Google

Über dieses Buch

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.

Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei eine Erin- nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.

Nutzungsrichtlinien

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.

Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen unter Umständen helfen.

+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.

Über Google Buchsuche

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.

Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books.google.comldurchsuchen.

Digitized by Google

Digitized by Google

PER Zu 4. wees 3

OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBÜCHER

= FÜR KULTUR UND GESCHICHTE = DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA- INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

* N. F. BAND V

1929

PRIEBATSCH’ BUCHHANDLUNG BRESLAU, RING 58, UND OPPELN

Reprinted with the permission of Osteuropa · Institut

JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD. 111 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1

First reprinting, 1966, Johnson Reprint Corporation

Printed in West Germany Druck: Anton Hain KG, Meisenheim (Glan)

INHALTS-VERZEICHNIS

DES BANDES V N.F. (1929).

1 ABHANDLUNGEN Seite Ulrich Preuss: Katharina IL von Rußland und ihre auswartige Politik im Urteile der deutschen Zeitgenossen . . 1 u. 169 Josef Mati: Die Entwicklungsbedingungen der epischen Volks- dichtung bei den Slaven. . n 57 Emmy Haertel: N.V.Gogol’ als Malen 11145

Dr. Method Dolenc: Die niedere Volksgerichibarkeit unier den Slovenen von Ende des 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderis 299

Emmerich Lukinich: Der Kaisertitel Pefers des Oroßen und

der Wiener Hoof 369 Dr. S. Kaleko: Die Agrarverhälinisse in Weißrußland vor der Um- wälzung im Jahre 19111 457 O. Forst-Battaglia: Boleslaw Prus........... 511 MISCELLEN

M. Alekseev: Ein Brief des Fürsten N. G. Repnin an A. W. Schlegel 7 Camilla Lucerna: Zwei zersiörte dalmatinische Familienarchive 83 Theodor Wotschke: Polnische Studenten in Frankfurt. . . . 228 Leopold Silberstein: Zehn Jahre Außenpolitik der Soveis . . 377 Manfred Laubert: Beiträge zu Preußens Siellung gegenüber

dem Warschauer Novemberaufsiand v. J. 18% . . . - . 381 Stefan Smal Stockyj: Der fundamentale Anteil des Ukrai- nischen an der Slavislik ........2.2.24.2.. 390 Il LITERATURBERICHTE

D. Doroschenko: Abhandlungen des NiZyner Volksbildungs- instiluies und der Wissenschafilichen Forschungs-Lehr- kanziei für Kultur- und Sprachgeschichie am Instilule . . 86

Seite Dr. Kazimierz Tyszkowski und Dr. Stanislaw Zajgcz-

kowski: Arckeion . nnn 245 Dr. J. Lossky: Neuere ukrainische wissenschafiliche Lileralur zum Dekabristenaufsiande . . - - - : 2 2 2 2 2 2 2 02. 399

Dr. M. HnatySak: Die Liferaturgeschichie in der Ukraine. . . . 405 BOCHERBESPRECHUNGEN 89-108: 256—265; 411—429; 556—545 ZEITSCHRIFTENSCHAU . 109—144; 266—289; 430-456; 546—592 NEKROLOGE .:.:...:....:..:2 0202000. 290—297

OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBÜCHER

FÜR

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

%

N. P. BAND V, HEFT I 1929

Wté:ñ :. .. ... en PRIEBATSCH’® BUCHHANDLUNG

BRESLAU, RING 58, UND OPPELN

I ABHANDLUNGEN

KATHARINA Il. VON RUSSLAND UND IHRE AUSWARTIGE POLITIK IM URTEILE DER DEUTSCHEN ZEITGENOSSEN

Von Ulrich Preuss (Breslau).

Einleitung.

Die bedeutsame Rolle, welche Rußland seit dem ausgehenden 17. Jahrh. in der westeuropäischen öffentlichen Meinung zu spielen beginnt, ist auf mannigfache Momente zurückzuführen. Das wichtigste und folgenschwerste war die Regierung Peters des Großen. Er gab diesem bis dahin ziemlich selbstgenügsam in sich beruhenden Reiche mit überwiegend östlicher, asiatischer Orientierung in schroffer Wendung die Richtung auf den politischen und kulturellen Anschluß an den Westen, indem er den abschnürenden Gürtel, den Schweden und Polen um Rußland gelegt hatten, zerschnitt, den ,,mosko- witischen“ Staat durch seine militärischen Erfolge zu einer euro- päischen Großmacht erhob und der Europäisierung Rußlands alle Tore öffnete. So war das Carenreich auch für die Westmächte ein wesentlicher politischer Faktor geworden. Als Bundesgenosse gesucht, nahm es nicht nur an der europäischen Peripherie auf seiten Österreichs an dem Türkenkriege von 1736—39 teil, sondern griff auch als Mitglied der großen Koalition gegen das Preußen Friedrichs des Großen handelnd und entscheidend ein in die zentralen Kämpfe der damaligen europäischen Politik.

Damit war dieses seit dem Mongoleneinfall so gut wie außerhalb des europäischen Konnexes stehende Land, das nach einem Worte des Historikers Alexander Brückner von den Reisenden des 16. und 17. Jahrh. eigentlich erst wieder entdeckt werden mußte, greifbar nahe in den Gesichtskreis des Westeuropäers gerückt und in der Erörterung seiner Eigenschaften und Eigenarten ein anziehender Gegenstand für die öffentliche Meinung Europas geworden. Vollends die Sensationen, die der russische Kaiserhof unter dem langen Frauen-

INTF 5 1

regiment, das der „höchst männlichen Regierung“ Peters des Großen:) folgte, mit seiner bunten und prunkenden, halb europäisch-zivili- sierten, halb asiatisch-barbarischen Luxusentfaltung, mit seinen ewigen Palastrevolutionen und dem phantastischen Wechsel von Auf- stieg und Sturz in den Schicksalen der einzelnen Carinnen und ihrer Günstlinge in einer schier endlosen Kette bot, mußten immer wieder neuen Reiz auf die Gemüter der Westeuropäer von damals ausüben.

Unter den vier Frauen, die als Nachfolgerinnen Peters I. mit den drei kurzen Unterbrechungen durch Peter Il. (1727—30), Ivan VI. (1740—41) und Peter Ill. (1762) das ganze 18. Jahrh. hindurch Rußland beherrscht haben, ist Katharina Il. für ihre Zeitgenossen sicherlich die interessanteste, gefeiertste, zeitweilig aber auch um- strittenste Gestalt gewesen. Es war nicht einmal so sehr die Tat- sache, daß hier eine Frau die Geschicke eines Riesenreiches lenkte und leitete, die ohne weiteres die Teilnahme ihrer Mitwelt auf sie gezogen hätte. Denn eine Frau als „Selbstherrscherin aller Reußen“ war, wie gesagt, seit Jahrzehnten eine gewohnte Erscheinung und hatte im 18. Jahrh., das man so gern das „Jahrhundert der Frau par excellence“ nennt, auch auf anderen Thronen Europas ihres- gleichen. Eher sicherte schon der Umstand, daß die russische Carin Katharina Il. eine Ausländerin war, ihr von vornherein in der öffent- lichen Meinung des Auslandes eine gewisse Sympathie. Vor allem war es jedoch der „märchenhafte: Glanz ihres Hofes, das Glück, das ihren Waffen folgte, Land und Leute, die sie dem russischen Reiche in Erfüllung der Plane Peters des Großen hinzufügie, und eine publizistische und politische Reklame, wie sie geschickter nie be- trieben worden ist“), was Katharina in der öffentlichen Meinung ihres Zeitalters immer wieder ein dauerndes und nie ermüdendes Interesse zu gewinnen vermochte.

Sicherlich wird man die Wirksamkeit der Reklame Katharinas für das Zustandekommen und für die Verbreitung der Begeisterung, welche der Carin von den Zeitgenossen gezolli wurde, hoch an- schlagen müssen. Aber man darf sie doch nicht in dem Maße über- schätzen wie ihr polnischer Biograph Waliszewski, der das große Renommee Katharinas bei ihren Zeitgenossen vorzugsweise in ihrer Auslandsreklame begründet sehen möchte. Es ist überdies auch falsch, wenn Waliszewski behauptet, daß solche Auslandsreklame in der Geschichte Rußlands eine Neuerung („un art nouveau‘)‘) Katha- rinas gewesen wäre. Schon vor ihr hatte z. B. Peter d. Gr. in der

1) Th. Schiemann: Russische Köpfe (1919), S. 63.

2) Die russischen Zeitgenossen sprechen selbst gern von dem „märchen- haften“ Licht, in dem ihnen die Regierung Katharinas erschien. Vgl. die 8 des J. J. de Sanglen (1776—1831), deutsch von L. v. Marnitz (1894),

3) Th. Schiemann: Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Bd. | (1904), S. 5.

+) K. Waliszewski: Le Roman d'une impératrice. Cathérine Il. de Russie (1910 47), S. 303.

2

at A. oe ee oe oe ee” eee es oe ees ee ee ee” e en ee! DE O T- Se ie

E y =

IE fe A SS A m

@ o č M o m a EIT im , , = GE

Derson des Barons Huyssen®) einen im Auslande wirkenden publizisti- schen Agenten unterhalten, der die abträglichen Nachrichten über Rußland, wie sie in Deutschland um die Wende des 17. u. 18. Jahrh. namentlich durch die Pamphlete eines in Ungnade entlassenen Hof- meisters des Cesarevié verbreitet wurden, widerlegen sollte. Denn schon um der für sein Europäisierungswerk so notwendigen Anwer- bungen von Ausländern willen mußte Car Peter auf eine seinem Reiche günstige Auslandsmeinung großen Wert legen. Huyssen gab rühmende Beschreibungen von dem Leben und den Taten Peters des Großen heraus, verhalf der Rußland freundlichen Schrift „Nachricht von dem Zustande Rußlands“ (1703) zum Druck, korrigierte im Petrinischen Sinne die deutsche Übersekung des in Paris erschiene- nen „Feldzuges Carls XII.“ und stand in dauernden Beziehungen zu deutschen Gelehrten und Publizisten, die er aus seinem offiziösen Material versorgte). Man kann die Spuren seiner Inspirationen in den Rußlandartikeln des Zedlerschen Universallexikons’), jenes riesenhaften enzyklopädischen Hausschakes der Gebildeten des damaligen Deutschlands, noch deutlich verfolgen. Daß die offen- baren Erfolge des Barons Huyssen, was Umfang und Tiefe der Wir- kung anlangt, noch in keinem Verhältnis standen zu der ungeheuren Wirkung, die Katharina Il. später mit Hilfe der von ihr beeinflußten Auslandspublizistik erzielte, liegt einmal in den Zeitumständen begründet. „Die Bedeutung, welche inzwischen Paris als Hauptstadi des literarischen Europa erlangt hatte, schuf natürlich Voltaire, dem „bon protecteur“ der Kaiserin, eine viel größere und breitere Einfluß- sphäre, als sie etwa die führenden Publizisten um die Wende des siebzehnten und achfzehnfen Jahrhunderts gehabt hatten®)“. Sodann und das übersieht Waliszewski in seiner geistreich sein sollenden, aber schiefen Parallele Katharina— Bismarck (Katharina hat nach ihm Bismarcks Reptilienfonds vorweggenommen) völlig stand die Carin zu den führenden Geistern unter den zeitgenössischen Pu- blizisten, d. h. zu den eigentlichen Trägern ihres Ruhmes, in einem menschlich anderen, näheren Verhältnis als Peter der Große, aber auch Bismarck.

Wie alle Fürsten des aufgeklärten Absolutismus hatte Katharina einen starken philosophisch-literarischen Ehrgeiz und das lebhafte Bedürfnis, mit den geistigen Größen ihrer Zeit in einen möglichsi unmittelbaren Gedankenaustausch zu ireten, sei es durch person-

s) Vol. H. v. Gliimer: Heinrich Huyssen, ein Essener Stadikind als Ge- lehrter und Diplomat im Dienste Peters des Großen. In Beiträge zur Ge- schichte von Stadt und Stift Essen, Heft III (1911), S. 135 f. Dazu Zs. f. osteurop. Geschichte II (1912), S. 585 f.

e°) A. F. Büschings Magazin für die neuere Historie und Geographie. Bd. X (1776), A 317 f. Vgl. auch F. Duckmeyer: Korbs Diarium itineris in oviam und Quellen, die es ergänzen, Bd. II (1910), cap. 9 passim.

. ) Oroßes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. XXVII (1741), S. 906 f., und Bd. XXXII (1742), S. 1907 f.

3) F. Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas II. (1912), S. 100.

lichen Umgang, sei es durch einen eifrig gepflegten brieflichen Ver- kehr. Reinhold Koser hat in dem schönen Kapitel seiner Geschichte Friedrichs des Großen®), das von dem Verhältnis des „alten Königs“ zur „neuen Bildung“ handelt, sehr eingehend und überzeugend die Schwierigkeiten zur Anschauung gebracht, die sich sowohl für die aufgeklärten Fürsten, die bis zu einem gewissen Grade wenigstens ihre fürstliche Ausnahmestellung respektiert wissen wollten und mußien, als auch für die literarischen Freunde aus dem aufgeklärten Bürgertum, die auch im Verkehr mit Fürsten nach „Gedankenfreiheit“ strebten, notwendigerweise ergaben. Immerhin ließen sich diese Schwierigkeiten überwinden und wurden überwunden, solange die rein menschlichen Sympathien, die bei diesen literarischen Freund- schaftsbündnissen oft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, stark genug waren, um trob mancher Reibungen die vorhandenen Gegensäbe immer wieder zu überbrücken. Es laßt sich nun aber bei fast allen literarischen Freundschaften der aufgeklärten Fürsten beobachten, daß sie mit ihren literarischen wie menschlichen Sym- pathien innerhalb der Generation haltmachten, mit der oder unter deren Einfluß sie aufgewachsen waren, und sich gegen die Ideen und Persönlichkeiten einer noch zu ihren Lebzeiten aufkommenden jiinge- ren Generation ziemlich einseitig abschlossen. Der Sak Kosers: „Dem Philosophen von Sanssouci war die Gefolgschaft halb lächer- lich, halb unheimlich und jedenfalls verdrießlich, die hinter d'Alembert, dem Führer zur Linken, stand, die Schar der nachgeborenen Söhne der Aufklärung, die neue Richtung“*), laßt sich mutatis mutandis auch auf Katharina ll. anwenden. Vollends aber, als diese jüngere Generation der Aufklärung sich immer mehr mit dem demokratisch- republikanischen Geist der Rousseauschen Lehren erfüllte, die dem Absolutismus seine Existenzberechtigung bestritten, da konnte von solchen Geistesfreundschaften zwischen den Fürsten und Literaten überhaupt nicht mehr die Rede sein.

Was diese Geistesfreundschaften für den Ruf der Fürsten ın der öffentlichen Meinung eines so ruhmsüchtigen Jahrhunderts wie des 18. bedeuteten, braucht hier ebensowenig hervorgehoben zu werden, wie die Bedeutung der Tatsache, Voltaire als Herold seines Ruhmes gewonnen zu haben, noch einmal ausdrücklich gewürdigt werden muß. Katharina Il. hat es oft genug selbst ausgesprochen, wieviel sie dem in der öffentlichen Meinung seiner Zeit einfach tonangeben- den Einflusse Voltaires für ihre Berühmtheit bei den Zeitgenossen verdankte. Dagegen scheint es angebracht, schon hier auf die Tat- sache hinzuweisen, daß die Krise ihres Renommees in der zeit- genössischen Beurteilung erst dann beginnt, als mit dem Tode Voltaires seine allmächtige Einwirkung auf die europäische Offent- lichkeit aufgehört hatte. Erst seit dem Tode Voltaires melden sich die demokratisch-republikanisch-humanitär-pazifistischen Widersacher

9) Bd. III (1913 4u.5), S. 438 ff. 10) Ebd., S. 447.

der Carin zu Worte; und der Umschwung in den Tonlagen, die den zeitgenössischen Beurteilern Katharinas zur Verfügung standen, läßt sich wohl kaum sinnfälliger zum Ausdruck bringen, als wenn man die Titel von zwei kleinen Schriften einander gegenüberstellt, von denen die eine 1776, also am Ende der von Voltaire beherrschten Zeit- stimmung, die andere unmittelbar nach dem Tode Katharinas er- schien. Die erstere trägt die Aufschrift: „Katharina Il. ein Gemald ohne Schatten“, die der letzteren lautet: „Katharine vor dem Richter- stuhle der Menschheit“. Man wird für die Entstehung solcher Schriften wie der zuletzt genannten nicht vergessen dürfen, daran zu erinnern, daß Katharina am Ende ihrer vierunddreißigjährigen Regierung noch die Götterdämmerung des Absolutismus, die französische Revolution, miterlebte. Schon die Zeitgenossen haben die Bedeutung dieses Ereignisses für die Beurteilung Katharinas durch die öffentliche Meinung deutlich erkannt und hervorgehoben. „Die französische Revolution, die überhaupt für die Könige so verderblich war,“ sagt der Publizist Frédéric Masson, ein französischer Schweizer, „wurde es besonders fur Katharina. Das Feuer, welches plößlich aus dem Innern Frankreichs wie aus einem Krater emporstieg, warf über Ruß- land ein bleiches Licht wie die Helle eines Blitzes. Man fand nur Ungerechtigkeit, Verbrechen und Blut, wo man vorher Größe, Ruhm und Tugend gesehen hatte“).

Kapitell.

Peters Ill. Sturz und die deutsche öffentliche Meinung.

Die Debatte über das große Kapitel „Katharina Il.“ wurde in der deutschen Publizistik des 18. Jahrh. erst nach der Umwälzung vom 9. Juli 1762 (n. St.) eröffnet, welche den Caren Peter Ill. stürzte und seine Gemahlin als Selbstherrscherin aller Reußen auf den Thron hob. Von der Großfürstin und Carica Katharina wußte die deutsche Öffentlichkeit nur wenig. Zwar hatte Katharina dem Intrigenspiel am Petersburger Hofe keineswegs müßig zugesehen und mehr als einmal hinter den Kulissen Einfluß auf die Leitung der auswärtigen Politik des russischen Kabineties zu gewinnen gesucht. Aber von dieser inoffiziellen Betätigung drang doch nicht viel über die Kreise der Hof- und Diplomatenwelt der nordischen Hauptstadt hinaus. Erst der geglückte Staatsstreich von 1762 und vielleicht mehr noch die Ermordung des gestürzten Herrschers bewirkten, daß sich die deutsche Öffentlichkeit lebhaft mit der Persönlichkeit der neuen Herrscherin zu beschäftigen anfıng.

Daß sich auch Katharina selbst von Anfang an der Bedeutung dieses Ereignisses für ihre Beurteilung durch die öffentliche Meinung des Auslandes nur zu wohl bewußt war, beleuchtet wirkungsvoll die Uberlieferung einer kleinen Szene, die sich unmittelbar nach dem

11) Geheime Nachrichten über Rus and unter der Regierung Katha- rinas IJ. und Pauls I. Bd. 1 (1800), S. 1

5

Bekanntwerden der am 16. Juli 1762 auf dem abgelegenen Lust- schlosse Rop3a erfolgten Ermordung Peters Ill. abspielte. Die eifrige Parteigängerin Katharinas und tätige Teilnehmerin an der Palast- revolution, Ekaterina Romanovna Fürstin Daškova, berichtet, daß die Carin, als die Nachricht von dem Ableben des Exkaisers eintraf, ausrief: „Es ist ein Schlag, der mich zu Boden wirft.“ „Es ist ein viel zu schneller Tod für Ihren Ruhm.... Madame:).“

Mag dieses Gespräch auch nicht wirklich in der pointierten Dialogform statigefunden haben, in welcher es in den im Geschmacke des 18. Jahrh. anekdotenhaft zurechtgemachten Memoiren der Daš- kova erscheint, die überdies erst sehr viel später (um 1800) auf- gezeichnet wurden; die Tatsache, daß die kluge und instinktsichere®) Katharina die Gefährlichkeit dieses Schlages für ihr moralisches und politisches Renommee beides war für die so gern mit Moralgrund- Sätzen arbeitende zeitgenössische Publizistik kaum zu trennen von vornherein richtig einschäkte, dürfte durch solche quellenkritisch ge- botenen Abzüge kaum erschüttert werden. Trob aller Anstrengungen aber, an denen es die Carin gewiß nicht fehlen ließ, um durch ihre Manifeste und andere Maßnahmen vor der Öffentlichkeit das Odium ihrer Thronusurpation und des gewaltsamen Todes ihres Gatten von sich abzuwälzen, hat sie vollkommen dieses Ziel doch wohl niemals erreicht. Vor allem war sie mit ihren Rechifertigungsbemühungen während der langen Dauer ihrer vierunddreißigjährigen Regierung nicht stets in gleichem Maße erfolgreich. Es versteht sich von selbst, daß es zu einer absolut einhelligen Beurteilung der Carin auch nur in der deutschen öffentlichen Meinung überhaupt nicht kommen konnte. Aber es hat doch zweifellos Zeiten gegeben, wo die ein- zeinen Zeitstimmen stärker zusammenklangen, als das vordem oder später der Fall war.

Da sich in der Erörterung des Sturzes Peters Ill. und seiner Folgen durch die zeitgenössische deutsche Publizistik vielleicht am einfachsten und ubersichtlichsten dieser Wandel in der deutschen Zeitstimmung zeigen laßt, so sei diese Beurteilung gewissermaßen als Ouvertüre hier zunächst nur in ihrem Für und Wider die Carin voraufgestellt, während es dem späteren Kapitel vorbehalten werden soll, die näheren Begründungen für diesen Wandel zu bringen.

Als am 5. Januar 1762 Peter Ill. als Nachfolger der letzten Tochter Peters des Großen, jener Elisabeth, deren ausschlaggebende Rolle man in Deutschland während des noch anhaltenden Siebenjährigen Krieges bereits richtig einzuschätzen gelernt hatte, den russischen Kaiserthron bestieg, da wurden mit einem Male durch den neuen Herrscher die politischen Verhältnisse in Europa von Grund aus ver- schoben, und sein Regierungsaniritt war besonders für Deutschland

_ Memoiren der Fürstin Daškov. Zur Geschichte der Kaiserin Katha- rina Il. Teil I (1857), S. 129.

2) Es sei an Rankes Wort erinnert: „Die Prinzessin zeigte, so jung sie en ehe Talent für ihre Lage.“ Samtl. Werke, Bd. XXIX

6

ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedeutung. Von jeher ein blinder Verehrer Friedrichs des Großen, schloß er alsbald mit diesem den Frieden von St. Petersburg und verzichtete mit einer Grogmul, wie sie der russischen Politik sonst nicht eigen war, auf die von den Russen besetzten preußischen Landesteile. Darüber hinaus kam es zu dem Abschluß eines Bündnisses zwischen den beiden Monarchen, das Friedrich mit einem Schlage aus seiner verzweifelten Lage er- löste.

Bei der Spaltung der öffentlichen Meinung Deutschlands in ein österreichisches und ein preußisches Lager mußte Peter Ill. auf der einen Seite mit Gefühlen des Verdrusses und der Empörung, auf der anderen Seite aber mit denen der Freude und Begeisterung begrüßt werden. Während der österreichische Gesandte am Petersburger Hofe, Mercy d’Argenteau, mit der Erbitterung der Enttäuschung nach Hause berichtete, daß von dieser „tollen Regierung“ nichts Gutes zu hoffen wäre, und die Tätigkeit des neuen Herrschers abfälligster Kritik unterzog*), wurde der Car für alle ,,frikisch“ Denkenden zum „Schußgeiste Preußens“), zum „wahren St. Peter“, der dem großen König den Himmel aufschloß®). In der überwallenden Freude jener Tage begeisterte man sich an den übereilten Reformen des neuen Caren und kümmerte sich wenig darum, ob diese Neuerungen von den Russen mit der gleichen Zustimmung aufgenommen wurden wie in Preußen. „Wenn der Kaiser von Rußland“ so schrieb damals der preußische Kammerherr Graf Lehndorff in sein Tagebuch „die Regierung seines Landes in der Weise weiter führt, wie er sie be- gonnen hat, dann wird er nicht bloß der Vater seiner Untertanen, sondern auch die Bewunderung Europas werden““).

Doch nach dem ersten Freudenrausche begann man in der preu- kischen Hauptstadt zu erkennen, wie sehr Car Peter die nationalen Gefühle und Vorurteile der Russen gegen sich erregt hatte, als er sein Heer nach preußischem Muster umgestaltete, die Geistlichkeit durch seine Mißachtung der griechisch-orthodoxen Religionsgebräuche sowie durch die Einziehung von Kirchengütern verletzte und durch die Bevorzugung seiner Holsteiner Soldaten die russischen Truppen aufs tiefste emporte. Man bemerkte, wie sich gegen den Caren eine Opposition bildete, und es ging wie eine Ahnung durch die führenden Berliner Kreise, daß diese nationale Opposition binnen kurzem den preußischen Verbündeten von seinem Throne stoßen würde?).

Mitte Juli traf denn auch in Berlin die Nachricht von der Ab- sekung Peters ein, und zu Ende des Monats wurde sein plößlicher

3) Alexander Brückner: Katharina die Zweite (1883), S. 80. 8 2 Reinhold Koser: Geschichte Friedrichs des Großen. Bd. III (1913 4u-5),

8) Dreißig Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Heinrich Lehndorff, Kammerherrn der Königin Elisabeth Christine von Preußen. Nachträge, Bd. I (1910), S. 346.

©) Ebd., S. 338.

7) Ebd., S. 350.

Tod gemeldet. Die Kunde von seiner Entthronung rief in Preußen einen beinahe panischen Schrecken hervor, weil man fiirchiete, der König würde bei einer Teilnahme der neuen russischen Regierung auf seiten der großen Koalition wieder in eine gefährliche Lage ge- bracht werden“).

Auf österreichischer Seite hatte der russische Staatsstreich die beglückendsten Hoffnungen ausgelöst. War doch in dem ersten Manifeste, das die neue Carin erlassen hatte, Friedrich als der Tod- feind®) Rußlands genannt und der Friede von Petersburg als den Interessen der russischen Politik durchaus zuwiderlaufend bezeichnet worden. Wenn auch in der Note an die auswärtigen Mächte der aggressive Passus des Manifestes gegen Friedrich den Großen fort- gelassen worden war’), so mochte sich Kaunik doch zunächst nicht der Freude über den Sturz des verhaßten Caren erwehren und frohlockte über die Petersburger Vorgänge, die voraussichtlich die günstigsten Wirkungen nach sich ziehen wirden*). Daß aber wirklich ernsthafte Erwartungen, Rußland würde von neuem auf öster- reichischer Seite am Kriege teilnehmen, von Maria Theresia und ihrem Kanzler gehegt worden sind, ist wohl nicht anzunehmen. Denn beide waren zu scharfblickend, um nicht alsbald zu bemerken, daß Katharina, wie es auch wirklich der Fall war, vor allem ihr Haupt- augenmerk darauf richtete, sich auf dem eroberten Carenthrone fest- zusekent2). Wie dem auch sei, man nahm in der breiteren oster- reichischen Öffentlichkeit wahrscheinlich erst dann eine kühlere und resigniertere Stellung der russischen Thronumwälzung gegenüber ein, als Katharina nicht die geringsten Anstalten traf, in den Krieg gegen Preußen einzutreten.

Kaum aber hatten sich die durch den Staatsstreich und seine Auswirkungen in Erregung gesetzten Gemüter infolge des Aus- scheidens der Carin aus dem Streit der europäischen Mächte wieder etwas beruhigt, da brachte der plötzliche Tod des entthronten Caren die öffentliche Meinung Deutschlands von neuem in Bewegung, und als die russischen Manifesie über den Regierungsantritt der Kaiserin und das Ableben ihres Gemahls bekannt wurden:®), wurde sofort die Frage aufgeworfen, ob die Carin bei dieser Palasirevolution ihre Hand im Spiele gehabt habe und inwieweit sie die Urheberin der- selben gewesen sei. Ohne weiteres glaubte man ihr die geistige Urheberschaft zusprechen zu dürfen und stützte sich dabei auf die Momente, welche die Manifeste der Carin selbst zu ihrer Verteidi- gung angeführt hatten: die Kriegsmudigkeit des russischen Volkes,

s) Ebd., S. 350.

o) B. v. Bilbasov: Geschichte Katharinas II. Bd. II (1893): Vom Regie- rungsantritt Katharinas Il. (1762—1764). Deutsch v. P. v. R. Teil I, S. 126 f.

10) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 142 f.

11) A. v. Arneth: Geschichte Maria Theresias, Bd. VI (1875), S. 329 u. 481.

12) Ebd., S. 334.

13) B. v. Bilbasov: Katharina II. im Urteile der Weltliteratur. Autor. Uber- sebung aus dem Russischen. Mit einem Vorw. v. Th. Schiemann, Bd. I (1897), Nr. 18 u. 19.

8

das der Car in einen diesem unverständlichen Krieg gegen Däne- mark hatte verwickeln wollen, seine den Russen nicht minder an- stößigen Reformen und seine Verstöße gegen die russische Reli- giositat. „Der vornehmste Umstand“ aber „war wohl dieser, daß der Kaiser seinen Prinzen für illegitim erklären, sich von seiner Ge- mahlin, mit der er niemals in vollkommener Einigkeit gelebet, scheiden, selbige mit dem Prinzen in ein Kloster verstoßen, oder gar um das Leben bringen lassen wollte“).

Wenn auch die gleichzeitige deutsche öffentliche Meinung noch nicht wie später in der Herrschsucht Katharinas die eigentlich trei- bende Kraft sah, die die Carin zu ihrem Schritte bewogen hatte, so war sie doch weit davon entfernt, diesen zu billigen. Die Hoffnungen Katharinas, die mit ihren Manifesten auf die Unkenntnis und Kritik- losigkeit der damaligen öffentlichen Meinung spekulierte und er- wartete, diese würde prompt auf das Märchen von dem natürlichen Tode des Caren hineinfallen Anstrengungen und Aufregungen der Revolutionstage sollten sein altes Hämorrhoidalleiden bis zum tod- lichen Ausgange verschlimmert haben erfüllten sich nicht. Denn bald wurden in der zeitgenössischen Publizistik des Auslandes Stimmen laut, die erklärten, daß der Tod des russischen Kaisers alles andere als ein natürlicher gewesen wäre. Ganz abgesehen davon, daß man an den deutschen Höfen überzeugt war zu wissen, „welcher Art diese Hämorrhoidalkolik gewesen sei“:s), tauchte als- bald in der englischen Presse ein angeblicher Brief Friedrichs des Großen auf, in dem Katharina als eine Neuauflage (second tome) der Ariadne, die ihren Gemahl, den griechischen Kaiser Zeno Ill., bei lebendigem Leibe begraben ließ, hingestellt wurde**). Aber auch in der deutschen Öffentlichkeit wurden ähnliche, wenn auch nicht ganz so unverblümte Fassungen verbreitet. In einer Flugschrift, die die Frage, ob Peter Ill. zu Unrecht vom Throne gestoßen wäre, bejahte, wurde die Tat Katharinas ein „verabscheuungswürdiges Merkmal der neuern russischen Geschichte“ genannt und gesagt: „Seine (Peters) Entthronung war ein Raub, und vielleicht auch sein Tod!).“ Kaum weniger vielsagend ist die Andeutung, die der Theologe G. A. Will

14) Gespräch im Reiche der Todten zwischen einem österreichischen Feldpater und einem russischen Popen von dem Leben und Ende Peters Ill. (1763), S. 19f., das sich ganz und gar auf G. A. Will: Merkwürdige Lebens- geschichte Peters III., Kaisers und Selbsthalters aller Reußen (1762) stiibt. Vgl. Gespräch S. 7, 10, 22 und Will S. 9, 13, 50 u. ö.

18) Politische Korrespondenz Friedrichs des Großen. Hrsg. v. Reinhold Koser, Bd. XXII (1895), S. 95.

16) Ebd., S. 378 u. 388: Friedrich teilt Finckenstein mit, er habe nach Kenntnisnahme dieses vermeintlichen Briefes sofort seinem englischen Ge- sandten befohlen, „pour qu'il oblige le gazettier de revoquer solennement cette calomnie“, und seinem holländischen, „afin qu'il empêche que les gazeitiers hollandais ne l’inserent dans leur feuilles“. Gleichzeitig habe er seine beiden Gesandien in Moskau, Golz und Solms, beauftragt, ein „de- menti formel“ abzugeben, wenn dieser Brief in Rußland bekanntwerden sollte.

17) Ob der Kaiser von Rußland Peter Ill. rechtmäßig des Thrones ent- setzt sey? In einer kurzen Betrachtung untersuchet von J. (1762), S. 7. u. 15.

9

in seiner „Merkwürdigen Lebensgeschichte Peters Ill.“ (1762), einer der vielgelesensten Schrifien!®), machie: „Es mag nun sein, daß Schmerz und Verdruß in dem Körper des abgesetzten Kaisers zu sehr wirkten, oder es mögen andere Ursachen vorhanden gewesen sein, so ist es doch einmal wahr, daß er nicht lange sein Schicksal über- lebte*®).“

Unzweideutiger ausgesprochene Vorwürfe gegen die Carin als die bisher angeführten haben wir aus der Zeit unmittelbar nach der Ermordung Peters Ill. nicht beibringen können. Wir müssen es auch offen lassen, die Frage vollständig zu beantworten, warum sich die öffentliche Meinung Deutschlands in der Besprechung über den Tod Peters Ill. so zahm verhielt, obwohl sie durch ihre Andeutungen durchblicken ließ, daß sie nicht an einen natürlichen Tod des Caren glaubte. Es dürften aber wohl auch im übrigen Deutschland wenig- siens bis zu einem gewissen Grade Zensurschwierigkeiten dabei eine Rolle gespielt haben, wie wir sie allerdings mit Bestimmtheit nur für Preußen nachweisen können. Denn so vorsichtig sich, wie wir sahen, diese Schriften über das Ereignis von Rop3a ausdrückten, ihre un- bestimmten Andeutungen genügten, um sie die ganze Strenge der preußischen Zensur fühlen zu lassen. Bei seiner immer noch zweifel- haften Lage wollte Friedrich der Große alles vermeiden, was die Empfindlichkeit der Carin hätte reizen können, und für die Behutsam- keit, mit der man damals preußischerseits vorging, ist ein Schreiben des Ministers Finckenstein an den königlichen Kabinettsrat Eichel vom 13. November 1762 außerordentlich bezeichnend. Finckenstein berichtet darin über die von uns bereits zitierte harmlose Broschüre folgendermaßen: „Es ist mir eine gewisse Brochüre zu Gesicht ge- kommen, welche den Titul fiihret: Ob der Kaiser Peter Ill. recht- mäßig des Thrones entsetzt sey. Von solcher soll ein gewisser namens Bauer in Nürnberg, welcher von dem Wiener Hofe einen Charakter erhalten, Auctor sein, und da in solcher von des Königs Majestät und von dem verstorbenen russischen Kaiser mit sehr vielen Lobeserhebungen gesprochen, die jetzt regierende russische Kaiserin mit den allerhäßlichsten Farben abgeschildert wird, so vermuthe ich fast, daß die schlangenartige Absicht des Auctors dahin gegangen, diese Brochüre durch die königlichen Lande nach Rußland zu be- fördern und daselbst glauben zu machen, als ob solche in denen selben verfertiget oder wenigstens mit Approbation gedruckt worden).“

Daß auch Katharina selbst Maßnahmen ergriff, um die ihr miß- liebigen Nachrichten, die über die Thronumwälzung im Auslande ver- breitet wurden, zu unterdrücken, zeigt ihr Vorgehen gegen die in Leipzig erschienenen „Mémoires pour servir a l’histoire de Pierre Ill., empereur de Russie“, die Ange de Goudar zum Verfasser haben.

18) Will, a. a. O., zweyte durchgehends verbesserte und mit einer Vor- rede und Anmerkungen vermehrte Aullage: (1762.)

19) Ebd., S. 50. 20) Polit. Korresp., a. a. O. Bd. XXII, S. 325.

10

IS Wi, S LE PN 43 5g te ES) w’

aP a TF F gt fw r

2 a

SS ge =F £3

fl SK

1 „„ a Ooo E-i

Zwar wurde in dieser Schrift die Carin günstig beurteilt, mit Lobes- erhebungen für sie nicht gespart und nichts weiter gesagt, als was die Manifeste bereits verkündet hatten; aber ein ihr beigefügtes „Suppl&ment“, in welchem nachgewiesen wurde, daß der Car ohne irgendwelche rechiskräftigen Gründe vom Throne gestoßen wäre, er- regte so sehr den Zorn der Kaiserin, daß sie sofort nach der Lektüre der Schrift an ihren Kanzler, den Grafen M. J. Voroncov, schrieb: „Be- fehlen Sie allen unseren Residenten, wo Sie es tunlich finden, fleißig den Autor ausfindig zu machen, seine Bestrafung zu verlangen, alle Editionen zu konfiscieren und die Ausfuhr dieses Buches nach Ruß- land zu verbieten. Es ist noch beleidigender für die Nation als für mich personlich*).“

Nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, so scheint es, durfte man auch in Preußen etwas unzweideutiger den Verdacht aus- sprechen, daß Peter ermordet worden war. Und zwar ist es ein ehemaliger Regimentsauditeur der preußischen Armee, der spätere Buchhändler Christian Friedrich Schwan gewesen, der in den von ihm herausgegebenen „Briefen eines teutschen Offiziers an seinen Freund“ zum ersten Male, soweit wir sehen, offen aussprach, Peter habe „die ganze Bitterkeit eines gewaltsamen und unrühmlichen Todes geschmeckt“ n).

Aber gleichzeitig nahm Schwan in seinem Buche die Carin auf das energischste gegen die tatsächliche und geistige Urheberschaft des Mordes in Schutz: Nicht Katharina hatte den Befehl zur Ermor- des Excaren gegeben oder auch nur einen solchen entfernten Ge- danken gehabt, da sie doch nicht „allem Gefühl der Tugend und Menschlichkeit“ entsagen konnte”), sondern ihre Umgebung, ihre Mitverschworenen waren es, die weiter schauten als sie und fürch- teten, die Carin könne sich mit dem entthronten Gatten wieder aus- söhnen und ihn als Mitregenten anerkennen. Die Furcht der Ver- schworer aber, Katharina könne die Staatsumwalzung bereuen und sie deshalb „mit einem verächtlichen Auge“ ansehen, habe diese zu der fluchwürdigen Tat veranlaßt, um zu verhindern, daß nach einer etwaigen Aussöhnung Katharinas mit ihrem Gemahl sie selber die Opfer dieses Kompromisses würden. So sahen sie sich genötigt, sich „der Person eines Prinzen zu entledigen, von dem sie heute oder morgen den Lohn ihrer Verbrechen beständig erwarten mußten“ 0. Aus der Veranlagung von Katharinas Wesen, aus der Vornehmheit ihres Charakters, aus der Aufrichtigkeit ihrer Trauer, mit der sie um das Schicksal ihres Gatten klagte, aus der Arglosigkeit ihrer Seele

31) Bilbasov: Weltliteratur, Bd. I, S. 27 f.

(Christian Friedrich Schwan.) Russische Anekdoten oder Briefe eines feufschen Offiziers an einen livlandischen Edelmann, worinnen die vornehmsten Lebensumstände des russischen Kaisers Peter Ill. net dem ungliicklichen Ende enthalten sind. Wandsbeck 1765 von C. F. de la Marche, S. 163 3 212. Vgl. andere Auflagen bei Bilbasov: Welllitcratue Bd. 1, Nr. 43, 52, 620

33) Ebd., S. 45. s) Ebd., S. 216.

11

glaubte Schwan hinreichend beweiskräftige Argumente eninehmen zu können, um die Carin von der Mitschuld an der Ermordung Peters Ill. freizusprechen. „Ein jeder, dem der Charakter der jetzt regierenden Kaiserin bekannt ist, wird darin mit mir übereinstimmen, daß diese Fürstin zu dergleichen unerhörten Handlungen nicht fähig sey. Wenn sie auch nach dem Zepter gestrebet, so hat sie doch niemals ver- sucht, durch grausame Wege dahin zu kommen und selbigen mit Blut zu farben?*).“ Dieser Reinigungseid, den Schwan für die Carin bereits zu einer so frühen Zeit wie 1764 leistete, erscheint um so merkwürdiger, als sich Katharina bisher dem Auslande gegenüber noch nicht ihren berühmten, wohl aber einen berüchtigten Namen gemacht hatte. Wir gehen daher wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß das sich anbahnende engere Zusammengehen der russischen und preußischen Politik, wie es z. B. bei der Wahl Stanislaus August Po- niatowskis zum König von Polen bereits in Erscheinung getreten war, diesen „teutschen Offizier“, oder besser gesagt, diesen Preußen bewog, für die preußische Bundesgenossin eine Lanze zu brechen.

Zudem ist es auffällig, wie die allgemeine Beurteilung Schwans (nicht seine moralische Begründung im einzelnen) sich mit der Auf- fassung Friedrichs des Großen deckt, die dieser dem französischen Gesandten am Petersburger Hofe, Segur, als er sich 1784 auf der Durchreise nach Petersburg in Berlin aufhielt, kundgab: „Das Pu- blikum ist im Irrtum, denn man kann der Kaiserin, wenn man gerecht sein will, weder die Ehre noch das Verbrechen dieser Umwälzung

zuschreiben. Katharina war noch nicht imstande, selbsttätig zu handeln. Sie warf sich denen in die Arme, die den Willen hatten, sie zu retten ... Sie glaubte als unerfahrene junge Frau, es sei

mit ihrer Befreiung und Krönung alles vorbei. Ein so kleinmütiger Feind (wie Peter Ill.) schien ihr nicht gefährlich. Aber die Orlovs waren kühner und klüger. Sie wollten nicht, daß man den Kaiser zu einer Waffe gegen sie gebrauchen konnte, und ermordeten ihn. Die Kaiserin wußte nichts von diesem Verbrechen und erfuhr es mit ungeheuchelter Verzweiflung?®).“

Wir dürfen wohl annehmen vorausgesebt, daß der keineswegs immer zuverlässige Segur die Auffassung Friedrichs des Großen richtig wiedergibt —, daß diese Worte gesprochen wurden, um den Weg zu Katharinas Ohren zu finden, und das zu einer Zeit, wo die preußisch-russischen Beziehungen gespannt waren. Wir wollen zwar nicht die Vermutung aussprechen, daß Schwan wie später Segur durch dieses Urteil des Königs gewissermaßen inspiriert worden sei, aber doch wenigstens auf diese Übereinstimmung der Auffassungen hindeuten.

In gewissem Betracht erscheint Schwans Verteidigung als Vor- läufer einer neuen Phase in der Beurteilung des Thronumsturzes Katharinas II. Aber seine Verteidigung der Carin wäre in der da-

25) Ebd., S. 214. 20) Friedrich des Großen Denkwürdigkeiten, zusammengestellt von Franz Eyssenhardt, Bd. II (1910), S. 525.

12

maligen deutschen öffentlichen Meinung doch wohl nur ein verein- zelter Fall geblieben, wenn nicht die Carin durch ihr Eintreten für die Dissidenten in Polen (1765), ihren scheinbar im Dienste des To- leranzgedankens geführten Türkenkrieg von 1768—74 und durch ihre „Instruktion zur Abfassung eines neuen Gesetzbuches“ selber das Wesentlichste getan hatte, um den Makel ihrer Thronbesteigung weg- zuwischen.

Der Jubel der deutschen Zeitgenossen, der alle diese Taten Katharinas begleitete, konnte begreiflicherweise auf die Behandlung der Frage nach der Mitschuld der Carin an Peters Ermordung nicht ohne Einfluß bleiben. Bei der Verhimmelung Katharinas, die zeit- weilig in Deutschland geradezu Modesache geworden war, war man nicht nur willens, Katharinens Mittaterschaft gänzlich zu bestreiten, sondern ging sogar so weit, daß man die Ermordung Peters Ill. geradezu leugnete. In mehreren Schriften, die damals über Rußland und Katharina erschienen sind, traten die Verfasser den Ausführun- gen von Katharinas Manifesten bei und versicherten, Peter Ill. wäre eines natürlichen Todes gestorben?). Freilich sind solche den tat- sächlichen Sachverhalt verdrehende Behauptungen wohl auch von denen, die sie in die Welt setzten, nur in den seltensten Fallen ernstlich geglaubt worden, sondern sind entweder als der fromme Betrug enthusiastischer Verehrer oder weniger harmlos als gewinnsüchtige Manöver betriebsamer Literaten anzusehen, die sich dadurch Ka- tharinas Erkenntlichkeit sichern wollten. Sehr lustig hat Horace Walpole, die Rahmenerzählung der Märchen von 1001 Nacht paro- dierend, das Treiben dieser Kreise verspottet: „Der Kaiser war nun fest eingeschlafen, und sobald die Prinzessin und der erste Ver- schnittene es bemerkten, packten sie ihm einige Kopfkissen auf das Gesicht und hielten sie da so lange fest, bis er erstickt war. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß er todt sey, stürzte die Prinzessin mit allen Zeichen der Verzweiflung und Bekümmernis in den Divan, wo sie sogleich als Kaiserin ausgerufen wurde. Man gab vor, der Kaiser wäre an einer Hämorrhoidalkolik gestorben, und die Kaiserin er- klarte, daß sie aus Achtung für sein Andenken sich strenge an die Grundsätze halten würde, nach welchen er regierte. Demzufolge heiratete sie jede Nacht einen neuen Mann, aber sie erließ es ihnen, Geschichten zu erzählen, und wenn sie sich gut betrugen, so gefiel es ihr auch huldreichst, die Hinrichtung auszusetzen. Sie sandte Ge- schenke an alle Gelehrten in Asien, und diese ermangelfen zur

27) (Joh. Friedr. Schmidlin), Geschichte des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland, Polen und der ottomanischen Pforte, Teil I (1771), S. 57. (Ranfft): Die merkwürdige Lebensgeschichte des unglücklichen Peters Ill. samt vielen Anekdoten des russischen Hofs von einem Freunde der Wahr- heit (1773), S. 320 ff. Lobrede zur Ehre Katharine der Zweyten, der mit Lorbeeren bekranzten Kayserin und Gesebgeberin von Rußland an ihrem hohen Namenstage, dem 24. Nov. 1774, gehalten von Th. v. Tomansky, Kob.-Pr. 1774, S. 27f. Vgl. Eloge historique de Cathérine a par (Lan- puinais) Londres 1776 bei Bilbasov: Weltliteratur, Bd. I, Nr. M. E. Tozen: Einleitung in die europ. Staatenkunde. Bd. II (1785), 8 916 u. a. m.

15

Wiedervergeltung nicht, sie für ein Muster von Milde, Weisheit und Tugend auszuschreyen, und obgleich die Lobeserhebungen der Ge- lehrten gewöhnlich so plump als ekelhaft sind, so wagten sie es doch, ihr zu versichern, daß das, was sie schrieben, so dauerhaft wie Erz seyn und das Gedächtnis ihrer kayserlichen Regierung bis auf die späteste Nachwelt kommen werden).“ Trockener brachte Gatterers „All- gemeine historische Bibliothek“ von 1770 in dem lakonischen Sake: „sein (Peters) Tod wird, wie gewöhnlich, einer Hamorrhoidalkolik zugeschrieben,“ ihre Distanz zu den schwindelhaften Produkten der Tagesliteratur zum Ausdruck?®).

Schien der Mehrzahl der deutschen Zeitgenossen die Schuld an dem Rop3aer Morde unmittelbar nach seinem Bekanntwerden auf Katharina allein zu lasten, so verlor diese Auffassung in dem Maße, wie sich die Regierung der Carin entwickelte, wie sie in ihrer aus- wärtigen, in den Mantel der Toleranzidee gehüllten Politik Erfolg über Erfolg errang, wie sie eine Reform nach der anderen in einem so schwer zu reformierenden Lande wie Rußland ins Leben rief, an Glaubwürdigkeit. Eine so erhabene, tolerante und humane Fürstin erschien eines so abscheulichen Verbrechens wie des Gattenmordes einfach nicht fähig. Überdies mußte die Glaubwürdigkeit der früheren Auffassung noch dadurch erschüttert werden, daß sich nun auch neue Zeitgenossen zum Worte meldeten, die wie der preußische General- leutnant Graf Hordt gewissermaßen als kompetente Beurteiler er- klären konnten, auch der persönliche Eindruck, den sie von der Carin empfangen hätten, schließe jeden Verdacht der Beteiligung an den Rop3aer Vorgängen aus. Graf Hordt hatte als Kriegsgefangener die aufregenden Tage der Palastrevolution in Petersburg mitgemacht und 1770, als er den Prinzen Heinrich auf der Reise an den carischen Hof begleitete, Gelegenheit gefunden, mit Katharina über die dunkle Periode ihres Regierungsanfanges zu sprechen. Bei dieser Unter- haltung so berichtet er in seinen 1788 zu Berlin erschienenen Memoiren konnte er beobachten, mit welcher Wahrhaftigkeit und Schlichtheit die Carin von dem Ereignisse erzählte und wie empört sie war, unter dem Verdachte der Mitschuld zu stehen: „Ses discours, ses yeux, son visage, son attitude, tout alors peignoit la vive émotion, gue cette grande princesse éprouvoit au fond de son cceur. Je voyois la candeur, la bonne foi, la vérité, la simplicité dans tout son récif®).““ Fur den Eindruck, den eine solche Bürgschaft für die Rein- heit Katharinas auf die Zeitgenossen machte, ist es bezeichnend, daß die Ausführungen des Grafen Hordt in spätere zeitgenössische Dar- stellungen des Lebens der Carin tibergingen**).

ss) Historisch- literarische unterhaltende Schriften. Übersetzt von A. V. Schlegel (1800), S. 339 f.

30) Bd. XVI (1770), S. 127.

80) Graf Hordt: Mémoires d'un gentilhomme suédois (erstm. 1788), Bd. II (1805 2), S. 194 f.

31) Ohne Angabe der Quelle in Denkwürdigkeiten aus dem ablaufenden achtzehnten Jahrhundert, Bd. I (1800),.S. 273.

14

fo. . n ME oe DE o a o o. > DE a 2

y mo u ee K G ar A ee A EEE ER TE FETT f

War es aber den Zeitgenossen, wie wir sahen, im Verlaufe der Regierung Katharinas zum Bedürfnis geworden, die Carin von der Mittaterschaft an dem Morde von RopSa zu entlasten, so wurde dieses Bedürfnis doch nicht bloß in der primitiven Weise befriedigt, daß man die anstößigen Tatsachen durch Ableugnung oder Ver- drehung derselben aus der Welt zu schaffen trachiete. Vielmehr suchten die ernsthafteren Naturen unter den deutschen Publizisten nach einer Begründung ihrer Rechtfertigung Katharinas, die den erhabenen Vorstellungen, die sie sich von der Carin machten, adäquater und kongenialer war als die Gründe, die Katharina zu ihrer Verteidigung in ihren Manifesten ins Feld geführt hatte. Für diese Richtung waren nicht mehr die einzelnen Tatsachen und Begleit- umsiande der RopSaer Tragödie, die Selbsthilfe Katharinas, die Bluttat der Orlovs, die sie um sich dulden mußte, und dergleichen das Wesentliche und Entscheidende; für diese Richtung genügte es, daß diese an sich gewiß düstere und beklagenswerte Episode einem so großen Herrschergenie wie Katharina in das Feld ureigenster Betätigung die Bahn brach?®®).

Es verbreitete sich unter diesen deutschen Bewunderern der Kaiserin immer mehr die Überzeugung, daß Peter Ill. durchaus nicht der bedeutende Herrscher und der wertvolle Mensch gewesen sei, als welchen man ihn zunächst wenigstens in Preußen allgemein gefeiert und betrauert hatte. Je mehr die Glorie der von vollem Erfolge gekronten Carin emporstieg, desto dunklere Schatten fielen auf die Gestalt des Gescheiterten. Katharina ist nicht die erste ge- wesen, die in thren Memoiren das belastende Material gehauft hat, durch welches der Excar später vor der Welt zu dem Trottel ge- stempelt wurde, der er doch keineswegs war). Lange bevor die sireng gehüteten Memoiren der Carin, die nur in Rußland in ein paar verheimlichten Abschriften kursierten, durch Alexander Herzens Ver- Offentlichung aus dem Jahre 1859 in Europa bekannt wurden"), ja noch ehe die Kaiserin an die Niederschrift der ihren Gemahl vor- nehmlich belastenden Partien ihrer Denkwürdigkeiten ging, stand für ihre deutschen Zeitgenossen das Porträt Peters Ill. bereits in der Gestalt fest, die es später in den Memoiren Katharinas annehmen sollte. Alle die unschönen Züge ihres Gatten, die die Carin in der Charakierschilderung ihres Gemahls unterstrich: seine unritterliche Brutalität, seine erotischen und alkoholischen Ausschweifungen, vor allem aber seine Willensschwäche und Energielosigkeit waren den damaligen deutschen Zeitgenossen bereits wohlbekannte Erscheinun-

ss) Vgl. Mursinna: Katharina Il. in Galerie aller merkwürdigen Menschen. Bd. XII (1804), S. 38f. Kurzgefaßte Lebensgeschichte Katharinas Il. (1797), S. 19. ü 88) oo Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. |

3) Vgl. die Einleitung zu den Memoiren der Kaiserin Katharina II. Hrsg. von Erich Böhme (1915). s

15

gen:) und wurden von ihnen bei ihrer Kontrastierung der beiden Persönlichkeiten voll ausgenutzt. Nichts wurde aber Peter in der damaligen deutschen öffentlichen Meinung so sehr verübelt als der Umstand, daß er sich im Gegensake zu seiner heroischen Gemahlin bei der Thronumwälzung nicht wie ein Mann bewährt, sondern die Rolle eines elenden Feiglings gespielt hatte. Ein Vorwurf, den wenn wir Ségur vertrauen auch Friedrich der Große gegen seinen einstigen Bewunderer im höchsten Maße erhob. Friedrich hat ihn nach den Ségurschen Memoiren in das Bonmot gekleidet: „Er (Peter) ließ sich vom Throne stoßen wie ein Kind, das man ins Beit schickte.“

Wie ablehnend und feindselig die damaligen Deutschen dem russischen Exkaiser gegenüberstanden, zeigt das Wort eines so objektiven und unbestechlichen zeitgenössischen Historikers wie Ludwig Timotheus Spittler, das von Peters „völliger Geistesimpotenz“ sprach’). Ein enthusiastischer Verehrer der Carin aber wie der Königsberger Stadtprasident Theodor Gottlieb von Hippel, der 1760 als Student in Petersburg gewesen war, wollte von sich behaupten, er hätte es schon damals vorausgeahnt, daß Peter niemals zum Throne gelangen oder doch nur kurze Zeit Herrscher von Rußland sein würde: „Immer bild ich mir ein, daß ich ihre (Katharinas) ganze gegenwärtige Größe schon in ihr als Großfürstin erblickt habe, wenigstens können es mir alle meine Freunde bezeugen, daß, so jung ich gleich war, ich jedennoch allen Menschen versicherte: Peter Ill., der sich mir damals als ein üppiger preußischer Fähndrich vorspie- gelte, würde entweder gar nicht den Kaiserthron besteigen oder sich nicht auf demselben erhalten?®).“

Hatten die deutschen Zeitgenossen Katharina, wie wir sahen, von dem Verbrechen an der Ermordung Peters Ill. freigesprochen und ihr zum mindesten das moralische Recht, den Thron zu besteigen, auf Grund ihres eigenen Herrschergenies und der herrscherlichen wie menschlichen Minderwertigkeit ihres Gemahls zuerkannt, so fanden sie sich schließlich auch mit dem heiklen Punkte ab an den sie im allgemeinen nicht gern erinnerten —, daß von Rechts wegen der Thron ihrem Sohn Paul gehörte, und daß sie nur bis zur Groß- jährigkeit desselben als Regentin hätte herrschen dürfen Aber auch aus dieser Verlegenheit ließ sich ein Ausweg zugunsten Ka- tharinas finden. Denn schließlich war die Carin nicht die erste Selbstherrscherin aller Reußen gewesen, die sich den Thron mit Ge-

38) Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. LXIX, Teil 1, S. 7. Von späte- ren besonders J. R. Forster: Kurze Übersicht der Regierung Kaiserin Katha- rina Il. (1797), S. 12.

se) Eyssenhardt: Friedr. d. Gr. Denkwurdigkeiten, a. a. O. Bd. Il, S. 525 f.

37) Sämtliche Werke hrsg. von Wachter-Spittler, Bd. IV (1828), S. 364. Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland (Celle 1798), S. 176. Dav. 5 Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. Ill (1801),

ss) Sämtliche Werke Bd. XII (1835), S. 123.

16

u Je” r r r r p

. A A „„ O ðͤ S E ——— „% r

EZ O

walt angeeignet hatte. Vielmehr war bei der Nichtexistenz einer Thronfolgeordnung in der langen Reihe der Nachfolgerinnen Peters des Großen kaum eine anders als durch einen Staatsstreich zur Herrschaft gelangt. Warum sollte sich aber der Ausländer über die Usurpation des Carenthrones durch Katharina ereifern, wenn das russische Volk sich selbst nicht gegen die Herrschaft der Kaiserin aufichnte, sondern sie im Gegenteil noch begünstigt und gebilligt hatte»).

Andererseits boten, als seit dem Ende der achiziger Jahre ein beträchtlicher Teil der deutschen Publizistik der russischen Carin nicht mehr mit dem gleichen Wohlwollen gegenüberstand wie in den beiden voraufgegangenen Jahrzehnten, die illegitimen Thronrechte Katharinas und die skandalösen Anfänge ihrer Regierung natürlich das erwünschteste und wirksamste Material, um die Kaiserin sowohl in staatsrechilicher als in moralischer Beziehung auf das schwerste zu belasten. So wurden von ihnen alle Einzelheiten des Sturzes und der Ermordung Peters Ill. weidlich dazu benubt, um das deutsche Publikum von dem Gemeinen, Gewissens- und Skrupellosen in Ka- tharinas Wesen zu überzeugen.

Was die ältere Generation der deutschen Zeitgenossen einst für glaubhaft gehalten hatte, nämlich, daß die Carin bei der Nachricht von dem Tode ihres Gemahls Schmerz und aufrichtige Rührung empfunden hatte, das wurde von der jüngeren als die Höhe von Zynismus und Heuchelei betrachtet. Für sie war es unmöglich, „sich des Lachens über den Schmerz und die Betrübnis der unschuldigen Katharina zu enthalten“, und „erstaunen muß man über den hohen Grad von Unverschamtheit, mit welcher sie der Welt ein Märchen erzählen kann, das von dem Kummer über den Tod ihres Gemahls handelt über den Tod des Mannes, an dessen Leichnam jedermann die Spuren der Erdrosselung wahrnahm®). Sie war es, die Peter „den Becher des Todes“ zu leeren befahl und ihm gleich einem ver- achieten Verbrecher begegnete, ohne sich des Gattengefühles zu erinnern. Sie „voller schwarzen Hochverrates“ entstieg „einer furchtbaren Machi“, „schwang die Mordfackel in der blutigen Hand“, setzte eine geraubte Krone „auf ihr Haupt voller Liste und Ranke“ und legte den Purpur „um einen Busen, der, von Lastern verschlämmt, jeglichem guten Gefühle den Eingang versperrt hatte**)“.

Wenn auch diese Worte ein persönlicher Feind Katharinas Kaspar von Saldern, der infolge Unstimmigkeiten mit der Carin aus dem russischen Siaatsdienste scheiden mußte geprägt hat und in seiner Biographie über Peter Ill. vielleicht nicht so sehr aus der furstenfeindlichen Stimmung seiner Zeit als mehr aus rein persön- lichen Motiven heraus gegen die Carin auftrat, so überbieten diese

80) Schwan, a. a. O. S. 203. Zeichnungen eines an: a. a. O. S. 12 und 181 f. Mursinna, a. a. O. S. 42. Jenisch, a. a. O. S. 208

“) Kaspar v. Saldern: Biographie Peters III. (1800), S. 99 f. #1) Ebd., S. 117 f.

2 NT 5 17

Tiraden seines Pamphleis in nichts die Anwürfe, denen Katharina von seiten der radikalen deutschen Publizisten um das Jahrhunderi- ende sowohl bei ihren Lebzeiten als noch über das Grab hinaus ausgesetzt war. Die Angriffe der Verleumder Katharinas haben natürlich auch eine Flut von Gegenäußerungen der Verteidiger der Carin hervorgerufen. Aber diese verfuhren vielfach so ungeschickt wie möglich, indem sie die alte Mär wieder vorbrachien, der Car wäre eines natürlichen Todes gestorben“), eine Versicherung, die, wie wir sahen, auch zur Zeit des höchsten Ruhmes Katharinas nie wirklich geglaubt worden war.

Außer der Ermordung Peters Ill. haben die Widersacher der Carin noch zwei andere ähnliche Geschichten aus den Anfängen der Regierung Katharinas aufgewärmt, die, damals noch nicht ge- nügend historisch aufgeklärt, Katharina ebenfalls in hohem Maße zu diskreditieren imstande waren. Die Geschichte des sogenannten Schlüsselburger Aufstandes*), dem der unglückliche, von der Kaiserin Anna zu ihrem Nachfolger designierte, von der Carin Elisabeth aber entthronte und seit seinen Kindertagen in strenger Kerkerhaft ge- haltene Prinz Ivan Antonovič aus dem Braunschweigischen Hause zum Opfer fiel, und die Geschichte der sogenannten Prinzessin Tarakanov, von den Zeitgenossen nach ihrem Aufenthaltsorte als Prinzessin von Toskana bezeichnet, die hier wahrend des ersten Türkenkrieges auftrat, sich für eine natürliche Tochter der Carin Elisabeih ausgab und Anspruch auf die russische Krone geltend machte. Katharina, die noch den Aufstand des Kosaken Pugacev niederzuschlagen hatte, fiirchtete diese Abenteurerin und erteilte ihrem Admiral Aleksej Orlov den Befehl, die Prätendentin zu inhaf- tieren. Wahrend einer Flottenschau bei Livorno wurde sie auf das Admiralsschiff gelockt, gefangengesekt und nach Petersburg ge- bracht, wo sie bald darauf im Gefängnis an der Schwindsucht verstarb*).

Während die Revolie in Schlüsselburg wie ein glaubwürdiger Zeitgenosse versichert) anfangs in Westeuropa den Verdacht aufkommen ließ, als ob die Carin den Aufstand in Szene gesekt hätte, um sich eines lästigen Nebenbuhlers zu entledigen, so schenk- ten die Verehrer der Carin den nach diesem Geschehnis erlassenen Manifesten ihr volles Vertrauen und betrachteten den Aufstand als

a2) z. B. Erich Biester: Abriß des Lebens und der Regierung Kaiserin Katharina Il. von Rußland (1797), S. 41. Kurzgef. Lebensgesch., a. a. O 5.37 u. a. m.

83) Bilbasov, Geschichte, a. a. O. Bd. Il, S. 445 fl. ss) Alex. Brückner, a. a. O. S. 208 f. 45) Büschings Magazin für die neuere Historie und Geographie. Bd. VI

(1771), S. 535. Vgl. Zuverlässige Nachrichten von den traurigen Schicksalen.

zweener unglücklicher Prinzen Peters Ill. und Ivans Ill. (1764), S. J fl.

18

E pe “= øp +h . -,

einen unglücklichen Zufall**). Die Inhaftierung der „Prinzessin“ aber war so wenig aufsehenerregend vor sich gegangen, daß man hier wohl kein Wort der Anklage gegen die Carin erhob”).

Die radikalen Publizisten gegen das Ende von Katharinas Lebenszeit vermochfen diese beiden Ereignisse um so mehr für ihre Zwecke auszuschiachten, als diese ja beide in derselben Richtung wie die Ermordung Peters Ill. wirkten, und der Effekt des einen den des anderen noch erheblich zu steigern vermochte. So stellte man die russische Carin dar „von einer Horde Banditen umgeben“ e), und einer der Wortführer der radikalen Richtung spottete über den Gegensab in Katharinas Regierungsprinzip, der sich darin offenbare, daß die Carin öffentlich vor ihrem Popenvolke die Knie beugte, im stillen aber eine organisierte Mordbande mit Strick und Beil zur Stützung ihres Thrones arbeiten ließ*").

Aber während die Extremen unter den Bewunderern und Wider- sachern Katharinas sich noch einander aufs heftigste befehdeten und jeder von sich behauptete, das echte Katharinabild zu besitzen, bahnte sich bereits eine gerechtere, Licht und Schatten auf beide Seiten gleichmäßiger verteilende Beurteilung der russischen Thron- revolution von 1762 an. Denn damals sammelte schon der sächsische Legationssekretär G. W. von Helbig in Petersburg Material zu seiner Lebensgeschichte Peters des Dritten, die den entthronten Caren ohne Gehassigkeit gegen die russische Kaiserin in der offentlichen Meinung rehabilitierte und noch heute den Anspruch erheben darf, als einzige Lebensgeschichte Peters Ill. von Belang zu gelten°").

“) Catharine Il, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung (1797), S. 96: „Es ist bekannt, daß man den Hof in Verdacht gehabt hat, als wenn er selbst die Verschwörung erregt hätte... Diese Meinung ist aber nicht sehr wahrscheinlich, denn wenn Catharina Iwans Tod gewünscht hätte, so würde sie nicht das dritte Jahr ıhrer Regierung abgewartet haben und hätte auch geheime Mittel wählen können, deren Erfolg sicher war und doch verborgen blieb.“

87) Augerungen der älteren Aufklärung über diesen von der russischen Regierung mit größtem Geheimnis behandelten Vorfall (vgl. Brückner a. a. O., S. 215) habe ich nicht finden können. Von späteren vgl. vor allem Saldern, a. a. O. S. 194 ff. Mursinna, a. a. O. S. 70 f., berichtet im Anschluß an Castéra: Vie de Catherine, Paris en VIII, Bd. Il, S. 1, daß die „Prin- zessin“ bei einer Überschwemmung det Neva im Gefangnis ertrank: ,,Wir glauben indes zu Katharinas Ehre gern, daß sie weiter keine Absicht hatte, als sicher vor jeder Unternehmung der Prinzessin zu sein, und daß die übrigen Leiden, welche diese unglückliche Person im Gefängnis erduldete, nur eine Folge der Behandlung derer gewesen sind, denen die Bewahrung derselben anvertraut war.'

s) Saldern, a. a. O. S. 112.

39) Obskurantenalmanach Jg. 1798, S.304 f. Katharine vor dem Richter- stuhle der Menschheit (1797), S. 7 f.

se) Biographie Peter des Dritten, 2 Teile (1808).

Kapitel lll.

Die orientalische Politik Katharinas IL und die deutsche öffentliche

Meinung. 1

Im Oktober 1768 hatte die Pforte an Rußland den Krieg erklärt. Den letzten Anstoß zur Kriegserklärung hatte die Verletzung der türkischen Neutralität durch Zaporoger Kazaken gegeben, die bei der Niederwerfung der Barer Konföderation durch die Russen polnische Konföderiertenbanden über die Grenze gedrängt und das türkische Städtchen Balta geplündert und niedergebrannt hatten. Obwohl also eine offenbare Neutralitäts- und Grenzverletzung durch die Russen vor- lag, bekundeten die deutschen Zeitgenossen Katharinas von vornherein eine einseitige Parteinahme für die Carin, indem sie die Türkei allein für den Kriegsausbruch verantwortlich machen wollten. Sie erklärten übereinstimmend, daß dieser Vorfall nicht bedeutungsvoll genug gewesen sei, um der Pforte das Recht zu gewähren, die Kriegsfackel daran zu entzünden. Hätte sie friedliche Absichten gehabt, so ware dieser Zwischenfall auf diplomatischem Wege wohl sehr leicht bei- gelegt worden’). Es war aber wie die deutschen Zeitgenossen meinten den Türken lediglich darum zu tun, Rußland zu überfallen, um seine für ihr Reich bedrohlich gewordene Machtfülle zu brechen‘). In den späteren Erörterungen des Zeitalters über die Kriegsschuld- frage tritt dann noch als neues Moment die Behauptung hinzu, die Turkei habe nicht aus eigener Initiative gehandelt, sondern auf Be- treiben Frankreichs und der Barer Konföderierten den Krieg be- gonnen’). Jedenfalls ging die übereinstimmende Überzeugung der deutschen Mitwelt Katharinas dahin, daß die Türkei allein der schul- dige Teil an dem Ausbruche dieses Krieges sei, während Rußland als durchaus friedliebend erschien und seine Carin als eine Herrscherin, die mehr Wert darauf legte, ihrem Volke Ruhe und Frieden zu sichern, als ein zweifelhaftes Kriegsglück auf die Probe zu stellen.

1) Geschichte des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland, Polen u. d. ottoman. Pforte. Aus dem Ital. übers. v. Joh. Fr. Schmidlin, Teil II (1771), S. 2. Schauplatz des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland u. d. Pforte, Bd. I (1770), S. 1. Auch die späteren Darstellungen des Turkenkrieges in den zeitgen. Biographien Katharinas, z. B. Erich Biester: Abriß des Lebens u. d. Reg. d. Kais. Katharina Il. (1797), S. 135 f., oder: Seume, Sami. Werke, hrsg. v. A. Wagner (1837), S. 450, vertreten die gleiche Auffassung. Vgl. auch Historisch-genealogischer Kalender auf d. Gemeinjahr 1798, S. 91.

2) Schmidlin, a. a. O., Teil II, S. 2. Schauplak, a. a. O., Bd. I, S. . Von spateren: Gesch. u. Ursachen der Kriege zwischen den Russen und Türken, auch Preußen u. Holländern usw., Bd. I (1787), S. 18. Joh. Friedr. Albrecht: er Königin im Norden (1798), S. 303. Hist.-geneal. Kal., a. a . 90

. 3) Berl. Monatsschrift Bd. X (1787), S. 503. Biester, a. a. O. S. 13 und 139. Frhr. v. Tannenberg: Leben Catharina II. (1797), S. 137. H. F. Andra: Katharina die Zweite (1797), S. 57.

20

1 8 wa r „„ )) an ee, a

Mar, ee ——

a m . m~m /

Wenn es durch die heutige Forschung sichergestellt ist"), daß das russische Kabinett als Kriegsziel in erster Linie die freie Handels- Schiffahrt auf dem Schwarzen Meere anstrebte, ging die zeit- genössische öffentliche Meinung in den Erwartungen, die sie durch diesen Türkenkrieg verwirklicht zu sehen hoffte, weit über solche Pläne russischer Realpolitik hinaus und ließ sich durch das siegreiche Vordringen der russischen Armee, durch die Fahrt der russischen Flotte ins Mittelmeer und durch die russische Unterstiikung der auf- ständischen Balkanbevölkerung gern in ihren phantastischen Hoff- nungen bestärken, der Krieg gelte der Zerstörung der Pforte und der völligen Vertreibung der Türken aus Europa. Allen voran ging der greise Patriarch der öffentlichen Meinung Europas, Voltaire, der nach der Einnahme von Chocim (21. September 1769) Katharina zu- jubelle: „Te Catharinam laudamus, te dominam confitemur“). Wenn man natürlich auch bei allen Außerungen Voltaires gegenüber der russischen Carin immer ein gut Teil von höfischer Schmeichelei und literarischer Effekthascherei in Abzug bringen muß, so drückte der Passus, den er in einem anderen Briefe aus dieser Zeit an Katharina schrieb: er wünsche nichis so sehr, als in dem befreiten Konstan- tinopel zu ihren Fugen zu knien®) wenigstens was die Befreiung Konstantinopels betrifft doch ohne Zweifel einen Herzenswunsch aus. Und nicht nur einen persönlichen, sondern einen Herzenswunsch aller Gebildeten seiner Zeit.

Wenn unter den niederen Volksschichten Deutschlands nament- lich seiner südöstlichen Provinzen in der Erinnerung an die Tür- kennot der lekten Jahrhunderte der Haß gegen „den Erbfeind des christlichen Namens‘) mehr gefühlsmäßig fortdauerte und gleichsam dumpf nachhallte wie die Klänge der Türkenglocke, „bei deren Schall auf dem Felde weit und breit unsere Vater ihre Mützen abzunehmen und ein Vaterunser zu beten gewohnt waren“), so hatte sich diese auf dunklen und unbestimmien Gefühlen beruhende Feindseligkeit

«) Hans Übersberger: Rußlands Orientpolitik in den lebten zwei jahr- hunderten, Bd. I (1913), S. 284.

5) Voltaire: CEuvres publiés par Beuchot, Bd. LXVI (1833), S. 66. e) Ebd., S. 4.

7) Vgl. F.Behrend: Im Kampf mit dem Erbfeind. In Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde, Bd. XXV (1915), S. 11f. Behrends Behauptung, daß das historische Schlagwort „Erbfeind“ als 5 für die Türken seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus der Literatur verschwinde, muß min- destens 5 ‚werden. Vol. z. B. (Johann Rautenstrauch) Tagebuch d. jetzigen Krieges zwischen Rußland, Österreich u. d. Pforte, Bd. I (1788), S. 9. A. Swinton’s Esg. Reisen nach Norwegen, Dänemark und Rußland in den Jahren 1788, 1789, 1790 und 1791. Aus dem Engl. übers. u. mit Anmer- kungen versehen von Friedr. Gotll. Canzler zu Gottingen (1793), S. 178.

e Christian Fr. Wurm: Diplome Geschichte der oriental. Frage (1858), S. 1. Vgl. auch über die Türkenglocke Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. XLV (1745), S. 1700 f., und H. Wendt: Schle- sien u. d. Orient (1916), S. 79 und 140 . J. Gregor: Uber das Lauten der Tuskenglocke und ähnliche Gebräuche in Oberschlesien. In Oberschlesische Heimat, Bd. IX (1913), S. 97 f.

21

des Volkes bei den Gebildeten unter dem Einfluß der Aufklärungs- und Humanitätsideen des Zeitalters zu einer kaum weniger starken, aber inhaltlich viel bestimmteren Abneigung gestaltet. In Gesinnung und Haltung, Rede und Schrift wirkte sich bei ihnen diese Feind- seligkeit aus in einem andauernden lauten Protest gegen die Türken als die schlimmsten Feinde der Zivilisation. Das türkische Staats- wesen mit seinen auf dem religiösen Fanatismus des Islam beruhen- den Einrichtungen war ihnen eine der gefährlichsten Brutstätten der Intoleranz und hatte für sie als solche unter den übrigen Reichen Europas höchstens noch an Polen seinesgleichen. In Polen aber hatte Katharina soeben freilich aus den egoistischsten Motiven russischer Expansionspolitik zugunsten der von den katholischen Magnaten unterdrückten Dissidenten energisch eingegriffen und da- für das Lob keines Geringeren als des großen Friedrich geerntet: „Son noble coeur, rempli de bienfaisance aux Polonais préchait la tolérance“*). Kein Wunder also, daß ihr, als sie sich nun mit ihrem Türkenkriege einer noch weit größeren Aufgabe im Dienste des Toleranzgedankens und der Menschheit zuzuwenden schien, alle Sympathien der Gebildeten ihres Zeitalters förmlich zuflogen. Sicherlich hätte in diesem so ganz von dem Toleranzgedanken beherrschten Zeitalter auch jeder andere europäische Fürst, der unter der Flagge eines Feldzuges gegen den islamitischen Fanatismus einen Türkenkrieg begonnen hatte, die Sympathien der damaligen gebildeten Welt für sich gehabt. Aber wahrscheinlich hätte ihr kein anderer, sowohl was die Herrscherpersönlichkeit als auch die beson- dere Eigenart der Herrschermacht angeht, schon im voraus in gleich hohem Maße die glückliche Durchführung eines solchen Unternehmens verbürgt wie Katharina, die Selbstherrscherin aller Reußen. Denn die Zeitgenossen bewunderten nicht nur die Energie, die Katharina bei allen Gelegenheiten während ihrer bisherigen Regierung an den Tag gelegt hatte, sie wußten auch, daß sie an die glorreichen Tra- ditionen Peters des Großen, der als erster russischer Herrscher die Türken besiegt, und an die des russischen Feldmarschalls Münnich, der den Ruhm der russischen Waffen bis in die Krym getragen hatte, anknüpfen konnte. Vor allem aber hatten sie bereits ein Gefühl da- für, was es für ihr Unternehmen bedeuten wollte, im alternden Europa an der Spike eines noch unverbrauchten jugendlichen Staates zu stehen!). Allem Anschein nach ist Herder der erste gewesen,

) Œuvres, Bd. XIV (1850), S. 235.

10) Rud. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. I (1880), S. 336 f.: „Die Sache ist die, daß sich ihm eben Rußland als ein vor- zugsweise geeignetes Objekt für den Versuch nationaler Bildung überhaupt darstellt, daß gerade dieses Reich ebenso bildungsfähig wie bildungsbedürf- fig ist, und daß hier bereits durch den so hoch von ihm bewunderten Peter den Großen, neuerdings durch Katharina, das große nationalpädagogische Experiment in Angriff genommen war. In größerer Anwendung kehrt da der Gesichtspunkt seiner Pädagogik: Verjüngung der menschlichen Seele, wieder. Seine Idee von Völkererziehung stimmt zusammen mit seinen An- schauungen von dem Altern der Sprachen und der Dichtungskraft, mit seiner Forderung, daß auch die Poesie die Wege der Nachahmung verlassen und

22

[it Sn GE r 8

F K . A. en 1

zwei nr

der diesen Alters- und Entwicklungsunterschied zwischen Rußland und Europa in seiner zukünftigen Tragweite bewußt begriffen und ausgesprochen hat. Er hat damit das historische Schlagwort von den „jungen Völkern“ inauguriert, das dann im 19. Jahrh. als wesentliches Inventarstück in die Ideologien der verschiedenen slavischen „Risorgimenti“ übergehen sollte.

Im Zusammenklingen der einzelnen Motive gestaltete sich das Bild Katharinas für ihre deutschen Zeitgenossen immer mehr zu dem der Heroine eines Kreuzzuges, und es gehörte zu ihren Lieblings- vorstellungen, in der russischen Carin ein Werkzeug der göttlichen Rache an den Feinden der Christenheit zu erblicken. Bei Schrift- stellern von sehr verschiedener Herkunft, Stand, Beruf, Denkweise usw. begegnen wir immer wieder solchen analogen Wendungen wie „Schukgöttin des Erdkreises“, „nach dem höchsten Willen ausge- sandte Rächerin und größte Beschiigerin der christlichen Religion“, „von Gott selbst auserwahlie Geißel der Bekenner Mohammeds“ und dergl.1!). Man betete für den Sieg der russischen Waffen*), und als Rückschläge in der Kriegsführung für Katharina ausgeschlossen schienen, frohlockte man, daß nun „unzählige Menschen“ das ,,Behiit’ uns für der Türken Mord“ nicht mehr mit der altgewohnten Furcht zu singen brauchten?*).

Indem die Zeitgenossen aber die russische Carin als die Heroine eines Kreuzzuges feierten, kamen sie ganz von selbst dazu, ihren Turkenkrieg in den geschichtlichen Zusammenhang des jahrhunderte- langen Ringens zwischen Christentum und Islam zu rücken. Bei der souveränen Nichtachtung des rationalistischen Jahrhunderts für historische Bedingtheiten ist es nicht verwunderlich, daß schon die Gesinnung und Haltung Katharinas wie sie den Zeitgenossen er- schien sowie einzelne greifbare Erfolge genügten, um ihr Tun über alles bisher Geleistete zu erheben. So konnte schon gleich nach dem glücklichen Verlaufe des Feldzuges von 1769 der anonyme Verfasser einer Türkenkriegsgeschichte mit naiver Vermessenheit schreiben: „In den Zeiten der Kreugziige vereinigten sich fast alle christliche Mächte, um den Mohametanern das gelobte Land, welches sie erobert hatten, wieder abzunehmen; allein sie richteten nichts aus und mußten endlich, nachdem innerhalb zwey Hundert Jahre über fünf Millionen Christen darauf gegangen waren, den siegenden

sich durch die Achtsamkeit auf ursprüngliche Nationalpoesie verjüngen und originalisieren müsse. So erscheint ihm in dem alternden Europa Rußland als ein noch jugendkräftiges Land, und die Aufgabe zieht ihn an, wie die Kräfte einer jugendlichen, halbwilden Nation gereift, wie dieselbe zu einem „Originalvolk“ gemacht werden könne.“

u) z. B. G. Willamov in seinen zahlreichen Oden aus der Zeit dieses Krieges. Ges. Werke, Bd. I (1793 3). Vgl. auch Peter Kirchhof: Die Glück- seligkeit des russ. Staats unter dem sanften Szepter Ihrer jetzt regierenden Kais. Maj. usw. (1771), S. 112.

12) Briefwechsel der großen Landgräfin Caroline von Hessen. Hrsg. v. A. Walther, Bd. I (1877), S. 416.

18) ). Bellermann: Bemerkungen über Rußland, Bd. I (1788), S. 314

Mohametanern allenthalben weichen. Jetzt thut Rußland ganz allein mehr“). Bewußt im Sinne des Lobredners statiefe dann ein Jahr später ein anderer Zeitgenosse diese historische Parallele inhaltlich. noch weiter aus, indem er ausführte, Katharina sei willens und im- stande, das Projekt des Papstes Leo X., der 1516 die christlichen Fürsten zur Eroberung Konstantinopels aufgerufen hatte, oder den darauf zurückgreifenden „Vorschlag“ des Kardinals Alberoni aus dem Beginn des 18. Jahrh. „wie das Türkische Reich unter der christ- lichen Potentaten Bothmagigkeit zu bringen“ ganz allein auszu- führen:). Man könnte meinen, daß solche einzelnen und an sich kaum ernst zu nehmenden Zeugnisse für die Zeitstimmung nicht be- zeichnend wären. Aber die Vorstellung, daß hier eine schwache Frau ohne Bundesgenossen an die Lösung einer Riesenaufgabe ging, an der so viele deutsche Kaiser und berühmte Heerführer gescheitert waren, ließ damals überall wie der zuverlässige Dohm in seinen Memoiren überliefert in der öffentlichen Meinung Katharinas Unternehmen noch glänzender und großartiger erscheinen und den Wunsch rege werden, die übrigen Großmächte möchten sich mit der „edlen Frau“ zur Vernichtung der Türken vereinigen). Man war fest davon überzeugt, daß Katharina wie in Polen so auch hier mehr für das Wohl der Menschheit, mehr für andere, als für die eigene Nation kämpfe:”), und vor der Tatsache, daß die Carin in ihrem Turkenkriege rein russische Realpolitik trieb, verschloß der Auf- klärungsoptimismus diesen noch jeden Einblickes in die politische Praxis enibehrenden Literaten und Journalisten hartnäckig die Augen. Übrigens hielt sich die Vorstellung, daß Rußland den Türken gegen- über die Sache der Zivilisation vertrete, in Westeuropa auch in den liberalen Kreisen noch lange aufrecht. Erst seit dem Frieden von Adrianopel (1829) erloschen die Sympathien, mit denen hier auch die späteren Türkenkriege Rußlands noch vielfach begleitet waren.

Ein Blick mit dem Auge des Zeitgenossen auf ein paar Einzel- heiten möge noch zeigen, wie sehr infolge der unzureichenden Unter- richtung über die tatsächlichen Vorgänge und Ereignisse sich die öffentliche Meinung der Zeit von ihren eigenen Ideen, Vorlieben, Wünschen leiten ließ, und wie wenig der wirkliche Verlauf der Dinge ihre vorgefaßten Meinungen zu erschüttern und zu ändern vermochte. Es ist ein ziemlich regelmäßig wiederkehrendes Schauspiel in der russischen Geschichte, daß die Russen auch dann, wenn sie einen Krieg selber provoziert hatten, beim Ausbruche desselben für die Kriegsführung nur ganz unzureichend vorbereitet waren. Und ebenso oft wiederholt sich die Erscheinung, daß die russischen Truppen von der öffentlichen Meinung Westeuropas bei Beginn eines russischen

14) Schauplak, a. a. O. Bd. I, S. 1f. 18) Vgl. Peter Kirchhof, a. a. O. S. 112. 10) Christian W. Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit, Bd. II (1815), S. 16.

17) Raisonnement uber die Vor- und Nachtheile Rußlands u. d. Pforte aus dem im Lager des Feldmarschalls Grafen Rjumanzow unweit Silistria in Bulgarien anno 1774 geschloss. Frieden (1775), S. 15.

24

Krieges in der Regel überschäbt wurden. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet vielleicht nur der Ausbruch des Welikrieges. Da- mals verlief die russische Mobilmachung glänzend, und die russische Armee wurde zweifellos bei uns unterschätzte). Die russische Mobil- machung beim Ausbruche des ersten Türkenkrieges unter Katharina war dagegen durchaus von den obengenannten, in der russischen Geschichte typischen Erscheinungen begleitet. Einen so genauen Einblick in die Verfassung und den Zustand der russischen Truppen wie Friedrich der Große, der 1769 seinen Adjutanten, den Grafen Viktor Henckel von Donnersmarck, auf den Kriegsschauplaß entsandt hatte, besaßen auch wohl von den übrigen Kabinetten nur wenige“). Der Bericht des Grafen an den König?) war vernichtend genug für das russische Heerwesen ausgefallen und hatte Friedrich das spot- tende Resümee entlockt: Der Feldzug von 1769 gleiche dem Kriege der Einäugigen gegen die Blinden, wobei die ersteren immer den Sieg davontrugen**).

Ganz anders lautete das Urteil bei der überwiegenden Mehrheit der deutschen Zeitgenossen. Sie sprachen zwar davon, daß die Carin durch die türkische Kriegserklärung überrascht worden war; aber sie wollten darum noch keineswegs zugesiehen, daß sich ihre Truppen bei Kriegsausbruch in einem schlechten Zustande befunden hätten. Vielmehr nannten sie die russische Armee, die sie mit den römischen Kohorten verglichen?®), eine der besten, wo nicht die beste Europas, im Vergleich zu der die türkische wie „ein entseelter Kor- per“ erschien. Obwohl Katharina selbst mit ihren Heerführern teil- weise sehr unzufrieden war und einzelne von ihnen wie den Fürsten Golicyn wegen seiner völligen Untauglichkeit hatte abberufen müssen, konnte man in der deutschen Berichierstattung über die russische Heerführung lesen, daß es den türkischen Paschas im Ver- gleich zu den genialen russischen Feldherren zwar nicht an glän- zender Ausstatiung, wohl aber an Klugheit und Erfahrung fehle. Und um die erste militärische Autorität der Zeit für ihre Auffassung ins Feld zu führen, erschien unter ihren Äußerungen auch die schon zitierte Floskel Friedrichs des Großen; freilich in völliger Verdrehung der Worte des Königs. Es wurde behauptet, daß der Konig von einem Kriege der Hellsehenden und der Blinden gesprochen habe»).

18) A. v. Hedenström: Gesch. Rußlands von 1878 bis 1918 (1922), S. 262 f.

19) Vgl. den weniger klaren Bericht des Barons v. Sacken an d. sachs. Reg. bei E. Herrmann: Gesch. d. russ. Staats, Bd. V (1853), S. 702.

se) Militärischer Nachlaß, hrsg. v. Karl Zabeler, Bd. II (1846), Abt. II, S. 1—102. Hierzu vgl. auch die Ausführungen uber das Heerwesen in den Mémoires de M. de Falckenskiold (1826), S. 17, eines den Feldzug als russ. Offizier mitmachenden Dänen.

21) Œuvres Bd. VI (1847), S. 24.

a K. Ph. Snell: Beschreibung d. russ. Provinzen a. d. Ostsee (1794), S. 5. Uber den Gegensatz zw. russ. u. türk. Kriegsführung äußern sich noch typisch Schauplak, a. a. O. S. 10 J. G. v. Boden: Verm. Schriften Bd. I (1771), S. 5 l. Kirchhof, a. a. O. S. 1 |

23) Hist. geneal. Kal., a. a. O. S. 1

25

Der Sieg Golicyns bei Chocim (17./18. September 1769), der den Russen den Zugang zu den Donaufürstentümern öffnete, die Siege Rumjancevs bei Larga (18. Juli 1770) und am Kagul (1. August 1770), denen zufolge die türkischen Festungen Akkerman und Braila fielen, wurden in den deutschen Zeitschriften, unter denen sich Schubarts „Deutsche Chronik“ besonders exaltiert gebardete*), mit unermeß- lichem Jubel als die größten Waffentaten des Jahrhunderts gefeiert. Aber die begeisterten Sympathien blieben den russischen Heeren und ihrer Carin auch dann noch hold, als die Kraft der russischen Waffen zu erlahmen begann und der Krieg sich zwischen und neben den fruchtlosen Friedenskongressen von Fokschani und Bukarest nur noch mühsam dahinschleppte. Da wurden dann in den Organen der deutschen öffentlichen Meinung liebevoll alle die Umstände heraus- gesucht, zusammengestellt und kommentiert, die geeignet waren, das Nachlassen der russischen Kriegsführung zu beschönigen: der Druck der österreichischen Politik, der Aufstand Pugatevs, die Moskauer Pestepidemie, die polnische Teilung usw.; bis dann die Russen im letzten Kriegsjahre im nochmaligen Zusammenraffen aller Kräfte am 15. Juli 1774 von den Türken den Friedensschluß von Kutschuk- Kainardsche erzwangen und nun der gedampfte Jubel der deutschen Zeitschriften wieder von neuem in die hellsten Tone der Begeisterung für die Carin ausbrach: „Der Erdkreis schweigt, es stußt der Ocean, Und alles weit umher staunt Katharina an“. Mit diesen Worten be- grüßte Schubarts „Deutsche Chronik“ den Friedensschluß “)].

Weit mehr noch als mit den Taten des russischen Landheeres beschäftigte sich die Phantasie der Zeitgenossen mit der abenteuer- lichen Fahrt der russischen Flotte in den Archipelagus. Ungefahr um dieselbe Zeit, als die Schlacht bei Chocim (17./18. September 1769) geschlagen wurde, war die russische Flotte von Kronstadt auf- gebrochen, um durch den Sund und die Meerenge von Gibraltar in das griechische Inselmeer zu segeln und die durch russische Agenten aufgewiegelten Griechen in Morea von der See aus zu unterstiifen. Dieses Unternehmen Katharinas, das übrigens auch im Conseil der Carin auf schwere Bedenken gestoßen war), erschien den da- maligen Deutschen als so neuartig, so kuhn und so vermessen, daß zunächst niemand so recht daran glauben wollie”). Als aber allen Zweifeln zum Troge sich die Richtigkeit der ersten Nachrichten davon bewahrheitete, da war die deutsche öffentliche Meinung anfangs noch sehr weit davon entfernt, das Projekt Katharinas mit dem gleichen unbedingten Vertrauen zu begrüßen, mit dem es den Vormarsch der russischen Armeen betrachtet hatte. Den deutschen Zeitgenossen waren zwar noch die Anstrengungen Peters des Großen, sein Volk

24) Schlachigesang eines russ. Grenadiers nach d. Schlacht bei Chozim 1769. In Deutsche Chronik 1774.

25) Ges. Schriften Bd. VI (1839), S. 178.

se) E. Herrmann: Gesch., a. a. O. Bd. V, S. 617.

27) F. C. jetze: Statist. polit. u. galante Anekdoten von Schweden, Lief- u. Rugland (1788), S. 90.

26

s 3 ee ee ĩ b S M O .. ze

seetüchtig zu machen, in der Erinnerung; aber sie wußten auch, wie arg die russische Flotte unter seinen Nachfolgern vernachlässigt worden war.

Von dem russischen Soldaten hatte man, was Tapferkeit, Aus- dauer und Genügsamkeit anlangt, die allergünstigste Vorstellung; der Russe als Seemann aber hatte bei ihnen begreiflicherweise durchaus nicht die gleiche Geltung**). Dazu kam die lebhafte Vorstellung der Schwierigkeiten und Schrecken, mit denen damals noch jede Seefahrt verknüpft war; bot doch schon die noch verhältnismäßig ruhige Ostsee für einen erprobten Seefahrer wie Joachim Nettelbeck die größten Gefahren. Wie hätten da nicht die Tücken von Meer und Wind, die die junge Flotte mit ihrem im Seewesen noch unerfahrenen Führer Aleksej Orlov, mit ihren noch unerprobten Offizieren und Mann- schaften und den schlecht gebauten Schiffen auf einer Strecke von 1500 Meilen erwarteten, als uniiberwindlich betrachtet werden sollen. Dazu kamen endlich historische Erinnerungen an das Scheitern auch von glänzend ausgerüsteten Flottenunternehmungen wie der spa- nischen Armada und verstärkten noch diese an sich schon pessi- mistische Stimmung. Denn es war doch wohl kaum wie die „Ber- linische Monatsschrift“ behauptete nur „die große Menge Halb- kluger, die immer weiter als die kleine Zahl der Männer von Einsicht und Erfahrung zu sehen sich einbilden“ v, die mit Berechtigung auf die Leistungsfähigkeit einer neuen Seemacht kein großes Vertrauen sekten und der russischen Flottenexpedition einen vollen Mißerfolg prophezeiten. Als aber dann schon die glückliche Fahrt der russischen Flotte, deren erstes Geschwader nach kurzer Rast an der englischen Küste im Dezember 1769 in den Hafen von Port Mahon einlief, diesen Pessimismus Lügen strafte, trat in der deutschen öffentlichen Meinung ein völliger Stimmungsumschwung ein. Das Improvisierte des russischen Flottenunternehmens, das den Zweiflern anfangs das harte Urteil, als handle es sich dabei um eine „Spie- lerei“, entlockt hatte, erschien nun als eine bewunderungswürdige Höchstleistung russischer Organisationskunst; die Epedition war, wie die „Berlinische Monatsschrift“ bemerkte, schon von Anfang an in den Kriegsplan mit einbegriffen, und der Carin allein war es zu ver- danken, daß sie allen Bedenken ihres Staatsrates gegenüber an ihrem von vornherein gefaßten Plane festgehalten hatte?). Unter dem „weltberühmten großen Manne“, dem Admiral Aleksej Orlov, ward die russische Flotte der Schrecken der Tiirken**), und wieder reichten die großen historischen Maßstäbe kaum aus, um die neuen Heldentaten Katharinas und ihrer Untertanen daran zu messen. Die Skala der Empfindungen, mit denen man nun die russische Flotten- expedition verfolgte, gibt eindringlich der Erfurter Universitätspro-

20) Berl. Monatsschrift Bd. X (1787), S. 498.

se) Ebd., S. 479. Vgl. Schmidlin a. a. O. Teil V, S. J.

se) Berl. Monatsschr. Bd. X, S. 503; auf ihr beruhend Biester, a. a. O. S. 139.

5 a. a. O. Teil V. S. 53. Vgl. Geschichte u. Ursachen, a. a.

27

fessor Bellermann, einer der gründlichsten damaligen Reiseschrift- steller, in seinen „Bemerkungen über Rußland“ wieder: „Europa staunte schon, wie es russische Kriegsflaggen im Archipel und auf dem schwarzen Meere wehen sahe. Dieses Staunen wuchs, wenn man die Geschichte der russischen Marine durchlief, daß Peter der erste beim Antritt seiner Regierung nicht ein einziges Schiff auf der Ostsee besaß, daß seine Nation weder Beruf, Sinn, noch große Ver- anlassung, eine Seemacht zu werden, haben konnte, daß er selbst in Sardam als Schiffszimmerjunge, Geselle und Meister arbeitete, um dereinst seinem Vaterlande eine Flotte schaffen zu können. Dieses Staunen Europas stieg endlich auf den höchsten Gipfel, da man die Thaten der jungen Flotte von 1770 bis 1773 hörte?®).“

Am 4. Juli 1770 war Orlov vor dem Hafen von Tschesme auf die türkische Flotte gestoßen, die nach unentschiedenem Kampfe sich in die Bucht zuriickzog. Da gelang es den Russen in der Nacht vom 5. zum 6. Juli, durch Brander die türkischen Kriegsschiffe völlig zu vernichten, und nun wollte der Jubel der Zeitgenossen über diese Heldentat, die den Türken die größte Niederlage zur See beigebracht hatte, die sie seit Lepanto getroffen, nicht mehr verstummen. Kein Geringerer als Goethe hat in einer meisterhaften Zusammenfassung, die in ihrer ruhigen, selbstsicheren Objektivität wohltuend absticht von der Überhiktheit der damaligen Zeitstimmen, die einzelnen Stim- mungsmomente dieses Freudenrausches festgehalten und charak- terisiert. Allerdings schrieb er folgende Sake nicht unter dem un- mittelbaren Eindruck der Ereignisse, sondern sie entstammen der riickschauenden Betrachtung von „Dichtung und Wahrheit“: „Katha- rina, eine große Frau, die sich selbst des Thrones würdig gehalten, gab tüchtigen hochbegünstigten Männern einen großen Spielraum, der Herrscherin Macht immer weiter auszubreiten: und da dies über die Türken geschah, denen wir die Verachtung, mit welcher sie auf uns herniederblickten, reichlich zu vergelten gewohnt sind, so schien es, als wenn keine Menschen aufgeopfert würden, indem diese Un- christen zu Tausenden fielen. Die brennende Flotte in dem Hafen von Tschesme verursachte ein allgemeines Freudenfest über die ge- bildete Welt, und jedermann nahm Teil an dem siegerischen Über- muth, als man um ein wahrhaftes Bild jener großen Begebenheit übrig zu behalten, zum Behuf eines künstlerischen Studiums, auf der Reede von Livorno sogar ein Kriegsschiff in die Luft sprengte“ s). Dem deutschen Maler Philipp Hackert war dieses Schauspiel gewährt worden, um wahrheitsgetreu die Schlacht bei Tschesme in einem Gemaldezyklus für die Carin herstellen zu können, und Goethe hat in seiner Hackert-Biographie die Entstehungsgeschichte dieser Bilder mit allen Einzelheiten genau geschildert. Nach dem Siege bei Tschesme waren der russischen Flotte keine größeren Erfolge mehr

33) Bellermann, a. a. O. S. 255.

33) Weimarer Ausgabe Abt. I Bd. XXVI (1889), S. 67, und Bd. XLVI (1903), S. 138. Einen Hymnus auf den Sieg bringt Chr. Aug. Clodius mit seinem Gedicht „Die Schlacht bei Chios“ in Neue verm. Schr. Bd. II (1780), S. 1 f.

28

UA DH Ä—7*́ꝗ LA: 2 rn

A EF . AE . . ee a 5

m 3 r a

A m

beschieden, und der eigentliche Zweck, eine Erhebung großen Stiles unter den peloponnesischen Griechen einzuleiten, wurde nicht er- reicht. Aber auch hier wieder waren die Zeitgenossen geneigt, die Schuld an dem Ausbleiben des Erfolges viel weniger den Russen als unglücklichen Zufällen zuzuschieben. Nicht die russische Flotte hatte es an Leistungsfähigkeit fehlen lassen, denn in ihr wohnte „Kühnheit und Mut“, wohl aber versagte die Unterstükung der von den russischen Admiralen bewaffneten Balkanchristen, weil sich diese weniger tapfer erwiesen, als man erwartet hatte, und sich disziplin- und treulos zeigten*).

Der Friedensschluß von Kutschuk-Kainardsche erfüllte bei weitem nicht die Erwartungen, die sich in der Phantasie der deutschen Zeit- genossen an den Ausgang dieses Krieges geknüpft hatten. Die Er- oberung von Konstantinopel und die Vernichtung des türkischen Reiches, die sie in ihren überschwenglichen Äußerungen als die eigentlichen Kriegsziele der russischen Carin bezeichnet hatten, wurden nicht erreicht. Man könnte daher annehmen, daß die Be- urteilung dieses Kriegsausganges in der deutschen öffentlichen Mei- nung eine kühle, resignierte gewesen wäre oder wohl gar, daß die Enttäuschung, die dieser Friedensschluß nach so hochgespannten Hoffnungen für die deutschen Zeitgenossen doch zweifellos be- deutete, sie veranlaßt hatte, mit ihrer Unlust über die Ergebnisse des Krieges nicht zuriickzuhalten. Aber dem war nicht so. Die Be- urteilung der Kriegsresultate fiel kaum weniger enthusiastisch aus als die der russischen Kriegstaten. Und schließlich entspricht es ja wohl dem Wesen der öffentlichen Meinung überhaupt, wenn sie für eine Person oder Sache voreingenommen ist, sich zufrieden zu geben, wo sie nur Fortschritte sieht.

Diese Fortschritte waren nun in der Tat sehr beträchtlich, wie denn auch dem Frieden von Kutschuk-Kainardsche von den späteren Publizisten mit Recht immer eine besondere Bedeutung für die Ge- schichte der orientalischen Frage beigemessen worden ist®). Rub- land gewann durch diesen Frieden das Land zwischen Dnepr und Bug, ferner die beiden Festungen Kertsch und Jenikale, die die Straße von Kertsch beherrschen, den Zugang zum Schwarzen Meer und endlich für seinen Handel das Recht der freien Schiffahrt zwischen dem Schwarzen und Agaischen Meer und des ungehin- derten Einlaufens in alle Häfen der Pforte. Es erreichte damit, wie Johann Gottfried Seume als eine vereinzelte Stimme hervor- hob, die Erfüllung eines von ihm längst angestrebten Zieles“). Aber es waren Fortschritte mehr im Sinne der russischen Macht- und Wirt- schaftspolitik als in dem jenes noch stark religiös aufgefaßten Be- freiungswerkes, das aus dem zivilisierten Europa die Schmach des zivilisationsfeindlichen Tiirkenreiches austilgen wollte. Die deutsche

34) Berl. Monatsschr. Bd. X, S.505 f.; Biester, a. a. O. S. 139.

35) Wurm, a. a. O. S. 91 f. Carl Ritter von Sax: Gesch. d. Machtver- falls d. Türkei (1908), S. 108.

d) Seume Werke, a. a. O. S. 451.

öffentliche Meinung hatte noch so gut wie gar kein Gefühl dafür, daß man diese beiden Dinge auseinanderhalten müsse, und begnügte sich im allgemeinen mit einem naiven Anstaunen des Erreichien, ohne daran weitere Reflexionen über den gefährlichen Machtzuwachs zu knüpfen, den Rußland in diesem Kriege erreicht hatte. Wie wenig selbst politische Praktiker von damals für das bedrohliche Anwachsen der russischen Macht empfindlich waren, zeigt ja auch die Orient- politik Josephs Il. in den achtziger Jahren’). Schließlich vermochten sich auch diejenigen, denen die Resultate von Kutschuk-Kainardsche zu sehr hinter ihren Erwartungen zurückblieben, mit dem Ausgange des Krieges auszusöhnen, indem sie in dem Friedensschlusse von 1774 nur eine Etappe des weiteren Vordringens der Russen auf Konstantinopel sahen; und Katharina tat das ihrige dazu, um solche optimistischen Hoffnungen nicht erlahmen zu lassen.

In dem nun folgenden Jahrzehnt tauchten in der deutschen öffent- lichen Meinung immer häufiger Gerüchte auf, die von einem bevor-

37) F. H. Geffken: Katharina Il., die Pforte u. Europa in Deutsche Rund- schau Bd. XV (1878), S. 92 u. 96: „Der Kaiser garantiert (1781)... die Ver- träge Rußlands mit der Pforte, verspricht auf das Bündigste „de faire obser- ver par la dite porte Ottomane strictement et religieusement tout ce qui est contenu dans les actes cy-dessus mentionnés“ und im Falle der Nicht- beobachtung seine guten Dienste bei ihr anzuwenden. Sollten aber solche nicht die gewünschte Wirkung haben und sie sich hartnäckig weigern, ihre Verpflichtungen zu erfüllen oder gar offen den Frieden verletzen und zu einer Invasion Rußlands schreiten: so verpflichtet sich der Kaiser, drei Mo- nate nach ergangener Aufforderung, ihr den Krieg zu erklären und in ihr Gebiet eine direkte Diversion zu machen mit Kräften, die den von der Kaiserin aufgewendeten gleich seien. Für den Fall einer Operation der russischen Flotte im Schwarzen Meer will Österreich sich über ein seiner- seits zu leistendes Aquivalent verständigen. Der Kriegsplan soll gemein- sam festgelegt werden, und der Kaiser verspricht, wenn während des vor- ausgesetzten Krieges die Kaiserin von irgendeiner andern Macht angegriffen werden sollte, dies nicht nur als casus foederis zu betrachten, sondern voll- ständig fur I. M. einzutreten und mit allen Kräften zu Hilfe zu kommen, so- weit es geschehen könne, ohne die Sicherheit seiner Staaten zu gefährden; auch nicht Frieden oder Waffenstillstand zu schließen, ohne I. K. M. darin einzubegreifen. Diese Verbindlichkeiten bittet der Kaiser so zu betrachten, als ob sie unter dem „geheiligten Gesetze“ des feierlichsten Vertrages ab- geschlossen seien. Also ein Lowenvertrag für Rußland im eigentlichsten Sinne...“ Man findet „bei Joseph und Kaunitz die entschiedenste Uber- zeugung, daß das griechische Project ein luftiges Hirngespinst sei, anderer- seits eine rucksichtslose Ländergier, die einfach über fremdes Gebiet ver- fügt. Was die Absichten des Kaisers betrifft, so waren sie allerdings prak- tischer, als die hochfliegenden Pläne seiner Verbündeten, Harris (der eng- lische Gesandte in St. Petersburg) meinte ganz richtig (27. Aug. 1782), er wolle Bosnien, Serbien und den Teil der Türkei, der früher zu Ungarn ge- hort habe, werde auch wohl wünschen, Etwas von den Besitzungen der Pforte am adriatischen Meere zu erwerben und nicht zu gewissenhaft sein, um auf die Venetianer überzugreifen, wenn ihre Besibungen ihm in den Weg kämen. Das waren unstreitig seine Absichten, aber sie erfüllten sich nicht; wenn Harris ebenso wie Friedrich Il. sahen, daß das Einverständnis Rub- lands und Österreichs ein Ende haben werde, wenn sie an die Ausführung ihrer Pläne gingen, so wurde es doch durch die Folge klar, daß Joseph und Kaunik einen ganz falschen Schachzug getan, während Katharina zwar nicht ihre hochfliegenden Pläne durchsefte, aber doch allein den Gewinn des Bündnisses einheimste.“

50

. as , P 2 AF AV f . A P WE e r

stehenden neuen Kriege zwischen Rußland und der Türkei redeten. Die Art und Weise, mit der Rußland den Friedensvertrag auslegte, hatte zu einer solchen Verwicklung und Verwirrung in den diploma- tischen Beziehungen der beiden Länder geführt, daß schon 1782 das „Politische Journal“ erklärte, dieser „gordische Knoten“ müsse „ent- weder entwickelt Oder mit dem Schwerte zerschnitien werden“ . Daß das letztere das Wahrscheinlichere sein werde, darüber ließ es seine Leser nicht .im Zweifel®). Die Annäherung, die sich 1781 zwischen dem deutschen Kaiser Joseph und der russischen Carin vollzogen hatte, vervielfachte und verstärkte natürlich die Gerüchte und gab ihnen, entsprechend den Ideen und Wünschen der Gebildeten, konkre- teren Inhalt. In hohem Maße bezeichnend dafür ist, was der Vater Gleim im Januar 1784 seinem Freunde Heinse aus Halberstadt berichten konnte: „Im Frühjahr, heißt es hier, bricht Joseph los, mit allen seinen Donnern. Er auf Rom, und Catharina bricht auf Stambul los, die griechischen und lateinischen Kayserthymer werden hergestelli, Athen und Sparta werden wieder seyn?!“

Aus solchen Gerüchten sprach aber auch der Widerhall der zahl- reichen eindringlichen Manifestationen, durch welche Katharina für ihr sogen. griechisches Projekt, d. h. für ein von ihr zu begründendes griechisches Kaisertum, das sich aus den Trümmern der Türkenherr- schaft erheben sollie, in Europa Stimmung zu machen suchie. Katha- rinas Reklame war wie stets so auch in diesem Falle außerordentlich geschickt und redete nicht nur eine sehr weit vernehmbare, sondern auch zu Herzen dringende Sprache. Denn, wenn sie ihren zweiten Enkel, der dereinst den Thron dieses griechischen Kaiserreiches be- steigen sollte, Konstantin taufen ließ, wenn sie aus Griechenland Ammen verschrieb, die ihn säugen, und griechische Knaben, die seine Spielgefährten werden und, in einem eigens für sie errichteten Kadettenkorps erzogen, den Stamm eines zukünftigen Offizierkorps der griechischen Armee bilden sollten, so kam sie damit den Lieb- habereien ihrer klassizistischen Zeit auf das glücklichste entgegen. Waren aber diese Anspielungen in erster Linie für die gelehrt oder literarisch Gebildeien berechnet, so fand sie für die einfacheren Gemüter eine noch drastischere Methode, ihre Absichten auszu- drücken, wenn sie Schaumünzen schlagen ließ, auf denen die Carin als „Schützerin der Gläubigen“ und Konstantinopel als brennende Stadt dargestellt waren, oder wenn das Stadttor des von Potemkin erbauten Cherson die Inschrift erhielt: „Von hier aus geht der Weg nach Byzanz“. Wie erfolgreich Katharina mit ihrer Reklame war, geht auch daraus hervor, daß noch mitten im Frieden in deutschen Zeitschriften russische Kriegslieder erschienen, in denen für den kom- menden Türkenkrieg schon im voraus Propaganda gemacht wurde:

se) Polit. Journal, Ig. 1782, S. 173 l.

ss) Gleims Briefw. mit Heinse, hrsg. v. K. Schüddekopf (1894): Brief vom 18. Januar 1784.

51

„Wohlauf, ins Feld! Horcht, überall Tönt Pauken- und Trompeten-Schall! Es gilt dem Muselmann!

Seht, unsere Kaiserin gebeut.

Es rüste sich zum wackern Streit jetzt jeder brave Mann“.“

Trotz aller dieser Gerüchte, die auf den baldigen Ausbruch neuer Feindseligkeiten zwischen Russen und Türken hinwiesen, und trob aller Provokationen, die sich die russische Politik und Diplomatie der Pforte gegenüber erlaubten, blieb Osteuropa der Friede mehr als ein Jahrzehnt erhalten, und selbst die Erbitterung, welche bei der Pforte infolge der Erwerbung der Krym durch Rußland hervor- gerufen wurde, hat es noch nicht zum Beginn eines neuen Krieges kommen lassen.

Im Frieden von Kutschuk-Kainardsche hatten es die Russen nach langem Widerstreben der Türken durchgesetzt, daß die Tataren der Krym und des Kuban als eine von beiden Kaiserreichen freie und von jeder auswärtigen Macht unabhängige Nation anerkannt würden, die von ihren eigenen Fürsten (Chanen) regiert werden sollten. Beide Mächte waren übereingekommen, sich in keiner Weise weder in die Wahl des Chans noch in die inneren politischen Verhältnisse der Tataren einzumischen. Katharina hatte indes die Unabhängigkeits- erklärung der Krymtataren in der Absicht angestrebt, um durch An- zettelung von Intrigen unter ihnen Unruhen hervorzurufen, die dann für den Einmarsch der russischen Truppen zur Befriedung des Landes den Vorwand liefern und in eine Einverleibung des Tatarenstaates in das russische Reich ausmünden sollten. Nach der gleichen Methode, mit der man in Polen zur Zeit der Dissidentenunruhen glücklichen Erfolg gehabt hatte, wurde nun auch den Tataren gegen- über verfahren und am 1. August 1783 die Besitzergreifung der Krym proklamiert. Die Pforte hatte sich troß aller Proteste schließlich in das Unvermeidliche fügen müssen.

Die Einverleibung der Krym hat auf die damalige öffentliche Mei- nung in Deutschland keinen sehr großen Eindruck gemacht. Sie hat vor allem so gut wie gar keine Erregung über den neuen eklatanten Rechtsbruch Rußlands hervorgerufen. Ganz abgesehen davon, daß die öffentliche Meinung damals durch den Abschluß des amerika- nischen Freiheitskrieges in Anspruch genommen war, hatte dieses Zeitalter begreiflicherweise für die Tataren keine sonderlichen Sym- pathien. Denn einmal waren „die Händel der Russen in dieser Periode in Deutschland zu wenig bekannt“*!), sodann handelte es sich um ein Volk, das auf einer Kulturstufe stand, auf die der auf- geklärte Zeitgenosse nur mit Verachtung glaubte herabblicken zu können. Der damals im Departement der auswärtigen Angelegen- heiten Preußens tätige Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm, der als

4) Polit. Journal, Jg. 1783 im Titelblatt des 9. Stücks. a) Seume Werke, a. a. O. S. 452.

52

m E ̃ oa , E . Ä Eee LI...

ö

einer unter wenigen diesen Einbruch Rußlands in die Krym als einen unerhörten Gewaltakt mißbilligte, fand in seinen Memoiren für die Interesselosigkeit, mit der die deutsche öffentliche Meinung diese Rechtsverlekung Rußlands hinnahm, folgende treffende Erklärung: „Ein der Zeit oder dem Orte nach fern von uns sich ereignender Un- fall pflegt schwächer zu rühren; auch sind unsere Begriffe von Recht oder Unrecht unter den Völkern meist nur auf den Kreis der Völker beschränkt, die mit uns auf gleicher Stufe der Bildung stehen**).“ Wofern man aber in der gleichzeitigen öffentlichen Meinung Deutsch- lands der Krymbesebung überhaupt eine lebhaftere Aufmerksamkeit zuwendeie, so erfolgte die Beurteilung in diesem Sinne: Das Recht zu dem Schritte war auf russischer Seite; Rußland hatte einen historisch begründeten Anspruch auf die Halbinsel; es mußte seine früheren Bedrücker, die einst auch Deutschland bedroht hatten und Rußland schließlich immer noch durch Überfälle beunruhigten, unter seine Gewalt bringen. Das „Politische Journal“ wollte zwar seine Leser lehren, Machthunger hätte die Carin veranlaßt, die Krym zu okkupieren. Aber aus dem eigenen Leserkreise wurde gegen eine solche Auffassung in einem Eingesandt energisch protestiert: „Nicht Eroberungssucht, sondern traurige Notwendigkeit war es, sich eines Landes zu vergewissern, welches von einer Rotie Räuber bewohnt wurde, die wider alle Volkerrechte Räubereyen und Mordthaten in der Nachbarn Land für Pflicht hiclten**).““ Noch energischer trat das „Historische Portefeuille“ für Katharina ein: Alle Plagen, die die Krymtataren von jeher dem russischen Reiche gebracht hatten, konnten nur durch eine vollständige Besitzergreifung ihres Landes beseitigt werden. Wenn die Chane auch 1774 von der Türkei un- abhängig geworden waren und seitdem mehr dem russischen Einfluß unterstanden, so gab das der Carin immer noch keine Gewähr dafür, daß ihr Land vor ihnen sicher war. Denn stets hatte die Krym im Solde der Pforte gestanden und, bei einem Kriege mit ihr verbündet, die Russen zu Sonderaktionen herausgefordert oder mitten im Frieden Überfälle auf die Ukraine vollzogen. Eine Krym aber in russischem Besitz war ein glänzender Handelsplak, ein hervorragen- der Flottenstüßpunkt und eine ausgezeichnete Operationsbasis. Frei- lich solchen Vorteilen gegenüber wußte das „Historische Portefeuille“ auch Nachteile aufzuzählen. Dieser neue Gebietszuwachs an sich bedeutete wenig, da im eigentlichen Rußland noch viele fruchtbare Gebiete zu besiedeln seien und bei der geringen Bevölkerungsdichte Rußlands dem Menschenmangel in der Krym für lange Zeit hinaus noch nicht abgeholfen werden könne. Des ferneren dürfe man ernstlich der Pest wegen besorgt sein, die ständig in der Krym wute und von hier aus, wie z. B. im letzten Türkenkriege, leicht nach Rußland eingeschleppt werden könne. Aber alles in allem genom-

43) Dohm, a. a. O. Bd. Il, S. 63.

43) Polit. Journal, Jg. 1788, S. 1025. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dieses auf Katharinas Veranlassung hin geschrieben ist. Vgl.

3 NF 5 35

men, die Vorteile überwogen: „Eine merkwürdige Begebenheit mehr in der Geschichte der jegigen glücklichen Regierung*).“

2.

„Das entscheidende Jahr 1787, das Jahr, in welchem die Kaiserin von Rußland ihren zweiten Türkenkrieg begann, versebie ganz Europa in eine erschütternde Bewegung. Joseph Il. sah sich durch seine Bundesgenossenschaft mit Katharina Il. alsbald zur Teilnahme gezwungen. Gustav Ill. von Schweden ließ sich, von brennendem Ehrgeiz gestachelt, voreilig und schlecht vorbereitet und ohne eines ausreichenden Beistandes von seiten der ihm befreundeten Mächte sich versichert zu haben, zu einem allzu gewagten Angriff auf das kolossale Reich seiner Nachbarin verleiten. Die zerrüttete Republik Polen erhob sich zu den letzten krampfhaften Versuchen, ihre natio- nale Unabhängigkeit wiederherzustellen, und Preußen, fest ent- schlossen, jeder weiteren Machtvergrößerung Österreichs entgegen- zutreten, vereinigte sich mit England und Holland zu einem Defensiv- bündnis, welches zunächst die Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichtes bezweckte. All diese politischen Verwicklungen bereiteten sich vor schon während der berühmten Reise, welche die Kaiserin am 2. Januar 1787 nach der Krym unternahm. Diese Reise mit ihrer geflissentlichen, pomphaften Zurschaustellung des russischen Machigepranges war ein die Augen aller Welt auf sich ziehendes Ereignis. Während derselben fanden zwischen der Kaiserin und dem Kaiser, zwischen ihr und dem König von Polen Verabredungen statt, deren geheimnisvolles Dunkel nicht ohne Grund vornehmlich bei der Pforte die Besorgnis vor den drohenden Machigeliisten Rußlands steigerten. Mit majestätischer Selbstverherrlichung machte Katharina diese Reise zu einem Triumphzug ununterbrochener Huldigungen, die sie vom niedrigsten Untertanen, die sie von einem König ihrer Schöpfung sich darbringen ließ, und denen mit ritterlicher Courtoisie auch ihr kaiserlicher Gast sich anschlof*).“

Diese taurische Reise der Carin hat lange nachher in einem der Reiseteilnehmer einen liebenswürdigen Schilderer gefunden. In seinen 1825 erschienenen Memoiren hat der damalige französische Gesandte am Petersburger Hofe, Graf Philipp Louis von Ségur, „mit wohlbehäbiger Ausführlichkeit in dem Stil der Restaurationsepoche, um die gute Gesellschaft zugleich zu unterhalten und zu unterrich- ten‘), erzählt, wie die Reise, die teils zu Schiff auf dem Dnepr, teils im Wagen zu Lande gemacht wurde und durch ein gut Stüc Süd- rußlands bis zu dem Krymhafen Sebastopol führte, einer ununter- brochenen Kette von Festen glich, die aber trob ihrer Überfülle bei den ewig wechselnden neuen Eindrücken, bei der frischen Lebens-

4) Histor. Portefeuille, Jg. 1786, S. 11f. Vgl. J. M. Hofmann: Katha- rina Il., die einzige Kaiserin der Erde, Selbstherrscherin aller Reußen usw, Bd. I (1787), S. 8 f.

25) E. Herrmann, Gesch., a. a. O. Bd. VI, S. 147 f.

4) L. Ranke, Sämtl. Werke, Bd. XXXI (1875), S. 294.

54

lust der Carin, welche in der Eriragung von Schwierigkeiten, die bei dieser Reise in noch so wenig von der Zivilisation erschlossenen Gebieten natürlich auch in Kauf genommen werden mußten, allen voranging, und bei der geisireichen Unterhaltung, welche die Hof- gesellschaft Katharinas wie die kaum eines anderen damaligen Hofes glänzend beherrschte, niemals Ermüdungsgefühle aufkommen ließen. Das war eine Beurteilung, gesehen aus der Atmosphäre und der Perspektive des Petersburger Hofes, und wie sehr Ségur den Ab- sichten, die Katharina mit dieser Reise verfolgte, in seiner Schilde- rung entsprach, haben die erst später erschlossenen Briefe Katha- rinas, die sie zur Zeit der Reise selbst über dieses Ereignis schrieb, gezeigt"). Aber daneben gab es noch eine andere Auffassung, und diese wurde namentlich von den der Kaiserin feindlichen Zeitungen des Auslandes wie den „Nouvelles extraordinaires de divers endroits“, gewöhnlich kurzweg „Gazelle de Leyde“ genannt, ver- treten und verbreitet. Um den der russischen Carin abträglichen Gerüchten enigegenzuireten, die in solchen Organen des Auslandes ausgesireut wurden®®), veröffentlichte Melchior Friedrich Grimm, das Pariser literarische „Faktotum“ Katharinas, in seiner „Correspon- dance litiéraire“**) die Reiseberichte eines anderen Teilnehmers, des Fürsten Karl Joseph von Ligne, eines der geistvollsten Plauderer seiner Zeit. Glänzend geschrieben, der Neigung der Zeit für das Exotische mit der farbigen Schilderung des bunten Völkergemisches des russischen Reiches entgegenkommend und mit vielen kleinen mit Geschick angebrachten Anspielungen und Pointen versehen, wie sie Katharina liebte und die ihr schmeichelien, entsprechen die Reiseberichte de Lignes, was Auffassung und Darstellungskunst an- langt, im großen und ganzen den Schilderungen von Ségurs Memoiren.

) Vgl. ihre Korrespondenz mit Melchior Friedr. Grimm in Sbornik imperatorskago istoriteskago ob3testva Bd. XXIII (1878) und die von K. L. Blum: Ein russ. Staatsmann. Des Grafen J. J. Sievers Denkwürdigkeiten zur Geschichte Rußlands, Bd. II (1857), S. 478 f. verwerteten Briefe der Carin an den Oberjägermeister von Pohlmann.

Wie empfindlich Katharina gegen die Anwürfe der ausländischen Zeitungen war, das zeigt ihr Brief an Grimm vom 30. Juni 1787. Sie wundert sich über die falschen Nachrichten im Auslande, obwohl doch Grimm schon längst ihre (der Carin) authentischen Berichte erhalten haben müsse. Sie bittet Grimm, nicht zu glauben, was die Zeitungen über ihre Verschwendung schreiben. Sie teilt ihm mit, wie beispielsweise berichtet worden sei, daß in Kiev täglich 5000 Rubel für die Tafel ausgegeben würden und daß man ein Ei mit eineinhalb Rubel bezahlt hatte: „tout cela est pur et plat men- songe.” Sbornik, a. a. O. Bd. XXII, S. 414. Oder ein anderes Beispiel: In der Göttinger Allgemeinen polit. Staatenzeitung vom 23. Dez. 1789 war ein Artikel mit falschen Details aus der Lebensgeschichte des Generals Suvorov sicherlich ohne böswillige Absicht erschienen. Katharina war über diese „Absurditäten“ derart aufgebracht, daß sie es nicht erst mit leb- haften Beschwerden bei Joh. Georg Zimmermann bewenden ließ, sondern den R Friedr. Gotti. Canzler auch zu einem Widerruf zwang (Allg. pol. Staatenztg. 20. Febr. 1790). Vol. F. Frensdorff: Kath. Il. v. Ruß- land u. ein Gottingscher Zeitungsschreiber. In: Nachrichten v. d. Kgl. Ges. d. Wissenschaften zu Göttingen. Phil.- hist. Klasse Jg. 1905, S. 305 fl.

) Hrsg. v. M. Tourneux, Bd. XV (1881), S. 150 ff.

55

Darüber hinaus zeigen sich polemisch-apologetische Tendenzen,

wenn Ligne z. B. äußert, daß in Frankreich mehr Barbarei herrsche als in Rußland, oder wenn er gar nicht unrichtig prophezeit, daß die öden Steppengegenden, durch die man reiste, binnen kurzem die fruchtbarsten Landstrecken von ganz Rußland sein würden‘). Trob- dem gelang es de Ligne nicht, die öffentliche Meinung des Aus- landes wesentlich zu beeinflussen oder gar umzustimmen. Auch die öffentliche Meinung Deutschlands, die bisher ziemlich geschlossen in kritikloser Begeisterung die Handlungen der Carin begrüßt und ge- feiert hatte, machte in dieser Beziehung keine Ausnahme. Zwar ver- hielt sich die deutsche Berichterstattung der Reise gegenüber zunächst im wesentlichen referierend und enthielt sich kritischer Kommentare. Aber seit 1790 setzt auch in der deutschen Publizistik mit zunehmen- der Schärfe eine kritische und im allgemeinen abfällige Beurteilung dieser Reise, die man als eine Demonsiration empfand, ein.

Was Katharina zu dieser Reise veranlaßt hatte, dürfte einmal der Wunsch gewesen sein, die neuen südrussischen Gebiete, die unter die Verwaltung ihres Günstlings und ehemaligen Liebhabers Potemkin gestellt waren, zu besichtigen. Es entsprach ja der Praxis des aufgeklärten Absolutisten, sich durch Bereisung seiner Länder von dem Zustande derselben zu unterrichten, und wenn Katharina zu diesem Zwecke auch viel weniger gereist ist als etwa Friedrich der Große oder Joseph Il., so hatte sie doch nicht nur in den ersten Jahren ihrer Regierung eine ganze Reihe ihrer Provinzen in Augenschein genommen, sondern auch von den ihr in der ersten Teilung Polens zugefallenen Gebieten sich eine eigene Anschauung zu machen gesucht.

Aber daneben sollte diese Reise auch ihrer Rußlandreklame dienen und die Gerüchte von der Armut und der Unkultur dieses Landes, wie sie namentlich in der der französischen Regierung nahe- stehenden Publizistik am häufigsten auftauchten, Lügen strafen. Des- halb wurden nicht nur die Gesandten Österreichs, Frankreichs und Englands eingeladen, die Carin auf dieser Reise zu begleiten, sondern auch der in den Kreisen der Höfe wie der Literaten gleich bewunderte und gleich wohlgeliftene Fürst de Ligne zur Teilnahme bewogen. Deshalb wurde aber auch jener ungeheure Pomp und Luxus entfaltet, der zu den Einnahmen und Finanzquellen des damaligen Rußlands in keinem Verhältnis stand und in erster Linie die Kritik der Zeit- genossen hervorrief.

Endlich und vor allem aber beabsichtigte Katharina, mit dieser Reise eine außenpolitische Demonstration durchzuführen. Der deutsche Arzt Weikard, von dem noch zu reden sein wird, berichtet in seiner 1799 zu Koblenz erschienenen Schrift „Taurische Reise der Kaiserin Katharina II.“ 1) soviel wir sehen als einziger Zeitgenosse folgendermaßen: „Die Kaiserin mochte wohl vermutet haben, die Türken würden geschwinder zur Kriegserklärung erhitzt werden, und

se) Correspondance littéraire, Bd. XV, S.

105. X = Vgl. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur, Bd. II (1897) r.

56

, ee nn at ei,

u a a ee F a A Er

u IF Sf F ag

E ES wm F =

~ E ˙ », T

ar at ÅA? S

alsdann wäre es eine ihrer größten Begebenheiten gewesen, nach Überraschung der Festung Oczakoff oder gar nach Einnahme von Constantinopel siegreich nach Moskau zurückzukehren.“ Daß es sich in diesem Sage um keine subjektive Mutmaßung Weikards handelt, zeigt ein wenigstens auszugsweise bekannigewordener Geheim-Lkaz der Carin vom 16. Oktober 17862).

Wie schon oben angedeutet, war die kulturpolitische Demon- stration, die mit dieser Reise ins Werk gesetzt werden sollte, ein Schlag ins Wasser. und rief auch in der bis dahin so gutwilligen öffentlichen Meinung Deutschlands nicht das übliche bewundernde Staunen, sondern nur Unlust und Kritik hervor. Die Spekulation der Carin war insofern von vornherein falsch angelegt, als sie, die Ver- schiedenartigkeit der ost- und westeuropaischen Verhältnisse nicht genügend einschagend, ihre westeuropaischen Zeitgenossen durch die Entfaltung eines Luxus zu berücken suchte, der ihnen an sich in seiner ganzen mehr asiatisch-orientalischen Natur zu fremdartig war, als daß er mindestens den Vertretern des aufgeklärten Bürgertums nicht hätte anstößig sein sollen. Dazu stand er in einem schreienden Gegensabe zu der hausvaterlich-merkaniilistischen Sparsamkeits- politik, die sich seit den Beispielen Friedrich Wilhelms l. und Friedrichs des Großen an den deutschen Fürstenhöfen immer mehr durchgesest hatte), und um derentwillen die Anhänger des aufgeklärten Ab- solutismus ihre Herrscher lobpriesen.

Unter den deutschen Publizisten ist soweit uns bekannt Georg Forster der erste gewesen, der in seinen „Erinnerungen aus

ss) Vgl. Russkij archiv Jg. 1865, S. 740 f.: Streng geheim. Auszug aus dem allerhöchsten Befehl an Seine Durchlaucht den Fürsten Grigorij Aleksan- drovi© Potemkin vom 16. Okt. 178. Wir sehen uns schon vor der Not- wendigkeit, unsere Ehre und die Sicherheit unserer Grenzen zu verteidigen: besonders wenn die Pforte nicht beachten sollte, was wir sie. lebtlich wissen heßen, und wenn sie nicht selbst Mittel auffinden sollte, um die Beleidigung zurückzunehmen, die uns durch ihr leķtes Memorial zugefügt worden ist.

Wir werden dann freilich genötigt sein, wirksame Maßregeln gegen sie zu ergreifen, da wir in unserem Gewissen überzeugt sind, daß jeder Un- parteiische unser gutes Recht anerkennt. Mit besonderem Vergnügen empfangen wir den von Ihnen entworfenen Plan, und wir beabsichtigen, ihn folgendermaßen auszuführen.

Weiter. Da wir Ihnen den Oberbefehl über die Armee anvertraut haben, geben wir Ihnen hiermit Vollmacht und Erlaubnis, die Nachforschungen, die am een der Sache und zum Ruhme unserer Waffen dienen können, aus-

ehnen.

Weiter. Unser Gesandter Bulgakov hat bereits von uns den Befehl, die

Duplikate seiner Berichte an Sie zu senden und Ihre Anordnungen, was un- seren Dienst anbelangt, auszuführen. Indem wir ihm dieses von neuem be- stafigten, ließen wir ihn wissen, daß er von uns sobald wie möglich die Be- nachrichtigung über seinen Forigang aus Konstantinopel erhalten werde und der Pforte die Gründe dafür aufweisen und eine sichere Abreise fordern müsse. .. % Eine Erscheinung wie Karl Eugen von Württemberg bildet doch gegen- über Herrschern wid Karl Friedrich von Baden, Karl August von Sachsen- Weimar, Leopold Friedrich Franz von: Anhalt, Friedrich Christian von Schles- wig-Holstein, Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, Pauline zur Lippe u. a. eine Ausnahme. |

57

dem Jahre 1790“ die kritische Sonde an die große Reise Katharinas legte und zu einem Verdammungsurteil gelangte. Mit einem an den Humanitätsgefühlen der Zeit genährten Pathos führt er aus, daß ganze Distrikte des Reiches enivölkert wurden, um den Gegenden, die Katharina durchreiste, „das täuschende Ansehen des geschäf- tigen Lebens, der überall hervorkommenden Saaten, des angehenden Wohlstandes zu geben“. Zu vielen Tausenden so bemerkt er weiter wurden Bauern zusammengetrieben, die in dem dünnbevol- kerten Lande oft aus weiter Ferne herangeholi werden mußten, um „eine Heersiraße von vielen hundert Meilen theatralisch auszu- schmücken“, und „die unglücklichen Opfer . . blieben nach dem großen dramatischen Augenblicke ihrem Schicksal überlassen“. Es kümmerte Potemkin wenig, daß die aus ihrer Heimat Gerissenen „in elenden Hütten zusammengepreßt‘ eine Beute des Hungers und der davon unzertrennlichen Krankheiten wurden. „Andere Tausende, ihr Leben kümmerlich zu fristen, sprengten die Felsen in den Dnepr- fällen, um diesen skythischen Strom für künftige Kaiseryachten schiffbar zu machen.“ Es war ein Unternehmen, ruft Forster aus, wie es nur einem so „finsteren Staate“ wie Rußland, es waren Vor- kehrungen, die nur dem Despotismus möglich sind“].

Es ist für unser Thema nicht von ausschlaggebender Bedeutung, ob Forster mit seinen Anklagen auf authentischen Nachrichten fubt. Russische Historiker wie Bilbasov®) haben ja des öfteren, wenn auch bisher nicht gerade erfolgreich, die Geschichte von den ,,Potemkin- schen Dörfern“ als Legende hinzustellen versucht. Forster weilte zur Zeit der taurischen Reise in Wilna, wo er an der dortigen Hoch- schule wirkte; er war also dem Schauplab dieses Ereignisses näher als die meisten deutschen Zeitgenossen. Überdies stimmen seine Angaben auch beinahe in allen Einzelheiten überein mit der oben erwähnten wenige Jahre später erschienenen Darstellung Weikards. Wir glauben indes nicht, daß es sich dabei um eine Abhängigkeit Weikards von Forster handelt denn Weikard zeigt sich auch sonst uber diese russischen Verhältnisse sehr gut unterrichtet“) sondern daß beide unabhängig voneinander hier Nachrichten wiedergeben, die damals im russischen Publikum umliefen. Aber auch von den Teilnehmern an der Reise selbst hat sich der gekrönte österreichische Bundesgenosse der Carin obwohl zwischen Über- und Unter- schätzung des Geleisteten hin- und herschwankend’) damals in absprechender Weise über die Potemkinsche Tätigkeit geäußert. Josephs Il. Urteile entbehren zwar ganz des menschenfreundlichen

51) Sämtl. Schr. mit Briefwechsel und Charakteristik von G. Gervinus, hrsg. von Forsters Tochter, Bd. VI (1843), S. 213f. Dieser Passus ist auch bei J. R. Forster: Kurze Lebensgeschichte Kath. II. (1797),

71 f.

ss) Bilbasov Weltliteratur, Bd. Il, S. 66. se) Ebd., S. 65 f.

5) Vgl. K. T. Heigel: Deutsche Geschichte vom Tode Friedr. d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reiches, Bd. I (1899), S. 165 f.

58

Sentiments, das den Saken Forsters und Weikards das eigentliche Gepräge gibt, auch gilt seine Beobachtung in erster Linie der Bünd- nisfähigkeit Rußlands und hat daher vornehmlich die militärische Seite der Potemkinschen Verwaltung im Auge. Aber Joseph ver- schloß seine Eindrücke in den Briefen an seinen intimus Lascy*). Die Schilderungen dagegen, die Forster von der taurischen Reise gegeben hatte, drangen hinaus in die weiteste deutsche Offentlich- keit, gingen über in die politische Publizistik und machten in der Gestaltung des Katharinabildes im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrh. Epoche"). Für das Odium, das seit der taurischen Reise in der Auf- fassung der deutschen Zeitgenossen an Katharina haftete, ist es doch gewiß charakteristisch, daß die beiden wohlwollendsten Biographen der Carin, der bekannie Berliner Aufklärer und Mitherausgeber der „Berlinischen Monatsschrift“ Erich Biester und der „Kaiserlich rus- sische Leutnant“ Johann Gottfried Seume von einer Schilderung der Reise Abstand genommen haben.

Damals kam bereits das Schlagwort „Potemkinsche Dörfer“ auf, das für eine raffinierte Vorspiegelung falscher Tatsachen auch heute noch im Gebrauch ist. Ladendorfs „Historisches Schlagwörterbuch‘“®) belegt es erst aus dem Jahre 1822. Aber es erscheint bereits viel früher in der Form „Potemkinsches Ferney“ in Daniel Falks „Taschen- buch des Scherzes und der Satire“ von 180051), und etwas später in Georg Reinbecks Reisebeschreibung von 1805. als ‚„Potemkins Städte“). Im Gegensab zu den pathetischen Ausfällen Forsters und Weikards hat sich Falk des leichteren, aber kaum weniger wirksamen Rüstzeuges der Satire bedient, um mit der gleichen Tendenz des gegen den „die Menschheit herabwürdigenden“ russischen Despotis- mus protestierenden Menschenfreundes die gleichen Anklagen zu erheben gegen den Betrug am Auslande und den gewissenlosen Leichtsinn der carischen Regierung. Er läßt seinen Skaramuz auf seiner Weltreise auch in Rußland Umschau halten und spottend resümieren: „Mit einem Worte, aller dieser Luxus, all diese über- fiinchte Kultur gemahnen mich an die Kolonien zu son, wo man die Sirohhütten auf ein paar Tage versteckt und nachher wieder an ihren Platz stellt*).“

Dieselbe Form der Rundreise hatte einst Voltaire in seiner ,,Prin- cesse de Babylon“ gewählt, um Katharina in graziöser Schmeichelei

Š aa v. Arneth: Joseph Il. und Katharina Il. Ihr Briefwechsel (1869),

s) Auch in den Darstellungen zur Geschichte Katharinas Il. (1797), S. 196 f. finden sich Auszüge aus Georg Forster. In demselben Sinne urteilen die Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland. (Celle 1798), S. 19.

a) (1906), S. 247 f.

91) Satirische Werke, Bd. IX (1826), S. 366.

»3) Fluchtige Bemerkungen auf einer Reise von St. Pbg. über Moskau, Grodno, Warschau, Breslau nach Deutschland im Jahre 1805. In Briefen von G. Reinbeck (1806), S. 37.

es) Fak Werke, a. a. O., Bd. IV (1826), S. 305.

die größten Huldigungen darzubringen. Dort macht der Zaubervogel Phönix, der die schöne Formosante in die Hauptstadt der im Augen- blick auf einer Inspektionsreise im Innern des Reiches abwesenden Kaiserin der Kimmerier begleitet, die Bemerkung: „Il n’y a pas trois cent ans que je vis ici la nature sauvage dans toute son horreur; j'y trouve aujourd’hui les arts, la splendeur, la gloire et la politesse.“ Worauf ihn ein Hofherr der Kaiserin belehrt: „Un seul homme a commencé le grand ouvrage, une femme l’a perfectionné,“ und dieser monumentalen Erklärung eine ins einzelne gehende Aufzählung alles Lob- und Glor würdigen der Regierung Katharinas folgen läßt). Man sieht, der Gedanke liegt mindestens nahe, daß Falk hier Voltaire bewußt nachgeahmt hat. ja, es mag diesen grimmigen Widersacher der Carin gereizt haben, für seine Invektiven sich derselben literarischen Form zu bedienen, die einst der höchsten Verherrlichung Katharinas gedient hatte.

Natürlich mußte sich für die Zeitgenossen, wenn sie die taurische Reise Katharinas besprachen, auch die Frage stellen, ob denn die kluge Carin tatsächlich durch Potemkin hinters Licht geführt worden war. Wenigstens denjenigen unier ihnen, die sich nicht wie die aristokratischen Teilnehmer an dieser Luxusfahrt rein ästhetisch mit den Reiseeindrücken abfanden, sondern die in diesem Ereignisse einen Gegenstand ihrer kritisch moralisierenden Betrachtungen sahen. Denn je nachdem man diese Frage beantwortete, erschien Katharina als Opfer oder aber als Mitwisserin des Betruges. Im lebten Falle = war sie denn auch mitverantwortlich für das namenlose Leid, das infolge der Reise über unzählige ihrer Untertanen hereingebrochen war, und mitschuldig an dem frevelhaften Leichtsinn, mit dem Potem- kins Willkür so viele russische Menschenleben und Existenzen eines Theatercoups halber aufs Spiel gesetzt hatte. Wie man aber auch die Frage beantwortete, absolut günstig konnte die Antwort für die Carin eigentlich in keinem Falle sich gestalten, sie konnte nur mehr oder weniger schuldig oder mehr oder weniger entschuldbar er- scheinen.

Es hat sich nun allerdings doch ein deutscher Zeitgenosse ge- funden, welcher mit einer kuhnen dialektischen Wendung, der man Originalität gewiß nicht absprechen wird, es fertig bringt, Katharina auch aus dieser heiklen Angelegenheit ohne Makel hervorgehen zu lassen. Für den damals anonymen Verfasser der Biographie der Carin, im „Historisch-genealogischen Kalender von 1798“) hat die

¢) Romans de Voltaire (1844), S. 341 f.

) Verfasser dieser Biographie ist der Theaterschriftsteller H. A. O. Reichard (1751—1828), einer der führenden deutschen Antirevolutionaére zu Ende des achizehnten Jahrhunderts. Für seine Beziehungen zum General Suvorov vgl. „Revolutionsalmanach“ Jg. 1795, S. 333: Die Polen und Russen in Warschau. Revolutionsalmanach Jg. 1796: Titelbild Suvorovs. Reichards Selbstbiographie überarbeitet u. hrsg. v. Hermann Uhde (1877), S. 298 ff. Für die Verfasserschaft der Katharinabiographie vgl. Meusel: Das gelehrte Teutschland, Bd. XIV (1810), S. 168, Bd. XV (1811), S. 115 u. Chr. Gottl. Kayser: Vollständiges Bücherlexikon (1750—1832), Bd. III (1835), S. 297.

40

ee

ganze Sache überhaupt nichts Problematisches. Er faßt Potemkins Handeln symbolisch und ruft, den Knoten keck zerhauend, aus: „Wenn Potemkins schöpferisches Genie seine Souverainin auf diese angenehme Art zu täuschen wagte, so erblickt doch der Statistiker hierin Wahrheit, sobald er den großen Gewinn im ganzen berechnet, der Rußland unter ihrer Regierung an Volksmenge, an Wachsihum von Handel, Gewerbe und Industrie zu Theil geworden ist.“ Wie wenig diese Zeiistimme aber Zeitstimmung war, geht schon aus der Miihe hervor, die sich die anderen Apologeten der Carin gaben, um Katharina vor dem Vorwurf der Sorglosigkeit und Leichifertigkeit im Regieren in Schuß zu nehmen.

Sein tieferer Einblick in die russischen Zustände, aber auch sein persönliches Ressentiment bestimmten wie stets so auch hier das Urteil Weikards, das als arivertreiend für die gegnerischen Stimmen angeführt sei. Es ist an sich kaum unrichtig, wird aber Katharina insofern doch nicht völlig gerecht, als es die Schwierigkeiten nicht genügend berücksichtigt, die sich den kulturfördernden, europäisie- renden Bestrebungen der Carin überall enigegensiemmien: „Man wußte wohl, daß ihr Ohr nie geneigt war, Klagen zu hören. Wenn, wie vielmal geschah, ein Senateur oder anderer vornehmer Beamter irgendwo in eine Provinz geschickt ward, um die Verwaltung und den Zustand des Volkes zu untersuchen: So weiß man schon, wie man sich zu benehmen hat. Man stellt Balle und Feste an, bringt Geschenke; und der hohe Commissar reiset nach Hause, hinterbringt der Kaiserin, daß alles im besten Zustande wäre: Hiermit war sie zufrieden und verabscheuete jede andere Relation’). Demgegen- über hoben die Verteidiger Katharinas hervor, daß bei der raf- finierten Art, mit der man ihren Blick zu „beschränken“ wußte, sie schließlich nur das hätte sehen können, was man sie sehen lassen wollte. Solche Argumente finden sich z. B. bei Seume und dem ehe- maligen Lehrer am Petersburger Pageninstitute Georg Reinbeck*), zwei Männern, die wie Weikard Rußland aus eigener Anschauung kannien, denen sich aber bei ihrem Wohlwollen für Katharina die schwierige Lage der Carin viel stärker aufdrängte als dem ob seines Mißerfolges am Carenhofe verbitterten und daher um jeden Preis krittelnden Arzte. Das stärkste Argument aber, mit dem diese Apologeten operierien, war der Hinweis auf das Geschlecht Katha-

es) Hist. geneal. Kal., a. a. O. S. 106 f.

67) Taurische Reise, a. a. O. S. 174.

