wie fie über feine Leidenſchaft gefpottet und nicht am fie geglaubt hatte und noch heute in diefer Ungläubigfeit vers harrte, wie fie ihn von ihrer Perfon und von dieſen HOrtlich⸗ teten fernzuhalten, ihn zur Abreiſe gu beſtimmen gefucht, er foͤrmlich gebettelt hatte, doch noch bleiben zu en. „Sa, fie hat recht, ich bin ſchuld!“ dachte er und erging ſich in bitteren Selbftoorwärfen. | Dann erinnerte er fich, wie er allmählich feine Leidenfchaft zu beſchwichtigen verfucht hatte, indem er eben biefer Leidenſchaft nachgab und fie wie einen Biffigen Köter freichelte, um fie freundlicher gu fimmen und zum Schwei⸗

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gen gu bringen. Barum hatte fie ihm Damals ben Namen ihres Idols nicht genannt, da fie doch überzeugt fein mußte, daß ihm dies alle Hoffnungen genommen und feine Leidens (daft im Handumbrehen zum Schweigen gebracht hätte? Was hätte fie das gefoftet? Nichts! Sie wußte, daß er ihr Geheimnis bewahren würde, und boch ſchwieg fie Damals, als wollte fie abſichtlich feine Leidenfhaft aufſtacheln. Barum hatte fie es damals nicht gefagt? Warum hatte fie ihn nicht abreifen laſſen, fondern ihn fogar gebeten zu bleiben, während er bereits Jegorka befohlen hatte, den Meifeloffer vom Boden zu holen? Sie fofettierte mit ihm fie täufchte ihn alſo! Sie verlangte au, er folle es um keinen Preis der Großtante fagen, fie nahm ihm fein Ehrenwort darauf ab alfo belog fie auch die Groß, tante, wie fie alle belog!

„Ste, fie iſt ſchuld!“

Er begann wieder fein Tagebuch zu führen. Eine Flut von

Poeſie, von Improvifationen ergoß fih voll zaͤrllicher

Rührung und Hingebung, voll lebendiger, eiferfüchtiger

Leidenfchaft mit all ihren ftärmifchen, giuterfüllten Klagen, ihren Liedern, Qualen und Seligkeiten.

Die Liebe felbft flattete er mit allen Reigen aus, die nur die menfchliche Phantafie erfinnen Eonnte, er befeelte fie mie firtlihem Empfinden und fah in dieſem Empfinden, wie in der Vernunft „oder vielleicht in noch höherem Stade als in der Vernunft,” fehrieb er bie ums überbrüdbare Kluft, die den Menfchen von allen übrigen Organismen trennt. „Die große Liebe ift mit tiefem Verfiande untrennbar verbunden: ber weite Blid des Verſtandes entfpriht der Tiefe des Herzens, darum erreihen auch nur Menfchen mit großem Herzen Die hoͤchſten Gipfel der. Humanitaͤt und find zugleich Die

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größten und weitblickendſten Geiſter.“ So oratelte er in feinen Aufzeichnungen. Beſtaͤndig mwechfelten bie Farben dieſes Kaleidoſkops bee Liebe, das er als Künftler wie als zaͤrtlich Liebender entwarf, und auch ſeine eigene Stimmung wechſelte beſtaͤndig, indem er bald zu den Fuͤßen ſeines Idols im Staube lag, bald hoch aufgerichtet daſtand und in lauten Lachſalven ſeine Herzensqualen und Gluͤckstraͤume verhoͤhnte. Nur ſeine Liebe zum Guten, ſeine geſunde Auf⸗ faſſung vom Weſen der Sittlichkeit blieb von jedem Wechſel unberuͤhrt. „Glaube an Gott, wiſſe, daß zweimal zwei vier iſt, und ſei ein anſtaͤndiger Menfch‘, ſagt Voltaire irgendwo,” ſchrieb er „und ich ſage: eine Frau mag lieben, wen fie will, mag auf irdiſche Art lieben wenn fie nur nicht auf Katzenart, nicht aus Berechnung liebt und die Liebe zum Betrug mißbraucht!”

„Eine ehrenhafte Frau!” fehrieb er „wer dies verlangt, verlangt alles. Ja, das ift in bee Tat alled. Und das nicht verlangen, heißt gar nichts verlangen, heißt Die rau beleidigen, ihre menſchliche Natur erniedrigen, das Geſchoͤpf Gottes in ihre mißachten, heißt ihr ohne meiteres, in rüdfichtslofer Weife, die Gleichberechtigung mit dem Hanne abfprechen und ihr damit zu berechtigter Befchwerbe Anlaß geben. Die Frau iſt die Krone der Schöpfung gewiß, doch nicht als bloße Venus. Dem Kater erfeint auch die Kate als Krone der Schöpfung, als die Venus der Katzenwelt. Die Frau mag Venus bleiben aber fie foll eine vernunftbefeelte, geiflig erwedte Venus fein, die Schönhelt der Form foll im ihr mit feelifcher Schön, beit vereint fein, fie ſoll zugleich ein Tiebendes und ein ehrenhaftes Wefen fein dann verkörpert fie das deal meiblicher Größe und die Harmonie der Schönheit!" Alle diefe geumdtiefen MWeisheitsfprüche lagerte Raiſki in

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feinem Tagebuche ab, in der Hoffnung, Daß Wiera es, fobald fie wieber daheim wäre, leſen wuͤrde. Mit ihr felbft aber wechfelte er auch weiterhin kurze, freundfchaftliche Briefe. Zuweilen warf er die Feder hin und wandte fih ber Muſik au: er lebte ganz im Reiche der Töne und laufchte voll Entzüden, wie fie ibm das Lied feiner Leidbenfchaft, den Hymnus der Schönheit fangen. Er verfpürte Luft, dieſe Töne feſtzuhalten, fie in regelrechte mufilalifhe Formen gu bringen. Aus der Wogenflut ber Töne erwuchs in feiner Dhantafie eine Art mufilalifhen Gedichts; er bemühte fi, das Geheimnis des muſikaliſchen Schaffens zu ergründen, quaͤlte fih drei Tage lang während der Morgenfiunden ab und fchrieb ein dies Heft von Notenpapier voll. Und als er dann am vierten Morgen das, was er nieder gefchrieben, fpielen wollte, ergab fih, daß es nichts weiter als eine armfelige Polka war, doch von fo duͤſterer Art, daß er felbft, als er fie fpielte, Darüber Tränen vergoß. Er wunderte fih, daß die kuͤhnen Improviſationen, die er zu Papier gebracht hatte, ein fo dürftiges Reſultat ergeben hatten, und geftand fich feufjend ein, daß bie Phantafie allein nicht imflande fet, die muſikaliſche Technik gu erfeßen. „Wenn es mir nun mit meinem Romane ebenfo geht was dbann?...” dachte er. „Doch jetzt habe ich keine Zeit, an den Roman zu denken: bee kommt fpäter dran; jebt tft in meinem Gemuͤte nur für Wiera Raum, jetzt herrfcht dort die Leidenfchaft, da Leben und zwar fein kuͤnſt⸗ liches, fondern das wirkliche, echte Leben!”

Er wandelte, fobald er einen Anfall feines Gluͤcksgefuͤhls befam, in Haus und Garten, in Dorf und Flur wie ein richtiger Märchenheld umher und fpürte fo viel Kraft in Kopf, Herz und Nerven, daß alles rings um ihn nur fo jubelte und bluͤhte.

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Sein Geift war fo fruchtbar, feine Phantaſie fo produktiv, feine Seele fo empfänglich für alles Gute und Schöne, Er floß über von Liebe nicht nur gu Wiera allein, fons dern zu allem, was ba lebte und webte. Auf alles fielen die Strahlen feiner Sanftmut und Freundlichkeit, feiner Sürforge und Aufmerkfamteit,

Er hatte in diefer Stimmung ein feines Empfinden für die Bedürfniffe des Nächften, des Unglädlichen, und er beeilte fih, ihm die helfende Hand gu reichen. Selbft die Kreatur fand feinem Herzen näher: dort, jenen Käfer, der über den Weg Friecht, nimmt er fürforglich auf und fegt ihn auf den Strauch, damit ihn der Fuß des Vorübers gehenden nicht zertrete.

Er fühlte fih in diefen Augenbliden des Gluͤcks wohl bes fahigt, die Madonna des Naffael gu malen, wenn fie nicht ſchon gemalt wäre, ober bie Venus von Milo, den Apollo des Belvedere gu formen, die Petersfirche von neuem zu errichten.

Aberkamen ihn aber feine duͤſteren Stunden, dann erſchien er mager, bleih und kraͤnklich, nicht, irete durch die Sluren, ohne etwas zu fehen, vergaß den Weg und mußte die Bauern, die ihm begegneten, fragen, ob Malinowka rechter oder linker Hand liege,

Dann war er wortkarg gegenüber der Großtante und Marfinka, geob gegen die Dienftboten, lag bis zum Morgens grauen fehlaflos im Bett. Wenn er einfchlief, fo war fein Schlummer unruhig und dumpf, und die Dual des Tageg fand in feinen Träumen ihre Kortfegung.

Zuweilen blidte er wie abweſend um fi, als wollte er alle Welt mit den Augen fragen: „Wo bin ich, und was für Menfchen ſeid ihr?”

Marfinta begann fih vor ihm ein wenig gu fürchten. Er

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ſchloß fich zumeiſt in feinem Simmer ab, faß dort entweder über feinem Tagebuch, oder ging im Gelbfigefpräh auf und ab, oder fegte fih and Klavier, um, wie er fich males riſch ausdrädte, den ‚Schaum ber Leidenfhaft auszu⸗ werfen‘. Jegorka hatte im bie tapesierte Holzwand, die Raiſkis Kabinett vom Korridor trennte, ein Loch gebohrt und bes obachtete ihn von ba aus. „Ich fag’ euch, Mädels, ich kann euch was Schönes zeigen !” fagte er, während er durch die Zähne nach ber Seite fpudte. „Kommen Sie mal mit, Pelageja Petrowna, zu unferm Herrn, zu Boris Pawlowitſch, da können Sie mal durchs Loch guden; in fein Tiater brauchen Gie zu geben, fo ne Komoͤdie führt er da aufl... „Ach, dazu hab’ ich gerade Zeit!” fagte bie Angeſprochene, bie eben einen glühenden Bolzen Ind Buͤgeleiſen einlegte. „Und Ste Mateona Sfemjonomwna ?” | „Wer foll denn das Zimmer von Marfa Waſſiljewna aufs räumen? Du vielleicht ?” „Iſt das ne Bande keine will mitgehen!” fagte Je⸗ gorka ärgerlich und fpudte wieder buch bie. Zähne aus. „und ich hab’ mich num gequält und gebohrt!” | „Zeig' doch mal, was da zu fehen ift!” fagte bie neugierige Natalie, eine der Spigenklöpplerinnen Tatjana Mars kownas. „Sie, meine reizende Natalia Fadjejewna?“ verſetzte Je⸗ gorka zaͤrtlich. „Ste find ja ein gu liebes, ſchoͤnes Mädchen, und ich würde Sie nicht bloß durchs Loch guden laſſen, fondern Ihnen Hand und Herz anfragen, wenn Sie nur. .: eine andere Fratze hätten!.. .” Die andern Mädchen lachten, en Natalia föne ber leidigt war,

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„Breker Kerl!“ fagte fie gornig und verließ das Zimmer. „Ein richtiger feecher Kerl!"

Jegorka ficherte hinter ihr her und bemühte fich, die beiden andern Doch noch zum Mitgehen gu bewegen, was ihm auch fchließlich gelang. Nacheinander gudten fie nun durch das Loch in Raiſkis Stube,

„Seht doch, feht doch, wie er weint! Er ſchwimmt richtig in Tränen!” fagte Jegorka und ließ bald bie eine, bald die andere buch das Loch guden.

„Se weint wirklich, ber Armſte!“ fagte Matrona mitleidig. „Lachte er nicht eben? Sa doch, wirklich, er lacht! Seht doch, ſeht!“

Alle drei duckten ſich nieder und kicherten in ſich hinein. „Den hat's ordentlich gepackt!“ meinte Jegorka. „Er fcheint naͤmlich, müßt ihre willen, in Wjera Waſſiljewna verſchoſſen ...“

Pelageja verſetzte ihm einen kraͤftigen Rippenſtoß.

„Was ſchwatzt du da, du Heide?“ verſetzte ſie aͤngſtlich fluͤſternd. „Schwindle, ſoviel du willſt, nur laß unſere jungen Fräulein in Ruhe! Wenn's die Gnaͤdige hoͤrt ... fommt, wir wollen weggehen !”

Raiſki aber meinte und lachte zugleich und fpielte in der Tat „Ziater”, denn ed war mehr ber von feinen Nerven gefolterte Künftler als der Menfch, der da lachte und weinte.

Er ſuchte, wenn er feine Aufzeichnungen machte, Wjerag Bild in möglihft reinen Formen feflzuhalten, und uns bewußt und unverftellt entwarf er Damit zugleich das Bild, feiner eigenen Leidenfhaft. Er fpiegelte darin, zuweilen in naiver, fomifcher Form, die eblen Seiten feiner Seele wieder und bie Forderungen, die diefe Seele an ben Mit⸗ menfchen,. inSbefondere an bie Frau ftellte.

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„Was ſchreibſt du denn da eigentlich in einem fort?“ fragte ihn Tatjana Markowna. „Ein Drama, oder noch immer den Roman?”

„IH weiß es nicht, Tantchen. Ich ſchreibe einfach das Leben ab ob’8 ein Roman wird, oder was fonft, kann ih noch nicht fagen.”

„Wenn’s Kindchen nur fein Spielgeng hat bloß weinen foll es nicht,” verfegte fie, und Ihe Sprüchlein bezeichnete den Mert feiner Schriftftelleret In ber Tat ziemlich richtig. Die Zeit verging ihm, bie ſchwellende Kraft feiner Phans tafle fand auf natuͤrlichem Wege ihre Auslöfung, und er ſah nichts vom Leben, hatte keine Langeweile, ftrebte nirgendshin und wuͤnſchte nichts.

„Warum fchreibft du eigentlih immer in bee Nacht?“ fragte ihn Tatjana Markowna. „Sch fieh” eine Todes, angft aus. Wenn bu einmal über deinem Drama eins ſchlaͤfſt und die Kerze umfälle? Hat man fo was gefehen:

bis Ind Morgengrauen hinein zu fehreiben! Du ruinierſt dich ja. Du ſiehſt manchmal fo gelb aus, wie eine übers reife Gurte gu’ doch mal in den Spiegel!”

Er fah in den Spiegel und erfchraf in der Tat über bie Veränderung, bie mit ihm vor fi gegangen. An ben Schläfen und um die Nafe herum zeigten fich gelbe Flede, und in dem dichten, ſchwarzen Haar ſchimmerte es merk fich weiß,

„Warum muß ich num gerade brünett fein, warum bin id nicht Blond?” murrte er. „So muß ich um sehn Jahre früher altern! Aber das macht nichts, Tantchen, achten Sie nicht weiter darauf. Laffen Ste mie nur meine Frei⸗ beit... Ich finde eben feinen Schlaf: wie gern möcht‘ Ih manchmal fchlafen, aber es will nicht gehen.“ = 4 „Nun redet auch er ſchon von Freiheit, geradefo wie Wiera !“

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Ste ſeufzte.

„Was ihe nur mit eurer Freiheit Habt ald ob euch die Großtante in Ketten bieltel Schreib meinetwegen, foviel du willſt aber nicht in der Nacht, ich komme fonft aus ber Angft nicht heraus,” fügte fie hinzu. So oft ich auch Hingude immer feh’ ich Licht in Deinem Fenſter ...“ „Ich bürge dafür, Tantchen, daß kein Feuer entfieht wenn ich auch felbft vom Feuer verzehrt werde... .” „Daß du den Pips kriegſt!“ fiel fie ihm ärgerlich ind Work, Sie war eben mit irgendeiner Näherei für Marfinfag Ausſteuer befchäftigt, obwohl ein ganzes Dutzend Nähtes rinnen bereitd daran arbeiteten. Sie konnte eben niemans den arbeiten fehen, ohne felbft mit Hand anzulegen, wie Wikentjew mitlachen und mitweinen mußte, fobald er jemanden lachen oder weinen fah. „Fordere das Schidfal nicht heraus, lade dir fein Ungläd auf den Hals!” fagte fie warnend. „Bedenk: bie Zunge iſt des Menfchen ſchlimmſter Feind!”

Er fprang plöglih vom Diwan auf, eilte nach dem Fenſter und lief dann zur Tür hinaus, nach dem Hofe.

„in Bote kommt, mit einem Briefe von Wiera I” tief er, während er hinauslief.

„Run feh’ einer! Als ob fein Teiblicher Vater zu Beſuch kaͤme, fo slüdlich ift er!... Und wieviel Lichter bei diefer Romanſchreiberei draufgehen: vier Städ in jeder Nacht !” murmelte bie fparfame Großtante vor fich Hin.

——— IR

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Fünftes Kapitel

aiſti nahm den Brief Wierasd in Empfang. Sie bes

Hagte fih, daß fie fih dort langweile, und in ber Tat ſchien aus einigen Sägen ihres Briefes hervorzugehen, daß die Einſamkeit ſie bedruͤcke. Sie ſchrieb, daß ſie ihn zu ſehen wuͤnſche, daß fie feiner beduͤrfe und in Zukunft ſeiner noch mehr benoͤtigen werde, daß fie „ohne ihn nicht leben könne”, Er wußte nicht vet, wie er dieſe Worte deuten follte, und zuweilen glaubte er swifchen den Seilen wieder das kritiſche, kitzelnde Nirens fachen zu vernehmen, das ihn immer in fo peinlihe Uns ruhe verfeßte. Trotz dieſes Lachens jedoch fand Wieras geheimnisvolle Geſtalt ſogleich wieder winkend und in phantaſtiſche Fernen fodend vor feiner Seele. Sie ſchwebte gleichſam in einem Nebelfchleier vor ihm her, und er flürzfe ihre nad und faßte nach ihrem Schleier, begierig, ihr Geheimnis auf sudeden und zu ergründen, was für eine raͤtſelhafte Iſis fih dahinter verberge. Kaum aber berührt er den Schleier fo entfchläpft fie auch ſchon wieder und flieht. So ſchwebte er, als Menſch wie als Künftler, beſtaͤndig zwiſchen Freude und Dual und

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wußte felbft nicht, wo in ihm der eine begann unb ber andere aufhörte.

Wenn er diefe feltenen, kurzen Briefe empfing, in deren freundfchaftlichen Ton fich dieſes ſpoͤttiſche Lachen über feine Leidenſchaft, über fein Suchen nach bem Ideal und feine phantaftifche Verftiegenheit mifchte, mußte er felbft herzlich mitlachen über ihren Inhalt, um dann freilich faft in Tränen aussubrechen vor Schwermut und Sram darüber, daß er den Schläffel gu feinem eigenen Weſen nicht gu fins ben vermochte,

„Ste begreift es nicht, die Armſte,“ murrte er im flilfen „was e8 heißt, einen Menfchen feiner Phantafle wegen zu verfpoften: ift das nicht dasſelbe, ald wenn fie ihn um feines großen Schattens willen verfpottete, der fich weithin auf die Felder legt und über die Häufer emporwaͤchſt? Und auch an die Leidenfhaft glaubt fie nit! Sie follte nur fehen, wie biefe unheimliche Rieſenſchlange fih, in Smaragd und Gold fhimmernd, vor mir hinfchlängelt, wie fie glänzt, wenn bie Sonne fie wärme und bes ſtrahlt, und wie fie giftig züngelt und gifcht und mit den fcharfen Zähnen droht, ſobald das Licht erlifcht und fie, ihrer Farbenpracht bar, boshaft durchs Dunkel kriecht ... Ich wuͤnſchte wohl, daß die fogenannten ‚Renner bes SMenfchenherzeng‘, bie ihre Weisheit aus den Theater; ſtuͤcken ber Reſidenzbuͤhnen beziehen, einmal hierher kamen und fich anfähen, wie in Wirklichkeit diefe ‚Schlange ber Leidenfchaft‘ ausſieht! ‚Liebe verfchwindet, wenn die Eigen⸗ liebe verlegt wird‘ ‚Liebe heißt Egoismus zu zweien‘ ‚Liebe vergeht, wenn fie nicht erwidert wird‘ fo lauten ihre billigen Sentenzen. Überzengt euch einmal, wie fie in. Wirklichkeit befchaffen iſt, macht einen Verſuch mit ihel Ich werde gepufft und verlaht und doch

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Itebe Ih, ach, und wie liebe ich! Nicht wie viersigtaufend Brüder, viel zu niedrig hat Shafefpeare bie Zahl gegriffen fondern wie alle Menfchen zuſammen! Alle Arten der Liebe find in meiner Liebe enthalten. Sch liebe, wie Leontij feine Frau liebt, mit dieſer fchlichten, naiven Schäferliebe, liebe mit der finfteren Leidenfchaftlichkeit dieſes ernften Sſawelij, liebe wie Wikentjew mit feiner heitren, frifchen Lebensfreudigkeit, liebe, wie vermutlich Tufchin liebt, voll Bewunderung und Verehrung, liebe, wie die Großtante ihre Wiera liebt, wie noch nie, folange die Welt befteht, ein Menfch geltebt Hat, liebe wie ber Ozean, der dag Feſt⸗ land umſpuͤlt, mit jener gewaltigen Liebe, die der Schöpfer gefchaffen ...

„Und wenn ich fohlteßlich alles in ein Wort faflen follte,” fagte er fich, plöglich für einen Augenblid ſich ernuͤchternd „dann müßte es lauten: Ich liebe, wie ein Künfkler ftebt, das heißt mit aller Macht einer zuͤgelloſen oder dem Zügel entfchlüpften Phantaſie!“

Er gab fih wieder feiner Schriftftellerei Hin, diefem Pros zeß unbewußten Schaffens, in dem fih vor feinen Augen buntfarbig die eigenen Gedanken, Empfindungen und Bors ftellungsbilder niederfehlugen. Diefe Blätter, die er da befchrieb, hinderten ihn freilich an feinem aufrichtigen Bes müben, Wjera zu vergeflen, und gaben feiner Leibenfchaft das heißt feiner Phantafle immer neue Nahrung. „And dabei wird fie das, was ich hier niederfchreibe, gar nicht zu würdigen wiffen,” dachte er betruͤbt „und wird biefe Phantaſieprodukte, gu denen fie mich begeiftert bat, und bie ihr geweiht find, für verliebtes Gefafel erklären! Sollte fie mich wirklich nicht verfichen, mit ihrem Frauen⸗ bien? Dabei hat fie doch fo Huge Heine Ohren...

„Iſt fie denn überhaupt Hug? Wir bezeichnen oft, na⸗

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mentlich bei den rauen, als Klugheit ſchlechthin, was Im Grunde genommen nur eine ganz niedrige Abart ber Klugheit, nämlich Schlauheit, ift, die freilich in ſehr ſcharf ausgebildeter Form vorhanden fein kann. Die Frauen bilden fich ja etwas darauf ein, daß fie dieſe ‚feine geiftige Waffe‘, biefen Verſtand der Kate, bes Fuchſes und ges wiſſer Inſekten befigen. Es ift Dies ein gewifler paffiver Verſtand: es ift bie Fähigkeit, fich zu verfteden, der Gefahr gu entichlüpfen, fih vor Gewalt und Unterbeädung gu (hüten.

„Dtefe pfiffige, Heinliche Art von Klugheit hat unter ans derem, unter ber Einwirkung einer jahrhundertelangen Unterbradung, das in aller Welt verfireute Volk ber Juden in fich ausgebildet, das gleichfam heimlich durch die Maffe der Menfchheit hinfchlich und mittels dieſer Schlauheit fein Leben, fein Hab und Gut und fein Exiſtenzrecht vers teidigte.

„Diefe pfiffige Heine Klugheit vermag wohl im alltäglichen Leben ihre guten Dienfte zu leiften, wenn es fih darum handelt, Heine Gefchäfte abzuſchließen, Heine Sünden zu verbergen uſw. Sind jedoch den Frauen erſt einmal ihre Rechte wiedergegeben, dann wird diefe Schlauheit, die in Heinen Fragen nüglich fein mag, in großen, wichtigen Dins gen jedoch faſt immer ſchaͤdlich wirkt, der elementaren menfchs lichen Kraft, dem wirklichen Verſtande, ihren Platz eins raͤumen muͤſſen ...“

Sobald er ſich einmal von feinem Tagebuche losriß und einen ober zwei Tage fich ermüchterte, fland Wiera wieder vorwurfsftei vor feiner Seele. Sie zu verdaͤchtigen und su kraͤnken, lag im Grunde genommen feinem Wefen wie auch der guthersigen, ehrlichen Natur Othellos fern, Wenn er trotzdem fich zu Verbächtigungen und Uns

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gerechtigkelten binreißen Tieß, fo waren dies nur fpontane Produkte der Leidenſchaft und Ungewißheit, bie ihn alles in falfchen, düfteren Karben fehen ließen.

In einem ihrer Briefe fand fich, nach den üblichen freunds ſchaftlichen, mit liebenswärdigem Spott burchfegten Aus⸗ führungen, unter den Worten „Ihre Wiera“ noch ein längeres Poftfkeiptum, in dem es hieß:

„Lieber Freund und Bruder, Ste haben mich lieben und leiden gelehrt. Sie haben mir etwas von der Kraft Ihrer Seele mitgeteilt, ja, wie e8 fcheint, Ihre eigne milde und ftebende Seele in mich übertragen...

„Und eben diefe Mildherzigkeit, die Ich nun auch In mir fühle, ermutigt mich, Sie zu bitten, an einem guten Werke teilgunehmen. Es befindet fih hier ein aus ber Heimat vertriebener, unglüdlicher Verbannter... Auf ihm ruht ber Verdacht der Regierung... Er weiß nicht, wohin er fein Haupt legen foll, alle haben fih von ihm yuräds gezogen, die einen aus Gleichgültigkeit, die andern and Furcht. Sie aber lieben Ihren Nächften und kennen ſicher⸗ fih weder Stleichgültigkeit noch Furcht, wenn es fih um ein gutes, reines, heiliges Werk handelt. Er befigt feinen Groſchen Geld, hat nichts anzuziehen, und draußen wird es Herbſt ... Ich füge nichts weiter hinzu. Jedes Wort ift Hier Wahrheit Ihre Wiera wird Sie nicht belügen. Wenn Yhr Herz, woran Ich nicht zweifle, Ahnen fagen wird, was bier zu tun Ift, dann richten Sie etwaige Sen⸗ dungen an die Küftersfrau Sekleteja Burbalachowa, es wird beſtimmt anfommen, ich werde mich felbft Darum fümmern. Nichten Ste es jedoch fo ein, daß weder Tant⸗ ‚hen noch fonft jemand im Haufe etwas merkt.

„Ste werden, was ganz natürlich iſt, wilfen wollen, wie groß die Summe fein foll, die der Betreffende braucht,

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- Dreifundert Rubel, oder vielleicht auch. zweihundertund⸗ zwan zig, würden genügen, um ihn ein ganzes Jahr Aber Waſſer zu halten. Und wenn Sie ihm dazu noch einen Paletot und eine geftridte Wollwefte ſchicken, dann wuͤrden Sie den armen Menfchen auch vor der Kälte bewahren, “Sie fehen, wie fehr ich auf Ihre Mildherzigkeit im allges meinen und Ihre Liebe zu mir im befonderen baue: ich lege fogar die Maße bei, die der Dorffchneider bier von ihm genommen hat!

„um eine warme Bettdede zu bitten, wage ich ſchon gar- nicht das hieße Ihre Güte und Ihre Schwäche für mich mißbraucden. Davon ein andermal. Im Winter wird der arme Verbannte wahrfcheinlich aus diefer Gegend bier wegfommen, er wird Sie dann fegnen, und von diefem Segen wird vielleicht auch auf mich ein wenig abfallen, Ich wuͤrde Sie nicht beläfligen, aber Sie wiffen, daß Tants chen all mein Geld in Verwahrung hat, und ihr kann Ich nichts von dee Sache fagen.” „Bas ift das? Mas tft das?“ ſchrie Raiſki foͤrmlich laut auf, als er diefes Poſtſkriptum zu Ende gelefen hatte, und während er die rollenden Augen in die Runde gehen ließ, fuchte er In Gedanken nach dem Schläffel zu dieſem neuen Raͤtſel. „Wie ſeltſam, wie ſeltſam! Iſt das wirklich Wiera? Ober wer fonft fledt dahinter?” fprach er laut vor fih hin und warf ſich plöglih In einem Anfall hyſteriſchen Lachens auf den Diwan. Es war in Tatjana Markownas Kabinett, und Wilentjew und Marfinka waren gleichfalls da. Sein Lachen ſteckte die beiden an, und fie aftompagnierten ihm freundfchaftlich, Indem fie herzlich mitlachten. Doc) hörten ſie plöglih, durch die feltfame Art feines Lachens beuns ruhigt, felbft auf gu lachen. Ganz befonders hatte er Tats

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jana Markowna erfhredt fie Tief eiligft nach der Haus⸗ apotheke, entnahm ihr irgendwelche Tropfen und goß einen Teelöffel voll davon ein. Er konnte fih kaum wieder faſſen.

„Hier, n'mm die Tropfen, Borjuſchka!“

„Ah nein, Tantchen Ich brauche feine Tropfen, ſondern Geld... dreihundert Rubel...“

Und er platzte wieder mit einem lauten Lachen heraus, Die Sroßtante weigerte fih natürlich, ihm etwas gu geben. .„Wozu denn, für wen? Etwa wieder für Markuſchka? Laß dir erft die achtzig Mubel zuruͤckgeben!“

Zu einer andern Zeit hätte er fih mit einem barmlofen Wige über die Sparfamkeit und den Geiz der Großtante besnügt, Diesmal jedoch brannte bag Feuer feiner Ungebuld, die durch bag wachſende Intereſſe an ber offenbar dahinter ftedenden Komödie noch erhöht wurde, gar zu heftig.

Er mußte fich förmlich mit ihr herumprügeln und erreichte es erſt nach einem verzweifelten, über eine Stunde währens ben Kampfe, daß fie mit zweihundertundzwanzig Ruben berausrädte. Um eher gu Ende gu kommen, hatte er nicht auf den dreihundert beftanden.

Er verfiegelte das Geld und ſchickte e8 am nächlten Tage ab. Dann fuchte er einen Schneider auf und gab ihm den Winterpaletot und. die Wefte in Beftellung. Auch eine Bettdecke kaufte er und alles zufammen fandte er am fünften Tage nach Ankunft des Briefes unter der ans gegebenen Adreffe ab.

„Nicht mit ber Feder nur, fondern mit Tränen und tiefs gerährtem Herzen danke ich Ihnen, lieber, lieber Bruder,” lautete bie Antwort von jenfeitd des Stromes. „Nicht ich kann Sie dafür belohnen: der Himmel wird es flatt meiner tun! Mein Dank befteht in einem warmen Haͤndedruck

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und einem tiefen, tiefen Blick voll Erkenntlichkeit. Wie beglüdt war ber arme Verbannte durch Ihre Gefchente! Er lacht vor lauter Freude und trägt die neuen Sachen fon. Von dem Gelde hat er feiner Wirtin gleich das ruͤckſtaͤndige Koftgeld für drei Monate erlegt und noch einen Monat im voraus bezahlt. Für drei Rubel hat er fich Zigarren gefauft, die er Teidenfchaftlich gern raucht und fchon fehr lange entbehren mußte...”

„Ich will ibm morgen ein Kifichen von meinen eigenen ſchicken,“ dachte Raiſki und fandte in der Tat ein Kifichen ab. „Reich fcheint er nicht gu fein,” fagte er fih „er wuͤrde fonft nicht darum Bitten... .”

Ploͤtzlich bekam er den Einfall, ben pfiffigen Jegorka auf Kundfhaft auszufenden, um zu erfahren, wer eigentlich bie Briefe bei dem Fifcher abhole, und wer diefe Sefleteja Burbalahoma fei. Er hatte bereits geklingelt, als jeboch Jegorka erſchien, fand er feine Worte, fah, über feine Abſicht erroͤtend, Jegorka verlegen an und bedeutete Ihm durch einen Winf, er folle wieder hinausgehen,

„Ih kann nicht, ich kann nicht!” flüfterte er mit einem unbeflimmten Gefühl des Abſcheus. Ich werbe fie ſelbſt fragen ich bin neugierig, was ſie mir antwortet. Und wenn fie luͤgt dann adien, Wiera, und mit ihr aller Glaube an bie Frauen!”

Er beobachtete die Entwidelung feiner eigenen Leidens ſchaft, wie ein Arzt den Gang der Krankheit beobachtet, ja er phofographierte fie förmlich in all ihren einzelnen Stadien. Zuweilen fagte ihm wohl fein gefunder Menfchens verftand, daß dieſe Leidenfchaft eine Lüge, eine Luftfpieges fung fei, die er verfcheuchen und zerſtreuen müffe. „Uber vote foll das geichehen? Was foll ich tun, um von ihr loszukommen?“ fragte er und richtete ben Blick abwechfelnd

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sum bemöltten Himmel empor und zur Erbe nieder. „Bat erfordert bie ſittliche Pflicht? Gib mir Antwort, ſchlum⸗ mernde Vernunft, erleuchte mir den Weg, laß mich hinuͤber⸗ fpringen über das fengende Bener!”

„Laß alles im Stich und entflieh!“ antwortete ruhig Die Bernunft.

„Sa, ja Ich will alles Liegen laſſen und will fliehen, Ich warte nicht erft, bis fie zuruͤkkommt!“ fagte er ſich und bemerkte jest erſt ein Heines Blatt Papier, das dem Briefe beilag, und auf dem Wera fhrieb:

„Schreiben Sie nicht mehr, ich werde am Donnerstag felbit wieder zu Haufe fein, ber Korfimeifter bringt mich heim.“ Er war aufs höchfte erfreut.

„Ah, das foll der Prüfftein werden!” fagte er fih. „Das Schickſal felbft, von dem Tantchen immer fpricht, hat ſich eingemifcht und verlangt, daß ich mich aufraffe, daß Id ein Opfer bringe. Und ich will es bringen. In drei Tagen ſoll ich fie Hier wieder fehen o, welche lockende Ausſicht! Wie heil wird die Sonne wieder über Malinowka aufs geben! Doch nein, ich will dem entfliehen! Niemand weiß es, was mich das often wird. Und ob mir, zum Lohne dafür, wohl der verlorene Friede wieder zuteil wird? Nur raſch, raſch fort...” fagte er entfchloffen und befahl Jegor, ben Reiſekoffer gu holen.

Er hätte nun fogleich aufbrechen und Wiera vergefien folfen. Und zum Zeil brachte er diefes Programm auf ur Ausführung. Cr begab fich nach der Stadt, um dies und dag für die Neife einzukaufen. Auf der Straße begeg⸗ nete er bem Gouverneur. Diefer machte ihm Vorwürfe daruͤber, daß er fich bei ihm fo lange nicht Habe fehen laſſen. Raiſki entfchuldigte fih mit Krankheit und fagte, er wolle in ben nächften Tagen abreifen. Br 7

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Wohin?” fragte jener.

„Das ift mir gleich,” antwortete Raiſki büfter. „Hier bin

ih müde geworden, Ich möchte mich zerſtreuen. Ich fahre jetzt zunaͤchſt nach Petersburg, dann vielleicht nach meinem Gute im Gonvernement R. und von dort moͤglicherweiſe ins Ausland...“ „Ich wundere mich nicht, daß die Langeweile Sie hier plagt,“ verſetzte der Gouverneur. „Es iſt nichts, ſo immer auf einem Fleck zu ſitzen und ſich von aller Geſellſchaft fernzuhalten... Ste brauchen Zerſtreuung wollen wir nicht zuſammen eine kleine Tour machen? Ich trete übermorgen: ‚cine Inſpektionsreiſe durch das Gouverne⸗ ment an..." ac ift Mittwoch,” sing es Raiſti durch den Kopf „und fie will am Donnerstag zuruͤkkommen ... Ya, ja das Schieäfal zieht mich bei den Haaren von bier fort... Oder foll ich nicht doch gleich mweiterfahren, um alles ganz von mir abzufchätteln, um vollends den Sieg über mich zu erringen?” „Sehen Sie fih einmal unfere Gegend an,” fuhr der Gou⸗ verneur fort. „Es gibt bier Brtlichkeiten von großem Reize: Sie find ein Poet, Sie werden frifhe Eindräde empfangen... Auch eine Wolgafahrt von anderthalb hundert Werft fteht uns bevor... Nehmen Sie Ihr Skizzenbuch mit, Sie werden da huͤbſche Motive fin⸗ den...” „Soll ih den Vorſchlag nicht Doch annehmen?” fagte fich Raiſki, und neben dee Abficht, feine Leibenfchaft völlig niederzukaͤmpfen, keimte ſchon wieder der hoffnungsvolle Gedanke auf, daß er doch nicht ganz von den Staͤtten Ab⸗ ſchied nehme, an denen ſie verweilte ſeine unvergleich⸗ liche Schoͤne, die ihm ſolche Qualen bereitete.

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„Einverfianden ich begleite Sie,” entſchied er end⸗ gültig.

Der Gonvernene ſchuͤttelte Ihm freundfhaftlih die Hand und nahm ihn dann nach feiner Wohnung mit. Er zeigte ihm die bequeme, gemäcliche Reiſeequipage und fagte ihm, daß auch ein Küchenwagen mitgehen wuͤrde. Auch Spiels arten wollte ee mitnehmen.

„Wir wollen ung gelegentlich im Pikett meſſen,“ fügte er hinzu. „Sch verfpreche mir viel von bee Fahrt für mic wird’8 jebenfalld angenehmer fein, ald wenn ih nur in Geſellſchaft des Sekretaͤrs reife, ber ohnedies viel gu tum

bat.

Schon die bloße Ausficht, einmal in andere Umgebung zu kommen, brachte Raiſki eine Erleichterung. Es trat doch einmal etwas anderes, das nichts mit Wjera gu tun hatte, gleich einer Wolke zwifchen ihn und Tie. Das hätte fchon laͤngſt eintreten follen dann hätte dieſer törichte Zufland bereits ein Ende genommen.

„Run find fie auf einmal faſt gang verfehwunden, biefe feinen Teufel, die. mich quälten!” fagte er fich, als er nad Haufe zuruͤckkehrte.

Er befahl Jegorka, Kleider und Wäfche für ihn bereit gu halten er wolle mit dem Gouverneur zuſammen vers reifen.

Sein Borfag, der Leidenfchaft, die ihn peinigte, endlich Kerr zu werben, war durchaus ernſt und aufrichtig, und er dachte fhon daran, überhaupt nicht zuruͤckzukehren, fons dern nach Beendigung der Fahrt mit dem Gouverneur feine Sachen nachkommen zu laffen und abzureifen, ohne daß er Wiera nochmals gefehen.

Diefen Entfchluß hätte er nun auch zur Ausführung bringen follen eine Trennung von Malinowia, fei es

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für immer, oder ſei es auch nur für längere Zeit, jeden, falls aber eine völlige Trennung hätte alles das, was - jeßt in feiner Seele lebte, unter dem Einfluß der Entfernung verblaffen laſſen. Es hätte gar keiner Riefenabftände bes durft, wie Raiſki fie fich vorftellte: zwei⸗ dreihundert Werft etwa, und ein Zeitraum nicht von Jahren, fondern von fünf, ſechs Wochen hätte genügt, um dieſes ganze Gefnifter und GSepraffel in Vergeffenheit gu bringen.

Raiſki wußte das nach feinen früheren Erfahrungen, bie allerdings nicht fo heftig auf ihn eingemwirft hatten. Aber die legte Hoffnung erfcheint ja ſtets in anderem Lichte als die früheren, die frifche Wunde brennt heftiger in der noch Todernden Flamme ber Leidenfchaft, und bie Zeit vermag nur fehr langſam zu heilen. -=

Raiſki wußte auch dies, und er gab ſich durchaus feiner Selbfttäufhung hin. Er wollte nur den unerträglichen Schmerz irgendwie befchwichtigen, wollte nicht plöglih von dannen gehen und unüberbrädbare Weiten zwiſchen fie und fich felber legen, nicht mit einem Male, ganz plöglich, diefen Nero durchfchneiden, ber ihn einerſeits mit der ans mutigen, veigvollen, von Grazie erfüllten Geſtalt Wierag, andererfeits mit dem in ihr verförperten und gleichfam lebendig gewordenen Ideal feiner Künftlerfeele verknuͤpfte. Er wollte und konnte es nicht, und wenn ihre Tun und Treiben ibm noch fo geheimnisvoll uorfam, wenn fein Verdacht, fie fet in Leidenschaft zu irgend jemandem erglüht, ja fie habe fich vielleicht gar mit irgendeinem... Tufchin, in dem er in erſter Linie ihren Helden vermutete, ver⸗ gangen, noch ſo ſchwer auf ihr ruhte.

„Oder vielleicht iſt es auch ein anderer... ober mehrere andere...” dachte er voll Argwohn.

Er äberteug feine kuͤnſtleriſchen EDER ing Beben,

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verquicte fie mit den allgemein menſchlichen und befolgte, indem er fie auf ſich ſelbſt auwandte, unwillkuͤrlich und unbewußt die weiſe Lehre der Alten: „Erkenne dich ſelbſt.“ Mit Entſetzen beobachtete und belauſchte er bie wilden Ausbruͤche feiner blinden animalifhen Natur, er ſchrieb ihe felbft das Todesurteil, entwarf neue Geſetze für fein inneres Leben, gerfidrte den alten Menfchen in fih und fchuf einen neuen. Und indem er fo voll Schreden in ben unbarmbersigen Spiegel hineinfchante, den er ſich felbft vorbielt, und darin all das Dunkle und Boͤſe in fich ers fannte, empfand er anbdererfeitd ein maßlofes Süd bei der Entbedung, daß diefe innere Arbeit am eigenen Ich, die er als Menfch wie als Künftler von Wera verlangte, bei ihm felbft nicht erft jet, im Verlauf feiner Bekannt fchaft mit ihr, begonnen hatte, ſondern ſchon weit, weit früher. Mit Hopfendem Herzen, voll innerer Rührung, horchte er auf die unterirdifche flille Arbeit, deren leiſes Geraͤuſch fih durch den bunten Laͤrm der Leidenfchaft vers nehmen ließ, und die da drinnen, auf bem tiefften Grunde feines menfchlichen Wefeng, irgendein geheimnisvoller Geift verrichtete. Wohl hielt diefer Raftlofe zuweilen mitten im Lodern und Praffeln eines unreinen Feuers mit der Arbeit inne, doch kam er nie ganz zum Schweigen, fondern ers machte immer wieber und rief ihn, anfangs leife, dann aber immer lauter und lauter, zur unermäblichen, ſchweren Arbeit an fich felbft, an feiner eigenen Statue, an bem Ideal des Menfchen.

Ein freudiges Zittern befiel Raiſki, wenn er fich vorſtellte, daß Feine Heinmäütige Sucht und keine Lodungen des ‚Lebens ihn zu diefer Arbeit antrieben, fondern einzig ber uneigennüßige Drang, die Schönheit In fich felbft zu ſuchen und zu verwirklichen. Jener Gelft war es, ber ihn als

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Menfhen wie als Künftler in eine geheimnisvolle, leuch⸗ tende Ferne, gu dem Ideale rein menfchliher Schönheit hinlockte.

Mit einem heimlichen, atemraubenden, faſt beaͤugſtigenden Gluͤcksgefuͤhl ſah er, daß die Arbeit des reinen Genius durch die Feuersbrunſt der Leidenſchaft nicht zerſtoͤrt, ſondern nur aufgehalten wird und, ſobald das Feuer erloſchen iſt ihren Fortgang nimmt langſam und muͤhſam zwar, aber doch ſtetig. Er ſah, daß in der Seele des Menſchen, unabhaͤngig vom kuͤnſtleriſchen Schaffenstriebe, noch ein anderer, moraliſcher Trieb exiſtiert, eine geiſtige Begierde, die neben der leiblichen, und eine ſittliche Kraft, die neben der Kraft ber Muskeln beſteht.

Er ließ in Gedanken fein ganzes Leben an fi voräbers ziehen und erinnerte fih, welche unmenfchlihen Qualen es ihm bereitet hatte, wenn er gu Falle kam, wie er dann aber fich langfam wieder erhob, wie jener reine Geift ihn feife mahnte, ihn gu dem unvollendeten Werke zuruͤckrief, ihn aufrichtete, ermutigte und troͤſtete, ihm den Glauben an die Schoͤnheit des Wahren und Guten und die Kraft zum Weiters und Hoͤherſchreiten wiedergab ...

Mit andaͤchtigem Erſchauern fuͤhlte er, wie ſeine Kraͤfte ins Gleichgewicht kamen, wie ſeine beſten Gedanken und Willensregungen ſich einordneten In jenes Werk: des inneren Aufbaus, wie ihm leichter und freier zumute ward, wenn er das Geraͤuſch jener geheimnisvollen Arbeit hoͤrte oder gar ſelbſt eine Anſtrengung machen konnte, um Stein, Feuer und Waſſer hinzureichen.

Waͤhrend ſo in ſeinem Innern die ſchoͤpferiſche Arbeit des Neuaufbaus ſich vollzog, ſchwand die leidenſchaftliche, boͤſe Wiera ganz aus ſeiner Vorſtellung, und wenn ſie dennoch vor ihm auftauchte, zoͤgerte er nicht, ſie gleich⸗

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falls zur Teilnahme an der Arbeit dieſes geheimnisvollen Geiftes aufzurufen, fie auf das heilige Feuer in ihrem Innern hinzumeifen, es in ihr anzufachen und fie zu bes ſchwoͤren, daß fie es hüten und nähren und in fih bes wahren möge. Damm fehlen es ihm, als liebe er Wjera mit einer Liebe, bie fein anderer für fie empfand, und er forberte kuͤhn von ihr für fich diefelbe Liebe eine Liebe, wie fie fie für ihr Idol, ihren Auserwählten bei aller noch fo leidenſchaft⸗ fihen SHingebung nicht empfinden konnte, wenn dieſes Idol nicht diefelbe Kraft, basfelbe Feuer und mithin auch diefelbe Liebe empfand, die in feiner Bruſt wohnte und ihn mit allen Fibern gu ihr hinzog. Gene andere, brennende, zerſtoͤrende Leidenſchaft aber bemühte er fich, aufrichtig und ehrlich gu befämpfen er fühlte, daß Wiera fie nicht erwiderte, und daß fie daher nicht zu jenem Ausgang führen könne, der bei gegenfeitiget Liebe zwiſchen ehrlichen Menfchen natürlich if. Unerreich⸗ bar fchien ihm jener Gluͤckszuſtand, bei dem bie Leidens ſchaft, von tierifcher Raſerei befreit, fich in echt menfchliche Liebe verwandelt, Er fiachelte nun nicht mehr die Leidenfchaft in ſich auf, wie er e8 früher getan, fondern verwänfchte feinen inneren Zuſtand, feinen qualvollen Kampf mit fih felbft und ſchrieb Wiera, daß er fich entfchloffen habe, Ihe aus dem Wege zu gehen. Kaum aber begann er fih von ihr zu entfernen, als er fogleich fühlte, wie fie fih als geheimnis⸗ voll verfchlelertes, nirenhaftes Wefen an feine Serfen hing, wie fie ihn foppte und nedte, ihn aus dem Schlafe aufs ſtoͤrte, ihn nicht ruhig effen ließ, Ihm das Buch, das er lag, aus der Hand nahm. Nach drei Tagen erhielt er eine. kurze Zufchrift, im ber fie

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fragte, wo er weile, warum er nicht nach Haufe komme, weshalb er nicht fehreibe als ob die Gründe, die ihn sur Abreife beſtimmt hatten, fie gar nichts angingen, oder als ob fie feine Briefe nicht bekommen hätte.

Sie rief ihn nach Haufe, teilte ihm mit, daß fie zuruͤd fei, daß fie fich ohne Ihn langweile. Malinowka erfcheine ihe leer und öde, alle Tießen den Kopf hängen, Marfinfa wolle fogleih nach ihrem Geburtstage, den fie naͤchſte Woche feiere, Die Muster ihres Bräutigams auf ber andern Wolgas feite befuchen, und die Großtante werde ganz allein bleiben und vor Gram vergehen, wenn er, der Großtante und auch ihe felbft zu Liebe, dieſes Opfer nicht bringe...

„a, ich kenne diefes Dpfer,” dachte er nicht ohne Grimm im Herzen. „Wenn ich nicht da bin, und wenn Marfinta weg ift, wird man beine feden Seitenfprünge leichter bes merken! Du wirft did der Großtante mehr widmen muͤſſen, wirft nicht auf deinem Zimmer, fondern am Tifch mit den andern zuſammen effen muͤſſen da Fannft du mich wohl Brauchen, das begreif’ ich! Doch dazu gebe ich mich nicht her, diefen Triumph follft du nicht haben. Genug jetzt ich will frei werden von dieſer törichten Leidens (haft, diefer Sieg foll dir nicht zuteil werden !*

Er ſchrieb ihe eine Antwort, in der er wieberholt feine Abſicht ausſprach, abzureiſen, ohne fie nochmals gefehen su haben. Er finde fo fehrieb er daß dies die einzige Möglichkeit fei, ihe Verlangen, fie in Ruhe zu Iaffen, zu erfüllen und gleichzeitig feine eigne Dual gu enden. Er gerriß in einem Anfall von Enttäufhung über feine Phans tafleprodufte fein Tagebuch und warf die Feten zum Fenſter hinaus, den Winden zum Spiel. Es war in einer Bezirksſtadt, wo dies geſchah, in dem Quartier, das er mit dem Gouverneur zuſammen bezogen hatte. Als die

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Besen des Tagebuches gleich weißem Schnee ans dem Fenſter feines Zimmers in den Hof flatterten, fiefen von allen Seiten die Hühner sufammen, in der Meinung, es ſei dort irgendein ſuͤßes Huͤhnermanna vom Himmel ge⸗ fallen. Auch fie erfuhren eine Enttaͤuſchung, warfen einen feagenden Blick mach dem Benfler und gingen langſam auseinander.

Am naͤchſten Tage, in der Abendſtunde, erhielt Raiſki von Wiera einen kurzen Brief, in dem ſie ihn beruhigte, ſeine Abſicht, ohne ein nochmaliges Wiederſehen mit ihr ab⸗ zureifen, billigte und ihre volle Bereitſchaft erklaͤrte, Ihm bei der Bekaͤmpfung ſeiner Leidenſchaft das Wort war im Briefe unterſtrichen behilflich zu ſein. Aus dieſem Grunde gehe ſie ſogleich nach Abſendung dieſes Briefes, noch an demſelben Tage das heißt am Freitag wieder and andere Wolganfer zu Beſuch. Ihm jedoch rate fie, doch noch einmal miedergufehren und von Tatjam Markowna wie von den übrigen Hausgenoffen Abſchied zu nehmen, da feine plögliche Abreiſe fonft in der Stadt ._ Auffehen machen und die Großtante kraͤnken würde.

Raiſki warb durch diefen Brief faft wieder im frendige Stimmung verfegt. Es wurde ihm leicht ums Herz, und am nächften Tage dag heißt am Freitag nach dem Mittageffen fprang er leicht und munter aus dem Wagen des Gouverneurs, der gerade ein in der Nähe von Mali⸗ nowka gelegenes großes Dorf pafflerte, verabſchiedete ſich dankend von Seiner Exzellenz und begab ſich, den leichten Heinen Neifekoffer in der Hand, nach Haufe.

Schfles Kapitel

arfinta ſah Ihn zuerſt, als er auf den Hof kam, dann folgte Wikentjew, und hinter diefem ber ſtuͤrzten die Hunde herbei, um ihn zu begrüßen. Alle, mit Einfchluß von Paſchutka, waren bis gu Tränen gerührt vor Freude Aber feine Ankunft, und auch er felbft Hätte, obſchon die Leidens fchaft feine Seele wieber ganz im Banne hielt, ob der Waͤrme dieſes herzlichen Empfanges beinahe geweint. „Ah, warum Fanın ich mich nicht zufrieden geben mit dieſem [lichten Gluͤck warum bin ich nicht Tantchen, ober Wikentjew, oder Marfinfa, warum bin ich von dem⸗ felben Schlage wie Wiera ?” dachte er und ſah fich fchüchtern nah Wiera um. „Und Wiera iſt geftern abgefahren!” fagte Marfinka mit befonderer Lebhaftigkeit als fie fah, wie er Angftlich ſuchend um fich ſchaute. „Ja, Wiera Waſſiljewna iſt abgefahren!“ Maas Wikentjew. „Das Fraͤulein iſt nicht da!“ ſagten auch die Beute, obs fhon er fie gar nicht fragte. Er Hätte fih num freuen follen flatt deffen aber befiel fein Herz tiefſte Trauer. |

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„Und fle freuen ſich noch, Daß fie abgefahren Ift, fie innen Darüber lachen, e8 macht ihnen nichts aus!” dachte er, während er fih nach Tatjana Markownas Kabinett begab. „Wie fehnfüchtig habe ich dich erwartet einen Extra⸗ boten wollte ih ſchon hinter dir herſchicken!“ fagte fie mit forgenvollem Gefichte, hieß Pafchutla aus dem Zimmer gehen und verfchloß die Tür.

Er erſchrak in der Meinung, daß irgendeine fchlimme Nachricht über Wiera ihn erwarte.

„Was ift vorgefallen ?”

„Dein Freund Leontij Iwanowitſch...“

„Run?“

„Er ift krank.“

„Der Armſte! Was fehlt ihm denn? Ich fahre fofort hin ... Iſt's gefährlih?.. .*

„Wart', ich laſſe anſpannen, und inzwiſchen erzähle ich bir, was es mit feiner Krankheit auf fih hat. In der Stadt iſt es ſchon bekannt, ich verheimliche es nur Marfinkas wegen... Auch Wiera bat es fchon Irgendwo erfahren..."

„Was ift denn mie ihm pafflert ?“

„Seine Frau ift fort..." fluͤſterte Tatjana Markowna ſtirnrunzelnd „und das hat ihn frank gemacht. Seine Köchin war ſchon vorgeſtern und geflern da, um dich gu ihm zu bitten...“

„Bo. ftedt denn feine Frau?...“

„Mit dem Franzoſen, dem Charles, iſt fie davongelaufen. Der mußte aus irgendeinem Grunde nah Petersburg fahren, und da iſt fie einfach mitgereift, Ich will meine Verwandten in Moskau befuchen,‘ meinte fie pfiffig, ‚da kann mich ja Mr, Charles gleich mitnehmen!‘ So ents Iodte fie ihrem Manne den Erlaubnisſchein.“

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„Run, was tft dabei?” fagte Raiſki. „Ihre Bestehungen zu Charles find doch für niemand außer Leontij ein Ges heimnis. Man wird bdaräber lachen, fie wird zuruͤck⸗ fommen, und er wird nie etwas davon erfahren...”

„So Hör’ doch zu Ende! Von unterwegs hat fie ihm dann gefchrieben, er folle fie vergefien und fie nicht erwarten, ba fie nicht mehr zuruͤckkehren werde. Sie könne mit Ihm nicht leben, fie müffe erfliden ...”

Raiſki zuckte die Achſeln.

„Du lieber Gott! Dieſe Naͤrrin!“ ſagte er dann mit aufs richtigem Bedauern. „Der arme Leontij! Nicht genug, daß ſie ihn heimlich betrog nein, ſie mußte den Skandal auch an die Offentlichkeit bringen! Ich fahre gleich hin; ach, wie er mir leid tut!“

„Auch mir tut er leid, Borjuſchka. Ich wollte ſchon ſelbſt zu ihm hinfahren er iſt eine ſo ehrliche Seele, ganz wie ein Kind! Gott hat ihm Gelehrſamkeit gegeben, aber feinen Wig... Da ſitzt er nun ewig zwiſchen feinen Buͤ⸗ chern vergraben! Wer wird fich jegt um ihn fümmern?... Weißt du was: wenn er bort niemanden hat, ber fich feiner annimmt, banı Bring Ihn doch hierher! Das alte Haus iſt ganz leer bis auf Wierotfchlas Zimmer... wir bringen ihn vorläufig bort unter... Ich habe für alle Fälle ſchon zwei Zimmer für ihn zurecht machen laffen.”

„Was für eine prächtige Frau Sie boch find, Tanthen ich Hatte eben erft denfelben Gedanken, und Sie haben ihn ſchon zur Ausführung gebracht!”

Er begab fih für einen Augenblid in fein Zimmer. Dort fand er Briefe aus Petersburg, barumter auch einen von feinem Freunde Manow, dem Partner von Nadjeſchda Waſſiljewna und Anna Waſſiljewna Pachotin. Es war jedenfalls die Antwort auf mehrere Briefe, In denen er

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ſelbſt fi nah Sofia Bjelowodowa erkundigt hatte, bie ee inzwiſchen jedoch laͤngſt vergeflen hatte. | Er öffnete den Brief und fah, daß Ajanow In der Tat unter anderem auch biefes Thema berühete.

„Endlich faͤllt's ihm ein gu ſchreiben!“ dachte er. „Als ich ihm ſchrieb, ftand Ihr Bild noch frifch vor meiner Seele jett erinnere ich mich kaum noch Ihres Geſichts. Jetzt iſt mir fogar eine Sefleteja Burdalachowa Intereffanter, da fie mich wenigſtens an Wiera erinnert.”

Er ließ die Briefe ungelefen und die Journale ungeoͤffnet und fuhr fogleich zu Koslow. Die Läden des Heinen grauen Hauſes waren gefchloffen, und Ratıfi mußte eine ganze Welle warten, ehe ihm geöffnet wurde.

Er ducchfchritt das Vorzimmer und den Salon und blieb an der Tür zu Leontijs Kabinett ftehen. Er mußte nicht, ob er Hopfen oder ohne weiteres eintreten follte.

Die Tür oͤffnete ſich ploͤtzlich Teife, und vor ihm fland Mark Wolochow in einem Frauenmantel und in Koslows Pans toffeln, ungekaͤmmt und anfcheinend unausgefchlafen, blaß und mager, mit einem grimmigen Ausdrud im Geſichte. „Endlich friegt man den gnädigen Herrn zu ſehen,“ fagte er halblaut, in Argerlihem Tone. „Wo haben Sie denn geftedt? Ich habe ſchon zwei Nächte faft ohne Schlaf vers bracht. Tagsüber kommen ihm bie Schüler auf den Hals, und in der Nacht iſt er gan allein... .”

„Was tft denn mit ihm?’

„Was mit ihm if? Hat man Ihnen denn nichts gefagt? Seine Zicke ift über alle Bergel Ich freute mich fo, als ich’8 Härte, und ging gleich Hin, um ihm zu gratulieren, und wie ich hinkomme, fehe ich: dee Menſch ift ganz verſtoͤrt! Sein Stiel if fo ſtarr, er erkennt keinen Menſchen und iſt wie im Sieber. est fcheint es ja etwas beſſer. Statt

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‚aber Sreudentränen zu vergießen, iſt dee Schafstopf ganz aufgelöft vor Gram. Ich holte den Arzt, doch er jagte ihn hinaus, und dabei benimmt er fich wie ein Verrüdter .. . Er ſchlaͤft jetzt, ſtͤren Sie ihn nicht. Ich gebe nach Haufe, Sie aber bleiben doch hier, nicht wahr ? Damit er fich nicht noch in einem Anfall von Schwermut etwas antut ... Auf keinen Menfchen hört er ich wollte ihm ſchon eine Tracht Prügel verabreichen . . .” Er fpudte ärgerlich aus. „Auf die Köchin ift kein Verlag, die iſt eine Idiotin. Geftern follte fie ihm ein Beruhigungspulver geben ftatt deffen ließ fie ihn Zahnpulver fchluden, Morgen abend Iöfe ich Sie ab...” fügte er Hinzu.

Raiſki blidte voll Erflaunen auf Mark und reichte ihm die Hand, | „Barum auf einmal fo liebenswärbig?” fragte Mark gallig, ohne feine Hand gu ergreifen.

„Ich danke Ihnen, daß Sie fich meines armen Freundes Angenommen haben...”

„Ah, ſehr angenehm!” fagte Mark, begann mit beiden

Pantoffeln auf dem Fußboden gu ſcharren und fehüttelte mehrmals Raiffis Hand. „3% babe längft eine Gelegens heit geſucht, Ihnen einen Dienft zu erweifen .. .“ | „Warum ziehen Sie eigentlich, wie ein Zirkusclown, alles ins Laͤcherliche, Wolochow 2“ Be |

„Und warum nehmen Gie alles im Leben fo pathetiſch?“ verſetzte Wolochow voll Hohn. „Was foll mir Ihre Dank barkeit? Bin ich etwa Ihretwegen oder fonft jemandeg wegen zu Koslow gelommen, und nicht vielmehr einzig und ‚allein feinetwegen?" E

„Run gut, Mark Iwanowitſch, Sort mit Ihnen! Bleiben ‚Sie ſchon bei Ihren Danieren. Schließlich kommt es auf

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bie ja fo wenig an wie auf mein Pathos. Cie Haben jebens falls ein gutes Werk vollbradt .. .“

„Schon wieder ein Lob!”

„Ja, (chon wieder. Das ift nun einmal meine Manter zu fagen, was mir gefällt oder nicht gefällt. Sie glauben vielleicht, grob fein heiße fo viel wie einfach und natürlich fein? Ich bin der Meinung, daß der Menfh in um fo höherem Grade Menfch ift, je fanfter er iſt. Laſſen Sie mich fon bei diefer Meinung bleiben, fo fehr fie Ihnen auch mißfälle!”

„Meinetwegen rafpeln Sie Ihr Suͤßholz weiter, ſoviel Sie wollen!” knurrte Mark vor fih Hin.

„Ich nehme Leontij zu mie dort wird er wie zu Haufe fein,” fuhr Raiſki fort, „und wenn fein Kummer nicht vers seht, kann er für immer in dem flillen Winkel bleiben ...“ „Nun reiche ich Ihnen die Hand,” fagte Mark ernfihaft und hielt Raiſki feine Hand hin. „Das iſt doch eine Tat, kein bloßes Gerede! Koslow wird an der Sache zugrunde gehen, er wird faum noch weiteramtieren können. Er wird ohne Obdach, ohne ein Städ Brot bleiben... Ein präcjtiger Einfall, der Ahnen da gelommen iſt!“

„Nicht mein Einfall if e8, ſondern der Einfall einer Frau, und nicht aus ihrem Kopfe ſtammt er, fondern aus ihrem Herzen,” fagte Raiſti „und darum nehme ich diesmal Ihre Sand nicht an... Die Großtante hat diefen Einfall gehabt... .”

„Eine ganz famoſe Alte, dieſe Ihre Großtante I" fagte Mark, „Ih komme gelegentlich einmal zu ihr zu Gafte, wenn’s wieder eine Paftete gibt. Wie ſchade, daß ihr fo viel alter Plunderfram im Kopfe figt!... Nun, ich gehe jeßt, und Sie nehmen ben Koslow In Ihre Obhut wenn Sie nicht felbft dableiben können, laſſen Ste fonft jemanden

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Bei ihm. Vorgeſtern legten wir Ihm Sauerkraut auf den Kopf, um ihm die Stirn gu kühlen. Ich war einen Augens blick eingefchlafen, und in der Zeit hat er, ohne fi etwas Dabei zu benfen, das ganze Sauerkraut in den Mund ges ftopft und aufgegeflen. Nun, leben Sie wohl, ich bin müde und habe Yunger. Awdotja hat mir bier fo eine Brühe vorgefeßt, fie fagte, es fei Kaffee...”

„Sören Sie wollen Sie nicht noch ein Weilchen das bleiben? Ich ſchicke fofort den Kutſcher nach. Haufe und loffe ein Abendbrot Holen,” fagte Raiſki. | „Mein, ich will zu Haufe Abendbrot eſſen.“

„Bielleiht ... brauchen Sie Geld?...” fagte Raiſtki faſt ſchuͤchtern und wollte feine Brieftafche herausziehen. Mark ließ plöglich fein kaltes, ſchneidendes Lachen verneh⸗ men. | es „Mein, nein ich bin jetzt gut bei Kaffe. . .” fagte er und warf Naiffi einen rätfelhaften Blick zu. „Ich gehe vor dem Abendbrot auch noch in die Badſtube. Ich muß mich wieder friſch machen, all die Zeit über bin ich nicht aus den ‚Kleidern gekemmen. Ich wohne jegt nicht mehr bei dem Gärtner, fondern bei einer geiftlichen Perfon. Heute wird dort das Bad geheist, ich will bie Gelegenheit benugen, efie dann Abendbrot und lege mich gleich ing Bett, um einmal orbentlich auszufchlafen.” „Sie find mager geworden und Sie fehen recht an gegriffen aus,” bemerkte Raiſti. Ihre Augen...” Mark runzelte plöglich die Branen, und fein Geflcht ward noch finfterer als vorher, | Se

„Und Sie feinen mir noch weit mehr angegriffen I” ſagte er. „Sehen Sie doch mal in den Spiegel: die gelben Flede, die eingefallenen Augen .. .* ee „Ich haste allerhand Anfregungen ...* -

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„Ya, die hate? ich auch,“ bemerkte Wolochow teoden. „Leben Sie wohl.”

Er entfernte fih, während Raiſki leiſe bie Tuͤr zu Leontije Kabinett öffnete und auf ben Zehenfpigen am fein Wett ging.

„Wer iſt da?” fragte Koslow mit ſchwacher Stimme. „Suten Abend, Leontij Ich bin es!“ fagte Raiſki, nahm Koslows Hand und ſetzte ſich in einen Lehnſtuhl neben dem Bett.

Koslow fah eine ganze Weile vor fih hin, bie er ihn end⸗ lich erkannte; dann richtete er fich raſch auf und fragte: Iſt jener dort weggegangen? Ich habe mich ſchlafend ges ſtellt. Dich hab’ ich ſchon fo lange nicht gefehen,“ fuhr er leiſe fort. „Und dabei wartete ih Immer wird et nicht einmal vorfprechen? dachte ih. Das Gefiht des alten Kameraden,” fagte er, feine Hand auf Raiſkis Schulter legend und ihm aus naͤchſter Nähe in die Augen fhauend „ift noch das einzige, das mir nicht zuwider iſt ...“

„Ih war nicht in der Stadt,” antwortete Raiſ ki „id bin ſoeben erſt gurädgelommen und erfuhr, daß du krank ſeieſt ...“

„Unſinn, ich bin nicht krank. Sch verſtelle mich nur..." fagte er, ließ den Kopf auf die Bruſt finfen und ſchwieg. Nach einem Weilchen hob er ben Kopf wieder empor umd blickte Raiſki zerſtreut am.

„Was wollte ich die doch fagen ...“ begann er und hielt fogleich wieder inne,

Er erhob ſich und begann mit unficheren, ungleichen Schrits ten in dem Kabinett auf und ab zu geben. | Leg’ dich lieber Hin, Leontij,” bemerkte Raiſki „du biſt

frank...“ „Ach bin nicht Frank,” verfegte Koslow faft Argerlich. „Ihr

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ſcheint euch alle verfehtworen zu haben, um mir einzureden, daß ich Frank bin. Mark bringe mir fogar einen Arzt auf den Hals und figt mir auf dem Naden, als fürchte er, daß ih mir die Kehle abfchneiden oder fonft ein Leid antun könnte.”

„Du biſt aber wirklich ſchwach, haͤltſt dich kaum auf dem Beinen leg’ dich lieber Hin...”

„Ja, (wach bin ich wohl, das ſtimmt,“ flüfterte Leontij, während er fich über den Stuhleäden hinweg zu Raiſki niederbeugte und feinen Hals umfchlang. Er legte feine Wange auf Raiffis Kopf, und diefer fühlte plöglich heiße Tränen auf feiner Stirn und feinen Wangen. Leontij meinte.

„Das ift Schwäche, ja...” fagte Leontij aufſchluchzend „aber Frank bin ich nicht... . und auch kein Fieber hab’ ich ... das ſchwatzen fie nur ſo ... weil fie es nicht begreifen können ... Und auch ich habe es nicht begriffen... und wie ich dich fah... da brachen meine Tränen hervor, ganz von felber ... Nur ſchilt mich nicht, wie Mark es getan hat, und lach’ mich nicht aug, wie die anderen es fun... . meine Herren Kollegen, die Lehrer... Ich fehe diefes boshafte Lachen in ihren Gefichtern ... wenn fie kommen, um mie ihe Beileid auszudruͤcken...“

Raiſki felbft fühlte, wie ihm die Tränen in die Kehle fliegen, doc hielt er fie mit Gewalt zuräd, um Leontiis Kummer nicht noch zu fleigern.

„Ich verftehe deine Tränen, und ich weiß. fie zu fchäßen, Leontij!“ fagte er, fih nur mit Mühe beherrfchend.

„Du bift mein guter, alter Kamerad ... du haft auch in der Schule nicht über mich gelacht... . Weißt dur auch, wars um ich weine? Weißt du benn en was mir paffiert ift?” Raiſki ſchwieg.

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„Ich will die etwas zeigen...” fagte Leontij, rat an feinen Schreibtifch, nahm aus einem Schubfache einen Brief und reichte ihn Raiſki.

Raiſki überflog mit den Augen Uliana Andrejewna's Brief. „Verbrenne diefen Brief,” riet er Leontij „ſolange das nicht gefchehen ift, wirft bu feinen Frieden finden!“ „Wie ift das möglich I” fagte Leontif ganz erfchroden, nahm ihm den Brief fort und legte ihn forgfam wieder in Das Schubfach zuruͤck. „Das find ja die einzigen Zeilen von ihrer Hand am mich, die ich befige, ich Habe nichts Schrift⸗ liches ſonſt von ihr... Es iſt das einzige Andenken an ſie ...“ fügte er, feine Tränen hinunterfchludend, hinzu. „Ja, eine ſolche Liebe verdiente einen andern Dank...“ fagte Raifki leife. „Aber, mein lieber Leontij, betrachte Die Sache eben als eine Krankheit als einen Schmerz, der zwar groß ift, jedoch voräbergehen wird... Laß Di) von ihm nicht befiegen das Leben ift lang, du biſt noch nicht alt...“

„Das Leben ift für mich aus, wenn. . .” fiel Leontij Ihm ind Wort „wenn ...“ | |

„Wenn was?...“

„Wenn fie... nicht zuruͤckkehrt ...“ flüfterte er.

„Wie, du wollteft... du wuͤrdeſt fie wieber aufnehmen, wenn fie jet zurüdfäme?.. .“

„Sch, Boris, auch du begreifft das nicht!” fagte Koslow faft verzweifelt, faßte nach feinem Kopfe und begann wieder im Zimmer auf und ab zu fchreiten,. „Mein Gott, da reden fie mir nun ein, daß ich frank bin, fprechen mir ihr Beileid aus, holen mir den Arzt, halten Nachtwache an meinem Bett und können doch meine Krankheit und dag Heil mittel, das mir einzig und allein helfen könnte, nicht ers taten. Diefes Heilmittel...” |

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Raiſkti ſchwieg. Koslow kam mit großen Schritten auf ihn zu und faßte ihn bei den Schultern, und waͤhrend er ihn kraͤftig ſchuͤttelte, fluͤſterte er verzweifelt:

„Sie iſt nicht da das iſt meine Krankheit! Ich bin nicht krank ich bin geſtorben: mein Ich, mein Daſein, meine Gegenwart, meine Zukunft, alles iſt geſtorben, weil ſie nicht da iſt! Geh, bring ſie zuruͤck, fuͤhre ſie hierher und ih werde wieder zum Leben erwachen!... Und er kann fragen, ob ich fie wieder aufnehmen würde! Du willſt Romane fehreiben und bift nicht imſtande, eine fo einfache Sache zu begreifen!. . .”

Raiſki fah, daß Koslow jegt endlich auch das Leben rings um ihn mit dem bewußten, Haren Blick erfaßte, mit bem er bisher nur das Leben der Alten betrachtet hatte, und daß es vergeblich war, ihn tröften gu wollen.

„jet begreife ich dich,” fagte er „aber ich wußte nicht, daß du fie fo fehr liebſt. Du machteft doch früher zuweilen felbft Deine Scherze: du fagteft, du haͤtteſt Dich an fie gewoͤhnt, du vergäßeft fie über deinen Griechen und Römern...“ Ein bitteres Lächeln fpielte um Koslows Lippen.

„Ich habe gelogen und geprahlt, habe ohne Verfiändnis geſchwatzt, Boris,” fagte er. „Und wenn das jest nicht ger fhehen wäre, wäre mir auch nie das rechte Verftändnig aufgegangen. Ich meinte nur die Menfchen und dag Leben bes Altertums gu lieben, und ich liebte einfach . . . die lebens dige Frau! Ich liebte die Bücher, das Gymnaflum, und bie alten und neuen Menfchen, und meine Schüler... . und dich felbft... und diefe Stadt, mit der Gaffe hier, dem Zaun und den Eberefchen vor meinem Haufe einzig nur darum, weil ich ... fie liebte! Jetzt ift mir dag alles fo zu⸗ wider, und ich wäre imftande, bis an den Pol zu fliehen . .. ja, 24*

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das iſt mir num Har: und ich wurde mir deſſen betvußt, ald ich mich hier am Boden kruͤmmte und Ihren Brief las.” Leontij fließ einen Seufjer aus.

„And du kannſt fragen, ob ich fie wieder aufnehmen will! Mein Gott! Und wie wuͤrde ich fie aufnehmen wie würde ich fie lieben jest follte fie es erfahren, ja!“ fügte ee hinzu.

Wieder traten ihm bie Tränen in bie Mugen.

„Weißt du was, Leontij Ich komme gu dir mit einer Bitte von Tatjana Markowna,“ fagte Raiſki.

Leontij ging fchwantend Im Zimmer auf und ab, das Haar gergauft, mit den Pantoffeln fchlurrend, und hörte nicht, was Raiſki zu ihm fagte.

„Die Großtante laͤßt dich bitten, Doch gu ung übergufiedeln,” fuhr Raiſki fort. „Du wieft hier allein vor Sram vers gehen. u

Koslow begriff diesmal den Vorſchlag Naiffis, winkte jedoch mit der Hand ab. 5 „Ach bin der Großtante herzlich dankbar, fie If eine heilige Frau. Aber warum foll ich Jammerkerl meinen Kummer fremden Leuten ind Haus tragen!...“

„Anfer Haus ift die doch nicht fremd, Leontij wie beide find doch fo gut wie Brüder!... Die Bande, bie uns vertnäpfen, find flärker als felbft die Bande des Blutes...“

„Sa, ja, entfchuldige nur mein Kummer läßt mid fo reden!” fagte Koslow, während er fih auf das Bett legte und Naiftis Hand ergriff. „Verzeih meinen Egoigmus. Später vielleicht... . ſpaͤter . . wenn feine Hoffnung mehr bleibt... werde Ich von felbft angefrochen kommen, werde dich bitten, mir beine Bibliothek gu zeigen . ...“

„Hoffſt du denn noch immer?...“

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„Wie denn?” fragte Koslow plöglih im Flüfterton, waͤh⸗ rend er fich jaͤh emporrichtete und fein Geficht demjenigen Raiſkis näherte „meinft du, es fei Feine Hoffnung mehr da?...”

Raiſki ſchwieg er wollte ihm biegen Strohhalm nicht weg⸗ nehmen, ihn aber auch nicht unnuͤtzerweiſe bamit anloden. „Ich weiß nicht, was ich fagen foll, Leontif,” antwortete er, Ich habe deine Frau ſo wenig beobachtet, fie fo lange nicht gefehen ... Ich kenne ihren Charakter wirklich nicht ges nauer.“ |

„sa, du wollteft dich leider nicht näher mit ihr abgeben... ich weiß, du haͤtteſt ihr eine gehörige Lektion erteilt... . Viel⸗ leicht wäre e8 dann gar nicht paffiert ...“

Er feufste tief auf. Ä

„Aber du kennſt fie Doch,” fügte er hinzu „du haft das mals auf ben Franzoſen angefpielt, ich habe dich nur nicht verftanden ... Ich hätte e8 mir ja nicht träumen laſſen . . .” Er ſchwieg. „Und wenn er fie jeßt figen läßt?” fagte er dann plöglich nach kurzem Schweigen, und in feinen Augen leuchtete e8 auf wie ein Strahl der Freude. „Vielleicht ers ‚innert fie fih dann... vielleicht... .“

„Vielleicht ...“ fagte Naiffi unbeſtimmt.

„Salt... was iſt das?... Ein Wagen rollt heran...” fagte Leotij haftig, richtete fich auf und blickte durchs Fenfter. Dann fanf er wieder zuruͤck und neigte hoffnungslos den Kopf auf die Bruſt.

Ein Bauernwagen fuhr am Fenfter vorüber der Fuhr⸗ mann fland in feinem Tſchuwaſchenhemd mit rotem Befag aufrecht darin und trieb fein Pferd mit der Peitfche am. „Ich warte immer und denfe, ob fie ſich nicht doch noch beſinnt,“ fprach er gruͤbelnd vor fih Hin. „Des Nachts wollte ich aufſtehen und hinausſchauen, aber Mark, diefer

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Räuber, hielt mich wie mit eifernen Krallen feft, warf mich aufs Bett und befahl mir, liegen gu bleiben. ‚Sie kommt nicht wieder,‘ fagte er, ‚bleib ruhig liegen !' Ich fürchte mich vor diefem Mark ...“ Er blidte fragend auf Raiſki. „Was meinft du —“ fuhr er dann fläfternd fort „bu fennft die Weiber beſſer wie wird fie ſich entfcheiben ? Iſt Hoffnung da... oder...“

„Vielleicht aber nicht jetzt,“ fagte Raiſki. „Vielleicht fpäter einmal. Koslow feufzte tief auf, ſtreckte ſich langſam auf dem Bett aus und legte die Hände unter feinen Kopf. „Morgen hole ich dich zu ung ab,” fagte Raifi zu ihm „und nun leb’ mir wohl! Zur Nacht komme ich entweber felbft her, oder ich ſchicke jemanden, der bei die bleibt.” Leontij fah nichts und Härte nicht, was Raiſki fagte, er bemerfte auch nicht, wie diefer hinausging. Raiſki kehrte nach Haufe zurüd, erfiattete der Großtante Bericht über Leontij und fagte, eg fei feine Gefahr vorhanden, doch fei er jet für Feine Tröftung zugänglich. Sie befchloffen, für die Nacht Jakow binzufchiden, und er follte gleich ein vollftandiges Abendbrot Tee, Rum und Wein und was fonft dazu gehört mitnehmen. „Wozu dag? Er ißt doch nichts, Tantchen,” fagte Raiſti. „Und wenn... jener da zu ihm kommt?“ „Wer denn? qu „Ra, wer denn fonft ald... Markuſchka! Der wird ſchon Hunger haben! Du ſagteſt doch, du haͤtteſt ihn dort ge⸗ teoffen ...“

„Ach, Tantchen ich fahre gleich hin und erzaͤhle es Mark...” „Gott bewahre!” rief fie, ihn zuruͤckhaltend. „Willſt du mich. zum Geſpoͤtt machen? ...“

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„Im Gegenteil e8 wird feinen Reſpekt vor Ihnen nur erhöhen. Er ift doch fein Nil Andreitfch, er verſteht Sie ...“ „Ich brauche feinen Reſpekt nicht ſatteſſen aber foll er . fih in Gottes Namen! An dem find Hopfen und Malz verloren. Hat er nichts von ben achtzig Rubeln geſagt?“ Raiſki winkte mit der Hand ab und begab fich in fein Zimmer, um bie Journale, Zeitungen und Briefe durchs sufehen, die er von Petersburg befommen hatte, und vor allem den Brief Ajanows gu Ende zu lefen.

*

2 Se

C

Siebentes Kapitel

o ſteckſt Du eigentlich, lieber Boris Pawlowitſch ?”

fchrieb Manow... „In welchen Winkel des heiligen Reußenlandes haft du Dich vor unferem zwar feuchten, doch dabei ewig jungen Petersburg geflüchtet? Seit zwei Monaten habe ich nicht eine Zeile von dir befommen. Haft Du Dich vielleicht gar da unten mit irgendeinem Sterlet ver; heiratet? Anfangs haft Du mich mit Deinen Sendfchreiben förmlich überfchättet, und plöglich fehwiegft Du Dich dann total aus, fo daß ich nicht einmal weiß, ob Du nicht gar aus Deinem fillen Malinowka nach irgendeinem noch flilleren Smorodingwfa*) übergefiedelt bift, und ob diefer Brief überhaupt in Deine Hände gelangen wird. „Ich habe Dir viel Neues zu erzählen, Hör alfo zu... Zunaͤchſt kannſt Du mir Gluͤck wünfchen: meine Hämorrhois den haben fih geöffnet! Wir waren beide ich ſowohl wie mein Arzt fo glüdlich darüber, daß wir ung gerührt in die Arme flürzten und beinahe geweint hätten. Weißt du die Tragweite dieſes Ereigniffes auch gehörig zu würdigen ? Ich brauche nicht ind Bad zu fahren! Die Kreuzſchmerzen

% a Himbeerdorf; Smorodinowka Johannisbeer⸗ orf.

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haben fich gelegt, und anf den Leib mach’ ich Ealte Um⸗ fchläge; Du weißt doch, ich leide an Plethora abdomi- nalis ...“

„Mit folchen törichten Neuigkeiten glaubt er mich nun zu amuͤſieren,“ Dachte Raiffi und las dann weiter.

„Meine Dlinfa wird alle Tage hübfcher, Brauer und artiger, fie macht in den Wilfenfchaften gute Fortfchritte, ift den Inſtitutsdamen gegenüber folgfam und ihrem Papa gegen, über ſehr nett und liebenswäürdig. eben Donnerstag fragt fie mich, wann denn ihr lieber Freund Raiſki wiederfommen wird, der ihre Zeichnungen verbeffert, Ihe immer heimlich Konfeft mitgebracht und fie auch fonft auf jede Weife vers gogen hat...”

„Iſt das ein Kamel! Nur von fich felbft weiß er gu erzaͤhlen * fluͤſterte Raiſki vor ſich hin, uͤberſchlug ein paar Zeilen und las weiter.

„Koko hat endlich ſeine Eudoxia geheiratet, um die er faſt ſieben Jahre lang gefreit hat, wie Jakob um Rahel. Er iſt jetzt auf ſein Landgut in der Gegend von Tmutrakan ab⸗ gereiſt. Gorgunow iſt mit ſeiner alten Hexe im Ausland, es iſt gleich viel luſtiger im Hauſe. Alle Fenſter wurden ſofort aufgeriſſen, daß die friſche Luft Zutritt erhielt; und auch die Menſchen haben jetzt Zutritt, nur um die Magen⸗ frage iſt es noch ſchlecht beſtellt ...“

„Was geht mich das alles an?“ brummte Raiſki unge⸗ duldig und uͤberflog raſch die weiteren Seiten des Briefes. „Von der Kuſine ſchreibt er nicht ein Wort, und das iſt doch das einzige, was mich intereſſiert!“

„Statt ſeiner,“ fuhr Raiſki halblaut in der Lektuͤre des Briefes fort „ſoll Fuͤrſt J. W. Miniſter werden, waͤhrend J. B. zu feinem Gehilfen ernannt werden foll... Die Weiber werden Zetermordio ſchreien ... P. B. hat fiebzigs

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taufend Rubel im Spiel verloren... Bamilie Ch. ift ins Ausland abgereift ... Doch ich fehe ſchon, Du runzelſt die Stirn, denn das alles langweilt Did, Du möchteft nur von Sofla Nitolajewna etwas hören,” Tas Naiffi und wurde plöglich Tebhaft. „Sofort, fofort Ih habe meine Nach⸗ richten über fie als beſonders ſchmackhaften Biffen fürg Ende aufgefpart ...“

„Sudlih kommt er auf das Thema gu fprehen!” fagte Raiſki. „Nun, was iſt alfo mit Ihr los?”

„Ih war bemüht, auch in Deiner Abweſenheit Deiner Sache treu und ehrlich zu dienen, das heißt, ich habe zwei⸗ mal wöchentlich mit den Tiebenswürbigen alten Damen Karten gefpielt, fo daß ihr Bruder Nikolaj Waſſiljewitſch fih ſchon den Spaß machte, mich zum Bräutigam feiner Schwefter Anna Waſſiljewna zu proflamieren, und das Thema unferer Hochzeit fo ausgiebig und launig behandelte, daß die beiden Schweftern ihn mit fräftigen Püffen aus dem Zimmer jagen mußten, ohne daß er die Gubfidiens gelder erhielt, deretwegen er gefommen war. Dafür fegte er mich dann mit dreihundert Rubeln an, die ih Dir in Rechnung ftellen werde, da ich leider feine Ausficht habe, fie meiner anverlobten Braut jemals wieber abzunehmen, Bernimm nun, erbleiche und zittere! » „Ich fagte bereits, daß ich, Indem ich mit den Tanten weiterfpielte, lediglich Deiner Sache zu dienen beftrebt war. Ach verftehe darunter die Erwedung ber Leidenſchaft in dem Marmorherzen Deiner Kuſine, die jest, in Deiner Abweſenheit, in einem weit fehnelleren Tempo vor fi ging als vorher, Graf Milari nämlich, der Staltener, bes treibt denfelben loͤblichen Sport wie Du ich meine bie Anfachung der Leidenfchaft in den Weibern und es ſcheint mir faft, daß er damit größere Erfolge hat ald Du.

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Auch er hatte fih baran gewoͤhnt, an benfelben Tagen und zu derfelben Zeit, da wir unfere Partie hatten, feine Bes fuche im Haufe zu machen, und Nikolaj Wafftljewirfch war außer fih vor Freude, als er fein Familiengluͤck fo Tieblich erblühen fah.

„Die jungen Leutchen befreiten den Herrn Papa alsbald von der Verpflichtung, Immer den dritten Mann gu machen; fie befaßten ſich eifrigft mit Muſik, fie fpielten und fangen und waren gar nicht böfe, wenn er nicht dabei war. Auch die Spagierfahrten brauchte er nicht mitzumachen, und id) fann e8 Die unter dem Siegel der Verfehtwiegenheit ans vertrauen wie überhaupt ganz Petersburg von der Sade nur unter dem Siegel der Verfchwiegenheit ſpricht daß, wenn die Equipage Deiner Kufine auf den Inſel⸗ promenaden erfchien, unbedingt auch Milari dafelbft Hoch su Roß oder im Wagen auftauchte und fih ganz dicht neben ihrer Equipage hielt. Sofia Nikolajewna war zuerſt noch Hübfcher geworden, als fie ohnedies ſchon gewefen, dann aber wurde fie auf einmal fo nachdenklich, ging aus ihrer. olympifchen Ruhe ein wenig heraus und magerte fogar ab. Denk Dir nämlih aber nimm Dein Fläfchchen sur Hand! fie hat einen Faux⸗pas begangen! Ich ſuchte natärlih zu erfahren, worin ihre Schuld beftänbe, erhielt aber überall, felbft von ihrer Kufine Catherine, nur ganz nichtsfagende Antworten, aus denen ich mir gar fein Bild zurecht machen konnte: lauter Zweien und Sechfen, feinen König, keine Dame, kein Ag, nicht einmal eine Zehn . - lauter plundrige Karten!

„sh begann ſchon, mir ihren Roman felbft zuſammen⸗ gudichten: Ich dachte mir, man habe fie irgendwo auf einem einfamen Spazierwege getroffen, oder einen Brief aufs gefangen, in dem es hieß: ‚Sch liebe Dich‘ ober es fei

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vielleicht zwiſchen Roffini und Bellini gu einem verbotenen Kuffe gelommen. Doch nein, fie fplelten und fangen uns unterbrochen und ftörten uns bei unferer Partie, bie, nebenbei gefagt, auch font mancherlei Störungen auss gefett war. Überhaupt bin ich fein Freund des Sommers, weil e8 In diefer Jahreszeit meiftentells fchlechte Karten gibt. Jedenfalls betrieben bie jungen Leuten bie muftlalifhen Abungen fo eifrig, daß Nadjeſchda Waſſiljewna fich fogar die Ohren zuftopfen mußte... In der Stadt aber lief das Gerücht weiter und weiter um fih. Die Mefenstijs, die Chatkows, die Myſchinskijs und all die andern, ganı befonders aber Kuſine Eatherine, fläfterten leife, mit vers haltener $reude: ‚Sophie a pousse la chose trop loin, sarıs se rendre compte des suites...‘ und fo weiter. Ich feagte, bald laut, bald leife, was für eine ‚chose‘ das denn eigentlich wäre, forfchte diefen und jenen aus, und als mir niemand eine befiimmte Antwort gab, begann au ich, fobald die Rede auf fie kam, zu fläflern und gu raunen: ‚Oui, elle a pousse la chose trop loin, sans se rendre compte... elle a fait un faux-pas...‘ Und ich zuckte, fobald man mic fragte, was für ein ‚pas! das eigentlich fet, bedeutfam die Achſeln.

„Ss zog allmählich ein Woͤlkchen am Horizont empor und ſchwebte alsbald über dem Haupfe Deiner Kuſine. Ich aber diente, meiner Freundespflicht eingebent, nach wie vor Dei⸗ ner Sache und fuhr zur Partie gu den Tanten. Ich machte wich mit Milari näher befannt und verabredete mit ihm, ges nau fo wie vorher mit Dir, daß wir beide, um ungenierter gu fein, immer zur felben Stunde kommen wollten .. .“ „Diefer Eſel!“ dachte Raiffi ärgerlich und warf den Brief auf den Tiſch. „Wie konnte er nur annehmen, daß er mir damit einen Dienft leiſtete ...“

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„Kür alle meine Dienfle und meine Sreundfchaft,” Tag Raiſki dann weiter, „mußt Du mir zum Winter ein Faͤß⸗ den vom beſten Kaviar und einen wenigſtens vier Ellen langen Sterlet ſchicken, falld Du es nicht vorziehſt, beides ſelbſt mitzubringen die Hälfte davon möchte ich meinem fehe verehrten MWohltäter und Spielpartner, dem Heren Minifter, verehrten...”

Meiter unten lag Raiſki:

„Wie waren alfo mit Kind und Kegel nach der Sommers reſidenz auf Kamenny Oſtrow übergefiebelt, dag heißt, fie mieteten die ganze Villa W., während ich zwei Zimmer in der Nähe bezog. Nikolaj Waſſiljewitſch befam einen bes fonderen Pavillon angemwielen ... | | „Alles sing feinen gewohnten Gang, big eines Tages vor Beginn unferer Abendpartie Sofia Nikolajewna war gerabe mit ihrem Water irgenbwohin gefahren, waͤh⸗ rend bie beiden Sräulein fich eben zu einem Spaziergange anfhidten die Ankunft der Fürfiin Diympiada Ismai⸗ lowna gemeldet wurde. Die Tanten waren drgerlich barüber, daß unfere Partie fih num verzögern würde, und ſchickten mich für ein Stuͤndchen fort, um erft einmal bie Fuͤrſtin ju empfangen.

„Das Ungläd brach herein: Feind von ung, weder eine Deiner Tanten noch ich, ahnte damals, daß wir nie wieder sufammen Karten fplelen würden. Die Fürflin begegnete mir auf der Treppe, und ihr Geficht hatte einen fo feierlichen, triumphierenden Ausbeud, baß ich nicht einmal wagte, mich nach ihren Nerven zu erkuns digen.

„Eine Stunde fpäter fand ich mich, wie verabrebet, wieder ein, wurde jeboch nicht empfangen. Ich kam am nächflen Tage wieder auch da empfing man mich nicht. Am

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beitten, am vierten Tage geſchah ganı basfelbe. Beide Santen, hieß es, feien krank, könnten nicht ausfahren und empfingen niemanden das war ber Befchied, ber mir ges geben wurde.

„3 ging nach dem Pavillon, um vielleicht Nikola Waſſil⸗ jewitſch zu treffen auch er war nicht gu Haufe. Nirgends fieß er fich fehen, weder auf der ‚Pointe‘, noch bei ler, wohin er, wie er fi ausdrüdte, ‚incognito‘ gu gehen pflegte. Ich fuchte ihn in der Stadt, im Klub, bei Peter Iwanowitſch. Der blinzelte mir ſchon von weitem Aber feine Zeitung hinweg fpöttifh zu und fagte laͤchelnd: ‚Jh weiß, ich weiß die Tür ift verfchlofien, der Brotkorb ifl höher gehängt...’

„Bon ihm erfuhr ich nun, was geſchehen war. Zunaͤchſt beftätigte auch er mir, daß Deine Kuflne ‚a pousse la chose trop loin‘... daß fie a fait un faux-pas... Und dann fehilderte er mir lebhaft die Folgen, die der Beſuch der Fuͤrſtin Dlympiada Ismailowna, diefer geflrengen Verfolgerin weiblicher Lafer und Berteidigerin weib⸗ licher Tugend, gegeitigt hatte: die Tanten hatten fich beide zugleich ins Bett gelegt, und die Vorhänge waren an allen Fenſtern ganz dicht verfchloflen worden, und Sofla Nikolajewna hatte fich in ihrem Zimmer eingefchloffen und fieß füch nicht mehr fehen. Alle fpeifen auf ihren Zimmern, oder fie fpeifen vielmehr nicht, fondern man trägt ihnen nur die Mahlzeiten aufs Zimmer und holt fie unberührt wieder heraus. Der einzige, der noch etwas zu fich nimmt, fei Nikolaj Waſſiljewitſch, doch auch ihm fei es firengfteng verboten, das Haug zu verlaffen, damit er nicht ausplaudere, daß Graf Milari nicht mehr ind Haus kommt, fondern daß jeßt der alte Doktor Petrow kommt, der die beiden Sräulein in ihren jungen Jahren behandelt hatte umd,

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nebenbei gefagt, nach den Überlieferungen einer alten, vergeffenen Chronik, beider Liebhaber geweſen fei. Set hatte er das Praktizieren Tängft aufgegeben und kam nur eben ‚fo‘, wenn man feiner bendtigte. Endlih wußte Peter Iwanowitſch auch noch zu erzählen, daß die ganze Samilie bis auf Nikolaj Waſſiljewitſch fich insgeheim für eine Auslandereife, zunaͤchſt nach irgendeinem ganz aus⸗ gefallenen Babeort, vorbereite, daß aber die Reiſe auf volle drei Jahre berechnet fet.

„Schließlich bekam ich aber Nikolaj Waſſiljewitſch doch noch zu ſehen: ich ſchrieb ihm ein paar Zeilen und erhielt von ihm eine Einladung zu einem gemeinſamen Abendeſſen unter vier Augen. Vor allem bat er mich um ſtrengſte Diskretion betreffs des gemeinſamen Soupers. Im Hauſe werde jetzt ſtreng gefaſtet: ‚on est en penitence‘, es gebe nur Bouillon und junge Hühnchen ‚et ma pauvre Sophie n’ose pas descendre me tenir compagnie‘ Haste er bitterlich und faute an feinen Lippen, ‚et nous sommes enfermes tous les deux...‘ ‚Sch habe für Sie befonderg ein Mittageffen beftellt, aber Sie dürfen mich nicht verraten !' fügte er, die aufgetifchten Wachteln gierig berunterfchlingend, hinzu und war nahe daran, um feine arme Sophie Tränen zu vergießen. | „Endlich erfuhr ich, daß zu dem früheren Woͤlkchen, diefem unbefannten X, das ich fuchte, und das darauf hinaus; fief ‚que Sophie a pouss& la chose trop loin‘, doch. noch eine Tatfache hinzugetreten fei, und daß fie o Schreden ! ‚a fait un faux-pas’, indem fie auf einen Brief Milarig antwortete! Pachotin zeigte mir diefen Brief und fchlug gornig mit der Fauſt auf den Tiſch. ‚Mais dites donc, dites qu’est ce qu’il y a la? A propos de quoi? Alle dDiefe Ach⸗ und Ohrufe, diefe Riechflaͤſchchen, dieſe Abs

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reife, diefe fchmale Koſt?! Da flieht man doch gleih, Daß man es mit alten Jungfern gu tun hat!“

„Er flampfte mit den Füßen auf, lief im Zimmer umber und fuchte feine Wut zu befänftigen, indem er in Cham⸗ pagner getauchte Biskuits zu fih nahm und irgendwelche Berdauungspillen darauf folgen ließ. ‚Und bag Traurigfte ift‘, fagte er, ‚Daß meine arme Sophie fih nun felbfl Vors wöürfe macht: ja, ich habe gefehlt, fagt fie, ih babe mich fompromittiert; eine Frau, die fich felbft achtet, darf fich nicht vergeflen, barf niemals pousser la chose trop loin! Aber was haft du benn groß verbrochen, mein Kind? frage ich fie. J'ai fait un faux-pas, antwortet fie mie ich babe die Tanten fompromittiert, und auch Ste, Papal... Über nicht im geringften, mein Kind, verſichre ich dir, doch alles ift umfonft, fie weint und weint in einem fort, bie arme Kleine! Ce billet... da, lefen Sie eg!‘

„Das Briefehen lautete wie folgt: ‚Kommen Sie, Graf, ih erwarte Sie zwiſchen acht und neun, niemand wird dba fein, und vergeffen Sie vor allem Ihre Noten nicht. Ich bin ufw. S. Nikola Waſſiljewitſch iſt nun vor allem in feinem väterlichen Gefühl verlegt. ‚Die Wolfe wuchs, dank biefem Billet, weil, unter ung geſagt... er flüfterte mir das Folgende ganz leife ins Ohr ‚Sophie gegenüber den Aufmerkſamkeiten des Grafen nicht ganz gleihgültig ſchien, aber der Graf ift doch ein Ehrenmann, und fie ift viel gu gut ergogen, pour pousser les choses ... bis zu einem faux-pas...“

„Das tft alles, was ich Die gu berichten hätte, lieber Boris Pawlytſch. Es tut mir leid, daß es nicht mehr iſt, und daß ich Dir nichts Luſtigeres mitteilen fann zum Belfpiel, daß Deine Kufine eines fehönen Tages ihre dunkle Mantille um die Schultern hing und heimlich das Haus verließ,

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Daß an der Straßenede eine Mietkutſche auf fie wartete und mit ihe im Galopp davonfuhr, daß man fie dann mit Milari zuſammen zuruͤckkehren ſah fie ganz bleich, und er triumphierend, daß fie irgendwo an einer Straßenkreuzung ſich verabſchiedeten ufw. Nichts derartiges ift leider gu berichten.

„Ser aber Hammert man fih an jeden Strohhalm feft, fucht jedes feinfte Fuͤnkchen zur Flamme anzublafen, macht aus dem unfchuldigen Heinen Billet einen Elefanten, luͤgt allerhand Säge hinein, die nicht darin fliehen, munkelt fogar von einem ‚Du‘, das darin geftanden babe, aber alles das ergibt doch noch immer nichts Ganges, und es Bleibt fchließlich bei der urfprünglichen Lesart, ‚que Sophie a pousse la chose trop loin, qu’elle a fait un faux-pas .. .‘ Ich fördere die Sache, fo gut Ich kann, ſchweige und Tächle pfiffig, Hage nicht an, verrate aber auch nicht, was in dem Briefchen geftanden. Alle find hinter mir her, fett fie wiffen, daß ich in die Sache ein Hein wenig eingeweiht bin. K. R. und Frau Gemahlin Haben mich bereits zweimal sum Diner eingeladen, und M. laͤßt im Klub eine Bouteille nach der andern anfahren, in der Hoffnung, Ich würde fchließlich doch noch aus der Schule plaudern. Das alles macht mir Spaß, aber ich halte reinen Mund.