) Reinbeck, a. a. O. S. 37 und Seume: Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. (1799) in Werke, a. a. O. S. 412: „Katharina war nur ein Weib, die bei allen großen Eigen- schaften ihres Charakters doch in vielen Fällen immer nur sehen konnte, wie man sie sehen lassen wollte. Auf ihrer Reise nach Cherson hatte man plöb- lich am Wege ungewöhnliche Wohlhabenheit geschaffen; es war auf Potem- kins Wort eine neue Schöpfung entstanden, und selbst sonst öde Gegenden wimmelten von glücklich scheinenden Menschen. Hätte sie nur fünfzig Werste links oder rechts abwärts von der Heerstraße gemacht, mit welcher Empfindung würde sie die wahre Gestalt des Landes gesehen haben, die man ihr verbergen wollte.“

41

rinas: „Ist es denn aber auch dem großen Weibe zuzumuten, daß es durchaus den Charakter ihres Geschlechtes verleugnen soll?... Die Tiefe zu erforschen ist nicht des Weibes Talent. Was die Oberfläche ihm darbietet aufzufassen, zu benutzen, zu verschönen, das ver- mag ese.“

Aber Reinbeck begnügte sich nicht wie sein 555 Seume mit diesem pathetischen Appell an seine frauenfreundliche Zeit, sondern bekundete auch schon eine gewisse Einsicht in die Tragik, welche seit der Europäisierung durch Peter den Großen sich noch an jeden Kulturbringer in Rußland geheftet hat. Es ist die Tragik jener abgeleiteten Kulturen überhaupt, die einer fremden forigeschrittenen und für sie vorbildlichen Kultur gegenüber wähnen, daß durch Herübernahme einzelner der modernsten und am meisten in die Augen springenden Errungenschaften derselben ein lang- wieriger kultureller Entwicklungsprozeß übersprungen und so die Differenz zwischen ihrer eigenen noch unentwickelten und der ent- wickelteren vorbildlichen Kultur in Kürze ausgeglichen werden könne. Tatsächlich aber wird durch die übereilte Herübernahme dieser fremden Kulturelemente ein durchgängig höheres Kulturniveau nicht erzielt, sondern diese bleiben innerhalb der noch unentwickelten kul- turellen Verhältnisse fremdkörperhaft stationär und treten zu ihnen in einen lebhaften Gegensak, der auf die Dauer Unlusigefiihle er- weckt. Dazu kommen für Rußland als erschwerende Momente die Energie- und Willensschwäche des Volkscharakters.

Diese Kontraste wurden von den damaligen Rußlandreisenden bemerkt, und es ist viel von ihnen in ihren Reisebeschreibungen die Rede’). Aber doch nur wenige haben sie zu begründen gesucht wie Bellermann, der an seine Beobachtungen folgende psychologische Bemerkung knüpft: „Dieses macht einen eigentümlichen Zug im Charakter des vornehmen Russen aus. Er sirebt nach großen Dingen. Hört er von etwas Vorzüglichem, so muß er es haben. Hat er es, so bekommt er es leicht überdrüssig. Macht ihm jemand einen Plan, sogleich ergreift er ihn mit beiden Händen. Früh geht er mit Aufbietung aller Kräfte an die Ausführung des neuen Projektes, und denselben Abend muß es fertig sein. Da das die langsam, aber mit gleicher Kraft wirkende Natur nicht zuläßt, so werden für alle Sachen Treibhäuser und Mistbeete angelegt. Was ist der Erfolg? Eine schnell hinwelkende Blume oder geschmacklose Südfrucht, die im Norden durch künstliche Hike erzeugt ist. So wollen veränderliche Kinder alles, was sie sehen, um es den Augenblick nachher mit Füßen treten zu können. Der Grund dieses ganz eigenen Charakter- zuges scheint mir in der Geschichte der Bildung dieser Leute zu liegen; wird diese übereilt, so bleiben es auch deren Neigungen und Wüunsche?:).“

69) Reinbeck, a. a. O. S. 38. 70) F. Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas Il. (1912), S. 1 f. 71) Bellermann, a. a. O. S. 239 f.

42

gE æm ee le g ë =E za EE ë PE aR I

K DB T E a ee 2: ea

aw

fg p

“œ AJ £3 EEE IF EI jg IF 2S 13 E

gw

ee f wes „, O

Diese Bemerkungen hatte ganz offensichtlich Reinbeck vor Augen, als er seine Apologie der Carin durch Zusammenfassung aller mildernden Umstände zu der Würdigung Katharinas ausgestal- tete, die, was die psychologische Begründung des Urteils anlangt, innerhalb der übrigen deutschen Mitwelt ihresgleichen sucht: „Katha- rina verleugnete den Geist der Weisheit, der den Samen tief legt, welcher einst zu einem schattigen fruchtreichen Baume emporsprießen soll, der den Urenkel erquicken wird. Sie warf ihn hin, kaum mit Erde bedeckt, und freute sich nun des fremden Aufsproßens; denn sie selbst wollte Schatten und Frucht genießen; sie setzte den Geist der Nation ins Treibhaus: Uppig schoß er in die Blätter und Blüthen und manche der Blüthen wurde zur Frucht; aber die Frucht war saftlos und wässerig und an die Hilfe des Treibhauses gewöhnt, möchte das Verpflanzen nun schwerlich gelingen Und kann Katharina dafür, da sie eine scheinbar so schnelle Entwicklung bemerkte und um sie her gerade die Blüthen dufteten, daß sie sich vom Scheine blenden ließ und dem Geiste der Nation, welche sie beherrschte, mehr innere Kraft und innere Reife zuiraute, als die Folge vielleicht aufwies? Und bei der Geschmeidigkeit des russischen Geistes, bei dem un- vergleichlichen Talente, sich jede Form anzueignen, bei der Empfäng- lichkeit für jede äußere Politur; war es einer jungen edien weiblichen Seele zu verargen, wenn sie von dem großen Gedanken, Bildnerin einer Nation zu sein, und ihr einen ehrenvollen Platz in der Reihe der gebildeten Nationen zu verschaffen, entflammt, den Schein des Erfolges für Wirklichkeit nahm und sich der schon röthenden Frucht freute ?73).“

Wie sich anläßlich der taurischen Reise der Carin die bis dahin einheitlich zugunsten Katharinas auftretende Meinung ihrer deutschen Zeitgenossen spaliete und von nun an Widersacher und Verteidiger um den Einfluß auf die öffentliche Meinung ringen, so fand auch die Einzelfrage nach ihrer Mitwisserschaft und Mitschuld an Potemkins Betrug keine einmütige Antwort. Sie ist auch bis auf den heutigen Tag noch nicht gegeben worden. Denn auch ein so guter Kenner der russischen Geschichte wie le ai Schiemann läßt in seiner Charak- teristik der Carin die Frage offen. Da es aber interessant ist, an seinen Ausführungen den Grad zu bestimmen, in dem die Auf- fassungen ihrer Zeit unserer Auffassung von Katharina nahe kommen, seien zum Schlusse dieses Abschnittes Schiemanns diesbezügliche Sake im Wortlaute wiedergegeben: „Fast könnte man glauben, daß auch Katharına selbst nur die glänzende Außenseite Rußlands sah, denn unvergleichlich war die Kunst, mit der sie das linangenehme von sich fernzuhalten verstand, und alles in ihrer Umgebung war bemüht, ihr dabei behilflich zu sein. Die Potemkinschen Kulissen, die der Kaiserin auf ihrer Reise in die Krim ein Bild der Glückselig- keit mitten in einem verwusteten und darbenden Lande vorspiegelten, waren nicht Ausnahme, sondern Regel und zeigten nur an einem be- sonders drastischen anekdotischen Beispiel das Verhältnis von

n) Reinbeck, a. a. O. S. 38 f.

Schein und Wirklichkeit an diesem halb orientalischen, halb euro- paischen Hofe7*).“

3.

Der Umschwung, der sich seit dem Jahre 1787 in weiten Kreisen ihrer deutschen Zeitgenossen zaungunsten der bis dahin so ver- götterten Carin vollzog, wäre nicht zu verstehen, wenn man sich nicht vergegenwärtigen würde, daß die politische Konstellation Europas beim Ausbruche des ersten russischen Turkenkrieges eine völlig andere war als wie zur Zeit, da Katharina ihren zweiten Tür- kenkrieg mit der pomphafien Ouvertüre der taurischen Reise begann. Der Bedeutung des Jahres 1787 als eines besonderen Schicksals- jahres in der politischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrh. ist bereits mit den Worten Ernst Herrmanns gedacht worden. Es führte im Verlaufe der Ereignisse dazu, daß die beiden größten Mächte Norddeutschlands, Preußen und das mit England durch Personal- union verbundene Hannover, hart an die Schwelle eines Krieges gegen das mit Österreich verbundete Rußland gebracht wurden, und daß Preußen durch den Abschluß von Bündnissen (Januar und Marz 1790) mit den bisher von der deutschen öffentlichen Meinung so ver- unglimpften Gegnern der Carin, mit den Türken und Polen in enge Beziehung trat. Preußen hatte mit diesen Schritten einen Front- wechsel vollzogen. Denn noch 1777 war das preußisch-russische Bündnis, unter dessen Agide sich die preußische Politik bis in die acht- ziger Jahre vorzugsweise abgespielt hatte, auf sieben Jahre verlängert worden”). Dies alles aber mußte natürlich auf die öffentliche Mei- nung zunächst in Norddeutschland einen Rückschlag ausüben. Aber auch im übrigen Deutschland konnten die veränderten politischen Verhältnisse naturgemäß nicht ohne Einwirkung auf die Beurteilung der Carin durch ihre Zeitgenossen bleiben. Man darf hier wohl nicht mit Unrecht wenn sich die Zeitgenossen auch darüber eigent- lich nicht geäußert haben vor allem des Umstandes gedenken, wie sehr Joseph Il. schon seit seiner Mitregentschaft, dann aber vor allem seit seiner Alleinherrschaft in Österreich (1780) die öffentliche Mei- nung durch seine „imperialistischen Tendenzen“ (Heigel) in bestän- diger Aufregung erhalten hatte und wie wenig er deswegen trob seiner volksbegluckenden Gesinnung und Haltung gerade in der öffentlichen Meinung der schwächeren süd- und miteldeutschen Staaten beliebt war. Die Schadenfreude, mit der hier das Scheitern seiner auf die Erwerbung Bayerns abzielenden Tauschpolitik begrüßt wurde, als Friedrich der Große den Josephinischen Annexionsgelusten durch die Begründung des Furstenbundes (1785) Einhalt gebot, oder die kühle Stimmung, die die Würdigungen des Kaisers bei seinem Tode (1790) gerade in diesen Kreisen beherrschte, zeigen das aufs

73) Gesch. Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. I. (1904), S. 6.

74) F. Martens: Recueil des traités et conventions conclus par la Russie. avec les pays étrangéres, Bd. VI Nr. 227.

44

deutlichste™). Es war aber gerade die österreichisch-russische Entente, aus der Josephs Hoffnung auf die Verwirklichung seiner Projekte immer wieder neue Anregung und Nahrung zog, und es war Katharinas Gesandter Rumjancev, der am Zweibrückener Hofe im Interesse des Kaisers gewirkt hatte. Wenn auch diese Unter- stützung eine mehr moralische als eigentlich tatkraftige war, so mußte doch das russische Eintreten für den ewig ruhelosen Störenfried die öffentliche Meinung gegen die Carin einnehmen, um so mehr als die Garantie der deutschen Reichsverfassung, die der Teschener Friede (1779) dem Carenreiche eingeräumt hatte wie wir noch sehen werden je länger je mehr von den Deutschen als „ein Einbruch Rußlands in die Gehege des deutschen öffentlichen Rechtes‘ (Koser) bedrückend empfunden wurde.

Indessen durch den Umschwung der politischen Konstellation allein wird dieser Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung zu ungunsten Katharinas noch nicht völlig erklärt. Erst dadurch, daß diesem politischen Umschwunge gewissermaßen ein Konstellations- umschwung in den Ideen parallel ging und infolgedessen die Wirkung der einen die der anderen verstärkte, wird es voll verständlich, daß fortan das Bild Katharinas für einen bedeutenden Teil ihrer Zeit- genossen ein in vieler Beziehung neues und nicht weniger als schmeichelhaftes Gesicht erhält. Auf das Emporkommen einer neuen Generation, die mit ihren Anschauungen und Ideen das geistige Leben der lezten Jahrzehnte des Jahrhunderts immer stärker durch- dringt, ist bereits ebenfalls hingewiesen worden. War die ältere Generation des Aufklarungszeitalters groß geworden unter dem alles beherrschenden Einflusse Voltaires, so wuchs die jüngere im Schatten der Ideenwelt Rousseaus auf, der als geistiger Führer Voltaire ab- löste, aber die eigentliche Weite des Umfanges seiner Wirkung nicht wie Voltaire noch bei Lebzeiten erlebte. Denn beide sind 1778 ge- storben, und erst nach Voltaires Tode ward die Bahn für den Rousseaueinfluß völlig frei. Der Einfluß Rousseaus wird um nur die Eigenschaften zu nennen, die uns im Zusammenhange dieser Be- trachtung besonders angehen gekennzeichnet durch ein stärkeres Hervortreten demokratischer, philanthropischer, pazifisiischer Stro- mungen. Nicht als ob die ältere Generation der Aufklärung aus- gesprochen militaristisch gewesen wäre. Aber sie war in dieser Beziehung den von ihr bewunderten Vertretern des aufgeklarten Absolutismus gegenüber eher zu Zugeständnissen bereit als die radikal-demokratische Gefolgschaft Rousseaus, die sich auch von keinem aufgeklärten Herrscher mehr Achtung gebieten ließ. Die Konflikte, in welche der Pazifismus der älteren Generation der Auf- klarung dabei bisweilen geriet, hat Friedrich der Große, zwar die Motive zu Unrecht verrufend, aber die Sache selbst treffend, drastisch gekennzeichnet, wenn er scherzte, die Carin habe von Diderot nur für schweres Geld einen Dispens zur Führung ihres ersten Türken-

75) Vgl. K. T. Heigel: Deutsche Geschichte vom Tode Friedr. d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reiches, Bd. I (1899), S.55 u. 238.

45

krieges erhalten. Vor allem ist die menschenfreundliche Gesinnung und Haltung der älteren Generation im allgemeinen noch frei von dem Überschwang der Gefühle, die sich als eine der stärksten Aus- wirkungen von Rousseaus Erscheinung und Schriften in der großen Empfindsamkeitswelle über Europa ausgoß. Rousseaus Romane haben auf das damalige Deutschland wohl doch noch größeren Einfluß gehabt als seine rein politischen Traktate, die sicher langsamer, zum Teil erst mit und infolge der französischen Revolution, die deutsche öffentliche Meinung radikalisierten.

Es ist bekannt, wie sehr sich die aufgeklärten Herrscher durch das Auftreten Rousseaus beunruhigt fühlten. Der älteste von ihnen, Friedrich der Große, ermaß zwar noch nicht die Weite und Stärke der Rousseauschen Wirkung. Er behandelte ihn daher mit guimütigem Spott als eine Art von verrückten Sonderling und gewährte sogar dem aus der Schweiz Vertriebenen in dem damals preußischen Neuf- chätel ein Asyl. Aber er war doch der Meinung, daß man ihn am Schreiben verhindern müsse, weil er „heikle Gegenstände‘ behandle und andere zur Torheit und Tollheit anstecke’”). Bei Katharina, die die „Fleischwerdung seiner politischen Theorie‘ in der französischen Revolution noch miterlebte, nimmt die Abwehr bereits viel schärfere Formen an. „Diese Fürstin“ so sagt ihr französischer Biograph Castera „hatte ebenso viel Hochachtung für Montesquieu als Haß gegen Rousseau, dessen politische Grundsätze sie fürchtete. Daher ließ sie niemals eine Gelegenheit vorübergehen, um Rousseaus Schriften an ihren schwachen Seiten anzugreifen. Sie schien die Revolution zu ahnen, zu der diese Schriften so sehr beigetragen haben‘”®).

Nun darf man sich die Wirkungen des Rousseaueinflusses aller- dings nicht so weitgehend denken, daß jetzt mit einem Male die ge- samte Öffentliche Meinung des damaligen Deutschlands von den radikalen Theorien des „citoyen de Genêve“ ergriffen worden ware. Diese setzten sich vielmehr erst nach und nach und im wesentlichen nur bei der jüngeren Generation durch, während die ältere sich ihrer Einwirkungen hartnäckig verschloß. Infolgedessen kommt es nicht eiwa zu einer einmütigen Kritik oder Verurteilung Katharinas und ihrer Taten. Aber die Einheitsfront der Bewunderer, die bisher mit aufklärerischem Optimismus alle Schritte der Carin nicht nur wohlwollend, sondern mit mehr oder weniger einmütigem Jubel auf- genommen hatten, ist zerstört, und die Lobredner der Carin sind in die Defensive gedrängt. Die Panegyriker werden zu Apologeten. Dementsprechend verliert das Katharınabild der deutschen Zeit- genossen die Geschlossenheit eines mehr oder weniger schema- tischen Idealtypes, als welches es bis dahin erschienen war. Nicht eigentlich zu seinem Schaden, denn es kommen dadurch manche neue Züge hinein, die allerdings teilweise karikaturenhaft verzerrt sind.

76) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 450. 77) Ebd., S. 449. 78) Historie de Cathérine Il., Paris en VIII, S. 140.

46

Ja, fast könnte man meinen gegenüber der bisherigen Verhim- melung der Carin —, daß man erst von nun an, wo die Meinungen der Widersacher und Gegner Katharinas hart aufeinandersioßen, wo erst alle Momente des Für und Wider hervorgesucht und voll aus- genubt werden, überhaupt von einer Beurteilung der Kaiserin durch ihre deutschen Zeitgenossen reden dürfte. Der zeitliche Ausgangs- punkt für den entbrennenden Streit über Katharina in der deuischen öffentlichen Meinung war die taurische Reise, die uns darum auch zunächst dazu gedient hat, den Stimmungsumschlag der deutschen Zeitgenossen darzulegen. Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob dieses Ereignis schon von Anfang an auch in Deutschland wie z. B. in Frankreich sofort eine abfällige Kritik auslöste, oder ob erst die abgünstige Beurteilung des zweiten Türkenkrieges auch auf die Be- urteilung dieser demonstrativen Reise in ungiinstigem Sinne zurück- wirkte. Denn die von uns angeführten Zitate stammen alle ersi aus den neunziger Jahren, während die gleichzeitigen deutschen Zeit- stimmen sich der Reise gegenüber wie gesagt im wesentlichen referierend verhielten.

Mit voller Deutlichkeit meldete sich aber die zeitgenössische Kritik sofort beim Ausbruche des zweiten Türkenkrieges zum Wort. Allerdings ist es bemerkenswert, daß das Interesse nicht mehr das gleiche ist wie für den ersten Türkenkrieg. Nicht nur in Nord- deutschland, wo die gegen die beiden Kaiserhöfe gerichtete preu- Bische Politik Friedrich Wilhelms Il. dampfend wirkte”), sondern auch ganz allgemein in Deutschland wurde die neue orientalische Krisis mit Kühle beurteilt. Mehrere der diesmal wieder zahlreich aus dem Boden schießenden Türkenkriegsgeschichten®) mußten schon 1788 ihr Erscheinen einstellen. Die französische Revolution warf ihre Schatten voraus und lenkte mit ihren Vorläufern, der Zuspijung der Verhältnisse in Frankreich oder mit dem belgischen Aufruhr, das Interesse zu einem sehr erheblichen Teile nach Westen ab. In der der Carin freundlichen Literatur vernehmen wir bei Ausbruch des zweiten Türkenkrieges zunächst wieder ganz dieselben Töne, die der erste der deutschen öffentlichen Meinung entlockt hatte: „Eine bar- barische Regierung, welche durch Jahrhunderte die Geißel Europas war, unterdrücken“, so schrieb man „heißt die Rechte der Menschheit rächen“. Die Türken blieben nach wie vor der „Erb- feind“. Daher lobte man den Eifer der großen Carin. Ihre Sache hatte „ein so ehrwürdiges Gepräge, daß jeder Unbefangene ihre Partei nehmen muß‘). Katharina wurde erneut aufgerufen, Kon- stantinopel zu nehmen, und im Geiste sah man bereits Konstantin Pavlovič, den Enkel der Carin, als „Asiens Kaiser“ in Byzanz ihronen®). Oleim riet dem Sultan, der Carin lieber freiwillig die

7°) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 175.

) Bilbasov, Weltliteratur, a. a. O. Bd. Il, Nr. 508, 509, 510, 512, 513. ) (Johann Rautenstrauch) Ausf. Tagebuch, a. a. O. Bd. I, S. 17 u. 46. ss) J. M. Hofmann, a. a. O. S. 36 l.

47

Dardanellen auszuliefern, als halsstarrig unnötiges Blutvergießen zu veranlassen. Abdul Hamid erschien gleich seinen Vorgängern als blutrünstiger Tiger, als ein Mensch, dessen Auge nur an Mordtaten Wohlgefallen findet®*).

Auch Wekhrlin kannte kein Erbarmen mit den Feinden der Zivilisation und trat daher energisch für die Sache der beiden Ver- bündeten ein. Er läßt in den „Hyperboräischen Briefen“ zwei Ra- gusaner (Preußen) für die Türken beten: „Mag man immer“, sagt der eine, „in der Hofkapelle zu Warschau für die Russen, in Regensburg für die Österreicher beten, dem ragusanischen Interesse entspricht nur die Niederlage Josephs und der Sieg des Türken“. Doch der zweite ist anderer Meinung: „So, Freund, müssen wir als Ragusaner denken, als Weltbürger aber und als Menschen sind wir verpflichtet, den deutschen Waffen Glück zu wünschen. Es ist Zeit, daß der Barbarisme ein Ende nimmt. Der Menschlichkeit, der Kultur, den Sitten, die in so schöner Blüte stehen, ist daran gelegen, die Türkei in die Hände gesitteter Volker zu bringen, ein Interesse, das größer ist als Gleichgewicht und Verträgel““)

Als neues Motiv der Zeitstimmung gesellt sich zu den Auferun- gen dieser Art noch ein sozusagen philhellenistisches, das in den deutschen Zeitdokumenten während des ersten Türkenkrieges fehlte, dem aber nun ebenso die Erinnerung an Orlovs Archipel-Expedition wie Katharinas griechisches Projekt stärker zum Worte verhalfen. Es ist kein Zufall, daß sich auch hier wieder Gleim zum Sprachrohr solcher Gefühle machte, kommt doch seinem Halberstädter Kreise in der Geschichte der frühphilhellenistischen Bewegung in Deutschland eine besondere Bedeutung zu®). Freilich erweist sich der gute Vater Gleim in seinem affektierten „Hellenismus“ wie in so vielen Geistes- produkten seiner späteren Zeit bereits als reichlich senil:

„Die große Kaiserinn will das Zerstörte bau’n:

Ein neuer Phidias, ein neuer Glykon soll

Die Pallas, den Saturn, die Venus, den Apoll

Und den, der mit den Augenbraun

Erschüttert den Olymp, aus Marmor wieder hau'n! Die große Kaiserinn will Sparta, will Athen Gebaut im dritten Jahr nach ihren Siegen sehn!“

Während die ältere Aufklärung aus traditioneller Verehrung für den aufgeklärten Absolutismus auch je§t noch treu zur Carin halt, treten die demokratisch-philanthropischen Jünger Rousseaus als An- klager in die Schranken. Wie ihr Meister selber feindeten auch sie

ss) Gleim in dem Gedicht „An Sultan Abdul Hamid“ (1787) in samil.

Werke, hrsg. v. W.Körte, Bd. VI (1811), S. 260.

84) pervari die Briefe Jg. 1788, Bd. IV, S. 138. Vgl. dazu Heigel, a. a.. O. Bd. I, S. 1

85) Vgl. R. F. oon Der deutsche Philhellenismus. In Euphorion Erg. Heft Il (1896), S. 90.

se) Werke, a. a. O. Bd. VI, S. 260.

48

a r r au a u —— . Ft r er r dam waa | CO Y ina a 7 ‘Ros ie ee. 3

die Carin an und begannen sie ihres Willkürregimentes wegen zu hassen. Aber auch die Stimmung dieser jüngeren Richtung ist nicht einheitlich. Je nachdem sie mehr die Staatsraison im Auge hat und über das Wohl des Individuums stellt, ist ihre Kritik der Carin milder, Neben diese gemäßigt Urteilenden aber treten schon wesent- lich radikalere hervor und zeigen sich dem Verlauf der Revolution in Frankreich entsprechend in zunehmender Radikalisierung be- griffen. Als reine Ideologen des Philanthropismus verkennen sie das geschichtlich Gewordene und Bedingte. Sie betrachten nur das menschliche Elend, ohne sich auf Erörterungen über den Vorteil und Nachteil des Staatsganzen einzulassen, und deshalb wird von ihnen der zweite Türkenkrieg verurteilt als eine mutwillige Aufopferung und Belastung der Untertanen. Katharina sinkt von dem Piedestal der Kreuzzugsheroine herab; sie wird zur rücksichtslosen, menschen- feindlichen Eroberin. Damit ergab sich von selbst, daß man nicht nur mit dem russischen Volke, sondern auch mit den Türken, obwohl diese den Krieg erklärt hatten, miffühlte. Die Parteinahme fur die Türken, die in Frankreich in der Regel nur Sache der Politik gewesen war, wird in Deutschland nun eine Herzensangelegenheit der bürger- lichen, oft philiströs-bürgerlichen Moral. Das deutsche Publikum nimmt für die Türken, dann auch für die Polen Partei wie Seume es ausdrückt „aus einer allgemeinen sehr edlen Sympathie mit den Schwachen und Unglüclichen“ ].

Zu dieser Partei zählt die kleine, 1788 zu Wien erschienene Schrift „Ein Wort im Vertrauen über den Türkenkrieg“, eine der frühesten Anklagen gegen die Carin. „Katharina und Josef, die man beide unter die Zahl der guten Regenten zählt“ so sekt der un- bekannte Verfasser gleich auf den ersten Seiten heftig polemisierend ein —, „können und werden in einer kurzen Zeit das Gute, was sie ihren Ländern getan, aus Leidenschaft mit zehnfachem Bösen ver- gällen! Eine traurige Weissagung, die dem vielleicht nicht so ein- leuchtend sein mag, der nicht selbst die Lanze gegen die Barbaren führen, nicht selbst die drückenden Abgaben entrichten muß.“ Auf die Frage, warum eigentlich dieser Turkenkrieg geführt wird, wird geantwortet: „Damit jene unbeschränkte Monarchen ihre Phantasie ausführen.“ Der Vorteil, den der Feldzug möglicherweise einbringt, ist der, „daß wir um eine Strecke Landes mehr an unser Haus bringen“. Der Nachteil aber ist ein entsetzlicher: „Vielleicht eine Million Men- schen, hundert Millionen Geldes, die Länder werden ausgesogen, die besten Männer . . müssen in der Blüthe ihrer Jahre verbleichen.“ Mit den Türken sympathisierend, von denen er findet, daß sie doch eigentlich „friedliche Nachbarn“ sind, sieht der Verfasser in Rußland und seiner Carin die Anstifterin des Krieges: „Man sage mir nicht, daß Rußland von den Muselmännern zuerst beleidigt ward, der ganze Krieg bloß Verteidigung wäre: Seht nur ein bißchen weiter zurück, das Gewebe ist fein gesponnen; aber Ihr seht es endlich doch.“

°) Seume Werke, a. a. O. S. 453.

aur s 49

Katharina, von „eitler Ruhmsucht“ getrieben, skrupellos in der Wahl ihrer Mittel, laßt in schrankenloser Willkür Menschen „wie guimütige Lammer“ schlachten. Der Verfasser meint, daß die Carin nur aus der Ferne gewinne, in der Nähe aber verliere, und in Anspielung auf das Katharinabild der älteren Aufklärer sagt er: „So ein be- schriebenes Bild kam auch von der Kaiserin der Reußen zu uns herüber. Mutter! rufen die Heuchler ihr zu. Doch keine Stiefmutter gegen ihre eigenen Kinder? Voltaires Schülerin! Und Krieg auf Krieg! Verwicklung der Mächte mit Mächten! O Manner, hütet Euch vor herrschsüchtigen Frauen.“ Die Gehässigkeit dieser Broschüre gegen Katharina wird noch über diese Vorwürfe hinaus besonders deutlich an der Stelle über die Hinrichtung des Rebellen Pugaéev, wo der Verfasser in vollkommen phantastischer Erfindung der Carin persönliche Neigungen zu sadistischer Grausamkeit andichtet: „Als sich einst dem russischen Reich ein falscher Kaiser zeigte, ließ ihm die Kaiserin von Metall Kron und Zepter machen, die Krone heiß glühend auf das kahle Haupt seen und das Zepter heiß glühend in die schwache Hand geben®®).“ Solche Züge von sadistischer Grau- samkeit im Katharinabilde dieses Zeitgenossen entsprechen nicht der Wirklichkeit. Vielmehr ist Katharina von solchen Neigungen völlig frei; aber die Verdächtigungen dieser Broschüre bilden auch in den Schriften der Widersacher ein Unikum, und die milde Bestrafung Pugatevs wird von ihren deutschen Zeitgenossen mehrfach hervor- gehoben®®).

Die verschiedenen Richtungen hatten natürlich nach Art ihrer Einstellung zur Carin auch ihre besondere Beurteilung der Kriegs- ereignisse. Wie 1768 war Rußland jet wieder ganz ungenügend vorbereitet in den Krieg gegangen. Aber diesmal beurteilte man die russischen Kriegsrustungen weit weniger günstig, und die ungünsti- gen Beurteilungen kamen nicht nur aus dem gegnerischen Lager, sondern auch aus dem der österreichischen Verbündeten. Als die Russen den Feldzug mit wenig Glück eröffneten, klagte Joseph seinem Bruder Leopold, daß er von Rußland nur Worte höre, aber keine Taten sehe, daß es troß seiner Großsprecherei so gut wie nichts getan habe und, wie er fürchte, auch im Winter und Frühjahr nichts tun werde*®). Im gleichen Sinne rügte auch die für den Wiener Hof wirkende ,,Unparteiische Geschichte des gegenwärtigen Krieges“ das Verhalten der russischen Truppen und gab schonungslos die zum Teil unglaublichen Zustände, in denen sich die Ausrüstung der rus- sischen Soldaten befand, der Öffentlichkeit preis’). Aber die Oster- reicher hatten wenig Ursache, auf den russischen Verbündeten herab-

88) S.4f., 13 f., 29 f.

89) Vgl. Deutsche Chronik Jg. 1774, S. 567. Zeichnungen, a. a. O. S. 185. ae 1 Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. Ill

90) Joseph Il. und Leopold von Toskana. Ihr Briefwechsel von 1781—1790. Hrsg. v. A. v. Arneth, Bd. II (1872), S. 146.

1) Bd. II (1789), S. 69.

50

er AFJ pT . Aa a a a / a a o a aF

zusehen. Denn auch ihre Heere richteten nichts aus und mußten vor den Türken zurückweichen. So hatten die kaiserlichen Organe bald genug zu tun, die eigene Sache vor den eigenen Landsleuten zu rechtfertigen und alle Angriffe auf die kaiserliche Kriegsführung als „böswillige Angriffe der Antilascyaner“ zurückzuweisen®). Da sie jedoch nichts positiv Tröstliches zu melden hatten, begnügten sie sich damit, auf die Zweifler und Kleinmütigen zu schelien: „Die Russen und Österreicher, sprechen einige politische Kannegießer und ihre Nachbeter, werden gegen die Türken nichts ausrichten. Und warum? | Weil wir es wünschen und weil wir wirklich noch sehr kleine Erobe- rungen gemacht haben**).“

Man hatte Grund zu pessimistischen Betrachtungen. Denn schon im September 1787 wurde fast die ganze russische Flotte, auf die Katharina und Potemkin so große Hoffnungen gesekt hatten, vor Varna durch einen Sturm vernichtet. Potemkin verlor den Mut und wollte die Krym räumen. Dazu kam aus dem ungarischen Insurrek- tionsgebiet im Rücken der unglücklich operierenden kaiserlichen Armee eine Unglücksbotschaft nach der anderen. In diesen kritischen Tagen fand die Sache der Verbündeten in dem leicht enfzündbaren Schubart einen warmherzigen Anwalt. Schubart wollte die Sache des Kaisers als Sache aller Deutschen aufgefaßt wissen und rief die Deutschen mit dröhnendem Pathos, allerdings völlig erfolglos, zur Unterstützung Josephs und Katharinas auf: „Der ist kein Deutscher, dem nicht das Herz über die mißliche Lage seines Kaisers blutet!“ „Welch ein Schauspiell Eine Nation ohne Taktik, ohne Akademien, ohne Aufklärung packt einen christlichen Kaiser und eine genialische Kaiserin bei der Kehle und würgt sie zum Ersticken!“ „Jeder Deutsche müsse erröten, wenn er höre, was sein Kaiser im Kampf mit den Ungläubigen zu tragen und zu leiden habe! Freilich gäbe es im Reiche genug feile Politiker, denen Religion und deutsche Freiheit gleichgültig geworden seien, die also mit Vergnügen den Türken wieder vor Wien erblicken würden, ohne zu bedenken, daß dieser blutige Komet Zerstörung und Barbarei an seinem Schweife trage. Unfaßbar müsse es jedem Patrioten erscheinen, daß Preußen, das edle Preußen, Gewehr bei Fuß die Not des Kaisers mit ansehe, immer nur mit fremden Mächten liebäugele und seine deutschen Pflichten mifachte).“ Wir glauben dieser Herzensergießung Schu- barts gegenüber nicht, daß sie eigentlich kennzeichnend ist für die Stimmung der damaligen öffentlichen Meinung Deutschlands. Auch Heigel, der den diesbezüglichen Passus aus der „Vaterländischen Chronik“ ausführlich wiedergibt, lehnt es ab, daraus Schlüsse für die

#2) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174.

ss) Unpartheiische Nachricht von dem Ursprung, von den Eroberungen, dem Reich, der Regierung u. d. Kriegsverfassung der Türken sowie auch von den Ansprüchen der Kaiserin Katharina Il. (1788), S. 52.

*) Vaterländische Chronik 0 1788, S. 630 war mir nicht zugänglich. Daher zitiert nach Heigel, a. a. ©. Bd. I, S. 174.

4 51

tatsächliche deutsche Volksstimmung dieser Tage zu ziehen). Auch das Jahr 1788 schien vorüberzugehen, ohne wesentliche Erfolge zu bringen. Da fiel endlich kurz vor Jahresschluß nach langer Belage- rung die Festung Očakov. In den Kreisen der europäischen Kabinette maß man diesem militärischen Erfolge mit Recht eine große Bedeu- tung bei und suchte bei Freund und Feind auch den politischen Ertrag dieses Erfolges richtig einzuschaken**).

Bei der Mehrzahl der deutschen Zeitstiimmen über dieses Ereignis ist im Gegensatz dazu von sachlichen Gesichtspunkten wenig die Rede. Man fragte nicht nach der strategischen Bedeutung des Platzes, sondern nur nach den Opfern. Die „Literatur- und Völker- kunde“, das Blatt des keineswegs radikalen Archenholz, brandmarkte den Ehrgeiz der Carin, die so ungeheures Elend verschuldet hafte“, und das „Hannöversche Magazin“ ließ die Tatsachen für sich selber sprechen, indem es den Bericht eines Teilnehmers an der Ersturmung Otakovs abdruckte: „Des Mordens war kein Ende, aber dabei ward gar nicht geschrien; man hörte dann und wann höchstens ein dumpfes Gemurmel oder das ängstliche Geschrei einer Frau. 100 Bajonett- stiche gab man von unserer Seite immer gegen einen einzigen Flintenschuß®®).“

Auch die späteren, Katharina durchaus wohlgesinnten Biographen und Historiker überfällt, wenn sie in ihren Erzählungen auf den Kampf um Očakov zu sprechen kommen, ein unverhohlenes Grauen, das von der starken Erregung zeugt, in die das Massaker dieses so ausgesprochen philanthropische Geschlecht versetzt hatte: „Nichts, nichts von den glorreichen Triumphen der Russen über die Türken“ ruft David Jenisch in den dem Kulturcharakter seines Jahrhunderts gewidmeten Betrachtungen aus —, „das Herz blutet dem Menschen- freunde®).“ Nach ihm verstießen Katharinas Kriege gegen die Ge- setze des europäischen Völkerrechts, sie kehrten die ganze asiatische Grausamkeit hervor. Biester erklärte, daß die Greuel, welche die erbitierten Sieger in der ihnen preisgegebenen Stadt begingen, den Tag von Očakov zu einem „der schauderhaftesten des Jahrhunderts machten“1%). Ein Aufsatz in der „Minerva“ von 1798 beklagte die „rücksichtslose Menschenschlächterei“ vor allem im Hinblicke auf die Tatsache, daß Rußland auf dem ganzen Erdboden an Menschen ohne Vergleich das allerarmste sei‘). Wenn sich solcher Betrachtungs- weise gegenüber hier und da eine Stimme meldete, die auf die Größe des Erfolges hinzuweisen suchte, oder wie der deutsche Arzt von Driimpelmann darlegte, daß durch diesen Sieg die russische

ss) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174.

»») Vgl. Alexander Brückner: Katharina Il. (1883), S. 364 f. A. v. Arneth: Joseph Il. u. Katharina Il., a. a. O. S. 325.

07) Jg. 1789, Bd. Il, S. 588.

98) Jg. 1789, S. 559.

99) Jenisch, a. a. O. Bd. Il, S. 559.

100) Biester, a. a. O. S. 277.

101) Jg. 1798, Bd. Ill, S. 11.

52

Grenze gedeckt und der Handel auf dem Schwarzen Meer gesichert würden:), so drangen solche Stimmen nicht durch in einer Zeit, in der man wie Forster in Potemkin nichts anderes als einen modernen Attila sah’), der „3000 Tataren, Männer, Weiber und Kinder, ein- fangen und kaltbliitig ermorden ließ“), in der Suvorov als der wiedererstandene Tamerlan galt, und Katharina in des Pamphletisten Albrecht „Neuesten Reisen ins Tierreich“ c) als Hyäne figurierte. Das Jahr 1789 war den Verbündeten günstig und fand daher die Bewunderer der Carin und des Kaisers wieder obenauf. Schubart genoß mit Behagen die Siege der „vom Glück gekosten Russen“ bei Fokschani und am Rymnik, die Eroberungen von Akkerman und Bender und plünderte den Bilderschab des Alten Testamentes und der Apokalypse, um solche Triumphe würdig zu feiern: „Der Schreck geht vor ihrem Namen her wie ein Riese des Himmels, was sie wollen, geschieht. Von Tobolsk bis nach Cherson fliegen die ehernen Reiter herbei, fühllos gegen die Pfeile der Sonne wie gegen den schneidenden Hauch des Nordsturms. Unerschöpflich rinnen die Quellen der großen Carin**).“ Mit der Eroberung Ismails im De- zember 1790 aber erhoben sich von neuem die Anklagen gegen die ungeheuren Menschenaufopferungen. Wie sehr die russischen Waffen glänzten denn Ismail hatte für uneinnehmbar gegolten!"”) —, so wurde, wie Seume sagte, ihr Ruhm doch verdunkelt durch die Unmenschlichkeiten, die hier begangen waren. Waren aber auch der Unordnungen und Grausamkeiten bei Očakov und Ismail „bei weitem nicht so viele, als das auswärtige Publikum glaubt und sich noch täglich erzahit***),“ der Makel, der deswegen an der Carin haftete, ließ sich nicht mehr wegwischen. Selbst Schubart sprach diesmal von der „russischen Löwin“, deren Mähne immer mit frischem Blut besprikt ist?®), und der als Verfasser von Sensationsromanen übel berüchtigte Friedrich Albrecht war auch bald wieder zur Stelle. Er widmete Suvorov unter dem Titel „der Totentanz bei Ismail, Ge- schichte einer Bluthochzeit nebst dem Leben des Bräutigams“ eine „sinnlose und alberne Biographie“ (Bilbasov), die allerdings erst 1803 mit dem fingierten Druckort St. Petersburg erschien, aber

_ 192) Beschreibung meiner Reisen und merkwürdigen Begebenheiten meines Lebens (1813), S. 65.

196) Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 213 F. 108) Falk Werke, a. a. O. Bd. Ill, S. 208.

108) (1796) S. 48f. Vgl. auch Andreas Rebmanns Zs. „Die Geißel“, Jo. 1797, St. 7, S. 109 F.

108) Vaterl. Chronik Ig. 1789 in Ges. Schriften, a. a. O. Bd. VII, S. 214. Val. Ausführl. Gesch. d. Krieges zw. Rußl., Österr. u. d. Türkei u. d. daraus entstandenen nordischen Krieges, Bd. VI (1791), S. 64f. Frhr. v. Tannen- berg, a. a. O. S. 212. Hist. geneal. Kal., a. a. O. S. 921.

17) Biester, a. a. O. S. 285 f. Zeichnungen, a. a. O. S. 186. 2% Seume Werke, a. a. O. S. 454. 20 Ges. Schriften, a. a. O. Bd. VIII, S. 307.

wesentlich früher geschrieben isi***). Forster erschienen die Türken menschlicher als die Russen. Er war erschüttert über die Menschen- verachtung der russischen Feldherren: „Jede Festung hat ihren Preis, die Frage ist nur, ob man ihn geben will, ob man ihn geben kann*).“

Die politische Lage hatte sich in den lezten Kriegsjahren sehr zuungunsten der beiden verbündeten Mächte verändert. Österreich war durch die Konvention von Reichenbach genötigt worden, mit der Pforte Frieden zu schliefen*), während Rußland trob der Drohungen Preußens und Englands sich nicht zum Abschluß eines Friedens auf dem Grunde des Status quo zwingen ließ. Erst nach der vernichten- den Niederlage der Türken bei Matschin (9. Juli 1791) kam es zu einem Waffenstillstande, dem am 9. Januar 1792 der Friedensschluß von Jassy folgte. Wie auch von den modernen Historikern!) der tapfere und zähe Widerstand, mit dem sich Katharina der preußisch- englischen Vermittlungsaktion gegenüber behauptete, restlos an- erkannt wird, so gaben sich auch schon damals die Bewunderer der Carin einer ungehemmten Begeisterung über die Standhaftigkeit Katharinas hin, vor der es die beiden Mächte „bei eitlen Drohungen“ bewenden lassen mufien"*). Die große Frau veränderte ihr System nicht, und die Pforte war genötigt, einen abermals ungünstigen Frieden abzuschließen:%°).

Unmittelbar unter dem Eindrucke des Friedensschlusses wurde damals in einer der Tiirkenkriegsgeschichten, die durch ihre sorg- fältige Arbeit aus der Reihe der übrigen herausfällt, das Fazit der bisherigen Orientpolitik Katharinas mit folgenden Worten gezogen: „Dies ist der sechste Friede, den Rußland in diesem Jahrhundert mit der Pforte abgeschlossen hat. In den drei ersten schrieb die Pforte Rußland, in den drei lezten unter Anna und Katharina Rußland der Pforte Geseke vor. Keiner davon hat so reelle Vorteile verschafft, außer denen, die unter der jetzigen Kaiserin geschlossen worden sind. So glänzend als das Jahrhundert in mehr als einer Rücksicht für Rußland anfıng, so glänzend schließt sich dasselbe mit einem Kon- traste der Größe und Umschaffung, von dem in einem solchen Zeit- raume nur Preußen eine Ähnlichkeit aufweist. Vorzüglich ist der gegenwärtige Friedensschluß ein ewiges Denkmal des Ruhmes für Rußland und dessen große Beherrscherint!®).“ Um die gleiche Zeit

110) Bilbasov Weltliteratur, a. a. O. Bd. Il, S.120. Die Schrift, die mir selbst nicht erreichbar war, erschien auch unter dem Titel: „Kakodämon der Schreckliche, Pansalvins und Mirandas Donnerkeil, Revisor des Codex der Menschenrechte“ (1800).

111) Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 213 f. 113) Ubersberger, a. a. O. Bd. I. S. 377.

118) Z. B. Brückner, Katharina, a. a. O. S. 401. Ubersperger, a. a. O. Bd. I, S. 378.

114) Biester, a. a. O. S. 282. 118) Seume Werke, a. a. O. S. 454. Vgl. Polit. Journal jg. 1796, S. 1243. ; Gesch. d. östereichisch-russischen u. fürkischen Krieges (1792),

54

bekannte Schubart: „Es demüthigt den Männerstolz sehr, wenn er jetzt schen muß, daß ein Weib die größte Rolle in der Welt spielt)“

Man sieht aus diesen zahlreichen Anführungen von Stimmen der damaligen deutschen öffentlichen Meinung, die wir leicht noch ver- mehren könnten, daß die Zeitgenossen durchaus ein Gefühl dafür hatten, was die beiden Friedensschlüsse von Kutschuk-Kainardsche und Jassy für die Stellung Rußlands im Orient bedeuteten. Gleich- wohl fiel es niemand unter den Bewunderern Katharinas ein, auf die Verschiebung der Krafteverhalinisse auf der Balkanhalbinsel, das Zuriickireten des österreichischen und das Vordringen des russischen Einflusses und die dadurch eintrefende Störung des europäischen Gleichgewichts auch nur andeutend hinzuweisen. Nur das schon angeführte Wort Wekhrlins bildet in dieser Beziehung eine Aus- nahme. Aber Wekhrlin weist, wie wir sahen, diesen politischen Ge- sichtspunkt der Angelegenheit weit von sich. Er erscheint ihm unter- geordnet und unwürdig im Vergleich zu dem höheren Interesse, das die Zivilisation an dem Übergang der türkischen Lander in den Besik gleichviel welcher europäischen Kulturmacht hat.

Man könnte nun vielleicht geneigt sein anzunehmen, daß wenig- stens die Gegner der Carin diesen politischen Gesichispunkt stärker betont hätten. Aber auch bei ihnen findet sich davon keine Spur. Ihre Polemik wendet sich nicht aus politischen Gründen, um die sich damals anscheinend lediglich die zünftigen Politiker, die Räte und Diplomaten der einzelnen Kabinette kümmerten, sondern aus morali- schen gegen „die Eroberungssucht“, „die Landergier“, „die Un- ersättlichkeit““ der „ehrgeizigen“, „ruhmsüchtigen“, „eitlen“ Selbst- herrscherin aller Reußen, und je nach Anlage und Temperament des einzelnen Polemikers kleidet sich das Urteil in pathetische Entrüstung oder spottende ironie. Nur um für letztere hier noch ein Beispiel zu geben, möge eine Stelle aus der „Minerva“ von 1798 zitiert sein, in der der Verfasser sich darüber lustig macht, wie Katharina in ihrer Maßlosigkeit trob aller Anstrengungen schließlich doch nur einem Phantom nachgejagt habe: „Katharina Il. hat alle Länder er- obert, auf welche die russische Regierung Anspruch machen zu können glaubte, es fehlte nur ein Stück von Lappland und das morgenländische Kayserthum:).“ Im übrigen verlohnt es nicht, auf die Ausfälle der Gegner Katharinas, die nach dem Friedensschlusse von Jassy laut wurden, noch weiter einzugehen. Sie sind sowohl ihrem Gedankenkreise als ihrer Tonlage nach genau die gleichen wie die, welche wir bei der Erstürmung von Očakov kennen lernten. Zur Kennzeichnung der phantastischen Vorstellungen, in welchen. sich diese pazifistischen Menschenfreunde vielfach bewegten, sei schließ- lich noch auf die Schätzungen der Menschenverluste in den Türken- kriegen aus der „Minerva“ von 1798 verwiesen: „Nach einer richtigen öffentlich. bekannt gewordenen Berechnung“ gibt diese Zeitschrift an,

117) Vaterl. Chronik Jg. 1791, S. 268. 118) Bd. Ill, S. 10.

daß die russische Regierung in den beiden Türkenkriegen 600 000 Mann aufgeopfert hätte, und daß die von den Russen Getoteten „be- sonders unter den Polen, Türken und Tataren“ sich auf Millionen belaufen“). Angesichts solcher Vorstellungen ist es nicht weiter verwunderlich, daß diese Art von Zeitgenossen nicht nur die Russen der Grausamkeit bezichtigte, sondern auch Katharina deswegen an- klagte und in der aufgeklärten Carin den „Würgeengel“ erblickte, der gekommen war, das menschliche Glück zu vernichten:?®).

Fortsetzung folgt.)

119) Ebd., S. 11.

130) Ein Wort im Vertrauen, a. a. Gleichzeitig und neben den Operationen auf dem türkischen Kriogasch auplab mutzie Katharina von 1788—90 gegen Schweden Krieg führen enn schon die öffentliche Meinung Deutschlands für die orientalische Krisis von 1787 ein viel laueres Interesse hatte als für die von 1768, so steht sie dem Kampfe im Norden, der sich als Begleiterscheinung der Orientpolitik der Carin entwickelte, beinahe gleich- gültig gegenüber, obwohl die beiden Gegner das Ausland dureh Propa- gandaschriften zu beeinflussen trachteten. Nur eine einzige ne Geschichte des Schwedenkrie eges ist bisher bekannigeworden G. Horst: Geschichte des lekten schwed.-russ. Krieges, 1792). Auch die Biographen der Kaiserin behandeln mit Ausnahme von Seume (Werke, a. a. O. S. 453 f.) den russ.-schwed. Krieg sehr stiefmütterlich, so daß man aus den wenigen Urteilen der Zeitgenossen kein hinreichend sicheres Bild erhält, um diesem Ereignis in seiner Ruckwirkung auf die öffentliche deutsche Meinung beson- dere Ausführungen zu widmen. So viel ist gewiß, daß auch hier Parteien sprechen. Die Anhänger Katharinas sind auch hier wieder in den Reihen der älteren Aufklärer zu suchen, 0 die Freunde Gustavs der jüngeren Generation angehören. Für letztere vgl. „Katharine vor dem Richterstuhle der Menschheit” (1797), S. 29 f. Der anonyme Verfasser einer der unent- wegtesten unter den Katharinagegnern gibt aus Anlaß des Friedens- schlusses von Werela auf dem Status quo ante seiner Genugtuung Aus- druck, daß die Carin nun endlich anne belehrt worden sei, „daß ein für seine nna hängigkeit kampfendes Volk im Streife mit Barbaren nie unter- iegen könne.

56

DIE ENTWICKLUNGSBEDINGUNGEN DER EPISCHEN VOLKSDICHTUNG BEI DEN SLAVEN’)

Von Josef Matl, Graz.

Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der neuen von Westen kommenden Geistesströmung der Romantik auch bei den Slaven das interesse für die Volkssprache, für die Denkmäler und Auke- rungen der Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart wach wurde und eine planmagige Sammlung dieser Denkmäler einsetzte, erkannten die Sammler bald mit Staunen und Bewunderung, daß im Volke bisher unbekannte Geistes- und Kulturschäße begraben

1) Ich veröffentliche hier einen Vortrag, den ich im März 1928 an der Grazer Universität gehalten habe. Ich gebe den Inhalt im wesentlichen unverändert wieder, um den ursprünglichen Plan und Rahmen sowie die ursprüngliche Form nicht durch kritische Erörterungen von Einzelfragen zu sprengen. Daher verzichte ich auch auf eingehende Literaturangaben zu jedem einzelnen Punkt, zumal das Neue in dieser Studie wesentlich in dem Betrachtungsstandpunkt an sich und der synthetischen Anwendung dieser

achtungsweise für das Gesamtgebiet der slavischen Volksepik liegt und nicht im Einzelmaterial als solchen. Unter den für unser Thema wich- tigen Werken, die eniweder die Ergebnisse der bisherigen Forschung mit

der Spezialliteratur und der Textausgaben enthalten oder als Untersuchungen für unser Thema wichtiges Einzelmaterial vorbringen, sind zu nennen: Eine allgemeine Zusammenfassung vorwiegend stoff- und formalgeschichtlich J. Máchal, Slovanské literatury. Díl I: Národní epika slovanská, S. 67—128. Novočeská Bibliotéka XXXVI. V Praze 1922. Für das russische (groß- und kleinrussische) bzw. ukrainische Gebiet: E. V. Anitkov, A. K. Borozdin, D. K. Ovsjaniko-Kulikovskij, Istorija russkoj literatury. T. I: Narodnaja slovesnosť. Moskva 1908. V. A. Keltujala, Kurs istorii russkoj literatury. Cas?’ 1: Istorija drevnej russkoj literatury. Kn. J, S. Peterburg 1913, Kn. Il, S. Peterburg 1911. P. Ziteckij, Mysli o narodnych malorusskich dumach. Kiev 1895. (Eni- halt sehr interessante Angaben über die Sänger) M. GruSevs’kyj (HruSevskij), Istorija ukrains’koji literatury. Tom I, Il, Kyjiv-L’viv 1923. In deutscher Sprache eine übersichtliche Zusammenfassung bei A. Luther, Geschichte der russischen Literatur. Leipzig 1924, S. 9 ff. Das neue Werk des Saratover Professors Skafiymov über die russischen Bylinen, von dem mir Juni 1928 Prof. Furst Trubeckoj in Wien erzählte, war mir bisher nicht zugänglich. Ebenso sind mir die Ergebnisse der Forschungen D. So- kolovs über den gegenwärtigen Stand der russischen Volksepik und Volksdichtung überhaupt, die in den eihnographischen Organen der russi- schen staatlichen Akademie für Wissenschaft und Kunst erschienen sind, nur aus Referaten (Obzor 1929, br. 5, Zagreb; ferner Slavia VII, S. 405—13: ernaja ekspedicije 1921 g. v Archangel’skoj gub.) bekannt. Vgl. ferner Sokolov, Volksdichtung in der Sowjetunion. In: Das neue Rußland.

5 (1928), 9/10, S. 28—30.

57

waren, die es verdienen, näher untersucht und gewürdigt zu werden. Bei den Russen und Ukrainern, bei den Serben und Kroaten, sowie auch bei den Bulgaren fand man unter diesen lebenden Zeugnissen der Volkskultur eine Menge epischer Lieder, die in bezug auf künst- lerische Qualität und epische Unmiffelbarkeit jeden Vergleich mit den bisher bekannten Erzeugnissen der epischen Volksdichtung der alien europäischen Kulturvölker aushielten. Vor allem waren es die serbischen Volkslieder, die bei dem damaligen Interesse für Volks- dichtung im allgemeinen auch wiederholt ins Deutsche übersebi wurden und buchstäblich einen literarischen Siegeszug durch Europa antraten. Unter den Deutschen, die sich mit der serbischen Volks- dichtung beschäftigten und ihre vollste Anerkennung und Bewunde- rung zollien, waren bekanntlich Männer wie Jakob Grimm und

Aus den Referaten ersehe ich daß die Beobachtungen D. Sokolovs meine Anschauungen über die Entwicklungsbedingungen der epischen Volks- dichtung bestätigen.

Für das Gebiet der serbokroatischen Volksepik sind die Ergebnisse der älteren Forschung und die Einzelliteratur von P. Popović, Pregled srpske književnosti. Beograd 1909 (in den neueren Auflagen fehlt leider das Literaturverzeichnis) zusammengefaßt. Für unsere Betrachtung wich- tiges Material enihalten von den älteren Studien: V. Jagié, Die süd- slavische Volksepik vor Jahrhunderten. A. f. sl. Ph. IV, S.192—242; derselb e, Gradja za slovinsku narodnu poeziju. Rad Ju ugoslayenske Akademije XXXVI, S. 33—137. Vogl. dazu die hea egg ea un kritischen Bemerkungen von S. Ljubié, Rad XL, S. 130—46; Sv. Vulovié, Prilog poznavanju sa- daSnjeg stanja usmene Berge poezije. Godišnjica Nikole Cupiéa VII, S. 3535—65. Unter den neueren Arbeiten die Studien der beiden besten gegenwärtigen Kenner der serbokroatischen Volksepik, M. Murko und G. Gesemann: M. Murko, Bericht über eine Bereisung von Nordwest- bosnien und der angrenzenden Gebiete von Kroatien und Dalmatien behufs Erforschung der Volksepik der bosnischen Mohammedaner. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philos.-hist. Kl., 173. Bd., 3. Abh., Wien 1913; derselbe, Bericht über eine Reise zum Studium der Volks- epik in Bosnien und Herzegowina im Jahre 1913. Ibidem 176. Bd., 2. Abh., Wien 1915; derselbe, Bericht über phonographische Aufnahmen epischer Volkslieder im ‚mittleren Bosnien und in der Herzegowina im Sommer 1913. Ibid. 179. Bd., 1. Abh., XXXVII. Mitteilung der Phonogramm-Archivskommis- sion. Wien 1913 Zusammenfassend derselb e, Neues über südslavische Volksepik. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XXII, S. 273—%6. Vgl. ferner M. Murko, Ein montenegrinischer Guslar. Prager Presse 1./1 1928, schließlich die letzte Zusammenfassung M. Murko, L'état actuel de la poésie populaire &pique yougoslave. Le Monde Slave. N. S. T. II (1928) S. 321—-51. G. Gesemann, Studien zur südslavischen Volksepik. Ver- öffentlichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen Uni- versität in Prag. I. Reihe, Heft3, Reichenberg 1926; derselbe, Erlangenski rukopis starih srpsko-hrvatskih narodnih pesama. Zbornik za istoriju i književnosł srpskog naroda. l od. knj. Xll Srpska Kralj. Akademija, Sr. Kar- lovci 1925. Vgl. dazu die Rezension M. Murkos, Euphorion XXIX, S. 297 fi. Die an sich wertvollen Studien von St. Banović, über die ich demnächst an anderer Stelle berichten werde, sind für unsere Betrachtung nur von sekundärer Bedeutung: Masta prema istini u našim narodnim pjesmama. Zbornik za narodni Zivot i običaje Južnih Slavena. Knj. XXVI, sv. 2, 193—256; ferner Stalni epiteti junaka u našim narodnim pjesmama. Ibid. 8. 283—88.

Fin halbes Jahr nach meinem Vortrag erschien (Sept. 1928) ein der serbokroatischen Volksepik gewidmetes Sonderheft des Književni Sever IV (Subotica, SHS): NaSa narodna epika, das mehrere wertvolle Studien ent-

58

.. oR AHP- Bumu? SEE A u ah ²˙ A 9 a Ale A

=" S ALE PGJ DD as sav, a

nd

m . m-

——

Goethe’). Bei den Slaven selbst wurde die Sammlung des Lieder- materials durch das ganze 19. Jahrhundert fortgesetzt, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Russen schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts sekte auch die syste- matische Erforschung ein und nahm bei den Südslaven und Russen einen Großteil des literaturwissenschaftlichen Interesses in Anspruch. Während die älteren Forscher unter dem Einfluß der sogenannten mythologischen Richtung Grimms aus dieser Volksdichtung heraus ein System der ursprünglich slavischen Mythologie aufzubauen ver- suchten und in jeder nicht einfach deutbaren Gestalt oder Motiv Spuren eines alien Mythos sahen, machte sich die Gruppe mehr philologisch interessierter Forscher daran, den epischen Stil, die epische Technik, die Poetik der Volkspoesie zu erkennen, die formalen Seiten dieser Dichtungsart zu untersuchen, anderseits durch texikritische Vergleichung der Varianten das Urlied heraus- zufinden und so den Gestaltungs- und Entwicklungsprozeß klarzu- legen. Erst der historisch vergleichenden Schule, die sich vor- wiegend bei den Russen durch die grundlegenden Forschungen Veselovskijs und Milers durchsetzte, war es vorbehalten, dadurch, daß sie von der isolierten Betrachtungsweise zu einer vergleichenden überging und die westeuropäischen und orientalischen Volkslitera- turen sowie die kulturgeschichtlich gegebenen Fakten der Entwicklung des eigenen Volkes zur Erklärung heranzog, viel neues. Licht in die einzelnen Fragen der Entstehung und Gestaltung der Volksdichtung zu bringen?).

hält, die in verschiedener Hinsicht meine im Vortrage vertretenen An- schauungen bestätigen und ergänzen. Auf den Inhalt der einzelnen Studien in diesem Heft werde ich noch in dieser Zeitschrift in einem Literaturbericht über neuere Forschungen zur jugoslavischen Volksdichtung zurückkommen. über die jugoslavischen Hajduken- und Uskokenlieder und die Bedeutung der Hajduken- und Uskokenbanden in der Entwicklung der jugoslavischen Voksepik werde ich in einer eigenen Studie noch Näheres ausführen.

Für das bulgarische Gebiet zusammenfassend und Literatur: B. An- gelov, Bigarska literatura. Cast’ II, S. 97 ff., Sofija 1924; ferner (mit einer Anthologie) B. Angelov M. Arnaudov, Istorija na bigarskata literatura v priměri i bibliografija. Tom I: Bigarska narodna poezija. Sofija (Erscheinungsjahr nicht angegeben).

2) Vgl. das Einzelmaterial bei M. Cur&in, Das serbische Volkslied in der deuischen Literatur. Dissert. Wien, phil. Fak., Lpz. 1905. Erganzend dazu J. Mati, Dva njemačka časopisa iz Sezdesetih godina 19. vijeka. Njihov značaj za kullurnu i političku historiju južnih Slavena. Nastavni Vjesnik (Zagreb) XXXVI, sv. 5—6; ferner meine Angaben über die deutsche Ubersebungsliterafur aus dem Serbokroatischen in meinem Beitrag über deutsche Literatur in Kroatien und Slavonien. In: Nagl-Zeidler-Casile, „Deutschösterreichische Literaturgeschichte“, IH,

3) Die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben der Erforschung der epischen Volksdichtung präzisierte vor kurzem G. Gesemann, Nova istraZivanja narodnih epskih pesama (Književni Sever IV. S. 2835—89) und faßt debei das Ziel der weiteren Forschungsarbeit in folgenden Satz: „Treba shvatiti epsko pevanje pr vo kao umetnost i drugo kao izraz i samosti- lizaciu izvesnog stepena sveljudske kulture, f. j. jugoslovenski ep treba izvesh iz re izolacije i staviti ga tamo gde mu je mesto u svetskoj

o. c

59

Zu den Fragen, die bei der Forschung der epischen Volksdich- tung auftauchten und bis heute noch keine befriedigende einheitliche Lösung gefunden haben, gehört auch die Frage der Entwicklung der epischen Volksdichtung. Wir müssen gleich feststellen, daß wir nur bei den Russen und Ukrainern verhältnismäßig klar die einzelnen Entwicklungsstufen sehen, da hier durch eine seit Jahrzehnten blühende kultur- und sozialgeschichtliche Erforschung der inneren Entwicklung des Volkes (es seien nur die Namen Solovjev, Ključev- sky, HruSevsky, Mjakotin genannt}*) das nötige Vergleichsmaterial vorhanden ist, wahrend bei den Siidslaven erst durch die siedlungs- geschichtlichen Forschungen der serbischen Geographen Cvijić und seiner Schule, sowie durch die historisch volkskundlichen Studien von T. R. Djordjevié die Anfänge dazu gemacht wurden und daher noch viele Seiten der inneren Entwicklung des Volkes in der für unsere Betrachtung wichtigen Turkenzeit im Dunkeln liegen’).

Wir wollen heute den Versuch machen, unter Heranziehung der Ergebnisse der russischen und ukrainischen Forschung sowie der äußerst wichtigen Untersuchungen über den gegenwärtigen Stand der Volksepik der Südslaven von M. Murko, von einem einheitlichen, zum Teil neuen Gesichtspunkte aus die Entwicklung der epischen Volksdichtung bei den Slaven in ihren wesentlichen Zügen zu be- trachten, wobei wir unser Augenmerk vor allem auf die Faktoren richten, die diese Entwicklung bedingen.

Als Grundmaterial kommen für uns alle epischen Volkslieder in Betracht, in denen sich in irgendeiner Form, wenn auch poeti ungestaltet, umgedeutet und typisieri, geschichtlich nachweisbare Ereignisse, Vorgänge und Verhältnisse spiegeln, also die russischen Bylinen und die sogenannten historischen Lieder eine genaue Grenze läßt sich zwischen ihnen ja nicht ziehen —, die ukrainischen dumy, die bulgarischen und die serbokroatischen Heldenlieder (junaéke pjesme). Die Tschechen und Polen verfügen über keine nennenswerte epische Volksdichtung, bleiben daher außer Betracht.

4) V. Kijucevskij, Kurs russkoj istorii. Cast’ I—II, Moskva 1908*; die vor- zugliche und willkommene deutsche Ubersekung der vollständigen Ausgabe durch F. Braun und R. v. Walter: W. Kliutschewskij, Geschichte Ruß- lands, I—IV, Berlin 1925—26, Deutsche Verlagsanstalt. M. Hru3evskij, O&erk istorii ukrainskago naroda. S. Peterburg 19062; derselbe, Iljustrovana istorija Ukraini. Kyjiv-L’viv 1912. V.A. Mjakotin, Oéerki 8 istorii Ukrainy v XVII - XVIII v. Tom I, vyp. 1, 1924, vyp. 2, 3,

. Praga.

s) J. Cvijić, Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje. Osnove antropogeografije. Zagreb 1922.

Die sozial- und siedlungsgeschichtlichen Arbeiten der Cvijié- Schule sind zum Haupffeile enthalten in den Naselja i poreklo stanovni3tva des Srpski Etnografski Zbornik der Srpska Kralj. Akademija.

Von T. R. Diordjevié vgl. vor allem: NaS narodni Zivot. Srpska ran Zadruga 174, Beograd 1923, ferner Iz Srbije kneza Miloša. Beo- gra

In den letzten Jahren arbeitet der Belgrader Dozent Ð. J. Popović systematisch und mit Erfolg an der Erforschung der sozialgeschichilichen Entwicklung der Serben und Kroaten.

60

Unter welchen Bedingungen entwickelte sich die epische Volksdichtung, welche Faktoren beeinflußten ihre Entwicklung, ihre Blüte und ihren Niedergang?

Wir haben bei der Entwicklung jeder Kunstgatiung, so auch bei der epischen Volksdichtung, eine innere und äußere Entwicklung zu unterscheiden. Die einer jeden epischen Volksdichtung immanenten inneren Entwicklungstendenzen in bezug auf Gehalt und Formgebung sind: Die Umwandlung historischer Erinnerungen zu sagenhaften Er- innerungen, die Auflösung des geschichtlichen Geschehens ins Per- sönliche und die Erklärung desselben aus persönlichen Eigenschaften und Motiven (Beispiel: Die Erklärung des ungünstigen Ausganges der Schlacht am Amselfeld aus der persönlichen Entscheidung des Zaren Lazar für das nebesko carstvo, für das himmlische Reich), die Tendenz zur Komplettierung und Einfügung neuer Verbindungs- motive, die Zyklenbildung, indem aus der Menge historischer und Heldennamen der Großteil vergessen wird und die Handlungen einer oder einigen Figuren übertragen werden, die dann typische oder Zentralfiguren einer ganzen Epoche werden (Kraljević Marko in der gesamten jugoslavischen Volksdichtung, der Kiever Zyklus der Bylinen, die Kosakenlieder mit den Zentralfiguren Ermark und Razin); ferner die Typisierung und Schematisierung in den Motiven und in der Formgebung. Diese innere Entwicklung, die wir im einzelnen vor allem in der russischen und serbischen Volksepik verfolgen können, unterscheidet sich nicht im wesentlichen von ähnlichen Vor- gängen in der Entwicklung der germanischen und griechischen Volksepik und ist auch, wenigstens hinsichtlich der Ergebnisse der Erforschung bis 1908, für die grundsäßliche Beurteilung des Wesens und Werdens des Volksepos von John Maier in seiner Rektorats- rede 1909 über dieses Thema herangezogen und verwertet worden.

Wir wollen heute nicht diese innere Entwicklung in den Vorder- grund’ der Betrachtung stellen, sondern die Wirksamkeit der äußeren Entwicklungsbedingungen, und zwar die Bedeutung folgender drei Faktoren: Erzähler bzw. Sänger, Publikum bzw. Zu- hörer und episches Milieu.

Zunächst die Frage: Wie und wann entstand die epische Volks- dichtung bei den einzelnen slavischen Völkern? Die geschichtlichen Ereignisse, die derartig die Lebensverhältnisse umgestalteten und erschütterten, daß sie zum großen gemeinsamen, zum Erlebnis wei- fester Volksschichten wurden und die jeder dichterischen Produk- tion notwendigen Emotionen einerseits, die für die Entstehung und Verbreitung epischer Volkslieder notwendige Erlebnisgemeinschaft anderseits schufen, waren für die Bulgaren, Serben und Kroaten die Türkeninvasion und alle mit der Besikergreifung des Balkans durch die Türken im Zusammenhang stehenden Vorgänge vom 14.— 19. Jahr- hundert, Vorgänge, die für einen Großteil der südslavischen Stämme Vernichtung ihrer im Aufblühen befindlichen Nationalstaaten, Ver- nichtung der bisherigen Kulturgrundlagen und der weiteren kul-

61

turellen Entwicklungsmöglichkeiten für ein halbes Jahrtausend be- deuten, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Zurückwerfen in primitive Organisationsformen, für einzelne Gebiete jahrhunderte- lange zähe, erbitierte Kämpfe auf Leben und Tod um die Erhaltung der primitivsten Existenzgrundlagen und um die Wahrung der pri- mitivsten Menschenrechte. Die Entstehungsherde der epischen Volksdichtung sind denn auch tatsächlich die Gebiete der ersten enischeidenden Zusammenstöße mit den Türken, das heutige Ma- zedonien, Westbosnien und Montenegro, und die bisher bekannten ältesten Zyklen, der Zyklus über die Kosovoschlacht (1389) und der Liederzyklus uber Kraljević Marko, haben die blutigen Geschehnisse des 14. und 15. Jahrhunderts als Hintergrund.

Bei den Russen finden wir im 10. und 11. Jahrhundert die Ent- stehungsherde der ältesten epischen Volksdichtung in Kiev und Nov- gorod. Hier waren die Ausgangsereignisse für das große epische Erlebnis zunächst die gefahrvollen Handelsfahrten am Dnépr nach Byzanz und für die weiteren Schichten die Kämpfe mit den ver- schiedenen räuberischen Steppenvolkern (Hazaren, Polovcen), also der Schuß der wirtschaftlichen Lebensader des Kiever Staates, des Verkehrsweges Novgorod—Kiev—Schwarzes Meer. Dann die wei- teren Ereignisse: Die immer häufigeren Einfälle der Tataren, die schließlich zur Eroberung Kievs und zur Abwanderung der Bevölke- rung nach Norden und Westen, zur Entstehung eines neuen politi- schen Zentrums an der Wolga führten, aus dem sich der spätere Moskauer Staat entwickelte. Diese Geschehnisse finden ihren Nieder- schlag in der ältesten Geschichte der Bylinen des Kiever Zyklus. Bei den Ukrainern waren es ebenfalls jahrhundertelange Einfälle und Angriffe der Tataren sowie die Kämpfe mit den Türken, die die heroische Epoche einleiteten, die dann im 15. und 16. Jahrhundert, in der eigentlichen Kosakenepoche, staatlich, sozial und volksepisch ihren Höhepunkt fand.

Soviel über die allgemeinen Ereignisse, die zur Entstehung der epischen Volksdichtung führten.

Betrachten wir nun im einzelnen die Faktoren, die ihre weitere Entwicklung bedingten. Wir wissen heute, daß die alte romantische Auffassung, daß des Volk das Lied schafft, nicht den Tatsachen entspricht, daß vielmehr Einzelpersonen als Schöpfer der Lieder auftreten®). Meine eigenen Beobachtungen in der Schüßengraben- zeit im Weltkriege, in der viele alte Lieder wieder auflebten und neue entstanden, haben diese Tatsache bestätigt. Wir wissen ferner, daß die Entstehung eines Liedes Improvisationscharakter hat, daß es in den Anfangs- und Blüteperioden der epischen Volksdichtung ex tempore entsteht als poetischer Widerhall auf Erlebnisse und Ge- schehnisse, daß die epischen Lieder durch Sänger (vgl. die russische Bezeichnung pésnotvorci) geschaffen und im wesentlichen auch weiter-

) Vgl. die Formulierung der heutigen Auffassung M. Murko, Prager Presse 1./l. 1928; Nik. BanaSevié, O problemu tvoraca naših narodnih pesama. Književni Sever IV, S. 289—94.

62

aera e aem LL LI

ee —— Ao 18 AE

A

verbreitet werden. Die Existenz von Sängern ist uns bei den Russen schon im 11. Jahrhundert, bei den Serben im 15. Jahrhundert, also kurz nach dem Beginn der heroischen Epoche, bezeugt, und wir haben vor allem bei den Russen und Ukrainern auch aus den späteren Jahrhunderten eine Reihe von Zeugnissen über die Existenz eigener Sänger. Bei den Süslaven sind die direkten Nachrichten aus der Türkenzeit spärlicher, und wir haben hier zahlreichere An- gaben erst aus dem 19. Jahrhundert.

Nun entsteht die Frage: Welche Rolle spielen die Sanger bzw. Erzähler (skr. guslari, slepci, bulg. pévci, pri- kazvali, r. pésnotvorci, skaziteli, skomorochy, ukrain. kobzari, starci) in der Entwicklung der epischen Volksdichtung ? Wir haben nichiprofessionelle und professionelle Sänger zu unier- scheiden. Beide Kategorien können je nach der Differenzierung des sozialen Milieus auch nebeneinander bestehen. In einem gesell- schaftlich entwickelten feudalen Milieu überwiegen die professio- nellen; im demokratischen Milieu, in den auf mehr oder minder freie Gefolgschaft aufgebauten Kampfesverbänden überwiegen, wenigstens in der eigentlichen Blütezeit, die nichtprofessionellen. Letztere sind in der Anfangsentwicklung festzustellen (z. B. in den Anfängen der Kiever Epoche und später bei den Kosaken- und Haidukenbanden in der Herzegovina und in Montenegro), erstere in der späteren Entwicklung, wenn sich in der Gesellschaft stärkere Bedürfnisse nach Sängern herausgebildet haben’). So in der Blütezeit des Kiever Staates, so in Novgorod, so in dem Moskauer Rußland des 15. und 16. Jahrhunderts und bei den Ukrainern in diesen und in den folgen- den Jahrhunderten, so bei den Südslaven in neuerer Zeit.

Bei den professionellen Sängern haben wir zu unterscheiden, ob sie zur Gefolgschaft, zum Hofstaat eines Herrschers, eines Bojaren, eines velikaš, gehören, also in einem mehr oder minder feudalen Milieu tätig sind, dementsprechend über eine bestimmte Bildung und gesellschaftliche Kultur verfügen, oder ob sie ganz im Volke leben, aus dem sie stammen, in ihrem geistigen Horizont sich nicht über das allgemeine Bildungsniveau erheben, von Markt zu Markt, von Dorf zu Dorf wandern und bei den gesellschaftlichen Zusammen- künften singen: so die Sänger bei den Ukrainern am rechten Ufer des Dnépr, vor allem die Sänger aber bei den Südslaven unter der Türkenherrschaft und in neuerer Zeit. Alle diese Momente haben auf die Gestaltung, Umgestaltung, Auffassung und Formgebung der Lieder Einfluß. Von größter Bedeutung ist folgendes: Das Moment nämlich, ob der Sänger Teilnehmer der besungenen oder ähnlicher

7) Der dalmatinische Literarhistoriker A. P etravic nimmt allerdings für das serbokroatische Gebiet an, daß schon in der Anfangsentwicklung an den Höfen der velikaši, des Hochadels, die djakoni, also gebildete, ge- schulte Kleriker, die das Amt von Sekretären innehatten, also die Schreib- geschatie bei den des Lesens und Schreibens vielfach unkundigen Feudalen durchführten, als die ersten Schöpfer und Sänger bzw. Erzähler epischer Volkslieder anzusehen sind. Književni Sever IV, S. 295 fl.

63

Kämpfe war oder nicht, ob er also einen unmittelbaren seelischen Kontakt mit den besungenen Vorgängen hat oder nicht. Ist der Sänger Teilnehmer amKampfe, sind die besungenen Geschehnisse oder ähnliche ihm selbst zum Erlebnis geworden, sind die Ideale, die in den Liedern verherrlicht werden, seine Ideale, ist er Glied der Kampfesgemein- schaft, und ist die heroische Lebensauffassung auch seine Lebens- auffassung, so sind einerseits seine Lieder viel frischer, lebendiger, unmittelbarer, anderseits ist die Souveränität des Umgestaltens, vor allem bei Vorgängen, die nicht sehr ferne liegen, beschränkter. Also die Lieder sind historisch wahrer, sie sind auch dichierisch wahrer. Aus dieser Voraussekung entstanden die schönsten und am unmittel- barsten wirkenden epischen Lieder der Slaven: So die Lieder, die in der Kiever Epoche in der družina (Gefolgschaft) des Fürsten ent- standen, der Zyklus der eigentlichen Bogatyrenlieder (Mittelpunkt Fürst Vladimir, die Haupthelden Jlja Muromjec, Dobrynja Nikitič, Aleša Popovič), so der schönste Teil der ukrainischen dumy, deren Inhalt und Form beweist, daß im Sänger das Bewußtsein des Schick- sals und der Aufgabe des Volkes, so wie auch die Ideale der Ko- saken lebendig waren; so die Gruppe der sogenannten historischen Kosakenlieder aus der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert, die die Kämpfe gegen den neuen moskowitischen Despotismus, die Er- oberung Sibiriens als Hintergrund haben, Lieder, in denen die Er- innerung an die waghalsigen Taten der Don- und Dnéprkosaken in den poetischen Zentralgestalien der Hetmane Ermark und Razin unmittelbarsten Ausdruck fanden. So auf jugoslavischem Boden die serbischen und bulgarischen Lieder, die geschaffen, erhalten und auch im Volk verbreitet wurden durch die Haidukenbanden und durch die Uskoken (in den westlichen, küstenländischen Gebieten®), Banden, die entstanden waren als eine Art nationaler Abwehrorganisationen gegen die Übergriffe und Gewalttaten der türkischen bzw. vene- tianischen Machthaber und, begünstigt durch die heimische Bevöl- kerung, durch Jahrhunderte einen Franktireur-Krieg auf Leben und Tod führten. Wie stark die Kampfeslust, also der innere Kontakt zu dem in den Liedern besungenen Geschehen lebte, beweist uns unter anderen ein Fall, daß einer der bekanntesten Guslaren sofort, als er hörte, daß in Serbien ein Aufstand ausgebrochen sei, nach Serbien eilte und sich den Aufständischen anschloß. Daß bei diesem Ver- hältnis des Sängers zum Geschehen das Lied auch eine tiefe sozial- ethische und nationalethische Bedeutung erlangte, beweisen uns die geschichtlichen Tatsachen’).

8) Uber die Uskoken vgl. Ch. Segvié, junačka djela senjskih Uskoka. Zagreb, Kugli, Jahr?, ferner die neueste Zusammenfassung: G. Novak, Nase more, S. 173—205. Biblioteka jadranske StraZe sv. 2, Split 1927—28.

9) Die außerordentlich große sozial- und national-cthische Bedeutung des epischen Volksliedes formulierte vor kurzem der Montenegriner Novica Saulic, der das volksepische Schaffen an sich und in. seinen Auswirkungen aus unmittelbarer Nahe genau kennt, mit den Worten: „Uz njih (uz gusle) su pjevaci opominjali narodu prošlost, junašłvo, čovješłvo, muke i patnje, koje su podnosili pretci vijekovima. Budila se težnja za osvetom i za

64

Das der eine Fall. Hat dagegen der Sänger keinen unmittel- baren seelischen Kontakt zum Geschehen, erschüttert ihn das be- sungene Geschehen seelisch nicht wie es bei dem vorher be- sprochenen Typus der Sänger tatsächlich der Fall ist —, hat er dem- gemäß keine Ehrfurcht vor dem Besungenen, ist sein Hauptzweck, das Publikum zu unterhalten, so ist seine Stellung zur epischen Tradition eine andere, dem freien Schalten der Phantasie viel mehr Spielraum gegeben. Solche Sänger, fast immer Berufssänger, hören viele Lieder, viele Stoffe, verbinden Motive, übertragen solche, ver- binden älteres Geschehen mit neuem, typisieren die Gestalten und gewinnen stärkste Bedeutung für die Entwicklung der epischen Er- zählungstechnik. Ist das Lied in den Händen dieser Sänger, so ist das Stadium der Überwucherung der historischen Grundlagen des Liedes mit Motiven gegeben. Diesen Fall können wir am besten auf russischem Boden bei den skomorochy, im geringeren Umfange auch auf ukrainischem Boden bei den starci beobachten. Die skomorochy entsprechen im wesentlichen den westeuropäischen Spielleuten und stehen in den Anfängen auch in direktem Zusammenhang mit ihnen. Wir haben urkundliche Beweise, daß die Spielleute schon im 11. und 12. Jahrhundert nach dem slavischen Südosten gekommen waren‘). In die Hände dieser berufsmäßigen Sanger, der russischen skomo- rochy, war die epische Überlieferung im Ausgang der Kiever Epoche im 13. und 14. Jahrhundert übergegangen. Sie waren Sänger, Schau- spieler, Jongleure, Musikanten und Tänzer in einer Person und spielten vor allem in der Moskauer Epoche im 15., 16. und 17. Jahr- hundert eine große Rolle. Sie spielten nicht nur an den Höfen der Zaren, sondern auch in den reichen Bürgerhäusern der großen Han- delsstadte, wie in Novgorod. Bei ihnen stand im Vordergrund die zanimatel’nost’, das Interessante, die Unterhaltung. Sie sangen, was gefiel, wodurch der Anreiz zur willkürlichen Umgestaltung, zum Hineintragen von Unerhörtem und Neuem, aber Interessantem, im größten Umfange gegeben war. Damit entstanden die Bylinenfabeln, die Bylinenmärchen, die in der russischen epischen Volksdichtung so charakteristisch sind. Als die skomorochy im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts durch die wiederholten Ukazy (Erlässe) des Stoglavy Sobor (Hunderterrat) immer mehr verfolgt wurden nach der offi- ziellen kirchlich byzantinischen asketischen Auffassung war ihr Tun gotteslästerlich —, verschwanden sie immer mehr aus den städtischen Zentren, ein Teil ging zu den Donkosaken, bei denen sie ihre Tätig- keit fortsetzen konnten, ein Teil verkam als Landstreicher, ein Teil ging im Volke auf, und ihre Nachkommen waren als durch ihre

slobodom; gusle su narodu davale nadu na bolju buducnost, a pjesma slobode i junaštva, udruživala je sve one Sto pate u slogu. . .. One (gusle) su održale u narodu vjeru, slobodu i hrabrost. Pokoljenja su se zapajala junačkom slavom.“ Knjiž. Sev. IV, S. 316— 17.

10) Bezeichnungen joculatore (čech., poln.), vaganti, žáci (djaci) (čech.), Spilmani (südslav). In einer kirchenslavischen Nomokanonübersekung findet 18 5 Medeo der Ausdruck Spilman. Vgl. V. Jagić, Nad jsi

SNF 5 69

Sangeskunst angesehene und zur Intelligenz gerechnete Sänger von Volksliedern in den großrussischen Gebieten, in denen sich im 19. Jahrhundert die russischen Bylinen noch am besten erhalten hatten, in den abgelegenen verkehrsarmen, waldreichen Gouver- nements Archangelsk, Olonec noch anzutreffen. Ein etwas anderes Moment brachten die Entwicklung der wesiukrainischen dumy die Sänger, genannt starci, nišča bratija, fahrende Pilger, die unter dem Schuge der Kirche standen und in den neben den Kirchen gebauten Spitali und Schulen ihr Unterkommen fanden. In diesen Spitälern und Schulen entstand ein halb volkstümliches, halb literarisches Milieu**), welches die Interessen der Geistlichkeit, der Kosaken und der gesamten Bevölkerung vereinte. Aus diesem Milieu gingen auch Schöpfer und Sänger von dumy, die erwähnien starci (Greise) hervor. Diese starci haben ursprünglich Psalmen im Volke gesungen, welcher Umstand auch auf die Konstruktion der dumy einwirkte. Aus dieser engen Verbindung zwischen Kirche und nationalem Volksgesang im 15. und 16. Jahrhundert ist auch die tiefe religiöse Grundeinstellung in den dumy dieser Zeit verständlich, ferner der Einfluß des Kirchengesanges in der Melodie.

Auch die soziale Stellung und Wertung des Sängers spielt eine Rolle in der Entwicklung der Volksdichtung: Wir wissen, daß in der jugoslavischen Volksepik in der ersten Zeit Mitglieder angesehener Klassen und Geschlechter als Sänger auftreten. Im allgemeinen können wir feststellen, daß in den Anfängen und in der Blütezeit der Sänger sich großer Achtung erfreut: so in der Kiever Epoche, in Nov- gorod, im Kosakenstaat, so unter den Hajduken und Uskoken, so bis in die neueste Zeit noch in den südslavischen Gebieten, in denen die

11) Wie ich durch den RomanistenF.Schürr gelegentlich erfuhr, spielten die Spitäler auch in der Entwicklung der französischen Volksepik eine ähn- liche Rolle. Die Bedeutung der herumziehenden Bettelmonche, die nach einer Mitteilung des Historikers Prof. N. Radojčić (Ljubljana) gewisser- maßen als Gegenleistung für die Gabe auch epische Lieder sangen, müßte noch näher untersucht werden. Auch die Rolle der bosnischen Franzis- kaner, die in den Jahrhunderten der Türkenherrschaft nicht nur geistliche Hirten, sondern durch ihre Verbundenheit mit dem Volke zum Unter- schiede von den Jesuiten und durch ihre volksnahe Haltung auch national- politische Anwälte der Interessen des Volkes waren (vgl. die literarisch- künstlerische Gestaltung dieser Tatsachen und Verhältnisse in den Werken: S. Matavulj, Bakonja fra Brne; D. Simunovic, Kukavica; Ivo- Andric, U zindanu) darf nicht übersehen werden. Über die Kultur- bedeutung der bosnischen Franziskaner vgl. J. Jelenić, Kultura i bosanski franjevci. I, II. Sarajevo 1915.

Auf die Annahme des dalmatinischen Literarhistorikers A. Petravic, (Split), daß geschulte Kleriker, die die klassische und vielfach auch die zeit- genössische westeuropäische Literatur kannten, also die djakoni in den ältesten Epochen der jugoslavischen Volksdichtung auch als Verfasser epischer Volkslieder fungierten, wurde schon hingewiesen. Durch all diese Tatsachen wird einerseits die tiefreligiose Grundauffassung der Ge- schehnisse und des Lebensschicksals, die in so vielen Liedern zu beobachten ist („sve je sveto i Cestito bilo i milome Bogu pristupa&no“) verständlich, anderseits das Hereinstromen von literarischen Stoffen aus der kirchlichen Legendenliteratur wie aus der klassischen und westeuropaischen Literatur.

66

epische Volksdichtung noch wirklich lebt und nicht nur vegetiert*), daß seine Stellung in der weiteren Entwicklung sinkt, bis schließlich in den Zeiten des Niederganges, wenn es im Volke einmal heißt (., iz mode izašlo“) Blinde und Bettler als Sänger auftreten. Wenn Frauen als Sängerinnen epischer Lieder auftauchen, wie es in Syrmien, Ser- bien im lezten halben Jahrhundert zu beobachten war, so ist das ein sicheres Zeichen des Niederganges der epischen Volksdichtung. Zusammenfassend können wir über die Bedeutung des Faktors Sänger in der Entwicklung der epischen Volksdichiung sagen: Die Sänger bringen das gemeinsame Erlebnis in dichierische Form, sie sind Schöpfer der Lieder, Träger und Verbreiter der epischen Tra- dition. Ihr Werk ist die immer stärkere Poetisierung des Stoffes und der Gestalten der Helden, die Zyklenbildung, die Ausbildung der epischen Technik. Sie sind es, die fremde Motive und Elemente hineintragen und verarbeiten, eventuell auch literarische Motive. So kamen durch Novgoroder Sänger Sagenmotive der deutschen Volks- dichtung (Orinitsage) infolge der starken Beziehungen Novgorods mit den deutschen Hansastadten in die russische Volksdichtung, so kamen durch dalmatinische Sänger auch literarische Motive und Stoffe in die volksepische Tradition.

Soviel über den Faktor Sänger. Nun wissen wir, daß der Sänger epischer Lieder seine Lieder nicht zu seinem Vergnügen singt, son- dern für ein Publikum, für Zuhörer. Für die Beurteilung des Faktors Publikum hat uns folgende Erwägung als Ausgangspunkt zu dienen: Willi Flemming bemerkte in seiner interessanten Schrift über Epik und Dramatik‘), in der er den Versuch einer Wesensdeutung dieser beiden literarischen Grundformen unternimmt, ganz richtig, daß zur epischen Ursituation zwei gehören: der Erzähler und der Zuhörer, und führt als eine derartige Ursituation die an, wie die Mutier oder die Großmutter den Kindern Märchen erzählt: „Es war einmal usw.“. Nun lehrt die alltägliche Erfahrung an Kindern, denen man aus dem Gedächtnis, also mit eventuellen kleinen Veränderungen, Märchen oder Geschichten mehrmals erzählt, daß die Kinder, also die Zu- horer, in gewissem Grade einen gesialtenden Einfluß ausüben, eine Art Korrektiv darstellen, zumal der Stoff ja für diese Zuhörer den inneren Wahrheitswert besikt. Ebenso besitzt, wie John Maier schon feststellte, für das naive Bewußtsein des Volkes das, nämlich die mythische, noch nicht rationalistisch-kritische Geisteshaltung*®), ist ja

12) Die junge Frau des Hauses, in dem epische Lieder vorgetragen bzw. gesungen werden, kütt dem Sanger, bevor er die Gusle, das Begleit- instrument, in die Hand nimmt, die Hand und bedient stehend den Sänger während der ganzen Zeit des Vortrages bzw. während der Unterbrechungen. Vgl. N. Saulić, KnjiZ. Sever IV, S. 318.

13) W. Flemming, Epik und Dramatik. Wissen und Wirken. 27. Bd. G. Braun, Karlsruhe 1925.

14) Vgl. allgemein über den Charakter der Sprache, Literatur und Kunst in dieser Entwicklungsepoche der Völker: Mantis (Pseudonym), Die Geseke der Weltgeschichte. 4. Teil: Der literarische und sprachliche Lebens- lauf der Völker. Altona 1927.

67

auch eine Voraussekung des Bestandes der epischen Volksdichtung der sagenhafte Bericht des epischen Liedes stets die innere histo- rische Wahrheit. Ein unmittelbares Beispiel: Als gelegentlich des Vortrages einer Byline im Olonecer Bezirk im Norden Rußlands ein gebildeter, skeptizistisch eingestellter Zuhörer Zweifel darüber äußerie, daß die alten Bogatyre solche Taten vollbringen konnten, sagten ihm die dortigen Leute: „Ja, in früherer Zeit waren eben die Leute anders.“

Die Existenz eines epischen Volksliedes, seine Verbreitung und Erhaltung ist wesentlich durch das Interesse der Zuhörer bedingt. Fesselt ein Lied durch Fremdheit des Anschauungskreises und der Grundauffassung das Interesse der Zuhörer nicht, so erhält es sich nicht oder es muß vom Sänger derartig umgeformt werden, daß es dem Interessenkreise des Publikums entspricht‘). Dafür haben wir Beweise aus dem gesamten slavischen Gebiet. Ein Beispiel: Während die russischen Bylinen von den Bogatyren, in denen die Kämpfe mit den Tataren, also ein für das ganze russische Volk bedeutungsvolles Erlebnis, Allgemeingut der gesamten russischen Volksepik wurden, gingen die Lieder des Novgoroder Zyklus, in denen die wesentlichen Lebenserscheinungen der Novgoroder Republik poetische Gestaltung gefunden hatten: so einerseits der Reichtum und der Lebensaufwand der freien Handelsstadt, anderseits der Unternehmergeist und die Ziigellosigkeit der Kriegsleute, der Führer der kiihnen Handels- und Eroberungsfahrten in die fernen Länder nicht über den Novgoroder Kulturrayon hinaus.

Der Grad des Interesses des Publikums ist am stärksten, wenn die Zuhörer entweder selbst an den besungenen oder ähnlichen Ge- schehnissen beteiligt waren, wenn sie ständig vor die Ausführung ähnlicher Taten gestellt werden konnten, kurz wenn das im Liede verkörperte Kampfesethos auch ihren Lebensinhalt darstellt. Diesen Fall haben wir in den Anfangsstadien und in der stärksten Blütezeit der Volksepik: In den DruZinen des Kiever Rußlands, in den Kosaken- abteilungen, in den DruZinen der bosnischen, herzegovinischen Agas und Begs, in den bulgarischen und serbischen Haidukenbanden, bei den dalmatinischen Uskoken, in den freien Dörfern der Militärgrenze, in den patriarchalischen, sozialen und Kampfesverbänden in Monte- negro und Sudserbien. In der weiteren Entwicklung kann das Interesse eines nicht unmittelbar kriegerischen Publikums auch auf eine gewisse nationalhistorische, nationalpatriotische Tradition zurückgehen. So bei den Kosaken, so bei den Serben. Bei den Serben hielten die Kirche und die Klöster die Erinnerung an die alten

16) Die große, entscheidende Bedeutung des Publikums für die innere und äußere Gestaltung des epischen Liedes betont ganz im Sinne meiner Auf- fassung auch N. Saulić: „Učesnici kako u ideji posłanka pjesme, pravcu, osjećanju, njenom izlaganju, Jeste sredina u kojoj pala misao za sastav pjesme. Krug taj moze biti Siri ili uži, ali skoro po pravilu zajednički.“

„Narodna piesma i samim postankom svojim vodila je računa o sivarnom i istinskom osjećaju 1 da bude izraz vremena, duha, opšłeg uvjerenja i shvatanja cjeline.“ Knjiž. Sever IV, S. 311, 312.

68

serbischen Herrscher der Glanzepoche im Volke wach. In den Klostern befanden sich die Bilder dieser Herrscher, in den ständigen kirch- lichen Gebeten wurde der alten serbischen Herrscher stets gedacht’). Ebenso gedachten die Franziskaner in Bosnien öffentlich in der Kirche der im Kampfe für die Heimat um die christliche Sache gefallenen heimischen Helden.

Sehen wir also, daß das Interesse der Zuhörer eine wesentliche Voraussekung für die Entwicklung und Erhaltung der epischen Volks- dichtung ist, so drängt sich die weitere Frage auf, ob und inwieweit die Zuhörer auf die Gestaltung der epischen Lieder Einfluß ausüben. Wir haben direkte Beweise aus dem südslavischen Gebiet*’) dafür, daß das Publikum auch einen gestaltenden Faktor darstellt; daß es z. B., wenn ihm etwas nicht richtig erscheint, den Sänger unterbricht: „Tako nije bilo“ (So war es nicht). Wir wissen ferner, daß die Sänger inhaltliche Anderungen vornehmen je nach der Zusammensetzung ihres Publikums (ob Orthodoxe, Katholiken oder Moslims), um nicht die Gefühle des Publikums zu verleben. Wir wissen, daß ein und derselbe Sänger, wenn er nicht schon zum gewöhnlichen Rezitator herabgesunken ist, der nur trocken, gedächinismäßig ein Lied vor- trägt, sondern wenn er noch volksepischer Sänger, also Gestalter ist, ein und dasselbe Lied innerhalb 24 Stunden nicht ganz gleich wieder- holt, daß er sogar Änderungen, Kürzungen und Erweiterungen vor- nimmt, je nachdem das Publikum Zeit zum Zuhören hai**). Das ein- zige Feste ist ihm in der Blüteentwicklung nur das Mosaik formel- hafter Wendungen und Beschreibungen’**). Wir erfahren aus den westukrainischen Gebieten, daß die Kobzaren durch das Publikum gegen ihren eigenen Willen mehr oder minder gezwungen wurden, andere Stoffe zu bringen, in einer Zeit, als die Tatareneinfalle und

16) Vgl. Vas. Marković, Klitori, njihove duZnosti i prava. Prilozi za knjiZevnost, jezik, istoriju i folklor Knj. V (1926), S. 100~24, bes. 123—24.

17) Mitgeteilf von M. Murko in den eingangs erwähnten „Berichten“.

18) N. Saulić behauptet sogar, daß die Entstehung der Kurzform, des deseterac, sowie die kürzere Fassung von Liedern, durch das soziale Milieu, in dem das Lied vorgetragen wird, durch die Zuhörer bedingt sei. „Razlog kraćem obliku jesu sama sredina, njihova cilj s obzirom na vrijeme i stanje usw. Knjiž. Sever IV. S. 314. Damit wäre ein Großteil der seinerzeitigen Annahmen A. Soerensens, A. f. sl. Ph. XV, S. 1 fl., S. 204 ff., hinfällig.

19) Wie weit in einem sozialen Milieu, in dem die epische Volks dichtung noch frisch lebt, die Kenntnis dieser formelhaften Wendungen und Be- schreibungen, kurz der epische. Stil, in das sprachliche Bewußtsein des betreffenden Volkskreises eindringt und damit geradezu sprachliches Ge- meingut wird, zeigt die Mitteilung von Nov. Saulié, daß er in der Her- zegovina und im Sandžak vor kurzem noch wiederholt Leute angetroffen habe, die imstande waren, irgendein Geschehnis ex tempore im Stil und in der Rhythmik der epischen Volkslieder wiederzugeben. Vgl. Knjiž. Sever IV, S. 319. Wie ich auf meiner letzten Studienreise an der süddalmatinischen Küste durch einheimische Gewährsmänner erfahren konnte, wurden und werden in der Nordwesiherzegovina auch Geschehnisse der neuesten Zeit, der Umsturz 1918, die politischen Parteikämpfe, Gemeinderatswahlen, ja sogar der lebte politische Systemwechsel im Jänner 1929 u. a., in Liedern im Stil der epischen Volkslieder besungen.

69

die Kämpfe gegen die Türken keine unmittelbare Aktualität mehr besaßen, dafür aber die sozialen Kämpfe im Vordergrund des Er- lebnisses standen, die Kämpfe gegen die vordringenden polnischen Grundherren, gegen die 3ljachta (vrazja panScina wird sie gelegent- lich in einem Liede genannt), die systematisch darangingen, die bisher freien Kosaken zu Leibeigenen und Hörigen zu machen, ferner die sozialen Kämpfe gegen die Juden, die Gewerbe, Handel und Zölle in ihre Hände bekommen hatten und daher als sozial drückendes Element empfunden wurden. Damit wurden die Heroen der dumy der alten Zeit stufenweise in den Hintergrund gedrängt.

Wir wissen, daß die skomorochy am Hofe Ivans des Schrecklichen die Besingung der Kämpfe um die Ausgestaltung des Reiches, vor allem um die Eroberung Sibiriens, die Kämpfe gegen die Kosaken im offiziellen staatspolitischen Sinne gestalten mußten, daß der frei- heitliche Geist, der in den alten Bogatyrenliedern der Kiever Epoche herrschte, der absolutistischen Auffassung des samoderZavie nicht willkommen war und revolutionär klang; daß aber diese gleichen Sänger, als sie nach der Vertreibung mit ihrem Repertoire zu den Kosaken flüchteten, sich der entgegengesegten, selbstbewußten frei- heitlichen Auffassung, der Zensur der neuen Zuhörer, unterwerfen bzw. anpassen mußten. So mußten die Sänger, wenn sie in den folgenden Jahrhunderten auf den russischen Gutshöfen sangen, ihre Auffassung der sozialen und politischen Auffassung dieser Zuhörer anpassen. Wir finden ferner auf jugoslavischem Boden in der Auf- fassung des angeblichen Verrates, des izdajstvo Vuka Brankovića (Bog ubio Vuka Brankoviéa! On izdade tasta na Kosovu, I odvede dvanaest hiljada, Braćo moja, ljutog oklopnika. Proklet bio i ko ga rodio Prokleto mu pleme i koleno! Kosovski boj), daß die Opportunitätspolitik gegenüber den Türken, die übrigens nicht vereinzelt war, in den Liedern nicht sanktioniert wurde. Ein Beweis dafur, daß die Lieder in den serbischen Feudal- kreisen entstanden, die auf dem intransigenten Kampfesstandpunkt standen?®).

Als die Serben durch das immer starkere Vordringen der Turken sich aus ihren früheren Siedlungen in Sudserbien nach Norden und Westen verschoben, nach Kroatien, Slavonien, Dalmatien und Sud- ungarn, hatten sie die epische Überlieferung über die Kämpfe der ersten Jahrhunderte der Türkeneinfälle mitgebracht. In den neuen Kämpfen von dem neuen Siedlungsgebiet aus, in denen sie zusammen mit den Kroaten jahrhundertelang in Angriff und Abwehr bluteten, traten neue historische Personen und Ortlichkeiten in den Mittelpunkt des Interesses, und wir sehen jetzt, wie die Gospoda Ugričići (die ungarischen Herren: Sibinjanin Janko, Svilojevié u. a.) in den Liedern in den Vordergrund traten. Ähnliches können wir bei den Uskoken in Dalmatien beobachten.

Daß die Zusammensefung und die soziale Stellung des Publikums

o Vgl. M. Savkovié, Narodne pesme kao dokument za socijalni Zivot u srednjem veku. Knjiz. Sever IV, S. 302.

70

auf die soziale Auffasung der Helden einwirkt, dafür haben wir eine Reihe von Belegen. Nur ein Beispiel: Ilja Muromjec, die am stärksten verbreitete Heldengestalt in der russischen Volksdichtung, wird in der Kiever Epoche als Bogatyr, als Herr von hoher Abkunft dar- gestellt, in der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert ist er bereits der alte Kosak (,staryj kazak“), damit Prototyp einer ganz anderen Klasse, des freien Kampfes im Kreise der tovary3i, der Kameraden, für Freiheit und Unabhängigkeit. Später, als im 18. Jahrhundert die Kosaken vernichtet und in den Städten eine neue Kultur sich zu ent- wickeln begann, in der kein Platz und kein Verständnis mehr für die alten Heldenlieder war, und die epischen Lieder in den abgelegenen nördlichen Bauern- und Fischerdörfern die lebte Heimat gefunden hatten, wird dieser gleiche Ilja Muromjec zum krestjanski syn, zum Sohn einfacher Bauersleute, in dem der Glaube an die ewigen Kräfte des Volkes Verkörperung fand*). Wir sehen an diesem Beispiel, wie stark die Assimilationskraft des Publikums gestaltenden Einfluß nimmt. Auch in der südslavischen Volksepik sehen wir einen ähn- lichen Weg der Demokratisierung der Helden. In den Kampfesver- bänden der Kosaken und Haiduken, die wesentlich auf Kameradschaft aufgebaut waren, ist der Held des Liedes der Kamerad, der Mann aus dem Volke, der nur durch seine Tapferkeit und Stärke hervorragt.

Zusammenfassend können wir feststellen, daß die Existenz, die Verbreitung und die Erhaltung der Lieder von dem Interesse der Zuhörer abhängig ist, daß die Zuhörer einen gestaltenden Einfluß auf die Stoffauswahl und auf die Grundauffassung ausüben.

Es wäre noch die Frage zu beantworten: WelcheFaktoren erhalten und gestalten das Interesse des Pu- blikums?

Das Interesse des Publikums ist bedingt und wird wachgehalten durch das Vorhandensein und den Charakter des epischen Milieus. Unter epischem Milieu verstehen wir das Bestehen derartiger Lebens- verhältnisse, die den in den Liedern geschilderten Vorgängen, Hel- dentaten, Kämpfen und Leiden ihrem Gehalte nach Aktualitäts- charakter verleihen, daß sich also derartige oder ähnliche Gescheh- nisse jederzeit erneuern können, daß der einzelne Zuhörer jederzeit in Situationen kommen kann, Ähnliches zu vollbringen oder Ahn- liches zu erleiden: Also, um nur zwei Fälle zu bringen, die typisch sind für Tausende durch Jahrhunderte wirklich geschehene Fälle, daß ein Serbe oder Bulgare, der, um die eigene Ehre, die seiner Familie, seines Weibes und seiner Töchter, kurz um die eigenen primitivsten Menschenrechte vor den frechen Zugriffen der türkischen Herren und ihrer Söldlinge zu schüßen, einen oder mehrere der Frechlinge über den Haufen schießt und dann gezwungen ist, um nicht gefoltert und

21) Es tritt hier die gleiche Auffassung zutage, wie sie in dem Gedicht Dehmels „Anno domini 1812“ poetisch gestaltet wurde:

„Aber unser Mütterchen, das heilige Rußland, Hat viel tausend, tausend stille, warme Herzen: Ewig, ewig blüht das Volk!“ |

71

gepfählt zu werden, in die Berge und Wälder als Haiduk oder als Uskok über die Grenze zu flüchten und ein Franktireurdasein zu führen®). Oder ein typisches Beispiel aus den ukrainischen Ver- halinissen der Tataren- und Türkenzeit: Durch Jahrhunderte wufien und fühlten die Zuhörer der dumy, daß jederzeit auch ihre Hütte von den hereinsiürmenden Tataren niedergebranni, die Männer als ‚Galeerensklaven verkauft und geblendet, die Frauen und Mädchen den Soldaten preisgegeben und schließlich auf den kleinasiatischen Sklavenmärkien landen können.

Es laßt sich für den Gesamibereich der epischen Volksdichtung der Slaven feststellen, daß die Blütezeit derselben tatsächlich mit dem Vorhandensein, mit der Dauer des epischen Milieus zusammen- fall. Das epische Milieu dauerte im allgemeinen im südslavischen Teil vom 14. bis zum 19. Jahrhundert (für die nördliche und westliche Zone nur bis zum 18. Jahrhundert, für das eigentliche Serbien bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, für Bosnien und Bul- garien bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, für einige Ge- biete Mazedoniens, für den Herd der heutigen Komitatschibanden, und für Montenegro bis ins 20. Jahrhundert), für den ostslavischen Teil vom 11. bis zum 17. bzw. 18. Jahrhundert. Die letzfen Ereignisse, die auch eine Reihe von neuen russischen historischen Liedern her- vorriefen, waren die Maßnahmen gegen die Kosaken, gegen die Schüßen (strelci) und gegen die religiösen Sekten.

Für die Gestaltung und Entwicklung der epischen Volksdichtung selbst sind der spezielle Charakter und die Veränderungen des epischen Milieus von Wichtigkeit, ferner die Art, in welcher das epische Milieu im Bewußtsein des Volkes aufscheint und zum Er- lebnis wird. In dieser Hinsicht können wir folgendes feststellen. In bezug auf die Aktualität der Kampfe und der geschilderten Vor- gänge sehen wir, daß zwar im allgemeinen blutige, kriegerische Kämpfe und Heldentaten im Vordergrunde stehen. Doch finden wir unter den russischen Bylinen auch eine ganze Gruppe, die vor- wiegend im Novgoroder Milieu entstand und weniger kriegerisch- heroischen als vielmehr novellistischen Charakter hat, in denen die Schilderung großen Reichtums und Aufwandes, die Schilderung von Streitigkeiten zwischen städtischen Familien, Liebesaffären, Braut- raub, Frauenraub mit den dazugehörigen Kämpfen im Vordergrund stehen, also Ausdruck eines Milieus, das nicht mehr im engeren Sinne als heroisch bezeichnet werden kann. Da jedoch auch in diesen städtischen Kreisen vor allem im 13., 14. und 15. Jahrhundert, in der Blütezeit des Novgoroder Stadisiaates, der alte Wikingergeist lebendig war, war auch hier das Milieu zur Entwicklung einer epischen Volksdichtung gegeben.

Bei der Betrachtung des besonderen Charakters des epischen Milieus und seiner Bedeutung für die epische Volksdichtung sehen

33) Vgl. als Beispiel die Erzählung des Hajduken Starina Novak, wie er Hajduk geworden ist, in dem serbokroatischen Lied: Starina Novak i knez Bogosav. (Bei Vuk VII, S. 345 eine Variante: Sa Sta Novak ode u hajduke.)

72

wir ferner, daß nur eine bestimmie Art von aktuellen Kämpfen und Heldentaten, eine bestimmte Art der Kampfesmöglichkeit als aus- lösendes Moment für die Entstehung, Erhaltung und Weiterbildung der Volksepik wirksam wird. Die soziale Ordnung muß eine der- artige sein, daß für den einzelnen Betätigungsmöglichkeiten für in- dividuelles Heldentum und für individuelle Befriedigung der Taten- lust vorhanden ist. So in der Kiever Epoche im Rahmen der Gefolg- schaft des Fürsten, so bei den Kosaken und Haiduken, so im freien Montenegro. Tatsächlich können wir feststellen, daß die Kosaken- und Haidukenabteilungen in ihrem Blütezusiand als die stärksten Pflegestätten epischer Volksdichtung fungierten®). Dagegen bildet die Teilnahme am Kampfe in der auf strenge Unterordnung auf- gebauten regulären Armee kein episches Milieu, das derartige Emo- tionen auslösen würde, die das Interesse und die Produktion epischer Lieder fördern würden. Als die Reformen Peiers des Großen zur Aufstellung einer regulären Armee führten und damit die alten Kosakenabteilungen und Schüßenabteilungen größtenteils durch Ge- walt in das neue System eingegliedert wurden, verfielen die alten historischen und epischen Lieder in diesem Milieu quantitativ und qualitativ rapid. Die Ereignisse und Kriegszüge des 19. Jahrhunderts erweckten kein Echo mehr. Das Volk nahm an ihnen passiv teil. Ähnliche Beobachtungen können wir in der ukrainischen und süd- slavischen Volksdichtung machen.

Diese Beobachtungen zeigen uns, daß ein bestimmter Grad per- sönlicher Bewegungsfreiheit, sozialer und wirtschaftlicher Freiheit als Vorbedingung für das in den epischen Liedern durchwegs zu- tage tretende Selbstbewußtsein notwendig ist, daß wirtschaftliche und soziale Hörigkeitsverhältnisse wie die Leibeigenschaft der Weiterentwicklung der Volksdichtung nicht günstig sind. Das beweist uns die Tatsache, daß sich die Heldenlieder am längsten und besten in den Gebieten erhalten haben, in denen diese individuelle Be- wegungsfreiheit gegeben war, so z. B. in den herzegovinischen Bergen und in den freien Steppen der Donkosaken. Das beweist uns ferner die Tatsache, die wir bei den Großrussen und Ukrainern beobachien können, daß das ukreplenie, die Einführung der Leib- eigenschaft im Moskauer Staat, zerstörend auf die Verbreitung und Weiterentwicklung der epischen Volksdichtung einwirkt. Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die letzten Reste der freien Ukraine und des Hetmanats vernichtet waren, die Leibeigenschaft nach dem Muster der übrigen russischen Gebiete eingeführt und damit auch die soziale Freiheit vernichtet war, folgte ein Rückgang und Niedergang der epischen Volksdichtung, während die Kämpfe des 17. Jahrhunderts bei den freien Kosaken noch ganze Zyklen von Liedern hervorgebracht hatten. Wir haben leider keine historische Geographie der Verbreitung der einzelnen Lieder, aber die Auf- zeichnungen auf dem russischen Gebiet im 19. Jahrhundert zeigten,

33) Näheres darüber werde ich in der angekündigten Studie vorbringen.

75

daß sich Bylinen nur dort erhalten hatten, wo eine relative soziale Freiheit bestand?®).

Wir sehen ferner, daß auch die Aktualität speziell sozialer Kämpfe und Bedrückungen beim Vorhandensein einer starken Tra- dition ehemaliger Freiheit Ausdruck in der epischen Volksdichtung finden kann. Im 17. Jahrhundert sette in der Chmelnicky-Epoche bei den westlichen Ukrainern ein sozialer Umbildungsprozeß, damit ein sozialer Kleinkrieg der Kosakenbevölkerung gegen die neuen polnischen Grundherren und die Juden ein, ein Kleinkrieg, der be- kanntlich mit der politischen und sozialen Unterwerfung der Bevol- kerung endete. Diese sozialen Reibereien führten zur Entstehung einer ganzen Reihe neuer, in der Schilderung der Verhältnisse un- gemein lebenswahrer und erschitternder Dumen. Das interesse des Publikums an den heroischen Taten der alten Helden geht zurück, damit auch das heroische Element. Im Sänger und im Publikum kommt eine skeptische Grundeinstellung gegenüber den heroischen Heldentaten zum Vorschein. Mit dem Fortschreiten des Druckes der Leibeigenschaft, die fur die einst freien Kosaken hundertfache Ver- letzung ihrer primitivsten Menschenrechte durch die neue Herren- schicht bedeutete: die Männer wurden geprügelt, die Frauen und Mädchen waren den Gelüsten der neuen Herren ausgeliefert be- stand im Volk kein anderes Interesse mehr, als das an der Linderung der sozialen Not. l

Ein weiteres Moment bildet die Ethik des Kampfes: Wir können beobachten, je höher die ethische Sanktionierung des Kampfes durch religiöse, soziale oder nationale Motive ist, desto stärker die ge- staltende Kraft. Also das Bewußtsein, gegen die Heiden, gegen die Feinde des christlichen Glaubens zu kämpfen, gegen Tataren und Türken: Das Bewußtsein, Verteidiger, Anwalt der Freiheit des Volkes, sowie sein Rächer zu sein.

24) Sehr interessante Aufschlusse über die Bedeutung des epischen Milieus bringen auch die Ergebnisse der Forschungen über den gegen- wärtigen Stand der russischen Volksdichtung in den nordrussischen Ge- bieten, die die Bruder Sokolov in den lebten Jahren anstellten. J. So- kolov war in der Lage, im Gouvernement Olonec noch zirka 300 Bylinen von den alten Bogatyren, durchwegs gesungen bzw. rezitiert von alten Sängern (meist über 60 Jahre alt), aufzuzeichnen. Dabei war festzustellen, daß die Bylinen mehr realistischen, novellistischen Charakters, in denen Liebesaffären und Probleme des familiären und sozialen Lebens im Vorder- grund stehen, bevorzugt werden, während die Lieder mit phantastischem Inhalt, die Kämpfe der Helden mit Drachen usw. immer weniger Interesse finden. Auch in den Märchen ist ein Vordringen der realistischen, satirischen und humoristischen Elemente zu beobachten. Also auch hier eine fort- schreitende Verdrängung der mythischen Geisteshaltung der Frühentwick- lung durch die beginnende Rationalisierung und Iniellektualisierung der Sozialpsyche, damit ein Vordringen, ein stärkeres Bewußtwerden der Tat- sachen des realen Lebens.

Fur den Niedergang der epischen Volksdichtung auch in diesen Ge- bieten ist die Tatsache charakteristisch, daß die jungen Leute von den Bylinen keine Ahnung haben und auch wenig interesse, so daß Sokolov zum Schlusse kommt, daß auch hier die Bylinenproduktion in 10—15 Jahren ihr Ende finden wird.

74

Im allgemeinen können wir feststellen, daß in der Blütezeit der epischen Volksdichtung eine heroische tragisch-schicksalsmäßige Auffassung des Geschehens und des Lebens zu beobachten ist. Gerade die südslavische Volksepik, in der bei der langen Dauer und der relativen Gleichartigkeit des epischen Milieus in dieser Hinsicht bessere Beobachtungen zu machen sind, da hier der Umgestaltungs- prozeß nicht so weit fortgeschritten ist wie in der russischen Bylinen- dichtung, enthält einzigartige Lieder tragisch heroischer Lebens- auffassung].

Die Grundauffassung in den Liedern wird auch beeinflußt durch das Moment, ob die Bevölkerung mehr aktiv oder passiv die Ereig- nisse hinnimmt bzw. hinzunehmen gezwungen ist: Ein Vergleich zwischen den südslavischen Heldenliedern, in denen eine trofige aktivistische Haltung vorwiegt (Beispiele: Siarina Novak, Stari Vujadin) mit den ukrainischen Dumy der Tatarenzeit, in denen eine elegische, fast lyrische Grundnote vorwiegt, zeigt uns die ver- schiedene Reaktion.

Was die Nachwirkungen der Veränderung des epischen Milieus auf die Volksdichiung betrifft, können wir im allgemeinen feststellen, daß mit der Pazifizierung des Milieus ein Zurückgehen der heroischen, man könnte sagen der blutigen Elemente, und ein Zurückgehen der tragischen Grundauffassung zu beobachten ist. An Stelle der Be- schreibung der Kämpfe tritt immer mehr die Beschreibung von Fest- gelagen, Hochzeiten, Streitigkeiten zwischen einzelnen Dörfern. Es beginnt eine Überwucherung mit Novellenmotiven (Beispiele: Die Bylinen des Novgoroder Zyklus), oder mit idyllischen Motiven (Bei- spiele: Dumy des 17. und 18. Jahrhunderts). Die Helden werden auch der humoristischen Seite nach gesehen (Kraljevié Marko in einzelnen Liedern der neueren Zeit), oder es beginnt eine ironisch-skepti- zistische Einstellung Platz zu greifen, wie in den Dumy des 18. Jahr- hunderts; ein Zeichen des beginnenden Niederganges.

Die Auflösung des epischen Milieus, damit auch der Rückgang des Interesses an den epischen Liedern und der Verfall der epischen Volksdichtung ist, wie uns die Beobachtungen auf russischem Boden im 18. Jahrhundert, vor allem aber die Beobachtungen auf serbischem Boden im 19. Jahrhundert**), sowie die Erfahrungen nach der Ok- kupation von Bosnien und Herzegovina beweisen, gegeben durch das Eindringen der neuzeitlichen modernen Administration und Wirt- schaftsordnung und Rechtspflege, durch die allgemeine Entwaffnung, durch die Bindung des einzelnen an einen festumgrenzten bürger- lichen Wirkungskreis, durch das Eindringen der modernen Bildung, der Kenninis des Lesens und Schreibens. Die kriegerische alte Ethik des Heldentums wird verdrängt durch eine neue Ethik der regulären Arbeit: (S. Kranjčević: Na rad, na rad, u radu je spas). Das in den

35) Es sei hier nur auf ein Beispiel verwiesen, auf das einzigartige Lied Smrt majke Jugovića.

ss) Vgl. Sv. Vulović, Prilog poznavanju ung stanja usmene srpske poezije. Godišnjica "Nikole Čupića VII, 335 ff.

75

Liedern Besungene wird zum Anachronismus. Die alten Heldenlieder werden verdrängt durch leichifertige Soldatenlieder (sremske pesme, ferner die Soldatenlieder im nachpetrinischen Rußland). Nach. den Beobachtungen auf südslavischem Boden müssen wir allerdings fest- stellen, daß bei sehr langer Dauer des epischen Milieus und der mündlichen Liedertradition das Interesse auch bei veränderten Zeit- verhalinissen nicht enischwindet, vor allem in den Gebieten, die von den Kulturzentren weiter entfernt sind. Man beginnt jetzt auch die alten Lieder aus gedruckien Liedersammlungen zu lesen und vor- zulesen, also die mündliche Tradition macht der literarischen Plak.

Bei dieser Bedeutung des epischen Milieus für die Entwicklung und Erhaltung der Volksepik verstehen wir nun auch, warum bei den Polen und Tschechen keine bemerkenswerte epische Volksdichtung anzutreffen ist. Hier fehlte das epische Milieu im eigentlichen Sinne, die allgemeine geschichtliche, die staatlich-wirtschafilich-soziale Ent- wicklung verläuft im wesentlichen in den gleichen Bahnen wie in Westeuropa”). Es dürfte also die Behauptung Jagié’s**), daß der Charakter der Tschechen und Polen der Bildung einer epischen Volksdichtung nicht günstig sei, nicht das Wesentliche getroffen haben.

Zum Abschluß ein Wort über die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser epischen Volksdichtung der Slaven: Diese epischen Lieder, einzigartige künstlerische Zeugnisse von Völkerschicksalen, poetischer Widerhall von tausendfachem trokigen, heroischen Mannesmut und tausendfachem, ebenso heroischen Mutterleid, sind zu werten als Kulturdenkmäler einer Epoche, in der die slavischen Völker, die am meisten dem Ansturm der halbbarbarischen turkotatarischen Reiter- völker ausgesetzt waren und in der Abwehr dieser Expansions- bestrebungen Asiens und des Orients eine geschichtliche Sendung im Interesse der gesamten europäischen Kuliurmenschheit erfüllten»), ehrenvoll das ihrige beigetragen haben, daß sich in Mittel- und Westeuropa eine höhere Kultur entwickeln konnte. Damit traten die Slaven nicht nur als Empfangende, sondern auch als Gebende in den Kreis der europäischen Kulturvölker ein.

37) Vgl. O. Halecki, L’histoire de l'Europe Orientale. Sa division en €pogues, son milieu géographique et ses problémes fondamentaux; ferner M. Handelsman, Féodalité et féodalisation dans l'Europe Occi- dentale. In: La Pologne au Ve Congrés International des Sciences Histori- gues, Bruxelles 1923. Varsovie 1924.

28) Rad Jsi. Ak. 37, S. 59, 71.

*) So faßt auch J. Bidlo den Sinn der slavischen Geschichte in seinem neuen großzügigen Versuch einer Synthese. Vgl. Dějiny Slovanstva, S. 22, Prag 1927. Slované. Kulturní obraz slovanského svéta. Dil l.

76

MISCELLEN

EIN BRIEF DES FÜRSTEN N. G. REPNIN AN A. W. SCHLEGEL

Von M. Alekseev (Irkutsk, Universitat).

Der unten angeführte Brief, jetzt in der Handschriftenabteilung der Bibliothek der Staatsuniversitat in Irkutsk befindlich, war einst Bestandteil einer hervorragenden Autographensammlung, die I. I. Kuris gehorte. Auf seinem Gute Kurisovo-Pokrovskoe, ca. 60 Kilometer von Odessa entfernt, vereinigte Kuris eine Reihe von Sammlungen sein reiches Familienarchiv, dessen Anfänge noch vom Ende des 18. Jahrh. herrühren, eine kostbare Bibliothek, ein ganzes Altertumsmuseum und eine Bildergalerie. Leidenschaft- licher Altertümerliebhaber und Kollektionär, benutzte Kuris, besonders auf seinen häufigen Auslandreisen, jede Möglichkeit, seine Handschrifiensamm- ung zu vergrößern und zu vervollständigen, woraufhin seine Sammlung schließlich über 3000 Briefe und Dokumente, die auf hervorragende Persön- lichkeiten von historischer und literarischer Bedeutung des 18. und 19. Jahrh. Bezug hatten, umfaßte. Unter anderen Handschriften befanden sich hier 2. B. Briefe von Mickiewicz, Puškin, H. Heine; zahlreiche Dokumente ge- hörten der Epoche Napoleons und ihren führenden Männern. I. Kuris selbst war kein Forscher, stellte aber gerne seine kostbaren Schübe jedem Ge- lehrten und Liebhaber für Forschungs- und Publikationszwecke zur Ver- fügung. Briefe Peters d. Gr., die Kuris zufällig in Paris erworben hatte, schenkie er der Russischen Öffentlichen Staatsbibliothek in Petersburg. Dokumente aus der Kuris schen Sammlung veröffentlichten seinerzeit D. F. Kobeko, P. Majkov, der Herausgeber des „Russkij Archiv“ P. I. Bartenev, Herausgeber der „Russkaja Starina“ M. I. Semevskij u. a., vor kurzem auch der Autor dieser Zeilen).

Diese Publikationen erschopfien aber keineswegs die großen Reich- tumer dieser Sammlung. Eine teilweise Ursache dafür lag in der Entfernung der Sammlung von großen Forschungszeniren; aus demselben Grunde war sie auch verhältnismäßig wenig, selbst in fachmännischen Kreisen bekannt. Ihr plötzlicher Ausverkauf, von unwissender und gieriger Hand ausgeführt, verursachte nun das spurlose Verschwinden einer Anzahl von kostbaren Schätzen dieser Sammlung und ihre endgültige Zerstreuung in vielen Hän- den?). Ein Teil der Sammlung geriet übrigens nach der Revolution in die Bibliotheken von Odessa (Öffentl. Staatsbibl.) und Leningrad („Pu3kin-Haus“), in der lebten Zeit auch in die bedeutende Bibliothek der Irkutskischen Uni-

1) M. Alekseev, Voltaire et Schouvaloff, Fragmente inédits d’une corre- spondence franco-russe au XVIII s., Odessa 1928.

2) Die Nachrichten über diese berühmte Sammlung, welche uns S. Mic- lov („Vremennik obScestva Druzej russkoj knigi“, Paris 1925, I, S. 47) auf- führt, sind nicht ganz richtig. I. Kuris war kein Facharzt; seine Sammlung befand sich nicht im Bessarabischen Gouvernement, sondern im Gouverne- ment Cherson. Die näheren Auskünfte über die Sammlung kann man finden

77

versität. Es ist interessant zu bemerken, daß ständige Beziehungen des Besigers zu dem bekannten Archivisten Etienne Charavay „ce savant modeste“, nach den Worten seines Biographen, „entre les mains duguel sont passés tant de documents importants“*) den schnellen Wuchs der Kuris- schen Sammlung begünstigten. Kuris erwarb bei diesem angesehenen An- tiguar im Laufe von mehreren Jahren Handschriften, unter denen ihn in be- sonderer Weise alles auf Rußland und Rußlands historische Persönlichkeiten Bezügliche interessierte®). Eines dieser derartig erworbenen Dokumente einen Brief des Fürsten Repnin an August Schlegel (erworben, laut einer Notiz des gewesenen Inhabers, in einer Pariser Auktion bei Charavay am 24. März 1888), bekannt zu machen, ist der Zweck dieser Notiz.

Der Autor des Priefes, Fürst Nicolaj Grigor’evié Repnin (1788—1845) wurde von seinen Zeitgenossen’) als „ein Mann außerordentlichen Geistes und Herzens“ charakterisiert. Der Spruch der Geschichte stimmt nicht in vollem Maße mit diesem Urteil überein. Wir wissen aber, wenn er auch nicht zu den bedeutenden Staatsmännern der Zeit gerechnet werden kann, so war er doch vor allem seinem Dienst und seiner Pflicht ergeben. Gebildet, groß- herzig, aber häufig recht sorglos, verstand er die Menschen an sich zu fesseln und sich allgemein beliebt zu machen. In Erinnerungen und Er- zählungen seiner nächsten Zeitgenossen steht er vor unseren Augen als ein letzter Auswuchs des prachtliebenden 18. Jahrh. mit seiner großzügigen Lebensart und den märchenhaften Episoden seines Lebensschicksals, das so glücklich begonnen und so traurig endete . . . Die Geschichtschreibung hat Repnin zu Unrecht vernachlässigt. Wir besitzen keine uns genügende Biographie dieses Mannes®). Die russische historische Literatur wirft auch

in der Notiz A. I. Markenvié: „J. I. Kuris (1848—1898)“ in: „Zapiski J. Odessk. obS¢. ist. i drevn.“, Bd. XXII, SS. 79-81; vgl. ebd. Bd. VIII, S. 278—288, G. P. Danilevskij: „Archiv pomeSéikov Kuris“ in „Zurn. Min. nar. prosv.“, 1856, Bd. XCI, VII, 30—32. Uber Puškins Handschriften aus dieser Samm- lung schrieb ich gelegentlich anderwärts: S. „Puškin. Stat’i Materialy.“ Izd. Odessk. Doma Uéenych. (Jahrg. I) Odessa 1925, S. 57. Die Spuren der Autographen H. Heines sind jebt verloren. Uber die anderen Abteilungen dieser Sammlung gibt eine annähernde Vorstellung das Buch: „Snimki o predmetov i kartin iz sobranija J. I. Kurisa“ (Odessa 1886), eine prachſvolle Ausgabe in einer geringen Zahl nur für Teilnehmer des Odessaer Archeolo- gischen Kongresses und für einige Bekannte gedruckt (im Buchhandel nicht erschienen). Über die Bildergalerie, die sich gegenwärtig, wie es scheint, in Dresden befindet, s. die Notiz von E. Glollerbach] in der Zeitschrift: „Sredi kollekcionerov“ 1921, N. 11—12, S. 72—74.

3) M. Tourneux „E. Charavay. Sa vie et ses fraveaux“: „La Revolution Francaise", 1900, T. 38, pp. 193—233. Charavay selbst in seinem Aufsabe »Autographes“ („La grande Encyclopédie“, IV, p. 761) nennt „collection Jean de Kuris“ als eine der wichtigsten russischen Sammlungen, die sich im Privatbesitz befinden.

4) „Russkaja Starina“ 1885, B. XLVI, S. 411.

5) „Iz zapisnoj knigi A. O. Imberga“. Russkij Archiv 1870, SS. 383—384; 394—400. Auf dem Grunde dieser Angaben Imbergs, der unter Repnin in Sachsen diente, fugit auch die Lebensbeschreibung des leBteren im Werke Banty3.-Kamenskij’s ,,Slovar’ dostopvamjatnych ludej russkoj zemli“, T. III (S. Pb. 1847), S. 23—67.

J Es wurde neuerdings bekannt, daß seine Urenkelin, Fürstin M. A. Meäcerskij, mit dessen Lebensbeschreibung beschäftigt sei (S. „Archiv deka- brista Volkonskogo“, S. Pb. 1918, Bd. I, S. XXXVI; vgl. ebd. SS. 395—396), aber diese Arbeit ist bis jetzt nicht erschienen. Über Repnin s. den Artikel von A. A. Golombievskij im „Sborn. biografij Kkavalergardov“ (S. Pb. 1906, Bd. Ill, S. 54—57). Fürstin F. G. Volkonskaja: „Rod knjazej Volkonskich“ (S. Pb. 1900, S. 103—104); P. Majkov im „Russkij biograf. Slovar (S. Pb. 1913, Bd. „Rejtern-Rolcberg“, S. 118—126).

78

ae E 2 282 ̃ em 2 li i“ Cw 3

2

ow

kein ausreichendes Licht besonders auf den hervorragendsten Moment seines EE seine Tätigkeit auf dem Posten des sächsischen General-Gouver- neurs?

Repnin ließ in Dresden einen guten Ruf zurück. Viele Jahre später schrieb Graf A. P. Zavadovskij aus Dresden: „Hier lobt man allgemein den Fürsten Repnin. Ich möchte ihn ebenso in Kleinrußland ehren, wie ich ihn in Sachsen ehre“ (Kievskaja Starina, 1884, N. I, S. 217—218). Vgl. noch interessante Urteile über Repnin von M. A. Maksimovič („Russkoe Oboz- renie“, 1898, N. I, S. 131). P. D. Seleckij in seinen Memoiren erwähnt u. a. das Interesse Repnins für Literatur: „Es gab kein mehr oder weniger inter- essantes Buch, das der Fürst nicht gelesen hafte; seine Unterhaltung war interessant und lehrreich“ (Kievskaja Starina, 1884, N. 8, S. 618—619). Ein Porträt Repnins, mit der Dresdener Brücke im Hintergrunde, von unbekann- tem Meister gemalt, gleichwie ein Glaskelch mit farbigen Ansichten von Dresden, die ihm die Stadt überreichte, befinden sich jetzt im Ukrainischen Historischen Museum in Kiev.

Erwahnen wir die allbekannten Fakta seines Lebenslaufes.

N. G. Repnin erhob sich schnell auf der administrativen Dienstleiter. Teilnehmer der holländischen Expedition von 1799 und der zahlreichen Kriege im Anfange des 19. Jahrh., kommandierte er die 4. Schwadron der Chevaliers de Garde, die durch die Attacke bei Austerlis rühmlich bekannt wurde. Leo Tolstoj widmete dieser Attacke eine wundervolle Episode in „Krieg und Frieden“. Am 8. März 1813 zum General-Adjutanten ernannt, wurde Repnin bald darauf, am 8. Oktober desselben Jahres, von den drei verbiindeten Mächten auf den Posten des General-Gouverneurs des Konig- reichs Sachsen und zum Befehlshaber der russischen Truppen erhoben, die damals Sachsen besetzt hatten. Sein faktischer Eintritt in diesen Dienst vollzog sich aber etwas später, am 30. Oktober, nachdem die französischen Truppen unter dem Kommando des Generals Saint-Cyr und der sächsische König, Napoleons Anhänger, Dresden verlassen hatten. In Dresden er- wartete Repnin ein großes Tätigkeitsfeld. Krieg und Epidemien verwusteten das Land, die Armee war zerstreut, Administration und Finanzen zerrüttet, die Stadtkasse leer. Repnins Aufgabe war es nun, nicht nur alle diese Wunden zu heilen und die Ordnung wiederherzustellen, sondern auch die Armee zu organisieren, um die Truppen der Bundesgenossen, die gegen Napoleon weiterfochien, zu unterstützen. In den Händen Repnins konzen- trierte sich ein großer Staatsapparat. Alle Verwaltungsgebiete verlangten jeden Augenblick seine größte Aufmerksamkeit. Nichisdestoweniger fand er doch Zeit nicht nur für seine öfteren Dienstreisen aus Dresden (Anfang November 1813 war er z. B. in Leipzig), sondern auch für einen recht um- fangreichen Briefwechsel, der nicht lediglich Diensicharakter trug. Der hier unten angeführte Brief Repnins an August Schlegel diene zur Bestätigung.

Wir wissen, daß die Jahre 1813—1814 die Zeit angesirengter politischer

7) über die Verwaltung Repnins in Sachsen wirft ein gewisses Licht das »General-Gouvernements-Blatt für Sachsen“ (I-Il Bde.) eine Art von Zeitung, die in Dresden seine Kanzlei ausgab, und die kleine Schrift: „Uber- sicht der Verwaltung des General-Gouvernements der Hohen Verbündeten Mächte in Sachsen“ (Dresden, 1815), das Repnin gewidmete Büchlein des Arztes Meinhold: „Dresden und seine Schicksale im Jahr 1813“ (Dresden, 1814). Soweit es uns bekannt ist, sind die Archivmaterialien, im f. König- lichen Hauptstaatsarchiv befindlich, (Privat-Korrespondenz des Fürsten Repnin locat.: H. St. A. 2578) noch bei weitem nicht erforscht. S. auch Gretschelu.Fr. Bulau: Geschichte des Sachs. Volkes u. Staates, Bd. Ill, Lpz. 1853, S. 636 fig.; Th. Flathe, Gesch. des Kursiaates und Königreichs Sachsen, Gotha 1873, Bd. III, S. 232—358. In der russischen Literatur sind die obengenannten Erinnerungen A. O. Imbergs am wertvollsten. Die Tochter Repnins, Varvara, bestätigt ihre vollständige Wahrheit in ihren Er- innerungen aus dem Kindesalter („iz aviobiografiteskich zapisok knjaZny V. N. Repninoj“ im Russkij Archiv, 1897, Il, S. 480—482).

79

Tätigkeit für Aug. Schlegel war. Schlegel „hielt jetzt seine Zeit für ge- kommen, um in der Politik, die ihm bisher ziemlich ferne gelegen hatte, eine Rolle zu spielen,“ spricht J. Minor, sich der Worte Dorothea Schlegels er- innernd, die gesagt hatte, daß er ordentlich par contrecoup zum politischen Schriftsteller geworden war’). Aus dem schönen Werke Otto Brandts uber Schlegel und seine politischen Anschauungen und Schriften®) wissen wir von den Umständen, unter denen damals eine, von ihm nervös geschaffene, Reihe von „Proclamationen, Bekanntmachungen, Verfügungen, Aufrufen und Berichten im Hauptquartier der Vereinigten Armee von Norddeutschland und im Interesse des Kronprinzen von Schweden“ entstanden war?*). Hier ist es notwendig, eines dieser Werke zu erwähnen, da es eine unmittelbare Beziehung zum Inhalt des unten angeführten Briefes hat. „Seine publi- zistische Tätigkeit,“ spricht O. Brandt (a. a. O. S. 166—167), „hatte ihm die Ernennung zum schwedischen Regierungsrat gebracht, und so weilte er denn seit Mai 1813 im Hauptquartier der Nordarmee, zunächst in Stralsund, und erlebte dann den ganzen Feldzug in Deutschland an der Seite seines Protektors.“ Die Herbstmonate des Jahres 1813 waren die Zeit sehr ernst- hafter Kollisionen zwischen Napoleon und Bernadoſteii); in den Befehlen für die Truppen und in Proklamationen gab sich ein jeder von ihnen die höchste Mühe, den andern zu erniedrigen. In diesem politischen Streite durfte Schlegel nicht gleichgültig verbleiben und benutzte alle Gelegenheit zu boshaften und scharfen Invektiven gegen den ihm verhaßten Napoleon. Ein zufälliger Umstand gab Schlegel die günstige Veranlassung für eine besonders böse und freche Broschüre.

Wie aus der durch einen Zufall von russischen Kosaken aufgefangenen Korrespondenz zwischen dem Minister Maret in Dresden und Baron Bacher in Leipzig hervorgeht, wurden zwei gegen Bernadotte gerichtete Artikel in der „Leipziger Zeitung” vom 30. Sept. u. 5. Okt. 1813 auf Napoleons Befehl, der wahrscheinlich ihr Autor war, veröffentlicht. In dem zweiten dieser Artikel („Vom Elbufer“), kurz vor der Leipziger Schlacht im Druck erschienen, beschuldigte Napoleon den schwedischen ronfolger „krasser Undankbar- keit gegen Frankreich“, ihn den „Sohn und Bruder von Tollhäusiern“ nennend, „der an sich selbst die Spuren der Krankheit empfinde“. Derselbe Artikel enthielt ebenso Angriffe gegen Bernadottes Paladin Schlegel. Also war es, wie O. Brandt sagt, „die persönliche Erwiderung Napoleons auf Schle- gels schriftstellerische Angriffe, indem er ihn in der Reihe der ihm 30 ver- haßten, weil so gefährlichen Pamphletisten vor der Öffentlichkeit mit Namen nennt“.

Ganz natürlich ist es, zu vermuten, daß dieser Artikel auf Schlegel einen besonders starken Eindruck machte und ihm die Galle schwellen machte. Er war höchst glücklich, auf ihn antworten zu können, in dem- selben Leipzig, wo der Artikel eben erst im Druck erschienen war, das aber jetzt schon den vereinigten Truppen gehörte. In solch einem Gemüts- zustande wurden in kurzer Frist: „Remarques sur un article de la Gazette de Leipsick du 5 Octobre 1813 relatif au Prince Royal de Suède“ ge- schrieben, diese „Parallele“ zwischen dem Franzosenkaiser und dem

8) J. Minor: A. W. v. Schlegel in den Jahren 1804—1845. („Zeitschrift fur Österreich. Gymnasien“ 1887, Bd. 38, S. 606—607.) I. M. Raich: Dorothea x Schlegel. Briefwechsel im Auftrage der Familie Veit, Bd. Il, Mainz 1882,

. 196.

9) Otto Brandt: A. W. Schlegel. Der Romantiker und die Politik. Stuttg., Berl. 1919. 10) Minor: Op. cit. S. 607.

_ 11) Wiehr: Napoleon und Bernadotte im Herbstfeldzug 1813, (1893), zit. bei O. Brandt (S. 111, Anm.); auch Leonce Pingaud: Bernadotte, Napoléon et les Bourbons, Paris 1901, S. 226; Klaeber: Marschall Bernadotte (1910), S. 371 ff. Der von O. Brandt zit. Artikel: Steig: Eine Romantikerfehde gegen Napoleon, Sonntagsbeilage 21, 22 zur „Vossischen Zeitung“ 1906, N. 244, 256, war mir nicht zuganglich.

80

schwedischen Thronfolger, in welcher „aus jeder Zeile, aus jedem Wort“ der Haß gegen den „Buonaparte“ spricht.

Otto Brandt, der diese Angelegenheit ausführlich erörtert hat und mit genügender Fülle den Inhalt der Broschüre Aug. Schlegels wiedererzählte (a. a. O. S. 184—188), erklärt nicht, warum sie zum ersten Male anonym erschienen ist. Für Schlegel war es so natürlich, in diesem publizistischen Turnier mit offenem Visier aufzutreten, wie ja auch Otto Brandt sagt: „Schlegel tat alles, um auch diese Streitschrift zur Kenntnis des Publikums zu bringen“ (S. 187). Von woher stammt aber dann diese so unerwartete und jedenfalls für ihn selbst kaum erwünschte schriftstellerische Bescheiden- heit? Das erklärt, wie es uns scheint, der folgende, in bezug auf diese Broschüre geschriebene Brief N. G. Repnins an Aug. Schlegel. Um die Bewilligung zur Veröffentlichung der Broschüre zu erlangen, hatte sich Schlegel an die Kanzlei des sächsischen General-Gouverneurs gewandt genauer: an die der Kanzlei zugehörige spezielle Zensurkommission. Nach- dem Repnin von dieser Broschüre, welche ihm von der Kommission über- reicht worden war, Kenntnis genommen hatte, hielt er es nicht für möglich, ihre Veröffentlichung zu bewilligen. Aber Schiegels Autorität war doch so groß, daß Repnin es notwendig fand, ihm einen privaten Brief zu schreiben, in welchem er die Gründe darlegte, aus denen die Veröffentlichung dieser Broschüre ihm unzeitig erschien. Dieser Brief hat folgenden Wortlaut:

A Monsieur IA. V.] Schlegel Monsieur

On a présenté a la censure établie près du gouvernement Général de la Saxe un écrit portant le tire Remarques etc. la censure n’a pas osé prendre sur elle de donner le permis, elle a pris mon ordre la dessus et j'ai décidé qu'il serait sursis à l'impression.

Le chef d’une grande administration ne doit pas dire la raison, qui le décide; je ferai cependant une exception a votre égard, Monsieur, vous le méritez par vos relations présentes et par le renom litteraire et politique que vous vous éfes acquis précédemment.

ll est inutile d'établir des parallèles pour relever la loyauté par l'astuce, la magnanimité par la vengeance, la fermeté de caractère par Ventétement, le respect aux constitutions par le despotisme, enfin d'en établir un entre le Prince Royal et Napoléon; l'un acquiert des Alliés, lautre les perd, lun est adoré, l'autre hai. Personne n'a besoin d'être rafermi dans les sentiments qui sont voués généralement au Prince Royal, par une réfutation des diatribes, qui ont été écrites contre lui, et le voile qui jadis entourait Napoléon, n’a plus besoin d'être soulevé, il est tombé.

Des circonstances malheureuses ont forcé tous les Souverains de l'Europe à reconnaitre Buonaparte pour Empereur de France, ce serait agir contre les intentions de l'Empereur mon Auguste Maitre et de ses Alliés que de permetire des personalités violentes contre quelqu'un qui occupe un trône: s’il employe une arme vicieuse contre nous, nous ne devons pas limiter.

Voici, Monsieur, ma profession de foi, elle me justifiera à vos yeux et vous convaincra je l'éspère qu'il m'a été pénible d'empêcher lim- pression d'un écrit fait par un homme estimable, servant la même cause que moi et approchant un Prince adoré par les Russes.

Je suis avec une parfaite considération Monsieur, Votre très dévoué serviteur Prince Repnin Gouverneur Générale de la Saxe.

Leipzig le 11 Novembre 1813.

NFS 81

Höchst wahrscheinlich ist es nun, daß dieses höfliche Verbot der Bro- schüre Schlegel gezwungen hat, sie anonym herauszugeben und vielleicht auch mit falscher Bezeichnung der Stadt, und sicherlich nicht im Oktober, wie es auf ihrem Titelblatte sichf1*), sondern einige Zeit später.

Die Bedeutung dieses Briefes liegt darin, daß Repnin, nach seinen eigenen Worten, seine „profession de foi“ hier darlegt. Es ist selbstver- ständlich nicht sein volles politisches Programm, und einige, beiläufig fallen- gelassene Gedanken malen uns noch kein vollständiges Bild seiner poli- tischen Anschauungen. Kennzeichnend ist aber, daß in dem Schreiben Rep- nins, den besiegten Feind nicht so zu bekämpfen, eine leicht fühlbare Achtung, wenn nicht geradezu ein Mitgefühl für Napoleon zu spüren ist. Als Repnin den Gedanken aussprach, es sei nicht notwendig, Bonaparte im Formieren großer Armeen zu folgen, vergaß er, daß der Kaiser eben im Formieren neuer Truppen stand, die berufen waren, den Kampf weiter fortzusetzen, um Sachsen zu sichern. Indem er um „Gnade dem Gefallenen“ ruft, versucht Repnin geschickt, zu beweisen, daß die gewagten Ausfälle gegen den französischen Kaiser, der allerdings durch „traurige Umstände“ auf den Thron kam, der eigentlichen Idee des Kaisertums als beleidigend erscheinen könnten.

Wie nahe diese Worte den Vorschriften auch standen, welche als Richt-

schnur z. B. dem preußischen Zensor Geheimrat Renfner dienten, der den Abdruck der Broschüre Schlegels im „Preußischen Korrespondent” aus dem Grunde untersagt hat, daß „gegen unsere Feinde, und namentlich gegen den Kaiser Napoleon, Schimpf, Schmähung und persönliche Beleidigung“12) ver- boten sei, die Position aber, die Repnin hier einnimmt, scheint uns den- noch bemerkenswert und eigenartig. Ein deutscher Schriftsteller aus der Epoche der Befreiungskriege, der sich mit Leidenschaft der politischen Tätigkeit widmete, und ein russischer Kriegsherr, der den Moskauer Feldzug Napoleons überlebte und durch die Macht des Zufalls, auf kurze Zeit, Haupt eines deutschen Königtums wurde, konnten selbstverständlich nicht zu einer Übereinstimmung kommen. Dieser Brief wird aber deswegen nicht minder interessant, im Gegenteil beweist er noch einmal, wie hoch die Autorität August Schlegels als eines Schriftstellers und Politikers stand, wieviel Takt Repnin zeigte, indem er sein Verbot in eine derartig liebenswürdige Form einhullte und seinen Brief an den Autor der Schrift mit solchen Kom- plimenten versah. . . Wir wissen nicht, wie und ob sich Schlegel auf den Brief Repnins äußerie, aber wesentlich war es, dab seine „Remarques“ doch im selben Jahre 1813 verlegt worden waren, und daß im nächsten Jahre 1814 eine „zweite, vermehrie Auflage“ mit Schlegels vollem Namen auf dem Titel- blatte erschien.