In vierzehn Tagen reifen fie ab. Das ift das Ende des Romans Deiner fchönen Kuſine. Doch halt die Haupts fache hätte ich bald vergeſſen. Nikolaj Waffiljewitfch wurde von feinen lieben Schweftern mit dem delikaten Auftrage beehrt, ben Grafen Milari aufjufuchen und die Heraus⸗ gabe des verhängnisvollen Billets von ihm gu erbitten. Er führte fein Podagra, feine Nerven, feinen Ti, feinen Rheumatismus Ind Treffen doch es half alles nichts, ee mußte heran. Der Graf hörte die Bitte des Vaters

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mit feinem, ſarkaſtiſchem Lächeln an und fagte, ex wuͤrde feinen Wunfch erfüllen. In der Tat ſchickte er am Tage darauf das Billet an die Bjelowodowa felbft mit einem ebhrerbietigen Schreiben zuräd, Nikolaj Waſſiljewitſch hat mie feinen Beſuch bei dem Grafen gefchtldert: ‚Wie er gelacht hat, diefer Graf, fo diabolifch fein, als ich ihm das törichte Anfinnen meiner lieben Schweſtern vortrug! Diefe alten Biefter! rief er wütend und zerſchlug in feinem Arger eine Porzellanfigur, die auf dem Kamin fland. „Da hätte Du, lieber Boris Pawlowitſch, ein Heines Drama, das Du vielleicht in Deinen Roman einfügen kannſt. Wie fteht ed denn damit? Schreibft Du ihn wirk lich? Wenn es der Fall if, dann laſſe ich Hier noch den Schlüffel su dem Drama, zu beliebiger Benugung für Die, folgen. Ich glaube, Deine Kuflne hat fich in der Tat auf ihre Weife, ohne den Salon zu verlaffen, verliebt Graf Milari aber wuͤnſchte die Sache auf die Straße hinaus gutragen, und es follen, wie der Here Papa nachtraͤglich ausplauderte, zwifchen ihnen ziemlich lebhafte Dispute fiattgefunden haben, wobei der Graf ihre Hand ergriff und fie ihm diefe Hand nicht entzog, und wobei fogar Traͤ⸗ nen ihre Augen verdunfelt haben follen. Mit den Spajier⸗ titten und den Befuchen im Haufe der Tanten nicht zu⸗ feieben, foll er mehr Freiheit im Verkehr mir ihr verlangt haben, fie zu einfamen Spasiergängen Im Park aufgefordert, fie, wenn bie Tanten fehliefen oder in der Kirche waren, befucht und, wenn fie ihn abwies, fih wochenlang nicht 9% zeigt haben. Sie regte ſich nun über alles dag auf und nah die Dinge fehr ſerids der Graf dagegen ſoll durchaus keine ernſthaften Abſichten gehabt haben, und ſi chließlich ſoll ſich, zum groͤßten Entſetzen der Beteiligten, heraus⸗ geſtellt Haben, daß er einer von den neugehadenen Grafen

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fei, daß er bei dem alten Regime übel angefchrieben und. aus feinem Vaterlande nach Paris, wo er fich fonft ſtaͤndig aufhalte, emigriert ſei, vor allem aber, daß er dort, unter dem blauen Himmel Stalieng, in Florenz oder Mailand, ſchon eine richtige, ihm anverlobte Braut befige... Alles dies hatte die Fürftin Olympiada Ismailowna vom Fürften P. B. ale ganz fiher in Erfahrung gebracht... Und Deine Sophie hat jetzt an einem zweifachen Schmerz zu tragen: erſtens ift ihr Stolz der Stolz auf ihre Schönheit und ihre Abſtammung aufs. tieffte verlegt worden, und zweitens leidet fie darunter, daß fie einen ‚faux-pas‘ bes sangen bat... und vielleicht bereitet auch jenes Gefühl, dag Du in ihre mit fo viel Eifer anzufachen fuchteft, und das Ih dann aus Freundſchaft für Dich weiter angeblafen babe, ihr ein Hein wenig Schmerzen ... „Was nun weiter mit ihr wird, weiß ich nicht aber Du wirft dee Sache fihon fo oder fo in Deinem Romane einen Schluß anhängen. Du haft ja Zeit genug dazu, während ich e8 fehr eilig Habe: ich bin nämlich von W. J. zum Abends effen eingeladen. Dort erwartet mich eine folide Dauers partie mit fehr ernſten Mitfpielern.

„Leb’ wohl es iſt der erſte und letzte Brief, den ich Die fhreibe, und den Du, wenn Du willft, als ein beſonderes Kapitel Deinem zukünftigen Romane einverleiben kannſt. Wenn feine übrigen Kapitel ebenfo gut werben, kann Ih Die nur gratulieren. Gruͤße Deine Großtante und Deine Kuſinen unbelannterweife und fag’ ihnen, daß in ber und der Stadt ein Freund von Die wohnt, der Die wie ihnen. ſtets zu dienen bereit iſt. Dein J. Ajanow.“

ar er

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BITTE.

Achtes Kapitel

aiſli fiedte den Brief in ein Schubfach des Schreibs

tifches, nahm feine Muͤtze und ging In den Garten. Er mußte fich im ftillen eingeftehen, baß er nur hingehe, um Die Wege und Stege zu ſchauen, auf benen geftern Wiera gewandelt war, bevor fie gleich einer Schlange, in Ihrer Schönheit fehillernd, den Abhang hinab in bie Schlucht glitt. Noch immer war fie zugleich fein Ideal und fein Plagegeiſt, noch immer ſchaute er. niefällig flehend zu ihr empor und bewarf fie zugleich, Flüche murmelnd, mit Steinen. Er machte einen Rundgang buch den ganzen Garten, blickte nach ihren verhängten Fenſtern hinauf, ging dann nach der Schlucht und fah finnend in bie Tiefe, wo bie Bäume und Sträucher leife rauſchten. | Die Alleen erfchienen wie dunkle Säulengänge; über ben offenen Stellen jedoch, dem welken Blumengarten, dem Gemöfegarten, dem geräumigen Plab vor dem Haufe las ber Schein bes eben am Horizont emporfleigenden Mondes. Die Sterne fehimmerten hell, e8 war ein Harer, friſcher Abend. Raiſki ſah vom Rande der Schlucht nach der Wolga hin: ſie ſchimmerte wie Stahl aus der Ferne heruͤber. Rings

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um n ihn fielen mit leiſem Raſcheln die welten Blätter von den Baͤumen.

„Dort drüben weilt fie nun,” dachte er, während fein Blick über den Strom ſchweifte „und nicht ein Wort hat fie für mich zuruͤckgelaſſen! Ein herzliches Lebewohl, mit ihrer tiefen Fluͤſterſtimme gefprochen, würde mich mit all der Bos⸗ beit ausgeföhnt haben, die fie fo reichlich über mein Hanpt ausgefchüttet hat. Nun ift fie fort ohne eine Spur, eine Erinnerung zu binterlaffen I” fagte er fich bitter, während er mit gefenktem Kopfe durch bie dunkle Allee ſchritt. Plöglih fühlte er, wie fih auf feine Schulter, gleich der Klaue eines Raubvogels, eine feinfingerige Heine Hand legte, während zugleich ein verhaltenes Lachen an fein Ohr

g. ee „Wiera!“ rief er, in freubigem Schreck erbebend, und faßte nach ihrer Hand. Das Haar firäubte fih ihm auf dem Kopfe. „Du hier? Du bift nicht über die Wolga gefahren? .. .“

„Nein ich Bin hier, Bin nicht Aber die Wolga gefahren . . .“ wiederholte fie, während fie fortfuhr zu lachen und ihren Arm in den feinigen legte. „Dachten Sie wirklich, ich würde Sie ohne Abſchied ziehen laſſen? Ja, dachten Sie das? Ges fieben Siel...”.

„Du biſt eine Zauberin, Wiera. Eben, in diefem Augen⸗ blid, machte ich die Im ftillen Vorwürfe, daß du mir nicht eine Zeile zum Abſchied gurädgelaffen haft,” fagte er gang verwirrt, teils vor Furcht, teils vor unerwarteter Freude, bie fo plöglih über ihn gelommen. „Wie kommſt du auf einmal hierher?... Im Haufe fogten mir dach alle, du feift gefteen mweggefahren ...“

= lachte ſpoͤttiſch und fuchte ihm dabei Ins Geſicht zu ehen.

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„Und Slie haben das geglaubt? Ih wollte Ihnen eine Aberraſchung Bereiten, man follte Ihnen fagen, daß ich fort fe... Geſtehen Sie nur, Sie haben es nicht geglaubt, haben nur fo getan?...“

„Bei Gott, ich habe es geglaubt!“

„Schwoͤren Sie doch nicht no!” fagte fie triumphierend und meibete fi an feiner Aufregung. Dann fieß fie wieder ihr aufteizendes Lachen vernehmen. „Nicht nur eine Zeile von mir finden Sie vor, fondern mich ſelbſt! Was können Sie fih Beſſeres wuͤnſchen fagen Sie!“ fügte fie, gleich fam mit ihm fpielend, hinzu.

Er ward von Zweifeln ergriffen. Diefe Lebhaftigkeit der Rede, biefe rafchen Bewegungen, biefe fpöttifche Koketterie alles das erſchien ihm an ihr nicht natürlich, Durch den lebhaften Ton und die kede Rede glaubte er eine Ermädung hindurchzuhoͤren e8 war, als bemähte fie fi, eine Ex; ſchoͤpfung ihrer Kräfte vor ihm zu verbergen. Er hätte ihr ind Gefiht fehen mögen, und als fie am Ende der Allee anlangten, führte er fie in den hellen Mondfchein.

„Laß mich Dich anfehen was ift Dir, Wiera? Da bift fo ausgelaffen, fo vergnuͤgt!...“ verfeßte er ſchuͤchtern. „Was gibt es da groß anzufehen I” fagte fie mit Ungeduld und fuchte Ihn wieder in das Dunkel zuruͤckzuziehen. Die Mantille war ihr von den Schultern geglitten, ſie warf fle Iäffig wieder um und ſchuͤttelte ſich dabei.

„Ich bin vergnuͤgt, weil Sie bier find und bier an meiner Seite gehen...” Sie ſchmiegte ſich mit ihrer Schulter an bie feinige, | „Was iſt Die, Wiera? Du biſt fo verändert!” fläfterte Raiſki argwoͤhniſch, ohne fih von ihrer ſtuͤrmiſchen Munterfeit verleiten gu Taffen. Und von neuem fuchte er fie zum Licht hinzuziehen.

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„Kommen Ste, fommen Sie was foll denn dieſe Bes ſichtigung? Ich liebe das nicht!...“ fagte fie lebhaft und vermochte kaum fill zu fliehen. |

Er fühlte, daß ihre Hände bebten, daß fie am ganzen Leibe zitterte und von einer Ihm unverfiändlichen Unruhe ers füllt war.

„Ss reden Ste doch endlich, erzählen Sie, wo Sie waren, was Sie gefehen haben, ob Ste an mich gedacht haben? Mas macht Ihre Leidenfchaft? Setzt fie Fhnen noch immer fo zu wie? Was ift Ihnen denn find Sie ſtumm ges worden? Wohin find die Wogen der Poeſie, wohin dag Paradies und die Hölle gefhwunden ? Her mit dem Paras dies, geben Sie es mir, dieſes Paradies ich begehrte bag Gluͤck, dag Leben!”

Sie fprach frei und ungezwungen, Hopfte ihm dabei auf die Schulter, konnte vor Ungebuld nicht ruhig fliehen und befchleunigte ihren Schritt.

„Warum kriechen Sie benn fo wie eine Schildfedte? Kom⸗ men Sie dahin, nach der Schlucht wir wollen sur Wolga binuntergehen, wollen ein Boot nehmen und eine Runds fahrt machen!...“ fuhr fie, ihn mit fich ziehend, jet lachend und dann plöglich in ein tiefes Gruͤbeln verfallend, fort. „Wera, mie iſt bange um dich, du biſt ... nicht gefund I” fagte er in beforgtem Tone.

„Wieſo denn?” fragte fie, plötlich ſtehen bleibend. „Woher kommt diefe Luftigfeit, dieſe Gefprächigkeit? Du bift fonft fo zuruͤckhaltend, fo reſerviert!“

„Ich freue mich fo, daß Sie ba find, Bruder! In einem fort habe ich zum Fenſter hinausgeſehen und gehorcht, ob nicht eine Eauipage kommt...” fagte fie, ließ nach⸗ denklich den Kopf finten und ging nun ruhiger neben Ihm ber, während fie ihre Hand, die fich von Zeit gu Zeit glei

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einer Bogelflaue zu fchließen fürchte, auf feine Schulter ges legt hatte.

Er war in einer fhmerzlichen, gebrädten Stimmung. Er hörte nicht mehr auf ihre Eofetten, aufreijenden Worte, denen er gu anderer Zeit vielleicht Glauben gefchentt Hätte. Seine eigene Leidenfchaft war in dieſem Augenblid in ihm verfiummt. Er hatte ein fehmerzliches Mitgefühl mit ihr, hörte auf ihre fieberhaftes Stammeln, beobachtete die ners voͤſe Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen und fuchte den Grund ihrer Aufregung gu erraten.

„Warum fehen Sie mich fo fonderbar an? Ich Bin nicht verrüdt!” fagte fie und wandte fih von Ihm ab.

Ein Schreden befiel ihn.

„Das ift die Sprache der Serfinnigen!” dachte er. „Sie verfichern allen Leuten, daß fie nicht verrädt find.”

Er Hatte felbft den Naufch der Leibenfchaft fennengelernt und kannte ihre Dualen, ihr unberechenbares Weſen. Nun ſah er Wiera von demfelben Leiden ergriffen und wurde von Angſt um fie gepadt

Er fah, wie ihr die Kraft ſchwand, wie fie ſchwaͤcher und fhwächer wurde. Ihre Ruhe war Hin: fie fammelte den legten Heinen Reſt ihrer Kraft, um ſich gu maskieren, um gleihfam in fich felbft hineinzuflüchten: doch auch da iſt es ihr ſchon zu eng, die Schale ‚ft zum Überlaufen voll, die Erregung ſucht einen Ausweg.

„Mein Gott, was wird mit ihr gefehehen!” dachte er voll Angſt. „Und dabei hat fie fein Vertrauen gu mir, will mir ihr Herz nicht ausſchuͤtten, will den Kampf ganz allein aufs nehmen wer wird fie beſchuͤtzen?...“

„Die Großtante!“ flüfterte ihm eine innere Stimme zu. „Wiera du biſt frank, du follteft mit Tantchen reden .. .“ fagte er ernfihaft.

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„Still, ſchweigen Sie, denten Ste an Ihr Wort!” fagte fie Halblaut fläfternd. „Leben Ste wohl für heutel Morgen machen wir gufammen einen Spasiergang, dann gehen wir in die Stadt, um Einkäufe zu beforgen, und dann geht es dorthin, über bie Wolga ... in alle Welt! Ich kann ohne Sie nicht leben!...“ fegte fie faft grob hinzu und preßte dabei feine Schulter in krampfhaftem Griffe zufammen. „Was iſt nur mit Ihr?” dachte er.

Diefe grobe, kokette Herausforderung, die fo unmittelbar an Ihn gerichtes war, rief ihm feinen eignen Seelenkampf und feine Abficht, für immer abzureifen, ind Gedaͤchtnis. „Ich reife ab, Wiera,” fagte er zu ihr „ih bin mit meinen Kräften zu Ende. Es ift mein Tod, wenn ich bleibe ... Leb’ wohl! Warum haft du mir noch diefe Taͤuſchung bereitet? Warum haft du mich bergerufen? Warum bift du hier? Um dich an meinen Dualen gu weiden?... Ich gehe fort, laß mich ziehen!“ |

„Reifen Sie ab!" fagte fie und trat einen Schritt von Ihm weg. „Jegorka hat den Koffer noch nicht wieder auf ben Boden getragen!...“

Er entfernte ſich raſch, im Innerſten empört durch dieſe beabfichtigte Quaͤlerei, dieſe Verhoͤhnung feiner ſelbſt und feiner Leidenſchaft. Dann ſchaute er zuräd, Zehn Schritte von ihm entfernt ſtand fie unbeweglich Im Mondfchein da, tie eine weiße Statue im Grünen, und beobachtete neus gierig, ob er gehen würde oder nicht.

„Was iſt das? Was geht in ihr vor?“ fragte er voll Ents ſetzen. „Was will fie von mie? Sie hat mie das Meffer in die Bruſt geftoßen und ficht num zu, wie das Blut tinnt, wie bag Opfer zuckt. Was für ein Weib!“

AM die grauſamen Frauengeſtalten der Gefchichte fielen Ihm ein, die Priefterinnen bintiger Kulte, die Frauen der

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Revolutlon, Die fich in Blut gebadet hatten, und all das Grauſame, das von Brauenhand begangen worden, big anf Judith und Lady Macbeth. Er ging weiter und wandte ſich wieder um. Ste Rand unbeweglih dba und fah ihm nach. Er blieb ſtehen. „Weihe Schönheit, welhe Harmonie in biefer ganzen Geſtalt! Und doch fie iſt furchtbar, iſt mein Verhängs nis!” dachte er, während er wie an ben Boden gebannt daftand und feinen Blick von der ſchlanken, unbeweglichen, vom Mondfchein Abergoffenen Geſtalt Wieras nicht los⸗ sureißen vermochte. Er fühlte diefe Schoͤnheit gleichſam In den Nerven, und fie ſchmerzte ihn. Wider Willen fog er fih mit ben Blicken an ihr feft. Sie bewegte fih und machte Ihm ein Zeichen mit dem Kopfe, er folle näher kommen. Seine Schwachheit vers wuͤnſchend, ging er langſam, Schritt für Schritt, gu Ihr hin. Ste fchläpfte, als er eben an fie herangekommen war, in die dunkle Allee, und er folgte ihr. „Was willft du von mir, Wiera? Warum läßt bu mich nicht in Ruhe? Mm einer Stunde fahre Ih abl...“ fagte er fchroff und kalt, während er hinter ihr herging. „Daß Sie es nicht wagen! Ich will es nicht!” ſagte fie und faßte mit Eräftigem Druck feine Hand. „Ste find mein Sklave, Ste muͤſſen mir dienen... Auch Sie Haben mi nicht in Ruhe gelaffen I” Ein Schauber der Leidenſchaft uͤberkam Ihn ploͤtzlich. Er fühlte, wie feine Knie fih unwillkuͤrlich zu beugen fuchten, und er hörte eine Stimme tin feinem Innern rufen: „Sa, ich Bin dein Sklave, du Brauchft nur zu befehlen!.. ." Und er hätte niederfinten und in leidenſchaftlichem Aus⸗ bruch zu ihren Füßen auffchluchsen mögen.

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„Ich bedarf Ihrer,“ fiäfterte fie. „Ste baten mich um Qualen und Schmerzen wohl, ich werde fie Ihnen geben! ‚Das iſt Leben!‘ fagten Sie wohlan, da haben Ste das Leben! Dulden Sie nur, und auch ich werde dulden, gemeinfam wollen wir dulden ... Die Leibenfchaft ift fo fchön: fie zieht ihre Spur durchs ganze Leben, und diefe Spur nennen die Menſchen Gluͤck!... Wer iſt eg, der das alles gepredigt hat? Und jetzt wollen Sie fliehen ? Nein! Bleiben Sie, wir wollen ung gemeinfam in biefen Abgrund flürgen! ‚Das iſt Leben nur das allein iſt Leben!" fagten Sie wohlan denn, fo wollen wir leben! Ste haben mich lieben gelehet, Sie waren mein Schr meifter in Sachen der Leldenſchaft, Sie haben mich unter⸗ richtet ...“

„Du gehſt zugrunde, Wiera!“ ſagte er, voll u zuruͤckweichend.

„Wohl möglich,” ſagte fie, gleichſam einen Rauſch von ſich abſchuͤttelnd und ſich beſinnend. „Doch was ſchadet das? Was geht Sie das an? Iſt's nicht ganz gleich? Sie woll⸗ ten das doch! ‚Nur in die lebendigen Organismen hat bie Nature die Leidenfchaft gelegt‘, haben Sie behanptet ‚die Leidenfchaft ift ſchoͤn !“... > haben Sie fie, fchwels gen Sie in ihrem Anblid!.. ."

Sie atmete mit Eräftigen Zügen bie friſche Abendluft ein.

„Aber ich habe dich doch auch vor der Leidenſchaft ge⸗ warnt, ich habe fie einen reißenden Wolf genannt...” fuchte er füch zu rechtfertigen, während er, von Grauen erfaßt, diefes Hilflofe, offene Bekenntnis vernahm. „Mein, fie iſt fchlimmer als ein Wolf fie iſt ein Tiger. Ich Hatte es nicht geglaubt, jet aber glaube Ich ed. Er⸗ Innern Sie ſich der Gravuͤre im Kabinett des alten Haufes:

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ein Tiger fletfcht dort die Zähne nach dem Amor, ber auf feinem Rüden figt... Ich hatte nie verſtanden, was Das eigentlich bedeutet, Ich hatte es für einen phantaſtiſchen Unſinn gehalten jet aber verfiche ich es. Ja, die Leis

denſchaft ift wie ein Tiger: zuerſt halt fie ſtill und leider es, daß man fich ihr auf ben Rüden feßt, daun aber bruͤllt fie und fletfcht die Zähne...” Durch Maiffis Hirn zuckte ploͤtzlich dee Gedanke, daß er vielleicht jetzt den geheimnisvollen Namen, dad „Wer?“ erfahren koͤnnte. Er griff lebhaft ihren Vergleich der Leidenſchaft mit dem Tiger auf.

„Bei uns Im Norden gibt es keine Tiger, Wiera, ber Vergleich hinkt alfo ein wenig,“ fagte er. „Ih glaube, daß mein Vergleich zutreffen der iſt: dein Idol iſt ein Wolf!“

„Bravo, ja, ja verſetzte ſie raſch mit nervoͤſem Lachen

„ein richtiger Wolf: ſo reichlich man ihn auch fuͤttert,

immer ſchielt er nach dem Walde!“

Und ploͤtzlich ſchwieg ſie wie in Verzweiflung.

„She alle ſeid wilde Tiere,” fagte fie nach einem Weilchen auffeufjend. „Er ift ein Wolf...“ „Ber er?" fragte Raiſki leife.

„Tuſchin iſt ein Bär,” fuhr fie, ohne feine Frage zu bes antworten, fort „ein richtiger ruſſiſcher Bär, fo ehrlich, fo anftellig ...“

„Ah! Dann iſt's alfo nicht Tuſchin?“ dachte Raiski. „Ich kann ihm die Hand auf den zottigen Schaͤdel legen,“ ſuhr ſie fort „und kann ruhig er wird mid nicht verraten, nicht bintergepen ... Er wird mie fen Leben lang dienen... „Und wer bin ich qu fragte Raf un ploͤblich, ein wenig munterer werdend.

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Sie fah ihm aus nähfter Nähe arglifig in bie Augen und zoͤgerte mit der. Antwort.

Ich fehe, du willft fagen: ein Efell Immer fag’ es, Wiera, tu bir feinen Zwang an!”

„Ste? Ein Efel?” fagte fie mit verhaltenem Spott, waͤh⸗ rend fie langfam um ihn herumging und ihn von allen Seiten mufterte.

„a8 follte ich fonft fein?” ſagte Raiſki naiv. „Ich dulde alles, was bu mit mir beginnfi alles ertrag” Ich, und wadle dazu mit ben Dhren.”

„Sie find durchaus kein Eſel fondern ein Fuchs, fo gefhmeidis, fo liſtig; Ste wollen mih in Ihren Bau loden.... ganz leife, gang Hug und verfehlagen .. .“

Er verfiand den Sinn ihrer Worte nicht und ſchwieg.

„Run, fo reden Sie doch, warum fhweigen Sie?” fagte fie und zog ihn am Armel.

„Es gibt ein Mittel gegen dieſe Wölfe...” meinte et.

„Bas für eins?”

„Daß ih abreife, und daß du nicht mehr dorthin gehft...” Er zeigte nach der Schlucht. | „Leihen Sie mir bie Kraft, nicht mehr dorthin zu gehen!” fprach oder ſchrie fie vielmehr. „Sie tragen doch nun gang dasſelbe Leib wie ih wohlan, fo verſuchen Ste dach morgen einmal, im Simmer zu bleiben, wenn ich allein im Garten fpagieren gehe!... Doch nein, Ste werben drin bleis ben: Sie haben fich Ihre Leidenfchaft nur erdichtet, Sie wiſſen über fie nur ſchoͤn zu reden. Ste verführen bie Weiber nur und fpielen mit ihnen. Sie find ein Fuchs, ein Fuchs! Warten Sie, dafür follen Sie mir noch ganz anders buͤßen!“ ſagte fie mit ergwungenem Lächeln, fcheinbar im Scherz, bach dabei mit fieberndem Gluͤhen, während fie mif den ſchmalen Singern wieder nach feiner Schulter griff.

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Mit beflommenem Herzen laufchte er nach Ihe Hin. „Darum alfo haft du noch gewartet um mir Das zu fagen?” fragte ee nach einer Weile.

„a, darum! Damit Ste in Zukunft nicht wieber mit ber Beidenfchaft fchergen, und damit Sie mich anweiſen, was ich jet tun foll, Sie Lehrmeifter!... Nun, ba Sie das Haus angezündet haben, laufen Sie fort! Die Leidenfhaft iſt fchön, Immer Tiebe du, Wiera, ſchaͤm' dich ihrer nicht! Wer hat mir das gepredigt? Etwa Bater Waſſilij?“ „Ich verftand darunter die Leidenfchaft, die erwidert wird,“ fuchte er fich fchüchtern zu verteidigen. „Die Leidenſchaft ift ſchoͤn, wenn fie gegenfeltig iſt, wenn beide Teile es ehrlich mitelnander meinen dann iſt die Leidenfchaft fein Äbel, fondern ein hohes, hehres Glüd, das fürd ganze Leben ausreicht! Solche Leidenfchaft weiß nichts von Lüge, von Betrug. Wenn ber eine Teil die Leidenfchaft nicht mehr erwidert, dann wird er den andern nicht unnuͤtz hinziehen, wird nicht Ins Dunkel flüchten und duch Treuloſigkeit das Leben des andern Teils vergiften, fondern ſich mutig offenbaren und in aller Ehrlichkeit und Offenheit, wie das Schickſal felbft, den unvermeidlichen Schlag führen und bie Trennung volljiehen ... Dann wird es feine Stärme geben, fondern nur ein Feuer, das bie Wunden heilt..."

„Es gibt keine Leidenfchaft ohne Stuͤrme oder es iſt eben keine Leidenfchaft I” rief Wiera aus. Und nach kurzem Schweigen fuhr fie fort: „Nicht auf die Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit kommt es an, es gibt auch noch andere Klippen, andere Momente, die ans ber Leidenfchaft das Unheil ers wachfen laſſen. Reden wir einmal von mir: ich liebe, und ich werde wieder geliebt, niemand denkt an Lüge und Taͤuſchung. Und doch zerreißt mich die Leidenſchaft . Belehren Sie mich: was foll ich sun?“ |

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„Sprich mit der Großtaute...” fagte er, vor Futcht ers bleihendb „oder ich fage es ihr... Gib mir mein Ehren, wort zuruͤck, Wiera I” | | „Um Gottes willen nicht! Schweigen Sie und hören Sie mich an! Ah jet wollen Sie ed der Großtante fagen, . wollen mich einfchächtern, mich befhämen!... Und wer war es denn, ber mir fagte, ich brauche nicht auf fie zu hören, brauche mich nicht zu ſchaͤmen? Wer hat fich über ihre Moral Iuftig gemacht ?“

„Sag’ mir, Wiera was iſt mit die? Da wirfſt mie zuweilen einen Brocken hin und flächteft dich dann wieder hinter den Schleier des Geheimniſſes. Ich taſte im Dunks len, weiß nicht, woran ich bin ... fonft würde ich vielleicht ein Mittel finden...”

„Sie wiffen nicht, was mit mie iſt, Sie taften im Dunklen fommen Ste einmal mit, dahin I” fagte fie. Sie führte Ihn aus ber Allee heraus und blieb fiehen. Der Mond ſchien ihr gerade ins Geſicht. „Da, num fehen Sie einmal, was mit mir iſt!“ |

Sein Herz zog ſich qualvoll zuſammen: er erfannte bie frühere Wiera nicht wieder. Ihr Geficht war bleih und mager, bie Augen hatten einen böfen Glanz und blidten wie irre, während die Lippen feſt aufeinander gepreßt waren. Bon ihrem Kopfe fielen unter dem Tuch hervor zwei oder drei Haarfirähnen wirr auf Stirn und Schläfen, wie bei einer Zigennerin, und bededten ihr, wenn fie ſich bewegte, Augen und Mund. Die mit weißem Schwan eingefaßte Atlasmantille hing Ioder, duch die feidene Schnur kaum sufommengehalten, um ihre Schultern. „Nun?“ fagte fie, das Haar aus dem Gefichte fchättelnd „Erkennen Sie Ihre Wiera wieder? Wo iſt die Schöns heit geblieben, der Sie Ihre Hymne gefungen haben ?”

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Sie lächelte Häglich, bedeckte für einen Augenblid ihr &es ſicht mit der Hand und fehättelte ben Kopf.

„Was kann ich tun, Wiera ?” fagte er leiſe und blidte auf ihr mageres Geficht und die in Fieberglut glänzenden Augen. „Sag’ es mir, ich bin bereit, für Dich gu fterben... .” „Sterben, fterben! Was foll mir das? Helfen Sie mir lieber, daß ich leben kann, und geben Sie mir jene ſchoͤne Leidenfchaft, deren beglüädende Spur fih duch das ganze Leben zieht... Geben Sie mir dieſes Leben, wo ift es? Ich fehe nichts als den Tiger, ber die Zähne fletſcht ... Neben Sie, belehren Sie mich, ober geben Sie mir bie Kraft zuräd, die ich einſt beſaß! Doch Sie wollen alles der Großtante fagen! Sie wollen fie und mi ins Grab bringen!... Iſt das das rechte Heilmittel, wie? Oder Ichren Ste mich, wie ich es anfangen foll, daß ich nicht mehr dorthin, nach der Schlucht gebe... Doc dazu iſt's zu ſpaͤt!“

„Sag’ mir, wen du liebſt! Erzähle mir die näheren Um⸗ flände, nenne mie den Namen!...“

„Wen ich liebe? Nun Sie!” fagte fie voll Bosheit, warf das Haar, das ihr von neuem ind Gefiht geglitten war, wieder zuräd und zog die Mantille fefter um ihre Schultern.

Er fürchtete fih, auch nur ein Wort zu fagen ober fich zu rühren die Hände auf dem Rüden, fland er an einen Baum gelehnt da, während fie mit haſtigen, ungleich mäßigen Schritten auf und ab ging. Dann blieb fie, tief Item holend, ſtehen.

„Ste iſt geiſteskrank!“ fluͤſterte er entſetzt vor ſich Hin. Sie ſetzte ſich auf die Bank und verſank in ſtilles Bruͤten. „Was ift mit Ihnen?” ſprach fie dann, ein wenig zur Beſinnung kommend, wie für ſich.

Da 3 ———————

CH 401 iH:

„Du Haft ſelbſt von ber Freiheit geträumt, Wera, bu haft dich verſteckkt vor mir, wie vor der Großtante, du wollteft die Unabhängigkeit. Ich Habe dich nur in deiner Gedankenrichtung unterfiüßt, benn fie iſt auch die meinige. Warum wirfft du nun diefen ſchweren Stein nach meinem Haupte?“ fuchte er fich leife zu verteidigen. „Nicht ich allein, auch die Großtante fürchtete fih, dir nahe gu fommen...” |

Sie feufste tief auf; dann frat fie auf ihn gu, Ichnte ihren Kopf an feine Schulter und fagte leiſe:

„sa, ja ... hören Sie nicht auf mich! Nur meine Nerven fprachen aus mir, fie... find fo angegriffen. Was heißt Leidenſchaft? Es eriftiert überhaupt keine Leidenfchaft ! Ich Habe mit Ihnen geſcherzt... wie Sie mit mir...” „Du glaubft noch immer, daß ich gefcherst habe?” fagte er leiſe.

Sie verfuchte zu Tächeln und ergriff feine Hand.

„Zählen Sie meine Stirn an,” fagte fie fanft „wie fie gluͤht!... Seien Ste mie nicht böfe, feien Sie ein wenig lieb zu Ihrem armen Schwefterhen! Das wird alles vorübergehen:... Der Arzt meinte, folhe Anfälle kaͤmen bei Frauen öfters vor... Ach ſchaͤme mich felbft, daß ich fo ſchwach Bin, ich Bin mir felbft gumider... .“

„Was iſt mit die, meine arme Wera? Sag’ es mir!.. .“ „Nichts ... Führen Sie mich nun nach Haufe, helfen Sie mir die Treppe hinauf ich fürchte mich vor etwas... Ich will mich hinlegen... verzeihen Sie, daß ich Sie bes unruhigt habe... daß ich Sie hierher zurüdrief. Sie wären abgereift und hätten mich vergefien. Ich habe eins fah das Sieber... Sie find mir nicht böfe?” ſagte fie zärtlich.

Er reichte ihr eilig den Arm, führte fie, ohne ein Wort gu II 26

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fagen, aus dem Garten hinaus und brachte fie Aber den Hof nach ihrem Zimmer. Dort zändete er die Kerze an. ‚Rufen Sie Marina, oder Maſcha es foll jemand mit mie im Zimmer ſchlafen ... Nur Tantchen darf nicht ein Wort davon erfahren!... Das iſt alles nur Überreifung. .. Sie wuͤrde erfchreden ... wuͤrde gleich hergelaufen kom⸗ men...”

Er hörte ihr aͤngſtlich, in Nacdenten verfunten, zu. „Barum fhweigen Ste denn immer, warum fehen Sie mich fo fonderbar an?” fpeach fie, Ihm unruhig mit ben Yugen folgend. „Ich habe da Im Fieber Gott weiß mas zuſammengeſchwatzt... Ih wollte Sie nur ein wenig ärgern... wollte mich rächen für Ihre Neckereien ...“ fügte fie hinzu und bemühte fich zu laͤcheln. „Mur det Stoßtante kein Wort fagen, hören Ste? Sagen Sie, ich hätte mich hingelegt, um morgen ganz früh aufzuftehen, und bitten Sie Re. .. die Abweſende zu ſegnen ... hören Sie?”

„Sa, ja, ich Höre,“ antwortete er zerfireut, nahm von ihr Abſchied und ſchickte Mafcha in ihr Zimmer.

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Neuntes Kapitel

m naͤchſten Morgen erwartete Raifi mit Spannung

das Erwachen Wierad. Er hatte feine eigene Leidens (Haft vergeflen, feine Phantafie verharrte In fchächternem Schweigen, und feine ganze feelifche Energie konzentrierte fih in der Beobachtung diefer fremden Leibenfchaft, bie, wie er meinte, gleich einer fchillernden, ihre Giftzähne weifenden Schlange aus Miera herausſchaute. Er war nachdenklich und In fich gekehrt, fuchte den fragen, den Blicken der Großtante auszuweichen und verwänfchte fih felbft darum, daß er Wiera bag Ehrenwort gegeben, niemandem, am wenigfien Tatjana Markowna, ein Wort | wodurch er ſelbſt in eine recht peinliche Lage

Tatjana Markowna aber hatte ſchon mehrmals mit ihm über Wjera zu reden begonnen.

„Mit Wiera iſt etwas nicht in Ordnung,“ hatte fie kopf⸗ ſchuͤttelnd gefagt.

„Was denn?” fragte Naifti obenpin und bemühte ſich, dabei gleichgültig zu bleiben.

„Sie gefällt mie nicht, es iſt noch ſchlimmer als neulich: fie geht fo düfter umher, fo ſchweigſam, und manchmal

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fcheint es mie, als habe fie Tränen in den Augen. Ich habe mit dem Arzte gefprochen ber kommt mie wieder mit den Nerven. Irgendwelche Anfälle muͤſſen es fein, ober fonft was ...“

Die Großtante beendete ihre Rede nicht und ſchwieg nach⸗ denklich.

Raiſki aber wartete voll Ungeduld, ob Wijera nicht endlich art. Schließlich, ganz fpät, erfchlen fie. Ein Meines Mäds chen trug ihr den warmen Mantel, den Hut und bie Schuhe mit den Doppelfohlen nach. Sie wünfchte Tantchen einen guten Morgen, bat um Kaffee, mit Appetit ein paar Smwiebäde und erinnerte Raiſki daran, daß fie zuſammen Einkäufe in der Stadt und dann einen Spaziergang Abers Geld und duch den Hain machen wollten.

Ste benahm ſich ganz fo, als fei gar nichts vorgefallen. Bon ihrem gefteigen Benehmen war nur eine gewiſſe Ungebundenheit in den Bewegungen und eine ihr fonft nicht eigene. Haft im Sprechen übrig geblieben. Sie fat fi offenbar Swang an, um ihre nervoͤſe Aufregung zu verbergen.

Sie begann fogar mit Paulina Karpowna, bie unerwartet im Kabinett ber Großtante erſchien, Aber allerhand Toi⸗ lettenangelegenheiten zu reden. Paulina Karpowna hatte verſchiedene moderne Schnittmufter mitgebracht, nach denen für Marfinkas Ausſteuer Kleider genäht werben follten; in Wirklichkeit war's ihre mehr darum zu fun, gu hören, ob Boris Pawlowitſch ſchon zuräd fel.

Sie wollte um jeden Preis ein Gefpräch unter vier Augen mit ihm herbeiführen und fuchte einen paffenden Moment zu erhaſchen, um ſich neben ihn fegen gu können. Endlich gelang es ihr, und fie fragte ihn, ob er * nirgend etwas ohne Zeugen zu ſagen habe.

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Sie fah ihn mit muͤdem Blicke an, fuchte feinen Augen gu begegnen und begann leife: „Je comprends: dites tout} Du courage |“ „Hol“ dich der Teufel!” dachte er, runzelte bie Stirn und ruͤckte von ihr ab. Endlich zog Wiera ihren Baletot an, nahm feinen Arm und ſagte: „Gehen wir!“ Die Krizkaja wollte durchaus mit ihnen geben, aber Wjera füchte fie loszuwerden, indem fie fagte: „Mir gehen gu Fuß und. haben einen weiten Weg, und Sie, liebe Paulina Karpowna, haben biefe lange Schleppe und find überhaupt für einen Spaziergang viel zu elegant angesogen... Draußen iſt e8 feucht...” T Und ſo gingen ſie denn ohne Paulina Karpowna fort. Raiſki ſchwieg und beobachtete Wiera, während fie ſich bemühte, recht natürlich zu erfcheinen, und über das Wetter, - Aber Bekannte, denen fie begegneten, über irgendein friſch renoviertes Hang, das noch vor kurzem gang verfallen aus⸗ geliehen, ihre Bemerkungen machte. Sie erzählte, daß im Winter der Saal der Adelsverfammlung neu ausgemalt werben follte, daß die große Verkaufshalle ein Dach aus Eifenbleh befommen würde, und fie blieb fogar fliehen, um zuzuſchauen, wie an einer Stelle die Straße neu aufs gefchüttet wurde. Sie ſchien fogar recht zufrieden mit biefem Spaziergange duch die Stadt, der ihr um fo gebotener erſchien, ald man fie ſchon lange nicht mehr gefehen hatte und bie Leute Gott weiß was denken konnten. Raiſſki ermwiderte kein Wort auf ihre anfcheinend fo ums gezwungenen Bemerkungen, hinter denen er gang anbere Dinge vermutete. „Vieleicht war es unrecht von mir, daß 4 Sie der Befells

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(haft Paulina Karpomnas beraubt Habe?” bemerkte fie, am ihn aus feinem Schweigen heranszuloden.

Er zuckte ärgerlich bie Achſeln. Ich fcherze nur,” fagte fle, einen aufrichtigeren Ton ans fchlagend. „Ich will, daß Sie den Tag mit mir verbringen folfen, ober noch beffer: mehrere Tage, bevor Sie abreifen...” fuhr fie faft ſchwermuͤtig fort. „Laſſen Ste mich nicht allein, entziehen Sie mir Ihre Gefellihaft nicht... Gie werden bald abreifen dann habe ich niemanden I”

„Ih fürchte, Wiera, daß ich die gar nicht nägen kann, eben darum, weil Ich nichts weiß, Ich fehe nur, daß du in irgendein Drama verwidelt biſt, und daß bie Katas fteophe entweder ſchon eingetreten iſt oder bald eintreten muß...“

Sie zudte zuſammen.

„Bas ift die?" fragte er beſorgt.

„Es ift fo friſch draußen, Ich friere,” fagte fie, die Schultern bewegend. „Was für ein Drama? Ach bin nit ganz gefund, bin verſtimmt. Der Herbſt iſt da, und im Herbft zieht fich der Menfch, wie alle Tiere, gleichfam in fich ſelbſt zuruͤc. Auch die Vögel find fhon fort fehen Sie doch die Kraniche da oben!” fagte fie und zeigte nach einer krummen Linie von ſchwarzen Punkten, die Hoch über der Wolga in der Luft hinzog. „Wenn alles ringsum duͤſter und bleich und traurig wird, iſt auch bie Seele traurig geſtimmt ... nicht wahr?“

Sie wußte felbft, daß er ſich mit ſolchen Neben nicht Teiche abfpeifen Tieß, und redete nur, um nicht. bie Wahrheit zu muͤſſen.

Er ſchwieg und ſuchte immer und Immer wieder nach dem

Schlüffel des Raͤtſels. | „ah möchte Dich etwas fragen, Wjera...“ begann er. .

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„Was denn?” unterbrach fie ihn voll Unruhe und fügte, ohne feine Antwort abzuwarten, hinzu: „But, fragen Sie, aber nicht heute vielleicht in ein paar Tagen... Um was handelt es fih denn?” „um bie Briefe, die du an mich gefchrieben Haft...“ „Ja was. ift mit ihnen ?”

„Srinnerft du dich, daß du init fchriebft, du teileſt meine Auffaſſung von der Ehre...” Sie dachte nad, und es ſchien, daß fie fich zu ae ſuche. | „Ja ... ja... gewiß, natärlih... Ich fehrieb das... nun, alfo was?“

Er fah fie Hurchöringend an.

„Saft du dieſen Brief gefchrieben ?“

„Wer denn fonft?” verſetzte fie plöglich lebhaft geteiß babe ich ihn gefchrieben.... Hören Sie,” fügte fie dann hinzu „laffen wir dieſe Auseinanderſetzungen, wie ich Sie ſchon bat, fuͤr ein anderes Mal. Ich bin krank und ſchwach ... Ste waren geſtern Zeuge dieſes Anfalles... Ich weiß Jets nicht einmal mehr genau was ich Ihnen ſchrieb, ich bringe alles durcheinander ...“

„Gut, laſſen wir es fuͤr ein naͤchſtes Mal!“ ſagte er mit einem Seufzer. „Uber fag’ mir wenigſtens, wozu du mich braucht? Warum haͤltſt dus mich hier zuräd? Warum willſt du, daß ich noch bleiben, daß ich dieſe Tage mit dir gubringen foll?” Sie fügte ihren Arm feſt auf den feinigen, ſchmiegte ſich an ſeine Schulter und bat ihn mit den Augen, doch nicht weiter in ſie zu dringen.

„Du liebſt mich doch nicht! Du weißt, daß ich an dein ko⸗ kettes Som nicht glaube und fo viel Achtung wieſt du

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Narren macht... Sch fehe doch, wenn mein Geiſt uns befangen ift, wenn ich nicht im Fieber bin, daß du deinen Scherz mit mir treibfi: warum gefchieht das?"

Sie preßte heftig feinen Arm an fih und bat wiederum mit den Augen, fie nicht weiter gu fragen.

„Das eine darf ich doch wenigſtens fragen was foll ich dir? Es kann dir doch nicht entgehen, wie ſehr mich das alles erregt und peinigt, dieſe Leidenſchaft, dieſe ewigen Schlaͤge, die du meinem Herzen, meiner Eigenliche vers ſetzſt ...“

„Ja, Ihrer Eigenliebe ...“ wiederholte fie zerſtreut. „Gut, ſagen wir: Eigenliebe, ſtreiten wir nicht daruͤber, was Eigenliebe, und was das fogenannte ‚Herz‘ iſt. Aber du mußt mie doch fagen, was ich dir eigentlich foll? Es ift mein gutes Recht, dich danach zu fragen, und es iſt beine Pflicht, mir offen und ehrlih auf diefe Frage zu antworten, wenn du nicht willſt, daß ich dich fuͤr falſch, für boshaft Halte...

Sie ließ den Kopf auf die Bruſt ſinken und ging weiter, waͤhrend er ihre Antwort erwartete.

„Laſſen wir das jetzt ...“

„Auch das ſollen wir laſſen? Nein, davon gehe ich nicht ab!“ ſagte er in zorniger Aufwallung und entriß ihr hefs tig ſeinen Arm. „Du ſpielſt mit mir wie die Katze mit der Maus! Ich geſtatte dir das nicht mehr genug der Scherze! Deine eignen Geheimniſſe kannſt du fuͤr dich behalten, ſolange du willſt, ja du brauchſt mir ſie uͤberhaupt nicht zu enthuͤllen. Was jedoch mich betrifft, ſo erwarte ich eine ſofortige Antwort von dir. Was ſoll ich dir hier? Welche Rolle haſt du mir zugeteilt, und warum ſoll ich ſie ſpielen ?

„Ste haben dieſe Rolle ſelbſt gewählt, Bruder... .“ ent⸗

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gegnete fie fanft und blickte zu Boden. „Sie baten mid, ich ſolle Ste nicht fortfchiden . . .* In ohnmaͤchtigem Arger über ihren berechtigten Vorwurf trat er zur Seite und ging, breit daherſchreitend, durch den Straßenkot weiter, waͤhrend ſie ihren Weg auf dem Holztrottoir fortſetzte. „Seien Sie mir nicht boͤſe, Bruder, kommen Sie hierher! Sch habe Sie nicht etwa zuruͤckgehalten, um Sie gu kraͤnken nein !” flüfterte fie, Ihe gu ſich heranwinkend. „Kommen Sie Hierher, gu mir!“ Er reichte ihre wieber den Arm. „sh bitte Sie nur um eind fprechen Sie jet nicht von diefer Sache, regen Sie mich nicht auf, Damit es mir nicht wieder fo geht wie geflern!... Sie feben, ich halte mid kaum auf den Beinen... fehen Sie mich doch an, fallen Sie meine Hand an!” Er nahm ihre Hand fie war bleich und kalt, und das Blaue Geaͤder trat deutlich hervor. Ahr Hals und ihre Taille waren fchmächtiger geworben, ihr Geficht hatte bie lebhafte Zarbe verloren, e8 machte den Eindruck der Schwaͤche und Traurigkeit. Er vergaß wieder feine eigne Perfon und empfand einzig Mitleid mit ihr, der fo ſchwer ©epräften. „Ich will nicht, daß man zu Haufe meinen Zuftand bes merle... Ich bin ſehr ſchwach ... ſchuͤtzen Ste mih!.. .” flehte fie ihn an, und ihre Augen füllten ſich fogar mit Tränen. „Behäten Sie mie. ... vor mir felbfl... Kommen Sie, fobald es daͤmmert, fo gegen ſechs Uhr nachmittags, zu mie hinuͤber.... ich werde sonen dann fagen, warum Ich Sie wurödgehalten habe...“ „Verzeih mir, Wera auch ich bin nicht mehr Herr

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meiner ſelbſt!“ fagte er, tief gerährt durch Ihren Kummer, und deüdte ihre die Hand. „Ich fehe, Daß du ſchwere Qualen erduldeſt und ich weiß nicht, was dich quält... Doch ich werde nicht fragen . . . Ich will und muß deinen Schmerz ſchonen obſchon es mir ſchwer wird und ich felbft dar⸗ unter leide Ich werde alſo kommen, du kannſt auf mich rechnen ...“

Sie erwiderte feinen Haͤndedruck lebhaft und fluͤſterte: „Sch werde Ihnen alles fagen... wenn ih bie Kraft dazu beſitze ...“

Ein Gefühl der Bangigkeit, eine ſchimme Vorahnung beſchlich ihn.

Sie tamen an den Läden voräber. Wiera machte für ſich und Marfinka Einkäufe und unterhielt ſich dabei unges swungen und lebhaft mit ben Labeninhabern, wie fie es auch mit den Bekannten, die ihnen begegneten, getan hatte. Mit diefen war fie fogar auf der Straße ſtehen geblieben, um fich über allerhand Heine, alltägliche Angelegenheiten gu unterhalten. Dann machte fie einem kleinen Patens finde, dem Tächterchen einer Kleinbürgerin, einen Beſuch und übergab der Mutter den Kleiderftoff, den fie für Kind und Mutter gekauft hatte. Als hierauf Raiſki einen Beſuch bei Koslow vorſchlug, ging fie bereitwillig darauf ein. Sie betraten eben den Torweg des Haufes, als plöglich aus der Seitenpforte Mark Wolochow heraustrat. Er nidte Raiſki nur flüchtig zu, gab auf Die Fragen, wie es Leontij gehe, gar Feine Antwort und elle, Wiera kaum anfebend, mit rafhen Schritten durch die Seitengaſſe davon.

Wiera hatte einen Augenblick wie fefigebannt dageftanden, doch faßte fie fich fogleich und eilte mit raſchen Schritten, an Raiſki voräber, die Treppe hinauf.

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„Bas ift mit Ihm?” fragte Raiſki, während er Mark nach⸗ blidte „tein Wort hat er geantwortet, und wie er gleich Iosrannte! Und auch du biſt erfehroden: iſt er es am Ende, der dort immer ſchießt? Ich habe ihn dort fchon mit feiner Buͤchſe getroffen,” fügte er fchergend hinzu. „Natuͤrlich wer foll es fonft fein 2” ſagte Wiera munter, ohne fih umzuwenden, während fie Koslows Zimmer betrat.

„Mein, nein,” dachte Raiſti „diefer gerlumpte, herum⸗ lungernde Zigeuner follte ihr Idol fein? Nein, taufendmal nein! Übrigens... warum nicht? Die Leidenfhaft iſt grauſam, fie macht den Menfchen Blind. Gie fragt nicht nad den Sitten und Anſchauungen der Menfchen, fie unters wirft fie ihrer ungegügelten Laune. Aber Wiera hatte doch feine Gelegenheit, fich diefem Mark zu nähern! Sie fürdhs tet fih vor ihm, wie alle Welt fich vor ihm fürchtet.” Koslow ging noch immer gang ebenfo wie geflern mit ſchwankenden Schritten, als ſei er berauſcht, von einer Ede wur andern, verhielt fich ſchweigſam, wenn jemand ihn beſuchte, und fchättete nur vor Raiſki fein Herz aus. Er war fo mutlos, fo willensſchwach und versagt, Hagte nur leife murrend fein Leid, horchte auf jedes draußen voruͤber⸗ raſſelnde Fuhrwerk, Tief erregt nach ber Tür und kam jebesmal ganz verzweifelt guräd.

Als Raiſki und Wiera ihn ernent aufforderten, zu ihnen übersuftedeln, ſchwieg er; er hörte faum hin, oder fagte nur: „Sa, ja, fpäter.... in zwei, drei Wochen...” „Bielleiht nach Marfintas Hochzeit?’ ſagte Wiera. „Isa, nach der Snochzeit, nach der Hochzeit,“ wiederholte Leontij mechaniſch. „Sch danke fehr, ja... vorläufig aber ich noch bier... Ich danke herzlich ..“

Er ſtarrte ploͤtzlich Wiera an und ſchien verwundert, fie

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bei fi zu ſehen. „Wiera Waſſiljewnal!“ fagte er ganz verwirrt. „Weißt du auch, Boris Pawlowitſch,“ fuhe er, su Kaiffi gewandt, fort „wer außer mir noch beine Bücher gelefen und mir beim Drbnen geholfen hat?.. .” „Wer denn?” fragte Raifki. Doch Koslow hörte feine Gegenfrage nicht: ex war bereits wieder in ber andern Ede bed Zimmers und lauſchte nach der Straße hinaus. Dann äffnete er plöglih das Lufts pfoͤrtchen des Fenſters und fledte ben Kopf hinaus. „Wer rief da eben?... War’s nicht eine Frauenſtimme ?" fagte er ganz erfchroden und horchte gefpannt, mit meit geöffneten Augen, hinaus. „Leinwand! Schöne Leinwand! Mile Gorten wien ad fieß ſich die durchdringende Stimme einer Hanflererin von weiten vernehmen. Koslow ſchlug Argerih das Lufts pförtchen gu. ‚Ber hat denn die Buͤcher gelefen?“ wiederholte Raiffi feine Frage. Doch Koslow hörte wieder nicht, fondern feste ſich aufs Bett und ließ den Kopf Hängen. Wiera fläfterte Raiffi gu, daß es ihr peinlich fei, Leontij Iwanowitſch in diefem Zu⸗ ſtande zu fehen, und fo verabſchiedete fie fih von ihm. „Ich wollte dir noch etwas fagen, Boris Pawlowitſch,“ fagte Koslow nachdenklich „Doch ich hab's vergeflen ...“ „Du meinteſt, es habe noch jemand meine Buͤcher ge⸗ leſen .. Sann recht. ... da fig biefer Jemand ſagte Leontij ploͤtzlich, während er auf Wiera zeigte. Raiſki blickte nach ihr Hinz fie fah eben zum Fenſter hinaus und zog ihn am Armel. wir, wir!” . und eilte die Safe Aug |

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Sie kamen zu Haufe an. Wiera Kbergab einen Zeil ber Einkäufe der Großtante, das Abrige ließ fie nach Ihrem Zimmer bringen. Dann forderte fie Raif auf, mit ihr einen Spaziergang duch den Hain, duch die Felder und an die Wolga hinunter gu machen. „Sehen wir dorthin!” fagte fie, nach irgendeinem Hügel zeigend, und kaum hatten fie das Ziel erreicht, als fie Ihn fogleich wieder nach einem andern Punkte mit fich 409, der eine befonders fchöne Augfiht auf ben gewundenen Lauf der Wolga haben follte. Im nächften Augenblid aber watete fie fchon wieder burch den Uferſand, in dem ihre Süße bis an die Knoͤchel verfanten. Sie ſchaute in die Ferne, zeigte Raiſki ein Schiff, das ganz weit hinten daherfegelte, und lief dabei haſtig, mit ungleihmäßigen, unficheren Schritten, haufig ftehenbleibend, tief Atem fchöpfend und bie überfallenden Haarſtraͤhnen aus dem Geficht fchüttelnd, weiter und weiter. „Barum mahft du dich fo müde, Wiera? Du biſt bo fo ſchwach!“ fagte er. „ch habe einen ganz merkwuͤrdigen Durſt ... Luft möchte ich trinken!" fagte fie und wandte ihr Geſicht nach der Seite, von ber der Wind herblies. „Sie mutet fich zu viel zu ... ſammelt die legten Kräfte!” flüfterte er fill vor fih Hin. Er brachte fie nach Haufe, wo man bereits mit dem Mittags effen auf beide wartete. „Um fechs Uhr alſo!“ ging es ihm durch den Kopf, und er erwartete mit Ungeduld ben Abend. Nah dem Mittagefien war er im Salon vor Müdigkeit eingefchlafen und erwachte erſt, als es bereits ſechs Uhr gefchlagen hatte und die Dämmerung bereingebrochen war.

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Er ging zu Wiera, traf fie jedoch nicht zu Haufe an. Mas tina fagte, das gnaͤdige Fräulein fei zur Abendmeſſe ges gangen, doch wußte fie nicht gu fagen, ob fie nach der Dorfs a ei 8 ſi

In der Vorſtadtkirche muſterte Raiffi alle Anweſenden und prägte ſich, während er Wijera ſuchte, die Phyſiogno⸗ mien aller alten Weiber ein, bie in ber Kirche waren. Wiera war nicht anweſend, und fo ging er nach der Heinen Kirche auf dem Berge. Dort fah er gleichfalls zunächft nur ein paar alte Frauen und Männer. Dann aber erblidte er in einem dunklen Winkel hinter einer Säule Wiera mit vorgeneigtem Kopfe, den Schleier vor dem Geſicht, kniete fie auf dem kalten Geftein des Fußbodens.

Er trat hinter eine zweite Säule in ihrem Rüden. Während fie betete, ſtand er ba und fann über ihre Lage nad; ein Gefühl tiefen, zaͤrtlichen Mitleids mit ihr erfüllte fein Herz, als er fie fo nutzlos ſich in bem fehweren Kampfe aufreiben fah.

Er blidte auf dieſes junge, kaum erblähte und doch ſchon fo ſchwer heimgeſuchte Leben; er fah, wie das Schidfal diefes jugendliche Geſchoͤpf bedrängte und quälte, obſchon es Heine andere Schuld teug als die, daß es glüdlich fein wollte. Und er geollte im füllen über die grauſamen, niemand verfhonenden Geſetze des Seins, die dieſer ſchwachen, kaum zur Entfaltung gelangten Lille dasfelbe ſchwere Kreuz auferlegten wie irgendeinem hartgefottenen Boͤſewicht. | „Allein um ihrer Schoͤnheit willen follte fie verfchont bleiben... Doch wer iſt's, der fie ſchonen foll? Und was bat fie uͤberhaupt verſchuldet?“ dachte er, und unwillkuͤr⸗ lich geriet er in den Bann bee myſtiſchen Vorftellung, daß

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es im Menfchenleben gewiſſe vom Schidfal vorbereitete, geheimnisvolle Momente gebe, in denen ein unerwartetes Sufammentreffen von Umftänden oder eine Begegnung dem Menfchen eine unbeiloolle bee, ein krankhaftes Ges fühl, einen verbrecherifchen Wunſch einflößt, wonon ihm nur Pein und Marter erwächft und alles dies um irgends eines ihm felbft unbewußten, unbefannten Zwedes willen, der ihn unerbittlich zu aufreibendem Kampfe zwingt. In anderen Momenten wieder, fo ſchien es ihm, treten Zufaͤlle ein, die, von einer unbelannten Macht berbeis geführt, ben Menfchen vor feinem Verhängnis bewahren, ſo daß er den jähen Abgrund, den er unbewußt überfchritt, erft gewahr wird, fobald er ihn in feinem Ruͤcken hat. Während er fo dag mwirre Gewebe feines eignen Lebens, wie alles Lebens überhaupt, durchmuſterte und den fors ſchenden Blid auf Wieras kaum begonnenes Dafein wandte, durchſchaute er immer klarer diefes Spiel künftlih vers flochtener Zufälligkeiten, biefen Irrlichtertanz ſchlimmer Taͤuſchungen und Verblendungen, dieſe im vorhinein ge⸗ legten Fallſtride, dieſe Fehltritte, Irrungen, Entgleiſungen und dieſe anſcheinend ebenſo zufaͤlligen Aufloͤſungen der verwirrten Faͤden und Knoten... „Was ſoll man tun? Soll man um jeden Preis dieſem Kampfe mit all ſeinen Faͤhrlichkeiten zu entrinnen ſuchen und einem ſicheren, ſturmloſen, ruhigen Hafen zuſtreben, wie es auch dieſe ſchlichten Seelen hier tun?“ Er ließ ſeinen Blick über die Köpfe ber betenden Greiſe und Greiſinnen binfchtweifen. „Dder foll man ohne vieles Nachbenten in den truͤben Fluten dieſes ziellos dahinfteömenden Lebens mitfhwimmen? Wo ift der Schlüffel zum Verftändnis all dieſer Dinge, zur Erkenntnis eines wirklich vernunftgemäßen, gangbaren Weges?”

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Er blickte auf Wiera: fie verharrte unbeweglich im Gebet und wandte bie Augen nicht von dem Gekreuzigten ab. „Die Armſte!“ dachte er beträbt, sing hinaus und fegte fih, Wiera erwartend, in der Vorhalle nieder.

Nah einem Weilchen kam fie heraus. Sie reichte ihm fehweigend die Hand, und fie gingen ben Berg hinunter. „Ste waren in der Kirche?” fragte fie.

„sa, ih war dort,” antwortete er.

Sie fohritten Iangfam bergab durch das Dorf und famen über das ungepflügte Geld nad dem Garten. Wera ging, mit gefenftem Kopfe, während Raiſki nur Immer an die Aufklaͤrungen dachte, die fie ihm hatte geben wollen, und diefe erwartete. Der Wunfch, aus der quälenden Ungewiß⸗ beit endlich herauszukommen und feinen eigenen Leiden ein Ende zu feßen, trat in dieſem Augenblid bei ihm in ben Hintergeund. Er dachte vielmehr an fie er fühlte, daß ihm allein jetzt die Pflicht oblag, ihr zur Seite gu ſtehen, ihren Weg zu erhellen, ihr bei ber Loͤſung irgend⸗ eines verhängnisvollen Kuotens, beim Überfchreiten eines jaͤhen Abgrunds zu helfen, fie erforderlichenfalld mit feiner Erfahrung, feiner Vernunft, feinem Herzen, feiner ganzen Kraft zu unterſtuͤtzen.

Sie Hatte ihn felbft dazu aufgefordert, hatte Halb und halb ein Bekenntnis vor ihm abgelegt, und wenn fie es nicht ganz tat, fo geſchah es nur, weil bie ihr eigene Vor⸗ ſicht fie davon zurädhielt, und weil vielleicht auch noch ein Reſt von Stolz in ihr vorhanden war, der fie binberte, fih für beflegt gu erklären. Kal Wie gern hätte er ihr feine Hilfe zuteil werden laſſen! Aber er wußte ja nichts, und er hatte nicht einmal das Recht, feine Befürchtungen irgend jemandem mitzuteilen. Aber felbft wenn fie ihn von dem gegebenen Ehrenwort

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entband, wenn er ber Großtante alle feine Vermutungen und Befürchtungen mitteilte würde das wohl den ges wuͤnſchten Erfolg Haben? Es war nicht anzunehmen. Die veraltete Lebensweisheit der Großtante, fo praktifch fie auch fein mochte, würde an Wieras Trotz zuſchanden werden, bie einen kuͤhneren Verſtand, einen lebendigeren Willen, ein entwidelteres Denken befaß ald Tatjana Mars kowna. Sie hatte ein Verſtaͤndnis fuͤr die modernen Begriffe, die mehr und mehr in das oͤffentliche Bewußtſein uͤbergegangen waren; ſie hatte offenbar irgendwo dieſe neuen Ideen, dieſes neue Wiſſen in ſich aufgenommen und ſtand un⸗ vergleichlich hoch uͤber den Menſchen, in deren Mitte ſie lebte. So ſehr fie auch bemüht war, ihre geiſtige Übers legenheit nicht merken gu laffen, fo verriet fie ſich doch zuweilen durch ein zufällig hingeworfenes Wort oder bie Nennung des Namens irgendeiner Autorität auf dem einen oder andern Gebiete der Wiffenfchaft. Ihre Zunge wurde gleihfam auf Schritt und Tritt zur Verräterin an ihr felbft; ihr freier Gedantenflug, der ihn gleich bei feiner erften Begegnung mit ihr fo überrafcht hatte, ihr ganzer geiftiger Zufchnitt, ihr Charakter alles dies verlieh ihr ein folches Übergewicht über die Groß; fante, daß alle Bemühungen Tatjana Markownas, ihr aus irgendwelchen Nöten su helfen, ficherlich vergeblich ge; weien wären. Die Sroßtante konnte wohl Wera vor irgendeiner groben Berirrung warnen, konnte fie vor einer Krankheit, einem plumpen Betruge bewahren, fie mit eigener Lebensgefahr aus bem Feuer retten: was aber konnte file fun, um Wera vor einer Leidenfchaft gu retten, un fie nr in eine folche verſtrickt war?

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Zweifellos war bie Großtante eine Auge Frau, die mit fiherem Bid und richtigem Urtell die Erſcheinungen bes Lebens, wie fie fich in großen Zügen ihrem Auge darboten, zu deuten wußte. Sie hatte auch einen recht anfchlägigen Kopf, der fich in dem Heinen Königreih, das fie regierte, wohl bewährte; fie war eine berufene Richterin menfchr licher Tugenden und Lafter, die fie fireng nach den Seſetz⸗ tafeln Mofis und nach dem Evangelium beurteilte, Ganz gewiß aber war fie feine Kennerin bes Lebens, fo; weit das Spiel menfchlicher Leidenfchaften es beftimmt und zu einem buntfarbigen, aus feinften Fäden gemwebten Gebilde geftaltet. Kein Menfch Tieß fich hier in diefer ſtillen, ländlichen Einfamfeit von diefer Seite bes Lebens auch nur etwas träumen, am wenigſten Zatiana Markowna, die alte Jungfer.

Wenn fie einmal in ihren jungen Jahren die Liebe, die Leidenfchaft oder etwas Hhnliches kennen gelernt hatte, fo war das doch hoͤchſtens eine Leidenfhaft ohne Erfah⸗ rung, eine unerwibderte oder gewaltfem unterbrüdte Neis gung geweſen fein Liebesdrama, fondern ein Inrifches Gefühl, dag in ihre allein ſich abfpielte, in ihr erlofch, in ihrer Seele begraben ward, ohne eine Spur zu hinterlaffen oder in bag helle Bild ihres Lebens auch nur einen einzigen, noch fo Heinen Riß zu Bringen.

Wie follte fie etwas ahnen von den Schredniffen diefes Kampfes? Wie fonnte fie einer, die zu verfinten drohte, die Hand reichen und beim Umgehen des Abgrunds bes Hilfüich fein? Ste hätte auch gar nicht an bag Vorhandens fein einer Leidenfchaft geglaubt: fie Hätte einfach nad ZTatfachen gefragt.

Diefe Schüffe in der Tiefe ber Schlucht, diefe geheimnis⸗ vollen Spaziergänge Wieras dort unten im Dickicht

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gewiß, das waren wohl Tatfachen, aber gegen diefe Lats ſachen hätte bie Großtante eben ihre Maßnahmen getroffen: fie Hätte ihre Hauspolisiften mit Knuͤtteln bewaffnet und als Machen auggeftellt, hatte bem Liebhaber aufgelauert und Miera damit nur einen neuen Schlag verfeßt, Dder fie hätte Wera nicht aus dem Haufe gelaffen und auch das wäre eine Demütigung, eine Kraͤnkung gewefen, da fie damit ihre Freiheit verlegt hätte, Nie würde Wiera eine fo grobe Vergewaltigung ertragen, fie würde einfach vor der Großtante fliehen, wie fie vor ihm über die Wolga geflohen war. Es gab fein Mittel, mit dem die Großtante bier hätte helfend eingreifen können. MWiera war ihrer Moral und Ihrem Erfahrungstreife entwachfen, alle Bes lehrungen und Ermahnungen Tatjana Markownas hätten fie nur verlegen können oder, wie jene traurige Hiſtorie von der armen Kunigunde, ihren Spott herausgefordert. Der letzte Reſt von Vertrauen zur Großtante wäre babucch vielleicht bei Wera gerflört worden. Nein, diefe Autorität war veraltet; fie konnte wohl noch einer Marfinka Reſpekt einflößen, nicht aber ber unabs bängigen, geiftig entwidelten, modern denkenden MWiera. Das einzige Mittel, den Schlüffel zu dem Geheimnis ihres Herzeleids zu finden, hielt Wiera felbft in der Hand; doch fie vertraute ihn niemandem an, fie warf nur jest, da ihre Kraft fie im Stiche Tieß, gelegentlich ein Wort, eine Ans fpielung bin, um erfchroden alles wieder zuruͤckzunehmen und fih von neuem gu verfteden. Offenbar fühlte fie fich nicht ſtark genug, ben gordifhen Knoten zu durchhauen, und ihr Stolz, oder ihre Gewohnheit, nach eignem Gut⸗ dänten zu leben, wenn fie auch dabei zugrunde ging, verfchloß ihre bag Wort im Munde, Alles das ging Raiſki durch den Kopf, während er ſchwei⸗

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gend neben Wiera herſchritt. Um jeden Preis hätte er fie um Sprechen bringen mögen, nicht mehr um feiner ſelbſt wilten, fondern nur noch um ihretwillen, um fie gu retten. ber er wußte nicht, wie er ed anfangen follte, ihr endlich die Zunge zu Idfen. Schließlich wollte er es noch einmal verfuchen, ihr von der Seite ber beisulommen: vielleicht würde er in bee Unterhaltung aus ihren Antworten anf feine Fragen einen Anhalt gewinnen, vielleicht wuͤrde irgendein Name fallen, bei dem er dann verweilen könnte, um ihre fo das Geſtaͤndnis zu erleichtern, das ihr ans feheinend fo ungemein ſchwer fiel, daß fie es trotz Ihres Verſprechens nicht über die Lippen zu bringen vermochte. Mit Lift und Schlauheit wollte er fih ihr nahen: fie war jegt müde und erſchoͤpft vielleicht plauderte fie in einem ſchwachen Augenblid aus, was er wiſſen wollte,

Es fiel ihm ein, daß fie feinen Fragen bisher ſtets aus; gewichen war, wenn er wiffen wollte, woher fie ihre Kennts niffe und ihr überrafchend Hares Urteil Aber ſo viele Dinge befaß, die einem jungen Mädchen in ihrer Lage fonft fremd blieben. Woher flammte ihre kuͤhne, freie Denkweiſe, ihr Sefbftvertrauen und ihre Selbftbeherefhung? Das waren doch ficherlich nicht Mefultate der Erziehung, die fie in der feanzöftfchen Penfion genoffen hatte! Wer war ihr Mentor, ihr geiftiger Führer gewwefen ? So forgfam er auch Umſchan hielt er fah niemanden, der es hätte fein können,

Ganz allmählich dachte er Ihr das Geſtaͤndnis zu ents Ioden.

„Hör einmal, Wera, ich wollte Dich etwas fragen,“ er in gleichguͤltigem Tone. „Leontij erwaͤhnte heute, du haͤtteſt die Buͤcher in meiner Bibliothek geleſen, und du haſt doch nie von Ihnen geſprochen! Iſts richtis, was er ſagte ?“

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„3a, einige davon habe Ich gelefen. Warum?” „Mit wen haft du fie gelefen, mit Koslow ?“ „Einzelne ja. Er hat mir den Inhalt einiger Werte erklärt. Andere babe ich allein gelefen, noch andere mit dem Prieſter, dem Manne Natafchas. . .” „Welche Bücher haft du mit dem Priefter gelefen ?” „Ich erinnere mich jetzt nicht mehr... Die Kirchenvaͤter sum Beiſpiel. Er bat fie mir und Nataſcha erläutert, und ich bin ihm dafür fehr verpflichtet... Auch Spinoga babe ich mit ihm gelefen.... und Boltaire. . .* Raiſki lachte unwillkuͤrlichh „Woruͤber lachen Sie?“ fragte ſie. „Welch ein Übergang von den Kirchenvaͤtern zu Spinoza und Voltaire! Die Bibliothek enthaͤlt ja auch ſaͤmtliche Enzykllopaͤdiſten, haft du die auch gelefen ?“ „Mein, das wäre doch zu viel verlangt! Nikolaj Iwano⸗ witſch hat einiges Davon gelefen und mir und Natafcha den Inhalt mitgeteilt... „Wie komme es, daß ihr nicht bis zu Feuerbach gelangt feid, und zu feinen Geiſtesverwandten ... den Sojialiſten und Materialiften?. . .* „Auch zu denen find wir gelangt,” fagte fie mit ſchwachem kaͤcheln „das heißt nicht ich, und auch nicht Natafıha, fondern eben nur ihr Mann. Er bat ung, einzelne Stellen ang; sufchreiben, die er mit dem Bleiſtift begeichnet hatte...“ „Weshalb?“ | „Er wollte fie wohl für irgendeinen Journalaufſatz oder ſonſtwie verwenden, ich weiß das nicht mehr... .” „In ber Bibliothek meines Vaters find diefe neuen Bücher nicht vorhanden. Woher hattet ihr fie?” fragte Raiſki lebhaft und fpigte dabei die Ohren, Sie ſchwieg. | .

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„Vielleicht von jenem unter Pollzelaufſicht ſtehenden Ver⸗ bannten, dem du damals geholfen haft? Erinnerft du dich nicht? Du fehriebft mie von ihm...”

Sie hörte nicht auf ihn, fondern ging nachdenklich ſchwei⸗ gend weiter,

„Dun börft nicht zu, Wiera ?”

„Wie? Doc, ich höre...“ fagte fie, aus ihrem Hinbruͤten erwachend . „Wo ich die Buͤcher herbekam? Run, fo von dem einen und andern hier in ber Stadt..."

„Wolochow hat diefe Bücher hier verteilt . . .“ bemerkte er.

„Kann fein... Ich babe fie von den Lehrern befoms „Iſt vielleicht einer von den Lehrern, irgendein Mr. Charles, im Spiel?” ging's ihm duch den Kopf.

„Was hält denn Nikolaj Iwanowitſch von Spinoza und allen diefen Autoren?”

„Sehe viel; ich habe mir nur wenig Davon gemerkt... .“ ‚Was fagte er von ihnen?“ fuhr Raiſki eindringlich

fort

„x bezeichnete ihre Sqriften als Verſuche ſtolzer Geiſter, der Wahrheit aus dem Wege zu gehen, ſich neben der Wahrheit her eigene Seitenwege zu ſuchen er meinte aber, daß ‚se doch wieder alle zum Hauptwege zuruͤd⸗ führen...‘

‚Was fagte er fonft noch?“

„Was er fonft noch fagte? Ich weiß das nicht mehr fo genau. Er meinte unter anderm, daß alle diefe Werfuche nur der Sache der Wahrheit bienen, daß fie gleichfam im Feuer Iäutern. Es fei dies ein unvermeidlicher Kampf, ohne den der Sieg und die Herrfchaft der Wahrheit nicht von Beltand fein würden... Er dat fo viel und fo vieler, let in dieſem Sinne geredet! ...“

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„Und bie Stage des Pilatus, mas Wahrheit ſei hat er die nicht beantwortet ?* „Ja er fah fie dort” fagte fie, nach der Kirche zuruͤck⸗ weiſend „wo wir ſoeben waren... Aber das wußte ih auch ohne ihn...“ „And du meinft, daß er recht hattet...” fragte er, in dem Beſtreben, wenigſtens einen flüchtigen Blick in ihre Seele zu werfen. „Ich meine es nicht nur, fondern ich glaube feſt, daß er recht hat. Und Sie?” fragte fie lebhaft, während fie ſich nah ihm ummwanbte. Er nickte bejahend mit dem Kopfe. „Barum fragen Ste mich nach diefen Dingen ?“ „Es gibt doch Leute, die das alles nicht glauben; ich wollte wiſſen, auf welchem Standpunkte du ſtehſt ...“ „Ich meine doch, ich habe Sie nie daruͤber im Zweifel gelaſſen. Ste haben mich oft im Gebet geſehen ...“ „a, Doch hätte ich dich gern laut beten hören. Sag’ einmal um was bitteſt du eigentlich, Wiera ... für wen?.. .” „Fuͤr die Ungläubigen .. .“ „So... und ich dachte, du betefl, daß dein Kummer, beine Unruhe von die weichen möge...”

- „Bein Summer beruht eben darin...“ fläflerte fie fo leife, daß er ihre Worte nicht hörte. Als fie an der Kapelle voruͤberkamen, blieb fie einen Augen⸗ blick davor fliehen. Es war dunkel in dem Heinen Raume. Mit einem heimlichen Seufjer ging fle weiter, nach dem Garten gu, und Immer langfamer ging fie. Als fie an dag alte Hans gelangt war, machte fie Halt und bat Raiſki duch ein Kopfniden, naͤherzukommen. „Hören Sie, was ich Ihnen fage . ..” begann fie leife und unentfchloffen, als müßte fie fih Zwang antun.

IE 424 ÜH „Sprich, Wiera ...“ „Ste ſagten...“ fuhr fie noch leiſer fort „Das ſicherſte Mit⸗ tel gegen diefe ... Unruhe. .. fet, nicht bahin zu geben...” Sie zeigte nach ber Schlucht Hin. „Allerdings Ich weiß Kein beſſeres Mittel...“ „Ih wollte Sie nun bitten... .“ Sie war fiehengeblieben und hielt ihn am Saume des Paletots feft. „Sprih nur, Wiera,” flüfterte auch er, in leichter Un⸗ gebuld zitternd, wie in fchlimmer Vorahnung. „Geſtern noch dachte ih nur an mich, an meinen eigenen Schmerz und Kummer; heute aber gehört dir allein mein ganzes Denken und Sinnen ob Ich die nicht eine Laft abnehmen, die beim Loͤſen eines Knotens behilflich fein, bich vielleicht retten kann ...“ „sa, helfen Sie mir...“ fagte fie, während fie mit Ihrem Taſchentuche die Tränen fortwifchte, die Ihe in die Augen gefreten waren. „Ah bin fo ſchwach... fo krank... meine Kraft reicht nicht zu ...“ „Würde Tantchen nicht doch noch befferen Rat willen alg ih? Sei offen gegen fie, Wiera; fie iſt eine Stan, fie wird deinen Kummer vielleicht beffer verſtehen ...“ Wiera preßte das. Taſchentuch noch fefter an ihre Augen und fehüttelte abwehrend den Kopf. „Nein, fie verfteht das nit... fie bat nichts der Art kennen gelernt...” | „Was kann ich alfo für dich tun? ... Sag’ mir alles...“ „Fragen Sie mich nicht, Bruder, ich kann Ihnen nicht alles mitteilen. Ich wuͤrde es von Herzen gern fagen, Tantchen ſowohl wie Ihnen... und ich werde es auch einmal fun... wenn alles we ft... jest aber ver; mag ich’8 nicht...

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„Wie kann ich bie aber helfen, wenn ich weder von deinem Kummer noch von der drohenden Gefahr etwas Näheres weiß? Entbede dich mir, dann wird die nüchterne Analyfe eines fremden Verflandes deine Zweifel zerſtreuen, vielleicht auch die Schwierigkeiten befeitigen und dich auf glatte, ruhige Bahn surüdführen... Es genügt zuweilen, daß man feine Lage Har und nüchtern uͤberſchaue dag allein ſchon ſchafft Erleichterung. Und wenn du felbft dich nicht ſtark genug dazu fühlft, dann laß mich die Sachlage prüfen ! Du weißt, daß zwei Köpfe oft Eüger find als einer...” „Hier bebarf e8 Feiner Köpfe, keiner Analyfe . ..” fagte fie faft verzweifelnd „es iſt auch nicht nötig, mich auf ruhige Bahnen zu lenken... alle Worte find überfläffig...“

„Wie vermag ich dir alfo zu helfen?”

Sie ſah ihn aus naͤchſter Nähe mit tränenerfällten Yugen an.

Verlafien Sie mich nicht, verwenden Sie fein Auge von mir,” flüfterte fie. „Und wenn dort unten” fie zeigte nah der Schlucht „wieder der Schuß fälle.... dann feien Ste an meiner Seite... Laffen Sie mich nicht Hin, fperren Ste mich ein: mit Gewalt, wenn eg fein muß... So weit ift e8 mit mir gekommen!“ fläfterte fie, wie aber ſich ſelbſt entfeßt, warf versweifelnd den Kopf suräd, als wollte fie einen Seufzer unterbrüäden, und richtete ſich dann plöglich wieder auf. „Und vor allem...” fprach fie feife weiter „fprechen Sie nie mit einem Menfchen darüber, auch mit mir felbft nicht! Das tft alles, was Sie für mich tun koͤnnen darum habe ich Sie zurüädgehalten ! Ich Bin eine abſcheuliche Egoiftin, ich habe Ste in Ihren Dänen geſtoͤrt ... Aber ich fühlte, daß ich ſchwach wurde ... ich hatte fonft keinen Menfchen, Tantchen hätte mich nicht verftanden. ... Sie allein... verzeihen Ste mir!“

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„Du haft wohl daran getan,” fagte er voll Eifer. „Vers füge gang Aber mich Ich habe fett alles begriffen und bin bereit, für immer hiergubleiben, nur um bich zu beruhigen, wenn bie das wirflih beine Ruhe wieders gibt ...“

„m acht Tagen werben die Schuͤſſe für Immer aufhören,“ fagte fie, ihre Tränen mit bem Tuche trocknend.

Ste nahm feine beiden Hände und drädte fie; dann ging fie, ohne ſich umzuſehen, nach ihrem Zimmer leife, mit ungleihmäßigen Schritten, flieg fie, fih am Geländer feſt⸗ baltend, die Treppe hinauf.

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Zehntes Kapitel

wei Tage vergingen. Des Morgens ſah Raiſki Wiera

faft gar nicht unter vier Augen. Ste erfchlen zum Mittageflen, trant abends zuſammen mit den andern ben Tee, ſprach über allerhand gleichgältige Dinge und fhten nur zuweilen ein wenig ermuͤdet. Raiſki hatte wieder feinen Roman vorgenommen und aller, hand Eintragungen gemacht, dann hatte er Koslow bes ſucht und war anf einen Augenblid beim Gouverneur und noch zwei oder drei Leuten in ber Stadt gewefen, deren nähere Bekanntfchaft er gemacht hatte. Den Abend vers brachte er im Garten, wo er bemüht war, Wiera ihrer Bitte gemäß nicht einen Augenblid aus den Augen zu laffen, und auf jeden Laut in ber Schlucht unten laufchte. Er faß auf ber Bank am Rande der Schlucht, oder ging in den Alleen fpazieren, und erft gegen Mitternacht hörte fein anſtrengendes Amt, diefe fletige Erwartung, im nächften Augenblid den Schuß zu hören, auf. Er wünfchte nun förmlich, ihm zu hören, damit ihm Gelegenheit geboten würde, Wiera energifche Hilfe gu leiften und fie für immer aus ihrer Not zu erretten. Doch die beiden Tage waren, wie gefagt, ganz ſtill vers

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gangen; bis sum Ablauf der Frift, bie fie felbft genannt hatte, waren noch fünf Tage hin. Raiſki nahm an, daß Wiera an Marfinkas Geburtstage, der in zwei Tagen flattfinden follte, ſich ſchwerlich von den Ihrigen trennen würde und wenn dann am Tage darauf Marfinta mit Wikentjew und deſſen Mutter, wie e8 geplant war, fich nach Koltſchino begab, würde es Wiera kaum über fih gewinnen, die Großtante allein zu laſſen. So würbe nach feiner Ans nahme die Woche bahingehen und mit ihe auch die finftere Wolke verſchwinden.

Beim Mittageffen bat Wera ihn, doch am Abend zu ihr gu kommen fie wollte Ihm, fagte fie, einen Auftrag geben. Als er zu ihre hinaufkam, war fie eben im Begriff, einen Spaziergang zu machen. Sie fihlen geweint zu haben, ihre Nerven waren offenbar flark angegriffen, ihre Bes wegungen hatten etwas Welkes, ihr Gang etwas Schleppens des. Er reichte ihre den Arm, und ba fie vom Garten aus den Weg nach dem Felde einfchlug, glaubte er, fie wolle zur Kapelle, und er führte fie Aber die Wiefe und bie Felder dorthin.

Sie folgte ihm ſchweigend, in tiefer Nachdenklichkeit, aus der fie erft vor ber Kapelle erwachte. Sie trat ein und ſchaute anf das nachdenkliche Geficht des Heilands.

„Ich glaube, Wiera du haft einen Helfer, der ftärker iſt als ich,” ſagte Raiſki, am Eingange der Kapelle flehens bleibend. „Du bebarfft meines Beiftandes nicht... . du wirft auch ohne mich nicht dorthin gehen... .“

Sie nidte beipflichtend mit dem Kopfe und fehlen felbft in dem Blide des Gekrenzigten Kraft und Ermutigung, Stäße und Hilfe zu fuchen. Aber diefer Blid blieb nachdenklich und ruhig wie immer, als fähe er teilnahmlos ihren Kampf, ohne ihr zu helfen ober fie zuruͤczuhalten.

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Ein Seufjer entflieg ihrer Bruſt.

„3% gehe nicht!” fagte fie leiſe, doch beſtimmt, wahrend fie die Augen von dem Bilde abwandte.

Meder ein Gebet noch ein Begehren vermochte Raiffi von ihrem Gefichte absulefen. Ein Ausdruck tiefer Muͤdigkeit und Sleichguͤltigkeit, vielleicht auch flillee Demut lag auf ihrem Geſichte.

„Wir wollen nach Haufe gehen, du Bift fo leicht angegogen,* fagte Raiſki.

Ste flimmte ihm bei.

„Was für ein Auftrag war es denn, ben bu mir geben wollte ?” fragte er.

„Ach ja,“ fiel ihr ein, und fie holte Ihe Portemonnaie hervor. „Holen Sie mir doch, Bitte, beim Juwelier Schmidt den Schmuck, den ich vorige Woche als Geburtstagsgefchent für Marfinka ausgefucht Habe. Er follte noch einige Perlen einfegen, bie ih ihm aus meinem Schmudkaften gab, und ihren Namen eingravieren. Suter iſt das Geld.”

Er nahm das Geld, das fie ihm reichte,

„Das iſt aber noch nicht alles. Am Geburtstage ſelbſt, alfo Abermorgen, gang zeitig früh. . . iſt's Ihnen aber nicht su früh, um acht Uhr aufzuſtehen ?“

„Durchaus nicht wenn du es wuͤnſchſt, bleibe Ich Die ganze Naht auf, gehe überhaupt nicht ſchlafen ...“

„Gut alfo dann gehen Sie doch dahin, nach der großen Gärtnerei, die Ahnen ja bekannt if. Ich Habe mit dem Gaͤrtner ſchon gefprochen, fuchen Sie mir im Gewaͤchshauſe die ſchoͤnſten Blumen, die er nur hat, zu einem Stranße sufammen und fhiden Ste mir ihn auf mein Simmer, bevor Marfinka noch auffteht... Ich verlaſſe mich auf Ihren Gefhmad..

„Steh doch! Ich mache alſo Fortſchritte in deinem Vertrauen

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Wiera!“ fagte Raiſli lachend. „Jetzt verläßt du dich ſchon auf meinen Gefhmad und auf mein Ehrenwort, und ſogar Geld Haft du mir anvertraut...” . Ich würbe das alles ſelbſt tun, aber ih kaun nicht... ich fühle mid fo ſchwach, fo muͤde!...“ fügte fie hinzu, während fie Aber feinen Scherz zu lächeln verfuchte, Er holte am naͤchſten Morgen den beftellten Schmud von Schmidt ab und überlegte, was für Blumen zu bem Strauße für Marfinka verwandt werden follten. Es war nicht Teicht, die Auswahl zu treffen, denn die Jahreszeit war bereits ſtark vorgerüdt, und die meiflen Blumen waren verblüht. Dann fuchte er eine Damenuhr mit Emaildedel nebft goldener Kette aus, die er ſelbſt Marfinka ſchenken wollte, Er mußte gu diefem Zwed bei Tie Nikonytſch vorfprechen und fih auf einen Tag zweihundert Rubel leihen, um bem Kampfe aus dem Wege zu gehen, ben es gekoftet Hätte, wenn er bag Geld von der Großtante verlangt haben würde: fie hätte ihn nicht nur einen Verſchwender gefcholten, fondern aller Wahrſcheinlichkeit nach auch fein Geheimnis vorher verraten. Bei Tie Nikonytſch fah er eine prächtige Damentoilette in roſa Tall und Spigen, mit einem Spiegel, ber von einer Porgellangirlande aus Amoretten und Blumen ums tankt war, ein Kunftwerf von feinem Gefhmad aus der Manufaktur von Stores. EN „Was ift das? Moher haben Sie diefes koſtbare Städ?“ fagte er, während er mit bewunderndem Künftlerauge bie Gruppen der Amoretten, bie Blumen und Farben betrach⸗ tete. „Das tft ja herrlich I”

„Es iſt für Marfa Waſſiljewna,“ ſagte Tit Nikonytſch mit einem liebenswuͤrdigen Laͤcheln. „Ich freue mich ſehr,

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daß es Ahnen gefälle Sie find ein Kenner. Ahr Ges ſchmack bürgt mir dafür, daß das Gefchent in den Augen des lieben Geburtstagstindes Gnade finden wird. Wag für ein treffliches Mädchen, und wie reigend! Diefe Rofen hier kann man wirklich als ihr Ebenbild bezeichnen. Sie wird in diefem Spiegel ihr begauberndes Gefichtchen fehen, und die Heinen Liebesgätter werben ihr gulächeln ...“ „Woher haben Sie denn diefe Rarität ?”

„sch bitte Sie, jebenfalld vor morgen weber mit Tatjana Markowna noch mit Marfa Waſſiljewna davon gu reden,” fagte Tit Nikonytſch, ohne auf Raiſkis Frage gu achten. „Das koſtet doch wenigſtens taufend Rubel! Aber wo haben Sie es herbekommen?“

„Bünftaufend Rubel in Affignaten hat mein feliger Groß⸗ papa dafür bezahlt, e8 gehörte zur Mitgift meiner Mutter. Es wurde bis jegt auf meinem Erbgute bewahrt, im Schlafzimmer der Verftorbenen. Ich habe ed im vorigen Monat ganz heimlich hierher transportieren laſſen; andert⸗ halb Hundert Werft weit wurbe es von ſechs Leuten, bie fih gegenfeitig ablöften, auf den Armen getragen, damit ed nicht befchädigt würde. Ach habe nur den Tuͤll erneuern laffen, die Spißen find gleichfalls alt ganz vergilbt, fehen Sie doch! Die Damen fhägen dag fehr, während unfereing nicht fo viel Wert darauf legt,” fügte er laͤchelnd Hinzu. „Und was wird bie Großtante fagen ?” bemerkte Raiſki. „Dhne Sturm wird es natürlich nicht abgehen, ich habe ſchon Angſt, doch ich Hoffe, in ihrer Hergensgüte wird fie mir verzeihen. Sch erlaube mir, Ihnen gu bemerken, daß ich bie beiden Jungen Damen fo herzlich liebe, als wenn fie meine eigenen Töchter wären,” fügte er gerührt hinzu „ich babe fie beide auf den Knien gefchautelt, habe fie mit Tatjana Markowna sufammen lefen und fchreiben gelehrt;

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ih war hier wie in der Familie. Verraten Sie mich fa nicht,” fläfterte ee „im Vertrauen will ich Ihnen noch fagen, daß ich auch für Wiera Waſſiljewna, fobald fie fich verheiratet, ein gleichwertiges Geſchenk bereifhalte, dag fie hoffentlich nicht verfehmähen wird ...“

Er zeigte Raiſki ein maffio filbernes Tiſchſervice für zwoͤlf Derfonen, von alter, kuͤnſtleriſch geſchmackvoller Aus; führung. |

„Ihnen, ald ihrem Bender und Freunde, brauche ich es nicht zu verheimlichen,” flüfterte er, „baß ich, ebenfo tie Tatjana Markowna, Wiera von Herzen gern eine gute und reiche Partie wänfche, wie fie fie durchaus verbient: wir haben bemerkt,” fügte er noch leifer Hinzu, „daß ein in jeder Beziehung wärdiger Kavalier, Ivan Iwanytſch Tufchin, ganz besaubert iſt von ihr, wie das auch nicht anders er; wartet werben kann...” | Raiſki feufste und kehrte nach Haufe zuruͤck. Er fand dort Wikentjew mit feiner Mutter, die von Ihrem Gute zu Mars finkas Ehrentage herübergelommen war, ferner Paulina Karpowna, noch zwei ober drei Säfte aus der Stadt und Openkin. |

Der letztere ergoß bereits die Wogen feiner feminariftifchen Berebfamteit über die Geſellſchaft, verfiel dabei haufig in einen weinerlihen Ton und brachte immer von neuem Marfinka feine Gluͤckwuͤnſche zur bevorſtehenden Hochzeit bar.

Die Großtante konnte ſich nicht entfchließen, ihn mit den anftändigen Säften zuſammen zum Mittageffen zu behalten, und beauftragte Wikentjew, ihm fchon beim Fruͤhſtuͤck dag nötige Duantum von Fluͤſſigkeiten eingupumpen, ein Auf⸗ trag, deſſen Wikentjew fich fo gewiffenhaft entledigte, daß Openkin bereits gegen brei Uhr total fertig war und in

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dem leeren Saale des alten Haufes in feflem Schlafe lag. Die Säfte frennten fih gegen fieben Uhr abends. Die Sroßtante verkroch fih mit der Mutter des Braͤutigams ganz und gar hinter die Ausſtattung der Braut, und beide faßen dann ſtundenlang im Kabinett Tatjana Markownas und führten enblofe Reben, Das junge Brautpaar hatte Inzwifchen wohl fünfmal ben Park und Hain durchquert und war dann ind Dorf ges sangen. Wikentjew trug ein ganzes Bündel von Sachen, das ihm Marfinka aufgeladen hatte, und mit bem er, während fie über das Feld hinfchritten, Fangball fpielte. Marfinka befuchte jede Hütte, begrüßte die Bäuerinnen, war zartlih zu den Kindern, wuſch dem einen und andern die Dhren fauber, fohenkte einigen der Mütter Stoff zu Hemdchen für die Kinder oder Kleiderfioff für die älteren Mädchen, verteilte auch zwei Paar Schuhe und gab ben - Befchenkten dabei den Rat, ja nicht barfuß in den Pfügen herumzuwaten. Der halbidiotiſchen Agaſchka ſchenkte ſie einen abgetrage⸗ nen Seelenwaͤrmer, den ſie ſich von der Hofmagd Ulita ausgebeten hatte, wofuͤr ſie dieſer einen neuen zu ſchenken verſprach. Sie ſchaͤrfte Agaſchka ein, ja nicht in dem kalten Herbſtwetter im bloßen Rock herumzulaufen, und verſprach, ihr auch ein Paar Schuhe zu ſchicken. Dem laqhmen alten Silpytſch ſchenkte fie einen Haufen Kupfermuͤnzen im Werte eines Rubels, die Silytſch mit gierigen Händen zuſammenraffte, als Wikentjew fie unter lautem Krachen und Lachen, die Taſchen um und um wendend, auf die Ofenbank rollen ließ. Mit vor Habgier zitternden Haͤnden begann Silytſch die Muͤnzen in aller⸗ hand Fetzen und Lappen einzuwickeln und in ſeine Taſchen

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zu fleden, eine davon nahm er fogar in ben Mund. Aber Marfinta drohte ihm, fie würde ihm das Geld wieder wegnehmen und nie wieberlommen, wenn er es verftiede und, ſtatt fih dafür etwas zu eflen gu kaufen, bei den Leuten herumbettle. |

„Du unfer ſchoͤnes Kindchen, du Engel Gottes, möge ber Herr dir’8 lohnen!“ fo Hangen die Wänfche der Baͤue⸗ rinnen, wenn fie fih von ihnen verabfchiedete.

Die Bauern aber Tächelten im ſtillen und fpöttelten fill für fih: „Das gnaͤdige Fräulein vertreibt ſich bie Zeit, fpaßt mit ben MWeibern und Kindern. Was für dummen Kram fie ihnen ba mitbringt was follen fie damit ans fangen ?”

Und fie begudten geringfehäßig bie bunten Kattunhemd; hen, die merkwürdigen Heinen Gürtel und bie Heinen Schuhen.

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Elftes Kapitel

m Abend war das Haus heil erleuchter. Die Großs

tante wußte nicht, wie fie thre zukünftige Verwandts haft am fchönften und beften bewirten follte. Sie ließ für Marfin kas Schwiegermutter in dem kleinen Salon ein Daradebett aufftellen, das faft bis an die Dede reichte und wie ein Katafall ausſah. Marfinka fang und fpielte den ganzen Abend mit Wikentjew in ihren Räumen, dann wurden fie beide ſtill und vertieften fich in die Lektüre eines neuen Romans, Nur Wikentjew unterbrach dag Schweis gen immer wieder durch feine Bemerkungen und Späße. Raiſkis Fenſter aber blieben dunkel. Er war fogleich nach dem Mittageffen weggesangen und zum Tee nicht zuruͤck⸗ gekehrt. Der Mond uͤbergoß das neue Haus mit feinem Lichte, während das alte im Schatten lag. Auf dem Hofe, in ber Rüde, in den Leuteftuben blieben die Mägde und Diener laͤnger als fonft auf. Auch fie Hatten Säfte: der Kutfcher und ber Lakai von Koltfching, die mit Wikentjews Mutter gekommen waren, heifhten Bewirtung. In der Küche war es bis tief in die Nacht hinein heil Das Abendbrot wurde bereitet, und einige Gerichte für bad

38”

GG 436 O5 morgige Mittagefien ſtanden gleichfalls fchon auf dem

Seuer.

Miera faß feit fieben Uhr abends in ihrem Zimmer, zuerſt im Halbbuntel, und dann beim ſchwachen Schein einer einzigen Kerze. Den Kopf auf den Ellbogen geftügt, faß fie am Tifche, nachdenklich in einem vor ihre liegenden Buche blätternd, in das fie jedoch nicht hineinſah. a Ihre Augen blidten über das Buch hinweg, irgendwohin in die Ferne. Um die Schultern hatte fie ein großes weißes Molltuch gelegt, das fie gegen die durch das offene Senfter eindringende fühle Herbftluft ſchuͤtzte. Sie hatte noch nicht die Winterfenfter einfegen laffen und hielt dag Fenſter big ſpaͤt in die Nacht hinein offen.

Wohl eine halbe Stunde mochte fie dageſeſſen haben. Dann erhob fie fih langfam, legte dad Buch zur Seite, trat an das Fenfter und blidte, fih auf die Ellenbogen flögend, zum Himmel und gu bem hell erleuchteten neuen Haufe hinüber. Sie laufchte auf die Schritte der im Hofe umhergehenden Leute, richtete fih dann empor und er⸗ fhauerte vor Kälte,

Sie machte fih daran, das Fenſter gu fchließen, und hatte foeben den einen Flügel angesogen, als mitten burch bie Nachtftille ans der Tiefe der Schlucht ein Schuß ertoͤnte. Sie fuhr zuſammen, ſank jaͤh auf ben Stuhl und ließ den Kopf finfen. Dann erhob fie fich, blickte ringsum und fehritt mit ganz verwandeltem Gefihtsausdrud nach bem Tiſche, auf dem die Kerze fand. Dort blieb fie ſtehen. Angft und Unruhe blidien aus ihren Augen. Sie faßte mehrmals mit ber Hand nach ihrer Stien und ließ fih am Tiſche nieder, um jedoch fhon im naͤchſten Augenblid wieder aufjuftehen. Ste riß fehnell das Tuch von ben Schultern und warf es auf ihe Bett, ganz in die Ede

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hinter den Vorhang, öffnete noch ſchneller das Kleiders fpind, ſchloß es wieder, fuchte mit ben Augen auf den Stühlen und auf dem Diwan, und als fie nicht fand, was ſie fuchte, fank fie, anfcheinend ganz kraftlos, auf einen Stuhl. Endlich blieben Ihre Augen an einem Stuhlruͤcken haften, Aber dem das Ihe von Tit Nikonytſch gefchenkte Ziegen, haartuch hing. Sie ſtuͤrzte darauf zu und ſchlang es haflig mit ber einen Hand um den Kopf, während die andere Hand mechaniſch wieder das Kleiderfpind äffnete und wie im Sieber zitternd Bald diefen, bald jenen Mantel von den Riegeln nahm. Ste warf einen flüchtigen Blick auf den Mantel, der ihr zufällig in die Hanb geraten war, fehlenderte ihn Argerlich su Boden, griff einen anderen heraus, warf Ihn gleichfalls hin, nahm einen dritten und vierten, durchſuchte das ganze Spind und bemühte fih während all diefer Zeit, mit ber einen Hand ſich das Kopftuch umzubinden. Schließlich flürzte fie zum Tifche Hin, ergriff die Kerze und leuchtete damit in das Spind hinein. Ganz außer fich vor. Ungeduld, nahm fie haſtig die Mantille mit dem weißen Belag, dann eine zweite, fchwarsfeidene Mantille, Teste zuerſt die eine und darüber die andere an und warf das Ziegenhaartuh in die Ede, Ohne das Spind zu fehließen, ſchritt fie über den am Boden liegenden Kleiverhaufen hinweg, Töfchte bie Kerze aus, ſchluͤpfte aus ber Tür und huſchte, ohne diefe zu ſchließen, gleih einer Maus mit unhoͤrbarem Schritt die Treppe Hinunter, VF Sie ſtahl ſich nach den uͤber den Hofrand gebreiteten Schat⸗ ter hin und gelangte von da aus nach ber. dunklen Allee. Sie ſchwebte mehr, als fie ging; wo fie über eine boleuch⸗

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tete Stelle hinweg mußte, huſchte ihre dunkle Silhouette ganz leicht darüber hin, daß der Mond kaum Zeit fand, fie gu beſtrahlen.

Als fie aus der Allee herauskam, mäßigte fie ihren Schritt, und an dem Graben, ber den Garten vom Haine trennte, blieb fie einen Augenblid fliehen, um Atem gu fchöpfen. Dann überfchritt fie den Graben, bog, an Ihrer Liehlingss bank vorübergehend, ins Gebäfh ein und kam an ben Rand der Schlucht. Ste hob mit beiden Haͤnden ihe Kleid auf, um hinunterzugehen ...

Bor the fand plöglich, wie aus dem Boden gewachfen, Boris Raiſki gerade zwiſchen ihre und dem Abftieg zur Schlucht ſtand er hoc aufgerihtet da. Sie war wie gu Stein erflarrt.

„Wohin, Wiera?“ fragte er.

Ste ſchwieg.

„Kehr’ um!”

Er faßte nach ihrer Hand. Ste gab fie Ihm nicht und wollte an ihm voräbergehen.

„Wohin gehft du, Wiera? Was willft du dort?”

„Ich muß... dahin, zum leßtenmal... Ih muß Abs febied nehmen ...“ flüfterte fie, und es lag wie ein ſcham⸗ volles Flehen in ihren Worten. „Lafien Sie mich, Bruder ... Ich kehre fogleich zuräd, erwarten Sie mich hier... nur eine Minute... Bleiben Sie bier auf diefer Bank ſitzen ...”

Er faßte kräftig nach Ihrer Hand und ließ fie nicht los. „Laſſen Sie mich, es ſchmerzt mich! Sie tun mir weh!“ tief fie im Flüfterton, während fie ihre Hand aus der trmnen zu gerren fuchte.

Er ließ fie nicht 108. Ein Kampf entſpann fih zwiſchen ihnen.

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„Ste können mich nicht zwingen!...“ fagte fie, die Zähne feft aufeinander beißend, und mit einem Aufgebot an Kraft, das er ihe nicht zugetraut hätte, entriß fie ihm ihre Hand und wollte an ihm vorübereilen.

Er umfaßte ihre Taille, führte fie zur Bank, ſetzte fie dort nieder und nahm neben ihr Plab.

„Wie grob, wie haͤßlich iſt dag!” fagte fie voll Schmerz und Zorn und wandte fich faft mit Abfchen von Ihm hinweg. Ich wollte, du Tießeft dich durch eine andere Kraft, auf andere Weife zuruͤckhalten, Wiera I”

„Wovor surüdhalten ?” fragte fie faft grob.

„Vielleicht vor dem Untergange .. ."

„Wie kann ich untergehen, wenn ich es nicht will?“

„Du willſt e8 vielleicht nicht und doch gefchieht ed... „” „Und wenn ich untergehen will?”

Er ſchwieg.

„Bon feinem Untergang iſt bier die Nede... Um eine legte Sufammentunft, einen Abfchieb handelt es fih ... .“ „Es bedarf keiner Zufammenkunft, wenn es fih um ben Abſchied handelt...”

„Doch bedarf es Ihrer und fie wird flattfinden! Viel⸗ feicht eine Stunde, einen Tag fpäter jedenfalls aber wird diefe Zuſammenkunft flattfinden! Rufen Sie das ganze Hofgefinde, die ganze Stadt zuſammen, nehmen Sie eine. Kompanie Soldaten dazu nichts vermag mich zuruͤckzuhalten ...“

Sie ließ die ſchwarze Mantille ganz auf die Schultern herabſinken und begann krampfhaft daran zu zerren.

Ein zweiter Schuß ertoͤnte. Sie fuhr empor, doch zwei kraͤftige Haͤnde legten ſich auf ihre Schultern und druͤckten fie auf die Bank nieder. Ste maß Raiſki mit einem zor⸗ nigen Slide und fehättelte fih vor Wut.

„Welchen Lohn erwarten Ste von mir für biefe Rettung meiner Tugend ?” ziſchte fie.

Er ſchwieg und beobachtete gefpannt jebe Ihrer Bewegungen. Sie lachte voll Ingrimm.

„Laflen Ste mich los!“ fagte fie nach einer Welle, plöglich in einen fanften Ton verfallend.

Er fchüttelte verneinend ben Kopf.

„Bender !” fprach fie nach einem Weilchen noch fanfter, während fie ihre Hand auf feine Schulter legte „wenn Sie jemals dafaßen wie auf glühenden Kohlen, vor Angſt und Ungeduld in einem Augenblid hundertmal fterbend .... wenn das Gluͤck Ihnen je zum Streifen nahe war und zu entſchluͤpfen drohte... wenn Ihr Herz mit allen Safern, aller Kraft nach dem Gluͤcke hinftrebte.... wenn Sie je einen Augenblid kennen gelernt haben, in dem Ihnen nur noch eine Teste Hoffnung, ein legter Teuchtender Funke bfieb 0, dann gebenten Sie jetzt dieſes Augenblicks!... Dies ift für mich folch ein Augenblid! Er wird entfliehen, wird alles unwiederbringlich mit fih nehmen...“

„So dankte doch Gott, Wiera, daß Ih dba bin! Komm zur Beſinnung, fuch” wieder Har zu denken und du wirft ſelbſt nicht dahin gehen! Wenn die Kranken In ihren Bieberqualen um Eis bitten, um ihren Durſt gu ftillen, dann verweigert man es ihnen. Als du geflern eine Hare, ruhige Stunde hatteft; haft du das felbft alles voraus⸗ gefehen und haft mir das einfachfte und wirkſamſte Mittel dagegen ‚angegeben: ich follte dich nicht hingehen laſſen, fagteft du und ich laſſe dich nicht hingehen... .”

Ste fant an feiner Seite in die Knie.

„zwingen Sie mich nicht! Treiben Sie es nicht fo weit, daß Ih Sie dann nachträglich mein Lebtag verfluche!” flehte fie. „Vielleicht eriuartet mich dort mein Gefchidl... .” .

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„Dein Seſchick... erwartet dich dort, mo du es geftern ſuchteſt, Wera! Du glaubft an eine Vorfehung e8 gibt Fein anderes Geſchick...“ | Sie wurde plöglich fill und ließ den Kopf ſinken.

„Ja,“ fagte fie bemütig „ja, Sie haben recht: ich glaube ... Über ich habe dort gefleht und gebeter, daß ein Lichts ſtrahl wenigſtens meinen Weg erleuchten moͤchte und ich habe nichts erreicht! Was ſoll ich tun? Ich weiß es nicht...”

Sie ſeufzte und erhob ſich von ben Knien.

„Geh nicht Hin!“ fagte er.

„Wenn aber die Vorfehung, dag Geſchick, an das ich glaube, mich ſelbſt dorthin entfenbet... Vielleicht Bin ich dort notwendig ?” fuhr fie fort, richtete fich auf und frat einen Schritt nach der Schlucht zu. „Was dort auch fein mag, halten Sie mich nicht mehr zuruͤck, mein Entſchluß iſt ges faßt. Ich fuͤhle, daß meine Schwaͤche voruͤber iſt. Ich habe meine Selbſtbeherrſchung wiedergewonnen, bin wieder ſtark. Dort wird nicht nur mein Geſchick entſchieden, ſondern auch das Geſchick eines andern. Wenn Sie jetzt mich und ihn durch eine unuͤberſchreitbare Kluft trennen wollen, ſo ſind Sie fuͤr die Folgen verantwortlich. Ich werde niemals Teoft finden, werde Ihnen flets die Schuld an dem Un gluͤck meines Lebens zuſchieben!... Wenn Sie mich jetzt zuruͤckhalten, werde ich gauben, daß eine erbaͤrmliche, kleine Leidenſchaft, eine Eitelkeit, die keine Rechte beſitzt, eine neidiſche Eiferſucht mein Gluͤck zerſtoͤrt hat daß Sie logen, als Sie die Freiheit predigten.“

Er wurde ſchwankend und trat einen Schritt zuräd. „Das iſt die Stimme ber Leidenſchaft, mit allen ihren Trugſchluͤſſen und Raͤuken,“ fagte er dann, fih ploͤtzlich faſſend. „Du nimmt jetzt ſchon zu ganz ‚verzweifelten

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Mitteln deine Zuflucht, Wiera. Erinnere dich, wie bu mich geftern, nach beinem Gebet, beſchworen haft, dich nicht

dahin sehen zu Tafien...! Wenn bu mich nun dafür verfluchft, daß ich die nachgegeben babe wen trifft dann die Verantwortung?”

Sie wurde wieder mutlos und fenkte traurig den Kopf. „Sag’ mir: wer ifl’82” fläfterte er.

„Wenn ich e8 fage werden Ste mich dann gehen laſſen ?” fragte fie plößlich Tebhaft, fih an dieſe unerwartet aufs tauchende Hoffnung feflammernd, und ihre Augen, die aus nächfter Nähe in die feinigen fchauten, wiederholten die Stage,

„Ich weiß es nicht, vielleicht...”

‚Nein, geben Ste Ihe Wort, daß Sie mich gehen laſſen

dann fage Ich, wer es if...”

Er ſchwankte noch Immer.

Da fiel plöglich unten in ber Schlucht der dritte Schuß. Sie fprang auf und wollte fortftärgen, doch hielt er fie an der Hand zurüuͤck.

„Komm, Wiera, komm laß uns nah Haufe geben, zur Großtante,“ fagte er nahdrädlich, faft in befehlendem Tone. „Entdede ihr alles...”

Do flatt zu antworten, begann fie, fih mit Gewalt von ihm loszumachen, fiel nieder, erhob fich wieder und zerrte an ihren Armen, die er feſtzuhalten ſuchte.

„Wenn Sie jemals im Leben glüdflich waren... dann

laffen Sie mi los!... Gie fagten zu mir: ‚Immer liebe du, liebe die Leidenfchaft ift fo fchön, fo Herrlich!“ fpra fie, vor Erregung ganz außer Atem. „Denken Sie an jene Augenblicke des Gluͤcks, das Sie genoffen, und laffen Ste auch mir dieſen einen Augenblid, diefen einen Abend... ih Bitte Sie um Chriſti willen!...“ fluͤſterte

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fie, die Hand wie nach einem Almofen augfiredend. „Auch Sie flehten einmal fo um Ehrifti willen, ich folle Ste nicht fortfagen . . . und Ich tat es nicht, willen Sie noch? Neichen Sie nun auch mir ein Almofen!... Ich werde Ahnen ‚niemals Vorwürfe machen, niemals... Sie haben alles getan eine Mutter hätte nicht mehr tun können doch nun laſſen Sie mich, ich will, Ih muß frei fein... Und möge ber, gu dem ich geftern gebetet Babe, mein Zeuge fein, daß es ber letzte Abend tft... ber legte! Ach werde niemals wieder nach der Schlucht gehen: glauben Sie mir ich werde biefen Schwur nie brechen! Erwarten Ste mich hier, ich bin fogleich wieder guräd, nur ein Wort babe Ich zu ſagen ...“

Er ließ ihre Hand fahren.

„Was redeft du nur, Wjera!“ fläflerte er voll Schreden. „Du biſt ganz von Sinnen! Wohin willft du denn ?” „Dahin ... noch einmal... den Wolf ſehen ... und Abs ſchied nehmen: ich will hören, was er mir gu fagen hat... vielleicht gibt er nah...” | Sie ftürzte nach dem Abhang zu, doch in dem Beſtreben, fich ihm gu entziehen, fiel fie gu Boden, und als fie wieder aufzuftehen fuchte, vermochte fie es nicht.

Sie firedte die Arme nach der Schlucht aus und fah mit flehendem Blide auf Raiſki.

Er nahm alle feine Kraft zuſammen, erftidte den Aufichrei feiner eigenen Dual in der Bruſt und bob fie auf.

„Du wirft abſtuͤrzen, es geht dba fo ſteil hinunter ...“ flüfterte ee „ich werde bir helfen... .”

Er trug fie faft ein Stud abwärts und febte fie dort, wo der Fußpfad begann, auf die Erde nieder.

Sie wandte fih nach ihm um und fah ihn groß an, mit einem Blide, in dem zugleich hoͤchſtes Erfiaunen und heißer

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Dank lag. Dann fant fie plöglich in bie Knie, ergriff feine Hand und preßte fie feſt an ihre Lippen...

„Daß war großmätig, Bruder! Das wird Ihnen Wiera nie vergeffen !” fagte fie, und vor Freude aufjauchzend, flörste fie wie ein aus dem Käfig befteiter Vogel ing. Gebuͤſch.

Er ließ ſich an derſelben Stelle, an der er ſtand, auf den Boden niedergleiten und horchte voll Schreck, mit pochen⸗ dem Herzen auf das Raſcheln der zur Seite gebogenen Zweige und das Krachen der duͤrren Reiſer unter ihren Süßen,

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Zmwölftes Kapitel

art Wolochow wartete In bem halb verfallenen Pas villon. Auf dem Tiſche lag feine Bäche und feine Muͤtze. Er felbft ging auf ben wenigen Brettern, die von dem Fußboden noch übrig waren, auf und ab. Wenn er auf bag eine Ende eines Brettes frat, ging dag andere Ende in bie Höhe und fiel geraͤuſchvoll nieder. „Berdbammte Hoͤllenmuſik!“ fagte er ärgerlich, duch bag Kappern ber Bretter gereizt, fette fich auf eine der Bänke, fügte die Ellbogen auf den Tifch und griff mit ben Hans den in fein dichtes Haar. Er tauchte eine Zigarette nach der andern, Wenn er ein Zuͤndholz anbrannte, fiel ein heller Schein auf fein Ges fiht. Er war bleich und fehlen erregt ober verärgert. Nach jedem Schuffe horchte er einige Minuten ing Didicht hinaus, Dann fohritt er ein Städ auf dem Fußmwege dahin und fpähte duch die Buͤſche offenbar erwartete er Wiera. Und als die Erwartete nicht kam, kehrte er wieder nach dem Pavillon zuruͤck, begann wieder über bie knarrenden Bretter binzufchreiten, fegte fih wieder auf die Bank, vergrub bie Hände in feinem Haar oder firedte fih auf

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einer der Bänke aus, wobei er nach Art ber Amerikaner die Beine auf ben Tifch legte.

Nah dem dritten Schuffe laufchte er ganze fieben Minuten, und als er noch immer nichts hörte, nahm fein Geficht einen fo finfteren Ausdrud an, daß er für einen Augenblick ganz alt erfchien. Dann hing er die Büchfe über bie Schulter und fchritt gögernd auf dem Pfade dahin, offenbar in der Abficht, fich zu entfernen. Doc lag noch immer etwas Zauderndes in feinem Gange, als hindere ihn die Dunkel⸗ heit am Gehen. Enblich feßte er entichlofien den Fuß vor, um auch wirklich den Heimweg anzutreten und ſtieß ganz unerwartet mit Wiera zuſammen.

Sie blieb fiehen, fuhr mit der Hand nah dem Herzen und konnte nur mit Mühe Atem holen.

Er nahm ihre Hand, und im Augenblid war ihre Unruhe verfehwunden. Ein jähes Gefühl der Freude durchs ſtroͤmte fie.

„Sie waren fonft immer fo pünktlich, Wera ich brauchte nie Pulver für drei Schüffe gu verſchwenden ...“ fagte er. „So flatt fih zu freuen, machen Sie mir Vorwürfe!” antwortete fie und entzog ihm die Hand.

„Ich fagte das ja nur, um ein Gefpräch zu beginnen: in Wirklichkeit bin ich ganz bin vor lauter Gluͤck. wie Raiſki...“

„Es ſcheint nicht fo... Wenn dem fo wäre, würden wir ung nicht heimlich hier in der Schlucht. treffen... D mein Gott I"

Sie ſeufzte tief auf.

„Wir würden vielmehr Häbfch artig bei Tantchen am Teetiſch ſitzen und warten, bis fie uns ihren Segen gibt...“ „Run und warum nicht?”

„Ah, was reben wir da von Dingen, die in das Reich

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ber Unmsglichleiten gehören! Sie wuͤrde mir Sie doch niemals geben...“

„Sie würbe es ficher tun; fie tut, was ich will. Iſt dieg Ihr einziges Bedenken ?”

„Wie geraten wieder in biefe Polemik hinein, Wiera, die nie ein Ende findet! Wir find heute, wie Sie felbft fagten, sum lestenmal beifammen. Diefe qualoolle Folter muß endlih ein Ende nehmen, wir können nicht ewig auf glühenden Kohlen figen.”

„sa, zum legtenmal... Sch babe gefchworen, daß ich nie wieder hierher gehen werde.”

„Unſere Zeit ift alfo koſtbar. Wir werben für immer von⸗

- einander Abfchieb nehmen, falls die... Dummheit, dag

heißt die Vorurteile Ihrer Tante, ung auseinanderbringen, Sch verlafie die Stadt in einer Woche, die Verfügung ift bereits eingetroffen, wie Ste willen. Oder wir werben eins, um ung nicht mehr gu frennen ...” „Niemals?“ fragte fie leife. Er machte eine unwillige Bewegung. „Niemals I” wiederholte er in Argerlihem Tone „welche Lüge liegt In folden Worten: ‚niemals‘, ‚ewig‘... Wenn ich ‚nicht mehr‘ fagte, fo bedeutet das eben ein Jahre, viel; leicht auch zwei oder drei... Iſt das nicht fo gut wie niemals? Ste wollen ein Gefühl, das kein Ende hat ja, gibt e8 denn ein ſolches? Betrachten Sie doch einmal all die Taͤubchen und Täuberihe Ihrer Bekanntſchaft: wo ift da jemand, der Bis ans Ende liebte? Bliden Sie einmal in Ihre Nefter hinein wie flieht es barin aus? Sie tun, was ihnen zukommt, fegen eine Anzahl Kinder in die Welt und kehren dann ihre Schnäbel nach verſchiedenen Seiten. Nur die Trägheit halt fie noch beieinander..." „Senug, Mark! Ich habe Ihre Theorie von der Liebe auf

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Friſt ſchon fatt,” unterbrach fie ihn mit Ungebuld. „Ach bin ſehr unglädlih, die Trennung von Ahnen ift nicht bie einzige Wolfe, die Aber meiner Seele ſchwebt. Seit einem Sabre bereits habe ich vor Tantchen diefe Heimlichkeiten und das nagt an mir, noch mehr aber an ihr, wie ich ganz deutlich fehe. Ich Dachte, diefe Dual würde jet ein Ende nehmen, heute ober morgen würden wir endlich gu einer Haren Ausfprache kommen, würden ung gegenfeitig in aller Aufrichtigkeit unfere Gedanken, unſere Hoffnungen und Ziele darlegen... und dann...”

„Was dann?” fragte er, fie aufmerffam anhoͤrend. „Dann würde ich zu Tantchen gehen und ihr fagen: ‚Den und ben habe ich mir erwaͤhlt ... fürd ganze Leben‘. Doch es fcheint, daß dies nicht eintreffen wird... unfere Zus . fammentunft heute ift ein Abſchied für immer...” fagte fie betruͤbt, im Slüftertone, und ließ ben Kopf auf bie Bruſt finken.

„a, wenn wir Engel wären dann könnte Ahr Wort ‚Fürs ganze Leben‘ wohl Geltung haben. Auch biefer grauhaarige Philofoph Naiffi meint ja, die Stauen feien zu irgendwelchen höheren Aufgaben berufen... .”

„Ihr Beruf liegt vor allem In ber Familie Wenn fie auch feine Engel find, fo find fie doch ebenfowenig wilde Tiere. Ich bin feine Woͤlfin, fonbern eine Frau.”

„But, nehmen wir an, Sie felen für die Familie da. Wie kann das aber unfere Gefühle beeinfluffen? Die Aufs fütterung und Erziehung der Kinder hat doch nichts mehr mit der Liebe zu tun, das iſt eine Angelegenheit für fich, eine Aufgabe für Kinberfrauen, für alte Weiber. Alle diefe Gefühle, Sympathien und fo weiter find doch nur eine Drapierung, das Feigenblatt fogufagen, mit dem fich die Menfchen im Paradieſe bededten ...“

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„Ja, die Menfchen !” fagte fie.

Er lachte laut auf und zuckte die Achſeln.

„And wenn es getroft nur eine Drapierung iſt,“ fuhr Wiera fort „fo iſt doch auch fie nach Ihrer Lehre ein Produft der Natur. Und Sie wollen fie herunterreißen ! Warum haben Sie fih denn mit folder Hartnädigkeit, ſolchem Trog gerade an mich gehängt? Warum fagen Gie, daß Sie mich lieben, warum hat fih Ihr Außeres fo vers Andert, warum find Sie fo abgemagert, fo nervoͤs ges wordben?... Sie könnten doch, bei Ihren Anfichten von der Liebe, fih ebenfogut eine Freundin draben in ber Vorſtadt fuchen, ober jenfeits der Wolga, auf dem Dorfe? Was beſtimmt Sie, ein ganzes Jahr lang hierher, in die Schlucht zu kommen ?“

Geine Miene verfinfterte fich.

„Das iſt eben der Irrtum, Wera, in dem Sie befangen find: Bei meinen Anfichten von der Liebe, fagen Ste aber bei der Liebe handelt es fich eben um Feine Anfichten, denn fie ift ein Trieb, ein Bedürfnis, und daher größten, teils blind. Nun gebe ich gu, daß meine Neigung für Sie nicht fo ganz Blind if, Ihre Schönheit, die, wie auch Raiffi richtig herausgefunden hat, von nicht gewöhnlicher Art ift, Ihr Geiſt, Ihre freie Denkweiſe das alles feffelt mich wohl langer an Sie als an irgendeine andere,” „Sehr fhmeichelhaft!” fagte fie leiſe.

„Doch eben diefe Denkmeife ift Ihe Ungläd, Wiera. Ohne fie. wären wir längft einig, wären wir glädlih.. .“ „Fuͤr einige Zeit und dann käme eine neue Melgung, bie ihr Recht fordert, und fo fort ohne Ende...“

Er zuckte die Achſeln. „Richt wir find hieran ſchuld, fondern die Natur. Und bie bat das fehe weiſe eingerichtet. Wollten wir bei jeder

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Bebenserfheinung, jedem Gefhhle, jeder Neigung allım fange verweilen, fo hieße das ung felbft Feſſeln anlegen, uns in Vorftellungen, in eine Denkweiſe einſchnuͤren «+» Die Natur laͤßt fih einmal nicht ummodeln!“ ; „Diefe Dentweife aber gibt unferem Leben Megeln un Gefege deren es genau fo bedarf, wie nach Ihrer eehre die Natur ſie hat!“

„Das iſt's eben, was das lebendige Leben zum Kadaver macht: daß die Menfchen ihre natürlichen Triebe in Karte Kegeln einfpannen, fi felbft an Händen und Füuͤßen Ketten anlegen... Die Liebe if ein Gläd, das bem Menfchen von der Natur geſchenkt wird das iſt meine Meinung..."

„Aber diefes Gluͤd zieht Pflichten nach ſich,“ fagfe ſie, 1m von ber Bank erhebend „das ift meine Meinung . ++ „Das if ausgeflügelt und ertüftelt, Wiera! Machen Sie ſich doch klar, welch ein Chaos alle dieſe Regeln und Vor⸗ ſtellungen bilden! Vergeſſen Sie einmal die Pflichten, fchließen Sie ſich nicht mit Gewalt der Einſicht, daß die Liebe ein Trieb iſt . . der zuweilen unwiderſtehlich wird... =

Er erhob fi gleichfalls und legte feinen Arm um ihre Taille.

„Iſt's nicht fo? Das muͤſſen Sie doch einfehen, Ste TroW koͤpfchen ... Ste ſchoͤnes, Huges Kind...” flüflerte et zaͤrtlich.

Sie entwand ſich langſam ſeinem Arme.

„Was Sie ſich da wieder ausgedacht haben Pflichten!“ „Ja, Pflichten I” wiederholte fie beſſimmt „dafür, daß eins dem andern das Gluͤck gefchenkt und die beften Jahre geopfert hat, follen fie für den Meft des Lebens in gegem feitiger Treue zueinander halten...” „Ja, was folgt denn daraus? möcht’ ich fragen! Ewig

Lit Fr 432 Y\se = .... __

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Suppen kochen, ſich gegenfeitig beblenen, einander Aug’ in Auge gegenüberfigen, fich verftellen, an ber Seite einer kraͤnklichen, nervoͤſen Lebensgefährtin ober eines vom Schlage gerührten Greifes fefthoden, im Banne der Res geln, dee Pflicht fEöhnen, während in den eignen Adern noch Kraft genug fiedt, dem Rufe des Lebens zu folgen, dahin zu gehen, wohin es einen sieht... Iſt es dag, = Ahnen als Ideal vorfchwebt ?” „Ja fich beberrfchen, und nicht dahin fchauen, wohin einen zieht! Dann bedarf es auch Feiner Verſtellung. ‚Es heißt eben Enthaltfamkeit üben, wie beim Brannts wein‘, fagt Tantchen, und fie bat volllommen rei... So verfiehe ich das Glüd, und fo wünfche ich es mir“ „Wie traurig ift e8 um unfere Liebe beftellt, wenn Sie jegt fhon bie Weisheitsfprüche der Großtante zitieren! Nun, fo geigen Sie doch einmal, wie feſt Tantchens Grundſaͤtze in Ihnen figen !”

„Wohlan benn ich gehe noch heute, gleich von aus, au ihr bin... und ſage ihre alles ...“

„Was wollen Sie ihr fagen ?“ Ä Fu „leg, mas bisher gewefen iſt ... und was fie noch nicht weiß...”

Sie feste fih auf die Bank, ſtuͤtzte den Ellbogen auf ben Sieh, barg ihe Geficht in ben Händen und verfant in Nachdenten.

„Warum wollen Sie e8 ihr fagen?” fragte er.

„Ste werben meine Gründe nicht verfiehen, weil Sie feine Pflicht anerkennen... Ich habe meine Pflicht gegen fie fchon lange verſaͤumt ...“

„Alles das ift öde Moral, die dag Leben langweilig macht und verfhimmeln läßt... Ah, Wera, Wiera Gie wiffen nicht, was Liebe ift, verfichen nicht gu lieben...“

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Sie trat plöglih auf ihn gu und ſah ihm vorwurfsvoll ins Geſicht.

„Sprechen Ste nicht fo, Mark... wenn Ste mich nicht zur Verzweiflung bringen wollen! Ich muß fonft glauben, daß alle Ihre Worte nur Heuchelei und Verſtellung find, dag Sie nur den Wunfch haben, mich ohne Liche gu vers führen, mich gu taͤuſchen ...“

Er erhob fih von feinem Plage.

„Auch ich muß Sie bitten, Wiera, nicht ‚[o' zu fprechen. Wenn ih Sie täufchen wollte ich hätte es laͤngſt gekonnt... Ich würde dann nicht bier fliehen, mir Vorlefungen über die Liebe halten laſſen und felbft welche halten ...” „Warum quälen Sie fich felbft denn nur fo, Mark? Wie fann man fein Leben fo verzetteln!” fagte fie, die Hände sufammenfchlagend.

„Hören Sie, Wera: laffen wir ben Streit! Aus Ihnen fpeicht die Großtante, wenn auch in etwas veränderter Form. Alles das mag früher gegolten haben, jegt ift ber Lauf des Lebens ein anderer geworden, die Zeit ber Aus toritäten, der angelernten Begriffe ift vorüber, bie Wahr; heit bahnt fich eine Gaſſe ...“

„Die Wahrheit wo iſt fie? Sagen Sie es mir endlich! or. Iſt fie nicht ſchon da, nicht ſchon vor ung dageweſen? Was fuchen Sie eigentlich ?”

„Was ich fuhe? Das Gluͤck! Sch liebe Sie! Warum laffen Sie mich verfchmachten, warum kaͤmpfen Sie mit mie und mit fich felbft, warum nalen Sie durchaus zwei Menfchen opfern ?”

Sie zudte die Achſeln.

„Ein fonderbarer Vorwurf! "Schauen Sie mich einmal genauer an... wir haben ung ein paar Tage nicht gefehen er. wie fehe Ich aus?” fagte fie.

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„ch ſehe, daß Sie leiden um fo törichter IE Ihe Ders halten. Nun möchte auch ich Sie fragen: warum find Sie hierher gelommen, und warum kommen Sie noch immer hierher ?

Sie blidte ihn faft feindfelig an.

„Warum ich nicht früher... das Schredliche meiner Lage gefühlt Habe, wollen Ste fragen? Ja, biefe Frage, biefer Vorwurf wäre laͤngſt am Plage geweſen, und wir hätten ihn ung beide machen follen. Wenn wir ung diefe Frage gegenfeitig in aller Aufrichtigkeit beantwortet hätten, dann wären wir wohl nicht mehr hierher gekommen! Es iſt num etwas ſpaͤt geworben für bie Frageſtellung ...“ fläfterte fie nachdenklich „doch beſſer fpät als nie! Wir wollen uns alſo heute gegenfeitig auf die Frage Antwort geben, was wir voneinander gewollt und erwartet haben...” „Ich will Ahnen meinerfeits diefe Frage ganz offen bes antworten,” fagte er. „ch will Ihre Liebe und biete Ihnen dafür die meinige. Das ift der erſte Grundſatz in der ehe das Geſetz des freien Austauſches, wie es In der Natur begründet ift. Nicht mit Gewalt die Liebe erzwingen, ſondern fich frei feiner Neigung hingeben und dag Gluͤck der gegenfeitigen Neigung genießen das iſt die Pflicht und Megel, die ich anerkenne, unb damit haben Sie zus gleich die Antwort auf die Frage, warum ich hierher komme. Man muͤſſe Opfer bringen, meinten Sie num, ich bringe auch Opfer, das heißt nach meiner Anficht find es ja keine Dpfer, aber Ich will doch die von Ihnen gewählte Bezeichnung akzeptieren. Ich fehe alfo darin folch ein Opfer, daß ich noch immer bier in biefem Sumpfe ftede und Zeit und Kraft vergeude ... nicht für Sie, will ich zugeben, fondern für mich felbft, weil doch augenblicklich mein ganzes Leben in diefer Sache aufgeht. Und ich will

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biefer Sache treu bleiben, folange ich dabei slädlich Bin, folange meine Liebe vorhält. Iſt fie erkaltet dann fage ich e8 und gehe dahin, wohin bag Leben mich führt, ohne mich an irgendwelche Pflichten, Grundfäge oder Feſſeln gu kehren. Die will ich alle hier Lafien, auf dem Grunde Diefer Schlucht! Ste fehen, daß ich Sie nicht täufche, daß ich alles frei herausſage. Ich fpreche, wie ich denke und gehe meiner Wege! Und Sie haben das Necht, ebenfo zu handeln. Jene Kabavermenfchen aber belügen ſich felbft und die andern und biefe Lüge nennen fie dann Grund⸗ ſaͤtze. Insgeheim freilich handeln fie ganz ebenfo nur daß fie Dabei fo pfiffig find, das Recht, fo gu Handeln, für fih allein in Anſpruch zu nehmen und es den Frauen gu verweigern. Zwifchen ung aber muß Gleichberechtigung bereichen. Sagen Ste ſelbſt iſt das ehrlich oder nicht ? Ste fchüttelte verneinend den Kopf. „Nein, das find Sophismen. Ehrlich iſt vielmehr, das Leben des andern gu nehmen und ihm dafür das eigne hinzugeben: fo lautet mein Grundfag, Mark! Und Sie fennen auch meine fonfligen Grundſaͤtze ...“ „Nun, jest figen Ste auf Ihrem Stedenpferd! Es iſt alfo Ihr ‚Seundfag‘, daß eins dem andern wie ein Stein am Halfe Hängen ſoll ...“ „Durchaus nicht wie ein Stein!" fiel fie Ihm lebhaft ins Wort. „Die Liebe legt Pflichten auf, behaupte ich, wie das Leben auch fonft Pflichten auferlegt und es kein Leben ohne Pflichten gibt, Wenn Sie eine blinde alte Mutter hätten, würben Sie fie nicht führen, nicht für fie forgen ? Das ift ficher nichts Freudiges aber ein ehrlicher Menfch | * es fuͤr ſeine Pflicht, die er treu und mit Liebe er⸗ t

„Ste reflektieren wieder, Wjera, ſtatt gu lieben!“

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„Und Ste fuchen vor der Wahrheit deffen, was Ich fage, Shre Augen zu verfehließen! Ich reflektiere, weil ich liebe ich bin eine Frau, und Fein Tier, feine Mafchine I” „Ihre Liebe hat fo etwas Zufammengedichtetes, Aus⸗ geflügeltes ... gang wie in Romanen!... Sie will ohne Ende fein, ohne Grenzen! Aber ift e8 auch ehrlich, Wiera, ein ſolches Verlangen an mich zu fiellen? Angenommen, ih haͤtte gar nicht von diefer ‚Liebe auf Zeit‘ gefprochen, fondern ich reichte Ihnen einfach huͤpfend und fehergend, wie Wifentjew, bie Hand zum ‚ewigen Bunde‘: was wollten Sie dann noch mehr? Daß Gott unfern Bund fegne, wie Ste fagen das heißt, daß ich mit Ihnen in die Kirche gehe und gegen meine Überzeugung öffentlich eine Zeres monte an mir vollziehen laffe... Ich glaube doch num einmal nicht an die Kraft diefer Zeremonie, ich kann die Dfaffen nicht leiden; wäre ed dann wohl logiſch und ehr⸗ lich, daß ich es dennoch tue?...“

Sie erhob fich und warf die ſchwarze Mantille über den Kopf. „Wie find hierhergelommen, um alle Htnberniffe, die uns ferem Glüde im Wege ſtehen, zu befeitigen und flatt defien vermehren wir fie nur! Ste greifen mit rauher Hand an Dinge, die mir heilig find. Warum haben Ste mich gerufen? Ach dachte, Sie wollten endlich der alten, erprobten Wahrheit die Ehre geben, wir würden einander die Hand für immer zum Bunde reihen ... Jedesmal kam ich in diefer Hoffnung hierher... und jedesmal wurde ich enttäufcht! Ach wiederhole, was Ich fhon Immer gefagt babe: unfere Überzeugungen,” ſchloß fie mit leifer Stimme „und unfere Empfindungen geben allzuweit aus⸗ einander. Ach dachte, Ihr eigner Verſtand mwürbe es Ihnen fagen, wo das wahre Leben ift... und wo Ihr Platz fein ſollte ...“

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„Run wo denn?”

„Im Herzen und an ber Geite einer ehrenhaften Frau, die Sie liebte, deren Freund Sie fein würden... .“

Sie brüdte durch eine Hanbbewegung ihre Verzweiflung aus, und die Tränen waren ihe nahe.

„geben Sie Ihr Leben allein, Markt ich vermag es nicht zu teilen... Es if ohne Wurzeln...”

„Und die Wurzeln Ihres Lebens find längft verfault, Miera !”

„Mag fein,” fagte fie mit ſchwacher Stimme, während die Tränen nun wirffich in ihre Augen traten. „Ich will mit Ahnen nicht flreiten, will Ihre Anfichten nicht duch Argumente und Erwägungen widerlegen. Ich beflge weder den Geift noch die Kraft dazu. Ich habe nur eine geiffige Waffe, die ja ſchwach genug ift, aber den Vorzug hat, daß ich fie nicht aus Büchern, von andern, entfliehen, fondern meiner eignen Erfahrung abgemonnen habe..."

Er machte eine Bewegung, als wollte er fie unterbrechen, fie fprach jedoch weiter.

„Ih dachte Sie mit diefer Waffe zu beſiegen ... Erinnern Sie fih noch, wie das alles fih entwidelt hat?” fagte fie finnend, während fie einen Augenblid auf ber Bank Plag nahm. „Ach Hatte zuerft nur Mitleid mit Ihnen. Gie waren fo allein und verlaffen hier, niemand verftand Sie, alle gingen Ihnen aus dem Wege. Das Mitgefühl brachte mich auf Ihre Seite. Ich fah in Ahnen etwas Fremd; artiges, Ungebundenes. Sie hatten fo etwas Reſpektloſes in Ihrem Denken, waren unvorfichtig im Gefpräch, fpielten mit dem Leben, verfchwendeten Ihren Wig an unwuͤrdige Dinge, glaubten an nichts und lehrten andere das Gleiche, ſetzten fich wie abfichtlich allerhand Unannehmlichkeiten aus und prahlten mit Ihren Kedheiten. Aus reiner Neugier

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verfolgte ich Ihr Tun, erlaubte Ihnen, hierher gu kommen, fih mir zu nähern, lieh mir Bücher von Ihnen Ich fah Ihren Geift, fah eine gewiſſe Kraft... doch alles dag fohien mir dem Leben fo abgefehrt... Und da feßte ich es mir in ben Kopf 9, wie bereue ich es jegt! Sie das Leben wieder fchäßen gu lehren... zuerſt um meinet⸗ willen, und dann um bed Lebens felbft willen... Ich fagte mir: er foll Achtung gewinnen zuerſt vor mir, und dann auch vor anderem im Leben; er foll glauben lernen ... zuerſt mir, und dann vielleicht überhaupt... Ich wollte, daß Sie beſſer fein und Höher fliehen follten als alle andern... Ich zankte Sie aus wegen all biefer Unordentlichkeiten . . .”

Sie feufste tief auf und ſchwieg einen Augenblid, ald ließe fie diefes ganze abgelaufene Jahre an ihrem Geifte vorüber, sieben. „Sie widerftrebten meinem... Einfluffe nicht...” fuhr fie dann fort „und auch ich geriet unter den Ihrigen: Ihr Geift, Ihre kühne Art machte Eindruck auf mich, Ich eignete mir verfchiedene Fhrer... Sophlömen an...” „And dann zogen Sie fih in Ihrer Angſt auf Tantcheng altbewährte Weisheit zuruͤckk Warum haben Ste mich denn damals nicht laufen laflen, als Ih Ihnen mit diefen So⸗ phismen kam ?”

„Es war zu fpät. Ihr Schidfal hatte mein Herz tief ers griffen... Es war nicht allein dieſes freudlofe Leben, dag ich Sie führen fah... es war auch Ihre Perfon, bie mein Intereſſe gewonnen hatte... Sch nahm leidenſchaft⸗ lich Ihre Partei... ich dachte, Sie wuͤrden um meinetwillen dag Leben zu verfiehen fuchen.... würden aufhören, fo einfam umbergufchweifen, zum Schaden für fich felbft und ohne jeden Nugen für die andern... Ich dachte, Sie wuͤrden ...“

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„... ein tätiger Vizegouverneur oder Staatsrat wer; den..."

„Was haben Hier Rang und Stand gu fagen? Rein ein flarfer, der Allgemeinheit nüglicher Menfch . . ."

„Ein loyaler, gehorfamer Untertan was nit noch alles ?

„Und dann noch... ein Freund fuͤr mich, fürs ganze Leben, fehen Sie! Ich Tieß mich von meiner Hoffnung verleiten... und dag ift das Ziel, zu dem Sie mich Hinz geführt haben!...“ fügte fie leife Hinzu und blidte ers fhauernd um fih. „Was habe ih num erreicht in diefem furchtbaren Kampfe? Daß Sie jeßt vor der Liebe, vor dem Gluͤck, vor dem Leben... vor Ihrer Wiera fliehen!” fagte fie, während fie näher gu ihm binrädte und ihre Hand auf feine Schulter legte. „Fliehen Ste nicht, bliden Sie mir in bie Augen, hören Sie auf meine Stimme: in ihre iſt Wahrheit! Fliehen Sie nicht, bleiben Sie, gehen wir sufammen dorthin, auf den Berg, in den Park... Dann gibt es morgen hier keine glüdlicheren Menfchen als ung beide... Sie lieben mih... Mark! Markt hören Sie? Sehen Sie mir ind Gefiht...” Sie neigte ihr Geficht vor und fah ihm aus nächfter Nähe in die Augen.

Er erhob fih raſch von der Bank,

„Rüden Sie ab von mir, Wjera!...” fagte er, während er ihr feine Hand entzog und wie ein zottiges wildes Tier den Kopf fchättelte.

Er fand drei Schritte von ihr entfernt.

„Wie find noch nicht zum Hauptpunkte gekommen,” fagte er. „Sobald ber erledigt ift, bin ich nicht abgeneigt, hier in biefen Landen gu verbleiben und mich weiter in Ihrer Gnade zu fonnen... Ich fliehe nicht vor Ihnen, Wera fondern vor Ihrer Zumutung, daß ich meine Übers

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gengungen abtum und mich fo ohne meiteres gu andern Überzeugungen befennen fol... Wenn ich dazu nicht im⸗ flande bin was foll ich da tum, MWiera? Entfcheiden Sie!“

„Ich habe fie doch num einmal, dieſe andern Überzeugungen mas foll ih da tun?” fragte fie ihrerſeits.

„Es iſt leichter, ſolche angelernte Überzeugungen loszu⸗ werden, als fie jemandem beigubringen, dem fie wider⸗ ſtreben ...“

„Aber dieſe Überzeugungen find doch das Leben ſelbſt! Ich ſagte Ihnen ſchon, daß ich in dieſen Äberzeugungen lebe, daß Ich nicht anders leben kann... mithin ...“ „Within...“ wiederholte ee und beide erhoben fi. Beiden fiel es ſchwer, weitergufprechen. Es fchien, als hätten fie ihre Argumente erfchöpft.

Sie wollte wieder bie feidene Mantille Aber den Kopf werfen, doch kam fie damit nicht zuſtande: die Hand, in der fie die Mantille hielt, fant immer wieder zuruͤck. Es blieb ihe nur noch eind übrig fortzugehen, ohne noch einmal zuruͤckzuſchauen. Ste machte eine Bewegung, einen Schritt, und fank wieder auf die Bank zuräd,

„Woher foll ich nur die Kraft nehmen gu dieſem Kampfe? ... Ich kann nicht fortgehen ... und kann ihn auch ‚nicht zuruͤckhalten! Alles ift gu Ende!” Dachte fie. „Und wenn ih ihn zuruͤckkhalte was wird daraus entfliehen? Micht ein Leben in Gemeinfchaft werben wie führen, fondern zwei verſchiedene Leben wie zwei Gefangene, bie für immer duch ein Gitter getrennt find...“

„Wir find beide ſtark, Wiera,” fagte er finfter „das rum quälen wir uns beide fo ab, und darum frennen wir ung...”

Sie ſchuͤttelte verneinend den Kopf.

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„Wenn Ich ſtark wäre, wuͤrden Sie nicht fo von hier fort,

geben, fondern wuͤrden dorthin gehen, auf ben Berg, und

zwar nicht heimlich, fondern kühn und offen, auf meinen

Arm geſtuͤtzt. Kommen Sie! Wollen Sie, daß ich lebe,

daß ich glüdlich werde?” ſprach fie plöglich lebhaft, wie in

nen aufleimender Hoffnung, und trat auf ihn zu. „Es

kann nicht fein, daß Sie mir nicht glauben, oder daß

Sie fih verſtellen und mich getäufcht haben follten... das wäre ein Verbrechen!” fagte fie gang verzweifelt. „Was foll ich nur fun, mein Gott? Er glaubt mit nicht, will nicht mit mir gehen! Wie foll ich ihn nut überreden ?”

„Das könnten Sie nut, wenn Sie ſtaͤrker wären als ih wir find aber beide gleich ſtark,“ antwortete er finfler. „Darum können wir auch nicht einig werben, ſondern muͤſſen fireiten. Wir müffen und trennen, ohne dei Kampf entfchieden zu haben, oder eind muß für immer dem andern nachgeben ... Stände mir irgendein anderes, unbebeutendes Weib gegenüber, dann hätte ich leichtes Spiel: ich würde mit ihrer Ziereret, ihrer Heinlichen Angſt, ihrem Stumpffinn raſch fertig werden. Bei Ihnen jedoch iſt von Feiner Angft und feiner Ziererei die Rede was Ste mir entgegenftellen, ift Kraft, ift weibliche Stands haftigfeit. Es find nun feine Unklarheiten, eine Nebel mehr zwifchen ung, wir haben ung ausgefprochen, und ich mache Ihnen meine Reverenz. Die Natur hat Sie mit guten Waffen ausgeflatter, Wjera. Alle diefe alten Grunds fäge, die Mortal, die Pflicht, der Glaube alles dag wird für Ste zu einem ſtarken Ruͤſtzeug. Sie find nicht leicht su erobern, Sie kaͤmpfen bis aufs Meffer und ergeben fi nur unter Bedingungen, die für beide Seiten bie gleichen find. Sie ergeben fih nur dem, ber fih Ihnen ganz

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z.=_B ee.

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ergibt. Nun und das kann Ih nicht wenn ich Sie auch hochachte ...“

Sie hob den Kopf empor, und in ihrem Geſichte leuchtete es fuͤr einen Augenblick auf wie ein Strahl des Stolzes, ja des Gluͤcks; doch im naͤchſten Augenblick ſchon ließ ſie den Kopf wieder ſinken. Ihr Herz ſchlug unruhig, und ihre Nerven wurden erregt angeſichts der Trennung, die nun unausbleiblich ſchien. Seine Worte waren nur ein Vor⸗ ſpiel des Abſchieds.

„Wie haben uns ausgeſprochen... ich uͤberlaſſe Ahnen die Entſcheidung!“ fagte Mark dumpf, während er nad der andern Seite des Pavillons ging und von bort aus fie aufmerffam beobachtete. „Ih will Sie auch jett, in dieſer entſcheidenden Minute, nicht täufchen, obfchon mir felbft ganz wire ift im Kopfe... Nein, ih kann es nicht hören Sie, Wiera: ich kann Ihnen eine folhe Liebe ohne Ende nicht verfprechen, weil ich nicht an fie glaube und fie daher auch von Ahnen nicht verlange. Ach will Ste auch nicht Heiraten doch Ich liebe Ste jegt mehr als alles In ber Wele!... Und wenn Sie nad alledem, was ich Ihnen fage, fih mir in bie Arme werfen... dann heißt das eben, daß Ste mich lieben und die Meinige fein wollen...”

Sie fah ihn mit großen Augen an und erbebte.

„Was ift das?” fuhr es ihre wie ein Bunte ded Zweifels durch den Kopf „iſt er vielleicht Doch ein Heuchler? ... Dder fpricht jetzt wirklich nur unbeugfame, offene Ehrlich, feit aus ihm?” Sie fühlte deutlich das Gefährliche ihrer Lage.

„Die Ihrige?“ Fuͤr immer?...” fragte fie leife und ſchrak bei der Srage sufammen.

Wenn er nun „ja” fagte dann vergaß fie vielleicht ben

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undberbrüädbaren Gegenfag ber Übergensungen, nahm diefes „für immer“ als eine Bruͤcke für den Augenblid, auf ber fie den Abgrund überfchreiten könnte. Wie aber, wenn bie Brüde in den Abgrund flürzte? Ein Gefühl des Grauens überlief fie, als fie ihn jetzt fo anfah. Er ſchwieg ein Weilchen, und dann ſtand er plöglich von feinem Plage auf. „Sch weiß es nicht!” fagte er mit einem zugleich ſchmerz⸗ fihen und unwilligen Ausdrud. „Ich weiß nur, was ich jet tun werde, und kann nicht auf ein halbes Jahr voraus in die Zukunft biiden. Auch Sie wiffen boch nicht, was mit Ihnen fein wird, Wenn Sie meine Liebe erwibern, werde ich bier bleiben, werde ftiller fein als das Waffer im See, bemütiger ald das Gras auf dem Felde... werde tun, was Sie wünfchen.... was wollen Sie noch mehr? Dbder vielleicht . . . gehen wir fort von hier!” fagte er, plöglich auf fie zutretend. Es war ihre, als fei ein Blitz vor ihr niebergesudt. Gie ſtuͤrzte zu ihm bin und legte ihm die Hand auf die Schulter. Unerwartet wähnte fie die Pforten des Paradieſes vor fich En Die ganze Welt lächelte ihr zu und lodte fie zu in. „Mit ihm vereint, irgendwo in der Berne...” Dachte fie. Zartliche Leidenſchaft Hopfte leiſe an die Pforte ihrer Seele. „Er ſchwankt, er kann fich nicht Iogreißen... Wenn ich mit ihm allein fein werde... . wird er vielleicht zu der Tibers kommen, daß er nur dort leben kann, wo ich 1.4 Alles das fang ihr eine leiſe Stimme heimlich vor.

. Sie fich dazu entfchließen ?” fragte er in ernſtem one.

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Sie ſchwieg und ließ den Kopf finten.

„Oder würden Gie vor Tantchen Angft haben ?“

Sie blidte auf.

„Ja, das ift wahr: wenn ich Davor gurädfchredte, wäre es nur darum, weil ich mich vor ihr fürchten würde...“ flüfterte fie.

„Dann kommen Sie mir nur nicht gu nahe!” fagte er, von ihr abruͤckend. „Die Alte würde Sie nie geben laſſen ...“

„O, doch ſie wuͤrde mich gehen laſſen und mir ihren Segen mitgeben, doch wuͤrde ſie ſelbſt vor Gram daruͤber vergehen. Das iſt's, was ich fuͤrchte! Mit Ihnen von hier fortziehen!“ wiederholte fie nachdenklich, während fie ihn lange und durchdringend anfah. „Und dann?...”

„Und dann?... Was dann fein wird, weiß ich nicht. Was fümmert Sie diefes ‚Dann‘ ?”

„Wenn Sie ſich plöglich nach einer andern Seite hin⸗ gezogen fühlen und von mir gehen... mich im Stiche lafien, wie eine erſte befle Sache? . . .“

„Warum wie eine Sahe? Mir können als Freunde ſcheiden ...“

„Scheiden! Die Trennung ſteht bei Ihnen gleich neben der Liebe!” Sie ſtieß einen ſchmerzlichen Seufzer aus. „Ich meine, daß eine Trennung nie ſtattfinden dürfte... Nur ber Tod follte die Menfchen ſcheiden ... Leben Ste wohl, Mark!” fagte fie plöglich, ganz bleich, faſt mit Stolz. „3% habe nun meinen Entfchluß gefaßt... Sie werden mir niemals das Glüd geben, nach dem ich begehre. Um glüdlich zu fein, brauchen wir nicht fortzugehen, wir fönnen das Gluͤck auch hier finden... Alles ift aus...” Ä „Ja ... und nun raſch fort von hier! Leben Sie wohl, Wiera ...” fagte auch er mit ſeltſam Hingender Stimme.

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Beide erhoben ſich bleich, ohne einander anzuſehen, von ihren Pläten. Sie fuchte bei dem ſchwachen Schimmer des Monblichts, das durch die Zweige drang, Ihre Mans tille. Ihre Hände bebten und griffen immer nad etwas anderem, felbft nach feiner Buͤchſe faßte fie in ihrer Er⸗ regtheit.

Er ftand, an einen der Pavillonpfeller gelehnt, da und verfolgte mit duͤſterem Blid ihre Bewegungen.

Sie hatte endlih die Mantille mit dem weißen Belag umgenommen, vermochte fie jedoch nicht Aber die andere Schulter zu ziehen. Er half ihr mechaniſch.

Sie taftete im Dunkeln mit dem Fuße nach den Stufen; er fprang über die Stufen hinweg auf bie Erbe, reichte ihr die Hand und half ihr hinunter.

Sie gingen beide auf dem ſchmalen Pfade daher, mit zoͤgerndem Schritt, als wenn eins vom andern etwas erwartete. Beide quälte der eine unklare Gedanke, wie fih wohl noch ein Vorwand zum Bleiben finden ließe. Jedes von ihnen ertannte, daß der andere Teil von feinem Standpunkte aus Necht habe, aber beide gaben ſich dabei der flillen Erwartung bin, Doch noch felbft zu triumphieren. Er hoffte fie ganz auf feine Seite zu bringen, während fie immer noch annahın, Daß er ihre nachgeben würde eine Annahme, die fie felbft als Hinfällig erkennen mußte, da es, bei allem guten Willen, doch nicht möglich war, daß ein Menfch fo ohne weiteres feine Überzeugung, feine Welts anfhauung abtue und. gegen eine andere vertaufche.

Das Bewußtfein, daß dies ihre legte Zufammenkunft war, baß fie fünf Minuten fpäter füreinander, vielleicht auf immer, Stemde fein würden, drüdte fie beide tief nieder. Ste waren von dem Wunfche befeelt, diefe fünf Minuten fo fange wie möglich feftguhalten, noch einmal in Ihnen

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das Vergangene zu durchleben und, wenn möglich, eine Hoffnung für die Zukunft aus ihnen zu fchöpfen. Doc hatten fie anbererfeitd die Empfindung, daß es eine Zus kunft für fie nicht gab, daß ihrer nur die Trennung harrte, bie für fie fo unvermeidlich war wie der Tod.

Sie gingen langfam bis nach einer Stelle, wo er einen niedrigen Zaun überfpringen mußte, um auf den Weg zu gelangen, während fie von da aus auf ſchmalem Pfade durchs Gebuͤſch nach dem Park gelangen konnte.

Mit gefenktem Kopfe, In tiefer Niedergefchlagenheit, fland fie am Fuße des Abhanges. Ihr ganzes Lehen zog an ihr voruͤber, und nicht ein Augenblid war darin, ber fo bitter gewefen waͤre wie diefer. Ihre Augen fanden voll Tränen.

Gie hätte fih nun wohl ummenden mögen, um menigfteng noch einmal nach ihm zuruͤckzuſchauen und im Fortgehen gleihfan aus der Ferne die Größe des Gluͤcks zu ermeffen, das fie verlor. Mit bitterem Schmerz empfand fie den Verluſt dieſes Gluͤcks, das num für immer entfchwand, doch wagte fie nicht, zuruͤckzuſchauen, das hätte fo viel bedeutet, wie ein „ja”, das fie auf feine ſchickſalsſchwere Stage ihm zugerufen hätte. Ihr Herz wand fich in Qualen, als fie nun langſam ein paar Schritte bergan ging.

Er näherte fih dem Zaune gleichfalls, ohne zuruͤck⸗ sufchauen, in bifem Grimm, wie ein frogiges Tier, dag von feiner Beute laffen mußte. Er hatte nicht gelogen, als er fagte, daß er Wiera achte, doch achtete er fie wider feinen Willen, wie der Krieger im Kampfe den Feind achtet, der fich tapfer ſchlaͤgt. Er verfluchte dieſe Stadt bee Toten mit ihren vermorfchten Begriffen, bie biefe lebendige, freie Seele in Feſſeln hielt.

Seinem Schmerz war keine Ruͤhrung, kein Mitleid bei⸗

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gefellt es war ein böfer, unnachgiebiger Schmerz, ber. nur zu neuem, Eräftigerem Zufchlagen antrieb. Es war vielmehr eine wilde, mwätende Verzweiflung als ein Schmerz.

Er hätte Wjera zerbrechen, vernichten mögen, wie man eine koſtbare Sache, die einem anderen gehört, im Zorne vernichtet nur, Damit niemand fie befige. Er hatte ihr felbft geftanden, daß er mit jeder anderen außer mit ihr fo verfahren würde. Sie war ihm nicht ind Garn ges gangen es blieb ihm fomit wohl nichts weiter übrig ale bie rohe Gewalt, ald eine Raͤubertat, um ihrer für einen Augenblid Herr gu werden.

Doch diefer Außerlihe Sieg hätte ihm bei Wijera nicht bie volle Genugtuung gewährt, Die er jeder andern gegenüber empfunden hätte. Als er jegt von ihr ging, zürnte er nicht nur darum, daß die ſchoͤne Wera ihm entfchlüpfte, daß er vergeblich Zeit und Kraft verfhwendet und feinem Werke entzogen hatte. Er zürnte vielmehr aus beleidigtem Stolze und litt im Bewußtfein feiner Ohnmacht. Er hatte Wieras Phantafte, vielleicht auch ihr Herz beflegt nicht aber ihren Verſtand und ihren Willen.

In diefer Hinficht hatte fie eine unbeugfame Stärke gezeigt, die feiner Beharrlichleit gewachfen war. Sie befaß Charats ter, und fie wußte fih mis trogigem Sinn aus dem alten, toten Leben, das fie umgab, ein flark pulfierendes neues Leben zu gewinnen. So wurde fie für ihn, wie auch für Raiſki, zur Repräfentantin eines neuen, eblen Typus voll felbftändigen geiſtigen Lebens und fioken Eigenwillens. Sie fland, das erkannte er Har, in jeder Beziehung über allen Frauen, die er kannte. Er war ſtolz gemifen auf die Erfolge, bie er bei ihr errungen, und war jeßt um fo uns sufriedener, ba er fich fagen mußte, daß fein Bemühen,

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fie gu entwideln und ihren Geiſt mit feinem neuen Lichte zu erhellen, doch bei ihe recht wenig gefruchtet habe. Es waren ba, wie er meinte, mandherlei hemmende Einfläffe im Spiel gewefen ihr „Glaube“, wie fie e8 nannte, und irgendein Pope von ber neuen Richtung, und diefer Raiſki mit feiner Poefle, und die Großtante mit ihrer Moral, vor allem aber ihr eignes ſcharfes Auge und ihr Ohr, Ihe feines Empfinden, ihr weiblicher Inſtinkt und ihe ſtarker Wille. Alles dies ſtaͤrkte ihre Widerſtandskraft, verfah fie mit Waffen gegen feine „Wahrheit“, lieh dem alten, gewohnten Leben rings um fie und der alten Wahr⸗ beit in ihren Augen eine fo gefunde Sarbe, daß feine Wahrs heit und fein anfcheinend aus neuen, frifchen Quellen ges fhöpftes Leben daneben blaß und Teer, unecht und Kalt erſchien.

Seine neue Wahrheit und ſein neues Leben beſaßen nicht Anziehungskraft genug, um ihre geſunde, kraͤftige Natur zu feſſeln. Ihr ſelbſtaͤndiger Geiſt zerpfluͤckte das, was er ihr darbot, unbarmherzig und ſtaͤrkte in ihr nur das trauen auf ihre eigene Wahrheit.

Und nun ging ſie von ihm und ließ ihm kein Pfand ſeines Sieges zuruͤck, außer der Erinnerung an die Zuſammen⸗ kuͤnfte mit ihr, die verſchwinden wuͤrde wie eine Spur im Sande. Er hatte die Schlacht verloren, fie entſchwand ihm für immer; wie er jeßt fo von ihr ging, wußte er, baß er nie wieder einer zweiten folchen Wjera begegnen wuͤrde. Er verglich fie im Geifte mit ben andern Frauen, zumal benen ber neuen Richtung, bie ihm begegnet waren. Diele von ihnen hatten fih ber neuen Lehre und dem Leben nach bem neuen Zufchnitt mit bemfelben Tempera⸗ ment ergeben wie Marina ihren Liebfchaften. Er hatte gefunden, daß diefe Frauen in Wirklichkeit Häglicher, fader

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und tiefer gefallen waren als alle fonfligen gefallenen Frauen, bie ein Opfer ihrer Phantafle, ihres Temperaments oder des Goldes geworben waren, während jene Dpfer eines Prinzips wurden, das fie oft genug nicht begriffen, dem fie innerlich gleichgültig gegenüberftanden, und das ihnen nur als heuchlerifcher Vorwand für andere Dinge diente, denen naive Naturen, wie Koslows Frau, fih auf weit einfachere, natuͤrlichere Art ergaben.

Er ſchritt langſam daher, in dem Bewußtſein, fuͤr immer etwas hinter ſich zu laſſen, was er niemals im Leben wieder antreffen wuͤrde. Sollte er ſie betruͤgen, ſie verfuͤhren, ihr eine Liebe ohne Ende oder vielleicht gar die Ehe ver⸗ ſprechen ? ...

Er erbebte bei dem Gedanken, daß er einen ſo groben, alltaͤglichen Betrug an ihr begehen ſollte und wuͤrde ein ſolcher jetzt uͤberhaupt noch bei ihr verfangen? Er ſtampfte mit dem Fuße auf, ſprang auf den Zaun und ſetzte bereits den Fuß auf die andere Seite. |

„Ih möchte doch fehen, wie fie fih benimmt: ein ftolger Charakter! So davonzugehen! Ach, was fie hat mid nicht geliebt, fonft wäre fie nicht gegangen ... Sie ift eine Schwägerin,” dachte et, während er fo auf dem Zaune

ſaß. |

„Einen Bid möchte ich noch zuruͤckwerfen . .. wie er es trägt und dann für immer bavongehen ...“ ſprach fie ſchwankend zu fich ſelbſt, während fie im Yufwärtsfchreiten innehielt.

Ein kurzer Sprung und der Zaun waͤre zwiſchen ihnen geweſen, daß eins das andere nicht haͤtte ſehen koͤnnen. Die aͤußere Trennung haͤtte ihre Wirkung getan, der klare Verſtand, der Wille wäre ſtaͤrker zum Ausdruck gelangt, haͤtte endguͤltig geſiegt. | |

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Da wandte er fih um...

Miera fland da, als ſei ihe der Weg dort hinauf gu ſchwer,

als könne fie nicht weiter...

Mit fihtlicher Anftrengung machte fie zwei, drei Schritte

vorwärts und blieb fiehen. Dann wandte fie fih langſam um und fuhr zuſammen. Mark ſaß noch auf bem Saune und fah fie an... fah gu ihre heruͤber ... „Marti Lebe wohl!” rief fie und erfchraf vor Ihrer

eigenen Stimme; fo vol Sram und Verzweiflung Hang

fie,

Mark zog raſch das Bein über den Zaun zuruͤck, fprang hinunter und war mit wenigen Säßen an ihrer Seite. „Steg! Steg!” jubelte es in ihm, „Sie kehrt zuruͤck, ſie gibt nach!“

„Wiera!“ rief auch er in einem Tone, der wie ein Stoͤh⸗ nen klang.

„Du kommſt zuruͤck... für immer?... Du haſt endlich

begeiffen?... O, welch ein Gluͤck!... Vergib mir, o

Her

Sie ſprach nicht zu Ende.

Sie lag in ſeinen Armen, und ſein Kuß verſchloß ihr den Mund. Er hob ſie hoch empor und trug ſie, wie ein wildes Tier feine Beute, nach dem Pavillon zuruͤck...

Dreizehntes Kapitel

RR faß wohl eine Stunde lang wie vernichtet oben am Rande der Schlucht im Grafe, das Kinn auf die Knie geftügt und bie Stirn mit ben Händen bededend, Ein einziges Stöhnen war in feiner Bruſt. Er buͤßte feine großherzige Anwandlung mit bitterſter Dual, er list um Mieras wie um feinetwillen und verfluchte fich felbft, weil er fo nachgiebig gemwefen.

Diefe Ungewißheit, diefe zehrende Eiferfucht, diefe Trauer um entfhwundene Hoffnungen 9, wie nagten fie an feinem Herzen! Und auch in Zukunft würde die Leidens fchaft nicht aufhören, ihn gu peinigen, würde ihm Tag und Nacht die Ruhe rauben und ihn nicht aufatmen laffen. Der Schlaf mied fein Lager, oder wenn er kam, fo kam er wie eine Schildwache, die die Dualen des wachen Zus ſtandes nur mit neuen Qualen ablöfte.

Wenn er ded Morgens die Augen öffnete, ſtand das Ges fpenft der Leidenfchaft vor ihm, in Geftalt diefer unerbitts lichen, boͤſen, eifig kalten Wiera. Sie lachte ihn aus, wenn er verlangte, daß fie ihm „ben Namen, den Namen” nennen folle das einzige, was feine Fieberglut kühlen,

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was fein Leiden zur rettenden Kriſis und zur Geneſung führen fonnte.

„Do wo fledt fie nur? Warum kommt fie nicht?” fuhr e8 ihm plöglich durch den Sinn, und er ſchaute um

ſich.

Er ſah auf die Uhr. Sie war gegen neun fortgegangen, und nun war es bald elf! Sie hatte ihm geſagt, er ſolle warten, ſie wuͤrde ſogleich wieder zuruͤck ſein. Es dauerte etwas lange, dieſes „ſogleich“... „Wo iſt fie nur? Was treibt fie?” dachte er voll Unruhe.

Cr Hetterte bis zu ber Bank empor, ſetzte fih auf biefe und lauſchte, ob fie nicht endlich komme. Doch kein Laut, fein Geräufch ließ fich vernehmen bis auf Das Nafcheln der fallenden duͤrren Blätter.

„Sie fagte, ih folle hier warten und num hat fie mid vergeſſen! And ich warte hier, warte!” fagte er fi, fand auf von der Bank, ging ein paar Schritte abwärts und blieb wieder lauſchend ſtehen.

„Mein Gott bleibt fie denn immer fo fpät, Bis in bie Nacht hinein, bei diefen Rendezvous? Wer ift fie eigents lich, was ift fie diefe meine Göttin, diefe ſchoͤne, ſtolze Wiera? Ste lacht dort vielleicht mit Ihm zuſammen über mih... Doch wer iſt er? Ich will es willen wer iſt ee 2?” ſprach er im Zorne halblaut vor ſich Hin. „Den Namen, den Namen will ich haben! Ich Bin nur das Werkzeug, der ausgeftellte Wächter, der gehorfame Diener ihrer Leidenſchaft ... und welcher Leidenfchaft?!” Verzweiflung und Wut bemächtigten fich feiner. Künf Monate lang hatte fie mit ihm Verſtecken gefpielt, hatte ihm bald geftattet, fie zu lieben, bald ihn zurädgeftoßen und ihm ind Geficht gelacht ...

„Barum diefe Folter? Iſt das der Lohn. für meine Zus

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neisung? Was hat fie aus mir gemacht? Sollte ich nicht, nach all diefen Streichen, die fie mir gefpielt, ihre endlich diefes Geheimnis entreißen und den von ihre verfchwies genen Namen ber Welt befanntgeben ?“

Er Tief rafch den Abhang hinab, blieb vor den Büfchen ſtehen und lauſchte. Nichts war gu hören.

„Doch ... iſt es nicht gemein, ihr Geheimnis zu ſtehlen? Iſt es nicht feig und hinterliſtig? ...“ fagte er fih und zauderte unwillkaͤrlich, ja er ging ſogar ein paar Schritte zuruͤck.

„Stehlen! Was heißt ſtehlen?“ fluͤſterte er vor ſich hin,

waͤhrend er unentſchloſſen daſtand und ſich mit dem Taſchentuche den Schweiß von der Stirn wiſchte. „Und morgen beginnt dann wieder das Raͤtſelraten, und die hoͤſen Nixenaugen blicken mich wieder fo ſpoͤttiſch an, und hohnlachend ſagte fie mir ins Geſicht: ‚Sch liebe Sie!‘ Nein, ich mache der Dual ein Ende ich will wiflen, wer es iſt!“ entfchied er und flürgte fich ins Didicht. Wie ein Dieb fhlih er dahin, taſtete links und rechts, verfluchte das trockene Keifig, das unter feinen Füßen knackte, fühlte nicht, wie Die Zweige ihm ins Geficht ſchlugen. Aufs Geratewohl kroch er vorwärts, ohne den Ort bee Stelldicheing zu kennen, Und fo erregt war er, daß er fich auf die Erde niederfegen mußte, um Atem gu holen. Gewiſſensbiſſe regten fih für einen Augenblid wieder in Ihm und hielten ihn auf doch er kroch weiter auf allen Vieren, mit ben Nägeln in dem teodenen Laub und der Erde ſcharrend ... Er kam an dem Grabhügel des Selbſtmoͤrders voruͤber und wandte fih dann nach dem Pavillon, immer wieder fpähend und ob er —— erblicke, nicht eine Stimme vernehme..

CK 473 CH)

... Inzwiſchen ging oben In Tatjana Markownas Ges maͤchern alles feinen regelrechten Gang. Das Abendeffen war voruͤber, und die Gäfte faßen im Salon und gähnten ſchon ab und zu. Tie Nikonytſch floß über vor lauter Höfs lichkeit, erging fi bald Paulina Karpowna und bald Wikentjews Mutter gegenüber in Komplimenten, machte feine Kragfüße, verfuchte fih in liebenswuͤrdigen Heinen Scherzen und meinte, man müffe den Damen bag Leben immer fo angenehm wie möglich machen.

„Wo fledt denn eigentlih Pr. Boris?” fragte Paulina Karpowna wohl ſchon zum fünften Male. Niemand hatte ihr Antwort gegeben, bis fie ſich endlich mit ihrer Frage direkt an die Großtante wandte,

„Bott mag es wiffen, wo der fih herumtreibt!“ verſetzte Tatjana Markowna. „Er wird nach der Stadt gegangen fein, irgendwohin zu Befuch. Und dabei hinterläßt er nie, wohin er geht, man weiß gar nicht, wohin man ihm den Wagen fchiden foll, Der richtige Nomade!“

Jakow wußte mitzuteilen, daß Boris Pawlowitſch noch ſpaͤt am Abend im Park „ſpazieren gegangen feien.” Bon Wiera hieß es, fie habe fagen laffen, daß fie zum Tee nicht erſcheinen würde, man möchte ihr jedoch das Abendbrot verwahren, fie würde fagen laſſen, warn fie es su haben wuͤnſche. Niemand außer Raiſki hatte fie forts gehen fehen.

„re mal, Jakow fag’ doch Marina, fie möchte dem Fraͤulein den Braten warm machen, wenn fie Abendbrot verlangt, Und das Fruchteis foll fie in den Eisſchrank flellen, damit es nicht zerfließt!“ befahl die Großtante. „Und du, Jegorka, vergiß nicht, ſobald Boris Pawlowitſch kommt, ihm zu fagen, daß das Abendbrot für ihn bereit ſteht er iſt fonft imſtande, hungrig gu Bett zu gehen !“

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„Sehe wohl,” fagten die beiden Diener.

„Nachtwandler, richtige Nachtwandler find das!“ murmelte die Großtante ärgerlich und zugleich beforgt vor ſich Hin. „Sieh um diefe Stunde noch herumzutreiben, bei folder Kalte... .“

„Ich will einmal in den Garten gehen,” fagte Paulina Karpowna, „vielleicht iſt Mr. Boris irgendwo in der Nähe. Er. wird fich freuen, mich zu fehen... Ih glaube ſchon das legtemal bemerkt zu haben, baß er mir etwas zu fagen hat...” fügte fie geheimnisooll hinzu. „Er weiß wahr ſcheinlich nicht, daß ich Hier bin...”

„Natürlich wußte er's darum iſt er Doch weggegangen,” fläfterte Marfinka Wikentjew Ins Ohr.

„SH habe eine Idee, Marfa Waſſiljewna: ich Taufe voraus, verftede mich im Gebuͤſch und mache ihr mit Boris Paw⸗ lowitſchs Stimme eine Liebeserklaͤrung!...“ ſchlug Wis kentjew, gleichfalls im Flüftertone, ihe vor und wollte ſchon Hinausellen, um feinen Einfall gu verwirklichen. „Nicht doch!“ fagte Marfinka, ihn am Armel fefthaltend, „Ste werden ihr einen Schreck einjagen, und wenn fie dann in Ohnmacht fällt, feßt es nur Schelte von Tantchen !” „IH bringe den Fluͤchtling zuruͤck geftatten Sie, ich bin gleich wieder da!” fagte Paulina Karpowna abermals. : „Sehen Ste in Gottes Namen!” fagte Tatjana Markowna. „ber geben Ste acht, daß Sie fih nicht die Augen aus⸗ ftechen, es ift draußen fo finſter! Nehmen Sie lieber Je⸗ gorka mit, er wird Ihnen mit der Laterne leuchten,” „Nein, ich gehe allein, es tft beffer, daß wir ungeſtoͤrt bleiben ...“ |

„Tun Ste es Tieber nicht!” ſprach Tit Nikonytſch In höflich warnendem Tone, „an biefen feuchten Abenden follte man nach acht Ahr überhaupt nicht mehr Ins Freie gehen.”

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„Ih fürchte mich nicht...“ fagte die Krizkafa und nahm bereit8 ihre Mantille um.

„SH würde mir nicht herausnehmen, Sie zuruͤckzuhalten, aber ein Arzt in Däffeldorf am Rhein... ich habe feinen Namen vergeffen Ich leſe jebt ein Buch, das er ges ſchrieben hat, und kann eg Ihnen leihen . . . der hat da ganz vortreffliche hygieniſche Vorfchriften aufgeftellt... Er rät ganz entſchieden . . .”

Er konnte feinen Sag nicht beenden, denn Paulina Kars powna hatte fich bereits der Tür gugewandt. In aller Eile fagte fie ihm nur noch, er möchte auf fie warten und fie nach Haufe bringen.

„Mit dem größten Vergnägen, mit dem größten Vers gnuͤgen!“ antwortete er und machte hinter ihe ber fein Kompliment, während fie bereits zur Tür hinaus nad dem Garten Tief.

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DVierzehntes Kapitel

8 war nur wenige Minuten nach dieſem Geſpraͤch,

daß oben am Rande der Schlucht, im tiefen nächts lichen Dunkel, ſich das Geräufch von Schritten zwifchen ben Sträuchern vernehmen ließ. Man hörte wieder das Knaden der Aſte und das Rauſchen der Zweige, gegen bie irgends jemand heftig anſtuͤrmte teodene Blätter fielen rafchelnd su Boden, und es war, ale ob ein verwundetes ober jaͤh aufgeſchrecktes Wild in großen, haftigen Sägen empor; ſtuͤrmte. Das Geraͤuſch kam näher und näher, und endlich fprang ber Dahereilende aus dem Didicht auf den Heinen freien Platz oben am Rande der Schluht. Es war Naifti, ber aus der Tiefe hervorbrach, in rafendem Ungeflüm, ganz außer fich, mit wutverzerrten Zügen. Er warf fih auf die Bank, richtete fich gerade empor und faß wohl zwei Mis nuten lang unbeweglih da dann ſchlug er die Hände sufammen und bebedite mit ihnen fein Geficht. „War e8 ein Traum oder war es Wirklichkeit ?” flüfterte er wie geiſtesabweſend. „Rein, nein e8 war eine Taͤuſchung der Sinne, e8 kann jo nicht fein! Es fam mie nur fo vor!...“

CH 477 GC

Er ſtand auf, feste fich aber fogleich wieder, als ob er auf etwas laufchte; dann legte er bie Hände auf die Knie und brach in lautes, nervoͤſes Lachen aus.

„un haben fie ein Ende, all die Zweifel, die Fragen, die Seheimniffe!” fagte er und lachte wieder hell auf, daß er fich förmlich ſchuͤttelte. „Das ift fie alſo die Göttin, die Edle, Reine! Das Weib mit der fchönen Seele! Wiera, die Statue! Und er!... Und der Paletot, den ich eigens beim Schneider für ben armen Verbannten beftellt babe der liegt da vor dem Pavillon herum! Und das Geld ... die dreihundert Rubel... die hat er einfach als Wett⸗ gewinn eingezogen... Die früheren achtzig Rubel hat er in Abzug gebracht, und zweihundertundzwanzig follte ich ihm fchiden.... macht genau dreihundert! D, bie ehrliche ©eele... Sekleteja Burdalahoma !”

Er lachte von neuem laut auf, doch Hang es jetzt mehr wie ein Stöhnen. Dann fchwieg er plöglich ſtill und griff mit der Hand nach dem Herzen.

„D, wie das bier ſchmerzt!“ ftöhnte er. „Wera, die Katze ... Wiera, das ſchwache, hinfällige Weibchen... das in Häglicher Geilheit dem erſten beften ſtaͤmmigen Rüpel zur Beute wird!... Wohl mag fie tun, was fie will, fie ift ja frei und Herrin über fich felbft; aber wie konnte fie es wagen, jemanden zu verhöhnen, ber fo unvorfichtig war, eine ehrliche Leidbenfchaft für fie zu fallen?... ihren Freund obendrein, ihren Bruber?...” Kochend vor Wut fchleuderte er e8 heraus: „D, Rache, Rache !”

Er fprang auf und fland in ſchmerzlichem Bruͤten da. Doch worin follte feine Rache beſtehen? Sollte er zur Großtante hinlaufen, fie bei der Hand nehmen und hierher führen, mit einer ganzen Menfchenfchar, mit Laternen, die bie Schande beleuchteten ? Sollte er ihr gurufen: „Das ifl

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die Schlange, die Ste dreiundswansig Sahre lang an Ihrem Buſen genährt haben!” ?

Er wehrte ab: „Nein, nein, das ging nicht!" und fuhr fi mit der Hand über die heiße Stirn.

„Das wäre eine Gemeinheit, Boris!” fprach er flüfternd zu fich felbft. „Das bringft du nie fertig! Das hieße fi nicht an ihr, dieſer Schlange, rächen, fondern an ber Groß⸗ tante, die bir fietS eine zweite Mutter gemwefen iſt.“

Er ließ refigniert ben Kopf bangen; dann warf er ihn plöglich wieder in den Naden und ſtuͤrzte in einem Anfall von Raferei nah der Schlucht.

„Dort feiert nun die Leidenfchaft ber Goſſe ihren Steg ja, ja! Diefe dunkle Nacht birgt ben geheimnisvollen Triumphgeſang der Liebe!” fpottete er mit verächtlichem Lächeln. „Der Liebe!” wiederholte er. „Und Mark ift ber Sieger! Diefes Irrlicht, diefer Raufbold, diefer liberale Wirtshausſchwaͤtzer! Ach, Schwefterchen wärft du doch bei dem einen Verehrer, dem häbfchen, ſtaͤmmigen Tuſchin geblieben I” flüfterte er giftig. „Der befitt doch wenigſtens Wälder und Felder und Seen, und er Eutfchiert feine Dferde wie ein Roffelenker in Olympia. Aber biefer Vaga⸗ bund!...”

Der Atem wollte ihm verfagen.

„Das find nun unfere Männer der Tat!“ flüfterte er. „Segen den Poltzeimeifter die Fauſt in bee Taſche Ballen, ben Stubenmäbchen und Küftersfrauen bie Torheit ber Ehe demonftrieren, mit Hilfe von Feuerbachſchen Argus menten und unter PVorfpiegelung einer unbeswinglichen Leidenſchaft für die Ergründung der Naturgefege fih in dag Vertrauen der Weiber einfchleichen, um dann folche ſchwachnervige Heine Räfonneurinnen zu verführen das fe ihre Programm... D, bleib nur dort auf dem Grunde

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der Schlucht, du erbärmliches, geiles Weibchen, geh dort sugrunde wie jener arme Selbfimdrder! Das ift mein Abſchiedsgruß an dich!...“

Er wollte nach der Schlucht hin ausſpucken und ſtand ploͤtzlich wie erſtarrt: wider ſeinen Willen, aller Wut und Verachtung zum Trotz, erhob ſich langſam in ſeiner Vor⸗ ſtellung vom Grunde der Schlucht Wieras Bild und ſtand in fo bezaubernder Schönheit vor ihm, wie er es nie ges ſehen.

Ihre Augen gluͤhten in Leidenſchaft, ſo hell wie zwei Sterne. Nichts Boͤſes oder Kaltes lag in ihnen, keine Unruhe, keine Trauer; nichts als Gluͤck ſprach aus ihrem hellen Glanze. Ihre Bruſt, ihre Arme, ihre Schultern, kurz die ganze Geſtalt war von vollem Leben und geſunder Kraft durch⸗ ſtroͤmt. |

Sie blidte verföhne auf die ganze Welt. Sie fland auf ihrem Piedeftal, doch nicht als bleiche Marmorgeftalt, fondern als lebendiges, einen unwiderſtehlichen Zauber ausftrahlendes Weib, als poetifhe Viſion, wie fie ihm einftmals vorgefehwebt, ald er unter dem frifhen Eins drude von Sofias Schönheit nach Haufe ging; zuerſt eine falte, anfcheinend leblofe Statue, hatte fie fih allmählich in ein lebendes Weſen verwandelt, um das herum plöglich alles zum Leben erwachte, bie Bäume zu grünen und gu blühen und ein warmer, feinsfroher Pulsichlag fich zu regen begann...

Und nun fiand fie vor ihm, diefe lebendige Geſtalt das Weib, Vor feinen Augen vollgog fih das Erwachen Mieras, die bisher eine Statue gemwefen, aus jungfräus lihem Schlafe. Es war ihm, als würde feine Bruſt zus gleich von kaltem Eife erfülle und von heißen Flammen durchlodert; er empfand die fehmerzlichften Qualen und

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konnte doch die Augen von diefem folgen Bilde ber Schoͤn⸗ heit nicht abwenden, das voll Liebe auf die ganze Welt ſchaute und auch ihm mit freundfchaftlihem Lächeln bie Hand reife...

„IH bin gluͤcklich!“ Härte er fie fluͤſtern.

Su ihren Füßen lag Mark, einem Löwen gleichend, der ber Nuhe pflegte, mit bem Ausbrud ſchweigenden Triumphes im Geſicht; ihe Fuß ruhte auf feinem Kopfe... Raiffi sucdte zuſammen, fuchte mit Gewalt zur Bellnnung zu fommen.

Das Entfeßen über den Fehlteitt feiner Schweſter, biefer Schönheit, diefer ntebergemähten Blume, trieb ihn hinweg die Eiferfucht aber, die Wut und vor allem der Reiz diefer neuen, unmwiderftehlihen Schönheit der zum Leben erweckten Wiera zogen ihn wieder zuruͤck nach der Schlucht, zu dieſem Siegesfeſte der Liebe, biefer hehren Feier, welche die ganze Welt, die ganze Natur mit gu begehen fchien. Es war ihm, als höre er Stimmen, als bringe der Geſang und ber Stügelfchlag von Voͤgeln an fein Ohr, als vers nehme er zärtliches Liebesgefluͤſter und Teidenfchaftliche Seufzer, die den ganzen Garten anzufüllen und big zur Wolga hinuͤberzutoͤnen ſchienen .. .

Boll Angſt, wie verſteinert, ſtand er da am Rande der Schlucht und vertiefte ſich in Gedanken ganz in den Anblick dieſer neuen, zum Leben erwachten Wiera, um im naͤchſten Augenblick wieder von unmenſchlichem Schmerz ergriffen zu werben und erbleichend zu fluͤſtern: „Nache, Rache!” Ningsum aber, und dort in der Tiefe, war es fill und dunkel, Da plöglich fah er gehn Schritte weit entfernt die Silhouette einer menfchlichen Geftalt, die fih som Haufe ber ihm näherte. Er blickte voll Überrafchung Hin.

„Wer ift da?” fragte er grimmig.

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„Ich bin es... ih...”

„Wer denn?” wieberholte er noch grimmiger.

„Ich bin es, Mr. Boris... Pauline...“

„Stiel? Was wollen Sie hier?”

„Ich bin gelommen... ih weiß... ih fehe... Sie haben fchon lange etwas auf dem Herzen, das Sie mie fagen wollen... .” flüfterte Panlina Karpowna geheimnigs voll. „Aber Sie getrauen fih nicht... Du courage! Hier hört und fieht ung niemand... esperez tout...“ „Bas will ich Ihnen fagen? Reden Sie...“

„Que vous m’aimez oh, ich habe e8 laͤngſt bemerft!... N’est-ce pas? Sie fuchten vor mir zu fliehen... aber die Leidenſchaft hat Ste immer wieder gurüdgetrieben . . .” Er faßte ihre Hand und zog fie nach der Schlucht zu. „Ah! De gräce! Aber nicht fo brüast... Was tun Sie deun?... Laflen Sie mich los!...“ fehrie fie voll Angſt fie war allen Ernſtes erfchroden.

Doch er hielt ihre Hand feit umklammert und zog fie bie dicht an den Rand der Schlucht.

„ch lechze nach Liebe!” rief er wie in rafender Leidenfchaft. „Heute ift Die Nacht der Liebe hören Sie?... Hören Sie die Seufzer ... die Kuͤſſe? Das tft die Leidenfchaft, Die heute triumphiert ja, die Leidenſchaft, die Leibenfchaft!...” „Laſſen Ste mich 108, laffen Ste mich log!” kreiſchte fie in jahem Schred. Ich falle Hin, mir ift fo ſchlecht ...“

Er ließ fie 108; feine Arme fanten herab, und er atmete tief auf, Dann ſah er fie durchdringend an, als ob er fie eben erft bemerkte.

„Hort von bier! Kort, nur fort!” rief er aus, und wie ein Wilder flürgte er, fie vor der Schlucht ſtehen laſſend, davon, lief durch den Park und ben Blumengarten und gelangte auf den Hof.

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Auf dem Hofe blieb er ſtehen, holte tief Atem und ſah fih um. Er hörte, wie jemand am Brunnen im Waſſer pläts ſcherte, es ſchien Jegorta zu fein, der ſich zur Nacht Geficht und Hände wuſch.

„Hol meinen Reifekoffer herunter!” rief er ihm gu, „morgen fahre ich nach Petersburg!”

Und er goß fih aus der Brunnenrinne ſelbſt Waſſer auf die Haͤnde, befeuchtete damit die Augen und ben Kopf und ging mit rafhem Schritt nach feinem Zimmer.

Er Tief hinaus auf die Terraffe, fehritt im bloßen Nod auf dem Hofe hin und her, fah zu Wierad Fenſter hinauf umd ging wieder nach feinem Zimmer, um ihre Ruͤckehr zu erwarten. In dem Nachtdunkel jedoch konnte er feine sehn Schritte weit fehen, und fo verlegte er feinen Bes obachtungspoften nach ber Akazienlaube. Doc hier padte ihn von neuem die Wut das Laub war ſchon faſt ganz abgefallen, fo daß er nicht ſicher war, in feinem Verſteck ungeſehen zu bleiben.

Dennoch blieb er bis zum Einbruch der Morgendaͤmmerung in der Laube. Er ſaß wie auf Kohlen nicht aus Leiden⸗ ſchaft, denn ſeine Leidenſchaft war wie durch Zauberkraft verſchwunden. Welche Leidenſchaft haͤtte auch angeſichts eines ſolchen Hinderniſſes ſtandgehalten? Nein, er emp⸗ fand nur den unwiderſtehlichen Wunſch, der neuen Wiera in die Augen zu fehen und dem geilen Weibchen mit einem verachtungsvollen Blicke die Schmach zu vergelten, die fie ihm, der Großtante, dem ganzen Haufe, ber ganzen Ges fellfchaft, kurz dem gefamten Menfchentum, dem ges famten weiblichen Gefchlechte angetan hatte.

„Niebe offen und ehrlich, ſtiehl niemandes Vertrauen, ſchwelge in deinem Gluͤcke und bring ihm Opfer, treib mit der Achtung der Menfchen, mit ber Liebe der Deinigen

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tein frevelhaftes Spiel, luͤge nicht fo ſchaͤndlich und ers niedrige das Weib nicht in dir!” perorierte er im ftillen. „Ja, einen Bli noch will ich ihre zuwerfen darin foll fie ihre Strafe, ihre Verurteilung lefen, und dann will ich für immer abreifen.”

Er bebte in fieberhafter Ungebuld und Erwartung, wann fie wohl gurüdkehren werde. Wie ein Panther wollte er fie aus dem Hinterhalt anfallen, wollte ihre den Weg vers fperten, ihr jenen Blid zumwerfen, ihr ein Wort nur ein einziges! entgegenfchleudern ... Wie lautete es doch, diefes Wort?

Er faß in einem Winkel ber Laube, fuhr fih mit den Händen durch das ſtark gelichtete Haar, betaftete fein Geflcht, rang die Hande und kruͤmmte fih wie in heftigen Krämpfen. Ploͤtzlich ſprang er auf und warf den Plaid gur Seite, in den er ſich gehuͤllt hatte; fein Geficht erglängte in boss hafter Schadenfreude, die ein plöglich auftauchender Ges Dante in ihm hervorrief.

„Das Schidfal felbft Hat mir das zugefluͤſtert!“ ging’s ihm duch den Kopf, und er lief rafch aus der Laube nad dem Tor zu.

Das Tor war noch geichloffen; er blidte um fih und bes merkte in Sſawelijs Fenſter den matten Schimmer einer Lampe. |

Er Hopfte an das Fenfter, und als Sfawelij es öffnete, bieß er ihn den Schläffel zum Pförtchen herausbringen er habe einen Gang vor, und das Pförtchen folle offen bleiben. Vorher jedoch Tief er noch einmal nach feinem Zimmer, um ben goldenen Buketthalter zu holen, den Wiera für Marfinka beftimmt hatte. Dann ging er fporns fireihs zum Gärtner, nach ber Drangerie. Eine ganze Weile mußte Raiſki Hopfen, bis der Gärtner endlich ers

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wachte, worauf dann beibe fih nach dem Gewächshaufe begaben.

Der Tag brach an. Raiſki ließ feinen Blid über die Staus den und Bäume des Gewaͤchshauſes gleiten, und ein bos⸗ haftes Lächeln huſchte über fein Geſicht. Er wies den Gärtner an, welhe Blumen er in das für Marfinka bes ſtimmte Bukett hineinnehmen folle: alles, was noch irgend an huͤbſchen Blüten vorhanden war, fam hinein, und eg wurde ein ganz präctiger Strauß.

„Ich brauche noch ein zweites Bukett ...“ fagte Raiſki mit unficherer Stimme.

„Bas für eins?”

„Eins aus Drangenblüten ...” flüfterte er und fühlte, wie er ſelbſt bei feinen Worten erblaßte,

„Ein Brautbukett alfo? Die eine Ihrer jungen Damen macht ja wohl Hochzeit?” meinte ber Gaͤrtner.

„Kann ich nicht ein Glas Waffer befommen?.. .” fragte Raiſki, ohne auf die Frage des Gaͤrtners zu antworten. Er trank begierig das Glas Waffer aus und trieb den Gärtner an, fih mit dem Bukett zu beeilen. Endlich war es ferfig. Raiſki Inauferte nicht beim Bezahlen, ließ fich beide Sträuße in einen Bogen Papier einwideln und feug fie vorſichtig nach Haufe.

Er mußte zunaͤchſt erfunden, ob Wjera nicht inzwifchen in feiner Abweſenheit heimgekehrt war. Er ließ Marina weden, hieß fie auf fein Zimmer fommen und befahl ihr nachzufehen, sb dag gnädige Fraͤulein noch zu Hauſe oder bereits ausgegangen ſei.

Marina berichtete, das Fraͤulein ſei ſchon fort, worauf er ihr befahl, dag für Marfinka beſtimmte Bukett in Wjeras Zimmer auf den Tiſch zu ſtellen und das Fenſter in ihrem Zimmer zu oͤffnen ſie habe ihn ſelbſt am Abend gebeten,

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für das Offnen des Benfters zu forgen. Dann fchidte er fie fort, begab ſich wieder auf feinen Poften in der Laube und wartete in einem feltfam befflemmenden Gefühl, in dem bie langſam fchwindende Leibenfohaft, mit Eiferfucht und auch wohl ein wenig Mitleid gemifcht, zum Ausdrud kam. Bor der Hand jeboch drängte das Bemwußtfein der erliktes nen Kraͤnkung und der ſchon allsulange ertragenen Dual alles flärkere menfchlihe Empfinden in ihm noch zuräd. Sein Zorn brachte die Stimme des Mitgefühls in ihm zum Schweigen. Der Geift des Guten in ihm verhielt fi fiumm und traurig, feine langfame, füille Arbeit war ges waltfem gehemmt, und alle böfen Geiſter gerrten an Raiſkis Seele,

Das Gefiht auf die Hand geftügt, faß er da, ließ den Blid in die Runde fchweifen und fah Doch nichts als den Gartens weg, der nach dem alten Haufe führte, fühlte nichts als das aͤtzende Gift Ihrer Lüge, ihres Betruges.

„SH will diefen Hund, diefen Mark, über ben Haufen ſchießen ... oder mir felbft eine Kugel durch den Kopf jagen; eins von beiden muß gefchehen ... vorher jedoch ... wit ih noch das hier zur Ausführung bringen...” fläfterte er.

Er hielt den Drangenblätenftrauß mit beiden Händen feft, wie ein koſtbares Heiligtum, und betrachtete es voll Ent, süden, voll innerer Genugtuung; zwiſchendurch ſpaͤhte er immer wieber durch ben Blumengarten nach ber bunflen Allee, ob fie nicht endlich komme.

Es war bereitd ganz faghell. Ein feiner Regen fiel, die Wege wurden fehlüpftig.

„Soll man ihnen nicht ein paar Regenſchirme ſchicken?“ dachte er hoͤhniſch Lächelnd, während er mit der Hand zaͤrtlich über das Bukett ſtrich und daran roch.

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Ploͤtzlich erblicte er Wiera in ber Berne eine ſolche Vers wirrung und Schwäche, ein folder Schred befiel ihn, daß ee nicht nur nicht imflande war, fie wie ein Panther aus dem Hinterhalt anzufallen und ihr den Weg zu verlegen, fondern fich felbft am der Bank fefthalten mußte, bamit er nicht hinfiele. Sein Herz ſchlug heftig, feine Knie zitterten; er heftete feinen Blid auf Wera, die näher und näher kam und fonnte ihn nicht losreißen; er wollte ſich ers heben und vermochte es gleichfalls nicht; ſelbſt dag Atmen bereitete ihm Schmerzen.

Sie kam daher, den Kopf auf die Bruſt gefenkt und ganz in die ſchwarze Mantille gehuͤllt. Man fah nur die weißen Hände, die die Mantille auf der Bruft fefthielten. Sie ging ohne Haft, ohne den Kopf zur Seite zu wenden, umſchritt vorfichtig die Heinen Negenlachen, die ſich gebildet hatten, betrat langſam die Treppe vor dem alten Haufe und vers ſchwand im Flur.

Es war Raifti gumute, als hätte man ihm ſchwere Eifenfeffeln abgenommen. Er fprang, ganz bleih, aus dem Hinterhalt hervor und verftedte fich unter ihrem Fenſter.

Ste aber betrat, wie im Schlafe hinwandelnd, ihr Zimmer; fie bemerkte nicht, daß ihre Kleider, die fie beim Fortgehen achtlos auf den Boden geworfen hatte, bereits wieder weggeräumt waren, fah weder das Bukett auf dem riſche, noch das geoͤffnete Fenſter.

Mechaniſch warf ſie die beiden Mantillen auf den Diwan, zog die ſchmutzigen Schuhe aus, holte mit dem Fuße ihre Atlaspantoffeln unter dem Bett hervor und zog ſie an. Dann nahm ſie, den Blick irgendwohin in die Ferne rich⸗ tend, auf dem Diwan Platz, ſchloß wie in tiefer Ermattung die Augen, lehnte ſich mit Ruͤcken und Kopf gegen das Diwankiſſen und verſank in einen ſchlafaͤhnlichen Zuſtand.

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Kaum eine Minute mochte fie in diefer Haltung dagefeflen haben, als ein dumpfes Geräufch fie wedte; es war, als fei etwas auf den Fußboden gefallen. Sie dffnete die Augen, richtete fich raſch in die Höhe und blickte um ſich. Auf dem Boden lag ein großer Strauß von Orangen⸗ blüten, ber von draußen durchs Fenfter geworfen war. Sie warf einen flüchtigen Blid darauf, wurde Bleich wie der Tod und ging, ohne den Strauß aufzuheben, raſch nah dem Fenfter. Sie fah Raiſki, der fich eben entfernte, und war einen Augenblid ſtarr vor Beſtuͤrzung. Er wandte fih um, und ihre Blicke trafen fich.

„Der geoßmütige Freund... der Ritter...” flüfterte fie und holte mühfem Atem, als empfinde fie einen tiefen Schmerz. est erft bemerkte fie dag zweite Bukett auf bem Tiſche, das fie felbft für Marfinka beftellt hatte. Ste nahm es und führte es mechanifch an ihr Geficht, doch es ent; glitt Ihren Händen, und fie fiel bemußtlos neben dem Strauß auf den Teppich nieder.

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Die Schlucht

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Fuͤnfter Teil

RITTER

Erftes Kapitel

m folgenden Tage wurde in der Dorfliche von Malls

nowka feit gehn Uhr morgens die große Slode zum Hochamt geläutet. Im Haufe sing alles deunter und druͤber. Die Kalefche wurde angefpannt, und auch die altmodifhe Galakutſche fam zum Vorfchein. Die Kutfcher zogen ihre neuen Bells blauen Lioreeröde an, falbten fih die Köpfe mit Butter ein und waren vom frühen Morgen an betrunfen. Die sum Hofgefinde gehörenden Frauen und Mädchen trugen ihre buntfarbigen Kattunkleider nebft Kopftüchern und allerhand Bändern. Die Stubenmäbchen rochen fchon auf gehn Schritte nach Nellenpomade. Jegorka erſchien in einem flugerhaften Aufjuge, wie man ihn noch nie gefehen; er trug ein ganz kurzes Jackett, das ihm Raiſki gefchentt hatte, gruͤn gemwärfelte, faft neue Beinkleider, die er gleichfalld von Raiſki bekommen hatte, und eine blaue Weſte nebft orangegelbem Halstuch, die er beide aus eigener Tafche fich hinzugekauft hatte. Er tauchte plöglich in diefem Aufzuge vor Tatjana Markowna auf. „Was iſt denn mit die 108?” rief fie In firengem Tone aus. „Du fiehft ja wie eine Vogelſcheuche aus! Herunter

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mit den Lappen! Waſſiliſſa! Sie follen alle Livreeroͤcke anziehen Sſereſchka fowohl, wie Stepka und Petruſchka, und auch dieſer Narr da!” fagte fie, auf Jegor zeigend. „Jakow foll den ſchwarzen Brad und dazu eine weiße Binde tragen. Sie follen bei Tiſch aufwarten und auch am Abend die Linreen anziehen I” | Das ganze Haus fah feſtlich aus, nur Mita, bie an dieſem Morgen noch tiefer als fonft im ihre Keller und Kuͤhlraͤume binabfteigen mußte, fand feine Zeit, irgendein Kleidungs⸗ ſtuͤk anzuziehen, das fie von der geftrigen oder morgigen Ulita unterſchieden hätte. Die Koͤche trugen ſchon vom frühen Morgen ab ihre weißen Mügen und kamen aus dem Kochen und Braten nicht heraus da hieß es das Fruͤhſtuͤk, das Mittagefien, das Abendbrot bereiten, bald für die Herrfchaften, bald für das eigene Hofgeſinde, bald für die Dienerfehaft vom andern Ufer der Wolga.