12) „Remarques sur un article de la Gazette de Leipsick du 5 Octobre 1813 relatif au Prince Royal de Suède“. Leipsick au mois d’octobre 1813. Uber die anderen Auflagen derselben Broschüre s. „Katalog der von A. W. Schlegel nachgelassenen Bücher mit Verzeichnis der von A. W. Schlegel yaraslen gedruckten Schriften“, Bonn, 1845, S. XVIII; O. Brandt, a. a. O.,

3 , Anm.

13) O. Brandt, S. 187.

82

ZWEI ZERSTÖRTE DALMATINISCHE FAMILIENARCHIVE

Von Camilla Lucerna, Zagreb.

Da und dort hört und liest man in Dalmatien von Familienarchiven, die Erdbeben, Bränden oder dem Unverstand Ja Nachkömmlinge zum Opfer fielen. Trob der verhältnismäßig großen Zahl Intellektueller, die, sei's aus Veranlagung, sei’s dank der unermüdlich anfeuernden Wirksamkeit des be- ruhmten Salonitaner Archäologen Don Frane Bulić Sinn und Augen fur historische Zeugnisse haben, geht auch heute noch manchmal werivolles Gut dieser Art verloren. Uber zwei zerstörte Familienarchive, aus denen Fragmente gerettet wurden, sei hier einiges mitgeteilt.

L Das Familienarchiv des Dichiers Petar Hektorovié (1487—1572) in Siarigrad auf der Insel Hvar (Pharos).

Hieraus und hierüber berichtet Petar Kuni i ei] in seiner kroatisch geschriebenen Monographie: Petar Hektorović, Dubrovnik 1924, allerlei interessante Dinge, verschweigt aber taktvoll, daß und wie er zum Reiter vieler_und kulturgeschichtlich aufschlußreicher Archivalien wurde. Durch seine Frau darauf hingewiesen, daß auf dem Einschlagpapier eines Fleischers klassische Verse standen, kaufte er diesem Bestände ab, die offenbar aus Professor Nisiteos kostbarer und berühmter Sammlung her- rührten. Dieser bekannte und vielbesuchte Gelehrte, der von einer Schwester Don Matijs, des letzten Hektorović (t 1774), abstammte, hatte den großen Saal der festungsartigen Palastvilla „Tvrdalj“ in Starigrad, des Dichters Hektorović Lieblingsschöpfung und Wohnsitz. zu einer der schönsten Bibliotheken Dalmatiens, ja zu einem kleinen Museum ausgestaltet. Petar Nisiteo (1775—1866) war auch der Gründer des Familienarchivs. Seine eigenen, 20 Manuskriptbände umfassenden Werke befanden sich noch 1908 an Ort und Stelle im Besitz seiner Erben. Die Bibliothek wurde schon 1885 bei einem Umbau zerstört. Ob damals auch der in den Saal eingebaute Taubenschlag des Dichters Hektorović, von dem noch Ida von Düringsfeld in ihrem dalmatinischen Reisebericht so ergoblich spricht, zerstört worden ist, erwähnt Kuničić nicht. Uber den Dichter und seine Familie bringt er interessante Daten. Die Hektorovice waren mit den meisten Patrizier-

eschlechtern der Insel verwandt. Die Linie der Vorfahren geht über die amilien Golubini€ (um 1300) und Piretié bis auf die Jivice (ivié, auch Djivic, Djinié) zurück, die schon 1160 in Ansehen standen. Des Dichters Großvater, dessen Testament aus dem Jahre 1467 erhalten ist, war einer der reichsten Adeligen der Insel. Uber Aufstände, Seuchen, Türkeneinfälle, kirchliche Stiftungen, Käufe und Schenkungen, Prozeßakten, Bauten, Ver- träge ... berichten die Blätter dieser Familiengeschichte. Sie geben Einblick in politische und ökonomische Verhältnisse, Auskunft über Gräber- und Kirchenschmuck, mildtätige. Einrichtungen, Charakterziige und Lebensläufe der Erblasser, deren Kunstsinn, deren Liebe zu klassischen Studien und zur Muttersprache, sie unterrichten über uneheliche Kinder, eingemauerte Eremi-

1) P. Kuničić lebte viele Jahre als Schulleiter in Starigrad. Gegenwärtig wohnt er in Split.

85

tinnen, Unglücksfälle, Verbrechen. So wurden beispielsweise große Waldbestände der Insel durch Brandlegungen von Hirten zerstört, die ihr Weideland vergrößern wollten. Fromme hinterlassen Geld zum Loskauf von Sklaven. Ein origineller Testator (Don Jakov Dujmičić) ordnet an, daß kein Weib bei seinem Begräbnisse wehklagen (naricafi) dürfe. Derselbe hinterläßt verschiedene Felder der Dienerin Jelena aus Klis, welche von Türken geraubt, von ihm losgekauft und getauft worden war. Ein Volks- zählungsausweis für das Jahr 1673 gibt die Verteilung der Bewohner auf einzelne Orte an. Vom Blute der Hektorovice waren in Starigard zwischen 1613 und 1713 neunundvierzig Kinder zur Welt gekommen. Aber viele hatten nicht geheiratet, viele waren jung gestorben. Die großen Besitztümer zersplitterten sich. Auffallend häufig werden in Testamenten „natürliche“ Söhne und Töchter bedacht. Adeligen war es nicht erlaubt, Mädchen des Bürgerstandes (pucanke) zu heiraten, doch durften sie uneheliche Kinder legalisieren, gewisse Rechte blieben diesen jedoch vorenthalten. Nach Kuničić gut fundierter Ansicht wird auch Petar Hektorović’ einzige Tochter eine figlia naturale gewesen sein, und seine Enkelin und Erbin Julia war mit dem legalisierten Sohne des Dichters Hannibal Lučić vermähll.

Unter den Nachkommen der männlichen Nächstverwandten des Dichters treten einige originelle Gestalten kräftig hervor. Matij Hektorović, mit siebzig Jahren Witwer geworden, tritt in den geistlichen Stand und läßt am Feiertag seiner ersten Messe allen Armen im schönen Park seines Ahnherrn ein Festmahl bereiten. Er und sein Sohn Marcanton, der vierundneunzig Jahre alt wird (t 1766) sind äußerst streitlustige Herren, führen große Pro- zesse. Marcantons Temperament zeigt der Titel einer Anklageschrift: Versipelle allegatione calumniosa delle ingrati, astuti e bugiardi fratelli Papizza. Eine andere, gegen die Comunitä di Lesina (Hvar) gerichtet, hat er: Papagallide e Stornelaide della Coletta getauft.

Kuničić führt aus seinen Dokumenten hundertvierzehn Benennungen von vererbten Grundstücken, Dolinen und Hügeln an, die den slavischen Cha- rakter der Inselbevölkerung für alte Zeiten bezeugen. Desgleichen hat er etwa zweihundert slavische Personennamen aus Hvar und Starigrad ge- sammelt, die dort jetzt nicht mehr vorkommen. Kuničić’ Liebe für den Dichter gelang es auch, dessen Grab aufzufinden! Seine Monographie a. eine wichtige Ergänzung zu den über Petar Hektorovié erschienenen

udien.

II. Das Archiv der Familie Cerinié Cerineo Lucio Grisogono auf der Insel Brač (Brazza).

In meinem Forschungsbericht über die letzten Arbeiten des großen Rechtshistorikers Vladimir Mažuranić hatte ich die Frage aufgeworfen, wer der Kaufherr Dinis Cerniche gewesen sein könne, der den großen portugiesischen Seehelden D’Allboquerque um 1510 nach Indien begleitet hatte. In dessen Denkwürdigkeiten kommt dieser Name vor. Hieß er etwa Dinko Cernié? War er ein Dalmatiner? Aus Supetar auf der Insel Brac wurde mir Antwort. Dinko war ein Bracaner! Dr. M. Vrsalović ließ mich wissen, daß in der vielgliedrigen Familie Cerinié (Cerinich, Cerinio vel Ceri- neo), die im 17. Jahrhundert geradezu ungeheure Besitztümer in vielen Län- dern ihr eigen nannte, heute: noch eine Tradition existiert, die an Ost- indien anknüpft. Ihm gelang es, einiges aus dem Familienarchiv zu reiten. Aus seinem Material ist eine Veröffentlichung hochinteressanter Art über dieses dalmatinische Welser- oder Fugger-Geschiecht zu erwarten, um das man sich, wie es scheint, noch nicht gekümmert hat. „Micer Vinete Cerniche, genannt Dinis Cerniche“, gehört in die Geschichte des dalmati- nischen Handels. ;

Die „Archivalia Brattiensia“, die Dr. B. M. Vrsalović seit 20 jahren ge- sammelt hat, umfassen allein weit über 5000 Stücke, darunter mehrere „Statute“, merkwürdige Pergamente, Handschriften in der sogenannten „bosnischen Cyrillica“, dazu eine Fülle von Angaben, von Nachrichten ver- schiedener Art, die Geschichte seiner Heimatinsel betreffend.

84

Das Archiv der einst so mächtigen und weitverbreiteten Familie Cerinié, „mit deren Reichtum an Grundbesitz in aller Herren Ländern im 17. Jahr- hundert sich einzig der irgendeines Kaiserhauses des 19. Jahrhunderts ver- gleichen ließe“, konnte nur zum geringsten Teile gerettet werden. Vor dem Weltkriege noch war es beinahe intakt. „Bis auf Pergamente, die damals schon zu Dynamit als Totungsmittel für Fische verwendet wurden.“ Nach dem Kriege wurde das meiste als Einschlagpapier für Lebensmittel in einem Geschäfte verbraucht. Im Jahre 1925 gelang es Dr. M. Vrsalovié, noch „die Reste der Reste“ in seinen Besitz zu bekommen, Nachrichten aus dem 15. Jahrhundert, darunter Eigentumsverzeichnisse etc. Noch heute bestehen die Festungsbauten in Splitska und Skrip auf Brač, Türme mit Wappen, Inschriften, Altertümern, Gemälden, alles heute noch Eigentum der Familie, deren Aufschwung höchstwahrscheinlich mit jenem kühnen Indienfahrer Dinko Cernié zusammenhängt, den die Portugiesen „Dinis Cerniche“ nannten.

II LITERATUR BERICHTE

—— a

ABHANDLUNGEN DES NIZYNER VOLKSBILDUNGS- INSTITUTES UND DER WISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNGS-LEHRKANZEL FÜR KULTUR- UND

SPRACHGESCHICHTE AM INSTITUTE

Hauptredakteur: Mykola PetrovSkyj. Bd. VIII (1928). NiZyn 1928, S. 192, 8.

Von D. Doroschenko.

Das ,,Volksbildungsinstitut“ in NiZyn ist an Stelle des ehemali- gen „Historisch-philologischen Institutes“, welches, neben dem gleichen Institute in Petersburg, die Gymnasiallehrer der lateinischen und griechischen Sprachen für ganz Rußland ausbildete, entstanden. Es wurde bereits im Jahre 1820 auf Kosten eines ukrai- nischen Mäzenaten, des Fürsten Bezborodko, als „Gymnasium höherer Wissenschaften‘ gegründet und war im Jahre 1832 in ein „Lyzeumphysikalisch-mathematischer Wissen- schaften“ umgebildet; im Jahre 1840 wurde es zum „Lyzeum der Rechtswissenschaften“, und endlich im Jahre 1875, als die Klassik auch Rußland beherrscht hatte, entstand aus dieser Schule das „Historisch-philologischelnstitut“. Dabei hat es jeden Zusammenhang mit seinem Lande und mit dem es um- flutenden Leben eingebüßt und existierte fast ein halbes Jahrhundert als eine gänzlich in sich selbst eingeschlossene Anstalt, als gewisser- maßen exterritorialer Bodenfleck in einer ruhigen ukrainischen Pro- vinzstadt. Die früheren Zeiten, wo vom NiZyner Lyzeum die Kinder des örtlichen ukrainischen Adels (unter anderen auch der geniale Gogol) ihre Erziehung bezogen, waren vorbei; es wurde zur Sammel- stelle der ausnahmslos in einem geschlossenen Internate in klaus- nerischer Weise lebenden Studenten aus allen Teilen Rußlands.

Das Sovjetregime brachte mit sich, bekanntlich, eine völlige Re- organisation des Schulwesens. Das NiZyner Historisch-philologische Institut wurde zusammen mit allen auf dem Territorium der Ukraine liegenden Universitäten (Kiev, Charkiv, Odessa, Poltava, Kamjaneé

86

und Ekaterynoslav) in ein „Volksbildungsinstitut“, das heißt in ein pädagogisches Institut zur Vorbereitung der Mittelschul- lehrer aller Lehrfächer, umgebildet. Selbstverständlich wurde das „klassische“ System restlos vernichtet; diese ,,Volksbildungsinstitute“ verloren überhaupt die wissenschaftliche Eigenart der alten Univer- sitäten, sie hörten auf, wissenschaftliche Anstalten zu sein. In NiZyn wurde aber dafür am Institute eine „WissenschaftlicheFor- schungs-Lehrkanzelfür Kulturgeschichte“ errichtet, welche rein wissenschaftlichen Zwecken dient und die Arbeitsmog- lichkeit für einen Teil alter Professoren des früheren historisch- philologischen Institutes bietet. Die Lehrkanzel zerfällt in 3 Sek- tionen, und zwar: 1. Sektion für ukrainische und russische Geschichte, deren Leiter Prof. M. BereZkov (Erforscher der Handelsbeziehungen zwischen Hansa und der alten Ru$) ist; 2. Sektion für ukrainische und russische Sprache und Literatur, deren Leitung in den Händen des bekannten Historikers des alten ukrainischen Dramas und gleich- zeitig des Leiters der gesamten Lehrkanzel, Prof. V. Rézanovs, liegt; und 3. Sektion für antike Kultur mit dem Prof. I. Turcevyé an der Spitze.

Die Lehrkanzel gibt ihre „Zap ysk y“ (Abhandlungen) heraus, welche gleichzeitig das Organ des ganzen Institutes sind. Diese „Abhandlungen“ setzen gewissermaßen die Arbeit der früheren „Sammelschriften“ (Sbornik) des Historisch-philologischen In- stitutes fort, es ist aber dabei als Grundunterschied die Verwendung der ukrainischen Sprache in der lekteren Veröffentlichung hervor- zuheben.

Es liegt vor uns der neue, bereits VIII. Band der „Abhandlungen“. Die alten „Sammelschriften“ standen dem ukrainischen Leben (mit Ausnahme von einigen dort erschienenen Arbeiten der Professoren Berezkov, Rézanov und Maksymovy¢é) sehr ferne; die neuen „Ab- handlungen“ sind, im Gegenteil, fast restlos den Themen aus ukrai- nischer Geschichte, Literatur, Ethnographie etc. gewidmet. Noch in vorigen Bänden der „Abhandlungen“ fanden wir die an die Tra- ditionen der klassischen Studien in NiZyn anknüpfenden Arbeiten, und zwar K. Stepas „Skizzen aus der Geschichte der antiken und christlichen Dämonologie“ im VI. Bande (1926) und A. Pokrovskyis „Proletarii“ im VII. Bande (1927); den Inhalt des letzten, VIII. Bandes machen dagegen fast ausnahmslos die ukrainistischen Arbeiten aus.

Prof. J. KolubovSkyj, der bekannte Herausgeber der rus- sischen Übersekung des ,GrundrissesderGeschichteder Philosophie“ von Überweg-Heinze, in welche er eine selbst- verfaßte, sehr wertvolle Übersicht der Philosophie in Rußland ein- verleibt hatte, ist in dem vorliegenden Bande der NiZyner „Abhand- lungen“ mit einem Aufsatze unter dem Titel „Zur Frage über die Philosophie in der Ukraine“, in welchem er seine Aufmerksamkeit dem auch in unseren „Jahrbüchern“, Band IV., Heft 1, besprochenen Buche von Prof. CyZevskyj „Philosophie in der Ukraine“ schenkt, vertreten. Prof. Kolubovskyj beurteilt die Arbeit CyZevSkyjs sehr

87

günstig und bereichert deren Ausführungen mit einer ganzen Reihe wertvoller Ergänzungen und bibliographischer Angaben.

Prof. M. PetrovSkyj enthüllt in seinem Aufsake „Zur Ge- schichte der Ruine“ auf Grund der Quellenanalyse den legendären Charakter einiger in den Kosakenchroniken von Samovydeé und Velytéko geschilderten Momente aus dem XVII. Jahrhunderte, die bis jest in ukrainischer Historiographie für Tatsachen gehalten waren. A. JerSov, der schon früher eine ganze Reihe interessanter, der sehr wenig erforschten ukrainischen Historiographie des XVII. bis XVIII. Jahrh., gewidmeten Studien geliefert hat, gibt jetzt in der Arbeit „Die literarischen Quellen der historischen Arbeiten von St. LukomsSkyj‘ wertvolle Beiträge zur Erforschung der um das Jahr 1770 entstandenen Arbeiten.

Eine ganze Reihe von Artikeln ist der ukrainischen Literatur- geschichte gewidmet, und zwar: Iv. PavlovsSkyj gibt eine Uber- sicht des Lebens und Schaffens eines begabten, tragisch im Bürger- kriege verstorbenen, jungen Dichters V. Cumak; O. Pulyne & liefert in seiner Arbeit „N. Cerny3evskij und die ukrainische Frage“ eine Charakteristik der Einstellung des berühmten russischen Soziologen und Publizisten der ukrainischen Nationalbewegung gegenüber; Prof. E. Rychlik beschäftigt sich mit den „Ukrainischen Motiven in der Dichtung J. Slowackis“; P. Odaréenko gibt neue Materialien zur Dichtung der LeSa Ukrajinka, der bedeutendsten ukrainischen Dich- terın am Anfang des XX. Jahrh., indem er ein neuentdecktes Album mit ihren Jugend-Gedichten behandelt. Prof. V. Rézanov ist mit den „Skizzen über die proletarische Dichtkunst‘“, die gleichzeitig den einzigen in diesem Bande in russischer Sprache veröffentlichten Bei- trag bilden, vertreten.

Wir finden im vorliegenden Bande ferner noch die Aufsätze Prof. M. Dadenkovs über die Erziehungsphilosophie von Ernst Krieck, O. Kamenevs über Tabakbau und Mineraldüngung in der Ukraine, und der Frau M. TereSéenko über die Ergebnisse der landwirtschaft- lichen Sommerarbeiten der Schüler der Arbeitsschulen. Mit der Er- wähnung der offiziellen Berichte des Institutes und der Lehrkanzel ist der Inhalt des VIII. Bandes der „Abhandlungen“ erschöpft. Schon diese kurze Übersicht legt klar, daß im alten Kulturzentrum NiZyn die wissenschaftliche Arbeit nicht ausstarb, sondern nur teilweise neue, den veränderten Lebensbedingungen mehr entsprechende Formen annahm; diese Arbeit weist sehr interessante Ergebnisse auf, welche zweifelsohne dem Faktum zu verdanken sind, daß die wissenschaftliche Arbeit in NiZyn jetzt in organische Verbindung mit der Umgebung, mit den Geistesinteressen des Volkes, auf dessen Boden sie geführt wird, getreten ist.

BÜCHERBESPRECHUNGEN

Swiety Franciszek z Assyzu. Zbiór odczytow. Kraków 1928. Na- kladem Krakowskiej spolki wydawniczej 1928. XV u. 248 S.

Von den 9 Vorträgen über den hl. Franz v. Assisi kommen hier für uns nur folgende in Betracht: Fr. Bielak behandelt S. 79—98 die fran- ziskanischen Motive in der polnischen Literatur; P. Skarga hat in seinen „Heiligenleben“ auch das Leben des hl. Franz "beschrieben, aber es war keine originale Arbeit (vgl. auch X. Br. Gladysz, Swiety Franciszek z Assyzu w hagiografji polskiej, Przegl. teol. 1926, f. IV). Poetisch verwertet wurde der Poverello bei W. Kochowski, B. Chmielowski, Kulczycki, Syrokomla (Kantaty św. Franziszka), Odyniec, Siemiefiski, Swietochowski (in der No- velle „Pusteinik“), Dygasirfiki, Leszcyhski leine zweibändige Monographie des hi. Franziskus 1875). Unter dem Einfluß von P. Sabatiers Buch über den hl. Franz schrieb der Romanist Porembowicz i. J. 1899, das Franziskusleben Joergensens wurde von Stateczny bearbeitet (1912); Szczepanek gab 1912 sein Büchlein: $. Franciszek, Pisma heraus. Besonders zu erwähnen sind hier noch die Hymnie $w. Fr. (1901) von Kasprowicz, die zwei Novellen von Witkiewicz o Jedrku Cajce und ZoSce Galicce. Unter den neuesten Dich- tern, die sich mit dem hl. Franz befassen, sind zu nennen: Morstin, Swiety, Kraków 1922, We kraju Latynöw, ebd. 1924, Zegadlowicz: PrzydZ krölestwo Twoje 1924, Kossak-Szczucha, Wielcy i mali, Z miloSici (1926) Hulka-La- skowski, Cieszyn 1927. Th. Szydłowski behandelt die Architektur der Franziskanerkirchen in Polen zur Piastenzeit (155—171) mit 9 Abbildungen. Wertvoll für die Geschichte der Frömmigkeit wie auch für die Ordensge- schichte ist der Aufsatz von Dabrowski: Die franziskanische Bewegung und die polnische Wiedergeburt im 13. u. 14. Jahrh. 173/89.

Breslau. F. Haase.

Monarchia Sancti Petri. Die kirchliche Hierarchie des Heiligen Petrus als freie und universelle Theokratie im Lichte der Weisheit. Aus den Hauptwerken von Wladimir Solowjew systematisch gesam- melt, übersetzt und erklärt durch L. Kobilinski-Ellis. Matthias Grünewald Verlag 1929, XVIII u. 632 S.

Solov’ev ist zweifellos einer der bedeutendsten russischen Religionsphilo- sophen. Es ist nicht recht erklärlich, warum dieser große Geist von seinen Lands- leuten so unterschabt und abfallig beurteilt worden ist. Hat ihn doch Tolstoi einen „Kopfmenschen“, einen „Oberpriestersohn“ genannt, der ausschließlich davon lebt, daß man ihm Bücher gibt, die er durchliest und sich ein Argument daraus nimmt. Es muß aber doch anerkannt werden, daß S. sich ein eigenes System gebaut hat, das zwar aus den Weltanschauungen anderer Philo- sophen viel entiehnt hat, aber doch völlig selbständig durchgeführt ist. In- wieweit seine katholisierende Tendenz den Grund zur Ablehnung in seiner

89

Heimat gegeben hat, läßt sich natürlich schwer erweisen, dürfte aber bei vielen russischen Theologen, die gegen ihn geschrieben haben, von Bedeu- tung gewesen sein. Erst die umfangreiche Monographie von E. Trubeckoi, Die Weltanschauung VI. S. Solov’evs, 2 Bde., Moskau 1913, hat in Rußland den Philosophen näher 1 sein bedeutendster Schüler Berdia' ev Gebt in Paris) wäre wohl der berufenste Interpret der Philosophie seines Lehrers. ln Deutschland wurde Solov’ev durch die Herausgabe seiner aus- gewählten Werke von H. Köhler bekannt, in Frankreich gab M. d. Herbigny 1911 eine ausführliche Monographie. Leo Kobilinski-Ellis, der schon die Gedichte Solov’evs übersetzt hat, gibt nun in dem vorliegenden Werke eine Ubersetzung derjenigen Werke, welche die kirchlichen und kirchenpolitischen Anschauungen von S. zum Ausdruck bringen. Als Fundament müssen philo- sophische Erörterungen herangezogen werden, die S. im 16. Kapitel seines Buches „Die Kritik der abstrakten Prinzipien“ (10-27) gegeben hat. Hier wird die Alleinheit als das Prinzip des Wahrhaft-Seienden gelehrt. Die zweite Voraussebung bildet die Gottmenschheit, in welcher grundlegende Thesen über die mit Christus mystisch vereinigte Menschheit zur Sprache kommen (29—70). Es ist besonders dankenswert, daß der Uberseber die Begriffe Logos, Sophia und Weltseele, über die viel irrige Anschauungen herrschen, näher behandelt. Aus den obengenannten Voraussetzungen baut nun S. seine Lehre über das Gottesreich auf. Seine Abhandlung: „Der große Streit und die christliche Politik“ (95—221) ist für den Kirchenhistoriker von großem Wert. Sie wird aber auch in der Beurteilung des Slavophilen- tums, der Kirchentrennung und der Stellung Rußlands zu Byzanz und zum Westen wegen der umfassenden historischen Kenntnisse und der objektiven Beurteilung maßgebend bleiben. Erst jetzt beginnt der theologische Teil: Die freie Theokratie oder die universelle Kirche Christi (291/463) und die kirchliche Monarchie des hl. Petrus (464/538).

Der Herausgeber hat sich aber nicht u; mit der Ubersetzung begnügt. In seinen Anmerkungen und Erläuterungen (539—632) zeigt er ein so um- fassendes Wissen und Verständnis für Solov’ev, daß man den Wunsch aus- sprechen muß, Kobilinski-Ellis möge uns die so notwendige Religionsphilo- sophie Solov’evs schreiben. Er versteht es, die oft als „mystische Ver- stiegenheil“ Solov’evs gekennzeichnete Theologie klar zu machen. Mit Recht weist K. darauf hin, daß S. in seiner Terminologie die abstrakt-theologischen, transzendental-idealistischen und streng wissenschaftlichen Termini synthe- tisch zu vereinigen sucht, oct er dabei auf die alte Terminologie der alt- indischen, alt-agyptischen, hellenischen, mosaischen Weisheitslehre in seiner Sophiologie zurückgeht; die Unvollkommenheit in der Terminologie besteht in der Vieldeutigkeit einiger Haupttermini (613). Es muß der Einzel- forschung vorbehalten bleiben, nachzuweisen, inwieweit Solov’ev im ein- zelnen von der alten Terminologie abhängig ist. Sehr erwünscht ist der freilich etwas zu kurz geratene Artikel über die Stellung Steiners zu Solov’ev; mit der Anthroposophie hat S. tatsächlich nichts gemeinsam.

Erwünscht ware es gewesen, wenn K. angegeben hatte, nach welchen russ. Ausgaben er übersebt hat. Der Leser erfährt z. B. nicht, daß die Ge- schichte der Theokratie in verschiedenen Ausgaben und z. T. mit einigen Veränderungen vorliegt in den Artikeln der Pravoslavnoe Obozrenie, der Istorija i budu3£nost’ feokratii, 1. Bd., Zagreb 1882, und in den Gesammelten Werken. Die Ubersebung ist, soweit ich durch Stichproben mich überzeugt habe, gut und in leicht verständlicher Sprache wiedergegeben (die Zeitschrift „Vera i Razum“ dürfte einfacher mit „Glaube und Wissen“ zu über- seben sein).

Ein besonderes Lob verdient noch der Grünewaldverlag in Mainz. Er ist einer der wenigen Verlage in Deutschland, die wissenschaftliche russische Bucher zur Herausgabe bringen. Dazu gehört Opfermut, denn die wissen- schaftliche Welt in Deutschland ist gerade die, welche der slavistischen Welt sehr zurückhaltend gegenübersteht, und mancher deutsche Slavist weiß, daß namhafte Verleger mit Hinweis auf diese Zurückhaltung von dem Ver- lage von Werken slavistischer Richtung abstehen. F. Haase.

90

ee ee M er 22. we sa ae ae S. p L A EEE . - S E K n K ee RR ee ee pro ee

Jubilejna Kniga na Grad Sofija (1878— 1928). Izd. Komitetüt za istorija na Sofija pri Bülgarskija Archeologiceski Institut. Sofija 1928. 432 S. 4°.

Die SOjahrfeier der Befreiung von der türkischen Herrschaft hat dem Ausschuß für geschichtliche Erforschung der Stadt Sofija am Bulgarischen Archäologischen Institut Gelegenheit gegeben, ein Werk zu veröffentlichen, welches innerhalb weitester Grenzen Geschichte und Charakter der jebigen bulgarischen Hauptstadt in einer Reihe einzelner Aufsätze aus berufener Feder behandelt und eine Städtemonographie von großem Format darstellt. Es haben an dem historisch-geographischen Abschnitt die Professoren ISirkov, Kacarov, Mu3mov, Ivanov, Filov und Balamezov, an dem Abschnitt für Kultur- und Bildungsfragen die Herren Dorosiev, Stanimirov, Rajcev, Argirov, Balabanov, Christov, Protiè und Prof. Filov mitgearbeitet, um nur an den beiden ersten Abschnitten zu zeigen, wie individuell die einzelnen Untergebicte eines jeden Hauptgebietes behandelt worden sind. Ahnlich verhält es sich mit den Abteilungen für Wirtschaft und Finanzen und für Sozial- und Verwaltungswesen. Im Vorwort wird der Freude Ausdruck gegeben über die Fortschritte, welche die bulgarische Hauptstadt in der verhältnismäßig so kurzen Zeit von 50 Jahren selbständig nationalen Lebens aufweisen kann, und ein großer Teil der Aufsätze erfaßt in der Hauptsache eben die Darstellung der großen Vorwartsbewegung auf den einzelnen Ge- bieten innerhalb der lebten 50 Jahre. Anders verhält es sich mit dem ge- schichtlich-geographischen Abschnitt, welcher ein hochinteressantes Denk- mal der Stadtgeschichte im Laufe von beinahe zweitausend Jahren ist und, ganz für sich genommen, dieser Jubiläumsschrift eine besondere Bedeutung gibt. Gleich in dem ersten Aufsak „Grad Sofija“ von A. I3irkov, welcher die geographische Lage der Stadt und ihrer Umgebung behandelt, wird auf die Vorbedingungen der künftigen Bedeutung von Sofija eingehend hin- gewiesen: ihre Lage im Kreuzungspunkt von der Natur vorgezcichneter Wege, die das westliche Europa mit Vorderasien verbinden und die von den ältesten Zeiten an ihre Richtung kaum geändert haben. I3irkov kehrt am Schlusse seines Aufsatzes „Sofija po vreme na osvoboZdenieto“ zu diesen Betrachtungen zurück bei Gelegenheit der Meinungsverschiedenheiten, welche über die Wahl der Hauptstadt des befreiten Bulgarien bestanden, und dank den Bemühungen Drinovs aus geschichtlichen Erwägungen schließ- lich durch die russische Regierung und die bulgarische Volksvertretung in Trnovo zugunsten von Sofija entschieden wurden. Den besten Beweis für die Bestimmung der Stadt Sofija als Mittelpunkt des bulgarischen Landes liefert die eigenartige Geschichte ihres Namenswechsels, den I3irkov in allen seinen Phasen verfolgt vom antiken Serdika bis zu der volksethymolo- gischen Umgestaltung in Srédec mit allen ihren durch das nach a hinüber- lautende & bedingten lautlichen Wandlungen im Munde der Griechen oder der Kreuzfahrer: in Tetäòerca, Stralice, Stralaiz usw. In der landes- kundlichen Darstellung Iirkovs berührt der Abschnitt uber Flora und Fauna des Sofioter Bezirks durch den idyllischen Charakter dieser Schilderungen besonders sympathisch, hier ist in kürzester Form wirklich ein Stück Kultur- geschichte im Sinne Hehns gegeben. Die Münzgeschichte der Stadt Serdika in dem kurzen Aufsab von Mu3mov ist eine wertvolle Ergänzung zu Kaca- rovs „Sofija v drevnosf fa“. Die diesen beiden Aufsäßen beigefügten Ab- bildungen antiker Statuen und Münzen, ebenso wie die zu Filovs Aufsatz „Stari pametnici v Sofija“, sind eine dankenswerte Bereicherung dieses Werkes. Sofija im Mittelalter und unter türkischer Herrschaft stellt I. Ivanov dar mit Anführung eingehender bevölkerungsstatistischer Daten, die durch Birkovs „Naselenie na Sofija“ noch weiter ausgebaut werden. Sehr ein- gehend ist, entsprechend der Bedeutung, die das Schulwesen von jeher im neuen Bulgarien gehabt, von Dorosiev dieses Gebiet dargestellt worden, die wissenschaftlichen Institute und Museen bespricht Filov, in einzelnen Aufsätzen wird das Theaterwesen, Musikpflege und Kunsfleben in Sofija behandelt, letzteres von Proti¢ unter Beigabe von Abbildungen moderner

91

Landschaftsbilder, Porträts und Skulpturen. Wiederholt wird darauf hin- gewiesen, welche Förderungen das junge Kunstleben Bulgariens durch Zar erdinand und seine Bereitwilligkeit zu Bilderkäufen erhalten hat. Die künstlerischen Bekenntnisse der bulgarischen Maler spiegeln alle Phasen der europäischen Kunst wider, es sind alle Richtungen verireten, vom Aka- demismus der Münchener Schule bis zum Expressionismus, ein eigener Stil hat sich noch nicht herausgebildet. In ähnlicher Lage wie Malerei und auch Skulptur befindet sich die Baukunst. Proti& gibt in Kürze ein anschauliches Bild von deren Wandlungen, für die bis vor kurzem immer das europäische Vorbild, gleich, ob zur Zeit der kopierten alten Stile oder der bewußten Abkehr von ihnen im Vertikalismus und Konstruktivismus, maßgeblich ge- wesen ist. Nach dem Welikriege sebte aber bei Architekten und Bauherren das Streben nach eigenen Ausdrucksformen unter Anpassung an die alte bulgarische Baukunst ein, man will diese nicht sklavisch kopieren, sondern sucht die traditionellen Formen dem neuen Material und zeitgemäßen Er- fordernissen anzupassen. Auf diesem Gebiet hat gerade Sofija die Füh- rung übernommen. a , | Der wirtschaftliche Teil wird durch einen Aufsatz des Dozenten Il. la- nulov über den Stand der Landwirtschaft im Sofioter Kreise eröffnet, welcher deutlich zu erkennen gibt, daß man weit davon entfernt war, in dieser Jubiläumsschrift den Stand der Dinge tendenziös rosig darzustellen. ja- nulov stellt auf Schritt und Tritt Mängel fest und urteilt schonungslos über die Systemlosigkeit, mit welcher fast alle Meliorationsversuche seitens des Sofioter Bezirksrates unternommen worden sind, besonders scharf äußert er sich über den Raubbau im Forstwesen. nun Aufsatz über das Hand- werk in Sofija beginnt mit einem interessanten Rückblick auf Handwerk und Zunftwesen des alten Bulgariens und über die Maßnahmen zu ihrer Hebung im befreiten Bulgarien; der Schneiderzunft ist ein längerer Abschnitt gewidmet, weil sie die älteste und bestorganisierte aller bulgarischen Zünfte ist. Eine Statistik des gesamten Handwerks und Aufzählung aller Hand- werkerverbände in Sofija beschließen den Aufsak. Die Bedeutung Sofijas als Industrie- und Handelszentrum, der Stand der Aktiengesellschaften, des Bank- und Genossenschaftswesens u. a. m. wird in besonderen Aufsätzen dargestellt, ebenso werden in der Abteilung für 5 und soziale Fürsorge alle einschlägigen Punkte ausführlich behandelt. Besonders ist es der Aufsab von Janulov über die Sozialpolitik der Stadt, der in sehr lebensvoller Weise die verschiedensten Gebiete des öffentlichen Lebens beleuchtet und die Schwierigkeiten dem Leser naheführt, mit welchen z. B in der Wohnungsfrage die Verwaltungsorgane zu kämpfen haben, um das Niveau der Lebenshaltung in den unteren Klassen zu heben. Es gibt wohl kein Gebiet, in welchem sich die traurigen Zustände der Nachkriegszeit deutlicher aussprächen als hier. Emmy Haertel.

Korespondencija Racki-Siroßmayer. Knjiga l: Od 6. okt. 1860 do 28. dec. 1875. O stogodiänjici rodjenja Franje Račkoga izdala Jugoslavenska Akademija Znanosti i Umjetnosti. Uredio Ferdo Sisié. Zagreb 1928, 414 S.

Im Herbst 1928 sollte die 100. Wiederkehr des Geburtstages Franjo Ratkis, des bedeutenden kroatischen Historikers, Politikers und Kultur- pioniers, unter Beteiligung der gesamten jugoslavischen wissenschaftlichen Öffentlichkeit in Agram festlich gefeiert werden. Durch die gerade akut ge- wordene politisch-nationale Spannung zwischen Kroaten und Serben wurde jedoch die Durchführung einer gemeinsamen Feier unmöglich. Die jugo- slavische Akademie ehrte das Andenken ihres Hauptorganisators, Mit- begründers und ersten Präsidenten durch die schon lange dringend er- wünschte kritische Ausgabe der Korrespondenz Ratki-Stroßmayer und legte die . dieser Aufgabe in die Hände des berufensten Kenners, des Historikers Šišić. Mit dieser Korrespondenz, deren eine Teil in diesem Band vorliegt ein zweiter Band folgt demnächst —, wird ein einzigartiges

92

wichtiges Quellenmaterial für die Erkenntnis der politischen, nationalen und kulturellen Geschichte der Kroaten und der übrigen Jugoslaven im 19. Jahrh. der weiteren wissenschaftlichen Offentlichkeit zugänglich gemacht. Die reichhaltigen personellen und sachlichen Erläuterungen Šišić’, der übrigens in diesen Tagen (März 1929) den 60. Geburtstag feiert die angekündigte Festschrift erscheint im Herbst —, erleichtern wesentlich die Benübung, ebenso der Personenindex am Schluß des Bandes. Graz. J. Mail.

Oleksander Kolessa: Pivdenno-volynSke HorodySée i horo- dyski rukopysni pamjatnyky XII—XVI v. (Siidwolhynisches Horodysée und die HorodySéer handschrifflichen Denkmäler aus XIL—XVI. Jahrh) Kap. I-III im Naukovyj Zbirnyk Ukrajinskoho Universytetu v Prazi (Wissenschaftliche Sammel- schrift der Ukr. Univ. in Prag), Bd. I, Prag 1923, S. 23—65. Kap. IV im juvyleinyj Naukovyj Zbirnyk Ukr. Universytetu v Prazi, prysvjalenyi P. Prezydentovy Ces.-Slov. Respubliky Prof. Drovy T. G. Masarykovy dl’a vSanuvanita 75. rokovyn joho narodZenfia. (Wissenschaftl. Jubiläumssammelschrift, gewidmet dem Prasidenten der Cechoslov. Republik Prof. Dr. T. G. Masaryk zu seinem 75. Geburtstag.) Prag 1925, S. 406—432.

Der bekannte ukrainische Philologe und Literaturhistoriker Professor O. Kolessa behandelt in seiner ziemlich großen Studie die im alten süd- wolhynischen Kloster in Horody3te entstandenen oder zu demselben in irgendeiner anderen näheren Beziehung stehenden literarischen Denkmäler. Da unter. den Horody3ter Handschriften sich auch die schon seit längerer Zeit bekannten und für die Geschichte der ukrainischen Sprache sehr wich- tigen Denkmäler, wie z. B. die Chrystynopoler Episteln oder das sog. Buéacer Evangelium befinden, gewinnt diese Studie, deren Inhalt die kriti- schen Bemerkungen und Ergänzungen zu den früher herausgegebenen und die paläographische Beschreibung sowie philologische Analyse der bis

in unbekannten Denkmäler ausmachen, eine besondere Bedeutung.

Bis jetzt sind die vier ersten Abschnitte der Arbeit im Druck erschienen. Im ersten Abschnitt finden wir die allgemeinen, einführenden Be- merkungen über das HorodySéer Kloster und über seine Handschriften. Verf. würdigt zuerst, auf Grund der in der bekannten Wolhynischen Chronik enthaltenen Angaben, die Bedeutung Wolhyniens als eines alten ukrainischen Kulturzentrums und hebt besonders die diesbezüglichen Verdienste des wolhynischen Fürsten Volodymyr Vasyl’kovy© hervor. Es folgt eine Bestimmung der geographischen Lage des ehemaligen Horody3te und eine kurze, auf (Grund des vom Verf. in der Kirche in HorodySée entdeckten und bisher in der Wissenschaft un- bekannten Seelenmessenregislers konstruierte Geschichte des jest schon nicht mehr bestehenden Horody3ter Klosters. Weiter stellt der Verfasser auf Grund untriglicher Merkmale die HorodyScer Herkunft einiger wichtigen Handschriftendenkmäler fest. Etwas länger verweilt er bei der umfang- reichen, aber keinesfalls lückenlosen Motivierung der Horody3der Herkunft zweier nur hypothetisch dieser Handschriftengruppe angehörender Denk- mäler, und zwar der Lavrover Fragmente eines Evangeliums aus 12.—13. Ih. und der Chliv&aner Fragmente eines Psalteriums aus derselben Zeit.

Der zweite Abschnitt ist der Behandlung des wichtigsten und ältesten HorodySéer Denkmals, und zwar den HorodySéer Episteln aus 12. Jahrh., die bis jetzt in der Wissenschaft unter dem Namen „Chrystyno- poler Episteln“ bekannt waren, gewidmet. Es wird die interessante Ge- schichte dieses zwar in Chrystynopil entdeckten, aber in Horody3te ent- standenen Kodex verfolgt und seine von KaluZniackyj angefertigte Aus-

95

gabe kritisch gewürdigt. Dann geht der Autor zur Bestimmung des Alters dieser Handschrift über, wobei er die auf Grund der falschen paläo- graphischen Observation des KaluZniackyj entstandene Ansicht, daß dieses Denkmal aus Galizien stammt, einer gründlichen Kritik unterzieht und ab- Ichnt. Ebenfalls die kritische Betrachtung der gesamten späleren dies- bezuglichen Literatur sowie die erste genauere Analyse der Sprache des Denkmals liefern schlagende Beweise dafür, daß die HorodyScer Episteln en ee Denkmal stidwolhynischer und keinesfalls galizischer Her- unft sin

Es folgt im dritten Abschnitt eine genaue paläographische Beschreibung und sprachliche Analyse der vom Autor entdeckten und bis dahin_unver- öffentlihten HorodySter Pergamentblatter eines Evan- geliums aus 12.—1 3. Jahrh. Die ausführliche wissenschafltliche Be- handlung dieser aus einem im 12.—13. Jahrh. vermutlich in HorodySée ge- schriebenen Kodex stammenden Fragmente führt den Verf. zur Uber- zeugung, daß diese zwar nicht viele, aber deutliche altukr. dialektologische Merkmale aufweisen und der Gruppe der eklektischen Übersetzungen an- gehören, wobei aber einige Versuche der selbständigen Konzeption der Ubersebung zum Vorschein kommen. Der Text der Fragmente wurde in der Studie sorgfältig wiedergegeben; es ist auch eine, leider nur teilweise, Photoreproduktion beigefügt.

Der vierte und umfangreichste Abschnitt behandelt das schon seit der Bemerkung von A. Peiru3evy© aus dem Jahre 1888 und hauptsächlich seit der im Jahre 1911 erschienenen paläographischen Studie von I. Svjencickvi bekannte, aber noch sehr wenig bearbeitete und nicht herausgegebene sog. Bucacer Evangelium aus 12.—13. Jahrh. In erster Linie beweist der Verfasser auf Grund der im Kodex befindlichen Bemerkung seines Schrei- bers MuSatyé die HorodySéer Herkunft des Denkmals und schlägt vor, den falschen Namen, den das Denkmal seinem Fundorte verdankt, endlich auf- zugeben und den einzig richtigen Namen ,HorodyS¢er Evan- gelium“ zu gebrauchen. Weiter gibt der Autor, trozdem er die Not- wendigkeit einer vollständigen Ausgabe des ganzen Textes einsieht, doch nur eine ziemlich genaue paläographische Beschreibung des Denkmals, eine Analyse seiner Sprache und Würdigung seiner großen dialektologischen Bedeutung. Wir haben also zwar noch keine vollständige Ausgabe des Textes, im ganzen kann man sich aber schon jetzt auf Grund der Studie von Prof. Kolessa und der dort wiedergegebenen Fragmente des Textes ein ziemlich genaues Gesamtbild des Denkmals entwerfen.

Einen besonderen Wert hat die genaue Besprechung der Phonologie der Sprache der HorodyS¢er Blätter sowie des Eyangeliums. Der Verfasser behandelt alle diesbezüglichen Eigentümlichkeiten der beiden Denkmäler und hebt die dialektologische Bedeutung vieler Merkmale, in erster Linie des sog. neuen Jat’ (B), als untrüglicher Zeichen ihrer ukr. Herkunft hervor. In dieser Beziehung ist die Arbeit eine wertvolle Ergänzung einer früheren, für die Geschichte der ukr. Sprache sehr wichtigen Studie von demselben Autor, und zwar seiner „Dialectologischen Merkmale” (Archiv f. slav. Phil. XVIII.], und gewinnt die allgemeinere Bedeutung einer sich nicht bloß auf die Beschreibung der neuen bzw. der nicht gut genug bekannten Denkmäler beschränkenden, sondern auch das Material objektiv beurteilenden und aus ihm die Schlüsse ziehenden wissenschaftlichen Studie.

Berlin. M. HnatySak.

Prof. Dr. Oleksander Kolessa: Pohl’ad na istoriju ukra- jinSko-€eSkych vzajemyn vid X. do XX. v. (Überblick der Ge- schichte der ukrainisch-tschechischen Beziehungen vom X. bis zum XX. Jahrh.) Prag 1924. 8°, S. 16.

Die vorliegende kleine synihetische Arbeit gibt eine flüchtige, aber

trobdem sehr instruktive, auf einem zwar meistenteils bekannten, aber hier sorgfältig in ein Ganzes zusammengetragenen Material beruhende Dar-

94

stellung der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen dem {schechi- schen und ukrainischen Volke im Laufe der 10 letzten Jahrhunderte. Der überblick wird mit der Darlegung der ersten historisch belegten Beziehun- gen des Kiever Staates zu den Tschechen eingeleitet. Weiter verfolgt der Verfasser die ununterbrochene Keite der Wechselwirkungen in allen historischen Etappen und hebt besonders die kulturellen und literarischen Beziehungen der Zeit der nationalen Wiedergeburt der Slaven hervor. Berlin. M. HnatySak.

Prof. Dr. Oleksander Kolessa: Pohľad na istoriju ukra- jinSkoji movy. (Überblick der Geschichte der ukrainischen Sprache.) Prag 1924. 8°, S. 43.

In der Form einer akademischen Fesirede gibt hier der Autor einen kurzgefaßien, trokdem aber vollständigen Überblick der geschichtlichen Entwicklung der ukrainischen Sprache, wobei er auch die Ergebnisse der neuesten Forschungen auf diesem Gebiete bericksichtigt. Nach einer knappen Darlegung der wichtigsten historisch-philologischen Vorkenntnisse, die hauptsächlich die Siedlungsfrage der altukrainischen Stämme behandelt und sich mit den diesbezüglichen Theorien von Pogodin und Sobolevskij und mit deren Widerlegung durch die moderne Wissenschaft befaßt, geht der Verfasser zur eigentlichen Geschichte der Sprache über, verweilt län- gere Zeit bei der Aufzählung der wichtigsten altukrainischen Schriftdenk- mäler und bei der Behandlung ihrer phonologischen und morphologischen Eigentümlichkeiten und korrigiert auf Grund der kritischen Betrachtung des Materials und mit Hilfe der Schmidtschen Wellentheorie die veralteten, unrichtigen Ansichten über das Verhältnis der ostslavischen Sprachen zu- einander. Dann wird das allmähliche Eindringen der weiteren Elemente der Volkssprache in die alte Schrifisprache bis zum Ende des 18. Jahrh. verfolgt. Diesem Abschnitt ist ein lehrreicher Exkurs über die Geschichte der altukrainischen Schriftsprache in südwestlichen Gebieten des ukrai- nischen Territoriums beigefügt. Viel Aufmerksamkeit schenkt der Verfasser auch den gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen dem Ukrainischen einerseits und den Sprachen der slavischen und nichislavischen Nachbar- völker anderseits. Den Übergang zur Behandlung der modernen, im Gegensatze zur alten Schriftsprache auf der ganz volkstümlichen Basis be- ruhenden Literatursprache, bildet die geschichtliche Übersicht der Entwick- lung einzelner ukrainischer Mundartengruppen und Darlegung ihrer wich- tigsten Eigentümlichkeiten. Der Arbeit wurde ein wertvolles Verzeichnis der wichtigsten wissenschaftlichen Literatur des Gegenstandes beigefügt.

Berlin. M. HnatySak.

„Rok 1863 na MihszczyZnie.“ Verlag des Instituts für weißrussische Kultur. S. 216. Minsk 1927.

Die Verfasser dieser Publikation betrachten sie selbst als Versuch: sie stellen sich die doppelte Aufgabe festzustellen, was die Archivmaterialien der Privatkanzlei Seiner Majestät für die Erforschung der Ereignisse von 1865 in Weißrußland bieten können, und ferner der akademischen Jugend „ein anschauliches Hilfsmittel für das Studium der Quellen zur Geschichte der bedeutsamen Ereignisse von 1863 im Gouvernement Minsk” zu bieten. Aus didaktischen Gründen sind die bisher z. T. unbekannten Archivmateria- lien mit einem Anhang versehen, der „die Beleuchtung der Ereignisse“ bieten soll zwecks größerer Anschaulichkeit. Aus der gewaltigen Masse der Archiv- materialien über die Ereignisse des Jahres 1863 in Weißrußland wählten die Verfasser zur Publikation zunächst die über die Ereignisse im Gouvernement Minsk. Hier wurde das erste Zeichen für den Aufstand durch das bekannte Protokoll des Adelskongresses im November 1862 in Minsk gegeben. Hier wurde der Aufstand auch tödlich getroffen und die Prinzipien ausgearbeitet,

95

die eine Wiederholung des Aufstandes unmöglich machen sollten. Diese Prinzipien werden sehr präzis in den Briefen des General-Gouverneurs Murav’ev an den Chef der Gendarmen Fürst Dolgorukov formuliert. Die Sammlung ist bei weitem ‘nicht volistandig, sondern, wie es bei einer fiir den akademischen Unterricht bestimmten Publikation wohl auch nicht anders zu erwarten war, enthält sie nur die für die Politik der zaristischen Regie- rung besonders charakteristischen Dokumente. Sie enthält in der Anlage die Denkschrift des Metropoliten Joseph S&ma3ko an den Caren Alexander Il. (vom 26. Februar 1859) „Uber die gegenwärtige Lage Polens“; zwei Geheim- briefe von Murav’ev an den Chef der Gendarmen Fürst Dolgorukov. Ferner enthält die Sammlung die untertänige Adresse der polnischen Gutsbesißer des Gouvernements Minsk an den Zaren mit der Bitte um Verzeihung und Vergebung. Die Denkschrift von S&ma3ko ist bereits wiederholt veröffent- licht worden. Hier ist aber zum ersten Male die Wiedergabe nach einem offiziellen Original mit den Randbemerkungen des Kaisers erfolgt. Von den Geheimbriefen Murav’evs ist der zweite 1913 in der Zeitschrift „Oolos Minuv3ago“ veröffentlicht worden, der erste Brief war bisher nur in Aus- zugen bekannt. Die Briefe von Murav’ev geben eine „Philosophie“ seiner Politik im Nordwesigebiet. Aus seinen Briefen erhellt sein Kampf mit der Zentralregierung, die anscheinend für eine mildere Behandlung der polni- schen Gutsbesiger war. Die bauernfreundliche Politik Murav’evs erregte deutliche Beunruhigung bei den russischen Klassengenossen der polnischen Gutsherren. Man muß dabei berücksichtigen, daß sich die bauernfreundliche Politik Murav’evs kurz nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland ent- faltete, die auf dem Hintergrund dumpfer Bauernunruhen erfolgte. Murav'ev bemüht sich, den Nachweis zu führen, daß „der Staat sich im Nordwest- gebiet nur auf die Bauernschaff“ stützen könne. Aus den Dokumenten der Sammlung ist zu ersehen, daß die Initiative zu der untertanigen Adresse von dem Adelsmarschall ausging, die Unterschriften wurden von der Polizei laut Befehl des Gouverneurs gesammelt. Es wurden 6200 Unterschriften adliger Polen gesammelt ein Beweis dafür, daß die aktive Teilnahme der polnischen Adligen am Aufstand im Gouvernement Minsk kaum sehr bedeutend gewesen ist. Das Vorwort zu der Sammlung stammt aus der Feder eines aktiven Publizisten, nicht eines objektiven Historikers. Wilna. Vladimir Samojlo.

Sozyjalistyény ruch na Belarusi u prokljamacyjach 1905 g. (Die sozialistische Bewegung in Weißrußland in der Flugblattliteratur des Jahres 1905.) Instytut Belarusk. kultury. Minsk 1927. 256 S.

Die Sammlung enthält 114 Flugblätter verschiedener sozialistischer Gruppen, die 1905 auf dem Territorium Weißrußlands wirkten. Von all diesen Aufrufen sind nur 10 in weißrussischer Sprache, 3 in jiddischer Sprache, die übrigen Aufrufe sind in großrussischer Sprache abgefaBt. Die Redaktion gibt selbst zu, daß die Sammlung grobe Lücken aufweist: es fehlen gänzlich Aufrufe in litauischer Sprache, die Zahl der weißrussischen Flugblatter ist überraschend gering. Dagegen sind im vorliegenden Buch andere Materialien vorhanden, die keine Flugblätter sind, aber wichtige Anhaltspunkte für die Geschichte der sozialistischen Parteien in Weißruß- land bieten. Die meisten Aufrufe sind nach authentischen Flugblattern jener Zeit reproduziert worden, z. T. nach Materialien der Polizeiarchive. Die Gliederung der Flugblatter erfolgte nach der Parteirichtung und regionalen Gesichtspunkten. Vor jedem Flugblatt ist eine Vorbemerkung vorhanden mit Angaben über die näheren Umstände seines Erscheinens. Jede Abtei- lung der Sammlung enthält eine kritische Würdigung des vorhandenen Ma- terials. Die Sammlung enthält ferner ein Namens- und Ortsregister. Die Verfasser der Sammlung sind das wirkliche Mitglied des Instituts für weiß- russische Kultur M. Mialéska, I. Witkouski und S. Zilunovié. Die Sammlung stellt den ersten Versuch der zusammenfassenden Publikation sozialistischer Agitationsliteratur aus dem Jahre 1905 in Weißrußland dar. Die schwung-

96

hafte Vorrede des Dichters Zilunoviè nötigt den Historiker bei der Benutzung dieses Materials zu besonderer Vorsicht, da das Bild, das der Verfasser von dem Entwicklungsgang der Revolution von 1905 in Weißrußland ent- wirft, eine Mischung von Wahrheit und Dichtung darstellt, eine Schilderung, die dem Dichter Zilunovié mehr Ehre macht als dem Historiker Zilunovié. Hinter so manche seiner Behauptungen dürfte man ein Fragezeichen stellen. Mit Recht stellt der Verfasser fest, daß zu Beginn des Jahres 1905 in Ost- weißrußland die Russische Sozialdemokratie und die Jüdische Sozialdemo- kratie (Bund) starken Anhang in den Massen hatten, während in Westweif-~ rußland die Polnische sozialistische Partei und die sozialdemokratische Partei Litauens und Weißrußlands dominierten. Beachtenswert sind die Ausführungen über das gemeinsame Vorgehen weißrussischer und jüdischer Arbeiter unter dem Einfluß der Sozialdemokratie. Dagegen dürften die Aus- führungen über die sozialdemokratischen Einflüsse in der weißrussischen Bauernschaft i. J. 1905 retrospektiv konstruiert sein, da Verf. an anderer Stelle selbst zugibt, daß in der Bauernschaft mit Erfolg hauptsächlich die Partei der Sozial-Revolutionäre und die weißrussische sozialistische Hromada arbeiteten. Fälschlich behauptet der Verf., daß die weißrussische sozia- listische Hromada 1902 gegründet wurde. Einer der Mitbegründer dieser Partei, A. Luckevié, hat vor kurzem in einer Broschüre, die dem Jubiläum des 25jahrigen Bestehens dieser Partei gewidmet war, das Gründungsjahr als 1903 festgestellt. Der als Mitbegründer der sozialistischen Partei Weiß- rußlands genannte M. Falkowski dürfte wohl Falski sein.

Die Sammlung bietet einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der Geschichte der revolutionären Bewegung in Weißrußland.

Wilna. Vladimir Samojlo.

S. NekraSevié: Sovremennoe sostojanie izucenja belorusskago jazyka. (Der gegenwärtige Stand des Studiums der weißrussi- schen Sprache.) Arbeiten d. Akad. Konferenz zur Reform der weißrussischen Orthographie und des Alphabets. Minsk. Ver- lag des Instituts für weißrussische Kultur. 1928.

S. NekraSevié der Vorsitzende der Abteilung fur Sprache und Lite- ratur des Instituts für weißrussische Kultur in Minsk gibt eine eingehende übersicht der Bibliographie aller philologischen Abhandlungen über Probleme der weißrussischen Sprache, die in den lezten 5—6 Jahren er- schienen sind. Seine Darstellung umfaßt die entsprechende Literatur sowohl in weißrussischer Sprache, wie auch die fremdsprachliche Literatur.

„Die gewaltige Tatsache der Wiedergeburt der weißrussischen Staat- lichkeit hat die unerschütterlichen Grundlagen für die normale Entwicklung der weißrussischen Sprache gelegt. Die weißrussische Sprache hat sich aus einer Gesamtheit lokaler Dialekte zu einer wissenschaftlich erforschten literarischen Sprache entwickelt, die berechtigt ist, auf der Grundlage der Gleichberechtigung ihren Plab unter den anderen slavischen Sprachen ein- zunehmen.” Man kann nicht umhin, in dieser Außerung von Nekraševič ge- wisse Ubertreibungen festzustellen. In 5—10 Jahren hat noch kein Volk der Welt eine „wissenschaftlich erforschte literarische. Sprache“ geschaffen. Auch das 5 Volk nicht. Die Schaffung der literarischen weiß- russischen Sprache beginnt in Wirklichkeit nicht etwa mit der Schaffung der F sondern vollzieht sich mühsam und langsam unter dem

Einfluß der russischen, polnischen und ukrainischen Literatur. Jeder Ver- such, diese Entwicklung zu beschleunigen, müßte natürlich dazu führen, daß die fremdsprachlichen Elemente statt die in Entstehung begriffene weiß- russische literarische Sprache lediglich zu beeinflussen, sich wie reißende Ströme in ihr Bassin ergießen würden. Dieser Gefahr hat nun allerdings die weißrussische Eigenstaatlichkeit vorgebeugt, dem Zufluß fremdsprach- licher Bestandteile organische nationale Filter entgegensekend, die das

TNF 5 97

neue ‚sprachliche Material im schöpferischen Herd des weißrussischen „Ge- müts“ verarbeiten.

Das bisherige Studium der weißrussischen Sprache beschränkte sich laut den Ausführungen des Verfassers auf die Volkssprache und die alte Sprache der mittelalterlichen weißrussischen Literatur. Die Sprache der modernen weißrussischen Literatur wurde von den Forschern bisher nicht berücksichtigt. Die Eigenstaatlichkeit Weißrußlands machte die Schaffung einer literarischen weißrussischen Sprache zur unbedingten Notwendigkeit. Das Ideal wäre nach Ansicht des Verfassers die Einheit von Volkssprache und literarischer Sprache. Dem steht jedoch zunächst das niedrige kulturelle Niveau der weißrussischen Volksmasse entgegen. Hinzu kommt die Wir- kung der politischen Teilung Weißrußlands. Diese wirkt sich in ortho- graphischen und lexikalischen Verschiedenheiten aus. Es wäre indessen Bean eine orihographische und lexikalische Einheit einfach zu dekre- ieren, wozu im Lande des allmächtigen Dekrets leider eine große Ver- suchung besteht. Die „Konferenz der gegenseitigen Konzessionen“, auf die der Verfasser hofft, muß unter den obwaltenden Umständen, die eine Füh- lungnahme der Sprachforscher Polnisch-Weißrußlands und Sowjetweißruß- lands so gut wie unmöglich machen, als wenig wahrscheinlich bezeichnet werden. Dies beweist am besten die Tatsache, daß dir Vertreter der Wil- naer weißrussischen Wissenschaftlichen Gesellschaft vernindert wurden, an der ersten derartigen Konferenz in Minsk teilzunehmen.

Der zweite Teil der Arbeit des Verfassers enthält eine Übersicht der Arbeiten der Abteilung für Sprache und Literatur am Institut für weiß- russische Kultur in Minsk. Diese Abteilung hat 5 Unterabteilungen: eine terminologische, eine lexikalische, eine orthographische, eine folkloristisch- dialektologische und eine literarische.

Besondere Schwierigkeiten machte die Schaffung einer wissenschaft- lichen Terminologie, da fast sämtliche Vorarbeiten fehlten. Die terminolo- gische Unterabteilung schuf 9 Wörterbücher wissenschaftlicher Terminologie für das höhere Schulwesen. Diese Wörterbücher enthalten 11641 Aus- drücke. Es liegen bereits 9 weitere druckfertige Wörterbücher mit 25 000 Ausdrücken vor. Es besteht die noch weit schwierigere Aufgabe, die Ter- minologie für die Hochschulen zu schaffen. Der Verfasser gibt selbst zu, daß manche neue Ausdrücke gekunstelt sind und hofft, daß die Praxis da Korrekturen vornehmen werde. Eine nicht minder wichtige Arbeit ıst die Schaffung des Worterbuches der lebenden Volkssprache. Es liegen die Manuskripte von einem russisch-weißrussischen und einem weißrussisch- russischen Wörterbuch vor. Beide sind von NekraSevié und Bajkow verfaßt und enthalten 60 000 resp. 30000 Wörter. Als Unterlage für diese Arbeiten dienen die bereits vorhandenen Wörterbücher von Nosovié, Dobrovol’ski, Spilevski und Medvédski, sowie eine spezielle Enquete auf dem Gesamt- gebiet Weifruglands. An folkloristisch-dialektologischem Material liegen 960 Druckbogen vor. Es handelt sich dabei um gänzlich neues, bisher un- bekanntes Material.

Hinzu kommen die Sammlungen, die in den wissenschaftlichen Anstalten Leningrads und Warschaus untergebracht sind und zum Teil nur im Manu- skript vorliegen. Die literarische Unterabfeilung beschäftigt sich vorwie- gend mit der modernen Literatur. Verfasser schließt seine Ausführungen mit dem Hinweis, daß das Institut für weißrussische Kultur sich keinerlei allgemein-philologische Aufgaben stellt, sondern lediglich der Erforschung und der Bearbeitung der weißrussischen Sprache dient.

Wilna. Vladimir Samojlo.

JosefPekaf, „Žižka a jeho doba“. l. Teil: „Die Epoche unter be- sonderer Berücksichtigung Tabors“, SS. XVI u. 283. II. Teil: „Jan Žižka“, SS. XIII u. 281. Prag, Verlag: Vesmír, 1927—1928.

Gleich in der Einleitung seines Werkes vermerkt der Autor, daß sich seine Arbeit in der Auffassung der böhmischen konfessionellen Revolution,

98

vor allem in der Auffassung des Taboritentums teilweise von dem von Palacky entworfenen Bild unterscheidet. Die Ausführungen Palackys datieren 50 Jahre zurück, hingegen stammen ihre Konzeptionen aus der Zeit der wissenschaftlichen Anfänge Palackys (also vor 100 Jahren), so daß es nur natürlich erscheint, wenn sie im Zeichen seiner geistigen Geburts- statte stehen. Es handelt sich hier also um eine Zeit, in welcher der Romantismus, Nationalismus und Liberalismus sich zusammenschlossen, um das Bild der fernen Vergangenheit, die gewissermaßen auch als Muster und Programm für die Zukunft dienen sollte, zu idealisieren und den eigenen Vorstellungen und Zielen näher zu bringen. Je mehr sich aber die breite Öffentlichkeit diese Auffassung zu eigen machte, um so mehr war die Wissenschaft, die sich schon im Werke W. Tomeks mit ihr zu identifizieren weigerte, von Zweifeln über ihren Wert erfüllt, obwohl eine kritische Re- vision derselben auf ausreichend breiter Basis in Wirklichkeit nicht erfolgte. Dagegen haben die Studien und Editionen der letzten 50 Jahre, darunter namentlich die Arbeiten J. Golls und Sedläks in betrachtlichhem Maße zu einem tieferen Verständnis für den Entwicklungszusammenhang dieser böhmischen Bewegung beigetragen. Um aber die Lösung dieser so wich- tigen Frage in ihrer ganzen Größe zu erkennen, bespricht Autor die ein- zelnen Seiten dieser Frage in eingehendster Weise, indem er zunächst ein umfangreiches Material von Zeugenaussagen, und zwar in authentischem Zusammenhang vorlegt. wobei er bei der Einvernahme dieser Zeugen den Vertretern aller Parteien und Richtungen das Wort erteilt. Dabei wird dem Charakter der Quellen und der Individualität ihrer Autoren streng Rechnun getragen und überhaupt wie er selbst zugibt mehr darauf Bedach genommen, die Leute und Ereignisse zu verstehen, als sie zu beurteilen. Im ersten Teil berührt der Autor die dem Tode Hussens nach- folgende Zeitepoche und die ideelle Forisetzung des Werkes Hussens, das im Wirkungskreis namentlich Jakoubeks, Nikolaus von Dresden und Peier Chel- cickys gewissermaßen einen geistigen Übergang zum Taboritentum darstellt. Die große Bedeutung in der Entwicklung der böhmischen Revolution nach dem Tode Hussens erblickt Autor vor allem ın der Tätigkeit zweier Männer, Jakoubeks aus Stfibro, eines Universitätskollegen Hussens und Nikolaus’ von Dresden, eines deutschen puritanischen Gelehrten, der wegen seiner Keberlehre aus Dresden vertrieben wurde. Autor nennt Jakoubek einen radikalen Verfechter des Gesetzes Gottes, der die Rückkehr zur ursprünglichen Kirche predigt. Bereits im Jahre 1410 hält er an der Universität einen Vortrag, worin er der Kirche des Antichrist, der falschen Kirche die wahre Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen entgegenstellt und den Christen die Verteidigung der evangelischen Freiheit bis zum Tode auf- erlegt und im Jahre 1412 in einer Rede den Papst als größten Antichrist bezeichnet. Besonders starken Einfluß nahm auf die Taboriten die Lehre Nikolaus’ von Dresden, der sich aber auch auf Jakoubek ausdehnte, den er gut kannte. Nikolaus, der ein guier und versierter Kenner der Schrift, namentlich aber der Kirchengesefe und damit der Kirchengeschichte war, interessierte sich am meisten für die Frage, wie die ursprüngliche Kirche zur Zeit der Apostel in der Lehre, Verfassung und im Ritus aussah und wann und wie die Irrlehren zunahmen, die ausgemerzt werden sollten. Und darin war er der Lehrmeister Jakoubeks, der aus seinem Material schöpfte. Nikolaus zeigte z. B., wie einfach die Zeremonien der hl. Messe waren. Der Autor verweist darauf, wie Jakoubek unter Benübung seiner Daten dar- legte, wie im Notfall die Messe vereinfacht werden könnte und weiter, daß die Taboriten sich mit Berufung auf die Messe Jakoubeks für ihren Ritus in Wirklichkeit nach Nikolaus richten. Dieser nahm entschieden gegen die Bilder und ihre Verehrung Stellung und diese seine Anschauung wurde von den Taboriten übernommen. Nikolaus bekannte sich zur Waldenser Lehre, daß es kein Fegefeuer gibt. Die Taboriten machten sich diese Lehre Nikolaus’ zu eigen, wenn auch Jakoubek lim November 1415) das Fegefeuer gegen Nikolaus verteidigt. Der Autor bemerkt, daß es sehr schwer falle, die Frage zu lösen, wer der Urheber des Kelches war, sei es nun

99

akoubek oder Nikolaus von Dresden und seine ganze sog.

esdener Schule am Graben. Soviel ist jedoch nur bekannt, daß diese von Jakoubek und Nikolaus eifrig gepredigte Lehre vom Kelch sich rasch verbreitete und damif auch der Kampf um den Kelch, womit erst die bohmische Hussitengemeinde das sichtbare Zeichen ihres Unterschiedes von der offiziellen Kirche erhielt, welche Bewegung bereits im Frühjahr 1415 im vollen Gange ist.

Bei der Schilderung der tragischen Stellung Jakoubeks, wo die Re- volutionsgewalt, die mit einem Angriffe Zelivskys und Zizkas auf das Neu- stadter Rathaus im Jahre 1419 begann, die Ankündigung des offenen Kampfes sowohl an ihn, wie auch an seine Orundsätze, ja geradezu einen Aufruhr gegen die Geseke Gottes bedeutete, wie er es auffaßle und wie es zahl- reiche gemäßigte Tschechen-Hussiten auffaßten. Weiter schildert Autor, wie sich diese Situation durch die Veranstaltung eines Kreuzzuges gegen die böhmischen Keber vollkommen ändert.

Damals (im Mai 1420) kam es zu verschiedenen Übereinkommen mit den Taboriten, an denen auch die Prager Meister und Taboritenpriester Anteil hatten, und in denen das Schwertrecht den Gemeinden allem nach zu schlie- Ben ausdrücklich zuerkannt wurde. Im Zusammenhang damit wurde (seitens der Prager Gemeinde) verzeichnet, daß, im Falle es im Verlaufe des Kampfes zu Irrungen oder Ärgernis erregenden Taten kommen, oder Per- sonen oder die eine oder die andere Kirche zu Schaden kommen sollte, dab dies mit der unerläßlichen Notwendigkeit und Gründen der Verteidigung zu motivieren ist. („Unsere Absicht ist es, alle Sünden zu tilgen.) Doch nicht lange dauerte dieser Zusammenschluß der gemäßigten hussitischen Elemente und wahrhaften Verkünder der Lehre Christi mit den Taboriten, die es in der Praxis häufig für erlaubt hielten, „unter dem Zwange der Verhältnisse“ auch den Besi des Feindes zu überfallen und zum eigenen Gebrauch zu okkupieren. Es dauerte nicht lange, so fret Jakoubek selbst entschieden gegen die Taboriten und ihr Schwertrecht auf. Am energischsten trat jedoch Peter Chel¢icky gegen die Taboriten auf, ein aufrichtiger Feind falschen Christentums, dessen Auswüchse und Schandtaten er voll Anschaulichkeit und mit riicksichtslosem, ja geradezu grimmigem Sarkasmus zu schildern versteht. Anfangs steht Cheldicky den Taboriten ziemlich nahe, die Ab- schwenkung Chel£ickys von ihnen datiert jedoch sozusagen von dem Augen- blicke an, da das Taboritentum nach dem Verrat der Parole „Keine Ge- walt! ins Leben trat.

Das Verhältnis Cheltickys zu den Taboriten und zu Žižka selbst erklärt hier Autor aus der Lehre Cheléickys. Das Leben der Christen soll nach der Lehre Cheltickys der geistige Kampf, der Kampf gegen den Teufel, der Kampf gegen seine Nachstellungen sein, mit denen er auf jeden Schritt das sittliche Gleichgewicht des Christen und seines Seelenheiles be- droht. Uberhaupt ist Cheldicky unermüdlich in der Schilderung all jener Listigkeiten, mit denen der Teufel den Schwächling zur Sünde verführt; deshalb empfiehlt er dem Christen nach dem Beispiel der Heiligen Schrift, zum Schutze gegen den Teufel den Panzer der Gerechtigkeit, nicht der menschlichen, sondern der göttlichen, umzutun, da die menschliche Gerech- tigkeit allein dem Teufel nicht widerstehen könnte. Der Teufel ist sicherlich so klug, in ihr rasch eine jede Schwäche zu entdecken, herauszufinden, wo der Fehler, oder eine schwache Stelle, oder eine Offnung im Panzer sich befindet, „da Žižka, dieser kluge Kämpfer, auf diesen Panzer nicht schie- Ben soll, sondern der Satan, der erprobtere Kämpe, da er weiter sicht, als der einäugige Žižka.“ Es hat den Anschein, als ob Žižka hier mit dem Teufel verglichen würde, und dies deshalb, weil Chelčický sagen will: Der Satan ist noch klüger und gefährlicher als Žižka, als der durch seine mili- tärische Tiichtigkeit bekannte Žižka. Dieser Vergleich ZiZkas mit dem Satan überrascht Cheldicky nicht. Die Gewalt bedeutet für Chelèicky ein Werk des Satans und des Trägers und Repräsentanten der Gewalt, sie stehen also in den Diensten und sind Werkzeuge des Teufels. Ja ganz Tabor be- deutet für ihn eine Versuchung des Teufels.

100

Weiter berührt der Autor noch einige andere in diesem Buch enthaltene geringere Faktoren, die nach dem Tode Hussens in seiner Richtung weiter wirkten und den Taboriten und Zizka den Weg bahnten.

Der zweite Band, der sich ausschließlich mit dem Problem der histori- schen Erscheinung Ziikas befaßt, enthält durchweg kritische Dokumentie- rung, die sich aus den endgültigen Urteilen und Resultaten ergibt.

Einen Gro ofteil desselben füllt das mit ,Zizka in der Darstellung der Gedenkbücher“ betitelte Kapitel Ill aus und enthält im wesentlichen die Aus- sagen der Zeugen eines ganzen Jahrhunderts, angefangen von Zizkas Zeit- genossen bis zu den Enkeln und Urenkeln aus den Anfängen des 16. Jahr- hunderts. Besondere Aufmerksamkeit ist in der kurzen Übersicht auch dem Charakter der Tradition ZiZkas im nächstfolgenden Jahrhundert gewidmet, das durch die Schlacht am Weißen Berg seinen Abschluß findet. Die Zeugen werden dem Leser der Reihe nach mit der erforderlichen Belehrung über den Charakter, Wert und die Bedeutung ihrer Aussagen vorgeführt, so daß sich daraus gleichzeitig auch eine kritische übersicht über die gesamte böh- mische analistische und historische Arbeit des XV. Jahrhunderts ergibt. Im folgenden, mit „Žižka über sich selbst“ betitellen Kapitel versucht Autor durch eine Analyse der Blatter und öffentlichen Kundgebungen Zitkas zu der Erkenninis zu gelangen, wie Zizka über seine Sendung selbst dachte. Beide Unterschiede ergänzen einander gegenseitig und bilden den wesent- lichen Teil des Prozesses Zizkas.

Auf Grund eines Vergleiches der Daten über das Leben des Zeit- genossen ZiZkas, Johann von Mysletin, gelangt Autor zu der Annahme, daß Jan Zizka von Trocnov im Jahre 1378 ungefähr 28—30 Jahre alt gewesen sein muß. Dabei glaubt er, daß Žižka seiner Abstammung nach cher ein im Krumlauer Gebiet aufgewachsener Edelmann war, als ein am Königshofe auf- gewachsener Adeliger, wie hiervon bei Aeneas Silvius die Rede ist. Da- bei setzt Autor voraus, daß er seine dienstliche Karriere vielleicht bei den ihm zunächst stehenden Herren, d. i. bei denen von Rosenberg, begann. Augen- scheinlich stand Zizka überhaupt nicht in den Diensten des Königs, und wenn schon, dann vielleicht in den Jagddiensten des Königs Wenzel. Autor verweist darauf, daß Zizka schon in den Jahren 1406—1408 bei den Straßen- räubern in militärischen, in Söldnerdiensten sieht. Beim Berühren der Da- ten über Zizka stellt Autor die Frage, ob der in der Bande Matéjs wieder- holt genannte Žižka überhaupt mit Jan Zikka von Trocnov identisch ist! Da bis zur Ausgabe des Henkerbuches durch den Archivar Mares gegen 1878 über dieses Kapitel des Lebens Zizkas die Daten des Iglauer Buches nur wenig überzeugend waren, wurden diese von Franz Palacky mit Schweigen übergangen. Der Autor beweist uns in überzeugender Weise,

Žižka durch eine Zeit hindurch Rauberbanden angehörte und er zeigt uns überhaupt, daß zwischen der Historie der erklärten Wegelagerer aus der Zeit König Wenzels und dem bewaffneten Aufstand der Taboriten nach dessen Tode ein gewisser Zusammenhang besteht, oder mit anderen Wor- ten, daß die frühere Historie verschiedentlich zum Verstehen der zweiten Historie beiträgt. Autor führt uns vor Augen, dab überhaupt ein gewisser Teil der böhmischen Gesellschaft, u. z. sowohl der Hochadel, wie auch die kleineren Adeligen, die ihr Auskommen in militärischen Diensten und den damit verbundenen Raubzügen suchten, schon lange zur Zeit des Königs Wenzel in dem Gedanken an die Notwendigkeit der Gewalt und der Freude daran lebte, indem sie den Kampf, ob nun aus ritterlichem Ubermul, oder in der Lust nach Beute, oder aus Langeweile, oder aus Gründen der Erhaltung suchien. Wenn man dann im nationalen Leben mit der großen Parole kam, durch die das Zücken des Schwertes legitimiert oder gar geheiligt wurde, so darf es nicht wundernehmen, daß sich gleich Hunderte Kämpfer bereit erklärten, von denen die einen mit heiliger Begeisterung als Ritter des Ge- dankens in den Kampf zogen, die anderen aber mit nicht geringerem Eifer nach Beute und Raub Ausschau hielten. Die Angst vor der Strafgewalt des Königs und der Autorität des Herrenvolkes vor dem Landgericht bildete,

101

solange ein König da war, einen gewissen Schranken gegen ein Überhand- nehmen der Kampflust und dem eigenen Willen der Edelleute oder der Nation, von dem Augenblick jedoch, wo diese große mittelalterliche Auto- rität fiel, wie wir dies in Böhmen schon zu Beginn der Hussitenkriege sehen, konnte man nicht mehr verhindern, daß das Land zum Schauplatz zahlreicher Kämpfe wurde, wo namentlich im Namen der höchsten sitilichen Autorität, im Namen Gottes zum Kampfe aufgerufen wurde. Der von den bewaff- neten Banden gegen die Feinde des Wortes Gottes angesagte Kampf ähnelte aber in der Methode in einer Hinsicht zur allgemeinen Verwunde- rung den aus persönlichem Haß der Adeligen durch Räuberbanden geführ- ten Kleinkriegen. Der Autor veranschaulicht dies durch die Aufzeichnung aus dem Rosenberger Henkerbuc, dessen 2. Teil die Aussagen der Ge- ächteten aus der Zeit der Hussitenkriege enthält, u. z. v. J. 1420—1429. Auf Grund der Aufzeichnungen dieses Buches verweist Autor auf die Ähnlichkeit der Situation in den Jahren 1420-1429, u. z. zur Zeit der Hussitenkriege und der Tätigkeit Zikkas mit der in den Jahren 1399—1409, zur Zeit der durch die Räuberbanden geführten Kleinkriege. Dabei erklärt uns jedoch der Autor, daß das Bild, das in den Aufzeichnungen des Henkerbuches uber Tabor und die Taboriten und damit über Žižka entworfen wird, allerdings einseitig ist: Wir sehen darin Tabor mit den Augen des Untersuchungs- richters, der jeden, der sich in Tabor aufhielt, oder an den Zügen der Ta- boriten teilnahm, für einen Verbrecher oder Rebellen hielt. Tabor und Zizka bedeuten für ihn sicherlich unzweifelhaft Feinde, die gegen die Rechte und gegen den Landesfrieden verstoßen. Wichtig dabei ist, daß all dies Anklagematerial noch aus der Zeit ZiZkas stammt, daß es durch seine Leben- digkeit und Unmittelbarkeit wirkt und im wesentlichen keinen Zweifel über seine zeitliche Verläßlichkeit aufkommen laßt. Dabei finden wir in dem- selben keine Klage, keine haßerfüllten Worte, die die Urteile über ZiZka verfluchen, man sieht, daß im Lande ein wirklicher Krieg tobt und ZiZka bloß die Rolle eines Führers der Gegenpartei spielt. Seine Taten, Absichten und Methoden werden festgehalten und registriert, und dies allem Anschein nach mit großer Aufmerksamkeit, jedoch in völliger Ruhe. Angriffe gibt es hier eigentlich keine. Was die Taboriten und ihre Methoden in anderen zeitgenössischen Quellen über ZiZka, aber auch in späteren Quellen betrifft, verweist Autor an oberwähnter Stelle dieser Schrift (im 3. Abschnitt) auf die große Zahl solcher von allen Seiten stammenden Klagen. Das Henker- buch überliefert uns bloß eine bestimmte Anzahl konkreter Daten, die für die Kritik dieser Klagen einen wertvollen Behelf darstellen.

Am Schluß des 2. Bandes gibt Autor dem Gedanken Ausdruck, daß das Bild des Kelches nicht im Vordergrund des Gedankens Zizkas stand, son- dern die Bestrafung der Sünder mit dem Schwert und die Störung ihres Vorhabens. Der Kelch bildete den vollen Ausdruck des Programms der hussitischen Tschechen mit der Universität an der Spike. Schließlich kon- zentrierte sich der Kampf der Tschechen um den Kelch, die sich gegen den Katholizismus erhoben hatten, und klang auch in denselben aus. Am Wappen Zizkas jedoch, oder am Banner der Taboriten bildete der Kelch nicht das Symbol fur die Ideen Zizkas.

Die Arbeit Pekars gibt eine neue Übersicht uber die Ereignisse nach dem Tode Hussens zur Zeit Zizkas. Sie basiert auf der Tiefe und meister- haften Kritik der Quellen. Und sie zeigt uns die ganze Frage Zikkas an zahlreichen Stellen in vollig neuer Beleuchtung. Besonders interessant ist die Vorstellung über die Art und die Methoden der Kriegführung ZiZkas (als Vorbild für die Art der Kampfführung der Straßenräuber), die Cha- rakteristik Zizkas auf Grundlage der Henkerbücher und andere. Das Buch Pekafs, das die alte traditionelle Vorstellung über die Tätigkeit Zizkas in der böhmischen Geschichte aufgibt und sich damit auf rein objektive Vor- aussetzungen und Angaben stützt, stellt ein äußerst wichtiges Blatt in der Geschichtsschreibung und Wissenschaft dar.

Preßburg. Eugen Perfeckij.

102

Dr. E. Rippl: Der aliischechische Kapitelpsalier. Einleitung, Text mit kritischen Anmerkungen, Wörterbuch. Prag, Taussig & Taussig, 1928 (= Veroff. der Slawistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen Universität in Prag, Il. Reihe, Heft 1).

Die Psalterhs., die hier zum Abdruck gelangt, war bisher von der For- schung wenig beachtet worden. Wie andere Slavisten wohl auch, habe ich in meinen Vorlesungen gelegentlich auf das Mißverhältnis hingewiesen, daß alle anderen vorhussitischen Psalterien, auch die diirftigsten Fragmente, längst veröffentlicht seien, nicht aber der Kapitelpsalter, obwohl diese Hs. sich (nach Smetänkas Angabe) an wohl zugänglicher Stelle, im Böhmischen Museum, befand. Das Rätsel lost sich jetzt zum Teil: die Hs. hat bei man- chen Gelehrten, auch bei J. Gebauer, als verschollen gegolten, weil ihr Uber- gang aus der Kapitelbibliothek an das Böhmische Museum anscheinend nicht allen bekannt geworden war. Smetänkas Notiz ist dann für Rippl Anlaß gewesen, sich mit dem Kapitelpsalter zu beschäftigen und der Wissen- schaft endlich eine Ausgabe zu schenken. Er gibt auf S. 2 ff. der Einleitung zunächst eine Beschreibung der Hs., dann ihrer Orthographie, endlich der Sprache und Übersebungstechnik. Merkwürdigerweise wird auch in dieser Ausgabe (man kann das auch sonst gelegentlich beobachten) die Meinung der Paläographen über das Alter der Schrift gar nicht angerufen, die Alters- bestimmung erfolgt vielmehr auf Grund der Orthographie (die mit der Koniggraber Sammelhs. verglichen wird) und auf Grund der Sprache; das Ergebnis („ungefähr um 1370“) erweckt keine Bedenken. Sonst seien vor allem die syntaktischen Beobachtungen (S. 12 ff.) als etwas Willkommenes und leider noch gar nicht Selbstverständliches hervorgehoben.

In der Reihe der vorhussit. Psaltertexte stellt die Hs., wie im allg. schon bekannt war, eine Rezension für sich dar, neben den drei andern, die wir mit rein zufälligen Namen (nach dem gegenwärtigen Aufenthaltsort der Haupthss.) die Wittenberger, die Klementiner und die Passauer nennen. Das überaus verwirrte Verhältnis dieser 4 Fassungen, insbesondere die Stellung des Kapitelpsalters zu den anderen Fassungen befriedigend zu deuten, gelingt auch Rippl nicht (S. 18 ff.). Der Rest der Einleitung ist daher vorwiegend der vergleichenden Beschreibung des Wortschagkes gewidmet, die Darstellung der UÜbersebungstechnik ergänzt sich also hier nach der lexikalischen Seite, doch stets mit dem Blick auf die anderen Rezensionen. Von den Ausdrücken, die zuletzt als besonders charakteristische Eigenheiten des Kapitelpsalters sich erweisen, mögen einige der persönlichen Vorliebe des Ubersetzers oder des Abschreibers, also einer rein stilistisch bedingten Wahl, ihr Vorkommen verdanken; bei der Wahl von ve3 für totus (im Gegensab zu celý der anderen Rezensionen) liegt aber doch wohl etwas vor, was dem persönlichen Gutbefinden sich entzieht, vielleicht eine mund- artliche Eigenheit.

Es folgt auf S. 35—129 der Psaltertext, abgedruckt mit einem Grad von Genauigkeit, der für eine Hs. des ausgehenden 14. Jahrhunderts völlig aus- reicht (leise Bedenken in betreff der Grundsäße erweckt allerdings eine Be- merkung in den „Nachträgen“, doch wird die Zuverlässigkeit der geleisteten Arbeit von einem, der sie nachprüfen konnte, durchaus anerkannt (C MF. 15, S. 58). Hinzu tritt moderne Interpunktion, auf die man schließlich auch verzichten könnte. Das umfangreiche Wörterbuch endlich strebt eine be- grenzte Vollständigkeit an, eine Vollsiändigkeit der Worte und der Belege, die für die Beurteilung des Sprachgebrauchs in Frage kommen. Die Anlage des Wörterbuchs entspricht den Forderungen, die man stellen darf, und die ich einem weniger gelungenen Versuch gegenüber vor Jahren einmal for- muliert habe (Deutsche Literaturzeitung 1918, S. 974 f.). Der Fortschritt der Editionstechnik wird an diesem Worterbuch besonders deutlich, wenn man es mit den unvollständigen Wortverzeichnissen früherer Psalterausgaben (Gebauer, Patera u. a.) vergleicht.

Breslau, März 1929. P. Diels.

105

X. Dr. Tadeusz Glemma: Stany pruskie i biskup cheimihski, Piotr Kosika, wobec drugiego bezkrólewia (1574—1576). (Die preußischen Stände und der Kulmer Bischof Peter Kostka wäh- rend des zweiten Interregnums.) Polska Akademja Umiejet- ności. Wydział Historyczno-Filozoficzny. Rozprawy. S. Il. Bd. XLII (67), Nr.3. Kraków 1928. S.74.

Die Zeit der ersten Königswahlen in Polen fand Preußen königlichen Anteils in Opposition gegen die Krone Polens, da es mit dem Unifikations- dekrete v. J. 1569 nicht zufrieden gewesen war. Dieser Separatismus übt, gestußt auf die Tendenzen der Danziger Partei und des deutschen Adels, einen starken Einfluß auf die Stellung der Stände während der beiden Interregnen. Die preußischen Stimmen fielen während der ersten Elektion auf die Kandidatur des Erzherzogs Ernst, dann wurde Heinrich von Valois anerkannt, und auch nach seiner Flucht aus Polen blieb Preußen dem er- wählten König treu. Als aber Heinrich nicht zurückkehren konnte, traten die Stände zur habsburgischen Partei zurück. Weitere Ereignisse aber zwangen sie zur Anerkennung des Königs Stephan Bathory; nur Danzig suchte im offenen Kampfe seine Pläne durchzuführen.

Der Autor hat viel Material durchsucht und, die betreffende Literatur gut beherrschend, neue Quellen in verschiedenen Archiven gefunden. In erster Linie kommt hier das Danziger Staatsarchiv in Betracht, dann das bischöf- liche Archiv in Frauenburg und das Stadtarchiv in Thorn. Grobe Sammiun- gen der ermländischen Bischöfe sind in der Czartoryski’schen Bibliothek in Krakau vorhanden, nämlich des damaligen Koadjutors Martin Kromer. Es wäre noch wünschenswert, im Wiener Staatsarchiv die Stellung und Pläne des kaiserlichen Hofes Preußen gegenüber zu erforschen.

Auf Grund dieses Materials bemüht sich Pater Dr. Glemma, die inneren Kämpfe zu beschreiben, welche durch die religiösen und nationalen Gegen- sake entfacht wurden. Die Privilegien der Provinz bildeten die einzige gemeinsame Sache, die gegen die Unifikationsbestrebung der anderen Teile Polens heftig verteidigt wurde. Doch kann man im Adel, und zwar dem des Kulmer Landes, polnische Einflüsse bemerken, die sowohl auf sozialen wie nationalen Grund sich sfützen. Bei diesen Ereignissen schen wir in erster Linie den Bischof von Kulm, Peter Kostka, nicht nur als offiziellen, sondern auch als effektiven Führer der Stände, dessen vorsichtige Politik zur Aus- gleichung der Gegensätze und zur Erhaltung der Union mit Polen gegen die separatistischen Tendenzen der großen preußischen Städte führte.

Lemberg. K. Tyszkowski.

Waschinski, Emil: Das kirchliche Bildungswesen in Ermland, Westpreußen und Posen. 2 Bde. 558 u. 324 S. Breslau 1928, Verl. Ferdinand Hirt. (Schriften der Baltischen Kommission zu Kiel. Bd. XIII, 1 u. 2.)

In der Jebtzeit, die wie sehen zuvor nach neuen Bildungszielen und Schulmethoden sucht, muß jeder geschichtliche Beitrag zu diesen Problemen freudig begrüßt werden. Denn das geschichtlich Gewordene ist nun einmal die sicherste Grundlage für Umgestaltungen; nur ein Land wie Rußland, das noch kein allgemein fest fundiertes Schulwesen hatte, konnte sich das Ex- perimentieren mit noch nicht genügend erprobten Meihoden leisten; und ob diese dort sich bewähren werden, bleibt abzuwarten. Es muß nun aller- dings von vornherein betont werden, daz das Werk Waschinskis für die erwähnten Probleme nicht viel Neues bringt. Das liegt in der Natur der Sache. Der allgemeine Kulturzustand in den behandelten Ländern war eben noch so tief, daß wir von dem Bildungswesen jener Zeit nichts lernen können. Dies muß erwähnt werden, um nicht irrige Erwartungen in Aussicht zu stellen. Trotzdem handelt es sich nicht etwa nur um ein Werk von rein histo-

104

rischem Interesse; im Gegenteil, es bietet bei der nüchternen, rein objektiven Darstellung Materialien von großem Gegenwartswert. Mit Ausnahme von Ermland 8 Westpreußen und Posen jetzt zur Republik Polen. Es lassen sich aus dem Schulwesen in diesen Ländern zweifellos Schlüsse ziehen, weshalb in Ermland allmählich das deutsche Element die Oberhand gewann, während in Wesipreußen und Polen trob aller Germanisierungs- versuche das Polentum festwurzelte. Auch für die Stellung dieser damals ganz katholischen Länder zum Protestantismus bietet das Werk reiches Material. Es ist schade, daß der Verf. den geplanten dritten und vierten Band, welche das evangelische Schulwesen behandeln sollien, nicht ver- öffentlichen kann, da das hierfür gesammelte Material ihm nicht ausreichend erscheint. Wir würden dann in der Lage sein, einen Vergleich zwischen dem katholischen und protestantischen Bildungswesen zu ziehen und ebenso den Unterschied zwischen deutschem und polnischem Unterricht noch besser zu beurteilen.

Der wissenschaftliche Wert des Werkes muß ausdrücklich hervorgehoben werden. Für die allgemeine Geschichte der behandelten Länder wie auch für die Kirchengeschichte, Geschichte der Pädagogik und des Bildungs- wesens überhaupt erhalten wir ein vollständiges Material, das in systema- tischer, anschaulicher Darstellung verarbeitet ist. Die in den Anlagen ge- druckten archivalischen Mitteilungen geben dem Benutzer Gelegenheit, einen unmittelbaren Einblick in die Quellen zu tun. Der folgende Überblick über den Inhalt wird von der Reichhaltigkeit des Werkes Zeugnis geben.

W. behandelt im ersten Bande die von der Kirche eingerichteten Lehr- anstalten: Pfarrschulen, höhere Schulen, Priesterseminare. In der Einleitung gibt er einen Überblick über die politische und kirchliche Gliederung West- preußens, Ermlands und Posens, über die religiöse und sittliche Stellung des Klerus, die nationalen und religiösen Verhältnisse der Bevölkerung. Durch die geistige Verbindung Deutschlands und Polens kamen der Huma- nismus und die Reformation nach Polen; in Großpolen und Kujavien war der Adel, in Poln. Preußen waren die Städte die Hauptirager der neuen Lehre. Nur Ermland blieb überwiegend katholisch. Durch die Gegenreformation, die durch den Zwist unter den evangelischen Bekenninissen erleichtert wurde, hatten die evangelischen Gemeinden seit dem 17. u. 18. Jahrhundert viel zu leiden. Die Posener Diözesansynode v. J. 1720 bestimmte ausdrück- lich: Häretiker haben nicht das Recht der freien Religionsubung. Diese Vorbemerkungen sind für das Verständnis des Bildungswesens von Be- deutung, und es ist schade, daß der Verf. die politischen und wirtschaft- lichen Verhältnisse nicht eingehend erörtert hat. Vir sehen ja heute klarer als früher, daß letztere geradezu die Grundlage für die geistige Kultur bilden, und daß Bildungs- und Schulwesen die größten Hemmungen erfahren, wenn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unklar sind. Es soll aber nicht verschwiegen werden, daß W. in dem speziellen Teile die sozialen Verhältnisse eingehender behandelt hat.

Als Hauptguellen für die Darstellung des Bildungs- und Unterrichts- wesens kommen wegen der engen Verbindung, die damals zwischen Kirche und Schule bestand, die Synodalstatuten in Betracht, ferner die Visitations- protokolle und die Rundschreiben der Bischöfe. W. gibt deshalb zunächst in chronologischer Reihenfolge die Verordnungen für die Gnesener Kirchen- provinz und die Erzdiözese Gnesen, die Verordnungen für die Diözese Posen, besonders der Synoden v. J. 1642, 1689 u. 1720, die Verordnungen der Diözese Leslau (Synode v. J. 1568, Subkau v. J. 1617, ferner Synoden v. J. 1628, 1634, 1641), der Diözese Kulm-Pomesanien [Synoden 1583, 1605, 1641, 1745), der Diözese Ermland (Synode 1565 unter Kardinal Hosius, 1575, 1610). Die Provinzial- und Diözesansynoden drangen besonders auf die Durchführung der Vorschriften des Konzils von Trient. Die Pfarrer wurden zu Hutern und Pflegern der Pfarrschulen bestellt, nur in Ermland wurde den Gemeinden ein Mitbestimmungsrecht gegeben. Neben der Forderung nach Erteilung des Religionsunterrichies tritt das Verlangen nach Unterweisung im Lesen, Schreiben, Gesang in den Hintergrund. Auch hier hat Ermland

105

genauere Bestimmungen über Unterricht. W. hatte hier klarer die Schluß- folgerungen herausstellen müssen: Die Vernachlässigung der profanen Fächer hatte den Mangel an logischem Denken zur Folge, und wir sehen, wie rein mechanisch den Kindern die religiösen Dinge beigebracht werden. Der Hauptfehler dieser ganzen Erziehung war eben der, da die Hebung des gesamten geistigen Niveaus vernachlässigt wurde.

Die Zahl der Pfarrschulen läßt sich nicht mehr mit Sicherheit fest- stellen. W. sucht durch Analogieschluß aus der uns bekannten Zahl der Pfarreien die der Schulen festzustellen. Die Zahl der protestantischen Schulen war in jenen Gebieten, wo beide Konfessionen und Nationen zu annähernd gleichen Teilen gemischt nebeneinander saßen, bedeutend höher als die Zahl der katholischen Schulen. Nur in Ermland gab es in jedem Pfarrdorfe eine Schule, in allen übrigen Dörfern waren im 16. Jahrhundert nur in ganz wenigen Städten und nur zeitweise Pfarrschulen vorhanden. Der Erzpriester Libor sagte noch am Ende des 18. Jahrhunderts über die Schulen Polens, „daß in diesem verwahrlosten Lande auch nicht die min- desten Schulanstalten getroffen seien“ (94).

Die Vorgesebten der Schullehrer waren die geistlichen Oberen: Bischof, Archidiakon, Dekane oder Erzpriester, Pfarrer. Letztere zogen die Schul- meister gegen ihren Willen zu Dienstleistungen heran, zu denen sie nicht verpflichtet waren. Dem ermländischen Klerus wird bei einer General- visitation 1572/74 vorgeworfen, daß manche Geistliche die Schulmeister mit Botengängen zum Nachbarpfarrer beschweren, in einem Bericht v. J. 1584 heißt es, daß Zank und Streit zwischen Pfarrer und Schulmeister in ganz Pommerellen etwas Gewöhnliches seien. W. behandelt dann im 4. Kapitel den Schulmeister: Zahl und Amtsbezeichnung (der Leiter einer Schule mit mehreren Schulmeistern hieß Rektor, der 2. Lehrer Kantor; die lateinischen Bezeichnungen für Lehrer sind sehr zahlreich). Die Anstellungsverhältnisse gehen am klarsten aus dem Berichte Libors 1798 hervor: „Da die mehrsten Organisten aus Mangel eines Fonds von den Pfarrern müssen unterhalten werden, so werden sie auch wie die Großknechte gedungen und wieder ab- geschafft. Sie unterscheiden sich durch nichts anders von den Knechten, als daß sie etwas singen und auf der Orgel klimpern können.“ Die Vor- bildung war eine ganz verschiedene: Neben Handwerkern finden wir Stu- denten und Magister der freien Künste, neben Bauern Geistliche und Dok- toren der Philosophie. Besonders günstig steht auch in dieser Hinsicht Ermland da, das schon im 16. Jahrhundert in allen Städten zahlreiche wissen- schaftlich gebildete Lehrer aufwies. Das Einkommen bestand zumeist aus Naturallieferungen, Schulgeld, Akzidenzien; die städtischen Schulmeister er- hielten noch ein Gehalt aus der Stadtkasse; die unzureichende Besoldung vieler Lehrer ist erwiesen, doch muß berücksichtigt werden, daß auch das Einkommen vieler Pfarrer, Bürgermeister, Notare nicht viel besser war.

W. behandelt weiter das Schulhaus, die Verpflichtung zum Bau und Unterhalt, Lage und Gestaltung, Herkunft, Geschlecht (meist nur Knaben; wenn auch Mädchen die Schule besuchten, mußten sie getrennt unterrichtet werden; indes wurde diese Verordnung nicht streng durchgeführt), Zahl (der Prozentsatz der eine Pfarrschule besuchenden Kinder war stets verschwin- dend klein und betrug höchstens 6—8 Prozent; die protestantischen Schulen wurden viel besser besucht). In den Stundenplänen ist besonders auffallend, daß der Unterricht schon um 6 Uhr fruh begann und vormittags und nach- mittags je 3 Stunden aufwies. Die Unterrichtssprache war in der Regel die polnische, doch gab es auch eine Anzahl katholischer Schulen mit deutscher Unterrichtssprache; in dem zum größten Teile deutschen Ermlande war auch die Unterrichtssprache deutsch, ebenso im westlichen Negegebiet. Lehr- gegenstand war fast ausschließlich Religion, an den sich eng der Gesang- unterricht anschloß. Weitere Lehrgegenstände waren der Lese- und (seltener) der Schreibunterricht und_das Rechnen, in den Städten auch das Latein. W. gibt eine interessante Zusammenstellung der Lehr- und Lern- mittel 176/87, des Lehrstoffes und der Lehrmethode, der Erziehung.

In ähnlicher Weise behandelt W. die höheren Schulen: die Lubranskische

106

Akademie zu Posen, die Akademie zu Kulm, die Domschule zu Gnesen, ferner die Priesterseminare: das Hauptseminar zu Kalisch-Gnesen, die deut- schen Nebenseminare zu Camin und Konitz, das Seminar der Diözesen Posen, Leslau, das deutsche Nebenseminar zu Altschottland bei Danzig, das Semi- nar der Diözese Kulm-Pomesanien, Ermland, das „Päpstliche Seminar“ zu Braunsberg. Archivalische Mitteilungen (278/468) und die Geschichte des Evangelischen Danziger Landschulwesens vom Zeitalter der Reformation bis zum Beginn der Preußischen Herrschaft 1793 (469/530) und Ungedruckte Aktenstüucke und Archivalische Mitteilungen zu dieser Geschichte (531/558) beschließen den ersten Band.

Im zweiten Bande werden die Klosterschulen geschildert, die fast sämt- lich in den Händen der Jesuiten waren: Braunsberg, Posen, Altschottland {bei Danzig), Thorn, Bromberg, Deutsch-Krone, Marienburg, Konitz, Graudenz, Rossel, Meseritz, Fraustadt. Besonders interessant ist die innere Geschichte dieser Jesuitenschulen, die für die Geschichte der Pädagogik und für das kulturelle Leben jener Zeiten sehr wertvoll ist. Selbstverstandlich hat der Jesuitenorden seine allgemeinen Grundsätze über Erziehung und Unterricht auch in seinen Schulen in Ermland, Westpreußen und Posen in Anwendung gebracht. Die Schulbräuche der polnischen Provinz wurden i. J. 1648 vom Ordensgeneral Carrafa approbiert. Eine erfolgreiche Umgestaltung des Schulwesens unternahm Stanislaus Konarski, der den Ehrentitel „Poloniae magister“ erhielt. An Stelle des formalen Studiums der lateinischen Sprache, die in den Jesuitenschulen zu nubloser Spielerei ausartete, setzte er die Er- ziehung des antiken Geistes und beriicksichtigte stärker die realistischen Fächer. Der Verf. hat ein anschauliches Bild von dem Wesen und Wirken der Jesuitenschulen gegeben: Lehrer und Schüler, Unterricht und Erziehung werden eingehend (118/253) erörtert. Diejenigen, die heute so pessimistisch über die zuchtlose Jugend klagen und die gute alte Zeit loben, seien be- sonders auf das Kapitel über das Schülerleben hingewiesen: In Altschott- land (bei Danzig) waren 1765/66 unter 12 Logikern 3 Trinker, unter 9 Physi- kern 4 Saufet und Herumtreiber: 1766/67 werden unter 37 Schülern der Rhetoriker 8 als Trinker und Bummler bezeichnet. In Posen gab es 1593 eine regelrechte Schülerverbindung mit einem Präsiden und einem Schriftführer, die, um nicht entdeckt zu werden, in verschiedenen Häusern Trinkgelage und Tanzvergnügungen mit Weibspersonen veranstaltete (S. 147). Auch Schülerverbindungen mit ausgesprochen politischem Charakter gab es, die sich gegen die russischen Bestrebungen in Polen richteten und ein Eingreifen der Russen zur Folge hatten.

W. behandelt zum Schluß noch kurz die Schulen der Zisterzienser, Fran- ziskaner und der Regular-Chorherren zu Tremessen, die Vorbildung der Ordenszöglinge und die Klosterschulen für die weibliche Jugend.

Die vom Verf. benutzten Quellen und Literaturangaben zeigen den Um- fang des ungeheuren Materials. Das Buch von G. Lühr, Die Matrikel des päpstlichen Seminars zu Braunsberg 1578—1798, Königsberg 1925 und Brauns- berg 1926, ist dem Verf. zur Zeit der Drucklegung wohl noch nicht bekannt gewesen.

Der Baltischen Kommission in Kiel und dem Verlag Ferdinand Hirt in Breslau muß der Dank dafür ausgesprochen werden, daß sie die Veröffent- lichung des umfangreichen Werkes ermöglicht haben. ae

elix Haase

Stanislaw Tync und Józef Gołąbek: Beskid zachodni i Podhale. (Górale Polscy). Książnica „Atlas“, Lwow-War- szawa 1928.

St. Barabasz: Szłuka ludowa na Podhalu. Teil I u. Il: Spisz u. Orawa. Ebenda.

Tync und 9 eröffnen mit diesem, der westlichen Beskidenland- schaft und dem sich südlich anschließenden Gebiete der Tatra gewidmeten

107

Bändchen eine vom sehr rührigen Verlage „Atlas“ ins Leben gerufene Serie, welche die einzelnen Landschaften Polens in knapper, aber erschöpfender Darstellung behandeln will. Diese Hefte sind für den Unterricht in ersier Linie bestimmt. Das zeigt auch die Anlage der jedem Lesestück beigege- benen Anmerkungen. Es verdient aber die Reichhaltigkeit des hier Ge- botenen auch über den Kreis der Schule hinaus weite Verbreitung. Eine gute Kartenskizze orientiert uns über die behandelte Landschaft, die nun von 4 Gesichtspunkten aus betrachtet wird: Land und Leute; Legenden, überlieferungen, Lieder; Schilderungen aus der ge- schichtlichen Vergangenheit der Landschaft; aus dem Leben der Goralen. In diesen einzelnen Abschnitten wird nun nicht etwa eine zusammenfassende Abhandlung des Themas gegeben, sondern aus Dichtungen und sachlichen Artikeln wird ein Gesamibild hervorgerufen, so 2. B. wird der erste Abschnitt „Ziemia i lud“ mit Wincenty Pol’s Gedicht „W góry, w góry!“ eröffnet, es folgt von Kaz. Sosnowski eine kurze geo- graphische Darstellung der Westbeskiden, weiterhin z. B. folkloristische Abschnitte (mit Illusir.), auch das Dialektische wird behandelt, wozu dann in den späteren Abschnitten dialektische oder dialektisch gefärbte Erzah- lungen treten. Der Verlag eröffnet jedenfalls mit diesem Heft eine recht lehrreiche und interessante Reihe von landschaftlichen Monographien.

Vom wissenschaftlichen Standpunkte natürlich ungleich beachtlicher ist die Publikation des Direktors des eihnographischen Museums in Zakopane, St. Barabasz: Sztuka ludowa na Podhalu. Es wird hier die Volkskunst, die jetzt in Polen ja so große Beachtung findet, auf 44 Tafeln in schönen klaren Zeichnungen dargestellt: das Haus, innen und außen, in allen seinen Teilen, die Geräte und Möbel, alles, was hier dem schmücken- den Schönheitssinn des Volkes Anreiz bot. Es kommen aber hier nur die beiden Bezirke Spisz (mit 12 Tafeln) und Orawa (mit 32 Tafeln) zur Dar- stellung. Auf den überaus reichen und mannigfaltigen Stoff der 216 Ab- bildungen (84 aus Spisz, 132 aus Orawa) weist eine kurze Abhandlung einleitend hin.

Breslau. Erdmann Hanisch.

108

ZEITSCHRIFTENSCHAU

ALLGEMEINES

L L Mikkola: Samo und sein Reich. Archiv für slav. Philo- logie 42 (1928), 1/2, S. 77—97.

Diese Studie soll vornehmlich der Behandlung der immer noch offenen Frage dienen, ob die Slaven, zu welchen Samo kam, nördlich oder südlich der Donau wohnten; daneben wird noch die eine oder andere Frage ge- streift. Zunächst wird die Frage nach der Abkunft des Samo, wie das schon Holder gelan, dahin beantwortet, daß nach der Analogie anderer Namen die Zugehörigkeit zum keltischen Volkstum angenommen werden muß. Identisch mit Samo ist der Name Sammo, der inschriftlich bekannt ist aus Ehrenhausen bei Straßburg u. a. O., als Voliname dazu kommen Samorix und Samotalus in Betracht. Die von Kos angenommene slavische Abstam- mung des Samo lehnt M. ab. Fredegars Angabe, daß Samo dem Pagus Senonagus entstamme, hat zu der Vermutung gerun, daß man das Land um die französische Stadt Sens als seine Heimat betrachten müsse. M. halt diese Annahme für richtig. Die Annahme, man könne den von Fredegar genannten Pagus bei Soignies suchen, lehnt M. aus sprachlichen Gründen ab. Der Pagus senonicus liegt an der Yonne im alten Burgund. Von hier aus also hatte sich Samos Aufbruch vollziehen müssen. M. führt die ge- schichtlichen Zeitumstände an, unter welchen er vor sich gehen mußte, näm- lich die gespannte Lage zwischen Chlothar und seinem Sohn Dagobert, welch letzlerer von seinem Vater Austrasien zugewiesen erhalten hatte mit Ausnahme eines Gebietsteiles an den Ardennen und Vogesen. Als Samo 625 aufbrach, waren die Streitigkeiten der beiden um dieses Gebiet noch nicht geschlichtet, Samo hatte also seine Handelsreise durch feindliches Gebiet ausführen müssen, wenn er in nördlicher Richtung aufgebrochen wäre, der südliche Weg von Sens durch die Schweiz war kürzer, und dort herrschte Frieden. M. ist daher der Meinung, daß Samo, den römischen Straßen folgend, von Autun aus über Besancon, Basel, Bregenz und schließ-

ch Salzburg zu den Slaven gezogen sei. Diese selbst „coinomento Winidi“, sind unzweifelhaft die südlich der Donau wohnenden Slaven gewesen und icht die in Böhmen wohnenden, da diese niemals bloß Winidi, sondern Beu-Winidi, Behaimi usw. genannt werden. Ehe M. darstellt, wie Samo von seinem ursprünglich südlich der Donau gelegenen Wirkungskreis aus bis nach Nordböhmen vordrang, gibt er einen Überblick über die Schicksale der Avaren vor ihrer Ansiedlung in Pannonien. Sprachlich ordnet er sie in die R-Gruppe der Turkotataren ein. Den avarischen Fundstucken nach gehörten sie zur westsibirisch-sarmatischen Kultur, während die Hunnen chinesischen Kultureinfluß verraten. Die bei Oregor von Tours erwähnten zweimaligen Einfälle der Avaren in fränkisches Gebiet sieht M. als geschicht- lich vollkommen zutreffend an. Zeug hatte in „Die Deutschen und die Nachbarstämme“ geglaubt, es habe sich nur um Angriffe gegen die östliche Peripherie des fränkischen Reiches gehandelt. Die Frage, welchen Weg die Avaren auf diesen beiden Feldzügen eingeschlagen haben, beantwortet

109

M. aus dem Grunde, daß sie stets ihrer Reiterei wegen enge Bergpässe fürchteten und mieden, zugunsten des nördlichen Weges jenseits der Kar- pathen durch Galizien und Schlesien. Nach ihrer Ansiedlung in Pannonien konnten sie die Herrschaft über die Slaven jenseits der Karpathen nicht mehr aufrechterhalten, dieser Umstand erhellt die Ursache für die Nach- richt der altrussischen Chronik, daß die Avaren jäh verschwunden seien. Die in der russischen Chronik als besonders unter den Avaren leidend er- wähnten Dulében werden ihnen sowohl als Landbauer wie als Fußsoldaten nötig gewesen sein, und vermutlich war dieser slavische Stamm, als die übersiedlung der Avaren in das Gebiet südlich der Karpathen vollzogen wurde, von ihnen mit abgeführt worden, es gab wieder Dudlében (west- slavische Form!) in ihrer unmittelbaren Nähe in Südböhmen und in Steier- mark. M. hält das Jahr 568 jedenfalls als für sehr wichtig für die Besiedlung Böhmens durch Slaven. M. erörtert in diesem Zusammenhang die Frage nach der Urheimat der Slaven. Er hält dafür, daß slovéne nie ein Gesamt- name für alle Slaven gewesen ist, sondern daß es ursprünglich ein be- stimmter Slavenstamm war, der sich später verzweigte, daher ihr Auftauchen am Ilmensee, im Gebiet der Karpathen und südlich der Donau. Ihre histo- In belegte Heimat lag nördlich der unteren Donau. Von dort stammen

die Slovenen der Ostalpen. Die jeBigen Slovenen sind aber ein Pro- dukt des Zusammenwachsens der slovéne, dudlébi, hürvati und vielleicht noch anderer Stämme. Die Frage, wann und von wo die Slovaken in ihre jetzige Heimat gelangt sind, bleibt offen. M. untersucht die fur slavisch gehaltenen Ortsnamen der Balkanhalbinsel, die aus der Zeit vor dem 6. Jahrhundert stammen, und weist nach, daß diese nicht slavisch sind. Hatte M. oben die Meinung ausgesprochen, daß die Dudlébi den Avaren als Landbauer und Fußsoldaten dienlich waren, so unterscheidet er nun zwischen Hrvaten und Dudlében als zwischen dem kriegerischen und einem landbauenden Stamme. Die ersteren sollen den Avaren gute Fußsoldaten gewesen sein, vielleicht sind sie von ihnen auf einem vorgeschobenen Posten gegen das fränkische Reich an der Saale zurückgelassen worden. Sie sitzen auch in Bohmen an der Peripherie, und nach 658 haben die Avaren auch Chorvaten vom Norden nach Süden berufen zur Verstärkung des avarischen Einfalls in Dalmatien. Daß die Serben, wie Porphyrogenitos erwähnt, den Chor- vaten nach dem Süden nachziehen wollten, halt M. nicht für einen Zufall. Sie hatten schon früher in Gemeinschaft mit den Chorvaten gewohnt. Er sieht im ukrainischen priserbitijsa fur „sich jemandem anschließen” und in paserb Stiefsohn den Beweis dafür, daß *s’rb etwa „Angehöriger, Ver- bündeter“ bedeutet haben mag. M. stellt dann die Expansionsbestrebungen und -Möglichkeiten des Frankenreiches nach dem Osten dar. Samos Reich hatte diese Plane durchkreuzt. Im Krieg Samos gegen das Frankenreich wird Wogastisburc sein wichtigster Stübpunkt. Zur Namenserklärung dieses Ortes sagt M. folgendes: Im 7. Jahrhundert hatte das Slavische noch kein u, sein Vorgänger war ein oa oder uo, wie sich aus slavischen Lehnwörtern im Litauischen und Lettischen und aus dem griechischen ‘Pos fur Rus’ ergibt. So laßt sich Wogast mit čeh. UhoSt aus *ugoSt zusammenstellen. Purberg wurde noch im 15. Jahrhundert Uhost genannt. Der zur Erklärung für Wogastisburc auch herangezogene Ort Wugasterode in Oberfranken ist der geographischen Lage nach nicht annehmbar für die Geschichte Samos. Die bei Fredegar überlieferte germanische Namensform ist der Genetivendung —is und des burc wegen beachienswert. Es ist nicht an- zunehmen, daß Fredegar selbst diese germanische Form gebildet habe. Die Germanen, welche diesen Namen gebildet haben, müssen Kenner des Slavischen gewesen sein, denn das slavische Wort ist aus einem Personen- namen Ugosf mit dem Possessivsuffix —io— gebildet, und dieser possessiven Bedeutung entspricht die germanische Genetivform. Alte germanische Orts- namen mit —burc sind nicht häufig und sind immer zu einem Personen- namen gebildet. Daraus scheint M. schließen zu können, daß die Gegend von Wogastisburc von Germanen, vielleicht Sachsen, bewohnt gewesen sein muß, kurz vorher aber war das Land von Slaven bewohnt. Sollten nicht die Serben vor ihrem Abzug nach dem Süden gerade an der Eger

110

gesessen haben? Das Auftreten Samos südlich der Donau und die Lage des Wahlplaßes in Nordböhmen setzt voraus, daß er über ein zusammen- hängendes Gebiet auf beiden Ufern der Donau geherrscht hat.

Emmy Haertel.

A. Brückner: Alte Romane bei Slaven. Archiv für slav. Philo- logie. 42 (1928), 1/2. S. 109—122.

HBr. weist auf die Vernachlässigung des Romans bei den Slaven bis tief in das vorige Jahrhundert hin; nur was im Abendlande sich zu großer Beliebtheit durchgesekt, kam in Ubersebungen zu den Slaven, dafür aber auch fast alle derartigen Erscheinungen, wodurch der Zusammenhang mit den literarischen Zeitereignissen erhellt. Es sollen hier zwei Übersebungs- romane, der eine polnisch, der andere russisch, des näheren besprochen werden, die erst unlängst veröffentlicht wurden und der abendländlichen Bibliographie noch völlig unbekannt sind. Der beliebteste aller fran- zösischen Prosaromane des 15. und 16. Jahrhunderts war die „Histoire du tres vaillant chevalier Paris et de la belle Vienne, fille de Dauphin“; während Ubersetzungen von ihm längst im Englischen, Italienischen und sogar Armenischen vorhanden waren, fehlte eine polnische Überseßung, da keine deutsche vorhanden war. Br. zählt die französischen und italienischen Ausgaben des Werkes auf. Im Petersburger Sbornik (sic!) 90, 6 hatte Vinogradov zwei Fassungen davon in Versen im Jahre 1913 herausgegeben, nach der Hs des Fürsten Vjazemkij mit interlinearer Anführung von den Texten aus Hss der Sammlung Certkov und Undolskij. Nach der Meinung S. V. Sobolevskijs, welcher zu der Veröffentlichung cine Einleitung ge- schrieben, ist das Poem aus dem Polnischen übersetzt, wofür ihm eine Reihe von scheinbaren Polonismen beweisliefernd waren. Br. widerlegt im einzelnen diese Anschauung und weist seinerseits nach, daß es eine Uber- schung aus dem Italienischen ist, dafür sprechen rein italienische Worte und Wortformen. Die Vorlage ist zu schen in „Innamoramento di due fidelissime amanti Paris e Vienna, composto in offava rima da Angelo Albani Or- vietano . . ., ungeachtet kleiner chronologischer Bedenken, welche gegen diese Annahme sprechen könnten. Die italienische Übersebung war un- genau gewesen und hat somit Unstimmigkeiten der russischen Übersebung verschuldet. Immerhin ist diese Übersebungs-Überarbeitung (es handelt sich im Russischen um erhebliche Textkiirzungen) die bedeutendste und inter- essanteste Leistung der schönen russischen Literatur vor Kantemir und Tredjakovskij. Br. führt umfangliche Textstellen an, die teils gänzlich neu, teils verkürzt sind. Die polnische Novelle ist bereits Archiv 40 einmal erwähnt worden. Das Original ist die spanische Novelle von Juan de Flores „Grisel y Mirabela“ vom Ende des 15. Jahrhunderts, welche un- gewöhnlich schnelle Verbreitung fand, es gibt allein 18 aus dem Italienischen übersetzte französische Ausgaben. Die polnische Ubersebung „Historya barzo piękna i żałosna o Ekwanusie królu Skockim teraz nowo polskim jezykiem wydana, Krakau Scharffenberg 1578, ist herausgegeben von J. Krzyżanowski im Pamięłnik liter. 221, 1924, S. 247—285, sie folgt der italienischen Ubersebung der venetianischen Ausgabe von 1548 „Historia di Aurelio et Isabella, nella quale si disputa, chi più dia occasione di peccare, ’huomo alla donna o la donna a lhuomo ...“ stellenweise wörtlich, fabt aber im übrigen zusammen und läßt mitunter halbe Seiten fort. Die Er- zählung an sich ist dürftig zu nennen, behandelt erotische Fragen weit- schweifig und hat sichtlich in Polen keinen Anklang gefunden, denn sie ist spurlos verklungen, und ähnliche spanische Novellen wurden nicht weiter ins Polnische übersetzt. Der Ubersetzer Bart. Paprocki, der durch heraldische Arbeiten bekannt Gewordene, hat die Aufgabe stilistisch gut gelöst. Br. widmet der Muse des mysogynen und doch für erotische Fragen stark interessierten Paprocki eine eingehendere Besprechung und beschäftigt sich dabei vornehmlich mit seinem „böhmischen Vermächtnis“, der von ihm ge- fertigten Übersekung derartiger Stoffe von Rej und Kochanowski ins

111

Cechische. Br. beschäftigt sich noch mit der Frage nach der Urheberschaft der Übertragung von Rejs Dialog „Rozmlouvani dvou panen“... ins Cechische. Emmy Haertel.

IUGOSLAVIEN

Die Quellen der Chronik von Vramec (1578). (N.Radojéié, O izvo- rima Vraméeve Kronike). Rad Jugoslavenske Akademije Znanosti i Umjetnosti, knj. 235, S. 26—49, Zagreb 1928.

Der derzeit an der Laibacher Universität wirkende serbische Historiker Radojčić, der sich durch seine bisherigen zahlreichen Untersuchungen der wichtigsten südslavischen historiographischen Werke als der beste kritische Kenner der südslavischen Geschichtsschreibung erwiesen hat ich ver- weise hier auf seine Untersuchung über Ruvarac 1909, Krumbacher 1910, Al. Stojackovié 1911, Rajić 1920, 1921, 1925, 1926, über die Idee der nationalen Einheit in der serbischen und kroatischen Historiographie, über die Anfänge der historischen Kritik bei den Serben 1922, über Konstantin Jireček 1923, über das Verhältnis von Geographie und serbischer Geschichtsschreibung 1924, über Rankes neuer Konzeption der serbischen Geschichte 1925, über die kroatische Geschichte während der nationalen Dynastie in der modernen serbischen Geschichtsschreibung 1925, über die Chroniken des Grafen Djordje Branković 1926, über die Frage, wie die byzantinischen Historiker des 11. und 12. Jahrhunderts Serben und Kroaten benannten 1926, über die moderne serbische Historiographie 1929 legt in dieser Untersuchung erst- malig die Quellen des ersten kroatischen Geschichtswerkes zur allgemeinen und nationalen Geschichte in kroatischer Sprache dar. Das Leben und die Tätigkeit Vramec’ hat Vjek. Klaié gelegentlich der Neuausgabe der Chronik in den Monumenta spect. hist. Slav. merid., Vol. XXXI, Agram 1908, in einer eingehenden kritischen Untersuchung beschrieben und damit einem Großteil der bis dahin verbreiteten legendären Anekdoten über das Leben dieses interessanten Schriftstellers den Boden entzogen. Weniger bekannt dagegen ist Vramec’ historiographische Arbeit, obwohl die interessante Chronik die Aufmerksamkeit der Theologen, der Historiker und auch der gebildeten kroatischen Kreise auf sich lenkte. Die Aufmerksamkeit der Theologen wurde für das Werk fatal, da es dieser Aufmerksamkeit zuzu- schreiben ist, daß die Chronik so gründlich vernichtet wurde, daß von ihr nur ein ganzes und ein unvollständiges Exemplar erhalten blieben. Etwas weitsichtiger waren die Historiker. Der erste kroatische Historiker, der die Chronik ausführlicher beschreibt, G. Rattkay, hat allerdings nur böse Worte für sie, einerseits wegen der Mängel in der Chronologie, anderseits wegen der antikatholischen Tendenz in der Chronik. P. Ritter-Vitezovié dagegen war von ihr begeistert, einerseits wegen ihrer Sprache, anderseits gerade wegen ihrer liberalen Tendenz. Die Chronik geriet allerdings dann in Ver- gessenheit und wurde erst von Ivan Svear, dem begeisterten kroatischen Geschichtsschreiber der illyrischen Wiedergeburtsbewegung, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Vergessenheit gezogen. Die römisch- katholischen Theologen sahen in dieser Chronik eine gefährliche Schrift, die zwar nicht offen protestantisch war, aber sicherlich nicht römisch-katho- lischen Geist atmete, und deshalb vernichteten sie sie. Die Historiker von Beruf sahen in der Chronik ein Werk von geringem historischen Original- wert. Daher mußte die Chronik am meisten den Freunden des nationalen und populären Buches gefallen. Daher die Begeisterung eines Vitezović und Svear. Radojčić untersucht die Chronik als erste kroatische allge- meine und nationale Geschichte in kroatischer Sprache (eine Untersuchung der sprachlichen Seite der Chronik gab seinerzeit Fancev im Afsl Ph XXXN, ihre Quellen, die Art ihrer Konzeption und Komposition und die Ten- denziosität, wobei er der Frage der Quellen als der Fundamentalfrage sein Hauptaugenmerk zuwendet.

112

Klaić konnte in seiner Studie keine einzige Quelle mit Sicherheit an- geben. Die Frage der Quellen ist deshalb schwer zu entscheiden, weil es eine Reihe allgemeiner, einander ähnlicher Geschichisdarstellungen der all- gemeinen Geschichte mit Nachrichten aus der slavischen Vergangenheit gibt, die Vramec verwendet haben konnte. Nach einem allgemeinen Exkurs über den Charakter der Geschichtsschreibung im Mittelalter, zur Zeit der Humanisten in Italien, zur Zeit der Reformation und Gegenreformation in Deutschland, zeigt Radojčić, daß auch alle jugoslavischen Gegenden außer Dalmatien vor dem 18. Jahrhundert zu den Gebieten mit ruckstandiger Historiographie zu rechnen sind, denen die mehr oder minder nationalistische italienische humanistische Historiographie zu hoch, unverdaulich und auch vielfach beleidigend war. Die geographische und politische Lage, die Türkengefahr und die Türkenherrschaft warfen die Jugoslaven um Jahr- hunderte zurück, und daher blieben natürlicherweise auch ihre geistigen Emanationen um Jahrhunderte gegenüber den damaligen kultiviertesten Völkern zurück. Deshalb bekamen auch die Kroaten die erste Weltchronik, die auch Nachrichten aus der slavischen und nationalen Geschichte enthielt, in der Volkssprache erst dann, als die Weltchroniken im Westen bereits aus der Mode gekommen waren und an ihre Stelle die rein nationale und staatliche Geschichte getreten war. Vramec konnte den Abstand zwischen dem geistigen Leben des damaligen Italien und den Resten des König- reiches Kroatien sehr gut ermessen, als er sich an die Abfassung seiner Chronik machte, die er den Bedürfnissen der Mehrheit seiner kroatischen Zeitgenossen anpaßte. Er wollte den Lesern von Nuben sein, und das konnte er nur dadurch erreichen, daß er sich zu ihnen herabließ. In der Volkssprache schrieb Vramec in erster Linie deshalb, weil er seine Chronik denen bestimmte, die, ohne eine andere Sprache zu können, etwas von der Vergangenheit der ganzen Welt und ihres eigenen Volkes zu hören und lesen wünschten; sicherlich auch deshalb, weil die damaligen protestan- tischen Schriftsteller Bücher in der Volkssprache ins Volk bringen wollten. Sicher ist, daß die Chronik nicht nur wegen ihrer Sprache in die kroatische und slovenische protestantische Literatur fällt, sondern auch durch viele Stellen, die gegen die römisch-katholische Kirche gerichtet sind.

Jeder Verfasser einer Welichronik mußte sich vor allem für ein chrono- logisches System entscheiden, ferner für eine Periodisierung der Welt- geschichte. In der Periodisierung herrschte unter den Chronisten eine viel größere Einheitlichkeit als in der Chronologie. Radojčić meint, daß sich Vramec hinsichtlich des chronologischen Systems für seine Chronik nicht viel den Kopf zerbrach, sondern einfach das übernahm, das er zufällig in der Schule gelernt hatte, nämlich das hebräische, ferner daß die Chronik langsam entstand, auf Grund von Aufzeichnungen aus der Studienzeit und der späteren Lektüre, und daß Vramec nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, diese Aufzeichnungen mit Daten aus der heimischen Geschichte zu ergänzen und dann die Chronik herauszugeben. Daher die Uneinheitlichkeit und die Widersprüche und die vielen Wiederholungen in der Chronik, die nur aus der Lektüre und aus dem Exzerpieren von Chroniken mit verschie- denen chronologischen Systemen zu erklären sind und die sonst in einem so kleinen Büchlein unmöglich waren. Die Periodisierung ist die übliche auf 6 Epochen, die Vramec aus verschiedenen Büchern nehmen konnte. Die Feststellung der Quellen, also der verwendeten Weltchroniken, stößt nicht nur deshalb auf große Schwierigkeiten, weil viele untereinander ähnliche Wellchroniken in Betracht kommen, sondern vor allem deshalb, weil die Chronik kurz ist und sehr wenig charakteristische Einzelheiten enthält, die die Nachforschungen erleichtern würden, und weil er seine Quellen nicht anführt. Vramec gibt nur einmal seine Quelle an, und zwar als er die Vitae pontificum von B. Platina (Bartolomeo Sacchi) zitiert. Vramec selbst

ibt also wenig Anhaltspunkte. Jedoch laßt sich auf Grund charakteristischer ten in der Chronik selbst folgendes feststellen: Vramec führt in gewissen Abständen bedeutende Leute, die in einer bestimmten Zeit lebten, mit einer bestimmien einleitenden Phrase an. Diese Art der Information finden wir

8 NF 5 113

in dem grogen historischen Werk des bedeutenden italienischen Historikers Jacobo Philippo Foresti (Supplementum chronicorum), den der bekannte deutsche Chroniker Hartmann Schedel in seiner umfangreichen Welichronik (1493) übersetzte. Foresti und Schedel benützte Vramec sicher, zeitweise den einen, zeitweise den anderen. Der Vergleich der Chronik von Vramec mit Foresti und Schedel wird allerdings dadurch erschwert, dab Vramec nicht das gleiche chronologische System hat wie Foresti und daß der chrono- logische Überblick bei Schedel außerordentlich unübersichtlich ist. Die Dauer der ersten Epoche übernahm Vramec aus Schedel, ebenso die Länge der zweiten Epoche, während er die Angabe über die Länge der dritten Epoche entweder aus Foresti oder aus Schedel übernahm. Beim Abschnitt über die dritte Epoche ist die Zahl vollständig gleicher Nach- richten bei Vramec, Foresti und Schedel außerordentlich groß. Das nicht- begründete Anhäufen von Notizen spürt man bei Vramec vor allem an jenen Stellen, wo die Bilder bzw. bildhafte Wendungen bei Foresti und Schedel der einzige Grund waren, daß die beirefienden Notizen in die Chronik hineingenommen wurden. Hier läßt sich von Nachricht zu Nachricht die Abhängigkeit Vramec’ von Foresti, der sowohl ihm als auch Schedel die gemeinsame Quelle war, verfolgen. Bei der Länge der fünften Zeitepoche deckt sich Vramec nicht mit seinen Haupfquellen. Am Beginn dieser Epoche machte Vramec schwere Irrtümer, da er nicht auf die Unterschiede zwischen den angewendeten chronologischen Systemen achtete. Im übrigen hielt er sich auch hier im Text an Foresti. Von diesem übernahm er auch am Beginn des sechsten Zeitabschnittes die Erörterung über die verschiedene Jahreszählung. Von hier an wird Platina einer der Hauptquellen Vramec’, daneben zieht er noch Foresti und Schedel heran. Platina, der seine Vitae pontificum schon vor der Reformation geschrieben hatte, hatte sich nicht gescheut, von einzelnen Päpsten auch Dinge vorzubringen, die ein offizieller Historiograph niemals hätte vorbringen können, weil diese Nachrichten als Waffe im Kampfe gegen das Papsttum als Institution verwendet worden wären. Tatsache ist, daß diese Nachrichten Platinas als Waffen gegen das Papsttum verwendet wurden. Die Protestanten lasen gerne Platina und kompromittierten ihn dadurch derartig, daß er auf den Index kam. Troķdem blieb Platina im großen Ansehen, und Vramec, der, wo immer es möglich war, von den Päpsten Schlechtes vorbrachte, konnte sich auf die Autorität Platinas berufen und sich dadurch decken. Vom Jahre 375 an verwendete Vramec zum erstenmal seine bedeutendste Quelle für die heimische Ge- schichte, den magyarischen Geschichtsschreiber Abraham Bakschay (Baksai) (Bakschays Chronologia Ducum et Regum Hungariae Cracoviae 1567 gab Bonfini in seinem Werke Rerum Hungaricarum heraus). Die Nachricht vom heiligen Hieronymus nahm Vramec aus Foresti. Auch Vramec bezeichnet ihn als Slaven und als Erfinder der glagolitischen Schrift. In der weiteren Darstellung finden sich bei Vramec verschiedene interessante textliche Anderungen gegenüber Platina. Vramec wollte in der klaren Tendenz, die Päpste zu diskreditieren, den Eindruck erwecken, daß die Päpste Söhne hatten. Das größte Ärgernis erregte er bei seinen gläubigen romisch-katho- lischen Lesern durch eine Nachricht aus dem Jahre 858 (Papst Ivan VIII. sei ein Weib gewesen und habe mitten auf der Piazza ein Kind geboren). Wegen dieser Nachricht wurde auch diese Seite im Agramer Exemplar mit Tinte überschüttet, und wegen ihr vor allem behaupteten die Historiker Ivan Kukuljević und P. Radics, daß Vramec in der Darstellung kirchlicher Ge- schehnisse zu frei gewesen ware. Vramec nahm diese Erzählung deshalb hinein, weil sie eine der wichtigsten protestantischen Requisiten in dem Kampfe gegen das Papsttum darstellte. Die Nachricht von der Taufe der Bulgaren (867) ist entweder Platina oder Schedel entnommen. Mit dem zehnten Jahrhundert häufen sich in der Chronik immer mehr die r die der Chronologie Bakschays entnommen sind. Im ganzen läßt sich fest- stellen, daß ein Drittel der Chronik aus Bakschay übersetzt ist, ein Fünftel ungefähr von Platina übernommen ist, während der Rest auf die übrigen Quellen, vor allem auf Foresti und Schedel fällt. Vramec verwendet auch

114

vom 10. Jahrhundert an noch Foresti und Schedel, zieht auch Platina heran, im übrigen übersetzt er immer mehr Bakschay. Daneben finden sich auch Nachrichten, die allem Anscheine nach aus Funck entnommen sind. Bonfini zog er nur ausnahmsweise heran, und zwar hauptsächlich für slavische und kroatische Geschichte. Im allgemeinen herrscht bei Vramec eine starke Tendenz, die Slaven und slavischen Stellen soviel als möglich in seine Chronik hineinzuziehen. Für die erste Zeit der Ausbreitung der türkischen Herrschaft finden wir bei Vramec eine Reihe von Nachrichten, die weder bei Platina noch bei Bakschay oder Foresti oder Schedel zu finden sind. Radojčić nimmt an, daß sich Vramec der bekannten Nachrichten von den Türken von Flavius Blondi, Paul Jovius und von Sebastian Münster bedient hat. Sicher läßt sich hier nichts feststellen, da die Nachrichten in der Chronik von Vramec kurz und trocken sind, die Darstellung der obge- nannten Vorbilder dagegen ausführlich, wortreich und ausgeschmückt. Für die Darstellung der türkischen Kämpfe zog Vramec auch Bonfini heran. Die größte selbständige wissenschaftliche Anstrengung machte Vramec bei der Beschreibung der Schlacht bei Mohäcs. In der weiteren Darstellung übersetzt er wieder Bakschay und die Fortseker Platinas bis zur Zeit, wo er sich an das von den Zeitgenossen Gehörte hallen und Selbsterlebtes wiedergeben konnte. | Zusammenfassung: Die Chronik von Vramec ist in ihrem allgemeinen Teile ein Abbild der Chronik Forestis und der großen Geschichte Hartmann Schedels. Eine Tendenz ist allen drei Arbeiten gemeinsam. Foresti ver- herrlichte durch seine Arbeit Italien, Schedel kopierte ihn und rühmite die Deutschen, und Vramec verherrlichte, soweit es der kleine Umfang seines Werkes zuließ, die Slaven. Diese eine Tendenz ist kopiert, dagegen ist die andere Tendenz Vramec’, die gegen die Papste gerichtet war, originell. Diese Tendenz führte Vramec durch seine ganze Chronik so konsequent als er konnte durch, hütete sich aber, damit offenes Ärgernis zu erregen. Er formte mit etwas nationalistischer und regionaler Tendenz den Text Forestis und Schedels um und änderte mit offenkundiger antipäpstlicher Tendenz den Sinn des Platinaschen Textes um. Dagegen ubersefte er ohne Tendenz seine dritte Quelle Bakschay, der mit analytischer Gewissen- haftigkeit die wichtigen Begebenheiten nicht nur aus der ungarischen, sondern auch aus der kroatischen Geschichte verzeichnet hatte. Zweifellos zog Vramec neben der Kürze der Bakschayschen Chronologie auch dessen gute freundliche Gesinnung gegenüber den Kroaten an. Lange nach Vramec tat das gleiche Jovan Rajić in seiner kroatischen Geschichte, so dab Bak- schay die außergewöhnliche Ehre zuteil wurde, daß er in der ersten kroatischen Chronik und auch in der ersien in der Volkssprache geschrie- benen kroatischen Geschichte übersebt wurde. Die kroatische Geschichts- schreibung entwickelte sich nicht auf Vramec’ Spuren weiter, weder hin- sichtlich der Sprache noch hinsichtlich der temperamentvollen Art in der historischen Darstellung. Vramec’ Chronik stand lange vollständig ver- einzell da. Die größeren kroatischen Historiker schrieben auch lange Zeil nach Vramec nicht in der Volkssprache, schrieben ihre Werke nicht für das einfache Volk, sondern für die gebildeten Kroaten, lateinisch, gelehrt und schwer, gewöhnlich mit eingeflochtenen staatsrechtlichen Tendenzen. Auf die Chronik Vramec’ kamen erst spätere Generationen in den Zeiten starker nationaler Begeisterung, zur Zeit des kroatischen Geschichis- schreibers Ritter-Vitezovié und zur Zeit des Illyrismus zurück. Doch war auch da noch das Interesse für Vramec mehr politischer als nationaler Natur. Heute ist es klar, daß die Chronik Vramec’ eine anerkennenswerte Erscheinung für die Kroaten im 16. Jahrhundert darstellt, daß sie ferner einen interessanten Versuch der Verbindung der allgemeinen Geschichte mit der nationalen Geschichte, wie sie damals üblich waren und dazu dienten, durch Geschichtsdarstellungen in der Volkssprache die Kultur im Volke zu heben und den nationalen Stolz zu wecken, bildet. Vramec er- öffnet den Reigen derjenigen kroatischen Historiker, die es als ihre wich- tigste Aufgabe ansahen, die slavische und kroatische Vergangenheit mit

115

der Vergangenheit der alten und zahlreichen Völker und mit großen Per- sönlichkeiten und mit bedeutenden Weltereignissen zu verbinden. In dieser Hinsicht hatte Vramec Nachfolger, dagegen in seiner freiheitlichen, scharfen groben Art des Ausdruckes in der historischen Darstellung stand er lange vereinzelt unter den kroatischen Historikern. J. Mati.

Die Ideen des Bischofs Stroßmayer. (F. 8 18 i &: Ideje biskupa Štros- majera.) Ratnik 1928, Beograd. 1—24.

Josip Juraj Stroßmayer gehört zu den großen Persönlichkeiten der jugo- slavischen Geschichte. Talent, Bildung und die Position, die er im Leben einnahm, gaben ihm in verhältnismäßig jungen Jahren Gelegenheit, eine Tätigkeit zu entfalten, welche von providentieller Bedeutung für das kroatische Volk und für das gesamte Jugoslaventum wurde. Er, der über ein halbes Jahrhundert das Amt eines Bischofs innehatte, war eine ganze Reihe von Jahren hindurch geistiges Zentrum der Kroaten. Er ermöglichte ihnen die Gründung der Jugoslavischen Akademie und der Agramer Uni- versität, der ersten im slavischen Süden, er schuf die erste und bis heute einzige Bildergalerie im slavischen Süden. Dies alles tat der große nationale Mäzen in der Absicht, daß sich um diese Sammelstellen der Kultur alle Sohne des weiten . Gebietes, die Bulgaren mit- inbegriffen, sammeln, und in dem Wunsche, daß ihnen auf diese Weise Gelegenheit geboten werde, sich untereinander kennenzulernen und zu ver- mischen, daß sie sich an dem Feuer der Wissenschaft veredeln und für ihre Hauptaufgabe vorbereiten: für ihre nationale Befreiung und Einigung, das ist für die Bildung eines großen und würdigen modernen nationalen Staates vom Adriatischen bis zum Schwarzen Meere und von Saloniki bis Marburg. Die Ideen Stroßmayers müssen vom politischen und kulturellen Gesichts- punkt aus betrachtet werden. Sein Leben ist den gesamten Jugoslaven derartig gut bekannt wie das keiner anderen führenden Persönlichkeit der neueren jugoslavischen Geschichte. Es sei hier nur auf die großen Mono- graphien von Paié-Cepleié, Zagreb 1904, und von Smičiklas, Zagreb 1906 (leBtere in den Ausgaben der Jugoslavischen Akademie), ver- wiesen. Unter den Deutschen, die in Slavonien zu Beginn des 18. Jahrhs. einwanderten, waren auch die Vorfahren Sts. In der Familie erhielt sich die Tradition, daß der Wachtmeister Paul Stroßmayer aus Linz an der Donau zu Anfang des 18. Jahrhunderts nach Esseck gekommen war, als man die dortige Festung nach dem System Vauban umbaute. Zweifellos war die deutsche Sprache Muttersprache der Vorfahren Stroßmayers; anderseits frugen Frauen kroatischer Herkunft den kroatischen nationalen Geist und die serbokroatishe Sprache in die Familie. J. J. Stroßmayer (geboren 4. 2. 1815 in Esseck) zeichnete sich bereits in der Schule als ganz außer- gewöhnlich exzellenter Schüler aus und zeigte auch später als Mann einen außerordentlichen Verstand und umfangreiches Wissen. Er wurde bereits 1849 zum Bischof von Djakovo in Slavonien ernannt und hatte diese Stelle bis zu seinem Tode 1905 inne. Seine Ideen: Stroßmayer blieb den Ideen der Umgebung, in der er aufgewachsen war, treu. Es waren das die Ideen, die im katholischen Klerus von Slavonien, Bosnien und Dalmatien seit der Wirksamkeit Kašić’ im 17. Jahrhundert um sich gegriffen hatten und darauf gerichtet waren, für Kroaten und Serben eine Literatursprache auf Grund- lage des Stokavischen Dialektes unter dem Namen der illyrischen Sprache zu schaffen. Diese Ideen sog Str. von seinen Lehrern am Essecker Gym- nasium, das in Händen der Franziskaner lag, ein, und als Gaj mit seiner Aktion begann, gehörte der slavonische katholische Klerus, besonders der jüngere, zu seinen begeistertsten und agilsten Anhängern. Die von Gaj getragene illyrische Bewegung übte auch auf Sir. entscheidenden Einfluß aus, vor allem deshalb, weil erst Gajs Auftreten in die bisherige literarische und sprachliche illyrische Bewegung auch das politische Moment der natio- nalen Einheit hineingetragen hatte. Ferner das starke Bestreben, daß nach der Vernichtung der magyarıschen Hegemonie in einer föderativen Habs-

116

burger Monarchie die Gleichberechtigung aller in ihr lebenden Völker her- gestellt werde. Dieses Programm, der sogenannte Ausiroslavismus, war zwischen 1830 und 1850 das politische Ideal nicht nur der kroatischen Illyriet, sondern auch der Tschechen, Slovaken, Slovenen und der Serben der Vojvodina, vor allem des Banus Jelačić und des Patriarchen Rajačić. Ferner trug der kroatische Illyrismus in das serbokroatische Volk die Idee der konfessionellen Toleranz, genauer die Idee der Liebe zwischen den kon- fessionell geschiedenen Brüdern eines Volkes. Das kulturelle Programm des kroatischen Illyrismus: Bereits 1836 beschloß der kroatische Sabor, von König Ferdinand V. die Bewilligung zur Gründung einer Gelehrten Gesell- schaft, einer Nationalbibliothek und eines Nationalmuseums, also einer Akademie, einzuholen. Die Realisierung dieses nationalen Wunsches ver- hinderten die Magyaren. 1845 beschloß der gleiche kroatische Sabor, an den König mit der Bitte heranzutreten, daß die Agramer „Juridische Aka- demie“ zu einer vollständigen Universitat erhoben werde, ferner daß das Agramer Bistum zu einem Erzbistum erhoben und die Episkopate von Senj (Zengg), Krizevac (Kreuz) und Djakovo ihm untergeordnet werden. Der Wunsch entsprang dem Bestreben, sich von der kirchenpolitischen Hierarchie der Magyaren frei zu machen. Diese verschiedenen nationalen Wünsche begannen der Wirklichkeit entgegenzureifen, als Stroßmayer durch die Be- mühungen der Illyrier, vor allem des Banus Jelačić, Bischof von Djakovo wurde. Denn Stroßmayer blieb den Idealen und Ideen seiner Jugend und seiner Klerikerzeit freu und war als Bischof jener ideale nationale Mensch, welcher nach den gegebenen Möglichkeiten die Ideen und Bestrebungen der illyrischen Bewegung verwirklichte. Er war erfüllt von der Überzeugung, daß er die reichen Einkünfte seiner Stellung für nationale Zwecke und nicht für persönliches und familiäres Wohlergehen zu verwenden habe. Charak- teristisch für Stroßmayer ist noch die Hartnäckigkeit und Unwandelbarkeit, mit der er an seinen Prinzipien, Ideen und Überzeugungen festhielt, sowie der tiefe Glaube an die Erfüllung seiner Ideen und nationalen Ideale.