Die Großtante hatte bereitd ganz früh am Morgen alle Anordnungen für den Tag getroffen und um act Uhr große Toilette gemacht, worauf fie fih gu ihren Gaͤſten und zukünftigen Verwandten in den Saal begab im vollen Stange ihrer greifenhaften Schönheit, mit der verhaltenen Wuͤrde der Herrin und dem liebenswuͤrdigen Lächeln ber glädlichen Yrautmutter umd gaftfteien Hausfrau. Sie trug ein einfaches, kleines Haͤubchen auf dem grauen Haar; das hellbraune Seidenkleid, das ihr Raiſki aus Petersburg mitgebracht hatte, Heibete fie ausgezeichnet. Den Hals bes dedte ein Chemifert mit breitem Kragen aus alten, vers gilbten Spigen. Auf einem Seſſel im Kabinett lag bet große tuͤrkiſche Schal, den fie umnehmen wollte, fobald die Säfte zum Fruͤhſtuͤck und Mittageſſen erſchienen.

Sept war fie eben im Begriff, mit den Ihrigen zur Meſſe zu fahren, und waͤhrend ſie wartete, bis alle verſammelt

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waren, fchritt fie langſam, die Arme über ber Bruſt vers fchränft, im Saale auf und ab. Sie fah faft gar nichts von dem Treiben ringsum, von dem Eins und Ausgehen der Leute, bem Säubern der Teppiche, Lampen und Spiegel, dem Abnehmen ber Übergüge von ben Möbeln.

Sie trat bald an das eine, bald an dag andere Fenſter, fah nachdenklich auf den Weg hinaus, blidte dann von der andern Seite in ben Park, von ber britten Seite auf die Höfe hinaus, Am Haufe hatten Wafftliffa und Jakow dag Kommando übernommen, ihnen hatte die Dienerfchaft gu gehorchen, während Sfawelif das Hofgefinde befehligte. Wikentjews Mutter trug ein perlgraues Kleid mit bunfler Spigengarnierung. Wikentjew war bereits um acht Uhr in Frack und weißen Handfohuhen erfehienen, man wartete nur noch Marfinkas Erfcheinen ab.

Als fie dann kam, kannte Tatjana Markownas Freude und Stolz feine Grenzen. Marfinka fleahlte in ihrer ganzen Schönheit und Frifche, und an diefem Morgen fam noch ber Glanz ber Freude über die aufrichtige Teilnahme hins zu, bie ihr von allen Seiten entgegengebracht wurbe; nicht nur von ber Sroßtante, bem Bräutigam und beffen Mutter, fondern auch von allen übrigen Hausgenoſſen. In jedem Geſichte, big zur legten Hofmagd hinunter, las file uns geheuchelte Freundfchaft, Zuneigung und Mitfreude an biefem ihrem Chrentage,

Die Großtante war bereits, wie fie eben aufgeflanden war, bei ihr im Zimmer gewefen, Als fie beim Erwachen um fich geſchaut hatte, war fie ganz hin gemwefen vor freudigem Staumen, und ein überrafchtes „Ach!“ war ihren Lippen entſchluͤpft. Während fie fehlief, hatten unfichtbare Hände alle Wände ihrer beiden Zimmer mit Girfanden aus feifchem Laub und Blumen geſchmuͤckt. Als fie fih dann

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nach ihrer einfachen Bluſe umſah, um fie anzuziehen, fand fie ſtatt ihrer auf einem Seflel neben Ihrem Bett ein Morgens neglige aus Muflelin und Spigen, mit rofa Schleifen. Noch hatte fie fih von ihrem freudigen Schred nicht erholt, als fie auf zwei weiteren Seſſeln zwei reisenbe Aeider, ein blaues und ein rofenrotes, erblidee fie konnte wählen, welches von beiden fie anziehen wollte. „AH“ rief fie aus, fprang aus bem Bett unb probierte, ehe fie noch die Strümpfe angesogen hatte, das Neglige an, lief nach dem Spiegel und war ganz ſtarr; die ganze Toilette war mit Gefchenten vollgeftellt.

Ste wußte nicht, was fie zuerſt betrachten, zuerſt in bie Hand nehmen follte. Von den Kleidern hinweg zog es fie zu einem wundervollen Kaͤſtchen aus Roſenholz fie oͤff⸗ nete e8 und fand darin ein vollfiändiges Damenneceffaire, faft alles, was zur Tollette gehörte, verfchiebene ſilber⸗ verzierte Kriſtallflakons, Kaͤmmchen, Bürfihen und aller, hand Heinen Zubehör.

Ste begann jeden einzelnen Gegenftand gu betrachten, geiff mit zitternden Händen nach dem erfien Flakon, erblidte ben zweiten und ftellte jenen fort, fah einen dritten, vierten, nahm bald einen Kamm, bald eins ber in Silber gefaßten Buͤrſtchen und entbedte zu ihrem Erfiaunen, daß jeder einzelne Gegenfland das Jnitial „M.“ und die Juſchrift „von ihrer zukünftigen maman” trug.

„Ach!“ rief Marfinka, ganz außer fih vor Entzäden, und fieß den Dedel auf das Käftchen fallen.

Neben dem Käftchen lagen noch ein paar größere und klei⸗ nere Futterale. Sie wußte nicht, welches fie zuerſt in bie Hand nehmen, was fie zuerſt betrachten ſollte. Sie fah flüchtig in den Spiegel, warf das dichte blonde Haar, dag ihr ind Geficht fiel und fie am Sehen hinderte, zuruͤck und

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taffte ſchließlich ſaͤmtliche Futterale von der Toilette auf. Sie nahm fie mit ins Bert und begann da in aller Muße ihren Inhalt gu betrachten.

Ste fürchtete fih jedoch, die Futterale gu oͤffnen, zoͤgerte eine ganze Weile und oͤffnete dann dag Heinfte von ihnen. Ein Ring lag darin mit einem einzigen großen Smas ragd.

„Ach!“ rief ſie von neuem, ſteckte den Ring an, ſtreckte den Arm aus und betrachtete das Kleinod mit Entzuͤcken. Sie öffnete ein zweites, größeres Futteral in biefem lagen ein paar Ohrringe. Sie ftedte fie in bie Ohren und neigte fih, im Bett figend, vor, um fih im Spiegel gu betrachten. Dann öffnete fie noch zwei Futterale und fand darin ein paar große, maffive Armbänder in Form von Schlangen, mit Rubinen flatt der Augen und mit bligens den Heinen Brillanten, die über bie ganze Oberfläche vers teilt waren. Auch die Armbänder legte fie fogleich an. Endlich öffnete fie auch dag größte ber Futterale.

„Ach!“ rief fie faft entfegt und fah einen ganzen Strom von berrlihen Brillanten, einundzwanzig Städ, genau ſo viel, als fie Jahre zählte.

Eine Karte lag darin, auf der ſtand gefchrieben: „Zu biefen Brillanten gehört noch ein weiterer, ganz befonders koſt⸗ barer nämlich ich ſelbſt. Häten Ste Ihn mit Sorgfalt! Ihr herzallerliebſter Wikentjew.“

Sie lachte hell auf, ſah ſich dann vorſichtig um, druͤckte einen Kuß auf die Karte, erroͤtete bis uͤber die Ohren, ſprang aus dem Bett und verbarg die Karte in dem kleinen Schraͤnkchen, in dem ſie ihre Naͤſchereien aufbewahrte. Dann lief ſie wieder nach der Toilette und ſah noch einmal nach, ob da nicht noch irgend etwas laͤge, und fand wirklich noch ein Futteral.

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Es war Raiſkis Gefchent: die Uhr mit dem Emaildede, der ihre Chiffre trug, famt der goldenen Kette. Sie (ah das Gefchent mit großen Augen an, ließ dann ihren Blid über die übrigen Gefchente fchweifen und ſchaute nach den mit Girfanden und Blumen gefhmädten Wänden. Und plöglich ließ fie fich, die Augen mit den Händen bebedend, auf einen Stuhl finten, und ein Strom heißer Tränen flürgte aus ihren Augen.

„D mein Gott!” ſprach fie, vor lauter Gluͤc aufſchluchzend, „warum lieben fie mich nur alle fo fehr? Ich habe doch nie einem von Ihnen etwas Gutes getan und werbe es auch niemals fun koͤnnen!...“

So traf fie die Großtante an, noch nicht angezogen, ohne Schuhe und Strümpfe, mit den Ringen an den Fingern, den Nrmbändern, den Brillantohrringen, gang in Tränen gebadet. Sie erſchrak zuerſt, als fie Marfinka fo erblidte; dann aber, fobald fie vernommen, warum fie weinte, ward fie von Ruͤhrung und Freude ergeiffen und bebedte fie mie Küffen.

„Das iſt alles nur darum, weil Gott dich liebt, mein Kind,” fagte fie, während fie fie fireichelte. „Er lohnt bie dafür, Daß du felbft alle Ttebft, und daß allen, die Dich nur als feben, fo warm und wohl ums Herz wird.”

„Nun, ich will nichts von Nikola Andrejewitſch fagen der ift mein Bräutigam, und auch von feiner Mutter nichts,” verſetzte Marfinka, während fie ihre Tränen trod—⸗ nete, „aber der Bruder, Boris Pawlowitſch: was bin Id ihm?...”

„Dasſelbe wie den andern: eine Augenweide, ein Menſchen⸗ find, deffen bloßer Anblid das Herz erfreut, Du biſt ſo befcheiden, fo gut und rein, und fo folgfam ...“ Im flillen freilich dachte fle: „Diefer Verſchwender warum kauft

LH 497 CH er nur fo teure Geſchenke? Ich will ihm gehoͤrig den Kopf waſchen!“ „Als wenn er's geraten hätte, Tantchen; ich wuͤnſchte mir fon immer folch eine Uhr mie Blauer Emaille.“ „Und du fragft auch gar nicht, warum Tantchen bir nichts gefchentt hat?” Marfinka verfchloß ihr ben Mund mit einem Kuſſe. „Lieben Sie mich nur immer, Tantchen, wenn Ste wollen, daß ich slädlich fein foll.. .” „Lieben? Ja, meine Liebe beſitzt du und bier haft du mein tägliches Geſchenk!“ fagte fie und bekreuzte Marfinka. „Und damit du dieſes Kreuz, mit dem ich dich fegne, auch fpäter nicht vergißt, haft du hier noch etwas... „“ Sie begann in ihrer Tafche zu fuchen. „Sie haben mir doch die beiden Kleider gefchenkt, Tant⸗ den!... Und wer bat benn die Girfanden und Blumen ba fo gefhidt aufgehaͤngt? ...“ „Einen Teil hat dein Bräutigam geſchickt und die Abrigen Paulina Karpomna... In aller Heimlichkeit ließen fie es geftern herbeingen, und heute ganz früh haben Waſſiliſſa und Paſchutka fie Befeftigt... Die Kleider gehören zu deiner Ausſteuer, du wirft noch mehr als zwei vorfinden. Da, nimm...” Sie zog ein Futteral aus der Tafche, nahm ein goldenes Kreuz mit vier großen Brillanten heraus und hängte es ihe um ben Hals. Dann folgte noch ein einfaches, glattes Armband mit Widmung und Datum. Marfinka kuͤßte der Großtante die Hand und war nahe daran, von neuem in Tränen auszubrechen. „Alles, was Tantchen befige und fie ift nicht ganz arm bekommt ihr beide, du und Wierotſchka, zu gleichen Zeilen... Nun zieh dich aber ganz raſch an!“

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„Wie huͤbſch Sie doch ausfehen, Tanthen! Der Bruder hat ganz recht: Tit Nikonytſch wird fih gewiß noch in Sie verlieben . . .”

„Schwatz keinen Unſinn!“ fagte bie Großtante halb drgers lich. „Seh dann einmal gu Wierotſchka hinuͤber und fieh nach, was fie macht. Sie foll nur nicht zur Mefle su ſpaͤt tommen! Ach würde felbft mal hinaufgehen, aber ich ſcheue das Treppenfteigen ...“ „Sofort, ſofort lauf’ ich hin . . .” ſagte Marfinka und ging daran, fich anzuziehen.

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Zweites Kapitel

ine halbe Stunde wohl lag Wiera ohnmaͤchtig da,

dann erwachte fie und blickte um fih. Der Halte Luftſtrom, der durch das offene Fenfter hereindrang, ers feifchte fie. Sie blieb einen Augenblid auf dem Teppich figen, erhob fi dann, ſchloß das Fenſter, ſchritt ſchwankend auf das Bett zu und ſank darauf nieder. Unbeweglich, nur mit dem großen Tuche bededt, das ſie am Abend aufs Bett geworfen, blieb ſie liegen. Sie war ganz entkraͤftet und verfiel in einen ſchweren Schlaf. Der erfhöpfte Drganismus verfagte gleichfam, Bewußt⸗ fein und Wille waren ausgefchaltet. Das aufgelöfte Haar war über das Kiffen gebreitet. Sie war gang bleich und ſchlief wie eine Tote. | Drei Stunden fpäter wedte der Laͤrm im Hofe, das Gewirr menfhliher Stimmen, das Räderfnarren und Glodens geläut fie aus ihrer Lerhargie. Ste dffnete die Augen, ließ fie durchs Zimmer fchweifen, lauſchte auf den Laͤrm Draußen, kam für einen Augenblid zum Bewußtſein, ſchloß dann wieder bie Augen und fiel wieder in ihren Zuſtand, ber halb Schlaf, Halb Dual war, zuruͤd. Da klopfte jemand leife an die Tür ihres Zimmers. Sie

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ruͤhrte fich nicht. Das Hopfen wurde lauter wiederholt. Sie hörte es, fand plögli vom Bett auf, fah in ben Spiegel und erſchrak vor fih felbft.

Sie widelte raſch ihr Haar um bie Hand, formte es zu einem Knoten und befeftigte diefen, fo gut es ging, mit einer großen ſchwarzen Haarnadel auf dem Kopfe. Daun nahm fie das Tuch um die Schultern, hob den für Mars finta befimmten Blumenſtrauß vom Boden auf und legte ihn auf den Tiſch.

Das Klopfen wiederholte fih, während zugleih jemand leife an ber Tür fragte,

„Sofort!“ fagte fie und öffnete bie Tür.

Marfinta kam hereingeflogen wie ein Regenbogen ſchim⸗ mernd in ihrer Schönheit, ihrem Feſtſchmuch, ihrer Froͤhlich⸗ feit, Sie blidte auf Wiera und blieb plöglich ftehen. „Bas tft die, Wjerotſchka?“ fragte fie. „Du biſt nicht wohl!...“

Ihre Froͤhlichkeit ſchwand, und helle Augſt malte ſich auf ihrem Geſichte.

„Nein, nicht ganz...” antwortete Wiera mit ſchwacher Stimme. „Nun, ich wänfche dir läd...“

Sie kuͤßten fi.

„Wie reizend du bift, wie huͤbſch angezogen!” fagte Wiera und verfuchte gu lächeln.

Doch es gelang ihr nicht zu lächeln bie Lippen Fräufelten fih wohl, aber die Augen lachten nicht mit. Der ftarre, unbewegliche Blick, dee faft an das glanzlofe Auge einer Toten erinnerte, das man zu fchließen vergeffen, fland in feltfamem Gegenfat zu den begrüßenden Worten.

Wiera fühlte, daß fie nicht Herrin ihrer felbit war, nahm rafch den Blumenſtrauß und reichte ihn Marfinka. | „Welch ein herrliches Bukett!“ fagte Marfinka ganz entzuͤckt

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und roch an den Blumen. „Und was ift benn dag?” fügte fie plößlich Hinzu, als fie unter dem Bukett etwas Hartes in ber Hand fühlte, Es war ein koftbarer, mit Perlen vers zierter Bufetthalter, der ihre Namenschiffte trug.

„Ach, Wierotſchka, auch du, auch dul... Was iſt denn das wie kommt es, daß ihr mich alle fo lieb habt?...“ fagte fie und war wieder ben Tränen nahe. „Auch ich liebe euch ja fo fehr... oh, wie ich euch liebe, mein Gott!... Aber wie foll ich euch das nur zeigen ? Ich weiß es wirklich nicht in Worte zu Heiden, wie fehe ich euch liebe!...“ Wiera war gerührt, vermochte ihr jeboch nicht zu ants worten, fondern holte nur tief Atem und legte ihe die Hand auf die Schulter.

„Ich will mich auffegen,“ fagte fie, „ich habe in der Nacht ſchlecht geſchlafen ...“

„Tanthen laßt dir fagen, du moͤchteſt zur Meile kom⸗ „Ich kann nicht, mein Herzchen fag’ nur, ich fühlte mid wicht wohl und würde heute nicht ausgehen . . .“

„Du willft überhaupt nicht Hinäberlommen ?” fragte Mars finka erfchroden. | „3b will im Bett bleiben, ich muß mich geftern erfältet haben aber fag’ nur Tantchen, es fei nicht weiter ſchlimm ...“

„Wir werden zu dir heraufkommen!“

„Gott behuͤte! Ah muß Ruhe haben, ihr wuͤrdet mich ſtoͤren...“

„Run, dann ſchicken wie die von allem etwas herauf...

Wieviel Geſchenke ich bekommen habel... Wieviel on men und Konfeft!... Ich will dir alles zeigen...“ Marfinka zaͤhlte alle Gefchente auf, die fie befommen und nannte jedesmal den Namen des Gebers.

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„Sa, ja... fehe nett... fehe lieb... Du wirft es mir dann zeigen . . . Ich komme fpäter binäber . . .“ fagte Wiern, die kaum zuhoͤrte, zerſtreut.

„And was if denn das? Noch ein Bukett!“ fagte ploͤtzlich Marfinka, als fie den Orangenbluͤtenſtrauß an ber Erde fah. „Warum liegt es denn auf der Erbe?”

Sie hob das Bukett auf und reichte ed Wjera. Diele ets bleichte.

„Zar wen iſt denn das? Rein, wie wundervoll!”

„Das iſt ... auch fuͤr dich ...“ antwortete Wiera tonlos. Sie nahm das erſte beſte Band, das ihr in die Hand fiel, nebſt einigen Stednabeln aus der Kommode und befeſtigte mit Mühe, kaum die Finger bewegend, die Drangenbläten an Marfinkas Bruſt. Dann kuͤßte fie fie und fette ſich erfchöpft auf den Diwan.

„Du biſt wirklich krank fieh doch in den Spiegel, wie blaß du biſt!“ verfegte Marfinka ernſthaft. „Soll ich es nicht Tantchen fagen? Sie wird den Arzt kommen laffen ... Was meinft du, Herzchen foll Iwan Bogdanowitſch fommen?... Wie traurig: gerade an meinem Geburt tage! Jetzt ift mir der ganze Tag verborben !”

„Nicht doch, nicht Doch es wird voräbergehen. Sag’ Tantchen nicht ein Wort, aͤngſtige fie nicht!... Und nun geh, laß mich allein... .” flüflerte Wiera, „ich möchte ein wenig ausruhen. . ..”

Marfinka wollte fie kuͤſſen und ſah plötlich, daß Wierag Augen voll Tränen ſtanden. Sie begann gleichfalls zu weinen. „Was tft die denn?” fragte Wiera leiſe, während fie un bemerkt ihre Tränen zu trodnen fuchte.

„Wie ſoll ich nicht weinen, wenn du weinft, Wijerotſchka! Was ift denn mit die, mein liebes, gutes Schweſterchen! Du haft einen Kummer, errähl’ doch ...“

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IH 503 {El „Nichts, nichts... Steh mih m cht an: es find nur bie Nerven... Sei nur huͤbſch vorſichtig, wenn du es Tant⸗ chen ſagſt, ſonſt erſchrickt fie...” „Ich werde fagen, daß du aopfſchmerjen haſt. Von den Traͤnen fag’ ich nichts, ſonſt iſt ſie den ganzen Tag vers ſtimmt.“ Marfinka verließ das Zimmer. Wiera verſchloß die Tuͤr hinter ihr und legte fih auf den Diwan.

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Drittes Kapitel

Ile hatten fi, zu Wagen oder zu Buß, mad ber

Kirche begeben. Raiſki, der erſt am Morgen auf fein Zimmer gelommen war, erkannte fich ſelbſt im Spiegel nicht wieder. Er hatte einen Schuͤttelfroſt, verlangte von Marina ein Glas Wein, trank es aus und legte fih ins Bett. Es war ihm nicht leichter zumute als Wiera. Körperlich und ſeeliſch erfchöpft, warf er fich dem Schlaf in die Arme wie jemand, der, felbft fiebernd, an ber Bruſt des gefunden Freundes Schuß und Rettung fucht. Und der Schlaf tat feine Pflicht: er trug ihn weit fort von Wera, von Malis nowka, von ber Schlucht und dem Drama, das ſich geflern dort auf ihrem Grunde vor feinen Augen abgefpielt hatte, Der Traum entführte ihn In ganz andere Regionen, denen alfe ſchaͤumende Leidenfchaft, alle uͤberſchwengliche Poeſie fremd war. Er fah ſich in Petersburg, allein, in feinem verlaffenen Atelier, mit gleichguͤltigem Blick feine begonne⸗ nen und nie zu Ende geführten Arbeiten mufternd. Dann räumte er, er fige mit feinen Freunden bei Saints George und effe und trinke mit Appetit, höre ſich Die ba⸗ nalen Anekdoten an, die gewöhnlich bei Junggeſellendiners

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sum beften gegeben werben, und fühle fih davon fo ges langweilt, daß er felbft im Schlafe noch Schlafſucht empfinde.

Und dabei lag er in geſundem, proſaiſchem Schlaf, der ihn ſo feſt umfangen hielt, daß, als er von dem Gelaͤut der Kirchenglocken erwachte, er waͤhrend der erſten zwei oder drei Minuten ganz unter dem Einfluſſe der traͤgen ani⸗ maliſchen Ruhe ſtand, die wie eine hohe Wand ihn von dem geſtrigen Tage trennte.

Er wußte nicht, wo er war, ja vielleicht nicht einmal, wer er war. Die Natur hatte ihr Necht gefordert und duch diefen feſten Schlaf das Gleichgewicht feiner Kräfte wieder bergeftellt. Er empfand keinen Schmerz, feine Qualen mehr alles war wie ing Waſſer gefunfen.

Er firedte ſich, pfiff fogar Iuftig und forglos und hatte nur bie eine Empfindung, daß ihm ans irgend einem Grunde ſehr wohl zumute war, daß in ihm volle Ruhe herrſchte und er fchon lange nicht fo gut gefchlafen hatte und ſo gefräftige aufgewacht war. Ganz sum Haren Bes wußtfein war er noch nicht gekommen. Während der naͤchſten zwei, drei Minuten jeboch kehrte ihm allmählich die Erinnerung an alles das zuruͤck, was geftern gefcheben war, Er feste fih im Bett auf, als ob er fich nicht felbft anfgerichtet hätte, fondern von einer fremben Kraft empor⸗ gerichtet worden wäre; zwei Minuten etwa faß er uns beweglich, mit weit geöffneten Augen da, als fehe er etwas, an beffen Wirklichkeit er nicht glauben könne, Sobald er dann jedoch fah, daß es dennoch Wirklichkeit war, fchlug er die Hände uber dem Kopfe zufammen, fiel auf das Kiffen zuräd und fprang gleich darauf aus bem Bett mit einem Geſicht, fo voll jähen Entſetzens, wie es geftern felbft in der furchebarften Minute nicht darin zu leſen war,

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Eine neue Pein, nicht von berfelben Art wie bie geftrige, nahm von feinem Innern Beſitz. Ebenfo haſtig und krampfhaft nervds, wie Wiera am Abend vorher, als fie nach der Schlucht hinansellen wollte, faßte er bald nad Diefem, bald nach jenem ber auf den Stuͤhlen zerfirent umherliegenden Meidungsftäde.

Er Hingelte Jegorka herbei und wurde, trotz feiner Hilfe, nur mie Mühe mit dem Ankleiden fertig. Er zog ben Rod vor der Wefte an, vergaß die Krawatte und kam trotz aller Anftrengungen Jegorkas nur mit knapper Not in feine Keider hinein. Er fragte, was im Haufe vorgehe, und als er hörte, daß alle zur Meffe feien, außer Wiera, Die frank in ihrem Zimmer liege, erſchrak er heftig und eilte ganz beflärzt ans feinem Zimmer nach dem alten Hanfe gu. i

Er Hopfte leiſe an Wijeras Tür, Doch niemand meldete fih, Er wartete ein paar Minuten und drädte dann auf die Klinke die Tür war von Innen nicht verfchloffen. Er öffnete die Tür ganz vorfihtig und ging mit entfegtem Geſichte hinein, ganz leife daherſchreitend, wie ein Menfch, der einen Morb beabfichtigt. Er trat kaum mit den Fuß⸗ fpiten auf, zitterte am ganzen Leibe, war bleich wie bie Wand und fürchtete jeden Augenblid, vor Innerer Erregung sufammenzubrechen.

Wiera lag auf dem Diwan, das Gefiht der Ruͤcklehne zugewandt. Ihr Haar fiel von dem Kiffen faft bis auf den Fußboden herab, der Rod ihres grauen Kleides hing achtlos, kaum die in ben Pantoffeln fiedenden Füße bes dedend, herunter.

Sie wandte fih nicht um, fondern drehte nur den Hals ein wenig feitwärts, um zu fehen, wer eingefreten mar; doch war fie offenbar dazu nicht imſtande.

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Er ging zu the Hin, Iniete an dem Diwan nieder und preßte feine Lippen auf ihren Pantoffel. Sie wandte ſich plöglid um; ihr Auge flreifte ihn mit einem fluͤch⸗ tigen Blicke, und ſchmerzliches Erfiaunen malte fih in ihren Zügen.

„Bas ift dad... Boris Pawlowitſch eine Komoͤdien⸗ fsene, oder ein Romankapitel?“ fprach fie bumpf, während fie fih unmwillig abwandte und den Fuß mit dem Pan⸗ toffel unter das Kleid zog, das fie, ohne hinzuſehen, haſtig zurechtzog.

„Rein, Wiera es iſt eine Tragoͤdie!“ ſprach er kaum

hörbar, mit erloͤſchender Stimme, und fette ſich auf einen Stuhl neben dem Diwan.

Als fie den feltfamen Klang feiner Stimme vernahm, wandte fie fih um und fah Ihn forfehend an; ihre Augen weiteten fih und blidten auf Ihn voll Erſtaunen. Sie fah diefes bleiche Geſicht, fo bleich, wie fie es noch nie gefehen Hatte, und fehlen das Raͤtſel dieſes neuen Gefichtes, dieſes neuen NRaiffi gu erraten.

Sie warf das Tuch fort, fand vom Diwan auf und rat, all ihre eigene Sorge in dieſem Augenblid vergeffend, auf ihn zu. Sie fah in einem fremden Geſicht das gleiche, tötende Leiden, an bem fie felber litt. „Bender, was iſt mit dir? Du biſt ungluͤcklich!“ fagte fie und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und in biefen wenigen Worten, in ber Stimme, mit der fie gefprochen wurben, ſchien alles sum Ausdruck zu kommen, was es Großes im Herzen des Weibes gibt: Mitgefühl, Selbſt⸗ verleugnung, Liebe.

Ihre zärtlihe Teilnahme und das unerwartete, traufiche „Du“ ruͤhrte ihn aufs tieffte. Er blidte mit demfelben grenzenloſen Dantgefühl zu ihr anf, mit Dem fie ihn geflern

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angeſehen, als er, ſich ſelbſt vergeflend, ihr beim Abſties in die Schlucht behilflich war.

Sie vergalt ihm ganz wider Erwarten feine Großmut mit gleicher Großmut, und wie geftern biefer Strahl edler Menfchlichteit aus Ihm plöglich hervorgeſchoſſen war, fo gefchah ein Gleiches jegt mit ihr.

Aus dem Wirrwarr der Gefühle, die auf Ihn einſtuͤrmten, trat die Dual ber Verzweiflung und Neue Aber das Schaͤnd⸗ liche, das er an ihr begangen, beſonders ſtark hervor, und dieſe Reue machte fich in einer heißen Tränenflut Luft. Er Tief fein Geſicht in ihre Hände finten und meinte wie jemand, der alles verloren hat, bem nichts, gar nichts mehr übriggeblieben ift.

„Was habe ich getan! Ich Habe dich, die Frau in Dir, die Schwefter, tödlich beleidigt!" brach ed ans Ihm unser Schluchzen hervor. „Doch nicht ich war es, nicht ber Menſch in mir e8 war das Tier, das dieſes Verbrechen beging. D, was habe ich getan!” rief er voll Entfegen und ſah ſich um, als wenn er jet erſt ganz zur Beſinnung käme, „Quaͤle dich und mich nice...” flüfterte fie fanft und zaͤrtlich. Schone mich Ich ertrage das nicht. Du ſiehſt, in welcher Verfaffung ich Bin..."

Er war bemüht, ihrem Blicke auszuweichen. Sie legte fi wieder auf ben Diwan. |

„Welchen tädifchen Dolchftich habe ich die verſetzt!“ fläfterte ee erſchauernd. „Ich bitte dich nicht einmal um Vers zeihung es iſt unmöglich, mie gu verzeihen. Du ſiehſt meine Dualen, Wera...“

„Dein Dolhflih... hat mir nur für einen Augenblick Schmerz bereitet. Dann ſagte ich mir, daß er nicht von gleichguͤltiger Hand gegen mich gefuͤhrt ſein konnte, und ich begriff, daß du mich liebſt ... Jetzt erſt machte ich mir

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klar, was du in all ben Wochen... was du geflern ers duldet haſt ... Beruhige dich, du biſt mie nichts ſchuldig, wie find quitt..“

„Verſuche nicht, Wiera, ein Verbrechen zu rechtfertigen: der Dolch Bleibt Immer ein Dolch...“

„Du haft mich aus einem Tanmel gewedt... Ich wan⸗ beite wie ihm Schlafe dahin; euch alle dich, die Groß⸗ tante, bie Schwefter, bag ganze Haus fah ich nur wie im Traum, ich war voll Bosheit und Hohn gegen euch... . war meiner Sinne nicht mächtig... .“

„Was fol ih nun fun, Wera? Verlangft du, daß Ich abreife? In welchem Zuftande wuͤrde ich jet fortgehen ? Laß mic) meine Strafe hier abbüßen . . . daß ich wenigſtens ein Hein wenig Frieden finde... und fähne, was ich vers brochen ...“

„Nicht doch... beine Phantafie flieht dort ein Verbrechen, wo nur ein Irrtum iſt. Erinnere dich doch, in weichem Zuftande, in welcher Sieberhite du gehandelt haſt!...“ Sie ſchwieg. | „Ich babe nichts weiter als beine Freundſchaft,“ fagte fie dann und reichte ihm bie Hand. „Ach verurteile dich nicht ich vermag es nicht; ich weiß jetzt, wie leicht man einen Irrtum begeben kann... .”

Es fiel ihr ſichtlich ſchwer zu fprechen, und fie tat es offens bar nur, um ihn gu beruhigen. Er beädte bie Hand, bie fie ihm reichte, und ſeufzte tief auf.

„Du bift fo gut, wie nur eine Fran es fein fan, und urteilſt über biefen Irrtum nicht mit dem Verftande, fons been mit bem Herzen...”

„Rein, du Bift gu fireng gegen bich ſelbſt. Jeder andere wuͤrde das Mecht auf feiner Seite wähnen, nach all den törichten Scheren, die man fi bir gegenAber heraus⸗

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genommen hat... Ich meine jene Briefe, du weißt ja... Bielleicht war die Abſicht nicht ſchlecht du ſollteſt ers nächtert werben aber e8 war doch immer Bosheit dabei, und Spott, während du alles fo ernft nahmft... Wir haben dich ohne Not verhöhnt, wie waren fchlecht gegen dich, weil wir dich nicht verflanden ... Es war fo Dumm, fo bumm! Du haft tiefer gelitten, als ich geftern ...“ „D nein, nein! Ich habe felbft zuweilen mitgelacht, Aber mich und Aber eu... Damals zum Beifpiel, als du den Paletot, die Dede und das Geld für den armen Ber Bannten verlangteft . . ."

Sie machte große Augen und fah ihn erflaunt an. „Welches Geld? Welchen Paletor? Wer iſt ber Verbannte, von dem du fprichft ? Sch verſtehe dich nit... .“

Seine Züge hellten fih ein wenig auf.

„Ih dachte gleich damals, daß biefer Einfall nicht von die ſtammte und num fehe ich, Daß du gar nichts Davon weißt!”

Er teilte ihre kurz den Inhalt der beiden Briefe mit, in denen von bem Gelbe und dem Paletot die Rede wat. Sie wurde bleich big in die Lippen.

„Wir fchrieben abwechfelnd mit Natafcha an dich, mit ders felben Handfchrift, ſcherzhafte Heine Briefchen, in denen wir den Ton deiner Briefe nachguahmen fuchten ... Das war alles, fonft weiß ich von nichts...” fagte fie leiſe, Das Geficht der Wand zukehrend.

Sie ſchwiegen beide. Er fchritt nachdenklich auf dem Teppich bin und her, während fie, von dem Gefpräch ermuͤdet, auszuruhen fehlen. | „Ich bitte dich wegen diefee Gefchichte nicht erft um Ber zeihung... Und auch du rege dich nicht weiter auf,” fagte fie. „Wie werben uns verſoͤhnen ... ich habe bit

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nur ben einen Vorwurf zu machen, baß du dich mit deinem

Bukett übereilt haft. Als Ich Hierher ging, wollte ich gu dir ſchicken, um bie alles zu erzählen ... fo wollte ich wenigſtens iu geringem Teil wieber gutmachen, was bu gelitten haft ... Aber du kamſt mir zuvor!“

„Ach!“ rief er ſchmerzlich aus „das gibt mir ben Todes⸗ ſtoß ...“

„Run, laſſen wir das... ſpaͤter, ſpaͤter ... Jetzt erbitte ih Hilfe von dir, als meinem Freunde und Bruder... Einen wichtigen Dienſt heiſche ih... Du wirſt mir ihn nicht verweigern ?. . .“

„Wiera!“

Er ſagte nichts weiter, doch belehrte ſie ein Blick auf ihn, daß ſie alles von ihm verlangen koͤnne.

„sch werde dir die ganze Geſchichte dieſes Jahres erzählen, fobald ich mich dazu kräftig genug fühle..."

„Barum? Ich will, ich kann, Ich darf fie nicht wiſſen ...“ „Anterbrih mich nicht. Ach atme kaum vor Schwäche, und die Zeit iſt koftbar. Ich werde bie alles erzählen, und du follft e8 der Großtante wieberfagen . . ."

Er heftete feine beftärgten Augen auf fie in feinen Zügen malte ſich Entſetzen.

„Ich ſelbſt vermag es nicht, die Zunge wuͤrde mir den Dienſt verſagen. Ich wuͤrde ſterben, bevor ich zu Ende bin...“

„Der Stoßtante? Warum dag?” fprach er nur muͤhſam, mit allen Anzeichen ber Furcht. „Bedenke doch bie Fols gen... wenn ihr etwas zuftößt?... Iſt es nicht beſſer, daß fie nichts bavon erfährt?”

„ch habe es fchon laͤngſt bei mir befchloffen: welches auch die Folgen fein mögen, bier heißt es nichts verbergen, fondern alles ertragen. Wielleicht fierben wir beide, ich

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und fie, daran, oder werben wahnfinnig . . - Doch will ich fie nicht hintergehen. Ste hätte es laͤngſt erfahren follen, aber ich hoffte immer noch, ihr etwas ganz anderes mit

teilen zu können, darum ſchwieg ih... D, wie furchtbar

ift das alles!” fügte fie leiſe Hinzu und ließ ihren Kopf auf das Kiffen finten. 2 „Soll ih ihr alles fagen?... Auch das, was geflern Abend geſchehen iſt? ...“ fragte er leiſe.

Ja ...“

„Auch den Namen ſoll ich fagen?...“

Sie nidte kaum merklich mit dem Kopfe, zum Zeichen, daß fle auch dies wuͤnſche, und wandte fih ab. Sie bat ihn, er möchte ſich neben fie auf den Diwan fehen, und im Slüftertone, mit häufigen Unterbrechungen, et zählte fie ihm die Gefchichte ihrer Beziehungen zu Matt. Als fie zu Ende war, hälfte fie fich in ihren Schal ein und legte fich, in Fieberſchauern erbebend, wieder anf den Diwan.

Ganz bleich erhob ſich Raiſki. Beide durchlebten ſchweigend einen Augenblick des Grauens fie in dem Sedanken an die Großtante, er im Gebanten an fie beide.

Ce hatte die Yufgabe jest nicht mehr in der Hitze bet Leidenſchaft, in einem Anfall wilder Rachfucht, fondern in unabweisbarem Pflichtgefühl noch einen zweiten Dolch⸗ ſtich zu führen, gegen eine Fran, die er mit ber Zaͤrtlich⸗ feit eines Sohnes liebte,

„Ein fuechtbarer Auftrag, in der Tat... Ya, das wirklich ein wichtiger Dienſt,“ dachte er.

„Wann ſoll ich es ihr ſagen?“ fragte er leiſe.

„So bald wie moͤglich! Ich leide ganz furchtbar, ſolange ſie es nicht weiß ach, und mir ſtehen noch ſo viele Leiden bevor!... Gib mir das Flaͤſchchen mit dem Riechſalz -

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es muß ba irgendwo auf ber Tollette fliehen. Und nun geh... laß mich allein, Bitte... ich bin fo müde...“ „Heute kann ich mit der Großtante nicht reden, es find Gäfte da. Gott weiß, wie fie das erträgt! Morgen will ich's ihre fagen.”

„Ach, ob ich dann noch bin!.. .” fagte fie... „Beruhige fie jedenfalls bis morgen, fo gut es geht... Gag’ ihr irgend etwas... damit fie nur feinen Argwohn faßt... und mir niemanden herfchidt ...“

Er reichte ihre das Flaͤſchchen und fragte fie, ob fie nicht irgend etwas brauche, ob er ihr nicht eins ber Mädchen ſchicken folle.

Sie ſchuͤttelte ungebuldig den Kopf, bedeutete ihm buch ihren Blich, Daß er gehen folle, und fhloß die Augen, um nichts zu fehen. Sie empfand ein Beduͤrfnis nad ums durchdringlichem Dunkel und ungeftdrter Stille fein Strahl des Tageslichts follte ihr Auge treffen, Fein Laut an ihe Ohr dringen. Sie fehnte fih nach einem Zuflande völliger Ruhe, zum Stein, zur Pflanze wollte fie werben, alle ihre Seelenträfte follten in Schlummer finten nichts denken, nichts fühlen, nichts bewußt erfennen: dad war jegt ihr einziges Sehnen.

Er aber fühlte, als er fie verließ, eine neue, noch furcht⸗ barere Laft auf feiner Seele, als jene war, mit Der er gu ihe gekommen ... Die eine Bürde hatte fie, zum Teil mwenigfiens, von ihm genommen, um ihm eine andere, ſchwerere, aufzuerlegen.

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II 33

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Viertes Kapitel

jera erhob ſich, verſchloß die Tuͤr hinter ſich und legte

ſich wieder hin. Eine Wolke des Kummers und bed Schredens mar Aber ihr emporgegogen und druͤckte ſchwer auf ihre Seele. Raiſkis Freundſchaft, feine Teilnahme, feine Ergebenheit und Hilfsbereitſchaft hatten ihr im erfen Augenblid eine leichte Stäge gewährt. Sie griff begieris danach, um einen Augenblid Atem zu fehöpfen, wie bet Ertrinkende, der noch einmal für einen Moment an bie Oberfläche taucht, voll Gier die Luft in fich zieht. Kaum aber war Raiſki zur Taͤr hinaus, als fie fogleich wieder In die” Fluten verfant. .. „Mein Leben ift zu Ende” fläfterte fie voll Verzweiflung, und fah vor fich nichts als oͤde, kahle Steppe, ohne Heim, ohne traute Haͤuslichkeit, ohne all die Liebe und Anhang fichteit, bie bem Leben der Frau Wert und Halt verleiht. Bor ihe war ein gähnender Abgrund, fo tief dunkel mie das Grab. Aug’ in Auge follte fie nun der Großtante gegenübertreten und ihr fagen: „Sieh, wie Ich dir für all deine Liebe und Güte gelohnt, wie ich dein Vertrauen ge⸗ täufcht habel... Blick her, wohin meine Eigenwilligkeit

geführt hat!...“

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In dem verzweiflungsvollen, dumpfen Halbfchlummer, der ſie befiel, ſah ſie den Blick, den die Großtante ihr zu⸗ warf, nachdem ſie alles erfahren, vernahm ſie ihre Stimme, die keine Stimme mehr war, ſondern eine Reihe entſetzter, todesmatter Laufe...

Und dann, dann... fie wußte nicht, was dann fein würde. Sie wollte den fohredlichen Traum nicht weiterträumen und barg ihr Geficht immer tiefer in den Kiffen. Tränen waren ihre in die Augen getreten doch fie flrömten wieder zus rad nach dem wunden Herjen.

„Wenn ich doch ſtuͤrbe!“ durchzuckte es fie plöglih, und ein Leuchten ging über ihre Züge bei dieſem Gedanten. Sie lächelte, und es ward ihr wohl zumute ...

Doch jegt vernahm fie draußen das Geraͤuſch von Schritten und die Stimme der Großtante... Es war ihr, ale feien ihr alle Glieder plöglich gelähmt. Ganz bleich, ohne fih vom Fled zu rühren, mit dem Ausdruck der Angſt hoͤrte fie dieſes entfegliche leife Klopfen an der Tür.

„Ich ſtehe nicht auf... ich kann nicht... .” flüfterte fie. Das Klopfen wiederholte fih. Sie fprang plöglich mit einem Aufwand an Kraft, der in folhen Augenbliden dem Menſchen aus irgendeiner geheimen Duelle zuftrömt, vom Diwan auf, brachte ihre Kleider in Ordnung, trodnete Ihre Tränen und ging lächelnd der Großtante entgegen. Tatjana Markowna, die von Marfinka gehört hatte, daß Wera nicht wohl fei und ben ganzen Tag nicht herunter; fommen würde, fam nun felbft, um nach ihre gu fehen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Wiera und fegte ſich auf den Diwan.

„Ach, bin ich müde geworben... babe mich kaum bie Treppe hinaufgefchleppt,” begann fie. „Wir waren naͤm⸗ lich in dee Kirche, zur Meſſe ... Was fehle die denn,

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Wierotſchka? Biſt du krank?“ fragte ſie und ließ ihren forſchenden Blick auf Wieras Geſichte ruhen. Ich gratuliere zum heutigen Tage!” verfegte Wjera muns ter, bie Stimme eines Heinen Mädchens nachahmend, das zum erſtenmal ſein Muͤtterchen zum Geburtstag begluͤd⸗ wuͤnſcht. Und waͤhrend ſie der Großtante die Hand kuͤßte, wunderte fie ſich ſelbſt im ſtillen daruͤber, daß ihr dieſe Worte ſo glatt uͤber die Lippen gingen. „Es hat gar nichts zu bedeuten, Tantchen ich habe nur geftern Abend naffe Füße befommen, und nun fut mir ber Kopf etwas weh,“ fügte fie hinzu und verfuchte Dabei zu lächeln. Doch ihre Lippen laͤchelten nicht, nur zwei oder drei der oberen Zaͤhne wurden ſichtbar.

„Du haͤtteſt gleich geſtern die Schlaͤfen mit Weingeiſt ein⸗ reiben ſollen haſt du keinen da?“ ſagte die SGroßtante surhdhaltend; fie ſah dabei Wiera nicht an ber ge⸗ zwungene Ton, in dem dieſe ſprach, und das ſeltſame Lächeln, das fo ganz anders war als ihr ſonſtiges Lächeln, legten ihe die Vermutung nahe, daß Wiera ihe nicht dr Mahrheit fagte. |

„Kommft du zu ung herunter?” fragte fie dann.

Wiera erſchrak bei dieſer Frage dort unten zu erfcheinen, waͤre für fie eine Folter gewefen, die zu ertragen über Ihre Kräfte ging. Sie blidte beſtuͤrzt auf die Großtante.

„Du brauchſt dir keinen Zwang anzutun,” ſagte Tatjana Markowna entgegenfommend. „Es könnte die vielleicht ſchaden a Pe: : „A Der freundliche Ton, in dem die Großtante fprach, ließ Wiera das Schlimmfte befürchten. Das Bewußtſein be Schuld fpiegelte Ihr vor, daß die Großtante bereits alle? erraten habe, und daß fie mit ihrer Beichte zu ſpaͤt komme Noch ein Augenblid, noch ein Wort und fie warf fd

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ihr an die Bruſt und ſagte ihr alles. Aber der Gedanke, daß dann das ganze Haus zum Zeugen ihres Dramas werden wuͤrde, hielt ſie zuruͤck.

„Nur zum Mittageſſen moͤchte ich nicht kommen, Tantchen, wenn Sie es geſtatten,“ ſagte fie, mit Mühe ihre Haltung bewahrend. „Nach Tifch werde ich vielleicht erfcheinen .. .“ „Wie du willſt; ich laſſe dir das Mittageffen heraufs ſchicken ...“

„Ja ... ja ... ich habe ſchon jetzt Hunger ...“ ſagte Wjera, um nur irgend etwas zu ſagen.

Tatjana Markowna kuͤßte ſie, ſtrich ihr leicht mit der Hand uͤber das Haar und entfernte ſich. Noch im Gehen er⸗ mahnte fie Wiera, duch Marinka, oder Maſchka, oder Nataſchka das Zimmer in Drbnung bringen gu laſſen „denn ſchließlich koͤnnte doch jemand von den Gäften auf den Einfall kommen, die einen Krankenbeſuch abzuſtatten.“ Damit ging fie zur Tuͤr hinaus,

Wiera ſank erfchöpft auf den Diwan, faß dort ein Weilchen, nahm dann das Ean de EolognesZläfchchen und befeuchtete fih den Scheitel und die Schläfen,

„Ah, tie das hier haͤmmert, wie das ſchmerzt!“ flüflerte fie, die Hand auf den Kopf legend. „D Gott, wann wird diefe Dual endlich aufhören? Wenn fie e8 doch recht bald, vecht bald erführe! Und dann, fobald fie es erft weiß, mag alle Welt es erfahren und denten, was fie will!. . .”

Sie blickte zum Himmel auf, fuhr erfchauernd sufammen und ſank voll Verzweiflung auf den Diwan.

Die Großtante fam mit befümmertem Geficte in ih

Kabinett fie machte eine Miene, als fei fie eben aus dem Maffer gezogen worden, Sie empfing die GäAfte,

gang wwiſchen ihnen auf und ab, bewirtete fie aber

Raiſti (ah, daß fie nach dem Befuche bei Wera nicht mehr

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diefelbe war. Sie hatte nicht mehr die fichere Haltung tie fonft, ließ bei Tiſch verfchtedene Gerichte an fich voruͤber⸗ gehen, ohne fie zu berühren, unb merkte ed nicht einmal, daß Petruſchka einen Teller fallen ließ und gerfchlug; fie machte bei der Unterhaltung mitten im Sage Halt und verfiel in filled Brüten.

Als die Säfte nach dem Mittageffen auf bie breite Terrafle hinansgingen, um, von den kargen Strahlen ber Sep temberfonne befchlenen, draußen ben Kaffee und Likör zu trinken und eine Zigarette gu rauchen, ging Tatjana Mars kowna zwiſchen ihnen auf und ab, als wenn fie fie gar nicht bemerkte, und zog und zupfte nur immer an ihrem tuͤrkiſchen Schal herum. Von Zeit gu Zeit nur fehlen fie zu erwachen, fprach in gezgwungenem Tone mit biefem und jenem ein paar Worte und verſank dann wieder in ihr Bruͤten. Raiſki beobachtete fie mit büfterem Ausdrud und wandte faum einen Blick von ihr ab.

„Was ift mit Wiera 1082” flüfterte fie ihm im Worüber gehen zu. „Biſt du bei ihr geweſen? Sie hat irgendeine Kummer, wie e8 foheint .. .”

Er fagte, er wiffe von nichts. Die Großtante ſah ihn miß—⸗ trauiſch an.

Paulina Karpowna war nicht unter ben Gäften. Sie hatte fih mit Krankheit entfchuldigen laſſen und Marfinka Blumen gefchidt. Raiſki hatte fie am Morgen befucht, um fih wegen ber geftrigen Szene bei ihe gu entfchuldigen und in Erfahrung zu bringen, ob fie irgend etwas bemerkt habe. Sie ftellte fih zwar noch beleidigt, konnte jebod ihren Triumph darüber, daß er felbft zu ihr kam, mut mit Mühe verbergen. Er erzählte ihr, er fei am Abend bei Belannten gewefen, habe da ein Gläschen zu viel 9% trunken nun, und davon fei dann alles gekommen.

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Er erbat ihre Verzeihung, die fie ihm Tächelnd gewährte. Ste ermangelte nicht, Diefe ganze Szene des „Verfährungss verſuchs“ dann fpäter aller Welt zu erzählen, wobei fie ſtatt „ih bin bingefallen” jebesmal „ich bin gefallen” fagte.

Huch Tufchin, ber bereit8 am Abend vorher nach der Stabt gelommen war, fand fih zum Mittagelfen ein. Er machte Marfinta einen prächtigen Pony zum Gefchent, auf bem fie fleißig fpagierenreiten folle falle, wie er befcheiden hingufügte, die Großtante es erlaube.

„Jetzt habe ich nichts zu fagen fragen Ste diefen Heren da!" anttwortete die Großtante und geigte auf Wikentjew, während fie felbft an ganz andere Dinge Dachte.

Tuſchin erkundigte fih nah Wiera und fehlen beſtuͤrzt, als er hörte, daß fie krank fei und zum Mittageflen nicht erfcheinen werde. Als fie dann in der Tat nicht kam, war er fihrlih erregt.

Tatjana Markowna begann nun auch Tufchin mit mißs trauiſchen Augen anzuſehen e8 beunruhigte fie, daß er plöglih fo betroffen war, als Wiera fich nicht zeigte, Es war ihm doch nichts Neues, daß fie nicht herunterlam, wenn Säfte da waren er hatte es ſchon oͤfter erlebt, ohne fich darüber gu verwundern.

„Bas mag nur feit geftern abend mit ihr paffiert fein?” dieſe Frage ging ihr nicht aus Dem Kopfe.

Mit Tit Nikonytſch hatte fie fich wegen ber Toilette, bie er Marfinka gefchentt hatte, ganz gehörig gezankt, es wäre beinahe zu einer Prügelei gwifchen ihnen gefommen. Dann hatten fie in ihrem Kabinett miteinander ein Geſpraͤch unter vier Augen, und er fam mit ziemlich nachbenklicher Miene heraus, machte weniger Kratzfuͤße als fonft und blidte, wenn er auch die Damen nicht ganz vernachläffigse,

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doch vorwiegend auf Raiffi oder Tufchin, und zwar in fo ernfter, forſchender Weiſe, daß ihre Blicke ihn gang vers wundert fragten, was er benn eigentlich von ihnen wolle. Er blickte dann rafch von Ihnen weg und begann eifrig den Damen ben Hof gu machen.

Tatjana Markowna hatte diefen Geburtstag Marfinkas ſo heiter und forglos begrüßt und ſchon im voraus Aberlegt, wie ber vierzehn Tage fpäter flattfindende Namenstag Wieras begangen werden follte, damit es nicht ausſaͤhe, als wenn fie bie eine ihrer Sroßnichten der andern vor⸗ zoͤge. MWiera hatte zwar ganz beſtimmt erflärt, daß fie ihren Namenstag bei Tuſchins Schwefter ober ihrer Freun⸗ din Natalia zubeingen wolle, davon hatte jedoch Tatjana Markowna durchaus nichts wiffen wollen,

Bis zum Mittageffen hatte Tatjana Markownas Stims mung heute auch wirklich vorgehalten. Dann aber wat fie plößlich umgefchlagen, und fie fpähte und lauſchte voll Argwohn nach allen Seiten, als ob fie irgendeine heimlid lauernde Gefahr wittere. Raiſki verglich fie mit einem Dferde, dag, fein Maul bis an die Ohren in der Krippe vergrabend, ruhig feinen Hafer fraß, bis es plößlich durch ein Geraͤuſch aufgefchredt wurde oder einen unbefannten, unfichebaren Feind witterte. Es ſpitzt die Ohren, wirft den Kopf empor, wendet ihn in ſchoͤnem Schwunge zuruͤd und laufcht unbeweglich, mit weit geöffneten Augen und kräftig atmenden Nüfteen: nein, es ift nichts. Dann kehrt e8 fih langſam wieder der Krippe zu, ſchuͤttelt dreimal, immer noch laufchend, ohne Haft den Kopf, ſchlaͤgt dreimal in gemeffenen Abftänden mit dem Hufe auf, teils um fih zu beruhigen, teils um dem Feinde ein Zeichen feine Wachſamkeit zu geben, und frißt feinen Hafer weiter, doch mie Vorfiht, ohne viel Geräufch, wobei e8 von Zeit zu

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Zeit immer wieder ben Kopf hebt und lauſchend zuruͤckblickt. Es ift gewarnt und bleibt auf der Hut: wieder und wieder geht, während es weiterfrißt, ein Zucken über feinen Rüden, und bie Ohren bewegen fih bald vorwärts, bald räds waͤrts.

So dachte auch die Großtante, waͤhrend ſie ſich mit ihren Gaͤſten beſchaͤftigte, immer wieder daran, daß mit Wiera irgendetwas los ſei, daß ſie nicht ſo ſei wie ſonſt, daß es nicht gut um ſie ſtehe. Noch niemals war ſie ihr ſo ſonder⸗ bar vorgekommen, immer von neuem mußte ſie an ſie denken. Als Marfinka ihr ſagte, daß Wjera ſich nicht wohl fühle und nicht in die Kirche mitkommen werde, war Tat⸗ jana Markowna erſt recht ärgerlich geworben.

„Schon um beinetwillen, des Familienfefles wegen, hätte fie ihre Launen auffteden können,” Hatte fie gefagt, und war fohließlich ohne fie gefahren.

Als fie jedoch hörte, das Wera vielleicht auch nicht zu Tiſch fommen werde, ward fie um ihre Gefundheit ernftlich beforgt und fuchte fie in ihrem Zimmer auf. Der Vorwand, daß Wiera fich erfältet Habe, vermochte fie nicht zu taͤuſchen. &e hatte es an ihrem Geſichte gefehen, daß die Erkältung nur vorgeſchuͤtzt war, und als fie ihr dann bag Haar zurecht⸗ geftrichen und dabei, ohne daß Wera es merkte, ihre Stirn befühlt hatte, war biefe Annahme nur beſtaͤtigt worden. Doch Wera war blaß, ihre Züge waren wie verfiört; fie lag in ben Kleidern auf dem Diwan, als hätte fie fie gar nicht abgelegt gehabt. Das alles, vor allem aber das tobesftarre Lächeln Wierag, machte fie betroffen.

Sie erinnerte fih, daß Wiera und Raifli am Abend vor; her aus dem Zimmer verſchwunden und nicht zum Abends brot erfhienen waren. Und fie fuhr fort, Raiſti voll Argwohn zu betrachten, und daß diefer ihrem Blice aus⸗

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wumweichen fuchte, gab ihrem Verdachte nur neue Nah⸗ rung.

Was Raiſti in diefen Stunden litt, war bitterer als alle Qualen, die er je erduldet. Sein Herz haͤrmte fich um bie Sroßtante wie um bie arme, einfame, gitternde, keinem Teofte zugaͤngliche Wiera.

Sie hatte ihm zugelächelt, ihm die Hand gereicht, ihm all die zarten Mechte ber Freundſchaft eingeräumt und boch war fie unter der Schwere bes Schlages, ber fie ſo 14h und unerwartet wie ein Blig vom heiteren Himmel getroffen, vor feinen Augen verzweiflungsuoll zuſammen⸗ gebrochen.

Er fah, daß fein Mitgefühl weit mehr ihm felbft Erleichtes zung brachte als ihre, wie denn Aberhaupt Das Mirleib ber Angehörigen die Schmerzen, die ein Übel verurfacht, nies mals mildert,

Das Übel, fagte er ſich, mußte mit der Wurzel ausgerottet werden aber diefe Wurzel ftedkte nicht nur in Wiera, ſondern auch in der Großtante, und überhaupt in diefem sangen Zufammenhange von befrübenden Umſtaͤnden. Entſchwindendes Gluͤck, hinwelkende Lebenshoffnung, Trens nung und Abſchied nein, es war nicht leicht, Wjera zu teöften |

Und die arme Großtante wie leid tat fie ihm! Welcher furchtbare, unerwartete Schmerz wird ben Frieden ihrer

Seele zerfidren! „Wie, wenn fie plöglich zufammenbricht ?"

fagte er fich. Jetzt ſchon iſt fie gang außer ſich, und dabei

weiß fie noch gar nichts! Die Tränen waren ihm nahe

bei diefem Gedanken.

Er Hatte es als eine unabmweisbare Pflicht übernommen,

den Dolch in das Herz diefer Frau gu ftoßen, die ihm fletd

eine Mutter gemwefen.

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„Wie, wenn. fie beide erkranken? Soll ich nicht vielleicht Natalta Iwanowna kommen laflen?” dachte er. „Ich müßte freilich erft Wiera fragen, doch dieſe ...“

Er hatte feinen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, ale fich plöglich die Tur öffnete und Wiera inmitten ber Gaͤſte erſchien. Sie trug ihr neues helles Kleid, hatte jedoch ein Zub um den Hals gebunden und eine warme Mantille um die Schultern genommen.

Raiſti war verblüfft durch ihr Erfcheinen. Bor wenigen

Stunden nod war fie ihm wie gebrochen erſchienen und

fonnte kaum fprechen, und nun kam fie felbft herunter ! „Woher nehmen die Frauen dieſe Kraft?” dachte er, während er fie beobachtete, wie fie fich bei ben Gaͤſten ent⸗ fehuldigte, wie fie mit ihrem gewohnten Lächeln all bie Beweife der Teilnahme entgegennahm und Marfinkas Geſchenke betrachtete. |

Sie nichts von dem Konfekt, dag ihr gebracht wurde, vergehrte jedoch mit Appetit ein Städ von ber kühlenden Waflermelone, ſagte, daß fie ſtarken Durft babe, und bat um Nachficht dafür, daß fie die Säfte leider bald wieder verlaffen müffe.

Die Großtante murbe duch Ihr Kommen ein wenig bes ruhige. Sie hatte jedoch bemerkt, Daß bei ihrem Eintreten in Raiffis Zügen eine Veränderung vor fih ging, und daß er bemüht war, fie nicht anzufehen. Wohl zum erftenmal in ihrem Leben verwänfchte fie die Anweſenheit ihrer Säfte. Nun nahmen fie gar am Kartentifh Plas, blieben alfo auch zum Tee und zum Abendbrot, und Wikentjew würde gar erft morgen abfahren.

Raiffi befand fich gleichfam zwiſchen zwei Feuern.

„Bas tft mit ihe?” fluͤſterte Tatjana Markowna von ber einen Seite ihm zu „bu mußt es willen...”

CR 824 CH

„Ach, wenn fie doch recht bald alles wuͤßte!“ las er in Wieras versweifeltem Blide.

Raiſki hätte in den Boden ſinken mögen.

Auch Tuſchin ſah auf Wiera heute mit gang befonderem Ausdruck. Nicht nur der Großtante und NRaiffi fiel es auf, auch Wiera felbft bemerfte es.

Diefe Blide Tufching erfüllten fie mit Schreden.

„Hat er vielleicht etwas erfahren ? Iſt ihm etwas gu Ohren gekommen?“ flüfterte ihre die Stimme des Gewiſſens zu. Er (hätte fie fo Hoch, hielt fie für die Trefflichfte von allen! Wenn fie jet ſchweigt, fliehlt fie feine Achtung... nein, auch er mag es willen! Sie will nicht als Luͤgnerin er; fheinen, will nicht Betrug üben lieber will fie noch neue Dualen gu den alten erbulden !

Leiſe, ohne ihn angufehen, begrüßte fie Tufchin. Er fah

fie teilnahmsvoll an und fenkte auf ganz befonbere, ſchuͤch⸗

ferne Art die Augen.

„Mein, ich kann das nicht ertragen! Ich will willen, was er von mir denkt ... Ich breche hier vor allen zuſammen, wenn er mich noch einmal mit diefem fonderbaren Blide anſieht ...“

Und eben wieder ſah er ſie mit dieſem Blicke an.

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Fuͤnftes Kapitel

ie hielt e8 nicht Iänger aus fie empfahl fich Bei den andern und gab Tufchin, ohne daß jemand es merkte, ein Zeichen, er folle ihr folgen. „Dei mie oben kann ich Sie nicht empfangen,” fagte fie „aber wir wollen in die Allee gehen und einen Heinen Spaziergang machen.” „Iſt e8 nicht zu feucht? Ste find nicht wohl...” „Tut nichts, tut nichts, kommen Sie nur...” fprach fie haſtig. Er ſah auf die Uhr und ſagte, daß er in einer Stunde wesfahren mäffe. Er ließ inzwiſchen feinen Wagen ans fpannen, nahm die Peitfche mit dem filbernen Geiff in bie Hand und ben Metfemantel über den Arm und ging mit Wiera nach der Allee. „Ich will ganz offen mit Ihnen reden, Iwan Iwanowitſch,“ ſagte Wera, innerlich erbebend „was tft heute mit Ihnen? Sie find fo fonderbar, ganz anders als fonfl... als ob Ste etwas Befonderes befchäftigte. . .* | Sie ſchwieg, Hälfte fich fefter in die Mantille und bewegte die Schultern, als ob fie fröftelte. Er ging ſchweigend, wie Aber irgend etwas nachdenkend,

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neben ihr her, während fie es vermieb, die Augen zu ihm aufzuheben.

„Sie find heute nicht wohl, Wiera Waſſiljewna,“ fagte er nachdenklich. „Ich will es lieber auf ein andermal ver; fchieben. Sie haben recht gefehen, ih wänfchte mit Ihnen gu fprechen ...“

„Nein, Iwan Iwanowitſch, tun Sie es heute!” unterbrach fie ihn mit Haft, „Was haben Sie auf dem Herzen? Ich will es wiſſen ... Auch ich möchte mit Ihnen reden... vielleicht komme ich ſchon gu ſpaͤt ... Ich kann nicht flehen, ich will mich fegen,” fügte fie Hinzu und nahm auf einer Bank Pag.

Er merkte nichts von der bangen Sorge, bie fich in ihren Zügen malte, zerbrach fich nicht den Kopf, was fie wohl mit ihm gu fpeechen habe. Er war ganz von feinen eignen Gedanken in Unfpruch genommen. Sie aber warb von dem Gedanten gequält, daß er alles erfahren habe und ihr jet gleich, wie Raiſki, einen Dolchſtich verfegen werde. „Wohl mag er es tun, wenn fie nur alle auf einmal suftechen wollten!” flüfterte fie.

„Wohlen denn, ſprechen Ste!” fagte fie dann, von ber Stage gepeinigt, wo und wie er es wohl erfahren haben konnte.

„Als ich heute hierher ging...” begann er.

„Bitte, fprechen Ste nur!” ſchrie fie ihn faſt an.

„Ih kann nicht, Wiera Waſſiljewna . . . beim beften Willen nicht ...“ |

Er entfernte fih um zwei Schritte von ihr.

„Dnälen Sie mich doch nicht!” fläfterte fie kaum har bar, |

„Ich liebe Sie...” begann er, plöglih wieder zu ihr zuruͤckkehrend.

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„Run, das weiß ich. Und auch ich habe Sie gern... dag iſt Doch nichts Neues mehr! Was weiter?... Sie... hörten etwas?...“

„Wo? Was?” fragte er und fah fih um, da er meinte, fie deute auf irgendeinen Laut in der Nähe. „Ich habe nichts gehoͤrt.“

Er fah ihre Erregung, und plöglich fiodte ihm der Atem vor Freude. „Sie tft fo fcharfblidend, fie hat mein Ges heimnis längft erraten und teilt meine Gefühle... Sie iſt erregt, erwartet ein Furzes, offenes Wort...”

Raſch jagten fih alle diefe Gedanten in feinem Kopfe,

„Ste find fo edel, fo ſchoͤn, Wiera Waffiljewna... Sie find fo rein...

„Ach!“ ſchrie fie verzweifelt und verfuchte, fich zu erheben, vermochte es jedoch nicht. „Sie verhöhnen mich... gut, verhoͤhnen Sie mich nehmen Sie diefe Peitfche, ich vers diene fiel... Ich Halte fäll... Aber find Sie bag wirflih, Ivan Iwanowitſch?“

In ſchmerzlicher Beſtuͤrzung faltete fie wie bittflehend die Hände vor ihm.

Er fah fie ganz erfchroden an.

„Sie tft frank!” fagte er ſich.

„Sie find nicht wohl, Wiera Waſſiljewna,“ fprach er voll Angſt und Erregung „verzeihen Sie mir, baß ich ſo zur Unzeit davon anfing!“

„Iſt's denn nicht gleih?... Einen Tag fruͤher oder ſpaͤ⸗ ter... aber fagen Sie alles, ohne Umſchweife, fofort!. . . Auch ich werde Ihnen lagen, weshalb ich Ste hierher, in bie Allee, gebeten habe... .”

Seine Stimmung fohlug wieder um.

„Iſt's denn wahr?” fagte er und lonnte ſich vor Freude kaum halten.

„Was foll wahr fein?” fragte fie, während fie auf den unerwartet freundlichen Ton feiner Worte lauſchte. „Sie wollen etwas anderes fagen, als ich dachte ...“ fügte fie ruhig hinzu.

„Rein, eben das... ih nehme an...”

„Sagen Ste es doch, quälen Ste mich nicht laͤnger!“ „Ich liebe Sie...”

Sie fah ihn einen Augenblid erwartungsvoll an.

„Wir find doch alte Freunde auch ich...” begann fie darauf.

„Nein, Wiera Waſſiljewna, ich liebe Sie .. . als Weib...” Sie richtete fich plöglich empor und ſah Ihn wie verfleinert, mit ſtockendem Atem, an.

„Als das erfte, herrlichſte Weib In der Welt! Wenn ich annehmen dürfte, daß Sie diefes Gefühl wenigſtens zu ganz geringem Teil erwidern.... nein, das wäre zu viel, dag verdiene Ich nicht... Wenn Sie es billigen, wie ich zu hoffen wagte... wenn Sie feinen andern lieben, dann ... werden Sie meine Waldkoͤnigin, meine Frau! Dann wird es auf Erben keinen Glüdlicheren geben als mich ... Das iſt's, was ih Ihnen fagen wollte und lange nicht zu fagen wagte! Sch wollte es verfchieben big auf Ihren Namenstag, doch hielt Ih’ nicht aus und fam heute hierher, um Ihnen gelegentlich diefes Familienfeſtes, des Geburtstags Ihrer Schwefter . . .”

Sie ſchlug die Hände uber dem Kopfe zuſammen.

„Swan Iwanowitſch!“ kam es wie ein Stöhnen aus ihr hervor, während fie ihm in die Arme fan.

„Nein das iſt keine Freude!“ durchsudte es ihn und er fühlte, daß fih fein Haar emporſtraͤubte. „So Außert fich keine Freude!”

Er Half ihr fih auf der Bank zurechtſetzen.

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ſparſam war, fo bewegte fie fih auch Im Bereich des Denkens und Wiſſens nur mit vorfihtigen, mißtrauifchen Schritten vorwärts. Sie hatte bie Bücher in ber Biblios thef des alten Haufes gelefen anfangs nur, um fi bie Langeweile gu vertreiben, ohne Auswahl und Syſtem, batte aus ben Fächern genommen, was ihre gerade unter die Hand kam, war auf den Inhalt neugierig geworben und hatte fchließlih einzelnes mit Begeiſterung vers ſchlungen.

Bald aber fuͤhlte ſie die Unfruchtbarkeit und Zwecloſigkeit eines ſolchen Herumirrens in fremden Geiftesgebieten heraus. In geſchickter Weiſe wußte ſie Koslow im Ge⸗ ſpraͤche auf dies und das zu fuͤhren, was ſie gerade las, ohne ihn geradezu zu fragen oder ihm mit beſonderem Eifer zuzuhoͤren, wie ſie uͤberhaupt vor niemandem damit prahlte, daß ſie ſo mancherlci wußte und kannte, was den Leuten, mit denen ſie zuſammenkam, verſchloſſen blieb. Nachdem ſie ſo an Koslows Urteil ihr eigenes geſchaͤrft, las ſie die Buͤcher noch einmal und fand ſie nun ſchon weit klarer und intereſſanter. Spaͤter bat ſie der Prieſter, Nataſchas Gatte, ihm doch Buͤcher zu bringen, und wieder⸗ um hoͤrte ſie, ohne gerade zum Seminariſten zu werden, mehr oder weniger zerſtreut zu, wenn er ſich uͤber die bei der Lektuͤre empfangenen Eindruͤcke und Anregungen aͤußerte. Nach ihnen kam dann Mark und trug in alles das, was ſie geleſen, gehoͤrt und ſich an Wiſſen angeeignet hatte, den neuen Gedanken einer totalen Verneinung aller bis⸗ herigen Vorſtellungen und Begriffe, aller goͤttlichen und irdiſchen Autoritaͤt, alles bisherigen Lebens, aller alten Wiſſenſchaften, aller hergebrachten Tugenden und Laſter hinein. In vorſchnellem Triumphgefuͤhl war er, den Sieg

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vorausſehend, vor ihr aufgetaucht und hatte eine Ents

taͤuſchung erlebt.

Mit Erftaunen hatte fie diefen neuen, ploͤtzlich hervor⸗ brechenden Steom von kühnen Ideen geſchaut, doch hatte fie fich nicht blindlings von Ihm fortreißen laſſen, etwa In Heinlicher Furcht, daß fie fonft leicht als rüdftändig gelten Fönnte, fondern war erft einmal mit ihrer feinfühligen Borfiht an die Präfung der neuen Wahrheiten heran⸗ gefreten, die biefer feurige Apoſtel fo eifrig verfocht.

Bor allem fiel Ihr das Schwanfende und Einfeitige feiner Anfichten auf fie ſah die Lüdenhaftigkeit und Verlogens heit diefer Propaganda, auf bie ihe Träger fo viel lebendige Kraft, fo viel Begabung, fo viel kecken Wig verſchwendete. Sie fah diefe grenzenlofe Eitelleit und Duͤnkelhaftigkeit, die ſich erhaben duͤnkte über bie fertig vorliegenden, ſchlich⸗ ten Lebensmarimen, einzig darum, wie fie meinte, weil fie ſchon fertig vorlagen.

Zuweilen glaubte fie In diefem unmiderfiehlihen Drange nad einer neuen Wahrheit nur die Unfähigkeit gu fehen, fih In die alte Wahrheit hineinzufinden. Die „neue Wahr; heit” erfchten In der Darftellung ihres Teidenfchaftlichen Verfechters als ein Etwas, das man nicht erft durch Ans fpannung aller feelifchen Kräfte, durch geiftigen Kampf und geifttige Anflrensung zu erringen brauchte, fondern fir und fertig in die Taſche fleden Eonnte, indem man einfach das Alte unterfchiebslos verachtete und von ben ploͤtzlich Gott weiß woher aufgetauchten neuen Autoritäten ohne Namen und Vergangenheit, ohne Geſchichte und Recht jenes Neue auf Treue und Glauben hinnahm.

Sie fuchte in der neuen Lehre, bie ihre Mark fo begeiftert vortrug, etwas Zuverläffiges und Lebendiges, auf dag fie fih ſtuͤtzen, das fie Tiebgewinnen koͤnnte ein feftes, uns

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truͤgliches Fundament, wie fie es In dem alten Leben vorfand, dem fie um dieſes Untrüglihen, Lebendigen und Suverläffigen willen feine Lächerlichkeit, Schäblichkeit und Abgelebtheit verzieh.

Sie litt unter diefen offenbaren Mängeln ber alten Drbs nung, die fih ald Hemmungen des Lebens erwiefen; fie fühlte oft genug ihre Fefleln und wäre wohl bereit ges weſen, um ber Wahrheit willen ihre Hand einem fenrigen Kameraden zu reichen, ber ihr Freund, ihe Gatte, oder was er fonft wollte, geworden wäre. Sie wäre mit ihm in den Kampf gezogen gegen die Feinde aus dem alten Lager, hätte mit ihm bie Lüge bekämpft, den Schmutz fortgefegt, in die dunklen Eden hineingeleuchtet, Hätte nicht nur einen Tytſchkow, ſondern auch der Großtante, ſoweit fie fich ihrer eignen Einficht zum Trotz auf dag Alte ftäßte, die Gefolgfchaft verweigert und fie, wenn möglich, auch ſelbſt auf den neuen Weg geführt. Aber um dies gu koͤnnen, hätte fie die fefte, unerſchuͤtterliche Überzeugung gewinnen mäffen, baß die Wahrheit auch wirklich bei dem Neuen war,

Sie traute noch nicht, war noch von ſchweren Zweifeln bes fangen, ob fie nicht Irre, ob der Apoftel ſich auch wirklich im Beſitze der Wahrheit befinde, ob dort, wohin er fo leidenſchaftlich firebte, in der Tat etwas fo Hohes, Hehres und SHeiliges fei, das die Menfchen nicht nur von allen alten Sefleln zu befteien, fonbern ihnen auch ein neues Amerika zu entdeden, Ihnen frifche Luft zuzufuͤhren, fie Aber fich felbft zu erheben, ihnen mehr, als fte befaßen, gu geben vermoͤchte.

Sie hörte ſich die Schilderungen an, die er von dem neuen Gluͤckszuſtande der Menfchheit entwarf, las die Bücher, bie er Ihe brachte, verglich, was fie an neuen Ideen darin

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fand mit dem, was die alten Autoritäten lehrten und fonnte kein neues Leben, fein neues Gläd, keine neue Wahrheit, kurz nichts von alledem, was ber fühne Apoftel verſprach, darin finden.

Und doc folgte fie ihm, erfüllt von dem heißen Wunſche, endfih in Erfahrung zu bringen, was ſich Hinter dieſer feltfamen, kuͤhnen Erſcheinung verbarg.

Die Sache lief vorläufig auf eine ſchonungsloſe Verurtei⸗ lung und Verneinung alles befien hinaus, an was die Mehrzahl der Lebenden glaubte, was fie liebte, worauf fie hoffte. Auf alles das drädte Mark den Stempel feiner Feindfhaft und Verachtung. Aber Wiera ſah doch auch felbft fo vielerlei in der alten Zeit als verwerflich an. Sie fah und kannte all die Mängel und Leiden auch ohne ihn und wollte von ihm nun wiffen: wo ift Amerila? Doc ihe Kolumbus zeigte ihr flatt ber lebendigen Ideale bes Wahren und Guten, der Liebe, det menfhlihen Entwicklung und Vervollkommnung nur eine Reihe von Gräbern, bie das zu verſchlingen drohten, wovon Die Menfchheit bisher gelebt hat. Was fie da fah, waren die mageren Kühe des Pharao, die die fetten Kühe auffraßen, ohne felbft fett zu werden |

Er riß im Namen ber Wahrheit die Krone vom Haupte des Menfchen, degradierte ihn zum fierifhen Organismus und beraubte ihn feiner anderen, untierifchen Weſenheit. In der Liebe fah er nur eine Reihe flüchkiger Begegnungen und grober Sinnengenäffe, er entkleidete fie all der Ilu⸗ fionen, mit denen ber Menfch fie [hmüdt, und von denen das Tier nichts weiß.

Der Lebensprozeß hatte nach der Auffaffung dieſes Neuerers feinen Endzweck in fich felbft. Indem er bie Materie in ihre Teile gerlegte, glaubte er auch ſchon alles, was in dieſer

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Materie zum Ausdruck kam, zerlegt und ergrändet zu haben. Indem er bie Gefeße der Erfheinungen beflimmte, meinte er jene unbelannte Macht, die diefe Geſetze gegeben, übers wunden und vernichtet gu haben, einzig Dadurch, daß er, unfähig, fie zu begreifen, fie ſchlankweg negierte. Indem er die Seele bes Menfchen und fein Recht auf Unfterblichs feit leugnete, predigte er gleichzeitig irgendeine neue Wahrs heit, eine neue Ehrenhaftigkeit, ein neues Streben nad einer befieren Ordnung der Dinge und edleren Zielen und vergaß dabei ganz, daß alles dies Doch im Grunde genoms men überfläffig ſei angefichts des Zufalls, ber nach feiner Lehre die Welt regierte und bie Menfchheit als eine Art ducheinanderfchwirrenden Müdenfhwarme, eine wirte Maffe von Individuen erſcheinen ließ, die zweck⸗ und ziel⸗ los hin und her rennen, fih nähren und vermehren, fi ein Weilhen an dee Sonne wärmen und in dem finnlofen Drogeß des Lebens wieder verfhtwinden, um einem neuen Schwarme Plab zu machen. „Wenn fich das wirklich fo verhält,” Dachte Wera, „dann verlohnt es fih nicht, an fich felbft zu arbeiten, Damit man gegen Ende bes Lebens befler, reiner, aufrichtiger und edler werde. Warum dann diefes Streben nach Ver⸗ volllommmung? Verlohnt fih dag um der wenigen Jahr⸗ gehnte willen, die bee Menfch lebt? Fuͤr diefen Zwed ges nuͤgt es doch, gleich der Ameife Futter für den Winter einzubringen, gendgt das bißchen praftifche Lebenskenntnis und Anpaffungsfähigkeit, die es ermöglicht, das zumellen recht kurze Leben halbwegs warm und bebaglich hinzu⸗ bringen... Dazu bedarf es doch nur der befonderen Ameifenideale und Ameifentugenden. Doch mo find die Bewelfe, daß dem wirklich fo iff?.. .” Und er verlangte nicht nur Ehrlichkeit und Wahrheit,

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ſondern auch Vertrauen und Glauben an feine Lehre, ganz fo wie jene andere Lehre, bie aber bafür das Leben nah dem Tode verfpricht und ald and für diefes Vers fprechen ſchon in biefem Leben ihren Gläubigen tröftend zuruft: „Bittet, fo werdet ihr empfangen, Hopfet, fo wird euch aufgetan !”

Diefe neue Lehre gab tatfaächlih nichts anderes als das, was ſchon vorher Dagewefen, nur mit der Zutat von allen möglichen Demuͤtigungen und Enttäufchungen, ald Zus funftsbild aber zeigte fie nichts ald Tod und Verweſung. Sie entnahm die Aufichriften ihrer Tugenden aus dem Buche der alten Lehre, begnuͤgte fich mit dem leeren Buchs ftaben, ohne in Geift und Bedeutung einzubringen, und verlangte ben Gehorfam gegen diefen Buchftaben mit einer sornigen Ungeduld, vor ber die alte Lehre gerade gewarnt hatte. Und indem biefe neue Lehre, diefe „neue Kraft” fi einzig an dem animalifchen Leben genügen ließ, erwies fie fih als unfähig, an Stelle des alten Lebensideals, das fie negierte, ein neues, beſſeres zu feßen.

Wenn Wiera fo tiefer Hineinfchaute und hineinhorchte In alles das, was die Predigt des jungen Apoftels für neue Wahrheiten und Entbedungen, für eine neue Heilslehre ausgab, fah fie mit Erſtaunen, daß alles dag, was in feiner Predigt gut und suverläffig war, keineswegs neu war, fondern vielmehr aus derfelben Duelle ftanımte, aus der auch die Leute ber alten Schule fchöpften, daß bie Keime aller diefer neuen Ideen, ber neuen Zinilifation,

bie er fo prahlerifch und geheimnisvoll verkündete, bereits

in der alten Lehre enthalten waren.

Die Folge davon war, daß fie nur um fo fefler an dieſer legteren fefthielt und uͤberzeugt war, daß ber Menfch, wie entwidelt er auch fein mag, fih doch vom ihr nicht los⸗

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loͤſen könne, ohne vom geraden Wege abzuweichen und Seitenpfabde einzufchlagen oder gar rüdwärts gu fchreiten. Auch die Gegner ber alten Lehre fchienen Ihre Argumente nur wieder aus ihr, der befämpften, gu fchöpfen mit einem Wort, fie bot das einzige unfehlbare und volls tommene Lebensideal, außerhalb deſſen es nur Irrtuͤmer geben konnte. Wiera hatte ber Perfönlichkeit des neuen Propagandiften gegenüber ihr Mißtrauen nicht unterbrüden können und war ihm im Anfang ausgewichen. Als fie ein paarmal feine feden Neben vernommen hatte, machte fie fogar Tatjana Markowna auf ihn aufmerkfam, und biefe hatte ihre Leute beauftragt, darauf acht zu geben, daß er nicht in den Garten kaͤme. Wolochow unternahm feine Streifs jüge zumeiſt von ber Schlucht aus, von der die Leute fi in abergläubifcher Furcht vor dem Grabe des Selbſt⸗ moͤrders fernhielten. Er hatte das Mißtrauen, das Wjera gegen ihn hegte, wohl bemerkt; er nahm ſich vor, es zu überwinden, und es gelang ihm in der Tat, fie davon abzubringen. | Saft unmerklich war fie fchließlih dazu gelangt, an bie Yufrichtigkeit feiner einfeitigen und oberflächlichen Äber⸗ gugungen zu glauben, und an Stelle ihres Mißtrauens war Erfiaunen und Teilnahme getreten. Sie hatte zus mweilen fogar Augenblide, In denen fie an ber Nichtigkeit ber von ihr felbft gefammelten Beobachtungen über bag Leben und die Menfchen wie an ben für bie Mehrzahl ber Menſchen maßgebenden Prinzipien gu zweifeln begann. Sie begann über das, was bisher ihr geiſtiges Leben aus⸗ gemacht hatte, ernftlich nachzudenken. Eine Innere Unruhe bemächtigte fich ihrer, neue Fragen tauchten vor ihr auf, und fie begann noch eindringlicher und gefpannter auf

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Mark hinzuhoͤren, den fie anfangs irgendwo im Freien ober jenſeits der Wolga, wohin er ihr zu folgen pflegte, und in letzter Zeit unten in der Schlucht, in bem alten Pavillon, zu treffen pflegte. Wo fie auf handgreiflide Lägen und Sophismen ſtieß, feat fie ihnen lebhaft entgegen und wußte, auf Ihre ſcharfe Beobachtungsgabe, ihre Mare Logik und ihre freie Denk weife geftägt, alle Nebel zu zerſtreuen. Mark ftampfte oft wuͤtend mit bem Fuße auf, ließ ganze Batterien von Argumenten, TSheoremen und Ausſpruͤchen feiner Autoris täten gegen fie auffahren und fah ſich ſchließlich Doch nur einer unerfchätterlihen Mauer gegenüber. Er rafle und fletfehte die Zähne wie ein Wolf. Aber dann ſchaute er in die ſchwarzen Samtaugen feiner Dpponentin und fühlte ihte weiche, doch dabei fräftige Hand an feiner Stirn, und fein Wutgebräll unterdrüdend, firedte er fich friedlich zu ihren Füßen nieder, den Sieg und die fihere Beute in einer wenn auch vielleicht noch fernen Zukunft vor; ausahnend. Mo Wiera ſich nicht ſicher genug fahlte, hoͤrte ſie ihm ſchweigend zu und ſuchte mit Scharfſinn zu ergruͤnden, ob auch der Apoſtel ſelbſt an ſeine Lehre glaubte, ob das, was er ſagte, in eigener innerer Erfahrung einen feſten Ruͤckhalt hatte, oder ob er fih nur von einer geiftuollen, glänzenden Hypotheſe mitreißen ließ. Er Iodte fie vor⸗ wärts mit dem Bilde einer grandioſen Zukunft, einer nie dageweſenen Freiheit, einer endgültigen Befeitigung aller Schleier der His und er glaubte biefe Zukunft ſchon in allernächfter Zeit, fchon morgen hereinbrechen zu fehen. Er forderte fie auf, wenigſtens einen Teil diefes Lebens vorauszukoſten, alles Alte. von ſich gu werfen umd, wenn nicht ihm, fo doch der Erfahrung zu glauben,

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„Wir werben fein wie bie Götter!” hatte er fpärtifch hin⸗ zugefügt.

Wiera folgte ihm nicht, nahm den Kampf mit ihm auf und übernahm allmählih, ohne daß fie es merkte, ſelbſt eine aktive Rolle: fie verfuchte, ihn auf den Weg des Wahren und Guten, das fie felbft erprobt, hinuͤberzuleiten, ihn zuerſt duch eine wahre Liebe, ein nicht animalifches, fondern menſchliches Gluͤck zu gewinnen und ihn dann weiter auch in bie Tiefe ihres Glaubens und Hoffens einzuführen...

Und Mark Hatte in der Tat begonnen, ihe nach und nach in diefen und jenen Punkten nachzugeben, er ließ ab von feinen tollen Streichen, verfuchte nicht mehr, die Orts⸗ behörden zu ärgern, war in feiner Lebensführung nicht mehr fo unordentlich und prahlte auch nicht mehr mit feinem Zynismus.

Gie war fehr glädlich Aber diefen Erfolg und das eben war bie Urfache jener Ekftafe gewefen, die Tatjana Mars kowna und Raifi an ihr bemerkt hatten. Sie fühlte, daß ihre Kraftanftrengungen nicht vergeblich waren, wenn fi die Wirkung auch erft an feinem dußeren Leben zeigte, und fie hoffte, durch unermäbliche Arbeit, durch Opfer, die fie bringen wuͤrde, nach und nach ein Wunder gu voll bringen: und ihr Lohn wuͤrde dann das Gläd bes Weibes, bie Liebe eines Menfchen fein, den ihre Herz entbede und erobert hatte. Ä

Sie würde ber Gefellfaft einen neuen, ſtarken Menfchen guführen. Er befaß Verfiand und Energie, und wenn er noch dazu jene Schlichtheit und Freude an nüglicher Tätigkeit hingugewänne, wie fie etwa Tufchin eigen war, Dann war Ihe Ziel erreicht, dann hatte fie nicht umſonſt gelebt. Was weiter werben follte, wußte fie nicht und befämmerte fie nicht. -

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Inzwiſchen hatte fie fih, ihrem leidenſchaftlichen, nernöfen Temperament folgend, von feiner Perfänlichkeit hinreißen laſſen und ſich in ihn felbft, in feine Kuͤhnheit, feine tapfere Parteinahme für das Neue, feiner Meinung nach Beſſere, verliebt während fie Ihre Liebe auf feine Lehre, feine neue Wahrheit, fein neues Leben nicht zu übertragen vers mochte und den alten, guverläffigen Worftellungen von Gluͤck und Leben treu blieb. Er rief fie gur neuen Tat, zur neuen Arbeit fie ſah aber nichts von diefer neuen Arbeit, außer etwa dem Verteilen einiger verbotenen Bücher.

Sie ftimmte ihm darin gu, Daß ber Menfch arbeiten und fih betätigen muͤſſe; fie warf fich felbft ihre eigene Untaͤtig⸗ teilt vor und malte fih aus, daß fie fhon in einer nicht fernen Zukunft fich einen fohlichten, praktiſchen Wirkungs⸗ reis fchaffen würde, während fie gleichzeitig Marfinka bes neidete, die ihre Muße in einer ihren Kräften entſprechen⸗ den Weiſe ber Wirtſchaft und den Dorfbewohnern zu wids men verftand.

Ste wollte zunaͤchſt die Tätigkeit der Schwefter teilen wenn fie nur erft auf die eine oder andere Weiſe biefen fhweren Kampf mit Mark überfianden hätte, ber ja, wie es noch vor kurzem gefchlenen, unentichieden bleiben und mit einer Trennung für Immer fein Ende finden mußte, Alles dies war Wiera burch den Kopf gegangen, während Tatjana Markowna und Raifli die Säfte zur Wolga bes gleiteten.

„Was mag er jegt treiben, dieſer Wolf ob er über feinen Sieg wohl triumphiert...” fragte fie ſich.

Sie fand keine Antwort auf diefe Frage und fuhr unwill, kuͤrlich zuſammen.

Sie zog die Schublade heraus und entnahm ihr einen noch verſiegelten Brief auf blauem Papier, den ihr Mark am

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Morgen durch einen Fiſcher geſchickt Hatte. Sie ſah einen Augenblid anf das Schreiben, Dachte nach und warf den Brief entfchloffen wieder in bie Schublade zuruͤck, ohne Ihn geöffnet zu haben.

Sie barg alle fonflige Dual tief in ihrer Bruſt, und nur der eine Gedanke trat In ganzer Furchtbarkeit vor ihre Seele: was wird die Großtante fagen? Maifli hatte Ges legenheit gefunden, ihr susufläftern, daß er am Abend, wenn niemand mehr da fein wärbe, mit Tatjana Mars kowna reden wolle es follte kein Menfch, auch niemand von der Dienerfchaft, den Eindbrud beobachten können, den feine Enthällung auf fie machen wuͤrde.

Es ging ihr wie ein Stih durchs Herz, als Raiftt ihr von diefen Vorfichtsmaßregeln ſprach. Wie furchtbar mußte diefer Kummer fein, ben fie da über das Haupt der armen Großtante heraufbefchworen hatte! Sie hätte am liebſten fierben mögen, noch bevor der Abend hereinbrach.

Es ward ihr ein wenig leichter ums Herz, nachdem fie Raiſki und Tuſchin alles offenbart hatte. Sie fühlte fich jeßt ruhiger fie hatte, wie die. Schiffer im Sturme, einen Zeit der Ladung über Bord geworfen, um das Schiff gu erleichtern. Uber der fchwerfte Teil der Labung lag noch auf dem Grunde ihrer Seele, ihr Fahrzeug sing tief, bag Waſſer ſchlug Aber Bord, und bei dem nächften ploͤtzlichen Windſtoß konnte es umfchlagen, um fich nicht wieder aufs zurichten.

Ste warf ſich in Gedanken bald Raiſki, Bald Tuſchin an die Bruſt, ruhte für ein Weilchen aus und ließ dann wieber mutlos den Kopf finfen.

„Ich kann nicht leben, Ich kann nicht!...“ fläfterte fie. Und fie ging nach der Kapelle, kniete dort an der Schwelle nieder und fhante voll Entfegen auf das Bild des Gekreuzigten.

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Mur ihre ſchmerzlichen Seufjer verrieten, daß nicht eine Statue, ſondern ein lebendes Weſen, ein Weib dort kniete. Das Bild da drinnen flarrte fie mit feinen nachdenklichen, halbgeöffneten Augen an es ſchien fie nicht zu fehen, und die Hände waren wie zum Segnen ausgefiredt, ohne fie zu fegnen.

Sie bfidte mit heißem Begehren nach biefen Yugen hin umd erwartete irgendein Zeichen doch das Zeichen blieb ans, Wie zerfhmettert, in tiefer Verzweiflung, ging fie Davon.

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Siebentes Kapitel

18 bie Großtante heimkehrte, machte fie fih an bie Duchficht ber Nechnungen, die ihr die Näbterinnen und Modifinnen aus ber Stadt eingereicht hatten, doch warf fie dann plöglich alles zur Seite und fragte nad Raiſti. Man fagte ihe, er habe fich für den gangen Tag su Koslow begeben. In ber Tat war er dorthin gegangen, um nicht den Nachmittag allein mit Tatjana Markowna verbringen zu muͤſſen. ‚Sie ſchickte zu Wiera und ließ fragen, ob ihre Kopfſchmerzen vergangen feien, und ob fie zum Mittageffen kommen würde. Wiera ließ ihre fagen, der Kopfſchmerz habe fich gelest, fie bitte jedoch, auf ihrem Zimmer eflen gu dürfen, und wollte fih geitig gu Bett legen. Sugwifchen hatte ein Ereignis, das in feiner Art nicht mehr ganz nen war, ben Hof in bebhafte Bewegung ges bracht. Sſawelij hatte mit einem ſchweren Knuͤttel Marina beinahe dag Nüdgrat zerfchmettert, weil er fie in aller Fruͤhe dabei erwifcht hatte, wie fie aus dem Zimmer, in dem Wikentjews Lakai untergebracht war, herausſchluͤpfte. Sie hatte fih den ganzen Morgen auf den Böden und im Garten verfiedt gehalten und war dann, als fie annehmen

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fonnte, daß Sſawelij bereits alles vergefien habe, wieder sum Vorſchein gekommen. Er hatte ſie mit dem Zuͤgel ganz gehoͤrig bearbeitet. Sie lief aus einer Ede in die andere, leugnete alles und ſchwur Stein und Bein, er habe fich geräufcht jedenfalls habe ber Teufel wieder einmal ihre Geftalt angenommen, und fo weiter. Als er jedoch an Stelle des Zuͤgels zum Knuͤttel griff, begann ſie zu heulen und zu ſtoͤhnen, warf ſich ihm nach dem erſten Hiebe gu Fuͤßen, bekannte fi ſchulbig und bat ihn um Verzeihung.

Sie ſchwur bei allen moͤglichen Dingen, unter anderem auch bet Ihrem Magen, fie wuͤrde es nie mehr fun, und wenn fie es doch wieder täte, folle Gott fie auf der Stelle töten und mit ewiger Verdammnis beftrafen. Sſawelij hielt ein, fiellte den Anättel fort und wifchte fih mit dem Armel den Schweiß von der Stirn.

„Gut alfo,” fagte er, „es fet fo, wie bu eben felber fagteft mern dis Dich unterwirfſt und Gott zum Zeugen anruffl, will ich dich ſchonen!“

Und er fieß fie laufen. Man hinterbrachte die Sache bruͤh⸗ warm Tatjana Markowna, aber fie rungelte nur mit dem Ausdruck des Widerwilleng die Stirn und bedeutete Waſſi⸗ fifa, man folle fie mit der Sache in Ruhe laſſen.

Säfte kamen vorgefahten ein paar Damen aus ber Stadt, ein Gursbefiger vom andern Wolgaufer, dann noch zwei Herren aus bee Stadt, und alle blieben zum Mittageflen da.

Man ertundigte fih nach Wiera Waſſiljewna, und Tat⸗ Jana Markowna mußte nun allen vorlügen, daß Wiera ſich erfältet habe, und daß fie zwei Tage auf Ihrem Zimmer bleiben muͤſſe. Ste litt ſchwer darunter, baß fie gu folchen Lügen ihre Zuflucht nehmen mußte, zumal fie ſelbſt nicht

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wußte, was eigentlich hinter dieſer vorgefpiegelten Krank⸗ heit fledte. Sie wagte auch nicht, den Arzt kommen zu laffen, der fogleich gefehen hätte, baß es ſich nicht um eine Krankheit, fondern um einen Zufland moralifcher Niebers geſchlagenheit handelte, der entichieben eine tiefere Urſache hatte,

Sie nicht zum Abend, und auch Tie Nikonytſch fagte ans lauter Höflichkeit, Daß er keinen Appetit habe. Zuletzt erſchien auch Naiffi, ein wenig blaß, und erklärte gleich, falls, ee wolle nicht zum Abend effen. Schweigend faß er

am Tifche, wie in Gedanken verfunten, und fchien bie

fragenden Blicke nicht gu bemerken, die Tatjana Markowna hm zuwarf.

Endlich hatte Tie Nikonytſch feinen Kratzfuß gemacht, ihr die Hand gelüßt und ſich nach Haufe begeben. Die Groß, tante befahl Waffiliffa, ihr dag Bett gu machen, wuͤnſchte dann Raiffi teoden eine gute Nacht und wandte fi, tief innerlich in ihren Gefühlen wie in ihrer Eigenliebe ges kraͤnkt, zum Gehen. Sie fühlte deutlich, daß da In ihrer allernächften Iimgebung, zwiſchen biefen Menfchen, die ihrem Herzen fo nahe fanden, irgend etwas Geheimnisvolles, Wichtiges vorging, wovon man ihr wie einer Fremden, ober wie einer Überlebten, nicht mehr für voll gu nehmenden Alten keine Mittellung machte. Ste konnte nicht ahnen, daß dag ihr gegenüber beobachtete Schweigen nur in bem Bemühen, fie zu ſchonen und ihr das Bittere gu erfparen, feinen Grund hatte. Als fie eben hinausgehen wollte, flüfterte Raiſki ihe gu, er muͤſſe mit ihr fprechen, fie möge bie Leute moͤglichſt unbemerkt hinausſchicken. Ganz flare vor Schreden und bis an die Nafenfpige erbleichend, fah fie Ihn an. „Iſt ein Ungluͤck geſchehen?“ fragte fie jaͤh.

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Er zoͤgerte einen Augenblid.

„Nein . . .“ antwortete er dann eutſchieden „von meinem Standpunkte aus nicht...”

„Und wenn es nun von meinem Standpunkte aus ein ungluͤd ift? Dann iſt's eben ein Ungläd!” entgegnete fie leife. „Du bift fo blaß geworden du weißt alfo felbft, daß es ein. Unglüd ift!”

Se ſchickte unauffällig die Dienerfhaft ind Bett fie follten nur fchlafen gehen, meinte fie, fie wolle noch mit - Boris Pawlowitſch ein Weilchen plaudern. Dann führte fie ihn in ihe Kabinett. Hier rüdte fie die Lampe auf dem Schreibtiſch ganz zur Seite, bebedte fie mit einem Schirm und fette fi in ihren alten Voltaireſeſſel. Sie faßen im Halbduntel; fie hatte den Kopf vorgeneigt und wartete, ohne Kaiffi anzufehen. Diefer begann zu erzählen, indem et das, was fie das „Ungläd” nannte, moͤglichſt ſchonend vorzubringen ſuchte.

Seine Lippen bebten, und die Zunge verſagte ihm oͤfters den Dienſt. Er hielt dann inne, holte tief Atem und ſam⸗ melte neue Kraft, um fortzufahren.

Die Großtante ruͤhrte ſich nicht, unterbrach ihn mit keinem Worte. Zuletzt fluͤſterte er nur noch kaum hoͤrbar.

Der Tag begann ſchon zu grauen, und er war noch immer bei ihr in dem Kabinett. Als er geendet hatte, richtete ſie ſich langſam, mit ſichtlicher Auſtrengung, auf, ließ dann ebenſo langſam den Kopf und die Schultern ſinken und ſtand, die Haͤnde auf den Tiſch geſtuͤtzt, da. Ein Laut entrang ſich ihrer Beuſt der wie ein Stoͤhnen, ein dumpfer, ſchwerer Seufzer Hang. Tantchen!“ rief Raiſti, ganz erſchroden über den Aus⸗ druck ihres Geſichtes, und kniete vor ihr nieder „retten Sie Wiera ...“

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„Bas iſt Ihnen, Wiera Waſſiljewna? Gie find krank, oder Sie haben einen großen Kummer...” verfebte er faft ruhig, nachdem er feine Selbſtbeherrſchung wieder, gewonnen hatte.

„sa, einen ſehr großen Kummer, Iwan Iwanowitſch... ih werde flerben !”

„Was ift Ihnen? Sprechen Sie, um Gottes willen was ift gefehehen ? Sie fagten, Ste wollten mit mir fprechen Sie bedürfen alfo meiner... Es gibt nichts, was ich nit für Sie gu tun bereit wäre! Vergeſſen Sie meine törihten Worte... . und befehlen Sie Aber ih! Was... ſoll ih tun?“

„Jachts ſollen Ste tun...” fluͤſterte ſie. „Ich wollte Ihnen nur ſagen ... ach, auch Sie, armer Iwan Iwanowitſch!... Wofür follen Sie nun biefen bitteren Kelch trinfen? O mein Gott!” fagte fie und wandte die fieberglühenden Augen sum Himmelempor. „Ach kann nicht beten, nicht weinen... nichts fchafft mir Erleichterung, nichts Hilft mir!”

„Was ift Ihnen denn, Wiera Waſſiljewna? Was für Worte find dag, meine liebe Freundin, warum diefe tiefe Verzweiflung ?”

„Bedurfte e8 auch diefes Dolchflihes noch? War es nicht genug an dem andern? Willen Ste auch, wen Sie lieben?“ faste fie, die Worte kaum Aber die Lippen bringend, waͤh⸗ rend fie ihn mit einem Ieblofen, müden Blide anſah.

Er ſchwieg und ſuchte vergeblih nach dem Schlüffel zu ihren rätfelhaften Worten. Er warf feinen Mantel auf die Bank und wifchte fih den Schweiß vom Geſichte. Nur fo viel fah er aus Ihren Morten, baß feine Hoffnungen gerfioben waren, fie liebte offenbar einen andern... Er feufste tief auf und faß, eine weitere Erflärung Zi unbeweglich dba.

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„Mein armer Freund!” fagte fie und ergriff feine Haud. Sein Herz krampfte fih sufammen bei dieſen fchlichten Worten; er fühlte, daß er in ber Tat arm war. Er tat ſich felbft leid und fühlte zugleich Mitleid mit Wiera.

„Sb danke Ihnen für das offene Wort,” fläflerte er; noch wußte er nichts Näheres, doch fühlte er das eine deutlich, daß fie ihm nicht angehören könne,

„Berzeihen Sie,” fuhr er dann fort „ih habe von nichts gewußt, Wiera Waffiljewna. Ihre Freundlichkeit gegen mich hatte in mir Hoffnungen erwedt. Ich war ein Dummkopf weiter nichts... Vergeſſen Sie meinen Antrag und laflen Sie mich, wie bisher, Ihren Freund fein... wenn ich deſſen wert bin,” fügte er hinzu umd ließ bei dem legten Worte feine Stimme finten... „Kaun ih Ihnen nicht helfen ? Es fchien mir, daß Sie irgendeinen Dienft von mir erwarten ?”

„Wenn Sie deffen wert find... bin ich aber Ihrer Freund⸗ (haft wert?”

„Sie, Wfera Waffiliewna? Sie werben für mich ftets fo hoch ſtehen ...“

„Nein, mein armer Iwan Iwanowitſch, ich bin herab⸗ geſunken von der Hoͤhe, und niemand vermag mich wieder empor zurichten ... Wollen Sie wiſſen, wohin ich gefallen bin? Kommen Sie, es wird Ihnen fofort leichter ums Herz werden...”

Langſam, mit ſchwankenden Schritten, fuͤhrte ſie ihn, waͤhrend ſie ſich auf ſeinen Arm ſtuͤtzte, nach dem ——— der Schlucht.

Kennen Sie dieſen Ort?“

„Ja ... dort unten iſt ein Selbſtmoͤrder begraben...” „Dort unten iſt auch Ihre reine Wiera begraben: fie exiſtiert nicht mehr... Sie ruht auf dem Grunde diefer Schlucht...”

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Sie war gang bleich, und verzweifelte Entfchloffenheit lag in ihren Worten.

„Bas fagen Sie da? Ich verfiche Sie nit... Erklaͤren Sie es mir, Wera Waſſiljewna,“ flüflerte er, während er ſich mit dem Tafchentuche über das Geficht fuhr.

Ste richtete fih empor, flüßte fih mit der Hand auf feine Schulter und fiand ein Meilen, ihre Kräfte fammelnd, da; dann ließ fie den Kopf finten, erzählte fläfternd, in abgeriffenen Phrafen nur zwei, drei Minuten lang, irgend etwas und fiel auf bie Bank nieder. Er erhlaßte, während fie ſprach. Dann wankte er plöglich und fegte fih, als verlöte er das Gleichgewicht, auf die Bank. Wiera fah im Dämmerlicht fein totenbleiches Geſicht.

„Und ich meinte immer ...“ ſagte er mit einem ſeltſamen Lächeln, als ſchaͤmte er fih feiner Schwäde, und fland dabei langſam und fchwerfällig von ber Banf auf „Daß nur ein Bar mich gu Falle bringen könne!”

Dann trat er auf fie zu.

„Wer ifl’8, und wo ift er gu finden 2” flüfterte er.

Sie zuckte bei feiner Brage sufammen fo verblüffend, fo barſch und unnatärlich Hang fie in feinem Munde. Se begriff nicht, wie er fo ohne jede Schonung bes weiblichen Gefuͤhls dieſe offne Preisgabe eines Geheimniffes vers langte, dag keine Frau offenbart. „Warum fragt er das nah?” verwunderte fie fih im ſtillen „er muß feinen befonderen Grund haben...”

„Es iſt Mark Wolochow,“ fagte fie mutig, fich felbft übers windend.

Er war einen Augenblick wie erſtarrt. Dann faßte er ploͤtzlich den Griff ſeiner Peitſche mit beiden Haͤnden und zerbrach ihn im Augenblid an feinem Knie in Heine Stuͤcke.

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Mm grimmiger Wut warf er die Holisplitter famt dem gerbrochenen Silberbefchlag zu Boden.

„So wird es auch ihm gehen!” bruͤllte er, fein Geſicht zu ihe vorbeugend, mit gefttäubtem Haar, fih ſchuͤttelnd und fhnaubend wie ein wildes Tier, das fih anfchidt, den Feind anzufallen.

„ft er jetzt dort?” fragte er, auf bie Schlucht geigend. Man hörte feinen ſchweren, Feuchenden Atem. Sie ſah ihn vol Beſtuͤrzung an und trat hinter die Bank.

„sh fürchte mid, Iwan Iwanowitſch, verfhonen Sie mich! Gehen Sie fort!” fläfterte fie voll Entfegen, während fie beide Arme vorſtreckte, als wollte fie ihn von ſich abs wehren.

Zzuerſt ſchlage ich Ihn £ot, dann... gebe ich fort!” fagte er, feiner felbft kaum mächtig. -

„Wollen Sie das um meinetwillen fun... oder um Ihretwillen ?”

Er ſchwieg und fah gu Boden. Dann begann er mit großen Schritten auf und ab gu gehen.

„Was follich tun? Belehren Sie mich, Wera Waſſiljewna!“ fprach er, immer noch gang außer fih vor Zorn.

„Bor allem beruhigen Sie fih und fagen Sie mir, warum Sie ihn töten wollen! Sie willen nicht, ob Ich dag will... .„” „Er iſt Ihe Seind, und folglich auch... der meinige...“ faste er kaum vernehmlich.

„Sol man denn feinen Feind töten?”

Er ſenkte ben Kopf auf bie Bruſt und fah die Städe der gerbrochenen Peitſche zu feinen Fuͤßen. Er bob fie auf, als ob er fich feines Wutanfalles ſchaͤmte, und fledte is in bie Tafche feines Mantel,

„Ich babe mich nicht Aber Ihn beklagt, vergeflen Sie —* nicht! Ich allein Bin ſchuld ... er iſt im Recht ...“ ſprach

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fie leife mit fo ſchmerzlichem, von furdhtbarer innerer Dual zeugen dem Ausdruck, daß Tuſchin unwillkuͤrlich ihre Hand

ergriff. „Sie muͤſſen entſetzlich leiden, Wiera Waſſiljewna!“ ſagte

er.

Sie ſchwieg, waͤhrend er ſie voll Teilnahme und Ver⸗ wunderung anſah.

Ich verſtehe nicht...” fuhr er fort „er foll im Recht fein, Ste beflagen fih nicht... wovon wollten Sie dann mit mir reden? Warum haben Sie mich Hierher ges eufen 2...”

Ich wollte, daß Sie alles wiffen ſollen...“

Sie wandte fih ab und blidte ſchweigend nach ber Schlucht. Auch er fah dorthin und blidte dann mit fragendem Aus⸗ druck auf fie.

„Sören Sie, Wiera Waſſiljewna, laſſen Sie mich nice im Dunkeln tappen! Wenn Sie es für notwendig hielten, mir ein Geheimnis anzuvertrauen, dag..." er mußte fich bei diefen Worten fichtlih Zwang antun „das nur Sie allein angeht, dann erfiären Ste mir die ganze Ges (dichte... .”

„sh wußte nicht, wie Ich Ihe heutiges Benehmen deuten follte... Der Ausdruck Ihres Gefichts, die fonberbaren Blide, die Sie mir zuwarfen das alles ließ mich ans nehmen, daß Sie um die Sache wiffen. Ich wollte offen mie Ahnen reden, wollte Ihre Meinung ergründen... Sch Habe vorfchnell gehandelt... Doch das iſt nun gleich, früher oder fpäter hätte ich Ihnen alles gefagt ... Setzen Sie fih, hören Sie mich an und dann fioßen Sie mid von fich I”

Er ſtuͤtzte die Ellbogen auf die Knie, barg fein Geſicht in den Händen und hörte gu, wie fie ihm in kurzen Worten

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ihre Geſchichte erzählte. Er fland auf, ging ein Weilchen auf und ab und blieb dann vor ihr fliehen.

„Ste haben ihm vergeben ?” fragte er.

„Was vergeben? Sie fehen, daß... ich allein ſchuld bin. .„.”

„Und... Se haben Abſchied von Ihm genommen? Oder hoffen Sie, daß er fih beſtunt uud surüdkehre?“ te fhüttelte den Kopf. „Zwifchen ung iſt nichts Gemein; fames ... wir find innerlich laͤngſt geſchieden. Ich werde ihn niemals wiederſehen.“

Jetzt beginne ich ein wenig gu begreifen, wenn Ich and noch nicht ganz Har fehe,” fagte Tuſchin nah kurzem Bes finnen und atmete tief auf wie ein Stier, von deſſen Halſe man das Joch genommen. „IH dachte, Sie feien frech hintergangen worben ...“

„Rein, nein...”

„Und Ste rufen mich zu Hilfe; ih dachte, Sie riefen ben Bären, daß er Ihnen zu Dienften ſei es waͤre ein rechter Bärendienft geworben,“ fügte er, bie Trümmer feiner Peitſche aus der Tafche ziehend und ihr vorzeigend, hinzu. „Darum nur ftellte ich diefe ungehörige Frage nach dem Namen... Verzeihen Sie mir, um Gottes willen, und fagen Sie mir noch dag eine: warum haben Sie mir das alles anvertraut?”

„Ich wollte nicht, daß Ste von mir beffer denten, als ich es verdiene... wollte nicht eine Hochſchaͤtzung genießen, deren ich nicht wert bin...”

„Wie wollen Sie das bewirken? Ich werde von Ihnen nie anders benfen, als ich ſtets gedacht habe, und werde Sie genau fo Hochfhäten, wie ich es immer getan.”

Ein Lichtſtrahl erglänzte in Augen und ſo⸗ gleich wieder. |

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„Ste wollen ſich zu diefer Hochſchaͤtzung zwingen,“ fagte fie. „Sie find gut und großmätig: die arme Gefallene tut Ihnen leid, Sie wollen fie aufrihten... Jh kann Ihre Großmut verfiehen, Iwan Iwanowitſch, doch ich bedarf ihrer nicht. Weſſen ich bedarf, das iſt, daß Sie alles wiſſen, daß Sie Ihre Hand nicht zuruͤckiehen, wenn ih Ahnen die meinige reiche.”

Sie hielt Ihm ihre Hand hin, und er kuͤßte fi. Mit Uns geduld Hatte er ihre Worte angehört.

„Ich kann mich nicht zwingen, Wiera Waſſiljewna, jemans den hochzuſchaͤtzen,“ fagte er in gurädhaltendem, far bes leidigtem Tone. „Ein Tuſchin luͤgt nicht. Wenn Ich jes manden hochachte, fo zeige ich Ihm das auch, und wenn ich es nicht tue, laſſe ich Ihn daruͤber nicht im Zweifel, wie ich aber ihn denke. Sie aber ſchaͤtze ich ganz fo, wie ih Sie bisher gefehäst Habe, und Ich liebe Sie vers geihen Sie, daß ich das Wort fchon wieder gebrauche vielleicht noch mehr als früher, weil Sie... ungluͤcklich find. Ste haben einen großen Kummer, ganz fo wie ich. Ste haben die Hoffnung auf Stud verloren... es war nicht notwendig, daß Sie mir Ihe Geheimnis anver⸗ trauten ...“ fügte er büfter, faft verzweifelt hinzu. „Hätte ih es felbft von anderer Seite erfahren, ich hätte nicht aufgehört, Sie zu mhten. Sie find nicht verpflichtet, dieſes Geheinmis irgend jemandem preissugeben. Es gehört Ahnen ganz allein, niemand darf fih darum gu Ihrem Richter aufmwerfen.”

Nur mit Mühe ſtieß er dieſe Worte hervor und feufjte ſchwer auf, als er zu Ende gefprochen, wobei er fih bes mähte, Wiera biefen Seufzer nicht hören zu laffen. Seine Stimme bebte wider feinen Willen, Man fah es ihm an, daß bie Buͤrde biefes Gcheimmiffes, die er Wera erleichtern.

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wollte, jet auch auf ihm ſchwer laſtete. Er litt und wollte es um jeden Preis vor ihre verbergen, daß er litt... Ich hätte es Ihnen doch fagen muͤſſen, fobald Sie mir Ihren Antrag machten... Ich durfte Sie nicht bes fügen.”

Er fchüttelte verneinend den Kopf.

„Meinen Antrag konnten Sie mit einem furgen ‚Nein‘ beantworten,” fagte er. „Da Sie mich aber Ihrer befons deren Freundſchaft würdigen, haften Sie mir, um mir dieſes ‚Nein‘ zu verfüßen, in Ihrer Tliebenswärdigen, gütigen Art zu verftchen geben follen, daß Sie einen andern. lieben. Das hätte genügt. Ich hätte nicht einmal gefragt, wen Sie lieben. Das Geheimnis aber hätten Sie für fi behalten follen, barin hätte durchaus fein Betrug gelegen. Ya, wenn Sie troß der Liebe gu einem andern meinen Antrag angenommen hätten... aus Furcht, ober aus fonft einem Grunde: das wäre ein Betrug geweien... ein Fehltritt, eine Ehrlofigkeit. Doch deren find Sie eben nicht fähig. Und das ba...” er nidte mit dem Kopfe nach der Schlucht und fügte im Flüfterfone, wie für fich, hinzu: „bag ift ein Ungluͤck... ein Irrtum...”

Nur ſchwer und langſam kamen die Worte aus feinem Munde, feine ganze Bärenkraft bot er auf, um den eignen Schmerz zu unterdrüäden, damit fie nur ja nicht merkte, was in ihm vorging.

„Ein Ungluͤck!“ flüfterte er. „Ex geht gerechtfertigt aus der Schluht hervor und Sie als die Schuldigel Wo fiedt da die Wahrheit? ...“

„Ich hätte es Ihnen auf jeden Fall gefagt, Ivan Iwano⸗ witſch. Nicht um Ihretwillen, fondern um meinetwillen hätte ich es getan... Sie wiffen, wie fehr ich Ihre Freund;

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(Haft fhäßte: es wäre für mich eine Dual gemwefen, es vor Ahnen zu verheimlichen. Jetzt ift mir leichter ums Herz ih kann Ihnen in die Augen fehen, ich hintergehe Sie nicht, habe Sie nicht getäufcht . . .“ Tränen erflidten Ihre Stimme, und fie barg Ihe Geficht in ihrem Taſchentuch. Er ſelbſt war nahe baran zu weinen, doch zuckte er nur zuſammen, verneigte fih und küßte ihr wieder die Hand. „Das tft eine andere Sache: ih danke Ihnen, Wiera Waſſiljewna!“ ſprach er haflig und fuchte feine Erregung au verbergen. „Ihre Worte tun mir wohl... ich fehe, daß Ihre Freundſchaft für mich unter bem andern Gefühl nichts eingebuͤßt hat, daß fie flark iſt, troß des andern Gefuͤhls... Das iſt ein großer Troft für mich! Auch das ſchon wird mich gluͤcklich machen... mit ber Zeit, wenn wir ung beibe beruhigt haben ...“ „Ad, Iwan Iwanowitſch, wenn es doch möglich wäre, dieſes Jahr ans meinem Leben auszuſtreichen ...“ „Ran muß es rafch vergeffen das iſt fo gut, als wenn e8 auggeftrichen würde...” „Wo aber foll ich die Kraft fchöpfen, um das alles gu ertragen, um gu vergeflen ?” „Bei den Freunden,” flüfterte ee „und unter dieſen ... auch bei mir...” Sie ſchien leichter gu atmen als hätte fie wieder frifche Luft gefchäpft. Ste hatte das Gefühl, daß da neben ihr eine Kraft fih rege, die ihr Schuß verfprach, daß im ber Derfon diefes Mannes ein fefler, granitener Berg fich vor fie fellte, in deſſen Schatten fie fich flüchten und den erften Anftuem der Verzweiflung und Enttäufhung, das Erloͤſchen der noch rauchenben Leibenfchaft abwarten fonnte,

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„IH glaube an Ihre Freundſchaft, Iwan Iwanowitſch, und ich danke Ihnen,” fagte fie, ihre Tränen trocknend. „Es iſt mie ein wenig leichter ums Herj... und es wäre mie noch leichter, wenn... die Großtante nicht wäre.” „Ste weiß es noch nicht?” fragte er und ſchwieg Dann plöglich, in dem Gefühle, daß in feiner Frage ein Vor⸗ wurf liege. Er neigte den Kopf und fuchte fich vorzuſtellen, wie Tat⸗ jana Markowna das alles ertragen wuͤrde. Er konnte ein banges Gefühl nicht unterbräden, fuchte jedoch feine Be⸗ fücchtungen vor Wera gu verheimlichen. „Heute ging es ber Gäfte wegen nicht, fehen Sie... doch morgen foll fie alles erfahren... Leben Sie wohl, Jwar hasse ich leide entfenlih... Ih muß mich Kim egen ... Er ſah Wiera lange an.

„Mein Gott!” dachte er, und er zitterte förmlich vor Wut

„was für ein blinder Toͤlpel muß biefer Wolochow fein

... oder ... was für eine Beſtie!“ „Haben Sie nicht irgendeinen Auftrag fuͤr mich? Soll ich nicht Irgendwo etwas ausrichten?...“ fragte er. „Ja ... bitten Sie doch Nataſcha, fie möchte morgen ober Abermorgen zu mir kommen.”

„und ih darf ich in ber nächften Woche kommen?“ fragte er ſchuͤchtern „Darf ich mich erkundigen, ob Sie fih beruhigt haben?...“

Beruhigen Sie fih vor allem felbft, Iwan Iwanytſch und leben Sie wohl! Ich kann mich kaum auf ben Beinen

halten.”

Er verabſchiedete fich von Ihe und jagfe mit feinen Pferden

fo vafch den fleilen Berg hinab, daß er beinahe felbft in

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die Schlucht abgeſtuͤrzt wäre. Ab und zu wollte er nad feiner Gewohnheit zur Peitfche greifen, doch faßte er flatt ihrer nur bie gerbrochenen Bruchftäde in dee Tafche, bie er auf dem Wege zerftreute. Dennoch kam er u fpät, um noch über die Wolga ſetzen zu können; er übernachtete bei einem Freunde in der Stadt und fuhr erfi am nächften Morgen in aller Frühe nach feinem Walde,

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Sechſtes Kapitel

m naͤchſten Tage gab es in Walinowia ein reges

Leben und Treiben. Das ganze Hans war in Yufs tegung, Lakaien, Köche, Kutſcher alle liefen geſchaͤftig durcheinander; die einen bereiteten das Frähftäd, Die andern fpannten die Pferde vor die Equipagen, und alle waren vom frähen Morgen ab betrunken. Rur die Groß; tante verhielt fih wider ihre Gewohnheit ſchweigſam und war fogar ein wenig niebergefehlagen, als fie Marfinka zur Fahrt über die Wolga, wo fie ihre zukünftigen Ver⸗ wandten befuchen follte, abfertigte. Sie gab ihr feine guten Lehren mit auf den Weg, keine wohlgemeinten Rats fchläge und Warnungen, ja fie gab fogar auf Marfinkas Fragen, welche Kleider und fonfligen Sachen fie mitnehmen follte, nur gang gerfireute Antworten. „Nimm mit, was du willft,” fagte fie und beauftragte Waffiliffa und Die Kammerzofe Natalia, die Marfinka begleiten follte, alles Erforderlihe einzupaden. Sie übergab ihr geliebtes Kind der Obhut Marla Jegorow⸗ nas, der Mutter des Braͤutigams, und fehärfte diefem in ernfthaftem Tone ein, er folle bort, in feinem Dorfe, ben Reſpekt vor feiner Braut nicht außer acht laſſen, namentlich

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menn Fremde, etwa die Nachbarsleute ober fonft jemand, anwefend fein follten. Die Freiheiten, bie er hier unter ihren Augen und den Augen feiner Mutter fich im Verkehr mit Marfinta herausgenommen, würden von anderen Leuten leicht falfch ausgelegt werben; namentlich folle er es unterlaffen, mit ihr in Wald und Garten umhergutollen, wie er e8 hier getan.

Wikentjew war bei diefen mwarnenden Worten ein Hein wenig errätet, als hätte es ihn verlebt, daß die Großtante ihm nicht Takt genug zutraute, und auch feine Mutter biß fich leicht auf die Unterlippe und Hopfte in feifem Takt, wie in leichter Ungeduld, mit dem Schuh auf den Fußs boden auf. Als Tatjana Markowna diefe Wirkung ihrer Worte bemerfte, ſchlug fie fogleich einen freundfchaftlichen Zon an, Hopfte ihrem lieben Nikolenjka auf die Schulter und meinte, fie wiſſe ja felbft, wie Aberflüffig ihre Worte feien, aber es fei nun einmal die leidige Gewohnheit alter Weiber, Moral zu prebigen. Dann feufste fie fill für fih und fpeach big zur Abfahrt der Säfte uͤberhaupt nicht mehr. | Zum Fruͤhſtuͤck erſchien auch MWiera fie war fehr blaß, und ihre Augen verrieten, daß fie nur wenig gefchlafen hatte. Sie fagte, fie fühle fich leichter, nur Habe fie noch ein wenig Kopfichmerzen.

Tatjana Markowna war freundlich gegen fie, bie Wilents jewa jedoch warf ihr mitten im Gefpräch zwei oder drei verfiohlene Blicke zu, Die gu fragen ſchienen: „Was ift mir ihr? Warum hat fie Kopfichmerzen, ohne doch krank zu fein? Warum If fie geftern nicht zum Mittageflen ers fhienen, warum kam fie nur auf einen Augenblid, um Bald wieder mit Tuſchin fortzugehen, mit dem fie eine gange Stunde lang im Dämmerlicht fpagleren ging?...” Und fo weiter, und fo weiter.

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Die Huge und pfiffige Dame gab aber diefen ragen weiter keine Folge, fie gudten nur fo für einen Augenblid heimlich aus ihren Augen heraus. Wiera hatte jeboch bie forfhenden Blicke recht wohl bemerkt, obſchon die Wilens tjewa an Stelle bes Zweifels raſch das teilnehmende Mits gefühl hatte aufmarfcieren laſſen. Auch Tatjana Mars kowna hatte die Fragen in ben Augen ber andern ges

fefen.

Wiera blieb dabet vollkommen gleihgältig, im Gegenſatz zu Tatjana Markowna, die plöglich den Kopf finten ließ und zu Boden blidte, Ä

„Run werben auch ſchon fremde Leute ſtutzig und Id weiß von nichts! And dabei iſt fie Doc vor meinen Augen geboren, ift mein Kind, das mir vertrauen folltel” Dachte fie traurig.

Wiera war bleich, ihre Geficht war wie von Stein; nichts war darin zu Iefen. Alles Leben barin war wie eingefroren, obfchon fie mit Maria Jegorowna, mit Marfinka, mit

Wikentjew über alles mögliche ſprach. Sie fragte bie .

Schwefter beforgt, ob fie fih auch mit warmem Schuh⸗ wert verfehen habe, fie ermahnte fie, für bie Fahrt ein dickes Wollkleid anzuziehen, bot ihe ihren eigenen Maid an und gab ihr den dringenden Mat, bei der Überfahrt über die Wolga im Wagen ſitzen zu bleiben, Damit fie ſich nicht erfälte, Ä

Raiſki hatte einen Spaziergang gemacht und kehrte zum Fruͤhſtuͤck wieder heim. Auch er hatte ein fo ernſtes, ent fchloffenes Geficht, als ob ihm ein Zweikampf oder fonft ein ernfter Schritt bevorſtaͤnde, auf den er fich vorbereiten muͤſſe. Es fehlen fih in feinem Mefen etwas geklärt und geformt zu haben, das büftere Gewoͤlk von geftern ſchien verſchwunden. Er biidte auf Wiera ebenfo ruhig wie auf

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die andern und wich auch ben Bliden ber Großtante nicht mehr aus, was biefer wieder Anlaß zu neuer Beunruhigung gab.

„Der führt etwas Neues im Schilde: er blickt ganz anders als geſtern, fpricht auch anders, wie fich felbft zum Poſſen. D Soft, wel ein Wirrwarr ... was ift nur mit ihnen ?” dachte fie.

Raiffi Hatte den Wikentjews verfprochen, fie auf zwei Zage zu befuchen, und ging mit Vergnügen auf den Vor⸗ ſchlag des Braͤutigams ein, mit ihm auf bie Jagd und den Fiſchfang zu gehen,

Endlich brachen die Gäfte auf. Tatjana Markowna und Raifki fuhren bis ang Ufer mit, während Wiera, nach einem zaͤrtlichen Abfchied von Marfinka, fih auf ihr Zimmer zuruͤckzog.

Es war eine enge Welt, in der Wieras Leben ſich bisher abgeſpielt hatte, und ſie ſollte nun noch enger werden. Ihre ungewöhnliche, tief angelegte Natur hatte ſich lange Zeit mit dem Vorrat von Heinen Beobachtungen und Erz fahrungen begnügt, bie fie ringe um fi eingefammelt hatte. Einige wenige Menfchen erfetten ihre die große Welt; was ein anderer durch viele Begegnungen, in vielen Jahren und an vielen Drten fich erwirbt, dag hatte fie in zwei, drei flillen Winkeln diegfeits und jenſeits der Wolge, im Verkehr mie fünf, ſechs Perfonen, die für fie die Mens fchenwelt repräfentierten, in ben wenigen Jahren feit bem Erwachen ihres felbftändigen Denkens fih gufammenfuchen möflen. Ihr Inſtinkt und ihe Eigenwille hatte ihe Bisher die Geſetze ihres Mäbchenlebeng biktiert, und ihr Herz hatte mit feinem Gefühl erraten, wen fie ohne Bedenken ihre Sympathien zuwenden dürfe "

Sie war mit dem Verſchenken biefer Spmpathien ſehr vor⸗

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fihtig geweſen fie teilte fie nicht fo verfhwenberifh an alle Welt aus wie Marfinta. Abgefehen vom Kreiſe ber Ihrigen unterhielt fie nur gu der Frau bes Prieſters, die ihre Bufenfreundin war, und gu Tufchin, den fie ganz offen ihren Freund nannte und als ſolchen behandelte, engere Beziehungen. Niemand fonfl fonnte auf ihre Zus neigung Anfpruch erheben.

Sie verlor dabei ben roten Faden des Lebens nit aus dem Auge, und die Fleinen Erfeheinungen rings um fie herum, die ſchlichten, wenig komplizierten Menfchen, mit denen fie in ftetem Verkehr fland, gaben ihre Gelegenheit, auch für das größere Leben ba braußen ihre Schlußfolges rungen zu giehen und ihre Willenskraft an den veralteten Begriffen, dem Deſpotismus und ben groben Sitten ihrer Umgebung gu meflen und gu üben.

Auf diefem einfachen Grunde hatte fie mit Geſchic und gutem Verſtaͤndnis ſich den breit angelegten, kuͤhnen Plan eines komplizierteren Lebens mit anderen Forderungen, andern Ideen und Gefühlen zurechtgelegt, bie fie zwar nicht kannte, wohl aber erriet, indem fie gleichfam zwiſchen ben Zeilen des einfachen Wirklichkeitslebens, das fie ums gab, die Sprache eines anderen, höheren Lebens herauslas, nach dem ihr Geift fih fehnte und Ihre Natur verlangte, Sie hatte rings um fih gefhaut und dabei nicht dag ges fehen, was iſt, fondern das, was fein follte, was fie gern als Wirklichkeit gefehen hätte, und da es tatfächlich nicht eriftierte, fo entnahm fie dem einfachen Leben, das fie umgab, nur dag wirklich Lebendige, Zuverläffige und ſchuf fih fo ein Bild des Lebens, das zu jenem, welches fie ums gab, bis auf wenige Ausnahmeerſcheinungen im Gegenfat ſtand.

Und wie ſie mit ihren Sympathiebeweiſen vorſichtig und

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„Ste ſchickt vecht ſpaͤt zu Ihrem Tantchen,” fläfterte fie. „Bott möge fie reiten! Troͤſte und fehäge fie, fo gut du fannft! Sie bat kein Tantchen mehr.”

Sie tat einen Schritt vorwärts, doch er verfperrte ihe den Weg.

„Tantchen was fagen Sie da, was Ift mit Ihnen?“ tief er voll Angſt.

„Ihe habt kein Tanthen mehr...” fagte fie zerſtreut, während fie vor dem Seflel ftand und zu Boden fah. „Seh, geh!” rief fie faft gornig, als fie bemerkte, daß er zögerte. „romm nicht an mich heran . . . laß niemanden herein... Kuͤmmere dich nur felbft um alles... und mich laßt zus feieden alle, alle...“

Sie fand noch immer mie feflgebannt an ihrem Plabe mit lebloſem, gleihfam fehlafendem Blick. Er wollte ihr irgend etwas fagen, boch fie winkte ihm mit ungebuldiger Handbewegung ab.

„Geh zu ihr, ſteh ihr beit Ich vermag es nit... Sie bat kein Zantchen mehr... .” fläfterte fie.

Mit einer gebieterifchen Geſte bedeutete fie ihm, daß er fie verlaffen folle. Ganz bleih, mit beflommenem Herien, ging er hinaus. Er trug Jakow, Wafftliffe und Sſawelij auf, fih um Haus und Hof zu befümmern, und verwandte feine ganze Aufmerkſamkeit darauf, möglichft unbemerkt au beobachten, was weiter mit der Großtante vorging. Kein Auge verwandte er von dem Kabinett.

Sie hatte, als er gegangen war, ſich mechanifch wieder in den Seſſel zuruͤckſinken laffen, war hier in einen Zuſtand unbewußten flarren Halbſchlummers verfallen und darin tegungslog bis zum Morgen, ba es völlig Tag geworben, verblieben.

In den frühen Morgenfiunden fahen dann Raiſki, der fih

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gar nicht fchlafen gelegt hatte, wie auch Jakow und Waſſi⸗ Iiffa, wie Tatjana Markowna mit bloßem Kopfe, ben tuͤr⸗ fifhen Schal um die Schultern und fonft in denfelben Kleidern, die fie am Tage vorher gefragen, aus bem Ka⸗ binett Fam, wie fie, bie Türen mit dem Fuße auffloßend, die Zimmer und den Korridor durchſchritt, in den Garten ging und gleich einer Bronzefigur, die ihren Sodel vers laſſen, nicht links noch rechts ſchauend, dahinſchwebte.

Sie durchſchritt den Blumengarten, ging die Alleen ent⸗ lang und kam an die Schlucht. Dort ging ſie mit gleich⸗ maͤßigen, langſamen, großen Schritten den Abhang hinunter, den Kopf gerade emporgerichtet, ohne ſich umzuwenden, irgendwohin in die Ferne ſchauend, und tauchte im Dickicht unter.

Behutſam hinter den Bäumen Dedung ſuchend, war Raiffi ihre heimlich gefolgt. Sie fehritt Immer weiter, immer tiefer hinab, big fie zu dem Pavillon kam, wo fie, den Kopf finten laffend, wie feſtgebannt flehen blieb. Mit verhaltenem Atem fland Raiſki hinter ihr im El und. beobachtete: fie.

„Meine Sünde!” tönte es wie ein Stöhnen aus ihrem Munde, während fie bie Hände an bie Stirn legte. Dann ging fie plöglich mit beſchleunigten Schritten meiter, ges langte an die Wolga und fland unbeweglih am Ufer. Ihr Haar wehte im Winde, der ihr den Schal von ben Schultern riß und die Kleider um die Glieder flattern ließ; doch fie merkte nichts.

Der Atem ſtocktte Raiſki bei dem jähen Gedanken: will fie ins Waffer gehen?

Doc fie machte langſam Kehrt und fehritt weiter, feft aufs fretend und tiefe Spuren In bem feuchten Sande zuruͤck⸗ laſſend.

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Raiſki atmete freier auf. Als er jeboch aus feinem Verſteck hervor einen Blick auf ihr Geficht warf, wie fie jet in der gleichen breiten, langfamen Gangart fich wieder der Schlucht jzuwandte, ward er von bangem Schred ergriffen. Er erfannte die Großtante nicht wieder. Wie eine ſchwere Wolfe lag es über ihren Zügen, und dieſe Wolfe war der Schmerz, der Sram über das Ungluͤck, ben er in biefer Nacht über fie heraufbeſchworen hatte. Und er fah feine hilfreiche Hand, die biefen Sram von ihre genommen hätte. Sie hatte die Wahrheit gefprochen, als fie fagte, es gebe fein Tantchen mehr. Das war nicht die Großtante, nicht Tatjana Markowna, die liebend und zärtlich wie eine Mutter für die Ihrigen forgte, nicht die Gutsherrin von Malinowka, wo alles durch fie lebte und glüdlich war, wo auch fie felbft zufrieden und glüdlich lebte und mit Weisheit ihr Heines Meich regierte. das war eine ganz andere Frau. Es war, als ginge ſie nicht ſelbſt, —— wuͤrde von außen her durch eine fremde Kraft bewegt. Wie breit ſie dahin⸗ ſchreitet, wie hoch und gerade ſie Kopf und Schultern trägt, auf denen bie Laſt dieſes Ungluͤcks ruht! Sie ſchreitet wie unbewußt durch den Wald, den Abhang der Schlucht hinauf; der Schal haͤngt ihr von der Schulter herab und ſchleift durch Schmutz und Staub. Mit ſtarrem, glaͤſernem Blick ſchaut ſie irgendwohin in die Ferne, und der ſteinerne Ausdruck hilfloſen Entſetzens liegt in ihren Augen. Einzig bag Bewußtſein dieſes Ungluͤcks praͤgt ſich in Ihren Zuͤgen aus, jede andere Regung ſcheint zuruͤckgedraͤngt; wie eine Mondſuͤchtige, eine Tote ſchreitet ſie daher. Roiffi, der hinter ihr herſchlich und fie nicht aus den Augen ließ, um in jedem Augenblick an ihrer Seite fein zu koͤnnen, 36*

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fonnte ihe nur mit Mühe folgen. Mit ungewöhnlicher Kraftanftrengung fehritt fie den ſteilen Berg hinan: nur einmal blieb fie ftehen, ftüßte fih gegen einen Baum und legte wieber die Hände an ben Kopf.

„Meine Sünde!” kam es von neuem, wie aus tiefftem Seelengrunde, über ihre Lippen, „Wie ſchwer iſt bag doch! HH! Nimm bie Laft von mir, ich ertrage fie nicht!” flüfterte fie dann, richtete fich empor und fehritt weiter den Abhang hinan, überwand ben fteilen Aufftieg mit Aufbietung aller Kraft und achtete deſſen nicht, daß die Dornen Fetzen von ihrem Kleide und dem Schal losriſſen.

Ganz im Banne feines Staunens und Schredens, ſah Raiffi auf biefe ihm fremde, neue rau. „Nur große Seelen vermögen fo ſchweren Kummer mit folcher Kraft zu überwinden,” bachte er. „Sie fhweben wie die. Abler unter den Wolken hin und ſchauen hinab in die Abgründe, Nur eine gläubige Seele erträgt ben Schmerz fo, wie diefe Frau ihn trägt und nur Frauen vermögen ihn fo zu tragen. Sin der weiblichen Hälfte des Menfchengefchlechtg,“ Dachte er weiter „ruhen große, weltbewegende Kräfte verborgen. Nur find fie noch nicht recht begriffen, noch nicht anerkannt, noch nicht nugbar gemacht weder von den Frauen felbft noch von den Männern. Noch werden fie unterdradt und mit Füßen getreten, ober von det männlichen Hälfte mißbraucht, die, von Ihrem Dünfel ges blendet, es nicht verfteht, diefen gewaltigen Kraftquell zu benugen und für vernünftige Ziele zu verwenden. Die Srauen aber, die fich felbft über ihre natürlichen Kräfte und Anlagen täufchen, fuchen gewaltfam in den Bereich männlicher Kraftbetätigung eingubrechen, und aus biefem gewaltfamen Eindringen In ben fremden Beſitzſtand ers geben fich all die Mißverftändniffe gwifchen beiden Lagern.”

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„Das iſt nicht die Großtante!“ fagte ſich Raiſki, als er fie fo anfah, und war aufs tieffle betroffen. Gie erſchien ihm wie eine jener großen weiblichen Perſoͤnlich⸗ feiten, die In ſchickſalsſchweren Augenbliden als Heroinnen ans dem Schoße der Familie hervorwachfen, gan plöglih, wenn ringsum Schlag auf Schlag nieberfauft und die Menfchen nicht grober Mustkelkraft noch dee Stolzes trogiger Geifter bedürfen, ſondern feelifcher Wider⸗ ftandsfähigfeit, um einen großen Schmerz zu fragen, um gu leiden und zu dulden und doch nicht zuſammenzu⸗ brechen.

Und eine Reihe Hiftorifcher Srauengeftalten, bie er unwills kuͤrlich mit der Großtante in Parallele ftellte, ſchwebte an feinem Geiſte fchattengleich voruͤber. Er fah die flolge, alte Herrſcherin von Serufalem, die hochmuͤtig lächelnd die im Volle umgebenden Prophezeiungen vernahm: „Es wird die Krone von dem Volke genommen werden, das feine Heimſuchung nicht erkennet es werben bie Römer foms men und Land und Stadt einnehmen!” Sie glaubte nicht daran, fie hielt bie Krone für unerfchütterlich, bie Jehovah auf Israels Haupt gefeut. Als aber die Stunde wirklich fam, als die Nömer Land und Stadt einnahmen und fie begriff, woher ber Schlag gekommen ba erhob fie fi, nahm bie Krone von ihrem Haupte und ging ſchweigend, ohne Murren, ohne Heinmütige Tränen wie fie bie Männer an ber Klagemaner vergoffen mit bem flarren Yusdrud des Entfegens in den Augen mitten durch ihr gefallenes Reich. Ste achtete nicht ber von ben Dornen gerriffenen Kleider, fondern fehritt dahin, wohin Jehovahs Hand fie führte, ganz fo wie biefe Frau, die dort ben Abs hang emporfchritt, bag Heiligtum ihres Schmerges auf dem Antlig zur Schau tragend, als fet fie flolz darauf, daß ein

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fo gewaltiger Schlag fie getroffen, und daß fie imſtande war, ihn gu ertragen.

Und noch einer zweiten Königin des Schmerzes gedachte Raiſki der großen ruſſiſchen Märtyrerin Marfa von Nowgorod, die, von den Moskauer Adlern gefangen ges fegt und zerfleifcht, noch im Kerker ihre Größe und bie Majeftät ihres Schmerzes um den dabingefchwundenen Ruhm des alten Nowgorod bewahrte. Koͤrperlich ges demuͤtigt, hatte fie doch im Geifte gefiegt und flarb als bie Herricherin, die kuͤhne Feindin Moskaus, die noch im Tode das Schidfal ihrer freien Stadt in ber Hand hielt. Und noch weitere große Schatten hehrer Dulderinnen tauchten aus der Vergangenheit vor ihm auf: ruſſiſche Zarinnen, die auf Geheiß ihrer Gatten ben Schleier neh⸗ men und Geift und Kraft in einer Klofterzelle begraben mußten, und andere Zarinnen, bie in ſchickſalsſchwerer Stunde an bie Spite bes Reiches traten und es retteten. Und diefelbe Seelenftärfe wohnte auch den Frauen unferer himmelftürmenden Titanen inne jenen Bojarinnen und Fürftiinnen, die, Ihren Gatten In bie Verbannung folgend, zwar Stand und Titel hatten ablegen müffen, aber dafür die Kraft ihres weiblichen Herzens und ihre feelifche Schön; heit bewahrt hatten. Sie hatten felbft diefe Schönheit big dahin nicht gekannt, und auch ben andern war fie ents gangen, nun aber ward fie gleich dem Golde, dag im Seuer gereinigt wird, durch ein hartes, arbeitsreiches Leben, in hingebender Pflichterfüllung gegenäber ihren Gatten, deren Unglüd fie neben Ihrem eigenen mit tragen halfen, geläutert und veredelt. Und die Männer neigten ihre Knie vor biefer für fie neuartigen Schönheit und engen ihre Strafe mannhafter und mutiger. In Not und Entbehrungen geprüft, von Arbeit und Gram aufgerieben,

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bewahrten fie doch ihre Seelengröße und ſtrahlten Inmitten bes Elends in unvergänglicher Schönheit, wie jene erhabes nen Statuen, bie jahrtaufendelang in dee Erde geruht haben und dann wieber aufgefunden wurden, vom Zahn der Zeit zwar benagt, aber doch von dem unvergänglichen Glanze verflärt, den ihnen die Meifterhand verliehen. Und diefelbe Seelengröße, bie, während alles ringsum zuſammenbricht, ben Schlägen bes Schidfals ſtandhaͤlt, befigt, obſchon unbewußt, auch die fchlichte ruffiihe Frau aus dem Volke; wenn bie Feuersbrunft ihre Hütte vers zehrt und fie ihrer Habe und ihrer Kinder beraubt, dann teitt dieſer Schaß zutage und wird Ihr zum Heil, zur Rettung. Mit demfelben ſtummen, fleinernen Ausdruck des Ents fegeng, wie hier die Großtante, wie bort bie heldenmätige Marfa von Nowgorod, wie die verbannten Zarinnen und Fürftinnen fchreitet fie daher, den Blick unbeweglich zum Himmel emporgerichtet, und ohne fih umzuſchauen nad der Seuerfäule in ihrem Nüden, geht fie mit großen, kraͤf⸗ figen Schritten davon, den dem Flammenmeere entriffes nen Säugling an der Bruft, bie gebrechliche alte Mutter an der Hand, mit Bid und Fuß den Heinmütigen Gatten vorwärtstreibend, der zu Boden finkt, fich verzweifelt in die Erbe feſtbeißt und zuruͤckſchauend das Element ver; flucht ... Feſt und ſicher mit den ſonnenverbrannten Fuͤßen aus⸗ ſchreitend, geht ſie daher, weiter und weiter, ohne zu wiſſen, wo ſie Halt machen, ob ſie nicht entkraͤftet zuſammen⸗ brechen wird. Sie glaubt feſt daran, daß neben ihr eine zweite Kraft dahinſchreitet und ihr Ungluͤck traͤgt, das ſie allein nicht zu tragen vermoͤchte. In ihrem weitgeoͤffneten, ſtarr ſchauenden und nichts ſehenden Auge druͤckt ſich die Kraft aus, zu dulden und

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su leiden. Ihr Antlitz ſtrahlt im Slanze ber Schönheit, im hehren Nimbus bed Martyriums.

Donner und Blitz entladen ſich uͤber ihr, und Flammen⸗ glut umlodert ſie, vermag jedoch ihre ſeeliſche Kraft, ihre Frauengroͤße nicht zu vernichten.

In jaͤhem Erſchauern ſuchte Raiffi fi dieſer von ſeiner unermuͤdlich arbeitenden Phantaſie ihm vor die Seele gesauberten Geftalten zu erwehren, um feine ganze Auf⸗ merffamfeit der vor ihm herfchreitenden Dulberin wihmen zu koͤnnen, fie nicht aus den Augen zu laſſen und zu ers taten, welcher Art wohl die Dual und Pein fein mochte, die von ihrer Seele Beſitz ergriffen hatte. Snfammengebrochen war das Reich Tatjana Markownas, verddet ihr Haus, vernichtet der koſtbare Schatz, ber edle Verlenfhmud ihres Stolzes. Sie irrte einfam zwiſchen den Trümmern der zerſtoͤrten Herrlichfeiten umher. Und auch ihre Seele fehien vereinfamt, veroͤdet. Der Geift des Friedens, des ruhigen Stoljes, des Glädes und Wohls behagens ſchien für immer verfcheucht aus dieſem lauſchigen Mintel,

Der Greuel der Verwuͤſtung ſtarrte ihre jet hier von allen Seiten entgegen, und ein Überdreuß an allem, an ber ganzen Welt, dem ganzen Leben bemächtigte fich ihrer. Wenn fie ihren Schritt hemmte, um neue Kraft gu ſchoͤpfen, um tiefer Atem zu holen umd bie trodenen, heißen Lippen zu erfrifchen, fühlte fie, wie ihre Knie zitterten; noch ein Yugenblid, und fie wäre zu Boden geſtuͤrzt, Doch eine innere Stimme verlieh ihr Stärke und flüfterte ihr gu: „Immer geh, verlier den Mut nicht du wirft ang Ziel gelangen !“ | Und die greife Schwäche, bie fie angewanbelt, ſchwin wieder, und fie geht weiter. Bis zum Abend ging und

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sing fie, faß die Nacht hindurch in quaͤlendem Halbſchlum⸗ mer, aus Yieberträumen aufftöhnend, in Ihrem GSeffel, erwachte mit dem Bebauern, erwacht zu fein, erhob fich mit dem Morgentot und ging wieber nach der Schlucht, zu dem Pavillon im Didicht, ſaß dort lange auf der halb⸗ gerfallenen Treppe, mit bem Kopfe auf den fahlen Brettern des Sußbodeng, ſchritt Dann ing Feld hinaus, wandte fich dem Strom zu und irrte wie verloren durch bag Ufergebüfch. Wie von ungefähr kam fie gu ber Kapelle im Felde, hob den Kopf auf, fah das Bild des Erldfers da drinnen und neues Entfegen, größer als das frühere, blidte aus ihren weitgeöffneten Augen. Es war, als wenn fie etwas zur Seite ſtieße.

Wie ein verwundetes Tier ſank ſie auf ein Knie, erhob ſich mit Muͤhe und lief haſtig, immer wieder hinfallend und ſich erhebend, das Geſicht vor dem Antlitz des Hei⸗ landes mit dem Schal verhuͤllend, an der Kapelle voruͤber und ſtoͤhnte: „Meine Suͤnde! Meine Suͤnde!“

Die Leute im Hauſe waren ganz entſetzt. Waſſiliſſa und Jakow kamen faſt gar nicht mehr aus der Kirche heraus, beſtaͤndig lagen fie auf den Knien und beteten. Waſſiliſſa gelobte, zu Fuß eine Pilgerreife zu ben Wundertätern von Kiew zu unternehmen, wenn die Gnädige wieder in Ord⸗ nung Fame, und Jakow wollte der Kirche des Ortes eine dicke, vergoldete Wachskerze fpenben.

Die übrigen Leute verftedten fih in den Winkeln und Eden und ſpaͤhten heimlich, wie ihre Gebieterin gleich einer Irr⸗ finnigen Flur und Wald durchwanderte. Selbſt Marina war ganz beftürzt und ging wie im Traum umher.

Nur Jegorka verfuchte es fichernd mit feinen Späßen und Nedereien bei den Mädchen, doch fie jagten ihn fort, und Waſſiliſſa nannte ihn einen ungläubigen „Supoftaten.”

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Den britten Tag bereitd nahm die Großtaute nicht einen Biſſen zu fih. Raiffi wußte es fo einzurichten, daß er ihr entgegenkam, fie aufbielt und anredete, boch fie bedeutete ihm jedesmal mit einer gebieteriihen Hanbbewegung, daß er weitergeben folle.

Endlih nahm er eine Kanne Wild, trat entichloifen auf fie gu und faßte fie am Arme. Gie fah ihn an, als er; fenne fie ihn nicht, blidte dann auf die Kanne, nahm fie mit sitternder Hand mechaniſch aus feinen Händen und tranf begierig, in langen, langfamen Zügen, bie Milch bis auf den legten Tropfen and.

Tanichen, ih bitte Sie fommen Sie nah Haufe, quaͤlen Sie fih felbft und ums nit!” flehte er. „Sie fönnen ben Tod davon haben!“

Sie machte eine abwehrende Hanbbewegung.

„Bott bat mich heimgeſucht, ich fu’8 nicht aus eigenem Willen. Seine Kraft iſt's, die mi führt ich muß es bis ans Ende fragen. Breche ich zuſammen, dann hebt mid auf... Meine Sünde!” flüflerte fie und ging weiter. Nachdem fie etwa sehn Schritte weit gegangen war, wandte fie fih um. Er eilte auf fie zu.

„Wenn ich’8 nicht ertrage.... wenn ich flerbe.. . .” begann fie und machte ihm ein Zeichen, fih näher zu ihr hin⸗ zuneigen.

Er kniete vor ihr hin.

Sie preßte feinen Kopf an ihre Bruſt, Füßte ihn innig auf die Stirn und legte ihre Hand auf feinen Scheitel, „Rimm meinen Segen,” fagte fie „und bring ihn auch Marfinka ... und ihr, meiner armen Wera... börft du: auch ihr!...“

„zantchen !” rief er aus und kuͤßte, während ihm bie Traͤ⸗ nen in die Augen traten, ihre Hand.

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Sie entzog ihm ihre Hand und ging davon, um weiter durch die Buͤſche, am Ufer entlang, und durch die Felder zu wandeln.

„Sie hat ihr eignes Reich, dieſe glaͤubige Seele!“ dachte Raiſki, als er hinter ihr herſchaute und feine Tränen trock⸗ nete. „Nur fie vermag fo für alles, was fie liebt, zu leiden, fo zu lieben und fo für eigne und fremde Schuld Buße zu fun!”

Und Furchtbares litt auch Wiera In biefen Tagen. Raiſki hatte ihr fein nächtlihes Gefpräch mit der Großtante mits geteilt. Als fie tags darauf, ganz bleih und verhärmt, (don am frühen Morgen ihn gu fich Bitten ließ und ihn fragte, wie es um Tantchen flehe, wies er flatt jeder Ant⸗ wort auf Tatjana Markowna, bie foeben wieder durch ben Garten und die Allee aufs Feld hinauswanderte. Wera flürgte ang Fenfter und blickte hinaus nach der hinwandeln⸗ den Geftalt ber Großtante, bie mit der Laft des Unglädg auf den Schultern über die Felder ſchritt. Sie konnte gang flüchtig den Ausbrud ihres Gefichtes bemerken und fiel, über den Anblick entfegt, zu Boden. Dann raffte fie fih auf, Tief von Fenſter zu Fenfter, rang bie Hände und firedte fie flehend, wie im Gebet, nach der Großtante aus. Sie irrte felbft wie verftört durch bie geoßen, verlaffenen Säle des alten Haufes, öffnete eine Tür nad der andern und fchloß fie wieder, Tieß fich auf bie alten Kanapees niederfinten, ftolperte über bie Möbel,

Es zog file mit Gewalt gu der Großtante hin, doch bie Angſt, das Entfegen hielt fie zuruͤck; ihre jeßt vor die Augen zu treten, hieß vielleicht fie toͤten.

Wahre Folterqualen hatte Wiera zu erdulden. Jetzt erft fühlte fie, wie tief fie den Dolch in ihr eigenes wie in dieſes andere, ihr teure Leben bineingeftoßen hatte, als fie ſah,

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wie dieſe gramgebeugte Greiſin ihretwegen litt fie, die noch vor kurzem fo glüdlich geweſen und jett in zerfetzten Kleidern, ganz gelb, ganz erſchoͤpft, ſchwer bäßend für fremde Schuld, dur die Selber irrte.

„Barum trifft nun fie diefe Schuld? Sie iſt eine Heilige und ih...” dachte fie, von Rene zerknirſcht. Als Raiffi ihr den Segen Tatjana Markownas überbrachte, war fie ihm um den Hals gefallen und hatte lange, lange gefchluchzt. Am Abend des zweiten Tages hatte man Wera in einer Ede des großen Saales, Halbentfleibet auf dem Boden figend, gefunden. Boris und die Frau des Prieſters, die an biefem Tage zu Befuch gefommen war, hatten fie faft mit Gewalt fortbringen muͤſſen und fie gu Bett gebracht. Raiſki Hatte den Arzt kommen laſſen und ihn, fo gut es sing, über die nervoͤſen Zufälle aufgeklaͤrt. Der Arzt hatte ihr eine beruhigende Arznei verfehrieben, und Wiera hatte fie genommen, jedoch keine Ruhe gefunden. Immer wieder war fie aus dem Schlafe aufgefahren, hatte gefragt: „Was ift mit Tantchen?” und war dann wieber in einen uns ruhigen Halbfchlummer verfallen.

Ste hörte nicht auf das Gefläfter Ihrer geltebten Freundin, die wohl geeignet war, Wjeras Geheimniffe im verſchwiege⸗ sen Bufen zu bewahren, ſich ihr jedoch als der Stärferen, Überlegeneren in allem unterorbnete, ihre AUnfichten widers ſpruchslos teilte und ihren Wuͤnſchen ſtets auf halbem Mege entgegenfam, fobald dagegen dag drohende Unwetter Aber Wjeras Haupte heraufsog, fih als zu ſchwach erwies, um ihr Hilfe oder Beruhigung zu bringen.

„Gib mir gu trinken!“ flüfterte Wjera, ohne auf ihr leichtes Geplauder zu hören. „Und fprich nicht fo viel... Laß niemanden herein, fig nur fo neben mir da... Dber geh und höre einmal, was mit Tantchen tft!“

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Und ganz ebenfo war's in der Naht. Aus unruhigem Schlummer auffahrend, flüfterte Wjera immer wieder: „Zanthen kommt nicht gu mir! Tantchen liebt mich nicht! Tantchen verzeiht mir nicht!”

Am dritten Tage war Tatjana Markowna aus dem Haufe gegangen, ohne daß jemand fie bemerkt hatte. Raiſki, der zwei Nächte fchlaflog verbracht, war zu Bett gegangen, hatte jeboch Auftrag gegeben, ihn gu weden, fobald fie fortgehe.

Aber Jakow und Waſſiliſſa waren zur Fruͤhmeſſe gegangen, und Paſchutka, die die Herrin beim Fortgehen geſehen hatte, war vor lauter Schreck hinter die Beſen und Fleder⸗ wiſche in der Rumpelkammer gekrochen und dort ein⸗ geſchlafen. Die andern waren da und dort im Hauſe zerſtreut geweſen.

Nur Sſawelij hatte geſehen, daß die Gnaͤdige den Abhang der Schlucht hinuntergeſchritten war, daß ihr Gang un⸗ ſicher geweſen, daß ſie ſich an den Baͤumen feſtgehalten und dann dem Felde zugewandt hatte,

Raiſki eilte ihr nach und fah, hinter einer Hausecke vers ftedt, wie fie langfam vom Felde heimkehrte. Sie blieb ftehen und blickte zuruͤck, als nahme fie Abſchied von den Bauernhäufern, Er trat auf fie zu, wagte jeboch nicht, fie anzufprechen. Er war beftürst, alg er ben neuen Aus⸗ druck ihres Geſichtes fah: an Stelle des hilfloſen Entfegeng war eine gewiffe Bewußtheit getreten, in ber jeboch etwas Troſtloſes lag. Ste hatte ihn nicht bemerkt fie fah vor fih hin, als blicke fie ihrem Ungläd ins Geficht.

Sie träumte mit offenen Augen, daß ihre Reich zuſammen⸗ gebrochen und der Greuel der Verwuͤſtung an feine Stelle getreten ſei. Sie felbft erzählte fpäter Raiſki dieſes uns heimliche Traumbild, das fie wachen Auges gefehen.

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Als fie fih nah dem Dorfe umgewandt, hatte fie ſtatt der wohlgefügten Drbnung, in der fi fonft die Haͤuſer bes funden, einen Haufen halbverfaulter Bauernhuͤtten erblidt, die jeder Aufficht und Fuͤrſorge entrieten und ein Schlupfs winfel von Dieben und Landfireichern, Bettlern und Saͤu⸗ fern waren. Die Felder lagen veröbet ba, Beifuß, Metten und Brenneſſeln wuchfen darauf.

Sie wandte fih entfegt von dieſem Dorfbilde ab und ging nah dem Garten. Sie blieb fliehen, ſah fih um und erkannte weber Haus noch Hof.

Der Park, die Blumenanlagen, ber Gemüfes und Obſt⸗ garten alles bildete einen einzigen wuͤſten Haufen, ein vom Graswuchs überwuchertes Durcheinander. Kein Menſch wohnte an diefer Stätte, nur der Weih fließ aus den Lüften herab, um feine Beute zu paden und in die Höhe zu entführen.

Das neue Haus war verfallen und ſchief und Halb in den . Boden geſunken; die Hofgebäude waren eingeftürgt; zwifchen den Trümmern ſchlich eine Häglich miauende Kate umber, und ein ausgebrochener Sträfling verbarg fih unter dem verfallenen Dache.

Die Alte erfhauerte und blidte nach dem alten Haufe hinüber. Es hatte alles uͤberdauert während fonft alles Leben wie erſchreckt von dieſer Stätte geflohen war, ſtand eg felbft in feinem duͤſtren Teog mit feinem dunklen Ziegels gemaͤuer, von dem ber Bewurf abgefallen, feft und ficher an feiner Stelle, Die Scheiben fehlen In den Fenftern, die Fenſterrahmen find vermorſcht, und duch die verfallenen Räume ftreicht der Wind und verkilgt bie letzten Spuren des Lebens. Im Kamin hat ein Uhu fich ein Neſt gebaut, kein lebender Schritt laͤßt fih vernehmen, nur ihre Schatten... ber

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Schatten ihrer Wera, die nicht mehr iſt, die geftorben ft... ſchwebt über das riffige, dunkle Parkett, und ihre gefpenftifcher Seufzer gefellt fih dem Heulen des Windes, folgt ihm in den Garten, in die Schlucht dorthin, zum Pavillon...

Raiſki fah, daß Aber das Antlig der Großtante langſam eine Traͤne floß, die wie erſtarrt an ihrer Wange haͤngen blieb. Die Alte wankte, griff in die Luft, als ſuche ſie eine Stuͤtze, und ſchien zuſammenbrechen zu wollen...

Er ſtuͤrzte nach ihr hin, fuͤhrte ſie mit Waſſiliſſas Hilfe nach Hauſe, ließ ſie in einen Seſſel gleiten und eilte fort, um den Arzt zu holen. Sie blickte um ſich, ohne jemand zu erkennen. Waſſiliſſa begann bitterlich zu weinen und ſtuͤrzte ihr zu Fuͤßen.

„Muͤtterchen Tatjana Markowna!“ jammerte ſie „ſo kommen Sie doch zu ſich, machen Sie dag heilige Kreuz⸗ geichen ja

Die Alte bekreuzte fich, ſtieß einen tiefen Seufjer aus und gab durch ein Zeichen zu verftehen, baß fie nicht fprechen koͤnne, und daß fie durftig fei.

Sie legte ſich ing Bert, faft mechanifch, als wiſſe fie nicht, was fie tue. Waſſiliſſa entkleidete fie, Hälfte fie in warme Tücher, rieb Ihre die Arme und Beine mit Franzbranntwein ein und brachte fie ſchließlich fo weit, daß fie ein Glas Wein trank. Der Doktor ordnete an, man folle fie nicht weiter beunruhigen, fonbern fie ſchlafen Laffen und ihe dann bie Arznei eingeben, die er ihr verfchrieben.

Irgendein unvorfihtiges Wort verriet Wera, daß bie Großtante frank zu Bette liege, Ste warf bie Dede von fih ab, fließ Natalia Iwanowna zur Seite und wollte zu ihr eifen. Doch Raiſki hielt fie guräd, Indem er fagte, Daß Tatjana Markowna in feften Schlaf gefunten ſei.

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Gegen Abend war auch Wiera erkrankt, fie hatte Sieber und phantaflerte. Die ganze Nacht war fie in heftigfter Unruhe, rief im Traume die Großtante und meinte, Raiſki verlor ganz und gar den Kopf und entfchloß fi fhlieglich, den alten Hausarzt Peter Petrowitſch kommen zu laſſen. Er fuchte ihm Wieras Zuftand zu erklären, ohne natürlich die Urfache zu erwähnen. Voll Ungebuld erwartete er ben Morgen und ging unaufbörlich zwiſchen Wiera und Tatjana Markowna hin und her.

Die Sroßtante faß mit ummwideltem Kopfe dba. Er fürchtete fih hinzuſehen, ob fie fchlafe, oder ob fie noch immer mit ihrem Kummer ringe. Auf den Zeben fchlih er dann zu Miera und fragte Natalia Iwanowna, wie es dieſer gehe.

„Sie fährt jeden Augenblid aus dem Traume auf und weint und phantaflert,” fagte Natalla Iwanowna, die am Kopfende bes Bettes faß.

„Mein Gott!” fagte Raiſki, als er, an Leib und Seele er; mattet, in fein Zimmer fam und fi auf fein Bett hin⸗ ſtreckte „hätte ich wohl je gedacht, daß ich hier in dieſem Winkel auf fol ein Drama, auf ſolche Perfönlichkeiten fioßen würde? Wie gewaltig, wie furchtbar in feiner Schlihtheit, in feiner nadten Wahrheit ift Doch das Leben, und wie vermögen die Menfhen nur ſolche Kataftrophen zu überbauern? Und wir, bie wir dort in ben großen Städten auf dem Haufen leben wir kochen muͤhſam unfere dünnen Bettelfuppen und nennen bag Leben und Leidenſchaft! ...“

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Achtes Kapitel

jera befand fih am Morgen nicht befier. Sie ſchlief swar, hatte jedoch immer noch Fieber und phan⸗ taſierte. Raiſki begab ſich zu Tatjana Markowna und betrat zu⸗ gleich mit Waſſiliſſa ihr Schlafzimmer. Sie lag noch immer genau ſo wie am Tage vorher, in unveraͤnderter Lage da. „Sieh doch nach, Waſſiliſſa, was mit Tantchen iſt! Ich fuͤrchte mich naͤherzutreten, um ſie nicht zu erſchrecken,“ fluͤſterte Raiſki. „Soll ich die gnaͤdige Frau nicht wecken?“ „Es wäre wohl nötig, Wiera iſt krank... Ich weiß nicht, ob wir nicht vielleicht nach dem Arit ſchicken folls ten?...“ Er hatte kaum zu Ende geſprochen, als Tatjana Markowna ſich ploͤtzlich im Bett aufrichtete. „Wiera iſt krank?“ wiederholte ſie. Raiſki atmete erleichtert auf. Auf dem Antlitz der Großtante, das geſtern noch wie ver⸗ ſteinert erſchienen war, zeigte ſich ploͤtzlich der Ausdruck Des Lebens, der Furcht und Sorge. Sie machte Ihm ein

II 37

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Zeichen mit der Hand, er folle hinausgehen, und nach einer halben Stunde hatte fie ihre Toilette beendet.

Mit großen, eiligen Schritten, bange Beforgnis in den Zügen, fchritt fie über den Hof nach dem alten Hanfe zu Wiera. Jede Spur von Muͤdigkeit war aus ihrem Weſen gewichen. Das Leben war in fie zuruͤckgekehrt, und Raiffi begrüßte die Furcht, die ſich in ihren Zügen malte, als ein willtommenes Zeichen ber Beſſerung.

Sie betrat leiſe Wjeras Zimmer, richtete einen Tiefen, forfehenden Blick auf das bleiche Geſicht der Schlafenden und flüfterte Raifki gu, er folle ben alten Doktor Holen laffen. Jetzt erſt bemerkte fie die Frau des Prieflers, die ganz ermuͤdet und abgefpannt ausſah. Sie umarmfe fie und fagte ihr, fie möchte Hinäbergehen und druͤben bei ihr einen ganzen Tag ausruhen.

„Jetzt ift hier niemand nötig: ich bin da," fagte fie und machte fich neben Wjeras Bett einen Sitz zurecht.

Der Doktor kam. Tatjana Markowna ſuchte ihn, ſo gut es ging, über Wjeras leidenden Zuſtand aufzuklaͤren. Er verſchrieb ihr etwas gegen das Fieber und meinte, fobald dieſes geſchwunden, fer nichts weiter gu befürchten.

Wiera nahm im Halbfehlummer die Argnei und ſank gegen Abend In einen feften Schlaf.

Tatjana Markowna ſetzte fih Ihe zu Häupten nieder fo, daß fie den Kopf auf Wieras Kiffen legen konnte. Sie ſchlief nicht, fondern achtete aufmerkſam auf jede Des wegung, jeden Atemzug Wieras.

Wiera erwachte und fragte: „Schläfft du, Nataſcha?“ Und als fie feine Antwort erhielt, fchloß fle die Augen, um fie von Zeit zu Zeit, fobald fie fich ihrer Lage wieder bewußt ward, mit einem fehmerzlichen Seufjer zu öffnen. : sei Ste fuchte wieder In ihren Schlummerzuſtand zuruͤd⸗

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zuſtnken; die Nacht, die fie umgab, erfchlen ihr wie ein ſchreclliches, finfteres Gefaͤngnis.

Nach einiger Zeit bewegte ſie ſich und verlangte zu trinken. Eine Hand reichte ihr über das Kopfliffen bin den er⸗ friſchenden Trank.

„Was macht Tantchen?“ fragte fie, öffnete die Augen und fhloß fie wieder. _

„Wo bift du denn, Nataſcha? Komm doch hierher, warum verftedft du dich ?”

Keine Antwort erfolgte.

Sie ſeufzte tief auf und verfiel wieder in einen Halbs ſchlummer.

„Tantchen kommt nicht! Tantchen liebt mich nicht!“ fluͤſterte ſie bang, als ſie fuͤr einen Augenblick erwachte. „Tantchen verzeiht mir nicht!“

„Dantchen iſt gekommen! Tantchen liebt dich! Tantchen hat dir vernehen!“ erklang eine Stimme zu ihren Haͤup⸗ ten.

Wiera fuhr jaͤh empor, ſprang aus dem Bett und ſtuͤrzte zu Tatjana Narkowna hin.

FTantchen!“ ſchrie fie auf und barg, einer Ohnmacht nahe, iheen Kopf an ber Bruſt ber Alten.

Tatjana Markowna brachte fie ind Bett und legte ihren geauen Kopf auf das Kiffen, neben das bleiche, ſchoͤne, verhaͤrmte Seficht, das In dem dichten, dunklen Haar halb verſchwand.

An die Bruſt der Sreiſin geſchmiegt, die ihr mehr war als ſelbſt eine Mutter ihre fein konnte, ließ Wiera ohne Worte, in einer Blut von Tränen, in kampfhaftem Schluch⸗ gen ihre Beichte und Meue, ihren ganzen plöglich mit jaͤhem Ungeflüm bervorbrechenden Bram und Schmerz hervorſtroͤmen.

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Die Großtante hörte ſchweigend biefes Schluchzen und trodnete mit Ihrem Tafchentuche Wieras Tränen; fie ließ fie ſchluchzen und weinen und preßte nur den Kopf der Weinenden an ihre Bruſt, Ihn immer wieder mit Kuͤſſen bededend. „Liebkoſen Ste mich nicht, Tantchen ... Ich verbiene es nicht... Neben Sie Marfinka ...“ | Aber die Sroßtante druͤckte fie nur noch feſter am ihre Bruft. „Deine Schwefter bebarf meiner Liebe nicht mehr ich aber bedarf der deinigen... Stoß mich nicht von Dit, Miera, wende dich nicht langer ab von mir... ich bin fo verwaiſt!“ fagte fie und begann ſelbſt zu weinen. Wiera fchloß fie mit aller Kraft, bie ihr zu Gebote fland, „Meine Mutter... verzeihen Ste mir...“ fluͤſterte fie. „Schweig ... nicht ein Wort davon ... niemals!” „Ach habe nicht auf Sie gehört... Gott hat mich geftraft, um Shretwillen ...“ „Was fpeihft du da, Wiera?” rief Tatjana Matkowna jaͤh, vor Schred erbleichend, und glich wieder jener trofls fofen Alten, die wie geiſtesgeſtoͤrt durch Wälder und Schluch⸗ ten geirrt war. „Sch dachte, daß mein Wille und Verſtand mir genug * wuͤrde fuͤrs ganze Leben, daß ich kluͤger ſei als ihr ——— Tatjana Markowna atmete frei auf. Sie hatte offenbar einen andern Sinn aus Wieras Worten herausgeleſen. „Du bift Hüger als ich und haft mehr gelernt,” fagte fie. „Bott hat die einen reichen Geiſt gegeben aber du biſt nicht erfahrener als Tantchen .. .“ 5 J „Jetzt ... bin Ich auch erfahrener...” dachte Wjera und

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preßte ihr Geficht gegen die Schulter der Tante, „Nehmen Sie mic fort von hier... laflen Sie mich Ihre Marfinta fein... es foll keine Wiera mehr geben...” flüfterte fie. „Ich will fort aus diefem alten Haufe... dorthin will

ih, gu Ihnen!“ Die Großtante liebkoſte fie ſchweigend. * Beider Koͤpfe lagen nebeneinander auf dem Kiſſen, und weder Wjiera noch die Großtante ſprach fernerhin ein Wort. Sie ſchmiegten ſich dicht aneinander und ſchliefen

ſo, ſich innig umarmend, gegen Morgen ein.

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Neuntes Kapitel

jera erhob fih am Morgen ohne Fieber und Schüttels

froft, nur blaß und abgefpannt war fie. Sie hatte die Krankheit an ber Bruft der Großtante in einer Flut von Tränen ausgeweint. Der Doktor meinte, ed wäre nun wohl alles gut, fie folle jedoch ein paar Tage im Zimmer bleiben. Die alte Drbnung kehrte allmählich wieder zuruͤck. Wjeras Namenstag ging auf Ihren Wunfch ganz fill vorüber. Meder Marfinta noch die Wikentjews kamen man hatte ihnen durch einen Erpreßboten fagen laffen, daß Wera Waſſiljewna fich nicht gang wohl befinde und dag Zimmer hüten muͤſſe. Tuſchin gratulierte ſchriftlich und fragte an, ob er wohl feinen Befuh machen dürfe. Miera antwortete ihm: „Warten Ste noch, bitte, Ich bin noch nicht wieber ganz wohlauf.” Die Gratulanten aus der Stabt wurden dahin befchieben, daß Wera auf Unordnung des Arztes das Zimmer hüten möffe. Nur die Dienerfchaft trug dem Feſttage Nechnung: die Stubenmäbchen zogen ihre bunten Kleider an, falbten ihre Köpfe mie Nellenpomade und ſchmuͤckten fih mit

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Bändern, während die Kutfcher und Lakaien ſich ai gehörig betranten. Wiera und die Großtante waren in ein neues Verhältnis zueinander getreten. Die Großtante vermieb in ihrem Benehmen gegen Wera jede Spur von bemütiger Hetab⸗ laffung, nahm die Sache jeboch anfcheinend auch nicht fo leicht wie Raiffi. Noch weniger aber befannte fie fich gu jener grundfäglichen Verurteilung, wie fie der Iandläufigen fieengen Auffaſſung von der Bedeutung eines folchen Irrtums, ober Ungläds, oder Fehltritts, wie man gu fagen pflegt, beliebt diefer rüdfichtslofen, brutalen Auf⸗ foffung, die von feiner Entfhuldigung, feiner Motivierung eines ſolchen Fehltritts etwas wiſſen will. Beide fahen einander mit ernſtem Blicke an und fprachen nur wenig, zumeiſt von gleichgältigen, alltäglichen Ans gelegenheiten; ihre Augen jedoch redeten in fiummer Sprache von ernflen, wichtigen Dingen. Sie ſchienen ſich gegenfeitig zu beobachten, fuͤrchteten ſich jedoch offenbar, miteinander zu ſprechen. Tatjana Mar⸗ kowna ſagte nicht ein Wort, das als Rechtfertigung oder Entſchuldigung des Fehltritts haͤtte gelten koͤnnen, nicht mit einer Silbe tat ſie des Geſchehenen Erwaͤhnung, an⸗ ſcheinend in dem Beſtreben, Wiera erſt zur Ruhe kommen zu laſſen. Sie behandelte fie doppelt zaͤrtlich, doch lag in ihrer Zaͤrtlichkeit nichts Gemachtes, Beabſichtigtes, als wollte ſie damit nur irgendwelche andern Gefuͤhle oder Meinungen maskieren. Sie war tatſaͤchlich zaͤrtlicher gegen Wiera, als ſtehe fie nach dieſem offenen Bekenntnis, ja felbft nach diefem Sehltritt ihrem Herzen näher. Und Wiera bemerkte wohl dieſe Aufrichtigfeit und Herz⸗ lichkeit im Verhalten der Großtante, doch empfand fie keine Erleichterung davon. Sie hatte firenge Verurteilung

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Se fuchte dieſes Schweigen ber Großtante, diefe vers doppelte Zärtlichkeit, mit bee fie ihr entgegenkam, zu bes greifen und machte dabei die Beobachtung, daß bie Großtante ihr, wenn fie fih unbeobachtet wähnte, ganz feltfame Blide zuwarf, die Wjera nicht zu deuten mußte. Daß die Großtante unansfprechlich leiden mußte, war ihr Har. Der Kummer hatte ihr ganzes Wefen verwandelt, fie ging zuweilen gekrümmt, war gelb geworben, und bie Runzeln in ihrem Gefichte Hatten fih vermehrt. Dann aber, wenn fie Wiera anfah oder ihr zuhoͤrte, richtete fie ſich plöglich wieder auf, und in ihren Augen leuchtete eine ſo zartlihe Glut, als Hätte fie in Wjera jetzt erſt fo recht nit bie liebe, Heine Enkelin von früher, fonbern bie eigene Tochter entdedt, die ihe nun ooppelt lieb, Doppelt enter geworden.

Warum nur biefe Fülle, diefes Übermaß von Liebe? Vieleicht, dachte Wera, wollte die Großtante fie jetzt ganz befonders ſchonen und hegen, das ganze Mitgefühl Aber fie ausfirömen laffen, deſſen ihre tiefempfindendes Frauens herz fähig war. Sie wollte bie arme, Franke, reuige Büßerin nicht die Schuld entgelten laſſen, wollte ihr Verfehlen mit dem Mantel chriftlicher Liebe bedecken. |

„39, das wird es wohl fein,” Dachte Wera demätig. „Doch, o Gott welche Dual iſt dag, dieſes Mitleid gu ertragen, dieſes Almoſen hinzunehmen! Gefallen zu fein und fich nicht wieder aufrichten zu Können nicht nur in ben Augen der andern, fondern auch In ben Augen diefer zärtlich Tiebenden, freuen Mutter!“

Sie wird fie haͤtſcheln und ftreicheln, mehr vielleicht als früher aber fie wird fie Hätfcheln, wie man einen uns glädlichen Idioten häffchelt, den die Natur ſtiefmuͤtterlich behandelt hat, indem fie ihm ben Verſtand nahm. Dber,

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was noch ſchlimmer If: wie man einen unglädligen, vers irrten Bruder flreichelt, dem man buch das bißchen Zärts lichkeit fein Unglüd erträglich zu machen fucht.

Ihr Stolz, ihre menfchliche Würde, das Recht auf die Achtung der Welt, ihre eigene Selbftahtung alles das war in Trümmer gefchlagen. Man reife diefe Blumen - aus dem Kranze, ber die Stirn des Menfchen umwindet und er iſt entwärdigt, zur Sache herabgebrüdt. Die Menge [haut mitleidig auf ben Gefallenen und ſtraft ihn mit ihrem Schweigen, wie die Großtante ſie jetzt ſtraft. Wer einmal dieſen berechtigten menſchlichen Stolz in ſeiner Seele empfunden, wer ſich dieſes Anrechtes auf die Ach⸗ tung der andern einmal bewußt geworden und fein Haupt aufrecht auf den Schultern zu tragen gelernt hat ber kann nicht weiterleben, wenn ihm biefes Anrecht ges nommen Ifl.

Sie erinnerte fih einiger Beiſpiele, In denen die Welt, die äffensliche Meinung über folde Gefallene, wie fie jetzt eine war, erbarmungsios Gericht gehalten hatte.

„Bin Ich denn beffer als fie?” dachte Wiera. „Mark vers ſicherte zwar, und auch Naiffi tat es, daß jenſeits dieſes ... Rubikon .. ein anderes, neues, beſſeres Leben beginne. Ja, ein neues wohl doch Inwiefern ein beſſeres?“

Die Großtante bemitleidete fie das allein war zum Sterben genug. Früher hatte fie fie geſchaͤtzt, war ſtolz auf fie gewefen, hatte ihr das Recht zuerkannt, nach freiem Ermeffen zu denken und gu handeln, hatte fie gewähren laffen, ihe vertraut. Miles dies war nun für immer dahin! Sie hatte ihr Vertrauen gemißbraucht, war gefteauchelt bet all Ihrem Stolze.

Ste war eine Bertlerin im Kreife der Ihrigen. Diejenigen, die ihr am nächften flanden, waren Zengen Ihres Falles

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geweten und kamen nun, ihr Geficht abwendend, gu ihr, um aus Mitleid ihre Schmach mit dem Mantel der che zu bedbeden, während fie dabei ſtolz im ftillen dachten: „Dun wirft nie wieder aufftehen, du Armſte, nie wieder gleichberechtigt neben ung fliehen fo nimm benn wenig, fiens um Ehriftt willen unfere Verzeihung hin!” „Wohlan denn um Chrifti willen will ich ihre Ver⸗ zeihung hinnehmen und mich bemütigen. Ich will es, ja doch mein Herz begehrt auf, es will fein Mitleid, es will Zorn und Gewitter... Schon wieder diefer Stolz ... wo bleibt dann aber die Demut? Demuͤtig fein heißt für mi fo viel, wie ben ſtrafenden Blid einer reinen Fran ertragen, jahrelang, ein ganges Leben lang vor dieſem Blick erbleihen, ohne darob auch nur einen YAugenblid zu murren. Wohl denn Ich will nicht murren! Ich will alles ertragen: das großherzige Mitleid eines Tufchin, eined Raiſki, und das Erbarmen der Großtante, hinter dem fi vielleicht ſtille Verachtung birgt...

„zantchen verachtet mich!” dachte fie, in bitterem Harm erbebend, und verbarg fih vor ihren Blicken, faß ſchwei⸗ gend und gebrädt in ihrem Zimmer, wandte fih ab oder (Hug die Augen nieder, wenn Tatjana Markowna fie fo mit innigfter Zaͤrtlichkeit oder, wie fie meinte, mit chriſtlichem Mitleid anſah.

Und fie vergegenmwärtigte ſich, wie fie felbft vor dem Zu⸗ fammentreffen mie Marl gewefen vor jenem ver, bangnisuollen Abend, ber ihre Ruhe gerftört hatte: fo rein war fie da, fo voll natärlihen Reizes, voll feifchen, pridelnden Lebens... Und unwillkuͤrlich erfchauerte fie! Es erwies fih, daß auch ihre Geringſchaͤtzung der Meinung anderer, auf bie fie fich früher fo viel zugute getan, nicht ſtandhielt. Es war ihe fchmerglich, auch in ben Augen ber

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„Bananfen”, wie Mark fih ansbrädte, als eine Gefallene zu gelten. Sie feufjte nach ihrer Achtung, ihrer Bewun⸗ derung und Verehrung, die fie num eingebäßt Hatte. „Hätte ich mir doch damals an der ungluͤcklichen Kunigunde ein Beifpiel genommen I” bachte fie mit ſchmerzlicher Selbfts ironie.

Sie wollte beten und vermochte es nicht. Um was ſollte ſie beten? Ihr blieb nichts weiter uͤbrig, als demuͤtig das Haupt zu neigen und den Schlag, der auf ſie niederfiel, entgegenzunehmen. Und ſie beugte ſich und trug die Laſt und Strafe der Verachtung, die, wie ſie meinte, ihr nun mit Recht zuteil geworden.

Außerlich erſchien ſie allen vollkommen ruhig, aber ihre Augen waren eingeſunken, keine Spur von Farbe war in dem bleichen Geſicht, die Grazie ihres Ganges, die Frei⸗ heit ihrer Bewegungen war fort. Sie magerte ab, und man ſah es ihr an, daß ſie des Lebens uͤberdruͤſſig war. * Sie hatte fuͤr niemand und fuͤr nichts ein Intereſſe. Na⸗

talia Iwanowna war auf ihren Wunſch heimgefahren, und ſie ſaß nun zumeiſt allein in ihrem verſchloſſenen Zimmer und ging nur zum Mittageſſen zur Großtante hinuͤber. Wenn dieſe ſie mit ihrem forſchenden Blicke an⸗ ſah oder in zaͤrtlichem Tone ein Wort an ſie richtete, ließ ſie den Kopf ſinken und wurde noch duͤſterer, noch in ſich gekehrter. Und wenn Tatjana Markowna auch nur durch ein Wort oder einen Blick einen Wunſch aͤußerte, erfüllte fie ihn demuͤtiger als felbft Paſchutka.

Man fah und hörte gleichfam im ganzen Haufe nichts von ihr. Ganz leife, wie ein Schatten, ging fie umher, und wenn fie jemanden um etwas bitten mußte, tat fie es flüfternd, ohne den Blid aufzuheben. Sie waste nicht, einen Befehl zu erteilen. Es war ihr, als ſchauten Waſſi⸗

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fa und Jakow nur mit Mideld auf fie, und in Jegorkas Augen glaubte fie kecken Hohn, in denen der Stuben, mädchen heimlichen Spott zu lefen.

„Das alfo iſt das neue Leben,” dachte fie und blidte zur Seite, um den Leuten nicht ins Geficht fehen gu mäffen. Und doch wußte niemand im Haufe außer Raiſki und der Großtante auch nur dag geringſte. Sie aber meinte, allen ihr Geheimnis vom Geficht lefen gu können.

Wie nun Tatjana Markowna fie fo beobachtete, wurde fie ſelbſt nachdenklich und ſteckte fih förmlich mit Wierag Traurigkeit an. Auch fie ſprach kaum mit jemandem, ſchlief nur wenig, kümmerte fih nur wenig um die Wirt⸗ (Haft, empfing die Kaufleute nicht, die auf dem Gute ers ſchienen, um Getreidefäufe abzufchließen, und komman⸗ dierte nicht mehr wie fonft im Haufe herum. Die Stirn auf den Ellbogen geftügt, faß fie oft lange, lange einfam in ihrem Zimmer,

Gleich Wiera war auch fie jet Raiffi ſeeliſch nähergetreten, Die ſchlichte Sanftmut feines Gemütg, die Aufrichtigkeit, bie aus jedem feiner Worte ſprach, feine bis zur Nebfeligs keit ausartende Dffenheit, der fühne Flug feiner Phantas fie alles dies gewährte der einen wie der andern einigen Troſt.

Er wußte zuweilen ſogar ein Lächeln auf ihr Geſicht zu locken. Aber die Wolke der Trauer, die ſich über die beiden Grauen, wie über das ganze Haus gefenkt hatte, vers mochte er trotz aller Bemühungen doch nicht ganz zu bannen. Er wurde felbft traurig geflimmt, als er fah, daß weber feine unverminderte Achtung noch bie Zärtlichkeit der Geoßtante der armen Wera ihre frühere Srifche, Ihren Stolz, ihr Selbſtvertrauen, ihren Haren Verſtand und ſtarken Willen, wiederzugeben vermochte, |

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„Zantchen verachtet mich, fie liebt mich nur noch aus Mitleid. Ich kann fo nicht leben, ich werde fterben I” fläfterte ſie Raiſki gu. Diefer ſtuͤrzte fogleich zu Tatjana Markowna und fagte ihr, was Wieras Seele nun wieder bedränge. Er war fehr beftürst, als die Großtante, ſtatt Wiera zu troͤſten, ſeine Worte mit verlegener, unruhiger Miene aufnahm und nichts Beſſeres wußte, als zu beten. „Bete auch du!” fluͤſterte fie Wiera zuweilen, wenn fie an ihr voruͤberging, zu. „Ich kann nicht beten Sie fuͤr mich!“ antwortete Wiera. „Dann weine!” fagte die Großtante. „Ih habe keine Tränen mehr!” antwortete Wiera, und fie gingen fchweigend voneinander, jede nach ihrem Winkel, Raiffi wurde mehr und mehr der Freund und Vertraute beider, Wjera ſowohl wie die Großtante erſchienen ihm wie zwei Heilige, wie Maͤrtyrerinnen; er ſuchte begierig jedes ihrer Worte, jeden Blick zu erhaſchen und wußte nicht, welche von beiden ihn inniger, tiefer ruͤhrte. Das Bild harmoniſcher Schönheit, das er ſtets in Wiera geſehen, gedieh num gleichfam vor feinen Augen zur Voll⸗ endung. Und neben ihr tagte in der Großtante die kraft⸗ volle Geftalt des antiken Weibes, der Haffifhen Matrone empor. Jene fah er durch bag Feuer der Leidenfhaft und die Erfahrung fih zum Selbſtbewußtſein, zur Selbſt⸗ beherrſchung bindurchringen, und dieſe fegte ihn durch ihren überlegenen Verſtand in Erſtaunen. Woher kam ihr dieſe reife Einſicht ihr, die doch eine Unvermaͤhlte, ein Maͤdchen war? Er konnte ſich ihr Weſen, ihr Verhalten nicht erklaͤren: die Großtante war fuͤr ihn ein Raͤtſel, deſſen Loͤſung er vergeblich ſuchte. Beide drangen mit herzlichen Worten in ihn, er ſolle bach

für immer bei ihnen bleiben, folfe heiraten und ein eigenes Haus führen.

„ch fürchte, Ich halte es nicht aus,” antwortete er ihnen „meine Phantafle wird nach neuen Idealen verlangen, meine Nerven werben neue Senfationen fuchen die Langeweile wird mich bei lebendigem Leibe verzehren. Solch eine arme Künftlerfeele kennt nun einmal nichts als biefen ewigen Drang ... nach dem Schaffen... Nehmt es mir ſchon nicht übel, ich werbe mich bald auf die Beine machen,” pflegte er gu erwidern, und feine melancholifhen Morte ſtimmten fie nur frauriger.

Die Großtante Hing ihren fillen Gedanken nach, während Wiera fih in heimlihem Gram verzehrte. So gingen Tage auf Tage hin. MWieras Niebergefchlagenheit wich nun faum noch von ihr, und Tatjana Markownas Betruͤbnis wuchs in dem Maße, wie fie Wiera fchärfer und fchärfer beobachtete.

Solange Wiera fih nicht wohl befand, hatte die Groß; tante drüben im alten Haufe gefchlafen aufdem Diwan, Mieras Bett gegenüber, hatte fie ihr Lager aufgefchlagen, um bei der Schlummernden zu wachen. Dft jedoch lagen beibe da, ohne den Schlummer gu finden, und jede von ihnen laufchte, ob die andere wohl fchlafe.

„Du ſchlaͤfſt nicht, Wjerotſchka?“ fragte die Großtante. „Doch, ich ſchlafe,“ antwortete Wjera und ſchloß die Augen, um die Großtante gu täufchen.

„Ste ſchlafen nicht, Tantchen?” fragte Ihrerfeits Wiera, als fie die Augen der Großtante auf fich gerichtet ſah. „Den Augenblid bin ich aufgewacht,” fagte Tatjana Mars kowna und legte fih auf die andere Seite. '

„3% kann nicht leben! Ach finde keine Ruhe, werde fie niemals finden I” zuckte e8 durch Wjeras gequältes Hirn.

IH} 592 M

„Ib muß es tun Gott will, baß ich mir ſelbſt dieſe Buße auferlege, um ihrem Herzen Ruhe zu fchaffen.. .“ Dachte die Sroßtante mit einem tiefen Seufzer.

„Wann werben Sie mich hier fortnehmen, Tanthen zu Ihnen hinuͤber?“

„Rah der Hochzeit, ſobald Marfinka fort if...“

„Ich möchte jegt ſchon hinuͤberziehen, ih fühle mi hier fo unglädlich, finde keinen Schlaf...”

„Warte noch ein Meilen fobald es mit deiner Ges funbheit beffer geht, wollen wir zuſehen...“

Wiera ſchwieg fie wagte nicht, auf ihrem Wunfche gu

beſtehen. „Sie will mich nicht bei ſich Haben,” Dachte fie „fie vers achtet mich...“

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zehntes Kapitel

m folgenden Tage, nah einer faft ſchlaflos verbrachs

ten Nacht, ſchickte Tatjana Markowna früh am Morgen nah Tit Nikonytſch. Er kam in aufgeräumter Stimmung an, brädte feine Freude darüber aus, daß bie Krankheit Tatjana Markownas wie ber lieben Wiera Waſſil⸗ jewna einen fo glüdlihen Verlauf genommen, übergab der Großtante eine riefige Melone und eine Ananas, bie er mitgebracht, machte feine Kratzfuͤße, brachte mit zuckerſuͤßem Lächeln feine Komplimente vor und machte fih in dem blendend weißen Hemd, ben gelben Nanfingpantalong und dem blauen Frack mit goldenen Knöpfen ganz allers liebſt. „Ich habe nun zum Herbſt wieder das Wams hervor⸗ geholt,“ berichtete er laͤchelnd „das mir unſer ſehr ver⸗ ehrter Boris Pawlowitſch zum Geſchenk gemacht hat. . .” Er warf einen Blick auf Tatjana Markowna und ward ploͤtzlich ſtarr vor Schred, Zum Ausgang gerüftet, einen Pelzkragen um bie Schul; tern und ein Tuch auf dem Kopfe, ſtand fie da und machte ihm ſchweigend ein Zeichen, er folle ihr folgen. Ste gingen in den Garten. Auf Wieras Lieblingsbanf nahmen fie II 38

[Kr 594 CR beide Pla, und wohl zwei Stunden lang fprachen fie mits einander. Dann kehrte die Großtante, den Bid zu Boden gerichtet, nach ihrem Zimmer zuräd, während Tit Nikonytſch wie zerſchmettert, ohne erſt das Haus zu betreten, ſich ent⸗ fernte. Er ging ſchnurſtracks nach ſeiner Wohnung, befahl dem Kammerdiener, ſeinen Koffer zu packen, beſtellte ſich Extrapoſt und fuhr nach feinem Gute, auf dem er feit mehreren Jahren nicht mehr geweſen. Raiſki fprach bei Tit Nikonytſch vor und hörte gu feinem Erfiaunen, daß er abgereift fel. Er ertundigte fih bei Tatjana Markowna nah dem Grunde der Abreiſe, doch ſie konnte ihm nur ſo viel ſagen, daß da irgend etwas mit den Bauern nicht in Ordnung ſei. Wiera war niedergeſchlagener denn je. Sie lag zumeiſt auf dem Diwan, ſah mechaniſch, ohne Teilnahme an irgend etwas, vor ſich hin oder ging in den Zimmern des alten Haufes auf und ab bleich, mit gelben Sleden um die Augen. Auf ihrer Stirn erſchien dann eine ſcharfe Lnie, gleichſam die Andeutung einer zukuͤnftigen Furche. Wenn ſie ſich im Spiegel ſah, laͤchelte ſie ſchmerzlich. Zu⸗ weilen trat ſie an den Tiſch, in deſſen Schublade, noch un⸗ eroͤffnet, der Brief auf dem blaßblauen Papier lag; ſie griff nach dem Schluͤſſel und wollte die Schublade heraus⸗ ziehen, trat aber ſogleich wieder, wie von Entſetzen erfaßt, zuruͤck. „Wohin ſoll ich gehen? Wo ſoll ich mich vor der Welt verbergen?“ dachte ſie. Der heutige Tag zog ſich einfoͤrmig bis zum Abend hin, wie der geſtrige, und wie aller Wahrſcheinlichkeit nach auch der morgige. Auf die Nacht folgte der Tag, auf den Tag die Nacht. Miera Teste ſich zu Bett, loͤſchte das Licht aus und ſtarrte mit offenen Augen ins Dunkel. Gie

CH 595 {8 wollte vergeffen, wollte einfchlafen, aber der Schlummer

floh fie.

Im naͤchtlichen Dunkel glaubte fie feltfame Slede zu fehen, die noch fohmwärzer waren als dag Duntel. Geheimnisvolle Schatten fihienen, an ben matt fehimmernden Fenſtern vorüber, durchs Zimmer zu huſchen. Doch fie fehredten fie nicht, ihre Nerven waren ganz erfchäpft; fie wäre nicht eins mal mehr erfehroden, wenn plöglich ein Gefpenft aus ber Ede vor fie hingetreten wäre, wenn ein Dieb oder Mörder ſich eingefchlichen hätte; fie wäre auch gleichgültig geblieben, wenn man ihr gefagt hätte, daß fie nicht mehr aufftehen würde.

Und fie fuhr fort, ins Dunkel hineinzuſtarren, auf die voruͤberhuſchenden Schatten, auf die ſchwarzen Flecke, bie fih im Dunkel zufammenzogen, auf bie wie in einem Kas leidoftop baherwirbelnden Kreife...

Ploͤtzlich ſchien es ihr, als oͤffne fih ganz langfam, mit leiſem Knarren, die Tür ihres Zimmers,

Ste richtete fih auf dem Ellbogen auf und blidte Hin. Eine Kerze erſchien und eine Hand, bie wie ein Schiem dag Licht abhielt. Wiera legte den Kopf auf das Kiffen zuruͤck und fat, als fchlafe fie. Sie fah, daß e8 Tatjana Markowna war, bie, mit einer Heinen Lampe in der Hand, vorfichtig eintrat. Sie ließ den Umhang, den fie um die Schultern trug, auf den Stuhl gleiten und trat im weißen Nachts gewand, ohne Haube, unhdrbar an Wierag Bett. Die Lampe hatte fie auf das Tiſchchen zu Haͤupten bes Bettes geftellt, fo leife, daß es nicht eine Spur von Geraͤuſch gab, und ebenfo leiſe feßte fie fih auf die Caufeufe neben dem Bett, Ä

Sie fah forfchend auf Wiera, die mit gefchloffenen Augen dalag. Den Kopf auf die Hand geftüst, faß fie da und 38*

IE} 596 M

verwandte Feinen Blick von Wiera, während fie von Zeit zu Zeit fchwer aufatmete, als wolle fie, möglichft unhoͤrbar, ihre Bruſt von den auffteigenden Seufjern erleichtern. Über eine Stunde verging. Wera oͤffnete yplöglich bie Augen, und Tatjana Markowna fah fie durchdringend an. „Du kannt nicht fchlafen, Wjerotſchka?“

„ein.“

„Weshalb nicht?”

Miera antwortete nicht. Sie fah Tatjana Markowna ing Geſicht, und eg fiel ihr auf, daß fie fehr bleich war.

„Ste kann ben Schlag noch Immer nicht verwinden,” Dachte Miera. „Sie kann fih nicht laͤnger verftellen, die Wahr; heit dringt mit Gewalt durch ...“

„Warum qudlen Sie mich auch jet in ber Nacht noch, Tantchen ?” fagte fie dann leiſe.

Die Großtante ſah fie fehmweigend an, und Wiera ants mortete ihr gleichfalls mit einem langen, ſtummen Bid, Sie ſprachen durch die Augen miteinander, und fie ver; ftanden fich gegenfeitig.

„Seben Ste mich nicht fo an, Ihr Mitleid tötet mich,” begann darauf Wiera. „Jagen Sie mich lieber von Haug und Hof, flatt mich fo Tropfen für Tropfen Ihre Ver; achtung koſten zu laſſen ... Tantchen! Ich ertrage das nicht laͤnger! Verzeihen Ste mir endlich, und wenn Gie e8 nicht können, Bann begraben Sie mich irgendwo bei lebens digem Leibe. Ich würde den Tod im Waſſer fuchen . . .“ „Warum fpricht beine Zunge anders, Wiera, als dein Kopf denkt?”

„Und Sie warum fohmweigen Sie? Was haben Ste Im Sinne? Ich verfiehe Ihre Schweigen nicht, und es peinigt mich. Ich fehe: Ste wollen irgend etwas fagen, und Sie fagen eg nicht ...“

LE 597 CE

„Es ift fo ſchwer, es zu fagen, Wera. Bete und ſuche dein altes Tantchen ohne Worte gu verfiehen ... . wenn bu e8 vermagfi ...”

„Ich babe es mit dem Beten verfucht, aber ich konnte nicht beten. Um was follte ich auch bitten? Vielleicht um einen raſchen Tod...”

„Was haͤrmſt du dich denn noch, da doch alles vergeſſen iſt?“ ſagte Tatjana Markowna, in bem Beſtreben, Wera gu beruhigen, und feßte fih von Der Caufeufe zu ihr aufs Betr. „Nein, nichts ift vergeflen. Ich Iefe meine Schuld aus Ihren Augen heraus... fie fagen mir alles... .”

„Was fagen fie dir?”

„Daß ich nicht laͤnger leben kann, daß... alles vorüber iſt

„Du verſtehſt recht ſchlecht in Tantchens Augen zu leſen!“ „Ich werde ſterben, ich weiß es. Ach, wenn es doch recht, recht raſch ginge!” ſagte Wjiera und kehrte ihr Geſicht der Wand zu.

Tatjana Markowna ſchuͤttelte leiſe den Kopf.