Die Grundideen der Nationalpolitik Stroßmayers lassen sich folgender- maßen formulieren: Er vertrat erstens die nationale Einheit im jugoslavischen Sinne, also als letztes Ziel der gemeinsamen Bestrebungen den gemein- samen Staat aller Serben, Kroaten, Slovenen und Bulgaren. Deshalb wendete er sich gegen jede partielle Hegemonie, sowohl gegen die serbische als auch gegen die kroatische, wie auch gegen die Bestrebungen, die dem jugoslavischen Programm einen rein kroatischen Charakter ver- leihen wollten wie es Kvaternik und Starčević taten oder einen rein serbischen Charakter wie dies Svetozar Miletić und Genossen ver- traten —, und forderte, daß man in gleicher Weise das Kroatentum wie auch das Serbentum achten müsse, aber beides zu einem größeren Ganzen, zu einem Jugoslaventum, verbinden müsse. Er trat damit für eine Synthese aller jugoslavischen Völker unter Anerkennung der vollen Gleichberechti- gung nicht nur der Kroaten und Serben, sondern auch der Slovenen und Bulgaren ein. Als realpolitisches Ziel für die Zeit, solange ein Großteil der Jugoslaven noch in den Grenzen der Habsburger Monarchie ‚lebt, verlangt Stroßmayer den nationalen und unabhängigen Staat der Kroaten, Serben und Slovenen in einem föderativen Österreich. Für die aktuelle nationale Politik schwebte Siroßmayer und Jelačić als Hauptziel die Vernichtung der magyarischen Hegemonie als des schwersten Hindernisses für eine Födera- lisierung Österreichs vor Augen. Daher ist es auch vom Standpunkt der historischen Wahrheit und Gerechtigkeit aus unrichtig zu behaupten, daß Jelačić und Siroßmayer 1848 im Dienste des reaktionären Wiener Hofes gestanden seien und nur für ihre familiären und egoistischen Interessen gearbeitet hätten. Als das zehnjährige Experiment des Absolutismus vorüber war und 1860 wieder ein neues politisches Leben begann, trat Stroßmayer zum ersten Male selbständig auf die Oberfläche des politischen Lebens und vertrat im Men jene im Verstarkten Reichsrat in Wien die Idee eines foderativen Österreichs, verlangte das dreieinige Königreich, nämlich die Vereinigung von Kroatien, Slavonien und Dalmatien, mit nationaler Dienstsprache. Dieses

117

Prinzip vertrat Strozmaver dauernd, auch dann, als durch den österreich- ungarischen Ausgleich 1867 und durch den kroatisch-ungarischen staats- rechtlichen Ausgleich 1866 bzw. 1873 jede Hoffnung auf Verwirklichung seines Programmes geschwunden war. Aus diesen Gründen war auch Stroßmayer in den Augen der Magyaren „der gefahrlichste Gegner“, wie ihn gelegentlich der ungarische Historiker Wertheimer bezeichnet. Strof- mayer arbeitete ferner programmatisch darauf hin, daß es zwischen den beiden Hauptkirchen, der katholischen und orthodoxen, auf der Basis der slavischen Kirchensprache zur größten Toleranz, gegenseitigen Liebe und Achtung, zu einer möglichst starken Annäherung komme. Diese Ideen von der Vereinigung bzw. Annäherung der beiden Kirchen haben nicht nur politische, sondern auch kulturelle Bedeutung. Siroßmayer, der in einem Gebiet lebte, in dem es Anhänger beider Kirchen gab, war früh zur Einsicht gelangt, daß in der konfessionellen Spaltung und in der tiefen Kluft zwischen der westlichen und östlichen Kirche das größte nationale Übel der Sudslaven liege. Denn kein anderes katholisches oder orthodoxes Volk auf der Welt mußte so auf eigenem Körper die traurigen Folgen der Kirchenspaltung spüren wie gerade die Kroaten und Serben. Stroßmayer war sich bereits bewußt, daß die Einheit der Kirchen auch eine Einheit des Geistes, besonders bei den breiten Volksmassen, beinhalte, die Einheit des Geistes aber eine Grundbedingung der Sicherung der politischen Einheit sei. In der praktischen Tätigkeit an der Annäherung der beiden Kirchen arbeitete Stroßmayer aus der Erkenntnis der Tatsache, daß jede orthodoxe Kirche national, die katholische Kirche aber international ist, daran, der Einigung im Wege der Nationälisierung der katholischen Kirche bei den Kroaten (eventuell auch bei den Slovenen) näher zu kommen, und zwar durch Ein- führung der slavischen Kirchensprache, so wie sie von alters her in einzelnen kroatischen Bistumern im Küstenland in Gebrauch war. Bei diesem Be- sireben stieß Stroßmayer auf viel größere Hindernisse, als er erwartet hatie, und zwar nicht so sehr in Rom, als vielmehr in Wien und Budapest, aus begreiflichen Gründen, da ja den Wiener und Pester politischen Kreisen eine engere Annäherung der Kroaten und Serben nicht erwünscht war. Das schwerste Hindernis lag allerdings im Primat des Papstes, von dem Stroßmayer als uberzeugter Katholik nicht abzugehen gedachte, zumal ihm die Idee einer Union vorschwebte. Gegen ein Primat des Papstes erhob sich auch ein erbitterter Widerstand der orthodoxen Kreise. So mußte sich Stroßmayer in diesem delikaten Problem darauf beschränken, die gegen- seitige Liebe und Achtung zwischen den Anhängern der beiden Kirchen zu predigen. Anscheinend war die bekannte oppositionelle Stellungnahme Stroßmayers beim vatikanischen Konzil 1869/70 gegen die Unfehlbarkeit des Papstes in kirchlichen Lehren auch durch den Gedanken begründet, daß dies neue Dogma die katholische Kirche noch mehr von der orthodoxen entfernen werde, also die geistige Einigung der Kroaten und Serben noch mehr erschweren werde.

Stroßmayer vertrat ferner die Idee der slavischen Solidarität im Sinne J. Kollärs, den Stroßmayer aus Pest kannte, aus dem Bewußtsein heraus, daß es den slavischen Völkern nur durch die slavische Solidarität möglich sein werde, sich im internationalen Kampfe um die Existenz zu erhalten. Daher sein Interesse für alle Slaven und seine Beziehungen mit allen be- deutenden Persönlichkeiten des gesamten Slaventums, daher auch seine Liebe für das Sokolwesen, für die ersten slavischen Pioniere und Kämpfer für die nationale Einigung. Daher sein bekanntes Telegramm nach Kiew anläßlich der Jahrtausendfeier der Taufe der Russen. Im Geiste dieser slavischen Solidarität kämpfte Stroßmayer auch für die Autonomie der Serben und Bulgaren innerhalb der Grenzen des türkischen Reiches; er unterstübte auch materiell die jugoslavischen Christen in Bosnien, Her- zegovina und Altserbien, indem er ihnen große Geldsummen für die An- schaffung von Waffen zur Verfügung stellie. Besondere Aufmerksamkeiten wendete er den bosnischen Franziskanern zu und kümmerte sich um ihren Nachwuchs und um ihren geistigen Fortschritt. Die. Frage der materiellen

118

Untersfützung der serbischen Aufständischen in der Türkei war, wie wir heute wissen, der Inhalt der geheimen Besprechungen zwischen Siroßmayer und dem serbischen Fürsten Mihailo Obrenovié. Da die Katholiken in Belgrad und in Serbien ihm gerne unterstellt waren, hatte Stroßmayer die Möglichkeit, dienstlich nach Serbien zu reisen und dort mit dem Hof und der Regierung in Berührung zu treten. Auch mit den Slovenen hatte Siroßmayer enge Beziehungen, war mit Bart. Vidmer, dem späteren Lai- bacher Bischof, und mit Doktor J. Bleiweiß und auch mit dem Bischof Martin Slomšek gut bekannt. Er verlangt 1860 im Wiener Reichsrat, daß den Slovenen die slovenische Unterrichtssprache in ihren Schulen gegeben werde. Er unterstüßte reichlich alle slovenischen kulturellen und nationalen

Institutionen. |

. . Stroßmayers kulturelle Ideen: Siroßmayer war sich bewußt, daß cine nicht aufgeklärte und nicht kultivierte Volksmasse von verschiedensten Vor- urteilen beherrscht ist und alle Dinge nur vom Standpunkt der lokalen und regionalen Interessen aus beurteilt, daß also eine derartige Masse nicht fähig ist, irgendwelche größere und nationale Probleme zu erfassen und zu verstehen. Daher müssen diese Volksmassen, um für eine politische Einigung reif zu werden, kulturell gehoben werden, die Kultur ist eine Grundbedingung für eine erfolgreiche nationale Politik. Das Volk muß zuerst wissen, was Volk, Heimat, Freiheit und nationale Einigung bedeuten, und erst dann kann man auf die Realisierung dieser erhabenen mensch- lichen Ideale schreiten, weil sich erst nach einer derartigen Aufklärungs- und Erziehungsarbeit das Volk als eine Einheit fühlf und die öffentlichen Angelegenheiten von einem weiteren Gesichtspunkt und von allgemeinen nationalen Interessen aus zu beurteilen in der Lage ist. Daher seine Devise: „Durch Aufklärung (Kultur) zur Freiheit“. Im Geiste dieser Ideen machte sich Siroßmayer an die Organisierung der kulturellen Einheit und Einigung der Südslaven als der notwendigen Vorstufe für die politische Einheit und die Zukunft und legte die finanziellen Grundlagen zur Schaffung der ob- genannten Kulturinstitutionen, der Akademie 1860, der Universität 1874. Der Jugoslavischen Akademie stellte er bei der Gründung ausdrücklich die Aufgabe, sie solle in erster Linie die Geschichte, Literatur und Sprache der Südslaven untersuchen und eine einheitliche Literatursprache schaffen. Bei der Gründung der Universitat sagte er: „Wir sind durch den jahrhunderte- langen Kampf, den wir gegen die Barbarei und für die christliche Kultur führen mußten, sehr geschwächt worden. Die Glieder unseres Körpers sind noch heute zerrissen. Unsere Universität hat gerade diese heilige Aufgabe, das Volk zu einen und in innere Verbindung zu bringen, damit sich das, was Ungerechtigkeit und ein ungunstiges Schicksal von unserem Körper weggerissen haben, wieder unserer allgemeinen Mutter anschließe.“ Nach Siroßmayer sollten die Akademie und Universität ein Zentrum der kul- turellen Tätigkeit aller Südslaven werden. Er erwartete von der Akademie, daß sie eine jugoslavische wissenschaftliche Ideologie ausbaue und eine allgemeine südslavische Literatursprache schaffe, von der Universität, daß sie eine Generation fähiger nationaler Arbeiter heranziehe, damit man dann leicht und mit Erfolg der Realisierung weiterer Konsequenzen der nationalen Einigung nahetreten könne. J. Mati.

A. Vaillant: Marko Kralevié et la Vila. Revue des études slaves. T. 8 (1928), 1—2, S. 81—85.

Der Gesang vom Ritt des Marko Kralević und seines Kreuzbruders Miloš Obilić, wie er in Vuk Karadžić’ „Srpske narodne pesme“ 2, Nr. 38, wiedergegeben ist, zeigt in einer Fülle von Einzelheiten, daß ein ursprüng-

icher Text hier stark abgeändert vorliegt. V. zieht zum Vergleich Varianten heran aus den von der Matica Hrvatska herausgegebenen „Hrvatske narodne pjesme“ 1, Nr. 8—11, und aus der von Petranovié herausgegebenen Samm- lung „Srpske narodne pjesme iz Bosne i Hercegovine“ 2, Nr. 23, welche es ermöglichen, den BESPEUNGLICHEN Sinn des Hergangs und die ihrem mytho-

119

logischen Charakter entsprechenden Eigenschaften der Vila wiederzufinden. V. kommt bei diesen Untersuchungen zu einem anderen Urteil als Maretić in „Naša narodna epika“. Emmy Haertel.

Gerhard Gesemann: Volkslieder von der Insel Curzola. Aufgez. von Dr. med. Kuzma Tomašić. Archiv für Slav. Philo- logie. 42 (1928), 1/2, S. 8-31.

Die dalmatinischen Inseln, insbesondere Lissa, Lesina und Curzola, haben in ihrer Volksepik einen von den anderen Regionen Sudslaviens ab- weichenden Charakter und stellen ein Stadium in der geschichtlichen Ent- wicklung der Epik dar, welches G. als „Thesaurierung in den letzten Atem- zügen“ bezeichnet; die epische Tradition entbehrt hier der Lebenswärme, welche ihr z. B. im monitenegrinisch-albanischen Grenzgebiet noch eigen ist, hat sich aber andererseits freigehalten von derartigen Zeichen des Ver- falls der heroisch-patriarchalischen Grundstimmung dieser Dichtungsart, wie sie ältere und neuere Sammlungen aus den pannonischen Gebieten erkennen lassen. Diese insulare Epik hat einige Ähnlichkeit mit dem Zustand der russischen Volksepik zur Zeit ihrer ertragsreichsten Fixierung im 19. Jahr- hundert. Die Gesänge werden aber nicht mehr zur Guslenbegleitung in einem ihrem Inhalt adäquaten Hörerkreis vorgetragen, nur alte, mit gutem Gedächtnis begabte Frauen sagen sie in singendem Tonfall den Kindern vor. Sie zeigen off einen romantisch-sentimentalen Einschlag, den G. zum Teil auf Einflüsse der südslavisch-italienischen Kultur zurückführt. Dr. Tomašić hatte im Herbst 1913 im Dorfe Smokovica eine alte Frau ihrem Enkel ein Lied von Strahinj-ban singen hören und zeichnete einige Lieder dieser Sängerin auf. Er kann sich aus seiner eigenen Kindheit erinnern, nur noch alte Frauen solche Lieder ohne Begleitung singen gehört zu haben, auch damals sangen sie Männer nicht mehr. Das in den hier wiedergegebenen Liedern mitenthaltene Lied „Markova sestra vojvoda“ stammt nicht aus den Aufzeichnungen des Dr. Tomašić, sondern von dem Theologen D. Tomašić. Lied 1 „Kraljević Marko i vila vodarkinja“ unterscheidet sich von den sonst bekannt gewordenen Varianten durch den Ausgang der Handlung, der in Ubereinstimmung mit altertümlichen Prosaüberlieferungen den Helden, der das Tabu des Wassers verletzt hat, der verdienten Strafe überliefert. Nr. 4 »Ljuba Ive Senjanina“ zeigt, im Vergleich zu dem gleichen Text, welchen Leskien auf Curzola aufgezeichnet und Archiv V veröffentlicht hatte, wie schnell dort der Volksgesang abgestorben ist, es liegen nur wenige Jahr- zehnte zwischen der Leskienschen Aufzeichnung und der von Tomašić, die letztere zeigt aber nichts mehr von den Rachegefühlen der Mare beim Wiedersehen ihres ungerechten Gatten. Eingehend verweilt G. bei Nr. 6 „Stroinic Ban“. Er nennt die vorhandenen Varianten und hebt die grob- artige ethische Auffassung durch den Sänger Milija (bei Vuk) hervor, welcher den Helden Strahinha, im Gegensab zu der echt balkanischen Gesinnung seines Schwiegervaters, der von dem Türken geraubten und ihm abspenstig gemach- ten Frau verzeihen läßt. Die von Grd’ié-Bjelokosié in der Bosanska Vila 225, 21 gegebene Variante des Liedes gibt G. Anlaß zu Erörterungen dar- über, ob man darin etwa eine, z. T. mißverstandene Wiederholung des Vuk- schen Textes zu sehen hat oder nicht. Das Lied, welches Dr. Tomašić aufgezeichnet, zeigt große Lücken in der Handlung, verglichen mit dem Text bei Vuk. Die übrigen fünf Lieder und einige Liedanfänge geben nur zu kurzen Bemerkungen Anlaß. Emmy Haertel.

Wolfango Giusti: Miroslav Krleža. Rivista di letterature slave. Anno 3, 2. (1928). S. 163— 175.

KrleZa verdankt, ebenso wie Jaroslav HaSek, zum großen Teil seinen Ruhm der Kritik des Auslandes, auf die, beiden charakteristischen Züge, geht G. am Schlusse seines Aufsakes ein. Nach der Meinung Giustis war es in

120

Italien zuerst die Zeitschrift „Delta“ in Fiume, welche auf Krleža hinwies, jedenfalls war er bereits in Deutschland und in der Cechoslovakei bekannt und geschätzt, als in Jugoslavien uber ihn die Urteile noch ganz im unklaren waren. Krleža gehört, seinem Geburtsjahr (1895) nach, der älteren Gene- ration an, die Kriegsjahre kennzeichnen in ihm eine Grenzlinie des Denkens und Schaffens. In der ihnen voraufgegangenen Zeit durch Nietzsche einer- seits und Vojnović andererseits beeinflußt, gewähren seine Dichtungen den Eindruck einer noch nicht gefestigten Ideenwelt, einen Idcenreichtum, in dem der Wille zur Macht eine führende Rolle zu haben scheint, während die ge- samte Umwelt, bis zu den geringfügigsten Dingen herab, den Dichter an- zieht. In den scharfen Kontrasten von Licht und Schatten in den Schöpfun- gen jener Jahre findet G. etwas den italienischen Scicentisten Ähnliches. In den in Zagreb i. J. 1919 erschienenen „Pjesme“, vor allem in denen des 3. Bandes, zeigt sich bereits die durch den Welikrieg hervorgerufene Um- orientierung. Der Nietzschesche Ubermensch weicht einem kollektiveren Begriff von Leben und Kunst. Indessen herrschen auch hier gewollte scharfe Kontraste vor und ein Streben, gegen die Sirömung zu schwimmen. analysiert daraufhin die Gedichte „Plameni vjetar“, „Predve&erje u pro- vincijalnoj varosici“ u. a. Noch in den Dichtungen aus dem J. 1918 herrscht eine lyrische Phantastik vor, welche durch die Zeitereignisse ausgelöst wird, im 3. Band dagegen gewinnt die politische Einstellung an Boden, so ist

„Venerdì santo 1919“ dem Gedächtnis von Karl Liebknecht, „Pjesmo naših dana“ ganz politischen Tagesfragen gewidmet. Am bekanntesten ist KrleZa durch die „Hraviska Rapsodija“ vom J. 1917 geworden, in der G. formelle Anklange an Marinetti, Ideenanklänge an Majakovskij finden will.

Krleža wird zum eingefleischten Gegner der lyrischen Sentimentalität, der humanitären Fortschrittsidee und des individuellen Asthetentums. Selbst Vojnović, ebenso wie viele allgemein anerkannte und geschätzte kroatische Schriftsteller, entgeht nicht seiner geringschäßigen Kritik. Krleža sieht in ihm nur einen Nachahmer Annunzios.

Unter seinen Erzählungen nimmt „Tri Domobrana“ einen besonderen Plab ein. In Kroatien, ähnlich wie in der Cechei, bestand zu Beginn des Weltkrieges der Dualismus zwischen Staats- und Rassenzugehörigkeill wäh- rend aber die Mehrzahl der Cechen sich von Anfang an auf die Seite der Entente gestellt hatte, sympathisierte in Kroatien die Mehrzahl mit Öster- reich. Krleža nahm nun den Kampf auf gegen den österreichischen Servilis- mus wie gegen das Schwanken zwischen Österreich und Jugoslavien. Man hat die „Tri Domobrana“ häufig mit Hašeks „Švejk“ verglichen. Troß der unleugbaren Ähnlichkeit des Stoffes, den beide dem Weltkrieg entnehmen, besicht aber doch eine beträchtliche Verschiedenheit unter ihnen. Der Geist, der aus Hašeks „Švejk“ spricht, ist von äbender Ironie, in KrleZas Erzählung ist dagegen offene Kampflust zu spüren. Hier fehlen gänzlich, oder sind nur selten anzutreffen, friedliche, komische Szenen, die gesamte Handlung ist kürzer, konzentrierter und qualvoller. Selbst das humoristische Element darin wirkt tragisch und erinnert an gewisse Blätter Goyas.

In den Dramen KrleZas sieht G. den Hauptwert in deren Aktualität und

„kinematographischen“ Technik. G. hält es für kaum möglich, schon jebt zu einem abschließenden Urteil über Krleža zu gelangen, denn noch hat dieser sicher nicht sein lebtes Wort gesprochen; das große Interesse, welches das Ausland an ihm nimmt, erscheint ihm jedoch unter jedem Gesichtspunkt gerechtfertigt. Emmy Haertel.

Arturo Cronia: Ottone Zupantié. Rivista di letterature slave. Anno 2, Fasc. 4. 1927. S.579—594.

V. Der Betrachtung von Župančić’s „Samogovori“ (Lubiana 1908) ist als Motto ein Schopenhauerscher Ausspruch vorangestellt. Je reicher der Mensch in sich selbst ist, um so weniger können ihm andere nützlich sein. Die Wahrheit dieses Wortes ist von Zupantic tief empfunden worden. Das Unlösbare sozialer Fragen erzeugt ein Gefühl des Ekels und der Unlust

121

vor sozialen Kontakten. Daher wird die Einsamkeit vorgezogen. Aber seine Einsamkeit „ist nicht ein krankhaftes Zeichen des Pessimismus .

Sie ist eine Bejahung von Nietzschianischem Charakter.“ Daher die Doppel- natur der Monologe. Ein Blick sucht die Lufiraume der Unendlichkeit, der andere verfolgt die Mäander des wirklichen Lebens. Und immer bleibi das Herz des Dichters Schwerpunkt des Ganzen. Hieraus erklären sich auch gewisse Unklarheiten, die ihrerseits die unfreundliche Aufnahme der Mono- loge bei gewissen Kritikern verursacht haben mögen. Das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit wird immer wieder durch den Zweifel auf- gehalten. Ein erschütternder Beweis dieser Zwiespältigkeit liegt vor in der Dichtung „Vizija“, die Cronia dem Inhalt nach wiedergibt. Zupancic ge- langt schließlich zu seinem Goſtesbegriff, ebenso wie Kant, nicht vermittelst der göttlichen Offenbarung, sondern durch die klare und sirenge Gewifheit des eigenen Gewissens. Er kommt zu seinem GottesbewuBtsein auf intellek- tuellem Wege. In den Samogovori klingt mächtig auch der vaterländische Gedanke an. Sein Blick umspannt die georgische Welt des slovenischen Volkes und das heiße Leben der Städte. Schließlich klingt auch der für Slovenen und Slovaken so bedeutungsvolle Lockruf der Fahrten über das Weltmeer mit hinein. Emmy Haertel.

RUSSLAND

M. N. Tichomirov: Sela i derevni Dmitrovskogo kraja v XV—XVI veke: Trudy obStestva izucenija moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 5—34.

Einer Einleitung, die historisch-geographisch über die Veränderungen der Grenzen des Territoriums Dmitrov unterrichtet, die Naturreichtümer und auf Grund der Ortsnamen die Kolonisation des Gebiets bespricht, ferner die Verteilung der Erb- und Lehngüter des Adels und des klösterlichen Orundbesitzes untersucht, folgen als besondere Abschnitte ein historisch- geographisches Verzeichnis der Siedlungen im Gebiet von Dmitrov im 15. und 16. Jahrhundert mit einer Karte und Quellenangaben. F. Epstein.

E. A. Zvjagincev: Moskovskij kupec kompanejS¢cik Michajla Gusjatnikov i ego rod (Der Moskauer Handelskompagniekaufmann M. Gusjatnikov und sein Geschlecht): Trudy ob3testva izucenija moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 61—74.

Vorfahren der im 18. Jahrhundert in Moskau als wirtschaftliche Unter- nehmer zu großem Wohlstand gelangten Familie Gusjatnikov begegnen gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Dienst der Zobelkasse (Sobolinaja kazna) beim Prikaz für Sibirien, die die Einkünfte der Krone an Zobelfellen und anderen Kostbarkeiten verwalieie. a

Petr Gusjatnikov gehorte mit seinen vier Sohnen Michajl, Aleksej, Prochor und Petr zu einem Konsortium von siebzehn Teilhabern, an das 1730 auf zehn Jahre der Vertrieb von alkoholischen Getränken in Moskau verpachtet wurde. Michajl Gusjatnikov war dann von den vierziger bis in die siebziger Jahre der reichste Kaufmann Moskaus. Außer seiner Teil- haberschaft in der Handelskompagnie, die das Monopol für den Spirituosen- verkauf besaß, waren Industriebetriebe (Hüte- und Leinwandfabrikation), ein auf zahlreiche Ladengeschäfte verteilter Großhandel in verschiedenen Artikeln und Hausbesiß die Quellen seines Reichtums. Unter den folgenden Generationen ging die wirtschaftliche Machtstellung, die Michajl der Familie errungen hatte, unaufhaltsam zurück. Michajls Nachkommen gehörten ihrem Stand und ihren Interessen nach nicht mehr ausschließlich der Kaufmann- schaft an, sondern begegnen in wissenschaftlichen und Künstlerkreisen; andere kamen als Gutsbesißer in nähere Beziehung zum grundbesizenden Adel. F. Epstein.

122

G. A. Novickij: Pervye Moskovskie manufaktury XVII veka po obraboike koZi (Die ersten Moskauer Manufakturen für Leder- bearbeitung im 17. Jahrhundert): Trudy obStestva izucenija mos- kovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 47—60.

In einem wertvollen Beitrag zur Geschichte der Wirtschaftspolitik im Ausgang der Moskauer Periode ergänzt Novickij das Bild der Hofwirtschaft des Zaren Alekséj Michajlovič, das A. I. Zaozerskij auf Grund der Akten der Geheimen Kanzlei des Caren (Tajnyj prikaz) gezeichnet hat („Car Alekséj Michajlovič v svoem chozjajstv&“, 1917). In der Untersuchung über die Kronbetriebe zur Saffian- und Lederfabrikation in den sechziger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts sind die Zusammensetzung und die Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft eingehend dargestellt. Die Werkmeister, häufig Ausländer, wurden als Hüter des Fabrikationsgeheimnisses hoch be- soldet. Die Verständigung zwischen Meister und Lehrlingen war oft recht schwierig; so mußte z. B. für einen in Astrachan als Meister für die Her- stellung von Saffan angeworbenen Armenier ein besonderer Dolmetscher gehalten werden. F. Epstein.

A. L Voronkov: Kašira v XVII veke: Trudy obScestva izucéenija moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 35 46.

An Stelle des alten Kašira auf dem linken Okaufer (nahe der Ein- mündung der KaSirka), das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark unter den Einfällen der Tataren zu leiden hatte, entstand zwischen 1613 und 1624 eine neue hölzerne Festung KaSira auf dem rechten Ufer der Oka.

Die Befestigung der Stadt und die Armierung mit Geschützen wurde nach einer Periode der Vernachlässigung, in der größerer Wert auf die Instandhaltung der vorderen Verteidigungslinie im Süden mit Putivl, Bel- gorod, Ryl'sk gelegt worden war, in den siebziger Jahren erneuert. Zwischen 1679 und 1687 ist in Kašira als Festungsbaumeister ein Deutscher, der „In- genieur und Oberst“ Gabriel von Turner, bezeugt; in russischen Schrift- stücken kommt er als Gavril Ferturner oder Hanka Fanturner vor.

Sehr bald nach der Verlegung der Stadt vom linken auf das rechte Okaufer begann sich in KaSira Handel und Gewerbe in bescheidenem Um- fang zu entwickeln. Eine Tabelle zeigt die berufliche Gliederung der Be- völkerung von Kašira in den Jahren 1617 bis 1627, 1646 und 1678: 1646 zählte die Stadt rund 600 männliche Einwohner, die überwiegend zur militärischen Besabung gehörten. |

In der Korrespondenz zwischen der Zentralregierung in Moskau und den Voevoden der Stadt werden häufig Entsendungen von diensipflichtigen Leuten, die in Kašira stationiert waren, nach südlicher gelegenen befestigten Punkten (Tambov, Putivi, Belgorod, Ryl'sk, Sevsk usw.) erwähnt. Im Jahre 1660 wurde der Voevode M. N. Pisarev angewiesen, von Ka3ira Handwerks- meister mit den nötigen Vorräten zum Bau von Booten an den Don zu

cken, wo eine Donflotte ausgeriistet werden sollte. Die Unlust der Ab- kommandierten, dem Befehl Folge zu leisten, war so groß, daß seine Aus- führung durch die Drohung, im Weigerungsfalle würden Dienst- und Erb- güter unwiderruflich eingezogen werden, erzwungen werden ups

.Epstein.

M. S. Pomerancev: Certy dvorcovogo chozjajstva v Dmilrove v XVI—XVIII vv. (Züge aus der Hofwirtschaft in Dmitrov im 17. und 18. Jahrhundert): Moskovskij Kraeved, vyp. 5 (1928), S.3—8. Dmitrov war im Ausgang des 17. und in den ersten Jahren des 18. Jahr-

hunderts durch die sog. konjuSennaja sloboda, deren Abgaben an den

carischen Marstall gingen, durch Wiesengelände, das dem Herrscher gehörte, vor allem aber durch seine Fischteiche in die Wirtschaft des Moskauer Hofes

125

verflochten. Aus der Zeit Peters d. Gr. werden einige wirtschaftliche 18 8 nahmen der Regierung erwähnt: Die Heranziehung von Dmitrover Hand- werkern zum Bau von Petersburg und Kronstadt; Anweisungen, Erzeugnisse der Dmitrover Gemüse- und Obsikulturen nach Petersburg zu ver- pflanzen, usw. F. Epstein.

K. V. Sivkov: Podmoskovnaja voicina serediny XVIII v.: Trudy ob3testva izulenija moskovskoj gubernii, vyp.1 (1928), S. 75—96.

Das Kirchdorf Pavlovskoe mit Zubehör, über das der Aufsab handelt, gehörte der Gräfin Anna Bestuzeva, der Gattin des Vizekanzlers A. P. Bestuzev, aus ihrer ersten Ehe mit Graf P. l. Jaguzinskij. Die Darstellung gründet sich auf ein Liegenschafts- und Inventarverzeichnis vom Jahre 1743 und auf Akten über Bauernunruhen, die 1750 bis 1754 auf der Pavlovskaja votéina stattfanden. F. Epstein.

V. I. Pi€eta: Francuzskie diplomaty o torgovie Rossii s Franciej v pervye gody carstvovanija Ekateriny ll [Französische Diplo- maten über den Handel Rußlands mit Frankreich in den ersten Jahren der Regierung Katharinas ll): Trudy Belorusskogo Gosu- darstvennogo Universiteta Nr. 20 (Minsk 1928), S. 172—197.

_ Piéeta erläutert nach den in Band 140 (1912) und 141 (1913) des Sbornik imperat. russk. istorié. ob3éestva veröffentlichten Korrespondenzen zur Ge- schichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich die französischen, völlig vom Gegensatz Frankreichs zu England 5 Erwägungen für und wider den Abschluß eines Handels vertrags mit Ruß- land. Wiederholter Diplomatenwechsel und das Vorherrschen politischer Fragen bereiteten einer handelspolitischen Erörterung Hindernisse. Der Eindruck der Argumentationen des Botschafters Marquis de Beausset, der seiner Regierung den Abschluß eines Handelsvertrags nahelegte, weil er im direkten Handel Rußlands mit Frankreich ein wirksames Mittel zur wirt- schaftlichen und politischen Schwächung Englands erblickte, wurden paraly- siert durch die Berichte des Vertreters der nichtoffiziellen Diplomatic des Königs Ludwigs XV, des Konsuls Rossignol. Während de Beausset mit Beklemmung das Zustandekommen des englisch-russischen Handelsverirags von 1766 beobachtete, leugnete Rossignol die Abhängigkeit der Handels- beziehungen zwischen zwei Landern von der jeweiligen politischen Kon- Engion und fand sich mit der Beherrschung des russischen Markts durch

ngland ab. Dagegen gehörte der französische Bankier und Vizekonsul in Petersburg, Raimbert, zu den Befürwortern eines Vertrags.

Piteta gelangt zu dem Schlusse, daß das Kontinentalsystem Napoleons 1. sich in seinen Ursprüngen bis in die Epoche des Ancien Régime zurückver- folgen lasse, wo es in der offiziellen Korrespondenz der französischen Ge- sandten in Rußland mit ihrer Regierung zum Ausdruck gelange, wobei den Diplomaten interessierte und kompetente Vertreter des französischen Bür- gertums, die mit dem Petersburger Platz in Geschäftsbeziehungen standen, sekundierten. F. Epstein.

B. B. Kafengauz (Kafenhaus): Kupeceskie memuary (Memoiren von Kaufleuten): Trudy obScestva izulenija moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 105— 128.

Kafenhaus gelingt mit Hilfe der (im Gegensatz zur Hinterlassenschaft an Memoiren des russischen Adels) bisher vernachlässigten, bis auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgehenden, Aufzeichnungen von Ange- horigen des Kaufmannsstandes eine fesselnde Schilderung des Milieus der Moskauer Kaufmannschaft und der Moskauer Fabrikantenkreise in der Mitie des 19. Jahrhunderts. Besonders die Aufzeichnungen von N. Najdenov, der

124

1905 als Vorsitzender des Moskauer Börsenkomitces starb, erhellen die Be- deutung der Reformen der sechziger Jahre für den Kaufmannsstand, der in seiner sozialen Stellung gehoben wurde und in der Diskussion über einen Handelsvertrag mit dem deutschen Zollverein der Regierung eindringlich seine Wünsche vortrug. Der Aufsab vermittelt Einblicke in die Psychologie des russischen Unternehmertums; er erzählt vom Aufstieg einer Anzahl her- vorragender Vertreter eines wesentlichen Teils des russischen Bürgeriums und zeigt, wie man in den Kreisen der Moskauer Großkaufleute im Wandel der Zeiten verschieden über den eigenen Stand, den Staat und die Wirt- schaft dachte. F. Epstein.

A. Koyré: La jeunesse d’Ivan Kiréevskij. Le Monde slave. 5. Ig. (1928), Nr. 2, S. 212—238.

Der Aufsab, der sich mit einer größeren Arbeit des Autors: „Les ori- gines et la formation de la doctrine slavophile“ vielfach berührt, gibt eine Vorstellung von der geistig angeregten Atmosphäre, in der Kir&evskij (geb. 1806) aufwuchs. An Hand der Briefe, die er 1830 von Berlin und München an seine Angehörigen schrieb, überzeugend auszuführen, wie Kir&evskij sich während seines Studiums mit Hegel, Schleiermacher und Schelling aus- einandersegte, ist Koyré nicht gelungen. F. Epstein.

M. A. Bakunin (Neue Materialien). Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 138 bis 155.

Mit orientierenden Begleitworten bringt Vja@. Polonskij den Text des zweiten Aufrufs Bakunins an die Slaven von 1848 und.ein Elaborat der III. Abteilung aus dem jahre 1863 unter dem Titel „Michail Bakunin, wie er sich selbst schildert“.

Das erste Stück entdeckte Polonskij 1925 im Dresdener Staatsarchiv unter den Akten Bakunins. Es fehlt in der Ausgabe der Werke Bakunins und ist auch dem Bakuninbiographen Nettlau entgangen. Das zweite Stück von unbekannter Hand hatte den Zweck, den in Schweden 1863 mehr als unbeguemen Bakunin zu diskreditieren. Es wurde mit Allerhöchster Ge- nehmigung eiligst auf Grund der „Beichte“ Bakunins, seines Briefes an Alexander Il., seiner Briefe aus Sibirien an Fürst Dolgorukov usw., die alle im 1. Bande der „Materialy dlja biografii Bakunina“ (Gos. Izd. 1923) ver- öffentlicht worden sind, zusammengestellt. Aus unbekannten Gründen kam es 1863 nicht zur Publikation der Schmähschrift, 1870 ist vorübergehend wieder an die Publikation gedacht und in dieser Absicht die Schrift up to date gebracht worden. Der hier publizierte Text folgt der Variante von 1870.

Harald Cosack.

Aus dem unveroffentlichten Roman von N. G. CernySevskij: „Die Gleichnisse von A. A. Syrnev.“ Novyj Mir, Nr.7, 1928, S. 182 bis 194.

Der bekannte Historiker P. Séegolev veröffentlicht hier unter dem Titel „Pritči A. A. Syrneva” Fragmente eines Romans aus dem Nachlaß von CernySevskij. Dieser Roman, „Erzählungen in einer Erzählung“ („Rass- kazy w zasskaze“) betitelt, sollte nach dem Muster von „Tausend und eine Nacht“ aufgebaut werden. Die literarische Produktivität Cernysevskij’s ist erstaunlich: während der 22 Monate seiner Haft in der Peter-Paulsfestung (1862—64) schrieb er über elf Druckbogen im Monat voll; dabei erstreckte sich seine Tätigkeit auf sämtliche literarische Gebiete: er übersetzte, ver- faßte wissenschaftliche Arbeiten, schrieb Erzählungen und Romane. Der Einfluß seines Hauptwerkes „Cto delat’ („Was tun?“] auf die Jugend der 60er Jahre ist bekannt. Es war sein erstes belletristisches Werk und zu- gleich das einzige, das noch zu seinen Lebzeiten Verbreitung fand. Seine

125

übrigen Werke aus der Haftzeit wurden in der berüchtigten lll. Abteilung versiegelt aufbewahrt; erst die Revolution ermöglichte den Forschern das Studium dieser Werke.

Die hier zum Druck gebrachfen Fragmente stellen ein „Gleichnis“ oder eine kleine Geschichte dar, die in 4 ineinander übergehende, aber kaum mit- einander organisch verbundene Teile zerfallt. Der Held der Gleichnisse ist ein junger Schriftsteller Syrnev, ein „neuer Mensch mit einem neuen Moral- kodex“, dessen Charakter einige autobiographische Züge aufweist.

ugenie Salkind.

Das Attentat Karakozovs vom 4. April 1866. Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 91— 137.

Das, was hier Aleksej Silov und M. Klevenskij veröffentlichen, ist nicht durch das 1928 im Verlage des Centrarchiv im 1. Bande erschienene Werk „Pokušenie Karakozova. Stenograficeskij ołčeł po delu D. Karakozova, l. Chudjakova, N. I3utina i dr.“, das von M. Klevenskij und K. Kotel’nikov herausgegeben wird, uberholt. Jenes Werk gibt nur die Gerichtsverhand- lungen, während dieses Material, das z. T. in der Gerichtsverhandlung nur leichthin, z. T. gar nicht erwähnt wurde, den Akten der Muravevschen Unter- suchungskommission stammt und das schon damals in Vorbereitung befind- liche obige Werk ergänzt. Der eine Teil der Veröffentlichung bezieht sich auf das Zustandekommen des Attentats und die Haltung der einzelnen Verhafteten während der Untersuchung, der andere Teil gibt Einblick in die Ideologie der einander bekämpfenden Richtungen mit dem Ziele der politischen und der wirtschaftlichen Revolution. In Petersburg mit Chud- jakov als Repräsentanten ist der Herd der politischen, in Moskau mit [Sutin als Zentralfigur ist der Sik der wirtschaftlichen Revolution, kurz, es sind die Anfänge der Ideologien zu erkennen, die in den siebziger Jahren die Zemlevol’cy und Narodovol’cy vertreten. Harald Cosack

P.S.Seremetev: Kreposinaja sukonnaja fabrika v sele Osiaf’eve 1768-1861: Trudy obSéesiva izulenija moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 97— 104. |

Die Tuchfabrik in Ostaf’evo wurde in den fünfziger Jahren des 18. Jahr- hunderts von dem 1775 verstorbenen, aus bäuerlichem Stand aufgestiegenen, unternehmenden Kollegienassessor Koz ma Matveevič Matveev ge- gründet; Matveev besaß bereits im Gouvernement Kursk eine große Tuch- fabrik, mit der er eine Zucht holländischer Schafe verband. 1792 gelangte Ostaf evo in den Besi des Fürsten A. I. Vjazemskij und verblieb über hundert Jahre im Besitz der Familie. Zahlreiche Geschäftspapiere, sogar mündliche Mitteilungen noch lebender Arbeiter aus den letzten Zeiten des erst nach Aufhebung der Leibeigenschaft eingestellten Fabrikbetriebes ge- statten, die Entwicklung des Unternehmens, dessen technische Ausstattung von den Besitzern stets auf bemerkenswerter Höhe gehalten wurde, seit den zwanziger Jahren ziemlich genau zu verfolgen. F. Epstein.

Der Bezobrazovsche Kreis im Sommer 1904. Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 70—80.

B. Romanov publiziert unter dem russischen Titel „Bezobra- zovskij Kružok letom 1904 g.“ 17 Auszüge aus perlustrierten Briefen Abaza’s und Bezobrazov’s und 1 Auszug aus einem ebenfalls per- lustrierten Briefe Wittes, die alle vom Polizeidepartement für den Minister des Innern angefertigt wurden. on

Die Dokumente sind wichtig, weil über die Tätigkeit der Bezobrazov- leute nach Beginn des Russisch-japanischen Krieges bislang nichts bekannt war. Der Feind, den es zu vernichten galt, ist trob seiner Kalistellung

126

Witte. B. Romanov meint in seinem Begleitwort, daß das Endziel die physische Vernichtung Wittes gewesen sei, während Witte nach Lopuchin (Olryvki iz vospominanij. Gos. izd. 1923) an die Vernichtung Nikolaus Il. und seinen Ersatz durch Michail gedacht haben soll. Ermor det jedoch wurde Plehwe, der einzige Minister im Bezobrazovkreise, und ihr Ende fand die Bezobrazovaffare mit der Amts entfernung Alekseev’s als Oberkommandie - renden am 12. Oktober 1904. Harald Cosack.

Zur Geschichte der Agrarreform Stolypins. Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 81—90.

Nachdem das. Osoboe soveStonie o nu dach selsko-choziaistrennoj promySlennosti 1902 unter Wittes Vorsitz eingesekt worden war und sich für die Einführung des Individualbesikes vergeblich ausgesprochen halte, be- durfte es der Erschütterungen der ersten Revolution, um die Stolypin’sche Agrarreform herbeizuführen. Um den Ubergang des Groggrundbesifes zum Grundgedanken der Witteschen Pläne zu illustrieren, gibt hier A. G ajs ter unter dem Titel „K istorii agrarnoj reformy Stolypina” Aus- züge aus drei Jahresberichten russischer Gouverneure vom Jahre 1904 an den Caren, deren einer von Stolypin selbst als Gouverneur von Saratov, die beiden anderen von den Gouverneuren von Kazań und Chersoń her- rühren. Harald Cosack.

Aus dem Merkbuch des Archivars. Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 174 dis 232.

An der Spike der Miszellen „iz zapisnoj kni2ki archivista“ des Bandes 17 steht eine Arbeit von B. Syroeékovskij, die „Nikolaus l. und seinen Stabschef (Diebtisch) in den Tagen der Hin- richtung der Dekabristen“ zum Gegenstande hat. Das Material, das die allerpersönlichste Teilnahme des Caren an dem Spruche des Ge- richts und der Ausführungsbestimmungen der Hinrichtung nachweist, stammt aus dem „Osobyj Otdel“ des Zentralarchivs der Oktoberrevolution, Fonds 21, früher Abt. I B des Staatsarchivs, Nr. 648 unter dem Titel numa nalalnika Staba e. v. barona Dibiéa“. Als Detail sei bemerkt, daß der eigenhändige Brief mit den genauen "Angaben Nikolaus |. über alle zu beobachtenden Einzelheiten der Hinrichtung an den Fürsten P. V. Gole- nistev-Kutuzov sowie seine Kopie, die Leo Tolstoj in Besib gehabt hat, nirgends mehr zu finden sind. (S. 174—181.) „Zur Geschichte der zu Demonstrationszwecken abgehaltenen Totenmesse für die im Dorfe Bezdna im Gouv. Kazan getöteten Bauernim Jahre 1861“ steuert F. Kudrjavcev Materialien bei, die sich unter den Papieren des Bischofs Melefij (M. K. Jakimov) bei der Uber- nahme des Archivs des Selenginsker Dreieinigkeitsklosters, unweit Verch- neudinsk, durch die Archivverwaltung der Burjatenrepublik fanden. Der Bischof Meletij hatte, damals noch Priester, die Totenmesse gelesen, wofür er nach Sibirien verschickt wurde, während der Geistliche Jachontov für das gleiche Vergehen nach dem Solovecker Kloster verbannt wurde. Das Material dient zur Aufhellung der Frage der Beteiligung der Studenten der Kazaner Geistlichen Akademie, die die offizielle Untersuchung möglichst vertuschen wollte, und zur Vervolistandigung der Biographie Scapovs, der die zentrale Figur jener Demonstration gegen das Regime unter Alexander ll. gewesen ist. (S. 181—185) N. Sergievskij veröffentlicht einen

„Brief des Franc Jacevic", der um die Wende von 1885 zu 1886 geschrieben sein muß. Er enthält die Bereiferklärung P. L. Lavrovs zur Mitarbeit an der „Narodnaja Volja“ und die erschütternde Mitteilung, daß Lavrov auf seine alien Tage „fast hungert“. Die Mitarbeit Tichomirovs stelt Jacevi¢ ebenfalls in Aussicht (S. 185—186.) E. Tarle publiziert

127

und kommentiert zwei „Berichte S. S. TatiSéevs aus Berlin an V.K. Plehwe im Jahre 1904“. Tati3lev, der bekannte Historiker und Agent des Ministeriums des Innern, war nach Berlin entsandt, um die Ruß- land feindliche Stimmung zu bekämpfen. Im Bericht Nr. 1 gibt er eine Übersicht über die Lage in Deutschland und nennt unter den Leuten, mit denen er verhandelt, den Vizepräsidenten des Herrenhauses Manteuffel, den Chef des Bankhauses Mendelssohn -Bartholdy, den Finanzmann Robert Borchardt; als Organ benutzt er die „Preußische Korrespondenz“, um seine eigene Einstellung zu Deutschland als freundlich zu bezeichnen und sich über verschiedene Fragen, darunter den bevorstehenden Handelsvertrag, zu äußern. Der Bericht Nr. 2 beschäftigt sich mit der fragwürdigen Person des aus Stettin geburtigen René, der es verstanden hatte, uruguayischer Konsul fur Budapest mit Berlin als inoffiziellem Aufenthaltsort und 1904 Handels- agent der Berliner Vertretung Uruguays zu werden. Dieser Mann hatte durch seine Dienste im Spiel an der Börse und in anderen geschäftlichen Affären Beziehungen zu damals einflußreichen Leuten; TatiScev nennt namentlich den Herzog Gunther, Bruder der letzten Kaiserin, Prinz Hohen- lohe, General Werder, Manteuffel-Krossen. Trotzdem René Rußland zur Zeit 28000 Mark pro anno kostet und selbstandig nicht zu verwenden ist (die ihm aufgetragenen prorussischen Broschüren ist er nicht imstande zu schreiben, sondern läßt sie durch seinen Intimus Falkenhein schreiben), so sei er, schreibt Tati3lev, vorläufig in Ermangelung eines besseren Mannes unentbehrlich. Schelking, an den TatiS¢éev gedacht hatte, sei absolut un- brauchbar, wovon ihn die Mitteilungen des Botschafters Osten-Sacken über- zeugt hätten. (S. 186—192.) Der anonyme Beitrag „Briefe Medni- kovs an Spiridovic“ beleuchtet die Geheimpolizei zwischen den jahren 1900 und 1904, in denen sich in Rußland die erste Revolution deutlich ankündigte. Mednikov, Evstratij Pavlovic, und Spiridovié, Aleksandr Ivanovic, hatten beide höhere Posten inne; Spiridovié ist derselbe, der später zum Dienst beim Palaiskommandanten kommandiert wurde und während des Weltkrieges die Geheimpolizei im Hauptquartier leitete. Ein Personalregister als Anhang enthält wertvolle orientierende Daten (S. 192 bis 219.) A. Drezen publiziert 4 Briefe Nikolaus Il. aus der „Korre- spondenz Nikolaj Romanovs mit V. A. Romanov“, die sich mit 16 anderen Briefen des Caren, die ausschließlich familiären Charakters sind, im Archivalienfonds des ehemaligen Großfürsten Vladimir Aleksan- drovié befinden. Diese 4 Briefe fallen in die Zeit von 1896—1905. Unter ihnen behandelt nur Brief Nr. 2 vom 19. Dezember 1900 die auswärtigen Beziehungen, und zwar die zu Deutschland. Nikolaus beauftragt Vladimir mit der Vertretung zum 200jahrigen Jubilaum des Schwarzen Adlerordens, das er am liebsten ignorieren wollte. Zugleich beauftragt er Vladimir, auf den „hitzigen Wilhelm“ beruhigend einzuwirken und keinen Zweifel daran zu lassen, daß Rußland sich aus China definitiv zurückgezogen habe. In diesem Brief kassiert übrigens Nikolaus das Kapitel über die Ermordung Pauls I. in der „istorija Kavalergardov“, die Panculidzev geschrieben hat, weil es einen Schatten auf das Regiment wirft (S. 219—222) „Er- schießen oder hängen“ ist der Beitrag V. N. Ne&aev’s betitelt und zeigt die Sorge um die Stimmung im Heere angesichts der vielen Hin- richtungen 1905 und 1906 durch Erschießen, deren man Herr werden will durch die Hinrichtung durch den Strang, den die Zivilverwaltung zu voll- ziehen hatte (S. 222—225). Den lebten Beitrag „Die Expedition des Generals Ivanov gegen Petrograd liefert I. R. Gelis. Diese Expedition war der lebte Versuch des Carismus, die Situation zu seinen Gunsten zu wenden und endete bekanntlich mit der Verhaftung Ivanovs ih Kiev am 13. März 1917. Am 9. April 1917 richtete Ivanov ein langes Schreiben an den Kriegsminister Guckov, in dem er die gesamten Vorgänge von seiner Ernennung zum Kommandierenden des Petersburger Militär- bezirks bis zur Verhaftung darstellt und sich rechtfertigen will, wobei er von der Person Nikolaus Il. deutlich abrückt. Dieser Brief ist hier repro- duziert (S. 225—232). Harald Cosack.

128

M.Ch.Sventickaja: Aviobiografiteskie besedy G. N. Potanina: „Severnaja Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5-6, S. 123— 132.

Potanins Erinnerungen an seine Kadetienzeit in Omsk und Dienst- leistung in Sibirien als Offizier illustrieren die gesellschaftlichen Zustände in Sibirien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Militär übte eine schran- kenlose Willkürherrschaft; Potanin erinnert an die Ausschreitungen des Ge- neralgouverneurs Hasford, dessen Mißwirtschaft die Zeitung „iskra“ in den sechziger Jahren an den Pranger stellte, indem sie aus Zensurrücksichten nach seinem Wappenbild einem gewissen „Ochsenkopf“ ankreidete, was Hasford sich zuschulden kommen ließ.

Den Umschwung in seinen politischen Anschauungen von einem „kosakischen Patriofismus“ einem Patriotismus, der ihn in Nikolaus I. einen zweiten Peter d. Gr., den Verteidiger des Fortschritts und der euro- päischen Ideen von politischer Freiheit hatte sehen lassen (S. 128) —, zu liberaler Gesinnung führt Potanin auf sein Bekanntwerden mit dem Anhänger PetraSevskijs Durov zurück. F. Epstein.

M. Sventickaja: Vospominanie o G. N. Potanine: „Severnaja Azija“, H. 17—18 = 1927, H.5—6, S. 144—122.

Grigorij Nikolaevič Połanin (1855—1920), einer der frühen Verfechter der Sonderart Sibiriens (,,Sibirskoe oblasiničestvo“ ), aus der im sibirischen Bürgerkrieg die Gegner des Bolschevismus, „das sibirische Kleinbürgertum und das sibirische Kapital“, ein politisches Programm machten, hat sich auch als Geograph und Eihnograph einen Namen gemacht. F. Epstein.

Dmitriev: Oktjabr'skaja revoljucija v Sibiri: „Severnaja Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 5—21.

Sibirien hat seit der Februarrevolution 1917 etwa folgende Stadien, die von Dmitriev näher charakterisiert werden, durchlaufen: Die Zeit des Kampfes zwischen den sibirischen Raten und den (bürgerlichen) provinzialen Tendenzen (sibirskoe oblasinicestvo); Sibirien als Basis für die russische Gegenrevolution; die Intervention der Alliierten; die Wiederherstellung der Macht der Rate in Sibirien; die Intervention der Entente im Fernen Osten; die Zeit der Konsolidierung der Sovetherrschaft in Sibirien und dem Fernen Osten. F. Epstein.

Jules Legras: L’agonie de la Sibérie 1918—1920. Le Monde slave. 5. Jg. (1928), H. 2, S. 161 195.

Sibirisches Tagebuch vom 18. November 1918 bis zum 30. Januar 1919 aus dem Lager der Weißen. Die Aufzeichnungen sind aufschlußreich für den Staatsstreich des Admirals Koléak in Omsk am 18. November 1918, den Konflikt zwischen Kollak und dem Obersten Semenov und die Zustände in Irkutsk im Dezember 1918 und Januar 1919. F. Epstein.

E.A.Adamov: Le probléme bessarabien et les relations russo- roumaines. Le Monde slave. 5. Ig. (1928), Nr. 1, S. 65— 106. Adamov, dessen Arbeit zuerst russisch in Heft 6 und 7 des Ig. 1927 der

vom Volkskommissariat für die Auswärtigen Angelegenheiten herausgegebe- nen Zeitschrift „MeZdunarodnaja Zizn“ erschien, gibt eine diplomatische Ge- schichte der beßarabischen Frage, die namentlich für das 19. Jahrhundert durch Verwertung der russischen Quellen in vielen Einzelheiten über alle früheren Darstellungen hinausführt. F. Epstein.

NFS 129

V. L. Popov: Na rubeZe pervogo desjałilełija: „Severnaja Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 22—36.

_ Bei 91% Landbevölkerung ist Popovs Rückblick auf die Wirtschaft Sibiriens im Jahrzehnt 1917—1927, auf die Periode der Zerriittung der sibirischen Wirtschaft 1917—1922 (unter Berücksichtigung der Einwirkungen des Krieges bis 1916) und die Periode des Wiederaufbaus 1922 bis 1926 —, eine auf der Statistik aufgebaute Geschichte der sibirischen Landwirtschaft (Ackerbau, Viehzucht, Fischfang) im angegebenen Zeitraum. F. Epstein.

„Sibirskij archiv“: Severnaja Azija, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 133 bis 155.

Unter der Uberschrift „Sibirisches Archiv“ beginnt die Zeitschrift „Nord- asien“ mit dem Abdruck von Dokumenten zur Geschichte der Oktober- revolution in Sibirien. Als erste Materialien gelangen (S. 150—155) die Be- schlüsse des „Außerordentlichen gemeinsamen Kongresses“ aller politischen Parteien Sibiriens (Crezvylajnyj ob3testvennyj s’ezd) in Tomsk (6.—15. De- zember 1917) und die vom Zweiten Rätekongreß der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und Kosakendeputierten ganz Sibiriens in Irkutsk im Februar 1918 angenommenen Resolutionen und Thesen zum Abdruck (S. er i

. Epstein.

L Zalkind (Salkind): Nlar) Klom) Knosir) DieD v semnadcatom godu (Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten im Jahre 1917): Meždunarodnaja žizn 1927, H. 10, S. 12—20.

_ _ Salkind plaudert über Episoden aus der Besitzergreifung des russischen Ministeriums des Aubern und seiner Archive durch die Bolschevisten, den Verkehr mit ausländischen Diplomaten (u. a. mit der von Graf Mirbach ge- führten deutsch-österreichischen Mission für die Angelegenheiten der Kriegsgefangenen) und mit Journalisten. Sodann teil er ein Schuld- anerkenninis des Königs Ferdinand von Bulgarien (dat. Sofija 2. Sept. 1912) mit, worin die Rückzahlungsannuitäten für drei von der russischen Regie- rung gelichene Millionen Goldfrancs festgesejt werden. Die Abmachung trägt merkwürdigerweise den Charakter eines Personalkredits, indem nicht bulgarisches Staatseigentum, sondern private Liegenschaften des Königs fur den russischen Anspruch haften sollen. Ob der russische Wortlaut authentisch ist oder das Original vielleicht französisch abgefaßt war, wird nicht gesagt. | F. Epstein.

M. Vichniak: Deux historiens russes de la révolution russe. Le Monde slave. 5. Jg.-(1928), Nr. 1, S. 27—64.

_ Vichniak bespricht die Darstellungen der Februar-Revolution, die P.N. Miljukov (Istorija vioroj russkoj revoljucii) und Nik. Suchanov (Zapiski o revoljucii) gegeben haben. Er zeigt an vielen Beispielen, wie Miljukov bei den Februar-Ereignissen eine zu bedeutende Rolle spielte, als daß er ein unparteiischer Historiker sein könnte (S. 54). Miljukovs Studie sei die Ge- schichte und Philosophie des Anteils, den die Partei der Kadetten an der russischen Revolution genommen habe (S. 46). Suchanovs Werk sei zu literarisch, um Geschichte, zu wortreich und eintönig, um Journalistik oder Literatur zu sein; indessen herrsche der Journalismus vor. Geschichte und Literatur dienten ebensosehr als Grundlage wie als Verzierung = rea

. Epstein.

V. I. Veretennikov: Etjudi po voprosam istoriceskago konstrui-

rovanija. I. Neskol’ko slov o klassifikacii metodov istori¢eskogo postroenija: Naukovi Zapiski, praci naukovo-doslidéoi katedri

150

istorii Evropejs’koi kulturi. I. Metodologija nauk (= Scientific Ma- gazine. Works of the explorating chair of the history of European culture. I. The Methodology of sciences (Charkiv 1927), S. 147 bis 164.

Veretennikov erläutert den Denkprozeß und die psychologischen Postu- late, durch die historische Urteile gewonnen werden, an Sergéevics Urteil über die altrussische Volksversammlung (Véée) und Kljuéevskijs Beurteilung der Umbildung des Udélfiirstenstandes zum Bojarentum im 13. und 14. Jahr- hundert, an den politischen Aspirationen des Moskauer Bojarentums im 16. und 17. Jahrhundert und der Bedeutung der Heeresdislokation unter Peter d. Gr. für die Verwaltung. F. Epstein.

30 jahre des Kiinstlertheaters. „Novyj Mir“, Nr. 10, 1928, S. 192 ff.

Gelegentlich des 30jährigen Daun des Moskauer Künstlertheaters gibt N. Volkov in seinem Artikel (,30 let chudoZestyennogo teatra“) einen kurzen Überblick über die Geschichte der Entstehung des Theaters und seiner Entwicklung. Die 90er Jahre des vergangenen Jahrh. kündeten das Ende einer Periode und die Anfänge einer neuen Zeit auf allen Gebieten der Kunst und des gesellschaftlichen Lebens an. In der Literatur erwachen die symbolistischen Strömungen, die bildende Kunst bringt den „Mir iskusstva“ („Welt der Kunst“ eine Vereinigung der modernen Künstler), in der Musik ertönen die ersten Werke von Skrjabin, und auch in der Ge- schichte des russischen Theaters bedeuten diese Jahre einen Wendepunkt. Das Moskauer Theater befand sich um diese Zeit in einer kümmerlichen Lage; die 5 dramatischen Bühnen brachten nur mittelmagige Stücke heute vergessener Autoren. Die besten Vertreter der Schauspielerwelt waren sich der Unzulänglichkeit des Repertoires, der Unfähigkeit der Regie und des allgemeinen Verfalls der Theaterkunst durchaus bewußt: auf dem ersten allrussischen Kongreß der Buhnenkiinstler (eröffnet am 9. März 1897) ertönte die Stimme des großen Schauspielers Lenskij, der auf die besorgnis- erregende Lage des russischen Theaters hinwies. Und doch erwachte zu gleicher Zeit ein neuer Geist im westeuropäischen Theater: im kleinen Her- zogtum Sachsen-Meiningen, im Pariser Theater Antoine wurden erfolg- reiche Versuche unternommen, die Theaterkunst durch den damals noch revolutionierend wirkenden Naturalismus zu beleben. Auch ein neues russ. Theater sollte geboren werden. Es ging jedoch nicht aus den kais. Bühnen hervor, sondern aus der Vereinigung von 2 Gruppen der Theaterjugend, die unter der Leitung von V. J. Nemirovié-Danéenko und K. S. Stanislavskij arbeiteten. Sie haben das Moskauer Kiinstlertheater (ursprünglich: das künstlerische allgemein zugängliche Theater) gegründet. Das dreißigjährige Leben dieses Künstlertheaters (1898—1928) fiel in eine schwere, von gesell- schaftlichen Krisen, Kriegen und Revolutionen erschütterte Zeit, doch das Theater hat es immer verstanden, mit dem bewegten russ. Leben in Fühlung zu bleiben: zum 10jährigen Jubiläum der Sovetregierung nahm es den „Panzerzug“, ein Revolutionsdrama von V.Ivanov, in sein Repertoire auf. Die Revolution von 1905 wurde durch die Aufführung von Gorkijs „Kinder der Sonne” gekennzeichnet. Groß ist das Verdienst des Theaters auf dem Gebiet der Repertoirebildung: es ist allgemein bekannt, daß das Künstler- theater den Dramatiker Cechov gerettet, Gorkij und Leonid Andreev stets das größte Verständnis entgegengebracht hat; auch die westeuropäische Literatur fand hier immer Beachtung: Hauptmann, Ibsen, Hamsun und Maeterlinck wurden neben Čechov, Gorkij Andreev und den russischen Klassikern aufgeführt. Ein Streben nach der Gestaltung des „wirklichen Lebens“, eine angestrengte Arbeit, vom ernsten künstlerischen Geist durch- drungen, hat dem Theater und seinen Mitgliedern ein besonderes Gepräge verliehen. Für manche künstlerische Experimente wurden Theaterstudien ins Leben gerufen, wo der künstlerische Nachwuchs unter der Leitung junger Regisseure sich um .die Lösung neuer Probleme bemühte. Die Geschichte

151

des zeitgenössischen russ. Theaters San ‚mit der Dale des Mos- kauer Kunstlertheaters: durch seine „Kinder“ und „Enkel“ wird es fort- geset darum bedeutet auch sein 3jähriges Jubiläum keinen Schluß, sondern eine neue Entwicklungsetappe. Eugenie Salkind.

Die Literatur als Werkzeug der Organisierung und des Aufbaues. „Novyj Mir“, Nr. 7, 1928, S. 195 ff.

Valerian Poljanskij bespricht in diesem Aufsatz („Literatura orudie organizacii i stroitel’ stva“) die Aufgaben der zeitgenössischen Sovet- literatur. Manche Kritiker vertreten noch immer die Ansicht, daß die Auf- gabe der Literatur sich nur auf das Widerspiegeln des Lebens beschränke. Dies ist nicht nur grundsäßlich falsch, sondern auch schädlich. Was sich zu Belinskijs Zeiten als notwendig und zweckmäßig erwiesen hat, kann zu unserer Zeit keinen Anspruch auf Geltung erheben. Im Sovetstaate hat die Literatur in erster Linie „mit maximaler Aktualität die Organisierung des Lebens zu fördern“. Laut den Prinzipien der marxistischen Soziologie ge- hört die Literatur samt allen anderen schönen Künsten zum ideologischen Gebiet. Ihr liegt also auch die organisierende Funktion ob. Die Frage der „sozialen Bestellung“ wurde in der Publizistik oft genug erörtert; nach der Meinung des Verf. ist die Literatur außerhalb der sozialen Bestellung über- haupt nicht denkbar. Ihr Auftraggeber ist die herrschende Klasse; der Dichter, der aus dieser Klasse hervorgegangen ist, muß sein Schaffen der Kontrolle seines Klassenbewußtseins unterstellen. Das Thema des eigent- lichen Schaffens bildet der konkrete sozialistische Aufbau des Staates, nicht das „Theorefisieren über Kommunismus und Revolution“. Nach dieser charakteristischen Einleitung geht Verf. zur Übersicht der positiven Ergeb- nisse der heutigen Literatur über und stellt fest, daß die Schriftsteller ihren Stoff zumeist in den Themen des Militarkommunismus und der Rekon- struierung der Volkswirtschaft finden. Jedoch die Epoche der Industriali- sierung und kulturellen Revolution wurde bisher kaum beachtet. Hier kommt Verf. mit praktischen Ratschlägen, z. B.: ein Mangel an Butter macht sich in der letzten Zeit bemerkbar; auf den ersten Blick ist dies nur eine unbe- deutende Erscheinung, doch ‘steht sie im engen Zusammenhang mit den sozial-ökonomischen Reformen der Oktoberrevolution, welch reicher Stoff für den Dichter, den Belletristen wie den Psychologen! Während des Pro- zesses der künstlerischen Gestaltung darf der Schriftsteller nicht vergessen, daß sein Leserkreis sich aus den Arbeitermassen zusammensebt. Die Lite- ratur muß streng realistisch, die formellen Elemente müssen mit dem Inhalt eng verbunden sein. Der Sovetliteratur stehen wichtige Aufgaben bevor: wie der Politiker, der Denker und der Gelehrte, trägt auch der Künstler die Verantwortung vor dem Proletariat. Eugenie Salkind.

Das Sovet-Kino auf neuen Wegen. „Novyj Mir“, Nr. 5, 1928, S. 243 ff.

K. Malcev widmet seinen Artikel („Sovetskoe kino na novych putjach“) der aktuellen Lage des russ. Kinos und seinen Zukunftsaussichten. Das letzte Jahr weist, laut statistischen Angaben, über 300 Millionen Kinobesucher auf. Wenn man die spezifischen Eigenschaften des Films seine künst- lerischen Mittel, die verhältnismäßige Billigkeit und Transportfähigkeit in Betracht zieht, so wird es erst klar, mit welch mächtigem kulturellen Faktor man es hier zu tun hat. In den lebten 4 Jahren hat das Sovetkino einen großen Aufschwung genommen; i. J. 1926/27 machte die Sovetproduktion bereits 49% der Gesamizahl der aufgeführten Filme aus. Auch in tech- nischer Hinsicht können große Erfolge verzeichnet werden. Allein der ideelle Gehalt der Kinoproduktion laßt noch viel zu wünschen übrig. Die Vertreter der mächtigsten Kinoorganisation „Sovkino“ behaupten zwar, der Film bilde eine zuverlässige Waffe in den Händen der Partei und des pro- letarıschen Staates, anders urteilen aber die Kritiker: „Das Sovkino richtet sich nach dem Geschmack des Spießbürgers, weil seine finanziellen Inter- essen dies erfordern“: „Diese Zuschauer werden am stärksten durch aus-

152

ländische Filme und prachisiroßende Bilder, die das. Leben der Aristokratie und der Millionäre darstellen, gefesselt.“ „Mehr Romane,“ sagt der Vor- sitzende des Sovkino, „der Inhalt darf nicht überladen, die Frauen müssen unbedingt schön sein.“ Das Urteil der Kritik wird durch Stimmen aus den Arbeitermassen unterstübt. Eine Rundfrage in den Arbeiterkreisen ergab Resultate, die für das Sovkino ungünstig lauten. Die Spitzenleisfungen der Sovetproduktion, wie der „Potemkin“, „Die Mutter“ u. a. m. gelangen erst mit großer Verspätung in die Arbeiterklubs, gewöhnlich werden diese mit Filmen minderwertiger Qualität versehen. „Immer nur über die Liebe, lauter Quatsch,“ beklagen sich die Arbeiter, „solche Bilder brauchen wir nicht.“ Noch schlimmer ist es um das Dorf bestellt. Auch hier laßt sich das Sov- kino von Gründen rein kommerziellen Charakters leiten. So werden ge- wöhnlich nur n Streifen ins Dorf geschickt, die dauernd zerreißen und die berechtigte Entriistung der Zuschauer hervorrufen. Ferner pro- testiert die Kritik auch gegen die Uberflutung der Leinwand durch ‚auslän- dische Filme, die „eine feindliche Klassenideologie propagieren“. Der Sovetfilm ist noch nicht imstande, auf die ausländische Produktion voll- ständig zu verzichten, doch könnte man sich auf die Einfuhr von kulturell- wissenschaftlichen Filmen beschränken. Das Filmwesen setz sich aus 2 Elementen zusammen: 1. aus dem künstlerisch-ideologischen und 2. dem materiellen Element. Als eines der wirksamsien Mittel der kommunistischen Aufklärung trägt das Kino die revolutionären Ideen ins Volk; als ein In- dustriezweig von großer Entwicklungsfähigkeit muß es eine neue Bezugs- quelle bilden. Eine. Reorganisierung der Kinematographie auf kapitalisti- scher Grundlage fate not, doch würde dies einen enormen Kostenaufwand verlangen. Um jedoch die Herstellung von ideologisch bedeutenden und künstlerisch wertvollen Filmen zu sichern, müßte man die breiten Bevölke- rungsschichten in die Arbeit einbeziehen, ihnen die Prüfung der Manuskripte und der fertigen Filme überlassen; nur auf diese Weise ließe sich ein Kon- takt mit dem Proletariat herstellen. Eugenie Salkind.

Georges Maklakof: vers Paccord de Péglise orthodoxe avec les Soviets. Le Monde slave, 5. Jg. (1928), Nr. 1, S. 1—26.

Der Friedensschluß der russischen Kirche mit der Sovetregierung, den die Kundgebung des Stellverireters des Patriarchen, des Metropoliten Sergej von NiZnij-Novgorod, vom 29. Juli 1927 den orihodoxen Gläubigen bekannigab, hat die orthodoxe Kirche in der russischen Emigration in eine oy ge Sn schwierige Lage gebracht. Interessant ist Maklakovs Nach- weis, daß die Emigranten keinen Grund hätten, sich über einen Mangel an Toleranz von seiten der kirchlichen Zentralgewali zu Ban 5 126.)

pstein.

Die Thesen der Aufgaben der marxistischen Kritik. „Novyj Mir“, Nr. 6, 1928, S. 188— 196.

Der Volkskommissar für Aufklärung A. V. Luna ar skij veröfient- licht unter dem Tite! „Tezisy o zadalach marksistskoj kritiki“ seine Betrach- tungen über das Wesen und die Aufgaben der marxistischen Kritik. Der Kampf zwischen der alten und neuen Welt dauert fort. Die Einflüsse West- europas, der bourgeoisen Vergangenheit, der alten und neuen Bourgeoisie machen sich noch immer in der Literatur gehend. Das spießbürgerliche Element beherrscht noch bis zu einem gewissen Grade das Leben der pro- letarischen Massen, selbst der Kommunisten. Bei diesen Bedingungen ge- winnt die prolet. Lit. an sozialer Bedeutung. Eine vielleicht noch wichtigere Rolle im neuen Staat spielt die marxistische Kritik, der es obliegt, den Lesern eine richtige Auffassung der literarischen Werke zu übermitteln. Die marxistische Kritik unterscheidet sich von allen anderen in erster Linie durch ihren soziologischen Charakter; der Kritiker geht von dem Inhalte des betreffenden Werkes aus und versucht seinen Zusammenhang mit den sozialen Gruppen, für die es.bestimmt ist, festzustellen. Allein der Marxis-

185

mus hat nicht nur die Bedeutung einer soziologischen Doktrin: der Kritiker muß es auch verstehen, auf das Milieu in einem bestimmten Sinne zu wir- ken; er ist ein Kämpfer, er arbeitet an dem Aufbau des Staates mit. Von welchem Standpunkt aus wird er nun ein neues Werk betrachten? Seine Ethik wird sich mit der des Proletariats decken: „alles, was die Entwicklung und den Sieg der proletarischen Revolution fördert, ist gut; böse ist, was diese Entwicklung hemmt.“ So muß der Kritiker zunächst den Inhalt des Werkes untersuchen, um seine soziale Tendenz definieren zu können. Was nun die Bewertung der Form anbetrifft, so muß sich der marxistische Kri- tiker vor allen Dingen über die Bedeutung des formellen Elements in der schönen Literatur klar werden. Folgendes ist dabei von Wichtigkeit: die publizistische Tendenz darf keine überwiegende Rolle spielen. Die Form muß eine gewisse Originalität aufweisen und das Werk allgemein zugäng- lich sein. Jedoch birgt auch die elementare Popularisierung der Werke, die dem noch niedrigen geistigen Niveau der Arbeiter- und Bauernmassen an- gepaßi werden, eine große Gefahr: die Gefahr der Nivellierung der Litera- tur. Darum darf auch die Bedeutung solcher Werke, die nur den höher stehenden Schichten des Proletariats zugänglich sind, nicht unferschätzf werden. Die Aufgaben des marxist. Kritikers fragen auch einen didak- tischen Charakter: er muß dem Schriftsteller wie dem Leser ein Lehrer sein. Den jungen Schriftsteller weist er auf seine Fehler formellen und inhalt- lichen Charakters hin, dem Leser wird er ein erfahrener Führer und Weg- weiser auf dem Gebiete der zeitgenössischen sowie der alten klassischen Literatur sein. Dies ist bes. wichtig in unserer Zeit, die durch die unge- heure Erweiterung der Leserkreise charakterisiert wird. Den marxist. Kri- tikern wird oft vorgeworfen, daß ihre Tätigkeit zuweilen einen rein politi- schen Charakter trage, da die Feststellung einer „bewußten konterrevolu- tionären Tendenz“ in den Werken eines Schriftstellers für diesen recht un- angenehme praktische Folgen haben könne. Diesen Vorwurf läßt L. nur für solche Kritiker gelten, die sich von persönlichen Rachegefühlen und Ge- wissenlosigkeit leiten lassen. Sonst darf das Resultat der sozialen Analyse nicht verschwiegen werden, denn dadurch wird ja das eigentliche Wesen der marxist. Kritik verletzt. Zum Schluß wird noch die Frage der Zulässig- keit einer scharfen Polemik aufgeworfen. Lunacarskij erblickt in der Po- lemik ein wirksames Mittel, die Leser für das erörterte Problem zu inter- essieren; natürlich darf diese Polemik keinen gehässigen Charakter tragen. Ein echter Kritiker verhält sich überhaupt a priori wohlwollend zu allen neuen Werken: etwas Wertvolles zu finden, um es dem Leser zeigen zu können, muß ihn mit größter Genugtuung erfüllen. Eugenie Salkind.

Jacques Ancel: Les bases géographiques de la question des

détroits. Le Monde slave. 5. Jg. (1928), Nr. 2, S. 259—253.

Ancel versucht eine geographische Erklarung des wirtschaftlichen und pohtischen Niedergangs von Konstantinopel. Er weist nach, wie die in Konstantinopel kreuzenden Straßen, der See- und Landweg, gegen früher an Bedeutung verloren haben und die Stadt dadurch wirtschaftlich herab- sank, während das Aufhören der türkischen Herrschaft auf der Balkanhalb- insel und die Verlegung des Schwerpunkts der neuen Türkei nach Klein- asien Konstantinopels politischen Niedergang verursachte. F. Epstein.

WEISSRUSSLAND

Mikola IljaSevié: Pachodzen’ne siaradaunja vesiki i antro- polegiényja adznaki belarusau. Studenskaja Dumka. Wilna, 1928, Heft 1, S. 9—15.

Vorliegende Abhandlung bildet den Auszug aus dem noch nicht er- schienenen Werk des Verf. .„Weißrßland, als anthropologische Einheit“.

154

Auf dem Territorium des gegenwärtigen Weißrußlands erschienen Menschen nach der Eiszeit zunächst aus dem Süden aus dem Gebiet der gegen- wärtigen Ukraine. Die archäologischen Untersuchungen haben erwiesen, daß Weißrußland bereits in der paläolithischen Periode besiedelt war. Und zwar waren menschliche Siedlungen im nordöstlichen Teil Weißrußlands vorhanden (Gouvernements Smolensk und Witebsk). Allerdings wurden nur wenige Spuren von Siedlungen aus der paläolithischen Periode ermittelt. Weit zahlreicher sind die Spuren menschlicher Siedlungen, die der neo- lithischen Periode angehören. Diese finden sich besonders reichlich in Nordwestweißrußland an den Ufern der Düna, am Narev und auch am Bug. Die Schädel, die man in den Gräbern gefunden hat, sind meist dolicho- kephal, was den Gelehrten (Karski) Anlaß gibt, diese Urbevölkerung Weiß- rußlands für den slavischen Uriyp zu halten. Die Langköpfigkeit hat sich auch fast ausschließlich bei den Weißrussen erhalten, daher kann man wohl annehmen, daß die Weißrussen die reinste Prägung slavischer Rasse bilden. Die Ausgrabungen ergeben einen relativ hohen Stand der Kultur der Ur- slaven, die das Gebiet in der neolithischen Zeit besiedelten (die Waffen und keramischen Erzeugnise, die bei Ausgrabungen im Grodnogouvernement gefunden haben, legen davon Zeugnis ab). Die weißrussischen Grabstätten weisen sowohl in bezug auf den Ritus der Beisebung, wie auch in bezug auf die gefundenen Gegenstände wesentliche Unterschiede im Vergleich mit den Grabstätten anderer slavischer Völker auf. Als Nachbarn der Weib- russen sieht die Palaonthographie die Litauer im Westen und die finnischen Stämme im Osten an. Linguistische und anthropologische Motive bestätigen diese Vermutung.

Die anthropologischen Untersuchungen Weißrußlands erhalten ihre be- sondere Bedeutung im Zusammenhang mit Niederles Theorie über die Ur- heimat der Slaven, die bedeutende Teile des ethnographischen Weißruß- lands mitumfaßt (Grodno-, Minsk- und Mogilewgebiet).

Historische Kenntnis von den weißrussischen Stämmen haben wir erst aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. G.

Die physikalisch-geographischen Bedingungen Weißrußlands [Wälder und Sümpfe) verhinderten die Rassenmischung, die in dem Restteil der ostrussischen Ebene infolge der Heeresziige der Nomadenvölker stattfand.

Während die Großrussen von tatarischen, türkischen und finnischen Stämmen bedrängt wurden, die Wesislaven dem germanischen Druck aus- gesetzt waren, wurden die Weißrussen in ihren Sümpfen und Wäldern von ähnlichen Invasionen verschont. Limanski führt auch den Namen „Weiß- ruland“ auf diesen Umstand zurück, d. h. das „weiße Rußland“, das von Fremdherrschaft freie Rußland.

Die Anthropologie, die Archäologie und die Ethnographie sind sich dar- über einig, daß die Weißrussen einen besonders reinrassigen slavischen Stamm bilden. Verf. untersucht die anihropologischen Kennzeichen der Weißrussen: der Weißrusse ist im Durchschnitt 1667 mm hoch, etwas höher also als der Großrusse und Pole, und etwas kleiner als der Ukrainer. Unter den Weißrussen bilden die Dolichokephalen 13% (unter den Großrussen 9% und unter den Polen 11%), die Mesokephalen 23% (bei den Großrussen und Polen 18%). Der Augenfarbe und der Haarfarbe nach bilden die Weiß- russen gleichfalls den reinsten hellen slavischen Typ. 57% der Weißrussen gehören dem hellen Typ an und nur 11% dem dunklen. Verf. bringt noch weitere anthropologische Kennzeichen der Weißrussen, die nicht immer als unumstritten gelten können. Es sei nur noch die außerordentliche Frucht- barkeit der Weißrussen erwähnt, die vor dem Krieg dem Bevölkerungs- zuwachs nach mit 1,8% den 3. Platz in Europa innehatien. Verf. wirft noch verschiedene Probleme des Studiums des weißrussischen Volkes auf anthro- pologisch-biologischer Grundlage auf, eine Aufgabe, die der neuen aka- demisch geschulten weißrussischen Intellektuellengeneration erwächst. Diese vom Verf. befürwortete exakte Methode bietet immerhin einen gewissen Schuß gegen die Überschwenglichkeit nationaler Begeisterung, die sich bei den Weißrussen, wie bei allen Völkern, die soeben ihre staatliche

155

Selbständigkeit erlangt haben oder noch danach streben, gehend macht und so die Objektivität der wissenschaftlichen sn aceniad 3 Viedimir Samojlo.

Dvarcéanin: Uber das Oebarisjahr von Fr. Skaryna. Rodnyja Goni 1927, kn. 1.

‚Verf. beschäftigt sich mit der Feststellung des Geburtsjahres des ersten weißrussischen Humanisten Fr. Skaryna. Im Zusammenhang mit der Feier des 400jährigen Bestehens weißrussischer Druckwerke ist das Interesse zu Skaryna sehr gestiegen. Dv. ist der Ansicht, daß trob der umfangreichen Monographie über Skaryna, die Prof. Viadimirov 1888 veröffentlicht hat, über Skaryna relativ wenig bekannt ist. An neuerer Literatur über Skaryna wären zu nennen die Abhandlungen von Prof. Stakacichin (in „Polymja“ 1925, kn. 5) und Charevid (in „Polymja“ 1925, kn. 7). Auf Grund dieser Ar- beiten, sowie eigener Forschungen halt Dv. den 6. März 1486 für den Ge- burtstag Skaryna’s, und zwar begründet er seine Hypothese einerseits durch Urkunden der Universitat Krakau betreffend die Promotion Skaryna’s zum Bakkalaureus (1506), andererseits durch eine Analyse seines Wappens, ver- bunden mit einer sehr geistreichen astrologisch-astronomischen Theorie.

Vladimir Samojlo.

D. Masalski: Uber lifauische und weißrussische Siudierende des Braunsberger Seminars 1578—1798. Rodnyja Goni 1927, kn. 4.

Die kulturellen Beziehungen zwischen dem Großfürstentum Litauen und Deutschland im 16. bis 18. Jahrhundert, die Prof. Georg Lühr kürzlich be- handelt hat, geben Anlaß zu einer Polemik zwischen Latovicus und Masalski über die nationale Zugehörigkeit der Studierenden des Braunsberger Se- minars, die in den Matrikeln als „Liihuanus”, „Ruthenus“, „Polonus“, „ex Lithuania”, „ex Samogitia“ u. a.m. verzeichnet sind. Im Laufe von 220 Jahren absolvierten über 1400 Studierende aus dem Großfürstentum Litauen das Braunsberger Seminar. Während Latovicus alle Studierenden aus „Lithuania“ als Litauer und nur die Basilianer unter ihnen als Weißrussen ansieht, ver- tritt Masalski den Standpunkt, daß es sich bei den meisten von ihnen um Litauer nur im staatsrechtlichen Sinne handelte, während sie ihrer Nationali- tät nach vorwiegend Weißrussen waren.

Seiner Ansicht nach sind nur die „ex Samogitia“ stammenden Stu- dierenden Nationallitauer. gewesen. Bei den anderen dagegen schließt er aus den entweder echt weißrussischen (mit den Endungen ,,ic“) oder vor- wiegend weißrussischen Namen (mit den weniger charakteristischen Endun- gen „ski“ und „tzki“) auf Weißrussen. Ferner führt er für seine Vermutung die Tatsache an, daß die Namen mehrerer Studierenden die Laute „ch“ und „h“ enthalten, die der litauischen Phonetik unbekannt sind.

Es ist wohl anzunehmen, daß die Wahrheit, wie es ja meist bei solchen Streiten der Fall ist, in der Mitte liegt, obwohl bei den meisten Studierenden die Vermutung eher für Weißrussen spricht. Vladimir Samojlo.

Zenjuk: Die Kirchenunion in Weißrußland. Belaruskaja Kultura, kn. 1. 1927, S. 42—45.

Verf. behandelt die Geschichte der Kirchenunion in Weißrußland und schildert die Bemühungen um ihre Erneuerung in der Gegenwart. Während die römisch-katholische Kirche erst im 12.—13. Jahrhundert sich in Weiß- ruland festsebt, hatte die griechisch-katholische Kirche in den weiß- russischen Volksmassen bereits seit dem 10. Jahrhundert Fuß gefaßt. Beide Kirchen werden nun im Layfe der Geschichte zu Sprungbreitern des staat- lich-kirchlichen Imperialismus Polens und Moskaus. Der eigentliche Kirchen- kampf setzt erst mit der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit Polen ein. 1596 spricht sich die hohe griechisch-katholische Geistlichkeit

156

Weißrußlands im Konzil von Brest-Litowsk für die Kirchenunion aus. Verf. ist der Ansicht, daß dies aus patriotischen Beweggründen erfolgte, um eine konfessionelle Einheit der Weißrussen zu verwirklichen und in der unierten nischen Kalhol Nationalkirche eine Barriere gegen die Gelüste des pol-

en Katholizismus und der russischen Orthodoxie zu schaffen. Wie wenig zutreffend diese Auffassung des Verf. ist, geht daraus hervor, daß die unierte Kirche im späteren Verlauf der Geschichte stets Bundesgenosse des polnischen Katholizismus gegen die Orthodoxie und gegen die Re- formationsbewegung gewesen ist, so cet von einer Barriere gegen den polnischen Katholizismus wohl kaum die Rede sein kann. Zuzugeben ist, daß die unierte Kirche eine Barriere gegen die Moskauer Orthodoxie ge- wesen ist. Das hat der russische Zarismus ganz richtig erkannt, und wie Verf. zutreffend schildert, mit der Vernichtung der Union die konfessionelle Trennungslinie zwischen Weißrussen und Russen beseitigt. Der Kampf gegen die unierte Kirche gehörte zum Russifizierungsprogramm des Zaris- mus. Verf. behauptet, daß die Rückkehr der Unierten in die griechisch- katholische Kirche aus Gründen der Unterwürfigkeit erfolgt ist eine Be- hauptung, über deren Richtigkeit sich streiten läßt. Es haben da vermutlich auch andere Gründe mitgewirkt. Wie wenig wurzelfest die unierte Kirche in Weißrußland war, zeigt die Tatsache, daß nach dem Staatsedikt vom 28. April 1905 Tausende Weißrussen zur katholischen Kirche übertraten.

Verf. schildert die Verdienste der unierten Kirche unter Hervorhebung ihrer kuliurellen Tätigkeit seit der Gründung des Basilianerordens. Er verweist ferner auf das Beispiel Galiziens, wo die unierte Kirche das ukrainische Nationalbewußtsein erhalten und gefördert hat.

Z. ist der Ansicht, daß bei günstigen Bedingungen ld. h, wenn Weiß- rußland nicht von Rußland verschlungen worden wäre) die unierte Kirche ın Weißrußland eine ähnliche Rolle gespielt hätte.

Verf. plädiert für Erneuerung der Kirchenunion auch aus dem Grundc, weil die unierte Kirche im Interesse Polens liege und geeignet sei, die durch das Medium der griechisch-katholischen Kirche eindringenden Moskauer Einflüsse abzuschwächen.

Zu den Ausführungen von Z. wäre wohl zu sagen, daß die Idee der unierten Kirche als weißrussischer Nationalkirche bereits um 1905 von der weißrussischen Renaissancebewegung aufgenommen wurde. Ich habe in diesem Sinne um 1905 mit einem „Apostel“ der galizischen Unierten, Vater Lomnitzki, verhandelt, doch die spätere Entwicklung ging andere Wege.

Der Vergleich des Verf. mit Galizien hinkt schon deshalb, weil in Galizien die unierte Kirche sich 150 Jahre lang frei sowohl vom russischen, wie auch vom polnischen staatlich-kirchlichen Imperialismus entwickelt hat, und zwar unter österreichischer Herrschaft, die allen Nationalitäten und Konfessionen die Freiheit ihrer kulturellen Entwicklung gewährt hat. Das „österreichische“ Argument des Verf. erinnert an die während des Welt- krieges von gewissen weißrussischen Kreisen vertretene Auffassung, daß für die nationale Renaissance des weißrussischen Volkes, wie für die des galizischen Ukrainertums das „deutsche Staatssanatorium” die günstigste Form gewesen wäre. Eine Auffassung, die charakteristisch für das Miß- trauen ist, das die weißrussischen Intellektuellen sowohl zu den Russen, wie auch zu den Polen hegen. Vladimir Samojlo.

Jazep Zygolouski: Die Lage der weißrussischen Bewegung in den letzten zehn Jahren. Gramadzjanin 1928, Heft 13, S. 4—7.

In den Vordergrund seiner Betrachtung rückt Verf. die Stellungnahme der russ. demokratischen Parteien zu den weißrussischen Unabhängigkeits- bestrebungen. 1917 war die Idee der weißrussischen Unabhängigkeit reich- lich unpopular. Ende 1917 fand eine allweißrussische Tagung statt, die sich lediglich für eine Föderation mit Rußland, nicht aber für eine staatliche Trennung aussprach

157

Nach der Darstellung des Verfassers war die national-weißrussische Bewegung um 1917 noch im Stadium der Organisation. Nur die Belaru- skaja sacyjalistiinaja Hromada hatte bereits eine . Ideologie. aber selbst diese Gruppe stellte sich noch nicht ganz klar vor, ob Weib- rußland gänzlich unabhängig sein oder eine Föderation mit irgendeinem anderen Staate eingehen sollte. Noch im Mai 1917 sprach sich diese Gruppe gegen national-weißrussische Heeresformationen aus. Verf. macht der weißrussischen sozialistischen Hromada deswegen Vorwürfe, weil ihre damalige Haltung in dieser Frage das jebige Schicksal Weißrußlands be- dingt habe. Nicht mindere Schuld trifft nach Auffassung des Verfassers die Führer der russischen demokratischen Parteien, die die Reorganisation der damaligen russischen Armee auf national-territorialer Grundlage aus groß- russischen Motiven zu hinfertreiben wußten. Trob dieser Stellungnahme der Kommissare der provisorischen Regierung vollzog sich die territorial- nationale Umgruppierung der Armee von selbst. Als charakteristisch für die Stellungnahme der damaligen Führer der demokratischen russischen Parteien bringt der Verfasser folgenden Ausspruch des bekannten russischen Sozialdemokraten Wojtinski, der damals Kommissar der 12. Armee war: „Es gibt überhaupt keine Weißrussen. Das ist eine Erfindung eines Häuf- leins intellektueller und polnischer Gutsbesitzer. Wir können nicht eine Organisation zulassen, die die russische Armee zersezen wird.“ Die russischen Demokraten benutzten die Teilnahme von Skirmunt und der Fürstin Radziwill an der weißrussischen nationalen Bewegung, um diese als polnische Mache darzustellen.

Nicht minder feindlich als die Stellungnahme der russischen Sozial- demokraten zu der national-weißrussischen Bewegung war die Stellung- nahme der russischen Sozial-Revolutionäre. Der Bürgermeister von Minsk, KaSéenko, der der Partei der Sozial-Revolutionäre angehörte, habe den weißrussischen Frontdelegierten, die um einen Versammlungsraum baten, erwidert: „Ihr könnt euch auf der Straße selbst bestimmen

Die Tagung der weißrussischen Frontdelegierten, die die Schaffung einer weißrussischen Armee erstrebfe, kam zu spät. Inzwischen erfolgte der Oktoberumsturz. i

Wie wenig Verständnis die russischen Parteien für die nationalen Be- strebungen der Weißrussen hatten, beweist die Tatsache, daß, als auf der allrussischen Staatsberatung in Moskau die Weißrussen die Autonomie Weißrußlands forderten, man sie als „deutsche Spione“ bezeichnete.

Selbst in der Emigration haben die russischen demokratischen Parteien kein Verständnis für die national-weißrussischen Bestrebungen. So hat der russische Sozialdemokrat Abramovič die Zulassung weißrussischer Dele- gierter zu dem Hamburger Sozialistenkongreß hintertrieben mit der Be- gründung, daß die russischen Sozialdemokraten (Menschewisten) ganz Ruß- land, also auch Weißrußland, vertreten.

Es muß hinzugefügt werden, daß die Ausführungen des Verfassers cum grano salis aufzunehmen sind. Wie wenig objektiv seine Darstellung ist, ist daraus zu ersehen, daß z. B. in der Frage der Tagung der weißrussischen Frontdelegierten in Minsk im Oktober 1917 auf mein Ersuchen für diese Tagung die besten Säle des Gouverneurhauses zur Verfügung gestellt wurden gewiß eine unbedeutende Tatsache, die jedoch beweist, daß die damaligen russischen Behörden die weißrussischen nationalen Bestrebungen keineswegs so schroff bekampften, wie es der Verfasser darstellt.

Vladimir Samojlo.

Kasimir Svajak: Das weißrussische Volkslied. Belaruskaja

Krynica, 1927, Heft 21—22.

Der Artikel stammt aus dem literarischen Nachlaß des früh verst. weig- russ. kath. Dichters und Priesters Ste povié (1890—1926), der unter dem Pseudonym Kasimir Svajak schrieb. Verf. weist darauf hin, daß der an sich reiche Liederschak des weißruss. Volkes wenig religiöse Lieder auf-

158

weist. Dies sei darauf zurückzuführen, daz der Weißrusse in fremden Sprachen (Polnisch oder Kirchenslavisch) betet, das Volksschaffen sich aber nur in der Muttersprache entfallen kann. Aus der Zeit der Union blieben noch einige weißruss. Kirchengesänge, doch scien sie farblose Ubersebungen

aus dem Doin. ohne eigene Note. Dagegen weist der Liederschak des weißruss. Volkes ,,halb-religidse“ Lieder auf. Darunter versteht Verf. na- mentlich die Beerdigungslieder, die sog. »placi« oder auch »zaplackic, in denen der Schmerz der Witwen und Waisen zum Ausdruck kommt. In alten Zeiten wurden diese »zaplacki« von einem Chor bei Begehung der rituellen Seite der Beisetzung gesungen. Das Christentum hat diesen heidnischen Ritus durch die Totenmesse ersebt. Von dem uralten Ritus blieb nur ein Volksbrauch, der z. T. christliche Elemente aufgenommen hat. Verf. er- wähnt auch die Gesänge der sog. ,valacobnikau“, die zu Ostern durch die Dörfer ziehen und die Auferstehung Christi verherrlichen. Indessen sind diese Volkslieder gegenwärtig nur noch wenig verbreitet, und man muß den Eihnographen Dank zollen, daß sie durch rechizeitige Sammlung dieser Gesänge sie vor der Vergessenheit bewahrt haben. Lebensfähiger sind da- gegen die Volkslieder, die sich auf Familienfeste beziehen oder auch solche, die mit verschiedenen Landarbeiten zusammenhängen.

Die Hochzeitslieder sind reichlich derb und anzüglich, was wohl dem Umstand zuzuschreiben ist, daß sie unter der Wirkung reichlichen Alkohol- genusses zustande gekommen sind. Besonders beliebt sind unter den Volks- liedern die sog. „Castuski“, die aber mit den großrussischen „astuSki”keineswegsidentisch sind. Bei den großrussischen „Castuski” handelt es sich in der Regel um Proletenlieder, jedenfalls Poesie des Asphalts. Die weißrussischen „Castuski“ dagegen sind humoristische

„Bewirtungslieder“: „Fastavac“ bedeutet nämlich „bewirten“. „Castuski“ singt die Heiratsvermittlerin oder auch ein Mädchenchor. Hinzu kommen Volkslieder mehr oder minder phantastischen Inhalts über Wasser- und Waldgeister. Aus diesem üppigen Volksschak haben weißrussische Dichter (Arsen’eva, Bogdanovič) viele Motive und Gestalten geschopft.

In musikalischer Hinsicht wird das weißrussische Volkslied durch die Schönheit und Wehmut der Klage gekennzeichnet, in der sich die histori- schen Geschicke der Weißrussen spiegeln. Verf. weist darauf hin, daß auch fremdstämmige Dichter und Komponisten beim weißrussischen Volkslied Anleihen machten, und zwar ohne Quellenangabe. Namentlich trifft dies für Mickievicz und Moniuszko zu. Abschließend bemerkt Verf., daß das weißruss. Volkslied in den Werken der jungen Dichtergeneration Weißruß- lands seine Auferstehung feiert. Das Studium der weißrussischen Volks- musik sei noch in dem Anfangsstadium.

Zu den Ausführungen des Verf. wäre zu sagen, daß er eine eigenartige Symbiose von Katholizismus und weißrussischem NationalbewuBtsein bietet. Er liebt das alte weißrussische Volkslied mit den Spuren heidnischer Ver- gangenheit und bemängelt gleichzeitig das Fehlen weißrussischer Kirchen- gesange! Wenn wir einen Vergleich mit Polen ziehen, so finden wir, daß dort das katholische Christentum das alte heidnische Volkslied fast gänzlich erdrosselt hat. Dafür ist allerdings die polnische „Volkspoesie“ an reli- giösen Kantaten reich genug. Es bleibt zu bezweifeln, ob Verf. für sein Volk das Gleiche gewünscht hätte! Vladimir Samojlo.

S.: Die Märchen der PaljaSuki. Belaruski Dzen’, 1928, 16—21. Aliaxander SerZputouski: „Die Märchen und Legenden der Weißrussen im Kreis Siutzk.“ Verlag des Instituts für weiß- russische Kultur in Minsk. 1926. Die Bewohner des Sumpfgebiets Polesje sind wohl der unbeweglichste

Vokksstamm Europas. Fernab von den großen Verkehrswegen, verloren in dem ewigen Einerlei der Sümpfe, schuf der geschichtslose Stamm der

159

PaljaSuki eine üppige Volksdichtung. Diese Volksdichtung enthält bemer- kenswerterweise nicht nur eine Moral des alltäglichen Lebens, sondern auch Elemente einer Lebensphilosophie, die selbst von einer hohen Sozial-Ethik Zeugnis ablegt.

Die Märchen der Weißrussen (insbesondere der Palja3uki, d. h. der Bewohner des Polesjegebiets) zeugen von einer hohen dichterischen Be- gabung des Volkes. E. R. Romanov sammelte drei große Bande weik- russischer Volksmärchen. Ferner liegen 2 Bände weißrussischer Volks- märchen von M. Federovski vor. Hinzu kommen unzählige kleinere Samm- lungen. Nach den Berechnungen von S. W. Savéenko sind in ganz Weiß- rußland etwa 1500 Varianten von Volksmärchen aufgeschrieben worden. Von allen diesen Sammlungen ist die von SerZputouski besonders wertvoll dank den wissenschaftlichen Methoden der Aufzeichnung und dem Reichtum des Materials.

Die Märchen der Palja3uki sind Anfang des 20. Jahrhunderts in den Kreisen Sluck und Mosyr aufgezeichnet worden, wobei sich das Alter ein- zelner Märchen kaum ermitteln laßt. Das Märchen wächst wie die Perle in der Muschelschale. Das Körnchen völkischer oder fremdstämmiger Intuition auf Grund moralischer Erfahrung oder aus dichterischer oder auch religiöser Inspiration wird von anderen Schichtungen der Phantasie umgeben. In den Volksmärchen kann man gewissermaßen die Historiographie des weiß- russischen bäuerlichen Gedankens verfolgen. Manche dieser Märchen stammen aus der heidnischen Vorzeit. Wie SerZputouski hervorhebt, werden die Märchen in der Regel von älteren Leuten geschaffen und weitergegeben, von Leuten, die den Höhepunkt ihrer geistigen Reife erreicht haben. Daher sind diese Volksmärchen von Perlen synthetischer Volksweisheit gesättigt. Sie enthalten in künstlerischer Form den Niederschlag der Lebensphilosophie und Weltanschauung des Volkes. Sie enthalten eine Unzahl von Sprüchen, Sprichwörtern, volkstumlichen Redensarten, die in präziser mnemotechnischer Form die Lebenserfahrung des Volkes zusammenfassen.

Charakteristisch fur diese Volksmarchen ist die Mischung christlicher und heidnischer Elemente: im Laufe ihrer Entwicklung wird der ganze Olymp der heidnischen Götter durch den christlichen Alleingott erobert und ver- drängt. An Stelle des früheren mechanischen Gleichgewichts von Gut und Böse tritt ein kritischer Volksoptimismus, der moralisch und religiös im Christentum fußt. Der Kampf dieser beiden Weltanschauungen findet im weißrussischen Volksmärchen einen starken Widerhall.

Charakteristisch ist eine Reihe Märchen, die die Herkunft verschiedener Tiere erklären (Storch, Bär, Schwein u. a. m.) als Menschen, die für eine bestimmie Sünde bestraft seien. Es liegt hier offenbar eine spätere Um- arbeitung der Grundelemente vor. Das Märchen „Vom weisen Salomo“ ist der Ausdruck eines kosmologischen Optimismus des Volkes: selbst die widerwärtigsten Insekten und Tiere finden in dem Weltall eine der Gesamt- heit nützliche Stellung. Das Märchen klingt in der Weisheit aus, daß es ohne das Böse auch das Gute nicht geben würde ein Gedanke über die utili- tarıstische Mission des Bösen in der Welt, der eines Leibniz würdig wäre... Das weißrussische Volksmärchen spiegelt nicht nur das Volksleben wider, sondern versucht es auch auf Grund moralisch-religiöser Prinzipien zu reformieren. In dieser Art Märchen werden die Volksubel, insbesondere die Trunksucht, verdammt und ihre schädlichen Folgen gezeigt.

Das Volksmärchen hebt die wahren religiösen Werte hervor, die Treu- herzigkeit im Gebet und in den guten Werken und stellt sie der Uberheb- lichkeit der offiziellen Geistlichkeit mit ihrer reglementierten Kirchengelehrt- heit entgegen: der „im Geiste arme Einsiedler“ geht über das Wasser wie ein Heiliger und rettet den stolzen ubermutigen Pfaffen, der ihm auf das Wasser folgt und dabei beinahe ertrinkt. i

Nicht minder bemerkenswert ist die Sozial-Ethik des weißrussischen Volksmärchens. Sie enthält eine scharfe Verurteilung des krassen Egoismus des Individuums, eine kollektivistische Moral und chiliastische Hoffnungen.

Wilna. Vladimir Samojlo.

140

Jasep S’vetasar: Ales’ Garun’ und sein literarisches Schaffen. | Belaruskaje Slova 1927, Heft 27—29.

Unter dem Pseudonym Ales’ Garun’ schrieb der weißrussische Dichter PruSinski. (1887—1920.) Er stammte aus einer Arbeiterfamilie und war in Minsk geboren. Früh widmete er sich der revolutionären Tätigkeit. Er wurde 1908 nach Sibirien verbannt. Sein Aufenthalt in Sibirien (1908—1914) bedeutet für ihn Sammlung und innere Einkehr. Statt revolutionärer No- vellen schreibt er nun philosophisch-mystische Gedichte. Erst 1918 erschien in Minsk sein Versband ,,Mat¢yn Dar“. Viele wertvolle Gedichte von G. sind noch in Zeitungen und Zeitschriften zerstreut. Neben Bogdanovič ge- hört Garun’ zu den Protagonisten des Impressionismus in der weißrussischen Dichtung. Sehr eigenartig ist, daß trob seiner proletarischen Abstammung und revolutionären Vergangenheit G. in seiner Dichtung den weißrussischen Romantikern des 19. Jahrhunderts näher steht als der proletarischen Dich- tung der Gegenwart. Er ist Träger der Ideenwelt des adligen Liberalismus, ein Dichter der „szlachta“. Gänzlich fehlen seiner Dichtung Motive des proletarischen Klassenhasses. Im Gegenteil, patriotische Erlebnisse (?) und philosophische Reflexionen bilden den Hauptinhalt seiner Poesie. Verf. führt dies auf den Einfluß der konservativ-adligen polnischen Dichtung zurück. Allerdings verschweigt Verf. auch nicht, daß diese polnischen Ein- flüsse dazu beitrugen, daß Garun’s Dichtung von Polonismen überfüllt ist.

| Vladimir Samojlo.

Anton Navina: Anton Ljavicki. Rodnyja Goni 1927, kn. 1.

Unter dem Pseudonym Anton Navina schreibt über Fragen weiß- russischer Literatur und Kultur einer der besten Kenner der weißrussischen Literatur und zugleich ein bedeutender Führer weißrussischer nationaler Renaissance Anton Luckevié. Die vorliegende Abhandlung ist die Wiedergabe eines Vortrags, den Anton Luckevié anläßlich des fünften Jahrestages seit dem Tode des bedeutendsten weißrussischen Novellisten Anton Ljavicki gehalten hat. |

Ljavicki (t 1921) stammte aus jenem weißrussischen Kleinadel, der unter dem Einfluß zweier mächtiger Bewegungen stand einerseits die nafional-romantischen Freiheitsbestrebungen der Polen, andererseits der soziale Befreiungskampf des russischen Bauerntums. Als Weißrussen fühl- ten sie sich zu dem blutsverwandten Bauerntum hingezogen. Aber ihr adliges alter ego zog sie wieder ins Lager der polnischen Klassengenossen.

schwankte diese Schicht jahrzehntelang zwischen den beiden Bewegun- gen, ohne sich endgültig zu binden. L. der ihr entstammte, der alle ihre inneren Konflikte selbst durchmachte, konnte auch am besten diese Gesell- schaftsschicht künstlerisch darstellen. Allmählich siegte beim weißrussischen Kleinadel die nationale Solidarität über die Klassensolidarität. Wie Schuppen fielen von ihnen die Floskeln polnischer Kultur ab. Navina (Luckevic) zeigt in seiner Abhandlung, wie allmählich Ljavicki sich von den polnischen Ein- flüssen emanzipierte. Dieser Kampf mit seinem adligen alter ego fiel ihm nicht leicht. Erst in seinen letzten Werken schildert er Typen der weiß- russischen Volksmasse, ohne daß zwischen den Zeilen eine Spur seiner früheren adligen Weltanschauung zu finden ist. Die Originalität der Idee, die Aufrichtigkeit des Empfindens, die leicht faßliche Form der Darstellung und eine üppige Volkssprache sind die Eigenschaften der Werke von Ljavicki, die ihm den ersten Platz unter den modernen Prosaschrifistellern Weißruß- lands verschafften. Verf. ist der Ansicht, daß Ljavicki zwar als Dichter zu seinem Volk den Weg gefunden habe, als Mensch aber dauernd unter seiner Zwitterstellung litt. Restlos glücklich hatte er sich wohl nur im Kreise eines national-weißrussischen Adels gefühlt, wenn es einen solchen gegeben hätte... Der Dichter Ljavicki, der höher stand als der Mensch Ljavicki, dagegen fühlte überall im weißrussischen Leben Betrug und Fälschung, überall, mit Ausnahme der Bauernwelt und der Natur. In der künstlerisch-

141

wahrheitsgetreuen Darstellung dieser beiden der Wahrheit der Natur und der Wahrheit des Volkes siegte die künstlerische Begabung Ljavickis über den Menschen Ljavicki. Vladimir Samojlo.

Zum ersten Jahrestag seit dem Tode von Svajak. Belaruskaja Krynica, 1927, Nr. 19.

Der anonyme Artikel stammt vermutlich aus der Feder des Priesters Acam Stankevič des nahen Freundes und Gesinnungsgenossen des ver- storbenen weißrussischen katholischen Dichters Priester Stepovic, der unter dem Pseudonym Svajak schrieb. Verf. unternimmt den Versuch, die Ein- heit der Weltanschauung des verstorbenen Dichters nachzuweisen, nament- lich bemüht er sich um den Nachweis, daz sein Bekenntnis zur weiß- russisch-nationalen Idee zu seinem katholischen Bekenntnis in keinem Gegensatz stand.

Diese Frage ist von der Kritik seinerzeit lebhaft erörtert worden, wobei insbesondere die Kritiker Navina und Sulima sich bemühfen, diesen Gegensatz in der Dichtung Svajaks aufzudecken.

Verf. versucht die Ausführungen dieser Kritiker dadurch abzuschwächen, daß er die gelegentlichen Widersprüche in der Dichtung Svajaks darauf zurückführt, daß dieser „in seinen Überzeugungen schwankte“.

jedoch habe im späteren Verlauf seines Lebens seine Aufrichtigkeit, eifriges Nachdenken, die Kenntnis der weißrussischen Volksseele ihn in seinen Überzeugungen bestärkt. Das Christentum ist für Svajak die ein- zige Quelle seines Schaffens, der Inhalt seines Lebens und des Lebens seines Volkes. „Mit dem Volk zu Gottl Es gibt keinen anderen Weg!“ war laut Verf. seine Maxime. Von der Hohe seiner christlichen Welt- anschauung betrachtete Svajak die Wege der Entwicklung seines Volkes, wandte sich gegen den Nationalismus umd predigte das friedliche Neben- einanderleben freier Volker. Seine christliche Wellanschauung veranlaßte ihn gleichfalls, sich gegen die soziale Ungerechtigkeit zu wenden. Sein Ideal war das unabhängige demokratische Weifrugland gegen die Gegner dieses Ideals schleuderte er die Pfeile seiner grimmigen Satire.

Verf. ist der Ansicht, daß erst die Veröffentlichung der nachgelassenen Werke von Svajak den vollen Nachweis der Einheit seiner Weltanschauung erbringen wird. Es muß hinzugefügt werden, daß die Bedeutung von Svajak mehr auf politischem als literarischem Gebiet liegt. „Seiner Lyrik fehlt”, nach dem treffenden Wort von Sulima, „Musik“. Sie ist auch durch Motive und Erwägungen gekennzeichnet, die weniger durch Religiosität als durch die Soutane bedingt sind. Aber zwischen dem Priester Svajak und dem Dichter Svajak kommt es mitunter zu scharfen Zusammenstößen, so daß in der Lyrik des Priesters mitunter auch Motive des Kampfes gegen Gott durchklingen. Vladimir Samojlo.

T.: Kirche, Rache und Gefängnis. Chryscianskaja Dumka, 1928, Heft 16.

Verf. behandelt die unter dem gleichlautenden Titel erschienene Novelle von St. Grynkevié. Sie ist auf dem mittelalterlichen Triptychonschema auf- gebaut. Der Tiefe der Idee und der künstlerischen Vollendung der Form nach ist diese Novelle eins der bedeutendsten Werke, die in den lebten Jahren in weißrussischer Sprache erschienen sind. Ihr liegt ein tatsächlicher Vorgang im Kreis Sokol’ski des Grodnogouvernements zugrunde. Der eihnographische Charakter ist getreu gewahrt worden. Von der römisch- katholischen Geistlichkeit aufgehekte Andachtige sturmten in Novy Dvor (Sokol’ski Kreis) die griechisch-katholische Kirche, um sie zu demolieren. Wie Verf. mitteilt, hatte die wahrheitsgetreue Schilderung dieser Begeben- heit in der Novelle zur Folge, daß manches Detail dieses kulturgeschichtlich und massenpsychologisch interessanten Vorganges von der politischen Zensur ausgemerzt wurde.

142

Diese Novelle ist kulturgeschichtlich she ae bedeutsam, da sie ein geireues Bild der Verhalinisse in Polnisch-Weißrußland gibt, wo der kriegerische römische Katholizismus in Anlehnung an die Idee der vom Carismus seiner Zeit erwürgien Kirchenunion Revanche gegenüber der griechisch-katholischen Kirche sucht und selbst vor solchen Mitteln, wie der Sturm auf die griechisch-katholische Kirche nicht zurückschreckt. Verf. verurteilt, obwohl selbst römisch-katholisch, solche Kampfmethoden, da sie das Gefühl der andersgläubigen Weißrussen verletzen und gerade der Idee der Kirchenunion schädlich. sind.

Neben der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Schilderung der Glau- ern: verdient die Novelle auch Beachtung dank ihrer üppigen Volks- spra

Der Dichter Grynkevi hat der 5 Literatursprache manchen Ausdruck, manche Redewendung der Volkssprache zugeführt. Verf. emp- fiehll die Novelle der Beachtung der Überscker. Vladimir Samojlo.

Anton Navina: „Unter dem blauen Himmel“, ein Versband von N. Arseneva. Na3a Prauda, 1927, Nr. 35.

Anton Navina (Luckevic) räumt Natalja Arseneva den ersten Pla unter den Dichtern Polnisch-Weißrußlands ein. Sie gehört weder dem Lager der Romantiker an, die passiv die Erlösung des weißrussischen Volkes von einem Wunder erhoffen, noch dem Lager der Kämpfer, die predigen, daß man das Schicksal mit Blut und Eisen meistern soll. Ihre Lebens- phi phie ist anders geartet für sie ist das Leben an sich ein Glück.

Verf. behandelt die Einflüsse anderer Dichter auf das Schaffen der Arseneva. Für ihre Lehrmeister hält er vor allem die beiden Koriphäen weißrussischer Iyrischer Dichtung Kupala und Bogdanovič, zum Teil auch die Dichterin Konstancija Bujlo. Kupala verdankt Arseneva die Farben- buntheit ihrer Dichtung, die Uppigkeit des Rhythmus. Ihre Lieblingsfarben sind Blau, Gold und Purpur. Ihm verdankt sie gleichfalls die Wucht ihrer ake Arseneva wuchs auf unter dem Einfluß der Technik von Ku

Bogdanovič lehrte Arseneva jede Naturschilderung mit einer Reflexion zu verbinden, mit Stimmungen, Betrachtungen. Aber der Lehrmeister Bog- danovic en ein kranker, leidender Mann (schwindsiichtig), Arseneva’s Dich- tung aber ist trob des nachdenklichen Tons getragen vom Gefühl der Lebensfreude. Den blassen, anämischen Farben Bogdanovit’s seht sie die üppige Farbenpracht ihrer Palette entgegen. Bogdanovič berührt mehr breitere, allmenschliche Probleme, Arseneva ist individualistisch eingestellt. Beiden gemeinsam ist die Vorliebe für Themata der Volksdichtung, die Nachdichtung von Motiven der Volkspoesie.

Die feminine Art ihres Weltempfindens bringt Arseneva in Berührung mit Konstancija Bujlo, doch die erotischen Motive der Dichtung der Lekteren sind Arseneva fremd. Verf. führt gerade auf diese feminine Art des Emp- findens der Arseneva die Tatsache zurück, daß diese Tochter der sonnigen Krim Verständnis und Liebe fur das arme und gedemiitigte weißrussische Volk aufbrachte und ihm ihre schöpferischen Kräfte widmete. Verf. er- wartet von Arseneva, deren Schaffen dem Geist des weißrussischen Volkes in kongenialer Art entspricht, weitere bedeutende Werke.

Diese Charakteristik der Dichtung der Arseneva, die aus der Feder des berufensten weißrussischen Kritikers stammt, ist sowohl der Knappheit und Präzision der Darstellung, wie auch der Form nach eine Meisterleistung, wie es ja bei den Abhandlungen von Navina (Luckevié) gewöhnlich der Fall ist. Es bleibt.lediglich zu bedauern, daz N. bei seiner Betrachtung der Einflüsse anderer Dichter auf das Schaffen der Arseneva sich lediglich auf weißrussische Dichter beschränkt hat und nicht viel weiter und breiter gegrifien hat. Namentlich wäre es verdienstvoll, den Einfluß von Goethe auf die Lyrik der Arseneva einer Betrachtung zu unterziehen.

Wilna. Vladinfir Samojlo.

145

Fr. GrySkevié: Die weißrussische Literatur in russischer ber- tragung. Belaruskaja Krynica 1927, Heft 39.

Verf. behandelt die in Minsk in russischer Sprache erschienene An- thologie weißrussischer Iyrischer Dichtung und weißrussischer Prosawerke. Diese Anthologie ist unter dem Titel „Prostory“ im weißrussischen Staats- verlag erschienen. Während in litauischer, lettischer, tschechischer, ukrai- nischer, polnischer, deutscher und sogar in italienischer Sprache Überr setzungen von Werken weißrussischer Dichter und Schriftsteller erschienen sind, war bisher in russischer Sprache die Auswahl an weißrussischen Werken recht arm. Abgeschen von einem Versband von Kupala, der in der Übertragung von Brjusov in russischer Sprache erschienen ist, gab es in russischer Sprache an Übertragungen aus der weißrussischen Sprache lediglich kleinere, in Zeitschriften zerstreute Novellen. Mithin füllt die Sammlung „Prostory“ eine vorhandene Lücke aus. Sowohl der Auswahl der Werke, wie der Vollendung der Übertragung nach kann die Anthologie als gelungenes Experiment bezeichnet werden. Sie enthält Gedichte von Kupala, Michasja, Carota, Alexandrovič und Dudar. Die Gedichte wurden ms Russische von Brjusov, Korinfski, Cvetkov und M. Goldberg über-

agen.

Die Prosaabteilung enthält Übertragungen von Werken von Taras Gušča (das Prosapseudonym des unter dem Pseudonym Jakub Kolas bekannten Dichters K. Mickevic), Bjadulja u. a. m. ne

Verf. bezeichnet die Übertragung von Brjusov als die vollkommenste, die dem Original selbst in den feinsten Details ausgezeichnet folgt.

Soweit ich den Auszügen nach beurteilen kann, sind die Übertragungen von Brjusov wirklich ausgezeichnet. Er hat bereits während des Welikriegs mit weißrussischen Kreisen Fühlung genommen, sich lebhaft für ihre Be- strebungen und die weißrussische Dichtung interessiert. Übertragungen von Brjusov bedürfen keiner Empfehlung. Vladimir Samojlo.

Berichtigung zu N. F. IV, Heft 4, S. 574

Die Abhandlung: „J. A. Comenius“ usw. stammt von Herrn Prof. Dr. Jan Kvačala (Preßburg). In der Überschrift war der Vorname des Herrn Verf. versehentlich weggeblieben. E. H.

144

OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBÜCHER

FÜR

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

*

N. F. BAND v. HEFT u 1929

. . ß. pp ———

PRIEBATSCH’® BUCHHANDLUNG BRESLAU, RING 58, UND OPPELN

Digitized by Google

I ° ABHANDLUNGEN

N.V. GOGOL’ ALS MALER

Von Emmy Haertel.

Wer als maltechnisch Erfahrener Gogols Werke aufmerksam durchliest, dem wird sich häufig die Wahrnehmung aufdrängen, dab es in ihnen Stellen gibt, welche deutlich erkennen lassen, daß Gogol im Augenblick ihrer Niederschrift Farben- oder Licht- und Schatten- phänomene im Geiste vor sich gesehen haben muß, wie sie das Auge des Malers fesseln, wenn er sich darüber klar zu werden sucht, wie sie mit den Mitteln seiner Kunst festzuhalten seien. Sei es, daß ein Blick ins Weite ihm Lufttone von ganz besonderem Reiz zeigt, daß ein Gegenstand plötzlich in ungeahnten Farben aufleuchtet oder daß Sonnenlichter über dunklen Grund glitzernd hinziehen. Und verfolgt man diese Äußerungen einer ausgesprochen künstlerischen Seh- technik, so kann man sehen, daß das eine oder andere Beleuchtungs- problem sich durch ganze Perioden seines dichterischen Schaffens hinzieht und daß sich in die Wortkunst Gogols häufig seine Malkunst verflochten hat. Gogol als Asthet und Kunsikenner hat ja von jeher die Gogolforschung beschäftigt, der Maler in ihm ist dagegen nur auffallend wenig beachtet worden, obgleich doch seine großen natür- lichen Anlagen zur Malerei an und für sich in dem gleichen Maße hätten Interesse erregen sollen, wie das sonst bei starker Doppel- begabung literarischer Größen der Fall ist. Ja, wenn man die Gogol- literatur der letzten Jahrzehnte verfolgt, wird man die Beobachtung machen können, daß in ihr das Interesse für diese Seite seines Wesens abgenommen hat. Wer wird, wenn er z. B. Merezkovskijs | „Gogol. Žizn’ i tvoréestvo" liest, auch nur im entferntesten ahnen, daß die hier gezeichnete Persönlichkeit in die große Schar der Malerdichter oder Dichtermaler gehört, welche angefangen von Michelangelo über Goethe, E. T. A. Hoffmann und Gottfried Keller hinaus bis zu Strindberg und Wyspiański hin durch die Doppel- natur ihres geistigen Wesens auch ein doppeltes Interesse bean- spruchen können! Und dabei bietet gerade Gogol in dieser Hinsicht ein besonders interessantes Beobachtungsobjekt, da, wie bereits

145

gesagt, in den literarischen Schaffensprozeß bei ihm malerische In- spirationen sehr häufig eingedrungen sind, und, wie im Folgenden nachgewiesen werden soll, gerade bei Neubearbeitungen älterer Texte eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben.

Man muß zu den älteren biographischen Werken uber Gogol greifen, wenn man Unterlagen gewinnen will dafür, ob die Beweise maltechnisch geschulten Sehens bei ihm auch wirklich gestüßt werden können durch Daten aus seinem Leben. Und hier zeigt gleich das älteste unter ihnen, die von Pant. Al. Kuli$ veröffentlichten Zapiski, ein recht interessantes Bild von dem malenden Gogol. Kuli$ war nicht lange nach Gogols Tode herausgefahren nach Vasil’evka, hatte dort noch die Mutter Gogols gesprochen, Malereien von seiner Hand gesehen und die ganze zu dem künstlerischen Empfinden Gogols untrennbar gehörende Atmosphäre einer ukrainischen Landschaft in sich aufgenommen. Er hatte auch im Lyzeum von NeZin mit Gogols Zeichenlehrer Pavlov eingehend gesprochen und bemerkt. dazu: „Gogol hatte sich die Grundbegriffe der schönen Künste bereits in der Schule angeeignet... und von jener Zeit ab fingen die Gegen- stände an, sich vor seinen Augen so bestimmt abzuzeichnen, wie sie nur Menschen sehen, welche mit der Malerei vertraut sind“. Kuliš wird hier, nächst der visuellen Fähigkeit Gogols zu schärfster Er- fassung charakteristischer Merkmale des zu Schildernden, seine besonders malerisch anmutenden Landschaftsszenerien gemeint haben. Es sei gleich hier darauf hingewiesen, daß es sich bei den Beobachtungen, welche dieser Studie zugrunde liegen, im all- gemeinen nicht um solche nach landläufigen Begriffen „malerischen“ Schilderungen handelt, sondern vielmehr um Textstellen, welche oft nicht einmal sprachlich sehr geglückt meistens nur durch ein paar Worte verraten, daß derjenige, welcher sie niederschrieb, fähig war, mit den Augen des geschulten Zeichners und Malers Farben- oder Lichtphanomene zu verfolgen. Unter der Fülle des Materials, welches Senrok in seiner vierbändigen Biographie zusammengetragen, drängen sich die Notizen über die Malinteressen Gogols nicht so in den Vordergrund wie bei Kuli$ (leider konnte Bd. 3 mit der Schil- derung der römischen Jahre nicht eingesehen werden, da er in keiner unserer Bibliotheken vorhanden ist). Es wird aber häufig Bezug genommen auf das Hineinspielen der malerischen Interessen Gogols in sein literarisches Schaffen. Eine wertvolle Ergänzung findet dieses biographische Material durch Memoiren der Freunde und Zeil- genossen Gogols; die wertvollste Auskunft stellen aber auto- biographische Zeugnisse dar, welche man den Briefen Gogols ent- nehmen kann. An erster Stelle sind hier zu nennen Äußerungen Gogols, während der Schülerjahre an die Eltern, späterhin an seine Freunde gerichtet, welche von seinen eigenen Malstudien berichten, daneben findet sein tätiges Verhältnis zur Malerei Ausdruck in Rat- schlagen an Freunde, deren Malstudien betreffend, und schließlich noch in einer Reihe von Bemerkungen, die seine Interessen für die Malerei schlechthin bekunden. Einzelheiten daraus sind da und dort

146

in der Gogolliteratur zum Abdruck gelangt, wo von Gogol als Asthet die Rede ist, am ausführlichsien bei Nazarevskij‘), der für die Er- kenninis der theoretischen Grundlagen der ästhetischen Anschauungen Gogols bahnbrechend gewirkt hat. Es wäre eine lohnende Aufgabe, das gesamte Material, das sich aus diesen Quellen über Gogol als Maler, als Kunsikenner und Freund zeitgenössischer Maler gewinnen laßt, im Rahmen einer größeren Veröffentlichung zusammenzustellen, denn erst in seiner Fülle kann es überzeugend wirken dafür, daß ein Verstehen Gogols in manchem Punkt kaum möglich sein wird, wenn man die Bedeutung übersieht oder zu gering einschagi, die Gogols Malinieressen für sein ganzes Leben gehabt haben. Hier, innerhalb eines räumlich beschränkten Rahmens, soll in möglichster Kürze zitiert werden, was als Beweismaterial für seine nicht ein- mal allgemein bekannten eigenen Anlagen zur Malerei und deren technische Ausbildung dienen kann, und im Anschluß daran einige der den Gogolschrifien entnommenen Texisiellen, welche ihn vor- nehmlich als Landschafter erweisen.

Es folgen, soweit sie hierher gehören, Briefe in chronologischer Reihenfolge nach der Senrokschen Ausgabe, auf die sich Band- und Seitenzahlen beziehen. Briefe aus dem Gymnasium in NeZin. An die Eltern, d. 22. 1. 1824. (I, 18) „....Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen die Bilder nicht schicke. Sie haben anscheinend mißverstanden, was ich Ihnen sagte: denn diese Bilder, welche ich Ihnen schicken will, waren mit Pastellstiften gezeichnet und können nicht einen Tag liegen bleiben ohne sich zu verwischen. Gogol bittet dann um Übersendung der entsprechenden Rahmen. An die Eltern (vor Weihnachten) 1824. (I, 23.) „. . Ich habe mich lange abgemüht und schließlich 3 Bilder gezeichnet und auch noch ein viertes an- gefangen... Wenn Sie sie sehen würden, dann würden Sie gewiß nicht glauben, daß ich das gezeichnet habe. Nur schade, daß sie verderben werden, wenn sie ohne Rahmen bleiben, sie sind auf den Grund gezeichnet und können nicht lange liegen bleiben...“ An die Eltern. März 1825. (l, 25.) . . Ich möchte Euch einige Bilder schicken, die mit trocknen Farben auf Karton gezeichnet sind... ich fürchte, daß sie unterwegs verderben könnten, denn es sind sehr zarte Zeichnungen.“ An die Mutter. September 1825. (I, 35.) „. . Ich habe mit dem Zeichenlehrer gesprochen wegen meines Vor- habens, nämlich wegen der Olmalerei. Er will die Besorgung einiger Sachen übernehmen: Pinsel und einen Teil der Farben...“ Von der ersten Auslandsreise. An die Mutter. Lübeck 1829. (I, 131/32.) . Hier haben Sie den Blick auf die Straße aus meinem Fenster, den ich schnell zu Papier gebracht habe...“ (Grigorij Danilevskij berichtet von dieser Zeichnung anläßlich seiner Erinnerungen an Vasil’evka.) Aus Petersburg. An die Mutter 1830. (I, 159.) „.. Um 9 Uhr morgens begebe ich mich jeden Tag nach dem Amt und bleibe dort bis 3 Uhr, um halb 4 Uhr esse ich zu Mittag, nach dem Mittag-

1) Ich verweise hier auf meinen demnächst in der Zs. „Euphorion“ er- scheinenden Aufs. „Gogol u. d. Kunst der deutschen Romantık“.

147

essen um 5 Uhr gehe ich in die Klasse der Akademie der Künste, wo ich mich mit Malen beschäftige, das ich unter keinen Umständen auf- geben kann, um so mehr als hier alle Mittel vorhanden sind, um sich darin zu vervollständigen ... Durch die Bekanntschaft mit den Künstlern und sogar mit vielen berühmten, habe ich die Möglichkeil, Vorteile und Mittel zu finden, die für andere unzugänglich sind. Briefe aus Rom. Im Februar 1839 an Gogols jugendfreund Dani- levskij. (I, 563.) . . (Gogol schildert den verdoppelten Genuß bei der Betrachtung Roms durch die Anwesenheit des gleichfalls malerisch hochtalentierten Zukovskij.) „Das war eine Art Himmelsbote für mich! .. . Bis jetzt habe ich mehr den Pinsel in der Hand gehabt als die Feder. Zukovskij und ich haben im Fluge die schönsten Blicke Roms gezeichnet.. An denselben (l, 565/66.) . . bitte, schicke mir mit einem der Russen, die sich nach Italien begeben, einige Farben der Fabrik Rapio .. .“ Es folgt dann die genaue Bezeichnung der Farben nebst Nennung des Geschäftes, wo sie zu haben sind, der Preise und der geeignetsten Art der Verpackung. Im Februar 1839 an Zukovskij. (I, 568 ff.) . . Meine Tasche mit den Farben ist bereit, von heute ab ziehe ich den ganzen Tag zum Malen aus... Gestern habe ich zu zeichnen versucht. Die Farben legen sich von selbst hin, so daß Du Dich später wundern wirst, wie es gelungen ist, Kolorit und Farbenübergänge zusammenzubringen. Wenn Sie nur eine Woche langer hier geblieben waren, dann wiirden Sie nicht mehr zum Bleistift gegriffen haben. Das Kolorit ist ungewöhnlich warm geworden, jede Ruine, Säule, jeder Strauch, jeder zerrissene Straken- junge scheinen einen anzurufen und Farbe zu heischen ... Im Ko- losseum haben Predigten angefangen. Volksmassen und Mönche mit weißen Bärten, und alle vom Kopf bis zu den Füßen in Weiß ge- kleidet wie antike Opferpriester. Die Drapierung ist ungewöhnlich glücklich für unsereinen Halbmaler ein Pinselstrich und der Mönch ist fertig. Gestern hatte mir die Sonne den einen beleuchtet, während alle übrigen in Schatten gehüllt waren. Das war ein Effekt zum Entzücken und so leicht zu malen.. Werde ich es noch er- leben, daß wir beide zusammen siken werden, beide mit den Pinseln in der Hand?“

Als Ergänzung zu diesen Briefstellen über die eigenen Arbeiten muß hier noch der einzigen Stelle in den Werken Gogols gedacht werden, wo er davon spricht. Sie steht in dem Aufsak „Einige Worte über Pu3kin“. „Mir kam ein Vorfall aus meiner Kindheit in Erinne- rung. Ich habe immer eine kleine Leidenschaft für die Malerei in mir gefühlt. Mich hatte eine von mir gemalte Landschaft sehr inter- essiert, in welcher sich ein dürrer Baum im Vordergrund ausbreitet. Dieses Bild und Tuschzeichnungen Gogols hat Kuliš bei seinem Be- such in Vasil’evka gesehen, und an derselben Stelle, wo er davon spricht (I, 22), erinnert er sich auch der Arbeiten Gogols, welche im Lyzeum in NeZin aufbewahrt waren, einiger gufer Landschaften, Bilder historischen Inhalts und Porträts. Bei Kuli$ ist auch folgender Vorfall aus einem gemeinsamen Aufenthalt Gogols mit der Smirnova

148

in Straßburg vom Jalıre 1837 erwähnt. Gogol hatte die Ornamente der gotischen Säulen im Münster schnell mit Bleistift skizziert, und auf die Bemerkung der Smirnova „Wie schön Sie zeichnen!“ geant- wortet: „Und das wissen Sie nicht?“ Er brachte ihr später eine Federzeichnung davon mit. Schließlich bezeugen auch noch zwei seiner Freunde die Maltalente Gogols. S. F. Aksakov erzählt in seiner „istorija moego znakomstva s Gogolem“ von der gemeinsamen Reise nach Petersburg, von Gogols begeisterten Gesprächen über das Leben in Italien und über die Malerei, „die er. sehr liebte und für die er entschieden Talent gehabt hat“. Und P. Annenkov erzählt, in dem Gogol-Erinnerungen gewidmeten Aufsak der „Liferaturnyja vospominanija“, von gemeinsamen Spaziergängen mit Gogol zwischen Albano und Castelgandolfo, bei denen es vorkam, daß Gogol „sich als Maler begeisterte (er hat, wie bekannt, selbst gut gezeichnet)“.

Die hier erwähnten Erinnerungen Annenkovs sind nach jeder Richtung hin ein äußerst wertvoller Kommentar für Gogols Verhältnis zur Malerei, weil sie nicht nur einzelne Momente daraus berücksich- tigen, sondern den gesamten psychischen Komplex zu erfassen suchen, aus dem sich seine Eigenart erklärt. Annenkov sagt: „All- gemein muß beachtet werden, daß seine Natur viele Eigenschaften der südlichen Volker, welche er so sehr schätzte, besaß. Er legte auber- ordentlich viel Wert auf äußeren Glanz, Reichtum und Mannigfaltig- keit der Farben in Gegenständen . . auf das Effektvolle in Bildern und Natur“ und weiterhin: „Im Leben war er sehr keusch und ent- haltsam ..., aber in seiner Vorstellungswelt ist er ganz den leidenschaftlichen südlichen Völkern ähnlich mit ihren nach außen glänzenden Phantasiegebilden.“ Es drängt sich hier die Parallele zu dem Landschaftsmaler Kuind2i auf, über dessen, unserem moder- nen Farbensinn so wenig adaquates, Kolorit Nevedomskij (Repin i Kuindži. S. Pibg. 1913) psychologisch sehr feine Bemerkungen macht. Kuindži (der Abstammung nach Halbtatare) war im russischen Süden geboren, was seine ausgesprochen südliche Natur ja vollkommen verständlich macht. Nevedomskij hält in einer solchen das Sehen elementar-kosmischer Farben für angeboren, da sich im Süden selten feinere Farbenstimmungen dem Auge bieten. Wie immer man sich den südlichen Einschlag im Farbenempfinden Gogols erklären mag, daß er ursächlich mitgewirkt haben wird bei der Komposition der ukrainischen Erzählungen und ihrer bunten Landschaften, wird nicht bestritten werden können. Auch Kuindži hat, wie Nevedomskij sagt (35, ff.), in der grauen Natur Petersburgs von seinen Steppen ge- träumt und diese Träume auf die Leinwand übertragen. „Süden und Sonne erobern schließlich ihre Rechte endgültig in der Seele des Malers. Die Aufgaben der Beleuchtung, die Macht des Lichtes: das ist es, was ihn hauptsächlich interessiert“ (46). In den nachfolgend zitierten Texten wird man beobachten können, wie stark bei Gogol ähnliche Tendenzen entwickelt waren. Es war gewiß kein Zufall, daß Annenkov zu einem so in die Tiefe gehenden Urteil über Gogols künstlerische Anlagen gekommen ist, denn er hatte ja Gelegenheit,

149

längere Zeit den römischen Aufenthalt Gogols als dessen Zimmer- nachbar zu teilen und seine Reaktionsfähigkeit auf die Natur des Südens zu beobachten. Gogols Freude an ungebrochenen Farben, sein Nichibeachten feinerer Übergangstöne in der Natur veranlaßt Pereverzev, die Gogolschen Landschaften, einschließlich der früher so enthusiastisch gefeierten ukrainischen, einer sehr abfälligen Kritik zu unterziehen, namentlich im Vergleich zu den Landschaftsbildern Turgenevs und Tolstojs. Abgesehen davon, daß es vielleicht doch nicht richtig ist, den zeitlichen Abstand zu Turgenev und Tolstoj in Gogols Landschaftsschilderungen ganz zu übersehen, wird die Schluß- folgerung, Gogol habe die Natur seiner Heimat gar nicht zu beob- achten Gelegenheit gehabt, und seine ukrainischen Landschaften seien ebenso aus Büchern und dem Folklore zusammengelesen und konstruiert wie seine Kosakentypen, kaum zuireffend sein. Vermöge seiner hochentwickelten visuellen Begabung und angeborenen Mal- talenten, die er von klein auf gepflegt, muß Gogol alles, was sich ihm auf den vielen Wagenfahrten zwischen Elternhaus und Schule und im geselligen Verkehr zwischen Gutshof und Gutshof (man denke hierbei bloß an das Gut Tro$£inskijs!) an Landschaft bot, mit größter Eindrucksfähigkeit in sich aufgenommen haben. Außerdem hatte ihn ja die Reise nach Petersburg auch mit neuen Bildern und Eindrücken versorgt. Man wird also ohne weiteres annehmen können, dak Gogol noch vor der Niederschrift seiner „Večera“ reichlich genug Gelegen- heit zur Beobachtung der heimischen Landschaft gehabt hat, und gerade in ihrer Schilderung spricht sich sein Farbengefühl sehr deutlich aus.

Gogols exaltierte Sehnsucht nach Wärme und Farbe südlicherer Himmelsstriche in dem, seinem Farbengefühl nach, ihm doppelt grau und farblos erscheinenden Petersburg ist nicht nur aus dem physi- schen Unbehagen einer besonders zart organisierten Körperlichkeit zu erklären, sondern gehört mit hinein in seine ganze Reaktions- fähigkeit auf visuelle Reize, lost das Rätsel seiner Italiensehnsucht und -liebe und ist für sein dichterisches Schaffen in der Petersburger Periode von Bedeutung geworden. Eine Zusammenstellung alles dessen, was in seinen Briefen von seiner Sehnsucht nach den Früh- lingen und Sommern der Ukraine, nach ihren Farben und ihrer uppigeren Natur spricht, wurde es überzeugend vor Augen führen, wie seine höchst reizbaren Gefühls- und Sehnerven zusammengezuckt sein mussen unter dem Hauch von Kälte und Lichtlosigkeit. Hier nur einige Proben daraus. Nach Briefen an die Mutter aus Petersburg, in denen das leidenschaftliche Verlangen nach der Natur der Heimat zum Ausdruck gekommen, ist es ein Brief an Dmitriev (l, 219), wo Gogol von seiner ersten Fahrt nach Moskau berichtet: „. . . Bei der Fahri hat mich nur der Himmel gefesselt, der nach Maßgabe der An- näherung an den Süden immer dunkelblauer und dunkelblauer wurde. Mir ist der graue, fast grüne nordische Himmel langweilig geworden, ebenso wie die einförmig düsteren Kiefern und Tannen, die auf der Fahrt von Petersburg nach Moskau immer hinter mir herjagten.“ Und

150

hierzu stelle man vergleichsweise den Anfang?) der „Peterburgskie Zapiski“: „Vahrhaffig, wohin die russische Hauptstadt nicht geworfen worden ist, bis ans Ende der Welt! Ein sonderbares Volk, das russische: die Hauptstadt war in Kiev doch da war es zu warm, zu wenig Kälte; da zog die russische Hauptstadt nach Moskau nein, auch da war zu wenig Kälte; nun, da bescher uns der Himmel Petersburg! ... Was für Blicke, was für eine Natur! Die Luft von Nebel durchzogen; auf der blassen, graugrünlichen Erde verkohlie Stümpfe, Kiefern, Tannenwald, moosige Hügel. „Petersburg liebt nicht bunte Farben“, heißt es weiterhin. Hier wird ohne weiteres klar, daß in Gogols Widerwillen gegen Petersburg sein nach leb- haften Farben verlangendes Auge eine wichtige Rolle spielt. Der Niederschlag solcher unfrohen Farben-Empfindungen läßt sich be- sonders gut im „Neskij Prospekt“ verfolgen. Das erste Auftreten Piskarevs: „. . . ein Künstler im Lande des Schnees, ein Künstler im Lande der Finnen, wo alles naß, glatt, eben, blaß, grau, neblig ist!“ Die Studien dieser Petersburger Künstler und ihre Ateliers: . . die Wände mit Farben beschmiert, mit einem geöffneten Fenster, durch welches die blasse Neva und blasse Fischer in roten Blusen zu sehen sind. Bei ihnen trägt fast alles ein graues, trubes Kolorit der unverlöschliche Stempel des Nordens.. Nicht nur die Petersburger Fischer sind blaß, sondern auch die jungen Damen. Die Leutnants vom Schlage des Pirogov verkehren in den Häusern der Staatsräte, und deren Familientisch wird folgendermaßen geschil- dert: „Einige blasse Töchter, ebenso vollkommen farblos wie Peters- burg, von denen einige überreif sind, der Teetisch, das Fortepiano, häusliche Tänze das alles pflegt unzertrennlich zu sein von glän- zenden Epauletten, welche beim Lampenlicht zwischen der wohl- erzogenen Blondine und dem schwarzen Frack des lieben Bruders oder eines Hausfreundes glitzern.“ Und diese Leutnants „besitzen die besondere Gabe, diese farblosen Schönen zum Lachen und zum Anhören (ihrer Witze! zu bringen“. Aber Petersburg wird plötzlich an einem schönen, milden Frühlingsabend für Gogols Malerauge interessant. Er schildert ihn und seine Einwirkung auf die Farben des Stadtbildes kurz vor dem Ende der ,,Peter- burgskie Zapiski“: „Die Neva war früh aufgetaut. ... Die Haupt- stadt veränderte sich plötzlich. Die Spike des Glockenturms auf der Peter-Paulsfestung, die Festung selbst und die Vasilij- Insel und die Vyborger Seite und der Englische Quai alles erhielt ein malerisches Aussehen... Als ich ans Admiralitats- boulevard gelangt war . . als sich vor mir die Neva auftat, und als

) Die Textstellen werden nur nach Kapiteln, soweit eine solche Ein- teilung vorhanden, oder nach der Zusammengehorigkeit zur ganzen Er- zählung zitiert, nicht aber nach den Seitenzahlen irgendeiner bestimmten Ausgabe. Benützt wurden zu dieser Studie die 4. Ausg. der Erben (M. 1880), die Tichonravov-Ausg. und die mit dieser textlich übereinstimmende von Ljackij. Die der Ausg. der Erben entnommenen Textstellen haben beim Vergleich mit einer der beiden anderen Ausgaben nur geringfügige text- liche Abweichungen aufgewiesen.

151

die rosige Farbe des Himmels sich von der Vyborger Seite her mit blauem Nebel umwölkte, da überzogen sich die Gebäude der Peters- burger Seite mit einer fast lilaen Farbe, die ihre unansehnliche Außenseite verbarg; als die Kirchen, bei denen der Nebel mit seinem einfarbigen Bezug alle Wölbungen verhüllte, auf einen rosigen Stoff gemalt oder geklebt erschienen, und als in diesem lila-blauen Nebel nur allein die Spitze des Glockenturms von Peter-Paul aufbligte und sich in dem endlosen Spiegel der Neva widerspiegelte, da schien es mir, als wäre ich gar nicht in Petersburg, mir schien, ich wäre in irgendeine andere Stadt verzogen, wo ich schon einmal war, wo ich alles kenne, und wo das ist, was in Petersburg fehlt.. Und gleich darauf wieder ein leidenschaftlicher Schrei nach dem Frühling, ähn- lich denen, die in den Briefen an Maksimovié in Kiev wiederholt er- tönen, in Briefen an Danilevskij u. a. O. „Ich liebe den Frühling leiden- schaftlich. Sogar hier in diesem öden Norden ist er mein. Mir kommt es vor, als liebe niemand in der Welt ihn so wie ich.. .“ Das Grausen vor Petersburg und seiner Natur spricht auch aus einem Brief an die, Gogol von den Petersburger Jahren her befreundete, Frau Balabina aus den ersten Zeiten seines römischen Aufenthaltes, wo er seine Briefe aus Rombegeisterung von Gründung der Stadt an datierte, hier mit dem Jahr 2588. (1, 491.) . . Sie gleichen jetzt einem Gemälde, in welchem ein großer Künstler alle Mühe aufgewandt hat, um eine schöne Gestalt zu schaffen, die er in den Vordergrund ge- stellt. Darauf ist ihm die Lust. vergangen, sich mit dem Übrigen zu beschäftigen, den Hintergrund hat er hingeschmiert, wie es gerade kam. . , und so ist es gekommen, daß sich hinter Ihnen Petersburg befindet und die finnische Natur.“ Und in dem Brief vom 7. 11. 1838 (1, 544) an sie heißt es: „. . . bei dem Gedanken an Petersburg läuft ein Kälteschauer über meine Haut, und meine Haut wird durch und durch von fürchterlicher Feuchtigkeit und einer nebligen Atmosphäre durchdrungen.

Und gegen die grau in grau gemalten Bilder des frosfigen blassen Nordens halte man, was Gogol von seiner Heimat zu be- richten wußte! „Wie berauschend, wie üppig ist ein Sommertag in Kleinrußland! ... Der blaue unermeßliche Ozean beugt sich, einer wollüstigen Kuppel gleich, über die Erde. Träge und gedanken- los stehen himmelhohe Eichen da, als schlenderten sie ziellos dahin, und blendende Sonnenlichter entziinden bliggleich ganze malerische Laubmassen, während sie über andere nachidunkle Schatten breiten, über die nur bei heftigem Winde Spriker von Gold ziehen. Smaragde, Topase, Rubine ätherischer Insekten schütten sich über die bunten Gärten aus, welche von stattlichen Sonnenblumen beschattet werden... Der Himmel, diese reine Spiegelflache, der Fluß innerhalb der grünen, stolz aufgerichteten Rahmen wie voll von Wollust und Wonne ist doch der kleinrussische Sommer!“ Und neben diesem farbenglühenden Sommertag, auch in der Sorotinskaja jar- marka, der Sonnenuntergang (Kap. 5). „Die müde Sonne schied von der Erde, nachdem sie ruhig ihren Mittag und Morgen abgesegelt

152

hatte, und der verlöschende Tag hatte sich zauberisch und grell gerotet. Blendend leuchteten die Spitzen der weißen Zelte und leinenen Buden auf, die von einem kaum bemerkbaren feurig-rosigen Licht getönt waren. Die Fenster in den haufenweise übereinander- getürmten Rahmen brannten; die grünen Flaschen und Becher auf den Tischen der Schenkstuben hatten sich in feuerfarbene verwan- delt, die Berge von Melonen, Arbusen und Kürbissen erschienen wie aus Gold und dunklem Kupfer gegossen.“ Kotljarevskij hat von den ukrainischen Landschaften Gogols gesagt, sie seien keine Schil- derungen von Gesehenem, sondern Ekstase über das Gesehene und daher subjektiv bis aufs äußerste. Man wird dieses Urteil bestätigen müssen, wenn man sich der Einstellung Gogols der Natur und ihren Farbenstimmungen gegenüber erst einmal recht bewußt geworden ist. Sie sind zum größten Teil, wenn nicht alle, höchst wahrscheinlich der Reflex eines begeisterten Natursehens, das sich freilich von dem Sehen anderer Menschen erheblich unterschied. Wenn man ihres ekstatischen Tones wegen die ukrainischen Landschaften Gogols als nur irgendwie nachempfunden beurteilen will, so muß man folge- richtig auch die ekstatischen brieflichen Schilderungen der italieni- . schen Natur als nachempfunden ansehen. In beiden äußert sich: hier Sehnsucht, da Freude an Licht, Wärme und Farbenreichtum. Die Entbehrungen, welche die Natur Petersburgs ihm in dieser Hinsicht auferlegte, mögen freilich viel dazu beigetragen haben, daß die kleinrussische Heimat in um so rosigerem Lichte in der Erinnerung auflebte. Ein interessanter Beweis dafür, mit welchem farbenempfäng- lichen Auge Gogol als Knabe die Bilder seiner Heimat in sich auf- genommen haben muß, ist in der Geschichte von den beiden lvanen enthalten. Wie Ivan Ivanovič durch den Hof des Ivan Nikiforovié schreitet, betrachtet er die dort zum Lüften in der Sonne aufge- hängten Kleider und sonstigen Sachen. „Das alles, kunterbunt durcheinander, gewährte Ivan Ivanovié ein sehr fesselndes Schau- spiel, während die Sonnenstrahlen, die bald einen dunkelblauen, bald einen grünen Ärmel erwischten, einen roten Umschlag oder den Teil eines roten Brokats, oder auch auf der Degenspike spielten, dies alles zu etwas Ungewohnlichem machten, ähnlich jenem Puppentheater (vertep), welches herumziehende Landstreicher auf den Kosaken- höfen herumfahren. Dieser Vergleich erscheint gezwungen, so- lange man nicht Gogols Farbenbeobachtungen als einen wichtigen Faktor im Apparat seines dichterischen Schaffens erkannt hat, ist man aber eingedrungen in die Technik seines Sehens, so erscheint diese Metapher ganz erklärlich. Eigenartig und beachtenswert ist es aber, daß Gogol hier seine eigene visuelle Beobachtungsgabe überträgt auf Ivan Ivanovié, zu dem sie eigentlich gar nicht paßt, und dem man nicht zutrauen sollte, daß er imstande gewesen sei, die aufgehängten und im Sonnenlicht lebhaft gefärbten Sachen als ein fesselndes Schauspiel anzusehen. Ahnliches wiederholt sich mehr- mals in den Toten Seelen, wo Ci&ikov auch mit den Augen Gogols zu sehen scheint. Es soll gleich hier ein typisches Beispiel dafür an-

155

geführt werden. Citikov begegnet auf dem Ball im Hause des Gou- verneurs (T. 2, Kap. 8) derselben zarten Blondine, welche er zu Beginn seiner Fahrten einmal von seinem Reisewagen aus geschen hatte. . ihm schien es, wie er sich später selbst klar wurde, als wenn der ganze Ball mit all seinem Geschwäß und Lärm um einige Minuten ent- fernt wäre; Geigen und Hörner schrillten irgendwo hinter den Bergen, und alles umzog sich mit einem Nebel, der dem achtlos hingemalten Grund auf einem Gemälde glich. Und aus diesem nebeligen, irgendwie hingeworfenen Grunde traten deutlich und vollendet nur die feinen Züge der anziehenden Blondine hervor: ihr rundlich-ovales Gesichichen, ihre zarte, zarte Gestalt, wie sie nur bei kaum entlassenen Schüle- rinnen einer Unterrichtsanstalt anzutreffen ist, ihr weißes, fast ein- faches Kleidchen, leicht und geschickt um die jugendlich schlanken Glieder gelegt, welche sich in einer gewissen Reinheit der Linien zeigten . . sie allein schimmerte weiß und trat durchsichtig und hell aus der trüben und undurchsichtigen Menge hervor.. Gogol, der gründliche Porträtstudien getrieben haben muß das geht aus der Behandlung der Materie in „Portret“ und aus zahlreichen anderen Stellen seiner Werke hervor —, läßt hier Citikov die hübsche Blon- dine ebenso als auf einem unklar gemalten Grunde sich abhebend sehen, so wie er selbst in dem Brief an Frau Balabina (s. S. 152) aus Rom die Gestalt dieser Dame als Bildnis vor dem trüben Hintergrund der finnischen Natur zu sehen glaubte. Die Behandlung des Grundes in einem Bilde scheint ihn besonders interessiert zu haben. Auch Stellen aus „Portret“ und aus „Nevskij Prospekt“ beweisen das. Hier ist aber noch die Vision der absolut weißen Gestalt zu beachten, die auf eine besondere Vorliebe Gogols für das Weiße merk- würdigerweise im Kontrast zu seinem sonstigen Verlangen nach gluhenden Farben hinweist. Im folgenden soll darauf noch ein- mal zurückgegriffen werden.

Haben die bisherigen Ausführungen dem Zweck gedient, den Zusammenhang zwischen Gogols Anlagen zum malerischen Sehen und seinem dichterischen Schaffen nur in ganz allgemeinen Zügen darzulegen, so soll im folgenden versucht werden, sein Verhältnis zu einzelnen Problemen der Malerei näher zu erörtern. Im Jahre 1834 war aus Gogols Feder der kleine Aufsatz „Poslednij den’ Pompei“, Kartina Brjullova, erschienen, welcher bis in die neueste Zeit hinein in kunstinteressierten Kreisen Gegenstand abfälliger Urteile über Gogols mangelhaftes Kunstverständnis gewesen, im allgemeinen aber ziemlich unbeachtet geblieben ist. Dieser Aufsatz verdient nun gerade an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit, denn er ist das beste Auskunftsmittel darüber, welche Probleme der Malerei Gogol während der Petersburger Jahre besonders interessiert haben. Da das Gemälde Brjullovs, welches z. Z. seines Bekanntwerdens einen geradezu unerhörten Erfolg in Italien, wo es entstanden war, und in Rußland gehabt hat, nun zu den am wenigsten außerhalb Rußlands bekannten Werken der russischen Kunst zählt, wird es unausbleiblich nötig sein, darüber einiges zu sagen. Es ist das Werk eines unge-

154

wöhnlich talentierten, aber auf Knalleffekte ausgehenden, ziemlich seichten Künstlers. Die Wahl des ‚Gegenstandes traf für ihre Zeit ins Schwarze, sie war für Italien, wo man immer wieder die kühlen Kompositionen klassizistischer Kunst zu sehen bekam, ein aufs höchste aktuelles Thema und begeisterte restlos. Frankreich hatte sich gegen dieses Bild ziemlich kühl verhalten, in Petersburg aber raste ihm der Beifall entgegen. So ist es an sich recht begreiflich, daß eine impulsive, zur Exaltation neigende Persönlichkeit wie Gogol von der allgemeinen Begeisterung leicht mit fortgerissen werden konnte, um so mehr, als die grellen Effekte dieses Bildes, welches die Schrecken des Untergangs von Pompeji unter schwarzem Ge- witterhimmel bei zuckenden Blitzen darstellte, Gogols natürlichem Verlangen nach dem Effektvollen entgegenkam. Die Gestalten sind tadellos gezeichnet und modelliert, bewegen sich aber in theatra- lischen Gesten. Daß Gogol diesen Mangel nicht herausgefühlt und Brjullovs Bild eine Leistung von Weltformat (vsemirnoe sozdanie) genannt hat, wird ihm selbst in den neuesten Kunstgeschichten immer wieder als Todsiinde angerechnet. Es mag hier unerörtert bleiben, wie weit dieser Vorwurf gerecht ist. Gogol war zu der irrigen Schlußfolgerung, daß Brjullovs Gemälde die erste Meisterleistung des 19. Jahrhunderts sei, auf einem an sich ganz richtigen Gedanken- wege gelangt. Das 19. Jahrhundert, so führte er aus, hat bisher nichts Zusammenfassendes auf diesem Gebiet hervorgebracht, son- dern eine Zersplitterung der Kunst in Atome und Einzelstudien, und er hebt die aus dieser Atomisierung hervorgegangenen Fortschritte gegenüber der älteren Malkunst hervor: Kolorit und Licht. „.. Die Malerei hat sich in Untergattungen zersplittert: Gravüren, Lithographie und viele kleine Kunstzweige (javienija) wurden mit wahrer Leiden- schaft bis ins kleinste ausgearbeitet. Das im 19. Jahrhundert an- gewandte Kolorit zeigt einen großen Fortschritt in der Kenntnis der Natur. Blickt auf diese unaufhörlich erscheinenden Skizzen, per- spektivischen Studien und Landschaften, welche entschieden im 19. Jahrhundert den Menschen mit der umgebenden Natur in eins zusammenfließen ließen wie in ihnen die in Dunkelheit: gehüllte Perspektive der Gebäude zusammenfließt und die vom Licht ge- troffene hervortritt! wie das beleuchtete Wasser hindurchscheint, wie es im Dämmer der Zweige atmet! wie glühend und hell der schöne Himmel zurücktrit und die Gegenstände direkt vor den Augen des Beschauers stehen läßt! welche kecke, welche kühne Anbringung von Schatten da, wo man sie früher gar nicht vermutet hat. „Nehmt diese unaufhörlich erscheinenden Gravüren, diese Keime eines glänzenden Talentes, in denen die Natur so atmet und weht, daß sie erscheinen, als blühte in ihnen das Kolorit: in ihnen strahlt die Abendröte am Himmel, so daß man meinen könnte, man sähe den purpurnen Widerschein des Abends; die Bäume, die vom Sonnenglanz übergossen sind, scheinen wie von feinem Staub be- deckt, in ihnen glänzt das helle wollüstige Weiß mitten im tiefen Dämmer der Schatten . . . Dieser ganze Effekt, welcher in der Natur

155

ausgegossen ist, welcher aus dem Kampf des Lichtes mit dem Schatten hervorgeht, dieser ganze Effekt ist Ziel und Streben aller unserer Künstler geworden. Man kann sagen, daß das 19. Jahrhundert das Zeitalter der Effekte ist.. Und schließlich zu Brjullov übergehend, rühmt er die Zusammenfassung der Ergebnisse aller dieser Einzel- studien zu einem großen Ganzen in Kolorit und Beleuchtung.

Dieser kleine Aufsatz ist, ohne Rücksicht auf seinen kritischen Wert oder Unwert, sehr beachtenswert. Er zeigt einmal das rege Interesse, welches Gogol während der Jahre seines Akademie- besuches den Neuerscheinungen auf künstlerischem Gebiet entgegen- gebracht hat, und unterrichtet darüber, was ihn in diesen modernen Arbeiten am meisten gefesselt: malerische Behandlung von Stragen- bildern in der Verteilung von Hell und Dunkel, der Kampf des Lichtes mit dem Schatten überhaupt, Glanzlichter auf Wasserflachen, kraftig von der Sonne beleuchtete Laubmassen, die in „hellem wollüstigen Weiß mitten im tiefen Dammer der Schatten“ stehen. Gerade diese Beobachtungen sind es aber, die er mit Vorliebe in seine Natur- schilderungen verflicht, wie die folgenden Zitate erweisen sollen. Dabei sind die Glanzlichter auf dem Wasser ein so häufig wieder- kehrendes Motiv, daß davon abgesehen werden mußte, hier dafür Proben zu bringen, man begegnet ihnen fast in jeder Gogolschen Landschaftsschilderung. Die malerische Behandlung beleuchteter Laubmassen war bereits in der S. 152 zitierten Stelle aus der „Soroëinskaja Jarmarka“ zu sehen, wo von den blendenden Sonnen- lichtern die Rede ist, welche blikgleich ganze malerische Laubmassen entzünden, während sie über andere nachtdunkle Schatten ausbreiten, über die, nur bei heftigem Winde, Spriker von Gold hinziehen. Aber bereits im Hans Küchelgarten interessieren Gogol solche Beobach- tungen, er schildert (VID, wie das Abendrot mit lebhaften goldenen Sprigern die Baume berührt (VI), wie der Schatten der alten Kasta- nien am Hause des Pachters Bauk von der Sonne „durcheilt‘“ wird, wenn die Wipfel lebhaft vom Winde bewegt werden. Von besonderer Bedeutung sind Gogols Licht- und Schattenbeobachtungen im Straßen- bild und in der weiten Landschaft, aus denen im folgenden selbst ganz kurze Bemerkungen mit aufgenommen worden sind, da sie als Glieder einer ganzen Beobachtungsreihe angesehen werden können. Unter ihnen, wie auch sonst in den für Gogols malerisches Sehen charakteristischen Texten, nehmen die Fragmente angefangener Er- zählungen, deren Entstehung in die Jahre 1831—33 fällt, eine wich- tige Stellung ein. Sie sind bei Tichonravov (Bd. 1) und in der Aus- gabe der Erben (Bd. 4) unter dem Gesamttitel „Povesť iz knigi pod nazvaniem Lunnyj svet v razbitom okoSke €erdaka na Vasil’evskom Ostrove, v 16 linii“ aufgenommen. In ihrer Einteilung herrscht in beiden Ausgaben Unstimmigkeit, deswegen wird für die folgenden Zitate die lebfere Ausgabe zugrunde gelegt. Abschnitt 1 besteht nur aus den Worten „Mitternacht war lange vorüber. Nur eine Lampe beleuchtete launenhaft die Straße und warf ein etwas un- heimliches Licht auf die steinernen Häuser, während sie die hölzer-

156

nen im Dunkel ließ; grau wie sie waren, verwandelien sie sich ganz und gar in schwarze...“ Dasselbe füllt den Anfang von Ab- schnitt 2. „Die Laterne in einer der entfernten Linien des Yasilij Ostrov war im Verscheiden. Nur die weißen steinernen Häuser zeichneten sich einigermaßen ab. Die hölzernen waren schwarz und flossen mit der dichten Masse der Finsternis, die über ihnen lastete, in eins zusammen.“ Es folgt nun die Beschreibung eines einsamen Fußgängers, der den „denkbar längsten Schatten vor sich her wirft, dessen Kopf sich in der Finsternis verliert“. Es sei hier beiläufig hingewiesen auf dieses Schattenspiel, das Gogol ebenso wie andere Schattenphänomene sehr lebhaft interessiert haben muß. Man er- innere sich der Stelle zu Anfang des „Nevskij Prospekt“, wo lange Schatten an den Wänden und auf dem Pflaster entlang huschen, „die mit ihrem Kopf beinahe die Polizeibrücke erreichen,‘ und ebenso des nächtlichen Fluges des Schmidts Vakula in der „No&' pered roZdest- vom“, wo er sieht, wie die ungeheuren Schatten der Fußgänger an den Wänden entlang huschen und mit ihren Köpfen „die Schorn- steine und Dächer erreichen“. Auch im „Portret“ klingt dieses Mo- tiv an. Hier in den Fragmenten aber ist es das Motiv der Lichiver- teilung auf den Häusern und gleichzeitig das dabei charakicristische Nebeneinander der hellen steinernen und der dunklen hölzernen Häuser, welches im Vordergrunde steht. Gogol muß dafür schon in der Schülerzeit ein aufmerksames Auge gehabt haben. In den „Klassnyja sotinenija“, welche Tichonravov in Bd. 1 seiner Gogol- ausgabe bringt (S. 51/52), wird beschrieben, wie „die Strage sich in einer Wildnis verliert und eine einsame Laterne ihr ersterbendes Licht über die blaßgelben Wände der totenstillen Stadt ergießt“. Im „Nevskij Prospekt“ kehrt dieses Bild wieder, „wenn die Nacht in dichten Massen sich über ihn ausbreitet und die weißen und stroh- gelben Hauser hervorireten laßt.“ Wie in den Toten Seelen Citikov sich aufmacht, um die Gouvernementsstadt zu besehen (1, 1), da be- trachtet er sie mit den Augen Gogols, „sie gab anderen Gouverne- mentsstadten nichts nach: lébhaft stach die gelbe Farbe der steiner- nen Häuser in die Augen, und bescheiden dunkelte daneben das Grau der hölzernen“. Interessant wird in diesem Zusammenhang eine Notiz von Gogols Hand, die nach Kuliš (1, 253, Anm.) im Hause Zukovskijs nach Gogols Tode in einem ihm gehörigen Koffer ge- funden worden ist und sich sicherlich auf die Erzählung „Anunciata“, die später in „Rim“ umgewandelt wurde, bezieht, „doch ihre Stirn, ihre Schultern... das gleicht dem Sonnenglanz auf den weißen Wän- den steinerner Häuser.“ Hier kann man herausfühlen, wie Gogols Auge sich an dem Licht der südlichen Städte geweidet haben muß, begeistert muß es aber auch dem kräftigen Licht- und Schatten- wechsel in hellen Mondnächten zugesehen haben. Hierfür sind Stellen aus der Geschichte vom Streit der beiden Ivane und aus den Toten Seelen charakteristisch. In der Nacht, in welcher Ivan Ivanovic sich entschließt, sich an Ivan Nikiforovi€ zu rächen, scheint der Mond. „. . . O, wenn ich Maler wäre, ich würde den ganzen Zauber der

157

Nacht wunderbar darstellen! Ich würde wiedergeben, wie ganz Mirgorod schläft... wie die weißen Wände der Häuser, welche das Mondlicht trifft, weißer werden, die sie beschattenden Bäume dunk- ler, wie der Schlagschatten der Bäume sich schwärzer ausbreitet. Ich würde darstellen, wie auf dem weißen Wege der schwarze Schatten einer Fledermaus fatiert, welche sich auf die weißen Schornsteine der Häuser niedersetzt... Und ähnlich in den Toten Seelen (T. I, Kap. 11). Es ist die bekannte Dithyrambe auf die Reise durch die „Rus“. „Du erwachtest fünf Stationen sind hinter Dir geblieben; Mondschein; eine unbekannte Stadt; Kirchen mit alter- tumlichen hölzernen Kuppeln ...; dunkle aus Balken gezimmerte und weiße steinerne Häuser; Mondlicht da und dort: gerade als wären weiße leinene Tücher an den Wänden aufgehängt auf dem Pflaster und den Straßen; wie Pfosten durchschneiden sie Schatien schwarz wie Kohlen; wie glänzendes Metall glisern schräg vom Licht ge- streifte Dächer; und nirgends eine Seele: alles schläft... Mutter- aueh, vielleicht flimmert nur irgendwo im Fensterchen ein Licht.“

Pereverzev tadelt die einformige Sprache der Gogolschen Mondnächte, ihr Licht sei immer nur silbern, die Szenerie der Mond- nacht in „Vij“, in der die Hexe den Choma Brut durch die Felder jagt, sei vollkommen unnatürlich, eine solche Mondnacht gäbe es gar nicht usw. Hineingestellt in den Rahmen dieser Beobachtungen, wird diese Schilderung des Mondlichtes und der Mondschatten hoffentlich ein Beweis für das Selbsterlebte und Selbsigesehene der Gogol- schen Mondlandschaften werden, ebenso wie die anderer Erzählun- gen auch. Für die Lichtekstase Gogols zeugen am besten die unter den Skizzen bei Tichonravov aufgenommenen Bruchstücke, „wie dieses Drama geschaffen werden soll“, und der „Anruf an die Nacht“ (Il, 474/75). Was dort in lyrischem Aufjauchzen über Sonnen- und Mondlicht gesagt, klingt auch in den Texten wider, in denen Gogol als Maler zu uns spricht, ungeachtet mancher Wunderlichkeit oder wohl auch Ungeschicklichkeit der Sprache. Gogol drückt sich häufig da ungeschickt aus, wo er in erster Linie als Maler empfindet, es soll darauf noch hingewiesen werden. In „Vij“ zieht sich, wie die Hexe auf Bruts Rücken aus dem chutor herausreitet, der Wald „schwarz wie Kohlen zur-Seite hin, die umgekehrte Mondsichel leuchtete am Himmel, das zarte mitternächtliche Leuchten legte sich wie ein durch- sichtiges Laken über die Erde hin... die Schatten der Bäume und Sträucher fielen wie Kometen keilförmig über die abschüssige Fläche“. In „Glava iz istori€eskago romana“ spielt der Mondschatten eine besondere Rolle. Gleich zu Anfang wird das Dunkelwerden beschrieben. „Die Sonne verabschiedete sich langsam von der Erde. Malerische Wolken, die an den Rändern von feurigen Lichtern um- säumt waren, .. flogen durch die Luft. Die Dämmerung bewegte düster ihren grau-blauen Schatten herauf... Der Mond war mittler- weile scharf und klar am Himmel zu sehen. Das silberne Licht, welches der Schatten der Bäume wirr kreuzte, fiel einem Sieb gleich

158.

auf die Erde, weithin die Gegend erleuchtend...“ Später kommi der Held der Erzählung an einer verhexten Kiefer vorbei. „Das silberne Licht fiel auf ihre düsteren Zweige, und die Schatten, welche sie warfen, brachen sich, gerade als wären sie ihre Verlängerung, an den gegenüberliegenden Bäumen und legten sich gleich einer endlosen Leiter auf die Erde.“ Unter den Schilderungen des Mond- lichtes nehmen begreiflicherweise die der „Majskaja Noé’“ eine ganz besondere Stellung ein. Auch sie begegnen jetzt abfälliger Kritik, gerade sie aber sind es, die in besonders eindringlicher Sprache Gogols sonstige Licht- und Schattenstudien widerspiegeln, es soll daher hier der Versuch gemacht werden, sie in malerischem Sinne zu interpretieren. Durch die ganze Erzählung geht der Wechsel der Lichtphasen. Während Teil 1 das langsame Hinübergehen von der Dämmerung zur Dunkelheit darstellt, strahlt Teil 2 im Glanze der Mondnacht. Gleich zu Anfang umfängt der „nachdenkliche Abend träumerisch den dunkelblauen Himmel, alles in Verschwommenheit und Ferne verwandelnd“. Galja sieht empor, „wo in unübersehbarer Weite der laue ukrainische Himmel dunkelblau sich ausspannte, unten verhängt durch die krausen Zweige der vor ihnen stehenden Kirsch- baume“. Dann folgt die Beschreibung des verzauberten Hauses. „Der Wald, der es mit seinem Schatten umfing, breitete öde Finster- nis darüber aus“. Mittlerweile geht der Mond auf. „Noch war eine Hälfte unter der Erde, und doch hatte sich bereits die ganze Welt wie mit feierlichem Lichte erfüllt. Der Teich sprühte von Funken. Der Schatten der Bäume fing an, sich klar auf dem dunklen Grün abzuzeichnen....“ Nun hebt Teil 2 an mit den berühmten Worten „Kennst du die Maiennacht in der Ukraine? .. „Die ganze Welt ist ın Silberlicht getaucht... Unbeweglich, feierlich sind die Wälder geworden, ganz von Finsternis erfüllt, und riesige Schatten gehen von ihnen aus... Noch weißer, noch mehr leuchten im Mondlicht die dichtgedrängten Hütten, noch blendender heben sich aus der Finster- nis ihre niedrigen Mauern ab.“ Nun kommt die Stelle, wo Levko einschläft, die übrige Handlung ist bisher nicht einbezogen worden, weil sie nicht unmittelbar in den Ablauf der Lichtphänomene ein- greift. Jett aber beginnt oben auf der beleuchteten Höhe der Reigen- tanz der Ertrunkenen, unten dagegen „dunkelte feierlich und duster der Ahornwald, der gegen den Mond stand“. Wie Gogol es nun ver- steht, in Worten zu malen, wie in der mondhellen Nacht die weiße Vision des Mädchenreigens vor sich geht, wie sie, „leicht wie Schat- ten, in Hemden, weiß wie eine Wiese von Maiglöckchen“ sich be- wegen, „ihre Körper wie aus durchsichtigen Wolken gemeißelt er- scheinen und fast durchsichtig im silbernen Mondlicht leuchten“ das ist ein Meisterstück der Koloristik.

Neben dem Wechsel von Licht und Schatten, den die Himmels- lichter bewirken, spielt bei Gogol der durch künstliche Beleuchtung hervorgebrachte Effekt eine große Rolle. Man braucht hierbei nur an den „Nevskij Prospekt‘ zu denken, auf dem „die Lampen allem ein gewisses, verlockendes, wunderbares Licht geben‘, und der zu

11 NF 5 159

jeder Zeit lügt, am meisten aber dann, „wenn die Nacht in dichten Massen sich über ihn ausbreitet und die weißen und blaßgelben Häuser hervorireten läßt, wenn die ganze Stadt sich in Getose und Glanz verwandelt... und wenn der Damon selbst die Lampen an- zündet, um alles in einem unwirklichen Licht zu zeigen“, wie es am Schluß heißt. Und es ist eine Beobachtung von psychologischer Be- deutung, die sich hierbei machen läßt: Gogol scheint eine gewisse Abneigung, ein leises Grauen vor den Effekten künstlichen Lichtes gehabt zu haben, das „unwirkliche Licht“ vom Nevskij Prospekt scheint ihm auch andererorts erschienen zu sein. So zeigt sich ihm eine künstlich erleuchtete Landschaft in den „Toten Seelen“ in un- heimlichem Licht (T. 1, Kap. 6). Beim Besuch Pljuskins vergleicht Čičikov dessen dürftiges Leben mit der Lebenskunst eines gesellig lebenden Nachbarn. „.. Theateraufführungen, Balle; die ganze Nacht hindurch glänzt der durch Illuminationslämpchen erleuchtete, von Musik widerhallende Garten. Das halbe Gouvernement wandelt aufgepust und fröhlich unter den Bäumen auf und ab, und keinem kommt diese Beleuchtung wiist und drohend vor, wenn aus dem Baumdickicht, einem Theatereffekt gleich, ein durch das unnatürliche Licht beleuchteter Zweig hervortritt, der seines hellen Grüns beraubt ist, und wenn in der Höhe um so dunkler, strenger und zwanzigmal drohender der nächtliche Himmel hindurchscheint und hoch oben die finsteren Baumwipfel, welche tiefer in die unerwecklich schlummernde Dunkelheit hineinsireben, ihr Blattwerk erzittern lassen, unwillig über den Flitterglanz, der von unten her ihre Wurzeln beleuchtet.“ Auch der unruhige Wechsel des Lichts auf Gesichtern wird von Gogol auf- merksam verfolgt und scheint ein gewisses Unlustgefühl hervor- gerufen zu haben. In dem Fragment „Plennik“ wird der Held der Erzählung von einem kriegerischen Befehlshaber in ein unterirdisches Verließ geführt, beim Schein eines Lichtes natürlich. „.. die un- beständige Flamme des Dochts, die von einem dunklen Kreis um- geben war, warf auf sein Gesicht ein blasses, gespenstisches Licht, während der Schatten seines endlosen Schnurrbarts sich in die Höhe erhob und mit zwei langen Strichen alle bedeckie.“ Ganz ähnlich wird in „Glava iz istori€eskago romana“ die Wirkung des Lichts von der Glut einer Tabakspfeife auf dem Gesicht ihres Besitzers Ursache, daß dessen Gesicht „dem Gesicht irgendeines Vampyrs ähnlich wurde“. Die Wirkung eines durch eigenartige Beleuchtung irritierend wirkenden Bartes wird auch in den „Toten Seelen“ (T. 1, Kap. 6) geschildert. Auf der Weiterfahrt von Pljuskin „.. herrschte volle Dämmerung... Schatten und Licht hatten sich ganz durcheinander- gemischt, und es schien, als ob sich auch die Gegenstände durch- einandergemischt hätten. Der bunte Schlagbaum hatte eine gewisse unbestimmbare Farbe angenommen, der Schnurrbart des wachhaben- den Soldaten schien ihm auf der Stirn zu stehen und weit höher als die Augen, und eine Nase schien er überhaupt nicht zu haben...“ Gogol mag auf seinen Fahrten dergleichen oft beobachtet haben, hier scheint diese Bemerkung auch wieder Cicikov aufgegangen zu sein.

160

Aus den Vospominanija Annenkovs kann man ersehen, daß Gogol Wert darauf legte, eigenartige Beleuchtungseffekte in seine Erzäh- lungen aufzunehmen. Auf einem Abendspaziergange in Albano wurde einmal von einem der Russen in Gogols Begleitung bemerkt, daß in Rußland abends um 6 Uhr in allen Provinzialstadten der Samovar gerüstet wird. Da sähe man immer auf der Vorireppe irgendeinen Jungen oder ein Mädchen kauern, die die Glut anblasen und von ihr rot angestrahit werden. Da blieb Gogol plötzlich stehen und rief aus: „Mein Gott, wie konnte ich das fortlassen! Wie konnte ich das fortlassen!“ Die Freude an dem Malerischen soicher Ein- drücke, selbst wo es sich um Grausiges handelt, laßt sich gut beob- achten in der grandiosen Schilderung des Lohens auf den Schlacht- feldern der Zaporoger im „Taras Bulba“. Der Brand in einem Klostergarten gibt Gogol Gelegenheit, das Farbenspiel auf den von Flammen angestrahiten Früchten zu beobachten. Reife Pflaumen leuchten in einem phosphorisch-feurig-violetten Licht auf, gelbe Birnen scheinen in rotes Gold verwandelt zu sein. Am deutlichsten spricht sich Gogols Malerfreude aus an der Schilderung des Schreitens zwischen Licht und Schatten. Das erstemal begegnet dieser Vorwurf im „Nevskij Prospekt“, als auf dem abendlich erleuchteten Nevskij Piskarev in Gesellschaft Pirogovs zwei Damen beobachtet, und wo er dann in der Richtung geht, wo „der bunte Mantel in der Ferne wehte, bald sich in hellem Glanze zurückschlagend, je nachdem er sich dem Laternenlicht näherte, bald sich in Finsternis hüllend, je nachdem er sich von ihm entfernte“. Das zweitemal schildert Gogol eine ähn- liche Situation im „Taras Bulba“, und hier ist es bemerkenswert, daß diese, wie eine folgende malerisch behandelte, Szene erst in die Neubearbeitung eingeschoben worden ist. Da hier obenein auf einen bekannten Maler Bezug genommen wird, ist gerade diese Stelle aufs beste geeignet, auch dem nicht Malkundigen den Beweis zu erbringen, daß derartige Schilderungen Gogols eben ihre Grundlage in einem malerischen Sehen haben. Andrij und die Tatarin schreiten (Kap. 6) bei der Belagerung von Dubno den finsteren unterirdischen Gang entlang, und als die Tatarin an einer ewigen Lampe einen kupfernen Leuchter angesteckt hat, „wird das Licht stärker, und während sie gemeinsam weitergingen, bald grell vom Lichte beleuchtet, bald sich in kohlenschwarze Finsternis hüllend, erinnerten sie an die Bilder des Gerardo dalle Notti“. Der Niederländer Gerhard Honthorst, der im Italienischen den Namen Gerhard der Nachtstücke erhalten hat, ver- dankt eben seine Berühmtheit in erster Linie diesen. Die in diese Neubearbeitung neu aufgenommene, dieser nächtlichen Wanderung folgende Morgenbeleuchtung in der Kirche zeigt wieder einmal die eigenartige Tatsache, daß Gogol eigene optische Beobachtungen gelegentlich auf die Gestalten seiner Phantasie überträgt. „Das bunte Glasfenster erstrahite in rosigem Licht, und auf dem Fußboden zeigten sich, davon ausgehend, hellblaue, gelbe und andersfarbige Kreise, die plötzlich die dunkle Kirche erhellten. Der ganze Altar in der fernen Nische strahlte ganz in Glanz auf... Andrej blickte nicht

161

ohne Erstaunen auf das Wunder, welches durch das Licht hervor- gebracht wurde.“ Hat hier Gogol bei einer Neubearbeitung eine Morgenbeleuchtung eingeschoben, so hat er in die 2. Redaktion des »Poriret“ eine Abendbeleuchtung neu aufgenommen. Als Cartkov das Bild des Wucherers nach Hause trägt, beobachtet er sie. „Der rote Schein der Abendrote war noch an der einen Himmelshalfte zu sehen, noch waren die dieser Seite zugewandten Häuser durch ihr warmes Licht angestrahli, aber indessen war das kalte bläuliche Leuchten des Mondes bereits heller geworden. Halbdurchsichtige Schatten, die von den Häusern und den Beinen der Fußgänger zurück- geworfen wurden, fielen mit den Spitzen auf die Erde.“ Die Beob- achtung dieser unbestimmten Himmelstönung veranlaßt den Maler zu dem Ausruf: „Was für ein leichter Ton!“ Die Neubearbeitung des „Portret“ enthält schließlich noch eine in die Schattenstudien Gogols gehörige, sehr eigenartige Szene. Der kvartal’nik mustert in Cart- kovs Zimmer die angefangenen Studien und Akte und fragt, was der schwarze Fleck unter der Nase eines weiblichen Aktes zu bedeuten hätte, ob das Tabak sei, worauf Cartkov kurz antwortet: „Schatten.“ Senrok hatte geglaubt, diese kleine Episode hatte einen sozialen Untergrund, solle die Wertschakung Gogols fur das Urteil der kleinen Leute bezeichnen, sie wird aber wahrscheinlicher aus der Erinnerung an eine eigene Studie Gogols oder an ein gesehenes Bild ent- standen sein. |

Es war auf S. 154 darauf hingewiesen worden, daß Gogol für die weiße Farbe eine besondere Vorliebe gehabt zu haben scheint. Die dort zitierte Stelle aus den „Toten Seelen“ hatte die Vision der weißen Mädchengestalt enthalten. Sie findet ihre Entsprechung in der Schilderung der weiß gekleideten Dame in den bereits zitierten Fragmenten, in einer Schilderung, die zu den eindrucksvolisten der malerisch gesehenen Partien in den Werken Gogols zählt. Der Student „mit dem denkbar längsten Schatten“ hatte beim Weiter- gehen neugierig ein Auge an den Spalt eines Fensterladens gedrückt, der wie ein feuriger Strich in der dunklen Straße sichtbar wurde, und sah in einem hellblauen Zimmer eine wahrhaft malerische Unordnung auserlesen schöner Seidenstoffe umhergestreut. „Doch am meisten fesselte den Studenten eine in der Ecke des Zimmers stehende (schlanke) Frauengestalt .. ) nur wie für den Studenten, in einem wunderbar entzückenden, in einem blendend weißen Kleide, im allerschönsten Weiß. Wie dieses Kleid atmete .. ] Doch die weiße Farbe ist über jeden Vergleich erhaben. Die Frau wird größer durch Weiß... Welche Funken sprühen durch die Adern, wenn mitten aus der Finsternis ein weißes Kleid auf- leuchtet! Ich sage in der Finsternis, weil dann alles wie Finsternis erscheint... Alle Empfindungen gehen dann in dem Duft auf, der von ihm ausstromt, und in dem kaum hörbaren... Geräusch, das es verursacht. Das ist die höchste und wollüstigste Wollust.“ Gogol verbindet hier den Begriff der Wollust mit dem Anblick des

3) Die Punkte stehen im Text.

162

Weißen. Gesemann hat in seiner charakterologischen Studie über Gogol Wendungen wie „Säulen so weiß wie die Brüste einer Jung- frau“, „wollüstig weißer Marmor“ und ähnliche als Ausdruck sexueller Triebe gedeutet und beruft sich hierbei auf MereZkovskij, der auch das blendende Weiß der Gogolschen Rusalken oder wirklichen Mäd- chengestalien fur den Ausdruck einer gewissen Lüsternheit nimmt. Es mag vieles für diese Deutung sprechen. Nur wird man in diesem Zu- sammenhang darauf hinweisen dürfen, daß gerade die bei MereZkov- skij erwähnten schimmernden Leiber der Ertrunkenen in der „Majskaja Noč“ einen gewissermaßen koloristischen Zweck haben, ebenso wie das einfache weiße Kleid der Blondine in den Toten Seelen, dessen Farbenwirkung auf dem nebligen, irgendwie hingeworfenen Grunde, d. h. der „trüben und undurchsichtigen Menge“ sichtlich von künst- | lerischen Gesichtspunkten aus zu verstehen ist. Diese Textstellen, ebenso wie die aus den Fragmenten, und wie die eigenartige Wen- dung ,,jarkaja belizna sladostrastno sverkact v samom glubokom mrake teni“, die sich auf sonnenbeleuchtete Laubmassen bezieht im Aufsatz „Posl. den’ Pompei“, lassen erkennen, daß tatsächlich das Zusammentreffen des Weißen mit effektvoll davon abstechender Dunkelheit, lediglich als Farbeneffekt, für Gogol von ganz besonde- rem Reiz gewesen sein muß. Gogol hat in den Fragmenten noch eine sehtechnisch sehr feine Beobachtung aufgenommen, nämlich die optischen Wirkungen eines starken Regens auf Luft und Gegen- stände, die beweist, daß ihm auch für solche farbenarmen Vorgänge der Sinn nicht gefehlt hat. Ein geschickter Radierer könnte danach getrost eine Regenstudie arbeiten. „... Das bewegliche Regenneb hüllte fast vollständig alles ein, was vorher das Auge sah, und nur die vordersten Häuser huschten hinter einer feinen Gaze vorüber; trübe huschten die Aushängeschilder vorbei, noch trüber über ihnen der Balkon, darüber noch ein Stockwerk, schließlich war das Dach bereit, sich in dem Regennebel zu verlieren, und nur sein feuchter Glanz unterschied es ein wenig von der Luft...“ Man könnte meinen, einen Nachklang dieser Eindrücke zu sehen in den „Toten Seelen“, wo nur Ci¢ikov bei der Einfahrt in den Hof der Korobočka durch den dichten Regen etwas einem Dache Ähnliches bemerkt.

Sonst ist gerade bei Gogols Beobachtungen der Lufttone seine Farbenfreudigkeit bemerkbar, man erinnere sich der Beobachtungen in den „Peterburgskija Zapiski“ (s. S. 152), in denen er sich an den blauen, lilalen und rosigen Lufffönen eines Fruhlingsabends entzückt. Es seien hier nur einige Proben gegeben, die zeigen sollen, wie Gogol Lufitöne unter nordischem und südlichem Himmel gesehen hat. In den „Toten Seelen“ vom Tetetnikovschen Hause (2, 1) läßt er Ci&ikov in die Landschaft blicken. „Endlos, grenzenlos enthüllten sich die Weiten! Hinter den Wiesen, die mit Mühlen und Baumgruppen besät waren, grünten in Gestalt einiger grüner Bänder die Wälder; hinter den Wäldern ward gelber Sand durch die Luft, welche schon anfıng den Nebelhauch der Ferne zu zeigen, sichibar, und wieder Wälder, schon in dunkles Blau getaucht, wie Seen oder Nebel in lang hin-

165

gestreckten Streifen; und wieder Sandflachen, schon blässer, aber doch noch gelb getönt.“ Gogols Vertrautheit mit Pastellfarben, die durch seine Jugendbriefe an die Eltern bewiesen ist, spricht aus einer Bemerkung im Kap. 3, wo Ci&ikov in Gesellschaft KostaZonglos in die Ferne sieht. Da zeigt sich ihnen bei einem Blick ins Tal, über das Haus des Generals BetriSéev hinziehend, „die waldbewachsene krause Hohe, welche bereits den dunkelblauen Staub der Ferne trug“ (pylivSaja sinevatoju pyl’ju ofdalenijal. Es ist gerade an diesen beiden Textstellen besonders interessant, daß sie erst in eine spätere Bearbeitung des 2. Teiles der „Toten Seelen“ aufgenommen worden sind, oder wenigstens, was die erstere anbelangt, der charakteri- stische Zusatz zu dem „und wieder Sandflachen“ das „schon blässer, aber doch noch gelb getönt“. In der älteren Fassung hieß es nur „zelteli peski“. In dieser kleinen Nuance verrät sich das außer- ordentlich feine Sehen, welches auch die dichterische Arbeit begleitet haben muß (vergl. Tichonravov-Ausg. 4, 314 u. 468/69). Der Hauch der Ferne als ein farbiger Staub gesehen, dient Gogol als Ausdrucks- mittel auch in einer Schilderung der römischen Campagna, deren etwas trockener Ton dem Gegenstand wenig angemessen ist und eher in einer maltheoretischen Schrift angebracht ware. Gogol sieht in der Campagna nach allen vier Seiten. „... Nach der dritten Seite hin waren auch diese Felder durch Berge bekränzt, welche sich be- reits höher und näher erhoben, in ihren vorderen Reihen kräftiger hervortraten und leicht abgestuft sich in der Ferne verloren. Die zarte hellblaue Luft umkleidete sie mit einer wunderbaren Abstufung der Farben, und durch diese durchsichtig-blaue Hülle hindurch leuch- teten kaum merklich die Häuser und Villen von Frascati, hier fein und leicht von der Sonne gestreift, da übergehend in den hellen Nebel in der Ferne verstäubender, kaum sichtbarer Gehölze.“ Dann sieht der Fürst in „Rim‘ von einer Terrasse in Frascati oder Albano herab auf die abendlihe Campagna und ihre Wiesenflächen. . . Dann erschienen sie einem unübersehbaren Meer gleich, das sich leuchtend von der dunklen Brüstung abhob; Flächen und Linien verschwanden dann in dem sie umhüllenden Lichte. Anfangs er- schienen sie grünlich, und hie und- da waren auf ihnen zerstreut die Gräber und Aquadukte zu erblicken, darauf leuchteten sie in hellem Gelb in den Regenbogenfarben des Lichtes auf, kaum die antiken Ruinen noch erkennen lassend, und schließlich wurden sie purpurfarbener und purpurfarbener und verschlangen in sich selbst die gigantische Kuppel und flossen zu einem dichten Himbeerrot zu- sammen.“ Man versteht die Ironie Turgenevs und den ästhetischen Schauder, mit dem er sich von dieser Schilderung der römischen Natur in seiner „Poezdka v Al’bano i Frascati: vospominanie ob A. A. Ivanove“ abwendet. Und doch ist es Gogol mit der Schilderung eines römischen Sonnenunterganges sehr Ernst gewesen. Der Gogol befreundete Kupferstecher und Rektor der Akademie der Kunste Fedor Iv. Jordan gedenkt in seinen Zapiski eines mit Gogol, Jazykov und Annenkov unternommenen Abendspazierganges in Rom. Da

164

„entzückte sich N. V. Gogol an dem Sonnenuntergang, dessen Be- schreibung ihm wahrscheinlich für eines seiner Werke nötig war. Da er weder Feder noch Papier bei sich hatte, war er sichtlich bemüht, das sich ihm bietende herrliche Schauspiel seinem Gedächtnis fest einzuprägen.“

Ein südlicher Himmel gab Gogol noch einmal Gelegenheit zur Beobachtung von Farbenphanomenen. Zukovskij hatte ihn brieflich gebeten, ihn durch eine Schilderung des Heiligen Landes zu seinem „Wandernden Juden“ inspirieren zu helfen. „.. Ich brauche die Lokalfarben Palastinas ... ich möchte die malerische Seite Jerusalems und des übrigen vor Augen haben.“ Und darauf erfolgte der lange Brief Gogols (IV, 297. Der Brief Zukovskijs ist von Senrok in e. Anm. wiedergegeben). Er schildert seine Enttäuschung an Palästina, an Jerusalem im besonderen. „... Was kann heute dem Dichtermaler der gegenwärtige Anblick ganz Judaas sagen?“ „. . Das alles, freilich, war malerisch zu den Zeiten des Erlösers, als ganz Judaa ein Garten war und jeder Jude im Schatten eines von ihm gepflanzten Baumes ruhen konnte; doch jekt, wo man nur ganz selten fünf oder sechs Oliven auf dem ganzen Abhang eines Berges antrifft, in ihrer Erdfarbe ebenso grau und staubig, wie eben dort die Steine des Berges sind, wenn nur eine dünne Moosdecke und hin und wieder Grasbüschel inmitten dieses bloßen, zerrissenen Steinfeldes grün schimmern, ... wie soll man in einer solchen Landschaft das Land, wo Milch und Honig fließt, erkennen? Stelle Dir inmitten einer sol- chen Verödung Jerusalem vor!...“ Nun folgt die bekannte Schilde- rung des eigenen sterilen Seelenzustandes, der ,¢ersivo serdca“, und unwillkürlich drängt sich für den, der Gogols malerische Exal- tationen beim Anblick einer ihn fesselnden Landschaft verfolgt hat, die Parallele zwischen der soeben geschilderten Landschaft und seiner Ernüchterung bei dieser Reise auf. Nur ganz vereinzelt tauchen freundlichere Erinnerungen an sie auf. Beim Herausreiten aus Jerusalem zeigen sich „plößlich in der Ferne in hellblauem Lichte, als ein ungeheurer Halbkreis, Berge. Eigenartige Berge: sie waren ähnlich den Seitenwänden oder dem Karnies einer ungeheuren winkelförmig herausragenden Schüssel. Der Grund dieser Schüssel war das Tote Meer. Seine Seiten waren von bläulich-roter Farbe, der Grund blau-grünlich. Niemals habe ich solche sonderbaren Berge gesehen... sie alle waren wie aus einer ungeheuren Menge von Fazetten zusammengesebt, die in verschiedenen Schattierungen durch die allgemeine dunstige blau-rötliche Farbe schimmerten. Dieses vulkanische Erzeugnis ein aufgetiirmter Wall fruchtloser Steine erglanzte in der Ferne in einer unbeschreiblichen Schön- heit. Ändere Blicke, die besonders eindrucksvoll gewesen wären, hat die schläfrige Seele nicht mit hinweggenommen...“ An dieser Stelle bringen die Erinnerungen Annenkovs wieder eine wertvolle Ergänzung. Er beschreibt seine lekte Begegnung mit Gogol (P. V. Annenkov i ego druzja, 1. 515 ff.). „... Anstatt des Sinnes für die Gegenwart, den er im Ausland verloren hatte, und durch seine lebte

165

Entwicklung, war seine künstlerische Eindrucksfähigkeit im höchsten Maße frisch geblieben. Er forderte mir das Ehrenwort ab, daß ich auf dem Lande Bäume und Baumgruppen schonen sollte, und for- derte mich einmal zu einem Spaziergang durch die Stadt (Moskau) auf, den er.ganz mit der Beschreibung von Damaskus ausfüllte, der wunderbaren Berge in der Umgebung der Stadt, der Beduinen in ihrer altbiblischen Kleidung, die sich in räuberischer Absicht an ihren Mauern zeigen..., aber auf meine Frage, „wie leben dort die Leute?“ antwortete er mir fast ärgerlich: „Vas soll das Leben! (čło Zizn’!). Daran denkt man dort doch nicht!“ Man sieht also, Gogol ist nicht während der ganzen Orienireise eindruckslos gewesen. Gerade die Freude an den malerischen Gestalten war ja so charakte- ristisch für sein ganzes Sehen in Italien; sein „Rim“, seine Briefe und auch wieder Annenkovs Erinnerungen bezeugen das in reichstem Maße. Als bestes Zeugnis dafür kann Gogols Freude an der male- rischen Wirkung der Kapuzinermonche in Rom herangezogen wer- den. Annenkov erzählt in seinen Erinnerungen (S. 44) von einem Gespräch Gogols mit Panaev, in dem er ihm die malerische Wirkung eines rotbraunen Kapuziners unter einer Gruppe bunter Frauen- gestalten auseinandersebte, er hatte in seinem „Rim“, gelegentlich der Schilderung, welche Freude der junge Furst am Wiedersehen seines malerischen Roms hatte, den Farbeneffekt geschildert, den die „malerischen Scharen der Mönche in ihren langen weißen oder schwarzen Gewändern hervorrufen“, und wie „ein schmubiger rot- brauner Kapuziner plötzlich im Sonnenlichte in hellem Kamel- braun aufleuchtet“. Wie sehr ihn bei den eigenen Malstudien gerade die Mönchsgestalten fesselten, bezeugt ja auch der Brief an Zukov- skij (s. S. 148), wo er von der gelungenen Farbenskizze spricht, die er bei einer Andacht im Kolosseum gefertigt hatte. Annenkov erzählt in seinen Vospominanija von einem gemeinsamen Spaziergang mit Gogol in der wundervollen Galerie von Steineichen zwischen Albano und Castelgandolfo und von der Begeisterung, in die sie Gogol ver- sekte. „Wenn ich Maler ware, dann würde ich ganz eigenartige Landschaften malen. Was malt man jekt für Bäume, was für Land- schaften! Alles ist glatt, verständlich, vom Lehrer durchgeschen, und der Beschauer kann es nachbuchstabieren. Ich würde Baum mit Baum zusammenfassen, würde ihre Aste durcheinanderbringen, da Lichter hinsetzen, wo sie niemand vermutet; solche Bilder müßten gemalt werden! Und er begleitete seine Worte mit energischen, nicht wiederzugebenden Gesten.“ Hier äußert sich wieder die Freude an der malerischen Behandlung der Lichtmassen im Baumschlag. Der Tadel, den Gogol hier ausspricht, wird sich vermutlich gegen gewisse Arbeiten jüngerer russischer Künstler richten, über die er sich in seinen Briefen wiederholt ungünstig äußert. Vielleicht ist damit auch das allgemeine Niveau des in Rom für den Verkauf Gearbeiteten und Ausgestellten gemeint. Daß in dieser Hinsicht der Aufenthalt dort sehr verflachend wirken konnte, geht aus Mono- graphien uber deutsche Künstler jener Tage hervor.

166

Es ist in den bisherigen Ausführungen bei weitem nicht das ge- samte Material herangezogen worden, was in den Werken Gogols den sehgeübfen Maler verrät. Seine Vertrautheit mit der Porträt- malerei wurde ebensowenig berücksichtigt, wie solche Szenen, die ähnlich der stummen Schlußszene im „Revizor“, für die er ja selbst die allbekannten Konturzeichnungen gefertigt hat gewisser- maßen als fertige Genrebilder aus seiner Feder hervorgegangen sind. Der zur Verfügung stehende Raum zwang dazu, die Textaus- wahl nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt vorzunehmen, und da es vornehmlich der Zweck dieser Untersuchungen sein sollte, die Beziehungen zu verfolgen, die zwischen Gogols, in dem Aufsab „Posledniji den Pompei“ ‘geaugerten Beobachtungen, an der Land- schaftsmalerei seiner Zeit und seinen eigenen Naturbeobachtungen bestehen, mußte naturgemäß das Hauptinteresse dem Landschaft- lichen darin zugewandt werden und dem Figürlichen nur dann, wenn es geeignet war, die Intensität seiner Studien an Beleuchtung und Kolorit zu erweisen. Es mußte auch davon abgesehen werden, des näheren auf das Zeitgemäße in Gogols Kunsibestrebungen einzu- gehen; nur flüchtig sei erwähnt, daß er mit dem in seinem Sehen der Lufttöne und des Lichtwechsels ihm sehr nahestehenden Arzt Carus, der sich als Maler und kunsttheoretischer Schriftsteller betätigt hat sicher wohl ohne eine Ahnung von dieser Seelenverwandischaft zu haben in persönliche Berührung gekommen ist. Er hat ıhn seines Leidens wegen konsultiert und berichtet darüber brieflich an seine Freunde.

Die naheliegenden Fragen: Was ist aus Gogols Arbeiten gewor- den? Kann man in ihnen seine besondere Art des Sehens verfolgen? müssen hier leider unbeantwortet bleiben. Es wäre gewiß eine inter- essante Aufgabe, diesen Untersuchungen an Ort und Stelle nach- gehen zu können. Doch abgesehen davon, was Gogol als Maler ge- leistet: die Bedeutung dessen, wie er als Maler geschen hat, sollte bei der Analyse seines dichterischen Schaffens nicht übersehen werden.

Die Literaturangaben beschränken sich auf weniger bekanntes oder nicht überall zugängliches Zeitschriftenmaterial.

Cernickaja, A. Portrety Gogolja. (lstor. Vestn. 1890, 1, S. 641 ff.) CiZov, F. V. Vospominanija. (Istor. Vesin. 1883, 11, S. 243 ff.)

Danilevskij, Grig. Znakomstvo s Gogolem. (Istor. Vesin. 1886, Dek.)

Gesemann, Gerh. Grundlagen ciner Charakterologie Gogols. (Jahrbuch der Charakterologie. Ig. 1, Bd. 1, 1924.)

Gogol’ v Odesse. (Russk. Archiv, 1902, 1.) Jordan, Fed. Iv. Zapiski. (Russk. Starina, 1869—71.)

Miljukov, A. P. Vsfreca s Gogolem. (Istor. Vestn. 1881, T. 4, S. 135— 38.)

167

168

Nazarevskij, A. A. Gogol’ i iskusstvo. In: Pamjat? Gogolja, S. 49 ff. (Univ. Izvestija. Kiev 1911, Prilo2.)

Nekrasova, E. S. Gogol’ i Ivanov. (Vestn. Evropy, 1883, Dek.)

Repnina, V. N. knjaginja. Iz vospominanij o Gogole. (Russk. Archiv, 1890, 3.)

Senrok, N. V. Druzja i znakomye Gogolja v ich k nemu pis’mach. (Russk. Starina, T. 63, S. 366 ff., 1889.)

Ders. Gogol’ v neizdannych pis mach i takže v pis’mach ego druzej. (Russk. Starina, T. 65, S. 407 ff., 1890.)

Smirnova, Al. Oss. i N. V. Gogol’. (Russk. Starina, T. 58, S. 47 ff., 1888.)

Diess. Zapiski. (Severnyj Vestn., 1893—95.) Diess. Pisma k Gogolju. (Russk. Starina, I. 66, S. 639 ff., 1890.) Zolotarev, Iv. Fed. Raskazy o Gogole. (Istor. Vestn., T.51, 1893.)

KATHARINA I. VON RUSSLAND UND IHRE AUSWARTIGE POLITIK IM URTEILE DER DEUTSCHEN ZEITGENOSSEN

Von Ulrich Preuss (Breslau).

Fortsetzung.)

Kapitel III. Die westliche Politik Katharinas Il. und die deutsche öffentliche Meinung. 1.

In dem voraufgegangenen Kapitel über die Orientpolitik Katha- rinas ll. und ihre Beurteilung durch die deutschen Zeitgenossen ist dargelegt worden, wie das Zusammenwirken von mehreren ver- schiedenartigen Momenten, von Momenten sowohl politisch-histori- scher als auch ideengeschichtlicher Natur einen Umschwung in der Haltung der öffentlichen Meinung Deutschlands herbeiführte, und wie dieser Umschwung zuungunsten Katharinas während des Türken- krieges von 1787 zum ersten Male in den deutschen Zeitstimmen deutlicher zutage trat. Begreiflicherweise mußten die Gefühle der Unlust und der Entriistung, mit denen ein betrachtlicher Teil der deutschen Publizistik dem zweiten Türkenkriege Katharinas gegen- überstand, noch erheblich wachsen, wenn sie auf die nach Westen gerichteten Transaktionen der Carin blickten. Denn hier handelte es sich nicht mehr um Vorgänge, die sich „hinten weit in der Türkei“ abspielten, und die man doch nur sehr von fern verfolgen konnte, sondern Katharina suchte durch sie die russischen Grenzen und die russische Einflußsphäre immer weiter nach Westen vorzuschieben und rückte infolgedessen den deutschen Grenzen immer näher. Die An- strengungen, die Preußen seit Friedrichs des Großen Tode gemacht hatte, um im Bunde mit England und Schweden dem Expansions- willen der Carin Einhalt zu gebieten, redeten eine deutliche Sprache. Allzu deutlich, um nicht sogar auf die mehr ideologisch orientierte als von eigentlichen politischen Erwägungen geleitete deutsche Pu- blizistik Eindruck zu machen. Die Vorstellung einer „russischen Gefahr“, die in der Diskussion der deutschen Publizisten über die Türkenkriege noch so gut wie fehlt, ergriff angesichts der polnischen Politik der Carin in der zweiten Hälfte der achtziger und in der

169

ersten der neunziger Jahre in Deutschland immer weitere Kreise, und als absolute Parallelerscheinung zu dem Umschwunge in der deutschen öffentlichen Meinung, die in ihrer so verschiedenartigen Beurteilung des ersten und des zweiten russischen Türkenkrieges zum Ausdruck kam, besteht ein wesentlicher Unterschied in der Ge- sinnung und Haltung, mit der man in Deutschland die erste und die beiden späteren polnischen Teilungen diskutierte.

Wenn Sybel in seinem Aufsake über „die erste Teilung Polens“ behauptet, die gesamte Literatur sei bei und nach der ersten pol- nischen Teilung von polenfreundlichen Stimmen bis zu dem Grade beherrscht gewesen, daß es „beinahe keine andern“ gegeben hättet), so entspricht diese Behauptung, wenigstens für Deutschland, nicht den Tatsachen. Denn die deutschen Zeitgenossen haben dies Er- eignis, wie übrigens auch die spätere deutsche Forschung?) fest- gestellt hat, mit einer auffällig kühlen Gelassenheit hingenommen. Aber ebenso falsch ist die Behauptung in einer unlängst erschienenen Schrift®), daß die öffentliche Meinung Deutschland auch den späteren Teilungen gegenüber die gleiche kühle Gelassenheit bewahrt habe, und daß die „zeitgenössischen Humanitatsfreunde“ damals „kein Wort der Sympathie oder des Mitleides für den zerstörten Staat“ übrig gehabt hätten. Vielmehr fand sie, wie noch zu zeigen sein wird, in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts sowohl für den Protest gegen das den Polen zugestoßene Leid als auch für das Mitgefühl mit dem untergegangenen Staatswesen Worte von einer Herzhaftigkeit und einem Pathos, die denen der Höhezeit deutscher Polenschwärmerei in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht viel nachstehen dürften.

Nachdem dieser Unterschied in der Stellungnahme der deutschen öffentlichen Meinung gegenüber der Teilung von 1772 auf der einen und denen von 1793 und 1795 auf der anderen Seite bereits in der glänzend dargestellten und an Literaturkenntnis kaum zu über- bietenden „Geschichte der deutschen Polenliteratur“ von Robert Franz Arnold eingehend geschildert und begründet worden ist, kann es nicht unsere Absicht sein, die Veränderungen, welche das Bild Katharinas infolge ihrer späteren Polenpolitik für die deutschen Zeitgenossen erfuhr, hier noch einmal in allen Einzelheiten zu schil- dern. Aber um des Zusammenhanges des Ganzen willen müssen wenigstens die Hauptlinien dieser Entwicklung in der zeitgenössischen deutschen öffentlichen Meinung noch einmal nachgezeichnet werden.

Zunächst ist für die relative Gleichgültigkeit, mit der sich die deutsche zeitgenössische öffentliche Meinung gegenüber der ersten polnischen Teilung verhielt, auf die Tatsache hinzuweisen, daß ihr

1) Kleinere histor. Schriften, Bd. Ill (1880), S. 160.

3) Vgl. z. B. Woldemar Wenck: Deutschland vor 100 Jahren. Bd. I (1887), S. 256. Am eingehendsten bei R. F. Arnold: Gesch. der deutschen Polen- literatur. Bd. I (1900), S. 73 f.

3) I. Müller: Die Polen in der öffentlichen Meinung Deutschlands 1830 bis 1832. (1923), S. 5.

170

diese Teilung nicht unerwartet kam. Denn in dem langen Verfalls- und Zersekungsprozeß des polnischen Staates, den die Geschichte Polens mindestens seit dem Jahre 1662 darstelli, wo der König Jan Kasimir seinen Landsleuten den Untergang und die Zerstückelung ihres Landes durch ihre westlichen Nachbarmächte prophezeite*), lag der Gedanke einer polnischen Teilung sozusagen in der Luft. Er hatte mehrfach die europäischen Kabinette beschäftigt?), und daß er auch der weiteren Öffentlichkeit nicht fremd war, beweist Wekhrlin, der in einer seiner vielgelesenen Zeitschriften, um die Notwendigkeit dieser Teilung zu rechtfertigen, sogar auf das polenfreundliche Frankreich hinwies, das selber „das Beispiel eines Teilungspro- jektes“ gegeben hatte’).

Sodann hatten sich worauf schon in anderem Zusammenhange hingewiesen wurde die Polen infolge ihrer fanatischen Unter- driickung der Dissidenten, d. h. aller Nichtkatholiken gleichviel ob Protestanten, Griechisch-Unierte oder Juden die Sympathien dieser so stark auf ihre Aufklärung und religiöse Duldsamkeit pochenden Zeit völlig verscherzt. Die Greueltaten der Konföderierten von Radom und Bar, jener blutdürstigen und grausamen Vorkämpfer fanatischen Glaubenshasses, wie sie z. B. Gustav Freytag aus zeit- genossischen Uberlieferungen aus dem damals polnischen West- preußen schildert”), wurden natürlich bald jenseits der nahen preu- zischen Grenze bekannt und erregten in Deutschland einen Abscheu und eine Entrüstung, die wir wohl vergleichen dürfen mit analogen Wirkungen der bolSevistischen Greuel auf unser Volk und unsere Zeit. Dazu kamen die traditionellen Vorstellungen von Polen als dem klassischen Lande der Zwietracht®) und Unordnung, die zur Bil- dung von historischen Schlagworten wie „polnische Wirtschaft“ und

4) Vgl. B. v. Bilbasov: Gesch. Katharinas II. Deutsch von P. v. R. Bd. II (1893), S. 516 f.

s) Vgl. R. Koser: Gesch. Friedrichs d. Gr. Bd. II (1913 Zu. 4, S. 203 f.

Ein noch früheres Beispiel (1575) bei F. Martens: Recueil des traités el

conventions conclus par la Russie avec les pays étrangéres. Bd. I (1874),

XII. Vgl. überhaupt über voraufgegangene Teilungsvorschläge Alexander

Brückner: Katharina die Zweite. (1883), S. 252 f. Die „Dessins“ von 1768

= 69 bei A. Beer: Die erste Teilung Polens. Bd. Ill (1873), S. 262, u. Bd. Il, . 39.

€) Chronologen, Jg. 1779, Bd. Il, S. 294.

1) „Der polnische Edelmann Roskowski zog einen roten und einen schwarzen Stiefel an, der eine sollte Feuer, der andere den Tod bedeuten; so ritt er brandschabend von einem Ort zum andern, ließ endlich in Jastrow (Kr. Deutsch Krohne) dem evangelischen Prediger Willich Hände und Füße und zuletzt den Kopf abhauen und die Glieder in einen Morast werfen. Das geschah 1768.“ Gustav Freytag führt aus anderen Beispielen auch eine da- mals unter den Polen gängige Redensart an: „Vexa Luiheranum dabit Thalerum.“ Bilder a. d. deutschen Vergangenheit. Bd. IV (1880 12), S. 271 F.

€) Im Götterstaat der komischen Epopöen des 18. Jahrhunderts hat die Zwietracht in Polen ihren Sis. Z. B. Des Strumfband. Ein comisches Heldengedicht. (1765), S. 48 f. Rathlef: Der Schuh. Heroisch-comisches Gedicht. (1752), S. 15.

171

dergl. geführt hatten’). Endlich war auch das unwürdige Verhalten der polnischen Volksvertreter auf dem Reichstage von 1773, auf dem die Teilung formell zum Abschluß kam, nicht gerade dazu angetan, um aufkeimende Mitleidsregungen für die Polen zur Entfaltung zu bringen‘).

Alle diese einzelnen Momente aber wirkten zusammen, um ein eigentliches Mitgefühl weiter Kreise an dem Unglück, das Polen mit der Teilung von 1772 widerfuhr, nicht aufkommen zu lassen. Selbst das Volkslied, das doch sonst gewöhnlich für die Unglücklichen und Unterdruckten ein Herz hat, verriet wie die von Arnold bei- gebrachte Probe zeigt) bei der Teilung von 1772 nur Spott und Hohn über das von den Polen selbst verschuldete Geschick und die schadenfrohe Weisheit:

„Also geht’s: Ist erst gewichen Fried’ und Ordnung aus dem Haus, Kommt ein anderer bald geschlichen, Der es leichtlich plundert aus.“

Einem so diskreditierten Gegner gegenüber hatte Katharina, die Bandigerin der „fanatisch-grausam-rasenden Polen“:2), die in ihrem eigenen Reiche „fremden Glaubensgenossen“ die „vollkommene Ge- wissensfreiheit“ gewahrte’*), es verhältnismäßig leicht, sich die Sym- pathien ihrer deutschen Zeitgenossen auch dann zu erhalten, als sie von der Befriedung der polnischen Republik zur Aneignung einzelner ihrer Gebietsteile überging. Die deutsche Zeitstimmung in den Jahren, die der polnischen Teilung vorausgingen und folgten, hat ruckschauend der Göttinger Historiker Spittler mit den treffenden Worten charakterisiert: „Die ersten Eingriffe in die polnische Frei- heit, die bei der Konigswahi**) geschahen, achtete man kaum, weil Rußland jet nicht mehr tat, als was schon vor 30 Jahren geschehen

®) Georg Forster in sämtl. Schriften, hrsg. v. seiner Tochter, Bd. Ill (1843), S. 305, schreibt in einem Briefe aus Wilna vom 24. Juni 1785: „Doch ganze Bögen reichen nicht zu, um Ihnen einen Begriff von dem zu machen, was in den angrenzenden Gegenden Deutschlands, mit einem emphatischen Ausdruck, polnische Wirtschaft genannt wird.“

10) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 337.

11) Arnold, a. a. O. Bd. I, S. 76 f. Vgl. Müller, a. a. O. S. 6.

12) J. M. Hofmann: Katharina II., die einzige Kaiserin der Erde usw. Bd. I (1787), S. 32.

18) P. Kirchhof: Die Glückseligkeit des russ. Staats usw. (1771), S. 35. über die spätere Aufnahme der Jesuiten in Rußland durch Katharina vgl. die begeisterten Schilderungen von Frhr. von Tannenberg: Leben Katha- rina Il. (1797). Karl B. Feyerabend: Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen, Podolien usw. Bd. II (1800), S. 458 f.

14) Die Wahl Stanislaus Augusts, den Katharina 1764 im Einverständnis mit Friedrich d. Gr. den Polen aufdrängte, vgl. Bilbasov: Geschichte, a. a. O. Bd. Il, S. 542. Für das geringe Aufsehen, welches dieser Eingriff bei den deutschen Zeitgenossen machte, ist bezeichnend, daß auch Arnold, Ge- ae 15 a. O. S. 57 f., die Nachwirkungen dieses Ereignisses nur ganz

urz streift.

172

war. Die ferneren, aber tiefer fassenden Eingriffe aber vergaß man um der guten Sache der Dissidenten willen und lick das Völkerrecht zu Ehren der Toleranz-Philosophie ruhen**).“

Die Gebietserweiterung, die Rußland bei der ersten Teilung da- vontrug, schien mäßig: und eine berechtigte Entschädigung für den kostspieligen Türkenkrieg der Carin zu sein, welcher mittelbar aus ihrem Eintreten für die polnischen Dissidenten erwachsen war'’). Vor allem aber handelte es sich bei den erworbenen Landesteilen um Gebiete, von denen man mit nicht ganz taktfester Kenninis der russischen Geschichte behauptete, daß sie „noch im vergangenen Jahrhundert“ russisch waren. Diese historischen Rechte Rußlands wurden namentlich später, als die öffentliche Meinung Deutschlands längst nicht mehr so einmütig wie 1772 die Politik Katharinas billigte, mit besonderer Vorliebe von den Apologeten der Carin hervor- gehoben und als Momente zu ihrer Verteidigung ins Feld gefuhrt*®).

Wenn es auch nicht gänzlich an Stimmen fehlt, die das Schicksal Polens beklagen den sensiblen, auf jedes bedeutendere Welt- geschehnis sofort poetisch reagierenden Schubart begeisterten die Opfer der Teilung sogar zu einem seiner leidenschaftlichsten und künstlerisch hochstehendsten Gedichte, dem ersten deutschen Ge- dicht, „in dem sich deutsche Teilnahme an dem „Polenschmerz“ aus- spricht“) wenn ferner sogar schon Stimmen laut wurden, die Anklage erhoben und die Schuldfrage stellten zu ihnen gehören, abgesehen vom katholischen Klerus, der allenthalben für die Polen eintrat), auch die von Rousseaus Ideen beeinflußten Zeitgenossen —, so kennzeichneten diese Stimmen die deutsche öffentliche Meinung noch nicht. So sehr sich später der Protest, den Rousseau vom ethischen Standpunkt aus gegen die Teilung erhob, durchsefte, so wenig hat im allgemeinen dieser Protest auf die deutschen Zeit- genossen, die die Teilung von 1772 miterlebten, gewirkt. Denn diese betrachteten in überwiegender Zahl den Teilungsvorgang ohne ein erkennbares Gefühl der Verwerflichkeit nur nach dem größeren oder geringeren Vorteile, den die einzelnen Mächte davongetragen hatten®!). Noch lebte in beinahe unbestrittenem Besitze seiner

15) Samtl. Werke, hrsg. von Wächter-Spittler. Bd. IV (1828), S. 372.

16) Chronologen, Jg. 1779, Bd. II, S. 294.

17) Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur. Bd. 1 (1897), S. 194.

18) Vor allem Seume: Sämtl. Werke, hrsg. v. A. Wagner (18372), S. 450. Vgl. Hist. geneal. Kal., Jg. 1798, S.112. Mursinna: Katharina II. In Galerie aller merkwürdigen Menschen. Bd. XIII (1804), S. 47. Denkwürdigkeiten aus dem ablaufenden achizehnten Jahrhundert. (1800), S. 270.

19) Arnold, Geschichte, a. a. O. Bd. I, S. 78.

2) Ebd. S. 373. Vgl. auch Beer, a. a. O. Bd. Il, S. 314 f.: „Die einzige Macht, die zu Gunsten der Polen einen Schritt tat, war dıe römische Curie, welche eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete, um das Teilungsprojekt zu hindern. Seit dem Frühjahr 1771 wurden die katholischen Mächte Osterreich, Frankreich und Spanien bestiirmt, gegen die verabscheuungswiirdige Politik in die Schranken zu treten.“

31) Wenck, a. a. O. Bd. I, S. 256.

175

Führerschaft über die öffentliche Meinung Europas Voltaire, und Vol- taire hatte in seinem Glückwunschbriefe an Friedrich den Großen?) die polnische Teilung sanktioniert. Rousseaus Einfluß auf Deutsch- land gelangte dagegen erst gegen Ende der siebziger Jahre in der Sturm- und Drangbewegung voll zur Entfaltung. Aber auch das stärkere Einströmen seiner Ideen würde wie bereits ausgeführt allein kaum ausgereicht haben, um für einen großen Teil der deut- schen Zeitgenossen das bisher gültige Bild Katharinas zu zerstören, wenn die Einwirkung seiner Ideen nicht zusammengefallen wäre mit der Umgruppierung der Mächtekonstellation, die sich im Verlaufe der achtziger Jahre vollzog.

In den siebziger Jahren aber behaupteten das Feld der öffent- lichen Meinung noch die Aufklärer von vorrousseauscher Prägung, die Generation, die mit dem Erlebnis der Taten und Handlungen Friedrichs Il. groß geworden war, die seinen aufgeklärten Absolutis- mus als einen ungeheuren Fortschritt im Vergleich zu dem Despotis- mus der früheren Herrscher empfunden und gefeiert hatte, und die an ihm und seinen Nachahmern auf den Thronen von Petersburg und Wien als vorbildlichen Gestalten des Herrschertums festhielt.

Auch der Kampf, den diese Apologeten des aufgeklärten Ab- solutismus führten, verlief in der Hauptsache noch ganz in den her- kommlichen Formen. Wie einst Friedrich der Große seine Ansprüche auf Schlesien in einer Reihe von „Staats- und Flugschriften“ offi- ziellen und halboffiziellen Charakters’) vor der Öffentlichkeit be- gründete und begründen ließ, so hatten auch die Teilungsmächte von 1772 eine Reihe von Deklarationen erlassen, die ihren Eingriff in das polnische Landergebiet rechtfertigten™). Diese riefen natürlich sowohl von polnischer Seite als auch in den neutralen Ländern eine Anzahl von Gegenschriften hervor, in denen die in diesen De- klarationen aufgeführten Begrundungen der Rechtmäßigkeit des Vorgehens der Teilungsmächte untersucht und bestritten wurden?®). Gegen diese wandten sich wiederum die Apologeten der Monarchen von Preußen, Österreich und Rußland. Für den Umfang, den diese Polemik annahm, ist es bezeichnend, daß das Erscheinen einer der heftigsten Anklageschriften aus dem neutralen Ausland, der mit der Druckangabe London 1773 versehenen „Observations sur les décla- rations des cours de Vienne, de Petersbourg et de Berlin au sujet du démembrement de la Pologne“ vo), nicht weniger als von vier solcher apologetischen Repliken begleitet wars).

Unter diesen vier Repliken ist schon um der Persönlichkeit des Verfassers willen die bemerkenswerteste die „Beantwortung auf die in französischer Sprache erschienene Schmähschrift betitelt: An-

22) Oeuvres publiés par Beuchot. Bd. LXVIII (1833), S. 6.

28) Koser, a. a. O. Bd. IV, S. 121 f.

24) Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, Nr. 182, 199, 201, 202, 205, 216, 236. 38) Ebd. Nr. 207, 209, 211, 212, 213, 234, 235, 243, 260, 261, 289, 297.

20) Ebd. Nr. 206.

27) Ebd. Nr. 208, 214, 215, 267.

174

merkung über die Erklärung der Wiener, Petersburger und Berliner Höfe, die Zergliederung der Republik Polen betreffend von Fr. v. d. Trenck, Aachen 1773“). In der Gesinnung und Haltung dieses allerdings mehr durch seine abenteuerlichen Schicksale, seinen mehr- fachen Wechsel in der Staatszugehorigkeit er war nacheinander preußischer, russischer und österreichischer Untertan —, durch seine neuerdings angezweifelte romantische Liebesaffäre mit einer preu- zischen Prinzessin und durch seine lange Kerkerhaft auf preußischen Festungen als durch seine publizistische Tätigkeit bekannten Mannes kommt vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck, wie sehr für die durch ihn repräsentierte Generation „Credo der Aufklärung“ um diese Arnoldsche Wortpragung zu gebrauchen?) und Antipathie gegen Polen fast gleichbedeutende Dinge waren. Nach Trenck retteten die drei Mächte Polen aus seiner „Blindheit“, und er fand es sehr überflüssig und wenig angebracht, daß die polnische Pu- blizistik und ihre Parteigänger ın Europa fortfuhren, „unsere besten Fürsten Europas“ Usurpatoren „eben der Provinzen zu nennen‘, welche der polnische konföderierte Klerus, dem Trencks besonderer Haß galt und zu dessen Charakterisierung er bezeichnenderweise das Wort „türkisch“ als Ausdruck für höchsten Fanatismus und tiefsten Immoralismus braucht, „selbst zu einer Turkenmordergrube machen wollte“. Der Pole sollte Gott auf den Knien für das Wunder danken, daß seine Länder den „türkischen Mordklauen“ entrissen und in die Hände toleranter Monarchen gelegt wären. „Welcher Unterschied“ so fragt er „ein Unterthan der frommen, der besten Theresia, des großen nordischen Friedrichs oder eines nieder- trächtigen betrügerischen Mufti zu werden. Alles dieses hat Pohlen eben der erhabenen Catharina zu danken, die es durch Verführung arglistiger Bruder so grob beleidigte und dero Gnade und Mitleid es sich durch so viel schändliche Manifeste und Blutbäder unwürdig gemacht hat. Mogte doch Pohlen unserm Europa zum Schreckbilde dienen und denen die Augen offnen, die dieses Reich in seinem gegenwärtigen Zustande bedauern und über eine Zergliederung murren“ o). Härter konnte wohl nicht über Polen abgeurteilt und energischer wohl kaum wenigstens das moralische Recht der drei Ostmächte und insonderheit der russischen Carin, „welche ganz Europa bewundert und die ihre despotische Gewalt nur für den Wohlstand und für die Freyheit treuer Unterthanen braucht“), be- gründet werden als in der Broschüre Trencks*?). Daß sein Urteil

38) Ebd. Nr. 215.

239) a. a. O. S. 74.

30) Trenck, 85 17, 40 f., 59.

31) Ebd. S. 6

32) Arnolds kan über diese Schrift, der „billig zweifeln“ möchte, „ob wir es mit einer ernstgemeinten Apologie“ zu tun haben (a. a. O. S. 74 f.) erscheinen nicht überzeugend. Bilbasov (Weltliteratur a. a. O. Bd. I, S. 208 f.), der das Machwerk Trencks „äußerst oberflächlich“ findet, seht dennoch keinen Zweifel in die Ernstgemeintheit der apologetischen Tendenzen Trencks.

12 NF 5 175

aber nicht als ein zu exiremes aus dem Chorus der übrigen Zeit- stimmen herausfällt, zeigt ein Blick auf andere diesbezügliche Äußerungen deutscher Zeitgenossen. Trenck hatte ausgeführt: „Wenn ein kluger Chirurgus dem Verwundeten das wilde Fleisch mit dem Lapide infernali reinigt und ihm dadurch Schmerzen verursacht, um den kalten Brand zu verhüfen, thut er nicht ebenso recht und rühm- lich als die drey benachbarte Mächte Pohlens 7“ ) Einen solchen medizinischen Eingriff hielt auch Wekhrlin für notwendig und wohl- tätig; aber er dachte dabei nicht so sehr an das Wohl der Polen als an das Interesse, das die Zivilisation Europas an dem Aufhören der polnischen Wirtschaft hatte. Daher ging er in seiner Rechtfertigung der Teilung Polens über Trenck noch weit hinaus und rief die Teilungsmächte auf, den Teilungsakt zu wiederholen, da es auch in dem polnischen Rumpfstaat niemals zu geordneten Zuständen kommen werde*). Es war dieselbe Auffassung, die später Seume vertrat, wenn er auch noch die folgenden Teilungen „kosmisch ge- nommen“ als eine Wohltat für die Menschheit bezeichnete®s).

2.

Zur Zeit der ersten polnischen Teilung war die Parteinahme in bezug auf das Fur und Wider die Carin Katharina Il. unter ihren deutschen Zeitgenossen in der Weise vor sich gegangen, daß alles, was fortschritilich und sozusagen liberal dachte und das war der ganz überwiegend größere und vor allem der namhaftere Teil der damaligen deutschen Publizistik sich mit seinen Sympathien auf der Seite der Teilungsmächte sah, während die konservativ-reaktio- nären Elemente in Deutschland, wie überall, vornehmlich der katholische Klerus für die Sache der vergewaltigten Polen ein- traten. Dazu kamen die Vertreter einer dritten, allerdings noch in der ersten Entwicklung begriffenen Richtung, die Wortfuhrer der jungeren Generation der Aufklärung, die sich mit demokratisch- philanthropisch-pazifistischen Ideen erfüllten, wie sie mit dem Ein- flusse der Vorbilder und Lehren aus den Romanen und philosophisch- politischen Schriften Rousseaus damals in Deutschland gerade Fuß zu fassen begonnen hatten. Diese Richtung wird aber in dem fol- genden Jahrzehnt, den achtziger Jahren, immer stärker, so daß sich, je mehr wir uns dem Untergange der polnischen Republik nähern, der Charakter der oben skizzierten Parteistellung der deutschen Publizistik von 1772 diametral verändert. Denn von nun an sind es die „Erben der Aufklärung“, die sogen. Illuminaten, die in Deutsch- land die Sache der Polen verfechten, und ihnen gegenüber nehmen die als Dunkelmänner oder Obskuranten von den Illuminaten ver- spotteten oder verschrienen Hüter des Bestehenden für Katharina und Friedrich Wilhelm Il. Partei.

ss) Trenck, a. a. O. S. 47. 34) Chronologen, Jg. 1779, Bd. II, S. 94. 35) Seume, a. a. O. S. 449 f.

176

Die Bezeichnungen „Illuminaten“ und ,,Obskuranten“, die Robert Franz Arnold zur Benennung der beiden Hauptrichtungen in der damaligen deutschen Publizistik verwendet hat°‘), wollen im großen und ganzen dasselbe besagen wie unsere etwas weniger bestimmte Unterscheidung in eine ältere und eine jüngere Generation von Ver- tretern der deutschen Aufklärung, die im Streite der Meinungen sich damals als Antagonisten befehdeten. Aber ganz abgesehen davon, daß die Bezeichnung „Illuminaten“ troß der Ausdehnung auf sehr weite Kreise, die man unter diesem Begriffe zusammenfassen darf“), vielleicht noch etwas zu speziell ist), kann man diesen Ausdruck doch erst seit den neunziger Jahren gebrauchen. Denn dieses Schlag- wort, das seinen Ursprung zunächst bloß in dem 1776 von dem Ingol- stadter Universitätsprofessor Adam Weishaupt gegründeten und 1784 von der bayrischen Regierung aufgelösten „Iluminatenorden“ mit freimaurerischen und antijesuitischen Tendenzen hatte, erhielt den vollen Umfang seines Begriffes erst, als die französische Revo- Iution und ihr Widerhall in Deutschland die deutsche öffentliche Meinung in zwei große feindliche Lager schied. Damals wurde von den Verteidigern des Bestehenden, die überall hinter den Vorgängen in Frankreich die Wirkungen von geheimen Gesellschaften frei- maurerischer Provenienz witterten, die Bezeichnung „illuminat“ als Schelte für jeden gebraucht, der auch nur von ferne der Sympathie mit dem französischen Umsturze verdächtig schien, und die Geschol- tenen replizierten, indem sie mit der Bezeichnung ihrer Gegner als »Obskuranten“ die alte Wortpragung des sechzehnten Jahrhunderts von neuem in Umlauf brachten. Wir dürfen uns daher dieses Schlag- wortes erst nach dem Ausbruche der französischen Revolution bedienen.

Mit der Einwirkung der französischen Revolution auf die gleich- zeitige öffentliche Meinung Deutschlands aber haben wir ein Moment berührt, das auch für die Beurteilung der beiden lekten polnischen Teilungen durch die deutschen Publizisten von ausschlaggebender Bedeutung geworden ist. Und zwar in mehrfachem Betracht: Denn einmal führte dieses große welthistorische Ereignis dazu, daß sich die deutsche Publizistik und das deutsche Publikum in einem viel höheren Maße politisierten, als das bei den anderen Haupt- und Staatsaktionen des Jahrhunderts: Palastrevolutionen, Kriegen, Frie- densschlüssen u. dergl. bisher der Fall gewesen war). Sodann schien wenigstens in ihren Anfängen die Revolution in höch- stem Maße die freiheitlichen und philanthropischen Forderungen der

se) Arnold, a. a. O. S. 73, 135 f.

87) Vgl. darüber auch das Kapitel: „Die Revolution und der deutsche Volksgeist“ in K. T. Heigels Deutscher Geschichte seit dem Tode Friedrichs d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reiches. Bd. I (18%), S. 303 f.

ss) Arnold, a. a. O. S. 73, sagt bezeichnenderweise „die Erben der Auf- klärung, die Illuminaten und Freiheitsschwärmer“.

s) Vgl. die aufschlugreidren Belege in dem Kapitel ,,Die Revolution und der deutsche Volksgeist“ bei Heigel a. a. O.

177

Zeit zu erfüllen und bestärkte daher nicht nur die bereits in dem Geiste Rousseaus groß gewordene jüngere Generation der Auf- klärung in ihren Ideen, sondern gewann auch unter der älteren manchen Anhänger.

Es gab Zeitgenossen, die freilich stark übertreibend behaupten woliten, daß alle Gelehrten des damaligen Deutschlands Illuminaten seien‘). Selbst unter den Geistlichen beider Konfessionen griff der »Philanthropisch-kosmopolitische Schwindel des Zeitalters‘‘ um sich, so daß einer der führenden Obskuranten versicherte: „So viel ich alte und junge Theologen nach modernem Schnitt habe kennen lernen, so viel Demokraten und Verteidiger der französischen Revolution habe ich kennen lernen*).“ Diese deutschen Sympathien für die französische Revolution kamen aber auch den Polen insofern zugute, als die Zeitgenossen den Umschwung in Frankreich wie wir noch sehen werden mit der freilich nur kurzen und Episode bleibenden Wiedergeburt des polnischen Staatswesens um die Wende der acht- ziger und neunziger Jahre zu vergleichen liebten. Wie gegen die „polnische Revolution“, die sie schon im Keime zu ersticken wußte, trat aber die russische Carin auch gegen die französische Revolution als Vorkämpferin des Absolutismus in die Schranken. Zwar wollte es russischerseits zu keinen positiven Taten gegen Frankreich kommen, wie sie die Obskuranten in Deutschland von Katharina entsprechend ihres revolutionsfeindlichen Gestus erwarteten. Aber die Autorität, die sie, die lekte der großen Monarchentrias des auf- geklärten Absolutismus, als unversöhnliche Gegnerin in die Wagschale zu werfen hatte, blieb ihr bei allen Revolutionsfeinden Deutschlands um so weniger bestritten, als sie sich nicht wie die Mehrzahl ihrer gekrönten Standesgenossen zu irgendwelchen Kompromissen mit den Neufranken herbeigelassen hatte, während natürlich diese doppelte Kampfstellung der Carin gegen die östliche und die westliche Revo- lution noch mehr dazu beitrug, ihr bereits infolge der Greuel des zweiten Türkenkrieges stark geschmälertes Renommee bei den deutschen Illuminaten völlig zu zerstören. So lenkten die Ereignisse der Revolution in Frankreich das Interesse der deutschen Zeit- genossen an den Vorgängen in Polen nicht nur nicht ab, sondern ließen diese unter dem Eindrucke der großen Geschehnisse im Westen vielfach erst in einem neuen und interessanten Lichte er- scheinen. Ja, es wird vielleicht nicht zuviel gesagt sein, wenn man behauptet, ohne das Erlebnis der französischen Revolution wäre es den deutschen Zeitgenossen nicht möglich gewesen, den Grad von Wärme aufzubringen, den ihre Polensympathie beim Untergange des polnischen Reiches aufweist.

Denn diesen Sympathien standen doch gerade für die geistes- freien Kreise Deutschlands die größten Hemmungen entgegen, und wir werden uns daher nicht wundern, wenn die deutschen Urteile

0) Ebd. S. 313. 41) Ebd. S. 285 f.

178

über Polen noch lange nicht wesentlich anders klingen, als sie zur Zeit der ersten polnischen Teilung lauteten. Anläßlich des Teilungs- reichstages von 1773 hatte der sachsische Gesandte in Warschau, Baron Essen, ein notorischer Polenfreund, im Hinblick auf die scham- lose Käuflichkeit und die stumpfe Gleichgültigkeit der polnischen Landboten, die den Teilungstraktat zu genehmigen hatten, seiner Re- gierung mitgeteilt, daß die Zustände in Polen auch noch der schwär- zesten Berichierstattung in den ausländischen Journalen spottieten. Er hatte hinzugefügt: „Diese Verderbtheit und dieser Verfall der Sitten läßt mich fürchten, daß das Unglück der Nation noch nicht auf seinen Gipfel gelangt ist und daß sich über ihr ein neues Ungewitter zusammenzieht*?).“

Blicken wir etwa ein Dugend Jahre weiter, so fällt Forster, der doch gewiß kein Polenfeind war, wenn auch bei seiner galligen Schilderung sein Unbehagen uber seine verfehlte Wilnaer Wirksam- keit mit in Anschlag gebracht werden muß, in einem Briefe an Lichtenberg vom 18. Juni 1786 über die physische und moralische Verfassung des polnischen Volkes folgendes vernichtende Urteil*): „Oft habe ich mir hier schon in vollem Ernst Ihren Blick und die vortreffliche Art, die Sitten zu malen, gewünscht. Sie wurden an diesem Mischmasch von sarmatischer oder fast neuseeländischer Roheit und französischer Superfeinheit, an diesem ganz geschmack- losen, unwissenden und dennoch in Luxus, Spielsucht, Moden und äußeres Clinguent so versunkenen Volke reichlichen Stoff zum Lachen finden; oder vielleicht auch nicht; denn man lacht nur über Menschen, deren Schuld es ist, daß sie lächerlich sind; nicht über solche, die durch Regierungsformen, Auffütterung (so sollte hier die Erziehung heißen), Beispiel, Pfaffen, Despotismus der mächtigen Nachbarn, und ein Heer französischer Vagabunden und italienischer Taugenichise, schon von Jugend auf verhunzt worden sind und keine Aussicht zur künftigen Besserung vor sich haben. Das eigentliche Volk, ich meine jene Millionen Lastvieh in Menschengestalt, die hier schlechter- dings von allen Vorrechten der Menschheit ausgeschlossen sind und nicht zur Nation gerechnet werden, ohnerachtet sie den größten Haufen ausmachen; das Volk ist nunmehr wirklich durch die lang- gewohnte Sklaverei zu einem Grad der Thierheit und Fuhllosigkeit, der unbeschreiblichsten Faulheit und stockdummen Unwissenheit herab- gesunken, von welchen es vielleicht in einem Jahrhundert nicht wieder zur gleichen Stufe mit anderm europäischen Pöbel hinaufsteigen würde, wenn man auch desfalls die weisesten Maßregeln ergriff, wozu bis jeķł auch nicht der mindeste Anschein ist. Die niedrige Klasse des Adels, dessen äußerste Armuth ihn abhängig macht und zu den verächtlichsten Handarbeiten verdammt, ist fast in der näm- lichen Lage, was Dummheit und Faulheit betrifft; und in Ansehung

#3) Zit bei E. Herrmann: Gesch. des russ. Staats. Bd. V (1853), S. 542. š re poten: a. a. O. Bd. VII, S. 343 f., angeführt bei Arnold, a. a. O.

179

der kriechenden Niederträchtigkeit und des zertretenden Mißbrauchs seiner etwa bei Gelegenheit ihm zufallenden Macht ist er noch viel verworfener. Der höhere und reichere Adel ist, im ganzen genom- men, nur eine Schattierung der vorhergehenden Klassen, mit mehr Gewalt. Jeder Magnat ist ein Despot, und läßt Alles um sich her fühlen, wer er sei. Denn nichts ist über ihm, und selbst die größten Verbrechen büßt er höchstens mit einer Geldstrafe oder einem Ver- haft von etlichen Wochen, wobei er ein Palais zum Gefängnis hat und die ganze Zeit mit seinen Freunden in Schmausen und Lusibar- keiten aller Art zubringt.“ Und abermals rund fünf Jahre später urteilt Fichte auf seiner polnischen Reise von 1791, daß er den pol- nischen Staat reif für den Untergang hält gleich einer jener bau- fälligen Hütten, wie sie die polnische Hauptstadt mitten unter Pracht- palästen in so großer Zahl sehen ließ“).

Dieses letztere Urteil darf jedoch kaum zeitgemäß genannt werden. Denn Fichte kam in Warschau an, als die neue polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 bereits proklamiert war, und dieser von den polnischen Patrioten mit den optimistischsten Hoffnungen begrüßte Akt nun auch im Auslande wie mit einem Zauberschlage die völlige Umstellung der öffentlichen Meinung zugunsten der Polen bewirkte. Es vollzog sich damit ein Stimmungsumschwung von solcher Plößlichkeit, daß er sogar in der Geschichte der so wandel- baren öffentlichen Meinung ein Unikum darstellen dürfte. Der Stim- mungswechsel, der etwa fünfzig Jahre später gegenüber der Hohen Pforte eintrat, als diese ihre europäisierenden Reformen begann, und der einem verrußten Deutschen den spottenden Ärger entlockte: „Die Türken hielt man alle für ebenso großmütig als den Bassa Selim in Mozarts Enfführung“ s) war jedenfalls viel länger vorbereitet.

Allerdings steht Fichte mit seiner Skepsis unter seinen begeisfer- ten Landsleuten denn wie überall, so war auch in Deutschland die bisherige Polenverachtung umgeschlagen in eine glühende Polen- verehrung nicht völlig vereinzelt da. Aber die Stimmen, die schon damals der neuen Schöpfung keinen langen Bestand pro- phezeiten, wie der alte Polenfeind Wekhrlin**) oder wie Schiozer*’), sind nicht gerade zahlreich.

Die neue Verfassung stellte die Krönung der Reformbestrebungen des sogen. langen oder vierjährigen Reichstages dar*®), der in erster Linie die Macht der polnischen Krone verstärken wollte, damit sie in Zukunft den Umirieben der russischen Partei und der unbot-

44) J. G. Fichtes Leben u. literar. Briefwechsel, hrsg. von I. H. Fichte. Bd. I (1862), S. 125.

45) A. v. Grimm: Wanderungen nach Süd-Osten. Bd. Il (1856), S. IV. se) Paragrafen, Jg. 1791, Bd. Il, S. 217.

47) Staatsanzeigen Bd. XVI (1791), S. 328 und noch einmal Bd. XVIII (1792), S. 130.

48) Vgl. Walerian Kalinka: Der vierjährige acer Reichstag 1788 bis 5 a an Polnischen übersetzte deutsche Originalausgabe. Bd. Il 1898), S. 665 f.

180

mäßigen polnischen Aristokratie wirksam enigegenzutreten ver- mochte. Sie war unter Überrumpelung dieser russischen Söldlinge und unter Begünstigung des Gesandten des mit den Polen seit 1791 verbiindeten Preußen auf dem Wege eines Staatsstreiches ins Leben getreten. Durch sie wurden die beiden wichtigsten Adels- privilegien der bisherigen Verfassung, das Recht der Königswahl und das liberum veto, kassiert. Denn Polen sollte nach dem Tode des kinderlosen Stanislaus August ein Erbreich mit einer Dynastie aus dem sächsischen Herrscherhause bilden, und dem einzelnen Landboten wurde mit dem Aufhören seines Einspruchsrechtes und seiner Konfoderationsfreiheit die Möglichkeit genommen, nach eigener Willkür den ganzen Reichstag lahmzulegen. Des ferneren verhieß die neue Verfassung, eine Milderung der ständischen Gegen- sake und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Kon- fessionen herbeizuführen.

Man sieht, es waren Grundsäße, von denen die einen, wie die Wiederherstellung der Erbmonarchie, bei den deutschen Obskuranten ihren Eindruck nicht verfehlen konnten, während die anderen, die Beschränkung der adligen Privilegien, der Ausgleich der ständischen Gegensage und die proklamierte Toleranz den Illuminaten wohl- gefällig sein mußten. Daher der nahezu ungeteilte Beifall, den die polnische Konstitution in der gleichzeitigen deutschen öffentlichen Meinung hervorrief.

Unter den führenden Organen der Obskuranten feierte das im allgemeinen maßvolle und besonnene „Hamburger Politische Journal“ mit großer Wärme die durch die Verfassung vom J. Mai angebahnte Restauration der Monarchie in Polen. Es pries den bisher zu sehr verkannten Polenkönig wegen seines „Genies“ und seiner „Ent- schlossenheit“, mit der er in kühner Tat dem kühnen Projekte zur Wirklichkeit verholfen habe, und stellte die Prognose, daß fortan Polen wieder im Rate der Völker die seiner Größe und seiner Ge- schichte gebührende Stellung einnehmen würde; denn „solange Polen monarchisch beherrscht wurde, war es blühend und der Geseßgeber des Nordens‘). Besonders glorwürdig erschien ihm der polnische Konig im Gegensak zu dem französischen, der die Monarchie in Frankreich zu völliger Bedeutungslosigkeit habe herabsinken lassen.

Nicht minder prompt als die Organe der Obskuranten reagierten die Illuminaten auf die ihnen besonders zusagenden Verheißungen der neuen Verfassung. Am promptesten sicherlich der immer von der jeweiligen Tagesstimmung abhängige Schubart. Noch zu Anfang April hatte er wieder einmal orakelt: „Der letzte Akt des polnischen Trauerspiels dürfte sich wohl wieder mit einer neuen Zerstückelung enden ).“ Nach dem J. Mai aber kannte seine Polenbegeisterung schier keine Grenzen mehr, und seine pathetischen Ergüsse konnten kaum von den schwungvollsfen Tiraden, in denen man sich in Polen

a) Jg. 1791, Bd. I, S. 479, angeführt bei Heigel a. a. O. Bd. I. S. 386. se) Ges. Schriften, Bd. V, S. 255.

181

selbst über die neue Verfassung erging, übertroffen werden, wenn er seine Hoffnungen auf die polnische Wiedergeburt in den dem Homer abgeborgten Hexametern laut kundtat:

„Nenne Sarmatiens Dichter, nenn die heiligen Namen: Einem Monde gleicht Stanislaus an deinem Olympos,

Ihn umglühen die Vaterlandsfreunde wie leuchtende Sterne. Jauchze Polonia nun! Deine Nacht ist auf ewig gelichtet!**)“

Schubart, der schon im Oktober des Jahres 1791 starb, hat den Unter- gang des polnischen Staates nicht mehr erlebt. Er hätte uns diesen Proteus der damaligen deutschen öffentlichen Meinung vielleicht wiederum in einem neuen Gewande gezeigt.

Wie Schirach, der Herausgeber des „Hamburger Politischen Journals“, so hat auch Schubart die Vorgänge in Polen in eine Pa- rallele zu den französischen geseßzf: „Es ist ein großes Gedankenfest fur den Philosophen“ so schrieb er —, „daß sich zu gleicher Zeit zwei der mächtigsten Reiche in Europa aus einer verdorbenen Ver- fassung in eine bessere hinauszudringen sireben. Wiederherstellung der Menschenwürde, Philosophie und Freiheit Begriffe, die man in despotischen Staaten kaum ahnen darf sind jekt in Warschau wie in Paris im Schwange. Der Pole arbeitet sich aus Halbbarbarei heraus; er ist gleichsam noch halb Mensch und halb Erdkloß. Der Franke aber übernahm die weit schwerere Arbeit: die durch Gewalt- tat und Sittenlosigkeit verlorene Schnell- und Tatkraft wiederherzu- stellen. Beide Reiche brauchen einerlei Mittel, nämlich Wiederher- stellung der bürgerlichen Freiheit und Auswurzelung des Despotis- mus und Adelsstolzes‘2). Ahnliche Vergleichungen zwischen den beiden Ländern bringt er auch noch an anderen Stellen; unter dem Eindrucke des zunehmenden Radikalismus aber fallen sie für die Polen immer günstiger aus®®).

Es sollte kein Mißklang in dem Jubel der öffentlichen Meinung Deutschlands uber das sich wieder aufrichtende Polen aufkommen. Fur diese Stimmung ist vielleicht das bezeichnendste Beispiel der Reisebericht eines Anonymus, der 1791 und 92 in der „Berlinischen Monatsschrift“, des von den Obskuranten besonders heftig des Illu- minatismus verdachtigten*) Journals des alten „Löschpapierdespoten“ Nicolai erschien®). Er zeigt sich auf das geflissentlichste bemüht, alles in Polen im rosigsten Lichte zu sehen und auch überall an den Stellen, an denen man früher bei den Polen nur Tadelnswertes ge- funden hatte, sie zu verteidigen oder zu entschuldigen. Auch die „Nachrichten uber Polen“ des Militscher Kreisphysikus Kausch, der

51) Arnold, a. a. O. S. 120 f.

52) Vaterl. Chronik, Jg. 1791, S. 307.

83) Vgl. die von Arnold a. a. O. S. 121 Anm. 1 zit. Quellenstellen. se) Vgl. Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 313 f.

š 55) 13 XVIII (1791), S. 162 f. Bd. XIX (1792), S. 545 f. Bd. XX (1792), . 166 f.

182

Jenn dem

aus seiner großen ärzilichen Praxis unter dem benachbarten pol- nischen Adel) mit den polnischen Verhältnissen wohlvertraui war, „sind ebenfalls nichts als eine lange Apologie und Palinodie von seiten der Aufklärung“). Freilich vermochte der Anonymus der „Berlinischen Monatsschrift seine Besorgnis uber die Schwierigkeiten, auf die die Verfassung vom 3. Mai bei ihrer Durchführung stoßen würde, nicht zu unterdrücken). Solche Befürchtungen sollien nur zu bald zur Wirklichkeit werden. Die durch den Staatsstreich vom Mai 1791 überrumpelte russische Partei sammelte sich wieder in der Konföderation von Targowice und rief die Carin als Garantin der bisherigen Verfassung zur Intervention in Polen auf, die infolge der Beendigung ihres zweiten Türkenkrieges in der Lage war, sich den polnischen Angelegenheiten wieder mit vollem Interesse und mit voller Energie zuzuwenden. Zum Unglück Polens kam es auch an- gesichts der Vorgänge in Frankreich, die eine gemeinsame Aktion der legitimen Mächte in Deutschland gegen die Revolution herbei- führten, zu einer Verständigung zwischen Österreich und Preußen und damit zu einem Systemwechsel der preußischen Politik im Osten, dem bald auch die Verständigung mit Rußland folgte. Die Polen hatten sich den Wünschen des Berliner Kabinettes nach der Ab- tretung von Danzig und Thorn zur Abrundung der wesipreußischen Provinz immer hartnäckig widersebt.) Als aber nun Katharina mit neuen Annexionsgeliisten polnischer Gebietsteile hervortrat, da ergab sich für Preußen eine willkommene Gelegenheit, im Zusammenwirken mit Rußland diesen Lieblingswunsch Friedrich Wilhelms Il. und seines Ministers Hertzberg zu erfüllen. Infolgedessen wurde die bisherige protektionistische Polenpolitik aufgegeben, und Preußen schwenkte in das Lager der Gegner der Republik ab. Der Übermacht der rus- sischen Truppen, die bereits im Jahre der Verfassungsproklamation vom 3. Mai in Polen erschienen und denen nach der Verständigung der Petersburger und Berliner Regierung im Januar von 1793 auch noch preußische folgten, vermochten die Polen trok anfänglich tap- feren Widerstandes unter dem Fürsten Poniatowski, dem späteren napoleonischen General, und unter Taddeus Kosciusko auf die Dauer sich nicht zu erwehren.

Troß des Sieges, den KoSciusko im Juli 1792 bei Dubienka er- focht, war der König einer der ersten, der das polnische Reformwerk preisgab und das Manifest der verfassungswidrigen Targowicer Kon- föderation unterschrieb, durch das die Verfassung vom 3. Mai auf- gehoben wurde. Auf dem sogen. stummen Reichstag von Grodno wurde die Zustimmung der Nation zu der zweiten polnischen Teilung erzwungen, die Preußen Danzig und Thorn, Rußland aber alles pol- nische Land einbrachte, das östlich der Linie liegt, die Chocim und

se) Vgl. Joh. Jos. Kausch: Schicksale (1797). 87) Arnold, a. a. O. S. 119.

88) Bd. XVIII, S. 162.

8°) Vgl. Kalinka, a. a. O. Bd. II, S. 248 f.

185

Pinsk mit den Landstrichen oberhalb Dünaburgs und südlich der kurlandischen Grenze verbindet).

Für den bereits erheblich gewachsenen Einfluß der öffentlichen Meinung wie für die erschütterte Position des Absolutismus ist es ungemein bezeichnend, daß die Teilungsmächte sich in ihren De- klarationen über diesen neuen Eingriff in den polnischen Länder- bestand nicht mehr wie 1772 mit ,,staatsrechilichen Velleitaten“ be- gnügen zu dürfen glaubten“), sondern daß sie wirksamere Gründe dafür ins Feld zu führen suchten. Denn wenn sie nun ausführten, daß sie diesen Eingriff hätten vornehmen müssen, um wie in Frank- reich so auch in Polen den Jakobinismus zu bekämpfen und durch Einschränkung der polnischen Grenzen sein Übergreifen auf ihre eigenen Staaten zu verhindern, so konnten sie darauf rechnen, mit solchen Erklärungen troßdem sie die Tatsachen völlig verdrehten zum mindesten bei den Obskuranten Beifall zu finden.

Man könnte nun vielleicht meinen, daß auch die Illuminaten, deren Hoffnungen auf den Anbeginn einer neuen humanen und zivili- sierten Epoche der polnischen Geschichte durch die Konföderation von Targowice und den Reichstag von Grodno so jah zusammen- gebrochen waren, an ihren noch so jungen Sympathien mit den Polen wieder irre geworden wären. Denn die Zwietracht in Polen und die Schwäche des Königs, den sie soeben noch um seines Genies und seiner Entschlossenheit willen in den Himmel gehoben hatten, hatten zweifellos das meiste zu der Katastrophe beigetragen. Aber gerade das Gegenteil war der Fall. Denn die deutschen Publizisten aus den Iluminatenkreisen hielten, wohl nicht unbeeinflußt durch die polnische Emigration, deren erste Welle sich damals über Deutschland ergoß, an ihrer Voreingenommenheit, ihrem Mitgefühl und ihrer Bewun- derung für die Polen fest und machten allein die Teilungsmächte, insonderheit aber die Selbstherrscherin aller Reußen für das neue Unglück des polnischen Volkes verantwortlich.

War, wenn man um 1772 die Schuldfrage gestellt hatte, von Katharinas und Rußlands Anteil davon noch kaum die Rede ge- wesen®), so wurde das „tyrannische russische Kabinett“ jetzt immer lauter und schroffer der Anstiftung dieses neuen Verbrechens an der „Sache der Menschheit“ bezichtigt. Man sprach von trügerischen Fürstenworten und Fürstenversicherungen, die nur gehalten würden, wenn eine genügend starke Macht sie dazu zwängen). Es erschien eine „Untersuchung über die Rechtmäßigkeit der Teilung Polens‘) mit dem Motto „Habe ich Unrecht, so beweise mir, daß es Unrecht

eo) E. Hanisch: Die Geschichte Polens (1923), S. 260 f.

#1) Arnold, a. a. O. S. 122.

62) Ebd. S. 71.

es) Gesch. u. Darstellung d. polnischen Revolution in ihren nähern u. entferntern Ursachen, entwickeli von einem Vetter des Hippolitus a Lapide. Germanien (Leipzig) 1796 (von Carl v. Woyda), S. 73.

64) Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, Nr. 731 und Arnold a. a. O. S. 123, Anm. 1.

184

sei; habe ich aber Recht, was verfolgst Du mich?“ Es war eine Schrift, „kalt, kühn, aber wahr“, wie sich der Publizist Andreas Reb- mann ausdrückte®). Hierin wurde ausgeführt, daß Katharina als Garantin über Polen zwar glauben konnte; ein Recht zu haben, die alte Verfassung zu schiiken und die neue zu verwerfen. Polen aber bedurfte keiner fremden Hilfe, da es sich mit seiner Konstitution, die keine Rebellion, sondern eine Schöpfung zur Herbeiführung eines besseren Daseins war, selber geholfen hatte. Mit den Waffen in der Hand wurde dies Werk vernichtet und das alte verkehrte System in Polen von neuem begründet, und „das that die große gepriesene Monarchin, die Wissenschaften und Künste beschützt, die Städte und Länder anbaut, und sich durch ihre Klugheit und Festigkeit die Be- wunderung von Europa und fast der ganzen Welt erworben, aber durch diese einzige politische Finesse, durch diesen gewaltsamen Eingriff in die politischen Rechte einer freyen respektablen Nation... das ganze Gebäude ihrer Größe zerstört hat und bey jedem wohl- denkenden Manne ein Gegenstand der Verachtung geworden ist“). Von jeher habe die Carin fährt der Verfasser, die Entriistung der deutschen Philanthropen über die Greuel des zweiten Türkenkrieges wieder wachrufend, fort zur Befriedigung ihrer Herrschsucht Gut und Blut ihrer Untertanen nicht geschont. Es koste ihr keine Skrupel, einen fremden Staat zu vernichten. Sie erhebe Ansprüche auf pol- nisches Gebiet mit derselben Maßlosigkeit, wie sie Alexander der Große auf die ganze Welt und auf den „Mond gemacht hatte“). Der anonyme Verfasser der „Untersuchungen“ versichert uns, daß seine Meinung keineswegs subjektiv, sondern der „vollgültige Ausspruch“ eines großen Teiles des Publikums sei*), und wir dürfen ihm um so mehr vertrauen, als wir bereits bemerkten, wie eng die Sache Frankreichs und Polens für das Empfinden der Illuminaten sich ver- schwisterte, und wie sehr sich Katharina bei diesen deutschen Pu- blizisten dadurch in Mißkredit brachte, daß sie durch Tat und Wort ihre Annexionen und Deklarationen beide bekämpfte.

Aber wenn es sich bei solchen und ähnlichen Zornesausbrüchen der Illuminatenblätter und Schriften im wesentlichen doch nur um Abwandlungen desselben Themas handelte’), des Themas von der „ehrgeizigen“, „ruhmsüchtigen“, „ländergierigen Despotin“, das für diese im allgemeinen nur mit Moralbegriffen arbeitenden Philan- thropen seit dem zweiten Türkenkriege ein feststehendes war und blieb, so taucht im Verlauf der Erörterung der zweiten polnischen

es) Neues graues Ungeheuer, Jg. 17%, Bd. I, S. 12. es) (1794), S. 10.

7) Ebd. S. 30.

ee) Ebd. S. 27.

ee) Vgl. Der polnische Insurrektionskrieg im Jahre 1794. Nebst einigen freimütigen Nachrichten und Bemerkungen über die letzte Teilung Polens. Von einem Augenzeugen. (1797), S. 245. Joh. Fr. Albrecht: Miranda, Königin im Norden. (1798), S. 294. Katharine vor dem Richterstuhle der Menschheit. (1797), S. 39 |

185

Teilung zum erstenmal in der damaligen deutschen öffentlichen Mei- nung ein Motiv auf, das, weil es bereits politischer gefärbt ist, unser Interesse stärker in Anspruch nehmen darf als alle die bisher an- geführten Außerungen der Zeitgenossen: die nun aufkommende und seither wenigstens in den Kreisen des deutschen Liberalismus nicht mehr verstummende Furcht vor der russischen Gefahr.

Es warnien zwar einzelne Zeitstimmen davor, die russische Macht zu überschäbßen, wie die Wekhrlins, der 1788 auf die prekäre Stellung Katharinas auf dem usurpierten Carenthrone und mit keineswegs richtiger Beurteilung der russischen Verhältnisse auf die Möglichkeit ihres Sturzes durch das Bojarentum hinwies’®), oder wie die eines der damaligen deutschen Rußlandreisenden, indem er das Carenreich als einen bloß in Goldsioff gekleideten Koloß ohne Hemde nannte"). Aber in welchem Maße sich die Vorstellung einer russischen Gefahr seit der zweiten polnischen Teilung in den deutschen Zeitgenossen festgesetzt hatte, zeigt folgender Sat des hannöverschen Kanzlei- sekretars Johann Waekerhagen, der das berühmte Schlagwort des jungen Deutschland vom „Koloß auf tönernen. Füßen“ ] vorwegnahm: „Sollte dieser Koloß, wie nach polifisch- historischer Wahrscheinlich- keit doch wohl zu erwarten steht, indessen unter seiner eigenen Größe erliegen; sollie die eherne Obermasse die Füße von Ton zer- malmen: wenn sie dann nicht auf uns fällt, so werde ich mich freuen, zuviel gefürchtet zu haben’®).“ Das beweist ferner der Saß eines Apologeten Katharinas, der zu ihrer Gloriſizierung geschrieben ist, aber dabei unbeabsichtigt gerade das bedrohliche Moment der un-

te) Hyperboräische Briefe, Jg. 1788, Bd. I, S. 51: „Merken Sie sich, daß es vier bis sechs vornehme Familien in Rußland gibt, welche ehrsüchtig genug sind, ihre Gedanken bis zum Thron zu erheben. Wenigstens haben sie ihre geheimen Ansprüche darauf gewiß nicht aufgegeben. Dieses Ver- hältnis droht dem russischen Reiche heute oder morgen mit Spaltungen und Bürgerkrieg, und sichert Europa vor seinem Übermut.“ Vogl. auch Bd. Il, S. 233. Wir können in diesem Falle R. F. Arnolds Bewunderung für Wekhr- lin, dem er das Verdienst zuschreibt, „die tönernen Füße des Kolosses lange vor der Journalistik unserer Tage“ entdeckt zu haben (a. a. O. S. 7 nicht beistimmen. Seitdem die Kaiserin Anna Ivanovna im Jahre 1730 den letzten bereits schwächlichen Versuch, die bojarischen Machtansprüche des alten Moskauer Staates mit Hilfe ihrer deutschen Freunde, der Biron und Münnich, niedergeworfen halte, konnte von derartigen Ambitionen des rus- sischen Adels in der russischen Geschichte nicht mehr die Rede sein. Vgl. W. Recke: Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna. In Zeitschr. f. ost- europ. Geschichte Bd. II (1912), Heft 2, S. 202 ff.

71) Minerva, Jg. 1797, Bd. Il, S. 312. Zur Entstehung des Schlagwortes „Koloß auf tönernen Füßen“ vol. auch Elisa v. d. Recke: Mein Journal. Hrsg. u. erl. v. Johannes Werner. (1927), S. 183 (25. Mai 1794): „Bis jebt siegen die Polen noch immer. Hat das Unglück dieser Nation Energie gegeben und bleiben die Anführer unbestechbar, so kann der Koloß im Norden durch sie erschüttert werden.“

72) O. Ladendorf: Historisches Schlagworterbuch. (1906), S. 226.

18) Versuch eines Beweises, daß die Kaiserin von Rußland den West- phalischen Frieden weder garantieren könne, noch dürfe. Nebst einigen Bemerkungen über die nächsten Weltbegebenheiten. (1794), S. VII.

186

erschöpflichen Machtfülle Rußlands sehr deutlich hervorhebt: „Wer gerade dann“ sagt Erich Biester in seiner Katharina-Biographie —, „wenn die Staatskunstrichter seinen letzten Soldaten und seinen letz- ten Rubel berechnet zu haben glauben, mit furchtbarer Menschenzahl auftritt und Millionen in großmütiger Verschwendung wegschenkt, muß doch nicht am Ende seiner Kräfte und seines Reichtums stehen“ )].“ Wir werden bei unseren Betrachtungen über den Wandel in der Beurteilung des Teschener Friedens und der Garantierechte der deutschen Reichsverfassung, die Rußland in dem Friedensver- trage von 1779 eingeräumt wurden, noch darauf zurückzukommen haben.

Hier sei nur noch ein Zeitdokument erwähnt, das das Vordringen der russischen Macht nach Westen weniger unter dem Gesichtspunkte einer Deutschland bedrohenden Politik als unter dem kosmo- politischen einer Zivilisationsgefahr behandelt und aufs engste mit Katharinas Aggressivität gegen die französische Revolution in Ver- bindung bringt. Es ist um so bedeutsamer, als es aus dem Kreise eines aufgeklärten Fürsten jener Tage stammt. Der Herzog Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein und der dänische Dichter Jens Bag- gensen haben dieser Art von Russenfurcht in ihrem Briefwechsel typischen Ausdruck verliehen. Katharina figuriert unter den Chiffren dieser Briefe als die Stierin, wobei wohl weniger an die erotische Unersättlichkeit der Carin als an das schonungslose Vordringen ge- dacht werden soll. Die beiden Briefschreiber empfinden es als eine Infamie, daß „die große Tartarei“ Polen nicht zur Ruhe kommen läßt und daß diese „Madame Attila“ mit einem „hunnischen Aufmarsch“ gegen Frankreich drohe und in „überhunnischen Manifesfen“ sich als die Herrin der Welt aufspiele: „Ein barbarischer, abscheulicher, alle, selbst die wenigst delikate Menschheit empörender Stoff.“ „Er- innern sich Ew. Durchlaucht““ schreibt Baggensen noch vor Ab- schluß der polnischen Teilung —, „die Besorgniß, die ich einst vor etwa anderthalb Jahren äußerte damals nur aus allgemeiner Physiognomie der Weltgeschichte abstrahiert es möchte unserer heutigen Cultur eine ähnliche Zerstörung aus Nordasien bedrohen, wie die aus Nordeuropa ehemals der Römischen? wahrlich, die Despotin scheint die Weissagung aufs Wort nehmen zu wollen. Der Überfall jener Hunnen und Gothen und Wandalen hat wenigstens nichts barbarischeres als die gegenwärtige Verkehrungs- und Ver- heerungs-Ansfalfen der nur einem Schirach noch immer verehrungs- würdigen Nordischen Semiramis’).“ Wie sehr Friedrich Christian mit solchen Ausfällen seines Freundes einverstanden war, zeigt sein ungefähr um dieselbe Zeit geschriebener Brief an den Grafen A.P. von Bernstorff, in dem er Katharinas Unternehmungen als ebenso

74) Abriß des Lebens u. d. Regierung d. Kaiserin Katharina ll. (1797), S. 120.

78) Timoleon und Immanuel. Dokumente einer Freundschaft. Brief- wechsel zwischen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein und Jens Bag- gensen. Hrsg. v. H. Schulz. (1910), S. 81, 166, 170, 224.

187

unklug wie unmoralisch verurteilt: Sie bedecke sich wirklich nicht mit Ruhm, wenn sie, die Ehre der Kronen zu retien, mit Waffen gegen republikanische Grundsake kämpft”®).

Eine weit herbere Einbuße aber als durch alles Bisherige sollte das Katharinabild der deutschen Zeitgenossen erfahren, als nun den vergewaltigten Polen in Taddeus Kosciusko ein Rächer erstand, der noch einmal im allerlesten Augenblicke ihrer staatlichen Existenz den alten kriegerischen Geist der Nation wachzurufen vermochte, freilich nur, um nach glänzenden Anfangserfolgen im Oktober 1794 bei Maciejowice von den Russen unter Suvorov vernichtend ge- schlagen zu werden und selber als Verwundeter in die Gefangen- schaft des Gegners zu geraten. „Sein tapferer Versuch scheiterte an der Überlegenheit der disziplinierten Truppen. Auch ein Kosciusko konnte nicht aufhalten, was Jahrhunderte vorbereitet hatten, konnte die Schlachta nicht zu einem Heere machen, das einem Suvorov hätte widerstehen koönnen’”).“

Wir vermögen uns das Ausmaß der Wirkung, welche die Er- hebung der Polen unter Kosciusko auf die deutschen Zeitgenossen hatte, etwas deutlicher zu vergegenwartigen, wenn wir an eine uns zeitlich naher liegende analoge Erscheinung in der Geschichte denken wie an den Heldenkampf der Buren gegen den britischen Imperia- lismus. Aber vor dem Burenkriege, dessen zum Teil geradezu phantastische Dimensionen annehmende Wirkung auf unsere offent- liche Meinung noch in aller Erinnerung ist, hat die polnische Er- hebung von 1794 das voraus, daß sie in Kosciusko einen wirklichen Helden hervorgebracht hat, „den einzigen Helden des Polentums unter Stanislaus August“ (v. d. Brüggen), und daß dieser infolge- dessen im Vergleich mit der großen Gegenspielerin als eine kom- mensurable Größe gewertet werden konnte. Hinzu kam nach dem meteorhaft plößlichen und glänzenden Aufstieg die Krone des Mar- tyrıums und das mit stoischer Würde „nach dem Vorbilde altrömischer Biirgerhelden“ ertragene Exil. Hinzu, daß durch seine Tat die Schmach von Targowice, vor der doch auch die gluhendsten Polen- freunde die Augen nicht völlig zu schließen vermochien, mehr als gesühnt gelten konnte, und das um so mehr, als es gerade die bis dahin wegen ihrer halb tierischen Verstumpftheit so viel gescholtenen polnischen Bauern waren man denke an Forsiers Schilderungen —, die sich mit Kosciusko erhoben und zahlreich um ihn scharten?®). Hinzu endlich das noch relativ große Freisein von nationalistischer Befangenheit, die es in diesen Zeiten des sich erst keimhaft ent- wickelnden Nationalismus selbst den gegen die Polen fechtenden Offizieren wie Hermann von Boyen oder dem später durch seine fruchtbare Literatentätigkeit bekannt gewordenen Julius von Voß er-

76) Aus dem Briefwechsel des Herzogs Friedrich Christian zu Schles- wig-Holstein. Hrsg. v. H. Schulz. (1913), S. 105.

77) E. v. d. Brüggen: Polens Auflösung. (1900), S. 369. 78) Arnold, a. a. O. S. 123 u. 127.

188

‘eae ae ———

möglichten, über Kosciusko nicht nur gerecht, sondern auch mit sympathischer Wärme zu urteilen’*).

Unter dem Zusammenwirken dieser einzelnen Umstände glühte nicht nur die Flamme der deutschen Polenbegeisterung von neuem hell auf, sondern wurde auch eine seltene Übereinstimmung der Meinungen erzielt. „An Kosciusko, so scheint es“ sagi Arnold —, „erlahmte der Zwist der Parteien®).‘“ Es waren doch wohl nur ganz wenige Obskurantenorgane, die fortfuhren, ihren Lesern die ab- gedroschene Mär von dem „Jakobiner“ Kosciusko aufzutischen. Wohl oder übel, zum Teil aber auch selber angesteckt von der überall hindringenden Kosciusko-Begeisterung, mußten sich die meisten schon aus Rücksicht für ihr Publikum dazu verstehen, Kosciusko wenigstens mit Attributen wie „edler Schwärmer“, „wohlmeinender Patriot“ und dergl. zu bedenken®). Wenn Zeitgenossen überliefern, daß die Polen halb Europa zu teilnehmenden Zuschauern ihres Kampfes gehabt hätten, daß kaum je ein gefallener Feldherr so beklagt worden sei wie Kosciusko, so ist das keine leere Phrase, sondern im buchsiäblichen Sinne des Wortes aufzufassen®?).

Es ist hier nicht der Ort, um auf den deutschen Kosciusko-Kult jener Tage, dem Robert Franz Arnold neben seiner „Geschichte der deutschen Polenliteratur“ noch ein besonderes kleines Werk ge- widmet hats), näher einzugehen. Uns interessiert hier nur die Kehr- seite der Medaille: die Frage: in welcher Weise oder vielleicht besser: in welchem Grade hat die deutsche Kosciusko-Begeisterung auf die damalige deutsche Beurteilung der Carin Katharina zurückgewirkt? Denn nach dem bisher Gesagten erscheint es beinahe selbstver- ständlich, daß diese Rückwirkung das Katharinabild der Illuminaten qualitativ kaum mit neuen Zügen auszustatten vermochte; es konnte sich vielmehr dabei nur um eine quantitaiive Häufung von neuen Einzelheiten aus der Gegenwart und bisher noch nicht angewendeten Vergleichen aus der Geschichte handeln, die geeignet waren, die einzelnen, seit dem Ende der achiziger Jahre bereits unveränderlich feststehenden Grundzüge dieses Bildes immer mehr zu unterstreichen und zu vergröbern. So enthält die infolge der Vorgänge in Polen abermals auf das heftigste entbrennende Polemik der Illuminaten gegen die Carin kaum ein neues Argument oder auch nur einen neuen Gesichtspunkt, sondern beschränkt sich darauf, die bereits während des zweiten Turkenkrieges der Carin und der zweiten Teilung gemachten Vorwürfe zu wiederholen. Die Phraseologie der deutschen Zeitstimmen, die nach der mit großen Blutopfern erkauften Einnahme von Praga, der festen Vorstadt Warschaus, durch Suvorov (4. November 1794) laut wurden, gleicht beinahe bis aufs Haar dem

19) Ebd. S. 129 ff.

80) Ebd. S. 128.

81) Beispiele ebd.

82) Hist. geneal. Kal., jg. 1797, S. 112 f.

83) Taddeus Kosciusko in der deutschen Literatur. (1898).

189

sentimentalen Wort- und Bilderschwall, in dem sich nach den Er- stürmungen von Očakov und Ismail die Entrüstung dieser pazifisti- schen Philanthropen entladen hatte: „Schlächter“, „Tiger“, „Henker“, „Würgeengel“, „Sense“, „Tamerlan II.“, „der neue Tamerlan“, „der Tamerlan unserer Zeit“, „der Muley Ismael unseres Welffeils“, „Held Suvorov mörderischen Andenkens“ ), solche Ehrentitel fielen auch diesmal wieder hageldicht auf den russischen Feldherrn nieder. „Die Würde der Geschichte wird entweiht“ erklärte selbst ein so maß- volles Organ wie die „Minerva“ des Hauptmanns von Archenholz —, „wenn sie das Leben dieses Mannes aufzeichnet®).“ Es ist inter- essant, zu beobachten, wie in den sehr erheblich voneinander ab- weichenden Verlusiziffern, die verschiedene deutsche publizistische Organe in ihrer Berichterstattung über den Sturm auf Praga ver- öffentlichten, sich die Parteizugehörigkeit zu den Freunden und zu den Widersachern der Carin deutlich widerspiegelt. Das reaktionäre „Hamburger Politische Journal“ zählte 11 000 Tote®*), die „Minerva“ 14 00087), der ,,Obskurantenalmanach“ 18 000°) und der Verfasser des Pamphlets ,,Katharine vor dem Richterstuhle der Menschheit“ 20 000 Opfer). Teils, um die französischen Schreckensmänner zu entlasten, teils um den russischen General durch diesen Vergleich zu deteriorieren, wurde Suvorov von den radikalsten unter den deutschen Illuminaten mit Robespierre, Carrier und Jordan coupe- tete verglichen, der übrigens wie das „Neue graue Ungeheuer“ versicherte „auf der. Leiter der Geschöpfe“ noch um viele Stufen höher stände als der Feldherr Katharinas).

Das einzige, wodurch sich diese auf die Dauer recht eintonige und öde Polemik von der der achtziger Jahre unterscheidet, ist eine zunehmende Respektlosigkeit gegen die gekrönten Häupter und soweit das noch möglich war eine zunehmende Verrohung des Tones. Das Niveau des deutschen Journalismus der achiziger Jahre war mehr oder weniger bestimmt worden durch Vorbilder wie Schubart und Wekhrlin. Beide waren kurz nacheinander in den Jahren 1790 und 91 dahingegangen. An ihre Stelle trat eine Art von Wekhrlin-Epigonen, die den linken Flügel der Illuminatenpublizistik immer mehr beherrschten. Allerdings wichen diese hyperradikalen Zeitgenossen in ihrer Gesinnung erheblich von dem im Grunde seines Herzens aristokratisch fühlenden Wekhrlin ab, und ihr Epigonentum bestand lediglich in einer ganz äußerlichen und häufig „bis zur Un- kenntlichkeit vergroberten“ Nachahmung der journalistischen Metho-

8) Arnold, a. a. O. S. 156.

85) Jg. 1797. Bd. IV, S. 293.

se) Jg. 1794, S. 1293.

87) Jg. 1797, Bd. IV, S. 293.

88) Jg. 1798, S. 71. Vgl. jg. 1799, S. 38. ae) S. 39 f.

vo) Arnold, a. a. O. S. 158.

190

den des hochgepriesenen Meisters"). Es möge genügen, wenn wir, um diese Richtung zu kennzeichnen, nur ihren Hauptführer Andreas Rebmann zu Worte kommen lassen.

Erst Rebmann blieb es vorbehalten, das lekte an Massivität, was das überschwenglichste Pathos und die ausgeklügeltste Ironie der Zeit hergaben, aufzubieten, um Katharina damit zu überschütten. Erst er hat restlos alles ausgenukt und hervorgeholt, was ihm einer- seits der Schlagwortvorrat der Zeitgeschichte und andererseits sein Spüreifer nach Vergleichsobjekten aus übelbeleumundeten Epochen der Vergangenheit zur Brandmarkung der Carin zur Verfügung stellte. In einem Atem beschuldigt er sie des Jakobinismus und des Moskovitismus und traf mit dieser Synthese sogar insofern das Richtige, als sich ja tatsächlich Katharina nach den liberalen An- fängen ihrer Regierung immer mehr zu einer strengeren Autokratin entwickelt hatte, einer Entwicklung, die auch für die Lebensgeschichten ihrer Nachfolger, Alexander I. und Alexander II., so charakteristisch ist. Mit schneidendem Hohn zitiert er die Verse Gleims: „Ergöbßen möcht ich mich an den gepriesenen Zügen des menschenfreund- lichsten Gesichts“, um demgegenüber sein ganz in das düstere Kolorit eines Gemäldes aus der Zeit Ivans des Grausamen getauchtes Katharinabild aufzurollen: „Wer Katharina war, das erzählen die Thränen ihrer Völker, die vor Hunger oder Knutenstriemen starben, während die 16 Hauptgünstlinge in 33 Regierungsjahren 400 Millionen Livres wegfraßen ..... Die Geschichte ihres kaiserlichen Lebens war der vollendeiste Jakobinismus, insofern dieser in Besudelung aller göttlichen und menschlichen Geseke bestehen soll, es war eine ununterbrochene Bordell- und Giftmischergeschichte, wobei die Heucheley andächtelnd mit Crucifix, Bibel und Kniebeugung vor dem Popenvolke in öffentlicher Kirche und bewaffnet mit Dolch, Strick, Henkerstreichen und Verbannung für die Gegner der Einsiedeley von Sarskoe Selo den Vorsib führte. In Catharinens Kopfe wohnte eine Legion von Teufeln, die klug waren; ihr Herz war ein harter Diamant, aber glänzend geschliffen; sie kannte das Licht, wußte es für sich zu gebrauchen, aber in die Viehhöhlen zu ihren Russen sollte es nicht kommen®?).“ Und nichts lastete so drückend auf diesen fanatischen Moralisten vom Schlage Rebmanns wie das Bewußtsein, daß das Verdammungsurteil, das sie als angemaßte Richter ihrer Zeit immer wieder von neuem über dieses „Non plus ultra eines bösen Weibes“, „diese gekrönte Raubnachbarin des Königs von Polen“, „diese Mahl- mühle“, „Sklavenpeitsche und Geißel der blutenden Menschheit“ ge- fällt und laut verkündet hatten, sicherlich an Katharina, wenigstens zu ihren Lebenszeiten, nicht vollstreckt werden würde und daß sie es der Nachwelt überlassen müßten, dieses Strafgericht zu voll- ziehen. Sie wollten es jedoch nicht unterlassen, der Nachwelt dieses Werk als heiliges Vermächtnis zur Pflicht zu machen:

%1) Ebd. S. 165.

#2) Obskuranten-Almanach, Jg. 1798, S. 5, 42, 304 ff.: „Rußland die dunkle Landkarte oder ein Blitz durch Europens Finsternis.“

13NF5 191

„Aber Fluch dem Ruhm und Fluch den gräßlichen Siegen, Wie ihn der Tiger erstrebt, wie die Hyäne siegt,

Seid ihr ewig geschändet im Munde richtender Nachwelt, Wie im weinenden Aug edlerer Mitwelt ihr seid**).“

So übertrieben und fast ans Lächerliche streifend uns heute viel- fach diese Ergüsse der Illuminaten gegen Katharina erscheinen mögen, die Apologeten der Carin hatten zweifellos solchen Pam- phleten gegenüber einen schweren Stand. War der Ideenschaß ihrer Gegner wenig reichhaltig und mannigfaltig, so war er in seiner pri- mitiven Durchsichtigkeit desto eindrucksvoller und trug überdies dem Empfindsamkeitsbedürfnis und der Tugendsehnsucht der Zeit im höchsten Maße Rechnung.

Demgegenüber verfügte die Ideologie der Apologeten Katha- rinas kaum über eine gleich zugkräftige Parole. Mit der einen Aus- nahme Seumes, der es grundsätzlich ablehnte, ,,Volkersachen nach den fesigesekten Regeln eines philosophisch-bürgerlichen Moral- systems zu beurteilen“%*), wagten es die Verteidiger Katharinas und der Teilungsmächte offenbar noch nicht, sich auf einen rein realpoli- tischen Standpunkt zu stellen und die Vergewaltigung der Polen zwar zuzugeben, aber sie mit den höheren Gewalten der biologisch- historischen Bedingtheiten der Staatenbildung zu begründen und zu rechifertigen. Wie schwer und langsam eine solche Auffassung in Deutschland an Boden gewann, dafür ist eine bisher wenig be- achtete®) Stelle aus den Aufzeichnungen des Kanzlers von Müller über seine mit Goethe geführten Gespräche überaus bezeich- nend. Am 1. Januar 1832, mitten in der Hohezeit der deutschen Polenschwärmerei, verteidigte Goethe ähnlich wie Seume die Politik der Teilungsmächte mit folgenden Worten: „Ich stelle mich höher als die gewöhnlichen platten moralischen Politiker; ich spreche es geradezu aus: Kein König hält Wort, kann es nicht halten, muß stets den gebieterischen Umständen nachgeben; die Polen wären doch untergegangen, mußten nach ihrer ganzen verwirrten Sinnesweise untergehen; sollte Preußen mit leeren Händen dabei ausgehen, während Rußland und Österreich zugriffen? Für uns arme Philister ist die entgegengesetzte Handlungsweise Pflicht, nicht für die Mäch- tigen der Erde.“ Der Kanzler bemerkte dazu: „Diese Maxime widerte mich an, ich bekampfte sie, jedoch erfolglos“)

Da die Apologeten der Carin es aber noch nicht wagten, sich auf eine so amoralische Betrachtungsweise einzustellen, so blieb ihnen nichts anderes iibrig, als immer wieder mit den beiden bis zum überdruß wiederholten Argumenten zu operieren, daz man den Polen jede Entwicklungsmöglichkeit zu einer besseren Zukunft ab-

63) Daniel Falk: Satir. Werke. Bd. III (1826), S. 30 f. da) Werke, a. a. O. S. 457. ss) Die Goethesche Verteidigung scheint Müller a. a. O. unbekannt zu sein.

883) Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, neu hrsg. v. Fl. Frhr. v. Bieder- mann. Bd. IV (1910), S. 425 f. l

192

sprach") und die Carin als Pazifikatorin feierte, die den polnischen Unruhen zum Heile Europas ein Ende gemacht habe) und auch die Revolution im Westen energisch bekämpfe. Allerdings ging Katha- rina in ihrer Bekämpfung der Revolution nicht viel über eine moralische Unterstützung der gegenrevolutionaren Elemente hinaus. Die aktive Bekämpfung gedachte sie zunächst wenigstens den deut- schen Herrschern zu überlassen, und in diesem Sinne schlug ihr Gesandter am Wiener Hofe folgende Arbeitseinteilung vor: jeder von beiden Höfen hat eine ernste Mission zu erfüllen und eine Gegenrevolution durchzuführen, der österreichische in Paris und der russische in Warschau®®). Erst nach der Durchführung der polnischen Teilung hat sie sich zu einer aktiveren Politik gegen Frankreich ent- schlossen, und wohl nur ihr Tod verhinderte sie an einer größeren Aktion gegen dasselbe’™). Infolge dieser Zurückhaltung Katharinas aber büßte natürlich das Argument, das sie als Schukgeist und als Erretterin Europas hinstellte, viel an seiner demonstrativen Wirk- samkeit ein, und in der Obskurantenliteratur konnte es nur in der Weise verwendet werden, daß sie ausführte: „Diese Vormauer wider den französischen Schwindelgeist war stark genug, um die anderen

57) Tannenberg, a. a. O. S. 242 f.

°°) Das Polit. Journal, Jg. 1794, S. 1295, vgl. Jg. 1796, S. 1243, betrachtete die Teilungen „als eine Begebenheit, die wegen der damit verbundenen Rückkehr des Friedens in dieses durch die unglückselige Freiheitsschwär- merei verwiistete Land für die Menschheit ebenso angenehm ist, als sie durch ihren bedeutenden Einfluß auf andere Länder von großen Folgen sein wird“. Vgl. Denkwürdigkeiten aus dem ablaufenden 18. Jahrhundert. (1800), S. 506. C. F. A. Grashoff: Einige Ideen zur Beantwortung der Frage: Wie läßt sich die Bildung einer Nation am leichtesten und sichersten auf eine andere übertragen. (1796), S. VII.

über Katharina als energische ‘Bekampferin der franz. Revolution vgl. W. Frhr. v. Byern: Was kann man von Rußland in den jetzigen kritischen Zeitumstanden zum Wohl der Menschheit hoffen? (1794), S. 62: „Von dieser großen, mächtigen und weisen Macht können wir mit Recht hoffen und er- warten, daß sie dem bedrängten Europa den goldenen Frieden wieder Zanen, daß sie den französischen Horden Ziel und Schranken schen wird.“

8) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 454.

100) Fine aktivere Politik Katharinas gegen das revolutionäre Frankreich setzt ein nach Abschluß des Vertrages mit England (25. März 1793), in dem

sich beide Mächte zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichteten. Am 22. Juli

1793 verließ der russ. Admiral Cilagov mit einer aus 25 Linienschiffen, 7 Fregatten und 6 leichten Fahrzeugen bestehenden Flotte die Häfen von Reval und Kronstadt, um vereint mit der englischen Flotte in der Nordsee zu kreuzen. Vgl. Michailovskij-Danilevskij und Miljutin: Gesch. des Krieges Rußlands mit Frankreich unter der Regierung Kaiser Pauls I. im Jahre 17%. A. d. Russ. übersetzt von Chr. Schmitt, Bd. I (1856), S. 7. Uber später geplante Aktionen vgl. A. Brückner: Katharine II. und die französische Revolution in Russische Revue Bd. III (1873), S. 52 ff. und seine Geschichte Katharinas, a. a. O. S. 552 f. Wie sehr die Furcht vor einer kommenden Aktion die deutschen Revolutionsfreunde in Atem hielt, bezeugt „Katharine vor dem Richterstuhle”, a. a. O. S. 44: „Welche neue zum Verderben der Menschheit reichende Plane würde ihr später erfolgter Tod vielleicht doch noch zur Reife gebracht haben.“ .— Vgl. auch kurzgefaßte Lebensgesch. Catharina Il. (1797), S. 76 f. u. S. 89 f.

195

Fürsten zu ermannen und Unternehmungen zu bewirken, die sonst nie geschehen wären!“)“, eine Wendung, die sich übrigens als schmeichelhafte Floskel auch in einem Briefe Leopolds Il. findet (9. September 1791), in dem er auf das Drängen der Kaiserin ant- wortet, „nur die Lauheit der europäischen Mächte hindere ihn, mit der nämlichen Entschiedenheit gegen die Revolutionäre aufzutreten, wie sie die große Kaiserin, auch hierin Muster und Vorbild für alle Souveraine, an den Tag lege“:®). Aber auch in solcher Form konnte dieses Argument nicht mehr recht verfangen, nachdem der König von Preußen, um bei der Verteilung der polnischen Beute in der dritten Teilung nicht völlig leer auszugehen, von der gegenrevo- lutionaren Koalition zurücktrat, durch den unrühmlichen Frieden von Basel das linke deutsche Rheinufer den Franzosen preisgab und damit erst recht eigentlich an die Revolution auslieferte.

Daß das andere Hauptargument der Apologeten Katharinas noch von weit geringerer Wirkungskraft war, brauchen wir nicht erst aus- drucklich hervorzuheben. Denn den Hinweisen der Obskuranten auf die Unmöglichkeit einer Gesundung des polnischen Staates und der polnischen Gesellschaft konnte von den Illuminaten jederzeit auf das wirksamste mit der Erklärung begegnet werden, daß man den bereits sich anbahnenden Gesundungsprozeß durch die Aufhebung der Kon- stitution vom 3. Mai und durch die sich daran anschließenden Teilungen mit roher Gewalt verhindert habe.

Vor allem aber wurde die ganze Aktion der Obskuranten da- durch lahmgelegt, daß sich unter ihnen Zwietracht erhob. Denn auch in diesem Lager war man. der Carin nicht mehr durchweg wohl- gesinnt. Die Obskuranten strenger Observanz, die überall nach Anstiftern des großen Umsturzes suchten, machten schließlich auch nicht einmal vor der großen Revolutionsgegnerin Katharina halt, sondern sekten sie auf die schwarze Liste „Königlicher und fürst- licher Philosophenschüler“, die den Revolutionsgeist mittelbar oder unmittelbar gezüchtet hätten und somit eigentlich die Hauptschuld an der schweren Not der Zeit trügen!®). Der Kuriosität halber sei noch angemerkt, daß Katharina von den ihr treu Gebliebenen auch gegen den Vorwurf in Schuß genommen werden mußte, daß die russischen Regimentskapellen die Marseillaise spielten:®®).

Weit wichtiger als dieser Streit der Meinungen unter den deut- schen Tagesschriftstellern aber war es für die endgültige Beurteilung Katharinas durch ihre deutschen Zeitgenossen, daß auch die vom Streben nach Objektivität beseelte deutsche Geschichtsschreibung sich infolge der zweiten und dritten polnischen Teilung gegen Ka- tharina wandte und die Verurteilung ihrer polnischen Politik auch auf die erste Teilung ausdehnte, um derentwillen die Carin in den

101) Vgl. Biester, a. a. O. S. 284 f. Tannenberg, a. a. S. 233. 102) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 454.

103) Arnold, a. a. O. S. 146.

104) Mursinna Galerie, a. a. O. Bd. XIII, S. 77.

194

siebziger Jahren so gefeiert worden war’). Eine so innerlich un- abhängige und freie Natur wie Ludwig Timotheus Spittler nannte die polnischen Teilungen: „Ein kunstvolles Gewebe, recht nach Römer- Art angelegt und nach Romer-Ari vollendet. Nicht bloß ein zahl- reiches freies Volk mußte um seine Freiheit und Nationalstolz ge- bracht, sondern auch das europäische Publikum eingeschläfert werden. Die Reunionen Ludwigs XIV. waren ein Geringes gegen das, was Ka- tharina ll. in Polen und gegen Polen that. Wie laut aber und wie heftig wurde gegen jene geschrien, und wie wenig Wahrheitsstimmen er- hoben sich zu Ehren des alten Völkerrechts, da kein Recht mehr zwischen Rußland und Polen zu sein schien?**)“ Aber auch die anderen Vertreter der Göttinger Historikerschule haben mit wenigen Ausnahmen das Verhalten Katharinas gegen die Polen öffentlich gemißbilligt?”), und für die Durchschlagskraft der Wirkung ihres Urteils ist es bezeichnend, daß auch die begeisiertsten Verehrer

Katharinas sich ihren Einwendungen nicht völlig zu verschließen ver- mochten?®),

J.

Der zweite Türkenkrieg Katharinas, ihr Krieg mit Schweden, vor allem aber das Schicksal Polens hatte die öffentliche Meinung Deutschlands gelehrt, die russische Macht zu fürchten. Dieses Ge- fuhl war ungefähr dreizehn Jahre vorher, als im Bayrischen Erbfolge- krieg die Carin gemeinsam mit Frankreich die Friedensvermittlung zwischen Österreich und Preußer übernahm, den deutschen Zeit- genossen noch völlig unbekannt. Obwohl durch den Teschener Ver- trag vom 13. Mai 1779 die russische Einmischung in die Ängelegen- heiten des Reichs gewissermaßen geseflich fesigestellt worden war!®), entsprach es nicht der damals vorherrschenden Auffassung, an der Garantie des Vertrages durch Rußland irgendwelchen Anstoß zu nehmen. Es war ganz selbstverstandlich, daß fremde Mächte Verträge oder Verfassungen eines anderen Staates garantierten, wie etwa Frankreich und Schweden den Westfälischen Frieden oder Rußland die polnische! oder schwedische Verfassung. „Tröstliche Aussichten vor die Erhaltung der Verfassung, Freiheit und Ruhe Teutschlands“ meinte der Jurist Gerstlacher in seinem Corpus juris

108) Joh. v. Muller: Samtl. Werke Bd. XXIV (1833), S. 210, vgl. Bd. XXV, S. 60 sagt ohne nähere Mofivierung: „Ich bin übrigens weit entfernt ent- schuldigen zu wollen, was der unglückseligen Republik geschah, doch poli- tisch laßt sich für den König (Friedrich II.) das meiste anführen.“ Diese Stelle findet sich nur in der ersten Ausgabe (1787) der Darstellung des Fürstenbundes, in der zweiten verbesserten (1788) dagegen ist sıe fort- geblieben. Vgl. re Fr. E. Preuß: Friedrich d. Gr. Eine Lebensgeschichte. Bd. IV (1834), S. 44

199) Werke, a. a. O. Bd. Il, S. 423.