„Ih kann nicht leben!“ wiederholte Wjera mit duͤſterer Beſtimmtheit.

„Du kannſt es!“ ſagte Tatjana Markowna mit einem tiefen Seufer.

„Nach dem, was gefchehen?...” fragte Wiera, während fie fih nach ihre ummwandte.

„Rah dem, was gefchehen ...“

Wiera fenfjte, und es Hang fo hoffnungslos aus ihrem Seufzer. |

„Ste verftehen das nicht, Tantchen ... Sie find nit... eine ſolche...“ |

„Ich bin... eine ſolche!...“ fagte Tatjana Markowna kaum hörbar, während fie ſich uͤber Wiera neigte.

in 598 KH

Wiera fah fie an mit einem jähen Blicke, zwei⸗, drei⸗ mal; dann Tieß fie traurig den Kopf in das Kiffen zuruͤck⸗ ſinken.

„Sie ſind eine Heilige! Sie haben ſich niemals in meiner Lage befunden ...“ ſprach fie gleichſam vor ſich Hin. „Sie find eine Gerechte, eine Matellofe I”

„Ih Bin eine Suͤnderin!“ fluͤſterte Tatjana Markowna kaum hoͤrbar.

„Wie alle find Sünder... Aber Sie ſind feine Suͤnderin in dem Sinne wie ih...”

„Ganz in demfelben Sinne...”

„Wie ?” fragte Wiera, fih Jah emporrichtend, mit dem Ausdrud des Schredens In Bid und Stimme.

„Ich bin eine Sünderin ganz fo wie du...”

Wera faßte krampfhaft mit beiden Händen in dag Nacht⸗ gewand der Großtante und fehmiegte Ihr Geficht an das ihrige.

‚Warum verleumdeft du dich ſelbſt?“ fragte fie mit Beben, ber Stimme, die faft wie ein Zifchen Hang. „Um die arme MWiera zu beruhigen, gu retten? Tantchen, warum luͤgſt du?“

„Ich luͤge niemals,“ fluͤſterte die Alte, kaum noch ihrer ſelbſt maͤchtig „das weißt bu. Warum ſollte ich jetzt lügen? Ich bin eine Suͤnderin ... eine Sünberin ...“ ſagte fie, glitt vor Wjera auf die Knie nieder und neigte Ihr graues Haupt gegen ihre Bruſt. „Wergeih auch du mir!.. .“ Wiera war ſtarr vor Schreden. 1

„Tantchen ...“ flüfterte fie, und ihre Augen weiteten fich vor Erſtaunen, als ſei ſie eben erwacht „iſt denn das moͤglich?“ |

Und mit einer plöglihen Bewegung drüdte fie. den For der Alten an ihre Bruſt. |

CH 599 CH)

„Bas tuft du? Warum fagft bu mir das?... Schweig! Nimm dein Wort zuruͤck! Ich Habe nichts gehoͤrt, ich will deine Worte vergeffen, will fie für eine Ausgeburt meiner Traͤume halten... Peinige dich nicht fo um meinetwillen !” „Laß mih! Gott hat es mich fagen heißen!” fagte die Alte, die immer noch vor dem Bette Iniete und den aM tief herabneigte.

„Steh auf, Tanthen!... Komm bierher, gu mir!. Die Großtante weinte an ihrer Bruſt, und auch Wera besann laut, wie ein Kind, gu fehluchzen.

„Warum haft bu es gefagt?.. .”

„Ih mußte es fagen! Er heißt ung demätig fein,“ ſprach bie Alte, nach dem Himmel emporzjeigend. „Er hieß mich meine arme Enkelin um Verzeihung bitten. Vergib du mir zuerſt, Wiera dann kann auch Ih dir vergeben... Vergeblih war all mein Bemühen, das Geheimnis gu bewahren, es mit ing Grab gu nehmen... Ich habe dich, mein Kind, durch meine Suͤnde zugrunde gerichtet...“ „Du retteſt mich, Tantchen ... vor der Verzweiflung ...“ „Ich rette auch mich, Wjera. Gott wird uns verzeihen, doch er verlangt, daß wir unfere Seelen laͤutern. Ich dachte, meine Sünde ſei vergeffen und vergeben. Ach ſchwieg und erfchlen vor den Menfchen als eine Gerechte: ih war es nichel Sch war wie ein uͤbertuͤnchtes Grab, in dem eine ungefühnte Schuld lauerte. Nun tft fie offenbar geworden In beiner Schuld, die Gott zuließ, um mich zu ſtrafen ... Vergeih mie von Herzen...”

„Wie kann Ich denn meiner Mutter verzeihen, Tantchen ? Du bift eine Heilige, e8 gibt Feine zweite folhe Mutter... Wenn ich dich gelannt hätte, wie ich dich jetzt kenne Hätte ich mich Denn je gegen beinen Willen aufgelehnt?. . .* „Das eben iſt meine andere Schuld,” unterbrah Tatjana

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Markowna fie „ih fchwieg und hielt dich nicht zuruͤck vor dem Abgrund! Deine Mutter blide firafend aus bem Grabe zu mie ber ich fehe fie im Traume, fehe fie bei offenen Augen... Sie ift jegt bier, zwiſchen ung... Verzeih mir, teure Tote!” fprach die Alte, während fie. wie verftört um fih fohaute und die Arme zum Himmel emporfiredte. „Verzeihb auch du mir, Wiera verzeiht mir alle beide! Mir wollen beten, beten!...”

Ein Schauer überlief Wiera bei den Worten der Alten. Sie fuhte Tatjana Markowna emporzurichten, und mit Mühe erhob fich diefe und nahm auf der Cauſeuſe Platz. Wiera reichte ihre das Eau de Eolognefläfchchen, befeuchtete ihre Schläfen mit Waffer, gab ihe beruhigende Tropfen ein, ließ fih dann auf dem Teppich neben ihr und begann ihre Haͤnde zu kuͤſſen.

„Es iſt nichts fo fein gefponnen,” begann Tatjana Mars kowna, als fie fih ein wenig erholt hatte „es kommt and Tagesliht! Durch fünfundviersig Jahre haben nur zwei Menfchen darum gewußt: er und Wafftliffe, und ich dachte, wir würden alle drei mit dem Geheimnis ing Grab fteigen. Und num ift doch alles zu Tage gefommen, Mein Gott!” rief fie mit dem Ausdruck des Entfegeng, ja faft des Wahnfinns, während fie fih erhob und die gefalteten Haͤnde nah dem Bilde bes Heilands ausftredte „wenn ih gewußt hätte, daß diefer Schlag jemals auf einen ans beren.... auf meinliebeg, hergiges Kind nieberfahren koͤnnte: ich hätte öffentlich auf dem Markte, oder vor der Kirche, por ber Menge der Gläubigen meine Suͤnde befennen und Buße tun mögen I”

Wiera fah fie mit großen Augen voll Beſtuͤrzung an fie fürchtete fich, das alles für wahr gu halten, was fie da hörte, fie fuchte jeden Blick und jede Bewegung der Sprechen;

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ben aufjufangen und war im Zweifel, ob es nicht vielleicht eine heroiſche Tat, ein ber großmütigen Seele entfprungenes Phantafiegebilde war, das ben Zweck hatte, fie, die Ge⸗ fallene, gu retten. Aber das Gebet der Alten, ihre Tränen, die Art, wie fie in die Knie ſank und den Schatten ber Verfiorbenen befhwor... nein, feine noch fo geniale Schaufpielerin hätte das alles fo vorfpiegeln können, und die Großtante in ihrer Aufrichtigkeit und ehrlichen Schlichts heit war alles andere als eine Schaufpielerin.

Ein warmes Gefühl burchfirömte Wieras Bruft, es wurbe ihr leichter ums Herz. Sie fühlte gleichfam, wie fie fich innerlich aufrichtete, wie fie erwachte, wie neues Leben ihre Adern durchflutete, wie der Friede gleich einem lieben Freunde an die Tür ihrer Seele pochte und in diefer Seele, die wie ein verwuͤſteter, duͤſrer Tempel dagelegen, von neuem Gebete und hoffnungsfrohe Hymnen erHlangen. Das Blut pulfierte wieder kräftig und frei durch ihre Adern; alles kam wieder, wie bei einem verborbenen Uhr⸗ werk, das von ber Hand des Meifterd repariert warb, In richtigen Gang. Die Menfchen blidten fie wieder freundlich an, die Natur ſchmuͤckte fih wieder für fie mie dem Kleide der Schönheit.

Morgen wird fie wieder frifch, lebendig und innerlich ruhig aufftehben können, wird die geliebten Gefichter fehen, wird fih davon überzeugen, daß NRatfti nicht übertrieb, als er fagte, daß fie fein poetifches Ideal, fein liebſter und teuerſter Gedanke ſei. |

Tuſchin wird wieder, wie früher, ſtolz auf fie fein und fi duch ihre Freundſchaft beslädt fühlen er wird fie „noch viel, viel mehr lieben als bisher“, wie er felbft fich einmal ausbrüdte. Zur Großtante fland fie nun nicht mehr im Verhältnis der gehorfamen Enkelin fie waren

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Freundinnen geworden, waren ungertrenulih als zwei Gleichberechtigte.

Unwillkuͤrlich hatte fie die Großtante, wie auch NRaiffi, gu duzen begonnen. he Herz verlangte nach diefem vertrau⸗ lichen „Du“, fette fih hinweg Aber alle kalten Formen. Fest erſt verfiand fie, warum bie Großtante nah jenem Abend, an dem Naiffi ihr alles gefagt, gegen fie Doppelt zaͤrtlich und rüdfihtsooll geworben war. a, die Groß; tante hatte biefe [hier unerträglihe Laft ihres Kummers auf die eignen alten Schultern genommen, hatte durch Das Bekenntnis ihrer eignen Schuld die Schuld Wjeras gefühnt und ihre Ehre, die ihr fchon verloren ſchien, als mangetaſtet anerkannt. DBerlorene Ehre! Sollte diefe rechtfchaffene, Auge, herzensgute Frau, die Beſte in Der ganzen Welt, bie alle Menfchen liebte, alle ihre Pflichten gewiffenhaft erfüllte, nie jemanden beleidigte noch Abers vorteilte, die, mit einem Wort, ihre ganzes Leben für die andern hingab follte fie, die son allen verehrt ward, wirffich eine „Sefallene” fein, die die Ehre verloren?

Ste fah nun, was ihr bevorſtand: fie mußte fih bemühen, ihrerfeitS fo gu werben wie die Großtante, mußte ihr Leben für die andern hingeben, mußte in firenger Pflicht; erfällung, In Arbeit und Opfern ein neues Leben beginnen, ungleich jenem, bag fie auf ben Grund der Schlucht Hinabs gesogen ... Die Menfchenliebe, die Wahrheit und Herzens⸗ guͤte mußten ihre Leitſterne werden ...

Alles dies ging ihr wie ein Wirbel durch den Kopf und trug ſie im Geiſte zu ſteilen Wolkenhoͤhen empor. Sie fuͤhlte ſich ſo leicht, ſo frei wie ein Gefangener, dem die Feſſeln von Haͤnden und Fuͤßen losgeſchmiedet worden. Sie richtete ſich plöglih auf...

„Tantchen,“ fagte fie „bu haft mir verziehen, du liebſt

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mich mehr als alle andern, mehr ald Marfinka ich fehe das! Und weißt bu auch, wie ſehr ich dich liebe? Ach, ohne Grenzen liebe ich dich, über alle Maßen! Hätte ich denn fo ſchwer gelitten, wenn ich dich nicht fo fehr Tiebte? Wie Iange find wir doch nebeneinander hergewandelt, ohne einander zu kennen!...“

„Du ſollſt gleich alles Hören, meine ganze Beichte und dann verurtelle mich oder vergeihb mir! Auch Gott wird ung beiden verzeihen...” |

„Nein, nein, ich will nicht Ih darf es nicht hören, ſchweig! Warum das?...“

„Warum? Damit ich jetzt das dulde, was ich damals vor fuͤnfundvierzig Jahren haͤtte dulden ſollen. Ich habe mich der Suͤhne meiner Schuld entzogen! Nun ſollſt du alles hoͤren, und auch Boris ſoll es hoͤren. Mag der Enkel mit dem grauen Haar der alten Kunigunde ſeinen Spott treiben!. . .*

Die Großtante ging ein paarmal erregt durchs Zimmer und ſchuͤttelte in fanatifcher Entfchloffenheit den Kopf. Sie glich wieder dem alten Frauenporträt in ber Familien⸗ galerie, mit der ſtrengen Würde, der Größe, dem übers legenen Selbftvertrauen, dem von den durchlebten Qualen zeugenden Gefihte und dem Stolge, ber diefer Qualen Herr geworden. Wjera kam ſich Ihe gegenüber wie ein törichtes Heines Mäbchen vor, fah ihr ſchuͤchtern in bie Yugen und maß in Gedanken Ihre junge, eben erft sum Kampfe mit dem Leben herausgeforberte Kraft mit biefer alten, in harten Lebensfämpfen erprobten, immer noch widerſtandsfaͤhigen, ungebeugten Energie.

„Ich Hatte fie nicht verftanden! Wo blieb bdiefer Tiefe gegenüber meine vielgerähmte Einficht und Klugheit?...“ dachte fie, und fie ſtuͤrzte gleichfam der Großtante Hals

LE 604 SH

Aber Kopf zu Hilfe, um fle von ihrer Beichte abzuhalten, um ihrer gefolterten Seele dieſe Aberflüffige Qual zu ers fparen. Sie Eniete vor ihe Hin und ergriff ihre beiden Hände.

„Du wirft es felbft ermeſſen können, Tanthen,” fagte fie „was du jet für mich getan haft: main ganzes Leben wird nicht ausreichen, Die das gu vergelten. Doch geh nicht weiter: laß bier deine Dual gu Ende fein! Wenn du Darauf beftehft, will ich dem Bruder ein Wort über beine Vers gangenheit zufläftern dann aber fenfe für immer dem Schleier darüber! Und ih warum foll ich diefe Beichte durchaus hören? Ih will es nicht! Ich habe ja beine Seelenqual gefehen! Ich will nichts hören, will nicht über dich zu Gericht figen! Laß mich verehrungsvoll aufihanen au deinem grauen Haar, laß mich ed mein Leben lang ſegnen! Ich will, ich werde. dich nicht anhören das ift mein leßtes Wort!”

Tatjana Markowna fenfjte und ſchloß fie in ihre Arme. „Nun gut, es fei fo, wie du willft,” fagte fie „Ih nehme deine Entfcheibung als ein Zeichen, daß Gott mir verziehen bat, und ich dankte dir, daß du mein graues Haupt ſo liebevoll ſchonſt ...“

„Laß uns nun zu dir hinuͤbergehen und ausruhen,“ ſagte Wiera.

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Elftes Kapitel

age vergingen, und mit ihnen frat wieber Ruhe ein

in Malinowfa. Das Leben, das durch die Katas ſtrophe wie duch eine Steomfchnelle aufgehalten worden war, hatte dag Hindernis überwunden und floß gleich; mäßig welter. ber diefer Ruhe fehlte die Sicherheit. Wie über ber aͤußeren Natur, fo lag auch über den Menfchen herbftliche Stimmung Alle waren nachdenflih, in fich gelehrt, ſchweigſam. Ein kühler Hauch sing von allen aus, und wie das Laub von den Bäumen, fo war das Lächeln, ber heitere Frohſinn von den Geſichtern gefchtwunden. Kummer und Sram maren wohl verweht, aber das Kos Iorit und ber Ton des früheren Lebens waren gleichfalle dahin. Zwiſchen Wiera und ber Großtante hatten fich ſtillſchweigend fehr enge und intime Beziehungen gebildet. Seit jenem Abend, an dem fie einander gegenfeitig gebeichtet hatten, war zwiſchen ihnen Ruhe und Frieden eingetreten, doch fürchtete immer noch eine für die andere, und mit uns fiherem, fragendem Blick, wie in Angſt vor den kommen⸗ den Dingen, fehauten fie in die Zukunft.

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Wirb die Großtante biefen unvorhergefehenen Kummer, der wie ein Erdbeben ben Frieden ihrer Seele erfehättert bat, wohl auf die Dauer überwinden?! So fragte fi Wiera, und fie fuchte in Tatjana Markownas Augen zu fefen, ob fie fih wohl an die neue Wiera und das ungemifle Schidfal, das diefer Wiera bevorfland, gewöhnen würde. War fie nicht im füllen ungehalten darüber, daß fie fo jäh aus dem glüdlihen Hindämmern ihrer Greifentage berausgerifien worden war? Wird bie ruhige Klarheit ihrer Seele wohl jemals wiederfehren ?

Und Tatjana Markowna fuchte ihrerfeits die Zukunft Wieras gu erraten, fie fragte fih bang, ob fie auch flarf genug fein würde, um in Demut das Kreuz gu fragen, das nach ihrer Meinung das Schidfal ihr zur Buße und Sühne auferlegt hatte. Wird der verlegte Stolz und dag verwundete Selbftgefühl ihre zarten jugendlichen Kräfte nicht untergraben? War ihr Kummer zu heilen, würde er nicht die Form eines hronifchen Leidens annehmen? Mechaniſch ergriff die Großtante wieder die Zügel der Regierung in ihrem Reiche. Wiera vertiefte fih mit Eifer in bie häuslichen Sorgen, namentlich befümmerte fie fich um Marfinkas Ausftattung, bei deren Herrichtung fie ihren guten Geſchmack und ihren Fleiß befunden fonnte. Während fie einerfeits irgendeine ernfthafte, ihren geiſtigen Kräften entfprecherde Aufgabe vom Leben erwartete, ging fie doch andrerfeits feiner noch fo einfachen und anſpruchs⸗ Iofen Tätigkeit, die fih ihre barbot, aus dem Wege. Sie fand, daß bie Verachtung gegen das Kleinliche, Alltägliche und die vergeblihe Erwartung irgendwelcher unerhörten Taten und Aufgaben, wie fie von manden Leuten zur Schau getragen wurde, bei den meiften nur ein Vorwand war, um Trägheit und Unfähigkeit oder eine krankhafte,

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über die Grenzen bes eignen Koͤnnens hinausſtrebende Eitelkeit zu verbergen.

Sie war der Meinung, daß folche nie dagemwefenen Auf; gaben fih nicht auf Wunfh und Kommando einftellen, daß fie vielmehr im gegebenen Augenblid duch die Macht der Umſtaͤnde aus ben PVerhältniffen heraus erwachfen, und daß nur Werke und Taten, die auf diefem natürlichen Wege suflande fommen, von Wert und Bedeutung find. Es hieß daher, fo folgerte fie weiter, forgfältig Umfchau balten, ob nicht irgendwo ein noch ungetanes, notwendiges Werk der gugreifenden Hand harte, und fich In acht nehmen, daß man nicht irgendeinem Serlicht, irgendeiner truͤgeriſchen Sata Morgana, wie Raifki fih ausdrüdte, nachjage.

Vor allem durfte fie nicht die Hände in ben Schoß legen, nit dem Iähmenden Frieden des Nichrstung, ber uns tätigen Muße verfallen.

Sie war jegt noch blaffer als früher, in ihren Augen war weniger Glanz, in ihren Bewegungen weniger Lebhaftigs feit, Alles dies konnte eine Folge ber Krankheit, des noch rechtzeitig unterbrüdten Fiebers fein; fo wenigſtens dachten alle, mit denen ſie zuſammenkam. In Gegenwart der Hausgenoſſen hielt ſie ſich einfach, wie immer, naͤhte und trennte auf, plauderte mit den Schneiderinnen, fuͤhrte die Buͤcher und Rechnungen, tat alles, was die Großtante ihr auftrug. Und niemand merkte ihr auch nur das Ge⸗ ringſte an.

„Unſer Fraͤulein erholt ſich wieder,“ meinten die Leute. Auch Raiſki bemerkte die Wandlung zum Beſſeren, bie fih in ihrem Wefen vollzog. Wenn er fie zuweilen fo recht nachdenklich fah oder eine heimliche Träne in ihrem Auge bemerkte, dann ertiet er, daß dies nur die legten Spuren ber verrauchten Leidenfchaft, des abgegogenen Gewitters

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waren, Er war mit Ihe gufrieden, und feine eigne Er⸗ tegung legte fih nah und nah in dem Maße, wie all bie aufreigenden Momente, bie Zweifel, bie Ungewißheit, die Eiferſucht feinem Gemüte fernblieben.

Die Großtante hatte darauf beftanden, daß Wera ihm über ihre Beziehungen zu Watutin eine oberflächliche Auf⸗ Härung gab. Tatjana Markowna felbft hätte ein ſolches Seftändnis ihm gegenüber nicht über die Lippen gebracht. Daß irgendeine Schuld mit hineingefpielt Hätte darüber ſchwieg auch Wiera, und fo blieb es für Raiffi noch immer ein ungelöftes Raͤtſel, woher die Großtante, die er für eine Jungfrau hielt, die Kraft und bie faft männliche, bei einem Mädchen jedenfalls befrtemdende Energie nahm, um nicht nur felbft dieſe ſchwere Prüfung der leuten Wochen zu ers tragen, fondern obendrein auch Wera noch zu tröften und vor dem fittlihen Untergange, ber Verzweiflung zu bes wahren.

Und doch hatte fie diefes Werk vollbracht. Wie war es ihr nur gelungen, Wjeras Vertrauen su erobern, fie fo wills fährig gu machen? Er fann und fann darüber und empfand für die Großtante nur immer mehr Bewunde⸗ rung, bie er unverhohlen zum Ausdruck brachte.

Er legte ihr gegenüber eine tiefe, gärtliche Verehrung und refpeftuolle Ergebenheit an den Tag. Der Halb ernfte, halb fchershafte Kampf ber Meinungen, der früher zwiſchen ihnen beflanden, hatte auf feiner Seite einer ganz bes fonderen Ehrerbietung, die jedes Wort, jeden Wunfch, jebe Abſicht von ihren Lippen abzulefen fuchte, Platz gemacht. Selbft in feinen Bewegungen, die etwas Zuruͤckhaltendes, faſt Schuͤchternes annahmen, kam diefe Ehrerbietung zum Ausdruck.

Er wagte es nicht, wie fruͤher, ſich in ihrer Gegenwart auf

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den Diwan zu legen, erhob fih, wenn fie näher kam, folgte the achtungsvoll, wenn fie ind Dorf oder aufs Feld ging und ihn aufforderte, fie zu begleiten, hörte geduldig ihre Ausführungen über die Wirtſchaft an. Alle, auch die uns bedeutendften Beziehungen zwifchen ihm umd ihre verriefen etwas von jener Bewunderung, die eine Fran von ſtarker geiffiger Macht unwillkuͤrlich einflöße.

Sie felbft aber verwandelte fih, nachdem fie in dieſen Stärmen, bie jede ſchwaͤchere Natur niedergeworfen hätten, fiegreich geblieben und nicht nur die eigne, fondern auch noch eine fremde Buͤrde großhersig auf fih genommen, nunmehr vor feinen Augen allmählid wieder in die eins face, ſchlichte Frau, die mit ganzer Seele bei den Heinen Intereſſen des Lebens war und ihre Seelengröße bis zu einer neuen, geeigneten Gelegenheit verwahrt zu haben ſchien. Bon ihrer Größe, ihrem Heldentum ſchien ihr nichts mehr bewußt zu fein.

Unter dem Hofgefinde herrſchte, nachdem das Ungewitter vorübergegangen, eine auf mangelndem Verſtaͤndnis bes ruhende dumpfe Verblüffung. Die Leute gingen fchweigend umber, man hörte Fein Lärmen, Lachen und Schelten; wenn Jegorka mit den Mägden gu fpaßen verfuchte, gingen fie nicht darauf ein.

In einer gang befonbers ſchwierigen Lage befand fi Waſſiliſſa. Sie hatte, gleich Jakow, für den Fall, daß bie gnaͤdige Fran wieber gefund würde, ein Gelübde getan: er wollte, wie bereits berichtet, für dag Heiligenbild in der Ortskirche eine vergolbete dicke Wachskerze fliften, während fie verfprochen hatte, zu Fuß nach Kiew gu pilgern. Jakow war eines ſchoͤnen Morgens vom Hofe verſchwunden er hatte von dem Gelde, das ihm die gnädige Frau regelmäßig anwies, bamit er die Laͤmpchen vor den Heiligens

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bildern im Haufe mit HI verſorge, einen Teil genommen, um dafür die angelobte Kerze zu kaufen. Nachdem er dieſe fromme Angelegenheit erledigt hatte, war ihm noch ein Reſt von der mitgenommenen Summe verblieben. Unter häufigen Bekreuzungen und Verbeugungen verließ er die Kirche und begab ſich nad ber Vorſtadt, wo er ben Reſt des Kerzengeldes in geeigneter Meile anlegte. In hei erer Stimmung, mit einer garten Nöte auf Wangen und Nafe, fehrte er heim, und das Unglüd wollte es, daß Tatjana Markowna ihm begegnete. Ste roch ſchon von weitem, daß er Branntwein getrunken hatte,

„Was ift mit dir, Jakow?“ fragte fie verwundert. „Du haft wohl gar...“

Ich habe ein Geluͤbde erfüllt, gnädige Frau!“ antwortete er, legte den Kopf andaͤchtig auf die Seite und faltere die Hände uber der Bruſt.

Auch Waſſiliſſa erflärte er, daß er ein Geluͤbde erfüllt Habe. Diefe geriet bei feinen Worten förmlich in Beſtuͤrzung: auch fie hatte ja ein Geluͤbde abgelegt, doch über der Sorge um die Gnädige und den Vorbereitungen für Marfinkas Hochzeit hatte ſie es ganz und gar vergeſſen. Und nun hatte Jakow ſein Geluͤbde bereits ecfuͤllt, an einem ein⸗ zigen Vormittag, und ging voll innerer Gluͤckſeligkeit im Hauſe umher, waͤhrend ihr noch die Wallfahrt nach Kiew bevorſtand!

„Wie ſoll ich denn den langen Weg zuruͤcklegen, das halt’ ich gar nicht aus!” dachte fie voll Verzweiflung, während fie Ihren Körper betaſtete. „Ich habe ja gar feine Knochen im Leibe, alles nur weiches Fleiſch! Ich komme ja gat nicht bis Kiem Gott vergeih’ mir!”

Damit, daß fie feine Knochen im Leibe hatte, mochte fie faft recht haben. In den dreißig Jahren, bie fie auf Ihrem

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Stuhle am Fenſter, zwiſchen all ben Aufgußflaſchen, immer nur um ihre Herrin heeumtrippelnd und nie an bie Luft gelangend, verbracht hatte, war ihr Körper ganz weich ges worden, und die Kartoffeln und Gurken, bie großen Mengen von Kaffee und Tee, die fie, felbft wenn keine Saftenzeit war, vertilgte, hatten biefen Zufland der Erweichung nur gefördert.

Ste begab fih zu Vater Waſſilij, um ihre Zweifel zu be⸗ ſchwichtigen. Sie hatte gehoͤrt, daß die guten Vaͤter haͤufig von ſolchen Geluͤbden, die man nicht erfuͤllen kann, ganz entbinden oder fie durch andere Geluͤbde erſetzen. „Aber was kann er mir wohl flatt deſſen auferlegen ?” fragte fie fih, während fie zu Vater Waſſilij ging.

Sie erzählte ihm, aus welchem Anlaß fie das Geluͤbde geleiftet Härte, und fragte, ob fie wohl nad Kiew gehen müffe.

„Wenn du es verfpeochen haft, mußt du natürlich hin⸗ gehen,” meinte Vater Waſſilij. „Das ift doch ſelbſtverſtaͤnd⸗ lich!“

„Aber ich habe das doch damals nur in meiner Angſt gelobt, weil ich dachte, unſere gnaͤdige Frau wuͤrde ſterben. Nun iſt ſie ſchon nach drei Tagen wieder aus dem Bett aufgeſtanden, warum ſoll ih da eine fo große Reiſe machen ?”

„3a, weit genug iſt es fchon bis Kiew. Aber das geht Doch nicht, daß man etwas verfpricht und es dann nicht haͤlt!“ ſchalt er fie. „Wenn du nicht geben wollteft, haͤtteſt du es nicht verfprechen follen.”

„Ih wollte fchon gehen, Väterchen, aber die Kraft reicht nit gu, meine Glieber find Doch gang erweicht. Schon wenn ich hierher, big zur Kirche, gehe, wird mir bag Atmen ſchwer. Ich gehe doch bereits auf bie Siebiig 108. Etwas

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anderes wäre es, wenn die Gnaͤdige fo drei Monate lang frank im Bett gelegen hätte, wenn fie die Dlung und das Abendmahl befommen und Gott fie auf mein Gebet Hin gefund gemacht hatte dann wäre ich gegangen, fei’d auch auf allen Vieren. Aber fo hat ihre Krankheit doch noch feine Woche gebauert.”

Vater Waffilii mußte lächeln.

„Ja was machen wir dann nur?” fagte er.

Ich möchte etwas anderes geloben. Kann ich mein Ges luaͤbde denn nicht ändern?”

„Was möchten du denn geloben?“

Waſſiliſſa begann nachzubenfen.

„Sch möchte mir ein Faſtengebot auferlegen; daß ich zum Beifpiel bis an mein Lebensende Fein Fleiſch mehr effen will.“

„Ißt du denn Fleiſch fo gern?”

„Gott bewahre! Nicht ſehen kann ich's. Ich weiß gar nicht mehr, wie es ſchmeckt...“

Vater Waſſilij mußte wieder laͤcheln.

„Ja, wie denn? Wenn du ſchon dein Geluͤbde aͤndern willſt, dann mußt du doch etwas gleich Schweres an die Stelle ſetzen, oder etwas noch Schwereres. Und du haſt die das Leichteſte ausgeſucht!“

Waſſiliſſa ſeufzte.

„Faͤllt die nichts ein, was du nur ungern und mit Übers windung tun wuͤrdeſt? Dent einmal nad!”

Waſſiliſſa dachte nach und fagte, daß ihr nichts einfalle. „39, dann wirft du wohl nach Kiew gehen muͤſſen!“ ents ſchied er.

„3% würbe ja gehen, bei Gott, wenn nicht diefe Knochens erweihung wäre.”

Vater Waſſilij Dachte nad.

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„Wie ſoll ich die nur die Sache erleichtern?” fagte er dann. „Was ift oder trinkſt du denn gang befonders gern ?”

„Ma, Zee, Kaffee... Pilzenſuppe, Kartoffelfuppe. . .“ „Kaffee trinkt du alfo gern?”

„Sehr gern.”

„Ma, dann enthalte dich einmal des Kaffees, trink ihn gar nicht mehr!” |

Sie ftieß einen tiefen Seufzer aus.

„Ah, das iſt Doch gar gu fchwer,” dachte fie „das iſt ja faft dasfelbe, als ob ich eine Wallfahrt nach Kiew machte! Was foll ich denn dann genießen, Väterchen ?” fragte fie. „Iß Fleiſch.“

Sie ſah ihn an, ob er nicht vielleicht lache. Und et ſah ſie wirklich laͤchelnd an.

„Du ißt es nicht gern alſo uͤberwinde dich! Das iſt auch ein Opfer.“

„Bieiih iſt doch keine Faſtenſpeiſe, Vaͤterchen welchen Nutzen habe ich denn dann?“

„Du brauchſt es nur dann zu eſſen, wenn kein Faſttag iſt. Auch Nutzen wirſt du davon haben: deine Knochenerweichung wird ſich verlieren. Ein halbes Jahr lang halte es ſo dann mag dein Geluͤbde erfuͤllt ſein.“

Tief bekuͤmmert verließ ſie den Geiſtlichen, und vom naͤchſten Tage an begann ſie gehorſam das neue Geluͤbde zu erfüllen. Aber ein Seufzer entfuhr ihr unwillkuͤrlich, und unwillkuͤrlich mußte ſie die Naſe wegwenden, wenn ſie des Morgens der gnaͤdigen Frau den Kaffee ſervierte. Um dieſelbe Zeit trug ſich auch mit Marina etwas Un⸗ angenehmes zu. Noch vor der Erkrankung der Gnaͤdigen war fie gang verſtoͤrt und nachdenklich umhergegangen, hatte fih dann oͤfters Hinlegen muͤſſen, um auszuruhen,

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und blieb ſchließlich ganz liegen, mit der Erflärung, daß fie krank ſei und nicht aufſtehen kaͤune.

Das iſt Gottes Strafe!“ ſagte ihr Mann, waͤhrend er kraͤchzend um ihr Lager herumkroch und fie in warme Decken huͤllte.

Waſſiliſſa machte der gnaͤdigen Fran Meldung, und Tat⸗ zjzana Markowna ließ die Dnadfalberin rufen, der fie für gewöhnlich die erkrankten Dienftboten ſowie fonflige krauke Leute zum Kurieren übergab.

Die Duadfalberin nahm eine forgfältige Unterfuhung ber Kranken vor und fläfterte Wafftliffa heimlich gu, daß ihre Lenntniſſe nicht zureichten, um Marina wieder gefund gu maden. Man brachte daher Marina nah einer Klinik in einer zweihundert Werft entfernten Stadt. Sſawelij ſelbſt brachte fie hin, und als er gurädfehrte und bie Leute vom Hofe ihn mit Fragen beftärmten, fah er nur alle

nacheinander an, zog die Haut auf feiner Stirn noch höher

empor, daß fich eine fingerbide Falte bildete, ſpuckte aus, fehrte den Fragern den Rüden und verfhwand in feiner Wohnung,

Nach etwa anderthalb Wochen kehrte Marfinka mit ihrem Bräutigam und beffen Mutter wieder von jenfelts der Wolga zuruͤck, noch heiterer, gluͤcklicher und gefünder, als fie abgefahren war. Sie fowohl wie Wikentjew waren fiärker geworben. Ste brachten ihr helles Lachen, ihr froͤh⸗ liches Geplauder, ihr lebhaftes Lärmen und Rumoren nach Malinowka mit,

Kaum aber waren fie zwei Stunden fang im Haufe, als fie auch ſchon ganz ſcheu und fhüchtern geworden waren, da fie für ihre Iärmenden Kundgebungen bei niemand ein Echo fanden. Ahr munteres Lachen und a vers hallte wie in einem Igeren Raume, |

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fiber allem fehten gleichfam ein Nebel gu liegen. Selbſt das Geflügel fand fich nicht mehr vor dem Ballon ein, von dem aus Marfinka ihm früher Futter geftreut hatte, Die Schwalben, Stare und fonfligen fommerlihen Bes wohner des Hains waren bavongeflogen, und auch bie Kraniche ließen fich nicht mehr Aber der Wolga ſehen. Die jungen Katzen lagen nicht mehr in der Sonne, fondern hatten fich irgendwo verkrochen.

Die Blumen waren verweltt, der Gärtner hatte fie auf den Kehrichthaufen geworfen, und vor dem Haufe fah man ftatt bes Blumengartens ſchwarze Häufchen aufgeworfener Erbe, die mit bleichem Raſen eingefaßt waren, und kahle Streifen die einfligen Blumenbeete, bie jeßt leer waren. Die Obſtbaͤume waren teilweiſe In Baſtmatten eingehällt. Der Hain hatte fchon faft ganz feinen Blaͤtterſchmuck vers foren, und die Wolga, beren Fluten num dunkler erfchienen, mar dem Zufrieren nahe.

Do das war die Natur, die war bie grämliche Stimmung der Menfchen fteigern, aber fie doch nicht ganz allein vers urfachen konnte. Was war aber mit den Menfchen, bem ganzen Haufe vor fih gegangen? fragte fih Marfinka, während fie voll Beſtuͤrzung ihren Blick in die Runde geben ließ? | | Marfinkas Neftchen, ihre Heines Zimmer im Oberſtock, hatte ganz feinen heiteren Anſtrich verloren. . Düftereg Schweigen war mit Wiera darin eingezogen.

Tränen traten in Marfinkas Augen. Wie konnte fih nur alles fo verändern? Warum war Mierorfchla aus dem alten Haufe hierher übergeftedelt ? Wo fledte Tie Nikonytſch? Warum fohalt Tantchen fo gar nicht mehr? Nicht ein Wort hatte fie daruͤber gefagt, daß Marfinka ſtatt einer Woche vierzehn. Tage weggeblieben war. Vielleicht ift ihre Liebe

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erkaltet? Warum geht Wierotſchka nicht mehr allein auf dem Felde und im Hain fpagieren, wie fie es früher getan ? Warum machen alle einen fo teübfeligen Eindrud keins fpricht mit dem andern, niemand zieht fie mit ihrem Braͤu⸗ tigam auf, wie e8 vor ber Abreife ber Fall geweſen. Wag hat dag Schweigen von Tantchen und Wiera zu bedeuten ? Was ift hier im Haufe oorgefallen ?

As Marfinta zu fragen begann, gab man ihr irgendeine beliebige oder auch gar keine Antwort. Wiera, fo hieß eg, fet aus dem alten Haufe übergefiebelt, weil der Dfen dort nichts taugte. Tit Nikonytſch habe fich nach feinem Gute begeben, weil die Bauern bort unruhig geworben feien. Und wenn Wiera jegt nicht mehr fo viel fpazieren gehe, fo gefchehe e8 aus Vorſicht fie habe fih dag letztemal ertältet, habe drei Tage im Bett zugebracht und beinahe das Fieber befommen.

Als Marfinka das Wort Fieber hörte, erſchrak fie ganz gewaltig und begann zu weinen. Auf die Frage, warum Zantchen und Wiera fo fchweigfam feien, warum jene nicht mehr fchelte, ob fie fie denn nicht mehr gern habe, gab Tatjana Markowna keine Antwort, fondern nahm nur ihren Kopf zwiſchen die Hände und kuͤßte fie nachdenklich, mit einem Seufjer, auf die Stirn. Das ſtimmte Marfinka nur noch franriger.

„Wie find viel geritten, Nikolai Andreitfch Hat einen Das menfattel kommen laſſen. Ih bin auch allein gerudert, bin mit ben Bauernfrauen In den Wald gegangen!” ers zählte Marfinka, in der Hoffnung, dag fie für diefe Iofen Streihe doch endlich ein Wort des Tadels hören wuͤrde. Tatjana Markowna fehüttelte zwar den Kopf, als ob fie das alles mißbillige, aber Marfinka fah, daß dies nur zum Schein geſchah, daß die Großtante an ganz andere

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Dinge dachte. Zuweilen fagte fie auch gar nichts, fondern sing einfach zu Wera und fegte ſich neben fie.

Marfinka war wirklich recht befümmert und dabei von Eiferfucht auf die Schwefter geplagt, doch fuͤrchtete fie fich, etwas zu fagen, und meinte nur im füllen. Es war wohl der erfte ernfihafte Kummer, den Marfinka in ihrem Leben hatte. Unwilltürlich kam auch fie in jene verfchleierternfte Stimmung, die über Malinowka und feinen Bewohnern lag.

Schweigend faß fie neben Wikentjew ba; fie hatten fi nichts zuzufluͤſtern, wie fie denn auch früher Aber Ihre Geheimniffe immer ganz laut vor den andern geiprochen hatten. Nur felten einmal gelang es Raiſki, Marfinka zum Plaudern gu beingen, und nur ab und zu vermochte Wikentjew fie fo weit gu bringen, daß fie laut auflachte, worauf fie dann freilich erſchrak, fich Angftlih umfah und ihm ſchweigend mit dem Finger drohte,

Wikentjew fand biefes Schweigen, diefe Zurädhaltung, dieſen ganzen traurigen Ton durchaus nicht nach feinem Geſchmack. Er ließ feiner Mutter feine Ruhe, bis fie bei Tatjana Markowna für Marfinka die Erlaubnis ausgewirkt hatte, noch einmal nach Koltfhing mitzugehen und bis gu der auf Ende Dftober fefigefegten Hochzeit da zu bleiben. Die Erlaubnis wurde zu feiner Freude leicht und raſch erteilt, und die jungen Leutchen flogen gleich einem Schwals benpaar unter munterem Zwitſchern davon, um das herbfts lich geſtimmte Malinowka gegen ihre zulänftiges Neft gu vertaufchen, in dem Wärme, Licht und fröhliches Lachen berichte.

Marfintas Betruͤbnis war der Großtante nicht entgangen, doch fie war bemüht gewefen, ihre Aufmerkſamkeit mögs lichſt abzulenken und allen Nachforſchungen und Vers

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mutungen einen Miegel vorzufchieben. Es gelang ihr, fie u beruhigen, und unter zaͤrtlichen Lieblofungen entließ fie fie in heiterer, forglofer Stimmung, nachdem fie verfprochen hatte, fie felbft abzuholen, wenn fie fih dort huͤbſch Hug und artig auffuͤhrte.

Raiſki begab fih nach dem Gute von Tie Nikonytſch, um ihn wieder zurädzuholen. Er brachte ihn als Halblebenden an, ganz mager und gelb war er geworden, konnte fi faum bewegen und kam erft wieder zu fich, ald er Tatjana Markowna erblidte und wieder in ihrem Neiche weilen durfte, Hier, an ihrem Tifche, mit ber hinter den Kragen geſteckten Serviette, oder auf bem Taburett am Fenſter, neben ihrem Seffel, mit bem von ihr eingefchenkten Glas Tee in ber Hand, erholte er fih nach und nach wieber und wurde fo vergnägt und Iuflig wie ein Kind, bem man unerwartet ein weggenommenes Spielgeug wiedergegeben.

Bor Sauter Freude lachte er zumellen unvermutet hell auf

und verſteckte fich hinter dee Serviette, ober er rieb fi vol

Eifer die Hände, oder er fand auf, verneigte ſich ohne jede Veranlaflung vor allen Anweſenden und machte feinen Kratzfuß. Und wenn dann alle über ihn lachten, lachte er am lauteften mit, nahm feine Perüde ab und rieb fich den kahlen Schädel, falls er nicht zufällig Wafftliffe, die er mit Paſchutka verwechfelt hatte, die Wange ftreichelte. | Er war, mit einem Wort, ganz aus dem Häuschen und kam erſt am dritten Tage wieder gu fih, worauf er dann ebenfo nachdenklich und ernft geflimmt wurde wie Die andern. Bw F

Der Familienkreis von Malinowka vermehrte ſich in dieſer Zeit um ein neues Mitglied. Raiſki erſchien eines Tages in Begleitung feines Freundes Koslow zum Mittageffen. Sperzliher als diefer von feiner ungetreuen Frau verlaſſene

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Ehegatte wurde wohl nie ein Menfch Irgendwo empfangen. Tatjana Markowna ließ es ihn mit feinem weiblichen Takte nicht merken, daß fie um fein ehelihes Ungemach wußte. Für gemöhnlih wird ein Gaſt unter gleichen Umftänden mit betretenem Schweigen empfangen, fie aber ſchlug fogleich einen ſchertzhaft munteren Ton an, ber ihm alle Verlegenheit erfparte, und bie anderen folgten ihrem Beifpiel.

„Sag’ einmal, Leontij Iwanowitſch haft du ung denn ganz und gar vergeflen ?” begann fie, ihn mit dem frans lien „Du” anredend. „Borjuſchka meinte, ich verflände wicht, Dich richtig gu bewirten, meine Kocherei fei nicht nach deinem Gefhmad. Stimmt bag?”

„Wiefo denn? Wann fol ich das gefagt haben ?” wandte Leontij fih in firengem Tone an Raiſki.

Alle lachten laut auf.

„Ach fo, Sie haben nur gefpaßt!” verfegte Leontij mit ges zwungenem Lächeln.

Er Hatte fih mit feinem Herzeleid bereits fo weit abges funden, daß er es als notwendig erfannte, wenigſtens vor den Leuten den Schleier bed Anſtands Aber fein perſoͤn⸗ liches Ungläd gu ziehen.

„sa, ich bin ſchon lange nicht bei Ihnen geweſen, meine Frau iſt namlih.... nad Moskau gefahren... zu Vers wandten,” ſprach er leife, während er die Mugen nieder; ſchlug. „And da konnte ih...“ En „Zieh doch ganz zu uns her,” fagte Tatjana Markowna „du langweilſt dich doch ficher zu Haufe, wenn du fo allein biſt ...“

„Ich erwarte fie do... und ich möchte nicht, daß fie ankommt, während ich nicht gs Haufe bin...“

„Man wird Dich Doch. gleich benachrichtigen. Und. dann

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muß fie ja hier voräberfahren fowie ihr Wagen fich zeigt, halten wir fie an. Aus dem Benfler bes alten Hauſes kann man fehen, wenn jemand auf ber Straße daher⸗ kommt.“

„Sa, in der Tat... man uͤberſieht von oben bie Straße nach Moskau,” bemerkte Koslow, indem er mit lebhaftem, faft freudigem Gefihtsausdrnd zu Tatjana Markowna aufblickte.

„Ra, ſiehſt du dann zieh doch her!...“

Ich möchte ja ganz gern...“

Ach laſſe Dich einfach nicht mehr fort, Leontij,” fagte Raiffl, „Ih langweile mich ohnedies fo allein. Wir quartieren ung beide drüben im alten Haufe ein. Und dann, nad Marfinkas Hochzeit, reife ich ab, und du bleibſt bier bei Tantchen und Wera als Premierminifter, Hausfreund und Trabant zuruͤck.“

Leontij ſah alle Anweſenden nacheinander an.

„Ich danke herzlich für die Einladung wenn Ich nur feine Ungelegenheiten bereite...”

„Scham dich doch, fo gu teden!...” fagte die Groß fante.

„Iß lieber, ſtatt folhen Unfinn gu reden beine Suppe wird kalt ...“ | „Sa, ich habe wirklich Hunger!” fagte er plöglih, griff nach dem Löffel und begann mit Appetit zu effen. „I habe fhon lange nichts Rechtes mehr gegeſſen...“

Er wandte den verträumten Blick irgendwohin in die Berne, nach der Nichtung bes Moskauer Weges, mes chaniſch feine Suppe, dann die ihm vorgelegte Paftete, eine Portion Braten und die Nachfpeife.

„Ber Ahnen ift es fo ruhig, fo nett,” fagte er nach bem Mittagefien, während er durchs Fenſter ſchaute. „Auch

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Scan fieht man noch, und bie Luft ift fo rein. Höre eins mal, Boris Pawlowitſch ich möchte die Bibliothek wieder hierher bringen. . .”

„Sut, being fie meinetwegen ſchon morgen, fie gehört ja dir, Mach’ mit ihre, was du willſt...“

Nicht doch, nicht’ doch, was foll fie mir jeßt? Ich werde fie herbringen und achtgeben, daß nicht wieder dieſer Matt...”

Raiſki raufperte fih fo laut, daß es im ganzen Zimmer widerhallte. Wiera bob den Kopf von ihrer Näharbeit nicht auf, und Tatjana Markowna blickte ſchweigend zum Fenſter hinaus.

Raiſki führte Koslom nach dem alten Haufe hinüber, bes ſichtigte dag Zimmer, in das die Großtante bereits ein Bett für den Gaft hatte ftellen Iaflen, und orbnete an, daß man bie Winterfenfter einfegen und ben Dfen für die Nacht Heizen folle.

Koslow ging fogleih nach den Fenſtern und fuchte fefls zuftellen, aus welchem man am beften die Straße nach Moskau überfehen konnte.

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Zwoͤlftes Kapitel

[8 Wiera an einem ber nebligen Herbfitage, die nun anbraden, nah dem Fruͤhſtuͤck bei einer Naͤharbeit auf ihrem Zimmer faß, überreichte ihr Jakow wieder einen anf blaßblauem Papier gefchriebenen Brief, den ein Knabe überbracht Hatte. Er folle auf Antwort warten, hatte der Überbringer gefagt. Wiera blidte ganz flare vor Beſtuͤrzung auf den Brief und nahm ihn wohl eine Minute lang nicht aus Jakows Händen entgegen. Endlich griff fie danach, legte ihn auf den Tiſch und fagte: „ES ift gut, du kannſt gehen.” Als Jakow zur Tür hinaus war, blies fie nachdenflich in ihren Singerhut und wollte mit ihrer Arbeit fortfahren, aber die Hände fielen ihr plößlich zugleich mit ber Arbeit in den Schoß. Sie ſtuͤtzte fih mit den Ellbogen auf den Tiih und bes dedte das Geſicht mit den Händen. „Weihe Dual! Wann wird biefe Folter ein Ende neh⸗ men?" flüfterte fie verzweifelt. Dann fland fie auf, nahm den früheren, noch nicht geöffneten Brief aus der Schublade, legte ihn neben den jet gebrachten und fegte fi in derſelben Haltung,

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das Geficht mit ben Haͤnden bebedend, wieder an ben Tuch.“ |

„Bas foll ich tun? Welche Antwort kann er noch erwarten, ‚nachdem wir für immer voneinander geſchieden find? Ruft er mich von neuem? ... Nein, er wird es nicht wagen!... Und wenn er es doch tut?...“

Ein Zittern üaberlief fie.

Sie blickte in ihre Seele und lauſchte, ob ihr von dort vielleicht eine Eingebung kam, welche Antwort fie, falls er noch hoffte, ihm geben follte. Und wiederum ersitterte fie. „Sch kann ihm diefe Antwort nicht geben,“ fagte fie ſich „ſolche Antworten Heidet man nicht in Worte. Wenn er die Antwort nicht felbft errät von mir foll er fie nie hören!”

Sie blickte nach den beiden Briefen mit der ihr befannten Handſchrift. Sie hatte es nicht eilig, fie zu oͤffnen nicht, als ob fie um das Gefchehene Neue empfunden oder gefürchtet hätte, wieber die Zähne bes Tigers zu ſchauen. Sie beobachtete gleichfam von der Seite, wie bie Schlange, die fle noch juͤngſt in ihren fchredlichen Ummwindungen gewuͤrgt hatte, jegt abfeits von ihr dahinkroch, wie bie bunte Schuppen, haut, die fie nicht mehr zu Blenden vermochte, ſchillernd und ſchimmernd Iodte. Sie wandte ſich ab und fuhr zuſammen, in einem Gefühl, das dem früheren nicht mehr glich.

Sie fühlte fih beffommen beim Anblid diefer Briefe, bie fie gleihfam nach der andern Seite des Abgrunds zuruͤck⸗ verfesten, nachdem fie bereits, vom Kampfe ermäber und gefhwächt, für immer mit allem gebrochen hatte, was fie drüben gefeffelt, und nachdem fie alle Brüden, die hinüber, führten, felbft verbrannt hatte. Sie verſtand es nicht, wie er ihr jetzt noch ſchreiben konnte. Warum war er felbft nicht fchon Tängft auf und davon gegangen ?

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Hätte er germußt, welche Wandlung inzwiſchen oberhalb der Schlucht ſich vollzogen, dann hätte er ſicherlich nicht gefchrieben. Man mußte ihn davon unterrichten, Der Bote wartete auf Antwort... Sollte fie die Briefe leſen? ... Ja, unbedingt!...

Sie erbrach beide Briefe zugleich und las zuerſt ben früher überfanbdten.

„Sollen wie uns wirklich nie mehr mwieberfehen, Wiera ? Das fcheint doch ganz unmoͤglich. Bor einigen Tagen hätte das noch einen Sinn gehabt, jetzt aber wäre es ein überfläffiges, für beide Teile allzu fchweres Opfer. Wir haben über ein Jahr im Verlangen nad dem Sluͤd gelämpft, und nun, da es uns zuteil geworben if, ers greifft du zuerft die Flucht und dabei warfl du es doch, die immer von einer Liebe, die fein Aufhoͤren kennt, ges ſchwaͤrmt hat. Iſt das wohl logiſch?“

„Db das logiſch if?” wiederholte fie, halblaut vor fich Hinz fläfternd, und hielt einen Augenblid inne, Und dann lag fie, fih gleichſam Zwang antuend, weiter.

„Ab babe die Erlaubnis zur Abreiſe erhalten, doch es wäre unehrenhaft, wenn ich jet abreifte und Dich verließe...

Es koͤnnte fo feheinen, daß ich triumphiere, und daß es

mie leicht falle, von hier fortzugehen... Ich möchte nicht, daß Du das denkſt. Ich kann Dich nicht verlaffen, weil Du mich liebſt ...“

Ihre Hand, in der ſie den Brief hielt, ſank auf ihren Schoß, und nach einem Weilchen las ſie langſam weiter:

„... Und weil ich ſelbſt in Leidenſchaft ergluͤht Bin, laß ung gluͤcklich ſein, Wiera! Sei uͤberzeugt, daß unſer ganzer Kampf, alle unſere endloſen Streitigkeiten nichts weiter waren als eine Maske der Leidenſchaft. Die Maske iſt ge⸗ fallen und wir haben keinen Grund mehr zum Streit.

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Die Frage iſt entfchieden. Wir flimmen in Wirklichkeit längft überein. Du flellft Die vor, bie Liebe könne ewig dauern: ſchon viele haben das gebacht, es ift jedoch uns moͤglich ...“

Wiederum hielt ſie fuͤr einen Augenblick inne.

„Er ſpricht von Liebe und meint das Feuer ber Leidens ſchaft,“ dachte fie und Tächelte mitleidig. Dann las fie weiter:

„Ich habe den Fehler begangen, daß ich dieſe Wahrheit viel zu frah Die gegenüber ausſprach: bag Leben hätte ung von felbft gu ihr Hingeführt. Ich will binfort Deine Überzeugungen nicht antaften: nicht auf fie kommt es ung an, ung iſt allein bie Liebe, die Leidenfchaft wichtig. Diefe aber hat ihre eigenen Geſetze, fie fpottet Deiner Übers jeugungen und wird mit ber Zeit auch der ewigen Liebe fpotten, die Du verlangft. Jetzt zeigt fie ſich zunaͤchſt eins mal ftärker als ich und meine Pläne... Ich unterwerfe mich ihre, unterwirf auch Du Dich. Vielleicht werden wir, wenn wir gemeinfam handeln, leicht und wohlbehalten von ihr loskommen, während ung bittere Dual bevorficht, wenn jedes für fich allein vorgeht.

„Anfere Überzeugungen vermögen wir fo wenig gu ändern wie unfere Natur, und gu beucheln verfiehen wir beide nicht. Das wäre auch nicht Togifch und nicht ehrlich. Wir möffen uns ausfprechen und zuſehen, ob wir gu einer Übers einfimmung gelangen. Wir haben es ja fchon verfucht, ohne eine Übereinfiimmung zu ersielen; dann müffen wir eben ſchweigen und unferen Übergeugungen zum Trotz gluͤd⸗ lich fein ; die Leidenfchaft fragt nicht nach ben Übergeugungen. Ich Hoffe, daß Du biefer Logik suftimmen wirft.“ Wiederum zuckte um Wieras Mund ein Lächeln, Das voll Bitterkeit war.

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„Man wird Die wohl nicht erlauben, mit mir abzuteifen, und das geht auch nicht an. Nur finnlofe Leidenfchaft koͤnnte Dich gu einem folhen Schritte befimmen, doch dar⸗ auf rechne ich eben nicht: Du biſt feine kopfloſe Toͤrin, und ih Bin kein Knabe. Vielleicht würbeft Du Dich zur Abreife mit mir entfchließen, wenn Du meine Überzeu⸗ Hungen teilteft und nicht ein ficheres Dafein, wie die Deis nigen es für Dich planen, fordern ein unbeftimmtes und unficheres Los, ohne eigenes Neft, ohne Herd und Hof, Ohne fichere Exiſtenz, wie es mir befchieden ift, Dir erfirebeng; wert erfcheinen würde. Sch gebe zu, daß es für Dich ums möglich ift, von bier wegzugehen. Solglih muß ich ein Dpfer bringen, und ich bin jegt dazu bereit und will es bringen. Wenn Du glaubft, daß Deine Großtante ihre Einwilligung gibt, wollen wie ung trauen laffen, und ich will fo lange hier Bleiben, als... nun, fagen wir auf un; beſtimmte Zeit. Ich habe alles getan, was ich konnte, Wera, und ich werde erfüllen, was ich einmal verfpreche. mußt Du handeln. Bebenke, daß, wenn wir ung jeßt trennen, dies eine törichte Komödie fein wird, bei der Die die undanfbarere Rolle zufaͤllt eine Rolle, über Die feiner fo lachen würde wie Raiffi, falls er davon ers fahren follte, „Du fiehft, daß ich Dich über alles im voraus auffläre, wie ich es ſchon früher getan habe...” Sie machte eine ungebuldige Handbewegung und las fluͤchtig die legten Zeilen des. Briefes, der mit den Worten ſchloß: „Ih erwarte Deine Antwort unter ber Adrefie meiner Wirtin Sekleteja Burdalachowa.“ Wiera war duch das Leſen des Briefes ermuͤdet. Sie legte ihn gleichgültig zur Seite und nahm ben zweiten Brief zur Hand, den ihre Jakow kurz vorher

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gebracht hatte. Er war haſtig mit einem Bleiſtift nieder⸗ gefchrieben.

Ich bin jeden Tag unten auf dem Grunde ber Schlucht umbergeirrt und habe Dich dort nach meinem erften Briefe erwartet. Diefen Augenblid nun erfahre ich zufällig, daß e8 bei euch im Haufe mit der Gefundheit nicht zum beften fieht. Das erflärt mir auch, warum Du Dich gar nicht zigft. Komm doch, Wiera, oder wenn Du krank bift, dann ſchreib mir recht bald ein paar Worte. Ich bin fonft im; ſtande, in das alte Haus gu fommen ...“

Wiera hielt voll Angſt im Lefen inne, dann las fie haſtig den Brief gu Ende. Es hieß darin: „Wenn Ich heute feine Antwort befomme, werde ich morgen um fünf Uhr im Pas villon fein... SH muß mich nun rafch entfcheiben: ob ich abreifen oder bableiben foll. Komm wenigfteng auf ein Wort, um Abfchied zu nehmen, wenn... doch nein, ich kann es nicht glauben, daß wir ung jetzt trennen follten. Auf jeden Fall erwarte ich Dich oder eine Antwort von Dir. Sollteft Du krank fein, dann fomme ich felbft hin...“ „Rein Gott! Er ruft mich noch immer dorthin, nach dem Pasillonl... Er droht mir, hierher gu fommen.... Der Bote wartet... bie Schlange winder fi noch immer durchs Grad... Noch ift nicht alles vorüber... nicht alles tot...”

Ste griff raſch in das Schubfach, nahm ein paar Briefbogen und eine Feder heraus, tauchte diefe in bie Tinte ein, wollte fchreiben und vermochte es nicht. Ihre Hände gitterten.

Sie legte die Feder fort, barg ihr Geſicht wieder in ben Händen, ſchloß die Augen und fuchte ihre Gedanken zu fammeln, Doc fie fchoffen fo wire und zuſammenhangs⸗ los durcheinander, und ihe Herz Hopfte fo flark, und es

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war ihr fo beklommen zumute. Ste fuhr mit der Hand nach dem Herzen, als wollte fie die Dual, die fie empfand, sueädbämmen; fie griff wieber zur Feder, um ihm su ſchreiben und warf im nächften Augenblid die Feder wieber fort.

AIch kann nicht, ich habe nicht die Kraft dazu, ich erſtide 1“ Ste goß fih ein wenig Eau be Eologne auf die Hand und rieb fih damit die Stirn und die Schläfen ein. Dann warf fie wieder einen Blid in ben zweiten Brief, dann in ben erften, legte beide auf den Tifch und faste fih: „Ich kann nicht... ich weiß nicht, wie Ich anfangen, was ich ihm ſchreiben fol! Ich weiß nicht mehr, was ih ihm früher ſchrieb, welchen Ton Ich da anfehlug . . . alles hab ih vers geflen!...

„Welche Antwort foll dee Bote ihm Bringen? Ich weiß

ihm feine Antwort zu geben... fühle nicht bie Kraft in mir ... ich kann Ihm gar nichts, gar nichts fagen Taffen I” Sie ging hinunter, Hufchte durch den Korridor, fuchte Jakow auf und befahl ihm, dem Knaben gu fagen, er folle nur gehen, eine Antwort werde fpäter erfolgen. „a, ſpaͤter aber wann?” fragte fie fih, während fie wieder nach oben ging. „Werbe ich die Kraft finden, ihm noch bis zum Abend eine Antwort zu fchiden? Ich glaube es nicht. Ach habe nicht Willenskraft genug, es ift nichts mehr von früher in meinem Herzen übrig geblieben... Und morgen wird er dort, im Pavillon, warten... Die getäufchte Erwartung wird ihn aufreisen, er wirb wieder Signalſchuͤſſe abfeuern, es wird zu einem Renkontre mit ben Leuten, mit ber Sroßtante kommen... Ich will felbft gehen und Ihm fagen, daß er nicht ehrlich und nicht logiſch verfährt... Bon Großmut ift bei ihm Aberhaupt nicht die Rebe, bie ift den Wölfen unbelannt.. . „”

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Alles dies ging ihre durch ben Kopf; fie griff zur Feder, warf fie wieder bin, wollte felbft gehen und Ihn auffuchen, wollte ihm alles ing Geficht fagen, kehrt machen und wieder zuruͤkkommen. Sie griff bald nah der Mantille, bald nach dem Tuche wie früher, wenn fie nach der Schlucht eifen wollte. Und ebenfo wie damals ließ fie Mantille und Tuch wieber aus ben Händen gleiten, bie Hände fanten kraftlos an ihr herab, fie ließ fich in den Diwan fallen und wußte nicht, was fie tun folfte,

Ob fie e8 Tantchen fagte? Die wuͤrde [don Rat willen aber diefe Briefe würden ihe neuen Kummer bereiten, und dag wollte Wiera vermeiden.

Sollte fie fih Boris anvertrauen und ihn beauftragen, Maris Hoffnungen und Erwartungen ein für allemal ein Ende zu machen? Raiſki war ihr natürlicher Befchäger, ihe intimſter Freund. Uber war feine eigene Leidenfchaft, oder diefes Neflerfpiel dee Leidenſchaft in feiner Phantafle, das er felbft für die Leidenfchaft hielt, ſchon geſchwunden? „And wenn es geſchwunden ift,” überlegte fie weiter „vielleicht Ift es dann nur darum gefhtwunden, weil ber Kampf, die Nebenbuhlerfhaft gefhwunden und alles eingsum fill geworden iſt?“ Wenn nun ber Nebenbuhler wieder auf dem Plane erfhien und das Gefühl der Kraͤn⸗ fung, ber erlittenen Niederlage aufs neue in Ihm weckte, würde er kaum die Rolle des ſelbſtloſen Vermittlers durch⸗ halten koͤnnen, fondern fih von feinem hitzigen Tem; perament leicht zu irgendeinem gefährlichen Schritte hin, reißen laſſen.

Tufchin! Ya, ber wird die Rolle durchführen, wird keinen Fehler machen und zweifellos fein Ziel erreihen. ber durfte fie es ihm zumuten, Aug in Auge dem Rivalen gegenäberzutreten, durfte fie Ihn mie Dem Menfchen zu⸗

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fanımenführen, ber ganz heimlich, wie von ungefähr, feine Hoffnungen auf Gluͤd vernichtet hatte?

Sie vergegenwärtigte fih, was biefer freue Freund, der fie fo vergötterte, bei einem Zufammentreffen mit dem Helden der Wolfshöhle, der ihre Zuknuft, ihr Sluͤck vers nichtet hatte, wohl empfinden würde. Welche Willenskraft und Gelbfibeherrigung mußte er an ben Tag legen, damit Das Zuſammentreffen zwiſchen ihm und dem anderen dort unten in dee Schlucht nicht zu einem Zufanmentreffen zwiſchen dem Wolf und dem Bären wurde!

Sie fhüttelte abwehrend den Kopf nein, das ging nicht an. Sie wollte zwar Tufchin von den beiden Briefen Mits teilung machen, er follte jebocd keinesfalls in die Loͤſung ihres Dramas eingreifen. Sie mußte feinem Herzen diefen bitteren Kelch erfparen; und dann hätte es nicht fo ansgefehen, als befchwere fie fih über Mark bei ihm, wenn fie ihn jegt darum bat, mit ihm abzurechnen ? Und fie hatte doch keine Beſchwerde, keine Anklage gegen jenen an erheben... Gott bewahre!

So war alfo wirklich niemand da, an den fie ſich in ihrer Bes draͤngnis hätte wenden koͤnnen. Au der Bruſt dieſer drei Menfchen hatte fie Schut gefunden vor ihrer Verzweiflung, hatte fie allmählich das verlorene Selbftvertrauen wieder⸗ gewonnen und wieber ben Frieden ber Seele empfunden. Noch ein paar Wochen oder Monate der Ruhe, des Pers geffens, des freundfchaftlihen Mitgefuͤhls und fie hätte wieder feft auf den Füßen geſtanden und ein neues Leben begonnen. Wenn fie jeßt zögerte, vertrauensuoll bie Hand nach Ihnen auszuſtrecken und fie um Hilfe zu Bitten, ſo seihah es nicht mehr aus Stolz, fondern ans Liebe gu ihnen, in dem Beftreben, fie gu ſchonen. Andererſeits jes doch durfte fie nicht zögern und warten. Morgen wird man

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ihr wieder folch einen Brief bringen, und wenn fie nicht antwortet, wird er felbft erſcheinen ...

Und das durfte um feinen Preis gefchehen! Wenn fie ſchon zwiſchen zwei Übeln wählen follte, fo wollte fie doch wenigſtens das Heinere wählen; fie wollte die Briefe der Großtante geben und eg ihr überlaffen, bie nötigen Scheitte zu tun. Die Großtante wird ſchon das Rechte treffen, fie verftanden einander jeßt beide.

Ste überlegte jedoch noch einmal und ſchrieb dann ein paar Zellen an Tuſchin nieder. Und hatte die Feder Ihe noch vor einer halben Stunde den Dienft verfast jest gitet fie willig über das Papier hin. Zwei Zeilen nur warf fie hin: „Kommen Sie doch morgen früh heruͤber,“ ſchrieb fie „ich habe Sie ſchon lange nicht gefehen und möchte Sie fprechen. Ich habe Langeweile.”

Sie ſchickte den Brief mit Prochor nah dem Landungs⸗ platz er follte ihn dort Tuſchins Leuten, bie täglich auf ihren Booten zur Stadt gefahren kamen, zur Weiters beftellung übergeben.

Fruͤher hatte Wiera ihre Geheimniſſe forgfältig behuͤtet, fie war sang In fich gelehrt, ganz In Ihe Innenleben vers funten gewefen und hatte den Verkehr mit den Menfchen ihrer Umgebung, denen fte fich überlegen fühlte, nach Mägs lichkeit gemieden. Jetzt trat das Umgekehrte ein. Das Vertrauen auf die eigene Kraft hatte ſich gleich bei der erſten ernſtlichen Pruͤfung als truͤgeriſch erwieſen. Ihr Stols war gebeugt, in der Stunde des Ungewitters hatte ſie ſich ſchwach erwieſen, und als das Ungewitter voruͤbergezogen war, fuͤhlte ſie ſich als die hilfloſe, bemitleidenswerte Waiſe, die, wie ein ſchwaches Kind auf dem Arme der Waͤrterin, die Hande nach den Menfchen ausſtreckte.

Fruͤher hatte fie Ihr Vertrauen. nur einer eingigen der

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Bean des Priefters, ihrer Freundin geſchenkt, und auch das war mehr aus Gnade als aus innerem Beduͤrfnis ges ſchehen. Sie hatte ihr gleihfam aus Laune ein paar Bros ſamen hingemworfen. Jetzt ging ſie mit geſenktem Kopfe, die andern um Hilfe zu bitten; ihr Selbſtgefuͤhl war ge⸗ demuͤtigt, fie hatte das Walten einer Kraft geſpuͤrt, Die ftärter war als die ihrige, und wußte, daß es eine Weisheit gab, vor der ihr felbfiwilliger Naden fih nur bengen konnte. Wera hatte ihrer Greundin ſtets den ganzen Kalender ihrer alltäglichen Heinen Leiden und Freuden, ihrer Ein; dehde, Meinungen und Gefühle mitgeteilt, und auch über ihre Beziehungen zu Mark war jene umterrichtet geweſen. Die Kataftrophe jedoch verheimlichte fie vor ihr fie hatte ihe nur gefagt, daß alles zu Ende fei, daß fie fih für immer getrennt hätten, nichts weiter. Die Grau bes Prieflerd wußte den Ausgang nicht, Faunte die Geſchichte nicht, die ſich dort unten auf dem Grunde ber Schlucht zugetragen, und fie führte die Krankheit Wieras auf ihre Verzweiflung über die Trennung zuruͤck.

Wie für Natalia Iwanowna, fo hegte Wiera auch für Mars finta ein auftichtiges Gefühl der Liebe, aber fie liebte fie, wie man Kinder oder gute Bekannte, mit denen man gern sufammen ift, liebt. Sobald ihe Leben wieder in ruhigem Sange dahinfliegen wird, wird fie Natalia Iwanowna wieder zu fich rufen und ihr ihre alltäglichen Exlebniffe mit allen Einzelheiten anvertrauen, und jene wird Ihe wieber in allem recht geben, wird mit ihe flüflern und ihre Die Langeweile vertreiben helfen,

In ſchickſalsſchweren Augenbiiden jedoch wird Wera ſich ſtets an die Großtante wenden, oder zu Tuſchin ſchicken, oder bei Bruder Boris anklopfen. |

Und diesmal wandte fie fih an alle drei.

INSLIWOANBSEANO

Dreisehntes Kapitel

ie ftedte beide Briefe in die Tafche, ging FHll und nachdenklich zu Tatjana Markowna und feßte fich neben fie. Die Großtante hatte ſoeben Marfinkas Brautbett befichtigt, hatte gemeinfam mit den Nähterinnen nachgemefien, twies viel Muffelin und Spigen für das Kopfliſſen nötig waren, und ruhte nun in ihrem Seffel aus. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Wera, fah wieder weg und blidte Darauf von neuem mit unruhigem Aus⸗ druck nach ihr hin. „Bas gibt es, Wiera? Du biſt verftimmt, wie es ſcheint ?“ „Richt verftimmt, fonbern müde. Ich habe von dort einen Brief befommen . . .” | „Wie von dort?” wiederholte bie Großtante fragend, und ihre Miene veränderte ſich ploͤtzlich. „Eigentlich find es zwei Briefe; ben einen bekam ich vor längerer Zeit, ich habe ihn gar nicht aufgemacht, und ber andere Fam heute an. Da find fie beide lieg fie, Tants chen.” Sie legte beide Briefe auf den Tiſch. „Warum foll ich fie Iefen, Wjerotſchka?“ ſprach Tatjana

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Markowna, die kaum ihre Faſſung zu bewahren vermochte und abſichtlich nicht nach den beiden Briefen hinſah. Miera ſchwieg. Es ſchien der Großtante, daß in ihrem Ges ſichte ein Ausdruck des Kummers lag.

„ft es nötig, daß ich weiß, was darin ſteht ?

„sa, Tantchen, es ift nötig. Lied nur!”

Die Großtante feßte ihre Brille auf und begann zu lefen. „Ih werbe nicht Hug daraus, meine Liebe,” fagte fie und legte den Brief, ben fie in die Hand genommen, mit uns ruhiger Miene wieder fort. „Sag’ mir lieber ganz kurz, um was es fih Handelt... .”

„sch will es bir vorlefen,” fagte Wera „ich fühle in mir nicht Kraft genug, es gu erzählen... .“

Im Flüfterton lag fie der Großtante die beiden Briefe vor, ab und zu ein Wort oder einen Abfag unterbrädend. Dann knuͤllte fie die Schreiben sufammen und fiedte fie im die Taſche.

Tatjana Markowna reckte ſich im Seſſel auf und neigte ſich dann wieder vor, gleichſam einen Schmerz unter⸗ dendend. Hierauf ſah fie Wjera mit einem forſchenden Blicke an.

„Was haͤltſt du davon, Wjerotſchka?“ fragte ſie mit un⸗ fiherer Stimme.

„Du frasft mich, was Ich davon halte,” fagte Wiera, und

es Hang wie ein leichter Vorwurf aus ihren Worten. - „Ganz Dagfelbe wie du, Tantchen I”

„Das weiß ih. Uber er will... dich heiraten, will hier; bleiben. Warum nicht?... Wenn er fo leben will wie die anderen... wenn er dich liebt...” ſprach Tatjana weg angftlih. „Wenn du davon... bein Gluͤck er; warteft...

„Er nennt die Trauung eine Komödie und will fich doch

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mit mir trauen laflen! Er denkt, daß nur dies noch zu meinem Slüde fehle... Du weißt, Tantchen, wie ich zu alledem ſtehe warum fragft du mich da noch?“

„Du kamſt doch, um mich gu fragen, wie du dich entfcheiben ſollſt ...“

Die Großtante ſagte dies in ganz unſicherem Tone, da ſie nicht recht mußte, weshalb ihr Wiera eigentlich die Briefe vorgelefen hatte. Ste war über Marks Kedheit aufgebracht und zitterte in banger Sorge um Wiera, in ber vielleicht die Leidbenfchaft von neuem Oberhand gewinnen fonnte. Doch mußte fie ihre Ertegung wohl gu verbergen.

„Nicht darum Bin ich zu dir gekommen, Tantchen,” fagte Wera, „Die endgültige Entfcheidung ift ja laͤngſt getroffen, ich erwarte nichts mehr von dort. Ich halte mich kaum noch aufrecht, und wenn ich wieder aufzuleben hoffe, fo will ih das doch jedenfalls vergeſſen ... Und er ruft die Erinnerung wieder in mie wach! Er ruft mich dorthin, fptegelt mir das Gluͤck vor, will mich heiraten... mein Gott! ...“

Sie zuckte verzweifelt die Achſeln. Tatjana Markowna fuͤhlte, daß die Unruhe von ihrem Herzen wich. Sie rüdte erleichtert in ihrem Stuhle hin und her, ſtrich eine Falte an ihrem Kleide zurecht und fuhr mit der Hand uͤber den Tiſch, um irgendwelche Kruͤmchen, die dort lagen, zu ent⸗ fernen. Sie lebte, mit einem Worte, wieder auf, wurde wieder munter ganz ſo wie ein Menſch, der, vom Schreck gelaͤhmt, doch ſogleich wieder ins Bewußtſein zuruͤckgerufen warb,

„Ich will nichts mehr von Ihm, Tantchen 1” verfegte Wiera, die ihre Kräfte wieder gefammelt hatte. „Und wenn er durch irgendein Wunder fich jegt ganz und gar änderte, wenn er fo würde, wie ich früher ihn wohl zu fehen wuͤnſchte,

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wenn er an alles das glaubte, woran ich glanbe, und mich fo liebte, wie ih ihn... zu lieben gedachte: ſelbſt dann würde ich feinem Rufe nicht folgen... .”

Sie ſchwieg. Die Großtante hielt ben Atem an und faufchte ihren Worten mit heimlichem Entzäden.

„Ich wuͤrde mit ihm nicht glädlih werden ih wärbe nie den fräheren Menfchen in ihm vergefien uud Dem neuen Menſchen, als ben er fih gäbe, nicht trauen. Ich habe zu ſchwer gelitten,“ fläfterte fie und legte ihre Wange auf die Hand ber Großtante. „Aber bu haft ja meinen Schmerz felbft gefehen, haft mich verſtanden und gereftet ... du meine Mutter!... Warum fragft du und zweifelt du? Welche Leidenfchaft follte ſtandhalten folden Qualen gegenüber? Kann man denn einen ſolchen Irrtum wieder bolen?... In mie ift nichts mehr vorhanden... oͤde und kalt iſt's in meinem Herjen... und Verzweiflung

wohnte darin, wenn du nicht waͤreſt...“

Sehnen rannen über Wieras Wangen. Ge lehnte ihren Kopf an die Schulter ber Großtante.

„Denk nicht daran, rege dich nicht unnuͤtz auf!” fagte bie Großtante, während fie felbft ihre Bewegung kaum zu meiftern vermochte und Wjeras Tränen mit der Hand von ber Wange wifchte. „Wir find doch Abereingelommen, nie wieder bavon zu fprechen ...“

„Ich würde auch nicht davon fprechen, wenn nicht dieſe Briefe wären. Ich bedarf des Friedens. Bring mich fort, Tautchen, verfted’ mich Irgendwo ober ich ſterbe! Ich bin fo matt... fo kraftlos... Laß mich Ruhe finden!... Und er ruft mich dorthin. Er will felbft hierher kom⸗ men...”

Ihre Tränen begannen noch reichlicher zu fließen. Die Großtante erhob fih langſam, ließ Wiera an ihrer Stelle

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in dem Seſſel Platz nehmen und richtete fich In ihrer gangen Höhe auf,

„But wenn dem fo tft, wenn er bie noch immer zuſetzen und dich quälen will dann foll er mir für diefe Tränen buͤßen!...“ fpeach fie mit gitternder Stimme. „Sei ruhig, mein Kind Tantchen wirb dich vor ihm gu verbergen und zu fohägen willen: du wirft nichts mehr von ihm gu hören befommen ...“

Die Großtante bebte am ganzen Leibe, als fie dies fagte. „Bas willſt du tun?” fragte Wiera beftärgt, indem fie ploͤtzlich auffiand und neben Tatjana Markowna hins trat,

„Er ruft Dich; ich will zu Ihm Hinabfleigen, will flatt deiner zu dem Stellbichein gehen und dann wollen wir ſehen, ob er noch einmal an dich fchreibt, noch einmal herkommt und dich ruft!...”

Zorn uͤberkam die Großtante, und fie begann im Zimmer auf und ab zu fchreiten.

„Wann will er denn morgen in dem Pavillon fein? Um fünf Uhr, nicht wahr?” fragte fie ploͤtzlich.

Miera fah fie voll Erfiaunen an.

„Du haft mich nicht richtig verflanden, Tantchen,“ fagte fie fanft, während fie die Hand der Sroßtante ergriff. „Ich will mich nicht bei bie Aber Ihn befchweren. Vergiß nie, daß ich allein ſchuld Bin an allem... Er weiß nicht, was mit mir vorgegangen If, und darum fchreibt er. Er braucht nichts weiter zu wiſſen, als daß ich frank und geiftig niebergebrädt Bin und du willft, wie es fcheint, mit ihm Abrechnung halten! Nicht dag iſt's, was ich von die erhoffte. Ich wollte ihm felbft fchreiben, vermochte es jedoch nicht und um ihn wiebergufehen, reicht meine Kraft beim beften Willen nicht aus... .”

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Tatjana Markowna wurde fill und ſah nachdenklich vor fih Bin.

Ich wollte Iwan Iwanowitſch bitten,” fuhr Wiera fort „aber du weißt felbft, wie fehr er mich liebt, welche Hoff⸗ nungen er betreffs meiner genähet hat. Soll ih ihn nun mit dem Menfchen sufammenbringen, ber alles bag vers nichtet Hat? Das iſt doch unmoͤglich...“

„Sa, das ift unmöglich!” faste Tatjana Markowna bes fräftigend und fchüttelte energifch den Kopf. „Warum foll er da hineingegogen werben? Gott weiß, welden Verlauf die Sache dann nimmt... Nein, nein, das geht nicht... Aber du haft Doch jemanden, ber bir nahe fteht, ber alles weiß, der dich Tiebt wie ein Bruder: Boriufchka . . .“

Wiera ſchwieg. | „Wie ein Bender ja, wenn ed ſo wäre, wenn er nicht noch andere Gefühle hegte!“ dachte fie, Doch wollte fie der Sroßtante nichts von Raiſkis Leidenfchaft für fie verraten, da fie meinte, daß es fich dabei nicht um ihre Geheimnis handle. |

„Wenn du es wünfcheft, will ich mit Ihm reden . . .” fagte Tatjana Markowna.

„Laß nur, Tantchen, ich will es ihm ſelbſt ſagen,“ antwortete Miera, die doch Bedenken trug, Raiſki mit der Angelegen⸗ heit zu befaſſen. Sie vertraute wohl ſeinem wackeren Herzen und ſeiner klugen Einſicht, war jedoch nicht ſicher, ob ſeine launiſche Phantaſie und ſein allzu begeiſterungs⸗ faͤhiges Temperament ihm nicht einen Streich ſpielen wuͤrden.

„Ich werde ihm durch Boris Nachricht ſenden, oder mich vielleicht ſo weit aufraffen, daß ich ſelbſt auf die Briefe antworte und jede Hoffnung auf ein Wiederſehen ein fuͤr allemal zerſtoͤre. Vorlaͤufig moͤchte ich ihn nur benachrich⸗

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tigen, daß er nicht mehr nach dem Pavillon kommen und nicht vergeblich warten foll ...“

„sh will es übernehmen, ihn zu benachrichtigen,” fagte die Großtante ploͤtzlich.

„Aber du wirſt nicht ſelbſt hingehen, wirſt ihn nicht zu treffen ſuchen?“ ſagte Wjera, während fie der Tante for⸗ fhend in bie Augen ſah. „Vergiß nicht, daß ich Ihn nicht anklage, ihm nichts Boͤſes wuͤnſche...“

„Auch ich wünfche ihm nichts Boͤſes!“ flüfterte die Groß⸗ tante, während fie zur Seite blidte. „Beruhige dich nur, ich werbe nicht hingehen ich werde nur dafür forgen, daß er nicht mehr in dem Pavillon wartet...” „Verzeih mir, Tantchen, daß ich die noch diefe neue Sorge auf den Hals lade!” |

Tatjana Markowna fileß einen Seufjer aus und küßte Wiera auf die Stirn.

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BEREICHE

Dierzehntes Kapitel

Y halb beruhigt verließ Wiera die Großtante. Sie jerbrach fi) den Kopf Darüber, was für Maßnahmen wohl diefe treffen würde, um Mark davon abzuhalten, daß er fie morgen in dem Pavillon erwartete, Sie fürchtete, daß Tatjana Markorona vielleicht Raiſ fi, von deſſen Leidens (haft für Wera fie nichts wußte, irgendeinen Auftrag geben würde, und daß biefer ſich bei ber Erledigung det Angelegenheit von feinen noch nicht ganz erlofchenen Ewy⸗ findungen beeinfluffen laſſen koͤnnte.

Sie hörte, daß Raiſti zu Haufe war, und begab ſich wu ihm nach dem alten Haufe, wohin er mit Koslow zufams men übergefiebelt war. Sie wollte ihm von dem beiben Briefen fprechen, wollte fehen, wie die Nachricht auf ihn wirken würde, und ihn für den Fall, daß die Großtante ihm die Augeinanderfegung mit Mark übertragen follte, auf feine Rolle vorbereiten. | Wie ein Schatten huſchte fie duch die Zimmer bes alten Hanfes, über das im Laufe der Zeit dunkel gewordene Parkett, an den verhüllten alten Spiegeln, Säulenupren und Möbeln vorüber, ging an ber Tür ihres einfligen Zim⸗ mers entlang und trat in einen behaglichen Heinen Raum,

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deſſen Fenſter nach der Vorſtadt und dem freien Felde hinausgingen. Hier, in biefem Zimmer, hatte Raiſki ſich einquartiert. Sie dffnete ganz leife die Tar und blieb auf der Schwelle fliehen.

Raiſki ſaß am Tiſche und blaͤtterte in feiner Kuͤnſtler⸗ mappe. Skizzen von Landſchaften, Portraͤts in Aquarell, Entwuͤrfe von unvollendeten Gemaͤlden, verkleinerte Ko⸗ pien von beruͤhmten Kunſtwerken, Haufen von Tagebuch⸗ blättern, Notizen, Skizzen, begonnenen und unvollendet gebliebenen Erzaͤhlungen und Dichtungen lagen vor ihm aufgetuͤrmt.

Er hatte ſoeben einen Stoß von Blaͤttern vorgenommen das angeſammelte Material fuͤr ſeinen Roman, in das er ganz und gar vertieft ſchien. Sein Blick hatte etwas Duͤ⸗ ſteres; er ſchlug Blatt fuͤr Blatt um, ſchuͤttelte ſinnend den Kopf, ſeufzte tief auf und gaͤhnte, daß ihm die Traͤnen in die Augen traten.

„So habe ich auch damals, vor ſechs Jahren, das große Gemaͤlde fuͤr die Ausſtellung in Angriff genommen,“ ging's ihm buch den Sinn. „Und ſchließlich ſtellte ſich heraus, daß ſolch eine Arbeit Jahre der Anſtrengung ver⸗ langt... Und nun habe ich mir dieſe neue Buͤrde aufs erlegt: ich will einen Roman fchreiben! Allein an Mas terial gibt dag einen halben Zentner ... wie viel Notizen, Beobachtungen, Erkundungen find da erforderih! Ob die Sache wohl suftande kommt? All die Charaktere, Situas tionen und Szenen gu entwerfen welch eine Aufgabel... Und ſchließlich konzentriert fih das ganze Intereſſe Doch auf Wiera, die Hauptperfon meines eigenen, erlebten Ro⸗ mans, Wie, wenn ich nur fie allein zum Gegenſtand meiner Darftellung nahme? Das wäre eine Aufgabel... Alles andere, Nebenfächliche fiele weg, nur fie allein ftände dal...

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Ich würde mir bie Sache ſehr erleichtern, diefen ganzen Ballaſt bier könnte ich fortlafien. Was habe ih da nicht alles sufammengetragen !”

Er begann mit Lebhaftigkeit alles, was fih nicht auf Wera berog, beifeite gu fchieben, und es blieb faum ein Dugend Blätter Abrig, auf denen er charakterififche Bemerkungen Aber fie, ſowie Szenen und Gefpräche, bie er mit ihe gehabt, forgfältig gufammengetragen hatte.

Ploͤtzlich legte er die Blätter zur Seite ein neuer Ges Dante fuhr ihm durch den Kopf.

„Barum babe ich eigentlich ihre Porträt noch nicht mit dem Pinfel feftgehalten ?” fragte er ih. Von Marfinta hatte er gleich nach der erften Begegnung, unter bem frifchen Eindruch, ein Porträt gemalt, und es war Wahrheit, Treue, Leben darin, bis auf bie Schultern und Hände. Und Wiera hatte er noch nicht gemalt follte er abreifen, ohne dag noch nachzuholen?... Jetzt fland doch nichts im Wege:

feine Leidenfchaft iſt verraucht, fie flieht ihn nicht mehr...

Wenn er erit ihr Porträt Hat, wird es ihm auch leicht fallen, den Roman zu ſchreiben: er wird fie dann immer wie lebend vor den Augen haben... |

Er blidte von feinem Portefenille auf vor Ihm ſtand Wjiera in eigener Perfon, wie fie leibte und lebte, Er er; (Graf.

„Das ‚Schidfal‘ fenbet dich gerade jetzt zu mir, um die Worte der Großmutter zu gebrauchen,” fagfe er.

Wiera hatte fein Erfchreden bemerkt, und ein Lächeln zitterte um Ihr Kinn. Er aber Eonnte feinen Blick nicht von ihr abwenden. Ihre Schönheit feſſelte wieder feinen Sinn, wenn es auch nicht jene frühere Schönheit war mit ihrem eigenattigen Glanz, mit dem warmen, Iebendigen Kolorit, dem folgen, flammenden Blick der Samtaugen,

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dem heimlichen Flimmern ber Nacht, wie er einmal ſelbſt den funtenfprähenden Reiz ihrer eigenartigen, ihn damals fo geheimnisvoll anmutenden Schönheit bezeichnet hatte, Diefes unbewußte Schimmern und Gleißen ihrer jugends lichen Reize, das gleichfam einen hellen, waͤrmenden Strah⸗ lenſchein um fie verbreitete, war verſchwunden.

Eine müde Schwermut, eine tiefe Ermattung fprach jetzt ang ihren Augen. An Stelle ber warmen, lebendigen Töne in ihrem Gefihte war eine durchſichtige Blaͤſſe getreten. In ihrem Lächeln lag nicht mehr ber Stolz der ungebuldigen, kaum gebändigten Jugendkraft. Sanftmut und Traurigs keit ruhten ſtill auf ihren Zügen, und ihre ganze ſchlanke Seftalt war gleichfam erfüllt von ſchwermuͤtiger Grazie und gedankenvollem Frieden.

„Wie fie der Lilie gleicht! Wo iſt die frühere Wjera ges biieben? nd welche von beiden iſt vorgugiehen bie jetzige ober die frühere ?” bachte er und ſtreckte voll Ruͤhrung De Hände nach ihre aus,

Ste trat auf ihn gu nicht mehr, wie früher, mit gefchmeis digem Gang und leichtem Wiegen ber Hüften, ſondern mit leifen, gleichmäßigen, kaum merklich knarrenden Schritten. AIch ſtoͤre Dich wohl,“ fagte fie. „Was treibft du denn biee? Sch wollte mit die reden...”

Er wandte ben Blick nicht von ihre ab.

„Wart einmal, Wjera!“ flüfterte ee er hatte ihre Frage nicht gehört und fah fie noch immer mit mweitgeöffneten Augen an. „Seg’ dich doch einmal dahin fo 1” fagte er und ließ fie auf dem Heinen Diwan Platz nehmen.

Dann lief er gefchäftig nach einer Ede des Zimmers, fuchte dort einen mit Leinwand befpannten Rahmen heraus, holte eine Staffelet hervor und begann, feinen Farbenkaſten fuchend, in einer Ede zu kramen. |

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„Was haſt du denn vor?“ fragte fie.

„Schweig, ſchweig, Wiera ich babe ſchon lange beine Schönheit nicht bemerkt, als wenn ich blind geworben wäre! Doch in dem Augenblid, ald bu eintratft, wirkten ihre Strahlen wieder auf meine Nerven, ber Künftler in mir iſt nen erwacht! Fuͤrchte bich nicht vor meiner Ekſtaſe... nur raſch, raſch, ehe der Augenblid entflieht!... Schen® mir etwas von deiner Schönheit... ih babe Dich ja noch wie gemalt...”

„Was für ein Einfall, Boris! Wie kanuſt bu jetzt nur noch von Schönheit reden? Wie fehe ich denn aus? Waſſtliſſa meint, wenn man die Leute in ben Sarg lege, fähen fie befler aus... Laß es doch für ein audermal...”

„Du haft felbft fein Verſtaͤndnis für beine Schönheit: du biſt ja ein Chef-d’oeuvre! Nein, nein, dag läßt fich wicht auf ein andermal verfchieben. Steh doch, das Haar firdubt fih mie empor, es zuckt mie in den Fingern)... Die Tränen werden mir gleich in die Augen treten... Geh’ ee ee . Aber!" |

„3% bin fo muͤde, Bender... ich kann wirklich nicht, Habe nicht die Kraft dazu ... Und dann feier’ ich; es iſt fo friſch bier bei bir...“

„Ich werde dich gut einhällen, Dich in eine gang bequeme Pofe bringen. Du brauchſt mich gar nicht anzufehen, fit ganz frei und ungeswungen, als wenn ich uͤberhaupt nicht da wäre...“

Er ſchob ihr ein paar Kiffen hinter den Rüden und unter bie Arme, hing feinen fhottifchen Plaid um Schultern und Bruſt, gab ihr ein Buch In die Hand und hieß fie fo auf dem Diwan nieberfigen.

„Den Kopf kannſt du halten, wie du willft,” fagte er

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„wie es die am bequemſten iſt. Beweg’ dich ganz frei, biide, wohin du willft, ober blicke überhaupt nirgendshin und vergiß, daß ich da Bin!“

Ste gab ihm ſchließlich nach und ſaß gleichguͤltig in muͤder, ſinnender Haltung da.

„Ich wollte eigentlich mit bie reden... dir ein paar Briefe geigen ...“ faste fie.

Er ſchwieg, ſchaute fie an und begann mit Kohle auf der Leinwand zu zeichnen.

gehn Minuten vergingen.

„Ich habe zwei Briefe befommen . . . von Mark. . .“ wieders holte fie leiſe.

Er fprach Fein Wort, fondern zeichnete nur immer weis ter. Eine Viertelftunde war vergangen. Er nahm bie Palette, tat Farben darauf, wandte ben heißen, verzehren, den Blick immer wieder Wiera zu und uͤbertrug haflig, als wenn er einen Diebſtahl Beginge, ihre Züge auf die Leinwand.

Sie ſprach ihm abermals von den Briefen. Er ſchwieg und blickte fie an, als ob er fie zum erfienmal ſaͤhe. „Hoͤrſt du nicht, Bruder ?“

„Ja ... ja ... ih höre... Du haft Briefe von Matt... nun, wie geht es ihm denn, If er geſund ?” fprach er raſch und obenhin.

Sie ſah ihn ganz verwundert an. Sie hatte es kaum ge⸗ wagt, den Namen Mark zu nennen, hatte gefhrchtet, daß er zuſammenzucken wärbe, als wenn fie ihn mit einem glähenden Eifen beruͤhrte und er erkundigte fih nad Marks Gefundheit !

Sie ſah ihn nochmals an und hörte auf, ſich zu wundern. Wenn fie ſtatt Mark irgendeinen Karp ober Sidor genannt hätte, wäre die Wirkung auf Ihn ganz diefelbe gemwefen,

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Er hatte nur mechaniſch bingehdet, nur den Mang ihrer Stimme vernommen, ohne auf ben Sinn der Worte zu achten. Er war ganz und gar in feine Arbeit vertieft und hatte den Namen Mark völlig unbewußt nachgeſprochen. „Barum gibſt du mir feine Antwort?“ fragte fie. „Später, fpäter, um bes Himmels willen! Sprich jet nicht mit mir... Denke an fonft etwas! Tu, als ob ich gar nicht exiſtierte ...“ | Miera verfuchte nochmals, ihn anzuſprechen, doch er hörte fie nicht mehr und ging ganz darin auf, ihr Gefiche zu malen. Sie verfanf in ein wirres Chaos von Gedanken, Gefühlen und Crinnerungen; ihre Unruhe, ihre Beſorgnis, ob Marf wohl kommen und was bie Großtante wohl tun werde, belam etwas Verſchwommenes, Kormlofes, und fie vers mochte nicht, ihre Gedanten auf einen beflimmten Moment, einen einzelnen Gegenſtand zu richten. Ste huͤllte fich feft in den Plaid, um fi zu wärınen, und blickte von Zeit zu Zeit auf Raiſki, faſt ohne gu bemerken, was er trieb und tat. Tiefer und tiefer geriet fie in ein gruͤbelndes Hinbruͤten; in ihren Augen reflektierte fich gleich, fam ihr troß ihrer Jugend ſchon fo tief aufgewähltes, noch nicht wieder jur Ruhe gelommenes Leben, ihre Sehnſucht nach Ruhe, ihre heimliche Dual und bange Zukunfts⸗ erwartung. i Raiſki aber arbeitete inzwiſchen fehweigend, mit. konzen⸗ trierter Aufmerkſamkeit, bleich vor Fünftlerifcher Erregung, an ihren Augen, fah von Zeit gu Zeit zu Ihe hinuͤber oder weilte in Gedanken bei feinen. Erinnerungen an Die erfle Begegnung mit Ihe und dem tiefen Eindrud, = fie auf ihn gemacht hatte, Grabesſtille herrſchte im mmet. | | RE J

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Pögfich hielt er inne und fuchte das Geheimnis ihres nachs dentlihen, auf nichts Beſtimmtes gerichteten, abgrund⸗ tiefen Blickes gu ergründen.

Er tupfte mit dem Pinfel über die Pupille auf der Leins wand, er glaubte die Wahrheit ſchon erfaßt gu haben dort aber, in Wieras lebendigem Blid, glomm noch irgends ein etwas wie eine geheime, ruhende Kraft. Er feßte eine zweite Farbe an, legte einen Schatten baneben aber ſo⸗ viel Mühe er fih auch gab: es waren wohl ihre Augen, was er da gemalt hatte, aber nicht ihe Bid,

Vergeblich rief er die beiden Zauberpuntte feines alten Lehrers zu Hilfe, die er fo glüdlich und erfolgreich bei dem Porträt feiner Eoufine Sophie verwandt hatte,

„Nein, hier genügen bie beiden Punkte nicht!” fagte er fih, nachdem er immer von neuem fih bemüht hatte, diefen Ausdeud der Augen, diefen Blick zu erhafchen. Er blickte finnend vor fih Hin, miſchte die Farben, trat von dem Porträt zuräd und fah wiederum hin.

„Ich muß warten!” entfchieb er ſchließlich und begann bie Wangen, die Nafe und dag Haar weiter auszufuͤhren. Nachdem er Damit wohl eine halbe Stunde zugebracht, nahm er fih wieder die Augen vor.

„Noch einmal verfuch’ ich's!“ dachte ee „und wenn es diesmal nichts wird, dann Taf’ Ich es überhaupt: dann kann Ich’8 eben nicht!”

„Run fieh einmal fünf Minuten lang auf biefen Punkt da, Wera,” fagte Raiſki, nah dem betreffenden Punkt geigend, und fah fih nah Wera um.

Sie ſchlief. Ganz verblüfft fah er Hin und ſchaute und ſchaute ſchweigend, mit verhaltenem Atem.

„O, welche Schönheit!” fläflerte er dann voll Ruͤhrung. Ar rechten Augenblid war fie eingefchlafen. Ja, es war

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keck und subringlich, ihren Blick malen gu wollen, in bem ihr ganzes Drama, ihr Roman sum Ausdrud fam. Hier hätte felbft ein Greuze feinen Pirfel wesgelest.

Er malte ihre Augen gefchlofien. Schweigend fland er ba und betrachtete verzuͤckt biefes lebendige Bild bes ruhenden Dentens und Fuͤhlens, ber fhlummernden Schönheit. Dann legte er Palette und Pinfel Hin, neigte fich leicht vor, beruͤhrte leife mit ben Lippen ihre bleihe Hand und ging mit unhörbaren Schritten ans bem immer.

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Füntzehntes Kapitel

m naͤchſten Tage, um bie Mittagsfiunde, vernahm

Wiera vom Hoftor her das Geraͤuſch von Hufichlägen. Sie fah aus dem Fenfter, und ihre Augen blisten einen Augenblid freudig auf, als fie Tuſchins ſtattliche Geſtalt ers blidten, der auf feinem Rappen in den Hof geritten kam. Unwilltürlich trat Wjera vor ben Spiegel und ftrich Ihe Haar zurecht. Mit einem Seufzer fah fie ihr Bild da drinnen und Dachte: „Was konnte Boris nur an mir finden, daß ee mich durchaus malen wollte?” Sie ging bie Treppe hinunter, durchſchritt alle Zimmer und faßte eben nach dem Griffe der Tür, Die aus dem Salon nah dem Vorzimmer führte. In demfelben Augenblid hatte Tufchin den Griff von ber anderen Seite gefaßt. Sie oͤffneten die Tür, fließen aufeinander und laͤchelten ſich gegenſeitig an. „Ich ſah Sie von oben und ging Ihnen entgegen. Sind Sie nicht wohl?” fragte fie plöglich, während fie ihn fors (hend anſah. „Was follte mir fehlen ?” antwortete er verwirrt und biidte Dabei zur Seite, bamit fie nicht bemerke, wie fehr er fich verändert hatte. „Und wie geht es Ihnen?”

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„Ich danke, ich fühle mich ganz wohl, Eine Zeitlang fuͤrchtete ich, ernftlich Frank zu werben, Doch iſt bag jetzt voräber.... Wo iſt Tantchen ?” wandte fie fih an Waſſiliſſa.