107) Arnold, a. a. O. S. 135.

106) Vgl. Biester, der die erwähnte Stelle Spiiflers zitiert, a. a. O. S. 122. 109) A. Unzer: Der Friede von Teschen. (1906), S. 424.

195

germanici „wenn man zumal die ganz besonders teilnehmende Art damit verbindet, womit die große Catharina von Rußland in Ab- sicht auf Deutschland und den Westphälischen Frieden insbesondere sich erklaret haf“ 110).

Das Publikum feierte die Carin als Friedensbringerin, da es froh war, einen neuen Kampf zwischen den deutschen Mächten verhindert zu sehen. Ihrer Befriedigung über den Schritt Katharinas verliehen aber die einzelnen Höfe weit stärkeren Ausdruck. Friedrich der Große teilte der Carin in schmeichelhafter Weise mit, daß Rußland fur. das Reich in Zukunft ein Bollwerk zum Schutze gegen die Tyrannei der Casaren sein würden], aber auch Maria Theresia sprach Katharina aufs nachdrücklichste ihren Dank für die Friedens- vermittlung aus:). „Alle gebildeten Leute in Wien“, berichtete Golicyn, der russische Gesandte am österreichischen Hofe, „bezeich- nen die Kaiserin von Rußland als Schiedsrichterin in diesem Kriege und als Retterin der österreichischen Monarchie‘). Die russische Einmischung in diese Reichsangelegenheit wurde überall mit Genug- tuung empfunden, und der Freiherr von Asseburg, der seit 1773 die Interessen Rußlands am Regensburger Reichstage vertrat, hatte von mehreren angesehenen Reichsfürsten Schreiben empfangen, in denen diese der Carin ihre Befriedigung über die Intervention aussprachen: „On ne demande pas mieux“, so bezeichnete er die Stimmung, „que de voir l’influence de la Russie augmenter et s’affermir de plus au plus dans Il’Empire“:). Dieser international gefärbte deutsche Diplomat schmeichelte dem Verdienste Katharinas: „Es ist ein wahres Glück für Deutschland, daß die Garantie unseres erhabenen Hofes, welche durch den Beitritt des Reiches und seines Oberhauptes zu dem Frieden von Teschen jetzt anerkannt ist, ein Gegengewicht von der größten Bedeutung gegen alles errichtet, was seine Verfassung in Gefahr bringen kann.“ Den politischen Wert der Abmachung für das Carenreich verstand Asseburg bereits vollkommen richtig ein- zuschaken, wenn er ausführte, daß Rußland von nun an nach Gefallen an den weltlichen und geistlichen Angelegenheiten des Reiches teil- nehmen werde).

Die überwiegend kosmopolitisch gesonnene und von natio- nalistischer Empfindlichkeit noch so gut wie völlig freie deutsche Öffentlichkeit war beglückt, den Frieden erhalten zu sehen, und küm- merte sich nicht sonderlich darum, ob ein Garant mehr oder weniger die deutschen Reichsgrundgesefe verbiirgte. Dennoch waren ein- zelne Politiker von Fach in Unruhe über die Stellung, die Rußland

110) Corpus juris germanici Bd. II (1784), S. 641. 8 . ee imperatorskago istoriteskago ob3cesiva Bd. XX (1877), 112) Alexander Brückner: Katharina, a. a. O. S. 317. 118) Ebd. 114) Denkwürdigkeiten des Freiherrn Achak v. d. Asseburg. (1842), S. 341. 118) Ebd. S. 295. Vgl. E. Reimann: Gesch. d, bayrischen Erbfolge- krieges. (1869), S. 236.

196

durch den Teschener Frieden in Mitteleuropa erhalten hatte. Bereits 1764 meinte vorausschauend der sächsische Diplomat Essen, als er die Haltung Katharinas in Polen beobachtete: Alles, was in Polen geschehe, erscheine nur als Vorbereitung für ein entfernteres Ziel der Carin, nämlich die Vermehrung ihres Ansehens und Einflusses in Deutschland).

Wenn Friedrich der Große in seiner „Histoire de mon temps“ in dem Abschnitte über den Krieg von 1778 mit keinem Worte des Zu- wachses von Einfluß gedenkt!!’), den Rußland im Teschener Frieden auf die deutschen Angelegenheiten gewann, so läßt sich wohl sein Schweigen am besten mit dem Unbehagen erklären, welches der König darüber empfinden mußte, daß er, um sich die bereits gefähr- dete russische Bundesfreundschaft zu erhalten, selber dazu bei- getragen hatte, Katharina bei der Erlangung dieses Einflusses auf Deutschland behilflich zu sein’**). Daß die Handlungsweise Preußens und Österreichs beim Abschlusse des Teschener Friedens späterhin Angriffen von seiten der deutschen öffentlichen Meinung ausgeseft war, wissen wir aus den Memoiren von Christian Wilhelm von Dohm, und dieser eifrige Apologet Friedrichs des Großen hat auch in dieser heiklen Angelegenheit seinen Helden mit dem Hinweise auf dessen Zwangslage verteidigt. Nachdem der Wiener Hof so führte er aus zuerst Rußlands Vermittlung in Anspruch genommen hatte, konnte Preußen die Mitwirkung der Carin nicht ablehnen, „die es bei den bestehenden freundschaftlichen Verhältnissen sich geneigt halten mute)“ Daß das Schweigen Friedrichs ebenfalls nicht auf Unterschätzung Rußlands zurückzuführen ist, zeigen andere Stellen aus seinen Werken z. B. das Politische Testament von 1768 —, wo sich der König voller Besorgnis vor dem Anwachsen der russischen Macht und vor der Möglichkeit eines Rückfalles in seine Lage von 1756 zeigt.

In ein akutes Stadium scheint die Frage der russischen Inter- vention in die Angelegenheiten des Reiches für die deutsche offent- liche Meinung zum ersten Male im Jahre 1791 getreten zu sein. Als das revolutionäre Frankreich den Kurfürsten von Trier bedrängte, weil er duldete, daß die französischen Emigranten seine Residenz Koblenz zum Zentrum ihrer antirevolutionären Bestrebungen machten, da wandte sich dieser um Unterstüßung an den Kaiser und die deut- schen Fürsten und schließlich, da seine Hilferufe ungehört blieben, an die russische Carin als die „Garantin des westfälischen Friedens- vertrages“. Diese Aktion, an der sich anscheinend auch noch andere westdeutsche Reichsfürsten, namentlich die auf dem linken Rheinufer beteiligten, rief mehrere Broschüren hervor, in denen für und wider den Schritt des Kurfürsten Clemens Wenzeslaus gestritten wurde,

116) E. Herrmann, a. a. O. Bd. V, S. 425.

117) Vgl. A. Unzer, a. a. O. S. 424.

118) Vgl. die Ausführungen E. Herrmanns, a. a. O. Bd. VI, S. 21 f. 119) Denkwürdigkeiten meiner Zeit. Bd. I (1814), S. 246.

197

obwohl Katharina gar nicht daran dachie, in diesem Falle von ihren Garantierechten ernsthaft Gebrauch zu machen?**). Diese Broschüren- polemik ist außerordentlich aufschlußreich für die Entwicklung, die die öffentliche Meinung Deutschlands in nationalistischem Sinne in- zwischen genommen hatte. Zwei Momente stehen dabei im Vorder- grund, die Auswirkung der französischen Revolution und der Eindruck, den die beiden lebten polnischen Teilungen in Deutschland hervor- riefen.

In seiner historischen Beirachtung „Jahrhunderts-Ende vor 100 Jahren und jetzt“ (1896) hat Max Lenz auf die Taisache hingewiesen, daß aus allen Revolutionen des neunzehnien Jahrhunderts die Natio- nalitaten immer selbständiger hervorgegangen sind. Das war auch mindesiens bis zu einem gewissen Grade schon bei der ersten dieser großen Umsturzbewegungen, der französischen Revolution von 1789, der Fall. „Internationalere Ideen,“ sagi Lenz, „hat es nicht gegeben als die Sage der Menschenrechte, mit denen die große Revolution begann ..... aber alles schlug den Revolutionären ins Gegenteil um, und statt der Ara der Humanität kam die der natio- nalen Demokratieen*#*).“

Wurde aber durch solche Auswirkungen der französischen Re- volution in Deutschland eine bisher noch nicht gekannte nationa- listische Empfindlichkeit geweckt, so mußten natürlich die beiden letzten Teilungen Polens von einer Generation, die sich mit der französischen Revolution auf das Recht der Nation auf freie Selbst- bestimmung stüßte, ganz anders angesehen und eingeschätzt werden als von den kosmopolitischen Aufklärern, die der ersten Teilung aus „kosmischen“ und dergleichen Gründen bedingungslos zugestimmt hatten.

Das Schicksal Polens wurde jekt wie eine drohende Warnung empfunden, eine Warnung wie das biblische Meneiekel: „Gezählt, gewogen und zerstückt“ fur das eigene Geschick. „Wieder und wieder,“ sagt Robert Franz Arnold, „hebt die zeitgenössische Lite- ratur und nicht bloß die der Radikalen gewisse unabweisbare Ähnlichkeiten zwischen Polen und dem Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation hervor... Selbst Halboffiziose des Wiener Hofes wiesen geflissentlich darauf hin, daß auch das deutsche Reich wie Polen durch systematische Schwächung der eigenen Zentralgewalt allmählich von seiner Machtstellung in Europa zu einer fast komischen Scheinexistenz herabgesunken sei; als Polen unterging, weissagten viele Einsichtige dem deutschen Reich ein ähnliches Schicksal... So einleuchtend waren diese Analogien, daß ein Anonymus von 1797 ein Buch von 176 Seiten darüber aufbauen konnie und Herder sie ein Jahr später poetisch verklärte:22).“

120) Vgl. B. v. Bilbasov: Ekaterina Il. i. Gr. N. P. Rumjancev. In Russ- kaja starina, Bd. LXXXI (1894), Februarheft, S. 82 f.

121) Ausgewählte Vorträge und Aufsätze in: Deutsche Bücherei, Bd. 18/18a do. J.), S. 210 f.

122) Arnold, a. a. O. S. 144.

198

„Deutschland, schlummerst Du noch? Siehe, was rings um Dich,

Was Dir selber geschah. Fuhl’ es, ermuntre Dich, Ehe die Schärfe des Siegers Dir mit Hohne den Scheitel bloßt!

Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst,

Und wie stolz! o sie kniet, Ehren- und Schmuckberaubt, Mit zerrissenem Busen

Vor drei Mächtigen, und verstummet.

Ach, es halfen ihr nicht ihre Magnaten, nicht Ihre Edeln, es half keiner der Namen ihr, Die aus tapferer Vorzeit

Ewig glänzen am Sterngezeli.

Und nun, wende den Blick! Schau die zerfallenen Trummer, welche man sonst Burge der Freiheit hieß, Unzerstörbare Nester!

Ein Wurf stürzte die Sichern hin.

Weiter schaue. Du siehst, ferne im Osten steht

Dir ein Riese; Du selbst lehretest ihn, sein Schwert, Seine Keule zu schwingen.

Zorndorf probte sie auch an Dir.

Schau gen Westen; es droht fertig in jedem Kampf, Vielgewandt und eniglüht, troßend auf Glück und Macht Dir ein anderer Kämpfer,

Der Dir schon eine Locke nahm.

Und Du saumetest noch, Dich zu ermannen, Dich Klug zu einen? Du säumst, kleinlich im Eigennuß, Statt des Polnischen Reichstags,

Dich zu ordnen, ein mächtig Volk?

Soll Dein Name verwehn? Willst Du zerteilet auch Knien vor Fremden? Und ist keiner der Väter Dir, Dir Dein eigenes Herz nicht,

Deine Sprache nicht alles werth?

Sprich, mit welcher? o sprich, welcher begehriest Du Sie zu tauschen? Dein Herz, soll es des Gallier, Des Cosacken, Kalmucken

Pulsschlag frohnen. Ermunire Dich.

199

Wer sich selber nicht schützt, ist er der Freiheit werth? Der gemahleten, die nur ihm gegönnet ward.

Ach die Pfeile des Bündels!

Einzeln bricht sie der Knabe leicht***).“

Der Broschürenstreit, der sich an den Bemühungen Clemens Wenzeslaus von Trier um Herbeiführung der russischen Intervention entzundete, steht noch in dem Anfange dieser Bewegung. Damals war die zweite Teilung Polens noch nicht vollzogen worden. Aber Rußland war schon zugunsten der Konföderation von Targowice eingeschritten, und die Teilung von 1793 warf bereits ihre Schatten voraus. Dementsprechend stießen der Kurmainzische Hofrat Roth und die „Unpartheiischen Gedanken über die vom Kurtrierischen Hofe geschehene Anrufung der Kaiserin von Rußland um Unter- stützung gegen die Eingriffe Frankreichs“ auf den heftigsten Wider- spruch. Sie hatten nämlich das Interventionsgesuch des Trierer Kur- fürsten in der herkömmlichen Weise mit einem Hinweis auf die Geseb- mäßigkeit der Garantieverträge verteidigt und bewiesen, daß die russische Carin nach Artikel 12 des Teschener Friedens, der den Westfälischen erneuerte, und nach Artikel 16, der die Garanten be- stimmte, auch zur Garantin über die deutschen Reichsgrundgesebe geworden war::). In den Repliken auf diese beiden Schriften wurde darauf aufmerksam gemacht, daß in Artikel 12 die Veriräge von Osnabrück und Münster doch nur erneuert und bestätigt wären, „comme s’ils y’élaient inserés mot à mot “ie, und daraus gefolgert, daß nur die Garanien des Friedens von 1648 gemeint wären, während Rußland damals nicht paktiert hatte und daher nur Burge für Teschen blieb. In einem so wichtigen Punkte hätte die Bestimmung über die Garanten des Wesifälischen Friedens abgeändert und in einem be- sonderen Artikel die Garantie über die Reichsgrundgesefe auf das Carenreich erweitert werden müssen. „Fehlt es aber an der Absicht und dem Willen“ so hebt v. d. Becke, der Verfasser der Broschure: „ist die Kaiserin von Rußland Garant der westfälischen Friedens- schlüsse?“, hervor —, „die Garantie des Westfälischen Friedens an Rußland zu überiragen und so die Zahl der Garanten zu vermehren, so folgt daraus, daß es deren Garant nicht geworden sey, wenn es auch diese Garantie zu übernehmen den Wunsch und die Absicht gehabt hatte. Wohithaten werden niemandem aufgedrungen, am wenigsten solche, die für denjenigen, dem sie geleistet werden sollen,

123) Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. XXIX (1889), S. 210. 134) (1792): Vgl. Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, S. 670.

135) J. R. Roth: Ist die Kaiserin von Rußland Garant des westphal. Friedens? (1791), S. 10 f.

126) Z. B. Unpartheiische Prüfung der Frage: Ob die Kaiserin von Rub- land durch den Teschener Frieden die Garantie des westphal. Friedens übertragen erhalten habe und in der Eigenschaft als Garantin desselben nun gegen Frankreich auftreten könne. (1791), 8 3.

200

höchst bedenklich seyn können, und unter unabhängigen souverainen Staaten würde das gar eine Verletzung des Völkerrechts seyn**’).“

Aber viel stärker als solche staatsrechtlichen Deduktionen ge- langte in diesen Repliken die neugeweckte nationale Empfindlichkeit zum Ausdruck: „..... Jedes Mal soll unser Vaterland,“ heißt es in der oben zitierten Schrift des hannöverschem Adelsgeschlechte ent- stammenden v. d. Becke, „sich der Gefahr ausgesetzt sehen, daß große Heere halbwilder Tataren und Kosaken, die Bestürmer Ok- zakow’s in sein Innerstes wüthen! Welcher wahre Patriot schaudert nicht vor diesem Gedanken zurück ?“

Vollends aber in der bereits schon unter dem Eindrucke der zweiten polnischen Teilung verfaßten Broschüre des hannöverschen Kanzleisekretärs Johann Wackerhagen wurde der Versuch eines Be- weises erbracht, „daß die Kaiserin von Rußland den Westfälischen Frieden weder garantieren könne noch dürfe:!®).“ Zwar lag es Wackerhagen fern, „durch sinnreiche Sophismen“ die Absichten einer großen Regentin wie Katharina. Il. zu verdächtigen und da, „wo andere vielleicht den lieblichsten Nachtigallenschlag zu vernehmen glauben, nur unglückweissagenden Eulenruf hören zu wollen“; aber er wurde zu sehr beeinflußt von den jüngsten Vorfällen in Polen: „Polen ist nicht mehr der Schlagbaum zwischen uns und Rußland.“ Wenn auch die Carin im wahrsten Sinne des Wortes die nordische Semiramis sei, ihre Politik aber wolle es nicht vermeiden, bei jeder Veranlassung ein gewisses protektorisches Interesse, eine Mitilerrolle zwischen Kaiser und Ständen zu „affektieren“. Namentlich seit dem Teschener Frieden würdige sie das Deuische Reich eines besonderen Interesses in geradezu furchtgebietender Weise, während sie doch nur darauf zu achten habe, daß der Vertrag von 1779 aufrechi- erhalien werde. Man kame nicht umhin, die deutsche Politik der Carin als eine Vorbereitung für künftige Eroberungen, wie sie in Polen gemacht würden, anzusehen: „Nur noch einige scharfgeladene Kanonen mehr vor das Rathaus zu Grodno, nur noch ein Tedeum in der Kapelle zu Petersburg, und die ungeheure Lawine liegt vor den Thoren unseres Vaterlandes. Und wir sollten russische Garan- tieen unserer Konstitution annehmen? Unsere Freiheit vielleicht dereinst von Kosaken und Tatarenschwarmen mißhandeln lassen? Nein, nimmermehr?*)!“

Während die Möglichkeit eines Eingriffes Rußlands in die deut- schen Angelegenheiten auf Grund des Teschener Vertrages eine neue katharinafeindliche Welle in der deutschen öffentlichen Meinung emporsteigen ließ, brachte ihr ein anderer Eingriff in die west- europäische Politik, den Katharina ein knappes jahr nach der Teschener Friedensvermittlung tat, bei Freund und Feind Bewunde-

127) (1793), S. 35 u. 37.

128) Ebd. S. 35 f.

130) Versuch eines Beweises usw. (1794), a. a. O.

T ce S. at, 111, 120, 143. Die Garantie lehnt selbst Erich Biester, a. a 239, a

201

rung oder wenigsiens Anerkennung ein. Am 10. Marz 1780 hatte die Carin die Deklaration an die Höfe von London, Versailles und Madrid erlassen, in der sie die Rechte des neutralen Seehandels fesisekie und als Hauptpunkt die Anerkennung des Grundsabes „frei Schiff frei Gut“ forderte). Sie trat damit in einen Gegen- Satz zu England, das als geltendes Völkerrecht den Sak „frei Schiff unfrei Gut“ bezeichnete und durch rücksichislose Durchforschung der neuiralen Schiffe nach feindlicher oder für die Feinde bestimmter Ladung sowie durch willkürliche Ausdehnung des Begriffs der Konter- bande lebhafte Entrustung in allen Handel und Schiffahrt treibenden Kreisen veranlaßte). Katharina gelang es, durch die bewaffnete Neutralität von 1780—83 alle ihre Ansprüche und namentlich die Schutzkraff der neutralen Flagge auch von England respektiert zu schen). Noch nie zuvor waren die Grundsätze des freien Verkehrs während des damals geführten amerikanischen Krieges so bestimmt ausgesprochen und verteidigt worden wie jetzt, und daher mußte die bewaffnete Neutralität den Zeitgenossen als ein ebenso glänzender wie berechtigter Triumph der russischen Kaiserin erscheinen.

In anerkennenden Worten pries Friedrich ll., der früher selbst einmal genötigt war, gegen die englische Willkür auf See einzu- schreiten’**), Katharina als die Gese5sgeberin der Meere und wollte Peter dem Großen in den Elyseischen Gefilden unter anderen Groß- taten der Carin auch die der Befreiung des Ozeans melden!“). Joseph Il. ließ sich in seinen Briefen an Katharina kaum weniger schmeichelhaft uber dieses Ereignis aus***), und ein weiterer Kor- respondent der Carin, Friedrich Melchior Grimm, nannte sie die „bewaffnete Neutralitatsprofessorin“, ohne welche Sireitigkeiten in Europa überhaupt nicht mehr zu schlichten wären!)

Hinter diesen gewissermaßen privaten Huldigungen blieben die in der deutschen öffentlichen Meinung nicht zurück. Da schrieb das „Politische Journal“, das in Hamburg an bester Quelle die Wirkung der bewaffneten Neutralität studieren konnte, daß noch nie eine solch allgemeine Sicherheit auf den Meeren, ein freier Handel und unein-

Fer Carl Bergbohm: Die Bewaffnete Neutralität von 1780—1783. (1883),

132) Seume, Werke, a. a. O. S. 452, sagt: „Die Engländer übten in dem lebten amerikanischen Kriege mit ungewöhnlicher Willkür eine Despotie, die unerhort war, indem sie mit ihrer überlegenen Seemacht alle Schiffe als Prisen aufbrachten, von denen sie nur die entferntesten Mutmagungen haben konnten, daß sie mit den Feinden handelten. Sie dehnten dabei den Begriff der Kriegsbedürfnisse so weit aus, daß man nach ihrer Bestimmung den Franzosen oder Spaniern durchaus gar nichts hätte zuführen dürfen, und nach dem Wohlgefallen der Briten allen Umgang mit diesen Nationen hätte abbrechen müssen.“ Vgl. auch Krauel: Preußen u. d. bewaffnete Neutralität in Forsch. zur brandenb.-preuß. Gesch., Bd XXI (1908), S. 410 f.

133) Bergbohm, a. a. O. S. 210.

138) vgl. Krauel, a. a. O. Bd. XXI, S. 411 f.

135) Sbornik, a. a. O. Bd. XX (1877), S. 393 ff.

136) A. v. Arneth: Joseph ll. u. Katharina ll. Ihr Briefwechsel. (1869), S. 4 f. u. 130 f.

137) Sbornik, a. a. O. Bd. XLIV (1884), S. 113.

202

geschränkte Schiffahrt mitten im Kriege gesehen worden wären bis auf die Zeit, wo die „unsterbliche Katharina“ ein allgemeines See- gesek gab: „Ein solches Ereignis ist ohne Beyspiel in der Geschichte, sowie es die ausgebreitetste Wohlthat ist, die jemals einer Menge von Ländern auf eine so wirksame Weise gegeben worden'2®). Oder andere hoben hervor, daß das ganze europäische Publikum, insonder- heit das handeltreibende, Katharina zu unendlichem Danke verpflichtet wäre. Denn unter dem Schuke der bewaffneten Neutralität hatte der Handel gewonnen „zum großen Verdrusse der Engländer“, die, wie man sagte, „vorzüglich in ihren Kriegen dahin arbeiten, den Handel anderer Nationen, die sie als Nebenbuhlerinnen ansehen, zu ver- derben.“ Ganz offensichtlich trat zutage, dak den größten Nuben Dänemark, Schweden und Preußen aus der neugeschaffenen Lage zogen, während Rußland, das die bewaffnete Neutralität in Aktion gesetzt hatte, den verhältnismäßig geringsten Vorteil davontrug, indem, da sein Aktivhandel nicht florierte, nur eine Steigerung im Passivhandel zu vermerken warte. Um so größer mußte daher das Verdienst der Carin eingeschätzt werden, „je weniger sie selbst un- mittelbar ausgezeichnete Vorteile dadurch gewann“). Nirgends haben wohl die Zeitgenossen Katharina vorgeworfen, sie habe sich bei der Begründung der bewaffneten Neutralität von Motiven der Herrschsucht leiten lassen.

Vor allem aber wurde die bewaffnete Neutralität gepriesen als Etappe auf dem Wege zur Humanisierung des Seekrieges. Man be- merkte, daß die Carin bemüht war, „den Krieg in vernünftige Grenzen einzuschränken‘; und so konnten denn auch die Menschen- freunde befriedigt sein: „Die Idee und ihre Ausfülnung war gewiß so herrlich“ führte Seume aus —, „hatte so sehr das Gepräge der Humanität und der allgemeinen Philanthropie, daß ich kaum begreife, warum man bloß dieses einzigen Gedankens wegen nicht Katha- rinens Namen mit wahrer Dankbarkeit nennt‘).

Der neutrale Seebund von 1780—83 richtete sich in seinen Be- stimmungen gegen England. Die deutschen Zeitgenossen begrün- deten die plößliche Abkehr der ,,anglomanen“*** Carin von ihrer bis- herigen freundschaftlichen Gesinnung für England mit dem Umstande zweifellos wohl kaum mit vollem Recht —, daß ihr Minister Panin wider Wissen und Willen Katharinas, die mit der Deklaration und Flottendemonstration etwas zugunsten Englands, zum mindesien aber gegen Spanien ausführen wollte, die tatsächliche Spitze der Aktion

138) Jg. 1781, S. 500 f.

139) Seume, Werke, a. a. O. S. 452. Vgl. Biester, a. a. O. S. 259.

140) Seume, Werke, a. a. O. S. 452. H. v. Storch: Gemälde v. Rußland am nn ge Jahrhunderts. Bd. VI (1798), S. 27. Vgl. dazu Bergbohm, a. a

141) Seume, Werke, a. a. O. S. 452.

142) Ebd.

143) Katharina hat mehrfach in ihren Äußerungen, z. B. im Brief an Vol- taire vom 6. Juli 1772, ihre Vorliebe fiir England und die englische Kultur zum Ausdruck gebracht und diese Vorliebe als Anglomanie bezeichnet.

205

gegen England kehrie!*). Bei einer solchen Beurteilung der Vor- gänge hatte so könnte man meinen der Ruhm der Carin als der eigentlichen Urheberin der bewaffneten Neutralität leicht ge- mindert und verdunkelt werden können, zumal in einer Zeit, wo der Stern der Kaiserin in der deutschen öffentlichen Meinung schon im Sinken begriffen war. Es sind aber Zeugnisse vorhanden, die das Gegenteil beweisen. Der Göttinger Historiker Spittler, der als Han- noveraner und gewissermaßen englischer Uniertan schon deshalb Anlaß gehabt hatte, sich über das Vorgehen der Carin abfällig zu äußern, stellte in einem seiner Hauptwerke den Sag auf, daß die Carin seit der Stiftung der bewaffneten Neutralität ihre Größe mit einem Glanze umgab, „mit dem wirklich in der ganzen Geschichte nichts verglichen werden kann als die angebetete Autorität der Römer nach geendigtem Illyrischem Krieg“).

Auch wenn die Zeitgenossen wie Christian Wilhelm von Dohm in Panin den intellektuellen Urheber der bewaffneten Neutralität sahen, so wollten sie doch bei der Ausführung dieses Projektes Katharinas Verdienst nicht vergessen. Nach Dohm war die bewaff- nete Neutralität „das Werk der Geschicklichkeit des Staatsmannes, welcher einer Laune seiner Monarchin eine andere Richtung gab, als sie selbst ahndete, und einer Verlegenheit begegnete, in welche diese Laune den Staat zu bringen drohete. Ist gleich dieser Ur- sprung minder glänzend, als es oft behauptet worden, so bleibt Panins Verdienst, der die Idee hatte, und Katharinens Verdienst, welche sie annahm, nicht minder glänzend. Der Ruhm, den Katha- rina ll., von ihrem Minister geleitet, sich in dieser Angelegenheit er- worben, ist der edelste ihrer Regierung“). Und Dohms Urteil wiegt um so schwerer, als dieser begeisterte Verehrer Friedrichs des Großen im allgemeinen zu den notorischen Gegnern der Carin gehört.

Schluß.

Es liegt nahe, diese der zeitgenössischen Beurteilung von Ka- tharinas li. auswärtigen Politik gewidmeten Ausführungen nicht zu beschließen, ohne noch die Frage aufgeworfen zu haben, ob und in- wiefern die Tatsache der deutschen Abkunft dieser russischen Carin als Faktor bei der Bildung der öffentlichen Meinung über sie im da- maligen Deutschland eine Rolle gespielt hat. Da läßt sich nun so- gleich feststellen, daß die Zeitstimmen, die dieses Umstandes ge- denken, innerhalb der Fülle von zeitgenössischen deutschen Auße- rungen, die wir über Katharina besitzen, doch stark zurücktreten. Es laßt sich ferner feststellen, daß diese Zeitstimmen fast ausnahmslos

144) Graf Schlitz-Goertz: The secret history of the armed pean together with memoirs etc. by a German Nobleman, translated by H... (1792). Vogl. Bergbohm, a. a. O. S. 236. Dasselbe 1 unter dem Titel: Mémoire, ou précis historique sur la neutralité armée et son origine, suivi de pieces justificatives. (1801.)

145) Werke, a. a. :

146) a. a. O. Bd. Il, S. 116 fl.

204

auf die Jahre um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts entfallen. Endlich, daß die literarischen Gegner Katharinas soweit wir schen diesem Momente überhaupt keine Beachtung geschenkt haben. Wenn es die späteren, den Zeiten eines entwickelieren Nationalbewuftseins enistammenden Beurteiler der Carin wohl nur selten unterlassen haben, über das leidenschaftliche Bemühen dieser deuischen Fürstin, „sich selbst zu russifizieren“:), ihre Betrachtungen anzustellen, wenn es um ein Beispiel anzuführen in einem während des Welt- krieges, d. h. einer Hochkonjunkturperiode des Nationalismus, er- schienenen deutschen Zeitschriftenaufsaße”) heißt: „Eine Freude ist es wahrhaftig nicht, am weligeschichilichen Beispiele der „deutschen Carin“ Katharina ll., die ein Prinzeßchen von Anhalt-Zerbst gewesen, zu beobachten, wie trefflich Deutsche zu verausländern imstande sind“, so zeigen sich die Zeitgenossen Katharinas von solchen Emp- findlichkeiten noch wenig berührt. Selbst denjenigen unier ihren literarischen Widersachern, in welchen wie wir sahen die rus- sische Expansionspolitik schon deutlichere Vorstellungen von einer auch Deutschland mittelbar oder unmittelbar bedrohenden „russischen Gefahr“ auslöste, scheint es nicht in den Sinn gekommen zu sein, der Carin deswegen Vorwürfe zu machen, weil sie, die geborene Deutsche, nur russische Politik trieb, ohne sich dabei um die deut- schen Interessen zu bekümmern. Eher schon wurde wohl einmal die Hoffnung ausgesprochen, Katharina könne sich als Verireierin des aufgeklärten deutschen Absolutismus und seiner höheren Gesittung dazu bereit finden lassen, den Expansionsdrang ihrer russischen Um- gebung zu zügeln. In diesem Sinne wandte sich in einem Briefe vom 23. Februar 1795 „der alte Hüfner“ Gleim an die Fürstin Pauline zur Lippe, eine geborene Prinzessin von Anhalt-Bernburg, und bat sie als nahe Verwandte und deutsche Standesgenossin der Carin, durch persönliche Interzession bei dieser für eine Milderung der rus- sischen Expansionspolitik zu wirken. Mit einer allerdings wohl kaum zu überbietenden politischen und psychologischen Harmlosigkeit schrieb er angesichts des Zusammenbruches der polnischen Erhebung von 1794: „Ach! und jetzt gehen wieder erschreckende Gerüchte! Rußland, sagt man, wolle bis ins Unendliche sich vergrößern. Hätte es mit diesem Willen seine Richtigkeit, so fielen die eroberten Volker in die alte Barbarei ohne Zweifel wieder zurück. Die Selbsf- herrscherin von Rußland kann nun aber diesen Humanität tödtenden bösen Willen nicht haben; sie stammt ja aus dem humanen deutschen Fürstenhause von Anhalt und liebt, wie Pauline, die Musen; also hat ihr Senat den oben angeführten bösen Willen! Ach! Durch- lauchtigste Fürstin ...... möchten Sie ihr doch sagen können: Sie solle dem Willen ihres Senats nicht folgen; ihr eigener Wille, das schon unübersehliche Reich im Innern zu einem unabsehbaren Pa-

8 . Gesch. Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Bd. I 3) W. Rath: Das Deutsche in Katharina Il. Konservative Monatsschrift. jg. 74 (1916/17), Dezemberheft, S. 210.

205

radiese zu machen, sei der bessere Wille; folge sie diesem, dann erst wäre sie Selbstherrscherin, wäre des Menschengeschlechtes wahre Wohlthaterin®).“

Wenn praktische Politiker wie die europäischen Diplomaten am Petersburger Hofe beobachteten, daß Katharina „sich selbst mit dem entschiedensien Eifer für eine Russin gab“), daß sie wie der preußische Gesandie Graf Solms an Friedrich den Großen schrieb es als ihren Hauptfehler („vice capital“) betrachtete, nicht als Russin geboren zu sein®), so nahmen sie das als ein durch die unsichere Stellung der Kaiserin auf dem usurpierten Throne bedingtes Faktum hin, das sie als eine gegebene Größe in ihre politische Kalkulation einstellten. Für den sentimentalen Kosmopolitismus ihrer deutschen literarischen Beurteiler hatte dagegen eine solche Beobachtung leicht einen unangenehmen Beigeschmack, nicht deshalb, weil damit Ka- tharina ihre deutsche Vergangenheit verleugnete, sondern weil ihm jede nationalistische Einstellung eine mit der Weltweite des kosmo- politischen Empfindens nicht zu vereinende Eingeschränktheit, ja Beschränktheit bedeutete, im besten Falle eine „heroische Schwach- heit“, wie Lessing gesagt hatte’). Demgegenüber empfand dann gerade der Bewunderer Katharinas das Bedürfnis, sich den vollen Umfang ihrer Leistung als Vertreterin der Aufklärung und des Toleranzgedankens zu vergegenwärtigen, um auf diese Weise für sein Endurteil ihre ihm anstößige nationalistische Befangenheit zu kompensieren. Hierfür ist eine Stelle aus den „Kosmopolitischen Wanderungen“ des wesfpreußischen Literaten Karl Feyerabend be- zeichnend?). „Sie, aus Politik eine Russin“, schreibt Feyerabend, »verstatiete jeder Religionsparthey eine unumschrankte Freyheit in ihren Gebrauchen und Sitten..... Nie ist irgendein Andersdenkender seit dem Laufe ihrer merkwürdigen Regierung gemißhandelt oder gar unterdrückt. Ihre Seele schien von dem edlen Wunsche des großen Stifters unserer Religion belebt, sie wollte eine Herde und einen Hirten schaffen.... Alle Menschen waren ihr gleich, was sie glaubten und predigten, wenn sie nur ruhig und still lebten. Diese in dieser Hinsicht so musiervolle Fürstin steckte in Verbindung mit dem großen Friedrich das erste Licht der Aufklärung im Norden an. Heiden und Muhammedaner, Griechen und Unierte, Catholiken und Protestanten, alle lebten in süßer Einigkeit bey einander und ver- folgten sich nicht. Um die Einigkeit der Partheyen zu erhalten, ver- anstaltete sie zuweilen kleine Feste, wo die Geistlichkeit aus allen

s) P. Rachel: Fürstin Pauline zur Lippe und Herzog Friedrich Christian von Augustenburg. (1903), S. 20 f.

4) Th. v. Bernhardi: Gesch. Rußlands und der europäischen Politik in den jahren 1814—1831. Bd. II (1875), Teil 2, S. 207

s) Am 7. August 1772. S. Politische Korrespondenz Friedrichs d. Gr. Bd. XXXII (1908), S. 422

e Lessing an Gleim, bei W. Wenck: Deutschland vor 100 Jahren. Bd. I (1887), S. 134.

7) Bd. II (1803), S. 4

206

Sekten zusammenkam, sich freundschaftlich besprach, brüderlich die gemeinschaftliche Freude genoß, die ihnen ihre große Monarchin bereitete, und friedlich wieder auseinanderging“. Interessant ist auch der ebenso echt aufklärerisch gedachte wie vom Standpunkte der religiösen Denker unter den Slavophilen unmögliche Schlußsab Feyerabends: „Vom Thron verbreitet sich das Licht der Duldung über den ungesitteten Haufen. Das edle Beyspiel der Kaiserin wirkt auf die Herzen ihrer Untertanen. Diese noch so roh, so ungebildet, wissen nichts von Religionsverfolgung. Nirgends findet man weniger Fanatismus wie bei den Russen.“

| Nun war auch bei denjenigen, die sich zu einem mehr oder weniger „reinen“ Kosmopolitismus bekannten, die welfbürgerliche Exklusivität in einem sehr verschiedenartigen Grade entwickelt, und für so manchen von ihnen ließ sich die welibürgerliche Gesinnung recht wohl mit einem freudigen Stolze vereinigen, der betonte, was gerade Deutschland und die Deutschen fiir die Sache der Menschheit namentlich in kultureller Beziehung geleistet hatten. Woldemar Wenck hat in seinem Buche „Deutschland vor hundert Jahren‘ dieser Stimmung deutschen Selbstbewußtseins, die mit dem Aufschwunge der deutschen Literatur seit den siebziger und achtziger Jahren gleichen Schritt hielt, als einer Vorform des deutschen National- bewußtseins eingehendere Beachtung geschenkt®). In diese geistes- geschichtlichen Zusammenhänge reihen sich auch die deutschen Zeit- stimmen ein, die bei der Verherrlichung von Katharinas Großtaten sich mit Genugtuung an die deutsche Herkunft der russischen Carin - erinnerten. Je weniger aber die deutschen Zeitgenossen wie wir sahen gegenüber dem Willen Katharinas, sich selbst zu russifi- zieren, empfindlich waren, desto ungehemmter konnten sich ihre stolzen Gefühle ausleben, daß diese Frau, „die größte des neueren Zeiiraumes‘*), deren Regierung „für alle Zeiten ein wichtiges Stück in der allgemeinen Geschichte der Menschheit bleiben wird‘), eine Deutsche war. Zwei Beispiele mögen diese Stimmung unter den zeitgenössischen Beurteilern Katharinas noch etwas farbiger ge- stalien. „Unter allen bisherigen Kaysern und Kayserinnen aus Peters I. Stamme“ so schrieb 1800 der Berliner Geistliche David Jenisch „war kein einziger des großen Urahnen würdig gewesen. Endlich betritt denselben eine teutsche Prinzessin, auf welcher sein Geist der Kraft, der Kühnheit, der Festigkeit ruht, verbunden mit der feinsten Cabinets-Gewandtheit und Geschmeidigkeit. Von dem schönen Lichte ihres Jahrhunderts erleuchtet, ein so großes Muster als ıhren unsterblichen Oheim Friedrich Il. im Auge, entwirft und vollführt sie schöpferische Plane; fängt an, wo Peter I. aufhörte;

8) a. a. O. Bd. I, Abschnitt 3, S. 108 ff.

3) J. R. Forster: Kurze Übersicht der Geschichte Katharinas Il., Kaiserin von Rußland. (1797), S. 3.

16) Kurz gefaßte un Somers II., Kaiserin und Selbst- herrscherin aller Reußen. (1797), S.

14 NF 5 907

vollendet, wo er begann“:!). Oder womöglich noch volltönender heißt es im „Politischen Journal“ von 1796 aus Anlaß von Katharinas Tode: „Dies große menschliche Wesen, welches in Rußland wohnie und ein Drittheil des achtzehnten Jahrhunderts zu seiner Epoche machte, war eine teutsche Prinzessin aus dem unmächtigen Anhalt- schen Hause von Zerbst: Ein teutsches Geniel!2)“

Wenn man aber wie Wenck für die zeitliche Abgrenzung dieser Stimmung deutschen SelbstbewuBtseins bis auf die Behauptung Wielands zurückgeht, er entsinne sich nicht, daß er in seiner Kind- heit jemals das Wort deutsch ehrenhalber habe aussprechen hören»), so wird man dabei natürlich das für den Durchbruch dieser Stim- mung entscheidende Erlebnis Friedrichs des Großen und seines Welt- ruhmes nicht übersehen. Gerade in der Begeisterung der Süd- deuischen für Friedrich den Großen, die Preußen nach Goethes Wort „nichts anging“**), spielt das Moment eine Hauptrolle, daß durch Friedrichs Taten der deutsche Name dem Auslande gegenüber wieder zu Ehren gebracht wurde). Insofern wird man sagen können hat Katharina von dem Weltruhme Friedrichs des Großen profitiert, als der Preußenkönig zuerst den neuen Fürstentypus des aufge- klärten Selbstherrschers in einer vorbildlichen Gestalt verkörpert hatte und dadurch seit langer Zeit zum ersten Male wieder die allgemeinste Teilnahme auf einen deutschen Fürsten gelenkt worden war. Bei dem Stolze, mit dem diese Tatsache die deutschen Zeit- genossen erfüllte, und bei der großen Zahl überdurchschnittlicher Begabungen, die im 18. Jahrhundert unter den deutschen Fürstinnen vorhanden waren, war es fur den damaligen deutschen Publizisten ein naheliegender und verlockender Gedanke, der Gestalt dieses großen weltberühmten deutschen Fürsten ein deutsches weibliches Gegenbild an die Seite zu stellen. Hierfür erschien aber, sowohl was den politisch-militärischen Erfolg, als auch was die Sichtbar- machung des herrscherlichen Ethos des Aufklärungsfürsten anlangt, Katharina unter allen ihren deutschen Standesgenossinnen als die vergleichbarste Größe, während die von Friedrich überwundene österreichische Kaiserin Maria Theresia, die überdies stärker, als die freigeistigen Literaten der Aufklärung wünschten, an den religiós-

8 a Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. III (1801),

12) Jg. 1796, S. 1247. Ähnlich auch J. M. Hofmann: Katharina II. Die einzige Kaiserin der Erde usw. Bd. I (1787), S. 8: „Ist die einzige Kaiserin sie bewundernder Welten nicht Deutschlands würdigste Tochter?“ Allg. Deutsche Bibliothek, Bd. XXXVIII (1798), S. 174: „Unsere große Lands- männin.“ Historisch-genealogischer Kalender, Jg. 1798, S. 6 f: Nach Auf- zählung von Katharinas Taten: „Es sind Unternehmungen einer Frau, einer Deutschen.“ Usw.

13) Uber deutschen Patriotismus in Werke (Hempel), Bd. XXXIV, S. 318.

5 Dihlung und Wahrheit. Buch 2. Weim. Ausg. Abt. I, Bd. XXVI 1889

ei Wohlwill: Weltbürgertum und Vaterlandsliebe der Schwaben. (1875

208

gebundenen Traditionen des habsburgischen Hauses festhielt, dabei ganz zurücktrat.

„Wie glücklich sind wir, in einem Jahrhundert zu leben, das keinen gekrönten Unmenschen gezeuget hat! Wie glücklich, den Zepter eines Friedrichs zu küssen, der sich der Schwäche der Mon- archen ebenso sehr bewußt ist, als er sich besirebet, ihre Hoheit zu erreichen! Wir seben ihm hierin seine große Bundesgenossin, die glorreichst regierende Russische Monarchin Catharina zur Seife,“ so hieß es in einer Rede, die der Professor Johann Wilhelm Hecker zur Feier des Geburtstages der Carin im Gymnasium ihrer Vater- stadt Stettin im Jahre 1771 hielt!. Und ähnlich lautete es in den 1800 erschienenen ,,Denkwiirdigkeiten aus dem ablaufenden Jahr- hundert“): „Wenn je herrschende Personen sich in der Regierung durch Vorzüge zu gleicher Zeit ausgezeichnet haben, so dürften Friedrich der 2te von Preußen und Katharina die 2te von Rußland dazu aufgestellt werden.“ Viel entschiedener aber und zugleich die deutsche Stammeszugehorigkeit der beiden fürsflichen Persönlich- keiten kräftig unterstreichend, drückte sich Johann Gottfried Seume aus, wenn er in seiner Kafharina-Biographie von 1797 schrieb: „Die beiden nordischen Helden zum Anfange des Jahrhunderts ausgenom- men, sind ohne Widerspruch in kosmischer Rücksicht ein deutscher Mann und eine deutsche Frau, Friedrich der Zweite von Preußen und Katharina die Zweite von Rußland, die wichtigsten.“ Und mit nicht mißzuversiehendem Seitenhiebe auf die deutschen Revolutions- enthusiasten fügte er hinzu: „So merkwürdige Männer auch in den neueren Händeln der Franzosen aufgetreten sind, so ist doch keiner derselben so wichtig, daß er nur entfernt in eine Vergleichung mit diesen beiden gestellt werden könnte. Unser Vaterland darf stolz sein, sie unter seine Kinder zu zählen.“ Wie für Friedrich, möchte Seume auch für Katharina den Beinamen „die Einzige“ in Anspruch nehmen, ja er meint, daß man diesen Namen für sie noch eher behaupten könne als für den König von Preußen: „Friedrich findet gewiß in der Geschichte der Männer noch mehr, wie er war: Es würde aber schwer werden, noch eine Frau zu finden, die mit Katharina durchaus verglichen werden konnte’®).“

Indem aber für die deutschen Zeitgenossen die Gegenuber- stellung von Friedrich und Katharina immer mehr der gegebene Ver- gleich wurde, bildete er auch den Ausgangspunkt für zahlreiche, mehr oder weniger durchgeführte Parallelen zwischen den beiden Herrschern, die sich ebensosehr auf ihre Taten wie auf ihre Charaktereigenschaften ersireckten!®). Diese Parallelen waren schon darum sehr beliebt, weil sie begreiflicherweise bequeme literarische

16) Der Monarch ein Mensch. (1771), S. 6.

17) (1800), S. 269.

18) Werke, hrsg. v. A. Wagner. (18372), S. 439 u. 475.

19) Polit. Journal, Jg. 1796, S. 1244 f. Denkwürdigkeiten aus dem ab- laufenden achtzehnten Jahrhundert. (1800), S. 593. H. v. Storch: Gemälde von St. Petersburg. Bd. Il (1793), S. 84 f.

209

Hilfsmittel zur Charakteristik Katharinas boten. Der wunderliche Sak Theodor von Hippels: „Wenn diese Monarchin mit dem Könige von Preußen ein Paar worden: Welt! Was meinst Du*)?“ ist ohne die den zeitgenössischen Darstellern so lieb gewordene Gewohnheit, den großen Mann und die große Frau des Jahrhunderts gewisser- maßen als „Pendants“ zu sehen, kaum verständlich. Aber Friedrich hatte doch nicht nur dem Ruhme der Carin vorgearbeitet, indem er durch seine Gestalt den Zeitgenossen die Sicht für eine Erscheinung wie Katharina erst freimachte, sondern wir sahen es bereits an dem Beispiele Seumes sein Ruhm diente doch auch wieder dem Ruhme Katharinas zur Folie, von dem dieser sich desto heller abhob. Hinzu kam, daß der Gestus der Liebenswürdigkeit, Heiterkeit und Grazie, den Katharina in ihrem ganzen Auftreten bis zur Virtuositat -handhabte, den Menschenfreunden des achtzehnten Jahrhunderts natürlich viel besser lag als die bissige Menschenverachiung des Preußenkönigs in seinen Spatjahren. Wenn 2. B. Johann Michael Lenz in seinem Briefe an Lavater vom 15. April 1780 gegen das Bild, das der große Physiognomiker von der Carin entworfen hatie, polemi- sierend schrieb, der Blick Katharinas habe bei aller Majestät ihres Auges und ihrer Haltung „nicht das schröckende Feuer des alten Friedrichs‘), so war das sicherlich ganz aus den Herzen aller Humanitatsfreunde von damals gesprochen.

Durch nichts aber so möchte man annehmen hatte für den zeitgenössischen deutschen Literaten der Ruhm Friedrichs durch den Katharinas mehr verdunkelt werden können als durch die Tatsache, daß der Konig von Preußen die deutsche Literatur verachiete, während die seit ihrem vierzehnten Lebensjahre von Deutschland enifernt lebende Carin den Zusammenhang mit Werken deutschen Schrifttums nie völlig verlor. War es auch nicht die zukunftsreiche deutsche Literatur, die Klassiker, an die sie sich wandte, als sie, des zunehmenden Radikalismus der französischen Aufklärung über- drüssig, seit Voltaires Tode immer ausschließlicher deutsche Schrift- steller las, sondern die deutschen Aufklärer zweiten Ranges, die Nicolai, Thümmel, Schummel usw., so glaubte sie doch in ihren Briefen an Friedrich Melchior Grimm, den Herausgeber der „Cor- respondance litteraire“, Friedrich den Großen wegen seiner Unkenni- nis und Verachtung der deutschen Literatur beklagen zu miissen??). Bei der Bedeutung, die Grimm für die damalige europäische Literatur- berichterstatiung hatte, sollte man meinen, daß diese Stellungnahme Katharinas nicht unbekannt geblieben ist. Dennoch haben wir unter den zahlreichen Parallelen, die von den deuischen Zeitgenossen zwischen Katharina und Friedrich gezogen wurden, nur eine zu finden vermocht, die diese Tatsache hervorhebt. Sie findet sich in Heinrich

20) Sämfl. Werke, Bd. IV (1828), S. 256 f.

21) Briefe von und an Joh. Michael Lenz. Hrsg. v. K. Freyhe und W. Stammler. Bd. II (1918), S. 162. | Š 3 Vgl. Karl Hildebrand: Zeiten, Völker und Menschen. Bd. V (1902),

. 120.

210

Storchs „Gemählde von St. Petersburg“), einem Buche, das Katha- rina gewidmet ist. Storch, bekanntlich einer der Hauptvertreter der sogen. deutsch- russischen Schule der Nationalokonomie™), wurde 1766 zu Riga geboren, bekleidete seit 1789 verschiedene Stellen im russischen Staatsdienste und wurde nach dem Tode Katharinas ll. Erzieher der Großfürsten Nicolaj und Michail. Es lag daher nahe, daß er bei der Darstellung dessen, was Katharina in Petersburg für die Wissenschaften und Künste Rußlands geschaffen hatte, auch ihres persönlichen Verhältnisses zur Literatur gedachte. Vielleicht darf man sogar annehmen, daß er dabei wenigstens mittelbar von Katha- rina oder ihren Hofleuten inspiriert war. Immerhin ist diese Stelle, schon weil darin bezeichnenderweise der Auslandsdeutsche das Be- dürfnis fühlt, den reichsdeutschen Leser wegen seiner Lobeserhebung der russischen Herrscherin auf Kosten des deutschen Herrschers um Verzeihung zu bitten, interessant genug, um hier zum Schlusse in vollem Umfange wiedergegeben zu werden: „Friedrich der Zweyte liebte die Wissenschaften, wie Katharina, seine erhabene Freundinn; wie sie beschükte und pflegte er die Musen, denen er wie sie in seinen sorgenfreyen Stunden manches Opfer brachte. Gleich ihr suchte er unter seinem Volk Kenntnisse und Geschmack zu ver- breiten, die Morgenröthe der Philosophie über der Dämmerung der Vorurtheile und des Pedantismus herbeyzuführen und den Künsten Tempel zu weihen. Aber Friedrich, ein deutscher Fürst, kannte die Sprache seines Volkes nicht, hatte den Eigensinn, sie nicht kennen zu wollen, selbst da sie seiner Schätzung Werth geworden war, selbst da seine Vertrauten ihn auf die Fortschritte seiner Nation auf- merksam machten. Überall ein großer Mann, ließ er sich hier von einem längst gefaßten und off widerlegten Vorurtheil leiten, welches der deutschen Nation seinen aufmunternden Beyfall entzog und ihr die unerse&liche Ehre raubte, den größten aller Schriftsteller den ihrigen nennen zu können. Katharina die Zweyte, durch Geburt und Erziehung mit zwey Sprachen vertraut, lernt die dritte, mitten im berauschenden Gewühl eines glänzenden Hofes, unter den Sorgen einer unermeßlichen Herrschaft, unter dem Jubelgeton errungener Siege aus dem Gefühl ihrer Pflicht und aus patriotischem Interesse für die Kultur ihres Volks! Deutscher Leser! Für dich ist kein Anstoß in dieser Vergleichung. Auch Sie ist ja dein, wie Er es war.“

Anhang P. Geschichien, Reisebeschreibungen, Programme usw.

1762. Joh. Gotth. Lindner, Programm zum Namenstage der Kaiserin Ka- tharina Il. (25. Nov. 62). Riga.

23) Bd. Il (1793), S. 84 f.

24) Handwörterbuch der Staaiswissenschaften. Bd. VII (19264), S. 1143.

Anhang I u. II wollen, was die deutsche Literatur über Rußland und Katharina Il. anbelangt, B. v. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Welt- literatur. Autor. Übersetzung aus dem Russischen. Mit einem Vorwort v. Th. Schiemann. Bd. I u. II (1897) ergänzen.

211

1763.

1764.

1764.

1764.

1764.

1764. 1765. 1765.

1765.

Gesprach im Reiche der Todten zwischen einem österreichischen

Feldpater und russischen Popen von dem Leben und Ende Peters Ill.,

Kaiser und Selbstherrscher aller Reuben. Frankft. u. Lpz.

D. Joh. Fr. Joachim, Fortgesetzte Geschichte der Staatsveränderungen

des russischen Reichs, 3. Teil zu Herrn de la Combes Geschichte

von Rußland. Halle.

Kurze Beschreibung und Geschichte des russischen Reichs, wie auch

merkwürdige Staatsveränderung von anno 900 bis auf Peter d. Gr.

und seit dessen Regierung und Ableben bis auf die Thronbesteigung

und den 4. Okt. 1762 geschehenen Cronung Catharina Alexiewna Il. s. l.

Anton F. Büsching, Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und

von Rußland. Lpz., Kbg. Pr. und Mitau.

Joh. Gotth. Lindner, Denkmal auf die allerhuldreichste Gegenwart

Catharina II. zu Riga bei der Feyer des Kronungsfestes in einer

Schulabhandlung den 23. Sept. 1764 errichtet.

555 Programm zum Kronungsfeste der Kaiserin Catharina Il. iga.

Derselbe, Programm zum Namenstage der Kaiserin Catharina Il.,

25. Nov. Riga.

Dem hohen Geburtsfeste der allerdurchlauchtigsten Beherrscherin

aller Keuken widmen diesen Glückwunsch in unterthänigster Er-

el N sämmtlichen Alumni des Jageteufelschen Collegii zu Stettin en 2. Mai.

(Christian Fr. Schwan), Russische Anekdoten oder Briefe eines teut-

schen Offiziers an einen lievländischen Edelmann, worinnen die vor-

nehmsten Lebensumstände des russischen Kaysers Peter Ill. nebst

dem unglücklichen Ende dieses Monarchen enthalten sind. Wands-

beck i. J. 1765 von C. F. S. de la Marche.

Joh. G. Herder, Rede am Namensfeste der Monarchin. April 1768 in

Riga in sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan Bd. XXXI, S. 43, 47.

Derselbe, Tagebuch meiner Reise von Riga nach Nantes. Werke,

a. a. O. Bd. IV, S. 343 f.

Graf Viktor A. Henckel v. Donnersmarck, Tagebuch des russ.-türk.

Krieges in Milit. Nachlaß, Bd. II (1846), hrsg. von K. Zabeler.

J. G. von Boden, Erste Rede am feyerlichen Krönungsgedächtnisfeste

Ihro Majestät der Kaiserin Katharina d. Zweyten am 22. Sept./3. Okt.

1771 in einer Versammlung von Patrioten abgelesen. Vermischte

Schriften. Mitau.

J. G. Landgraf, Bemerkungen über den lekten Krieg wider die Türkei

als eine Erläuterung zum jefigen. Glogau.

Samuel Gottfr. Geyser, Programm zu der Feier des festlichen Tages,

welcher dem Andenken des 1764 mit den Türken geschlossenen

Friedens gewidmet ist. Reval.

Andreas Meyer, Briefe eines jungen Reisenden durch Livland, Kur-

land und Deutschland, 2 Bde. s. l.

Karl Aug. v. Struensee, Kurzgefaßte Beschreibung der Handlung der

ae europäischen Staaten Bd. I, S. 469—510 über Rußland.

ing. |

Joh. Bernoulli, Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Kur-

land, Rußland und Polen in den Jahren 1777—78, 6 Bde. Lpz.

Chr. Aug. Clodius, Die Schlacht bei Chios. Neue vermischte Schrif-

ten, Bd. II, S. 1—30.

Joh. Benjamin Michaelis, Russisches Kriegslied zur See in Schriften,

Bd. I, S. 233. Gießen 1780.

Uber Rußland. An Ihre Majestät Catharina Ill. Selbsthalterin und

Kaiserin aller Reußen, Bd. I. Breslau.

Joh. Chr. Moritz, Das Namensfest Catharinas Il. und das Andenken

der Zurückkunft des Großfürsten Paul Petrowik. Riga.

von Kerten, Auszug aus dem Tagebuch eines jungen Russen auf

seiner Reise nach Riga. (Riga.)

1784. 1784.

1784. 1784.

1785. 1785. 1787. 1787. 1787. 1787.

1788.

1788.

1788. 1788. 1788. 1788. 1789. 1789. 1790. 1790.

1790.

1790. 1790. 1790.

1791.

1793.

J. A. Güldenstädt, Reisen durch Rußland und im kaukasischen Ge-

birge, 2 Bde. St. Pbg.

Heinr. Chr. Gehe, Redehandlung bei der Feyer des Oeburtstags-

festes Ihro K. M. Katharinen Il. nebst einem Programm usw. Reval.

S. M. Gmelin d. J., Reisen durch Rußland, 4 Bde. St. Pbg.

Adam Fr. Geisler d a e ame ll. in Gallerie edler deutscher

Frauenzimmer, Teil 1 S. 1—86.

K Th. M. Snell, Dam zur Charakteristik großer Regentinnen. iga.

M. E. Tozen, Einleitung in die europ. Staatenkunde, 2 Bde. s. l.

Tagebuch der Reise eines Deutschen von Lübeck nach St. Peters-

burg im August 1785. Langensalza. Vgl. Allgemeine deutsche

Bibliothek Bd. 95, S. 560.

Heinrich Nudow, Rede am 25jahrigen Oedächtnisfeste der Thron-

besteigung Katharinas Il. St. Pbg.

on Bapt. Cataneo, Eine Reise durch Deutschland und Rußland.

Joh. Michael Hofmann, Katharina li., die einzige Kaiserin der Erde,

Selbstherrscherin aller Reußen, Tauriens würdige Tochter, mächtigste

Erretterin und großmütigste Beglückerin, ein untertänigstes Opfer am

herrlichsten wonnevollen Krönungstage der allergütigen und allge

liebten Huldgottin zu Tauriens urerster Alleinbeherrscherin. 1. -

sang. Frkft. a. M. (Mehr nicht erschienen.)

Unparteiische Nachricht von dem Ursprung, den Eroberungen, dem

a re Regierung und der Kriegsverfassung der Türken. Frft.

a. M. u. Lpz.

J. M. Schweighofer, Politischer Zuschauer. Wöchentliche Beiträge

zur Geschichte des gegenwärtigen Feldzuges der Österreicher und

Russen wider die Türken. 13 Hefte. Wien.

Unpartheiisch-geographisch-historischer Kriegsweiser. Wien.

Ein Wort im Vertrauen über den Türkenkrieg. Wien.

Chr. Fr. Scherwinzky, Rußlands Flor. Riga.

(Joh. Rautenstrauch), Ausführliches Tagebuch des ikigen Krieges

zwischen Österreich und der Pforte, Bd. I. Wien.

loh. Eb. Fr. Schall, Drei Silhuetten, Katharina ll., Peter I., Friedrich Il. iga.

Moritz Boye, Beyträge zur Statistik von Rußland. Bayreuth.

(Adam Chr. Gaspari), Urkunden und Materialien zur näheren Kennt-

nis der Geschichte und Staatsverwaltung nordischer Reiche, 3 Bde.

Hamburg.

Benedikt F. J. Herrmann, Statistische Schilderungen von Rußland in

Rücksicht auf Bevölkerung, Landesbeschaffenheit, Naturprodukte,

Landwirtschaft, Bergbau, Manufakturen und Handel. St. Pbg. u. Lpz.

Sammlung der merkwiirdigsten Stadte und Festungen, welche in den

Jahren 1788, 1789 und 1790 von den k. k. österreichischen und k. rus-

sischen Armeen der Pforte abgenommen worden, nach ihrer wahren

Lage bezeichnet und illuminiert, nebst einer kurzen Beschreibung der-

selben, nach Hof- und andern glaubwürdigen Berichten, 2 Teile mit

illuminierten Kupfern und Planen. Prag.

Th. Oldekop, Friedenspsalm, gesungen am Friedenstage. Dorpat.

Jakob Fries, Reise durch Rußland, 1770—80. Lpz.

Leprecht, Reise nach Petersburg und einem Teile von Deutschland.

Frft. a. M. u. Pest.

Unpartheiische Prüfung der Frage: Ob die Kaiserin von Rußland

durch den Teschener Frieden die Garantie des westfälischen Friedens

übertragen erhalten habe, und in der Eigenschaft als Garantin des-

selben nun gegen Frankreich auftreten könne? Frft.a.M.u.Lpz.

Ludwig Heinrich Frh. v. Nicoley, An die Kaiserin von Rußland

poetische Epistel in Werke, Bd. IV, S. 1 f.

215

1793. 1793. 1793. 1793. 1793. 1793.

1794. 1794.

1795.

1795. 1796. 1796. 1796. 1797.

1798.

1798 ff. 1798 ff.

1799.

1800. 1802.

1802.

1805. 1805.

214

Balthasar Frh. v. Campenhausen, Versuch einer geographisch-stati-

9 8 Beschreibung der Statthalterschaften des russischen Reichs.

Öttingen.

Heinrich v. Storch, Gemählde von St. Petersburg, 2 Bde. Riga.

Mathias Chr. Sprengel, Grundriß der Staatenkunde der vornehmsten

europäischen Reiche. Halle, Bd. I, S. 181—229 über Rußland.

Graf Joachim v. Sternberg, Reise von Moskau über Sofia nach

Königsberg. Bin.

Georg Forster, Erinnerungen aus dem Jahre 1790 in historischen Ge-

mälden und Bildnissen von D. Chodowiecki. Bin.

Joh. Gottl. Willamov, Sämtliche poetische Schriften, 2 Bde. Wien.

1. Auf das Geburtsfest der russischen Monarchin, von Konföderierten in Thorn gefeiert (1767).

2.Auf die Wiedergenesung Ihro russ. kais. Majestät und des Groß- fürsten von der Einimpfung der Blattern (1768).

3.Katharinens Einweihungsfest, auf das 40. Geburtsfest Ihro kais. Majestät aller Reußen, den 21. April 1769.

4. Auf die Eroberung von Chocim (1769).

5. ses der russischen Armee bei Eröffnung des Feldzuges

) 6. Auf die Schlacht am Kagul (1770). 7. Abschiedslied der russischen Flotte (1770). 8. Auf die Seeschlacht bei Tschesme (1770). 9. Noch auf die Seeschlacht bei Tschesme (1770). 10. Siegeslied auf die Eroberung von Bender (1770). 11. Auf das Geburtstagsfest der russischen Monarchin (1772). Amalie v. Liemann, Reisen durch einige russische Lander. Gottingen. Th. Gofttl. v. 1 Lebensbeschreibung, Teil Ill: Rußland und Werke, 14 Bde. Bin. 1827—39. Timotheus rh. a Spittler, Entwurf der Geschichte der europäischen ancien. Rußland: Werke hrsg. von Wächter-Spittler, 1827 f., Bd. IV, Daniel G. Balk, Was war einst Kurland und was kann es jekt unter Katharinas Zepter werden? Mitau. Joh. Heym, Versuch einer vollständigen geographisch-topographischen Enzyclopadie des russischen Reichs. Gottingen. Heinrich Friebe, über Rußlands Handel, landwirtschaftliche Kultur, Industrie und Produkte. Gotha und St. Pbg. Konrad Pfeffel, Unter Katharinens Bild in Poctische Versuche. Stutt- gart 1802 f., Bd. Vil, S. 111. Karl Elzner, Gemählde, meiner Reise aus Rußland durch Littauen une en nach Teutschland. Erfurt 1797, 1. Aufl., Hamburg 1802, Aufl. Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland. Entworfen auf einer Reise durch das russische Reich. Moskau und St. Pbg. Celle. Daniel Falk, Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. Andreas Rebmann, Obskuranten-Almanach. Joh. Gottfr. Seume, Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. Lpz. David Jenisch, Geist und Charakter des 18. Jahrh., 3 Bde. Bin. Joh. Wilh. Möller, Reise nach Volhynien und Cherson in Rußland im Jahre 1787. Hamburg. Der russische Kolonist oder Christian Gottlob Züges Leben in Ruß- land. Nebst einer Schilderung der Sitten und Gebräuche der Russen vornehmlich in den asiatischen Provinzen, 2 Bde. Zeitz u. Naumburg. Karl B. Feyerabend, Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen, Podolien, Liv- und Kurland, 4 Bde. Königsberg i. Pr Heinrich v. Reimers, St. Petersburg am Ende seines ersten Jahr- hunderts mit Rückblicken, 2 Teile. St. Pbg. u. Lpz.

1805. Georg Reinbeck, Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise über St. Petersburg, Moskau, Grodno, Warschau und Breslau und Deutsch- land im Jahre 1805. Lpz.

1808. Samuel Bauer, Interessante Lebensgemahide und Charakterzüge der denkwürdigsten Personen aller Zeiten. Teil V: Peter Ill. Wien. .

1809. Joh. Petri, Neuestes Gemählde von Liev- und Esthland unter Katha- rina Il. und Alexander Il. in statistik-politisch-merkantilistischer Hin- sicht. 2 Teile. Lpz.

1811. D. W. Soltau, Briefe über Rußland und dessen Bewohner. Bin. 1812. Brockhaus’ Zeitgenossen, Bd. XI, Brief Elisas v. d. Recke an Friedrich Nicolai vom Jahre 1795 aus St. Petersburg.

1813. Ernst Wilhelm von Drümpelmann, Beschreibung meiner Reisen und merkwürdigen Begebenheiten meines Lebens. Riga.

1819. Chr. Jacob Kraus, Vergleichendes Glossarium aller Sprachen und Mundarten der Kaiserin Katharina Il. in vermischte Schriften. Bd. VIII. Königsberg ı.Pr.

1819. 85 H. Schlegel, Reisen in mehrere russische Gouvernements. 2 Teile.

i

1821. Christian Aug. Fischer, Kriegs- und Reisefahrten. Lpz

s.a. Auszug aus dem Fagebuche iH Geschaftsreise nach Rußland mit beigefügten Postrouten. Frft.a.M

1897. Karl H. Frh. v. Heyking, Aus Polens und Kurlands letzten Tagen.

1907. Petersburger Tagebuch der Frau Erbprinzessin Auguste Karoline Sophie von Sachsen-Coburg-Saalfeld, geb. Gräfin Reuß j. L. im Jahre 1795, hrsg. von W. K. v. Arnswaldi. Darmstadt.

Anhang If”. Zeitschriftenartikel.

Im Chorus der öffentlichen Meinung Deutschlands im achtzehnien Jahrhundert spricht das heutzutage stärkste Instrument einer öffent- lichen Meinung nur mit einer schwach vernehmbaren Stimme. Die deutschen Zeitungen von damals dienten nahezu ausschließlich der Vermittlung von Nachrichten und kannten noch kaum das Räsonne- ment unserer modernen Zeitungen, durch welches diese zu Ver- treterinnen von politischen Parteien oder wirtschaftlichen Interessen- gruppen werden. Infolgedessen können wir die Zeitungen aus den Quellen für unsere Betrachtung im allgemeinen ausscheiden.

Bis zu einem gewissen Grade wurde diese Funktion unserer heutigen Zeitung zu jener Zeit mitversehen durch die Zeitschriften- literatur), die mit dem von der Aufklärung geweckten Bedürfnis nach öffentlicher Erörterung allgemein interessierender Gegenstände

Auffallend lückenhaft erweist sich die Bilbasovsche Bibliographie hin- sichtlich der zeitgenössischen deutschen Zeitschriftenliteratur, die eine so reiche Ausbeute für unser Thema lieferte, daß die Rußlandartikel der da- maligen deutschen Journale mit einer kurzen diese Quelle charakterisieren- den Bemerkung hier ebenfalls verzeichnet werden sollen.

1) Vgl. die umfangreiche Bibliographie von J. H. Christian Beutler und J. Chr. F. Guts-Muths: Allgemeines Sachregister über die wichtigsten deut- schen Zeit- und Wochenschriften (1790). Eine übersichtlichere Zusammen- stellung der wesentlichsten deutschen Zeitschriften des achtzehnten Jahr- hunderts gab R. F. Arnold in seinem in dieser Beziehung viel zu wenig beachteten Buche: Allgemeine Bücherkunde zur neueren deutschen Literatur- geschichte. (19192), S. 19 ff. u. 176 ff

215

schnell und üppig?) emporgewachsen war. Ursprünglich auf ästhetisch- belletristische und mehr oder weniger wissenschaftliche Themen be- schränkt oder wie die große Masse der „moralischen Wochenschriften“ der Verbreitung praktischer Lebensweisheit auf populär-philoso- phischer Grundlage dienend, strebten diese Zeitschriften seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr dahin, auch politisch-aktuelle Fragen und Ereignisse, soweit das in den engen, von der scharfen absolutistischen Zensur gesteckten Grenzen möglich war, in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Mit dem Jahre 1773, dem Erscheinungsjahre des ersten Bandes von Wielands ,,Teutschem Mercur“ entsteht wie vor kurzem überzeugend dargelegt wurde in den „staatsbürgerlichen“ Journalen ein neuer deutscher Zeit- schriftentyp, der sich durch eine intensivere Behandlung von ver- fassungs- und sozialpolitischen Fragen sowohl von den moralischen Wochenschriften, von denen er abstammt, wie von den ausgesprochen literarisch-kritischen und gelehrten Zeitschriftenunternehmen deutlich unterscheidet?). Daneben wurden gleichzeitig oder doch nur wenig später Zeitschriften immer häufiger, in deren Titeln oder Untertiteln das Beiwort „politisch“ erscheint). In dem „Hamburger Politischen Journal“, das von 1781—1839 in dem damals dänischen Altona her- auskam, wird durch dieses Beiwort sogar schon eine weitgehende Spezialisierung auf das Gebiet der auswärtigen Tagespolitik aus- gedrückt. Seine Berichterstattung war entweder revueartig, indem mehrere Tagesereignisse und -fragen gemeinsam in der Regel durch den Schriftleiter besprochen wurden, oder bestand aus Ein- zelberichten der verschiedenen Korrespondenten, die mit oder ohne Kommentar zum Abdrucke gelangten.

In der damaligen deutschen Zeitschriftenliteratur nahmen die Be- richte über Rußland bereits einen ziemlich breiten Raum ein. Schon viele von ihnen auch die unpolitischen oder weniger auf das Poli- tische gerichteten waren offenbar bemüht, ihre Leser nach Mog- lichkeit über das bisher so unbekannte Land im Osten, das unter Katharina einen so schnellen und weithin sichtbaren Aufstieg erlebie, zu unterrichten. Ihre Rußlandartikel enthalten zum größeren Teile landeskundliche und statistische Mitteilungen wie etwa die des „Han- növerschen Magazins“ (1750—1813), das von dem Kanzleisekretar Klockenbring in Hannover herausgegeben wurde und seinen Leser-

*) Auf einen verwandten Vorgang in der russischen Publizistik des neunzehnten Jahrhunderts hat G. Grupp: Literatentum der Aufklarungszeit in Historisch-politische Blätter f. d. kathol. Deutschland, Bd. CXI (1895), S. 390 ff., im Anschluß an Leroy-Beaulieu hingewiesen. Auch hier verhinderte die Strenge der Zensur die quantitative, die qualitative Entfaltung des Tageszeitungswesens wurde aber die Veranlassung für das Entstehen von zahlreichen und inhaltlich wertvollen Revuen.

3) Johanna Schulte: Die Auseinandersekung zwischen Adel und Bürger- tum in den deutschen Zeitschriften der lebten drei Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts (1773—1806). In E. Eberings Historischen Studien, Heft 165 (1925), S. 24 ff. |

4) Vgl. z. B. Beutler und Guts-Muths a. a. O., S. 261 ff.

216

kreis vorzugsweise unter der im praktischen Leben stehenden Be- völkerung suchte). Andere gaben mit Vorliebe Beiträge zu dem damals überaus geschäbten Thema der Sitten und Gebräuche. Für diese sei allein das von dem Weimaraner Bertuch nach Goethe „der größte Virtuos im Aneignen fremder Federn“ redigierte und namentlich in den oberen Schichten viel gelesene ‚Journal des Luxus und der Moden“ (1776— 1827) als artveriretend genannf®).

Aus der Reihe der an geistigem Gehalt erheblich höher stehen- den „staatsbürgerlichen‘ Journale muß hier zunächst des „Deutschen Museums“ gedacht werden, das von 1776—73 von Dohm und Boie herausgegeben, dann von Boie allein (1789—91) als „Neues Deutsches Museum“ fortgeführt wurde”). Denn das „Deutsche Museum“ brachte gleich im ersten Jahrgange den anonym erschienenen Aufsatz „Ka- tharina die Zweyte, Kaiserin von Rußland. Ein Gemäld ohne Schatten.“ Dieser Aufsak, der der Feder eines so namhaften zeit- genössischen Publizisten wie Friedrich Karl von Moser entstammte, war eine Frucht der Reise, die Moser als Geleiter der großfürstlichen Braut Natalja Alekseevna, Tochter der „großen Landgrafin“ Karoline von Hessen-Darmstadt, 1773 nach Petersburg unternommen hatte»). Sein kleiner Aufsatz, der 1773 geschrieben, zwei Jahre nach dem Frieden von Kutschuk-Kainardsche, dem eigentlichen Kulminations- punkt der auswärtigen Politik Katharinas, erschien, hat als der erste Ansak zu einer zeitgenössischen Biographie der Carin Epoche ge- macht. Er ging, als beim Tode Katharinas die biographische Literatur über die Kaiserin sich erst voll entfaltete, 1797 wörtlich in das Buch: „Katharina Il, ein biographisch-charakteristisches Gemälde“ des Plagiators H. F. Andrä über”).

Während wir bei unserer Uberschau über die damalige Zeit- schriftenliteratur weitere Erscheinungen dieses durch das „Deutsche Museum“ repräsentierten ,,staatsburgerlichen“ Zeitschriftentypes als minder ergiebig für unser Thema hier übergehen können, muß die zu derselben Gruppe gehörige von Biester und Gedicke geleitete „Berlinische Monatsschrift‘“ (1799—1811) schon deswegen hier aus- drücklich hervorgehoben werden, weil ihr Verleger, der aus der Ge- schichte der Berliner Aufklärung hinreichend bekannte Friedrich Nicolai, zugleich auch der Verleger von Katharinas Il. in deutscher

s) Vgl. W Stammler: Friedr. Arn. Klockenbring. Ein Beitrag zur Ge- schichte des geistigen und sozialen Lebens in Hannover. In Zeitschr. des histor. Vereins f. Niedersachsen, Bd. LXXIX (1914), S. 185 f.

©) Vgl. Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu hrsg. v. Fl. Frhr. v. Biedermann. Bd. Hl (1909), S. 502.

7) Vgl. W. Hofstatter: Innere Gesch. v. H. C. oles „Deutschem Museum“ (1776—1791). Diss. phil. Leipzig 1907, S. 18 ff. u.

©) Vgl. Briefwechsel der großen andern | Caroline von Hessen. Hrsg. v. A. Walther. Bd. II (1877), S. 4

°) (1797).

217

Übersekung erschienenen kleineren Schriften ware). Man könnte daher geneigt sein anzunehmen, daß diese Zeitschrift dank der Be- ziehungen, in die Nicolai zu Katharina trat, besonders häufig und besonders gui über Rußland unterrichtet hatte. Das ist nun aber tatsächlich in einem bescheidenen. Maße der Fall, wenn auch die von ihr gebrachten Rußlandartikel wie z. B. der 1783 veröffentlichte „Beytrag zur Geschichte des russischen Hofes“ zu den gediegeneren Erscheinungen in der damaligen Literatur über Rußland gehören. Diese befremdliche Tatsache läßt sich heute nicht mehr ohne weiteres erklären. Teilweise darf man sie wohl auf Zensurschwierigkeiten zurückführen. Denn die Berliner Zensur unter Friedrich dem Großen war bei allen auf Rußland bezüglichen Druckschriften sehr peinlich*).

Nicolai fand indes in einer anderen seiner buchhändlerischen Unternehmungen, der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, jener großen Rezensieranstalt, in der er in den Jahren 1765—1806 alle literarischen Neuerscheinungen Deutschlands vom Standpunkte des „Aufklärungsberlinismus“ bekritteln ließ, Anlaß und Spielraum genug, um seine Meinung über Rußland zum Ausdruck zu bringen. Es ist wirklich erstaunlich, bis zu welchem Grade der Vollständigkeit hier die in deutscher Sprache über Rußland erschienenen Werke ver- zeichnet und besprochen worden sind. Die „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ bildet für den Bibliographen dieser Literatur geradezu eine Fundgrube ersten Ranges, die aber von Bilbasov auch mit keinem Worte erwähnt wird. Daß die Besprechungen in diesem Organ in der Regel sehr rußlandfreundlich ausfielen, dafür sorgte nicht zulebt der Umstand, daß Katharina seine Abonnentin war??).

Wenn man auch die Wirksamkeit dieser in der Hauptsache kultur- politisch eingestellten „staatsbürgerlichen“ Gruppe unter der da- maligen Zeitschriftenliteratur für die Bildung einer öffentlichen Mei- nung über Katharina Il., wie wir sahen, keineswegs unterschagen darf, so kommt speziell fur die zeitgenössische Beurteilung von Katharinas auswartiger Politik den Journalen mit ausgesprocheneren außenpoli-

10) Es waren dies Katharinas „Aufsätze betreffend die russische Ge- schichte“, mehrere ihrer kleinen Schriften, ihre Märchen und moralischen Erzählungen. Vgl. Bilbasov, Weltliteratur, Bd. I Nr. 414, 435, 455, 457, 482, 542, 549. Für die Wirkung dieser Schriften Katharinas in Deutschland ist es bezeichnend, daß sich Musäus in der Vorrede zu seinen „Volksmärchen der Deutschen“ bei der Rechtfertigung des Erscheinens seines Märchenbandes auf Katharina als Vorgängerin beruft. Vgl. die Ausgabe der Musäusschen en n 99 8 d. Leyenschen Sammlung: Märchen der Weltliteratur. Bd.! 1912), S. :

11) Vgl. F. Ekin: Die Freiheit der öffentlichen Meinung unter der Regie- rung Friedrichs des Großen. In Forschungen z. brandenb.-preuß. Gesch. Bd. XXXII (1921), S. 36 u. 107: „Alle künftigen Ereignisse im russisch- türkischen Kriege mußten auf Befehl des Königs in russischer Beleuchtung erscheinen.“ Vgl. auch E. Widdecke: Geschichte der Haude und Spener- schen Zeitung (1734—1874). (1925), S. 66. Vgl. ferner Arend Buchholtz: we 5 Zeitung. Geschichtliche Rückblicke auf drei Jahrhunderte. 1904), S. 48 ff.

12) Vgl. Alexander Brückner: Katharina die Zweite. (1893), S. 591.

218

tischen Tendenzen naturgemäß noch eine weit größere Bedeutung zu. Das einflußreichste von ihnen, das „Hamburger Politische Journal“, ist schon genannt worden. Es wurde 1781—1804 von Gottlob Benedict Schirach (1743—1804), vordem Geschichtsprofessor an der Universität Helmstedt!®), herausgegeben und spielte dank seiner geschickten Schriftleitung und dank der für die damalige Zeit doch recht groß- zügigen Organisation seines weitverzweigten Mitarbeiterstabes, der sich aus Korrespondenten in allen namhafteren deutschen Städten zusammensebte, unter den Gebildeten der damaligen deutschen öffentlichen Meinung eine sehr beträchtliche Rolle. Wie hoch die Machthaber jener Tage seinen Einfluß bewerteten, zeigt u. a. die Tatsache, daß Maria Theresia den Herausgeber in den Adelsstand erhob. Anfangs den liberalen Ideen der Zeit mindestens nicht feind- lich, ließen seine guten Beziehungen zu den gekrönten Häuptern Schirach immer mehr in ein reaktionäres Fahrwasser einlaufen, ohne daß dadurch die Nachfrage nach seiner Zeitschrift gelitten hätte. Troß der Begeisterung, die der Ausbruch der französischen Revo- lution überall in Deutschland weckte, fanden seine Hefte, in denen er 1789 die deutschen Fürsten zur Unterdrückung der Revolution auf- rief, einen so reißenden Abgang, daß ein Neudruck derselben notig. wurde. 1790 hatte es von allen politischen Schriften Deutschlands zweifelsohne die größte Auflage‘). Das Rußland Katharinas über das Schirach dauernd und regelmäßig berichtete, erscheint in seiner Zeitschrift geradezu als ein Wunderland von ungeahnten und un- begrenzten Möglichkeiten. Eine ähnliche Gesinnung wie das „Ham- burger Politische Journal“ zeigte bei geringerer Wirkung das von dem historisch geschulten Karl Renatus Hausen) und dem staats- wirtschaftlichen Schriftsteller Ferdinand Luder**) redigierte, Historische Portefeuille zur Kenntnis der gegenwärtigen und vergangenen Zeit“ (1782— 1789), das ebenfalls ziemlich regelmäßig Artikel über Rußland brachte.

Unter den weniger zahmen und weit weniger höfisch eingestellten süddeutschen Journalisten traten in der zweiten Hälfte des achizehn- ten Jahrhunderts besonders hervor die beiden Schwaben Christian Friedrich Daniel Schubart (1739—91), der Herausgeber der „Deutschen Chronik“ (1774—77), die er nach seiner Entlassung aus der zehn- jährigen Haft auf dem Hohen Asperg als „Vaterländische Chronik“ (1787—91) fortführte:”), und der geniale Pamphletist Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739—92).

Beide, trok ihrer Stammesbrüderschaft und Gleichaltrigkeit, nach Anlage, Charakter, Temperament, Gesinnung, Haltung, Überzeugungs-

18) Vol. Allg. deutsche Biographie. Bd. XXXI (1890), S. 307. 8 5 3 Salomon: Gesch. des deutschen Zeitungswesens. Bd. J (1900),

18) Vgl. Allg. deutsche Biographie. Bd. XI (1880), S. 87.

18) Ebd. Bd. XIX (1884), S. 377.

17) Vgl. E. Schairer: Daniel Schubart als politischer Journalist. Diss. phil. Tübingen 1914.

219

treue, Blick für Realitäten usw., kurz in jeder Beziehung Antipoden. Die ewige Geistestrunkenheit Schubarts des „Kraffbarden“, wie Wekhrlin spottete, läßt sich wohl nicht leicht glücklicher charakteri- sieren, als das Robert Franz Arnold in seiner „Geschichte der deut- schen Dolenliferatur“ is) getan hat: „In verzückter Betrachtung der Tagesereignisse schuf er rund um sich ein Pantheon und opferte vor jedem Aliar..... Mit der großen Carin trieb er einen förmlichen Kultus, der sich in allen möglichen biblischen, mythologischen, histo- rischen Parallelen erschöpft. So oft er von Rußland spricht, erzeugt dumpfes Furchtgefühl, gepaart mit jener Bewunderung für alles Grandiose, in seinem Geist eine Flut kuhner Metaphern Was die Midashand des schwäbischen Chronisten berührt, alles wird zu poetischem Gold.... und so, je nach Laune den Gesichtspunkt wech- selnd, bringt er es fertig, gleichzeitig Russen- und Türkenlieder zu dichten.“

Ungleich moderner als Schubart moderner im Sinne des Jour- nalismus aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erscheint Wekhrlin. Sein leķter Biograph hat die tiefe Verschieden- heit in der Anlage und der Bildung der beiden schwäbischen Zeitungs- schreiber: des „leichten, geistreichen, freigeistigen und aristokratisch gesinnten“ Wekhrlin und des ,,pathetischen, frommelnden, demokra- tischen, volkstiimlichen“ Schubart auf die vielleicht etwas zu einfache Formel gebracht: „Es war ein Gegensak wie zwischen Wieland und Klopstock:°).‘ Denn was den Vergleich Wekhrlins mit Wieland recht- fertigt, beruht doch in der Hauptsache nur darauf, daß die Bildung beider durchaus im Französischen wurzelt. Wekhrlin hatte, wie er selbst sagt, seinen Geist „größtenteils an der Quelle der gallischen Pieriden genährt‘“:) und an den Vorbildern seiner französischen Lieblingsautoren Montaigne, Montesquieu, Voltaire, Diderot, Galiani, Raynal, Mercier gelernt, seinen Hang zu Humor, Wik und Satire zu jener Vielseitigkeit, Fulle, Tiefe und Treffsicherheit zu entwickeln, „die von keinem zeitgenössischen Schriftsteller, Lichtenberg aus- genommen, überboten wurden“). Deutlicher hat wohl G. Grupp den Unterschied zwischen Schubart und Wekhrlin zur Anschauung ge- bracht, wenn er sagt: „Er war in erster Linie Literat, Freigeist und Schöngeist. Der politische Trieb beherrschte sein Leben, und dieser Grundzug gibt ihm ein einheitlicheres Gepräge als dem seiner aben- teuernden Landsleute??).“. Auch das nähert Wekhrlin den Journa- listen des neunzehnten Jahrhunderts, daß er ausschließlich von der Zeitung lebte?). So kurzlebig die meisten seiner Zeitungsunter-

18) Bd. I (1900), S. 78.

19) Gottfried Bohm: Ludwig Wekhrlin. Ein Publizistenleben des acht- zehnten Jahrhunderts. (1893), S. 238.

20) Chronologen, Jg. 1782, Bd. IV, S. 39.

21) F. W. Ebeling: W. L. Wekhrlin. Leben und Auswahl seiner Schriften. (1869), S. 7.

22) Literatentum der Aufklärungszeit, a. a. O. S. 383. 23) Ebd. S. 382.

220

nehmen, wie die „Chronologen“ (1779—81), das „Graue Ungeheuer“ (1784—87), die „Hyperboräischen Briefe“ (1788—90), die „Paragrafen“ (1791), waren, er hat immer aus ihnen seinen Lebensunterhalt schlecht und recht zu bestreiten vermocht.

Als „Erben“ Wekhrlins hat sich ein anderer Süddeutscher, der Franke Andreas Georg Friedrich Rebmann aus Jugenheim**) (1760 bis 1824) betrachtet und seine geistige Abhangigkeit von ihm mit Vor- liebe dadurch bezeugt, daß er die Titel Wekhrlinscher Journale und Broschüren für seine Zeitschriften und sonstigen publizistischen Machwerke übernahm. Aber seine geistige Physiognomie ist der Wekhrlins doch nur von ferne betrachtet ähnlich. Wie sein sprach- liches und stilistisches Niveau ein wesentlich niedrigeres ist als das Wekhrlinsche, so erscheinen auch seine geistigen Züge neben denen Wekhrlins karikaturenhaft verzerrt. Wekhrlin war ein geradliniger, aufrechter, von leidenschaftlichem Unabhängigkeitsgefühl erfüllter Mensch. Rebmann, eine dem Magister Laukhard verwandte Natur, gehört zu jenen zweifelhaften, brüchigen, halt- und hemmungslos umhergeworfenen Existenzen, an denen auch in Deutschland das stürmische Jahrhundertende nicht arm wars).

Ein so fanatischer Kämpfer „für jede Revolution und gegen fast jeden Thron“ fühlte natürlich häufig genug Veranlassung, sich in seinen zahlreichen und kurzlebigen Zeitschriften: dem „Neuen Grauen Ungeheuer“ (1795), der „Schildwache“ (1796), der „Geißel“ (1797), der „Neuen Schildwache“ (1798) und dem „Obskuranten-Almanach“ (1797 1800) mit der russischen Carin, der letzten Repräsentantin des ausgehenden aufgeklärten Absolutismus großen Stiles, auseinander- zusefen.

Stellen wir uns nach dieser subjektivsten aller Berichterstattungen auf den Boden einer objektiveren, so haben wir in unserer Überschau der deutschen Journalliteratur schließlich noch zweier Zeitschriften zu gedenken, die stärker als die bisher genannten wissenschaftliche Ziele verfolgen. Die „Minerva“, ein Journal historischen und poli- tischen Inhalts (1798 1809), geleitet von dem ehemaligen Hauptmann der friderizianischen Armee und ersten Geschichtsschreiber des Siebenjährigen Krieges Johann Wilhelm von Archenholz**) aus Lang- fuhr bei Danzig (1741—1812), der sich schon vorher als Redakteur der wissenschaftlichen Monatsschrift ,,Literatur- und Völkerkunde“ (1782—86) („Neue Literatur- und Völkerkunde“, 1787—91) versucht hatte, sollte vorzüglich der neuesten Geschichte aller Länder gewidmet sein, brachte aber dann zumeist nur Materialien zur Geschichte der französischen Revolution. Erst nach seiner Rückkehr von Frankreich

2) Vgl. N. v. Wrasky: A. G. F. Rebmann. Leben und Werke eines Publizisten zur Zeit der großen französischen Revolution. Diss. phil. Heidel- berg 1907, S. 3.

23) Vgl. auch dafür Arnold, Polenliteratur, a. a. O. S. 161 ff.

se) Vgl. Friedrich Ruof: Johann Wilhelm von Archenholz. Ein deutscher Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution (1741 1812). E. Eberings Historische Studien, Heft 131 (1915), S. 44 f.

221

nach Deutschland griff Archenholz auf den anfänglichen Plan zurück und brachte auch wieder andere Beiträge zur Zeitgeschichte. Für das Urteil der deutschen Zeitgenossen über Katharina Il. ist die „Minerva“ vor allem durch die Biographie des carischen Günstlings Potemkim aus der Feder des sächsischen Legationsrates Helbig, eines der unterrichtetsten damaligen Rußlandkenner, wichtig ge- worden, um von anderen interessanten und aufschlußreichen Artikeln ganz zu schweigen.

Noch mehr wissenschaftlich eingestellt und dem Charakter unserer heutigen wissenschafflichen Fachzeitschriften doch schon recht nahe kommend, war das von einem der berühmtesten Geo- graphen des Jahrhunderts, Anton Friedrich Büsching, herausgegebene „Magazin für die neuere Geschichte und Geographie“, das von 1767 bis 1793 in 27 Bänden erschien. Büsching war zweimal in Rußland gewesen, zuerst 1750 als Hauslehrer in der Familie des dänischen Ministerresidenten Grafen Lynar, das andere Mal als Pastor der lutherischen Gemeinde in Petersburg in den ersten Regierungsjahren Katharinas Il. (1761—65). Unterstüßt und gefördert von maßgebenden Persönlichkeiten wie dem Herzoge von Kurland, dem Feldmarschall Münnich und dem Grafen Johann Jacob Sievers, dem aufgeklärten Staatsmanne Katharinas ll., hatte er während seines Aufenthaltes in Petersburg umfangreiche Sammlungen historischen, geographischen und statistischen Materials anlegen können. Einen großen Teil dieser Materialien, die die Haupiquellen für seine „Erdbeschreibung“ bildeten, hat er nach seiner Rückkehr nach Deutschland in seinem „Magazin“ veröffentlicht, das zweifellos die genauesten, zuverlässig- sten und reichhaltigsten Nachrichten enthält, die wir aus jenen Tagen über Rußland besiken. Vollkommen erfüllte sich daher für seine Zeit, was er sich im Vorworte zum dritten Bande des „Magazins“, der vornehmlich der Geschichte Rußlands gewidmet isi, zum Ziel steckte: „Der Staatsverfassung und neueren Geschichte dieses Reichs die Aufklärung zu verschaffen, die es bisher nicht gehabt hat?”).“

Was den Quellenwert des in den deutschen Zeitschriften des achtzehnten Jahrhunderts mitgeteilten Materials über Rußland betrifft, so war dieser natürlich in den einzelnen Fällen ein sehr verschieden- artiger. Die Rußlandartikel der kleineren Journale waren wohl nicht allzu häufig „Originalbeiträge“, sondern aus der bereits gedruckten Rußlandliteratur geschopft. Als willkommene Hilfsmittel für solche Zwecke boten sich an das viel zitierte, von dem deutschen Ubersefer der Werke Katharinas Il. C. G. Arndt herausgegebene „St. Peters- burger Journal“ (1776—80), forigesebt als „Neues St. Petersburger Journal“ (1781—84), an dem auch Katharina selber mitarbeitete, oder die von 1781—91 in Riga erscheinenden „Nordischen Miscellaneen“ („Neue Nordische Miscellaneen“ 1792—98) des Pastors August Wil- helm Hupel (1737— 1819)2°), dessen Mitteilungen sich allerdings über-

27) Magazin, Ja. 1770. Bd. Ill. Vorrede. Vgl. auch A. F. Büschings

Lebensgeschichte. (1789), passim. 28) Vgl. Allg. Deutsche Biographie. Bd. XIII (1880), S. 422.

222

wiegend auf die Ostseeprovinzen bezogen. Beide, von denen die eine sozusagen unter der Aufsicht Katharinas entstand, die andere sich des Beifalls der Kaiserin rühmen durfte, waren von vornherein auf Auslandwirkung berechnet, haben jedoch auf die Dauer ihren Zweck nicht erfüllt»).

Ein wesentlich höherer Wert kommi den Rußlandartikeln der größeren deutschen Zeitschriften zu. Der weitaus größere Teil von ihnen stammte doch wohl von Leuten, die Rußland aus eigener An- schauung kannten; der Rest gewöhnlich von Gelehrten, die min- destens mit der vorhandenen Rußlandliteratur wohlvertraut waren. Die fortlaufenden Türkenkriegsberichte des „Politischen Journals“ können für ihre Zeit den Anspruch erheben, als. gründliche Kriegs- berichterstattung zu gelten. Sie berücksichtigen sorgfältig alles be- kannt gewordene Material, in erster Linie natürlich das offizielle: die Manifeste und Proklamationen der beiden kriegführenden Parteien. Die zeitgenössische historiographische und biographische Literatur hat aus eigenem Besik selten etwas herausgebracht, was die Ruß- landkenninis des damaligen Deutschlands wesentlich gefördert hatte. Sie betrachtete dieses gewöhnlich als Quelle, die sie in der Regel ziemlich kritiklos benugfte oder wohl gar einfach wörtlich ausschrieb. Infolgedessen geht man kaum fehl, wenn man den Quellenwert der Rußlandberichte in den größeren deutschen Zeitschriften höher ein- schätzt als den der übrigen Erzeugnisse der damaligen deutschen Publizistik, die Reisebeschreibungen im engeren Sinne ausgenommen.

Hannöversches Magazin.

Jg. 1765. Rußlands vorteilhafte Lage zum Handel nach Ostindien.

Jg. 1774. Untersuchung über die Veränderungen, welche bis auf unsere Zeiten in der russischen Gesekgebung vorgenommen sind.

Jg. 1779. Zustand der Chirurgie und Musik bei der russischen Armee.

g. 1780. Assemblee, Gesetze beschrieben von Wehrs.

1781. Bemerkungen über das Klima von King.

über die Einwohner Rußlands.

Jg. 1786. Pallas, Beschreibung des Schlangenberges, des vorzüglichsten russischen Bergwerkes.

Jg. 1788. Etwas über die Russen und Türken.

Ja. 1789. Eine bei dem Blutbade von Oczakow im Dezember 1788 gemachte Bemerkung. Aus den Briefen eines russischen Offiziers. Von Müller: Katharina befiehlt statt unterthanigster Knecht ge- treuester Unterthan zu sagen.

journal des Luxus und der Moden.

Ja. 1791. Uber aussen: seine Landesart, Sitten, Luxus, Moden und Ergöß- eiten.

Deuisches Museum.

Ja. 1776. Nachricht von der Expedition des Prof. Lowiz in Astrachan, der daselbst astronomische Beobachtungen anstellen sollte, von Inochodzew.

Catharina II. Ein Gemald ohne Schatten (Fr. Karl Moser). Uber die Volksmenge.

39) Vgl. Bilbasov, Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, S. 555.

15 NF 5 225

Ja. 1777. Rußlands auswärtiger Handel, beschrieben von Prof. Güldenstädt, mit Anmerkungen konzentrieret von Ch. Dohm.

Ja. 1782. Zustand der russischen Bergwerke.

Jg. 1783. Petersburgs neuester Handel.

Jg. 1786 f. Joach. Ch. Schulz, Aphorismen zur Kunde der kaiserlichen Staaten.

Goitingesches Magazin.

Jg. 3. Bemerkungen auf einer Reise von Petersburg nach der Krym.

Teuischer Mercur

Jg. 1774. Merkwürdigkeiten der russischen Völkerschaften aus Pallas. Jg. 1762. Einige nähere Umstände über den Guß von Peters Bildsäule. Jg. 1789. Uber die esthnischen und russischen Bäder, von J. Bellermann.

Historisch-literarisches Magazin. Ja. 1786. F. Ch. letze, Beitrag zu Katharinas Universalglossarium.

Ephemeriden der Menschheit.

Ja. 1776. Erziehungsanstalten in Rußland. Einschränkung gerichtlicher Instanzen.

Jg. 1776. Handelsertrag in den Jahren 1760, 1768, 1775.

Ja. 1781. 5 kais. Verordnung über die Verwaltung der Gouver- nementer. An die kaiserliche Akademie der Wissensch. in Petersburg. Neue Anstalten zu Petersburg zur Beförderung der Wissen- schaften und Kunste. |

Ja. 1782. Entwurf der bewaffneten Neutralität. Polizeiverordnung für Katholiken.

Jg. 1785. Rußlands geographische Veränderungen.

ußlands Knospen zu seinem künftigen Flor.

Russ. kais. Manifest bei Errichtung der Statue Peters d. Großen. Etwas neues von der russischen Landw smon

Jg. 1784. Medizinalverfassung von Rupana von J. C. S. aus Herren oor Baldingers neuem Magazin fiir Arzte d. VI. Stück 1, S. 69

Deutsche Monaisschrift.

Jg. 1793. Uber die öffentliche Sicherheit in St. Petersburg, von H. Storch. Freudenfest Peters d. Großen, von v. Wackerbart. Lebensgenuß in St. Petersburg.

Berlinische Monatsschrift.

Jg. 1783. Beitrag zur Charakteristik des russischen Hofes.

Jg. 1785. Nachrichten über die Jesuiten in Rußland.

Jg. 1787 f. Nachricht vom russischen Seekriege wider die Türken in den Jahren 1769—1773.

Jg. 1788. Schreiben Katharinas Il. an Frau v. d. Recke.

Jg. 1789. ler und Zustand der Jesuiten aus ihrem eigenen Staats-

alender.

Allgemeine deutsche Bibliothek:).

Bd. 54. 11,329. Nachricht von verschiedenen Völkern.

Bd. 60. 1,304. Katharina die Große lieset die A. d. B. u. a. deutsche Schriften mit Vergnügen.

Bd. 61. Il, 523. Beim Schulwesen soll ein höchst schädlicher Universal- schuldespotismus herrschen.

Bd.63. 1,189. Mangel an Ärzten.

Bd. 66. I, 7f. Gesetze wider Beschimpfungen.

Bd. 69. l, 7. Peter Ill. von Rußland, über seine große Liebe zum un- mäßigen Trinken.

1) Hier sind nur die selbständigen Artikel aufgenommen, nicht aber die auf die Rußlandliteratur bezüglichen Kritiken.

224

Bd. 76. I, 3f. Beiträge zur topographischen Kenntnis dieses Reiches. Bd.79. 1,188. Kirchliche Statistik, welche von dem gegenwärtigen kirch-

lichen Zustande dieses Reichs gute Nachrichten gibi.

Bd.80.11,509. Unterstükung Rußlands mit Geld und Offizieren durch

Preußen im vorigen Türkenkriege.

Bd. 86. 1,202. Rußlands Handel nach China.

1. 261. eons die Oleichheit der Stände wiederhergestellt a

Anhang V. 2. 1025. Rußlands berühmte Uneigenniikigkeit wird bezweifelt. Bd. 95. 11,341. Von Rußland und Österreich fürchtet man, daß sie die

Freiheit schwächerer Staaten bedrohen.

Bd.105. 1,166f. Die Kronbauern besigen kein erbliches Land. | Bd. 111. 11,530. Der Russen Anhanglichkeit an alte Gebräuche und Ab-

neigung gegen neue. II. 531. reer Kriege und Eroberungssucht schädigen den andel.

Bd. 112. 1,163. Leibeigenschaft in Rußland. II. 507

‚507. Gewissensfreiheit in Rußland. 11,508 f. Verteilung von Amitern ohne Rücksicht auf die Religion.

Hamburger Politisches Journal. Dauernde Berichte:

Jo. 1783. .

Ja. 1784. Jg. 1786.

Ja. 1787.

Jo. 1788. Jo. 1796.

1. Allgemeiner Bericht von den politischen Merkwürdigkeiten und Begebenheiten.

2. Nachrichten von verschiedenen Ländern.

Kriegsgeschichte. Anfang der Feindseligkeiten zwischen Rußland

und den Tataren. _

Manifest der Kaiserin von Rußland bei Besitznehmung der Krym.

Kurze Beschreibung der Krym und der Kubanischen Tatarey.

An Katharina, Rußlands große Kaiserin, ein Gedicht.

Genauere Geschichte der russ. u. türk. friedlich geschlossenen

und österr. und fiirk. fortgehenden Negotiationen.

Schreiben des Herrn v. Kosodowlew aus St. Petersburg an den

Herrn v. Thümmel von den Schulanstalten und anderen merkwür-

digen neuen Einrichtungen in Rußland. ;

Vorfälle zwischen den Russen und Tataren und in Georgien und

Agypten. Russ.-türk. Angelegenheiten.

Reise der russischen Kaiserin nach Kiew.

Briefe aus St. Petersburg. ,

Liste der Volksmenge in Rußland nach der neuesten Zählung in

allen Gouvernements.

Reise des römischen Kaisers und der russischen Kaiserin nach

Cherson. :

Kriegserklärung der oflomanischen Pforte gegen Rußland.

1 Fortgesetzte Geschichte. S. auch Jg. 1788, 1789,

1790, 2

Wahre Darstellung von dem Betragen der Kaiserin in Angelegen-

heiten der Krym. _

Tod der Kaiserin; Hist. stat. Schattenriß von ihr und Rußland unter-

ihrer Regierung.

Hamburger Adre§-Comtoir-Nachrichten.

Ja. 1784.

Nr. 13—16. C. D. Ebelings kurze Schilderung der gegenwärtigen Gouvernementsverfassung des russischen Reichs.

Historisches Portefeuille. Dauernder Bericht: Abriß der Begebenheiten.

Jo. 1786.

über Rußlands Arzte und medizinische Anstalten. Von der Volksmenge im russischen Reich. Ein ungedruckter Auf- sab aus St. Pbg.

225

Übersicht der Vor- und Nachfeile, welche für Rußland durch die Besignehmung der Krym entstehen können. Fabricius: Ungedruckte Briefe auf einer Reise durch Rußland im Jahre 1786.

Jg. 1787. Fabricius: Ungedruckte Briefe usw. Etat der Reichsleihebank in Petersburg. Krieg zwischen Rußland und der osmanischen Pforte. S. auch Jg. 1788, 1789.

Jg. 1788. Bemerkungen über die russische gegen die Türken ziehende Armee. Aus den Briefen eines bei derselben befindlichen Offiziers. Briefe über den bevorstehenden Türkenkrieg zur Aufklärung des zeitigen europäischen Handlungssystems. Krieg der beiden Kaiserhofe gegen die osmanische Pforte. Krieg zwischen Rußland und Schweden. Russische und schwedische Ministerialschriften.

Deuische Chronik.

Jg. 1774. Türkengesang. Pugatschew. Schliachigesang eines russischen Grenadiers nach der Schlacht bei Chocim.

Jg. 1775. Rußland.

Vaterlandische Chronik.

Jg. 1787. Auszug in den Krieg. Ein Bild aus dem Türkenkrieg. Weis- sagung Mahomeds.

Jg. 1788. Schlachtruf eines Ungarn. Kriegsblicke. Polen. Moskovia. Gang des Türkenkrieges.

Jg. 1789. Otschakof: Ein russisches Siegeslied. Der Kriegsdämon. Rußlands Entwicklung. Rußland. Katharina. Hinblick auf das sterbende Jahr 1789.

Jg. 17%. Katharina. Friede.

Jg. 1791. Sistovo. Vom Türkenfrieden: Geschlossen, geschlossen der wütige Kampf.

Chronologen. Jg. 1779. Russische Anekdoten.

Das graue Ungeheuer. Jg. 1787. Kriegsgeräusche. 3 Briefe aus Rußland, Österreich, der Türkei. Rußland und die Türken.

Hyperboräische Briefe. Jg. 1788. Mentor an Egisth: Ober den Tod Peters Ill. ne Dragut an Resinowics, Zween Dragusanische Patrizier: Uber den Krieg. Jg. 1789. Kultur und Barbarei. Markulf an Rhynsold: Für den Liebhaber. Rhynsold an Markulf: Zur Antwort. Palinodie.

A. Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalis.

Heft 1. Stadt-, Dorf-, Diözesen-, Kirchen-, Manufakturen-, Bauernmenge nach Peters d. Gr. Tode

Heft 2. Truppenbesoldungswesen im Jahre 1762. , l ;

Heft J. Abgabenzahlung aller kopfsteuernden männlichen Einwohner im Jahre 1725, 1745, 1766.

Heft 4. Verzeichnis der seit 1763 an der Wolga ange emen Kolonien.

Heft 5. Darstellung der Zunahme des Handels Rußlands im 18. Jahrhundert.

Heft 8. Kirchenlisten der Provinz Nowgorod. Rußlands Holzhandel.

Über die Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Heft 11. Uber Petersburgs Handel, Größe, Rußlands Einkünfte, Land- und Seemacht aus Reisenachrichten. : Heft 19. Extrait des remargues, qu'un voyageur a fait 1774 sur la Russie.

Heft 31. Volksmenge und Einkünfte der von Polen erhaltenen Provinzen.

Heft 48. Purna. der russischen Flotte in der Levante 1770—74.

Heft 60. ang der Ärzte, Aufwand im Innern des Landes, deutsche Be- dente, Branntweinseinkiinfte, Pockeninoculation, Papiergeld, erende Stadte.

A. Schlözers Staatsanzeigen. Heft 11. Russische Schulprojekte. Vgl. Heft 17. Heft 19. Russische Volksschulen. Heft 20. Rußland erčbert Konstantinopel nach einer alten Weissagung. Heft 27. Errichtung des Gouvernements Riga und Reval betreffend. Heft 37. Neue Kanäle. Heft 46. Uber Schwedens Krieg mit Rußland 1741 und 1788. Heft 48. Zustand des Schulwesens. Heft 49. Rußlands Verhaltnisse gegen Schweden. Manifest das Papiergeld betreffend.

Archenholz’ Minerva.

Jo. 1797. Justizpflege in einigen russischen Provinzen.

Jo. 1798. Historische Züge und Nachrichten zur Lebens- und Regierungs- geschichte der Kaiserin Katharina Il. gehörig.

Das neue graue lingeheuer. Jo. 1798. Fragment einer Reise durch Rußland und Polen.

Neue nordische Miscellaneen.

Bd. 1/2. Uber die im russischen Reich gebräuchlichen Strafen. Katharina II.: Etwas von ihrem Charakter.

Bd. 3/4. Eine ruhmwürdige Privatanstalt für arme Kranke in St. Pbg.

Bd. 7/8. Welches sind die vorteilhaftesten Manufaktur- und Fabrikbeschäf- tigungen in Rußland? Von Herrn Hofrat Müller. amanna fl. Ihre vorteilhaften und weisen Einrichtungen des

andels. Bd. 13. Katharinas Großmut gegen Gelehrte.

Forigesekie neue genealogische Nachrichten.

Jg. 1762. Die ersten Handlungen des neuen russischen Kaisers. Die merkwürdige Regierungsgeschichte des Kaisers Petri Ill. Die Entthronung des russischen Kaisers Peter Ill. und dessen darauf erfolgtes Ende.

Rigische Anzeigen. Jo. 1765. St.27. Joh. G. Herder, Gedicht auf Catharinas Thronbesteigung.

Lobgesang auf Catharina am Neujahrsfeste 1765 in: Gelehrte Beytrage zu den Rigischen Anzeigen 1765 St. 1.

227

MISCELLEN

POLNISCHE STUDENTEN IN FRANKFURT

Von Theodor Wotschke.

Im April 1506 wurde unfern der polnischen Grenze eine neue deutsche Hochschule, die Viadrina, eröffnet. Sie sollie die Landesuniversität des Kurstaates Brandenburg sein, aber auch die Siudenten des Ostens ab- fangen, die die deuischen Hochschulen, besonders Leipzig und die vor wenigen Jahren erst gegründete Leucorea besuchen wollten. Es ist ihr doch nicht geglückt. Ihre Ablehnung der Reformation und die wunderbare Ent- wicklung Wittenbergs ließ die lernbegierigen Jünglinge an ihr vorüber zur Elbstadt ziehen, und als sie der Reformation ihre Pforten öffnete, auch Georg Sabinus, der Schwiegersohn Melanchthons, dem Humanismus an ihr einen Aufschwung gab, kehrten sie wohl bei ihr ein, aber doch nur um bald weiterzuziehen, Wittenberg und Leipzig zuzustreben, da Lehrkräfte fehlten, die sie dauernd hätten fesseln können. Als sie nach einem Jahr- hundert reformierten Charakter erhielt, steigerte sich ihre Anziehungskraft für die Anhänger Calvins, aber schon war deren Zahl in Polen so stark zurückgegangen, daß sie jährlich eine größere Zahl von Studenten nicht mehr stellen konnten. Immerhin war Frankfurt ein bedeutender Kulturfaktor für den Osten, die deutsche Universität, die selbst im 17. und 18. Jahrhundert neben Königsberg noch etliche Studenten aus Polen aufsuchien. Diese waren an der Oder noch zu finden, als sie in Leipzig und Wittenberg schon wieder eine ganz unbekannte Erscheinung geworden waren: Unbemittelte polnische Studenten lockten ja auch die Stipendien, die hier wie am Joachimstaler Gymnasium für sie gestiftet waren. Ein interessantes Bild, die Wogen polnischen Zuzugs in Frankfurt zu beobachten, zu verfolgen, wie diese in 300 Jahren auf- und niedergingen. |

Natürlich lockte die neue Universität zunächst die deutschen Bürger- söhne in den Städt ten 5 Schon im ersten Jahre ihres Bestehens ließen sich an ihr zwei Posener einschreiben. Ihnen folgten Meseriger, Schweriner, 1520 auch zwei Krakauer aus den bekannten Familien der Schilling und Gutteter. Einige Posener seien mit Namen genannt: Stanis- laus von Watt, der Sohn des Schöffen Konrad von Watt, eines Bruders des berühmten Vadian, des Humanisten, Reformators und Geschichtschreibers von St. Gallen, der sich in Großpolens Hauptstadt niedergelassen, aber die Verbindung mit seinen Schweizer Verwandten immer aufrechterhalten, Herbst 1518 auch den Besuch seines berühmten Bruders in Posen emp- fangen hatte, ferner Kaspar Lindner, der Patriziersohn, auf dessen Stirn, mit dem Humanisten Andreas Trzecieski zu reden, der heilige Lorbeer griinte, ein Mediziner, der doch auch für die Sprachen das regste Interesse hatte, noch mehr für die große religiöse Frage, der Freund der Witten- berger, der Korrespondent des Wittenbergers Paul Eber, schließlich die Briider und Vettern Ridt, die Sohne der Kaufherren Zacharias und Hierony- mus Ridt, der reichsten Posener. Von ihnen hat Christoph Ridt (1568 Frank- furter Student, t 3. Februar 1606) seinen Namen tief in die Posener Ge-

228

schichte eingegraben. Auch die polnisch-katholische Sage hat sich seiner bemächtigt. Ausgehend von seinem Wappentier, der Rüde in seinem Ritterschilde, läßt sie ihn nach seinem Tode in einen wilden Wolf ver- wandelt werden und ruhelos umherirren. Den Posener deutschen Bürger- söhnen stelle ich zur Seite einen deutschen Bürgersohn aus Neustadt bei Pinne, Andreas Volan, der 1544 uns unter den Siudenten der Viadrina be- gegnet. Doch war er wirklich ein Deutscher? Sein Vater Johann aus schlesischem Adelsgeschiechte hatte sich in dem kleinen polnischen Städtchen niedergelassen und eine Kwilecka geheiratet. Als Sohn einer polnischen Mutter und in polnischer Umgebung aufgewachsen, wird er sich als Pole gefühlt haben. Er hat 1550 noch in Königsberg aus deufschem Geistesleben geschopft. In Litauen, wohin ihn sein Onkel Hieronymus Kwi- lecki, der Verwalter der Güter der Königin Bona Sforza, gezogen, ist er der Führer der Reformierten geworden, ihr leitender Theologe, unermüdlich die Feder führend im Glaubenskampfe, zugleich der Vater eines Theologen- geschlechtes, dessen Söhne noch nach zwei Jahrhunderten ihre Schritte zur Hochschule an der Oder lenkten. Vor allem aber müssen wir einen Frau- städter Schuhmachersohn nennen, den Frankfurt 1581 neben Leipzig ge- bildet hat, Valerius Herberger, den größten und bekanntesten deutschen Prediger im alten Polen, den frommen Schriftsteller und Dichter, dessen Lied: „Valet will ich dir geben, du arge, böse Well“ in jedem evangelischen deutschen Gesangbuche sich findet, auch in unzählige Sprachen überseßt ist.

Ein Franzose Spak hat Volan in seiner Jugend unterrichtet, deshalb wollen wir hier zwei Franzosen nennen, die in Frankfurt rasteten, hier lehrten und lernten, ehe sie den Wanderstab nach Polen weifersetzten, um hier eine Lebensstellung zu gewinnen: Antonius Felix aus Poitou, 1524 an der Viadrina immatrikuliert, dann unter dem Rektor Bedermann Lehrer an der Lubranskischen Akademie in Posen, hier freilich bald durch den Leip- ziger Magister Christoph Hegendorf in den Schatten gestellt, und Michael Nigonius, Doktor der Jurisprudenz, Schüßling Melanchthons, durch diesen schon 1540 Lektor in Wittenberg, 1542 in Frankfurt. Er hat in den folgenden zwei Jahren vergebens ein Amt in Polen zu gewinnen gesucht. Seine evan- gelische Überzeugung, über die er in seiner Heimat fast zum Märtyrer geworden ware, war ihm allenthalben hinderlich. Selbst der Kastellan von Sieradz, Stanislaus Laski, konnte oder wollte ihm nicht helfen; er empfahl ihn nach Königsberg. Auch Jost Ludwig Dieb, der bekannte Krakauer Groß- kaufmann, Diplomat und Humanist, schrieb für ihn an den Hohenzoller im alten Ordenslande. Den beiden Franzosen seien einige Italiener zur Seite gestellt, die Frankfurt zum Sprungbrett ihres Fortkommens in Polen zu machen gedachten. Georgio Negri aus Chiavenna und Franco Franci aus Conegliano in Venetien, Frankfurter Studenten 1552 und 1605. Dieser, in dem feurig das Blut kreiste und der in follkühnem, falschem Eliaseifer eine Prozession störte: „Was tut Ihr, das Brot, das Ihr herumiragt, ist nicht Gott!“ erhielt doch nur die Martyrerkrone 1611 in Wilna, und jener, der Sohn des namhaften Orientalisten Francesco Negri aus Bassano, fand ein nicht minder tragisches Ende. Pastor der italienischen Fremdengemeinde in Pinczow, dann schroffer Gegner der alikirchlichen Trinitatslehre und Parteigänger seines Landsmannes Socino, ist er gleichfalls eines gewalt- samen Todes gestorben, 1570 wurde er erschlagen. Und der, der ihn nach Polen gebracht und hier vier Jahre überlebt hat, Francesco Stancaro aus Mantua, der unheilvolle Zanker und Stanker, der die kleinpolnisch-evan- gelische Kirche 1559 f. in ein Chaos verwandelt, ihre werbende Kraft ge- brocken, dem Antitrinitarismus die Tür geöffnet, der unheilvollste Mann der polnischen Reformationsgeschichte? Welche Stellung er 1552 und Anfang 1555 in Frankfurt eingenommen, ist nicht recht klar. Als Hörer hat er sich an der Akademie nicht eintragen lassen, auch Universitatslehrer war er nicht. Privatim hat er unterrichtet, unter seinen Schülern mag er auch manchen Polen gehabt haben. Dazu ließ er bei Eichhorn seine Canones reformationis mit Widmung an den polnischen König drucken, ein Büchlein, nach dem die Reformfreunde im Osten in den nächsten Jahren fleißig griffen.

229

Doch nicht von Ostdeutschen, Franzosen und Italienern unter den Frank- furter Studenten, die sich später in Polen einen Namen gemacht haben und dem Geschichtsfreunde Beachtung abzwingen, wollen die folgenden Zeilen handeln, sondern von Polen, die es zum Oderstrande zwang und die hier ihre Ausbildung gefunden haben. Als erster von ihnen sei Lukas Jenkowski genannt, 1526 Student der Viadrina, Erbherr auf Krzeskowice im Kreise Samier, der Schubherr der böhmischen Brüder in Großpolen. Als einer der ersten von den adligen Herren hat er sich ihnen angeschlossen, und mit seinem Schwager, dem Scharfenorter Grafen Jakob, der 1532 in Leipzig studiert hat, wohin übrigens auch Jankowski zur Vervollständigung seiner Frankfurter Studien 1528 gegangen ist, war er immer zur Stelle, wo es galt, bedrängte Glaubensgenossen zu schützen, Verfolgungen von ihnen abzu- wenden. Einen Valentin aus Samier scheint er angeregt zu haben, gleich ihm die Studienfahrt nach Frankfurt 1533 zu unternehmen. Bedauern wir hier, daß uns der Familienname nicht genannt wird, so haben wir auch sonst zu klagen, daß das Frankfurter Studentenverzeichnis die polnischen Namen zuweilen in einer Fassung bietet, daß wir unter ihnen ihre Träger nicht immer zu erkennen vermögen. Der Albertus Apenpuff, den die Ma- trikel noch 1533 verzeichnet, ist doch ein Pempowski, Erbherrnsohn aus Biechowo bei Wreschen. Er ist mit seinem Bruder Christoph, den er nach sich zog, im folgenden Jahre auch nach Wittenberg gewandert. Auch ein dritter Pempowski, Petrus, und ein Matthias Konarzewski haben 1535 und 1536 ihre Schritte von der Viadrina zur Leucorea gelenkt. Da unter dem 4. Februar 1534 der König Sigismund das Studium in Wittenberg streng verboten hatte, sollte vielleicht das Frankfurter Studium die Wittenberg- fahrt verschleiern. Martin Niegolewski, der 1537 vor den Rektor trat, hat sich durch das Verbot wohl schrecken lassen. Er ist 1545 dafür nach Leipzig gegangen, während sein Bruder oder Vetter Stanislaus in demselben Jahre auch die Wittenbergfahrt wagte. Erasmus Glißner, der großpolnische Ge- neralsuperintendent, hat ihm 1565 eine kleine Schrift gewidmet, darin er vor den modernen AÄntitrinitariern warnt und ihre Verwandtschaft mit den ver- schrieenen Erzkebern der alten Kirche nachzuweisen sucht.

Im Jahre 1538 war der gefeierte Sabinus als Professor der Poesie und Beredsamkeit nach Frankfurt gekommen, im folgenden Jahre erhiclt die Universität eine evangelische theologische Fakultät, die mittelalterliche Scholastik an ihr mußte dem siegenden Geiste der Reformation und des Humanismus weichen. Der Zuzug aus Polen beginnt nun zu wachsen. Die Oderuniversitat ist auch fortan nicht mehr bloße Durchgangsstation für die Söhne des Ostens nach Wittenberg und Leipzig, wenn natürlich auch der Glanz der Leucorea weiter lockte. Manch einer läßt sich doch mit dem Studium an der Viadrina genügen. So 1542 Stanislaus Jaromirski, Johann Grocholski und Petrus Lanczki. Dieser war ein Schiibling des Meseritzer Hauptmanns Nikolaus Myszkowski. Durch ihn erhielt er das Pfarramt auf seinem Erbgute Spytkowice unfern der oberschlesischen Grenze, dann 1557 die ertragreiche Meserib-Schweriner Pfründe, der erste evangelische Stadt- pfarrer dieser Städte, nachdem evangelische Prädikanten hier schon ein Jahrzehnt und darüber im evangelischen Sinne gepredigt hatten. Im Jahre 1543 steigt die Zahl der polnischen Ankömmlinge auf zehn. Ich nenne von ihnen Johann Jaczinski aus der Gegend von Sierads, Johann Lawski, Hiero- nymus Konarski. Jakob Rokossowski, der noch vor ihnen sich einschreiben ließ, hat in Laube im Fraustädter Kreise die Reformation eingeführt. Er ist Oberschakkämmerer geworden und ist in Krakau 1580 verstorben, hat aber sein Grab in der damals noch evangelischen Pfarrkirche in Samter gefunden. Noch heute zeigt das Gotteshaus sein Sandsteindenkmal. Sein Studien- freund Stanislaus Obernicki, der Neffe des Tenutarius von Obornik Gregor Skora von Gaj, hat in Obornik die Reformation einzuführen gesucht, freilich damit auch 1562 ein königliches Edikt wider sich heraufbeschworen. Sein Bruder Albert ist noch 14 Jahre nach ihm 1557 zur Viadrina gekommen, dann aber an Wittenberg und Leipzig vorbei nach Italien gezogen. In Bologna hat er sich am 29. April 1561 einschreiben lassen. Noch in demselben Jahre

250

wurde er Ehrenrektor dieser altberiihmten Hochschule. Der beachtens- werteste Student des Jahres 1543 ist aber Stanislaus Ostrorog, Erbherr von Grätz und Neustadt (Lwowek), deshalb als Lwowski in die Universitäts- matrikel eingetragen. Wenn er im Gegensabe zu seinem Bruder, dem Scharfenorier Grafen Jakob, der 1532 in Leipzig studiert hat, ausgeprägter Lutheraner war, also gegen die böhmischen. Brüder sich ablehnend verhielt, so dürfen wir wohl annehmen, daß die lutherische Predigt in Frankfurt einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hat. Er war das Haupt der Lutheraner in Großpolen. Im engen Anschluß an Herzog Albrecht in Königsberg suchte er für sie zu sorgen. Synoden berief er, mit Vergerio und Melanchthon verhandelte er, um den Gemeinden eine Kirchenordnung zu geben, für die Übersetzung evangelischer Schriften ins Polnische sorgte er. Durch seine Frau Sophie Tenczynska, „die andere Placilla“, war er mit dem Reformator Johann Laski und mit Johann Boner, dem geadelten reichen deutschen Groß- kaufherrn in Krakau, verschwagert. Zu früh, viel zu früh für seine Kirche ist er 1567 heimgegangen, seine beiden Söhne, die ihm nach 18jahriger kinderloser Ehe geschenkt waren, in unmündigem Alter zurücklassend. Sie sind dann auch andere Wege gegangen als der Vater. Johann, der Marien- burger Hauptmann und Posener Wojewode, trat 1590 zur römischen Kirche über, Nikolaus, der Kastellan von Belz, zählte sich zu den Reformierten, ist selbst auf seiner Studienfahrt 1578 ff. nach Altdorf, Straßburg. Basel, Zürich an Frankfurt vorbeigezogen, hat auch seinen Sohn, einen Schüler des Dan- ziger Theologen Keckermann, nicht zur märkischn Hochschule, sondern 1611 nach Herborn in das Haus des Theologen Alsted gesandt. Sein katholisch gewordener Bruder hat dagegen seinen Sohn, der auch den Namen Nikolaus führte, 1617 nach Padua geschickt.

Im Jahre 1544 ging der Humanist Georg Sabinus, Melanchthons Schwieger- sohn, nach Königsberg, um dort an die Spitze der neu errichteten Hoch- schule zu treten. Die Viadrina verlor in ihm viel Anziehungskraft, 1545 suchte sie deshalb nur ein Pole auf, Christoph Politek aus Posen. Er war ein Verwandter des kursächsischen Kanzlers Brück. Für seinen Vater Petrus hat Melanchthon am 25. März dieses Jahres zur Feder gegriffen und ihn dem Grafen Johann Tarnowski empfohlen. Seinen Stiefbruder Georg, einen Sohn aus der zweiten Ehe des Vaters mit der Tochter des Posener Patri- ziers Jakob Korb, Hedwig, sehen wir 1558 in Leipzig. Von den wenigen Studenten der beiden nächsten Jahre seien Erasmus Krenski, ein Glied der Herrenfamilie in Kranz unfern Bentschen, genannt und Johann Bukowiecki, also Schlichting aus dem alten Herrengeschlechie in Bauchwib (Bukowiec). 1548 zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich Johann Powodowski. Er hat 1535 schon in Krakau studiert und lenkte nun seine Schritte noch zur Via- drina. Vielleicht wollte er zur Lutherstadt ziehen und hat ihn der Schmalkal- dische Krieg mit seinen Nachwehen nur bis zur Oder kommen lassen. Selbst vorübergehend ist er wohl für die neue Lehre nicht gewonnen worden, jedenfalls hat er als Kanonikus in Posen und Propst von Kosten alles getan, um die evangelische Predigt in dieser damals noch halb deutschen Stadt verstummen zu lassen, dann, als der Antitrinitarismus, wohl auch das Täufer- tum in Kosten um sich griff, dieses zu dämpfen. Verschiedene Edikte er- wirkte er gegen die Neuerer und zwang sie zur Abwanderung nach Schmie- gel, wo nun die unitarische Gemeinde mächtig aufbliihte. Als Kostens Gegenreformator muß unser Powodowski gelten. Neben ihm trat 1548 in Frankfurt vor den Rektor Petrus Potulicki, der Sohn des Wojewoden von Brest, der selbst zum Kastellan von Priment, Wojewoden von Plozk, Brest, schließlich Kalisch aufstieg (t1589). In Murowana Goslin hat er der Refor- mation eine Stätte geboten, seine Söhne Johann und Stanislaus 1582 nach Wittenberg geschickt, zur Stärkung des Protestantismus in Polen enge Ver- bindung mit Danzig und dem Herzog in Preußen unterhalten. Diesen lud er auch ein, als er am 13. Oktober 1585 seiner Tochter die Hochzeit aus- richtete und dabei den evangelischen Hochadel um sich versammelte. Vier Jahre nach ihm kam zur Viadrina sein Bruder Stephan, der Gönner des Generalsuperintendenten Glitzner, schon 1572 verstorben. Noch zeigt die

251

längst wieder katholisch gewordene Kirche in Cerads bei Buk, wo er die evangelische Predigt eingeführt hatte, seinen und seines Schwiegervaters Andreas jankowski, der 1534 in Leipzig studiert hat, Grabsteine.

Von den weiteren Studenten des Jahres 1548 fesseln unsere Aufmerk- samkeit Franz Gorajski und Johann Kwiatkowski, der Sproß ruhmreicher Türkenkämpfer, der 1558 noch nach Wittenberg ging, freilich um hier der Schwindsucht zum Opfer zu fallen. Albert Caprinus aus Buk, der 1550 durch Frankfurts Tore zog, hatte schon in Krakau studiert, dort auch magistriert, dort 1542 mit Widmung an den Bischof Maciejowski auch ein Judicium astrologicum veröffentlicht. Er hat sich später in Posen zu dem Evange- listen Trepka gehalten, durch ihn sich auch an Herzog Albrecht gewandt und von ihm die Mittel zu einer Studienreise nach Italien zu bekommen gesucht. Auch an Georg Sabinus machte er sich heran. Nur kurze Zeit blieb Johann Iwinski, dem Trzecieski in dem Ruhmeskranze, den er den polnischen evan- gelischen Adelsgeschlechiern geflochten, ein Blatt gewidmet hat, in Frank- furt, dann zog er weiter nach Wittenberg. Adam Brzeznicki, der sich 1552 einschreiben ließ, war der Sohn des Posener Bürgermeisters Hieronymus Brzeznicki (t 29.3.1563) und ein Bruder des Weihbischofs Jakob B., der fünf ae später zur Leucorea zog, des Biographen der Posener Bischöfe. Hat auch der dritte Bruder Hieronymus, der wie sein Vater Bürgermeister in Posen wurde, auf einer deutschen Universitat seine Ausbildung erhalten? Ich weiß es nicht. Weitere Studenten des Jahres 1552 sind Jakob Zlotowski, Stanislaus Starzinowski und Johann Chlapowski.

Zu den eben genannten, die an der Viadrina ihre Studien abschlossen, traten im folgenden Jahre (1553) nahezu 20 neue Sohne des Ostens, darunter Hieronymus Bojanowski, später Senior der böhmischen Brüder, Christoph Ostrorog aus der Neustadter Linie, Sohn des Kastellans von Ostriszow, und Simon Zegocki, ferner Gabriel Splawski, drei Brüder Jaskolecki, Bartholo- mäus Ossowski und Christoph Krajewski. Verschiedene von ihnen haben sich nach Wittenberg gewandt, so Christoph Ostrorog mit seinem jüngeren Bruder Martin, dem späteren Kastellan von Kamieniec. War der Albert Kaminski aus Posen, der im Wintersemester zur Hochschule eilte, ein Sohn der bekannten Goldschmiedfamilie Kamin, ein Sohn des Meisters Erasmus, von dem die Bibliothek des Gewerbemuseums in Berlin noch Musterblatter besitzt? Aus angesehener Posener Familie war jedenfalls sein Kommilitone Stanislaus Grodzicki. Sein Vater Johann hat als Bürgermeister verschiedent- lich an der Spitze der Stadt gestanden, sein Schwager Blasius Winkler, der Gatte seiner Schwester Hedwig, war lange einflußreicher Stadtschreiber. Aber war die Familie auch mit dem Schweizer Konrad von Watt in Posen, dem freudigen Anhänger der Reformation, verschwagert, sie war doch streng katholisch, und unser Frankfurter Student Stanislaus Grodzicki ist 1571 in Rom in den Jesuitenorden getreten, der Ordensgeneral Aquaviva sein naher Freund geworden. Er hat später in der Heimat viele der vor- nehmsten Familien in den Schoß der römischen Kirche zurückgeführt. Hat er schon in Frankfurt jenen Fleiß gezeigt, der ihm später den Namen „Bücherverschlinger“ eingetragen? 1615 ist er in seiner Vaterstadt ge- storben. Der junge Johannes Winkler, der zwei Jahre nach ihm zur Oder- stadt kam, war doch wohl sein Neffe. Neben ihm trat in die Hochschule ein, bereits von Wittenberg kommend, Martin Ostrorog, der spätere Haupt- mann von Kowel, 1586 auch Kastellan von Kamieniec.

1555 kehrte Georg Sabin von Königsberg nach Frankfurt zurück, und sofort stieg der polnische Zuzug. 26 junge Edelleute des Ostens ließen sich 1556 einschreiben, unter ihnen die zwei Brüderpaare Lukas und Stanislaus und wieder Stanislaus und Johannes Koscielecki, die Söhne des Lenschitzer Wojewoden Stanislaus und des Sieradzer Wojewoden Johannes Koscielecki, der beiden bekannten Gegner der Reformation. Der letztere aber hat seine Söhne selbst nach Wittenberg gesandt, auch mit Melanchthon wegen eines Lehrers für sie Briefe ausgetauscht. Dorthin zog von der Viadrina auch Thomas Okun, der Sohn des Hauptmanns von Rawa, und Johann Gorinski, der Sohn des Wojewoden von Masowien. Diesen beiden lebteren hat Zacharias Prä-

252

torius, der namhafte neulateinische Dichter, ein Karmen gewidmet, während Wenzel Ostrorog Stanislaus und Johann Koscielecki eine kleine Dichtung zueigneie. In Frankfurt hat man wohl nicht weniger als in Wittenberg lateinische Verse geschmiedet und den vornehmen Herrensöhnen überreicht, sie sind uns nur nicht mehr erhalten. Eine „Catechesis sanctorum patrum“ hat am 16. April 1556 der Frankfurter Professor Muskulus den Führern der Lutheraner im Posener Lande Nikolaus Myszkowski, Lukas Gorka und Stanislaus Ostrorog gewidmet. Von dem niederen Adel haben sich 1556 einschreiben lassen Albert Kodowski, Thomas Rataiski, Stanislaus Laricki, aus Kleinpolen Ambrosius Pempowski, aus Kujawien die Brüder Philipp und Albert Zakrzewski, um nur diese zu nennen. Letztere kamen von Wittenberg und waren auf dem Wege zur Heimat.

Der erste Litauer erschien in Frankfurt zum Studium, soweit ich sche, im Jahre 1557 in Stanislaus Kmita. Aus dem Posener Grenzlande kam in demselben Jahre Troilus Policki, der zweite Sohn des Posener Nofars und Erbherrn von ang Albert Policki, dazu zwei Brüder Petrus und Stanis- laus Karnodowski. Nikolaus Latalski ging mit dem Krakauer Johann Rosz- kowski von der Viadrina nach Leipzig, später auch Petrus Przylepski und Albert Koscielski, den wir als Vertreter der Gemeinde Radziejow nahezu vierzig Jahre später auf der Thorner Generalsynode sehen, während andere mit einem Studium in Frankfurt sich begnügten. Besondere Beachtung ver- dienen die vier Söhne des Kalischer, bald Posener Wojewoden Martin Zborowski: Martin und Petrus, Andreas und Samuel, sie sind 1560 und 61 auch nach Wittenberg gegangen, haben aber wohl nicht die ganze Zeit seit 1557 an der Viadrina zugebracht. Der eine von ihnen, Andreas, war jeden- falls inzwischen in Wien gewesen und dort von Hosius für den alten Glauben zurückgewonnen worden. Er hat an ihm auch im Gegensabe zu seiner ganzen Familie festgehalten; der Aufenthalt in Wittenberg, wohin ihn der bekümmerte Vater Anfang 1561 kommandierte, hat ihn nicht um- stimmen können. Er starb als Hofmarschall 1589, sein ältester Bruder Martin, Kastellan von Kriewen, von dem Wittenberger Professor Georg Major durch die Zueignung seiner Erklärung des Philipper- und Kolosserbriefes geehrt, ging frühzeitig heim, der zweite Bruder Peirus, der Direktor der General- synode zu Sendomir, schloß als Wojewode von Krakau 1580 seine Augen, der jüngste Samuel mußte bekanntlich am 26. Mai 1584 das Schafott be- steigen, worüber die Fehde der Häuser Zborowski und Zamojski entbrannte, die uns Caro mit Meisterhand gezeichnet hat.

Noch können wir vom Jahre 1557 nicht scheiden, ohne Johann Trze- buchowskis, des Neffen des einflußreichen königlichen Kammerers und Se- kretärs Nikolaus Trzebuchowski, zu gedenken, sowie der Brüder Nikolaus und Matthias Orzelski. Der letzte war später Richter von Nakel, die Posener Februarsynode 1582 erwählte ihn, zusammen mit einem Severin Palecki die Beiträge zum Ausbau des evangelischen Schulwesens einzu- ziehen. Von Frankfurt sind die drei Genannten nach Wittenberg weiter- gezogen. . Ebenso ein Johann Colmei aus Gostin, während Petrus Mier- zwinski, Matihias Pronski, Bartholomäus Libarski, wie auch Jakobus Rosra- zewski aus angesehenem evangelischen Geschlechte anscheinend direkt wieder nach der Heimat gingen.

1558 gewann die Viadrina in dem Professor und Poeten Johann Schosser eine füchtige humanistische Kraft. Von Wittenberg, wo er bis dahin gelebt, gewirkt, gedichtet hatte, entließen ihn die Freunde mit der Mahnung, den Pieriden am Oderstrande eine rechte Heimstatte zu schaffen. Er hat auch den Humanismus mit Nachdruck vertreten, gleichwohl begann jezt schon der Zuzug aus dem Osten etwas nachzulassen. Stanislaus Sirzalkowski, seit 1554 schon in Wittenberg, folgte wohl dem geliebten Lehrer Schosser zur neuen Wirkungsstätte, aus der Heimat erschienen ` Johann Rozdrazewski, zwei Brüder Slupski, Andreas und Matthias und Nikolaus Czarnotulski. Die Orzelski zogen zwei Brüder nach sich, darunter Swientoslaus, den späteren Hauptmann von Radziejewo, den glänzenden Redner und bedeutenden Historiker, der 1595 auch der Thorner General-

255

synode prasidierte. Der Zug seines Herzens führte ihn im Mai 1564 mit seinen Brüdern Matthias und Johannes zur Lutherstadt; er wollte noch tiefer aus deutschem Glaubens- und Geistesleben schöpfen.

War 1558 ein Nikolaus Kaczkowski nach Tübingen und Basel gezogen, so erschien ein Stanislaus Kaczkowski 1559 an der märkischen Hochschule, ihm folgten Jakob Koszucki, Matthias Ponetowski, Valentin Ciwinski, Paul Pawlowski, dieser anscheinend ein Sohn des vor Posens Mauern begüterien Stanislaus Pawlowski, der die reiche Posener Patriziertochter Dorothea Lindner heimgeführt hatte. Weiter traten 1559 vor den Rektor mit der Bitte um Immatrikulation Martin Lipinski, Adam Balinski und Martin Skrze- tuski. Dieser suchte, nachdem er seinen Bruder Johann noch hatte kommen lassen, in den nächsten Jahren auch noch die Leucorea auf. Er war der Sohn eines Posener Goldschmieds, Ratsherrn und Bürgermeisters, war später Tenutarius in Meserif, verschiedentlich auch Gesandter in Berlin; mit Diestelmeyer hat er korrespondiert. Die weiteren Studenten des Jahres 1559 wollen wir übergehen, nur bei zweien von ihnen noch einen Augenblick verweilen, Sebastian Grabowiecki und Stanislaus Reszka. Jener, der Sohn des Kämmerers der Königin Katharina, Stanislaus Grabowiecki, der Neffe eines Wittenberger Studenten vom Jahre 1536, der sich als Gabriel Grabo- fels in die Matrikel der Lutherstadt hatte eintragen lassen, ist noch nach Italien gewandert und hat sich später mit einer Ehrendame der Prinzessin Anna verheiratet. Früh verwitwel, ist er in den geistlichen Stand getreten, hat 1585 auch, seine Frankfurter Studien verleugnend, wider Luther ge- schrieben, ferner durch fromme Lieder sich einen Namen gemacht. 1592 ist er Abt des alten deutschen Zisterzienserklosters Blesen geworden, das wie die anderen deutschen Klöster in Polen sich schon seit Jahrzehnten pol- nische Abte gefallen lassen mußte. Nachdem er noch die durch eine Feuersbrunst zerstörte alte Klosterkirche wieder aufgebaut, ist er 1607 ver- storben. Eine ähnliche Entwicklung durchlief sein Frankfurter Studienfreund Reczka. Bald nachdem er die Viadrina verlassen, trat er in die Dienste des Kardinals Hosius, folgte ihm auch nach Rom, Wien, Trient, half ihm mit seinen an der evangelischen deutschen Hochschule erworbenen wissen- schaftlichen Kenntnissen bei seinen literarischen Arbeiten, sammelte ihm besonders die Stellen aus den Kirchenvätern, die er in seiner Polemik gegen die Reformation verwerten konnte, übernahm auch die Widerlegung der ersten Centurie von des Flacius großem kirchengeschichtlichen Werke. In Neapel ist dieser Frankfurter Student 1600 verstorben, nachdem ver- schiedene Reisen ihn nach seinem Vaterlande gelegentlich zurückgeführt hatten. Auch hat er sich als Biograph des Hosius einen Namen gemacht. In seiner Polemik gegen den Protestantismus und gegen das Ideal seiner Jugend gefällt er sich im Unterschiede zu Grabowiecki oft in recht ge- hässiger Schreibweise.

_ 1560 starb Frankfurts bekanntester Lehrer Sabinus, der schon infolge seiner verschiedenen Gesandischaftsreisen sich großer Wertschabung in Polen erfreut hatte. Hatte ihm doch einst (1536) der Primas Krzycki gar versprochen, zu seiner Hochzeit in Wittenberg in Melanchthons Hause als Gast zu erscheinen. Sein Tod, dann der wenige Jahre darauf anhebende Lehrstreit zwischen den Professoren Muskulus und Pratorius schwächte die Anziehungskraft der Hochschule, der Zuzug aus Polen ließ nach. Für 1560 nenne ich von polnischen Studenten Johann Otto Kwilecki und Wenzel Tolibowski, Albert Mielczynski und Albert Wolski, weiter Martin Strzal- kowski, der von Wittenberg kam, und Martin Przepalkowski, der nach Wittenberg ging. 1561 haben nur sieben Polen das akademische Bürger- recht erbeten, wieder ein Mielczynski, Christoph mit Vornamen, Lisowski und aus dem Dobrzyner Lande neben Wenzel Chodowski zwei Brüder Chel- micki, Stanislaus und Johann. Waren es Brüder des Adrian Chelmicki, des Dobrzyner Vogts, der 1554 in Wittenberg studiert, wie sein Onkel, der Kruschwitzer Kastellan Johann Grabski, auch mit Melanchthon korrespondiert hat? Stanislaus Zawadski, also ein Kurzbach, der auf Zawada an der schlesischen Grenze saß, als letzter der Polen 1561 immatrikuliert, ist im

254

Sepre moci des folgenden Jahres mit den Scharfenorter Grafensöhnen Wenzel und Johann noch nach Heidelberg, ihnen dann 1563 voran nach Basel gezogen. Vierzig Jahre später zog ein anderer Stanislaus Kurkbach von Zawada nach Wittenberg, ein Lukas und Johannes 1604 auch nach Helmstedt, wo der große Caselius sie aufs freundlichste aufnahm, Lukas gleichfalls auch nach der Lutherstadt und nach Leipzig.

Die wenigen Studenten der Jahre 1562 und 63 übergehen wir, nennen für 1564 Albert Chlapowski, Wenzel Obarecki und Kaspar Wilkowski aus dem Süden des Posener Landes. 1564 sandte der Gorkasche Kanzler in Posen Matthias Poley, ein Schlesier aus Schweidnif, der 1538 in Witten- berg studiert hatte und dann in die Dienste des Posener Hauptmanns Gorka getreten war, durch seine Heirat mit Lucie von Ende mit den ersten Posener Familien sich verschwägert hatte, seinen ältesten Sohn Christoph zur Viadrina. Professor Schosser nahm daran Gelegenheit, dem Posener Kanzler ein Sinngedicht auf die Blume in seinem Wappenschilde zu widmen: „in lilia et pulegium Matthiae Polegii.“ Jakob Sarbski und Johann Boja- nowski begnügten sich mit den Frankfurter Lehrern, aber von den beiden Brüdern Matthias und ae Wojnowski zog der ‘lebtere, „ein gelehrter, versuchter Gesell, guter Poet, feiner Historiker, guter Graecus, perfec- tissimus Hebraeus“, wie ihn Lorenz Müller in seiner polnischen und liv- ländischen Geschichte nennt, 1567 nach Heidelberg, dann auch nach Basel. Noch von Frankfurt aus hat er Jakob Ostrorog, als er die Posener Haupt- mannschaft 1566 erhielt, einen poetischen Glückwunsch gewidmet.