Diefe fagte, die gnaͤdige Frau fei nach dem Tee irgend; wohin gegangen und habe Sfawelij mitgenommen. Miera bat Tuſchin, mit ihr nach ihrem Zimmer hinauf; sulommen. Hier fetten fie fih beide auf den Diwan, jedes an einem Ende, fhwiegen und biidten fih verfiohlen von ber Seite an.

„Er ift fo blaß geworden,” dachte fie, „und auch mager; fein gekraͤnktes Selbftgefühl, feine getäufchten Hoffnungen ehren an ihm...”

In der Tat war Tufchin in dieſer legten Zeit recht erregt und unruhig geweien, Doch nicht aus gekraͤnktem Selbſt⸗ gefühl, fondern aus banger Sorge, was wohl mit ihr weiter geworden, ob ihr Drama num zu Ende ſei oder nicht.

Sein eigner Kummer und Schmerz, fein beleidigtes Ehr⸗ gefühl und feine getäufchten Hoffnungen hatten wohl in ben etiten Tagen ſchwer auf ihm gelaftet, und es hatte feiner ganzen bätenhaften Wiberfiandsfähigfeit und feines reis hen Vortats an ſeeliſcher Kraft bedurft, um diefe Laft zu tragen. Und er hatte fie getragen und den Inneren Kampf fiegreich beftanden bank eben diefer Kraft, dank feiner ſchlichten, reinen Natur, der aller Neid und Haß und alle kleinliche Eitelkeit fremd war.

Er glaubte an Wieras Schuldfofigteit, und dieſer Glaube, auf dem feine tief ſittliche, reine Neigung zu ihr beruhte, uͤberwand in Verbindung mit dem Reiz ihrer bezaubernden Schoͤnheit und dem Vertrauen auf ihren klaren Verſtand und die Echtheit ihres Fuͤhlens in ihm die Selbſtſucht der ſinnlichen Leidenſchaft. Dieſer Glaube bewahrte ihn vor

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ber Verzweiflung feines Kummers und verhätete die Er⸗ kaltung feines Gefuͤhls für Wjera.

Vom erften Augenblid an, als fie ihm mit folder Offen⸗ beit alles gefagt, hatte er trog ber furchtbaren Dual, die er felbft dabei litt, im firenger Unparteilichkeit daran feſt⸗ gehalten, daß feine Schuld fie treffe, daß fie nur ungluͤcklich fei. Er hatte es ihe damals fogleich gefagt, und er hatte auch jetzt noch dieſe Auffaffung. Für den einzigen Schuls digen hielt er Mark und auch er war ihm mehr ein Uns glädlicher, mit Blindheit Gefchlagener.

Alles das hatte bewirkt, Daß ganz fill und ihm ſelbſt noch unbewußt, trotz allem Schmerz, troß dem Chaos von bitteren Empfindungen, von Sram und Kraͤnkung ein ſchwacher Hoffnungsfteahl in ihm lebte. Nicht, als ob er noch das geoße, volle Gluͤck gegenfeitiger Neigung erhofft hätte aber die Ausficht, fie doch nicht ganz zu verlieren, ihre Freundſchaft zu behalten, vielleicht einmal in ferner Zeit ihre dauernde Sympathie zu gewinnen diefe Ausficht wenigftens fehlen ihm nicht verfchloffen.

Was aus diefer Sympathie dann weiter erwachſen Könnte davon wagte er nicht mehr zu ſchwaͤrmen und gu traͤu⸗ men. Der Flug feiner Phantafte warb gelähmt durch die ſich von felbft aufdrängende Frage, was nun wohl mit ihr werben würde? War ihr Drama wirklich fchon zu Ende? War nicht vielleicht Mark doch zu der Erkenntnis gelangt, was er an iht verlor, hatte er nicht doch noch verfucht, bag fliehende Glüd zu verjagen? Kroch er nicht am Ende vom Grunde der Schlucht empor, um fie hier oben, auf der Höhe, in erhaſchen? Und hatte fie fich nicht wieder umgewandt und nach Ihm gurüdgefchaut? Hatten fie einander nicht die Hande gereicht für immer, um glädlich zu fein, fo, wie er, Tuſchin, und wie Wiera ſelbſt das Gtäd verftand?

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Derfelbe Zweifel und biefelbe Frage, die ſich auch Tatjana Markowna aufgedrängt hatte, als Wiera ihre bie beiden Briefe zeigte, nagten auch an Tuſchins Herzen. Es erſchien ihm unwahrſcheinlich, daß Mark auf feinem Standpunkte beharren und fih damit gufrieben geben würbe, dort unten auf dem Grunde der Schlucht zu verbleiben. „Er ift doch kein Narr und kein Blinder!...” fagte er fih. „Irgend etwas muß er doch an fih haben, bag ihre Liebe zu ihm erlärt... Aber nein, fie kann Ihn nicht lieben es war nur ein Rauſch, eine Verirrung ihres Gefühls. . .” Dachte et. „Do ee wenn er zur Vernunft kommt und gu ihre zuruͤckehrt ... vielleicht wird fie dann noch glädih... Nun, Gott gebe es, Gott gebe es!” So hatte er gegrüäbelt und für ihr Süd gebetet und in biefen Stunden bes Gebets war er bleih und mager geworben von ber Hoffs nungslofigkeit, dem troftlofen Yusblid in ein Lehen opne läd, ohne Ziel, ohne Wiera ...

„Bas für ein Leben wäre das wohl?” dachte er. „So wie früher, als ich noch nicht wußte, daß es eine Wera auf der Welt gibt, kann Ich nun nicht weiter leben. Ohne fie wird ein Stillftand eintreten in meinem Leben, meinem Wirken...” |

Um feine Gedanten abzulenken, hatte er fih mit verdop⸗ peltem Eifer in die Arbeit geſtuͤrzt. Am liebſten hätte er ſelbſt die Bäume in feinem Walde gefällt, die als Maſt⸗ baͤume ſtromabwaͤrts gingen. Er nahm feinen Buchs haktern im Kontor alle Arbeit ab und begann felbft Die Bücher gu führen. Oder er beftieg fein Neitpferb und jagte zwanzig Werft weit durch den Forſt und wieder zuruͤck, big das Tier ganz mit Schweiß und Schaum bebedt war. Er welite feinen Schmerz betäuben und all ben quaͤlenden Fragen entfliehen, bie Sich Ihm aufbrängten; Dach ſo wenig

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mie der Herbfiwind in feinem Rüden wich die eine Frage von ihm: was mag jenfeits ber Wolga jeßt vor ſich geben?...

Wie oft war er and Steomufer geritten, um Aber die Flu⸗ ten hinweg nach der anderen Seite zu ſchauen! Wie zog es ihn, hinuͤberzuſpringen auf die Faͤhre, die eben abftieß, und den fteilen Uferhang dort drüben emporzureiten, um zu fragen und Gewißheit gu erlangen ...

Aber fie hatte ihm damals ausbrädlich gefagt: „Warten Sie!” und biefes Wort war ihm heilig.

Jetzt war er mit ihrem Brief in der Tafche hergefommen. Sie hatte ihn gerufen, doch war er nicht raſch den Berg binangefprengt, fondern langſam hergeritten und ebenfo langfam vom Pferde geftiegen, und jet wartete er gebuldig, Bis ihn die Stallente von ber Gefindeftube her bemerken und ihm das Pferb abnehmen würden. Mit heimlichen Bangen hatte er dann nach dem Türgriff gefaßt und felbft in ihrem Zimmer verließ ihn feine Bangigkeit nicht, Nur ganz verfiohlen und Angftlich fah er fie an, benn er wußte ja nicht, wie es um fle fand, warum fie Ihn gerufen, was er zu erwarten hatte.

Berlegen ftanden fie beide eittander gegenuber. Sie war befangen, weil er um Ihe Geheimnis wußte. Wenn er auch ide Freund war, ſtand er ihr boch immer noch fern. Sie hatte ihm damals in ihrer nerodfen Erregung, im Fieber fogufagen, ganz unerwartet ihr Geheimnis offenbart, weil fle aus einigen feiner Außerungen fchließen zu muͤſſen glaubte, daß er ohnedies fchon alles wife.

Ste konnte nicht andere, als es ihm fagen: fie ſchaͤtzte Die koſtbare Gabe feiner Freundſchaft viel zu Hoch und wollte fi feine Achtung nicht erfchleichen. Er hatte ihe uͤberdies einen Antrag gemacht, ein Grund mehr für fie, offen und

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aufrichtig zu fein, Wei alledem fiel es ihre jet doch ſchwer anf Her; daß er um biefes Geheimnis wußte. Sie neigte verfhämt den Kopf und vermieb es, ihm in bie Augen gu fehen.

Er aber empfand es peinlich, daß er ihe fo zur Unzeit feinen ftillen Hoffnungen gefpeochen, bie dann durch erſchreckende Dffenheit fo jaͤh zerſtoͤrt ſchienen. Um feiner felbft wie um ihretwillen war es ihm peinlich.

Jedes von ihnen erriet, was in dem andern varging, und fie ſchwiegen.

„Haben Sie mir verziehen?” ſprach fie ſchließlich im tiefs Aingendem Fläfterton, ohne ihn anzuſehen.

„Ich Ahnen verziehen? Was denn?“

„Mies das, was Sie ertragen haben, Iwan Iwanowitich. Sie haben fi verändert, find abgemagert, haben ſich ges haͤrmt ich fehe das. Ich empfinde es als eine fchwere Strafe, daß ich Ihnen und Tantchen folden Kummer bes reitet habe.”

„Mein Kummer braucht Ste nicht zu beunruhigen, Wiera Waſſiljewna. Er gehoͤrt mir altein. Ich Habe mir ihn ſelbſt aufgeladen, und Sie haben ihn nur gelindert. Sie haben auch jet wieder an mich gedacht und mir gefchrieben, Daß Sie mich fehen wollen. Iſt das wahr?”

„Sa, es ift wahr, Iwan Iwanowitſch. Wenn Ste drei Tautchen, Sie und Bruder Boris mir genommen wärs den, ich könnte das Leben nicht länger ertragen.”

„Run und Sie reden von Kummer! Sehen Sie mic doch einmal an: ich meine, ich habe jet, in diefem Augen⸗ blick, gleich wieber an Kraft gewonnen !”

Er lächelte und feine Wangen röteten ſich in plöglicher feoher Erregung.

„Um fo ſchwerer,“ fagte Wiera, „empfinde ich das, was ich

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Ihnen allen angetan habe. Wenn ich daran denke, was Tantchen allein hat durchmachen muͤſſen!“ |

„Was denn? Ich wagte nicht, danach zu fragen...” Sie erzählte ihm alles, was in diefen lebten zwei Wochen vorgefallen war; nur das Geflänbnig, das Tatjana Mars kowna ihr gemacht hatte, verfchwieg fie.

Er erwartete mit Ungeduld, ob fie nicht von Mark fprechen würde. Doch fie fagte fein Wort von ihm.

„Wenn Sie nur recht Bald wieder die Ruhe Ihres Gemuͤts wiederfinden möchten!” fprach er nachdenklich. „Alles wird vergehen und vergeflen werden...”

„Vergeſſen vielleicht, aber nicht vergeben I”

„Niemand hat Ihnen etwas zu vergeben...” „Wenn auch die anderen vergeflen und mir vergeben ich felbft darf es nicht...” flüfterte fie und bielt in ihrer Rede inne. Ein ſchmerzlicher Ausdruck erfchten auf ihrem Geſichte.

„Ich begann ein wenig, mich zu beruhigen, gu vergeſſen ...“ fuhr fie fort. „Sett komme nun die Hochzeit, es gibt viel zu fun, das lenkte mich ab... und ich konnte wieder an andere Dinge denken .. .”

„Da kam eine Störung dazwiſchen?...“

„Ja ... Ich war geſtern fehr beunruhlst, und auch jest habe ich meine Ruhe noch nicht ganz wiedergefuns den. Die muß ich vor allem wieberfinden, wie Sie ganz richtig fagten. Ich dachte, es fei alles zu Ende... ad, wenn ich doch von hier fort koͤnnte!“ Er ſchwieg und blidte zu Boden, Der Ausbeud der Freude wich aus feinen Zügen.

„Iſt etwas vorgefallen ?” fragte er. „Bebürfen Sie nicht... itgendeines Dienſtes, Wiera Waſſiljewna?“

„Es iſt allerdings etwas vorgefallen.... Ihre Dienfte

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ra ————88888 „Sie meinen, ich eigne mich nicht? ...“

„Nicht Doch, das iſt es nicht... Ste wiſſen ja alles, leſen Sie diefe Briefe, die ich befommen habe.”

Sie nahm die beiden Briefe aus dem Schubfach und reichte fie ihm. Tuſchin las fie, und er wurbe wieder ganz fo bleich und mager, wie er bei ſeiner Ankunft geweſen.

„Ja, bier bin ich allerdings uͤberfluͤſſig, da können nur Sie allein...”

„Nein, Iwan Iwanowitſch, das kann ih eben nicht...“ Er fah fie fragend am.

„3 kann ihm weder bie zwei Worte ſchreiben, bie er ver; langt, noch ihn ſehen ...“

Er gewann wieder feine Faſſung, richtete den Kopf empor and ſah fie am.

„Eine Antwort aber muß ich Ihm geben: et wartet Dort, im Pavillon, oder er kommt hierher, wenn ich fie ihm nicht gebe... Und ich bringe es nicht Aber mid...“

„Was für eine Antwort?” fragte Tuſchin, während er wieder den Kopf neigte und auf feinen Stiefel blickte. „Sie fragen ganz fo wie Tantchen. Haben Sie nicht ges fefen? Er verheißt mir das Gläd, bietet mir feine Hand AU...“

„Ran und?”

„Nun und...” wiederholte fie in einem Tone, bet ein wenig gereist Hang. „Ich habe geftern verfucht, ihm ein paar Zeilen zu fehreiben. ‚Ich war mit Ihnen nicht gluͤck⸗ fih und werde es niemals fein, auch wenn wir ung heis taten, ich werde Ste niemals wieberfehen, leben Sie wohl !“ Sp wollte ich ihm ſchreiben doch ich vermochte es nicht, Ich wollte hingehen, es ihm felbft fagen und wieder forts

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gehen, doch die Beine verfagten mir den Dienft, ich ſank kraftlos nieder. Er weiß nichts von alledem, was ich Durchs gemacht habe, er meint, ich fei immer noch im Banne dieſer Leidenfhaft, darum hofft er noch immer und ſchreibt mir, Er muß unbedingt alles erfahren, und ich kann es ihm nicht fagen!... Ich wüßte auch niemanden, der es fonft tun könnte: Tantchen erplobierte förmlich wie ein Pulver⸗ faß, als fie diefe Briefe gelefen hatte... ich fürchte, fie halt das nicht aus... und ih...”

Tuſchin erhob fich plöglich und trat auf fie zu.

„Und da dachten Ste an mich: Tuſchin wird's aushalten, ber wird mir den Dienft ſchon leiſten . . dachten Ste, und darum riefen Sie mich iſt's nicht fo?”

Er ſtrahlte aber bag ganze Geſicht.

„Rein, Iwan Iwanowitſch, fo iſt e8 nicht. Ich rief Sie, um... Sie zu fehen in diefen Stunden banger Sorge, Menn Sie hier find, bin ich ruhiger.”

„Wiera Waſſiljewna!“ rief er ang, und das Rot kehrte wieder auf ſeine Wangen zuruͤck, er fuͤhlte ſich nahezu gluͤcklich.

„Sie dorthin zu ſchicken,“ fuhr ſie fort „nein, dieſe neue Kraͤnkung wuͤrde ich Ihnen nicht antun. Ich moͤchte Sie nicht Aug’ in Auge einem Menſchen gegenüuͤberſtellen, den Sie unmöglich fehen Können, ohne Ihren Gleichmut zu vers lieren ... Nein, nein!”

Sie fhüttelte den Kopf.

„Sie fprechen von Kraͤnkung, Wiera Waffilfewna . . .” Er wollte weiterfprechen, fand jedoch feine Worte und faltete nur wie bittend die Hände vor ihr. Seine Augen glänzten, als er fie jetzt fo anfah.

Voll Staunen und Dankbarkeit ließ ſie ihren Blie auf ihm ruhen ſchon dieſe kleine Ruͤdſicht, die der bloße Anſtand

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ihr gebot, dieſer Broden fhon machte ihn glüdlih, nach alledem, was vorhergegangen !

„Wie er mich liebt! Warum nur?.. .” dachte fie, und ein Gefuͤhl ſtiller Traurigkeit beſchlich fie.

„Kraͤnkung!“ wiederholte er. „Ja, wenn Sie mich mit dem Olzweig des Friedens zu ihm fenden wollten, wenn Sie mir zumuteten, ich folle ihn hier herauf holen vom Grunde bee Schlucht das würde mir wohl ſchwer fallen!... Eine folhe Taubenrolle wäre nicht nah meinem Ges ſchmack und doch würde ich fie übernehmen, würde Gie beide ausföhnen, wenn ich wüßte, daß Sie Dadurch glüd; lich würden ...“

„Das wuͤrde wohl Tantchen tun,“ dachte Wjera bei ſich „und auch meine Mutter taͤte es, wenn ſie noch lebte ... Daß aber dieſer Mann bereit iſt, ſein Gluͤck zu opfern, um das meinige zu begründen das iſt mehr als Groß⸗ mut!”

„Iwan Iwanowitſch,“ fagte fie, und die Tränen erſtickten faft ihre Stimme „ih glaube Ihnen, daß Ste auf dag tun würden! Aber ich. würde Sie nicht hinfchiden ...“ „Ih weiß das... obwohl Sie es ruhig wagen könnten, Do in Wirklichkeit würde es fich ja um etwas handeln, wobei ich ruhig In meiner Baͤrenrolle bleiben könnte: Ihn auffuchen, ihm die zwei Worte überbringen, die Sie ihm nicht fchreiben konnten das würde mich glädlich machen, Miera Waſſiljewna!“

Sie fohlug die Augen nieder. . „Nur dieſes Süd vermag ich ihm zu bieten für_alleg, was er für mich fuͤhlt! ...“ dachte fie. ar

Als er fie jegt fo betroffen fah, verlor er gleich wieder ben Mut: feine fiolge Haltung, dee Glanz feiner Augen, das Rot der Wangen alles ſchwand hin. Er bereute, feine

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Freude auf fo unvorfichtige Art gezeigt, fo vorgeitig das Wort „Gluͤck“ gebraucht zu haben.

„Nun babe ich wieder eine rechte Dummheit gemacht!“ dachte er, im ſtillen über fich ſelbſt ärgerlich. „Einen freunds ſchaftlichen Auftrag, für deffen Ausführung ihe fonft nies mand zu Gebote ſteht, betrachte ich ſchon als einen Ans fporn für meine Hoffnungen!”

Sie mußte diefe unerwartete Freude und dieſes „Slüd”, das er gebracht, als eine Wiederholung feines Liebes⸗ geftändniffes und feines Heiratsantrags anfehen, und dieſes felbftfüchtige Gefühl der Genugtuung darüber, daß fie mit Mark für immer brach, mußte ihn ihe in recht ſchlechtem Lichte zeigen.

As Wera ihn jegt fo ſah, erriet fie wohl, daß er zum iweitenmal vom Gipfel feiner Gluͤckshoffnungen abgeflürgt in fein glaubte. Ihr Herz, ihe weiblicher Inſtinkt, ihr Freundſchaftsgefuͤhl alles kam nun dem armen Tuſchin gu Hilfe, und fie beeilte fich, Ihm doch wenigſtens die eine Ausſicht zu laffen, die fie in ihrer Lage ihm gewähren fonnte: nämlich die Gewißheit, daß ihr Vertrauen und Ihre Hochachtung ihm noch Immer gehörten.

„sa, Swan Iwanowitſch, ich fehe nun, daß ich insgeheim doch immer auch in Diefer Angelegenheit auf Sie gerechnet babe, nur daß ich es mir felbft nicht eingeftehen mochte and es nie gewagt hätte, einen ſolchen Dienft von Ihnen iu erbitten. Wenn Sie jeboch ſich felbft großmuͤtig dazu erbieten, dann bin ich froh daruͤber und danke Ihnen. Niemand fcheint mir jegt fo fehr zu meinem Helfer berufen wie Sie, da niemanb mich fo fehr liebt wie Sie...” „Ste find zu guͤtig gegen mich, Wiera Waifiljemna... Doc es iſt wahre, was Sie ba fagen: Sie haben mein Wefen ganz Har erkannt ...“

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„iind wenn es Ihnen nicht peinlich ift, ihn gu ſehen ...“ fuhr fie fort. „rein, ich werde davon nicht In Ohnmacht fallen I“ un „dann gehen Sie Doch heute um fünf Uhr nach dem Pavillon und fagen Sie ihm...” Sie dachte nah, was er Mark fagen follte. Dann nahm fie einen Bleifift und ein Blatt Papier und fehrieb die zwei Zeilen genau fo nieder, wie fie fie ihm vorher muͤnd⸗ Lich hergefagt hatte. „Dos ift meine Antwort,” fagte fie und übergab ihm ben offenen Zettel. „Geben Sie Ihm das und fügen Sie, wenn Sie es für nötig halten, hinzu, was Ste wollen; Sie wiſſen ja alles...” | | Er ſteckte den Zettel in die Taſche. „Vergeſſen Sie das eine nicht,” fügte fie haſtig hinzu „Daß ich ihm feinen Vorwurf mache, feine Klage über ihn führe... alſo ...“ Sie zoͤgerte einen Augenblick. Er ſtand erwartungsvoll da. „Ihre Reitpeitſche brauchen Sie nicht mitzunehmen... .* fügte fie leiſe, faſt zur Seite fprechend, hinzu. „Das habe ich verdient,” fagte er mit einem ſchweren Seufzer. „Verzeihen Ste mir,” ſprach fie, ihm die Hand reichend „das follte kein Vorwurf fein, Gott behäte! Es fiel mie nur fo ein... Und vielleicht wird diefeß eine Wort Ste raſcher als irgendwelche lange Ausführungen daräber aufs Maren, was mein Wunſch iſt, wie ich dieſes Zuſammen⸗ treffen gern verlaufen ſehen moͤchte ...“ „Ich bin nur durch eins beunruhigt: daß Sie annehmen konnten, ih wuͤrde ohne dieſen Wink Ihre Wanſche nicht begreifen.. Serrihen Sie, Iwan Iwanowitſch, einer Kranken...” Er druͤdte herzlich die Hand, bie fie ibm reichte,

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Sechzehntes Kapitel

ach einer Weile kehrte Tatjana Markowna zuruͤck und

auch Raiſki fand fi ein. Tatjana Markowna und Tuſchin gerieten beide ein wenig in Verlegenheit, als fie einander begesneten: er wurde verlegen, weil er wußte, daß die Großtante von feinem Heiratsantrag unterrichtet war, und ihr fiel es peinlich auf die Seele, daß ihm Wierag Roman und bdeflen letzte Epifode befannt war. In feinen Augen lag etwas Wehmütiges, und aus ihren Worten wiederum fprach eine gewiffe Bangigkeit um Wera, gu der fich die Teilnahme an feinem eigenen Schidfal ges fellte. Es lag etwas Gezwungenes in ihrer Unterhaltung, auch dann, wenn fie fih auf ganz alltägliche Dinge bezog. Gegen Mittag jeboch hatten die alten, natürlihen Sym⸗ pathien wieder die Oberhand gewonnen, und fie konnten einander wieder, im Vertrauen auf bie gegenfeitigen aufs richtigen Empfindungen, offen in die Augen bliden. Immer näher und näher kamen fie einander, und wenn fie ſchwie⸗ gen, lafen fie in ihren Blicken, wie fie beide über dag Ge; ſchehene dachten, und verfianden einanber. Bis sum Wittageffen blieb Wiera beftändig in bee Gefells (Haft Tatjana Markownas fie fürchtete noch immer,

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daß bie Großtante irgendwelche Vorkehrungen getroffen haben könnte, um gu verhindern, daß Mark fich zu dem Stelldihein unten im Pavillon einfinde. Sie wollte auch nah dem Mittageſſen nicht von Tantcheng Seite weichen, damit fie nicht etwa in plöglicher Aufwallung ſich Doch noch nah der Schlucht begaͤbe. Sie erwartete, daß Tatjana Markowna auf Marks Briefe zu fprechen kommen wuͤrde; vor Tifch jedoch kam fie nicht mit einem Worte auf bie geftrige Unterredung zuräd, und nah Tiſch, als Naifli fih auf fein Simmer begeben hatte und Tufchin unter dem Vorwande irgendeiner gefchäftlihen Angelegenheit fort gegangen war, brachte fie das ganze Mägdesimmer auf die Beine, um das für Marfinkas Ausſteuer beftimmte Silberzeug, all bie Teekannen, Kaffeelannen, Praͤſentier⸗ teller uſw. einer gründlichen Neinigung gu untersiehen. Bon feiten der Großtante glaubte nun Wiera nichts bes fürchten gu muͤſſen, und fo begleitete fie in Gebanten Tus (hin nah dem Pavillon, „Wenn nur da unten nichts Schlimmes fih ereignet! Wenn doch endlich heute diefe Dual aufhörtel Was mag jet dort wohl vorgehen ?” dachte fie voll Unruhe, und bange Befhrchtungen ſtuͤrmten auf ihr Herz ein.

Dort aber ſchritt Tuſchin, genau eine Viertelflunde vor fünf Uhr, auf den Pavillon gu. Er hatte den Platz, wo biefer fand, früher wohl gekannt, doch war er offenbar ſchon lange nicht hier geweſen, benn er blickte fuchend nach rechts und links, ging dann auf dem kaum erfennbaren Fußpfad bald dahin, bald dorthin und konnte ben Pavillon gar nicht finden. Mitten im Didicht blieb er ſtehen und fuchte fich gu erinnern, wo eigentlich ber Pavillon wohl fiehen könnte. Voll Unruhe fpähte er nach allen Seiten ang, blickte nach der Uhr und fah, daß der Zeiger ſchon ganı

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nahe an voll war. Und weder ber Pavillon noch Mark war in Steht!

Ploͤtzlich vernahm er von ferne das Geraͤuſch haſtiger Schritte, und in bem niedrigen Nabelholz erfchien eine Ges ftalt, die bald aus dem Gruͤn emportauchte, bald wieder verſchwand.

„Das ſcheint er gu fein...” dachte Tuſchin, atmete zwei⸗ mal aus voller Bruſt auf, wie ein muͤdes Pferd, ſchuͤttelte einen neben ihm ſtehenden jungen Tannenbaum zweimal kraͤftig hin und her, ſteckte beide Haͤnde in die Taſchen ſeines Paletots und ſtand wie in den Boden gerammt da. Mark ſchoß wie aus einem Hinterhalt auf die Stelle los, an der Tuſchin ſtand, ſah ſich um und warb ſtarr, als er dieſen erblickte.

Sie maßen einander einen Augenblick und faßten dann nach der Muͤtze. Wolochow fah fih noch Immer hoͤchſt vers wundert um.

„Wo iſt denn bee Pavillon?” fragte er endlich laut. „Auch ich fuche Ihn und weiß nicht, nach welcher Richtung et liegt.“ |

„Rah welcher Richtung? Er ſtand doch hier an der Stelle, wo wir jeßt ftehen. Geflern morgen noch war er dba...” Beide ſchwiegen und wußten nicht, was mit bem Pavillon vorgegangen. Diefer aber war auf höchft natürliche Weiſe verfchwunden. Tatjana Markowna hatte Wiera die Vers fiherung gegeben, daß Mark fie „nicht im Pavillon” ev; warten würde. Schon zwei Stunden fpäter hatte fie ihre Anordnungen getroffen, um ihre Worte buchftäblich wahr gu machen: mit fünf Bauern aus dem Dorfe ſchritt Sſa⸗ welt} in ihrem Auftrage nach der Schlucht hinab, und unter ihren Beilen verfchwand ber Pavillon vom Erbboden, während die Balken und Bretter auf ihren Schultern nach

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dem Dorfe wanderten. Die legten Spuren, die Späne und Splitter, wurden auf Tatjana Markownas Geheiß son ben Weibern und Kindern befeitigt. Am nächften morgen war fie dann felbft mit Sfawelij, dem Gärtner und noch zwei Leuten felbft nach dem Plage gekommen, hatte diefe ebnen und mit Raſen bebeden laſſen, und ein paar junge Tannen und Kiefern, die fie einpflangen ließ, bie Stelle vollends dem umgebenden Walde nlich. her wird man ſchlau,“ dachte ſie dabei mit ſtillem bſtvorwurf. „Hätte ich den Pavillon damals ab; prechen laſſen, als Wierotſchka mir alles erzählte, dann arte ber Halunlke gleich gewußt, wie der Hafe Taufe, und ine nicht erft noch die verbammten Briefe geſchrieben!“ Der erriet denn auch jetzt ſogleich den wahren verhalt. Alte ſcheint alles zu wiſſen nur ſie kann auf dieſen Einfall gelommen fein,” dachte er. „Und Wiera hat ‚edel; g‘ gehandelt: fie hat ihr alles entdeckt !“ Er wandte fih nad Tuſchin um, nidte ihm gu und wollte gehen, doch bemerkte er den durchdringenden, eifig Falten, ſtahlharten Blick des andern. „Ste geben wohl hier ein bißchen ſpazieren ?“ fragte er. Barum ſehen Sie mic denn fo an? Sie find wohl oben Beſuch?“ ich bin zu Beſuch da, aber ich gehe hier nicht bloß ſpa⸗ teren, ſondern ich wollte Sie treffen,” fagte Tuſchin sroden, doch Dabei hoͤflich. Rich?“ fuhr Wolochow lebhaft heraus und ſah Tufchin feagend an. „Was bedeutet dag?” dachte er. „Hat er viel, feicht auch von der Sache erfahren ? Es ſcheint, daß er zu Wieras Verehrern gehoͤrt. Will dieſer Othello aus der

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Wildnis hier vielleicht ein Drama aufführen: lechzt er nach Blut, nah Blut?“

„Ya, Ste,” wiederholte Tuſchin. „Ich Habe einen Auftrag an Sie auszurichten.“

„Bon wem? Bon der Alten?”

„Bon welcher Alten ?“

„Ra, von der Bereſchkowa; von welcher denn font?” „Nein, nicht von ihr.”

„Alſo wohl von Wera?” fragte Mark faft erfehroden. „Bon Wera Waffiljewna, wollen Sie fagen ?”

„Run, meinetwegen von Wiera Waſſiljewna. Was macht fie denn ? Iſt fie gefund? Was laͤßt fie mir denn fagen ? 24 Tuſchin reichte ihm ſchweigend Wieras Zettel. Mark übers flog ihn raſch, fledte ihn nachlaͤſſig in die Tafche feines Daletots, nahm darauf die Müge ab und fuhr fih mit den Händen durchs Haar. Er war offenbar bemüht, feine Berlegenheit, feinen Echmerz und b Srger vor Tuſchin zu verheimlichen.

„Ste... wiſſen alles?” fragte er.

"Seflatten Ste, daß ich Ihnen die Antwort auf biefe Frage ſchuldig Bleibe und meinerfelts frage, ob Ste auf den Zettel da irgendeine Erklärung abzugeben haben ?”

„Ich werde dir fonft etwag geben, aber feine Erflärung !” dachte Mark und fagte dann laut, in kühlem Tone: „Ich babe nichts zu erklären.”

„Aber Sie werben natürlich ihre Bitte reſpektieren, werben fie nicht mehr beunruhigen, fich ihr nicht mehr In Erinnes tung bringen?... Sie werben nicht mehr fehreiben noch fih Hier in ber Nähe geigen?. . .”

„Was geht Sie das an? Sind Sie ihr erflärter Braͤuti⸗ gam, daß Ste diefe Fragen fiellen ?”

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„sh brauche, um Ihren Auftrag auszurichten, nicht ihr Bräutigam zu fein es genuͤgt, daß ich ihr Freund bin.” „And wenn ich nun Doch fchreibe und boch hierher komme was dann ?” fragte Wolochow aufbraufend, mit einem Stich ing Herausfordernde.

„Ich weiß nicht, wie Wiera Waſſiljewna das aufnehmen wird. Wenn fie mir dann wieder einen neuen Auftrag gibt, werbe ich wieder tun, was die Situation erfordert.” „Bas für ein treuer und ergebener Freund Sie doch find!” fagte Mark mit Ironie.

Tuſchin fah ihn ein Weilchen ernft und eindringlich an. „sa, Ste haben recht, der bin ich in ber Tat,” fagte er dann ruhig, und gleich darauf fügte er Hinzu: „Vergeſſen Ste nicht, Here Wolochow, daß Sie jetzt nicht mit Tuſchin ſprechen, fonbern mit jemandem, ber im Auftrage einer Dame hier iſt. Ich nehme hier gleichfam die Stelle biefer Dame ein und werde demgemäß fprechen und handeln, was Sie auch fagen mögen. Ach dachte, auch Ihnen würde es genügen gu wiſſen, daß fie von Ihnen nicht mehr bes unruhigt zu werden wuͤnſcht. Sie beginnt eben erft wieder, nach einer ernfihaften Krankheit gu fih zu kommen...” Mark war ſchweigend auf bem Raſen hin und her gegangen und frat bei ben legten Worten auf Tufchin zu.

„Was bat ihr gefehlt?” fragte er faft weich.

Tuſchin ſchwieg.

„Verzeihen Sie nur ich bin etwas aufgeregt, obſchon ih weiß, daß das dumm iſt ... Sie ſehen, ich Bin... wie im Fieber ...“

„Das tut mir ſehr leid; jedenfalls wird auch Ihnen dann Ruhe not tun... Werben Sie auf ben Zettel irgendeinen Beſcheid geben 2”

Marf wollte ihm noch immer nicht Rebe ſtehen.

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„Ich werde felbft antworten, werbe fchreiben .. .”

„Sie wänfht ganz ausdrädlih, daß Sie dies nicht tun ſollen und ich kann Ihnen mein Ehrenwort darauf geben, daß fie nicht anders handeln kann... Sie iſt krank... ihe Gefundheitssuftand erfordert vor allem Ruhe, die aber wird ihr erft werben, fobald Ste fih Ihr nicht mehr in Er⸗ innerung bringen. ch wiederhole nur, was mir gefagt worden ift, und gebe nur wieder, was ich ſelbſt ſah...“ „Sagen Sie ohne Zweifel wuͤnſchen Sie doch ihr Beſtes?“ verfegte Wolochow.

„Allerdings.“ „Ste ſehen, daß fie mich liebt, fie hat es Ihnen geſagt...“

„Rein, das fehe Ich nicht, und fie Hat mir auch nichts von Uebe gefagt, fondern fie hat mir nur diefen Zettel gegeben und mich gebeten, zu beftätigen, daß Sie fie nicht fehen kann noch fehen will, und daß fie ebenfo wenig Briefe von Ahnen zu empfangen wünfcht.”

„Wie abgefhmadt fich felbft fo gu quälen, und noch einen anderen dazu!“ fagte Mark, während er feinen Fuß in die lodere, erfi am Morgen aufgefchättete Erde bineinbohete. „Ste könnten fie von biefer Dual, von aller Krankheit und Entkräftung... kurz, von allem... erlöfen, wenn Sie wirklich ihr Freund fein wollten. Die Alte hat den Pavillon Hier verfchwinden laſſen mit ber Leidenfchaft aber wird ihre das nicht gelingen, und bie Leibenfchaft wird Wiera zerbrechen... Sie fagten doch ſelbſt, daß fle kant fi...”

„ch fagte nicht, daß Ihre Krankheit von ber Leibenfchaft berrähre . . .“

„Wovon denn fonft?”

„Davon, daß Sie ihr fohreiben, daß Ste bier auf fie warten, daß Sie Ihe Ihren Beſuch oben androhen. Das alles iſt

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ie unertraͤglich und das allein follte ih Ihnen aus⸗ richten.“

„Sie fpricht nur fo, während fie in Wirklichkeit... .“ „Sie fpricht ſtets die Wahrheit.”

„Barum bat fie nun gerade Ihnen diefen Auftrag ge⸗ geben?“ fragte Mark ploͤtzlich.

Tuſchin ſchwieg.

„Ste ſchenkt Ihnen Vertrauen, Sie ſollten Ihr alſo Hars machen, wie töricht es iſt, feinem Gluͤcke zu wiberfireben. Sie wird es dort oben in ihrer Vereinfamung nicht finden... Raten Ste ihr, fie folle fich felbft und andere nicht quälen, fuhen Sie diefe Tantenmoral in ihr in erſchuͤttern es Überdies habe ich ihr ja vorgefchlagen ...“

„Wenn Sie fie wirklich verſtanden hätten,“ fiel Tufchin ihm ins Wort „Dann müßten Sie wiflen, daß fie zu denjenigen gehört, denen man nichts Harmachen, nichts raten kann. Und was die ‚Tantenmoral‘, wie Sie fih auszudruͤcen bes lieben, anbelangt, fo finde ich ed nicht für notwendig, bie zu erſchuͤttern, da ich mich felbft gu diefer Moral bekenne.“ „Ah fo! Sie find ein vortrefflicher Diplomat und wiſſen die Aufträge, die man Ihnen gibt, fehr gefchidt auszu⸗ führen,” ſagte Mark in gereiztem Tone.

Tuſchin beobachtete ihn fchweigend und wartete ruhig ab, bis er freiwillig oder unfreiwillig ihm die erwartete Antwort geben würde.

Diefe ſchweigſame Ruhe verfeute Mark in eine wahre Wut. Die Befeitigung des Pavillons und das Erfcheinen Tus fing in der Rolle eines Vermittlers legten Ihm den Schluß nahe, daß feine Hoffnungen zu Ende feien, daß Wiera num nicht laͤnger ſchwanke, fordern feſt entfchlofien ſei, ihn niemals wiedersufehen.

Almählih daͤmmerte in ihm das druͤckende Bewußtſein,

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daß, wenn Wera litt, jedenfalls nicht die Leidenfhaft für ihn daran ſchuld war fonft hätte fie fich nicht ber Groß⸗ tante, und noch weniger Tufchin entbedt. Er hatte au früher ſchon ihren hartnädigen Trog kennen gelernt, den auch nicht bie Leidenfchaft zu brechen vermochte hatte, und fo hatte er, wenn auch wibderwillig, ihr nachgegeben und fih bereit erklärt, fie gu heiraten und noch eine Zeitlang, folange feine Leidenfchaft vorhalten würde, keinesfalls jes Doch für immer, in ber Stadt zu bleiben. Er war von ber Nichtigkeit feiner Anſichten über die Liebe feſt Aberzeugt und fah voraus, daß fie über kurz oder lang für beibe Teile auf gleiche Weife enden wuͤrde: fie wuͤrden fich gegenfeitig auf dem Halfe liegen, folange es eben dauert, und dann ... Er dachte nicht weiter darüber nach, was dann fein wärbe er hoffte, daß Wiera mit der Zeit felbft von ber Tantens moral ablommen würbe, fobald erſt bie Abkühlung eins getreten waͤre.

Run fehlen aber auch biefes Opfer von feiner Seite fein Anerbieten, Wiera zu heiraten vergeblich geweſen gu fein. Man nahm es eben nicht an. Er war nicht gefährlich, war einfach überflüffig. Man wies ihm die Tür. Er litt in dieſem Augenblick felbft jene Innere Dual, über die er fih noch vor kurzem Iuflig gemacht hatte, an die er nicht hatte glauben wollen. „Das ift nicht logiſch!“ mußte er fih fagen.

„Ich weiß nicht, was ich tun werde,” fagte er, immer noch feinen Stolz zue Schau tragend „und Ih kann Ihnen auf Ihre diplomatifche Sendung keinen Beſcheid geben. Sm den Pavillon werbe ich natuͤrlich nicht mehr kommen, denn er exiſtiert ja nicht mehr ...“

„Auch Briefe werden Sie nicht mehr ſchreiben,“ antwortete Tuſchin ſtatt feiner „fe werben einfach nicht angenommen

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werben. Und auch Ins Hans werben Ste nicht kommen, man wird Sie nicht empfangen...” „Wer wirb mich nicht empfangen Sie?” verſetzte Marf boshaft. „Sie werben wohl bag Haus bewachen?“ „Sewiß, wenn Wiera Waſſiljewna es wuͤnſcht. Im übrigen hat das Haug ja feine Herrin, und die hat ihre Domeſtiken. Doc ich nehme an, daß Sie felbft wiffen werben, was ber Anftand verlangt, und was Sie ber Ruhe einer Frau ſchuldig find...” „Was für ein Bloͤdſinn, weiß ber Teufel!” bruͤllte Mark förmlich heraus. „Was für Feſſeln fih doch die Menfchen ans legen ... mit Gewalt wollen fie die Märtyrer fpielen!.. .” Er fuchte noch immer feine Haltung zu bewahren und fi einen guten Abgang zu fihern, indem er fih das Recht vorbehielt, auf Tuſchins Fragen feine Antwort gu geben. Aber Tuſchin wußte bereits, daß Mark keinen andern Aus⸗ weg hatte, als fich zu fügen. Und auch Mark gab fih nicht länger feiner Selbfttäufhung hin und trat allmählich den Ruͤckzug an. „Ich reife bald ab,” fagte er „in etwa einer Woche... Könnte Wiera ... Waſſiljewna mie nicht noch eine Zus ſammenkunft bewilligen, nur für einen Augenblid?. . .” „Rein, das kann fie auf keinen Fall fie iſt krank.“ „Nimmt fie Yernei 2” = befte Arznei für fie iſt, daß Sie fie vollklommen in Ruhe en ...“ „Ich traue Ihnen nicht recht,“ fiel Mark ihm giftig ins Wort „es ſcheint, Sie ſind ihr gegenuͤber nicht ganz gleichguͤltig... Tuſchin ſprach kein Wort, ſondern ſchuͤttelte nur unwillkuͤr⸗ lich den Stamm der jungen Tanne. Er ſuchte ſich in Marks Sage zu verſetzen und erriet ſehr wohl, wie ſehr Schmerz

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und Zorn ihn bewegen mußten. Er beherrfchte fih, um Mark auf feine boshaften Ausfälle nicht mit gleicher Muͤnze su dienen, und hegte nur noch die Befürchtung, daß jener in hochmuͤtigem Trog, von feiner noch nicht ganz vers tauchten Leibenfchaft getrieben, den Verfuch machen könnte, Wiera zu fehen oder ihe gu fhreiben und ihre Ruhe gu fiören. Er wollte jedenfalls alle Verfuche dieſer Art für immer unmöglich machen.

„Sie trauen mir nicht,” faste er „aber Sie haben doch den beften Beweis in ber Tafche. . .”

„Ste meinen den Zettel? Der hat nichts gu bedeuten. Die Leidenfchaft ift wie dag Meer heute herrſcht Sturm und morgen Windſtille... Vielleicht bedauert fie ſchon jet, dag Sie fie hergeſchickt hat...”

„Dasglaubeihdochnicht; fiehätte eine ſolche Meinungsändes zung fiber vorausgefehen und mich nicht hergeſchickt. Ich ſehe, daß Sie fie gar nicht kennen. Im übrigen babe ih Ihnen ja alles gefagt Sie werben natürlich ihre Wuͤnſche reſpek⸗ tieren ... Ich beftehe nicht mehr auf einer Antwort...“ „Ich gebe auch Feine Antwort. Ach reife ab...”

„Das eben iſt bie Antwort, bie ihr genehm Ifl...” . „Richt ihe, fondern Ihnen, und vielleicht noch dem roman⸗ tiſchen Herrn Raiſki, und ber Großtante ...“

„Ja, das kann ſchon ſein und vielleicht auch der ganzen Stadt! Ich übernehme Wiera Waſſiljewna gegenüber bie Buͤrgſchaft dafür, daß Sie auch wirklich prompt Wort halten werben. Leben Sie wohl!”

„geben Sie wohl... ebler Ritter...”

„Wie?“ fragte Tuſchin mit leichtem Stienrungeln.

Mark, ber ganz bleich war, fah zur Seite. Tufchin faßte mit der Hand leicht an bie Müte und ſchritt bauen, während Mark noch immer auf dem Plage ſtand.

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Siebzehntes Kapitel

ark war ergrimmt darüber, daß fein Abgang fich ſo ! wenig pompoͤs, fo Häglich geſtaltet hatte weit Häglicher, als er felbft einmal Raiſkis Abgang ausgemalt hatte. Sein Roman hatte bort unten auf dem Grunde der Schlucht geendet, die er nun verlaffen follte, ohne fi auch nur umzuſehen. Kein Bedauern, Fein Wort des Abſchieds geleitete ihn wie ein Feind wurde er hinaus⸗ befoͤrdert, und obendrein wie ein ſchwacher Feind, den man nicht fuͤrchtete, den man vergeſſen hatte, ſobald er hinter der naͤchſten Anhoͤhe verſchwunden war. Wie war das nur moͤglich geweſen? Er war doch an nichts ſchuld und doch verweigerte man ihm eine letzte Zu⸗ ſammenkunft: nicht, als ob man irgendeine leidenſchaft⸗ liche Aufwallung befuͤrchtete, ſondern einfach ſo, weil man ihn fuͤr erledigt hielt. Und um der Sache einen fuͤr ihn recht verletzenden Anſtrich zu geben, waͤhlte man einen anderen zum Vermittler. Und dieſer andere ſtellte ſich ihm als Bevollmaͤchtigter Wijeras vor, und ohne die Grenzen des Anſtandes zu über, ſchreiten, geleitet er ihn mie allen Vorſichtsmaßregeln zur Tür hinaus, wie man einen Gaſt binausgeleitet, der ſich

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ungebührlich beträgt, oder einen Dieb, ben man auf frifcher Tat abgefaßt Hat: Türen und Fenſter werben gefchloffen, und der Hund wird von ber Kette gelaflen. Von ber Herrin des Haufes, von den Domeſtiken hatte Tuſchin ges fprochen, es hatte nur gefehlt, daß er den Polizeibuͤttel nannte.

Daran trug Mark nun allerdings, wie er gern zugab, fetbft die Schuld die Normen und Formen feiner Lebens⸗ führung, die er felbft für frei und vernünftig hielt, und die fouveräne Verachtung, bie er aller hergebrachten Ord⸗ nung gegenüber an ben Tag legte, mußten in dieſem Neſte den Unwillen aller Philiſter erregen.

War dies vielleicht der Grund, daß Wiera ſich ihrer Leidens ſchaft fuͤr ihn ſchaͤmte? Suchte ſie nun, nachdem ſie ſich vergeblich bemuͤht, ihn zu einer Anderung ſeiner Gewohn⸗ heiten zu beſtimmen, von ihm abzuruͤcken, wie man von einer unangenehmen Bekanntſchaft abruͤckt, die man zu⸗ faͤllig gemacht hat? Durch einen Dritten ließ ſie ihm ſagen, daß ſie mit ihm nichts mehr zu tun haben wolle, und dieſer Dritte achtete feiner kecken Herausforderung nicht, ſondern beherrſchte ſich, blieb in den Grenzen ber Höflichkeit, weil er offenbar in Wjeras wie in feinem eigenen Intereſſe jede peinlihe Szene mit Ihm, dem unanftändigen Kerl, vermeiden wollte. Und zu alledem follte er noch eine Antwort geben und zwar gerade biefe eine, augfchließliche Antwort, die diefer Mitter und Diplomat, beffen kalte Hoͤf⸗ lichfeit ee fo peinlich empfand, ihm biftiertel Und er hatte, trotz aller Wintelgüge und Ausfluͤchte, in der Tat biefe Antwort gegeben.

Aber welchen Entfhluß auch Miera gefaßt Haben mochte, auf jeden Fall hätte fie angefichts deſſen, was zwiſchen ihnen gefchehen, ihm, wenn fie wirklich krank war und I 4

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nicht zu dem Stelldichein kommen konnte, doch bie Grände ihrer Entfchließung brieflich mitteilen müffen. Mag immer; hin die Glut ihrer Leidenfchaft verraucht fein, fo konnte fie. doch In aller Sreundfchaft von ihm Abfchied nehmen, fonnte ihm fagen, daß die ungemiffe Zufunft an feiner Seite fie surüdfchrede, daß feine Meltanfchauung ihr als ein uns Aberfteisbares Hindernis Ihrer Vereinigung erfcheine. So wären fie wenigfteng in gegenfeltiger Achtung voneinander gegangen aber num fchidt fie ihn fo nichtachtend fort, ale ob fie es für überflüffig hielte, ihn noch eines legten Mortes zu würdigen, als ob er irgend etwas Schlimmes verbrochen hätte... Was hatte er denn getan? Er rief fih bie legte Begegnung mit Ihre ins Gedächtnis zuruͤck und er konnte durchaus keine Schuld an fih ent, decken.

Er war im Recht, unbedingt im Recht; was ſollte dieſe ſchroffe, ſtumme Trennung? Sie hatte ihm doch wohl keinen Vorwurf zu machen, etwa im Sinne der Leute alten Schlages... Nein!... Und nun hatte er gar noch dieſes felbftlofe Opfer gebracht, hatte auf feine Tätigkeit verzichtet und fi bereit erflärt, fie gu heiraten! Warum nun dieſer Dolchſtoß, dieſer lakoniſche Zettel flatt eines freundfchafts lichen Briefes, biefer vermittelnde Freund flatt ihrer ſelbſt?

Ja das war ein Dolchſtoß, der ihn tief verletzte. Ein kalter Schauer durchlief ihn vom Scheitel bis zu den Zehen. Doch welche Hand hatte den Stoß gefuͤhrt? Stedte viel⸗ feicht die Alte dahinter? Nein, das ſah Wiera nicht aͤhn⸗ lich die brauchte fich nicht belehren zu laſſen. Alfo hatte fie aus eigenem Antriebe gehandelt. Doch warum fat fie ihm dag an, was hatte er verbrochen ?

Langſam ging Markt auf den Zaun gu, Hetterte laͤſſig

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hinauf und blieb, während feine Beine herunterbaumelten, oben figen. Eine ganze Weile faß er da oben, ohne abzu⸗ fpringen, und fuchte fih die Frage zu beantworten, was er denn eigentlich getan habe.

Er erinnerte fih, wie er beim legten Sufammentreffen fie hoͤchſt ehrlicher Weile auf alles aufmerkſam gemacht habe. „Merk' bir, daß ich bie alles vorhergefagt habe,” bag etwa war ber Sinn feiner Worte gemefen. „Und wenn du nad allem, was ich dir gefagt, noch die Arme nah mir aus⸗ ſtreckſt, dann bift du mein die Schuld aber trifft nicht mich, fondern dich ...“

„Das ift Doch vollkommen logiſch!“ fprach er faft laut vor fih Hin. Und plößlih war es ihm, als ob ein boͤſer Qualm und Peflgeruch von der Erde zu ihm emporftiege. Er fprang vom Zaune auf den Weg hinab ohne fih umzuſchauen, ganz fo wie bamald...

Er erinnerte fich weiter, wie er fie hier an bdiefer Stelle allein zurädgelaffen hatte, gleihfam im Moment der Ges fahr, über dem Abgrund hangend. „Ich gehe jetzt,“ hatte er ihr in feiner Ehrlichkeit gefagt, und er ging; doch wandte er fih um, und ale fie ihm jenes verzweiflungsvolle, ner⸗ voͤſe Lebewohl nachrief, da hatte er es fo verflanden, als rufe fie ihn, und war zu ihre zuruͤckgeeilt ...

Diefe erſte Antwort anf feine Stage, was er denn getan habe, faufte auf fein Haupt wie ein Hammerſchlag nieber. Er fchritt weiter und weiter der Dolch aber, der Ihm im Herzen faß, drang fiefer und tiefer. Sein Gedaͤchtnis, dag er zu Hilfe rief, brachte ihm die Tatſachen ber lebten Zage in Srinnerung.

„Es iſt eine Unehrlichkeit, fih Acchlich trauen gu laſſen, wenn man von ber Trauung nichts Halt,“ Hatte er ſtolz gu Ihr gefagt. Er hatte von der Zeremonie, von dem Bunbe

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fürs Leben nichts willen wollen, glaubte den Sieg au ohne dieſes Opfer erringen gu können und nun hatte er ihr felbft die Vollziehung biefer Zeremonie vorgeſchlagen! Sy wenig Vorausficht hatte er bewiefen! Er hatte Wera nicht zur rechten Zeit zu fchägen gewußt, hatte fih von ihr abgewandt, ihe ſtolz den Rüden gelehrt um num auf einmal, nur wenige Tage fpäter, ihren ganzen Wert zu erkennen ...

„Das haft du getan!” gab eine Stimme ihm zur Antwort, und wie ein neuer Hammerſchlag faufte das Wort auf ihn nieder,

„Die Logik und die Ehrlichkeit follten die gleichfam als Schutzwaͤnde dienen, hinter denen du dich mit Deiner neuen Keaft verftedft,” fagte ihm fein von dem Rauſche der Selbfts liebe ernüchtertes Bewußtſein. „Du haft es einem ſchwachen Weibe überlaffen, ganz allein dafür zu büßen, baß ihr euch beide fortreißen ließet, haft ihr ſchlankweg erklärt, du wärs deft deiner Wege gehen und dich um feine Pflichten und Srundfäge befümmern, haft ihren ſchwachen Schultern zus gemutet, diefe Bürde ganz allein zu fragen...

„Du warft nicht fo ehrlich, fie zu fchonen, als fie kraftlos ſtrauchelte, warſt nicht ſo logiſch, deine Leidenſchaft zuruͤck⸗ zudaͤmmen, ſondern ließeſt ihr die Zügel ſchießen, um dann nachträglich, was wiederum fo recht unehrlich war, dich dem Brauche, ben deine Vernunft verwarf, gu unterwerfen, im felben Augenblid aber fchon wieder an die Trennung zu benfen. Du haft fie gelodt, genarrt und ſchließlich ſelbſt fapituliert. Das iſt's, was du getan haft!” droͤhnte zum brittenmal der Schlag des Hammers auf Ihn nieder. „Einen Wolf hatte fie dich oͤfters im Scherz genannt,” fprach weiter die Stimme in feinem Innern „und jegt wird fie, wenn fie an dich denkt, nicht nur das Bild bes

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gierigen Wolfes, ſondern auch das bes lifiigen Buches und des auf alles losbellenden, alles grimmig anknurren⸗ den Hundes vor Augen haben, vom Menfchen jeboch wird fie nichts, rein gar nichts in dir fehen! Was file dort aus der Schlucht mit hinaufgenommen, iſt nichts als Dual und Pein, eine Pein fürs ganze Leben, die feine Linderung fennt, und verzweifelnde Meue darüber, daß fie fo Blind fein konnte, daß fie dich nicht laͤngſt durchſchaute, daß fie fih hinreißen ließ, fih vergaß!... Ja, triumphiere nur fie wird dich nie vergeffen !”

Er begriff nun alles: ihren lakoniſchen Zettel, ihre Kranks heit und das Erfcheinen Tufchins dort auf dem Grunde der Schlucht, flatt Ihrer ſelbſt.

Leontij Koslow fah ihn noch einmal in jenen Tagen und erzählte Raiſki, Wolochom ſei zunaͤchſt für einige Zeit zu einer alten Tante im Gouvernement Nowgorod gereift, Er habe dann wieder als Junker ind Heer eintreten und fih nach dem Kaukaſus verfegen laſſen wollen.

EEDD

DIDIDIDIDIDS

Achtzehntes Kapitel

A unterhielt fih an diefem ganzen Abend feht angelegentlich mit Tuſchin. Ste traten einander jet erft perfönlich näher, und der Eindrud, dem ſie beide von⸗ einander hatten, war ein fo gänfliger, daß fie mit dem Wunſche fchteden, ſich recht bald näher zu befreunden. Tuſchin Ind Raiſki ein, doch für acht Tage nad feinem Waldgute zu kommen und fi dort fein Dampfſaͤgewerk wie überhaupt feine ganze Waldwirtfehaft anzuſehen. Rſaiki wollte jedoch vorher das Porträt Wjeras beenden und ſchlug das Anerbieten aus. Am nächften Morgen hörte er, als er erwachte, draußen im Hofe den Hufſchlag eines Pferdes. Er blidte zum Fenſter hinaus, ſah Tuſchin eben auf feinem Rappen davonreiten und verfpürte ploͤtzlich den lebhaften Wunfch, fih ihm anzufchließen.

„Swan Iwanowitſch!“ rief er durch dag offene Luftfenfter in den Hof hinaus „Ich reite mit Ihnen! Wollen Sie ein Viertelftündchen warten, bis ich angezogen bin?” „Sehe gern,” verfeßte Tuſchin und ſtieg fogleih aus dem Sattel. „Eilen Sie nicht fo fehr, Ich warte, und wenn’s eine Stunde dauert!”

Er begab fih nach Naiffis Zimmer. Tatjana Markowna

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und Wiera hatten ihe Gefpräch gehört, sogen ſich raſch an und baten fie, doch mit ihnen gemeinfam den Tee ein, zunehmen. Beim Tee drängte dann Tatjana Markowna, fie follten wenigftens bis zum Srühftüd bleiben, und ents warf ein fo üppiges Menuͤ, daß die beiden Herren ihr droh⸗ ten, fogleich aufzubrechen, wenn fie es nicht bei einem eins fachen Beefſteak bewenden laſſe. Dem Beefſteak ging ein reihliher Imbiß voraus, während ein Filchgeriht und eine Wildbretſchuͤſſel folgten. Auch eine füße Speife follte noch aufgetragen werden, Doch da erhoben ſich die beiden vom Tiſch und verabſchiedeten fih, eine baldige Wiederkehr verfprechend. |

Man fattelte ein Pferd für Raifft, und Tatjana Markowna fhidte einen ganzen Wagen mit Gefchenten für Tuſchins Schwefter hinter ihnen drein. Statt um acht Uhr, wie fie beabfihtigt hatten, waren bie beiden Meiter erft nach sehn vom Hofe gekommen und beftiegen eine halbe Stunbe fpäter Tuſchins Fähre, die fie über ben Strom brachte. Iwan Iwanowitſch verhielt fih in der Unterhaltung mit Tatjana Markowna und Maifki, auch als er mit biefem zu Haufe angelommen war, auffallend fill und zuruͤck⸗ haltend. Wera wurde von Ihnen nicht mit einem Worte erwähnt; jeder von ihnen wußte, daß ihr Geheimnis dem andern bekannt war, und um einander peinliche Empfin; dungen zu erfparen, brachten fie ihren Namen überhaupt nicht über die Lippen. Raiſki zumal vergegenwärtigte fich, welche Rolle Tufchin In dieſem Drama ber lebten Wochen gefpielt hatte, und was er gelitten haben mußte. Bon bem Yugenblid an, da er hiervon Kenntnis erhalten, war jebe eiferfüchtige Negung gegenüber Tuſchin bei Ihm verſchwun⸗ den. Er begann ihn mit einer gewiffen Neugier zu beobachten, und als Wera ihm dann alles erzählt hatte, empfand er

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achtungsvolle Teilnahme, ja fogar Bewunderung für ihn. Diefe Bewunderung wuchs in bem Maße, wie Raiſki ben Freund Wieras näher kennen lernte. Geine Phantaſie leiſtete ihm auch hier den gewohnten Dienſt: ſie ſtellte ihm Tuſchin im hellſten Lichte dar, ohne im uͤbrigen aus ihm irgendein romantiſches Ideal zu machen, wozu ſich der ſchlichte, offenherzige, nuͤchtern denkende Tuſchin auch recht wenig eignete. | Eine Woche wohl blieb Raiſki auf Tuſchins Waldgute Dymka, und er hatte reichliche Gelegenheit, ihn im Haufe, in Feld und Wald, in feinem Sägewerk und im Verkehr mit feinen Leuten zu beobachten. Ganze Nächte brachte er om Kamin In feinem Kabinett plaudernd mit ihm WM, und er lernte ihn feinem ganzen Wefen nach fennen, wun⸗ derte fih wohl über manchen Zug an ihm, flaunte aber vor allem über den Scharfblid und die feine Menſchenkennt⸗ nis Wierag, die den inneren Wert des (lichten, ganzen Mannes erkannt und ihm in ihrer Sympathie einen Platz neben der Großtante und Marfinka angemiefen hatte. Diefe Sympathie hatte fogar In der Gluͤhhitze ber Frank; haften Leidenfchaft, von der fie während diefer ganzen Zeit befallen gewefen, ftandgehalten, während fonft zumeift alle Suneigungen und Freundfehaften von einem folhen Seelen, brande ſchonungslos vernichtet werben. Ihre freundichafts lichen Gefühle für Tuſchin waren frifh und flark geblieben, was In Naiffis Augen mehr als alles andere zu feinen Sunften ſprach.

Wiera hatte inſtinktiv gefühlt, daß diefe Kraft, die fie in Ihm kennen und Tieben gelernt, etwas allgemein Menſch⸗ liches hatte, wie auch ihre Vorliebe für ihn weniger ben Charakter perfönliher Neigung als vielmehr einen ‚Zug ins Allgemeine, im eblen Sinne Menfchliche beſaß.

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Was fie zu ihm hinzog, war nicht die finnliche Leibenfchaft, die nicht vom Bewußtſein und Willen beſtimmt wird, fondern von irgendeinem dummen, eine niedrige vitale Funktion erfüllenden Nero fo hatte Raiffi ſich Die Sache zurechtgelegt. Es war auch nicht Tediglih Breundfchaft, was fie mit Ihm verband, obſchon fie ihn ihren Freund nannte: fie erwartete von ihm feinen jener Dienfte, bie fonft nur gu leicht einem Freunde zugemutet werben. Sie hatte Tuſchin Tediglih als Menfchen liebgemonnen, als Menſchen ſchlechtweg, wie fie Raiffi fhon damals, beim erften Zufammentreffen der beiben, erflärt hatte.

Raiffi fand alles, was er von Wiera über Tufchin gehört, durch feine eigne Beobachtung In vollem Maße beftätigt. Sein Drang zu analyfleren, ber ihn fo ficher und zuverlaͤſſig alles Raͤtſelhafte, alles mit Außerem Schimmer und fars biger Pracht Ausgeſtattete in ben menfchlichen Charakteren richtig erfaflen lehrte, trat gegenüber biefer einfachen, offenen Perfdönlichkeit, die fo gar nichts von Schimmer und Farbenpracht an fich hatte, hinter dem Gefühl natuͤr⸗ licher Zuneigung zurüd,

Es war gebiegenes Edelmetall, was er hier vor fih ſah ein Menfch, der nicht nur pflihtgemäß von allen ihm Naheftehenden, von Gattin und Mutter, von Bruder und Schweſter, fondern überhaupt von jedermann um feiner menfchlichen Eigenfchaften willen geliebt zu werben vers diente.

Mit ſteigender, faſt naiver Verwunderung hörte und fah Ihn Raiſki, beobachtete ihn bei feiner Tätigkeit, wie er in ber Wirtſchaft feine Anordnungen traf, wie er mit den Leuten feiner Umgebung, ben Bauern, den Arbeitern, bem Kontorperfonal verkehrte, wie er, fobald es nottat, mit ihnen zuſammen Hand anlegte und faft wie einer ber Ihrigen

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erſchien. Es fette Ihn In Erfiaunen, wie fih in feinem Weſen der anfcheinend fchroffe Gegenfag zwiſchen einer gewiffen Weichheit im Verkehr und einer faft pedantifchen Beftimmtheit im Handeln ausglih, wie fich ein unbeirrt ſcharfer Bli zu einem firengen Gerechtigkeitsfinn gefellte, Seine Güte, fein angeborenes, ungekünfteltes Humani⸗ tätsgefühl, fein ruͤckſichtsvolles Benehmen gegen jeden anderen, dazu ein gewiſſes rührendes Mißtrauen gegen fi ſelbſt, ein fehüchterner, verfchämter Zweifel am eigenen Können bei aller Kühnheit und Ausdauer in praftifehen Dingen dag alles waren Züge und Eigenſchaften, bie Raiſki mehr und mehr für feinen neuen Freund begeiftern mußten.

Ganz unbewußt, auf natürlichftiem Wege, faft ohne zu wiffen, was er fat, traf er in allem, wag er nur anfaßte, dag Richtige und führte es in fo vollkommener Weife durch, wie es fonft faum ein Dutzend gefehulter Geifter unter Auf; wendung noch fo großer Mühe, Arbeit und Überlegung fertiggebracht hätten.

Raiſki erinnerte fich bes erften Eindruckes, den Tufchin auf ihn gemacht hatte: er war ihm damals ein wenig befchränft vorgefommen, und er fonnte wohl auch anderen auf den erften Blick leicht fo erfcheinen, namentlich Leuten von fo; genannter Bildung, die gewohnt waren, ben Menfchen nad) feinem erften Auftreten zu beurteilen und von ihm Geiſt und Wis verlangten: Eigenfchaften, die fie vielleicht ſelbſt befaßen, während ihnen gerade jene tieferen Eigens haften, die fih unter ber Außeren Dede bargen, oft genug fehlen mochten.

Bei genauerer, völlig parteiloſer Beobachtung mußte Raiſki jegt zugeben, daß jene vermeintliche Beſchraͤnktheit Tuſchins nichts anderes war, als das Gleichgewicht zwifchen

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den Kräften bed Verftandes und dem Inbegriff jener Eigenfchaften, welche die Kraft des Gemuͤtes und des Wil, lens ausmachen. Alle feelifhen Kräfte fanden bei ihm in harmoniſchem Verhaͤltnis zueinander, daß feine Die anderen überragte, Feine gleißend und blendend hervortrat, dafür aber das Ganze feines Weſens um fo ficherer, wenn auch erft allmählich, wirkte,

Neben einem Maren Verftande befaß er ein warm emp; findendes Herz, beides betätigte fich praktiſch in lebendigen Wirken, und der ſtarke Wille diente den intellektuellen wie den fittlihen Kräften als ſtets bereites Werkzeug.

Sein Leben fpielte fih im harmoniſchen Gleihmaß der ihm verliehenen Kräfte wie eine wohlinſtrumentierte muſi⸗ kaliſche Kompofition ab.

Er hatte feine große Mühe damit gehabt, den „Nohftoff“ feines Weſens erft in qualuoller, langer Arbeit zu formen es fiel ihm alles gleichfam von felbft zu. Er war nicht ber ſelbſtſchoͤpferiſche Gruͤnder feines eigenen Gluͤckes, der fi erſt ben Weg hatte bahnen muͤſſen feine Bahn war ihm, wie dem Planeten, ſchon vorgefchrieben, Wärme und Licht waren ihm von ber Natur in richtigem Maße zugeteilt. Alle notwendigen Eigenfchaften und Kräfte waren von vornherein in ihn hineingelegt, daß er nur auf dem vors gezeichneten Wege vorwaͤrtszurollen brauchte,

Er war num freilich nicht fo gang und gar ein „Planet“, er hätte ebenfogut auch bie Bahn verlaffen und abfeits von Ihr feinen Meg fuchen können. Der Mechanismus feiner natürlichen Kräfte hätte dann, unter dem Einfluß Außerer Störungen und bes eignen mißleiteten Willens, leiht in Unordnung geraten können. Doch diefe Unord⸗ nung war bei ihm nicht gu befürchten. Seine innere Kraft Bot allen. ungünftigen Einwirkungen von außen Trog,

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fein inneres Feuer glähte unauslöfchlich, er wich und wankte nicht, verlor nicht das harmoniſche Gleichgewicht zwiſchen Berfiand, Gemüt und Wille, fondern wandelte unbeirrt und ohne zu firaucheln feinen Weg, ſtets auf ber gleichen Höhe feiner geifligen und fittlihen Entwicklung ſtehen⸗ bleibend, auf die ihn Natur und Schidfal, faſt unbewußt, geftellt hatten. | | Do wie viele find es denn, die jene Höhe der Entwicklung aus eigener Kraft, durch Leiden und Opfer, unter lebens; langer fohmwerer Arbeit an fich felbft, ganz ohne Hilfe von außen, ganz ohne günftige Slüdssufälle erreichen? So wenig find ihrer, kaum einer vielleicht auf viele Tauſende, während unzählige andere müde, verzweifelt und bes harten Kampfes überdräffig auf halbem Wege fliehen; bleiben, oder vom Mege abbiegen und dag Ziel ihrer fits lichen Vervollkommnung entweder aus dem Auge vers lieren oder daran zu glauben aufhören.

Ein Tuſchin aber wankt nicht auf feiner Höhe und fleigt von Ihr nicht herab, Er vergräbt nicht das ihm verlichene Zalent, ein Menfch im wahren Sinne des Wortes zu fein, fondern wuchert damit, was ihm nicht nur feinen Verluft, fondern im Gegenteil Gewinn bringt, zumal der Duell, aus dem er fhöpft, unerfchöpflich ift.

„Rein, nicht Beſchraͤnktheit ift dag,” fagte fih Raiſti „sondern Schönheit der Seele, echte, firahlende, hehre Schönheit! Wahre, natärlihe Seelengröße iſt es, und Herzensgüte dazu, ebelfte menfchliche Kraft in beftimmter, fertiger Form. Die Aufgabe des Menfhen und sugleih fein Verdienſt befteht hier einzig darin, diefe Schönheit der natürlichen Einfachheit in fich zu empfinden und zu ers halten, fie mit Würde gu fragen, fie hochzuhalten, an fie zu ‚glauben, in allem aufrichtig zu fein, die Anmut ber

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Wahrheit zu begreifen, in ihr und durch fie gu leben mit anderen Worten: ein Herz su befiten und biefe Gabe richtig wenn auch nicht Höher als ben Verfiand, fo doch we⸗ nigftens ihm gleich zu ſchaͤtzen.

Solange die Menfchen fich diefer Eigenfchaft ſchaͤmen, fos fange fie die Schlangentlugheit ſchaͤtzen, die Taubenunſchuld aber errötenden, naiven Naturen überlaffen und bie eins feitige intelleftuelle Überlegenheit der fittlihen Größe vors jiehen, folange iſt auch an die Erreichung jener wahren Groͤße und an einen wirklichen, fiheren menfchlichen Forts ſchritt nicht zu denken.

Wenn man fo Hinhorcht, ſcheint es faft, als ob alle Mens ſchen bereits eine gewiſſe notwendige Stufe fittliher Ents widiung erreicht hatten, als ob jeder einzelne feine Portion Sittlichkeit als etwas Fertiges mit fich in der Taſche her⸗ umfrage, etwa wie eine Schnupftabatdofe, als ob biefe Sittlichkeit etwas Selbftverftänbliches fei, wovon man nicht weiter zu reden brauche. Alle ſtimmen barin überein, daß bie Gefellfchaft nicht eriftieren könnte, wenn dem nicht fo wäre, daß die Yumanität, die Ehrlichkeit, die Gerechtigkeit die Grundlage des privaten wie bes Hffentlihen Lebens bilden, alle beflinieren tapfer darauf los: „die Ehrlich⸗ keit, der Ehrlichkeit, der Ehrlichkeit, die Ehrlichkeit” uſw. „And alles iſt Lüge!” fagte fih Raiſki. „Bet ber übers wiegenden Mehrheit iſt noch nicht einmal vom Beginn einer fittlihen Entwidlung die Rebe, und felbft hochentwickelte Geifter machen häufig Feine Ausnahme hiervon und bes gnuͤgen fich in fittlicher Beziehung mit ein paar unter ber Hand aufgegriffenen Marimen und Anſtandsregeln, deren Nichtbeachtung fie leicht in Verlegenheit bringen könnte, bie aber mit fittlichen Prinzipien nichts zu tun haben. Die Mehrzahl der Menfchen wahre nur ein gewiſſes Des

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forum, das als Erſatz für alles, was Grundſatz heißt, dienen foll, um bie Grundſaͤtze felbft aber iſt es recht ſchwach beftellt. Sie dienen, wie bie Orden, nur einzelnen priviles gierten Perfönlichkeiten als Schmuck. „Er ift ein Mann von Grundſaͤtzen,“ fast man von einem Menſchen etwa in dem gleichen Tone, als wenn man fagte: „Er hat eine Beule auf der Stien.”

Mer ba behaupten wollte, daß bie Verbreitung und Ent wicklung fittlichee Grundfäge in der menſchlichen Gefells [haft ebenfo notwendig fei wie etwa der Bau von Eifens bahnen, der könnte fich leicht bem allgemeinen Gelächter preisgegeben fehen. Und dabei wärbe man es unverzeih⸗ lich finden, wenn er in intelleftuellee Hinficht ſich auch nur den geringften Verſtoß zuſchulden kommen ließe wenn er etwa bie allerneuefte franzöftfche oder englifche Senfas tionsſchrift nicht gelefen, ober die neueſte volkswirtſchaft⸗ liche Theorie, bie legte politifche Konftellation, bie juͤngſte phnfitalifche Entbedung nicht kennen follte.

„Er verfteht zu leben” dag iſt ein Lob, dag bie Menfchen unferer Tage fich gern gegenfeitig fpenden. Sie begreifen darunter bie Kunfl, etwas zu fcheinen, ohne dabei dag gu fein, was man in Wirklichkeit fein ſoll. Es kommt bei biefer Kunft darauf an, fich fo zu verhalten, daß man mit aller Melt aͤußerlich in Frieden lebt, daß die eigenen wie bie fremden Sintereffen halbwegs gewahrt Bleiben, daß man feine guten Eigenfchaften ins rechte Licht ſtellt und bie ſchlechten geſchickt verftedt, daB man, mit einem orte, auf der Klaviatur bes Lebens bie rechte Fingerfertigkeit an ben Tag legt, wobei auf die Muſik nicht weiter Gewicht ges legt wird.

Was nun Tufhin anlangt, fo lebte er recht und fchlecht dahin, ohne zu wiffen, ob er von ber Kunft gu leben etwas

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verfiche oder nicht ganz fo, wie Molitres „Bourgeois gentilhonme‘“ Heine Ahnung davon hatte, baß er Proſa fpricht. Er lebte einfach und fragte nicht viel danach, ob er ſich dabei wohl oder Abel befinde. Er war ſchlechtweg „ein Menſch“, wie bie fharffinnige Wiera ihn kurz und treffend genannt hatte.

Alle diefe Gedanken gingen Raiſki durch den Kopf, als er nah achttaͤgigem Aufenthalt in der Waldfledelung Tus fhins mit diefem im Wagen faß, um wieder nach Haufe zu fahren. „Die Tufching find unfere wahre Aktionspartei, unfere hoffnungsfrohe Zukunft, die im gegebenen Augen; blick in Wirkſamkeit treten wird, fobald erft alles dies” er ließ feinen Blick über die Felder und Dörfer ringsum ſchweifen „frei fein wird, fobald alle die Phantome, aller Hang zur Trägheit und Muͤßiggaͤngerei und alles freis willige Maͤrtyrertum verfhmwunden find und flatt deſſen die Freude an bee Arbeit und an wirklichen greifbaren Aufgaben jedem einzelnen als deal vorſchweben wird dann, ja, dann iſt bie Zeit für die Männer ber Tat, für die Tuſchins, auf allen Stufen ber Gefellfehaft gekom⸗ men...”

Sein leicht empfängliches Gemuͤt fühlte fih zu dieſer neus artigen, einfachen, zugleich weichen und kraftvollen Pers fönlichkeit lebhaft Hingegogen. Er wäre gern noch länger in Oymka geblieben, um in ben ganzen inneren Mechanigs mus des Tufchinfchen Betriebes einzubringen. Bei biefem erſten Befuche hatte er nur die dußere Ordnung und bie in die Augen fpringenden wirtfchaftlichen Mefultate dieſes Betriebes wahrnehmen können, ohne fi in ein Stubium der Einzelheiten zu vertiefen. An dem su dem Etabliffes ment gehörenden Dorfe war Ihm die Abweſenheit all ber traurigen Mängel, die fonft dem ruſſiſchen Dorfe eigen zu

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fein pflegen, aufgefallen: die Unordnung, die baufälligen : Hätten, die Düngerhanfen und ſchmutzigen Pfügen, bie verfaulten Brunnen und Brüden, bie Bettler, Kranken, Trunkenbolde und fonfligen typiſchen Erſcheinungen des verkommenen Bauerntums. ME Raiſki ſich Tuſchin gegenüber hoͤchſt befriedigt und zu⸗ gleich verwundert daruͤber aͤußerte, daß alle Bauernhaͤuſer wie neu ausſaͤhen, ſo friſch, ſo ſauber und nett, und daß er nicht ein einziges Strohdach bemerkt habe, war Tuſchin ſeinerſeits uͤber ſeine Verwunderung ſehr erſtaunt. „Da ſieht man gleich, daß Sie kein Landwirt ſind,“ ſagte er „wie ſollen wir hier, mitten im Walde, zu Stroh⸗ daͤchern kommen? Die kommen uns ja teurer als Holz⸗ daͤcher! Und wenn unſere Bauernhaͤuſer huͤbſch ganz ſind nun, dafuͤr haben wir doch Holz genug zur Hand!“ Raiſkis ungeuͤbtes Auge vermochte all die, Be Einrichtungen, die Tuſchin auf feinem” vo efuͤhrt hatte, nicht ſogleich zu erkennen. Nur gang“ Auͤchtig be⸗ merkte er, daß es da eine Art Wohlfahrtspolizei gab, ein Krankenhaus, eine Schule und ſogar etwas, das an ein Bankinſtitut erinnerte. Tuſchin uͤberging alle dieſe Dinge, die, wie er annahm, ſeinen Gaſt langweilen mußten, mit Stillſchweigen umſo bereitwilliger dagegen zeigte er ihm, dem Kuͤnſtler, ſeinen Wald, deſſen Pflege ihm ſehr am Herzen lag, und auf den er wirklich ſtolz war. Tuſchins Wald machte auf Raiſki In der Tat einen großen Eindruck. Er war faft wie ein Park gehalten, auf Schritt und Teitt fah man greifbare Beweife rarioneller Bewirts fhaftung und durchdachter Arbeit. Die Arbeiter machten einen trefflichen Eindruck. Die Bauern erfchienen wie felbfts ſtaͤndige Wirte, die für eigene Rechnung arbeiteten.

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„Sie ftehen alle bei mir in feftem Lohn, die hiefigen wie die fremden,” antwortete Tuſchin, als Raiſki ihn fragte, woher es fomme, daß feine Bauern einen fo zufriedenen Eindrud machten.

Das Sägewerk erſchien Raiſki mit feinen ſtattlichen Ges bauben, feinen großen Lagerplägen und feiner modernen Mafchineneinrichtung als eine wahre Sehenswärdigkeit, ein Mufteretabliffement, dag keiner englifhen Anlage feiner Art etwas nachgab.

Tuſchin war überall im Betriebe voran, er ging gang in ihm auf, kannte alle mafchinellen Einzelheiten, griff pers fönlih da und dort ein, war mitten zwiſchen ben Rädern und Treibriemen wie zu Haufe.

Mit hoͤchſtem Intereſſe beobachtete ihn Raiſki Im Kontor, wenn fo ein halbes Hundert Arbeiter auf einmal hereins trat und ihn mit Bitten und Erklärungen beflürmte. Wohl ein ZT, 3 brachte er mit den Leuten gu und bemerkte dann erft, di, ci über ihnen feinen Gaft ganz vergeffen hatte. In Höchfter Verlegenheit entfchuldigte er fich bei Raiſki, führte ihn aus dem Gedränge heraus ing Freie und fuhr mit ihm in den Wald, um ihm dort die fhönften Partien zu zeigen. Raiſki war ganz entzädt von allem, was er gefehen, von dem Sägewerk wie von feinem Befiger, und erflaunte aufge höchfte über bie ungeheure Menge von Waldprodukten, die von bier aus auf dem Waſſerwege nach Petersburg und ing Ausland gingen. Gern wäre er noch langer dageblieben, aber ein Brief von Tatjana Markowna rief ihn nad Hanfe fie habe für ihn etwas gu tun, ſchrieb fie kurz, er folle fofort kommen. |

Tuſchin erbot fih, ihn felbft nach Malinowka gu bringen. Es beunruhigte ihn, daß Tatjana Markowna Raiſki fo ploͤtzlich zuruͤckrief, und er wollte hören, ob nicht mit Wiera

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wieber etwas vorgefallen fei, und ob er ihr nicht vielleicht nuͤtzlich fein koͤnne. Nicht ohne Beſorgnis Dachte er daran, daß Wolochom bei ihrer Zuſammenkunft nur ungern und zoͤgernd erklärt hatte, er wolle bie Stadt verlafien.

Ob er wohl abgereift iſt? Ob er ihr nicht vielleicht wieder gefchrieben oder fie fonft beunruhigt hat? Diefe und aͤhn⸗ liche Fragen deängten fih Tuſchin unwillkuͤrlich auf, als er mit Raiſki nach der Stadt fuhr.

Das erfle, was dieſer nach feiner Heimkehr tat, war, daß er ſpornſtreichs zu Wiera hinauffprang und ihr unter bet Wirkung des frifchen Eindrucks in hellften Sarben ein faft überlebensgroßes Porträt von Tuſchin entwarf. Bol Ber geifterung fehilderte er ihr die Bedeutung des Geruͤhmten fuͤr die Sphaͤre, in der er lebte und wirkte, gab ſeiner Be⸗ wunderung in den beredteſten Worten Ausdruck und ſprach mit aufrichtiger Freude von der herzlichen Sympathie, die ſich zwiſchen ihm und Tuſchin entwickelt haͤtte.

In der Geſtalt dieſes echt ruſſiſchen, ſchlichten, praktiſchen Mannes, der uͤber Feld und Wald gebot, der ſich als Ar⸗ beiter unter ſeinen Arbeitern und zugleich als Urheber und Huͤter ihres Wohlergehens fuͤhlte, ſah Raiſki gleichſam einen neuen, eigenwuͤchſigen Robert Owen.

„Du haft mir fo wenig von feiner Tätigkeit erzählel.. .“ ſchloß er feinen von Lob überfirömenden Bericht.

Miera hatte frohbewegt den Worten Raiffis gelaufeht, ihre Wangen hatten fich fogar mit einem leichten Not bes dedt. Die gefhäftige Eile, mit ber Raiſki ihre über den guͤnſtigen Eindruck berichtete, ben der „Baͤr“ famt feinem Waldlager auf ihn gemacht, dag warme Kolorit, in dem Raiſki die Geſtalt Tuſchins darftellte, fein ſcharfſinniges Eindringen in die tiefe Bedeutung dieſer ganzen Er⸗ ſcheinung, die lebendige Schilderung, die er von dem in⸗

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duftriellen Betriebe, von dem Leben und Treiben in bem Walddorfe und von feiner landſchaftlichen Umgebung ents warf alles dies war geeignet, auch Wiera in eine leb⸗ bafte Stimmung zu verfegen. Sie fonnte unſchwer aus Raiſkis Worten ein Lob für ihre eigene Rechnung heraus⸗ hören, daß fie fo ſcharfſinnig Tuſchins inneren Wert erfannt und bie Echtheit diefer einfachen Natur liebgewonnen hätte. „Was du mir da fagtefl,” entgegnete fie „dient weniger dazu, Iwan Iwanowitſch, den ich laͤngſt gu würdigen weiß, näher kennen zu lernen, als vielmehr dazu, in bein eigenes Weſen einen Einblid zu nehmen. Nun, ich muß fagen, dag bir diefe Schilderung alle Ehre macht. Du ruͤhmſt eg, daß ich in Tufchin den Menfchen richtig erfannt habe als ob das gar fo ſchwer wäre! Auch Tantchen verfteht ihn doch und hat ihn gern, und auch alle andern hier... .” Sie fließ einen Seufjer aus ale ob fie bedauere, daß fie dieſem frefflihen Menſchen nit noch tiefer, mit einem Innigeren Gefühle zugetan ſei ...

Er wollte ihr irgendetwas erwidern, als von ber Groß⸗ tante bie Borfhaft kam, er folle ſich fogleich in ihrem Ka⸗ binett einfinden.

„Sag’ einmal, Wiera warum bat fie mich eigentlich kommen laffen?” fragte Raiſki ploͤtzlich.

„sch weiß es nicht, es ſcheint fie jedoch irgendetwas zu bes druͤcken. Sie hat mir nichts gefagt, und ich frage auch nicht, aber ich fehe eg ihr an. Sch fürchte, es ift da wieber etwas vorgefallen,” fagte Wera, die plöglih aus bem lebhaften, freundfchaftlihen Unterhaltungtone wieder in ihre däftere Nachdenklichkeit zuruͤckfiel.

Kaum hatte Raiſki fie verlaffen, als Tuſchin zu Ihe hinauf⸗ ſchickte und fie fragen ließ, ob fle ihn empfangen wolle. Sie ließ ihm fagen, daß er kommen möge.

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Neunzehntes Kapitel

sy Großtante ſchickte, als Raiſki bei Ihr eintrat, (0 gleich Paſchutka hinaus und verſchloß die Tür des Kabinetts. Sie war anfcheinend heftig erregt. Naiffi erſchrak.

„Iſt etwas Schlimmes geſchehen, Tantchen?“ fragte er und nahm ihr gegenuͤber Platz.

„Was geſchehen mußte, iſt eben geſchehen,“ ſagte ſie nieder⸗ geſchlagen, waͤhrend ſie zur Seite blickte.

„Sagen Sie es raſch Ich ſitze wie auf Nadeln!” „Der alte Spiebube Tytſchkow hat an uns beiden feine Rache genommen. Ya, auch über mich hat er ſich da von einer verrädten Perfon eine alte Gefchichte erzählen laſſen ... Es ift aber nichts dabei herausgelommen ... bie Ders gangenheit intereffiert die Leute nicht, und überdies ſtehe ich ja ſchon mit einem Buße, im Grabe und mache mir nicht daraus. Uber Wiera .. .”

Sie ſeufzte.

„Bas tft mit Wera?”

Ihre Gefchichte iſt kein” Geheimnis mehr... Es gehen Gerüchte In ber Stabt um ...“ flüfterte Tatjana Markowna fhmerzlich bewegt. „Ach achtete erſt gar nicht darauf, daß

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mi am Sonntag in ber Kirche die Frau des Vizegonver⸗ neurs fo angelegentlih nach ihr fragte, ob fie denn gefund fet, und daß ein paar Damen fogleih die Köpfe zwiſchen ung fiedten und horchten, wag ich wohl jagen werde. Ich ſah mich ringsum und las auf allen Gefichtern die Frage: Was ift mit Wiera?‘ Nun, fie war krank, fag’ ich, iſt aber jetzt wieber gefund. Alle fragten fogleich, was ihr denn ges fehlt Habe. ch konnte mich ihrer gar nicht erwehren, wußte nicht, was ich ihnen fagen ſollte ...“

„Iſt etwas bekannt geworden ?”

„Das, a8 wirklich vorgefallen Ift, willen fie Gott fet Dank nicht. Ich Härte geftern von Tit Nikonytſch dies und Das, der Klatſch verfolgt eine falſche Spur...“

Die Großtante wandte fih ab.

„Ben bat man in Verdacht ?”

„Swan Iwanowitſch das iſt eben das Schlimme. Er, der am wenisften Anlaß gegeben hat... Du wirft Dich erinnern, daß er an Marfinkas Geburtstag herlam und erft ganz fill und In ſich gekehrt daſaß. ME dann Wiera hereins fam, war er plöglich wie ausgewechſelt. Alle Anweſenden ſahen es, und es war ja ohnedies fein Geheimnis, daß er Wera liebt, aufs Verheimlichen feiner Gefühle verſteht ee fih nicht. Es wurde allgemein bemerkt, daß er mit Ihe in den Garten ging, und daß er Bald darauf wegfuhr, während fie fih auf ihr Zimmer begab. Weiße du vielleicht, weshalb er damals kam?”

Raiſki nickte beiahend mit dem Kopfe.

„Du weißt e8? Nun, fiehft du und jetzt find Wiera und Tuſchin in aller Munde.”

„Was habe ich nun dabei gu tun? Sie fagten, daß Tytſch⸗ kow auch an mir Rache genommen habe...”

„Dich hat Paulina Karpowna in die Sache hineingezogen.

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Sie ſuchte dich an jenem Abend im Parke, als bu no fo ſpaͤt mit Wera ſpazieren gingſt. Du haft ihr da irgendetwas vorgeredet jedenfalls im Scherz, aber fie hat es eben auf ihre Weiſe aufgefaßt und ſich eine Gefchichte zurecht⸗ gemacht, in der auch bu eine Rolle ſpielſt. Sie fagt, bu feteft in Wjera verliebt geweſen, doch babe fie dich ihr abs fpenflig gemacht: fie habe bi) aus dem Abgrunde, wie fie fagt, emporgezogen. Ich werde daraus nicht recht Hug. Was gab es denn zwiſchen euch, und was für Geheimniſſe hattet ihr eigentlich mit Wiera? Du wußteft offenbar um ihre Heimlichkeiten ſchon lange, nur vor Tantchen habt ihr die Schluͤſſel verſteckt. Da ſeht ihr, was bei all eurer Frei⸗ heit herauskommt!“

Sie ſeufzte ſo ſchwer, daß es im Zimmer widerhallte. Raiſki ballte die Faͤuſte.

„Dieſe alte Vogelſcheuche hat noch nicht genug bekom⸗ men... Ich will morgen mit ihr abrechnen, daß fie geits lebens daran denken ſoll!“ ſprach er In drohendem Tone. „Das verlohnte fih gerade! Es hat feinen Sinn, fie zur Rechenſchaft zu ziehen, fie ift eine komiſche Perfon, und Fein Menfch ſchenkt ihr Glauben. Aber dieſer alte Klätfcher, der Tytſchkow, hat da einen Brei eingerühtt et hat irgendwie erfahren, daß Wiera an Marfinkas Geburtstag in den Part hinausging, daß fie dort eine lange Unterrebung mit Tus ſchin hatte, daß fie am Abend vorher fehr fpat fortblieb und dann frank im Bett lag. Alles, was Paulina Kar⸗ powna erzählte, hat er ſich auf feine Weiſe gurechtgelegt. ‚Nicht Raiſki war eg,‘ fagt er, Iondern Tuſchin, mit dem fie an jenem Abend und ſchon In der Nacht vorher Spazier⸗ gänge mactel...‘ Er hat dann bie Geſchichte in ber Stadt verbreitet... Außerdem iſt da noch ein Geklaͤtſch im Gange, das eine alte Trunkenboldin über mich aufs

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gebracht Hat... Tytſchkow bat auch diefe Gefchichte aufs gegriffen... .”

Zatjana Markowna fenkte bie. Augen zu Boden; ihr Ge⸗ fiht wurde für einen Augenblid von einer Nöte bededt. „Ah, das ift etwas anderes!” fagte Raiſki ernfihaft und begann erregt im Zimmer auf und ab zu geben. „Die Lektion, die Sie damals bem alten Burſchen erteilten, hat nicht gewirkt, ih muß fie wiederholen ...“

„Was fallt die ein? Gott bewahre! Mühe’ Tieher nicht daran. Es verlohnt wirklich nicht, Die Sache breitzutreten. Es kommt jegt nur darauf an, feftzuftellen, mo eigentlich Iwan Iwanowitſch an jenem Abend geweſen iſt wenn er zu Haufe war, am anderen Wolganfer: mit wem war dann Wiera zufammen? So werden die Leute fragen... Dich hat die Krizkaja doch im Park getroffen, du warſt allein wo fiedte alfo Wiera?. . .”

Tatjana Markowna ließ den Kopf finten.

Raiſki warf fich heftig erregt in einen Seſſel.

„3%, was foll da geſchehen?“ fagte er In banger Sorge um Wiera.

„Was Gott uns ſchickt!“ fluͤſterte Tatjana Markowna res ſigniert: „Gott richtet die Menſchen durch die Menſchen, darum duͤrfen wir ihr Urteil nicht geringachten. Da heißt es eben ſich unterwerfen! Das Maß iſt offenbar noch nicht voll...”

Wiederum ftieß fie einen tiefen Seufjer aus.

Raiſki ging im Kabinett auf und ab. Beide fehwiegen fie. verhehlten fich nicht, daß die Sachlage recht ſchwierig und verworren war. Die Leute in der Stadt waren Dahinter gekommen, daß fih da irgendein Drama abfpielte, wenn fie zunächft auch nur gewiffe Außere Momente bemerkt hatten. Daß Wijera fich ſtets für fich hielt, daß Tuſchin ihr

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eiftiger, treuer Verehrer war, daß fie ſich von der Autorität der Großtante freigemacht hatte alles dies wußte man ja ſchon lange, und man hatte fih mit ber Zeit daran gewöhnt.

Hierzu hatten fich jedoch In neuerer Zeit einige Mebelflede gefellt, über die man fich nicht recht Har war. Daß Raiſki Wiera den Hof machte, war ben Beobachtern nicht ent; gangen, felbft Uliana Andrejewna hatte davon gehört und gelegentlich zu ihm eine Bemerkung barüber fallen laſſen. Auch die Krizkaja hielt mit ihrem Wiſſen nicht hinterm Berge. Dennoch blieb man babei, daß Tuſchin der aus fichtsreiche Bewerber um Wierad Hand mar, wie man auch Marfinte und Wikentjew ſchon lange für einander bes fümmt hatte. Nun kamen alle diefe Anbegreiflichkeiten, die fih an Marfinkas Geburtstag zugetragen hatten. MWiera erſchien für einen. einzigen kurzen Augenblid unter den Gäften, ſprach mit niemand ein Wort, ging mit Tuſchin in den Park und von da auf ihr Zimmer, während Tuſchin abfuhr, ohne fih von der Dame des Hauſes zu verabfchieden.

Bon der Krizkaja hörte man, daß NRaiffi am Abend vor dem Geburtstage lange Zeit mit Wiera fpagieren gegangen war. Dann war nah dem Geburtstage Wera erkrankt, und auch Tatjana Markowna war leidend. Das Haus war wie abgefperrt, niemand wurde vorgelafien. Raiſki' Ttef ganz verftdrt umher und ging allen Leuten aus dem Wege. Bon den Arzten war nichts Nechtes herauszubelommen, die fprachen nur ganz im allgemeinen von „Krankheit“ ... Bon ber Heirat Wieras war es wieder ganz fill geworden. Warum machte Tufchin feinen Antrag oder, wenn er ihn ſchon gemacht hatte: warum hatte man ihn nicht ans genommen? Es mwurbe ber Verdacht ausgefprochen, daß

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Raiffi vielleicht mit Wiera angebändelt hatte warum heiratete er fie dann aber nicht? Die dffentlihe Meinung forderte unbedingt die Schuldigen wie die Unfehuldigen vor ihe Tribunal, um ihr Urteil zu fprechen.

Tatjana Markowna fowohl wie Raiſki verhehlten fich die Schwierigkeit der Lage nicht und fahen mit bangem Gefuͤhl dem Urteil entgegen, bas die öffentlihe Meinung über Wiera fallen würde. Nur Wiera felbft fürchtete dieſes Urs teil nicht und wußte überhaupt von nichts. Andere Sorgen waren es, bie fie bebrüdten. Immer noch fühlte fie den tiefen Schmerz, ber ihre Seele heimgefucht hatte, und auf feine Linderung verwandte fie alle ihre Kraft, wenn auch bisher noch vergebens.

„Sören Ste einmal, Tantchen!“ fagte Raiffi plögfich, nach, dem er eine ganze Weile geſchwiegen „vor allem muͤſſen Ste felbft Ivan Iwanowitſch alles fagen. Er ift in biefen Klatſch hineingezogen worden, ihm ſteht e8 daher zu, gu beftimmen, was dagegen zu gefchehen hat. Er wird fchon dag Richtige treffen, Ste brauchen feine Entfheibung nicht zu fürchten. Ich kenne ihn jet und vertraue ihm ganz. Er wünfcht fiherlih Wiera nur das Beſte, denn er liebt fie ohne daß wir nur ein Wort von ihre fprachen, habe ih das gefehen. Er beunruhigt fih um ihre Ergeben weit mehr als um fein eigenes. Er tft auch jet nur ihretwegen mit mir hierher gekommen. Ihre Brief an mich hat ihn beunruhigt, weil er fürchtete, daß ihr etwas zugeftoßen fein könnte. Dann erft, fobald Sie mit Ihm gefprochen haben werden, will ich mit Paulina Karpowna und vielleicht auch mie Heren Tytſchkow reben ...“

„sch will aber nicht, daß du mit diefem Menſchen ſprichſt!“ „Ich kann Ihn nicht gut umgeben, Tantchen!...“

„Ich will es auf keinen Fall, Boris!” fagte fie fo ent-

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ſchieden und ſtreng, daß er den Kopf ſinken ließ und nicht mit einem Worte widerſprach. „Es kann wirklich nichts Gutes dabei herausfommen. Was bu fonft fagteft, ift ganz vernünftig: Ich will zuerft mit Swan Iwanowitſch fprechen, und dann wollen wir fehen, ob es notwendig ift, daß du zur Krizkaja gehft, um von Ihr zu hören, was eigent⸗ lich die Leute fo reden. Je nach dem, was bu dba erfährft, wird man eben bie Dinge anders deuten . . . oder Die Wahr; heit jagen!” fügte fie mit einem Seufjer hinzu. „Wir wollen fehen, wie Iwan Iwanowitſch die Sache auffaßt. Geh, ruf ihn hierher gu mir, fag’ aber MWiera kein Wort! Sie weiß von gar nichts, Gott behüte, daß fie uͤberhaupt etwas erfährt!”

Raiſki begab fih nah oben, um Wiera Gefellfehaft zu leiften, während Tuſchin ihn bei Tatjana Markowna abs loͤſte.

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Zwanzigſtes Kapitel

atjana Markowna war von innerer Unruhe erfuͤllt,

als Tuſchin die Schwelle ihres Zimmers uͤberſchritt. Er begruͤßte ſie ſchweigend, mit niedergeſchlagenen Augen auch ihm erfuͤllte heimliche Beſorgnis die Seele. Im erſten Augenblick ſahen ſie einander nicht an. Zum erſten Male ſollte ſie von dieſer ſchmerzlichen An⸗ gelegenheit reden, bie bisher zwiſchen ihnen nicht mit einem Korte erwähnt worben war, obfehon beide aus fo mans dem bedeutfamen Blide wie aus dem duͤſteren Schweigen des anderen Teiles hatten entnehmen können, daß zwifchen ihnen in biefer Angelegenheit fein Geheimnis beftand. Run follten fie offen, von Angeficht gu Angeficht, Die Frage erörtern. Sie ſchwiegen beide. Tatjana Markowna ſah Ihn von ber Seite an und bemerkte die Veränderungen, bie In biefen zwei, drei Wochen mit ihm vor ſich gegangen waren: feine Haltung war nicht mehr fo ftolg und fiher wie früher, feine Augen blidten zuweilen trüb, feine Bewegungen erfchlenen langfamer. Auch blaffer und magerer war er geworben. „Sie waren foeben bei Wiera ?” fragte fie endlich. „Wie haben Sie fie gefunden ?“

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„Ganz wohlauf ... es feheint, daß fie gefund iſt und ihre Ruhe wiebergewonnen hat...“

Tatjana Markowna fenfite.

„Wenn es nur ber Fall wäre! Doch nicht von ihr will ich reden, fondern von Ihnen, Iwan Iwanowitſch. Auch Sie find beunruhigt worden...” fagte fie leife, ohne ihn anzufehen.