Für 1566 nennt die Matrikel einen Stanislaus Minski, Andreas Skrzyd- lewski, dazu Felix Kosmas aus bekannter Bromberger Familie. Er war 1563 schon nach Wittenberg gezogen, wie seine Brüder Valentin und Vitus 1559 auch die Viadrina aufgesucht hatten. Später finden wir die Söhne dieses Bromberger Geschlechts auf dem Gymnasium in Danzig. 1567 lenken unsere Augen auf sich Lorenz Jactorowski, der gleichfalls schon in Witten- berg war, und Johann Chrastowski, vor allem aber die Brüder Andreas und Petrus Czarnkowski, die Söhne des Schrimmer Kastellans und Kostener Hauptmanns Albert Czarnkowski aus seiner Ehe mit Barbara Gorka. Mit ihrem Lehrer Matthäus Wengierski waren sie zur Hochschule gekommen. Der ältere Bruder wurde 1569 Ehrenrektor der Akademie. Viele Glück- wünsche wurden ihm da in wohlgesetzten Versen dargebracht. Die Lati- nisten Frankfurts wetteiferten, ihm ihre Aufmerksamkeit zu erweisen. Natürlich fehlte in ihrem Chor auch Schosser nicht. Schon die Mutter Barbara hatte seine Muse gefeiert, als er sie kennengelernt hatte, da sie ihre Söhne in der Oderstadt besuchte. Ebenso eignefe man Czarnkowski Geleitsgedichte, Propemptica, zu, als er 1572 die Stadt verließ. So viele auch sonst den Söhnen Sarmatiens bei ihrem Scheiden gewidmet sein mögen, sie allein sind uns erhalten geblieben. Andreas Czarnkowski ist dann nach Italien und Frankreich gezogen, „hat an nützlicher Lehre und Sprachen einen rühmlichen Schab sich erworben“, sagt eine alte Nachricht. Aber der Aufenthalt in katholischen Ländern loschte alles in seiner. Seele aus, was er in Frankfurt gesehen und gelernt hatte. Er wurde streng katholisch, und als ihm nach dem Tode des kinderlosen Stanislaus Gorka, des Wittenberger Ehrenrektors vom Jahre 1554, die weiten Gorkaschen Güter zufielen, nach dem Tode seines Schwiegervaters Stanislaus Latalski und dem frühen Heimgange seiner Gattin auch ein Teil des Latalskischen Besitzes, hat er alle Kirchen, über die er nun Patron geworden war, rekatho- lisiert, der größte Gegenreformator im Posener Lande. Neben den Czarn- kowskis finden wir 1568 an der Viadrina Johann Bronikowski, Johann Zych- linski und drei Brüder Jaskolecki, ferner Albert Granowski, den Sohn der Erbherrnfamilie in Granow bei Gräß. Aus Posen ließ sich einschreiben Andreas Trepka, der Sohn des Evangelisten Eustachius Trepka, des fleißigen Übersebers evangelischer Bücher ins Polnische, der selbst an eine Übertragung der Bibel sich machen wollte, 1558 aber jah durch einen Schlaganfall aus seiner fleißigen Tätigkeit herausgerissen worden war. Seinen Sohn hatte Herzog Albrecht schon nach Preußen kommen lassen,

255

um ihn dort seinen Pagen einzureihen, jetzt erschien er in Frankfurt, doch im nächsten Jahre ging er nach Meißen, wo ihm der sächsische Kurfürst auf Vorstellungen des Grafen Lukas Gorka eine Freistelle gewährt halte.

Naturgemäß kamen die polnischen Studenten meist aus dem nahe- gelegenen Großpolen nach Frankfurt, doch gelegentlich auch aus dem ferneren Kleinpolen. So meldeten sich zur Aufnahme dem Rektor 1569 vier Brüder Stadnicki aus Dubiecko unfern Przemysl, Nikolaus, Johannes, Samuel und Andreas. Ihr Vater Stanislaus, durch seine Gattin Barbara ein Schwager der obengenannten Zborowski, war einst der argste Priester- feind gewesen. So hatte er den Bischof Johann Dziaduski, dem er wegen einer Gewaltiat zürnte, überfallen, niedergeworfen und alle Anstalten zu seiner Entmannung getroffen, in letzter Minute ihn aber noch unverstiimmelt wieder freigelassen. Natürlich hatte er die Kirchen auf seinen Gütern evangelischen Prädikanten eingeräumt, aber es war doch mehr der Geist des Widerspruchs gegen Rom, der ihn beseeltc, und der Haß gegen die weltliche Macht der Hierarchie, der ihn trieb, als Freude an der evan- gelischen Verkündigu gung. Sein Widerspruchsgeist brachte ihn auch bald zu den Evangelischen in Zwiespalt, er entschied sich für den zankischen Stan- caro und seine Sonderlehre, wurde der Patron und Schubherr dieses Italieners, der die Entwicklung der Reformation in Polen so unheilvoll be- stimmt hat, wechselte über ihn auch mit Calvin Briefe, konnte um seinet- willen rechigläubige Pastoren aus ihren Pfarren vertreiben. Sein ältester Sohn Stanislaus, ihn in Troß, Eigensinn und Jähzorn noch überbietend, „der Teufel von Lancuf“, war 1565 nach Heidelberg gegangen, die jüngeren Söhne, die später sämtlich zur römischen Kirche ubertraten, beschränkten sich auf den Besuch des näher gelegenen Frankfurts.

Während daheim die Synode zu Sendomir zusammentrat, die einen verheißungsvollen Zusammenschluß der evangelischen Bekenntnisse brachte, nahten sich der Viadrina zwei Brüder Johann und Andreas Siedlecki, Söhne des Landrichters von Hohensalza Johann Siedlecki. Auch die jüngeren Söhne Nikolaus und Thomas kamen nach dem Tode des Vaters 1580 zum Oderstrande, freilich um zum Elbestrande ein Jahr später weiterzuziehen. Interessanter als sie ist ihr Kommilitone, Andreas Lubieniecki, der älteste der drei Sohne des Lubliner Richters Stanislaus Lubieniecki, seit 1586 uni- tarischer Pastor zu Schmiegel, der erste Antitrinitarier, von dem wir in Frankfurt wissen. Weitere deutsche Universitäten hat er, soweit ich sche, nicht bezogen, dafür finden wir seinen Bruder Christoph, den Großvater des bekannten Kirchenhistorikers, 1578 in Altdorf, 1581 in Basel, in dem- selben Jahre auch in Genf, 1582 wieder in Altdorf. Schade, daß uns nichts Näheres über seine religiöse Entwicklung bekannt ist, wir nicht wissen, wann und wo er an der Trinitatslehre der Kirche irre geworden ist.

Die Ehrung, die die Universitat Andreas Czarnkowski erwiesen, trug ihre Frucht. Für die weitverzweigte Familie war es fortan selbstverstandlich, ihre Söhne zur Hochschule zu senden, die ihr Zepter einem ihrer Glieder anvertraut hatte. So sehen wir an der Viadrina schon 1570 Sendivogius Czarnkowski, 1574 Andreas Sendivogius, den Sohn des Generalstarosten und Hauptmanns von Peisern, mit Matthias Nadolski. Im nächsten Jahre reichte die Universität auch seinem Bruder Adam das Zepter. Professor Schosser mit seiner immer bereiten Feder hat ihn bei seinem Einzug in die Stadt begrüßt und beglückwünscht zu seinem Studium. 1578 erschienen noch die Brüder Stanislaus und Johann Czarnkowski. Als diese zur Hoch- schule kamen, fanden sie dort unter anderen Landsleuten die Brüder Andreas und Petrus Potulicki, die schon 1573 mit einem ganzen Gefolge eingetroffen waren. Erst 1581 zogen sie weiter nach Wittenberg und Leipzig. Sie waren Neffen der beiden Potulicki, die in den vierziger und fünfziger Jahren zu des Melanchthon und Sabinus Füßen gesessen haben, Söhne ihres Bruders Kaspar, der an behaglichem Landleben sich mehr er- freute als an glänzenden Ehren, deshalb alle Amter, die auch ihm, dem Wojewodensohne, angeboten waren, abgelehnt hatte. Seinen Namen bietet weder die Frankfurter noch die Wittenberger Matrikel, doch muß auch er

256

in engen Beziehungen zu dem Prazeptor Germaniae und seinem Schwie- gersohne, dem gefeierten Humanisten, gestanden haben, wie ein Brief Schossers an ihn verrät: „Devinxisti tibi duorum inter mortales clarissi- morum benevolentiam Georgii Sabini et Philippi Melanchihonis, quibus una cum fratre recte simul et inielligendi ct vivendi magistris utebaris.“ Gelingt es einmal alle Fäden aufzudecken, die die Edelsöhne des Ostens mit den großen deutschen Lchrern verknüpften, ganz überraschend groß wird deren Einfluß in Polen sich erweisen. Freilich war hier die Hinneigung zu deutschem Glauben und Wesen nur eine vorübergehende Erscheinung.

Aus den siebziger Jahren seien noch genannt Friedrich und Sigismund Gorski aus dem Miloslawer Erbherrngeschlechte, das durch einige Ge- nerationen auch die Hauptmannschaft Fraustadi besaß, Stanislaus jac- torowski, verschiedene Kosmider, Johann Roznowski, für 1580 Lucas Chrosciewski. Dieser war der spatgeborene Sohn des Stanislaus Chro- sciewski, des unter dem Namen Niger bekannten Arztes aus Ciechanow in Masowien, der in Posen gelebt und gewirkt hat, eines freudigen Anhangers der Reformation, eines der besten Freunde Trepkas, bekannt auch mit dem italienischen Romhasser Vergerio. Im Jahre 1567, in der evangelischen Zeit Posens, da Jakob Ostrorog Hauptmann von Großpolen war, siand er Bürgermeister an der Spibe der Stadt. Zu den berühmten Arzten Polens wird er gerechnet, deshalb sei noch bemerkt, daß er 1537 in Leipzig studiert, hier im folgenden Jahre auch ein Epicedion veröffentlicht hat. Am 5. April 1544 hat er sich noch in Padua einschreiben lassen, wohin sein Sohn Johann, der später auch in Posen praktizierte, 1611 auch Bürgermeister wurde, aber die religiöse Stellung seines Vaters nicht teilte, auch im Sommer 1582 ging.

Waren es meist junge polnische Edelleute, die ihre Ausbildung auf der deutschen Grenzuniversitat suchten, 1581 kam doch zu ihr auch wieder ein- mal ein junger Theologe, Daniel Mikolajewski. Fünf Jahre später führte er als Prazeptor die Sohne des Kastellans von Lond, Albert und Wladislaus Przyjemski, nach Heidelberg. Im Jahre 1601 ging er im Auftrage des Lissaer Grafen Andreas nach Basel zu dem Theologen Grynäus und nach Genf zum Patriarchen Beza, führte auch zwei gräfliche Stipendiaten von Altdorf nach Basel. Nicht der lutherischen Formulierung der evangelischen Erkenninis, wie sie ihm in Frankfurt entgegengetreien war, gehörte also sein Herz, sondern der reformierten. Als reformierter Pastor und Senior in Radziejow hat er auch später gewirkt, hier alle Not der Verfolgung kennengelernt, verschiedene Verwüstungen und Plünderungen seiner Kirche durchgemacht, schließlich die Vernichtung seiner Gemeinde erlebt und zum Exulanienstabe greifen müssen. In Swierzynek in Kujawien fand er, der auf der Thorner Generalsynode übrigens als Schriftführer tätig gewesen, ein neues Amt. Hier ist er lebenssatt 1633 gestorben. Raphael Nowo- wiejski, 1581 eingeschrieben, trat in die Dienste des Erbherrn von Koz- minek und begleitete ihn 1585 nach Heidelberg. Zehn Jahre später eilte er zur Generalsynode nach Thorn. Für das Jahr 1582 nennt uns die Matrikel Martin und Andreas Gorzenski, doch wohl Söhne des Herrengeschlechts in Bucz unfern Posen, für 1584 Christoph Chelmski, Martin Silnicki und zwei Vettern Przylenski, die sämtlich 1585 bzw. 1586 ihre Studien in Heidelberg fortsetzten. Als Begleiter hatte Chelmski auf seiner Fahrt zur Neckarstadt den Posener Patriziersohn Konrad Ridt, mit ihm zog er 1587 auch nach Freiburg, 1592 nach Padua. Im folgenden Jahre verzeichnet das Studenten- album außer den beiden schon erwähnten Przyjemski Bonaventura Sobocki und Matthäus Hermes. Beide gingen 1587 gleichfalls nach Heidelberg. Der lebtere war der Sohn des Pfarrers in Cienin unweit Peisern, Nikolaus Hermes, der selbst einst aus seiner Heimat Mähren 1560 zum Studium nach Wittenberg gezogen, dann auf Veranlassung Wenzel Ostrorogs nach Polen gekommen war. Noch an der Thorner Generalsynode hat er 1595 teil- genommen, drei Jahre später aber seine Augen geschlossen.

1587 traten vor den Rektor zwei Brüder Pronski, Florian Grozlicki und Adam Nastrecki, 1589 außer Stanislaus Rambinski und Theodor Karnkowski,

257

die mit_ihrem Hofmeister Petrus Piotrkowski zur Hochschule gekommen waren, Zbigniew Lanckoronski, der Sohn des Radomer Kastellans Christoph Lanckoronski. Sein Bruder Prädislaus war dagegen 1581 nach Wittenberg, 1584 nach Altdorf gewandert. Unser Frankfurter Student war einer von den vielen, die sich später freigemacht haben von ihren Studienerinnerungen und von dem Ideal ihrer Jugend; die Kirche in Olesnica an der Weichsel hat er katholisiert. In dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts begegnen uns unter den Studenten in Frankfurt zwei Wolski, ein Johann Branski, zwei Brüder Nikolaus und Albert Strzelecki, Zbygniew Gorkowski, drei Mynski, Georg Rzeczycki. Dieser war ein Sohn des Lubliner Kämmerers Andreas Rzeczycki, den die Sorge um seine Kirche 1595 nach Thorn auf die Synode getrieben halte. Ein Glied seiner Familie war schon 1577 nach dem un- längst eröffneten akademischen Gymnasium in Altdorf gepilgert. Johann Statorius oder Stoinski, der 1597 um Aufnahme bat, war der Sohn des Lus- lawicer und Rakower Pfarrers Petrus Statorius, der selbst 1582 in Altdorf studiert hatte. Er war wie sein Vater Unitarier. Er ist mit seinem Bruder Stephan 1598 auch noch zur Palaeocome gezogen, dann Nachfolger seines Vaters in Rakow geworden, hat hier den Raub der Kirche, die Zerstörung der Schule erlebt und selbst geächtet nach Holland flüchten müssen. Ging er von der Viadrina noch zur Palaeocome, so zog 1603 zur Ruperta Daniel Jezierski, der Kurower Pfarrersohn. Als Prazeptor sehen wir ihn 1605 auch noch in Genf und 1613 in Basel. Wieder nach Altdorf ging Johann Musonius aus Koschmin, der Stipendiat des Grafen Andreas von Lissa, noch 1597 in Frankfurt inskribiert, 1604 Rektor des Gymnasiums in Lissa, dann Pastor in Kozminek und Marszewo bei Pleschen, der Stammvater eines bekannten Pfarrergeschlechtes.

Im 17. Jahrhundert sank die Frequenz polnischer Studenten in Frank- furt. Die steigende Abkehr des polnischen Adels von der Reformation machte sich geltend. Nach Wittenberg, wohin im 16. Jahrhundert mehr als ein halbes Tausend aus dem polnischen Osten gezogen war, ging überhaupt kein Pole mehr. Doch begegnet uns im ersten Viertel des neuen Jahr- hunderts in den Bursen Frankfurts immerhin noch eine verhältnismäßig stattliche Zahl von Studenten polnischen Volkstumes. So 1602 Johann Gar- czynski, Nikolaus Dokowski und Petrus Vielowieski, ein Glied jener Familie, die in Wielkanoc bei Xions in Kleinpolen Schupherr der Re- formation war und unlängst einen Sohn Andreas auch nach Altdorf hatte gehen lassen. Wieder einmal ein Wojewodensohn erschien 1603 in Paul ER dem Sohne des Erbherrn von Niszczyce hinter Plock, des

astellans von Belz, der 1597 auch noch die Wojewodschaft Belz erhalten hatte. Mit Daniel Wlostowski und mit einem Belzer Burgersohne kam er zur Hochschule. Hatte der Vater einst 1575 in Leipzig studiert, so zog 1603 dorthin auch ein anderer Sohn Christoph, der spätere königliche Sekretär. Ihm folgte dorthin 1605 unser Frankfurter Student, zog aber mit ihm und einem dritten Bruder Stanislaus in demselben Jahre noch nach Basel. Die Niszczycki waren die einzige Familie in der Plocker Wojewodschaft, die eine Kirche der Reformation aufgetan hatten, übrigens deutschen Ursprungs, ein polonisierter Zweig der von der Goltz. Dieses deutsche Herrengeschlecht war einst im nordlichen Polen weit verbreitet, hatie im 14. Jahrhundert Plock verschiedene Bischofe und Wojewoden gegeben. Nach ihren verschiedenen Herrensiken hatten sich die einzelnen Zweige der Familie verschiedene polnische Namen beigelegt.

Petrus Biskupski, der 1604 durch die Tore Frankfurts zog, ging Ende des Jahres 1606 nach Wittenberg. Er war wohl ein Stipendiat des Lissaer Grafen Andreas. Als dieser im Alter von nur 47 Jahren am 24. Juli 1606 seine Augen schloß, hielt er ihm eine Gedachtnisrede in Frankfurt. Doch auch zu dem polnischen Abte im alten Zisterzienserkloster Paradies unfern Meserib, Stanislaus Ranizewski, hatte er Beziehungen, auch diesem ein Schrifichen gewidmet; später wurde er sogar ein eifriger Vertreter der Interessen Roms. Dem Biskupski folgte nach Frankfurt, ihm ging nach Wittenberg voran Petrus Kozminski, den der Gräber Kaspar Speer, seit

258

1601 in Frankfurt, zur Bezeugung seiner Freundsdiaft in Versen gefeiert hat. Biskupskis und Kozminskis Freunde waren auch Jakob Musonius aus Pakosch und Matthias Wengierski aus jener bekannten Theologenfamilie, die der Kirche manchen tüchtigen Pastor, der Wissenschaft einen fleißigen Historiker geschenkt hat, dessen kirchengeschichtliches Werk der historischen Forschung noch heute unentbehrlich ist. Noch sei gedacht des Sianislaus Niewierski, der später in Posen der polnischen Gemeinde predigte, im Mai 1610 aber nach Thorn an die Marienkirche ging. Diesem Gliede der Brüder- unität, das in Frankfurt mit Petrus Felix aus Punitz und den beiden Brüdern Andreas und Georg Prusinski verbunden war, sei zur Seite gestellt der polnische Bruder, also Unitarier, Michael Gittich, seit dem 31. Mai 1605 an der Viadrina, im nächsten Jahre an der Palaeocome, die jetzt für die Unitarier die bevorzugie Hochschule wurde, der spätere Pfarrer von Nowogrodek, ein in unitarıschen Kreisen geschätzter Theologe. Als Polonus Venetianus hat er sich in die Matrikel cintragen lassen, weil sein Vater, ein deutscher Arzt in Venedig, vor den Schergen der Inquisition flüchtend, sich nach Polen gerettet hatte. Mit ihm war zu unserer Hochschule gekommen Christoph Pawłowski, wohl ein Sohn jenes königlichen Kämmerers Christoph Pawlowski, den wir 1595 auf der Thorner Generalsynode sehen und der 1599 in Wilna zum Provisor der Kirche gewählt wurde, und die Brüder An- dreas und Stephan Wojnarowski. Sie begleiteten ihn auch nach Altdorf. Stephan Wojnarowski hat nach dem fernsten Osten den Ruf der märkischen Universität getragen. Er ist der Kijewer Jager, der den Unitariern in Szersznie unfern des Dniepr ein Gotteshaus baute. Wie einst Durchgangs- schule für Wittenberg und Leipzig, wurde es Frankfurt jebt vorübergehend fur Altdorf, denn dorthin zogen auch Albert Srdzinski und Christoph Kiel- czewski, cin Verwandier des Fraustadter Hauptmanns Wenzel Kielczewski, die zwölf Monate nach Gittich und seinen Schülern zum Oderstrande ge- kommen waren und schnell mit ihnen Freundschaft geschlossen hatten, sie nun auf der Studienfahrt nach Süddeutschland begleiteten.

Schon hatten sie die Viadrina verlassen, als 1608 anzogen Christoph Bresinski, Petrus Borewski, Lukas Brodowski und Christoph Arciszewski, der Sohn des theologisierenden unitarischen Erbherrn von Schmiegel, der 1623 den Käufer seines väterlichen Besitzes auf offener Straße niederschlug. dann als Flüchtling in den Niederlanden zu hohen Ehren emporstieg, als Admiral 1629 ein holländisches Geschwader nach Brasilien führte. A. Kraus- har hat dem interessanten Leben dieses Frankfurter Studenten, der zuvor das Thorner Gymnasium besucht hat, eine Monographie gewidmet. Dem Schmiegler Erbherrnsohn folgte einige Jahre später zur märkischen Hoch- schule der Schmiegler Pastorensohn David Caper. Im Gegensabe zu seinem Bruder Johann, dessen Name uns in den Briefen der unitarischen Theologen begegnet, ist er früh verschollen. Kamen 1613 aus Großpolen mit ihrem Lehrer Theophil Pitiskus, dem späteren ersien Pastor von Bojanowo, der deutschen Exulantenstadt, Wladislaus und Petrus Ossowski, denen 1620 auch ihr Vetter Andreas Ossowski folgte, der verdiente Senior der lutherischen Kirche und Hauptmann von Fraustadt, ferner Martin Nie- wierski und aus Koschmin Andreas Musonius, spater in Lobsens und Sluck Rektor, schließlich Senior des Wilnaer Distrikts (t 1672), so aus Kleinpolen mit ihrem Lehrer Christoph Jakobäus Samuel Domaradzki aus Lutcza unfern Pilzno an der Wisloka und die beiden Bal Petrus und Samuel aus Hoczew am Fuße der Karpathen. Niewierski diente in der Folgezeit dem Grafen Raphael von Lissa als Hausgeistlicher, wirkte dann in Lublin und in ver- schiedenen Gemeinden Litauens, wurde endlich Senior von Weißrußland. Domaradski vertauschte die Viadrina mit der Hohen Schule zu Herborn, wo er 1617 unter dem Theologen und Polyhistor Alsted disputierte und seine Schrift seinem Vater Johann und seinem Onkel Petrus Bal, dem Kämmerer von Sanok, widmete. Mit dem Lehrer Jakobaus, der schon in Marburg und Leiden studiert hatte, zog sein Vetter Samuel Bal zur Ruperta am Neckar.

Dorthin folgte ihm 1618 auch Andreas Orlitz der Ältere und sein Schüler Johann Stephan Grudzinski, die ein Jahr nach ihm (1616) nach Frankfurt

16 NF 5 239

gekommen waren. Der Kalischer Wojewode Sigismund Grudzinski, der große Kolonisator, der seine weiten Besitzungen mit deutschen Kolonisten zu bevölkern suchte, besonders den aus Schlesien um ihres Glaubens willen Vertriebenen manchen Freiheitsbrief ausgestellt hat, bekundete scine Wertschätzung deutschen Geistes und deutscher Bildung auch darin, daß er zum Erzieher seines ältesten Sohnes einen Präzeptor gewählt hatte, der in Leipzig und Danzig gebildet war. Die Abziehenden ersetzte in Frankfurt 1619 Daul Bochnicki, der spätere Pfarrer von Sienno im Radomer Lande, der indessen auch bald zum reformierten Zion am Neckar weiterpilgerte, dann 1620 der schon erwähnte Andreas Ossowski, Christoph Pentowski und Simon Simonides, ein Sohn des bekannten Dichters am Hofe des Kanzlers Zamojski, des Lieblings der Musen, des letzten polnischen Humanisten. Vie dieser mit deutschen Humanisten, ich denke an Johann Caselius in Helm- stedt, in Verbindung gestanden und manche Briefe mit ihnen ausgetauscht, so suchte sein Sohn auch auf deutschen Hochschulen Lehre und Unterweisung. Aus Litauen hatte sich ihm angeschlossen Johann Dziewaltowski, der Sohn des Bannerträgers von Nowogrodek Paul Dziewaltowski, den wir seit 1614 schon in Thorn sehen, aus Großpolen ein Przylubski und Bonifaz Bronikowski und andere. In dem siebzehnjährigen Andreas Rutkowski empfing an unserer Universität seine erste höhere Ausbildung ein junger Gelehrter, der später lange Jahre als Erzieher in vornehmen Häusern tätig war, auch seine Schüler nach dem Westen geführt hat, z. B. Georg Niemirycz, den Käm- merer von Kiew. Damals hat ihn der gelehrte Ruar nach Paris an Grotius empfohlen. Wie Ruar war er ein Freidenker, hatte er von dem alikirch- lichen Dogma sich abgewandi.

Gering war der Zuzug 1621 aus dem Osten, ich nenne Martin Zakrzewski aus jenem kujawischen Geschlechte, das seine Söhne vordem nach Witten- berg geschickt hat, und Christoph Dziembowski aus Kranz an der mär- kischen Grenze, aus jener Erbherrnfamilie, die ihren evangelischen Glauben bis in die Gegenwart bewahrt hat. Um so stärker der Andrang das fol- gende Jahr. Das schwere Verhängnis, das über Heidelberg hereingebrochen war, die Vernichtung der blühenden reformierten Hochschule, ihre Katho- lisierung, hemmte die Wallfahrt nach der Pfalz und empfahl Frankfurt, führte hierher jekt auch manchen, der sein Studium an der Ruperta hatte abbrechen müssen, so Samuel Bochwif und Johann Romanowicz, der Johann Gerhards, des großen Jenaer Theologen, Meditationes ins Polnische übersetzt hat. Bochw’5 kam über Herborn, wo er noch am 24. August 1622 disputiert hat. Er war ein jüngerer Sohn des Seniors von Weißruß- land Philipp Bochwif, ein Bruder jenes Lukas Pochwitz, den wir als Prä- zepior 1601 in Basel, 1606 in Heidelberg sehen. Seine Herborner Dis- putation hat er neben anderen dem Salomo Ryfinius gewidmet, der 1601 den jungen Christoph Radziwill zum Studium nach Leipzig, 1603 nach Basel geleitet hatte. Direkt aus der Heimat erschienen in Frankfurt mit ihrem Lehrer Nikolaus Niklassius aus Lobsens, der selbst 1614 in Marburg studiert hat, die Brüder Johann und Christoph Potocki, Johann Potworowski und Franziskus Gorzkowski sowie Abraham Goluchowski aus dem Krakauer Lande. Schon nach einem Jahre sekte der lebte seine akademische Wan- derfahrt fort und ging nach Leiden, wohin ihm nach neun Monaten auch Gorzkowski und Potworowski folgten. Dagegen blieben in Frankfurt und schlossen hier ihre Studien ab die Brüder Andreas und Lukas Gorski aus der Miloslawer Erbherrnfamilie. Der Synode ihrer Glaubensbrüder hatte diese. Familie 1607 in ihrer Stadt Schu und Schirm gewährt und immer freudig zu ihrem Bekenntnis gestanden. Der Erzieher, der ihre beiden Söhne zur deutschen Hochschule geleitete, war auch ein Sohn des be- kannten lutherischen Superintendenten Erasmus Glitzner, Bartholomäus, der seine eigene Ausbildung 1607 ff. in Königsberg gefunden hatte. Als Brod- nicki hat er sich immatrikulieren lassen, weil sein Vater, nachdem ihm die Gegenreformation seine Gräber Gemeinde genommen, in Straßburg (Brod- nica) gewirkt hatte. Von weiteren Studenten des Jahres 1622 seien noch genannt: Andreas Cikowski, Andreas Petricius, wohl ein Sohn des Belzer

240

Seniors Thomas Petricius, und Johann Chelmski, der spätere Krakauer Jager und Schubherr des Gotteshauses in Góry. Stephan Chelmski hat da- gegen 1619 die Hohe Schule zu Herborn bezogen und hier 1622 disputiert, seine Schrift den Briidern seines Vaters Christoph und Marcian, dem Krakauer Bannertrager, sowie dem Bruder seiner Mutter Stanislaus Zie- linski, dem weitgereisten und vielversuchten Manne, gewidmet. Johann Moskorowski, den die Matrikel noch unter dem Jahre 1622 verzeichnet, war doch wohl ein Sohn jenes Hieronymus Moskorowski, der 1575 in Wittenberg und in Leipzig studiert, später aber dem Unitarismus sich zugewandi, mit Sozino Freundschaft geschlossen, eine Tochter des bekannten Dudith heim- geführt, seinen Glaubensgenossen in Czarkow an der Weichsel ein Gottes- haus erbaut hat.

Der eben genannte Cikowski zog im folgenden Jahre aus der Heimat nach sich zur Hochschule seinen Vetter Stanislaus Cikowski von Woys- lawice, dessen Bruder Christoph zehn Jahre zuvor nach Basel gegangen war. Bemerkenswerter aber als dieser dem Kleinadel angehörige Student sind die Brüder Nikolaus und Christoph Slupecki, die mit Peter Miodecki und Lukas Gluski gekommen waren unter Führung des Präzeptors Petrus Sowinski, der bereits 1598 in Basel einen jungen polnischen Baron beauf- sichtigt hatte. Waren es doch die Söhne des Lubliner Kastellans Felix Slupecki, der selber in Heidelberg und Altdorf studiert hatte, und der Lissaer Gräfin Barbara. Drei Jahre später sehen wir sie in Leiden, wo sie dem berühmten Vossius näher traten, dann auch in Paris, wo sie der große Grotius seiner Zuneigung würdigte. Doch waren sie nicht mehr evangelisch, schon ihr Vater war zur römischen Kirche zurückgetreten.

Gleichfalls mit einem Studium in den Niederlanden und besonders in Leiden krönten ihre Frankfurter Lernzeit die Brüder Stanislaus und Paul Spinek von Batkow aus dem Lubliner Lande, die auf Veranlassung ihres Stiefvaters, des Hauptmannes von Horodlo Stanislaus Gabriel Zborowski auf dem Thorner Gymnasium vorgebildet, mit Johann Kossowski und Albert Wissakowski 1624 vor den Rektor getreten waren. Dagegen zogen mit ihrem Lehrer Johann Wundergast aus Marburg, der bisher die Schulen in Oksza und in Belz geleitet hatte, nach Leipzig weiter die Lissaer Grafen- söhne Andreas und Raphael, Söhne des Belzer Wojewoden. Auch sie hatten vorher das Thorner Gymnasium besucht. Dagegen begnügten sich mit einem Studium in Frankfurt die Söhne des Kammerers Bal von Oczew, obwohl sonst gerade Söhne dieser kleinpolnischen treu evangelischen Familie auch nach Heidelberg, Marburg und Leiden gepilgeri waren. Wiederum zog nach einem dreijährigen Studium in Frankfurt nach Leiden weiter Stanislaus Karwicki, der mit seinem Bruder Paul ebenfalls 1624 zur Viadrina gekommen war. Sein Begleiter zur märkischen und holländischen Hochschule war Martin Büttner, der spätere Senior der Gemeinden hinter Wilna (t 1670), der als Sohn eines Bartholomäus Büttner in Straßburg 1614 in das Thorner Gymnasium eingetreten war. Sein Bruder Viktorin, der fünf Jahre nach ihm die märkische Hochschule besuchte, ließ sich als Glombovicio- Polonus eintragen, weil sein Vater inzwischen das Pfarramt in Glebowice an der schlesischen Grenze angenommen hatte. Das Jahr 1625 führte einen Andreas Czerniecki aus Zamosc nach unserer Universität.

120 Jahre waren seit Gründung der Viadrina vergangen, etwa 500 Söhne des polnischen Adels hatten an ihr ihre Ausbildung erhalten, dazu so viele Söhne deutscher Bürgerfamilien des Ostens. Diese strömten ihr auch weiter zu, und immer mußte Frankfurt in erster Linie den Deutschen Polens die in ihrem Lande ihnen fehlende deutsche Hochschule ersehen, aber Polen begegnen uns hinfort an der märkischen Hochschule nur noch verein- zelt. Die Abkehr des polnischen Volkes von der Reformation, der anwach- sende jesuitische Einfluß wirkte sich aus. Doch nicht ganz wie in Wittenberg, Leipzig, wurde in Frankfurt der Pole eine seltene Erscheinung. 1644 trat vor den Rektor der Franziskanermönch Kasimir Malinowski aus dem Kalischer Konvent, der in der Oderstadt auch zur evangelischen Kirche sich bekannte, ein Jahr später Johann Latalski, den wir mit seinem Bruder Nikolaus seit

241

1643 unter den Thorner Gymnasiasten sehen und der 1662 uns auf der Mielenciner Synode begegnet. 1650 erschienen mit ihrem Ephorus Johann Reczynski, der mit seinem Bruder Alexander das Jahr zuvor Thorn auf- gesucht hatte, die beiden Brüder Stanislaus und Bogislaus Zbanski aus der Korower Linie, freilich nur um schon im nächsten Jahre nach Leiden weiter- zuziehen. 1650 führte Georg Ciachowski, bald unitarischer Pfarrer in Czerniechow, dann nach der Achtung seines Bekenntnisses in Polen Seel- sorger an den unitarischen Exulanten in der Mark, seinen Zögling Raphael Gorayski, den Sohn des Chelmer, bald Kiewer Kastellans, des unermüd- lichen Worfführers der Reformierten, auch ihr Vertreter auf dem Thorner Religionsgesprach, zur Viadrina, 1651 Raphael Gorzynski den Andreas Drohojowski. Mehr als hundert Jahre waren vergangen, daß dessen Ahn- herr, der Przemysler Kastellan Stanislaus Drohojowski, zur Studienfahrt nach Wittenberg sich gerüstet hatte, und in jeder Generation hatte sein Ge- schlecht einen Sohn nach Deutschland geschickt, nun sehen wir in seinem Urenkel Andreas den letzten seiner Familie auf einer deutschen Akademie. 1664 konnte der Rektor den Sohn des Bannertragers von Nowogrodek Paul Frankiewicz Radzyminski einschreiben, 1677 einen Stanislaus Jurkiewicz, 1679 mit ihrem Lehrer Andreas Makowski zwei Brüder Orzechowski und zwei Goluchowski, Severin und Martin. Ein jüngerer Bruder oder Vetter Michael Goluchowski erschien noch 1687 und zog im folgenden Jahre nach Leiden, und damit haben sich auch die Studienfahrten dieses kleinpolnischen Geschlechis zu evangelischen deutschen Hochschulen erschöpft.

Für das Jahr 1694 verzeichnet die Matrikel einen Johann Borzymowski, für 1696 einen Daniel Borzymowski aus Sluck, etwa in derselben Zeit drei Brüder Wladislaus, Alexander und Johann Zychlinski und einen Alexander Konsinowski, nachdem ein Petrus Konsinowski schon 1683 um Aufnahme gebeten hatte. 1716 richtet ein Wladislaus Konsinowski einen Hilferuf nach Berlin.. Er habe die Starostei Deutsch Krone käuflich erworben, aber die katholische Gegenpartei hindere die erforderliche königliche Bestätigung mit der Begründung, Evangelische seien nicht berechtigt, Hauptmannschaften, die mit Gerichtsbarkeiten verbunden, zu besiken. Ob Berlin für ihn in Warschau Vorstellungen erhoben hat? Von den in der Neumark ansässig gewordenen unitarischen Polen bat 1689 Stanislaus Morstein, 1708 Johann Jakob Wilkowski und Johann Wladislaus ‘Suchodolski, 1716 dessen Bruder Friedrich Samuel und schon 1709 Achatius Taszycki aus der Luslawicer Linie um Aufnahme. Der Ahne des lefteren, Cyrill Taszycki, war 1616 nach Marburg gezogen. Seit 1686 gingen durch die Frankfurter Kollegien verschiedene Wolk, Söhne jener Familie, die in der Zeit, da das Los der Evangelischen immer düsterer wurde, in Litauen mit Nachdruck dem Verhängnis sich ent- gegenzustemmen suchten und gegen die Entrechtung sich wehrten. ehr Wolk, der Jäger von Nowogrodek, der Vertreter seiner Glaubensbrüder 1710 in Warschau, hat als erster seines Geschlechts sich nach Frankfurt gewandt. Ähnlich sandte die andere Familie, die damals in Litauen ihre Kraft für die Glaubensfreiheit einsetzte, die Estko, ihre Sohne seit 1717 zur märkischen Hochschule. Jener Alexander Gabriel Hulewicz, der mit Bogus- laus Mikolajewski 1718 akademischer Bürger wurde, hat bei der Druck- legung der polnischen Bibel, die in Halle erschien, mitgearbeitfet, ihre Korrekturbogen gelesen. Die Twardowski, Kurnatowski, Bronikowski, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Frankfurt zum Studium kamen, waren Söhne der wenigen letzten polnischen evangelischen Adelsgeschicchter. Ihre Namen finden wir unter der Urkunde der Thorner Konfoderation 1767. Unter den Jahren 1777 nennt die Matrikel einen Paul Przysianowski, den Sohn des königlichen Kämmerers Michael Przystanowski, unter den Jahren 1773 und 1775 zwei Grabowski, also Söhne jener evangelischen Familie, der es kurz vor dem Zusammenbruch des Reichs noch gelang, den 150jährigen Bann des Ausschlusses von höheren Amtern zu brechen und zu Senatoren emporzusteigen.

Zahlreicher als polnische Edelsohne waren in den letzten 150 Jahren der Viadrina unter den Studenten polnische und litauische Pastorensöhne, An-

242

warter des geistlichen Amtes, die ihre Ausbildung und Zuriistung suchten, angelockt zum Teil von den Stipendien, die die Herrscher Preußens in ihrer Fürsorge für ihre verarmien und bedrängten Glaubensbrüder im Osten an ihrer Landesuniversität gestiftet hatten. Ja, Frankfurt wurde wesentlich die Hochschule, die den Reformierten des Ostens den Nachwuchs für das geistliche Amt lieferte. Wir wollen nicht alle anführen, die hier zu nennen wären, doch aber die verzeichnen, die besonders ihre Namen in die Ge- schichtsbücher ihrer Kirche eingeschrieben haben. So studierten Theologie 1651 der Pastorensohn aus Malice (Sendomir) Samuel Büttner, der spätere Senior des Distriktes jenseits von Wilna, dann von Samogitien, der un- ermüdliche Verteidiger der Rechte seiner Glaubensgenossen, der gegen- über der gesteigerten Verfolgung um eine politische Verbindung mit der ähnlich bedrängten orthodoxen Kirche sich bemühte, 1678 Georg Luto- mierski, der Sohn des Seniors von Samogitien gleichen Namens, der selbst einst seine Ausbildung auf englischen und holländischen Universitäten ge- funden hatte. Er wirkte in verschiedenen Gemeinden und starb 1694 in Kiejdony. Für 1681 sei Florian Swida genannt, der spätere Senior von Nowogrodek, für 1686 der Lubliner Thomas Cien, später Pfarrer in Sielec, etliche Meilen östlich von Pinczow, für 1689 Paul Cassius, denn Pfarrer in Zychlin unfern von Kalisch, seit 1725 auch Senior der Brüderunität in Groß- polen. Für 1689 verzeichne ich Johann Aram, der später in Sieczkow, dicht bei dem genannten Sielec der Gemeinde am Worte Gottes diente, für 1698 Georg Rekuc. Da er der Sohn einer Mischehe war, deshalb ohne Lebensgefahr in seinem Vaterlande nicht weilen konnte, wandte ihm Jablonski, der bekannte Berliner Oberhofprediger, das reformierte Pfarr- amt in Königsberg zu. In unermüdlicher Sorge hat er hier für die Kirche seiner Heimat gearbeitet, fern von dem väterlichen Boden auch das Se- nioraf . von Samogitien bekleidet, das ihm seine dankbaren Glaubens- genossen übertragen hatten.

_ Im Jahre 1703 finden wir in Frankfurt wieder Christian Sitkowski, den Lissaer Pfarrer, 1734 auch Unitats-Senior, 1705 Daniel Krosniewiecki, dann Pastor in Radziwiliszki, 1710 Martin Dyakiewicz. Die Dissertation, die er geschrieben, hat er Jablonski gewidmet ob seiner väterlichen Fürsorge für die Kirchen des Ostens, in Wengrow hat er mit einem lutherischen Pastor an demselben Gotteshause gestanden. 1715 wurde Student Andreas Skirski, dann Geistlicher in Piaski, 1717 Michael Estko, dann in Nowe Miasto, schon das Jahr zuvor der Sendomirer Boguslaus Petroselinus, dann in Belzyce, gelegentlich auch Prediger in der preußischen Gesandtschaft in Warschau. Im Jahre 1722 begann sein Studium Christoph Myslowski, in der Folgezeit deuischer Prediger in der reformierten Gemeinde zu Wilna, 1724 Samuel Nerlich, der dann in Lapczynska Wola in Kleinpolen ein Amt fand, in dem- selben Jahre auch Samuel Majewski, der, fast siebzigjährig, in Zychlin 1767 seine Treue mit einem qualvollen Martyrertode besiegelte. 1727 ist immatri- kuliert Samuel Pawlowicz, der in Sidra in Podlachien dann des Hirtenamtes walteie, 1729 Stephan Izbicki, fortan Rektor in Birze, seit 1740 Pfarrer in Lubecz, 1730 Daniel Begin, der dem schon genannten Senior Aram in Siecz- kow als Diakonus zur Seite stand, 1731 Johann Ernst Vigilantius, eines Pfarrers Sohn und Enkel, dann auch selbst Pastor in Laßwib, der böhmi- schen Brüdergemeinde. Für 1737 sei erwähnt Jakob Reczynski, in der Folgezeit Senior in Podlachien, für 1741 Stephan Volan, dessen Ahnherr schon 1544 zur Hochschule am Oderstrande gewandert war, und Stephan Wannowski, der 27 Jahre später auch seinen Sohn nach Frankfurt sandte. Alexander Andreas Kopycki, 1768 Student der Viadrina, diente der Kirche schließlich als Senior in Samogitien. Ein Blick in die Pastorenfamilie der Cassius. Von ihr erhielt Franz Ernst, der Thorner Pastor, seine Ausbildung in Frankfurt 1715, Samuel August, der Schwartower Pfarrer, 1721, Johann Alexander, der Prediger in Orzeschkowo und Lissa, auch Senior, 1726, Boguslaus David, der Schockener, 1732, Christian Theophil, der Posener, 1760, Boguslaus David, der Lissaer Direktor, 1766, sein Bruder Johann Lud- wig, der Generalsenior, 1764, Johann Bogislaus, der seine Studien 1786 in

245

Leiden forisebte, 1785. Noch 1804 hat der Orzeschkowoer Pfarrer und Posener Professor Johann Wilhelm Cassius, noch 1805 der Lissaer Professor Johann Friedrich Ludwig Cassius zu den Füßen Frankfurter Lehrer gesessen. Auch der Pfarrer von Kiejdony, uslaus Bernagki, um noch einmal nach Litauen zu schauen, der Wilnaer Pastorensohn, der selbst 1770 an der Viadrina aus dem Quell der Wissenschaften geschöpft, führte ihr noch 1805 seinen Sohn Alexander Boguslaus zu, der zuerst nach Königsberg gegangen war. Wie mancher Pastorenfamilie ist die Alma mater am Oderstronde durch mehrere Geschlechter Lehrerin gewesen!

Wir stehen am Schlusse. Nie haf Frankfurt den Zauber gehabt, den Wittenberg für lern- und heilsbegierige Jünglinge besessen, nie den Reiz, den Heidelberg für die reformierten, Altdorf für die unitarischen Studenten hatte, aber länger als diese Bildungsstatten hat es dem Osten gedient, 300 Jahre ihm Geisteskrafte gespendet, gerade auch in einer Zeil, da seine evangelischen Kirchen unter schwerstem Drucke standen, bedrangt, ver- folgt um ihre Existenz ringen mußten, ihre Widerstandskraft durch die Pastoren, die es ihnen ausgebildet, gestärkt. Die Kultur und das Geistes- leben Polens ist von der deutschen Grenzuniversitat auf märkischem Boden anfänglich wesentlich beeinflußt worden, dann, als es sich in der Zeit seines Niederganges und Zerfalls gegen deuisches und evangelisches Wesen be- wußt verschloß, hat in ihm wenigsiens noch das Häuflein, das fesihielt an den Errungenschaften des 16. Jahrhunderts, der großen Zeit Polens, gelebt von den Geisteskraften, die diese Grenzuniversität spendete.

244

II LITERATURBERICHTE

ARCHEION

(Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym. Redaktor: Stanisław Ptaszycki. Warschau 1927—1928, Bd. I—IV.)

Von Dr. Kazimierz Tyszkowski und Dr. Stanisław Zajączkowski (Lemberg).

Die grobe Entwicklung der Rechtspraxis im alten Polen, sowie die genealogischen und finanziellen Interessen des polnischen Adels waren Ursachen, daß das polnische Archivwesen mit besonderer Vor- liebe gepflegt wurde. Die Grodbücher und Landtafeln wurden mit großer Pietat aufbewahrt, alle Familien besaßen eigene Archive, wo genealogische Papiere und Güterdokumente aufgehoben wurden. In der Hauptstadt hatte man alle Staatsarchive gesammelt, die unter Obhut des Großkanzlers standen, der Teilungen wegen hatten sie jedoch keine neuzeitliche Ordnung und Entwicklung erreicht. Ein großer Teil des Kronarchivs wurde aus Warschau nach Moskau weg- geführt, alle anderen wurden den drei verschiedenen Staatsorganis- men einverleibt und anderen Vorschriften unterworfen. Die archiva- lische Tradition wurde dadurch gebrochen; man mußte sie von neuem im Jahre 1918 aufbauen, als die Archive in polnische Hände zurück- kamen.

In diesem Momente sind viele Historiker vom Fach in den Archiv- dienst getreten. Galizien, auch Preußen und Rußland haben einige Spezialisten hinzugefügt, und die Arbeit begann. Zwei Richtungen wurden in erster Linie verfolgt: die Ordnung und die Zutrittserleich- terung der Schake für die wissenschaftlichen und staatlichen Zwecke, ferner die Revindikation der Archivalien, die einst dem polnischen Staate angehörten, oder dem rechtsmäßigen Leben unentbehrlich waren. Dabei mußte man archivalische Studien auch im theoretischen Sinne pflegen und die Archivwissenschaft auf dem polnischen Boden einpflanzen. Dieser Aufgabe dient die im Jahre 1927 gegründete Zeitschrift ,Archeion“ unter der Leitung des Generaldirektors Professor Stanistaw Ptaszycki, vorher Universitätsprofessor in Petersburg.

Schon während der Historikertagung zu Posen (1925) hat Dr. Lopacinski die Gründung einer archivalischen Zeitschrift ge-

245

fordert. Auf diesem Kongresse wurden die bisherigen Resultate und Arbeiten der Archivistik sichtbar und schufen dieser Disziplin eine eigene Stelle inmitten anderer historischen Wissenschaften, da die zahlreichen Referate durch ihren wissenschaftlichen Wert die Aufmerksamkeit aller versammelten Historiker auf sich zogen.

Das Programm der neuen Zeitschrift wurde, wie in der Vorrede des Redaktors auch bemerkt ist, weit bemessen. Wir sollen genaue Informationen über den Zustand der polnischen Archive, über ihre Entstehung und Organisation, über die Arbeiten und Studien er- halten. Dabei werden theoretische Probleme des Archivwesens ge- pflegt, ferner die Geschichte der Archive in Polen, die Berichte über die Literatur und Archive im Auslande, die Bibliographie usw. Alle diese Aufgaben haben in den vorliegenden vier Heften ihre Reali- sation gefunden.

Dr. Anton Rybarski widmete den Organisationsproblemen einen einleitenden Artikel u. d. T. „Centralny Zarząd Ar- chiwalny w odrodzonej Rzpltej Polskiej“ (Archiva- lische Zentralverwaltung in der neuen polnischen Republik Polen, Bd. I, S. 1—14). Ausführliche Angaben über dieses Thema kann der deutsche Leser in dem Artikel Bachulski’s in der Archiva- lischen Zeitschrift) oder noch besser, was die deutsche Archivverwaltung in Kongreßpolen während des Weltkrieges an- betrifft, im Referate von Dr. Recke auf dem Deutschen Archivtage zu Danzig?) finden.

Eine Übersicht über alle Staatsarchive gibt Dr. Lopacinski: Archiwa Państwowe Rzpltej Polskiej (Die Siaats- archive der Republik Polen, Bd. I, S. 15—32). Als wichtige Ergän- zung dient die in jedem Bande der Zeitschrift angegebene Chronik, aus welcher wir genaue Informationen über die Geschichte und Ar- beiten jeder Institution vom Weltkriege angefangen bis zum heutigen Tage entnehmen.

In den letzten Jahren hat man in Polen einige solche Übersichten zusammengestellt. Es erschienen in chronologischer Reihenfolge: Handelsman ‚„Historik“), Ptaszycki „Encyklopä- die“), Wierzbowski „Vademecum“ ), dann ein Artikel über

1) Bachulski Alexis, Polnische Staatsarchive, Archivalische Zeitschrift III. F., Bd. IV., S. 241—261.

2) Recke, Walther: Das Archivwesen in Polen. Korrespondenzblatt des 5 der Altertums- u. Geschichtsvereine. 1928. Jg. 76, S. 239

is 245.

3) Handelsman, Marceli: Historyka. Część I. Zasady metodologji historji. Zamość. Zygmunt Pomarafiski i Spólka. 1921. str. XI + 256. Wyd Il. Warszawa. Naki. Gebethnera i Wolffa. 1928. str. XIII + 332. 1

J Ptaszycki, Stanislaw: Encyklopedja Nauk Pomocniczych Historji i Literatury Polskiej. Część l. Wyd. II 3. Lublin, Naki. Uniwersytetu Lubel- skiego. 1922. str. 285 + V. i ,

5) Wierzbowski, Teodor: Vademecum., Podręcznik dla słudjów archi- walnych Wyd. II zmienione i rozszerzone po śmierci autora przez K. Tysz- ON 00 1 B. Wiodarskiego. Lwéw-Warszawa. Ksiaznica-Atlas 1926. sir. 255 + VIII.

246

die Archive von Dr. Paczkowski, ehemaligen Generaldirektor, vorher im preußischen Staatsarchivdienste, im Handbuch über Polen von Sujkowski*) und Kutrzeba „Geschichte der Rechtsquellen“). Alle diese Verzeichnisse sind unvollständig und erheben keinen Anspruch darauf, da sie nur für Informations- zwecke bestimmt sind.

Einen größeren Umfang und einen größeren Wert besitzt die ll. Ausgabe von Chwalewik: „Polnische Sammlungen“ samt den Materialien zum Verzeichnisse, die im Jahrbuche „Nauka Polska“) publiziert wurden. Die Zahl dieser Verzeichnisse beweist, wie notwendig diese waren, andererseits aber stellt deren Menge ihre Zweckmäßigkeit in Zweifel. Die offiziellen Angaben von Dr. Łopaciński können, obzwar unmittelbar von den Archivverwal- tungen geliefert, doch manchmal bestritten werden, da sie nicht gleich lauten und deshalb nicht in demselben Maße nufbar sind. Das haben wir schon einmal in der Rezension des Archeion besprochen‘®).

Eine besonders wichtige Frage des polnischen Archivlebens war die Rückgabe der alten Archive und der gegenwärtigen Registra- turen von den drei Herren Polens vor dem Kriege. Man widmete deshalb diesem Probleme vier Artikel, wo wir genaue Informationen darüber treffen; so besitzt die russische Revindikation schon eine große Literatur), für den deutschen Leser sind die zitierten An-

©) Sujkowski, Antoni: Polska e Warszawa. Wyd. Kasy im. Mianowskiego. 1926. str. 260 + 6

7) Kutrzeba, Stanislaw: Historia zrödel dawnego prawa polskiego. Lwów. Wyd. Zakładu Nar. im. Ossolińskich. T. I. str. IV + 286. r. 1925. T. II. str. 462 4-2. r. 1926.

e) Chwalewik, Edward: Zbiory Polskie. Archiwa bibljoteki, gabinety, galerje, muzea i inne zbiory pamiatek przeszłości w Ojczyźnie i na ob- czyźnie w porządku alfabetycznym według miejscowości ułożone. War- szawa-Kraków. Wyd. J. Morikowicza. T. I. A—M. str. IX + 490. r. 1926. T. I. N—Z. sir. 559. r. 1927.

) Nauka Polska. Rocznik Kasy im. Mianowskiego Instytutu popiera-

nia Polskiej Twórczości Naukowej f. VI. Materjalty do spisu instytucyj i

an Naukowych w Polsce. Warszawa. Pałac Staszica 1927. str. + 478 + 4.

10) Kwartalnik historyczny 1927. S. 591.

11) Dokumenty dotyczące akcji Delegacyj Polskich w Komisjach Mie- . i Specjalnej w Moskwie. Zeszyt 1—9. Warszawa 1922

Kuntze, E.: Sprawy rewindykacyjne. Pamiętnik IV Powszechnego Zjazdu Historyków Polskich w Poznaniu 6—8 grudnia 1925. I. Referaty. Lwów 1925. „S. 18. ,

Tyszkowski, K.: 2 dziejöw rewindykacji. Kwartalnik historyczny. 1924. Nr. J (auch separat).

Derselbe: Rewindykowane rekopisy Bibljoteki Publiznej w Petersburgu jako materjal badań historycznych. Pamietnik IV. Powszechnego Zjazdu Historyków Polskich. Bd. II. 1927. S. 250—236 (und separat).

Chwalewik, E.: Losy Zbiorów Polskich w Rosyjskiej Bibljotece Pu- blicznej w Leningradzie. Odb. ze „Zbiorów Polskich“, str. 43+5. Warszawa. Wyd. Jakuba Mortkowicza 1926.

247

gaben von Bachulski in der „Archivalischen Zeitschrift“ zugänglich. Die großen Vorbereitungen und Vorstudien haben viele wissen- schaftlich neue Resultate gebracht und im allgemeinen auch die Ge- schichte der polnischen Archive stark gefördert und beeinflußt.

Siemieniski Jözef: Revindikation der Kron- archive. Wissenschaftliche Vorbereitung und Resultate (Rewindy- kacja archiwów koronnych. Przygotowanie naukowe i wyniki. Bd. I. 33—60).

Der heutige Direktor des Warschauer Hauptarchivs, der an den Revindikationsarbeiten in Moskau teilnahm, stellt uns in seinem Re- ferate, das auf der Posener Historikertagung gelesen wurde, alle archivalischen Arbeiten vor, welche in Warschau und an Ort und Stelle in Moskau vorgenommen wurden, um auf Grund des Friedens- vertrages alle Kronarchive zurückzubekommen, welche im Jahre 1795 nach Rußland weggeführt waren. Man mußte dabei nicht nur die Geschichte der Konfiskation durcharbeiten, sondern auch alle alten Inventare und Verzeichnisse durchsuchen, um das ganze Material zu identifizieren, welches teilweise an verschiedenen Stellen Rußlands zerstreut war. Die Verhandlungen führten dazu, daß die russische Regierung die Abgabe der polnischen Teile des ehemaligen Kron- archivs bewilligte, die der anderen Archive jedoch, welche historische Provinzen des alten Polenstaates betrafen, versagte. Von be- sonderer Wichtigkeit ist hier die sogenannte ,,Litauische und Wolhy- nische Metrik“. Dem abgegebenen Teile gehören die Dokumente des Kronarchivs, die Kronmetrik und die Staatsakten des XVIII. Jahr- hunderts bis zum Jahre 1795 an.

Biatkowski, Leon: Was sollen wir aus Kiew revindizieren? (Co powinniśmy rewindykowaé z Kijowa? Bd. I, S. 61—65.) Ein Verzeichnis der Gerichtsakten und Gerichts- bücher im Zentralarchiv in Kiew, welche sich auf Wolhynien polni- schen Anteils beziehen.

Suchodolski, Witold: Die Ausführung des Art. XI des Rigaer Vertrages hinsichtlich der Staatsarchive (Wykonanie Art. XI Traktatu Ryskiego w za- kresie archiwów państwowych. Bd. I, S. 66—78).

In diesem Artikel finden wir genaue Angaben, was für Archive und Akten des XIX. Jahrhunderts von den Russen zurückgestellt wurden.’ Es sind dies in erster Reihe neue Registraiuren der rus- sischen Behörden in Polen, die im Laufe der Zeit nach Rußland ge- bracht wurden, und auch solche, welche während des Weltkrieges evakuiert worden sind. Neben ganz neuen Akten, die doch für die Administration des Landes von besonderem Wert sind, treffen wir auch alte und wichtige Aktengruppen, wie z. B. die Archivalien der Olkuszer Bergwerke. Hierher gehört auch das Archiv des Staats- sekretariats fiir das Konigreich Polen (1815— 1866). Die weiteren Arbeiten bei der Riickgabe sind im Gange und werden noch viel Material für den Historiker des XIX. Jahrhunderts ans Licht bringen.

248

Barwifiski, Eugenjusz: Die Archivverhand- lungen mit Österreich (Rokowania z Austria w sprawach archiwalnych. Bd. I, S. 79—92). Der Lemberger Staatsarchivdirektor schildert hier die Verhandlungen zwischen Österreich und Polen über die Ausgabe der Akten, wobei er selbst teilgenommen hatte Die auftretenden Schwierigkeiten bestehen darin, daß Österreich das Provenienz-, Polen dagegen das Territorialprinzip vertritt.

Stojanowski, Jözef: Die Archivverhandlungen mit Deutschland (Rokowania z Niemcami w sprawach archi- walnych. Bd. I, S. 93—105). Die Archivverhandlungen mit Deutsch- land sind über gegenwärtige Amtsakten nicht hinausgekommen; jene Archivalien, d. h. Akten, welche an Archive schon verteilt wurden, blieben dabei unberührt.

Alle anderen Aufsätze und Abhandlungen, welche in den vier Heften des Archeion enthalten sind, können in fünf Abteilungen ge- teilt werden. Die erste bilden Aufsäße, welche Probleme aus der Theorie der Archivkunde, Einrichtung der Archive usw. beireffen, die zweite Aufsätze historischen Inhaltes, in der dritten sind Berichte über einzelne Archive, Archivdepots und Sammlungen, die vierte Kategorie ist den ausländischen Archiven gewidmet, die fünfte end- lich umfaßt Literaturberichte und Bücherbesprechungen.

Konarski, Kasimir: Über Probleme der mo- dernen polnischen Archivkunde (Z zagadnień nowo- zyine} archiwistyki polskiej) I, 106— 124.

Der Verfasser hebt die Schwierigkeiten, welche die polnische Archivkunde zu überwinden hat, hervor. Diese treten bei der Fest- stellung der archivalischen Terminologie und der Hauptaufgaben der archivalischen Praxis auf. Der vorliegende Aufsak wird der Be- stimmung des Begriffes ,,archivalischer Fond“ (zespół) und der Be- zeichnung seiner Merkmale gewidmet; dabei schlägt der Verfasser die Einführung des Ausdruckes „Prinzip der Kanzlei-Zuständigkeit“ anstatt des Ausdruckes „Provenienz-Prinzip“ vor. Zuletzt wirft er die Frage der Aufbewahrung der Archivalien in der Zukunft mit Hinweis auf die immer mehr anwachsende Masse von Papieren, die den Archiven zukommen werden, und ferner das Problem der Akten- skartierung auf.

Siemienski, Joseph: Die bibliothekarmäßige Repertorisierung der Archive (Katalogowanie archiwów po bibljotekarsku) I, 125—134. Kritik der Arbeit Jacek Lipski’s: „Archiv des Schul-Kuratoriums des Fürsten Adam Czartoryski“, welche auf eine bibliothekarmäßige Weise, mit Nichtbeachtung des Provenienz-Prinzips, durchgeführt wurde.

Manteuffel, Thaddäus: Registratur-Uber- nahme und das Ordnen derselben (Dziedziczenie regi- stratur i ich porzadkowanie) I, 135—139. Der Verfasser berührt mit Hinweis auf ein konkretes Beispiel die Frage, wie man beim Ordnen der übernommenen Registraturen, welche die älteren in sich enthalten, vorgehen soll.

249

Ehrenkreutz, Stephan: Bereisungs-Archivisten oder Konservatoren für Kunst- und Kultur-Denk- maler (Archiwisci objazdowi czy konserwatorowie zabytków sztuki i kultury) I, 145—154. Besprechung der neusten polnischen Geseb- gebung in betreff der Aufsicht über Archivalien, mit welcher sowohl die Bereisungs-Archivisten wie auch die Konservatoren für Kunst- und Kultur-Denkmäler betraut wurden, wobei mancherlei Modifika- tionen der bestehenden Vorschriften vorgeschlagen werden.

Handelsman, Marzell: Die Methode der For- schungen in den Archiven (Metoda poszukiwan archiwal- nych) Il, 31—48. Indem der Verfasser vor dem Grübeln nach dem unbekannten archivalischen Material warnt und das Verhältnis des Ungedruckten zum Gedruckten richtig feststellt, gibt er praktische Ratschläge und Regeln, welche die Vorbereitung zu den Forschungen in den Archiven, dann die Forschungen selbst in ihrer äußeren (tech- nischen) und wissenschaftlichen Beziehung und endlich die Behand- lung der Archivalien betreffen.

Ptaszycki, Stanisław: Archiv-Archeion. Ety- mologisch-historische Betrachtungen (Ärchiwun:- Archeion. Uwagi etymologiczno-historyczne) Ill, 1—11. Betrach- tungen uber die Bedeutung und Geschichte des Wortes „Archiv“ („archiwum“) sowie den Gebrauch desselben in der polnischen Sprache.

Siemienski, Joseph: Terminologische Betram- tungen (Roztrzasania terminologiczne) Ill, 12—22. Betrachtungen über archivalische Fachausdrücke in der polnischen Sprache, nämlich „archiwum“ (Archiv), welches Wort, wie der Verfasser beweist, drei- fache Bedeutung besibt: Behörde, die zur Aufgabe hat, Akten auf- zubewahren (Archivdepot), dann Akten einer funktionierenden Be- hörde, die vorlaufig keinen praktischen Wert haben, die aber von derselben aufbewahrt werden, endlich Gesamtheit der Akten, welche den Nachlaß der Wirksamkeit einer Behörde bilden und dem Archiv- depot übergeben worden sind.

Pawłowski, Bronisław: Einiges uber Akten- skartierung (Nieco o brakowaniu akt) lll, 23—29. Der Ver- fasser hebt die Wichtigkeit dieses Problems mit Hinweis darauf, daß die Archive von Überhäufung mit modernen amtlichen Papieren be- droht sınd, hervor. Er stellt die Forderung auf, daß die Skartierung der den Archiven von verschiedenen Behörden zu übergebenden Akten von dem Personale dieser Behörden durchgeführt werde, was aber durch genaue Vorschriften geregelt werden soll. Als Beispiel führt er eine solche fur die Militärbehörden entworfene Instruktion an.

Abraham, Wtadystaw: Die Gesetzgebung der katholischen Kirche in betreff der Archive (Usta- wodawstwo kościelne o archiwach) IV, 1—14. Der Verfasser be- spricht die allgemeine, auf die Archive Bezug nehmende Geseß- gebung der katholischen Kirche seit dem Tridentiner Konzil, dann die gleichzeitigen Leistungen der polnischen Kirche in dieser Hinsicht.

250

Das Proolem der Einrichtung und Erhaltung der kirchlichen Archive wird jetzt durch den neuesten Kodex des kanonischen Rechtes ge- regelt, wobei aber, auf Grund des Konkordates zwischen Polen und dem apostolischen Stuhl, der polnischen Regierung die Möglichkeit, ihren Einfluß darauf auszuüben, eingeräumt wurde.

Kwolek, Johann: Die wissenschaftliche Orga- nisation der Diozesanarchive (Naukowa organizacja archiwów djecezjalnych) IV, 15—35. Der Verfasser hebt die Be- deutung und das Bedürfnis der wissenschaftlichen Einrichtung der Diözesanarchive in Polen hervor, wozu eine Grundlage im Art. XIV des Konkordates zwischen Polen und dem Vatikan geschaffen wurde und was im Sinne der päpstlichen Instruktion für die italienischen Bistümer vom 15. April 1923 erfolgen kann, und bespricht alle damit verbundenen Fragen.

Krynski, Adam Antoni: Archivist und Archivar (Archiwista i archiwarjusz) IV, 36—44. Historisch-philologische Be- trachtungen über die dienstlichen Titel „archiwista“ (Archivis und „archiwarjusz‘ (Archivar), wobei Verf. sich für den Gebrauch des ersteren erklärt, da diese Bezeichnung schon im Großherzogtume Warschau, dann in Kongreß-Polen in Anwendung war, der Ausdruck „Archivar“ dagegen erst unter dem Einflusse der preußischen, dann der russischen Behörden aufzutauchen begann. Im Anhang werden die darauf Bezug nehmenden Meinungen des Prof. Dabkowski und des Generaldirektors Ptaszycki beigelegt.

Siemienski,Joseph: Terminologische Betrach- tungen Ill. Ausweise (Roztrzasania terminologiczne. Il. Wykazy) IV, 45—53. Betrachtungen über die Bezeichnungsweise der verschie- denen Ausweise der Bestande, sowohl der einzelnen Archive wie auch deren der Archivdepots. Verf. schlagt die Anwendung des Ausdruckes „Inventar“ vor, erörtert verschiedene Kategorien der In- ventare und stellt den Unterschied zwischen einem Inventar und Katalog fest.

Ketrzynski, Stanistaw: Uber die Anfänge der Registerbücher der Kronkanzlei und ihren Cha- rakter im XV. Jahrhundert (Uwagi o poczatkach Metryki koronnej i jej charakter w XV. w.) Il, 1—30. Die ersten Nachrichten von den Registerbüchern in Polen beziehen sich auf die geistlichen Kanzleien seit dem J. 1320. Ihre Einführung in die königliche Kanzlei ist-aber erst für den Anfang der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhun- derts anzunehmen. Registerbücher der Kronkanzlei sind uns seit dem J. 1447 erhalten. Sie waren in drei Kategorien eingeteilt Re- gister des Kronkanzlers, Unterkanzlers und Sekretärs) und bestehen aus einzelnen Heften, welche später zusammengebunden worden sind. In ihnen waren die Urkunden sowohl auf Grund des Konzepts wie auch der Große, in extenso oder im Regest eingetragen. Die darauf Bezug nehmenden Vorschriften und Regeln sind erst im Laufe der Zeit festgestellt worden.

251

Prochaska, Anton: Ursprüngliche Anordnung der landesgerichtlichen Akten (Pierwoiny układ akt ziemskich) I, 140—144 u. II, 58—70. Der Verfasser stellt die ursprüng- liche Einteilung der gerichtlichen Akten im XVI. Jhdt. in drei Kate- gorien fest: Actiones, Perpetuitates, Obligationes, welche der drei- fachen Einteilung der Grodbücher entsprechen.

Wolff, Adam: Über die Relationsformelin der mazowischen Kanzlei (Formula relacji w kancelarji mazo- wieckiej) I, 176-208. Eine Studie über die Bedeutung der Formel „Relatio ..“ oder „Ad relationem ..“ in der Kanzlei der mazowischen Teilfürsten, hauptsächlich im XV. Jhdt. In ihr waren diejenigen Per- sonen bezeichnet, auf Grund deren Informationen die Nachricht von einer Tatsache in die Kanzleibücher eingetragen wurde. Die in der Formel Erwähnten waren für ihre Informationen verantwortlich.

Dabkowski, Przemystaw: Verzeichnis der In- duzenten des Grodgerichtes in Halicz im XVIII. Jahrhunderte (Wykaz inducentöw grodzkich halickich w XVIII w.) II, 49—57. Alle Eintragungen in die Bücher der Grodgerichte ge- schahen in doppelter Form, zuerst im Auszuge in das Protokoll, dann mit Versehung der vorgeschriebenen Formeln in die sog. Inducta. Die Inducta-Bücher waren von den Induzenten geführt. Verf. gibt, auf Grund der Halicz’er Grodbiicher, ihre Liste im XVIII. Jhdte an.

Iwaszkiewicz, Johann: Zur Geschichte des Ar- chives alter Akten in Warschau. Das Ordnen der Archive im Großherzogtume Warschau (Z dziejöw Archiwum akt dawnych w Warszawie. Uporzadkowanie archiwöw Ksiestwa Warszawskiego) Il, 85—95. Darstellung der Wirksamkeit des Matthias Wierzejski, Archivar beim Staatsrate des Königreiches Polen in den Jahren 1815—1818, welcher die Archive der obersten Behörden des ehemaligen Großherzogtumes Warschau (Regierungs- Kommissär, Ministerialrat, Staatsrat, Oberster Rat) in Ordnung ge- bracht hatte.

Budka, Wladimir, Dr.: Die erste Anwendung des gregorianischen Kalenders in den grod- und landesgerichtlichen Akten der ehemaligen Woje- wodschaft Krakau (Pierwsze zastosowanie kalendarza gregor- janskiego w aktach grodzkich i ziemskich dawnego Województwa krakowskiego) Ill, 30—34. Der Verfasser beweist auf Grund des archivalischen Materials, daß die Einführung des neuen Kalenders in die Bücher des Krakauer Grod-Gerichtes gleich nach der Kalender- reform geschah. Diesem Beispiele folgten auch andere kleinpolnische Grod-Gerichte, manche von ihnen mit einer kleinen Verspätung, alle aber bis Ende Oktober 1582.

Ptaszycki, Stanislaw: Inventar des Kron- archives aus dem Jahre 1613 (Inwentarz Archiwum Koron- nego 2 r. 1613) IV, 98—130. Beschreibung der vier bis jetzt erhal- tenen Handschriften des Inyentars des polnischen Kronarchivs aus dem Jahre 1613, deren zwei im Hauptarchive in Warschau, die dritte

252

in der Stadibibliothek zu Breslau, die vierte in der Universitäts- Bibliothek in Krakau aufbewahrt werden. Dabei sind auch die Spuren einer fünften nicht mehr vorhandenen aufzuweisen.

Karı asınska, Jadwiga: Uber die ältesten Bücher der sog. „Rechnungen der königlichen Hof- haltung“ (O najdawniejszych ksiegach f. zw. „Rachunki dworu królewskiego“) I, 155—175. Beschreibung der Rechnungsbücher der okonomischen Beamten der königlichen Güter in Kleinpolen aus der Regierungszeit Konig Ladislaus Jagiełło (1386—1434), welche vor- zugsweise im Haupt-Archive in Warschau aufbewahrt werden.

Przelaskowski, Richard: Aktendes Senats des Großfürstentums Warschau und des Königreiches Polen (Akta senatu Ksiestwa warszawskiego i Krölestwa pol- skiego). I, 209—214. Eine Abhandlung über das Archiv des Senats des Großfürstentums Warschau (1807—1815) und des Königreichs Kongreß-Polen (1815—1831), welches jetzt im Archiv alter Akten (Archiwum akt dawnych) in Warschau aufbewahrt wird und im J. 1925 endgültig geordnet und inventarisiert wurde.

Mienicki, Richard: Notiz über das verlorene Archiv der Familie Jaroszynski in Kuna (Notatka o zaginionem archiwum Jaroszyfiskich w Kunie) l, 245—219. Kurze Nachricht über den Inhalt einer archivalischen Sammlung der Familie Jaroszyński in Podolien, welche während der russischen Revolution zugrunde gegangen ist. Die einzige Spur dieser Sammlung bildet jetzt die im Besitze des Verfassers sich befindende Abschrift des In- ventars derselben.

Jakubowski, Johann: Preußische Schulakten aus den Jahren 1794-1807 im Archive der öffent- lichen Bildung (Akta szkolne pruskie z lat 1794—1807 w Ar- chiwum Oświecenia Publicznego) ll, 70—82. Beschreibung der Akten, welche auf das Schulwesen der in den Jahren 1794—1807 dem preu- zischen Staate angehörigen, später dem Großfürstentum Warschau einverleibten Provinzen Süd- und Ostpreußen Bezug haben und jest im Archiv der öffentlichen Bildung in Warschau aufbewahrt werden.

Karwasinska, Jadwiga: Salinen-Rechnungs- bücher im XIV. und XV. Jahrhunderte Aus dem Ar- chivdes Krakauer Unterschag&meisters (Rachunki żup solnych w XIV i XV wieku. Z Archiwum podskarbinskiego krakow- skiego) Ill, 35—45. Die Verfasserin bespricht die ältesten verloren gegangenen Rechnungsbücher der königlichen Salinen in Wieliczka, Bochnia usw., deren Folge, die Zeit des XV. Jhdts. bis zum Anfang des XVII. Jhdts. umfassend und eine Unterabteilung des Archives des Krakauer Unterschaßmeisters bildend, bis auf unsere Tage sich er- halten hat. Hauptsächlich beschreibt Verf. das neue im Haupt-Archiv in Warschau entdeckte Rechnungsbuch der Salinen von Bochnia aus den Jahren 1394 1421.

255

Stojanowski, Joseph: Akten des Permanenten Rates (Akta Rady Nieustającej) IV, 54—89. Beschreibung der Akten des Permanenten Rates (1775—1788), welche jetzt größtenteils im. Hauptarchive zu Warschau aufbewahrt werden mit einem sum- marischen Ausweis derselben.

Mańkowski, Thaddaus: Das Archiv in Jabłonna (Archiwum w Jablonnie) IV, 90—97. Summarische Beschreibung der Geschichte und Bestande des Archivs der Familie Poniatowski in Jabtonna. Den Kern dieser Bestände bilden die Papiere des lebten Königs Stanislaus August.

Suchodolski, Witold: Organisation der Ar- chive in Sovet-Rußland (Organizacja archiwöw w Rosji sowieckiej) Ill, 70—83. Der Verfasser stellt die neue Organisation der russischen Archive, deren Grundlage die Dekrete des Volkskom- missarrates vom J. 1918 und des allrussischen Wcik vom J. 1922 bilden, dar. Alle russischen Staatsarchive bilden ein einziges Zen- tral-Archiv der Republik (Centrarchiv). Ihre Bestände sowie alle anderen außerhalb des Zentral-Archivs vorhandenen, aber von ihm registrierten Archivalien bilden ein einheitliches Archiv (Fonds), welches dem Staate gehört. Das Verwaltungsorgan des Zentral- Archivs verfügt auch über alle Archivalien in Rußland. Die Einrich- tung des Archivwesens in Rußland und das Funktionieren einzelner Archivdepots ist selbsiverstandlich von den politischen Anschauungen stark beeinflußt. Dabei aber wendet die Zentralverwaliung ihre Auf- merksamkeit den wissenschafilichen Arbeiten zu, was die periodi- schen Publikationen des Zentral-Archivs (Krasnyj Archiv, Archivnoe Delo) beweisen.

Manteuffel, Thaddäus: Organisation der Ar- chive in Frankreich (Organizacja archiwów francuskich) II, 96—109. Darstellung der Organisation der Zeniralbehorde, sowie der inneren Einrichtung der „Archives nationales“ und der „Archives départementales“ nebst einigen Bemerkungen über Kommunal- und Spital-Archive, sowie über die Fachausbildung der Archivare.

Bachulski, Alexius: Die belgischen Archive (Archiwa belgijskie) Ill, 46—70. Eine gründliche Darstellung der Or- ganisation der belgischen Staatsarchive, dann des Stadtarchivs in Brüssel und des Archivs des Weltkrieges. .

Bachulski, Alexius: Bericht über die archiva- lische Literatur in R. S. F. S. R. 1919 - 1926 (Sprawozdanie 2 literatury archiwalnej R. S. F. S. R. 1919—1926). II, 110-129. Im vorliegenden Berichte werden nachfolgende Publikationen bespro- chen: 1. Historisches Archiv (Istoriéeskij Archiv) Petrograd 1919, ver- öffentlicht von der Archiv-Hauptverwaltung. 2. Archivalische Kur- sus. Vorlesungen gehalten im J. 1918 (Archivnye kursy. Lekcji ¢ytan- nyja w 1918 godu) Petrograd 1920. 3. Sammlung der das Archiv- wesen betreffenden Dekrete, Zirkulare, Instruktionen und Verord- nungen für die Zeit vom 15. 6. 1918 bis 15. 6. 1920 (Sbornik dekretov, cirkularov, instrukcij i rasporjazenij po archivnomu delu) Moskva

254

1921. 4. Archivwesen. Zentral-Archiv der R.S.F.S.R. (Archivnoe Delo. Centralnyj Archiv R.S.F.S.R.) Moskva 1923—1926. Lieferung 1—IX, veröffentlicht von der Archiv-Hauptverwaliung.

Konarski, Kazimir: Aus der ausländischen Ar- chivkunde (Z archiwistyki obcej) IV, 131—133. Besprechung der Arbeit des Pio Pecchiai: Manuale pratico per gli archivisti. Milano. 1898.

Eine Ergänzung des Materials, das hier in den vier Heften des „Archeion“ angehäuft wurde, bildet die Chronik des archivalischen Lebens und eine bibliographische Übersicht der Literatur über das Archivwesen in Polen (Verzeichnis der wichtigsten Pu- blikationenund Arbeiten über die polnischen Ar- chive: Spis wazniejszych wydawnictw i prac, tyczacych sie polskich archiwów Bd. Il, S. 194—207 und die archivalische Literatur im neuen Polen: Literatura archiwalna odrodzonej Polski, 1918— 1926. Bd. Ill, S. 84— 167), zusammengestellt von Dr. K. K a c 2 mar ez vk.

17 NF 5 E 955

BÜCHERBESPRECHUNGEN

von Taube, Prof. Dr. Michael Freiherr: Rußland und Westeuropa. (Rußlands historische Sonderentwicklung in der europäischen Volkergemeinschafi.) Aus dem Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, 1. Reihe: Vorträge und Einzelschriften, H. 8. Berlin, Georg Stilke, 1928. 63 S., geh. RM. 2,50.

Die Schrift geht aus von der Tatsache, daß sich nach Krieg, Revolution und russischem Zusammenbruch wie im Zeitalter vor Peter d. Gr. eine tiefe Kluft zwischen Westeuropa und Rußland aufgetan hat, äußerlich da- durch dokumentiert, daß die moderne Sovet-Regierung in Rußland noch keineswegs von allen Gegenwartsstaaten der Erde anerkannt wurde, vor allem nicht von dem materiell mächtigsten Tochterstaat Europas, den Ver- einigten Staaten von Nordamerika, aber auch nicht von der geistigen Autorität der christlich-katholischen Welt, dem Papst.

Auch heute wie vor etwa 60 Jahren, zur Zeit der „Slavophilen“, suchen deren heutige Epigonen, die modernen „Eurasiaten“, Rußlands Größe in Asien. Das hat in bezug auf Rußlands Stellung zu Deutschland zu einem eigentümlichen Rückschlag in der Einstellung eines Teils der russischen Intelligenz in der Diaspora und wohl auch in Rußland selber geführt, zu einem Haß gegen Europa, ja, infolge der Sovei-Rußland freundlichen Politik des offiziellen Deutschland auch zu einem Haß gegen Deutschland. Für die ganze Kulturweli, Deutschland keineswegs ausgenommen, ist aber nach Meinung des Autors diese neueste Einstellung im Sinne einer „eurasia- tischen“ Weltanschauung von ernster und noch nicht übersehbarer Bedeu- tung. Kurz gefaßt und politisch betrachtet erklärt diese Lehre und Geistes- verfassung nach Taube etwa folgendes: „Wir wollen nicht mehr die letzten in Europa und dessen Diener gegen Asien sein; wir sind vielmehr die ersten in Asien und, nötigenfalls, dessen Anführer gegen Europa.“ (Vgl. S. 6.)

Unter diesen Umständen hält es der Verfasser, der früher russischer Minister war, für wichtig und notwendig, den Versuch zu machen, aus der Fülle ihm als Geschichtsforscher und Juristen zur Verfügung stehender Kenntnis kulturhistorischer und völkerrechtlicher Tatsachen die Erklärung dieser verhängnisvollen Neugestaltung der europäischen Welt zu finden, und zwar auf Grund einer das Wichtigste scharf hervorhebenden, erklärenden Schilderung der historischen Sonderentwicklung Rußlands in der europai- schen Volkergemeinschaft. Das geschieht durch Betrachtung der folgenden, auch sonst anerkannten drei großen Zeitabschnitte russischer Geschichte: 1. Das beginnende Kiever und Novgoroder Rußland innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft (Mitte des IX. bis Mitte des XIII. jahr- hunderts). 2. Das moskovitische Rußland außerhalb des europäischen Staatensystems unter dem Tatarenjoch und unter den kulturell völlig tatari- sierten ersten Zaren von Moskau (Mitte des XIII. bis Ende des XVI. Jahr- hunderts). 3. Das wiedererwachende Rußland der ersten Romanovs, be- sonders seit Peter d. Gr. in der Periode allmählicher Entwicklung des russischen Reiches zu einem bedeutenden Faktor der allgemeinen Volks- und Staatsgemeinschaft Pan-Europas.

256

Heute isi nun das so erst vor 200 Jahren von Peter d. Gr. wieder in die europäische, Völkerfamilie Re Rußland nach Meinung des Autors erneut in die „Moskovitische Periode“ zurückgeworfen worden, so daß von neuem ein Abgrund klafft zwischen Ost- und Westeuropa.

Wo für diese kulturhistorisch sehr merkwürdige und bedauerliche Tat- sache der Grund liegt, sucht Verfasser durch Aufdeckung von Griinden 1. staatsrechtlicher, 2. privatrechtlicher, 3. kirchenrechtlicher Natur zu er- mitteln. Für ihn ergibt sich, daß zwar Rußland nach wie vor sehr vieles vom übrigen Europa Abweichendes zur Schau trägt, trozdem aber mit unserm Kontinent durch fünf starke historische Bande verbunden bleibt: 1. durch Zugehörigkeit zur indogermanischen Sprach- und Völkerfamilie, 2. durch das Christentum, 3. durch jahrhundertelange wirtschaftliche Zu- a Rußlands zu Westeuropa, 4. durch die enge Verbindung der russischen Intelligenz mit der westeuropäischen Kultur, 5. durch das 200- jährige politische und volkerrechiliche Zusammenleben mit dem europäischen Staatensystem seit Peter d. Gr. Zum Schluß wünscht Verfasser, es möchte Rußland „womöglich mit Deutschlands Hilfe“ auf die historischen Bahnen seiner europäischen Geschichte zurückkehren.

Breslau. M. Friederichsen.

Graham, Malbone V. ir.: New Governments of Eastern Europe. T. 1: Text, T. 2: Sammlung von Urkunden. New York: Henry Holt Co. 1927. VIII, 826 S.

Die Aufgabe, die sich der Verfasser von „New Governments of Central Europe“ im vorliegenden Werk sebt, ist die Darstellung der Auflösung des verfallenen russischen Carenreiches auf dem Wege über die bürgerliche und proletarische Revolution in die UdSSR und die baltischen Staaten und die Schilderung des Eigenlebens dieser Staaten und ihrer Beziehungen zur Umwelt bis ins Jahr 1927 hinein. Hauptsache ist ihm hierbei die innere Ent- wicklung, die äußere Politik wird einer relativ beschränkten Analyse unter- worfen. Um das gleich vorwegzunehmen, die Einwirkung der Großmächte auf die Gestaltung der Verhältnisse, beginnend mit der bürgerlichen rus- sischen Revolution, wird nur so weit, als es irgend notwendig ist, hervor- gehoben. Das Spiel der Kräfte steht bei ihm innen- und außenpolitisch nicht im Mittelpunkt seines Interesses, er begnügt sich mit der Konstatierung ihrer Resultate, seine. historischen Teile sind eine detaillierte Chronik der Ereignisse, um an deren Aufeinanderfolge die Hauptentwicklungstendenzen nachzuweisen.

Die treibenden Momente sind für ihn der Wille der Völker zur Selbst- bestimmung und der Hunger nach Land. Ihre verschiedene Lösung in der UdSSR und in den aus dem Bestande Rußlands ausgeschiedenen Staaten werden durch die verschiedene soziale Struktur der Bevölkerung erklärt. Rußlands Mitteischichten waren zu klein, um als herrschende Klasse das Reich zu gestalten, während die sog. Randstaaten dank ihren Mittelklassen den Weg der bürgerlichen Demokratie beschreiten konnten.

Daraus folgt aber nicht eine Zweiteilung des Werkes in die Darstellung von zwei Gruppen, die UdSSR und die Randstaaten als Ganzes. Der Ver- fasser weiß als guier Kenner der Verhältnisse, daß „no two of the Baltic states started out with a common level of culture“, und darum behandelt er jeden Staat einzeln. Ein Schlugkapitel fat die Gemeinsamkeiten der baltischen Staaten zusammen, die ihren äußeren Ausdruck in den gemein- samen Konferenzen der baltischen Staaten gefunden haben, ohne es_zu einer einheitlichen Linie des Verhaliens zu bringen. Die Sicherung der Zu- kunft der neuen Staaten sieht der Verfasser, abgesehen von Sicherheits- pakten mit Rußland, in der Fundierung und Entwicklung ihrer staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, um eine möglichst markante Grenzzone „of two vastly different civilizations“ zu bilden.

Hier ist der Punkt, warum die Praponderanz auf den inneren Verhält- nissen ruht. Und wer sich über die Verfassung der Länder, die Parteien

& 257

und Parteineubildungen, die Behandlung der Minoritäten sowie die agrari- schen Verhältnisse orientieren will, findet bei Graham bestes Material. Die Auflösung der 3 in eine tragfähige Schicht von kleineren Landbesigern sei ihm die beste Gewähr für das Gedeihen der neuen Staaten als demokratische Gebilde. Die Lex Kallio, die estnische, lettische und litauische Agrarreform sind für ihn Dinge größter Befriedigung. Selbst für die entschadigungslose Form der Landenteignung in Lettland findet der Verfasser, trojkdem er das Privateigentum als den Kern

„westlichen Zivilisation“ empfindet, Worte der Verteidigung: „Despite the charges that the law was a brazen confiscatory act of „zold Bolshewism“, the remarkable social effects... more than justify the change wrought.“

Die größte Schwierigkeit bereitet ihm Polen nicht nur in Hinsicht auf seine agrarischen Maßnahmen. Schon im Aufbau seines Staatsgebiets steckt eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Wenn der Verfasser auch der Ansicht ist, daß die Grenze gegen Deutschland im großen und ganzen einschließlich des Korridors ethnographisch gerecht- fertigt erscheint, so kann er nicht umhin, die Lösung der oberschlesischen Frage (a distinct injustice was done) und des Danziger Problems, die Ein- verleibung Ostgaliziens, den Raub Wilnas und den Raubkrieg gegen Ruß- land zu tadeln und als Gefahrdungen des Friedens zu betrachten. Die Er- wartungen, die die Alliierten auf ein gegen den Bolschewismus und gegen Deutschland auf Kosten der Nachbarn stark gemachtes Polen gesetzt haben, seien ohne Aussicht auf Erfolg. Ausgesprochen fordert er nur die Rück- gabe Wilnas an Litauen und glaubt an kein Ostlocarno ohne Bereinigung des oberschlesischen Unrechts. Was die Minoritäten betrifft, so rechnet er auf (den inzwischen zurückgetretenen) Bartel, der „was the first premier since Paderewski to take his stand on a loyal fulfilment of the Minority Guarantees Treaty“. Der ganze Verlauf. der Entwicklung Polens, seine soziale Rückständigkeit, die Stärke seiner antidemokratischen Kräfte, die vor dem Mord des Präsidenten Narutowicz nicht zurückschreckten, wird auf- gezeigt. Merkwürdigerweise sieht der Verfasser in Pilsudski nicht eben- falls eine Gefahr für die demokratische Zukunft Polens. Bereits im Kapitel über Litauen hat er die sehr milden Worte über den Faschismus: „the coup ... scrupulously respected all formalities and avoided a break in the legal order, hence it cannot in any sense be regarded as revolutionary“, und an anderer Stelle sagt er über den litauischen und polnischen Faschismus: „it has, in the last analysis, been only as a result of experience that the new states have come to realize that the strength in executive arm is not synonymous with autocracy.“ Inzwischen wird ihn der geschichtliche Ver- lauf eines Besseren belehrt haben, sowohl in bezug auf Litauen, dessen »constitution forecasts a benevolent régime of Christian state socialism” und dessen „whole bill of rights is devoid of Marxism“, als auch in bezug auf Polen. Für die Unzulänglichkeiten Polens hat der Verfasser fast immer ein mildes Urteil, herbe Worte findet er nur für Polens Angriff auf die UdSSR: „the röle of Poland in 1919 and 1920 was a most sorry one, and one, which exhibits a painful example of a nation losing, increasingly, all contact with the political reality“.

Nimmt man das Bild, das der Verfasser von den baltischen Staaten entwirft, in seiner Gesamtheit, so ist die beste Prognose fiir die Stetigkeit staatlichen und gesellschaftlichen Lebens Finnland und Estland, die schlech- teste Polen gestellt. Die ,,middle-of-the-road“-Politik, die die Voraus- sebungen ruhiger Entwicklung bildet, hat sich dementsprechend seit den Sturmjahren 1917 und 1918 am stärksten in Staat und Parteien Finnlands durchgesetzt, um nach Süden zu abzunehmen, bis ihr der Faschismus am krassesten in Polen die Geltung: bestreitet. Der Verfasser kennt die faschistischen Bestrebungen in Reval und Riga bereits, doch schenkt er ihnen kaum Beachtung und erwähnt den faschistischen Umsturzversuch in Lettland vom Januar 1927 überhaupt nicht. Befürchtungen für den bürger- lichen Charakter irgendeines baltischen Staates hegt er nicht, und so ist die Übersicht über die baltischen Staaten mit der Frage zu schließen, ob

258

er nicht die sozialistischen revolutionären Kräfte in diesen Ländern unterschäßt.

In der UdSSR, die schon deshalb zum ersten Abschnitt des Buches gemacht ist, weil seine historische Einleitung zugleich die Vorgeschichte sämtlicher neuen Staaten bildet, sicht der Verfasser das Aufkommen einer Staats- und Oesellschaftsform, mit der ein modus vivendi möglich ist. Die proletarische Revolution hat sich in der Epoche des Bürgerkrieges und der Interventionen um die Einführung des Kommunismus bemüht, hat ihn aber zugunsten der Neuen Okonomischen Politik aufgeben müssen, die der Ver- fasser mit „final abandonment of communism“ gleichseBt. Seitdem gibt es einen Staatskapitalismus, für den der Kommunismus „an end to be ap- proximated, not a goal to be reached“ ist. Seitdem ist die UdSSR zu einer stärkeren Wirtschaftseinheit geworden, als Rußland es unter den Caren je gewesen ist, und befindet sich in ständigem, wenn auch langsamem Auf- stieg. Und wie der Kommunismus auf dem wirtschaftlichen Gebiet sein Ziel nicht erreicht hat, so auch nicht auf staatlichem und sozialem Gebiet. Die Kommunisten haben nicht den „Einklassenstaat“, den klassenlosen Staat, schaffen können und haben in der Nationalitätenfrage nachgiebig sein müssen. Obwohl die Tscheka seit Mitte 1918, als „the ennemies of the soviet government abroad did not scruple to resort to assassination“, die Konterrevolution und mit ihr die alten herrschenden Schichten auszurotten begann und tatsächlich ausgerottet hat, blieben nur das Proletariat und die Bauernschaft als Klassen übrig. Beide Klassen, die gemeinsam die Revo- lution durchführten, stehen heute untereinander im Kampf um die. Macht, hier das Proletariat in Stadt und Land im Bunde mit der Dorfarmut, dort die besigliche Bauernschaft, bei der der Verfasser keinen Unterschied zwischen den Kulaken und den Mittelbauern macht. Vor der besiklichen Bauernschaft müsse „Moskau“ von Kompromiß zu Kompromiß weichen, „until the new class of self-made peasants come to command authority“. In diesem Zu- sammenhang berührt der Verfasser die Frage, ob irgendwelche Emigranten je wieder eine Rolle spielen könnten, und lehnt sie verständigerweise rund- weg ab. Alles in allem sieht der Verfasser Rußland. „slow returning to the paths of democracy and national selfgovernment“. Aus der Tatsache dieses derart sich entwickelnden Staatswesens folgt aber nicht nur, daß der modus vivendi möglich, sondern vielmehr, daß das friedliche Zusammen- leben der Völker mit der UdSSR vom Willen der kapitalistischen Welt ab- hängig ist. In bezug auf den litauisch-russischen Vertrag von 1926 sagt der Verfasser, daß er auf einer Basis aufgebaut ist, „which could bridge differences between a mildly bourgeois world and a world of pseudo- communism”. Natürlich soll das ein Hinweis für alle analogen kommenden Fälle sein. Und so möchte ich diesen Abschnitt mit der rage schließen, gibt es eine solche „mildiy bourgeois world“? Die Interventionen der Alliierten waren jedenfalls von dem Willen diktiert, den jungen Staat zu vernichten, und es geht nicht an, sie als Folge des bolschewistischen „un- pardonable sin of defection from the ranks of the allies“ zu bezeichnen. Man braucht nur an das Freundschafistelegramm Wilsons an den Allrus- sischen Ratekongre§ vom März 1918, als der Rücktritt Rußlands vom Kriege entschieden war, zu erinnern, um zu wissen, daß die enischeidende Macht jenes Jahres diesen Standpunkt nicht vertrat. Diese Tatsache kann nicht aus der Welt geschafft werden, trojdem Wilson seine Truppen an der Intervention teilnehmen ließ. Dieses letztere gehört zu denselben Sonder- barkeiten wie die Tatsache, daß Wilson sich die Losung der russischen Emigranten vom „einigen unteilbaren Rußland“ in Paris zu eigen machte und das proklamierte Selbsibestimmungsrecht der Völker für die baltischen Staaten mit Ausnahme Polens nicht gelten ließ und die Anerkennung versagte.

Was Deutschland betrifft, so hat der Verfasser als Bürger eines demo- kratischen Landes für das wilhelminische Deutschland nichts übrig, und das antidemokratische baltische Deutschtum ist ihm ein Greuel. Man wird sein Urteil manchmal nicht gerecht finden können, so z. B. wenn er für die Aus- beutung der okkupierten Gebiete im Osten die Notlage, in die Deutschland

259

durch die Blockade versetzt war, nicht geltend macht, oder wenn er die kulturelle Bedeutung der Balten durch Stillschweigen ignoriert und nur die der schwedischen Herrschaft positiv bewertet. In den meisten Fällen wird man ihn nicht ablehnen können, selbst wenn die Worte, in die er seine Urteile kleidet, nicht sympathisch berühren. Manchmal wird man sogar mit der Ironie des Verfassers mitgehen können, wie in dem Falle, wo er die Umbenennung der Svecomanen in Schwedische „Volks“ partei erwähnt und dazu die Bemerkung machi, daß sie, die dabei ihren „essentially ultra- conservative“ Charakter beibehielten, deutschem Vorbilde folgten.

Ein so inhalts- und umfangreiches Werk wie das vorliegende läßt sich im Rahmen einer Besprechung nicht erschöpfen, es sei daher betont, daß es mit großer Akribie gearbeitet und zur Orientierung über den Verlauf der Dinge im Osten Europas ein wertvolles Handbuch darstellt. Daß ein so solides Werk zustande gekommen ist, ist um so erstaunlicher, als der Ver- fasser keine Literatur in den osteuropäischen Sprachen benubt und die viel- fältige und fast durchweg sorgfältig ausgewählte Literatur in westeuropäischen Sprachen nur durch einige Hinweise auf die „Izvestija“ und durch einiges neue Material, das die baltischen Staaten ihm zur Verfügung gestellt haben, komplettiert. Da wir an Werken dieser Art nicht verwöhnt sind, so wird dieses Buch sicherlich viele Benuger finden.

Breslau. Harald Cosack.

Die Geschichtswissenschaft in Sowjet-Rußland 1917 1927. Biblio- graphischer Katalog, herausgegeben von d. Deutschen Ges. z. Studium Osteuropas anläßlich der von ihr in der Preuß. Staats- bibl. zu Berlin veranstalteten Ausstellung. Mit einem Vorwort von Professor Dr. OttoHoetzsch. Ost-Europa-Verlag, Berlin und Königsberg i. Pr. 1928. S. 193.

„Das Bedürfnis, einen Überblick über die geschichtswissenschafilichen Veröffentlichungen in Rußland zu gewinnen, wird von jedermann geteilt, der dem Studium der osteuropäischen, der russischen Geschichte zugewendet ist.“ Diesen Worten, mit denen Professor Hoetzsch den der Ge- schichtswissenschaft in Soveti-Rußland während der Revolutionsjahre gewid- meten Bibliographischen Katalog einleitei, muß gewiß zugestimmt werden. Den einleitenden Worten folgen im Vorwort allgemeine Betrachtungen dar- über, was ein Historiker, der nach dem Kriege nach Rußland kommt, zu beobachten hat. So ein Historiker sieht, daß zunächst zur Geschichte der Arbeiterbewegung, des Sozialismus und der Revolution drinnen und draußen sehr viel gearbeitet und gedruckt wird und daß auch ältere Perioden der russischen Geschichte vom historischen Materialismus in Angriff genommen werden. Der westeuropäische Historiker sieht ferner, daß neben der marxistischen die nichtmarxistische, die idealistische Geschichtswissenschaft nach westeuropäischer methodischer, kritischer, erkenninis-theoretischer Auf- fassung arbeitet und um Veröffentlichung ihrer Studien kämpft. Dieser Historiker sieht auch, wie das erwachte Selbstbewußtsein der nicht grob- russischen Nationalitäten im Sovetstaat, besonders in der Ukraine, aber auch vielfach sonst, in einer lebhaften historischen Arbeit seinen Ausdruck findet und sich durchsetzt. Schließlich daß das stark auf Aufklärung und Propaganda in weiten Volkskreisen gerichtete Streben der herrschenden Partei auch in der geschichtswissenschafilichen Literatur zu lebhafter Pro- duktion führt und naturgemäß dabei die Grenzen zwischen wissen- schaftlicher Forschung und Arbeit der populären Aufklärung und Agitation häufig verwischt. Alle diese Beobachtungen beweisen, daß Professor Hoetzsch ein scharfer und dabei objektiver Beobachter der Bedingungen ist, in denen die Geschichtswissenschaft in Sovet-Rußland sich zu betätigen hat. Diesen Beobachtungen wären vielleicht nur einige Worte über die Evolution, die diese Bedingungen im Laufe der Jahre der Sovetherrschaft durchgemacht haben, beizufügen. Es wäre dann zu sagen, daß in den ersten

260

Jahren der Existenz der Sovetregierung die Geschichtswissenschaft zwar mit einer durch den Kriegskommunismus hervorgerufenen Not an technischen Mitteln zu leiden hatte, daß aber der „ideologische“ Druck erst später kam, zur Zeit, als der Kriegskommunismus bereits überwunden war, daß der ungleiche Kampf der idealistischen Geschichtswissenschaft um ihr Dasein mit den Jahren immer hoffnungsloser wurde, und daß heutzutage nur von ein- zelnen Trümmerstücken einer Geschichtswissenschaft, die „nach westeuro- paischer methodischer, kritischer, erkenninis-theoretischer Auffassung“ in Sovetrugland arbeitet, die Rede sein kann.

‚Dem Titelblatt gemäß soll der Bibliographische Katalog über die Ge- schichiswissenschaft in Sovet-Rußland 1917—1927 berichten. Gleich darauf {S. 2) wird jedoch erwähnt, daß die Bücher, die mit einem Sternchen (*) im Katalog versehen, in den Kriegsjahren 1914—1916 gedruckt worden sind. Professor Hoetzsch spricht in seinem Vorwort über die Literatur der Kriegsjahre (S. 4), ohne deren Anschluß an die historische Forschung Sovei- Rußlands zu begründen. Es ist gewiß sehr erfreulich, wenn dem deutschen Historiker auch eine bibliographische Zusammenstellung der russischen ge- schichtswissenschaftlichen Erscheinungen der Kriegsjahre vorgelegt wird, aber diese Erweiterung des Rahmens der beriicksichtigten Literatur sollte eigentlich auch auf dem Titelblatt erwähnt werden.

Der Katalog soll somit über die russische geschichtswissenschaftliche Literatur der Kriegs- und Revolutionsjahre berichten. Die Zusammensteller des Katalogs haben sich aber an diese chronologischen Grenzen nicht immer streng gehalien: hier und da werden im Katalog Werke erwähnt, die aus den Vorkriegsjahren stammen (die unter Nr. 112, 149, 905, 986, 1004, 1297, 1646 angegebenen Werke gehören dem Jahre 1913, Nr. 130, 1108, 1307 dem Jahre 1911, Nr. 1047 sogar dem Jahre 1901). Was die Verfasser veranlaßt hat, diese vereinzelten Werke aus der Literatur der Vorkriegsjahre im Ka- talog zu berücksichtigen, ist schwer zu erraten.

Der Katalog selbst enthalt sechzehn Abteilungen (wobei einige dieser Abteilungen weitere Unterabteilungen enthalten): 1. die Organisation der russischen Geschichtsforschung, das russische Archivwesen, Bibliographie, 2. Die russische Geschichtsanschauung der Gegenwart, der historische Ma- terialismus, 3. Russische Geschichte (Quellen und Darstellungen zur politi- schen und Kulturgeschichte), 4. Geschichte der nichtrussischen Völker der Sovet-Union, 5. Allgemeine Geschichte, 6. Historische Hilfswissenschaften, 7. Religions- und Kirchengeschichte, 8. Geschichte der Philosophie, 9. Ge- schichte der Pädagogik, 10. Literaturgeschichte, 11. Archäologie und Ge- schichte der bildenden Künste, 12. Musikgeschichte, 13. Theatergeschichte, 14. Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 15. Wirtschafts- geschichte, 16. Sammelwerke, Zeitschriften und periodische Veröffent- lichungen der wissenschaftlichen Gesellschaften und der Universitäten.

A) Der erste Eindruck, den man bei der Durchblätterung des Katalogs gewinnt, ist der, daß seine Zusammensteller einen äußerst weiten Begriff der Geschichte angenommen haben. Aber auch diese äußersten Grenzen des Begriffs der Geschichtswissenschaft sind mehrmals überschritten und in den Katalog Bücher aufgenommen worden, die mit der Geschichte überhaupt nichts zu tun haben. Um nur einige Beispiele anzuführen:

1. Im ersten Teil sind als bibliographische Werke u. a. fölgende Ver- öffentlichungen angegeben:

a) Bibliographische Zehnjahresschrift über das Konsumgenossenschafts- wesen (Kommunistische Genossenschaftsliteratur in den Jahren 1917—1927),

b) Junovié, Die Literatur über Weltwirtschaft und Weltpolitik für das Dezennium 1917—1927, Nr. 12;

c) Bibliographisches Verzeichnis der Werke von Lunaéarskij (1875 bis 1925), Nr. 15.

2. Im zweiten, der russischen Geschichtsanschauung der Gegenwart ge- widmeten Teil, finden wir das Buch von N. N. Alekseev, Abriß der all-

261

gemeinen Staatstheorie, 1919 (Nr. 44), das die theoretischen und methodo- logischen Probleme der allgemeinen Staatsiehre behandelt, von einem Juristen verfaßt ist und nichts für die Erkenntnis der russischen Geschichts- anschauung der Gegenwart bieten kann; ferner die marxistischen rechis- theoretischen Werke von PaSukanis (Die allgemeine Rechtstheorie und der Marxismus, Nr. 68) und von Razumovskıj (Probleme der marxisti- schen Rechtstheorie, Nr. 78).

J. In der dritten Abteilung, die die russische Geschichte behandelt, finden wir das Buch des Dichters Alexander Blok Rossija i intelligen- cija 1907—1918 (die deutsche Übersebung lautet „Rußland und die Intelligenz in den Jahren 1907—1918“), obwohl die Jahreszahlen auf dem Titelblatt des Biichleins nur die in ihm enthaltenen Aufsätze des Verfassers zu datieren haben, der Inhalt der Aufsätze selbst aber keinesfalls geschichtlicher, sondern kulturphilosophischer ist.

4. In der vierzehnten, der Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungs- geschichte gewidmeten Abteilung des Katalogs haben die meisten Werke einen soziologischen oder rechtsdogmatischen Inhalt und gehören daher keinesfalls der Geschichtswissenschaft an. Es sind dies ent- weder Werke über die allgemeinen Lehren über den Sovetstaat (Stučka, Nr. 1784, 1785), über die Sovetverfassung im allgemeinen (Engel, Nr. 1766, Gur vi &, Nr. 1767), oder über einzelne Fragen des Soveiverfassungsrechis Archippov, Nr. 1762, Reichel, Nr. 1780), über das Sovetverwaliungs- recht (Kobalevskij, Nr. 1773), über das Völkerrecht (Korovin, Nr. 1774—1775), oder Werke, die in erster Auflage noch vor der Revolution erschienen sind, wie das Werk von N. I. Lazarevskij, Das russische Staatsrechi, dessen erste Auflage noch aus dem Jahre 1908 stammt und dessen vierte Auflage im Jahre 1917 auf der ersten Lieferung abgebrochen wurde, da die Februarrevolution von 1917 eine gründliche Neubearbeitung dieses Lehrbuches für erforderlich gemacht hatte, zu der es allerdings nicht mehr gekommen ist, und das Werk von V. M. Gessen über die Grundlagen des Verfassungsrechis, das in erster Auflage im Jahre 1916 erschienen ist (im Jahre 1918 anastatischer Neudruck) und seinem Wesen nach ein Lehrbuch des allgemeinen Verfassungsrechts der westeuropäischen Demokratie vor dem Welikriege darstellt.

B) Wenn der Katalog einerseits Material enthält, das in einem der geschichtswissenschaftlichen Bibliographie gewidmeten Katalog zweifellos überflüssig ist, müssen andererseits erhebliche Lücken hervorgehoben werden. Einige Beispiele müssen wiederum genannt werden:

1. Unter Nr. 130 wird die Festgabe für S.F. Platonov von 1911 angeführt. Im Jahre 1922 ist aber zu dem vierzigjährigen Jubiläum der wissenschaftlichen Tätigkeit des hochgeschätzten russischen Historikers von seinen Schülern und Freunden wiederum eine Festschrift zustande gebracht worden: Sbornik state} po russkoj istorii, posvjaScennych S. F. Platonovu (Sammlung von S. F. Platonov gewidmeten Aufsäßen über die russische Geschichte), Peters- burg 1922, Verlag „Ogni“, S. XII u. 459. Diese Festschrift ist in den Katalog nicht aufgenommen worden.

2. In den den Zeitschriften gewidmeten Abteilungen des Katalogs fehlen zwei sehr bedeutende Zeitschriften:

a) die historische Zeitschrift der Petersburger Akademie der Wissen- schaften Russkij Istoriteskij Žurnal (Russische Historische Zeitschrift), die in den Jahren 1917—1922 herausgegeben worden ist und als wissenschaftlich bedeutendste historische Zeitschrift der Nevolufionsjahre bezeichnet werden muß;

b) die von P. E. S€egolev herausgegebene Zeitschrift „Byloe“ (Das a die speziell der Geschichte der Revolutionsbewegungen ge- widmet war.

J. Der ‚Katalog enthält eine Reihe einzelner von der Sovet-Union abgeschlossenen Staatsvertrage, die stets nach ihrem Abschluß vom Volks-

262

kommissariat für Auswärtiges herausgegeben werden (Nr. 196, 205—206, 218—219, 236, 258, 1019), aber keine genaue Angaben über die für den prak- tischen Gebrauch gewiß viel wichtigere Sammlung der Staatsveriräge, die alle diese Verträge umfaßt: Sbornik dejstvujuScich dogovorov, soglaSenij i konvencij, zakljucennych s inostrannymi gosudarstvami (Sammlung gelten- der Verträge, Abkommen und Konventionen, die mit den ausländischen Staaten abgeschlossen sind), Lieferung l, Moskau 1924, S. 436 u. IV u. IV; Lieferung Il, Moskau 1925, S. 132; Lieferung Ill, Moskau 1927, S. 2791). Un- erwähnt bleibt auch die dieser schon von der Union hergestellten Samm- lung vorausgehende Sammlung der Staatsverträge der RSFSR (Sbornik dejstvujuScich dogovorov, soglaSenij i konvencij, zakljuèennych RSFSR s inostrannvmi gosudarstvami [Sammlung geliender Verirage, Abkommen und Konventionen, die von der RSFSR mit den ausländischen Staaten abge- schlossen sind}; Teil I. Petersburg 1921, S. VII u. 252; Teil Il, Moskau 1921, S. 159; Teil Ill, Moskau 1922, S. VII u. 359; Teil IV, Moskau 1923, S. 50; Teil V, Moskau 1923, S. 32).

. C) Das System, nach welchem die gesamte geschichtswissenschaftliche Literatur im Katalog geordnet ist, ist oben wiedergegeben worden. Die Einordnung selbst ruft jedoch öfters wesentliche Bedenken hervor. Um wiederum nur ein paar Beispiele anzugeben, sei erwähnt, daß die Erinne- rungen der Witwe des bekannten Chemikers Mendeleev „Mendeleev in seinem Privatleben“ (Nr. 117) in der Unterabteilung „Gesamtdarstellung und Allgemeines“, die Theatererinnerungen der berühmten Schauspielerin M. O. Savina (Leiden und Irrwege. Aufzeichnungen aus den Jahren 1854—1877) in der Unterabteilung „Revolutionäre und Arbeiterbewegung“ untergebracht sind (Nr. 378), daß dagegen die Erinnerungen des Revolutionärs N. S. Tjyutéev (Nr.1511) in dem der Literaturgeschichte gewidmeten Teil auf- gesucht werden müssen, neben den Briefen von F. l. Tjutcev, des be- ruhmten Dichters, der keinesfalls mit dem gleichnamigen Revolutionar zu verwechseln ist.

D) Wenn man sich der äußeren Seite des Katalogs zuwendet, so fällt sofort folgendes auf:

1. Einige Werke werden zweimal genannt: z. B. Nr. 950 = Nr. 952 (PetruSevskij), Nr. 1438 = Nr. 1914 (Aus dem Archiv Dostoevskijs).

2. In vielen Fallen werden einzelne Teile mehrbandiger Werke unter verschiedenen Nummern angeführt (z. B. Nr. 106—110: drei Bande eines Werkes von Firsov; Nr. 916-917, zwei Bände eines Werkes von Buzeskul; Nr. 939—941, drei Bande eines Werkes von Egorov und noch zahlreiche andere Fälle); dadurch wird gewiß die Zahl der im Katalog angeführten Nummern, aber nicht die Zahl der beriicksichtigten Werke erhöht.

Berlin-Lichterfelde. A. N. Makarov.

Bindewald, Helene: Die Sprache der Reichskanzlei zur Zeit König Wenzels. Halle a. S., Max Niemeyer, 1928. LXIX + 270 S.

Wenn die Hofkanzlei Karls IV. die Grundlagen des schriftsprachlichen Ausgleichs geschaffen hat, ist die Kanzlei König Wenzels dadurch be- deufungsvoll geworden, daß sie die neue Hofsprache übernahm und festigte. Die Untersuchung des Kanzleigebrauchs zwischen 1380 und 1400 kann die Ergebnisse der Untersuchungen über die Urkundensprache der vorauf- gehenden Zeit nachprüfen und die Richtung verdeutlichen, in der der Laut- wandel, die Anderungen in Formenbestand, Wortschab, Sabbau und Stil verlaufen. So kann ersichtlich werden, ob gewisse bereits erkennbare

1) Unter Nr. 236 ist allerdings der Titel dieser Ausgabe wiedergegeben, gleich darauf aber der Titel des Handelsabkommens zwischen der U. d. St. R. und Schweden vom 15. Marz 1924.

265

Richtungen der 5 im Sinne einer Angleichung an frühere Gepflogenheiten preisgegeben worden sind, ob die Grundzüge der Kanzlei- sprache Karls sich behaupten konnten. Sprachliche Richtung ist Symbol des Kulturganges überhaupt. Aus der Geschichte des Prager Kulturverlaufes und aus der Sonderart der sprachlichen Quellen (Urkunden) erleidet die Ausdeutung der Untersuchungsergebnisse für die Geschichte der neuen Hochsprache zwar wesentliche Einschränkungen, aber eine klare Einsicht in die Frühgeschichte der neuhochdeutschen Gemeinsprache ist ohne eine sorgfältige Feststellung des Sprachbestandes der Kanzlei Wenzels nicht denkbar. Mit der Andeutung dieses Sachverhaltes ist der Wert des Binde- waldschen Buches gekennzeichnet. Daß eine = gonzung durch sprachliche Untersuchungen der zeitgenössischen Literatur nötig sei, betont Verf. selbst; stellenweise sind die bereits vorhandenen Darstellungen auch zur Nach- prüfung herangezogen worden. Daß es nicht in reicherem Maße geschah, ist zu bedauern. Der beschränkte Wortschab und die Armut an sprach- lichen Wendungen, die geringe Lebensnähe der Urkunde bieten für gewisse Erscheinungen nur dürftige Belege und lassen Bedenken aufkommen gegen eine Gleichsetzung der Übung der Kanzlei mit der Umgangssprache der Hofgesellschaft. Besonders schmal ist die Basis für die Beurteilung des syniaktisch-stilistischen Einflusses der lateinischen frühhumanistischen Muster. Aus der Zeit Wenzels liegt z. B. nur eine Urkunde in lateinischer Fassung und gleichzeitig deutscher Sprache vor. Syntaktisch-stilistische Vergleichs- möglichkeiten bieten die Handschriften der Soliloquienüberseung und des Hieronymuslebens des Kanzlers Johann von Neumarkt, die die lateinischen Originale neben die Übersekung stellen lassen. Da ein großer Teil dieser Handschriften aus der Zeit um 1400 überliefert ist, zeigen sie der Urfassung Johanns von Neumarkt gegenüber wesentliche Änderungen in Wort- gebrauch und Stil, die zum Teil auf einer Preisgabe allzu enger Anlehnung an die lateinischen Muster beruhen. Die Urkunden Wenzels weisen diesen Handschriften gegenüber auch manche mundartliche Unterschiede auf. So ist in den Urkunden die Diphthongierung des mhd. 1 stärker fortgeschritten; die Vorsilben uz—, uf—, zu— sind seltener geworden gegenüber auz—, auf—, zer—; die Präposition kegen, kein (gegen), die früher beliebt ist, ist dem gegen fast ganz gewichen, wogegen sie sich im Schlesischen mit stimm- losem Änlaut bis heute gehalten hat: ei di kéne gen (entgegengehen); die für Johann von Neumarkis Stil kennzeichnende Konjunktion auf die rede das ist bis auf Spuren geschwunden. Auffallend ist die Abnahme des Ge- brauches von i anstatt e in nebentonigen Silben: gebin usw. Nach meinen statistischen Beobachtungen haben die osimitteldeutschen Handschriften um 1400 noch in etwa ½ aller Fälle i für e; doch ist der folgende Konsonant von starkem Einflusse: —ist und —est finden sich in gleicher Zahl; —ir findet rh me SOPPER so oft als —er; —il fünfmal öfter als —el; —et dreimal öfter als

Doch ändern solche Einzelheiten nichts an der Gesamthaltung; die Hand- schriften decken sich im ganzen mit der Kanzleisprache König Wenzels, die man als ein durch bayrisch-österreichische Einschläge gemildertes Ost- mitteldeuisch bezeichnen kann. Das ist, wie Verf. mit Recht betont, der stark ostmitteldeutschen Zusammensebung des Prager Kanzleipersonals zu verdanken. Die Angaben darüber können noch vervollständigt werden; so ist der S. 11 Anm. 1 gesuchte Johannes Jaurensis auch sonst nach- weisbar; vgl. Ulm. Urkb., S. 825, Nr. 1011 v. 10. Okt. 1376; Cod. dipl. Mor. X, 221, Nr. 202 v. J. Okt. 1373 u. ö. Er wird wohl ein Sohn des schon 1363 in Karls Diensten nachweisbaren Peter v. Jauer sein. Mit der juristisch- technischen Sonderart der Urkundensprache hängt es zusammen, wenn ihr sprachschöpferische Kraft fehlt. Doch sollte diese Wahrnehmung (S. 210) nicht auf die literarische Sprache der Zeit übertragen werden, die sich be- sonders in Wortzusammensekungen durchaus schöpferisch erweist. Ob das Eindringen Cechischer Beamter auch auf die Hofsprache gewirkt hat, wird sich am Urkundendeutsch kaum entscheiden lassen. Vielleicht sind hier rein orthographische Einwirkungen spürbar, wenn im Ostmitteldeutischen

264

ganz allgemein cz für tz steht, 3 s und z durcheinander gehen (lezen), wenn Schreibungen wie Zöczei begegnen. Im übrigen zeigen die literarischen Denkmäler der Zeit in syntaktisch-stilistischer Hinsicht kaum irgendwo slavische Einwirkung. Geschichilich gesehen bedeutet die Sprache der Kanzlei Wenzels Hohepunk ‘und Abschluß der von der Prager Kultur bestimmien Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache; mit der Hussitenzeit fritt die schle- sische und mehr noch die obersächsische Sonderart in den Vordergrund und bestimmt die Weiterentwicklung. Breslau. J. Klapper.

265

ZEITSCHRIFTENSCHAU

BULGARIEN

Renato Poggioli: N poeta bulgaro Nikolaj Liliev. Rivista di slave. Anno 3 (1928), 3, S. 221—230.

P. gibt als Einleitung zu einigen von ihm ins Italienische tiberseften Dichtungen Lilievs einen kurzen Überblick über sein Leben und Schaffen und eine Charakteristik seiner Stellung innerhalb der bulgarischen Literatur. Nachklänge aus der zeitgenössischen oder wenigstens neueren Lyrik an- derer Völker: Verlaine, Rainer Maria Rilke, George, Blok in den Dichtungen Lilievs, ebenso wie Reminiszenzen an die Gestalten Shakespeares und Zitate aus der Weltliteratur, die sich bei Liliev eingesireut finden, scheinen, nach der Meinung Poggiolis, ein Beweis dafür zu sein, daß Nikolaj Todorov (Liliev ist nur Pseudonym) keineswegs sehr originell und neutonig ist, und P. fragt, worauf sich die allgemeine Anerkennung, daß man in Liliey den größten modernen Lyriker Bulgariens zu sehen habe, stützt. Und, obgleich das paradox erscheinen könnte, glaubt er, daß gerade der starke west- europäische Einschlag Lilievs die Ursache seines starken Einflusses auf die jetzige Generation in Bulgarien ausmacht. Er ist einem Instrument ähnlich, welches die Schwingungen, die der Lufthauch aus dem Westen in der um-

ebenden Welt auslöst, erklingen läßt. Der am meisten hervorstechende ug Lilievs liegt in seiner Femininitat, doch ist dieses Wort nicht in dem Sinne einer Verweichlichung zu verstehen, sondern soll nur Lilievs eigen- artige Gabe in Worte kleiden, in den Dichtungen, wo er in der ersten Person spricht, aus der Seele einer Frau oder eines Mädchens heraus zu empfinden. Eigen ist diesen Dichtungen eine jungfräulich keusche Stimmung oder ein Nachempfinden der in der Volkslyrik ausgedriickten Stimmungen ver- heirateter Frauen. Das Pseudonym Liliev nimmt wohl bewußt von dem Wort lilija seinen Ausgang. Liliev hat aber auch das Gedicht ,,Vojna“ ge- schrieben, doch auch in Dichtungen dieser Gattung spricht eine verfeinerte, nicht kampfesharte Natur. Erklärlicherweise fehlen bei Liliev Dichtungen, in denen er eine Frau verherrlicht, oder, wenn er sie besingt, zerfließt ihre Gestalt ins Mystische, im Unterschied zu Blok, dessen prekrasnaja dama zeitweise sehr greifbare Gestalt annimmt. Liliev trägt seine Frauenvision nie herab auf die Erde. P. sieht eine Gefahr für die Individualität Lilievs in dieser Art ekstatischer außerweltlicher Stimmungen und findet, daß sich unter ihrem Einfluß auch der Wortschatz der Dichtungen sehr beschränkt. Seiner Dichtung fehlt das Rückgrat, sie ist zum Fragment verurteilt von vornherein. Aber liegt nicht in der ganzen neuzeitlichen Kunst etwas Frag- mentarisches? Die moderne Sensibilität ist impressionistisch und flieht großangelegte Konstruktionen; vielleicht ist das ein Grund dafür, daß die junge Generation Bulgariens Slavejkov vergißt und dafür Liliev liebt. In dem vergänglichen Duft dieser zarten Dichtungen, die wie die blaue Blume des Novalis anmuten, spricht sich der Zeitgeist aus, um dessentwillen man Liliev lieben muß. Emmy Haertel.

266

UKRAINE

J. Miréuk: H. S. Skovoroda, ein ukrainischer Philosoph des XVIII. Jahrhunderts. Zeitschrift für slavische Philologie. 5 (1928), 1—2, S. 36—62.

Zum Verständnis des Zr. ammenhangs, der zwischen jeder genialen Einzelpersönlichkeit und dens historischen Hintergrund, auf dem sie er- wachsen, immer bestehen muß, auch dann, wenn die Originalität des be- treffenden Individuums stark genug war, sich davon zu einem großen Teil frei zu machen, gibt M. zur Einleitung in seine Darstellungen einen kurzen Überblick über das 18. Jahrhundert der ukrainischen Geschichte, und zwar vornehmlich über Geschehnisse und Zustände innerhalb der ahre 1722—63. In der Weltanschauung Sokovorodas spiegeln sich die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit. Aus diesem Verwachsensein mit ihnen erklärt sich der ungeheure Einfluß, den er ausgeübt, ungeachtet der scheinbar widersprechenden Tatsache, daß in den ersten 100 Jahren nach seinem Tode seine Schriften keine ihrer würdige Ausgabe erlebt haben. Bei Gelegenheit der Lebensbeschreibung Skovorodas hebt M dessen früh sich äußernden starken Wandertrieb hervor, der ihm spater die Bezeichnung eines „Wanderphilosophen“ einirug. Ein charakteristischer Zug ist auch sein starker Widerstand gegen die damals herrschenden philo- sophischen Richtungen. Seine Vorliebe für die Antike und besonders für Plato ist z. B. auch aus den Schuleinflüssen der Kiever Akademie nicht zu erklären. Die geistige Selbständigkeit Skovorodas führte während seiner Tätigkeit als Lehrer für Poetik am Kollegium von Perejaslav zu Konflikten mit dem dortigen Bischof, und ebenso fanden auch seine späteren Ver- suche, an anderer Stelle eigene Anschauungen und von den Zeitgedanken unabhängige Überzeugungen in Vorlesungen über christliche Ethik vor seinem Hörerkreise zu entwickeln, Mißdeutungen und kollegialen Neid. Sein unstillbarer Wandertrieb mag das seinige dazu beigetragen haben, daß Skovoroda nirgends warm werden konnte, er war auch eine Natur, für die es keinerlei soziale Bindungen von vornherein gab. Sein Kritiker A. Hasdeu hat ihn mit einem einzeinen Berg auf weiter Steppe verglichen. Er widerstand auch innerlich vielem, was zur damaligen Zeit allgemein- gültig war: dem Hang zu materiellen Erfolgen und Gewinn und trieb seine Studien um ihrer selbst willen. Auch seine antirationalistischen religiösen Überzeugungen stachen ab von der Zeitstimmung. Als armseliger Wander- prediger seiner Weltanschauung zog er auf dem linksuferigen Dneprgebiet umher und lehrie, wo seine Lehre gern angehört wurde. Sein herzliches Verhältnis zu dem einfachen ukrainischen Volke trug dazu bei, daß Lieder von ihm mit moralisierendem Inhalt sich lange unter dem Volke lebendig erhalten haben. Daß bei ihm Leben und Lehre stark von Sokrates be- einflugt war, springt in die Augen. Beider Philosophie entbehrte eines fertigen Systems. Obgleich Skovoroda eine literarische Erbschaft hinter- lassen, ist er doch ein „Philosoph ohne System“ genannt worden, denn seine Haupigedanken sind ohne alle systematische Ordnung in seine nicht gerade zahlreichen Werke eingestreut. Er hat. auch, ähnlich wie Sokrates, der praktischen Philosophie den Vorzug gegeben vor einer theoreti- sierenden. Die an ethischen Idealen arme Gesellschaft der damaligen Zeit drängte ihn dazu, vor ihren Augen ein Leben zu leben, welches nur einem ethischen Ideal diente. Was Tolstoj nur im Alter getan, übte Skovoroda in den besten Jahren seines Lebens, er kannte keine Kompromisse. Ab- gesehen von dieser originellen Übereinstimmung von Lehre und Leben war seine Philosophie keineswegs originell und spiegelt wider, was antikes Denken und die Schriften der Kirchenväter an geistigem Gut aufgespeichert haben. Weniger leicht zu verfolgen ist das Eindringen neuerer philo- sophischer Strömungen bei ihm. M. führt die Literatur an, welche hier analysierend gearbeitet hat. In religiöser Hinsicht vertritt Skovoroda einen durchaus universellen, nicht nur konfessionell uninteressierten Standpunkt. Er sieht auch im Heidentum und seiner Moral das schlechthin Göttliche.

267

Seine Bibelverehrung gründete sich auf die Anschauung, daß Gott sie zu einem Werkzeug seines Verkehrs mit den Menschen bestimmt habe, was ihn aber nicht hinderte, kritisch klar die in ihr enthaltenen Widernatiirlich- keiten zu erkennen und den unkritischen Geist ihrer Ausleger zu tadeln, welcher in ihr alles wörtlich glauben wolle. Er hat es versucht, gestützt auf die alten Kirchenschriftsteller, den Text der Bibel „mit Hilfe eines Schlüssels von Symbolen zu erklären“, durch ‚welche ein neuer und tiefer Sinn auch in bisher schwer zu Deutendes gek¢immen ist. M. charakterisiert dann kurz die Hauptgedanken der Philosophie Skovorodas. Das Höchste für ihn bedeutet das Streben nach Wahrheit, ähnlich wie Lessing das forderte, ein tiefer Anthropologismus durchzieht die Grundlagen seines philosophischen Denkens, und zwar ist sein Anihropologismus dreifacher Natur: ontologisch, erkenntnis-theorefisch und moral-praktisch. Makro- kosmos und Mikrokosmos enisprechen einander. Nach seiner Auffassung „bildet der Mensch den Ausgangspunkt jeder Erkenntnis”. Die sichtbare Natur alles Seienden ist vergänglich und wertlos, nur das implicife in ihr Enthaltene: Wahrheit, Schönheit... Gedanken, Geist „hat Wert. Infolge- dessen existiert eigentlich jede Sache doppelt.“ Der Einfluß Platos ist hier unverkennbar. „Die Schaffung eines durchgeistigten Menschen aus sich ist die zweite Geburt jedes Individuums.“ Aus der Selbsterkenntnis eines jeden Menschen fließen die moralpraktischen Zwecke und Forderungen hervor. Alles Abstrakte ist bei Skovoroda praktischen Zwecken unter- geordnet. Das Hauptgewicht des Denkens liegt bei ihm im Konkreten Leben, ein Zug, der ihn, wie M. sagt, den allgemeinen Tendenzen der Slaven treu erweist. Skovoroda ist Eudämonist, sein Streben nach Glück- seligkeit trägt jedoch einen ganz eigenen Charakter. Daß der Mensch sein Glück immer individuell suchen muß, unterscheidet ihn von der übrigen Kreatur. Skovorodas Forderung, sich im Leben dem Willen Gottes zu fügen, verrät manche Verwandtschaft mit stoischen Lehren. Wie in der Natur alles nach Gottes Willen seiner eigenen . lebt, soll der Mensch das ihm Gemäße suchen, nur dem Angeborenen gemäß leben und wirken. Skovoroda war überzeugt, daß in der Natur des Menschen bestimmte Anlagen vorhanden sind, die ausgebildet werden müssen. M. weist auf die Ähnlichkeit zwischen dem Glückseligkeitsprinzip Skovorodas und dem Sokratischen Begriff der ager hin. Daneben aber zeigt sich auch die Verwandtschaft mit platonischen und aristotelischen Gedanken. Gerade diese Theorie stand im Widerspruch zu den philo- sophischen Lehren des 18. Jahrhunderts, welche die Gleichheit aller Menschen verkündigten. Skovoroda aber sagt „es ist besser, ein natürlicher Kater als ein Lowe mit einer Eselsnatur zu sein“ und „Je mehr Eintracht und Friede mit Gott, desto seliger und friedlicher das Leben“. Emmy Haertel.

CECHOSLOVAKEI

Paul Diels: Ein Hussitenlied auf König Sigismund. Archiv für slav. Philologie. 42 (1928), 1/2, S. 97— 108.

Auf der Innenseite der Predigthandschrift I O 393 der Breslauer Staats- und Universitatsbibliothek befindet sich nebst anderem Notizen- material, stark beschädigt, der Rest eines Liebesliedes in polnischer Sprache, welches D. späterhin zu bearbeiten gedenkt, und die Aufzeichnung des Liedes, welches den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet. Der sehr schlecht und unsorgfältig geschriebene Text ist hier zum Abdruck gebracht, wobei D. aufmerksam macht, wie schwer eine Wiedergabe der Handschrift war, da der Schreiber bei der Nachlässigkeit seiner Schrift zwischen c, e und o fast gar keinen und zwischen o und a nicht immer einen Unterschied erkennen läßt, ähnlich verhält es sich mit mehreren anderen Buchstaben. Es müssen daher beim Abdruck Entscheidungen gefällt werden, welche der Schrift selbst nicht zu entnehmen sind, woraus folgt, daß bei dem Sinne nach nicht ganz klaren Stellen auch Zweifel über

268

den Buchstabensinn bestehen. Auch die Wortirennung des Textes ist unklar und unfolgerichtig. Die fraglichen Stellen werden im folgenden besonders vermerkt und besprochen. Es entsteht die Frage: ist das Lied nach dem Gedächtnis oder nach einer Vorlage geschrieben? D. vermutet bei der Menge des Unverständlichen, daß Bruder Christian aus Guhrau, der Lied niederschrieb, vieles daraus selbst nicht verstanden haben wird. wisse Worte sind schlechterdings unsinnig. Nicht nur die Schrift, auch die Uberlieferung selbst ist kläglich, die Reimanordnung der ersten Strophen kehrt später nicht mehr wieder. D. versucht die einzelnen Sirophen all- gemein sinngemäß zu scheiden in: Erzählung, Antwort und so fort. Den ursprünglichen Bau des Gedichtes und seinen Wortlaut herstellen zu wollen, wäre ein aussichtsloses Unterfangen. D. hat den Text ins Cechische um- gesetzt und dabei die Lautform gewählt, die etwa der Hussitenzeit eigen gewesen sein kann, ohne Versuch, dialektische Färbung hineinzutragen. Unverständliches ist durch * wiedergegeben. Das überlieferte Lied selbsi ist polnisch aufgezeichnet, kann aber weder in Polen, noch bei den polnisch sprechenden Schlesiern entstanden sein, da es vom Hussitenkrieg handelt und außerdem einige Reimausgänge erst sich reimen, wenn man bei dem betreffenden polnischen Wort die Cechische Lautform einsetzt. Der Dichter kann aber selbst kein Ceche gewesen sein, sonst hätten die Worte „co nam Česi pravili“ keinen Sinn, vielleicht war er ein Mährer. Die in dem Lied genannten Persönlichkeiten deuten etwa die Jahre 1420 und 1424 an. D. verfolgt die Geschichte eines an den Hussitenkämpfen beteiligten Hašek von Waldstein me Ostrov, der in dem Lied als pan Ostrovsky auftritt. Unklar ist, wer mit Jan Kravovsky gemeint ist. Da sicher angenommen werden kann, daß hier keine für die . unbedeutende Persön- lichkeit mit hineingezogen ist, vermutet D., daß Bruder Christian einen Namen verballhornt hat. Er beleuchtet dann die Möglichkeiten, ob der Geschlechtsname Kravarsky, d. h. die Herren von Kravarn, gemeint sein kann; die Tatsache, daß sowohl Hašek von Ostrov wie Wenzel von Kravarn mährische Barone waren, daß beide die Sache Sigismunds i. J. 1421 offen preisgegeben halten, würden Spottworte im Liede, die sie gegen Sigismund äußern, entsprechend ihrer Rolle in der Geschichte erscheinen lassen. Allerdings sind in der Liedüberlieferung auch Widersprüche enihalten, und die hier angenommene Namensform für die beiden Barone ist nur unter Ausmerzung von allerlei Verdrehungen im Text möglich, doch wimmelt ja dieser Text von Fehlern. Daß dieses Lied, wie von vornherein zu ver- muten, zum Singen gedacht ist, geht aus den Noten unzweideutig hervor, welche sich über der ersten Strophe befinden. Soviel zu erkennen, bezeichnen diese undeuflichen Noten keine der bekannten Melodien aus der Hussitenzeit, ob eine Melodie nichtbohmischer oder mährischer Her- kunft dahintersteckt, vermag D. nicht zu entscheiden. So schiecht und ratselvoll die Uberlieferung dieses Hussitenliedes auch ist, steht es stofflich ohne Seitenstiick da, es gibt nur noch ein Lied, das sich mit Sigismund beschäftigt, mit dem aber das vorliegende Lied nichts gemein hat. Auch aus den sonstig vorhandenen Hussitenliedern hebt es sich allein durch seine Länge hervor. D. erwähnt hierbei kurz die in Betracht kommenden Lieder. Das Lied der Breslauer Handschrift besingt die Ereignisse der Schlacht von Kuttenberg, zu deren Zeit der Aufzeichner des Liedes noch ein Kind war (er war im Jahre 1439 dreißig Jahre alt), und es knüpfen sich eine ganze Reihe von nicht zu beantwortenden Fragen daran, wie er zu dem Liede gekommen sein mag. Ob es vielleicht Hussiten mitgebracht haben nach Schlesien? Zu bedauern ist nur, daß Christian den Text nicht besser im Kopfe behalten hat. Emmy Haertel.

Karel Stoukal: „Die Anfänge der Nuniiaiur in Prag.“ Cesky časopis historický, Jahrgang XXXIV 1928, Heft I, SS. 1—24, Heft II, SS. 237—279.

Infolge des ungeahnten Aufschwunges des Katholizismus in Böhmen in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts hatten neben der ideellen

269

Wiedergeburt der ganzen römischen Kirche vier Ereignisse eine grund- legende Bedeutung: die Einführung der Jesuiten in Böhmen (1556), die Er- neuerung des Prager Erzbistums (1561), die Übertragung der kaiserlichen Residenz nach Prag (15833 und die damit verbundene Verlegung des Sitzes der Nuntiatur von Wien nach Prag, deren Anfängen Autor seine Arbeit widmet. Er vermerkt zunächst, daß diese Ubersiedlung der Nuntiatur

Prag ein bis zu einem gewissen Grade unerwartetes Ereignis bedeute. Als Nuntius Bonhomini Ende 1583 mit der Nuntiatur infolge der teilweisen Ubersiedlung des kaiserlichen Hofes Rudolfs II. von Wien nach Prag über- siedelte, ahnte er nicht, daß es eine dauernde Ubersiedlung sein werde. Das Programm für die Tätigkeit der Nuntien in Böhmen wuchs automa- tisch aus den gegebenen Verhältnissen heran. Die erste Sache, mit der sich Bonhomini zu beschäftigen hatte, war die Durchsetzung des gregoriani- schen Kalenders in Böhmen und Mähren. Als nächster Schritt des ersten Nuntius folgte die versuchte 5 der Prager Universität im katho- lischen Sinne, um diese in die Hand zu bekommen und sie im mittelalter- lichen Sinn zu klerikalisieren, da sie sich in der Zeit der Hussiten in den Händen der Utraguisten befand. Trozdem mußte diese Reformbestrebung ad calendas graecas verschoben werden, weil der Nuntius nicht zu diesem Mittel greifen konnte. Ferner erstreckte sich die Tätigkeit des Nuntius auf die Ausweisung der Keber aus dem Königreiche Böhmen, inbegriffen die Böhmischen Brüder. So setzte er durch, daß am 27. Juli 1584 ein Mandat gegen die Keber erlassen wurde, das jedoch dem Nuntius eine Enttauschun

brachie: denn es sprach nur im allgemeinen über „andere Religionen“, ohne ausdrücklich die Lutheraner oder Böhmischen Brüder zu nennen. Bei der Unklarheit der Stilisierung konnten sich auch die Böhmischen Brüder darauf ausreden, daß sich das Mandat auf sie nicht bezieht, da auch sie sich zu einer gesetzlich anerkannten Religion bekennen. Auf diese Weise konnte auch Bonhomini das Gewünschte nicht erreichen. Der Nachfolger Bon- hominis, der ihm im Dezember 1584 folgte, Malaspina, verurteilte den Plan Bonhominis auf Rekatholisierung Böhmens und Mährens, doch anerkannte die römische Kirche zahlreiche Punkte dieses Planes Bonhominis für richtig und wies Malaspina an, diesem Plane mehr Achtung entgegenzubringen.

Eugen Perfeckij.

Wolfango Giusti: Karel Havlíček Borovsky. L’Europa Orien-

tale. Anno 8 (1928), 7—8. S. 207—226.

G. hat sich die Aufgabe gestellt, in der Charakteristik Havličeks, die er hier gibt, zugleich die Frage zu erörtern, wie weit die häufig hervor- gehobene Ähnlichkeit zwischen ihm und Mazzini tatsächlich zutreffend ist, oder Venen G. will es versuchen, die Gegensäßlichkeit beider ins rechte Licht zu setzen, da ihr Lebenswerk eigentlich nur manche Aufgerlichkeiten gemeinsam hat. Selbst das ihnen Gemeinsame: Kampf gegen Österreich zum Zweck der Erlangung größerer politischer Freiheiten für das eigene Volkstum ist nach Zweck und Kampfmethode grundverschieden. Mazzini revoltierte, predigte illegale Kampfmethoden, Havlíček wollte den Kampf innerhalb der gesetzlichen Grenzen. Beiden gemeinsam ist die Behandlung des sozialen Problems, über dessen Lösung jeder von ihnen Anschauungen besaß, welche zu widerstreitenden Auslegungen führen konnten. G. behandelt eingehend die aus Haviféeks common sense resultierende Stellungnahme zum Panslavismus und weist immer wieder hin auf die grundverschiedene Ideologie des Slovaken Stur in dieser Frage. Er schildert Havličeks Ent- tauschung an dem von den Panslavisten getraumten, in Wirklichkeit diesen Träumen aber ganz unähnlichen Rußland, das er aus eigener Anschauung kennengelernt und sowohl in Briefen wie in Aufsäben der Prazké Noviny und anderer Zeitungen (ersch. unter dem zusammenfassenden Titel „Obrazy z Rus. Praha, Laichter 1907) sehr abfällig beurteilt hat. G. zitiert besonders charakteristische Stellen daraus. Nach Hevlikeks Rückkehr aus Rußland sind seine früheren panslavistischen Träume verflogen, und alle seine Inter- essen gelten der Aufgabe, innerhalb des politisch Gegebenen das denkbar

270

Besie für das eigene Volkstum zu erreichen, er will Österreich nicht stürzen, sondern umwandeln. Ahnlich wie Palacký ersehnt er ein foderatives Reich, in welchem das .slavische Element zu gleicher Bedeutung käme wie das deutsche oder magyarische. Ebenso wie den Pangermanismus will er aber auch den Panrussismus abwenden, das Untertauchen im „russischen Meer“, welches die Slovaken ersehnen, lehnt er ab. Diese grundsäßliche Ein- stellung Österreich gegenüber zeigt, wie verschieden sein Programm von dem Mazzinis war. Interressant ist es, zu sehen, wie objektiv Havlíček, trotz dieser politischen Gegensäßlichkeit zum Slovakentum, doch die kul- turelle Geschlossenheit des letzteren anerkannt und seine „Reinheit“ gegen- über den westlerisch affizierten Cechen hervorgehoben hat. Er erhoffie von ihm sogar für die Zukunft viel für das nationale Leben. Bei der Ab- lehnung des panslavistischen Programms ging Havlíček sogar so weit, nächst den Russen auch die Polen mit kritischer Kühle zu beurteilen. Seine Stel- lung zu der in den vierziger Jahren aktuell gewordenen revolutionären Be- wegung zeigt auch wieder Berührungspunkte mit Palacky. Im Grunde war er mehr reaktionär als revolutionär veranlagt. Bakuninsche Ideen lagen ihm nicht im geringsten, ein Glauben an die revolutionären Instinkte der Masse ging ihm ab, Revolutionen taugen seiner Meinung nach dann etwas, wenn sie Erfolg haben, sonst sind sie zu verwerfen usw., Anschauungen, die erklärlicherweise seinen Gegnern Anlaß gaben, Havlíček des Opportunismus zu beschuldigen. Nichtsdestoweniger hat er die Radikalen psychologisch begriffen, er schätzte aber den Umsturz für zu gefährlich ein, als daß er nicht friedlichere Kampfmittel vorgezogen hatte. Auch hier zeigt sich der gewaltige Unterschied gegenüber Mazzini, sowohl in der Wahl der Kampf- methoden wie des Urteils über die politischen Instinkte der Massen, die nach Havličeks Meinung in erster Linie durch materielle und praktische, nicht durch ideelle Motive geleitet werden. Weder ausschließlich mon- archisch noch republikanisch eingestellt, hielt er für Österreich an dem monarchischen Prinzip fest, die Volksindividualitaten der österreichischen Monarchie würden gerade durch das Herrscherhaus in gewisser Hinsicht vereint, das hindere keineswegs das Besiehen einer Demokratie, eines Parlaments usw. G. charakterisiert im folgenden Havličeks Stellung zu Fragen der Religion und stellt dabei fest, daß sein Verlangen nach einer Reform der katholischen Kirche in der Cechoslovakei vieles Gemeinsame hat mit den Wünschen, die dort nach dem Weltkrieg laut geworden sind, in beiden Fällen ist ein starkes Nationalgefühl der Hauptbeweggrund, das sich mit der austrophilen katholischen Kirche auseinanderzuschen besirebi ist. Schließlich erörtert G. noch Halféeks Stellung zum Marxismus. Bei seiner Ablehnung jedes dokirinaren Systems und jeder wirklichkeitsfernen Ideologie konnte er auch hier nur zu einer Ablehnung gelangen, ähnlich wie Mazzini, der allerdings eine gründlichere Kenntnis der marxistischen Lehre bes und sie durch wissenschaftlichere Methoden bekampfte. Havlíček, der grundsatzlich am Privateigentum festhiell, war aber Gegner des großen Kapitalismus, der sich in Böhmen wesentlich in deutschen oder jüdischen Händen befand. In einem Rückblick auf diejenigen Verdienste, welche Havliceks Ideen und seinem Wirken ganz entschieden zuzusprechen sind, erwähnt G., daß sein unerschülterliches Vertrauen, daß auch bei augenblick- licher Erfolglosigkeit des Kampfes fur die nationalen Interessen seine Fol- gen für die späteren Generationen nicht ausbleiben werden, sich wieder mit den Überzeugungen Mazzinis berührt. Emmy Haertel.

POLEN

Wirtschaftliche Beziehungen Oberdeutschlands zu Polen und dem Osten im Mitielalter. Schles. Geschichisblatier. Mitteilungen d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. 1927, Nr. 3, S. 49—57.

Hektor Ammann-Arau (Schweiz) bringt Mitteilungen „Zur GeschichtederwirischaftlichenBeziehungenzwischen

18 NF 5 971

Oberdeutschland und dem deutschen Nordosten im Mittelalter.“ Der Nordosten lieferte nach Oberdeutschland Pelzwerk, Wachs und, wenigstens im 15. Jahrhundert, Schlachtvieh, Oberdeutschland dafür Wein aus dem Donaugebiet, dann aber gewerbliche Erzeugnisse: Leinwand und Barchent aus Schwaben und vom Bodensee, Metallwaren aus Nürnberg. Es werden durch Oberdeutsche teilweise auch die Beziehungen zu den Niederlanden vermittelt zum Bezuge der dortigen Tuchwaren. Wich- tiger aber war noch der durch Oberdeutschland laufende Verkehr mit Italien. Die Verbindung mit dem Orient ging freilich, statt über Italien, über das Schwarze Meer (vgl. dazu noch Heinrich Wendt „Schle

sien und der Orient”, = Bd. 21 der „Darstellungen u. Suellen 2. schles. Gesch.“, 1916). E. Hanisch.

MarjanGumowski: Architektura i styl przedromafiski w Polsce. (Die Architektur und der vorromanische Stil in Polen) Przeglad Powszechny Bd. 179 (1928), S. 129— 152, 285—312.

Diese Studie reiht sich der früheren über die ältesten polnischen Kirchenbauten desselben Verfassers an. Das wichtige Resultat der mit unermüdlicher Zähigkeit beiriebenen Forschungen Gumowskis ist die ge- sicherte Feststellung eines durch mehrere bedeutende kirchliche Bauwerke vertretenen vorromanischen, byzantinischen Baustils auf polnischem Boden, in dem außer der ältesten Krakauer Kirchen noch eine Anzahl Heiligtümer im Herzen Großpolens errichtet waren. Über dieses bedeutsame kunst- geschichtliche Ergebnis ragt an Wert noch hinaus, daß für die Urgeschichte des Christentums im vorpiastischen Polen durch die Zeugnisse der auf deut- schen und über Mähren hereindringenden Einfluß zeugenden Baudenkmale unmittelbare Quellen erschlossen werden, deren Steine, vom Zauberstab des kundigen Gelehrten berührt, zweifelsohne noch viel reden mögen.

Otto Forst-Battaglia.

Kazimierz Tymieniecki: Z dziejów rozwoju wielkiej wias- ności na Śląsku w XII w. (Zur Geschichte der Entwicklung des Großbesikes in Schlesien im XIII. Jahrh.) Prace komisji Histo- rycznej, Bd. IV, Posen 1927. S.235—298.