„Niht um mich geht es, ſondern um Wiera Waſſiljewna.“ „Es ſcheint, daß das Schidfal es anders beſchloſſen hat als wir. Kaum ift fie ein wenig zu fih gefommen, kaum habe ich mich von dem häuslichen Kummer etwas erholt, als fehon wieder neue Wolken auffleigen. Bisher konnten wir unferen Kummer in den eigenen vier Wänden fill vers bergen, jegt aber dringt er über fie hinaus...

Tuſchin horchte plöglich auf, ald wenn er einen Schuß fallen hörte.

„Iwan Iwanowitſch,“ fagte Tatjana Markowna ent, fchloffen, „es sehen allerhand Kaͤtſchereien in der Stadt um. Sie wiffen, daß wir vor einiger Zeit hier mit Tytſchkow einen Zufammenftoß hatten wir haben ihm damals die beuchlerifche Maske vom Geficht geriffen. Es fland . mie ja nicht recht zu, bei meinen Sjahren, aber er nahm fih ſchon gar zu viel heraus, e8 war einfach unerträglich. Na, und da habe ich denn damals Borjuſchka beigeſtanden. Sept aber reißt er ung die Maske vom Geſicht ...“ „Ihnen? Wie foll ih das verftehen ?“

„Se hat über mich geflatfeht aber darauf gab man nicht viel, ich Bin eine Tote. Doch auch Aber Wiera hat er ger redet...“

„Über Wiera Waſſiljewna?“

Tuſchin erhob ſich.

„Setzen Sie ſich, Iwan Iwanowitſch,“ ſagte Tatjana Mar⸗

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kowna. „Ja, auch Aber fie. Und vielleicht mußte das fo fein... vielleicht war bag bie Vergeltung, bie Strafe. Doch nun find auch Sie mit der Sache in Verbindung ges bracht worden ...“

„Ich? Mit Wiera Waſſiljewna?“

„a, Iwan Iwanowitſch und das iſt es, was mir fo ſchwer auf die Seele faͤllt!“

„Darf ich fragen, was man geſagt hat?“

Tatjana Markowna erzählte ihm, was für Gerüchte in der Stadt umgehen.

„Es ift den Leuten aufgefallen, daß Hier im Haufe nicht alles ſo ift, wie es fern foll. Man hat bemerkt, daß Sie mit Wiera in ben Park gingen, daß Sie dort am Rande ber Schlucht neben ihr auf der Bank faßen und fehr lebhaft mit ihr fprachen, und daß fie dann Knall und Fall weg; fuhren, Wir beide lagen dann Frank und ließen niemanden vor... und daraus haben fich die guten Leutchen nun eine Geſchichte zurechtgelegt.”

Er hatte ſchweigend sugehört und wollte eben etwas ers widern, als fie in ihrer Rede fortfuhr:

„Laſſen Sie mich zu Ende erzählen, Iwan Iwanowitſch, das iſt noch nicht alles. Boris Pawlytſch Hatte am Abend vor Marfintas Geburtstag Wiera im Park geſucht ...“ Sie hielt einen Augenblid inne,

„Was weiter ?” fragte Tufchin ungebuldig.

„Run war ihm die Krizkaja nachgelaufen und hatte feine Erregung bemerkt... Er hatte ein paar Morte über Wiera fallen laffen.... und bie hat fie fih nun auf ihre Weiſe gedeutet. Man glaubte ihr natürlich nicht, denn man kennt fie ja doch nun möchte man um jeden Preis dahinter⸗ fommen, mit wen eigentlich MWiera damals, am Abend vor dem Geburtstage, im Hain gewefen ifl... Vom

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Grunde dieſer unfeligen Schlucht iſt eine Wollte aufges fliegen, die ihren Schatten auf ung geworfen hat... und auch auf Sie..."

„Was hat man denn von mir erzählt?”

„Daß Wiera auch damals, am Abend vor dem Geburts tage, mit Ihnen zuſammen war... dort unten, auf dem Stunde der Schludt ...“

Ste ſchwieg.

‚And was foll ich num nach Ihrer Meinung fun 2” fragte er faft demuͤtig.

„Sie follen nichts tun. Es wird nichts weiter Abrig bleiben,

als die Wahrheit zu ſagen. Vor allem muͤſſen Sie aus det

Sache ausscheiden,“ ſprach Tatjana Markowna feft und de

fimmt. „Sie waren flets rein und lauter und muͤſſen es auch in Zukunft bleiben... Ich reife mit Wiera ſogleich nach Marfinkas Hochzeit auf mein Gut Nowoſſelowo, wo wir für immer bleiben wollen... Gehen Sie zu Tytſchkow und ſagen Sie ihm, daß Sie an jenem Abend vor Mar⸗ finkas Geburtstag nicht in der Stadt waren, daß Sie alſo auch nicht In der Schlucht geweſen fein können...“

Sie ſchwieg und verſank in däfteres Nachdenken.

Tuſchin faß mit vorgebeugtem Dberkörper da, hatte dem Kopf vorgeneigt und blidte auf feine Füße.

„Und wenn ich das nun nicht fage?...” begann er ploͤtz⸗ fich, den Kopf in den Naden werfend.

„Handeln Ste ganz nach Ihrem Ermeffen, Iwan Iwano⸗ with. Was wollten Sie denn ſonſt fagen?”

„Ich wuͤrde Tytſchkow oder vielmehr nicht Ihm, denn mit Ihm will ih mich gar nicht einlafien, fondern den andern fagen, daß ih an jenem Abend in ber Stadt war, was auch ben Tatfachen entfpricht, denn ich war das mals nicht Aber die Wolga gefahren, fondern hatte zwei

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Tage lang hier bei einem Freunde geweilt. Ich wärbe weiter ſagen, daß ich an jenem Abend wirklich mit Wiera Waſſil⸗ jewna ... in ber Schlucht war... . wenn es auch nicht wahr if... Ich würde hinzufügen, daß ich ihe einen Antrag machte, jedoch abgewiefen wurde ... daß mir beibe, Ic und Sie, die Sie meine Partei nahmen, über meine Abs weifung fehr ungehalten waren, was wiederum von Wera Waſſiljewna fehr übelgenommen wurde baß aber unfere freundfchaftlichen Beziehungen dadurch nicht zerftört wur⸗ ben... Ich kann vielleicht auch fo nebenbei bemerken, daß mir noch eine entfernte Hoffnung geblieben ift... daß Wera Waſſiljewna bie Sache noch einmal äberlegen will...“ „a, dag wäre eine Loͤſung ...“ fagte Tatjana Markowna nachdenklich. „Ste boten Ihr Ihre Hand an und fie flug fie aus. Ja, wenn Sie bag fagten es wäre ein ebler Sreundfchaftsdienft von Ihnen. Aber fie werden ſich dabei nicht beruhigen, fie werben warten unb fragen: wann wirb’8 denn num endlich gefchehen? Wenn fie ihm noch eine Hoffnung gelaffen hat, dann muß es boch endlich fommen ...“ „Ste werben bie Sache vergeflen, Tatjana Markowna, namentlich, wenn Sie von hier fortgehen, wie Ste fagen . . . Und wenn fie es auch nicht vergeflen ... . und Ihnen Immer noch zufegen follten... dann nimmt MWiera Waſſiljewna eben meinen Antrag an...” ſprach Tuſchin leife. In Tatjana Markownas Gefihte ging eine Wandlung vor ſich. „Swan Iwanowitſch!“ fagte fie in vorwurfsuollem Tone „twofür halten Ste mich und Wiera? Um die böfen Zungen zum Schweigen gu beingen, um eine Klatfcherei aus der Welt zu fchaffen, die doch leider auf einer traurigen

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Tatfache beruht follten wir Ihre fruͤhere Neigung für fie und Ihre Großmut mißbrauchen? Damit weder Gie noch Wiera jemals im Leben zur Ruhe fommen? Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet...“

„Ser ift von feiner Großmut die Rede. Ich dachte, als Sie mie vorhin die Klatſchgeſchichte erzählten, Sie würben eins fach kurz und bündig fagen: ‚Hör’ mal, Swan Iwanowitſch, nun haben fie auch dich in die Sache hineingezogen, nun forge dafür, daß fie dich und fie nicht weiter beflatfchen !' Dann hätte ich Sie einfach, wie Wilentjew, ‚Tantchen‘ ges nannt und wäre vor Ihnen niedergefniet. Ja, dag wäre das Richtige geweſen,“ fagte er büfter. „Aber bei Jhnen, Tatjana Markowna verzeihen Sie mir meine Rede geht alles noch feinen alten Gang, Sie muͤſſen erſt erfors fchen, wie denn alles zugegangen If, und was bie Leute fagen, und das eigene Herz, der eigene Verſtand bie fommen erſt fpäter zu Wort. Hätten Sie mit denen ans gefangen, dann wäre Ihnen diefe ganze traurige Erfahrung erfpart geblieben, und ich hätte weniger graue Haare, und Wiera Waffiljewna . . .”

Er hielt inne, als merke er jegt erft, daß er über die Grenze des Zuläffigen hinausgegangen war.

„Verzeihen Sie!” fagte er, plöglih in einen ſchuͤchternen Ton verfallend. „ch rede da von Dingen, die mich nichts angehen. Ich will mir herausnehmen, über Wiera Waſſil⸗ jewna mit gu entfcheiben und weiß gar nicht, ob ihr Das angenehm iſt ...“

„Sehen Sie, nun haben Sie ſelbſt das Richtige getroffen. Mein Herz und mein Verſtand hatten laͤngſt für Sie ges fpeochen, aber dag Schidfal Hat anders entſchieden. Gie wuͤrden fie jet Doch nur aus Mitleid nehmen, und fie würde vielleicht um Ihrer Großmut willen ‚ja‘ fagen ... Wollen

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Sie das wirfiih? Wäre das nicht unebrlih und töricht von uns? Trauen Sie ung wirklich eine folde Handlungs, weife gu? Sie fennen ung doch ...“

„Weder unehrlih noch töricht wäre es, wenn ſie wirllich fo für mich fühlt, wie fie fagt. Sie liebt und ſchaͤtzt mic als Menfchen, ald Freund dag find ihre Worte, und natürs lich aberfchägt fie mid... Das erfcheint mir als ein großes Gluͤck! Das heißt doch, daß Sie mich mit ber Zeit au... als einen guten Gatten lieben würde...”

„Uber, Swan Iwanowitſch wieviel Schmerzliches wuͤrde diefe Heirat für Sie mit fih bringen! Bedenken Sie dag doch, mein Gott!” |

„Ich miſche mich nicht in fremde Angelegenheiten ein, Tatjana Markowna; ich fehe, daß Ste fih vom Schmerz nieberdräden laffen, und enthalte mich doch jeder Eins wirkung auf Sie. Warum wollen Sie ſich durchaus meinets wegen Sorgen machen? Überlaffen Sie es doch mir felbft, daruͤber zu urteilen, was diefe Heirat für mich bebeuten wuͤrde!“ fagte Tuſchin plöglich in faſt rauhem Tone. „Gluͤck fuͤr ein ganzes Leben das iſt's, was ſie mir bringen würde, und ich werde vielleicht noch fuͤnfzig Jahre leben | Dber, wenn auch nicht fünfjig, fo boch gehn, zwanzig zwanzig Jahre Slüdl...

Er fuhr fih mit den Fingern durchs Haar, vor lauter Vers zweiflung baräber, daß biefe beiden Frauen ihn nicht vers fteben, ihm das Gluͤck nicht geben wollen, das da um ihn herumgaukelt, fih aber nicht faflen läßt und Ihm zu ent ſchluͤpfen droht, während er es mit feinen Bärentaben paden und nie wieder loslaſſen möchte.

Sie fehen nicht und begreifen nicht, fie wähnen immer noch, daß unnberfieigbare Berge fich zwiſchen ihm und ihnen auftäemen während er doch mit der gewaltigen Kraft

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feiner Liebe in ſchwerem Seelentampf diefe Berge Tängft binweggeräumt hat.

Sollte er diefen Kampf, in dem et feft auf den Beinen ges blieben ift, umfonft gelämpft haben follte das Süd, dag er erfehnt, ihm nun doch entfchwinden? Was war denn das auch für ein Berg, der Ihn von dieſem Gluͤcke trennen ſollte? Wjera hatte einen anderen geliebt, hatte gehofft, mit dieſem anderen gluͤclich zu werden und hatte eine Taͤuſchung erlebt. Nun war dieſe Hoffnung tot fie ſagte es ſelbſt, und fie (og nie und kannte fich fehr genen. Es war alfo gar fein Berg, fein Hindernis mehr vorhanden nur in der Phantaſie der beiden Grauen gab es noch Hinderniffe. |

„Nein, nein, nein es gibt Feine Hinderniſſe!“ flüfterte Tuſchin ganz verzweifelt leiſe vor fih Hin und ſah dabei Tatjana Markowna faft sornig an.

„Hören Sie mid an, Tatjana Markowna!“ begann et plögfich in leidenſchaftlichem, fraftuollem Tone. „Wenn der Wald die Menfchen am Wordringen hindert, dann toden fie ihn aus; wenn dag Meer fich quer vor fie lest, durchſchwimmen fie es; und wenn Berge fih vor ihnen auftuͤrmen, bohren ſie ſich einen Tunnel hindurch oder ſprengen ſie. Immer kuͤhner dringen die Menſchen vor. Und hier gibt es weder Wald, noch Meer, noch Berg nichts iſt da: hoͤchſtens dieſe Schlucht mit dem jaͤhen Ab⸗ ſturz, doch uͤber die habe ich eine Bruͤcke geſchlagen, auf der ich ſicher hinuͤberſchreite, ohne daß meine Beine zittern ... Gehen Sie mir Wiera Waſſiljewna, geben Ste fie mir!“ ſchrie er faft laut „ich werbe fie ficher über diefen Abſturz und biefe Bräde tragen, und kein Teufel foll mein Gluͤc und ihre Ruhe fidren, wenn fie felbft Hundert Jahre alt wird. Sie wird meine Hergenstänigin fein, wird in meinen

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Wäldern, unter meinem Schuge eine fihre Zuflucht finden vor allen Unwettern, wird alle Schluchten und Abftürze vergeffen, wenn fie felbft nah Taufenden zählen follten ! Daß Sie mich fo gar nicht verftehen wollen!”

Er hatte fich erhoben, zog plöglich fein Tafchentuch hervor, führte es an die Augen und begann verzweifelt im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ih kann Sie wohl verftehen, Iwan Iwanowitſch,“ fagte Tatjana Markowna nah kurzem Schweigen leife, mit fränenerflidter Stimme „Doch nicht auf mich kommt es bier an...“

Er blieb ploͤtzlich fliehen, trocknete feine Augen, fuhr mit der Hand über fein dichtes Haar hin und ergriff beide Hande Tatjana Markownas. „Verzeihen Sie, Tatjana Markowna,“ fagte ee „ich vergeffe immer das eine: daß es zwar keine Berge, Wälder und Abgründe gibt, wohl aber ein einziged, unuͤberwindliches Hindernis: Wera Waſſiljewna will nicht, fie muß alfo wohl in ber Zus kunft ein glädlicheres Los erwarten, als ich es ihr bieten koͤnnte ...“

Tatjana Markowna war betroffen durch ſeine Worte und wollte etwas erwidern, er ließ ſie jedoch nicht zu Worte kommen.

„Ich muß Ste um Verjeihung bitten,” fuhr er fort, „ich bin da wieder in ein falfches Fahrwaͤſſer geraten. Laffen wie mich einmal ganz beifeite, und kommen wir auf dag urfpeüngliche Thema zuruͤck. Ste ließen mich rufen, um mie von biefen Klatfchgefchichten Mitteilung zu machen, und Sie dachten, ich würde mich Gott weiß wie darüber aufregen. At es nicht fo? Beruhigen Sie fih darüber und beruhigen Ste vor allem Wiera Waſſiljewna, bringen Sie fie von bier, damit fie von dem ganzen Geſchwaͤtz

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nichts erfährt. Und was mich betrifft ſo machen Sie fich nur gar feine Sorgen!”

Er lächelte. |

„Ich bin nicht fo zart, daß mich fo etwas beunrubigen könnte, ich fpude auf dieſe Matfchgefhichten. In ber Stadt will ich erzählen, was ich Ihnen ſchon fagte: ich hätte einen Antrag gemacht, ſei aber abgemwiefen worden... wörüber Sie und ih und das ganze Hans ungehalten geweſen ſeien ... da Ich mie Recht geglaubt hätte, einige Anwart⸗ fchaft gu haben... Nach jenem anderen habe ich mid ers fundigt, er reift morgen oder übermorgen für immer ab,

und alles wird vergeffen werben. Und was mich beteifft

ſo iſt es mir jegt völlig gleichgültig, ob ich lebe oder

nicht, da nun Wiera Waſſiljewna Doch nicht bie Meine wird..." |

„Ste wird die Ihrige werden, Iwan Iwanowitſch,“ fagte Tatjana Markowna, ganz bleich vor Innerer Bewegung „wenn das alles... erſt wirklich vergeflen und verſchmerzt iſt ..“ Er machte eine ungebuldige, verzweifelte Hands bewegung. „Ach habe jest erft begriffen, wie tief und innig Sie fie lieben .. .”

Sie wagte noch immer nicht, feinen ſchlichten Worten und den Tränen, die ihm in den Augen flanden, zu glauben dieſen Tränen, die eine fo koſtbare Buͤrgſchaft für Wieras Zukunft, für Wieras Gluͤd ſchienen, das fe ſchon faſt vers nichtet waͤhnte.

„Wird ſie es wirklich werden?“ fragte er, ſich breit vor ſie hinſtellend, waͤhrend er fuͤhlte, daß ſein Haar ſich ſtraͤubte und ein Schauer ihn uͤberlief. „Ich bitte Sie, Tatjana Markowna machen Sie mir keine Hoffnungen, die ſich dann nachtraͤglich als truͤgeriſch erweiſen! Halten Sie mich nicht für einen Knaben, den man troͤſten muß. Was

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ih fage, darauf kann man fich ſtets verlaffen; ich verlange aber auch, daB man mir immer Wort hält. Wer bärgt mie dafür, daß dies wirklich einmal eintritt, daß Wera Waſſiljewna in ber Tat... irgend einmal...“

„Ich bürge Ahnen dafür... als ihre Großtante... mein Wort iſt jegt fo gut wie dag ihrige.. . .“

Tuſchin warf ihe einen bankbaren Blick gu und ergriff ihre Sand,

„Aber Sie mäflen abwarten, Iwan Iwanowitſch!“ fügte fie haſtig, faft erfehroden, Hinzu und entzog ihm Ihre Hand, als fie fah, wie diefes eine Wort aus ihrem Munde ihn wieder belebt und förmlich verjuͤngt hatte, Jetzt ſpreche ih zu Ihnen nicht mehr als ihre Großtante, fondern eins fach als Frau: warten Sie noch, es iſt noch gu früh, fie muß erft gang wieder zu fih kommen. Sie ift noch zu tief erfchättert von dem, was fie durchgemacht hat, fie würde es jetzt nicht ertragen... Ste würde Sie vielleicht miß⸗ verftehen, würde meinen, daß es Ihnen jebt nur darauf antomme, fie nicht aus den Haͤnden gu laffen daß Sie e8 aber fpäter bereuen würden. Stören Sie ihre Ruhe nicht! Sie erwähnten vorhin ruͤhmend mein Herz und meinen Verfiand nun, bie fagen mir beibe: wartet, wartet! Auch Ich, ihre Großtante, ihre Mutter, rede jetzt nicht davon, fondern warte um wie viel mehr mäffen Sie es tun! Denken Ste an meine Worte!”

„Ich werde nur an ein Wort denken, dag Ste mir gefagt haben an bag Wort: ‚fie wird bie Ihrige werben‘. Dieſes Wort wirb mich vorläufig am Leben erhalten Sie fehen, Tatjana Markowna, wie es ſchon jetzt auf mich gewirkt hat...”

„Ich fehe es, Ivan Iwanowitſch, und ich bin davon Abergeugt, daß das, was Sie fagen, nicht in den Wind gefprochen

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iſt. Ich vertraue Ihnen darum habe Ich auch jenes Wort gewagt und will hoffen, daß ed Wahrheit wird...” „Auch ich werde hoffen und warten...” ſprach Tuſchin leife uud fah fie dabei mit bittendem Ausbrud an. „Biel leicht, daß auch Ich einmal, wie Wilentiew, Ste ‚Tantchen‘ nennen kann ...“

Sie gab ihm durch ein Zeichen zu verſtehen, daß ſie allein bleiben wolle. Als er das Kabinett verlaſſen hatte, ſank fie in den Lehnſtuhl und barg ihr GSeſicht in ihrem Taſchen⸗ tuche.

Einundzwanzigſtes Kapitel

m nächften Morgen ſchrieb Naiffi an Paulina Kar⸗

powna ein paar Zeilen und bat, ſie noch an demſelben Tage um halb ein Uhr mittags befuchen zu dürfen. Gie antwortete ihm umgehend: „Charmee, j’attends“ ufw. Die Vorhänge waren beruntergelaffen, und die Zimmer bufteten, als er kam, nad Raͤucherkerzchen. Sie empfing ihn in ihrem Bouboir, in einer weißen Muffelinbiufe mit weiten Spigenärmeln. Um bie Taille trug fie einen Guͤrtel, an der Bruſt eine gelbe Georgine, und die Wangen waren leicht rot geſchminkt. Der Tiſch vor dem Diwan war gebedt, zwei Kuverts lagen darauf. „Ah mein Abſchiedsmahl!“ ſagte er, verneigte ſich vor ihe und fah fie mit füßlihem Ausbrude an. „Wieſo denn Ihr Abſchiedsmahl?“ entgegnete fie gang erfchroden. „Ich will nichts Davon hören! Jetzt wollen Sie abeeifen, nachdem Ste... Nein, das iſt unmöglich! Sie ſcherzen doch nur wel ein grauſamer Scherz! Rein, nein, lachen Sie jegt gleich nehmen Sie das ſchreckliche Wort zuruͤck!“ „Was haben Sie denn da?“ ſprach er freudig erregt, während er feinen Blick auf den Tiſch richtete „feifchen Kaviar ?1”_

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Sie legte ihren Arm in den feinigen und führte ihn zu dem Tiſche, auf dem ein opulentes Fruͤhſtuͤck angerichtet war. Er mufterte einen Teller nach bem andern: zwei tiefe Kriftalls fchalen waren mit Kaviar gefüllt.

„Ih weiß, daß Sie ihn gern eflen... das ſtimmt doch, nicht wahr? . .”

„Kaviar? Ich begann foͤrmlich gu zittern, als ich ihn ſah! Und was iſt denn das?" fragte er, vor Behagen ſchmun⸗ zelnd, während er die Dedel ber filbernen Terrinen nach⸗ einander abhob. „Wie kokett Sie doch find, Paulina Kars powna felbft die Kotelettd, die Sie eifen, verfehen Sie mit Schleifhen! Ah, auch Truͤffeln gibt e8 bie Freude meiner jungen Jahre! Und bier... und bier. .. ach, was haben Sie nur mit mir vor!” fagte er, fi zu Ihr ums; wendend, und rieb fih vor Vergnügen bie Hände, „Was für Pläne ſchmieden Ste nur?“

„D, diefes Lächeln, dieſe Scherze, diefe Froͤhlichkeit das iſt's, wonach mich verlangf. Und Ste reden von Abreifen ! Fort mit aller Traurigkeit. Vive l'amour et la joie!“ „&, et wel ungeswungener Ton! Mir wird faſt aͤngſt⸗ lich zumute!...“ dachte er im füllen.

„Nehmen Sie Plag, da... wie mollen nebeneinander ſitzen!“ fagte fie mit einer einlabenden Handbbewegung und plasierte ihn an Ihrer Seite, worauf fie ihm wie einem Kinde ober alten Manne die Serviette vorband.

Er fügte ſich gehorſam und blickte Dabei nur immer begehr⸗ lich nah dem Kaviar. Ste rüdte Ihm eine ber beiden Kriſtallſchalen Hin, und er begann feinen ganz beträchtlichen Morgenappetit zu fiillen. Dann legte fie ihm ein Kotelett vor und goß Ihm Champagner In ein gefchliffenes Glas, während fie felbft aus einem Pokal trank und dazu Heine Stuͤdchen füßen Gebäds kokett zum Munde führte,

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Dann gab es Wild, und dann tranken fie wieder Cham⸗ pagner, wobei fie miteinander anftießen und fich gegen, feitig in die Augen biidten fie mit einem Ausbrud ſchelmiſcher Zärtlichkeit und er mit fragender, faſt ängftlicher Miene. Endlich brachen fie das Schweigen.

„Run, was fagen Ste?” fragte fie bedeutfam, als ob fie etwas gang Beſonderes erwarte,

„Nein, biefer Kaviar! Ach bin noch gang weg!”

„Sa, ich fehe es...” fagte fie mit verſchmitztem Lächeln, „Nun, legen Sie bie Maste ab, verfiellen Ste fi nice länger...”

„Ach!“ ſeufzte er, während er fein Glas um Munde führte.

„Enfin la glace est rompue? Auf weſſen Seite iſt nun ber Sieg? Wer bat das alles vorausgeſehen und voraus; gefagt? A votre sante!“

„A la vötre!“

Sie fließen miteinander an.

„Denken Sie no... an jenen Abend, als die gange Natur ein Liebesfeft beging, wie Ste fih da ausdrädten?... .* „Ja, ich denke daran!” flüfterte er nachdenklich. „Diefer Abend hat alles entſchieden!...“

„Richt wahr? Ich habe es ja gewußt! Wie konnte auch folh ein armfeliges Ding einen Mann wie Ste in Ihren ſchwachen Neben feftbalten!... Une nullite, cette pauvre petite fille, qui n’ a que sa figurel... Sie hat bo keine Erfahrung, fle iſt fo fimpel, noch das reine Gaͤns⸗ chen ...“

„Nein, ſie konnte mich nicht feſſeln. Ich entfloh ihren Netzen |

4 ...

„Und Ste fanden, was Ste längft erfehnt und geſucht hatten, geftehen Ste es!"

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Er zoͤgerte mit ber Antwort,

„Buvez et du courage!”

Sie ſchob ihm das Glas hin, Er trank es ans, und fie goß ihm fogleich wieder ein friſches ein.

„Sefteben Sie...“

„Ich geftehe.”

„Was ift eigentlich damals... in bem Heine... paffiert?... Sie waren fo erregt. Es war ein ſchwerer Schlag für Sie nicht wahr?“

„Ja, ein fehwerer Schlag und eine Enttäufchung.” „Wie konnte es auch anders fein? Dieſes Mädchen vom Bande und ein Mann wie Sie!...“

Sie blickte ſtolz um fi, warf einen Blid in ben Spiegel und zupfte die Spigen an Ihren Armeln zurecht.

„Was ging dort eigentlich vor?" fragte ‚fie, offenbar bes muͤht, ihre Stage möglichft harmlos erſcheinen zu laſſen. „Das iſt nicht mein Geheimnis,“ ſagte er, ſich gleichſam ploͤtzlich beſinnend.

„Dh, je respecte les secrets de famille... Trinken Sie doch!"

Sie ſchob ihm das Glas Hin, und er nahm einen Schlud und noch einen zweiten, „Ach,“ feufste er dann fo laut, daß es vernehmlich buch das Zimmer tönte, „Darf ih vielleicht das Luftfenfter öffnen?... Mir ift fo beflommen ums Herz, fo ents ſetzlich . ."

„Oh, je vous comprends,‘ fagfe fle und fief nach dem Kenfter, um das Luftpfoͤrtchen zu öffnen. „Hier haben Sie Riechſalz, Toiletteeſſig . . «"

„Nein, ich Dante!” fagte er, während er ſich mit dem Taſchen⸗ tuche friſche Luft zufaͤchelte,

„Wie ſchredlich ſahen Ste damals aus! Ich kam gerade

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im richtigen Augenblide dazu, nicht wahr? Wäre Ich nicht gekommen, dann wären Sie vielleicht wieder dorthin, in bie tiefe Schlucht, zurüdgelehrt. Was war dort eigentlich (08, in dem Dickicht... wie?”

„O, fragen Ste mich nicht!“

„Buvez donc!“

Er trank langfam einen Heinen Schluck.

„Dort, wo Ih das Gluͤck zu finden hoffte...“ ſprach er, wie vor fich ſelbſt Hin „bort hörte ih...“

„Was denn?“ fragte fie, den Atem anhaltend, ganz leiſe. „Ach!“ ſeufzte er wieder laut , koͤnnte nicht auch die Tuͤr aufgemacht werben ?“

„Dort war wohl... Tufchin, wie?“

Er nidte ſchweigend mit dem Kopfe und trank wieber einen Schlud Wein.

Böfe Schadenfreude malte fih in: Ihren Zügen.

„Dites tout!“

„Ste wandelte dort ganz allein umher, in tiefed Brüten verfunten ...” ſprach er Ieife, während Pauline Kars powna mit feiner Uhrkette fpielte und ihr Ohr gang nahe an feine Lippen hielt. „Ich folgte ihren Spuren, ich wollte endlich ihre Antwort hören... Sie ging ein paar Schritte ben Abhang hinunter, da trat ploͤtzlich aus dem Gebuͤſche, mir entgegen...”

Er X

„Er!“

„Ich wußte es, und darum war ich auch in den Park ge⸗ gangen . . . D, Ih wußte, daß da nicht alles ſtimmte! Nun, und was tat er?“

„Er ſagte: ‚Guten Abend, Wiera Waſſiljewna, wie geht es Ahnen ?“

„D, diefer Heuchler!“ fagte die Krizkaja.

{u} 716 (8:

„Ste erſchrak...“

„Das war Berftellung !”

„Nein, fie erſchrak wirklich, und ich verfiedte mih und laufchte. ‚Woher fommen Sie?‘ fragte fie ‚wie fommen Sie hierher?‘ Ich bin heute für zwei Tage hergekom⸗ men,‘ fagte er, ‚um morgen, am Geburtstage Ihrer Schwe⸗ fer... ich Habe mit Abſicht biefen Tag gewählt...” „Eh bien ?“

„Eh bien! ‚Entfeheiden Ste, Wiera Waſſiljewna, fagte er, ‚ob ich leben oder fterben foll!‘”

„Wie feltfam, daß fich bie Leidenfchaft in folch einen Klog einniften konnte!“ bemerkte Paulina Karpowna.

„Iwan Iwanowitſch!' ſagte Wiera mit flehender Stimme. ‚Wiera Waffiljemnäl! unterbrach er fie, ‚entſcheiden Sie, ob ich morgen Tatjana Markowna auffuchen und um Ihre Hand bitten darf, oder ob ich mich in bie Stuten der Wolga ſtuͤrzen fol‘. . .”

„Hat er wirklich fo gefpeochen ?”

„Sans buchſtaͤblich fol”

„Wie lächerlich! Und was antiwortete fie ihm? Ratkelih Hab es da manches Ach und Oh!?“

m®eben Ste mir Bedenkzeit, Iwan Iwanowitſch,“‘ ents gegnete fie ‚Damit ich entfcheiden kann, ob Ich Ihre tiefe, innige Neigung mit einem gleich tiefen Gefühl erwidern fann. Geben Sie mir ein halbes Jahr, ober ein Jahr Zeit, Dann werde Ich Ihnen entweder nein fagen ober Ihnen mein Jawort geben...‘ Ach, wie fidig iſt e8 bier bei Ihnen! Könnte man nicht ein wenig Luft durchziehen laſſen?“ fagte Raifft und fah dabei Pauline Karpowna an. Ihr Geficht zeigte eine ſehr enteäufchte Miene,

„C'est tout?‘ fragte fie ihn,

„Oui! Oul!“ fagte er und Tieß gleich Danach eınen Pfiff

wa 717 CR

hören. „Tuſchin ließ jedoch nicht ab von feiner Hoffnung, ſondern fagte, er wärbe am nächften Tage, das heißt an Marfinkas Geburtstage, wiederfommen, um ihr letztes Wort zu hören. Er ging wieder den Abhang hinunter Durch den Hain, und file gab ihm dag Geleit ... Es fcheint, daß feine Hoffnungen an diefem zweiten Tage ein wenig anfgefrifcht wurden, während die meinigen ganz und gar entfhwanden ...“

„Daß ift alles? Und da hat man nun Gott weiß was ers zaͤhlt!... Nicht nur von the, fondern auch von Ahnen! Und nicht einmal Tatjana Markowna hat man verfchont, diefe ehrenwerte, man kann fagen heilige Perſon!... Was für giftige Zungen gibt e8 doch auf der Welt! Diefer abs ſcheuliche Tpefchlom . . .”

„Was hat er von ber Großtante gefagt?” fragte Maiffi nun feinerfeits mit leifer Stimme, indem er den Atem anhielt und bie Ohren fpiste,

Er hatte bereits von Wera eine leife Anſpielung gehoͤrt, daß die Großtante da irgendeinmal in eine Herzens⸗ angelegenheit verwickelt geweſen ſei, und auch Waſſiliſſa hatte gelegentlich ein Wort fallen laſſen. Aber welche Frau hat nicht ihren kleinen Roman gehabt? Was für eine Luͤge ober Klaͤtſcherei hatte man da nad vierzig Jahren wieder aus dem Gtaube hervorgeholt? Jedenfalls mußte er in Erfahrung bringen, um was es fih handelte, und dem boshaften alten Tytſchkow ben Mund flopfen.

„Was wurde denn von der Großtante erzählt?” fragte er nochmals mit Ieifer, einſchmeichelnder Stimme.

„Ah, c'est degoutant, Niemand glaubt es natürlich, ſondern man lacht ihn nur aus, daß er ſich fo weit erniebrigen lonnte, ein Weibsbild auszuhorchen, das feinen Verſtand vertrunken hat... Ich will es gar nicht wiederholen... +”

CH 718 CK}

„Ich möchte Ste doch darum bitten...” fläfterte er zaͤrtlich. „Ste wünfchen es zu hören ?” flüfterte fie, fich zu ihm vor⸗ neigend. „Wohl, ich tue Ihnen zu Liebe alles..."

„Nun, alfo was war’8?...” flüfterte er mit verhaltener Spannung.

„Diefes Weibsbild man kann es alle Tage vor ber MaridsHimmelfahrtsfiche betteln fehen hat alfo ers zählt, daß Tit Nikonytſch eine Liebſchaft mit Tatjana Mars kowna hatte...”

„Sa, davon habe ich gehdrt...” unterbrach er fie uns geduldig. „Das wäre nicht weiter ſchlimm ...“

„gu gleicher Zeit bewarb ſich aber ber verftorbene Graf Sergiei Iwanytſch um ihre Hand...“

„Auch dag weiß ih fie wollte ihn nicht haben, und er hat dann eine andere geheiratet, während man ihr nicht geftattete, Tit Nikonytſch zu heiraten. Das iſt die ganze Geſchichte, Wafftliffa kennt fie...”

„Mais non, das ift noch nicht alles!... Ich glaube natuͤr⸗ fich nicht, was man da noch weiter erzählt... Ich halte es einfach für unmöglich! Wie ich Tatjana Markowna fenne ...“

„Bas hat denn das betrunkene Weibsbild noch meiter erzählt?” fragte Raiſki.

„Daß der Graf einmal mitten in der Nacht Tatjana Mars kowna und Tit Nikonytſch bei einem Stelldichein in der Drangerie erwifcht habe... und zwar in einer fo unzwei⸗ deutigen Situation... Nein, nein...” Sie ſchuͤttelte fih nur fo vor Lachen. „Tatjana Markowna! Wer follte das für möglich halten!”

Raiſki begann plöglich hoͤchſt ernfihaft nach ihr Hinzuhören. Seine Phantaſie bemächtigte fich bereits der Sache, und er laufchte atemlog auf bie vermoderte alte Klatfchgefchichte.

Hi 719 58:

„Was weiter?” fragte er leife.

„Der Graf gab Tit Nikonytſch eine Ohrfeige ...“

„Das ift eine Lüge!” unterbrach fie Raiſki j&h und fprang von feinem Plage auf, „Tit Nikonytſch iſt ein Gentle⸗ man... er würde dag nie ertragen haben... .”

„Auch ich fage ja, daß es Lüge iſt!“ ſtimmte die Krizkaja ihm liftig bei. „Und er bat es auch nicht erfragen...” fügte fie hinzu „er warf den Grafen zu Boden, wuͤrgte ihn am NHalfe, erwifchte ein Gartenmefler, das dort zus fällig zwifchen ben Blumen lag, und hätte ben Grafen um ein Haar umgebradt.. .”

Raiſkis Züge hatten fih ganz verzerrt.

„Run ?” fragte er, vor Ungeduld kaum atmend. „Tatjana Markowna fiel ihm in den Arm: ‚Du bift kein Bandit,‘ fagte fie, ‚[onbdern ein Edelmann du haft doc einen Degen!“ Und fie brachte beide auseinander. Run fonnten fie fih nicht gut ſchlagen, ohne fie Ind Gerede gu bringen, und fo verabredeten fie miteinander, Daß ber Graf über die Sache fehweigen folle, Tit Nikonytſch aber fie nie heiraten duͤrfe. Sie gaben fich gegenfeitig das Wort bars auf, und dag iſt der Grund, daß Tatjana Markowna bis auf ben heutigen Tag ledig geblieben ift... Iſt dag nicht gemein, eine fo... abſcheuliche Klätfcherei unter die Leute zu bringen ?”

Raiſki ſeufzte tief auf vor Erregung.

„Ste fehen doch, daß das alles Lüge fein muß!” fagte er. „Wer kann fie denn gefeben und gehört haben ?“

„Der Gärtner ſchlief da irgendwo in einer Ede und foll alles gefehen und gehört haben. Doc er ſchwieg darüber er fürchtete fih, denn er war ja ein Leibeigener... Diefes trunkſuͤchtige Weibsbild aber iſt feine Witwe, fie bat es von ihm gehört und ſchwatzt es jet aus... Es

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iſt natürlich alles Unſiun wer foll fo etwas glauben! Ich bin bie erfle, die mis Ihnen ruft: Es ift eine Lüge, eine Lüge! Diefe heilige, ehrwuͤrdige Tatjana Markowna!“

Die Krizkaja ſchuͤttelte fih nur fo vor Lachen und hielt dann plöglich inne. „Aber was ift Ihnen denn?” fagte fie. „Ach, bitte, denken Sie nicht daran! Vive la joie! Warum bliden Sie denn fo finfter drein? Warum bag? Ich werde noch Wein bringen laſſen!“

„Nein, nein, ich habe Angſt ...“

Wovor denn, möcht’ ich wiſſen? ...“ fragte fle ſchmach⸗ tend.

„Daß mir ſchlecht werden könnte... Ich bin nicht gewöhnt,

fo viel gu trinken,“ fagte er und erhob fi. Auch fie fand

von ihrem Plate auf.

„Leben Sie wohl, für immer...”

„Wohin denn? Nein, nein!“

„Ih will entfliehen aus biefem gefährlihen Lande, in dem es fo viel Abgründe und Fallftride gibt... Leben Sie wohl, leben Sie wohll...”

Er nahm feinen Hut und ging rafch davon. Sie fand wie verfteinert da und klingelte dann haflig.

„Der Wagen foll angefpannt werden!” fagte fie zu dem eintretenden Mädchen. „Ich will mich anziehen und Dir fiten machen!”

ME Raiſki fie verlaffen hatte, Dachte er an nichts anderes als einzig an dieſe Klatſchgeſchichte. Er fühlte, daß an dem Geſchwaͤtz jener trunkſuͤchtigen Gaͤrtnersfrau, wie uͤberhaupt an dieſer ganzen Klaͤtſcherei etwas Wahres fi...

Er Hiele nun den Schläffel zu der Vergangenheit der Groß; tante, wie überhaupt gu ihrem ganzen Leben, in ber Hand. Alles ward ihm jegt Har: warum fie gerabe fo geworden,

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wie fie war, woher fie diefe moraliſche Kraft, biefe prak⸗ tifche Klugheit, diefe Kenntnis des Lebens wie des menſch⸗ fihen Herzens nahm, wie es ihr gelingen konnte, Wjeras Vertrauen fo rafch zu gewinnen, fie fo bald zu beruhigen, und woher ihre eigene Unruhe ſtammte. Auch Wiera mußte wohl um alles dies willen... Er fah num die Seftalt der Alten in ihrer ganzen Größe vor fi. Er war nur in ber Abſicht gelommen, bie Gerächte, bie über Wera, über ihn felbft und Aber Tufchin verbreitet waren, nach einer anderen Richtung abzulenken und nun war er plößlich auf dieſes zwar vergeflene, aber doch immer noch lebendige Blatt in ber Chronik feiner Familie ges fioßen, auf ein zweites Drama, das wohl für feine Helden nicht mehr von unmittelbarer Bedeutung war, ba es um volle vier Jahrzehnte zuruͤckdatierte, das aber ihn felbft ganz außerordentlich feflelte. Er verfiand jeßt die Großtante gang und gar. Aufs tieffte bewegt, trat er bei ihr ein. Er vergaß ganz, ihr Aber feinen Beſuch bei ber Krizkaja und die Darftellung, die er dieſer von den Vorgängen an Marfinkas Geburtstag gegeben, Bericht zu erflatten, und fog fih förmlich mit gierigen Augen an ihr fefl. „Borjuſchka!“ rief fie hoͤchſt verwundert, während fie vor ihm zuruͤckwich „was iſt denn mit bie, mein Lieber? Du riecht ja nach Wein wie ein Baß...” Sie ließ ihr Auge vielleicht eine Minute laug auf Ihm ruhen, bemerkte feinen durchdringenden Blick, ſah Ihn ſelbſt forfchend an und kehrte ibm dann ben Ruͤcken. Sie hatte erraten, daß er die Klarfchgefchichte erfahren hatte, bie über fie ſelbſt im Umlauf war.

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Boos s4 Me a A ed ——— ——

Zweiundzwanzigſtes Kapitel

ndlih kam auch der Tag, an dem Marfinka und

Wikentjew Ihre Hochzeit feierten. Wider Erwarten fiel die Hochzeit recht befcheiben ans. Nur die erften Leute ans der Stadt und einige Gutsbeflger aus ber Umgegend wurden eingeladen; immerhin mochten etwa fünfjig Säfte anmefend fein. _ Die Trauung fand an einem Sonntagnachmittag in ber Dorflirhe flatt. Dann wurden bie Säfte zu einem Fruͤh⸗ ſtuͤck geladen, das im großen Saale des alten Haufes ges ‚geben wurde. Wochenlang vorher war dieſes gefegt, ges fäubert und gewaſchen worden, Damit es fich bei diefer Ge⸗ fegenheit recht gut präfentieren möchte. | Der Wein floß nicht in Steömen, die Gefichter wurden nicht erhitzt, die Zungen nicht geldft, und keine Freudenrufe ers tönten. Am meiften war das Hofgefinde durch die bes fcheidene Feier enttäufcht, und wenn die Leute auch ganz wader tranten, fo tranken fie Doch nicht BIS zur Bewußt⸗ Iofigkeit, was ſie EN die Hochzeit für nicht eben Inftig zu erklären. Ä Die Herrin des Hauſes hatte mit gewohnter Vorausſicht Dafür geforgt, daß die Kutſcher, Köche und Lakaien nicht

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über den Durft trauken. Sie hatten alle ihren Dienft, der nicht vernachläffigt werben durfte: die einen bereiteten das Fruͤhſtuͤck, die andern fernierten bei Tiſch, und noch andere hatten das junge Paar famt dem ganzen Hochzeitsgefolge in der Paradekutſche nach dem Flußufer gu bringen, von wo aus fie bann Aber ben Strom fegen follten. Auch vor; her fchon hatte es eine Unmenge Arbeit gegeben. Eine ganze Woche lang wurde Marfinlas Ausftener über ben Fluß befördert: ihre Garderobe, ihre Möbel, eine Unmenge von Einrichtungsftäden aus dem alten Haufe mit einem Worte: ein ganzes Vermögen.

Marfinta firahlte wie ein Eherub.m, in ihrer jugendlichen Schönheit erſchien fie wie eine frifch erblähte Mofe. Ein neuer Zug fam an biefem Tage in ihre Geſicht: ein nach⸗ denflihes Lächeln, das daranf fchließen ließ, daß fie das Leben in einem neuen. Lichte gu fehen begann; zuweilen blinkte fogar eine Träne an ihren Wimpern.

Das Bewußtfein dieſes neuen Lebens, der Ausblid in bie Kerne, bie Strenge der Pflicht, die Vorftellung bed ers . reichten Zieles, das Gefühl des Gluͤcks alles dies verlich ihrem Geſichte und ihrer Schönheit einen eigenen, ruͤh⸗ venden Ausbrud, Der Bräutigam benahm ſich fill und beſcheiden, ja faft ſchuͤchtern; fein keckes Weſen war vers ſchwunden, feine Scherje waren verfiummt, er war gan bin vor lauter Nahrung. Die Großtante hatte eine nach⸗ denflichsglüdliche Miene, und Wiera war bleih und uns ergruͤndlich.

Raiſki blickte mit Entzuͤcken auf die junge Braut, und als fie völlig angelleibet aus Ihrem Zimmer kam, entfuhr Ihm ein Ach! der Bewunderung. Dann aber erſchrak er plöglich: er batte in dem Hochzeitsbukett ber Braut ein paar welle Zweiglein geſehen.

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„Bas ift das?” fragte er haftig, doch erriet er bereits felbft die Wahrheit.

„Das find ein paar Zweige aus dem Bukett, das Wiera mir an meinem Geburtstage gefchenft hat,” fagte fie naiv.

Raiſki ruhte nicht, bis fie Die welken Reiſer aus dem Bukett entfernt hatte, und war ihr ſelbſt dabei behilflich; zur Er⸗ klaͤrung fuͤgte er hinzu, daß welke Reiſer eine boͤſe Vor⸗ bedeutung haben.

Im uͤbrigen ging alles glatt und vorſchriftsmaͤßig von⸗ ſtatten, auch das Abſchiedsſchluchzen der jungen Frau mit einbegriffen, die man buchſtaͤblich von der Bruſt der Groß⸗ tante losreißen mußte doch auch das war durchaus vorſchriftsmaͤßig.

Auch die Großtante behauptete nur mit Muͤhe ihre Faſſung. Sie war ſehr blaß, und man ſah es ihr an, daß ſie ſich nur mit großer Kraftanſtrengung auf den Beinen hielt, als ſie vom Ufer aus das geliebte Kind, das ſie ſo lange an ihrer Bruſt und auf ihrem Schoße gehegt hatte, buchſtaͤblich da⸗ vonſchwimmen ſah.

Ihren Traͤnen ließ ſie erſt zu Hauſe freien Lauf, als ſie fuͤhlte, daß fie doch nicht gang verwaiſt ſei, als Wiera ſich leidenfhaftlih in ihre Arme warf und die Liebe, die bisher zwiſchen beiden Mädchen geteilt gewefen war, fih nun ganz und ungeteilt diefer zweiten, bewußt lebenden, durch bittere ‚Erfahrung gereiften Tochter zuwandte.

Tuſchin war nach der Hochzeit nicht nach Haufe gefahren, fondern bei einem Freunde in der Stabt geblieben. Am naͤchſten Tage erichten er bei Tatjana Markowna mit ‚einem Urchiteften. Den ganzen Tag vertieften fie fih num in allerhand Pläne, befichtigten beide Häufer, den Park, bie Wirtſchaftsgebaͤude, hielten Mat, zeichneten und rech⸗

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neten und fprachen von ben großen Veränderungen, bie für den nächften Frühling geplant wurden.

Aus dem alten Haufe wurden alle Koftbarkeiten, alle Möbel und Bilder, ja felbft die Parkettafeln, foweit fie noch brauch⸗ bar waren, herausgenommen und teild in bem neuen Haufe, teild In den geräumigen Vorratskammern und felbft auf dem Boden untergebracht.

Tatjana Markowna mollte zunaͤchſt nach Nowoſſelowo sieben und dann bei Wikentjews einen längeren Befuch abftatten. Den Frühling und Sommer follten fie nad Tuſchins Wunſche bei deflen Schwefter Anna Iwanowna auf feinem Waldgute Dymka verbringen.

Tatjana Markowna entgegnete auf dieſen Borfchlag: „Ih weiß nicht, Iwan Iwanowitſch, ob das geben wird! Ich fürchte mich ein wenig, ed Ihnen ficher zu verfprechen, doch ich will die Einladung auch nicht ausfchlagen: wie Gott e8 fügt, und wie MWiera will...”

Gleichwohl begann Tufhin, um auf alle Fälle vorbes reitet gu fein, mit bemfelben Architekten über den Um⸗ bau feines Hauſes zu fprechen, damit er bie erwarteten lieben Säfte auch gebührend aufnehmen und unterbringen fonnte.

Raiſki 109 aus bem alten Haufe wieber nach feinem früheren Zimmer. Koslom war In feine Wohnung zuruͤckgekehrt, hatte jedoch verfprochen, nach ber Abreiſe Tatjana Mars kownas und Wieras von neuem nah Malinowka zu foms men. Tufchin hatte ihn eingeladen, fich bei ihm im Walde anzuſiedeln und für feine Leute eine Schule einzurichten. Koslow kratzte fich den Kopf, fann eine Weile nach und bfidte feufjend nach ber Moskauer Ehauffee hinaus.

„Später vielleicht, im Winter...” fagte ee „test heißt es für mich warten und Auslug halten...“

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Er ließ den Say unbeendet und verſank in Nachdenken. Er wartete noch immer vergeblih auf einen Brief von feiner Frau. Altana Andrejewna hatte jüngft an bie Frau des Hauswirtes gefchrieben, man möchte ihr den warmen Mantel, den fie zu Haufe vergeflen hatte, nachſchicken. Sie hatte ihre Adreſſe mitgeteilt, von Ihrem Mann jedoch nicht ein Wort erwähnt. Koslow hatte Ihe den Mantel felbft nachgefandt und in einem leidenfhaftlihen Briefe fie bes ſchworen, doch wieder gun ihm zuruͤczukehren von Greunds ſchaft hatte er gefpeochen, ja fogar von Liebe...

Der Armſte er bekam feine Antwort! Er nahm alls mählich wieder feine Tätigkeit am Gymnaſium auf, war jedoch in den Stunden bald tief niebergefehlagen, bald gan atg zerſtreut; er bemerkte die Späße und bummen Streiche nicht, welche die Schüler vor feinen Augen trieben fie hatten kein Mitleid mit dem Tiefbefümmerten und fahen in ihm nur den Tächerlichen Menfchen.

Während der Abweſenheit Tatjana Markownas hatte Tu⸗ ſchin die Verwaltung von Malinowka Abernommen. Er nannte es fein Winterquartier und kam einmal in jeder Woche herüber, um nach der Wirtfchaft in Haus und Dorf und der Dienerfchaft zu fehen, von der nur Waſſiliſſa, Je⸗ gorfa, der Koch und der Kutſcher mit ber Großtante nad Nowoſſelowo übergefiedelt waren. Alle übrigen waren daheim geblieben, und Jakow und Sſawelij wurden von Tuſchin zu ihrer Beauffihtisung beftellt.

Raiſki hatte die Porträts der Großtante und Wieras bes endet, und auf dem unfertigen Bildnis der Krizkaja hatte er noch als Bruſtzier eine gelbe Georgine hinzugefügt. Acht Tage nach Marfinkas Hochzeit erflärte er, daß er nach zwei Tagen abreifen wolle. | „Jegor, hol’ doch den Neifekoffer vom Boden und leg” mir

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Waͤſche und Kleider zurecht ich fahre ab,“ fagte er zu Jegorka.

Diesmal ſah Jegorka, daß die Sache ernſt gemeint war. Bei der Durchſicht der Kleider, der Waͤſche und des Schuh⸗ werks entdeckte er, daß drei oder vier von den feinen Hem⸗ den ſeines Herrn nicht mehr ganz neu waren, und ſo kon⸗ fiszierte er fie zu ſeinen Gunſten. Ebenfo verfuhr er mit einem Hoſenpaar und einer Weſte, die ihm uͤberzaͤhlig er⸗ ſchienen, und auch ein Paar Schuhe mit niedergetretenen Abſaͤtzen ſtellte er zuruͤck.

Am traurigſten war Tit Nikonytſch dran. Er waͤre fruͤher Tatjana Markowna bis and Ende der Welt gefolgt, jetzt aber, nachdem dieſe Klatſchgeſchichte in Umlauf gekommen, durfte er, wenigſtens fuͤr die erſte Zeit, ſich nicht allzu auf⸗ faͤllig an ſie halten. Das haͤtte den Leuten zu neuem Ge⸗ rede Anlaß gegeben, wenn man auch jenen alten Klatſch, der nur durch ein dem Trunke ergebenes altes Weib be⸗ zeugt war, entweder nicht geglaubt oder bald wieder ver⸗ geſſen hatte. Tatjana Markowna geſtattete ihm jedoch, zu Weihnachten nachzukommen und je nach den Umſtaͤnden laͤngere Zeit dazubleiben. Das war wenigſtens ein Troſt, aber der Gedanke, bis dahin allein bleiben zu ſollen, ließ ihn gleichwohl tief aufſeufzen, und umſo größer war daher feine Freude, ale Tuſchin ihn für die Zwiſchenzeit auf fein Waldgut einlud.

Die Gerüchte, die über Wera im Umlauf geweſen waren, verfiummten plöglich: ſtatt beffen erwartete man nun Ihre Verlobung mit Tufchin. Auf diefen war man nach dem Fruͤhſtuͤck, das Raiſki bei der Krizkaja eingenommen, nicht fehr gut zu fprechen, da feine nächtlichen Spaziergänge mit ihe dort unten in der Schlucht noch immer nicht recht aufs geflärt ſchienen.

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Zwiſchen Tuſchin, Wiera und Tatjana Markowna wurde ſeit der Ausſprache des erſteren mit der Großtante von der ganzen Angelegenheit uͤberhaupt nicht mehr geſprochen. Der „Nebelfleck“ blieb beſtehen, nicht nur fuͤr die Geſell⸗ ſchaft, ſondern auch fuͤr die handelnden Perſonen, das heißt für Tuſchin und die Sroßtante.

So fehr auch diefe auf die freundſchaftlichen Gefühle rechnete, bie Wiera für Tuſchin empfand, und fo fehr fie fih auch auf ihre eigene Überrebungstunft verließ, konnte fie doch insgeheim fich gewiſſer Befürchtungen nicht ent fchlagen. Sie glaubte nicht, daß Wera, bei aller Mill, fähigkeit, ſich ihr im diefer Frage ohne weiteres fügen wuͤrde, und fo verfuchte fie es nicht erft, auf ihren Willen einzuwirken.

Sie rechnete darauf, daß Wjeras Herz bald ſelbſt die Ent⸗ ſcheidung treffen wuͤrde: es ſchien ihr ungereimt, daß ſie, nachdem ſie Iwan Iwanowitſch ſchon als Menſchen und Freund liebgewonnen, ihn nicht auch als Mann lieben lernen ſollte und um ihn als ſolchen zu lieben, mußte ſie ihn eben heiraten, womit ja ſein ſehnlichſtes Ziel, wie auch das ihrige, erreicht war.

Ste erriet jedoch die ſeeliſche Stimmung Wferas und ent⸗ ſchied, daß jest für alles dies noch nicht bie Zeit gefommen ſei. Wied aber diefe Zeit überhaupt einmal fommen? Wied Wiera jemals ihre volle Ruhe wiebergewinnen? Sie war gar zu eigenartig veranlagt, und es ging nicht an, fie nad andern zu beurteilen.

So empfand denn Tatjana Markowna im ſtillen eine ges wife Bellemmung, als fie hörte, daß man die Heirat Wieras und Tufchins in der Stadt als eine ausgemachte Sache betrachtete. Das Gerücht fehlen ihr den Tatfachen Doch gar zu raſch vorauszueilen.

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Nur Wiera wußte nichts von allen dieſen Dingen fie ſah in Tuſchin immer noch einzig den fräheren Freund, ben fie noch mehr fchägte, feit fie gefehen, wie er mannhaft feinen eigenen Schmerz überwunden und ihr mit ber alten Wertſchaͤtzung und Sympathie feine Hand gereicht hatte. Bol Rührung bewunderte fie feine Herzensguͤte, Gerechtig⸗ keit und Großmut, die ihm von der Natur felbft verliehen waren, während ein Raiftt, bei aller Bildung und geiftigen Entwidlung, erft auf dem Wege fohmerzlichiter Erfahrung zu gleicher Volllommenheit gelangt war.

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Dreiundsmanzigfles Kapitel

m Tage vor Raiſkis Abreife fah es in deflen Zimmer

recht Eunterbunt aus. Überall lagen und hingen Waͤſcheſtuͤcke, Kleider, Stiefel und fonftige Sachen umber, und der Tisch war mit Portefeuilles, mit Zeichnungen und Heften bededt, die er alle mitnehmen wollte. In den fetten zwei, drei Tagen vor der Abreife hatte er noch eins mal fein ganzes Titerarifches Material geſichtet und unter anderem auch die Blätter durchgefehen, die feine Notizen aber Wjera enthielten und die Grundlage für den zu; fünftigen Roman gleichen Namens bildeten. Ich will’ doch probieren noch hier, am Drte der Hands fung will ich mit der Sache anfangen!” fagte er fich in dieſer legten Nacht, die er unter dem Dache des väterlichen Hauſes verbrachte, und fegte fih an den Schreibtifh. „Ein Kapitel wenigftens will ich niederſchreiben! Und dann, in der Ferne, wenn ich von biefen Perfonen, von dem Gegenftande meiner Leidenfhaft, von allen dieſen Dramen und Komödien räumlich getrennt bin, werde ich das alles von weiten viel bentlicher fehen. Die Entfernung wird die Dinge mit einem poetifchen Nimbus umgeben; ich werde mein Ideal in feiner Reinheit, ohne die Beimifchung realiftifcher Einzels

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beiten, in bichterifcher Verlärung fehen... IH will es verfuchen!.. . .“ Und er fohrieb: „Biere. Ein Roman...”

Er begann nachzudenken, in wieviel Teile er fein Wert gliedern follte. „Schreibe Ih nur einen Band, fo kann Ich es nicht einen Roman, fondern hoͤchſtens eine Erzählung nennen,” dachte er. „Es fragt ſich alfo, ob ich zwei ober drei Bände fchreibe. Für drei Bände brauche ich wenigſtens drei Jahre. Das dauert mie gu lange fagen wir alfo zwei Bände!” Und er fehrieb: „Ein Roman in zwei Baͤn⸗ den.“

„Run das Motto doch das babe Ich ſchon gewählt!” fläfterte er und fohrieb aus dem Gedächtnis das bekannte Heineſche Gedicht nieber:

„Run ift es Zeit, daß ich mit Verſtand Mich aller Torheit entled’ge;

Ich dab’ fo lang als ein Komoͤdiant Mit dir gefptelt die Komoͤdie.

Die prächt’gen Kuliſſen, fie waren bemalt Im hoch romantifhen Stile,

Mein Rittermantel hat goldig geſtrahlt, Ich fühlte die feinen Gefühle.

Und nun Ih mich gar fauberlich Des tollen Tands entleb’ge:

Noch immer elend fühle ich mich, Als fpielt’ ich noch Immer Komoͤdie.

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Ab, Sort, im Scherz und unbewußt

Sprach ich, was ich gefühler;

Ich Hab’, mit dem Tod in ber eignen Bruſt, Den fterbenden Fechter geſpielet!“

Er las die Verfe noch einmal buch, fenfite dann, flüßte die Ellbogen auf den Tifch, legte die Wangen in die Hände und betrachtete fih im Spiegel. Mit Berrübnis fah er, daß er ſtark abgemagert war, daß die lebhaften Farben und das bewegliche Mienenfpiel von feinem Geſicht vers ſchwunden waren. Die Friſche der Jugend war dahin, nicht ſpurlos war dieſes halbe Jahr an Ihm voruͤberge⸗ sangen. Auch die filbernen Fäden in feinem Haar hatten fih flark vermehrt. Er fuhe fih mit der Hand durchs Haar und fah, daß es auch nicht mehr fo dicht war wie fruͤher.

„Ja, fo iſt's: ich Hab’ mit dem Tod in der eignen Bruſt ben fterbenden Fechter gefptelet!. . .” flüfterte er feufjend, nahm die Feder und ſchickte fih an zu fehreiben.

In diefem Augenblid trat Jegor ein und fragte, wann er ihn weden folle. Raiſki fagte, er brauche ihn überhaupt nicht zu weden, er werde von felbft erwachen. Vielleicht gehe er gar nicht ſchlafen, da er fehr viel gu tun habe. Jegor erzählte das beim Abenbbrot den Mädchen und fügte bins su, der Herr werde wohl in dieſer Nacht wieder feine Schnur; ren Ioslaflen, wie damals, im Anfang bes Herbſtes. „Das war doch fehr Iuftig damals,” meinte er „aber ein bißchen Angftlich wird man doch dabei.”

Unter das Motto fehrieb Raiſti das Wort „Widmung“. Dann begann er nachzudenken, sing ein paarmal durchs Zimmer, fegte ſich plöglich und begann zu fehreiben.

„D Frauen!“ ſchrieb er raſch Hin „Ihe habt mich zu diefer

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Arbeit begeiftert, und euch foll fie darum gewidmet fein. Nehmt meine Widmung gnädig entgegen! Sollte mein Wert unfreundlih aufgenommen werden, follte es Spott ernten und Mißverftändniffe hervorrufen, dann werdet Ihe wenigſtens es zu würdigen willen und verfichen, was mein Gefühl, meine Phantafie und meine Feder geleitet hat. Eurem mächtigen Schuge will ich mich felbft wie mein Wert anvertrauen. Bon euch allein erwarte ih... meinen Lohn,” Hatte er zuerſt gefchrieben, durchſtrich das Wort jedoch und ſchrieb flatt deflen: „ein nachfichtiges Urteil.” „Lange fchritt ich, wie ein Nachtwandler, mit ber Diogenes; laterne zwiſchen euch umher,“ fchrieb er weiter, „und fuchte an euch bie Züge unvergänglicher Schönheit für mein deal. Ich überwand alle Hinderniſſe und ertrug alle Folter; qualen” SHinberniffe und Dualen werben bei Der Sache ja nicht ausbleiben, dachte er, das find eben bie Wehen, unter benen alles Neue geboren wird „und verfolgte ruͤſtig meinen Weg, ber mich der Vollendung meines Wers kes entgegenführte. Ich fah eure Schönheit, fah aber auch eure Verirrungen, eure Leidenfchaften und Fehltritte, ſah euch firaucheln und firauchelte felbft mit euch, um mich wieder emporsurichten. Sch lockte und rief euch auf einen hohen Berg, nicht, um euch, wie Satan, in Verfuchung zu führen, um euch das Reich diefer Welt zu zeigen nein, ich rief euch Im Namen einer anberen Macht, auf daß ihr euch felbft und zugleich ung, eure Söhne, Väter, Brüder, Gatten und Freunde der Bolllommenhelt entgegenführs tet...

„Begeiftert durch eure erhabene Schönheit und bie ums überwindliche Macht der Liebe, in beren Gebiet ihr Die Herrſcherinnen feld, babe ich es verfucht, mit ſchwacher Hand das Bild ber Frau der Frau an fih zu zeichnen,

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in der ſüllen Hoffnung, daß ihr mein Konterfei wenigftend annähernd ähnlich finden werdet nicht nur, foweit eure Blide, euer Lächeln, eure Grazie, die Schönheit eurer For⸗ men in Betracht fommt, ſondern auch, foweit es fih um die wefentlichen Eigenfhaften eurer Seele, eures Verſtan⸗ des, eures Herzens, kurz um ben ganzen Reiz und Zauber eurer beften Kräfte handelt.

„Ncht in die tiefen Abgründe gelehrten Willens babe ich euch gelodt, noch zu rauher, harter Arbeit gerufen, bie ber Frau nicht zukommt. Ich habe mich auch anf feinen Die, put um eure Mechte eingelaflen, da ich euch unbefiritten den Vorrang einräume. Nein, wir find nicht gleichberechtigt: ihr feid ung überlegen, ihr feid die Kraft, und wir find nut euer Werkzeug. Nehmt ung, fo rufe ich euch zu, weder ben Plug noch den Spaten noch das Schwert aus der Hand. Wir werden für euch die Erbe beftellen und verfchönen, werben in ihre Tiefen binabfleigen, werben die Meere durchſchwimmen und die Sterne zählen ihr aber, die ihr ung das Leben ſchenkt, möget wie eine güfige Vorſehung unfere Kindheit und Jugend behüten, möget uns zur Ehr⸗ barkeit, zur Arbeitfamkeit, zur Menfchlichkeit erjiehen, moͤget une das Gute lehren und die Liebe, die der Schöpfer in unfere Herzen geſenkt Hat, auf Daß wir die Kämpfe des ‚Lebens tapfer beftehen und euch dahin folgen, wo alles vollkommen iſt, wo die ewige Schönheit herrſcht.

„Die Zeit hat euch ſchon manche Feſſel abgenommen, die eine ebenfo verfchlagene wie brutale Tyrannei euch angelegt hatte: fie wird auch die leuten Ketten noch fprengen, bie each hemmen, wird ben großen Kräften eures Geiftes und Herzens volle Bewegungsfreiheit gewähren, und ihr werdet offen und kühn euren Weg verfolgen und eure Freiheit beſſer gebrauchen, als wir bie unftige benute haben.

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„Entfagt eurer arglifiigen Schlauheit, diefer Waffe des Schwachen, und all ihren Raͤnken und Schlichen, die im Dunkel fchleihend ihre Ziel anſtreben ...“

Er hielt inne, begann nachzuſinnen und durchſtrich bie beiden legten Zeilen. „Es fcheint, daß ich mich da gu plump ausgebrädt habe,“ flüfterte er vor fih hin. „ie Nikonytſch meint, man folle den Damen nur immer Angenehmes fagen ...“ |

Hinter der Widmung fchrieb er in großer Schrift die Worte:

„Erfter Teil, Kapitel 1.“

Er ftand auf, ging, fih die Hände reibend, im Zimmer auf und ab und überlegte, wie er das erfte Kapitel bes sinnen laffen follte, und was er am beften darin fagen fönnte. 14 Nachdem er eine halbe Stunde hin und her gegangen wat, mäßiste er feinen Schritt, als kaͤmpfe er in Gedanken mit tegendwelchen Schwierigkeiten. Sein Schritt wurde immer langfamer und leifer. Endlich blieb er mitten im Zimmer wie verftört ſtehen, als fei er plöglich auf einen Stein ges ſtoßen.

„O Gott!“ fluͤſterte er erſchrocken „ich habe doch ver⸗ ſprochen, fie auf einen hoben Berg zu führen, und flatt deſſen führe ich fie... was iſt mir denn ba in ben Kopf gefommen ?”

Er verfiel in tiefes Bruͤten.

„sa, ich werde fie ſchreiben, biefe Geſchichte Wieras,“ Dachte er. „Wenn aber bie euffifhen Jungfrauen plöglich ihren Fehltritt, den ich da fchildere, als ein nachahmens⸗ wertes Vorbild anfehen und wie bie Ziegen eine nach ber andern in die Schlucht Hinunterhäpfen ? Und es gibt fo viel

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Schluchten in unferem vufftfhen Baterlande... Wag werben bie guten Mütter und Bäter dazu fagen?.. .“ Er ſtand wohl fünf Minuten auf einer Stelle, und dann lachte er plöglich Hell auf und begann wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Wie wuͤrden unfere ruſſiſchen Wieras erbleichen und unfere rufflihen Marfinfas errdten, wenn fie hörten, daß ich fie... Ziegen genannt habe!... Doch das foll mic nicht abhalten, ben Roman zu fehreiben,” fprach er zu ſich und feufste dabei fraurig. „Aber es können andere Hinders niffe eintreten... die Zenfur zum Beiſpiel! Ya, die Zenfur wird mir hinderlich fein,” rief er faft freudig aus, als Hätte er einen glüdlichen Fund gemadt.

„Was könnte mir wohl fonft noch In die Duere kommen?“ Er begann nachzudenten.

„Es ſcheint, daB fonft weiter nichts im Wege fieht alfo wird wohl nichts weiter Abrig bleiben, als daß ich drauflos ſchreibe . ...”

Er mäßigte feinen Schritt und vertiefte fich in dag Gewebe Des Romaneg, in feine Handlung, in ben Charakter Wera, die noch unaufgeflärte pfnchologifhe Aufgabe, Die Ums gebung ber Heldin, das Tandfchaftlihe Milten. In tiefem Sinnen fegte er fih an den Tiſch, fügte die Ell⸗ bogen darauf und legte den Kopf in die Hände. Dann fuhr er mit der trodenen Feder über das Papier, tauchte fie langfam In das Tintenfaß und fehrieb noch langſamer in der neuen Zelle, hinter der Überſchrift „Kapitel I” bie Worte: „Es war einmal...” nieder.

Er fann und fann, den Kopf bald fo, bald fo wendend, über bie Fortſetzung nad. Eine Viertelſtunde verging, ‚feine Augen begannen immer häufiger zu ans Er wurde ſchlafrig. |

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Es war ihm unangenehm, fo im Sigen halb fhlummernd hinzudaͤmmern, und fo ging er nach dem Diwan, legte den Kopf auf feine weiche Polfterung und firedte die Beine

aus.

„Ich will ein wenig ausruhen und dann an die Arbeit gehen ...“ dachte er und ſchlief fofort ein. Im Zimmer ließ fih fein gleichmäßiges, ruhiges Schnarden vers nehmen.

Als er erwachte, fehien ber Tag bereits zum Fenfter herein. Er fprang auf und ließ die erflaunten, faft erfchrodenen Yugen In bie Runde gehen, als hätte er im Traume etwag Unerwartetes, Überrafchendes gefehen als hätte er ein neues Amerika entdeckt.

„Immer wieder fehe ich Statuen!” fprach er fill für ſich „ſogar im Traume verfolgen fie mih!” Immer nur Statuen, Statuen! Was ift bag? Ein Wink bes Schickſals?“ Er trat an den Tiſch, betrachtete aufmerffam die Blätter, die dort lagen, las die Einleitung, die er niebergefchrieben hatte, feufzte, fchüttelte den Kopf und verfank in ein ſchmerz⸗ liches Brüten.

„Was tue ih nur! Womit vergeube ich meine Zeit? Nun iſt noch ein Jahr hingegangen... Ein Roman wel fonderbarer Einfall!” flüfterte er ärgerlich vor ſich hin. Er ſchob dag Manuffript zur Seite, begarın haftig In dem Schubfach zwiſchen feinen Papieren zu fuchen und holte einen Brief heraus, den er vor einem Monat von dem Maler Kirillow erhalten hatte. Er überlag Ihn raſch, nahm einen Briefbogen und feste fih an den Tiſch.

„I benachrichtige Sie, lieber Kirillow,“ fehrieb er, „ſo⸗ zuſagen auf frifcher Tat von einer unerwarteten neuen Pers fpeftive, die ſich mir für meine Kunftbetätigung eröffnet. Sie fehreiben mir, daß Ste fich zu einer Meife nach Jtalien,

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nah Rom, rüften und ich felbft Bin in Begriff, nach Petersburg zurüdzufcehren. Warten Ste um Gottes willen: ich will mie Ihnen reifen! Nehmen Sie mich mit! Erbarmen Sie fich eines Blinden, Wahnftnnigen, der erft heute fehend geworben ift, erft jegt feinen wahren Beruf erfannt hat. Lange faftete ih im Dunkeln und wurde faft zum Selbſtmoͤrder, indem ich durch Verfolgung eines falfhen Weges mein Talent zugrunde richtete. Sie ent⸗ beten in meinen Bildern Zeichen von Begabung ich follte nur dem Pinfel treu bleiben, meinten Sie. Ach aber warf mich der Muſik in die Arme, und zuletzt gar ber Lite, ratur und ward fchließlih ganz und gar verworfen. Denken Ste fih: ich wollte einen Roman fohreiben! Und weder Ste noch fonft jemand hielt mich davon zuruͤck, fein Menſch fagte mir, daß ich In Wirklichkeit ein Plaftifer, ein Heide, ein alter Grieche in ber Kunft Bin! Ach Hatte mir die Aufgabe geftellt, fogufagen eine befeelte, vernunfts begabte Venus zu fehreiben aber es iſt doch, weiß Gott, nicht meine Aufgabe, die Sitten und Bräuche ber Men; fchen zu fhildern, die Grundlagen des Lebens zu erforfchen und zu beleuchten, Pſychologie zu treiben, die Erfcheis nungen zu analyfieren !

„Rein mein Gebiet tft die Form, die dußere, unmittels bar auf die Nerven wirkende Schönheit!

„Fuͤr den Roman bedarf es anderer Dinge, vor allem jahrelanger Arbeit, Vor der Arbeit würde ich mich ja nicht fürchten, und auch die Zeit würde ich opfern wenn Ih überhaupt überzeugt fein dürfte, daß meine Stärke wirk fih in ber Feder ruht.

„Ich will übrigens dieſe Blätter, die fih da angefammelt haben, für eine fpAtere Zeit aufbewahren, wer weiß, viel leicht ... doch nein, Ich will mich nicht fo truͤgeriſchen Hoffs

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nungen bingeben. Meine produktive Kraft ift nicht für die Feder beſtimmt. Es liegt nicht in meiner Natur, mich in den fomplisierten Mechanismus des Lebens zu vers tiefen. Ich bin ein Plaſtiker, fage ich noch einmal: meine Aufgabe tft es lediglich, die Schönheit mit dem Auge gu erfaffen und fie ſchlecht und recht, ohne Winkelzuͤge, in meinen Schöpfungen wiederzugeben ...

„Berwahren aber will ich diefe Blätter Doch, fie follen mich dereinft Daran erinnern, was ich Hier mit angefehen und erlebt Habe, wie ich felbft und andere es trieben, was ich gefühlte oder richtiger empfunden und erdulbet habe

‚Nach meinen Tode wird bann vielleicht ein anderer meine Papiere finden... und ben Roman fchreiben, ben ich ſchreiben wollte... Sch aber bin der Plaſtiker, dee Bild; bauer und will es fein! Nein, widerfprechen Sie mir nicht und fchelten Ste mich nicht! Jetzt endlich bin ich das hinter gekommen und verfiehe endlich dieſe Winte und Mahnungen, die gleihfam aus meinem innerfien Weſen emporftiegen: verfiehe, was es zu bedeuten hatte, daß ich Wiera und Sophie und fo viele andere immer vornehm; lich als Statuen ſah. Jetzt iſt mie Har, woher das ges kom men!

„Ich bin Plaſtiker und Sie wiſſen das, Sie haben mein Talent erkannt. Es kam nur darauf an, daß ich in die richtige Bahn gelange, um mein plaſtiſches Talent zu betaͤtigen, daß ich betreffs des Materials und Werkzeugs die richtige Wahl treffe. Die Hand des einen iſt fuͤr den Pinſel geſchaffen, der die Farbentraͤume ſeiner Phantaſie wiedergibt, die Hand des andern fuͤr die Saiten oder Klaviertaſten, und meine Hand iſt, wie ich jetzt ganz be⸗ ſtimmt weiß, dazu berufen, den Ton zu kneten und den

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Meißel zu gebrauchen... Das Auge befige ich, ben Ges ſchmad gleichfalls, und das heilige euer nicht wahr, das werden Ste mir doch nicht abftreiten? Nein, ftreiten Sie nicht, ich werde doch nicht auf Ste hören, fondern retten Ste mich lieber, nehmen Ste mid mit und helfen Sie mir bei den erften Schritten auf dem neuen Wege, Dem Mege eines Phidias, Prariteles, Canova und noch einiger wenigen anderen...

„Ber will behaupten, daß Ich nie gu biefen wenigen gehören werde? Ich habe eine ungemein reiche Phantaſie. Ihre Funken find, wie Sie felbft fagten, in meinen Porträts verfireut, fie leuchten fogar in meinen befcheidenen muſika⸗ lichen Verſuchen ... und wenn es mir nicht gelang, fie in einem Gedicht oder Roman, einem Drama oder einer Komoͤdie zum Leuchten gu bringen, fo lag das eben daran, daß ...“

Er mußte nieſen. —— „Ih habe es benieſt alſo iſt es wahr, daß ich Plaſtiker bin, nichts als Plaſtiker, dachte er. Und dann ſchrieb er weiter: „Der Muſik will ich ganz entfagen, fie war nur eine Heine Zugabe gu allem andern. Schade eigentlih um die Zeit und die Kraft, die ich auf fie und auf den Roman verwandt habe. Nun denn, auf Wiederſehen, Iteber Kirillow und widerfprechen Ste mir nicht: Ste töten mich, wenn Ste mir mein neues Kunfts und Lebensideal zerſtoͤren. Ihre Zweifel würden mich nur wieder ſchwankend machen, ich würde unrettbar in dem wogenden Meer der Phantome, der hilfiofeften Langen weile verfinfen! Wenn auch die Plaſtik bei mir verfagt was Gott verhüten möge, und was ich auch nicht glauben will, ba gar zu viel bafür fpricht, daß fie für mich das Rechte iſt dann will ich mich ſelbſt abſtrafen und will den Mann, der zuerſt am Zuftandes

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fommen meines Romans gezweifelt hat, Marl Wolochow heißt er, aufiuchen und ihm feierlich erflären: ‚Sa, bu hatteft recht Ich bin ein Stümper und Pechvogel!“ Big dahin aber laflen Ste mich leben und Hoffen!...

„Rah Rom, nah Rom! Dahin, wo die Kunft nicht eine Unterhaltung, ein Amuͤſement iſt, fondern Arbeit, Leben, ſeeliſches Entzüden. Leben Ste wohl! Auf baldiges Wieder, fehen !”

Er raffte haſtig alle Papiere in einen Haufen zuſammen und ftedte fie wirr durcheinander in ein großes, altes Portes feuille. Dann atmete er erleichtert auf, wie ein Budliger, der plöglih durch irgendeinen Zauber feinen Budel abs geworfen bat, und rieb fich vergnägt die Hände.

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PERPERTRETTTIITIIT TIL DI2BEAZLLELLZTZERERTTTRT TR

Dierundsmwangigftes Kapitel

m folgenden Tage, ganz früh am Morgen, war das

ganze Haus in Bewegung, um dem abreifenden Gafte das Geleit zu geben. Auch Tuſchin und die jungen Wis kentjews fanden fich ein. Marfinka war entzuͤckend in ihrer Schönheit und wonnigen Verfhämtheit. Bel jedem Did, jeder Frage, die an fie gerichtet wurde, bededte ihr Geficht fih mit hellem Not, und ein geheimnisvolles, nervoͤſes Spiel feinfter feelifher Negungen, zarter Töne und ſub⸗ tilee Gedanken, kurz all des neuen, Föftlichen Lebens aus dem vollen, das ihr In diefen legten acht Tagen aufgegangen, fpiegelte fich Hell in ihren Zügen. Wikentjew war wie ein Page hinter ihr her und fuchte Ihr an den Augen abzulefen, ob fie nicht etwas brauche, irgendeinen Wunf habe oder duch irgendetwas beunruhigt werde. | Ste waren fo recht egoiftifeh in Ihrem jungen Gluͤck und fahen und bemerkten niemanden ringsum außer fich ſelbſt. Ste waren auch gar zu truͤbſelig, gar zu ernft und nachdenk⸗ fi geftimmt, diefe anderen. Erft am Nachmittag begann das junge Pärchen ans feinem felbftiihen Traumleben zu erwachen und auch für die andern Augen gu haben. Mars finfa zeigte eine fehr betruͤbte Miene und war gegen Raiſki

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bie Zaͤrtlichkeit ſelbſt. Beim Frühftüd hatte niemand Appes tit gehabt außer Koslow, ber in feinem melancholifchen Hinbrüten, den Blid in die unbeflimmte Ferne richtend und von Zeit gu Zeit einen Seufjer ausfloßend, ganz allein, rein mechanifh eine ganze Schüffel Majonnaife verzehrte. Tatjana Markowna wollte die wirtfchaftlichen Angelegens beiten aufs Tapet bringen und noch vor Übergabe bes Gutes an bie beiden Schweſtern eine Generalabrechnung halten, doch Raiſki fah fie mit fo müden Yugen an, daß fie die Abrechnung verfhob und Ihm nur einen ihm noch suftehenden Betrag von fechshundert Rubeln übergab. Die Halfte der Summe händigte er noch in ihrer Gegenwart Waſſiliſſa und Jakow ein fie follten dag Geld unter bag Hofgefinde verteilen und fih in feinem Namen für alle Sreundlichfeiten und Gefälligfeiten bedanfen, die fie ihm erwiefen hätten.

„Das iſt viel zu viel dus bift nicht bei Troſte! Sie werden ed doch nur vertrinken!...“ flüflerte Tatjana Markowna ihm zu.

„Laſſen Sie fie, Tantchen ... und ſchenken Sie ihnen bie Freiheit...”

„Gewiß, meinetwegen können fie gleich jet vom Hofe laufen! Ich brauche jetzt mit Wiera zuſammen nur einen Diener und ein Mädchen. Aber fie werden ja nicht geben wollen! Wohin follen fie fih denn wenden? Sie find vers wöhnt, hatten hier alles in Hülle und Fülle!“

Nah dem Frühftüd waren alle um Naifi herum. Mars finka vergoß eine wahre Tränenflut, drei ober vier Tafchens tücher brauchte fie. Wiera hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und fah ihn mit einem muͤden Lächeln an, während Raiſki mit ernſtem Blick auf fie ſchaute. Auf Wikentjews Gefichte lag ein freundfchaftliches Lächeln, und

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an feiner Nafe entlang rann eine Riefenträne herab, „fo groß wie eine Kirfehe”, meinte Marfinta, als fie ihm ver; ſchaͤmt mit ihrem Taſchentuche das Gefiht abtrodnete, Die Großtante blidte duͤſter drein, hielt jedoch tapfer an fih, um nicht von Ihrem Gefühl bewältigt gu werden. „Bleib doch Hier bei uns!” fprach fie vorwurfsvoll gu Raiſki. „Wohin willſt du eigentlih? Du weißt es felber nicht ...“

„Doch ih will nah Rom, Tantchen ...“

„Bas willft du denn dort? Die den Papft anfehen?” „zon kneten will ih...“

„Was?“

Es haͤtte gar zu lange gedauert, wenn er ihr ſeine neuen Plaͤne haͤtte auseinanderſetzen wollen, und ſo verzichtete er lieber darauf.

„Bleiben Sie, bleiben Sie!“ bat auch Marfinka und hing ſich an feine andere Schulter. Wera ſagte nichts fie wußte, daß er nicht bleiben wuͤrde; nicht ohne Beſorgnis fragte ſie ſich jetzt, nachdem ſie ſeinen Charakter kennen gelernt hatte was wohl nun mit ihm werden, wie er mit ſeiner Muſe und ſeinen Talenten fertig werden wuͤrde. Wird er ſie immer nur ſo „in ſich fuͤhlen“, ohne das eine vielleicht wirklich vorhandene zu entdecken und zur Aus⸗ bildung zu bringen? „Sag’, Bruder ...“ fluͤſterte fie ihm gu „wenn dich wieder einmal die Langeweile plagt, willft du dann nicht In dieſen ftillen Winkel Hier zuruͤckkkommen, in dem man dich jeßt vers fieht und liebe?”

„Unbedingt, Wiera! Mein Herz bat hier eine Zuflucht ge; funden, ich liebe euch alle, ihr fetb und bleibt meine Fa; milie. Eine andere werde ich niemals haben! Tantchen, du und Marfinka ihr drei werdet mich uͤberallhin bes

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gleiten, jegt aber halter mich nicht länger feſt, die Phantafie treibt mich fort ... e8 gärt in meinem Kopfe ...“ flüfterte er Wiera zu. „In einem Sabre vielleiht... gedenke ich beine Statue gu maden... in Marmor...“

Um ihe Kinn zitterte ein verfiohlenes Lächeln.

„Und der Roman?” fragte fie.

Er winfte mit der Hand ab.

„Wenn ich tot bin, mag ſich mit meinen Papieren herums ärgern, wer dba will: Material IE genug da... Mich aber hat das Schidfal auserfehen, beine Statue zu meißeln.“ „Sein Jahr wird vergehen, und bu wirft wieder big über die Ohren verliebt fein und nicht wiffen, weſſen Statue du meißeln ſollſt...“

„Wohl möglich, daß ich mich wieder verliebe lieben aber werde ich feine mehr außer dir, und beine Figur modelliere ih ganz beftimmt, in Marmor. Ich fehe die Geſtalt ſchon lebendig vor mir!”

Sie blidte ihn noch Immer lächelnd an. | „Unbedingt, ganz unbedingt!” beteuerte er Teidenfchafts lich.

„Du ſagſt wieder ‚unbedingt‘ !” miſchte Tatjana Markowna ſich ind Geſpraͤch. „Ich weiß nicht, was bu wieder vorhaſt fobald du aber ‚unbedingt‘ fagft, wird ficher nichts daraus!“

Raiſki trat auf Tuſchin zu, der nachdenklich in einer Ecke ſaß und ſchweigend die Abſchiedsſzene betrachtete. „Wenn einmal das ſich erfuͤllt, Ivan Iwanowitſch... was wir alle wuͤnſchen ...“ fluͤſterte er, ſich zu Tuſchin herab⸗ beugend und ihm ſcharf in die Augen blickend.

Tuſchin verſtand ihn.

„Wirklich, alle, Boris Pawlowitſch?“ fragte er „und wird es ſich auch erfüllen?“

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„Ich glaube es ganz beftimmt, es kann ja nicht anders fein. Wenn Tantchen und ihr „Schickſal‘ es wollen...“ „Es muß auch jemand anders e8 wollen...”

„Es wird ficherlich eintreffen,” fagte Raiſki zuverſichtlich. „And wenn e8 eintrifft geben Sie mir Ihr Wort, daß Ste mich dann telegraphifch benachrichtigen... wo Ich auch fein mag? Ih will Wjeras Brautführer fein...”

„Ja, wenn es eintrifft... Ich gebe Ihnen mein Wort...” „And Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich komme.” Koslow führte nun ſeinerſeits Raiſki in eine Ede und flüfterte lange mit ihm. Er bat ihn, feine Frau aufsufuchen, gab Ihm einen Brief an fie mit famt ihrer Adreffe und beruhigte fich erft, als Raiski den Brief forsfam in feine Brieftafche gelegt hatte.

„Rede mit ihr... und fohreib mir darüber,” bat er zum Schluß „und wenn fie fih entfchließt, hierher zuruͤck⸗ sufehren, dann telegraphiere mir... Sch fahre dann nach Moskau, um fie zu holen...”

Raiſki verfprach alles und wandte fich mit ſchwerem Herzen von ihm ab. Er riet ihm, vorläufig noch auszuruhen und die Winterferien bei Tufchin zu verbringen.

Leife, in duͤſterem Schweigen, traten alle vor das Haug und umftanden die Equipage. Marfinka fuhr fort zu weinen, Wilentjew reichte ihr bereits das fünfte Taſchen⸗ tuch.

Im legten Augenblick, als Raiſti eben im Wagen Platz nehmen wollte, wandte er ſich noch einmal um und be⸗ trachtete die Gruppe der Lieben, die ihm das Geleit gaben. Er tauſchte noch einen letzten Blick mit Tatjana Mar⸗ kowna, mit Wijera und Tuſchin und In dieſem einen, raſchen Blicke, den ſie wechſelten, druͤckte ſich nochmals die ganze kaum uͤberſtandene Qual dieſes ſchweren Traumes

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ans, den fie duch mehr als ein halbes Jahre geträumt hatten. Keines von ben vieren ſprach ein Wort. Weber Marfinka noch ihre Gatte verfianden dieſen Blid, und auch die Dienerfchaft, bie in der Nähe fand, merkte nicht bag geringſte.

Mit dieſem Blick und der Erinnerung an dieſen Traum entſchwand Raiſki aus ihrem Geſichtskreiſe. In Peters⸗ burg begabt ſich Raiſki ſogleich nach ſeiner Ankunft zu Kirillow. Er betaſtete ihn foͤrmlich, um ſich davon zu uͤber⸗ zeugen, daß er es auch wirklich war und nicht etwa irgendein anderer, waͤhrend der wirkliche Kirillow ſich ſchon allein auf den Weg gemacht. Er wiederholte dem Maler nun noch einmal muͤndlich, daß er eine entſchiedene Begabung fuͤr die Bildhauerei in ſich entdeckt habe. Kirillow zog ſeine Brauen finſter zuſammen, wobei die Naſe ganz in dem Barte verſchwand, und wandte ſich muͤrriſch ab.

„Was iſt das wieder fuͤr ein Einfall!“ ſagte er dann. „Als ich Ihren Brief las, glaubte ich wirklich, es ſei bei Ihnen eine Schraube los. Sie haben doch nun einmal ein ganz beſtimmtes Talent, warum wollen Sie das ver⸗ kuͤmmern laſſen? Nehmen Sie nur getroſt wieder den Bleiſtift zur Hand, gehen Sie in die Akademie und zeichnen Sie fleißig drauf los. Und dann kaufen Sie ſich das da —“ er zeigte auf ein dickes Heft mit Lithographien, die anato⸗ miſche Sujets darſtellten. „Die Skulptur was Ihnen da wieder in ben Kopf gekommen iſt! Dazu iſt es gu ſpaͤt ... wie find Ste denn darauf gefommen ?”

„sa, es fcheint mir eben,” meinte Raiſki, während er bie Spiten ber fünf Finger feiner rechten Hand zuſammenzog und aneinander rieb „als fäße hier fo etwas drin... fo ein befonderer Drang sum Kneten . . .”

„Auf was für Dinge Sie nicht fommen! Und wenn felbft

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etwas Derartiges vorhanden wäre, fo wäre es doch zu ſpaͤt ...“

„Wieſo zu ſpaͤt? Ich kenne einen Faͤhnrich, der hat ſich auch darauf geworfen und macht ganz wunderbare Sa⸗ den...”

„Sa, ein Faͤhnrich! Aber Ste find doch ein Herr mit grauen „Haaren“.

Er ſchuͤttelte energifch den Kopf. Raiſki ließ fich weiter auf feinen Disput mit ihm ein, fondern begab fih zu einem Profeſſor der Skulptur, machte fih mit deſſen Schülern befannt und ging mit ihnen zuſammen etwa drei Wochen lang ind Atelier, In feiner Wohnung haͤufte er große Borräte von Ton an, kaufte fih Gipsmodelle von Köpfen, Armen, Beinen, Rümpfen, band fih eine Schuͤrze vor und begann mit wahrem Feuereifer drauflos zu kneten. Er ſchlief nicht, verfehrte nirgends, fah feinen Menfchen außer dem Profeffor der Skulptur und feinen Schülern, befuchte mit ihnen die Iſaaks⸗Kathedrale, bewunderte dort mit ihnen die Skulpturen Vitalis’, vertiefte fih ganz in dag Studium ber Werke dicfes Meifterd und ging überhaupt in feiner neuen Kunftfphäre völlig auf. Er war ganz wie im Sieber, ſah nichts als Statuen, Immer nur Statuen, faß tagelang In ber Eremitage und trieb Kirillow zum fhleunigen Aufbruch nach Stalten, nah Rom.

Er Hatte jedoch den Auftrag, den Ihm Koslow gegeben hatte, nicht vergeffen und fuchte Uliana Andrejewna auf, die Irgendwo In der Erbfenftraße ein möhltertes Zimmer bewohnen follte. Als er den Korridor betrat, nach dem ihr Zimmer binauslag, vernahm er bie Töne eines Walzers und fröhliches Geplauder. Er glaubte die Stimme Uliana Andrejewnas ganz beuflich zu etkennen. Er gab dem Mäds Ken, das ihm die Tür oͤffnete, feine Karte und Koslows

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Brief. Nach einem Weilchen kam das Mädchen zuruͤck und erflärte ein wenig verlegen, Uliana Andrejewna ſei nicht zu Haufe, fie fei zu Bekannten nach Zarskoje Sfelo gefahren und werbe von dort aus gleich nah Moskau reifen. Naiffi wandte fih zum Gehen. Auf dem Flur begegnete ihm eine Stau, die ihn fragte, zu wem er wolle. Er fagte, er habe einen Befuch bei der Gattin Koslows vorgehabt. „Ste ift krank, Tiegt im Bett und empfängt niemanden,” log auch fie.

Maiffi fchrieb an Koslow nichts von diefem Befuche.

Mit Ajanow fam er nur ganz flüchtig zuſammen. Er ließ feine Möbel zu Ajanow bringen und vermietete feine Woh⸗ nung. Von feinem Vormund erhielt er eine beträchtliche Seldfumme, die jener durch Verpfaͤndung von Naiffis Gut aufgebracht Hatte, und im Januar reifte er dann mit Kirillow Ind Ausland. Zuerft ging er nach Dresden, wo er der Sirtinifhen Madonna feine Reverenz erwies und bie „Nacht” des Eorreggio, die Meifterwerfe Tistang, Paolo Veroneſes und vieler anderer Großen bewunberte.

In Dresden verbrachte er Morgen für Morgen In ber Galerie, nur Ind Theater ging er ab und zu einmal, Raiſki trieb Ihn zur Weiterfahrt, nach Holland, nah England und dann nach Paris. Doch Kirillow wollte von England nichts wiſſen.

„Was ſoll ich in England? Ich will nicht dorthin!“ ſagte er. „Dort befinden ſich alle guten Sachen in Privatgalerien, die dem Fremden nicht zugaͤnglich ſind. Die oͤffentlichen Sammlungen ſind nicht reich. Reiſen Sie von Holland aus getroſt nach England ich will nach Paris, ins Louvre, wo wir ja wieder zuſammentreffen koͤnnen.“

So machten ſie es auch. Raiſki blieb in England nur zwei Wochen. Der gewaltige Mechanismus, den das geſellſchaft⸗

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liche Leben dieſes Landes barftellt, fegte ihn zwar In Er⸗ ftaunen, fagte Ihm jedoch nicht befonders zu, und fo Des eilte ee fih, nach dem heiteren Paris zu kommen. Er bes fuchte Hier an den Vormittagen das Louvre, während er fih des Abends dem ewig wirbelnden Pariſer Strudel mit feinem bunten Treiben, feinem Kreifhen und feinen Orgien überließ. Nur ein bumpfer Rauſch war es, was diefe Drgien bei ihm hervorriefen eine tiefere Wirkung brachten die Gedanken, Beobachtungen und Eindrüde, die er aus diefem Pfuhl davonteug, bei ihm nicht hervor. Kaum waren bie erftien Strahlen ber jungen Frühlings; fonne über die Alpenwipfel gedrungen, ald die beiden Künftler fich fogleich Aber Die Schweiz nach Italien wandten. Mit empfänglicher Seele nahm Raiſki die Bilder und Eins dräde auf, die Land und Leute ihm bier darboten. Von der Kunft wandte er fih zur Natur, von diefer gu den Menfchen, den Einheimifchen wie den Fremden, denen er begegnete. In all dem mannigfachen Durcheinander jedoch fühlte er lebhaft und deutlich, daß die drei ttefften Eins druͤcke, bie er je empfangen, bie drei tenerften Erinnerungen, die das Leben ihm gewährt die Großtante, Wiera und Marfinka ihm überallhin folgten, in jeder neuen Um⸗ gebung ihm zur Seite blieben, in den Stunden der Muße treulich bei ihm weilten, daß er mit biefen drei Frauen geftalten aufs innigfte verbunden war, Daß ihm wohl war in diefer unfichtbaren Gemeinfchaft, und daß er es hoͤchſt ſchmerz⸗ lich empfunden hätte, wenn das Schiefal an dem ſeeliſchen Band gerührt hätte, das ihn mit Ihnen verfnüpfte.

Uberall ſah auch fein Künftlerauge diefe drei Geftalten. Die auflhäumende graue Meereswoge, ber tragende Schnee; gipfel der Alpen fie riefen Ihm das graue Haupt der Großtante ins Gedächtnis. Er fah fie in den ehrwuͤrdigen

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Mateonen, die ein Velasquez, ein Gerard Dow gemalt, wie er Wiera in den Geftalten Murillog und Marfinka in den zarten Köpfen eines Greuze, auch wohl in manchen Schdpfungen Raffaels wiederzuerfennen meinte... Wenn er in den Schluchten der Schweizer Berge bahers fohritt, trat Ihm das Bild Wjeras vor die Seele, oben auf den Selfen träumte er von dem verzweifelten Kampfe, den er mit ihr beftanden, von dem Drangenblütenftrauß, den er vor ihre Füße geworfen, von Ihren Leiden, ihrer Suͤhne .. Er fuhr aus feinen Träumen auf und wurde wieder nuͤch⸗ tern, fah fie jedoch im naͤchſten Augenblid wieder, biefe drei, bie mit liebevollem Lächeln die Arme nach ihm aus; firedten. |

Die drei Seftalten bildeten auch jenfeits der Alpen, wo ein anderes hehres Dreigeftien Natur, Kunft, Geſchichte in ſtrahlendem Glanze über feinem Horizont emporftieg feine ftändige Begleitung.

Mit Leidenfchaft aber gab er fich auch dem Zauber hin, den jene drei neuen hehren Mächte auf ihn ausübten big ing Tieffte, Innerſte ergriffen fie feinen Organismus. In Rom hatte er fih mit Kirillow gemeinfam ein Atelier eingerichtet. Er teilte feine Zeit zwifchen den Mufeen, Pa; läften und Ruinen, hatte anfangs faum Sinn und Vers ſtaͤndnis für die Schönheit der Natur, verſchloß fih und arbeitete, tauchte dann wieder in ber Menfchenmenge unter, die für ihn fo intereffant war und ihm wie ein grellbunteg, bewegliches Niefengemälde erfchten, das bie taufendiährige, halb ſchon vermoderte und halb noch lebendige Gefchichte der Menfchheit mit all dem Glanz ihrer Größe und der ers ſchreckenden Nadtheit ihrer Laſter wiederfpiegelte.

Aberall aber inmitten dieſes heiß pulfierenden Kuͤnſtler⸗ lebens wahrte er feiner Familie Daheim, feiner „Gruppe“,

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bie Treue: er wuchs fich nicht ein in dag fremde Erdreich, fühlte fich flets nur alg der Zugewanderte, ber fremde Gaft. Am Tiebften hätte er etwas von biefer unvergänglichen Schönheit der Natur und Kunft erraffen und heimlich nach feinem Malinowka mitnehmen mögen. Nach biefem aber fand troß allen Lodungen doch immer noch fein Sinn: mitten in dem ungewohnten, aufregend heißen Farben; rauſch des Südens ergriff ihn oft die Sehnfucht nach dem heimatlihen Winkel, Dort ftanden und lodten fie, bie Drei geltebten Geftalten: feine Miera, feine Marfinka und bie teure Alte, die Ihm eine zweite Mutter gewefen. Und hinter ihnen fland und rief ihn noch lauter eine vierte Geftalt, tiefengroß emporragend, gewaltig und mächtig: dag alte Mütterhen Rußland...

Schluß

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