Im ersten Kapitel wird die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Grogbesiges in Schlesien im 13. Jahrh., insbesondere der Klosterbesiktümer unter Berucksichtigung der Archivquellen des Zisterzienserklosters an der Ohle untersucht. Das zweite Kapitel ist der Organisation des Klein- besiges, der Kolonisierungspolitik des Klosters, seiner rechtlichen Lage etc.

gewidmet. Eugenie Salkind.

Dr. Kazimierz Bieszk: Der Kampf des Deutschen Ordens mit Polen um kirchliche Abhängigkeit des Pommerschen Erzdiako- nats. (Walka zakonu krzyżackiego z Polska o przynależność koscielna archidiakonatu pomorskiego.) Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu, Nr. 34, Thorn 1927, S. 3—53.

Unmittelbar nach seinem Eindringen in die preußischen Länder sebte der Deutsche Orden alle Mittel ans Werk, um kirchliche Macht über Pom- mern zu bekommen. Kaum im Besize des säkulären Rechtes, bemächtigte er sich fast aller Bistümer und eignete sich das Patronatsrecht an. Diese Maßregeln konnten natürlich nicht ohne Schwierigkeiten durchgeführt wer- den, besonders in dem 1309 eroberten Teile Pommerns, der am linken Ufer der Weichsel liegt. Der größte Teil dieser Territorien gehörte, vom kirch- lichen Standpunkte aus, der Diözese von Włocławek (Vladislaviensis), der

272

Rest der Erzdiözese von Gnezen. Die Erzbischöfe sahen sich oft genötigt, bei den poln. Königen Hilfe zu suchen; sie befanden sich gleichsam in der Lage poln. Vorposten inmitten der Territorien des Deutschen Ordens. Der Orden machte inzwischen weitere Versuche, seine Stellung in Pommern zu sichern, sei es durch Gründung neuer Diözesen oder durch Einführung ad- ministrativer Institutionen. Die ersten Versuche, das pommersche Erz- diakonat von der Diözese von Włocławek zu trennen, wurden 1343 unter- nommen, als Kasimir d. Gr. Pommern dem Orden abtrat. Diese Politik wurde im Laufe des 14. Jahrh. fortgesebt, doch der endgültige Erfolg blieb aus, weil sich auch der Papst zuletzt mit Rücksicht auf Polen den Plänen des Ordens widersetzte. Im jahre 1400 unternahm der Großmeister einen neuen Versuch dieser Art, doch als das Gerücht davon bis an den poln. Hof vorgedrungen war, leugnete er alles aus Furcht vor einem neuen Kon- flikt mit Polen, das jetzt durch seine Union mit Litauen gefestigt war. Die darauffolgenden Jahre brachien dennoch einen Krieg mii sich, der für den Orden 1410 mit einer schweren Niederlage endete. Im Jahre 1421 starb der Erzbischof von Włocławek, Jan Kropidlo; der Orden schlug als Nachfolger den Sohn des Fürsten von Mazowien vor. Der polnische König unterstübte die Kandidatur des Bischofs Jan Pella, eines geschickten Diplomaten und erbitterten Gegner des Ordens. Der Papst Martin V. fand eine Kompromiß- lösung des schwierigen Dilemmas: er. beschloß, den Bischof von Płock nach Wioclawek zu versetzen und Pella das Bistum von Płock anzubieten. Jedoch der polnische diplomatische Einfluß siegte in Rom: Pella wurde zum Erz- bischof von Wioclawek ernannt. Die Jahre 1431—33 brachten den letzten Versuch des Ordens, der sich auch in großen materiellen Schwierigkeiten befand: der Großmeister wandte sich mit einer Bitte um Fürsprache an König Sigismund, der zum Empfang der Kaiserwürde nach Rom reiste. Doch waren die Aussichien des Ordens zunächst gering, denn der Papst Eugen IV. unterstützte Polen, während Sigismund zu der gegnerischen Partei, die sich um das Basler Konzil gruppierte, hiell. Als jedoch zwischen dem Papst und Sigismund eine Einigung erreicht wurde, beschloß man, den Bitten des Ordens stattzugeben. Man verbreitete bereits Pamphlete, in welchen Polen der Unierstiijung der Hussiten beschuldigt wurde. Der Waffenstillstand v. J. 1433 zwischen Polen und dem Deutschen Orden setzte allen Intrigen ein Ende und gab dem Orden die Herrschaft über Pommern. Durch den Ver- trag von Thorn (1466) bekam Polen diese Provinz zurück. Eugenie Salkind.

Dr. E. Perfeékyj, Peremy3ler Chronik erster Redaktion als Teil der Chronik von J. Dlugosz. Mitteilungen d. Sevéenko- Ges. d. W. Bd. 147 u. 149, Lemberg 1927—28, S. 1—54, 31—83.

In einer umfangreichen, vorläufig noch nicht vollendeten Arbeit, ver- sucht Dr. Perfeckyj, auf Grund des Textes der bekannten Historia Polo- nica von Jan Dlugosz, einen südruihenischen (ukrainischen) Chronik-Kodex zu rekonstruieren. Das versiorbene Mitglied der Petersburger Akademie A. Sachmatow bediente sich bekanntermaßen bei der Abänderung des Grundtextes des ersten Kiever Kodexes des XI. Jahrhunderis und auch anderer Kodizes jenes Materials, welches im Texte späterer Chroniken- Kodizes in südruihenischen (ukrainischen) und nordrussischen Redaktionen uns erhalten blieb. Das Resultat seiner 25jahrigen, ersprießlichen Arbeit ist die 1916 erschienene Rekonstruktion der ersten Auflage der Chronik. In den Richtlinien und Methoden seines Lehrers fortfahrend, machte uns Dr. Perfeckyj auf eine fremde Quelle aufmerksam, aus welcher man ein geeignetes Material zur Rekonstruktion eines Chronik-Kodexes, der uns im Original leider nicht zugekommen ist, schöpfen kann. Diese Quelle ist nämlich die bereits erwähnte Arbeit von Jan Dlugosz. Es ist auch weiter bekannt, daß auch Diugosz sich der ruthenischen Chronik-Kodizes bei seiner Arbeit bediente, was bis dato von keinem Gelehrten angewendet wurde. Dr. Perfeékyj stellt anfangs fest, daß jener Kodex, aus welchem Dlugosz

275

das Material schopfte, mit keinem der uns bekannten südruthenischen Kodizes gänzlich übereinstimmt. Es steht also der Gedanke nahe, daß Diugosz einen bisher nicht bekannten ‘Text vor sich hatte. Auf Grund einer Analyse stellt Dr. Perfeckyj weiter fest, daß es sich hier um einen in Peremy3l zusammen- gesetzten und bis zum Jahre 1225 zurückreichenden Kodex handelt. Daß dieser Kodex gerade in Peremy3i zustande kam und nicht anderswo, be- weist uns die Tatsache, daß wir in ihren zehn verschiedenen Aufzeichnun- gen aus den Jahren 1117—1135, welche hauptsächlich Peremy3l betreffen, vorfinden, was sich in keinen uns bekannten Kodizes findet. Gerade Peremy3l hatte in der Hinsicht eine sehr bedeutende Tradition der Chro- niken. Schon gegen 1110 wurde dort eine Redaktion der sogenannten „Povist vremennych lit“ gegründet, die man mit dem Namen eines Mönches Nestor des Kiever Pecersk-Klosters verknüpfte. Als Autor dieses Peremy3ler Kodexes des 1100. Jahriges halten Dr. Perfeékyj sowie die übrigen Forscher den damaligen Seelsorger des Fürsten Vassilko, Priester Vassyl. Dieser erste Peremy3ler Kodex wurde von Dr. Perfeékyj als der „fürstliche Kodex“ benannt, während der zweite Peremy3ler Ko- dex von 1225 von Dr. Perfeékyj als ,,bischoflicher“ benannt wurde, da lebt- genannter Kodex am Hofe des Bischofs Antonius zusammengesebkt war. Dr. Perfeékyj versucht weiter, auf Grund der Textvergleiche zwischen der Dlugosz- und der Kiever Anfangs-Chronik, sowie der Novohoroder Chro- niken in letzteren sind bekanntlich sehr viele Fakten erwähnt worden vorläufig nur die erste „Fürstliche‘ Chronik von Peremy3l zu rekonstruieren. Dazu verwendet er in erster Linie die bekannten Erzählungen über die legendären Begründer Kievs, nämlich die drei Brüder Kyj, Scek und Choryv, sowie über die Varjager-Fürsten Ruryk, Sineus und Truvor, welche einer Sage nach den Varjager-Staat in Novohorod begründeten. Die Analyse der Dlugosz-Erzahlungen zeigt uns, daß der Peremy3ler Kodex die Angaben der alten Kiever Chronik erschöpfend ausnübkte, hatte aber eine solche Redak- tion derselben, die den Text der Novgoroder Chronik mit ihren archäischen Überlieferungen widerspiegelte, welche somit vollinhaltlicher als alle an- deren Redaktionen, die uns bekannt sind, war.

Schließlich rekonstruiert Dr. Perfeckyj den Inhalt der Erzählungen über die Anfänge des Kiever Staates, auf Grund des Textes von Dlugosz, welchen er mit den bekannten ruthenischen Chroniken vergleicht.

D. Doroschenko.

Stanislaw Tync: Die Geschichte des Thorner Gymnasiums (1568—1793), I. Teil (Dzieje gymnazjum torunskiego). Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu. Nr. 34, Thorn 1927, S. 57 bis 284. | | Das Thorner Gymnasium, das mit einem humanistischen Programm als

Erziehungs- und Bildungsstätte für die protestantische Jugend gegründet

wurde, hat in den Zeiten der alten polnischen Republik Epochen außer-

ordentlicher Blüte gekannt. Viele Historiker, die zum größten Teil dem

Lehrkörper des Gymnasiums angehörten, haben sich mit seiner Geschichte

befaßt; Verf. erwähnt sie und ihre Werke in seiner Einleitung.

Im vorliegenden |. Teil der Monographie wird die Geschichte des Gym- nasiums in den Jahren 1568—1600 dargestellt; ihr wird ein kurzer Umriß der vorhergehenden Geschichte (seit 1375) der Schule, die, als Parochialschule gegründet, später zur munizipalen Schule umgebildet wurde, voraus- geschickt. Als die Thorner Bürger zunächst heimlich, dann offen, zum Luthertum übergingen, berührten die neuen religiösen Strömungen auch die städtische Schule. Ihr protestantischer Charakter offenbarte sich jedoch erst um 1550, als die Schule sich unter der Leitung von Urban Stürmer befand. Seit 1557, als der Stadt das Privilegium der Konfessionsfreiheit verliehen wurde, hatte die Schule nicht mehr nötig, ihren lutherischen Charakter zu verbergen. Ihre ersten lutherischen Rektoren waren Simon Reymann und Christoph Ortlob. Im Jahre 1568 fand die Gründung des Gymnasiums, das

274

aus sechs Klassen bestand, statt. Der Lehrkörper setzte sich aus zehn Pro- fessoren zusammen, das Lehrprogramm wies ein sehr hohes Niveau auf und entsprach ungefähr dem der westeuropäischen Schulen; es zeigte auch Spuren des Einflusses Melanchthons in der Wahl der Lehrfächer und -mittel. Die feierliche Eröffnung fand am 8. März 1568 statt; Matthias Breu, aus Chemnitz berufen, wurde zum Rektor ernannt. .

Die Entwicklung der Schule begann unter guten Auspizien; die Stadt- verwaltung stellte ihr beträchtliche Summen zur Verfügung. Doch bereits nach Verlauf einiger Jahre beklagen sich die Professoren über das Aus- bleiben ihrer Besoldung. Dem gelehrten und ehrgeizigen Bürgermeister Stroband gebührt die Ehre, das Gymnasium auf die Hohe seiner Entwick- lung gebracht zu haben. Seine im Auslande gemachten Studien gaben ihm den ersten Impuls dazu. Als Muster diente ihm die von Johann Sturm refor- mierte Schule von Straßburg. Siroband war auch besirebi, das Lehrper- sonal durch wissenschaftliche Kräfte zu ergänzen; er setzte sich mit einem Doktor der Leipziger Universität, Ulrich Schober, in Verbindung, der 1585 zum Konrektor des Gymnasiums ernannt wurde. Diese beiden Leiter fakten den Plan, das Gymnasium zu einer akademischen Schule umzugestalten. Im Jahre 1594 wurde eine „classis suprema“ mit zweijährigem akademischen Kursus eröffnet; eine umfangreiche Publikation, die im selben Jahre unter dem Titel „Orationes X“ erschien, enthielt das detaillierte Programm dieser Klasse. Doch die Pläne von Stroband gingen noch höher: gelegentlich der Zusammenberufung einer protestantischen Synode in Thorn (21.—27. Aug 1595) machte er den Vorschlag, in Thorn eine protestantische Akademie A gründen. Dieser Plan scheiterte an dem Widerstand anderer preußischen Städte. In den folgenden Jahreri geht die Entwicklung der Schule lang- samer vor sich. Erst 1600 erhält sie ihr Reglement (ordynacja), das vom Stadtrat von Thorn approbiert wurde. Verf. unterzieht dieses Reglement einer eingehenden Untersuchung und siellt fest, daß das Thorner Gym- nasium in allen seinen Einzelheiten dem Straßburger Muster nachgebildet wurde. Die nachgedruckten Lehrmittel von Sturm, sowie die anderen, spe- ziell für das Gymnasium verfaßten, erbringen den Beweis dafür. Zum Schluß untersucht der Verfasser die polnische Unterrichtsmethode an der Schule und erwähnt die Namen ihrer hervorragendsten Lehrer und Schüler.

Eugenie Salkind.

Klazimierz) PliekarsküD: Data śmierci Jana Hallera. Silva rerum 1927, S. 78.

Das genaue Datum des Todes Jan Hallers war bisher unbekannt, wenn auch von PtaSnik (in „Monumenta Poloniae Typographica“. Einltg. S. 29) als Todesjahr des Druckers 1525 ermittelt war. Tagebuchartige Aufzeichnungen des Mikolaj Sokolnicki und des Marcin Biem z Olkusza am Rande sogen. astronomischer „Almaneche“ aus dem XVI. Jahrh. ergeben die Nacht vom 7./8. Oktober 1525 als Datum des Todes Jan Hallers. E. Koschmieder.

Włodzimierz Budka: Muza Ksiag sadowych XVI w. Silva

rerum 1927, S. 85—88.

W. Budka veröffentlicht hier fünf Gedichte, vier lateinische und ein polnisches, aus den Jahren 1564—1588, die sich in verschiedenen, zur Zeit im Landesarchiv in Krakau aufbewahrten Gerichtsbüchern finden. Die Ver- fasser sind Jan Kmita (der Neffe des Krakauer Landesschreibers Jan Kmita), Stanislaw Zawada, Krzysztof Czarnocki und Adam Król, die alle in den Kanzeleien gearbeitet haben. E. Koschmieder.

Stanislaw Kot: Pierwszy wiersz polski tloczony w Paryzu. Silva rerum 1928, S. 1—5.

Als Heinrich Il., König von Frankreich, 1559 an den Folgen einer beim Turnier erlittenen Verwundung starb, verfagte der junge Humanist Karl

275

Utenhove ein Epitaphium auf ihn in mehreren Sprachen. Durch sprachkundige Bekannte ließ er es dann noch in andere ihm selbst unbekannte Sprachen u. a. auch ins Polnische übersetzen. Dieses polyglotte Epitaphium er- schien dann mit anderen Gedichten zusammen 1560 im Druck u. d. T.: „Epitaphium in mortem Herrici... per Carolum Uienhovium.... et alios...“ Paris: Robert Estienne. St. Kot drucki den poln. Text in modernisierter Orthographie ab und fügt photogr. Reprod. des Textes und des Titelblattes bei. Bestimmte Anhaltspunkte für die Person des Übersebers lassen sich nicht geben, wenn auch manches dafür spricht, daß es sich um die gleiche Persönlichkeit handeln dürfte, der wir die Gedichte verdanken, die von Ign. Chrzanowski in der „Bibljoteka pisarzöw polskich Akad. Um.“ Nr. 43, 1905, u. d. T.: „Anonima protestanta XVI wieku Erotyki, fraszki, obrazki, epigramaty“ veröffentlicht worden sind. E. Koschmieder.

Szymon Czechowicz.

Maciej Loret: Z rzymskich lat Czechowicza. (Aus Czechowiczs römischen Jahren) Tecza 1928, Nr. 34.

Ein paar Bemerkungen über die römischen Lehrjahre des vorzüglichen Spätbarock-Meisters, der mit Konicz und Smuglewicz die polnische Malerei der Sachsenzeit auf das beste vertritt. Loret leugnet die Möglichkeit, in Czechowicz einen unmittelbaren Schüler des um 65 Jahre älteren Maratta zu erblicken. Immerhin ist das Wirken des italienischen Künstlers dem Polen in vielem ein Muster geblieben. Loret stellt aus den Dokumenten ver- schiedene Daten von Czechowiczs römischem Aufenthalt sicher, die mit 1714 beginnen. Otto Forst-Battaglia.

Zofja Birkenmajerowa: Z miodzienczych lat Jan Daniela Janockiego. (Aus den Jugendjahren von J. D. Janocki.) Prace Komisji Historycznej, Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk, Bd. IV. Posen 1927, S. 1— 126.

Verf. stellt sich zur Aufgabe, die Jugendjahre des ersten polnischen Bibliographen des 18. Jahrh., J. D. Janocki (Jänisch), aufzuhellen. Generationen der poln. Bibliographen unter ihnen ist Estreicher an erster Stelle zu nennen —, haben die Schriften von Janocki studiert, doch herrschte bisher unter ihnen eine Meinungsverschiedenheit über die wichtigsten biographi- schen Momente seines Lebens. Verf. gelingt es, an Hand einer Jugend- schrift J’s. („Kritische Briefe, an vertraute Freunde geschrieben efc.“, Dres- den 1743 oder 1745) und anderer Originaldokumente, den Geburtsort und -tag, und somit auch die poln. Abstammung J’s., die von den Forschern off bezweifelt wurde, festzustellen. Geb. 1721 in Birnbaum i. Pos. (Miedzychöd), verbrachte der Bibliograph seine Jugend vornehmlich in Deutschland: zu- nächst in Dresden, wo er die Erziehungsanstalt zum „heil. Kreuz“ besuchte, dann in Schulpforta, wo er in der berühmten, aus einem Zisterzienser- kloster hervorgegangenen Schule zum Bibliothekar ausgebildet wurde. Die oft unvollständigen Angaben der „Kritischen Briefe“, die }’s. Zeitgenossen betreffen, werden von der Verf. ergänzt, und so entsteht, teils auf Hypo- thesen aufgebaut, ein Bild der Schuljahre J’s., seiner Beziehungen zu den polnischen und sächsischen Bibliophilen und Gelehrten und seines Verhält- nisses zu Polen, seiner eigentlichen Heimat. Etwas länger verweilt Verf. auch bei den heute vergessenen Werken des poln. Schrifttums des 18. Jahrh., die J. in seinen „Kritischen Briefen“ erwähnt (2. Kap.). Im 3. Kap. untersucht Verf. die Beziehungen von J. zu seinen Zeitgenossen, den Naturwissen- schaftlern und Mathematikern; als eines „gewandien Mathematikers“ ge- denkt er u. a. seines Schulfreundes J. A. Schlegel (Vater von Aug. Wilh. und Friedrich Schlegel). In einem Überblick über die geographischen Werke der ge und ihre Verfasser wird besonders der sachsische Geograph Adam Fr. Zürner, Herausgeber der damals bekannten Periodica_,,Fortgesebie

276

geographische Nachricht von dem Markgrafthum Mähren“, hervorgehoben. Das 4. Kap. ist der ratselhaften Persönlichkeit eines „Pan Tucholski“, den J. oft in seinen „Briefen“ erwähnt, gewidmet. Verf. stellt die Hypothese auf, daß es sich hier um den Grafen Bieliński, einen Sohn Augusts Il. und der Bezirkshauptmannstochter Marianna aus Tucholski, handelt. Das Verzeichnis der außerordentlich wertvollen Bibliothek dieses Tucholski, die hebräische, lateinische, griechische, deutsche und polnische Manuskripte enthielt, wird in den „Kritischen Briefen“ angeführt.

Der Anhang bringt u. a. griechische und lateinische Gedichte von Ja- nocki, einen Brief an Zaluski, den Bischof von Kiev (1769), und ein Namen- register. Eugenie Salkind.

Stanislaw Staszic. Tadeusz Grabowski: Najwiekszy Wielkopolanin. (Der größte Großpole sic) Tecza 1928, Nr. 30.

Czesław Leśniewski: Bohusz nie Sitaszic. (Bohusz und nicht Staszic) Przeglad Historyczny Bd. 26 (1927), 385—395.

_ Grabowskis Skizze ist weit besser, als der ungeschickte Titel vermuten ließe, und überzeugt durch konzise Schilderung des edlen Menschen, Staats- mannes, Dichters und Gelehrten von Staszics hoher Bedeutung auch die, denen der Geschmack an Schönheitskonkurrenzen auch auf dem Gebiet der Politik, der Literatur und Wissenschaft und schon gar im retrospektiven Begriff mangelt.

Leśniewski, der Autor einer vortrefflichen Arbeit über Staszic, zeigt auf das klarste, daß die von Kraushar 1905 als Tagebuch Siaszics von drei Reisen veröffentlichten Aufzeichnungen nur zum geringen Teil das Werk des großen Schriftstellers waren, dagegen in ihrer Mehrzahl von einem anderen Autor herrührten. Als diesen Verfasser identifiziert LeSniewski nunmehr den Pralaten Ksawery Michal Bohusz (1746—1820) des Wilnaer Domkapitels. Die scharfsinnige Untersuchung ist zugleich ein charakteristi- scher Beitrag zu den Methoden der dilettantischen Geschichtsschreibung im ehemaligen Kongreßpolen, deren typischer Vertreter Kraushar war.

Ä Otto Forst-Battaglıa.

Franziszek Giedroyé: Casus notabilis. Przeglad Historyczny Bd. 26 (1927), 365—366.

Man kennt die Episode aus Sienkiewiczs ,,Kreuzrittern“, wie Zbyszko durch den Einspruch einer Jungfrau, die ihn vom Tode retten will, aus Henkershand befreit wird. An diesem sogenannten Casus notabilis des alt- polnischen Rechtes, daß eine Jungfrau durch ihre Bereitwilligkeit, einen zum Tod Verurteilten zu ehelichen, diesen vor Strafe bewahrt, erinnert Giedroyc durch die Erzählung eines Falles aus dem Jahre 1791. Leider versagen die Akten gerade über das weitere Los des Delinguenten, von dem wir also nicht wissen, ob das alte Vorurteil oder das grausame Urteil Sieger blieb.

7 Otto Forst-Battaglia.

Jan Nie czuja-Urbafis ki: W sprawie ,,Prostej odpowiedzi na list rabina lizbońskiego do rabina brzeskiego“. (Zur schlichten Antwort auf den Brief des Lissaboner Rabbiners an den Rab- biner von Brześć.) Przegląd Historyczny Bd. 26 (1927), 367—384. Der vorzügliche Kenner der Geschichte des polnischen Freimaurer-

wesens bespricht eines der seltenen Erzeugnisse antifreimaurerischer

Publizistik im alten Polen, die „Antwort“, welche der Wilnaer Domherr

Aloizy Korzeniowski (aus der Familie des polnischen Erzählers oder aus

der des Anglo-Polen Conrad-Korzeniowski?) dem für die Freimaurer be-

geisierten Prälaten Michal Diuski und dessen nach den Rezepten der Enzy-

277

klopädisten in rabbinisches Gewand gehüllter Broschüre gab. Korzeniowski zerpflückt die salbungsvoll vorgeiragenen Legenden vom uralten Ursprung des Freimaurerwesens, und er zeigt die Unvereinbarkeit der maurischen Grundsäße mit denen der katholischen Kirche, während Diuski den christ- lichen Geist der Logen verteidigt hatte. Er wendet sich auch gegen die revolutionären Tendenzen des Freimaurerordens. Im ganzen unterscheidet sich die Broschüre indes gar nicht von der Legion ähnlicher Erzeugnisse des traditionalistischen Lagers, wohingegen der bekämpfien Schrift Diuskis die Originalität wenigstens im Versuch, Katholizismus und Loge zu versöhnen, nicht abzusprechen ist. Otto Forsi-Battaglıa.

Stanislaw Pigofi: Des „Aieux“ d’Adam Mickiewicz, sa genèse. Revue des études slaves. T. 8 (1928), 1—2. S. 5—41.

_ In der Einführung zu seinen Untersuchungen weist P. darauf hin, daß die „Dziady“ in ihrer Bedeutung für die polnische Romantik eine wichtigere Stellung einnehmen als die, der Gewohnheit nach, ihnen in dieser Hinsicht vorangestellien Balladen und Romanzen Mickiewicz’. Man könnte sagen, daß „die ganze polnische Romantik sich in drei kurzen Stunden, in den drei herausgegebenen Teilen der Dziady konzentriert habe“. Von grund- legender Wichtigkeit ist für das Studium der einzelnen Werke von Mickie- wicz die Erkenntnis des ihnen zugrunde liegenden Entwicklungsprinzips, des allmählichen Ausreifens ursprünglich einfacher Pläne zu großartigen Aus- maßen. P. zitiert B. Chlebowskis Ausspruch (dessen Briefe, T. 4, S. 182), daß Grundgedanke und Ausführung bei Mickiewicz sich zueinander ver- hielten wie der Wildling zum veredelten Baum; Chlebowski, der als erster die Genesis dieses Schaffens richtig erkannt, hat aber nach Pigons Meinung bei seinen Schlußfolgerungen geirrt, z. T. wohl deshalb, weil ihm Quellen und erklärende Texte, welche unentbehrlich sind zur le&ten Klärung der Fragen, nicht bekannt oder nicht zugänglich gewesen sind. P. weist auf die verwickelte Frage nach der genauen Datierung der Skizze zum 1. Teil der „Dziady“ hin und nennt die bisherigen Deutungsversuche. Es ist ihm hierbei gleichgültig, ob die eine oder andere Reihenfolge der Teile als die ursprüngliche angesehen wird, Hauptsache ist es ihm dagegen zu wissen, wo in ihnen der Ausgangspunkt für das ganze Werk zu sehen ist. Er tritt in dieser Frage der schon von M. Konopnicka ausgesprochenen Meinung bei, daß ursprünglich der jetzige 2. Teil dem jetzigen 1. vorausgegangen ist, lehnt aber die von ihr angewandte Beweisführung ab. P. sieht bei der im Archiv der Philomaten befindlichen Abschrift des 2. Teils der „Dziady“ nach einer Autographie des Dichters von der Hand Czeczots ein wertvolles Moment in den Anderungen, welche Mickiewicz an einer früheren Fassung vor- genommen, er hat an Stelle des ursprünglich beim Fesie der Toten gewollten Priesters einen Guslenspieler eingesest. Die Frage nach dem Warum? beantwortet P. damit, daß die realistischere Form hier aus Stilgründen, zu- liebe einer mehr fiktiven, aufgegeben worden ist, er weist auf Ähnliches hin bei Umänderungen der in Kowno und Wilna entstandenen Teile. Sollte selbst diese Schlußfolgerung nicht richtig sein, so gestattet sie doch mit Sicherheit das Festsefen einer chronologischen Ordnung innerhalb der ein- zelnen Teile der Dichtung. Der Entwurf zum 1. Teil enthält von Anfang an bereits den Guslenspieler und erwähnt den Geistlichen nicht, hier ist also die definitive Gestaltung durchgedrungen, ja Mickiewicz spricht davon, daß die Kirche diesem Totenkult feindlich gegenüberstehe, wie es auch im 4. Teil gesagt ist. Der Guslenspieler tritt hier auf als Inkarnation der volksfüm- lichen Glaubensvorstellungen. Von derartigem ist im jeßigen 2. Teil keine Rede, es geht also deutlich hervor, daß der Entwurf zum 1. Teil erst ent- standen sein kann, als der jeķige 2., wenigstens im groben Gerüst, bereits komponiert war. P. hält also den 2. Teil der Dichtung für deren ältesten Teil und somit für deren Ursprung. Er sucht in der Kopie Czeczots einen Stubpunkt zu finden für die Mutmaßungen, wie die elementarste Form dieses ältesten Teiles gewesen sein kann; hier geben auch die Ab- änderungen von der Hand Mickiewicz’ Fingerzeige. Die Kopie Czeczois

278

ıst erheblich kürzer als der von Mickiewicz veröffentlichte Text des 2. Teils; es entsteht die Frage: liegt hier eine verstümmelte Fassung vor oder zeigt sie die ältesie Gestalt dieses Teils? Der Schluß fehlt. Hat Czeczot von Mickiewicz nur diesen unvollständigen Text zum Abschreiben erhalten, oder hat er den erhaltenen nicht vollständig abgeschrieben? P. ist davon über- zeugt, daß Czeczot das gesamte ihm zum Abschreiben übergebene Ma- nuskripi abgeschrieben hat, und daß im Archiv der Philomaten davon nichts verloren gegangen ist. Die äußere Gestalt dieser Kopie spricht dafür. Die Einteilung der gebrauchten Papierblätier bezeugt, daß weiter nichts mehr abzuschreiben gewesen ist als abgeschrieben wurde. Die Kritiker der „Dziady“ haben wiederholt darauf hingewiesen, daß der jetzige 2. Teil ur- sprünglich kürzer gewesen sein muß, die Schlußszene fehlte mit der Er- scheinung Gustavs. Die Kopie Czeczots beweist diese Hypothese, leider ist es nicht möglich, sie fest zu datieren, sie wird aber nicht lange nach f eriga ieung des Textes entstanden sein. P. nimmt an, daß sie im Sommer 1821 entstanden ist, gestützt auf Bemerkungen von Zeitgenossen Mickiewicz’. P. verweilt des näheren bei den von Mickiewicz noch spaierhin vorgenom- menen Abanderungen dieses 2. Teiles und verfolgt seine Versuche, das Heterogene der einzelnen Teile der Dichtung einheitlicher zu verschmelzen.

Im folgenden untersucht P. die Gründe für die Zutaten zu dem ur- sprünglich kürzeren Text des 2. Teils, führt die Literatur über diesen Teil der Mickiewiczforschungen an und Mickiewicz’ eigene Aussprüche darüber. Bei der weitergeführten Erforschung der den „Dziady“ zugrunde liegenden keimhaften Gedanken gewinnt für P. die Erscheinung des jungen Mädchens, welches wegen seines Mangels an Fähigkeit zur Gegenliebe ins Fegefeuer verwiesen ist, besondere Bedeutung. Sie hat ihre genaue Entsprechung in der Ballade „To lubię“. Maryla und Zosia sind verwandte Seelen, auch ihre Schicksale sind einander ähnlich. Hier kommt man den Grundgedanken der Dichtung nahe. Das Verbrechen, sich dem Naturgeseb der Liebe nicht gefügt zu haben, wird durch Strafe geahndet, in „To lubię“ geschieht das in galanter, launiger Weise, ohne Hinweis auf die katholische Eschatologie. Auch in der ursprünglichen Fassung der betreffenden Stelle in den „Dziady“ klingt diese mehr scherzhafte Note an. In beiden Werken ist die gleiche Idee ausgedrückt, die ältere Fassung in den „Dziady“ stellt einen Ubergang dar von der Liebeskomödie des „To lubie“ zu der ernsten Feierlichkeit im endgültigen Text der „Dziady“. Die Art, wie hier, ohne in dem Leser Grausen zu erregen, die Geisterwelt als Mittel zu didaktischen Erwägungen benützt wird, widerspricht den sonstigen Gewohnheiten der Romantik, es ist vielmehr ein vorromantischer Zug und erinnert an die englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Mickiewicz zeigt sich in der ältesten Fassung dieses Teils der „Dziady“ noch nicht als Adept der volkstümlichen Glaubensvor- stellungen. Erst der persönliche Schmerz des Dichters hat in die Geister- erscheinung die ergreifenden Töne hineingetragen. . i

Warum aber isł aus dieser in sih abgeschlossenen Szene später ein unsterbliches Drama geworden, welches alle Leiden und Lebensphasen des Dichters zum Ausdruck bringen sollte? Sicher hat hieran seine neu- gewonnene Anschauung über das Drama Anteil, er bricht mit alten Bühnen- traditionen und versucht Neues. P. weist hier auf W. Bruchnalskis Aufsatz im Pamietnik literacki (9. 1910, S. 239) hin. Außerdem klingen hier auch die demophilen Tendenzen der jüngeren Dichter Polens in jener Zeit mit an. Man wollte an Stelle des durch die Rationalisten des 17. Jahrhunderts für gut Gehaltenen, an der kirchlich zugelassenen Form des Totenfestes vorbei zu seinen heidnischen Grundelementen gelangen. Mickiewicz folgte hier dem Zuge der jüngeren Generation. Er gelangte auf diesem Wege zugleich zu den Quellen der Bühnenkunst, zur griechischen Tragödie, und zwar zu deren ältester Form, dem religiösen Drama. Er glaubte, im Totenfest die uralten Überbleibsel einer autochthonen Zeremonie auf slavischem Boden, ein Echo des griechischen Kults entdeckt zu haben und glaubte auch, diese Idee durch die Etymologie: koZlarz, husla, guslarz stüßen zu können.

Die Fragmente des 1. Teils der „Dziady“ verdeutlichen den ganzen Gedankengang des Dichters, wenn man in ihnen eine Weiterentwicklung des

279

früher Geschaffenen sicht. Es lag ihm daran, für den Hauptpunkt, das Totenfest, eine entsprechende Einleitung und Vorbereitung zu schaffen. In diese neuen Bilder wird aber die Liebe eingeführt, hier tritt die Jungfrau auf, welche die Geliebte Gustavs werden soll. Dadurch aber wird das eigentliche Zentrum der Dichtung, der gegenwärtige 2. Teil, zu einer zwei- gradigen Episode und der Nebensproß zur Bekrönung des Ganzen. Aus der ursprünglichen Absicht, Maryla durch eine Ballade zu schrecken, wird das Drama des eigenen Herzens. Es entsteht die Doppelaufgabe, für das volkstümliche Fest und für das Liebesdrama eine dichterische Form zu finden. P. weist hier auf Mickiewicz’ Liebesabenteuer dieser Jahre hin. In der Psychologie des Helden und der Heldin: Gustav und der Jungfrau kommen charakteristische Züge der romantischen Zeit zum Ausdru Sicher hat der Gedanke, eine psychologische Zeitstudie in der Liebes- geschichte der Dichtung zum Ausdruck zu bringen, stark mit eingewirkt auf die Ausgestaltung des ursprünglichen Planes der „Dziady“.

P. sucht schließlich noch die Verbindung zwischen dem 1. und dem 4. Teil der Dichtung zu deuten. Trotz aller Verschiedenheit besteht ein geistiges Band unter ihnen. Hier ist der Chor der jungen Leute von beson- derer Wichtigkeit. Drückt er die persönlichen Gedanken des Dichters aus oder ist er das unpersönliche Sprachrohr der Gerechtigkeit? Dieser Chor verurteilt Gustav. Sah Mickiewicz in diesem Typ eine Verirrung der Ro- mantık? Die Konopnicka hatte die rationalistische Kälte der in diesem Chor. ausgedrückten Meinungen herausgefühlt. Der Entwurf zu dem Chor der jungen Leute im 1. Teil ist sicherlich die älteste Fassung und besonders aufschlußreich. Er zeigt sich hier weit entfernt von der allwissenden Weis- heit des antiken Chors, ja er erscheint sogar kleinlich voreingenommen, der guslarz allein hat Weltweite des Blicks und Urteils, der Chor der Jungen ist fast trivial in seinen Aussprüchen. Er erinnert an die Gestalt des roman- tischen Gelehrten in „Romantyczność“, und das gestattet die Schlußfolge- rung, daß Mickiewicz auf der Seite der Jungfrau stand und nicht auf der des Chores. Da in „Romantyczność“, wo Mickiewicz Sniadecki in der Gestalt des Gelehrten verkörpern wollte und dessen Gedankengang, ganz ähnliche Gedanken ausgesprochen werden wie im Chor der Jungen in den „Dziady“, vermutet P., daß auch hier Mickiewicz Zeitgenössisches zu ver- körpern sucht, und glaubt, hier Erinnerungen an die Freunde Mickiewicz’ in Wilna wiederzufinden, welche seine Liebesexaltationen verurteilten. Wenn hier also die persönlichen Erinnerungen des Dichters und sein Zusammen- prall mit dem Positivismus seiner Umgebung einen Plab gefunden hatten, so liegt es nahe, zu vermuten, daß er schließlich im 4. Teil seiner großen Dichtung das Drama der eigenen Seele einführen wollte.

Emmy Haertel.

Adam Mickiewicz: Pani Twardowska. Z autografu wydal po raz pierwszy józef Kallenbach. Silva rerum 1927, S. 113—118.

In der Bibljoteka Körnicka hat sich ein Autograph der Mickiewicz’schen Ballade „Pani Twardowska“ gefunden. Das Wasserzeichen im Papier be- stätigt (1820), daß d:e Ballade in Kowno oder Wilna entstanden ist. Der Text selbst, den Kallenbach genau abdruckt, ist schon eine Abschrift aus einem Konzept und weicht verschiedentlich von der uns im Druck der

„Ballady i romanse“ überlieferten Fassung nicht unwesentlich ab. E. Koschmieder.

Józef Korpata: Kraszewski jako wydawca „Pism“ Brodzifi-

skiego. Silva rerum 1928, S. 5—11.

Auf Grund der in der Jag.-Bibl. aufbewahrten Korrespondenz J. I. Kra- szewski’s, und zwar besonders von Briefen F. S. Dmochowski’s, Fr. Dobro- wolski’s, Gebethners, der Familie Rucz und L. Wasiutyfiski’s, gibt J. Korpala hier einen interessanten Einblick in die Genesis der achtbandigen Ausgabe der Werke K. Brodzifiski's, die in Warschau, von Kraszewski bearbeitet, bei

280

Gebethner erschien. Die Initiative zu dieser Ausgabe war von F.S.Dmo- chowski ausgegangen. Sie sollte eine kritische und vollständige Ausgabe werden und mithin alle die reichhaltigen Materialien mii aufnehmen, die Dmochowski selbst gesammelt hatte, und zwar mit Rücksicht auf die russ. Zensur in einem besonderen Bande. Jedoch es kam weder zur Veröffent- lichung dieses Bandes noch der Biographie Brodzifiski’s, die Kraszewski versprochen hatte, woran wohl hauptsächlich auch Rucz und Gebethner schuld sein dürften. Da nun überdies die Ausgabe Kraszewski’s gegenüber den Materialien Dmochowski’s viele Ungenauigkeiten, Auslassungen etc. aufweist, erscheint Korpala eine vollständige Neuausgabe der Werke Bro- dzinski’s geboten. E. Koschmieder.

Z. L. Zaleski: Jan Kasprowicz: Le Monde slave. 5. Jg. (1928), Nr. 2, S. 196—212.

_ Gedachinisrede auf Kasprowicz. Die leitende Idee ist, daß Kasprowicz eine der drei wesentlichen Vollendungen und Offenbarungen der moralischen Existenz Polens in der Zeit vor dem Kriege verkörpert habe: Ce que fut Wyspianski pour le drame de la destinée collective, ce que furent Zeromski et Reymont pour le spectacle épique de la vie, tout strié d’ailleurs d’éclairs tragiques, Kasprowicz le devint spontanément et puissamment pour le mode lyrique de lexistence, source première de tout mouvement et de toute création. (S. 197.) F. Epstein.

Chrzanowski, Ignacy: Adam Asnyk. Przegląd współczesny

XVI, S. 3—21.

Im Hinblick auf die bei dem Verlag „Bibljoteka Polska“ in Vorbereitung befindliche Gesamtausgabe der Werke Asnyks, die außer der Lyrik auch die dramatischen Werke, Novellen, Literaturstudien, Reden und Artikel des Dichters umfassen soll, wirft Chrzanowski die Frage auf, ob es etwa ge- nüge, sich auf die Lyrik zu beschränken. Im ersten Kapitel seiner Studie zeigt nun Chrzanowski, wie Asnyks dramatische Werke von Iyrischen Ele- menten durchdrungen sind, und daß schon deswegen eine Ausgabe seiner Lyrik allein ohne das dramatische Schaffen ein ganz unvollständiges Bild seiner Lyrik gäbe. In einem zweiten Kapitel führt Chrzanowski aus, daß Asnyk, wenn auch vielleicht nicht vom romantisch patriotischen Gesichts- punkt, so doch vom ästhetischen aus, unbedingt zu den „großen Dichiern“ Polens zu rechnen und somit eine vo pate Ausgabe aller seiner Werke völlig gerechtfertigt sei. Das nächste Kapitel weist auf die Vereinigung von höchster Vollendung der Form und größter Einfachheit mit Erhabenheit des Inhalts in Asnyks Lyrik hin. Nicht, wie Wyspiański es boshaft aussprach, ein ausgestopfter Adler ist er, sondern ein lebender, wenn auch ein verwun- deter, dem die nationale Katastrophe im Januaraufstand die Kraft der Schwingen gebrochen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Religiositat und der Philosophie des Dichters. E. Koschmieder.

Polnische bildende Kunst der Gegenwart.

Z. St. Klingsland: La sculpture de Zamoyski. Pologne Litté- raire 1928, Nr. 19.

Derselbe: La peinture de Tadeusz Makowski. Ibid. Nr. 22.

Mieczystaw Wallis: Die Gruppe des „Rhyihmus“. Ibid. Nr. 21.

Die mit schönen Reproduktionen versehenen Artikel von Klingsland und Wallis tragen sehr viel dazu bei, eine knappe Übersicht über die her- vorragendsten polnischen Maler und Bildhauer unserer Tage zu vermitteln. Die reiche Skala der Ausdrucksmöglichkeiten, die von der derben Realistik des Malers Makowski über die ironische, klassisch stilisierende „Formistik“ des Bildhauers Zamoyski zur Gruppe des „Rhythmus“ führt, bezeugt in

281

überraschender Weise die Vielfalt des polnischen Kunstschaffens. In der Würdigung des „Rhytmus“ durch Wallis vermisse ich einen Hinweis auf die Parallelerscheinungen in der Literatur. Skoczylas, der bedeutendsie unter den Leuten des „Rytm“, ist das Gegenstück zu Zegadiowicz, auch er der Erde verhaftet und aus ihr seine Inspiration holend. Auch innerhalb der Gruppe ist reicher Raum für individuelle Sonderheit geblieben. Neben Skoczylas, der wie ein technisch vervollkommneter Wowro anmutet wer kennt nicht den naiven Holzschniger aus den Beskiden, dem Zegadlowicz seine Balladen von den „Dorfgängern“ dankfꝰll neben Wasowicz, der ganz im Schatten von Skoczylas, dem Meister der Graphik, steht, ist der zarte, traumerische Eugenjusz Zak, der 1926, zu früh, dahinsterben mußte und sich den westlichen Einflüssen schon mehr gefangen gab. Ganz Europäer aber Ludomir Slendzifiski, während Henryk Kuna irgendwo in einer christlichen, strengen Antike wurzelt. Otto Forst-Battaglia.

Rafat Malczewski.

Stanisław Ignacy Witkiewicz: Malarstwo (nie sztuka) Rafała Malczewskiego i flo jego powstanio. (Die Malerei nicht Malkunst Raphael Malczewskis und der Hintergrund ihres Entstehens.) Wiadomości Literackie 1928, Nr. 21.

Von aufrichtiger Bewunderung getragene und diese Bewunderung schamhaft hinter kühler Sachlichkeit und ein paar Absagen an das ver- faulende Europa verbergende Anmerkungen zum Schaffen des ungemein begabten Landschaftsmalers Rafat Malczewski, den Träger eines großen Namens der polnischen Malerei und dennoch eine starke eigenwillige In- dividualitat. Die beigefügten Reproduktionen überzeugen uns von der tech- nischen Vollkommenheit und dem künstlerischen Wert dieser Bilder, die ganz im Geist der sogenannten „neuen Sachlichkeit“ gehalten sind. (Ich weiß nicht, warum Witkiewicz sich so gebärdet, als wüßte er nicht, wie sehr Rafal Malczewski in einer mächtigen Kunststromung seiner Zeit untertaucht.) Uber diese im Grund gar nicht so neue Sachlichkeit hinaus hat Malczewski einen Vorzug: er ist nicht nur der talentierte Schüler der holländischen Realisten des Landschaftsgemaldes, sondern auch der polnische Segantini, dem kein zweiter die Gebirgsfirne der Tatra ebenbürtig erfaßt. Wovon aber Wit- kiewicz mit keinem Wort Erwähnung tut. Otto Forsi-Battaglia.

M. J. Wielopolska: Rembrandt i Re-Rembrandiy. (Rembrandt und die Re-Rembrandt.) Wiadomości Literackie 1928, Nr. 28. Vgl. ibid., Nr. 24.

Jan Wiktor: Wskazania Ossolińskich, Czartoryskich, Krasińskich. (Die Mahnungen der Ossoliński, Czartoryski, Krasiński.) Ibid. Nr. 36.

Die Polemik um den von Graf Tarnowski nach den Vereinigten Staaten gesandten Rembrandt dauert fort (vgl. diese Jb. NF. 4, 357). Die Wielopolska verteidigt mit Verve und Eloquenz den Besiķer des Gemäldes, das angeb- lich nur zum Zweck der Restaurierung nach Paris gebracht worden sei und jedenfalls sich nunmehr wieder in Polen befindet. Dem Unbeteiligten, der die Verhältnisse kennt, will es scheinen, daß erst der im ganzen Lande er- hobene Lärm den voreiligen Verkäufer bewog, das Bild aus New York, wohin es unzweifelhaft den Weg genommen halte, mit großen Opfern zu- rückzuholen. Sicherlich hat Jan Wiktor recht, wenn er die Angelegenheit nicht als abgeschlossen betrachtet, und zwar nicht, wie recht unnotigerweise die Redaktion der „Wiadomosci Literackie“, nach dem Staatsanwalt, doch nach einer gründlichen Revision der beklagenswerten Zustände ruft, die in den meisten Sammlungen der Magnaten herrschen. Man kann den Skandal nicht oft genug, und auch vor dem Forum des Auslands annageln, daß die

282

Potocki, Branicki, Popiel und viele andere ihre, auf nicht immer einwandfrei rechtlichem Wege gesammelten Archivalien verwahrlosen und zugrunde gehen lassen, unter den verschiedensten Vorwänden Gelehrten den Zutritt verweigern und, im Besitz von Revenuen, die in die Millionen gehen, die bescheidenen Mittel zur Erhaltung der ihnen anvertrauten historischen Schätze verweigern. Nicht nur die Tradition der Ossoliński, Czartoryski, sondern auch ein Blick auf die Sorgfalt, mit der etwa die deutschen mediati- sierten Häuser und die großen englischen Familien die: dokumentarischen Vermächtnisse ihrer Vorfahren behandeln, sollie der unhaltbaren Mißwirt- schaft ein Ende bereiten. Oder aber der Staat greife energisch, ohne falsche Scheu vor dem Privateigentum, ein. Otto Forst-Battaglia.

Jan Parandowski: Kazimierz Chledowski. Pologne Littéraire

1928, Nr. 22.

Niemand war mehr berufen, die Silhouette des feinsinnigen Magnaten zu zeichnen, der die Mußestunden nach emsiger politischer Tätigkeit dazu verwendete, um wunderschöne Bücher über die vornehme Gesellschaft ver- gangener Jahrhunderte und ihr Mäzenatentum zu schreiben, als Paran- dowski, der unvergleichliche Beseeler antiken Kulturguts. Wir vernehmen, als seien wir in einem behaglichen Salon, auf das anmutigste von der Her- kunft, vom Wesen und vom Werk Chiedowskis, des österreichischen Mi- nisters und polnischen Schriftstellers, der doch vor allem ein verspateter Nachfahre jener italienischen Renaissance war, der er seine beiden besten Bücher gewidmet hat. Etwas von dem farbenfrohen Prunk der Epoche Julius II. und der Medici war in Chledowskis Schilderungen, die, mit Klaczkos Schriften vereint, als polnischer Beitrag zur Erkenntnis der glänzendsten Epoche frei erstrahlender Persönlichkeit ihren Rang neben Burckhardi und Gregorovius, Gobineau und Pater behaupten. Otto Forst-Battaglıa.

WlastimilHofmann. Marjan Morelowski: Wlastimil Hofmann. Tecza 1928, Nr. 18.

Hofmann, von weiterher deutscher, dann unmittelbar &echischer Ab- stammung, doch durch seine polnische Mutter dem Polentum geworben, ist als Maler seit den Tagen der Sezession auch in Mittel- und Zentraleuropa wohlbekannt. Sein 25jahriges Jubiläum war der Anlaß dieser Studie, die ebenso wie ihr Gegenstand guter Durchschnitt ist. Otto Forsi-Battaglıa.

Stanislaw Wasylewski: Listy Heleny Modrzejewskiej. (Briefe

Helene Modrzejewskas.) Tecza 1928, Nr. 28.

Abdruck dreier Briefe der berühmten Tragödin, an den Lemberger Kritiker Romanowicz und an Józef Nikorowicz, den Vater des bekannten Schrifistellers Ignacy Nikorowicz. Willkommene Ergänzung zu Franciszek Siedleckis Monographie der Künstlerin. Otto Forst-Battaglia.

Artur Schroeder: Zofja Stryjefiska. Tecza 1928, Nr. 18.

Die prächtigen Reproduktionen des Tanz-Zyklus der genialen Künst- lerin, die durch ihre plößliche Erkrankung ihrer Wirksamkeit, hoffentlich nur für kurze Frist, entrückt wurde, geben eine ausreichende Vorstellung von den Qualitäten dieser vom Geist der malerischen, stolzen, bunten polnischen Vergangenheit erfüllten Frau. Ich glaube, man wird das Richtige treffen, wenn man ihr gegenüber dem polnischen Folklore das zubilligt, was man von Matejko für die polnische Geschichte anerkennt, daß sie in die Schöpfun- gen ihrer Hand den Extrakt ihres Volkstums gebannt habe. Das verbindet sich mit dem glücklichsten technischen Können. Welcher Rhythmus in den sich im Tanz drehenden oder würdig zu den Klängen der Polonaise einher- schreitenden Paaren. Schröder kargt nicht mit dem Lob. Er hatte noch

285

stärkere Akzente anschlagen können und ware noch nicht der Stryiehska gerecht geworden, die als Buchillustraiorin kaum in Europa ihresgleichen hat und meines Erachtens das siärkste, originellste Genie unter den pol- nischen Malern des 20. Jahrhunderts ist. Otto Forst-Battaglia.

Taszycki, Witold: jan Los. W czierdziestolecie pracy naukowej. Przegląd Współczesny. T. XVI, S. 22—38.

Taszycki zeichnet hier ein Bild der wissenschaftlichen Laufbahn seines Lehrers, des für die Polonistik so bedeutenden Gelehrien Jan Łoś. Er würdigt dabei seine bedeutenderen Werke und Schriften, indem er sie in ihre Entstehungszeit mit ihren Erfordernissen und Schwierigkeiten hinein- stellt. Eine bibliographische Liste aller Schriften Los's bis 1922 befindet sich in den Sprawozdania Towarzystwa Naukowego we Lwowie. Rocznik Il, 1922, S. 47—49. E. Koschmieder.

Zdzisław Morawski. Leon Pinifiski: Zdzisław Morawski. Ruch Literacki Bd. 3 (1928), S. 103—106. Stanislaw Wedkiewicz: Zdzisław Morawski jako historyk 5 włoskiej. Przegląd Współczesny Bd. 25 (1928), S. 492 is 498.

Zwei Nachrufe, die, einander ergänzend, die hohen Qualitäten des ver- storbenen Historikers der Renaissance würdigen. In beiden wird Morawski über den bekannteren Chiedowski erhoben, an den er durch seine Abkunft aus halbaristokratischer Familie, seinen Hauptberuf als politischer Beamter in k. k. Diensten und seine elegante Schreibweise erinnert. Morawski, übrigens ein Bruder des verewigten großen Latinisten und Präsidenten der Polnischen Akademie der Wissenschaften und ein Onkel des nur zu früh verstummien Historikers, ein Verwandter des christlichen Philosophen und eines anderen Historikers des 19. Jahrhunderis, gehört einer Familie an, in der, wie bei den Koźmian, das literarische Talent erblich und der Drang zu den „Lettres“ unbezwingbar ist. Seine Werke sind solide Denkmale gründ- licher Fachbildung und Zeugnisse vortrefflicher stilistischer Begabung. Unter ihnen kommt der erste Plab den Studien „Z Ravenny“ und „Z Odro- dzenia włoskiego“, sowie „Epilogi krucjat XV wieku“, endlich der Mono- graphie über den „Sacco di Roma“ zu. Unter den polnischen Schriftstellern war wohl Klaczko, der Sohn des Wilnaer Ghettos, dem großpolnischen Szlachcicen am nächsten verwandt. Otto Forst-Battaglia.

Stanislaw Wedkiewicz: Zaniedbana dziedzina humanistyki. (Ein vernachlässigtes Gebiet der Geisteswissenschaften.) Przegląd Współczesny Bd. 25 (1928), S. 283—307, 470—485, Bd. 26 (1928), S. 276—320.

Nach den spanischen Reisebriefen Windakiewiczs ist Wedkiewiczs un- gemein lebendiges Plaidoyer für eine intensive Beschäftigung mit den iberi- schen Kulturen kein Vorstoß in unvorbereitetes Terrain. Der Krakauer Romanist bietet eine fesselnde Uberschau des Standes der iberischen Kulturkunde in Europa. Er beginnt mit der spanischen Literaturwissenschaft im eigenen Lande, spricht hernach über spanisch-französische, spanisch- italienische Wechselbeziehungen, und, nach kursorischem Verweilen bei Skandinavien, Holland, England, über das Aufblühen der spanischen Studien im deutschen Sprachgebiet (unter den markanten Reisebüchern fehlen Emil Lucka, Kasımir Edschmid). Fur diese Jb. ist am wichtigsten, was Wed- er über den Stand der polnischen Forschungen zur spanischen Kultur mitteilt.

284

Die Zeit des alten Polen wird vom Verfasser nur flüchtig beachtet. Für die neuere Literaturgeschichte erhalten wir dagegen ein fast vollständiges Bild. Unter den verzeichneten Büchern fehlt nur Freilich, Legion gen. Bema. Den Einfluß der spanischen Literatur auf die neuere polnische möchte Wedkiewicz doch nicht so gering anschlagen, als es Windakiewicz tat. Zu ergänzen: Ligockis „O Don Kiszocie biekitnym“. Es folgt eine Zusammen- stellung der geschichtlichen und hterargeschichtlichen Arbeiten über spa- nische Themen. Meine dabei zitierte Studie über Unamuno ist im „Czas“ vom 23. und 24. April, nicht im Sommer, erschienen. Den Beschluß bildet ein Kapitel über Polen und das portugiesische Sprachgebiet. Der Ruf nach Pflege der iberischen Kulturkunde wird in Polen sicher Gehör finden.

Otto Forst-Battaglia.

Polnische Anglistik der Gegenwart.

Roman Dyboski: Polska historia romantyzmu angielskiego. (Eine polnische Geschichte der englischen Romantik.) Przeglad Wspölczesny Bd. 26 (1928), S. 140— 152.

Stanislaw Helsztyhski: Polish Autors on English Matters. Pologne Littéraire 1928, Nr. 21.

Wladis law Tarnawski: Rezension von Andrzej Tretiaks „Literatura angielska w okresie romantycznym“. Ruch Literacki Bd. 3 (1928), S. 128— 180.

Nicht ohne Zusammenhang mit der politischen Entwicklung die An- näherung an England ist einer der Hauptpunkte im Programm des Mar- schalls Piłsudski ist seit einigen Jahren ein starkes Aufblühen der pol- nischen Anglistik zu bemerken. Die Professoren Dyboski, Tretiak, Tar- nawski, dann Stanisław Helsztyfiski haben zahlreiche Bücher, Broschüren und Artikel veröffentlicht, die durchwegs auf sehr hohem Niveau siehen. Der englische Aufsatz von Helszfynski in der „Pologne Littéraire“ führt außer den standard works auch eine Anzahl bedeutender Monographien an, so „Shakespeare“-Bücher von Pinifiski und Dyboski, die älteren Schriften von Windakiewicz und Szyjkowski über den Einfluß der englischen auf die polnische Literatur. Dyboskis und Tarnawskis Besprechungen von Tretiaks Geschichte der englischen Romantik sind reich an wertvollen Ergänzungen und Änregungen, siimmen übrigens in der verdienten Anerkennung für das schöne Buch des Warschauer Professors überein.

Otto Forst-Battaglia.

Das Ausland über Polen.

Juljan Krzyzanowski: Z polonikéw angielskiech. (Englische Polonica.) Przegląd Współczesny Bd. 26 (1928), S. 334—340.

Roman Pollak: Polonica włoskie. (Italienische Polonica.) Ibid. Bd. 25 (1928), S. 316 f.

Stanistaw Wedkiewicz: Z motywów polskich w publicystyce francuskiej. Ibid. Bd. 25 (1928), S. 318—324; Bd. 26 (1928), S. 341—352.

Die Randbemerkungen zu fremden Veröffentlichungen über Polen sind sehr dankenswert, wenn sie von so kundiger Seite geschehen, wie im „Przeglad Wspölczesny“. Krzyzanowski stellt am Beispiel eines englischen Handbuchs von Magnus fest, wie wenig der gebildete Engländer von Polen weiß es drängt sich der Vergleich mit den sehr ähnlichen Verhältnissen in Frankreich auf, wo Van Tieghem ganz in den Bahnen von Magnus wen- delt. Er verzeichnet hernach die polnischen Aufsage in der „Slavonic Re-

285

view“. Zur Ergänzung noch der Hinweis auf die sich mehrenden polnischen Artikel in der berühmten Kunsizeitschrift „The Studio“. Pollak analysiert in derselben Weise die „Rivista di letterature slave“ und lobt besonders die Arbeit Mavers über Slowacki. i Weit reichlicher sind freilich die, wie stets, von siupender Belesenheit zeugenden Notizen Wedkiewiczs. Sie betreffen des Grafen Comminges „Blerancourt“, dann wenig aufregende und mit eleganter Ironie abgefer- tigte Romane von Dunois, Dekobra, St. Yves, P. Girard. Der Streit Ossen- dowski-Montandon (was Wedkiewicz übersah, in den „Nouvelles Littéraires“ protokollarisch festgehalten), der Bohémien Zborowski, von dem Carco be- richtet, Floquets „Vive la Pologne, Monsieur“ (Wedkiewicz entging, was dariiber Madyslaw Mickiewicz in seinen Denkwürdigkeiten schreibt: er trägt es im Przeglad Wspölczesny 25, 508 nach), Abouts Konflikt mit Klaczko und die angebliche polnische Herkunft Jules Vernes bilden den Gegenstand weiterer Glossen. Paléologue, der französische Botschafter in Petersburg, wird anläßlich seiner Wahl in die Akademie als Polenfeind und mittelmäßiger Literat geschildert. Endlich bringt Wedkiewicz, als Ergänzung zu Janiks „Geschichte der Polen in Sibirien“ Stellen aus Vigny und Amiel, die von polnischen Verbannten handeln. Otto Forst-Battaglia.

Jan Parandowski.

J6zef Aleksander Gatuszka: Klejnot prozy polskiej. (Ein Kleinod polnischer Prosa.) Tecza 1928, Nr. 7. Enthusiastische Wiirdigung der großen formalen Vorzüge von Parandow-

skis Griechenlandbuch „Dwie wiosny“, die im weiteren Umfang der gesamten Leistung des ausgezeichneten Hellenisten. gilt. Otto Forst-Battaglia.

Edward Chwalewik: Zbiory polskie.

Kazimierz Kaczmarczyk: Rezension von Edward Chwale- wiks „Zbiory polskie“. Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928), S. 87-100.

Ungemein wichtige und Don Besprechung des in diesen Jb. angezeigten Werkes (vgl. Jb. NF. 4, 85 ff.), die sich hauptsächlich mit den polnischen Archiven beschäftigt. Otto Forst-Battaglia.

Stanistaw Brzozowski.

Józef Czapski: O Towarzystwo im. Stanistawa Brzozowskiego. (über eine Brzozowski-Gesellschaft.) Wiadomości Literackie 1928, Nr. 28.

Aufforderung, eine Vereinigung von Freunden des verstorbenen Kritikers zu bilden, in dem Czapski, wie manche andere, den lebten Vertreter einer schöpferischen Kritik erblicken. Otto Forst-Battaglia.

Jerzy Kossowski. Walerjan Charkiewicz: Na ostatnim szańcu. (Auf der leb- ten Schanze.) Przegląd Powszechny Bd. 178 (1928), S. 306—318.

Tragikomische Beiträge zur Geschichte der von Rußland erzwungenen Union in Litauen. Es handelt sich hauptsächlich um den Krieg, den die Gattinnen der zwangsbekehrten Priester und Laien gegen die Russifikation und gegen das Schisma fuhrten. Ein wichtiges Kapitel in diesem Krieg bildet der Kampf um den Bart. Die meist polnisch-adeliger Herkunft sich ruhmen- den Kleriker weigerten sich, äußerlich den verachteten Popen zu gleichen,

286

bei diesem Widerstand von ihren besseren Hälften unterstützt. Der Erz- bischof Siemaszko sucht mit List und gelegentlich mit Gewalt die Wider- spenstigen zu zähmen. Otto Forst-Battaglia.

Stanisław Wasylewski: O wpływie mody na jezyk polski. (Vom Einfluß der Mode auf die polnische Sprache.) Tecza 1928, Nr. 1.

„Dahin sind die Trachten, sie kamen nicht nur aus der Mode, sondern es verschwand im Meer der Zeit sogar die Spur ihrer Benennungen. Trob- dem blieb im Sprachschatz die ewige Erinnerung an sie wach, es blieb das Wort, das suggestiv auf die Einbildungskraft der Massen wirkt.“ Zu dieser auch aus anderen Sprachgebieten genugsam bekannten Tatsache bringt Wasylewski einige treffende lllustrationsfakten aus Polen. In der geist- reichen Untersuchung vermissen wir ein Wort uber die Spuren nationaler Wechselwirkung, die auf dem Umweg uber Sprache und Mode sich, oft ungeahnt, aus irgendeiner versteinerten Redewendung ergeben.

Otto Forst-Battaglia.

M. Kacprzak: O stanie zdrowia publicznego w Polsce. (Uber den Stand der öffentlichen Gesundheit in Polen) Przegląd Powszechny Bd. 179 (1928), S. 58—90

Besagter Stand stellt sich als sehr betrüblich heraus. Nach den Epide- mien, die im Gefolge des großen und des russisch-polnischen Krieges auf- traten, ist Polen noch immer von Seuchen, wie dem Fleck- und Bauchtyphus, der Ruhr geplagt, die eine Begleiterscheinung der allgemeinen Unreinlich- keit sind. Die staatlichen Organe kämpfen aufopfernd und heroisch gegen die Indolenz der meisten lokalen Behörden, gegen den eingewurzelten Schmut der Kleinbürger, Bauern und Juden. Kacprzak macht mit seiner Studie im Jahre 1927 halt. Seither hat der gegenwärtige Innenminister mit verdoppelter Kraft die Gesundung Polens in Angriff genommen. Während in den ehemals deutschen Gebieten die sozialen Verhältnisse und die Kultur auf einer so hohen Stufe stehen, daß die sanitäre Lage der Mitteleuropas gleicht, steht im verschlampfen Galizien und besonders in den halbasiati- schen, unter der russischen Tradition lebenden Ostprovinzen der Regierung ein harter Strauß bevor. Auch die venerischen Krankheiten, ein anderes Kriegserbstück, machen genug zu schaffen. Otto Forst-Battaglia.

Kaschubische Literatur.

Rajmund Bergel: Kaszubska literatura gwarowa. (Die kaschu- bische Dialekiliteratur.) Tecza 1928, Nr. 28.

Nach sparlichen Bruchstiicken um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt sich das kaschubische Schrifttum um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu regen. Florian Ceynowa (1818—1881) gibt eine volkskundliche Zeitschrift heraus, Hieronym Derdowski (1852—1902) erringt zuerst als Dichter einen Namen. Aleksander Majkowsk vereinigt unter den lebenden kaschubischen Schrift- stellern beides, die publizistische und die dichterische Begabung. Budzirza und Sedzicki sind an zweiter Stelle zu nennen. Als Hauptmotiv der kaschu- bischen Poesie findet Bergel das patriotische des Gemeinschaftsempfindens mit Polen: „Me Kaszube, jesz strzezeme Polsci morskich granic“ und „Nima Kaszub bez Poloni, a bez Kaszub Polsci“. Otto Forst-Battanlia.

Ilja Ehrenburg: „In Polen“. Krasnaja Nov’, Febr./März 1928.

Der bekannte Schriftsteller Ehrenburg erzählt über seine Eindrücke in Polen. Polen klagt über eine schwere Erbschaft, die des caristischen Ruß-

19 NF 5 287

lands. Diese Erbschaft hat Polen voll angetreten, aber nur im negativen Sinne; es hat die Methoden des Kampfes mit politischen Feinden und Fremd- stämmigen übernommen. Die russische Kultur ist aber vollkommen zerstört; es existieren keine russischen Bibliotheken, keine russischen Schulen mehr; die russische Sprache wird verfolgt. Nur in den deuischen Schulen in Lodz wird die russische Sprache unterrichtet. Über Rußland weiß man in War- schau weniger als in Berlin. Es ist unmöglich, in Warschau Zeitungen aus Sovet-Rußland zu bekommen. Und doch ist der Einfluß Rußlands enorm. Nach einer Umfrage der Zeitschrift „Wiadomości literackie“ in Krakau be- steht das größte Interesse in Polen für die alte russische Literatur. Der polnische Dichter Tuwim übersetzt das Igorlied.

Die Lodzer Fabrikanten aber erinnern sich mit Wehmut: „Ja, es waren Zeiten. Da kam Mitrofanov oder Vlasov: gib alles her.« jezt kommt ein Rumäne und kauft ein paar Meter.“ Ehrenburg sieht einen inneren Zu- sammenhang der beiden großen slavischen Volker. Der französische Schriftsteller Luc Durtain behauptet, das andere Europa beginne irgendwo neben Lodz. „Die Negerstamme können untereinander hadern,“ sagt Ehren- burg, „es bleiben doch dieselben Neger.“ Der Chauvinismus der Polen ent- sekt den russischen Schriftsteller. Der Russe, der Deutsche, wie scharf und treffend bemängeln sie das Eigenel Den Polen entzückt alles Polnische. Die Werke des englischen Schriftstellers Konrad werden in den Himmel genoben, weil er polnischer Abstammung war, obwohl er nie auch nur eine

eile polnisch geschrieben hatl

Ein Heldenkultus lebt in der polnischen Gesellschaft, daher die fast krankhafte Schwarmerei für Pilsudski.

Das Leben des polnischen Schriftstellers ist schwierig. 5000 verkaufte Exemplare sind ein großes literarisches Ereignis. Die polnische Literatur ist nur lokal, sie hat keine europäische Bedeutung. Und doch erwähnt Ehrenburg auch interessante Talente, das eines Hetel, eines Kaden- Bandrowsky, mit seinem schönen Buch: „Miasto matki mojej,“ die feine Ironie eines Slonimski. Besondere Sympathie erweckt in Ehrenburg der Dichter Tuwim, den er vom Stamme Tollers oder des Russen Pasternak nennt. Aber trob der großen Reklame der „La Pologne Litteraire“ für die polnische Literatur gibt es in Polen weder einen Gorkij, noch einen Thomas Mann, noch einen Duhamel. |

Ehrenburg besuchte auch Lodz. Die Ruhr, Lille, Charleroi, sämtliche Fabrikstädte des Westens sind ihm Idyllen im Vergleiche mit Lodz. Hier sieht man nur Hasten und Rennen. „Drei Waggons“, „Scheck New-York“, das sind die einzigen Unterhaltungen, die man in den Straßen vernimmt. Neben Palästen der Millionäre haust hier unglaubliches Elend, das ans XV. Jahrh. erinnert. 50% der arbeitenden jüdischen Bevölkerung sind tuber- kulos. Und kein Wunder bei einem Verdienst von 20 zł. die Woche und einer Ernährung ausschließlich durch Heringe! Lodz kann mit Europa nur durch Billigkeit seiner Waren konkurrieren. Diese Billigkeit wird aber nur durch schlechte Arbeitslöhne erreicht.

Ehrenburg besuchte auch Krakau, und es versebte ihn in Entzücken; nicht die kleine österreichische Stadt, sondern der Wawel. Wenn man am Wawel steht, versteht man die vergangene historische Größe Polens; nur eine Groß- macht konnte so etwas erbauen. Und wenn man den Markiplab sicht, ver- steht man, daß Polen doch zur westeuropaischen Kultur gehört: dieses Latein, das Polen verstand, schuf den großen Unterschied zwischen ihm und Rußland, zwischen Wawel und Kremi. Tragisch findet Ehrenburg die Lage der Juden. Sie haben auf dem Papier sämtliche Bürgerrechte. Die Wirk- lichkeit kennzeichnet ein Anschlag an einem Kloster: „Eintritt Juden und Hunden verboten.“ me 7

Ehrenburg interessierte sich für den Chassidismus. Im XVII. Jahrh. er- scholl aus den dumpfen Ghettomauern zwischen Weinen und Klagen auf einmal der Ruf: „Es lebe das Leben.“ Das war der in Chelm entstandene Chassidismus, eine Bewegung wie die der Franziskaner im Katholizismus, wie das ,,staréestvo“ bei den Orthodoxen: die tote Erfüllung des Gesetzes

288

sei unwichtig, wichtiger als alle Religionssitten sei die Reinheit des Gefühls. Man kann zu Oolt beten, nicht in der Synagoge, sondern im Walde. Man braucht nicht zu trauern und zu age n. Man muß sich freuen, denn in der Freude nähert sich der Mensch Gott. Diese neue Bewegung gewann alle Träumer, alle Dichter, auch. alle Verrückten. Die Chassiden wollien das tote Buch durch die Erfahrung erseben. Nicht die Buchstaben sollten Führer sein, sondern Menschen, heilige Menschen, die „Zadiks“. Aber der Chassidismus schuf eine Erbschaftsfolge; der Sohn des Zadik wurde auch als Zadik ver- ehrt. Das war gegen die Gesche der Natur. E. erwähnt bedeutende unter diesen Zadiks; in den 60er bis 70er Jahren wohnte in Kozk ein Zadik, dessen Lehre an die Philosophie Dostoevskijs erinnert. Er segnete vor seinem Tode auch die Sünde. |

E. erwähnt auch die Chassiden aus dem kleinen Städichen Brazlau, deren Zadik ein wahrer Poet und Philosoph war und keinen Nachfolger hatte. Dieser Zadik war ein Prophet der jüdischen Armen. Den Gottes- dienst dieser Brazlauer Chassiden besuchte E. in Warschau. Ihn über- raschte das Singen und Tanzen der Gläubigen, das ihn an die russischen Sektierer erinnerte.

Einen anderen Zadik der Armut besuchie E. persönlich in Warschau und bringt nun viele seiner schönen, tiefen Aussprüche: „Die Armut ist der Weg zu Gott.“ „Gott hat viele Gewander, doch umhüllt Er sich nur mit dem Gebet des Armen.“ „Was ist Paradies und Hölle? Nach dem Tode erlebt der Mensch sein ganzes Leben. Die Freude über die von ihm geschenkte Liebe das ist das „Paradies“. Und die Hölle? Die Hölle ist die Reue.” Ein Zadik anderer Kreise ist der ,,Gerer“ Zadik, der im Stadtchen „Góra Kalvarja“ residiert. Die Verehrer dieses Zadik rekrutieren sich aus wohl- habenden jüdischen Kreisen. Er ist selbst Millionär, besitzt in Lodz eine eigene Bank. Er verfügt bei den Wahlen über 50.000 Stimmen. Der Wert seiner moralischen Persönlichkeit ist gering, er gilt allgemein für käuflich. E. besuchte das Städichen am Freitag, an einem Tage, wo die Verehrer den Rabbi aufsuchten. Eine große Zahl reicher jüdischer Kaufleute war aus. allen Ecken Polens herbeigekommen. E. wohnte der Zeremonie der

iraim“ bei, einer Zeremonie, bei der die Speisereste des Rabbi an die Gläubigen verteilt wurden. Solche Speisereste, denen man eine wunder- tätige Kraft zuschreibt, werden mit schwerem Oelde bezahlt.

kam auch mit der jungen jüdischen Intelligenz zusammen und lernte die Vertreter der jüdischen Literatur kennen. Er findet, daß diese Literatur noch zu jung sei und die Kulturstufe des jüdischen Volkes noch nicht erreicht habe. „Das jüdische Volk ist älter, höher, reicher und vielseitiger als die jüdische Literatur,“ sagt E. Dadurch erklärt er das Interesse der jungen Juden für Ubersebungen. Besonders gilt das Interesse des Judentums der russischen Literatur; die polnische berührt sie kaum. Die Juden suchen eine Antwort auf allgemein menschliche Fragen, die lokale, eng-nationale pol- nische Literatur kann sie nicht befriedigen; die russische Literatur ist aber eine Antwort auf alle menschlichen Probleme.

Was ist der Gesamteindruck E.s? Er nennt Polen das Land eines vom Orößenwahn erfaßten Volkes, hofft aber, daß nach der Genesung von dieser Krankheit Polen andere Wege betreten werde. N. Jaffe.

NEKROLOGE

lv. D. SiSmanov f.

Am 22. Juni 1928 starb während des internationalen Kongresses des Pen Klubs in Oslo, fern von der Heimat, der bulgarische Literarhistoriker Iv. D. SiSmanov, Professor für vergleichende Literaturgeschichte an der Universitat in Sofia. Sismanov wurde geboren am 22. Juni 1862 in SviStov. Als er die höhere Ausbildung in Österreich und Deutschland hinter sich hatte, bereiste er studienhalber Frankreich, Italien und Rußland und kehrte mit einer wirklich europäischen Bildung und einem europäischen geistigen Horizont in die Heimat zurück. Hier war er zunächst als Gymnasiallehrer tätig, bis er als Vorstand (nacalnik) in der Sektion für Mittelschulwesen und als Hauptinspektor (glaven inspektor) in die Schulverwaltung ins Unterrichtsministerium berufen wurde, in welcher Funktion er sich für den Ausbau des höheren Bildungswesens in Bulgarien große Verdienste erwarb. Als Unterrichtsminister 11905—7) sorgte er dafür, daß es zur Errichtung je einer Lehrkanzel für germanische und romanische Philologie in Sofia kam. Als es 1925 auf der Universität in Sofia zur Vereinigung der germanischen und romanischen Philologie in eine eigene Abteilung „Nova filologija i literatura“ kam, wurde er Chef dieser Abteilung. Als ordentliches Mitglied der bulgarischen Akademie der Wissenschaften war er Vorsitzender der historisch-philologischen Abteilung. Ferner war er Präsident des poga- rischen Pen Klubs. 1918—19 war er bevollmächtigter Minister in der Ukraine, hernach bis 1924 Professor in Freiburg im Breisgau.

Was SiSmanovs wissenschaftliche literarische Tätigkeit und Bedeutung betrifft, so ist zu sagen, daß er der Erforschung der neueren bulgarischen Kultur-, Literatur- und Geistesgeschichte und ihrer Zusammenhänge mit dem übrigen europäischen Kulturleben bahnbrechend die Wege gewiesen hal. Sein Hauptarbeitsgebiet war die neuere bulgarische Literaturgeschichte und Folklorishk, ferner allgemeine Literatur- und Geistesgeschichte. In dieser Hinsicht beschäftigte er sich besonders eingehend mit der italienischen Renaissance, mit dem französischen Klassizismus und dem germanischen humanistischen Idealismus und hielt auch allgemeinkulturgeschichtliche Vor- lesungen über Dante, Shakespeare und Voltaire. Wie gut er die west- europäische, vor allem deutsche wissenschaftliche Literatur kannte, beweist auch sein vor einigen Monaten erschienener Aufsab in der Bigarska Istori- česka Biblioteka, God. I, T. I, S.145—94 (Sofia 1928), in dem SiSmanov synthetisch die westeuropäische und die bulgarische Wiedergeburts- bewegung in den wesentlichen Zügen vergleicht und zeichnet. In seinen Arbeiten zur neueren bulgarischen Kultur- und Geistesgeschichte untersucht SiSmanov mit seiner psychosozialen Methode den Ursprung und den Verlauf der Ideen und Tendenzen in der neubulgarischen Literatur von Paisije bis zur Gegenwart. Er legte die organische Entwicklung des neueren Bildungs- wesens, der politischen und Kulturideale, in einer Periode von 100 Jahren bei dem Übergang zweier großen Epochen, der älteren Epoche eines Aprilov, Fotinov, Neofit Rilski, Neofit Bozveli, Mamartov und Beron einerseits, der jüngeren Epoche eines Rakovski, Slavejkov, Ilarion Makimpolski, Krstovid, Botjov anderseits, dar. Er zeigte den Gang und die Mittel der legalen und der revolutionären Kämpfe um die geistige, kirchliche und politische Frei-

290

heit der Bulgaren im, 19. Jahrhundert auf und stellt die erreichten Resultate als objektiv und subjektiv notwendige Folgen der allgemeinen historischen Bedingungen, Temperamente und Ideologien hin. Seine Haupileistung war die allseitige Erforschung der bulgarischen Wiedergeburtsepoche, des vézrazdane. , |

In seinem zweiten Hauptarbeitsgebiet, in der Arbeit an der Erforschung der reichen bulgarischen Volksliteratur, der Volkslieder, Sagen, Märchen und Legenden sowie des allgemeinen volkskundlichen Tatsachenmalterials, war er Anhänger der vergleichenden Methode. Durch eine Reihe folklori- stischer und volkspsychologischer Studien hat er als erster Licht in das Chaos der Mythen, der Überlieferung, des Volksglaubens und der Bilder der Volksphantasie gebracht. Schon eine seiner ersten Arbeiten auf diesem Gebiete, die in deutscher Sprache erschienene Studie: „Der Lenorenstoff in der bulgarischen Volkspoesie“, Straßburg 1894 (SA aus den Indogerma- nischen Forschungen IV), in der auf breiter, vergleichender Basis der Ur- sprung, die Grundidee des Lenorenstoffes, sowie das genealogische Ver- hältnis und die Wanderung desselben untersucht werden, war diesem Problem gewidmet und zeigt die weite Beherrschung des gesamten Ver- gieichsmaterials. SiSmanov hat den Ursprung, die Genesis und die reale Bedeutung einer Reihe von Motiven nicht bloß der bulgarischen, sondern auch der gesamten Balkanfolklore klargelegt. Er war der eigentlidie Gründer des volkskundlichen wissenschaftlichen Sammelorgans des Sbornik za Narodni Umotvorenija, jahrelanger Redakteur dieser anfangs vom Unter- richtsministerium, später von der bulgarischen Akademie herausgegebenen Publikationsreihe und erzog in dieser Tätigkeit eine ganze Reihe junger bulgarischer volkskundlicher Forscher. Seine wissenschaftlichen Arbeiten erschienen zum Hauptteil in dem oberwähnten volkskundlichen Sbornik (Sb.N.U.), dann in Sbornik der Akademie (Sb.B.Ak.N.), ferner in ver- schiedenen Zeitschriffen, vor allem in Blgarski Pr&gled, dann in der heute noch erscheinenden, sehr gut redigierten, außerordentlich materialreichen Kulturzeitschrift Bigarska Misl, dann im Učilišten Prégled, ferner arbeitete Sismano auch in deutschen Organen mit, so in dem seinerzeitigen „Bulga- rischen Echo“, ferner im Archiv für slavische Philologie.

In der ihm anläßlich des jährigen Jubiläums seiner wissenschaftlichen Tätigkeit 1920 gewidmeten Fesischrift werden 214 wissenschaftliche Arbeiten aufgezählt. Hier seien nur seine wichtigsten größeren Arbeiten erwähnt: I. Folklore und Ethnographie: 1. Značenieło i zadacata na naSata eino- grafija. Sb.N.U. I, 1—65; 2. Prinos käm bigarskata narodna amonga Sb.N.U. IX, S. 443—648; 3. Der Lenorenstoff etc. (siche oben); 4. Glück und Ende einer berühmten literarischen Mystifikation: Veda Slovena. Af.sl.Ph. XXV. S. 580-611; 5. Kritičen pr&gled na väprosa za prablgarit& ot ezikovo gledišcě i etimologiité na imeto „bigarin“. Sb. N. U. XVII, S. 505 bis 754. Il. Geschichte der Wiedergeburt: 6. Paisij i negovata epocha. Sp. B. A. N. VII, S. 1—18; 7. Studii iz oblast ta na bigarskoto väzra2dane. Sb. B. A. N. VI, S. 1—221, ferner XXI. Dazu kommen eine ganze Reihe kleinerer Studien, ferner Aufsätze über bulgarische Kultur- und Erziehungs- fragen, Rezensionen und Kritiken, die allein Bände füllen.

SiSmanovs Bedeutung liegt nicht nur in seiner wissenschaftlichen und akademischen Lehrtätigkeit, sondern auch in seiner Tätigkeit im Öffentlichen Leben. SiSmanov war kein Stubengelehrfer, sondern ein Mann, der ständig aktiv Anteil nahm am öffentlichen, vor allem am kulturellen Leben seiner Zeit und seines Volkes. Als ihm vor 25 Jahren das Amt eines Unterrichts- ministers. anvertraut wurde, zeigte er sich als Vertreter einer großzügigen Kulturpolitik und einer von jeder parteimäßigen Engherzigkeit freien poli- tischen Toleranz, als Vertreter des Humanitäts-, Toleranz- und Fortschritts- gedankens, damit als Gegner der alten aus der Türkenherrschaft und dem geistigen und politischen Kampf gegen die geistige Knechischaft unter den Phanarioten stammenden brutalen Methoden; als Vertreter eines gesunden, aus der seelischen Verbundenheit mit der heimatlichen Scholle erwach- senden und die Tradition der patriarchalischen Entwicklungsepoche der weiteren Volksschichten achienden Nationalismus, als „fanatischer Anhänger

291

des bulgarischen nationalen Genius“ wie er selbst gelegentlich sagte (vgl. Bigarska Mis! III, S. 601). Er war durchdrungen von dem Glauben an die kulturellen Fähigkeiten der Bulgaren und an ihre Mission in der Geschichte der Menschheit. Aus diesem Glauben heraus unterstiibie er in jeder Weise alle die, welche an dem Fortschritt der nationalen Kultur tätig waren, schickte junge begabte Lehrer, Schriftsteller, Künstler zur Spezialisierung und weiteren Ausbildung ins Ausland. Bei aller Anerkennung der Bedeutung der politischen Selbständigkeit war er sich doch bewußt, daß die Weckung und Vermehrung der intellektuellen Kräfte eines Volkes von ebenso wesent- licher Bedeutung für seinen Weiterbestand waren. Er war der Gründer einer Reihe bulgarischer Kulturinstitutionen und arbeitete in den lebten 40 Jahren unermüdlich daran, die Bulgaren zu einem gleichberechtigten Olied der europäischen Kulturfamilie zu erziehen. Bei alledem war SiSmanov als geistige Persönlichkeit kein nationaler Chauvinisi, sondern ein be- geisterter Anhänger der kosmopolitischen Ideen und der neuen paneuro- päischen Bewegung. . Beim Paneuropäischen Kongreß in Wien vor einigen Jahren vertrat er Bulgarien. Wie Herder war SiSmanov der Anschauung, daß jedes Volk einen Organismus mit eigener Physiognomie und mit dem Rechte auf eigene Existenz und auf Weiterentwicklung seiner wesentlichen Charakterzüge darstelle. Er trat für die Aufnahme westeuropäischer Kul- turelemente ein und sein Ideal war eine Synthese der bulgarischen mit den westeuropäischen Kulturelementen. Ebenso wie der große Dichter Pendo Slavejkov vertrat auch er den Standpunkt: Wir müssen gute Bulgaren und gute Europäer werden. Graz. J. Mall.

Vjekoslav Klaić.

Am 1. Juli 1928 starb in Agram (Zagreb) im 79. Jahre seines Lebens der Nestor der kroatischen Geschichtsforschung Vjekoslav Klaić. Klaić stammt aus einer slavonischen Lehrerfamilie, geboren 28. 7. 1849 in Garčin bei Slavonisch-Brod. Die ersten drei Klassen Gymnasium machte er in Wa- rasdin, die nächsten drei in Agram, wo er Jagić und den Philologen A. Weber zu Professoren hatte. Mit 14 Jahren trat er in das Agramer Klerikat ein, wo er vier Jahre (1863—67) verblieb und die 7. und 8. Klasse

nasium und die ersien zwei Jahrgänge Theologie machte. In dieser Zeit las er sich in die kroatische belletristische Literatur ein, daneben las er am liebsten historische Werke, vor allem Abhandlungen von Rački und Kukuljević. Im 2. Jahrgang trat er aus der Theologie aus, um sich dem Lehrberuf zu widmen. Nachdem er zwei Jahre (1867—69) als Supplent am Warasdiner Gymnasium tätig gewesen war, wurde er 1869 von der kroatischen Landesregierung nach Wien geschickt, um dort Geschichte und Geographie an der Wiener Universität zu hören und die Lehramtsprüfung aus diesen Fächern abzulegen. In Wien studierte er bei Aschbach, Jäger, Lorenz und Sickel. Bei Aschbach lernte er die Methode kritischer Unter- suchung historischer Denkmäler, bei Sickel Paläographie, Chronologie und historische Diplomatik, bei Jäger österreichische Geschichte. Nach Ablegung der Professursprüfung in Wien (1873) wurde er zum Professor am Agramer Gymnasium ernannt. Als 1878 der Professor für kroatische Geschichte an der Agramer Universität Matija Mesić starb, wurde Klaić berufen, der 1879—82 als Supplent für dieses Fach fungierte. Nach Ernennung des älteren Smičiklas zum ordentlichen Professor für kroatische Geschichte mußte Klaić wieder in die Mittelschule zurückkehren. Doch zwei Jahre später (1884) wurde er wieder und zwar als Privatdozent fiir Geographie der Südslaven an die Universitat berufen. Als durch die Initiative des kroatischen Kultuschefs Kršnjavi eine zweite Lehrkanzel für allgemeine Ge- schichte errichtet worden war, wurde Klaić 1893 zum ordentlichen Professor für allgemeine Geschichte ernannt. In dieser Stellung war er 29 Jahre, bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1922 tätig. Während Nodilo, der die erste Lehrkanzel für allgemeine Geschichte innehatte, alte und mittelalterliche

292

Geschichte vortrug. trug Klaić neuere vor. Nach seiner Ernennung zum ordentlichen Professor an der Universität hatte Klaić endlich die Möglich- keit, sich ganz der Erforschung der kroatischen Gebiete zu widmen. Die jugoslavische Akademie ernannte ihn 1893 zum korrespondierenden, 1896 zu ihrem wirklichen Mitglied. 1922 wurde ihm von der Prager €echischen Universität das Ehrendoktorat verliehen.

‚Sein wissenschaftliches Arbeitsgebiet umfaßte die ganze kroatische Ge- schichte, und zwar politische, Kultur-, Sozial- und Rechtsgeschichte, ferner kroatische und jugoslavische Geographie. Methodisch gehört Klaić der positivistisch-kritischen Richtung an, und zwar war er ein Vertreter der en Schule. Seine literarische Tätigkeit begann Klaić als Hörer

er Wiener Universität mit Aufsätzen zur slavischen Geschichte (über den Gott Svetovit und über König Samo, Vijenac 1870) und von diesem Jahre an war er bis zu Ende seines Lebens, also 58 Jahre, unermüdlich literarisch tätig. Da es an einer Bibliographie der kroatischen Geschichtswissenschaft fehlt und ein Großteil der Zeitschriftenaufsäße von Klaić auch heute noch für den Historiker Wert besitzen, seien im Folgenden auch seine in Zeit- schriften verstreuten Aufsäbe aufgezählt: Zunächst veröffentlichte Klaić mehrere kleinere Studien zur älteren kroatischen Geschichte im Vijenac 1871—74: „Oporuka posljednjega Dr2islavica“, „Dmitar Svinimir, kralj hrvalski“, „Petar Kresimir IV. Veliki“ (alle drei 1874); „Smri kralja Svini- mira“, „Seoba Hrvata“, „Hrvatska Strata u Španiji“ (1872); „Deter Svačić, pösljednji kralj hrvatski“, „Pavao Šubić i sin mu Mladen“ (1873), „Matija Gubec“ (1874). In dieser Zeit war Klaié auch belletristisch tätig und ver- öffentlichte im Vijenac 1873—74, später auch in der ,Hrvatska Lipa“ Gedichte und Novellen. Im Jahre 1875 übernahm Klaić die Redaktion des belletristischen Organs „Hrvatska Lipa“, in dem er neben literarhistorischen Skizzen (über die Technik in dem Epos Smri Smail age Cengiéa, über den Vers der kroatischen Volkslieder) eine historische Studie: „Tomislav“ brachte. In den folgenden Jahren kehrte Klaić wieder zum Vijenac zurück und wir finden 1876—79 folgende historische und geographische Studien von ihm: „Grobničko polje“, „Potres Dubrovnika“, „Otok Brač“ (1876); „Simeon Veliki, car bugarski“, „Petar Veliki“, „Jajce u Bosni“ (1877). im gleichen jahr gab die Matica Hrvatska sein geographisches Werk „Prirodni zem- ljopis Hrvatske“ heraus, im folgenden Jahre seine große Geographie Bos- niens: „Zemljopis Bosne“. Im Vijenac 1878: „Tri crte iz hrvatske povijesti XII. stoljeća“, ferner geographische Aufsätze: „Nehaj grad u Arbaniji,, „Bitolj“, „Maglaj“, „Banjaluka“, „Travnik“, „Ključ“, „Trebinje“, die Auszüge aus seinem obgenannten geographischen Werk über Bosnien darstellen. Im Vijenac 1879: „Stjepan Kotromanié", ,Podatci za povijest grada Osijeka“. Daneben schrieb Klaić in den 70er Jahren und später in den 80er Jahren noch mehrere historisch-geographische Schulbücher. Nach langer Vor- bereitung erschien 1880—83, herausgegeben von der „Hieronymus-Gesell- schaft“ (DruStvo sv. Jeronima) Klaić’ historisch-geographische Beschreibung der kroatischen Länder „Opis zemalja, u kojih stanuju Hrvati“ in 3 Bänden. Der erste beschreibt Kroatien-Slavonien und die Militär- grenze, der zweite Band Dalmatien, der dritte die kroatischen Ansiedlungen in Ungarn, Österreich, Mähren und Süditalien. Das Werk wurde mit großer Freude aufgenommen und trug viel zur intensiveren Kenninis der einzelnen kroatischen Oebiete untereinander bei. Nach eingehender Erforschung der Quellen zur bosnischen Geschichte brachte Klaić 1882 die erste kritische Geschichte Bosniens heraus „Povijest Bosne“, die auch ins Deutsche und Ungarische übersetzt wurde und erst in neuester Zeit durch die Arbeiten Prelogs und VI. Corovié teilweise überholt wurde. Von politischer Be- deutung ward die Abhandlung „Slavonija od 10. do 13. stoljeća“ (Vijenge 1882), in der gegen die madjarische These nachgewiesen wurde, daß Slavo- nien schon vom 10.—13. Jahrhundert ein kroatisches Land war. Die Abhand- lung wurde auch von Bojničić ins Deutsche übertragen. 1885—90 war Klaić Redakteur des in jener Zeit führenden kroatischen Kulturorgans Vijenac. Hier brachte er neben ständigen Notizen über das kroatische wissenschaft- liche, künstlerische und literarische Leben auch eine Reihe weiterer Stu-

295

dien: „General Matija Rukavina u Trogiru“, „Pulj“ » „Rihard Wagner“ (1883), „Cetvrii srpanj 1848" „lme Srb“, „Blatno jezero“, „Hrvatska i srpska knji- Zevnost g. 1885", „Pred Novim Dvorom“, „Novela i roman u Hrvata“ (1885); 3 , „mena braće, Sto su toboZ Hrvate dovela na jug“, „Glazba u rba“

1886 veröffentlichte Klaić eine Karte Kroatiens, Slavoniens, Dalmatiens Bosniens und der Herzegovina, im gleichen Jahr gab die Hieronymus- Gesellschaft seine „Pripovijestiiz hrvatske povijesti“ (später durch zwei weitere Bändchen fortgesebt) eine populäre Darstellung der kroatischen Geschichte für weitere Volkskreise. Erwähnenswert sind auch die zahlreichen Biographien von Zeitgenossen (Franjo Markovié, Jos. Eug. Tomić, Janko Drašković u. a.), die Klaić als Redakteur des Vijenac veröffent- lichte. Von den Aufsätzen im Vijenac sind noch zu nennen: „Hrvatski knezovi u 13. stoljeću“ » „Uspomene na Nikolu Tordinca“ (1888); „Kako su Turci osvo- jili Požegu“ „„Borba za hrvatski pravopis“, „Slava na Gosposvetskom polju“ „Kosovo“, „Zivot za cara“, „Babinska republika“, „Priča o Čehu, Lehu i Mehu“ (1889); „ime Hrvat u historiji slavenskih naroda“, „Razboj na Krbav- skom polju“, „Ime Dubrovink“ (1890); ,,Crtice o Vrbovskom“, „Ivan Crnoje- vić, posljednji gospodar Zete“, „Velika i Bijela Hrvatska“ (1891); „Kako je postala pjesma: još Hrvatska ni? propala“ (1892), „Hrvati i Srbi“ (1893); „Ne3to o krsnom imenu“ (1895), „Ban Mladen II Šubić“, „Ban Pavao I Šubić“ (1897), daneben im gleichen Jahre kleinere Skizzen und Rezensionen. 1897 gab die Matica Hrvatska Klaić Buch „Bribirski knezovi od ple- mena Subićeva“ heraus, in der uns Klaić die Geschichte der Familie Šubić bis 1347 (in welchem Jahre die Familie Subié zu Fürsten Zrinski wurde) gibt. Die Geschichte der ebenso bedeutenden kroatischen Adelsfamilie Frankopan bis zum Jahre 1480 gab Klaić in dem Werke ,Krékiknezovi Frankopani“, herausgegeben 1901 von der Matica Hrvatska. Leider kam Klaić nicht mehr dazu, die beiden Monographien fortzusetzen bzw. zu vollenden. Einen Teil der im Vijenac erschienenen historischen Skizzen gab Klaić gesammelt in dem Buch „Slike iz slavenske povijesti“ (1903 Matica Hrvatska) heraus. Eine Sammlung der in verschiedenen Tages- organen erschienenen historisch-patriotischen Aufsäße übergab Klaié kurz vor dem Tode der Matica Hrvatska, die sie demnächst unter dem Titel »Crtice iz hrvatske povijesti“ herausgeben wird. Die ebenfalls von der Matica 1914 herausgegebene Monographie „Zivot i djela Pavia Rititera-Vitezorida“ gehört heute noch zu den besten kroatischen literar- und kulturhistorischen Arbeiten über die zweite Hälfte des 17. und erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als der vor kurzem ver- storbene Ivan Bojničić, zuletzt Direktor des kroatisch-slavonischen Landes- archivs (jet Staatsarchivs) in Agram* 1900 die historische Zeitschrift „Vjesnik kr. hrvatsko-slavensko-dalmatinskoga z e maljskog arkiva“ herauszugeben begann, gewann er in Klaić einen eifrigen Mitarbeiter. In diesem Organ brachte Klaié folgende Abhandlungen: „Porietlo banske časti“, „Hrvatski bani za narodne dinastije“, „Hrvatski bani za Arpadovića“ (I), dazu mehrere Notizen: „Criice o Vukovskoj župa- niji i o Djakovu u srednjem vijeku“, „Admirali ratne mornarice hrvatske g. 1358—1413“, „Povelja kralja Stjepana Dabiše, izdana Hrvoju Vukčiću g. 1392“ (ID; „O neupotreblienom dosad prilogu za povijest hrvatsku na početku XII słoljeća“; „Tri Sekelja, rodjaci Ivana Hunjada“, „Dubrovačka vlastela Zunjevici u Senju i Vinodolu g. 1477—1502“, „Dva priloga za povijest cisterè&anskoga samostana u Topuskom“, „Pismo ugarskoga kralja Ladi- slava I opatu montekasinskomu Oderiziju“ (IID; „Gradja za povjesnicu zagre- bačkih biskupa od g. 1433 do g. 1466“ (IV), „Pismo ninskoga biskupa Jurja Divnića papi Aleksandru VI, pisano u Lici 27. rujna 1493“ (v); „Pad Obrovca, Udbine i Jajca“ (VID, „Popis raine daće u Slavoniji g. 1543“, „Matija Kirinić (1746—1805) i njegov sinovac Valentin Kirinié (1783—1840)", „Kandidacija

* Uber Bojničić’ Leben und Werke vgl. Vjesnik Kr. Državnog Arkiva u Zagrebu, II (1926), S. 1 ff.

294

hrvatskom saboru za vladanja kuće Habsburg", „Osnutak mana-

55 epoglave i povijest njegova u XV. stolje&u“, „Povelja, izdana u Varaždinu 15. listopada od kneza i bana Ulrika Celjskoga za samostan Pavlina u Lepoglavi“, „isprava od 10. junija 1370, u kojoj se spominje sloboda dvanaest plemena hrvatskih“, „Darovnica Bernardina Frankopana za Mar- tina Ostreheriéa od g. 1481“ (IX); „Tužba Franja Taha protiv kmetova Sus- jedgrada i Donje Stubice“ (XD; „Savremeni opis zagrebačkoga požara od g. 1706“, „Zanimiva isprava od g. 1605“ (XID. Für die Geschichte des kroa- tischen Staatsrechtes wichtig ist die Abhandlung „Regnum Croatiae et Dal- matiae“ (ibid. XIII): „Prilozi za životopis Bartola Georgijevica, pisca o Tur- cima u XVI. stoljeću (XIID; „Pavao Zondinus i osnutak ugarsko- ilirskoga kolegija u Bologni g. 1553 do g. 1558", „Nekoliko priloga za povijest hrvatske pragmaticke sankcije od g. 1712“, „Smrit Gregorija Tepeciéa i njegovih dru- gova“ (XIV); „Prilog za povijest Poljica u XV. stoljeća“, „Dva priloga za povijest Isusovaca u Zagrebu“ (XVD.

In dem „Vjesnik Kr. Državnog Arkiva (1925—28, I—IIĎD ver- öffentlicht Klaić eine neue Monographie zur Geschichte der kroatischen Adelsgeschiechter „Hrvatsko pleme Kreščić ili Kriščić“ (1), ferner 2 Studien zur neueren kroatischen Geschichte „Borba za hrvatske prekosavske kra- jeve i njihova reinkorporacija g. 1814—22 IM), ferner ein auf die Reinkorpo- ration bezügliches Gedicht. Im Ill. und bisher letzten Band des Vjesnik brachte Klaić einen weiteren Beitrag zur Geschichte des kroatischen Staats- rechtes „Prilozi za historiju državnoga prava hrvaiskoga“.

Im Rad der Jugoslavischen Akademie erschien in der knj. 130 die kultur- geschichtlich heute noch 1 Studie „Hrvatska plemena od 12. do 16. stoljeéa. Im Rad 1 „Rodoslovlje knezova Krbavskih od plemena Gusić“; Rad 136: „O 5 Andriji“; Rad 142: Hrvatski hercezi i bani za Karla Roberta i Ljudevita I (G. 1301—82); Rad 157 die agrar- und sozialgeschichilich wichtige Abhandlung: „Marturina, slavonska daéa u srednjem vijeku“; Rad 199 eine weitere genealogische Studie: „Plemići Svetacki ili Nobiles de Zempche“; Rad 206 die staatsrechtlich wichtige Ab- handlung: ,,Hrvatska pragmaticka sankcija“; Rad 211 eine umfangreiche Ge- riae Kroatiens in der Zeit 1617—22: „Banovanje Nikole Frankopana

rža a“.

Weitere Abhandlungen Klaić’ finden wir im „Vjesnik Hr vatsk oga ArheoloSkoga Dru3tva“: „Croatia superior et inferior“ M; „Rodo- slovlje knezova Nelipiéa od plemena Svačić“ (ID; „Ime i porijeklo Franko- pana“, „O knezu Novaku g. 1346“ (IV); „Rimski zid od Rijeke de Prezida“ (V); „Gradja za topografiju li¢ko-krbavske Zupanije u srednjem vijeku“ (VI, VID; „Indagines i Portae u Hrvatskoj i Slavoniji“, „Castrum antiquum Paga- norum kod KaSine u gori zagrebačkoj“ (VID, „O krunisanju ugarskih Arpa- dovića za kraljeve Dalmacije i Hrvatske g.-1091—1207", tsko kra- ljevstvo u 15. stoljeću i u prvoj četvrłi 16. słoljeća“ (VID, „Topografske sitnice“ (IX), „Zanimljiv pečat hrvatskih banova Jurja Draškovića i Franje Frankopana“, „Krapinski gradovi i predaje o njima“ 0O, „Novi koledar u Hrvatskoj i Slavoniji“, „Prilozi za povijest grada Zeline“, „Zaključci hrvatskih sabora i njihova sankcija za prva tri Habsburgovca“ XD, „Episcopatus Ludrensis u Dalmaciji“ (XID. Eine kurze Darstellung der Geschichte Agrams beinhaltet die Broschüre „Zagreb“ 1918. Einen kulturgeschichtlich wertvollen Beitrag zur Geschichte des kroatischen Buchhandels bringt die Broschüre ,KnjiZarstvo u Hrvata“ (Zagreb 1922). Eine Geschichte der ung der Agramer Stadtverwaltung 1609—18 bringt das Buch „Status grada Zagreba“. Aus der Beschäftigung mit der histori- schen Geographie entstand 1898 der historische Atlas der kroatischen Länder. Die von Klaić ursprünglich auf 4 Bände berechnete und in Angriff ge- nommene kritische Gesamtdarstellung kroatischer Geschichte blieb leider ein Torso. Von dieser vorzüglichen ,Povijest Hrvata od najsta- rijih vremena do svrSetka XIX stoljeća“ erschienen 1899 bis 1911 fünf Bande, die die kroatische Geschichte bis 1608 bringen. Für dieses Werk wie für seine Abhandlungen verarbeitete Klaić neben dem bestehen-

295

vr BER Material auch zahlreiches neues, ungedrucktes archivalisches erial.

_ ‚Anläßlich der Jahrtausendjahrfeier des Bestandes des kroatischen König- reiches veröffentlichte Klaić in der Festschrift der Matica Hrvatka (Zbornik Matice o tisucoj godišnjici Hrvatskog Kraljevstva 1925) noch zwei Studien: »Narodni Sabor i krunisanje kralja na Duvanjskom polju“, ferner „Hrvatski sabori do godine 1870“, in der Festschrift der n Akademie (Zbornik kralja Tomislava Jugoslavenske Akademije) eine gründliche kritische Studie über L. Hauptmanns Arbeiten zur ältesien kroatischen Geschichte „Dva slovenska učenjaka o starijoj historiji Hrvata do 1102 godine“. In der Denkschrift des Akademischen Senates der Agramer Universität anläßlich der SOjahrigen Bestandsfeier gab Klaić eine eingehende Darstellung der Entstehung und Entwicklung dieser führenden kroatischen Kulturinstitution. Zu den lezten Studien Klaić’ gehört die Studie „Crvena Hrvatska i Crvena Rusija“ in dem seit 1927 wieder neu erscheinenden Hrvatsko Kolo der Matica Hrvatska (Knj. VIII, 1927)“.

Graz. J. Mati.

Cedomil Jakša (Dr. Jakov Cuka) f.

_ Am 1. November 1928 starb der unter dem Pseudonym Cedomil Jakša in der neueren kroatischen Literaturgeschichte bekannte Literaturkritiker. Jakša war ein Dalmatiner, geb. 1868 in Zaglava bei Zara. Nach Absolvierung des italienischen Gymnasiums und der Theologie in Zara und nach längeren Studien in Rom, wo er sich den juridischen Doktorhut holte, wirkte er zu- nächst als Kaplan in der Seelsorge, dann als bischöflicher Sekretär und als Professor am italienischen Gymnasium in Zara, dann als Kanonikus des Domkapitels daselbst. Nach dem Weltkriege übersiedelte Jak$a nach SHS. Da er als ausgezeichneter Kenner der kirchlichen Verhältnisse der katholi- schen Südslaven und ihrer Beziehungen zum Vatikan bekannt war, wurde er zu den Konkordatsverhandlungen in Beograd herangezogen. Als zwischen der jugoslavischen und der italienischen Regierung ein Einverständnis hin- sichtlich des Institutes des hl. Hieronymus in Rom hergestellt war, über- nahm Cuka die Leitung dieses Institutes. Cuka war literarisch in serbo- kroatischer und italienischer Sprache tätig und gehörte in der Zeit von 1887 bis 1905 zu den führenden Vertretern der kroatischen Literaturkritik. Eine große und gründliche literarische Erudition, eine vorzügliche Kenntnis der westeuropaischen, vor allem italienischen Literatur, ferner eine genaue Ver- trautheit mit den grundsäßlichen ästhetischen und literatur-kritischen Fragen befähigten ihn, durch seine Kritik die Literaturentwicklung und die literarische Bewertung durch Jahrzehnte hindurch entscheidend zu beeinflussen. Seine literarischen Arbeiten sind in verschiedenen Zeitschriften verstreut. Seine kritische Tätigkeit begann er 1887 im Narodni List, und von da an finden wir seine Abhandlungen und Referate über ältere und neuere kroatische Dichter, über italienische Literatur des 19. Jahrhunderts, über russische Lite- ratur, über französische Literatur, über Nietzsche, über die Theorie der literarischen Kunst und der Literaturkritik, in allen führenden kroatischen Literaturzeitschriften: Iskra (Zara), Novi Vijek, Prosvjeta, Vijenac, Nada, Zivot. Von literarhistorischer Bedeutung wurden vor allem seine kritischen Abhandlungen über die kroatischen Realisten, so über Kumičić, Kovačić, Gjalski. Sein Verdienst war es, daß er in einer eingehenden kritischen Untersuchung der damaligen kritiklosen Verherrlichung des kroatischen Pseudonaturalisten Kumičić ein Ende machte. Methodisch war ihm Vorbild Sainte-Beuves psychologische Kritik, die versucht, im künstlerischen Werke und durch das künstlerische Werk den Dichter zu enidecken. Weltanschau- lich gehörte er der katholischen Richtung Brunetiéres an. Dauernden Wert besitzen auch seine Studien über die kroatische Dorfnovelle und über den

* Uber Klaić vgl. R. Horvat, Nastavni Vjesnik XXXVII (1928), S. 3—19; ferner J. Nagy, Savremenik XXI (1928), S. 273—77.

296

kroatischen Roman. In dem Kampf der Jungen und Alten beim Beginn der sogenannten Moderne in der kroatischen Literatur nahm er eine Vermittler- rolle ein, weltanschaulich stand er auf Seite der Alten, Konservativen. Geistesgeschichilich gehört er zusammen mit dem Dichter Tresić und dem katholischen Dichter Marin Sabié zu den Führern der idealistisch- romanischen Bewegung romanisch wurde die Bewegung deshalb bezeich- nel, weil in ihr die Einflüsse des zeitgenössischen französischen und italie- nischen geistigen und literarischen Lebens idealistischer Richtung enti- scheidend waren —, die in der Zeitschrift Novi Vijek (Spalato 1897) ihr geistiges und literarisches Zentrum fand.

(Eine eingehende Analyse der literatur-kritischen Arbeiten Jak3as gab sein Landsmann, der dalmatinische Literarhistoriker Ante Petravié, in seinen Treée Studije i portreti, Split 1917, S. 11—36.)

Graz. J. Mati.

297

Digitized by Google

OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBÜCHER

FÜR

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

*

N. f. BAND v. HEFT Ill 1929

PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG

BRESLAU, RING 58, UND OPPELN

Beiträge und Mitteilungen sind zu richten entweder an das Osteuropa-Institut in Breslau oder an die Anschrift des Schriftleiters: Prof. Dr. Erdmann Hanisch, Breslau 15, Körnerstraße 5/7.

| ABHANDLUNGEN

DIE NIEDERE VOLKSGERICHTBARKEIT UNTER DEN SLOVENEN VON ENDE DES 16. BIS ANFANG DES | 19. JAHRHUNDERTS’)

Von Dr. Method Dolenc, Ljubljana (Laibach).

Inhaltsangabe: l. Einleitung: 8 1. Bergtaidinge als autonome Volksgerichte. § 2. Andere Volksgerichte. Il. Außere Organisationder Volksgerichte. § 3. Zahl und Zeit der Bergtaidinge nach den Bestimmungen der Bergrechtsbichel. 8 4. Zahl und Zeit der Bergtaidinge in der Praxis. 85. Ort der Abhaltung der Bergtaidinge. § 6. Pflicht der Teilnahme an den Bergtaidingen. § 7. Die übrigen Volksgerichte. Ill. Innere Organisation der Volksgerichte. A. Die Bestimmung der Bergrechtsbüchel. § 8. Allgemeine Charakterisierung. 8 9. Bestimmungen des Originals des Bergrechtsbüchels. § 10. Bestimmungen der slovenischen Uber- sekungen. B. Die Bergtaidinge in der Praxis. 3 11. Der Bergherr. § 12. Die Richter. § 13. Der Bergmeister. 8 14. Die Suppane. 8 15. Die Referenten. 3 16. Protokollführer. 8 17. Andere Hilfsorgane des Bergherrn. C. Unterschiede bei den übrigen Volksgerichten. 8 18. Billich- und Quatemberrechte. § 19. Unparteiisches Recht. IV. Zuständigkeit der Volksgerichte. 3 20. Nach den Bergrechtsbücheln. § 21. In der Praxis. V. Verfahren bei den Volksgerichten. 8 22. Prozeßeinteilung. § 23. Haupigrund- sabe des Prozeßverfahrens. 8 24. Höhere Instanzen. 3 25. Die Ent- wicklung in der Praxis.

1) Abkürzungen: ČZN. = Časopis za zgodovino in narodopisje (Zeitschrift für Geschichte und Volkskunde), Maribor (Marburg a. d. Drau); IMD. = Izvestja Muzejskega DruStva za Kranjsko (Mitteilungen des Museal- vereins für Krain), Ljubljana (Laibach); LMS. Letopis Matice Slovenske Jahrbuch der Slovenischen Matica), Ljubljana; ZZR. = Zbornik znanstvenih razprav, izdaja Profesorski Zbor juridiène Fakultete (Sammlung wissen- schaftlicher Abhandlungen, herausgegeben vom Professorenkollegium der Juridischen Fakultät der Universitat Laibach), Ljubljana; BRB. Bergrechts- büchel aus dem Jahre 1543 (Vgl. Anm. 2); Beradt. BO. Beradihschlagte Perkrechtsordnung aus dem Jahre 1595; BT. = Bergtaiding; U. Übersebung;

299

I. Einleitung. 81. Bergtaidinge als autonome Volksgerichte.

Anton Mell ist es zu verdanken, daß wir nunmehr über die Enistehungsgeschichie der Bergartikel Ferdinands I. vom 9. Februar 1543 genau informiert sind?). Unter ihren Vorgängern, den Aufzeich- nungen der gewohnheitsrechtlich entstandenen Bergrechisregeln, be- findet sich auch eine Handschrift in der Laibacher Studienbibliothek, die wohl in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrh. entstanden isi*). Sie bietet uns den urkundlichen Beweis dafür, daß auch auf dem Ge- biete, dessen breite Volksschichten Slovenen gebildet haben, schon vor dem Jahre 1543 eine Volksgerichtsbarkeit in Weinbergsachen geübt wurde‘). Die Bestätigung des BRB. ist von den steirischen

slov. = slovenisch; Rezl-U. slov. U. des BRB. von Andreas Rezl aus dem J. 1582 (veröffentlicht von V. Oblak, Starejši slovenski teksti, LMS. 1889, S. 180—191, und von A. Koblar, Slovenica, IMD. IX, 1899, S. 147—158); Kapsch-U. slov. U. des BRB. von I. Kapsch aus Reitienburg aus d. J. 1683 (beschrieben und teilweise [Art. 25—341 veröffentlicht von V. Oblak, a. a. O., S. 199—201, Layb.-U. slov. U. des Laibacher Domkapitelbeamten Hans Laybasser aus dem Jahre 1646; Stud. B.-U. = slov. U., entstanden um 1639, verwahrt in der Laibacher Studienbibliothek (veröffentlicht von V. Oblak, Trije rokopisi slovenski, LMS. 1887, S. 298—305); Mus.-U. = slov. U., entstanden im 18. Jahrh, verwahrt im Laibacher Nationalmuseum; Wagensb. Torso = slov. U. der ersten 16 Artikel des BRB., Fundort Wagens- berg; Wagensb. Exc. stark gekürzte slov. U. des BRB., Fundort Wagens- berg; letztere beide entstanden Mitte des 18. Jahrh., beide veröffentlicht von M. Dolenc, in der unten S. 347, Anm. 106 angeführten Abhandlung, S. 101 bis 104; Weißenst.-U. slov. U., entstanden vor 1781, bei der Herrschaft Weißen- stein a. d. Save, aufbewahrt im Laibacher Nationalmuseum; Ain.-U. = slov. U., entstanden bei der Herrschaft Ainödt a. d. Gurk in der ersten Hälfte des 18. Jahrh.; Obermurg.-U. slov. U., entstanden im Übermurgebiete zwischen 1807 und 1811, auszugsweise gedruckt im Kalendar Najszvetesega Szrca Je- zusovega na 1912. leto, Szombathely, 1912; Hoff-BRB. = deutsche U. der slov. Mus.-U., gedruckt in Heinrich Georg Hoff, Gemahlde vom Her- zogthume Krain, Laibach 1808, II. Bd., S. 17—31. Näheres über die an- geführten slovenischen Übersekungen des Bergrechisbiichels in den Ab- handlungen von M. Dolenc, Pravni izrazi v prevodih gorskega zakona (Die juridische Terminologie in den Übersetzungen des Bergrechtsbüchels), Casopis za slovenski jezik, knjiZevnost in zgodovino (Zeitschrift für slo- venische Sprache, Literatur und Geschichte), Il, Ljubljana 1920, S. 72—91, Dokedaj so veljale „Gorske bukve“ na Slovenskem? (Wie lange war das „Bergrechtsbüchel“ in Slovenien in Geltung?), ČZN. XX, 1925, S. 113—119; Kmeéko dedno nasledsivo za éasa veljavnosti gorskih bukev (Die bauer- i zur Zeit der Geltung des Bergrechtsbüchels), CZN. XXII, 1927, ; —148.

2) Anton Mell, Das Steirische Weinbergrecht und dessen Kodifikation im jahre 1543: Akad. d. Wissensch. in Wien, Philos.-hist. Kl., Sitzungsberichte, 207. B., 4. Abh., 1928. Vgl. auch desselben Grundriß der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Steiermarks, Heft 1/2, Graz 1929, S. 63 f.

3) Vgl. Mell, Weinbergrecht, S. 58—60. Der Text ist veröffentlicht von F. Bischoff und A. Schönbach, Steirische und kärnthische Tai- dinge, Österreichische Weisfümer VI, Wien 1881, S. 411 f.

_ _4) Das Vorhandensein weinbergrechtlicher Bestimmungen wird für alle fünf „niederösterreichischen Lande“ (Nieder- und Oberösterreich, Steier- mark, Kärnten und Krain) vorausgesetzt in „Der Fünf niderösterreichischen

500

Landständen erst nach elfjährigem Bemühen der Regierung in Wien abgerungen worden®). Selbstredend galt das BRB. vorerst nur für Steiermark. Allein seine Geltung griff auf Grund der Bestimmun- gen der 1460 von Kaiser Friedrich Ill. bestätigten und ergänzten Land- handfeste für Krain (erlassen 1338 von Herzog Albrecht II.) selbst- tätig auch auf dieses Land samt seinen Annexen (Windische Mark, Karst, Istrien) über®).

Tatsächlich kennen wir eine sozusagen wortliche slovenische Übersetzung der gedachten Bergartikel, die im Jahre 1582 Pfarrer Andreas Rez! aus Arch bei Landstraß (Markt in Unterkrain) besorgt hat). Die Annahme, daß die Bergartikel für Steiermark alsbald auch in Krain galten, findet hierdurch in bester Form ihre Bestätigung. Nun haben die Landstände von Krain im Jahre 1595 allerdings eine „Beradihschlagte Perkrechtsordnung für Krain, die windische Mark, Histerreich und Kharsf“ entworfen, wie aus einer privaten Aufzeichnung des Laibacher Domkapitelsbeamten Hans Lay- basser ersichtlich ist). Auch in dem Grazer Joanneum habe ich einen Teil dieser neuen Bergrechtsordnung einen Torso von 18 Artikeln gefunden und mir abgeschrieben®). Zwei slovenische Geschichts-

Lannde und Fürstlichen Grafschaft Görtz Vergleichung etc. Anno MDXXXII (sc. 9. Okt. 1532)“ (Druck o. O. u. J.). Einzelne, auf die Organisation der Gerichtsbarkeit in Weinbergsachen bezügliche Bestimmungen bietet auch Das Urbarium der Herrschaft Gottschee vom Jahre 1574, (auszugsweise) veröffentlicht und erläutert von P. Wolsegger, Mittheilungen des Museal- vereines für Krain Ill, Laibach 1890, S. 140-183, IV, 1891, S. 13—45 (a. a. O. IV., S. 28 f.), das jedenfalls aus älteren, wahrscheinlich in die Zeit vor der Verbreitung der Bestimmungen des BRB. zurückgehenden Quellen schöpft (vgl. Wolsegger, a. a. O. Ill, S. 140f.), zumal seine weinbergrechtlichen Bestimmungen von diesen unabhängig zu sein scheinen.

) Siehe Anton Mell, Weinbergrecht, S. 73 fl.: Arnold Luschin v. Ebengreuth: Österreichische Reichsgeschichte (Lehrbuch), Bamberg 1896, S. 353. Vgl. A. Luschin v. Ebengreuth, Handbuch der öster- reichischen Reichsgeschichte EZ, Bamberg 1914, S. 158.

*) Vgl. bezüglich der Landesgerichtsordnung für Steiermark von 1574 Hugo Hoegel, Geschichte des österr. Strafrechts, I., Wien 1904, S. 34, 35.

7) Rezl-U. Die ganz geringfügigen Abweichungen müssen auf lapsus calami zurückgeführt werden.

.) Die Handschrift Laybassers stammt aus dem Jahre 1646 und ist u. W. in deutscher Sprache noch nirgends behandelt worden. Sie enthält For- mularien und andere Aufzeichnungen für den praktischen Gebrauch. Den Text der Beradt. BO. bringen wir im Anhang 1 (unten S. 357).

Es geschah knapp vor dem Ausbruche des Weltkrieges. Die Ab- schrift befindet sich noch in meinen Händen und deckt sich vollkommen mit den ersten 18 Artikeln der Beradt. BO. aus dem Jahre 1595. Die Urkunde zu zitieren bin ich außerstande, weil meine Aufschreibungen bei den fol- genden Ubersiedlungen zum großen Teil abhanden gekommen sind. An- merkung der Redaktion: Die Auffindung des Textes ist trok mehr- facher Bemühungen verschiedener Grazer Fachleute bisher nicht gelungen. Daß er vorhanden ist, wird von Herrn Hofrat Univ.-Prof. Dr. Anton Mell bestätigt. H. F. Schmid.

20 NF 5 501

forscher Gruden und Verhovec —:° glaubten, in der ge- dachten Beradt. BO. der Landstände in Krain ein regelrechtes Gesch erblicken zu müssen. Meine eingehenden Nachforschungen in den verschiedenen Archiven von Wien, Graz und Laibach haben keine Be- stätigung dieser Annahme gefunden. Sie erscheint übrigens auch dadurch entkraftet, daß weitere in Krain entstandene slovenische Übersekungen der Bergrechtsartikel aus der Zeit nach 1595 der Fas- sung aus dem Jahre 1543 und nicht jener der Beradt. BO. von 1595 folgten und sich direkt auf steiermärkische Verhältnisse beriefen, was im Fall der Promulgierung eines neuen Gesetzes für Bergrechtssachen in Krain bestimmt nicht vorgekommen wäre.

Hierbei ist allerdings noch eine andere, bedeutungsvolle Tatsache zu konstatieren: Während das deutsche Bergrechtsbüchel wiederholt im Drucke erschienen ist und bei seinem ursprünglichen Texte ver- blieb (nur valutarische Beträge wurden zeitgemäß abgeändert), diffe- rieren die zehn bisher bekannten slov. Übersekungen der Bergrechis- artikel sowohl vom Originaltexte, als auch untereinander. Dies konnte nur die Folge des Umstandes sein, daß die Ubersefer, die ja ihre Übersekungen zu verschiedener Zeit in verschiedenen Gegenden an- fertigten, notgedrungen den Wünschen ihrer Bergherren folgen muk- ten; allein sie konnten dabei keineswegs die gewohnheitsmäßig ein- hergehende Entwicklung des Volksrechfes unbeachiet lassen. Waren doch diese Übersesungen dazu bestimmt, zu Beginn der Bergtaidinge!) nach Art eines Weistums verlesen zu werden! Dies wird in einigen slov. U. am Anfange des Textes auf das deutlichste vorgeschrieben. Nun waren aber die Bewohner auf den Weingebirgen Krains durch- aus nicht geneigt, sich willkürliche Anderungen der Bergartikel ohne weiteres gefallen zu lassen:). Darüber sind wir aus einer zweiten, noch viel wichtigeren Quelle des Gewohnheitsrechtes genauer infor- miert: aus den Protokollen, die über die Vorkommnisse auf den Volksgerichten berichten. Sie sind in deutscher Sprache verfaßt, nur hier und da sind slov. Worte oder Sage, auch ganze Eidessprüche eingestreut worden. Diese Protokolle geben uns, da sie aus ver- schiedenen Herrschaften (Deutsche Rittersordenresidenz in Rudolfs- wert, Zisterziensergrundherrschaften in Landstraß und Klingenfels, Jesuitenresidenz in Pletriach, Herrschaft Ainödt, Seisenberg und

10) Josip Gruden; Slovenski župani v preteklosti (Die slovenischen Zupane in der Vergangenheit), Ljubljana 1916, S. 63; Ivan Vrhovec, Gorski zakon in gorske pravde (Das Weinberggese und die Bergtaidinge), IMD., VII., 1897, S. 37—41, 69—77, 101—110, 145—151.

_ 11) Das Hauptwort Bergtaiding (Perktading, perktaiding, perktiding) ist im BRB. bald sächlichen (Art. 1), bald weiblichen Geschlechts (Art. 14).

13) Alfred Fischel, Das österreichische Sprachenrechi?, Brünn 1910 (S. XX), prägte das Wort, in Krain habe „die dumpfdahinbrütende Masse der untertänigen Bauern für das öffentliche Leben der Alpenländer nichts bedeutet“, nimmt aber den Gebrauch der slov. Sprache bei den Dorfge- richten dennoch an. Die nachstehenden Ausführungen werden dartun, daß von einer Charakterisierung der slov. Bauernschaft als „dumpfdahinbrütende Masse“ keine Rede sein kann.

502

Weißenstein) und auch aus verschiedenen Jahrhunderten stammen, die verlaBlichste Auskunft darüber, welches Verhältnis zwischen den Bergherren und ihren Untertanen herrschte). Vorweg sei betont, daß insbesondere in der Zeit bis etwa Anfang des 18. Jahrh. die Untertanen ihre Autonomie voll zu wahren wuBten und wiederholt sich selbst zu Richtern in Prozessen zwischen ihren Bergherren und deren Untertanen aufgeworfen haben. Zur Zeit der französischen Revolution haben sie sich sogar selbsiherrlich das Bergrechtsbüchel nach eigenem Geschmacke umgewandelt, ohne daß irgendeine Be- horde dagegen Stellung genommen häte).

82. Andere Volksgerichte.

Wir haben gesehen, daß sich in den slovenischen Weinberg- gebieten das auf fränkischen Ursprung hinweisende Institut der BT. zähe erhalten hat. Wie noch ausführlicher zu erörtern sein wird, befaßten sich diese BT. mit allgemeinen Verwaltungsfragen sowie auch mit der Rechtssprechung; allerdings nur in Ansehung der unter den Bergstab fallenden Angelegenheiten. Wenn erwogen wird, daß in Unterkrain etwa die Hälfte des produktiven Bodens dem Weinbau gewidmet war, so kann es nicht wundernehmen, daß sich das Volk auch dort die niedere Gerichtsbarkeit nicht aus den Händen ent- winden ließ, wo es sich um andere als Weinbergsachen handelte.

So sind also neben den Bergtaidingen noch lange die sogenann- ten Quatemberrechte lin den Gebieten von Landsirag, Ple- triach, Stein und Veldes) sowie Billichrechte (in den Gebieten von Landstraß und Pletriach) erhalten geblieben. Die ersten waren die Nachfolger der alten Wotschengerichte*), deren Existenz Anton Kaspret für das 15. und 16. Jahrh. in Südsteiermark, Krain und Küstenland urkundlich nachgewiesen hate. Sie hatten Streitigkeiten aus dem gewöhnlichen Leben der Burgfriedieute zu schlichten.

18) Vgl. über diese Quellen die Abhandlungen von M. Dolenc, Pra- vosodsivo kostanjeviške opatije v letih 1631 do 1635 (Die Rechtspflege in der geistlichen Landgerichtsherrschaft Landstraß in Unterkrain in den Jahren 1631 1655), ČZN. XI, 1914, S. 33—66, Pravosodstvo pri novomeškem inkor- poriranem uradu nemškega viteškega reda v letih 1721 do 1772 (De iuris- dictione apud Rudolfsvertense incorporatum officium Ordinis equestris Teutonici annis MDCCXXI—~MDCCLXXID, ZZR. I, 1920/1921, S. 22—100, Pra- vosodsivo cistercienske opatije v Kostanjevici in jezuitske rezidence v Ple- terju od konca 16. do konca 18. stoletja (La jurisdiction de l'abbaye de Cisterciens à Kostanjevica ILandstrass] de la fin du 16ème à la fin du 18ème siècle et de la Résidence des Jésuites à Pleterje [Pletriachl), ZZR. II, 1923/1924, S. 1—118 (franz. Résumé S. 116—118), Pravosodstvo klevevške in boStanjske graščine od konca 17. do začetka 19. stoletja (La cour de justice populaire auprès des seigneurs de Klevevž I[Klingenfelsl et Boštanj [Weißen- stein] depuis la fin du XVlle jusqu'au commencement du XIXe siècle), ZZR. V, 1925/1926, S. 153—247 (franz. Résumé S. 246 f.).

14) Siehe Anhang Il.

15) „Wötsche“ aus slov. ve ča, urslav. *vétja „Ratsversammlung“. Vgl. serbokroat. vijeća und (mit anderem Suffix) altbulg. véSte, russ. véée, ukrain. viče, poln. wiec (le), čech. věce.

19) Vgl. A. Kaspret, O veéah, ČZN. IV, 1007, S. 214—222.

805

Die Billichrechte fungierten als Kausalgerichte in Gegenden, wo das Vorkommen der Billiche (Siebenschlafer, myoxus glis) in großen Massen eine besondere Regelung der aus der Jagd auf dieses Tierchen sich ergebenden Divergenzen heischte.

Über die Gerichtsbarkeit der Quatember- und Billichrechte sind wir gleichfalls aus den Protokollen der Grundherrschaften informiert. Sie wurden in dieselben Folianten aufgenommen, in denen die Berg- taidingsprotokolle eingetragen worden sind. Nur für die Veldeser Herrschaft ist die Ausnahme zu konstatieren, daß sie für die ersten 20 Jahre des 17. Jahrh. in den Protokollen des Grundobrigkeits- gerichtes bloß Erwähnung fanden.

Wenn sich auch die Quatember- und Billichrechte nicht so lange erhalten haben wie die Bergtaidinge, so kann dennoch festgestellt werden, daß auch bei ihnen das Rechtsbewußtsein des niederen Volkes als die einzige Rechtsquelle für Prozeßentscheidungen in Frage kam, wofür allerdings das Vorbild der Gerichtsbarkeit auf den Bergtaidingen von ausschlaggebender Bedeutung war.

ll. Außere Organisation der Volksgerichie.

83. Zahl und Zeit der Bergtaidinge nach den Bestimmungen der BRB.

Im Originaltexte des BRB. aus dem Jahre 1543 steht die Bestim- mung, die Bergtaidinge miissen jedes Jahr zwischen Ostern und Pfingsten an jenen Orten abgehalten werden, wie es von alters her gewohnlich gehalten wurde; in dieser Beziehung darf ohne besondere Ursache nichts abgeändert werden?]. Die Erfordernisse des echten Taidings (Tage-Dings) sind dadurch deutlich hervorgehoben, nur wurde mit Rücksicht auf die dem Bergstab untertanigen Personen dieses Taiding zu einem Bergtaiding gestempelt.

Die älteste slov. Ubersetzung der Bergartikel (1582) blieb bei der einmaligen Abhaltung der Bergtaidinge!®). Die Beradt. BO. aus dem Jahre 1595 ordnet eine jährlich zweimalige Abhaltung der BT. an, wie es gewohnheitlich feststeht: das erste Mal zwischen Ostern und Pfingsten, das zweite Mal im Herbste, und dies am Orte, wie es nach alter Gepflogenheit geübt wurde**). Die Ubersetzung des Johann Lay- basser (1646) folgt der Beradt. BO. Kapsch-U. bleibt bei der Zwei- zahl der Taidinge im Jahre, gibt aber die Reihenfolge umgekehrt an. In der Stud. B.-U. heißt es, obwohl in ihrer Anschrift die Geltung dieser Bergrechtsartikel für Steiermark, Krain und Kärnten an- gegeben wurde, die Bergtaidinge sollen einmal im Jahre, und zwar zwischen Ostern und Pfingsten gehalten werden, wobei jedoch die Bestimmung aus dem Urtext betreffend das Verbot der Abänderung

17) Art. 1, Mell, Weinbergrecht, S. 109. 8 18) Rezi-U. Art. 1, ed. Oblak, a. a. O. S. 181, ed. Koblar, a. a. O. . 147.

10) Beradt. BO. Art. 1, unten Anhang I.

504

der Dingstätte nicht übernommen wurde*). Wörtlich wurde der Ur- text in die slov. Übersekung übernommen, die sich im Laibacher Nationalmuseum befindet und im 18. Jahrh. doch vor dem Jahre 1781 entstanden ist (Mus.- U.); auch der Saf bezüglich der Ding- Stätte fand hier seinen Platz. [Nach dieser slov. U. hat Heinrich Georg Hoff, Gemählde vom Herzogthume Krain (1808) die Berg- artikel ins Deutsche übersebt, ohne den deutschen Urtext gekannt zu haben.) Im Schlosse Wagensberg, dem ehemaligen Herrschaftssige des berühmten Verfassers der „Ehre des Herzogtums Krain“ namens Johann Weikhard Valvasor, wurden zwei handschriftliche Ubersebun- gen gefunden, die eine blieb beim Artikel 16 stehen, die andere kürzte den Text in einer Weise, daß nicht einmal die Hälfte des In- halts der Artikel blieb und auch deren Umfang auf ein dürftiges Konzept zusammengeschrumpft ist. Sicherlich wurde auf den BT. nur der zweite gekürzte Text verlesen. Beide entstanden in der Zeit von 1744—1781. Im Wagensb.-Torso heißt es: In Steiermark oder anders- wo sollen die Bergtaidinge einmal im Jahre, oder wie es Gebrauch ist, gehalten werden"); im Exzerpt findet diese Bestimmung überhaupt keine Erwähnung mehr. Im Weißensteiner Manuskript (aus dem 18. Jahrh., Verfasser unbekannt) wird angeordnet, daß die Bergtai- dinge in jedem Weingebirge je zweimal im Jahre, das erste Mal im Herbste, das andere Mal zwischen Ostern und Pfingsten abzuhalten sind. Die Übersekung, die im Schlosse Ainödt (an der Gurk) ge- funden wurde und aus der Zeit Mitte des 18. Jahrh. stammt, ohne den Autor zu verraten, enthält die Wendung, der Bergherr habe ein jedes Jahr das BT. abhalten zu lassen und dürfe es niemals absagen. Die zehnte Übersekung, die für das Über-Mur-Gebiet galt und von un- bekannten Verfassern Anfang des 19. Jahrh. angefertigt wurde, ver- langt eine dreimalige Abhaltung des Bergtaidings in jedem Jahre, und zwar am Tage des hl. Martin (11. Nov.), zu Lichtmeß (2. Febr.) und am Tage des hl. Georg (24. April); der Bergmeister (hegymester) hat die Pflicht, die Leute hierzu zusammenzurufen??).

84. Zahl und Zeit der Bergtaidinge in der Praxis.

Aus den vorstehenden, mit Gesegeskraft ausgestatteten Bestim- mungen geht es klar hervor, daß das BRB. nicht als ein unabänder- liches Gesek aufgefaßt, sondern daß in dieses alles das hineingefügt wurde, was man nach dem Gewohnheitsrechte für billig gehalten hat, ohne daß es für die verschiedenen Gegenden unbedingt gleich lauten

20) Stud.-B.-U. Art. 1, ed. Oblak, a. a. O. S. 298. 21) Wagensberg-Torso Art. 1, ed. Dolenc, a. a. O. S. 101.

_ 33) Das Gottscheer Urbar von 1574 schreibt u. d. T. „Perckhrechts be- sisung“ (ed. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 29) vor: Das Perckhrecht bey hievor beschribnen Pergen besitzt jarlich ain Innhaber der Herrschafft Gotschee oder von seinefwegen ain Pfleger und Ambtschreiber mit allen Perckhgenossen unnd wirdet solch Perckhrecht alle Jar im Monet September am Suntag nach khlain unnser Frauentag (8. Sept.) gehalten.

805

müßte. Die Bergtaidingsprotokolle bieten uns viele Beweise, daß sich die Praxis keineswegs verpflichtet hielt, die geseblichen Vor- schriften einzuhalten. Schon die ältesten Protokolle des Landstraßer Zisterzienserklosters, die uns vom Jahre 15% an erhalten blieben, zeigen, daß die Bergtaidinge in einigen Gegenden einmal, in andern zweimal im Jahre abgehalten wurden. Also 60 Jahre nach der Gesek- werdung des BRB. bestand unter demselben Bergstab keine Einheit- lichkeit der Praxis mehr. Unter dem Klingenfelser Bergstab, aller- dings 100 Jahre später, wurde die zweimalige Abhaltung der BT. im Jahre beinahe zur Regel. Auch unter dem Bergstabe der Auersperger Herren in Seisenberg sind zu Anfang des 17. Jahrh. die meisten BT. noch zweimal im Jahre abgehalten worden.

In den ersten Dezennien des i8. Jahrh. machte sich jedoch schon die Tendenz der Bergherren stark bemerkbar, die Anzahl der. Berg- taidinge einzuschränken. Dies wurde zum Teil auf diese Weise in die Wege geleitet, daß mehrere benachbarte Weingebirge, die ehe- mals jedes für sich ihr BT. abzuhalten berechtigt waren, zu einem einzigen zusammengelegt wurden, zum Teil wurden aber einige Berg- taidinge auch ohne weiteres ohne Ersak abgeschafft. Allerdings mag mit Recht der Umstand als Begründung ins Treffen geführt worden sein, daß einzelne Weingebirge ein ungenügendes Erträgnis ab- warfen und in andere Kulturarten umgesebt wurden.

Allein die Weingärtner haben, wie uns einige Protokolle dartun, der Verringerung der . Anzahl der Bergtaidinge bemerkenswerten Widerstand geleistet. Im Klingenfelser Gebiete verlangten sie noch im Jahre 1767 und erreichten auch, daß die bereits eingestellten Berg- taidinge wieder abgehalten wurden. Wiederholt wurde der Wunsch der Weingariner protokolliert, man soll die Bergtaidinge regelrecht abhalten. Einmal, am 4. März 1771, wurde verlangt, daß deren Zahl auf vier vermehrt werden solle, so daß sie in jeder Quatemberwoche abzuhalten wären. Ein anderes Mal (16. März 1767) haben die Wein- gariner, der Verfügung des Bergherrn zum Trob, die Bergtaidinge nicht mehr abzuhalten, beschlossen, daß am Tage des hl. Michael alle, die das Bergrecht zu entrichten haben, aus eigenem Antriebe er- scheinen und ihren Gerichtstag abhalten sollen.

In der Zeit nach Josef Il. haben die Bergtaidinge in vielen Ge- genden zu bestehen aufgehört, doch erhielten sie sich. im Klingen- felser Gebiet bis 1804, unter dem Bergstab von Ainodt sogar bis 1843, allerdings mit der wesentlichen Einschränkung, daß es voll- ständig im Belieben der Bergbehörde stand, wann und wo, sowie für welche Gebiete immer es ihr beliebte, das BT. zusammenzuberufen. Dies wurde auf dem Bergtaiding der Herrschaft Ainodt am 14. Sep- tember 1784 sogar als Befehl des Bergherrn zur Kenntnis genommen, ja die Weingärtner haben der Bergbehörde für die Abhaltung des BT. dessenungeachtet wiederholt Dank ausgesprochen. Zu dieser Zeit kam es bezeichnenderweise zu einer Umbenennung der Berg- taidinge. Sie wurden schon vorher im Laufe der Jahrhunderte Berg- datting, Bergtäding, Bergdeutung geheißen, offenbar in Unkenntnis

506

der Herkunft des Ausdruckes Bergtaiding. Nun zeitigte die Un- kenninis eine ganz falsche Vorstellung: das BT. ist zu einer „Berg- raittung“ geworden, als ob es zu einer rechnerischen Auseinander- setzung bestimmt wäre. Erst das allerletzte Protokoll vom 29. Sep- tember 1843, abgehalten in der Herrschaft Ainodt, bekam wieder die Bezeichnung „Bergfaiding“ ).

Nach dem Wortlaut des Urtextes sollten fur die Zusammensetzung und Tagung der BT. im Rahmen der Bestimmungen des BRB. die alten Gewohnheiten maßgebend sein. In der Praxis hat man daran lange zähe festgehalten, und doch sind im Laufe der Zeit die Tage des BT. ganz außerhalb des gedachten Rahmens geraten. So wurden im Klingenfelser und Seisenberger Gebiet die Bergtaidinge schon in den Wintermonaten Anfang des Jahres, also vor Ostern, ab- gehalten, im Landstraßer Gebiet aber im Hochsommer, nämlich am 10. August, und wurde deshalb das BT. nach dem Tagesheiligen „St. Laurenzenrecht“ genannt. Ähnlicherweise hieß im Seisenberger Gebiet das BT. nach der hl. Gertraud (17. März) „das Gertraudisrecht“. Mit gutem Grunde kann angenommen werden, daß diese BT. schon vor 1593, vielleicht schon seit Jahrhunderten an den Tagen dieser Heiligen abgehalten wurden, und daß dies auch das BRB. nicht ab- zuschaffen vermochte.

Wenn der Tag des BT. entgegen der altgepflogenen Gewohnheit abgeändert wurde, mußte dies besonders verlautbart werden. Dar- aus entwickelte sich gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh. die Gewohnheit, daß jedes BT. öffentlich verkündet wurde, während sich in dem 17. Jahrh. die Protokolle noch ausdrücklich darauf be- rufen, daß jedermann „ohne Verkündigung“ dazu zu erscheinen habe. In einigen Gegenden wurde das BT. eingeläutet, d. h. unter Glocken- geläute festlich begonnen, vielfach ging ihm auch eine hl. Messe voraus. In den Protokollen liest man auch von den Bemühungen der Weingärtner, daß das BT. spätestens um 9 Uhr vormittags zu beginnen habe. Es scheint, daß sich die Abgesandten der Berg- behörde gerne Zeit ließen, insbesondere, wenn sie auf das Wein- gebirge nicht leicht fahren konnten.

. *) Daß das Wesen der Bergtaidinge schon Anfang des 18. Jahrh. nicht mehr richtig erfaßt wurde, beweisen die Texte der Instruktionen, die das Auerspergsche Inspektorat in Laibach an die Verwalter herausgab und die von diesen mit „landschadenbündigem“ Reverse unterschrieben werden mußten. (Die Landschadenbund-Klausel bedeutete die Einwilligung des Verpflichteten zur sofortigen Exekution bei Nichterfüllung.) P. 11 der Inst. vom 27. 7. 1703 (Verwalter Joh. Georg Peer) schreibt vor, daß die Verhöre oder Klagen, insonderheit aber die Perkhthaiding sorgfältig durchzuführen sind. In der instruktion vom 30. Okt. 1729 für den Verwalter Johann Anton Kraillingh hieß es aber, er solle über Bergehren oder Klage „sonderlich über die haltend Verheidigungen ordentlich Protokoll führen“. Daß dies nicht ein bloßes Vorschreiben war, ersieht man aus der weiteren Instruktion vom 6. Okt. 1725 für Joh. Bapt. de Fabiani, in der der Ausdruck „Verheidi- gung“ wiederholt wurde, wenn auch in anderem Zusammenhang. Anschei- nend dürfte er mit „Vereidigung“ verwechselt worden sein. Seit der Mitte a as Jahrh. verschwindet in den Instruktionen auch jede Erinnerung an

ie BT.

507

85. Ort der Abhaltung der Bergtaidinge.

Die Texte des deutschen Originals und aller slov. 0. des BRB. lauten in Ansehung des Zusammentrities der Bergtaidinge (Gerichts- stätte) übereinstimmend, dies sei jener Ort, der nach der alten Ge- wohnheit dazu bestimmt ist. Trotzdem einige slov. U., wie 2. B. Kapsch-U., Wagensb.-Torso, besonders betonen, daß die Gerichts- statte ohne zwingenden Grund nicht abgeändert werden darf, ersehen wir dennoch aus den Protokollen, insbesondere des 18. Jahrh., daß sich bei den Bergbehörden ein geradezu lebhaftes Bestreben ein- stellte, die Gerichtsstatte an den Sitz ihrer Herrschaft zu verlegen. Gründe der Bequemlichkeit dürften wohl in erster Linie dazu den Anlaß gegeben haben. Die Weingariner haben dagegen ab und zu remonstriert. In einem Protokolle des Klingenfelser Gebiets (17. Fe- bruar 1769) lesen wir, daß sich die Weingärtner geradezu verab- redeten, daß sie bis zum letzten Manne von dem BT., das nicht mehr auf den Weinberg Bojnik, sondern in das Schloß Klingenfels ein- berufen wurde, ausbleiben wollten. Erst als der Bergherr nach- gegeben und das BT. an die uralte Dingstätte einberufen hatte, sind sie wiederum erschienen. Allerdings dauerte der Widerstand nicht zu lange, insbesondere nicht unter den Bergstäben der Herrschaften, deren Inhaber Laien waren. Im Ainödter Bezirk (Fürstlich Auers- pergsche Verwaltung) wurden die Gerichtsstätten schon zur Zeit Josefs Il. beliebig verlegt, zumeist auf den Herrschaffssitz selbst oder in ein nahe gelegenes Dorf. Dabei wurden oft mehrere Gebiete zusammengelegt, wohl um die Mühe des öfteren Bergtaidingbesuches zu ersparen.

Die nähere Angabe der Stelle der Gerichtsstätte ist ın den Pro- tokollen selten ersichtlich gemacht worden. Oft war es eine Kirche oder ein zur Kirche gehöriges Gebäude, doch scheint noch vielfach der alte, für die Wötschengerichte beglaubigte Brauch geübt worden zu sein, daß man unter einer schattigen Linde in der Nähe der Kirche tagte, bzw. wenn schlechtes Wetter war, in einem herrschaftlichen Weinzierlhause**).

§ 6. Pflicht der Teilnahme an den Bergtaidingen.

I. Bevor wir in die Erörterung dieser wichtigen Frage eingehen, müssen wir feststellen, welchem Stande die Weingärtner ange- hörten. Die Protokolle über die bergrechtlichen Prozesse, insbeson- dere jene aus dem 16. und 17. Jahrh. erwähnen außer den Bergherren (Kloster oder Herrschaftsbesiker) und seinen Abgesandten ausdrück- lich dreierlei Arten von Weingärtnern, nämlich die Mejaschen (auch Measchen geschrieben), Bergholde und Inwohner.

Der Ausdruck „Mejasch“ ist aus dem slovenischen Worte meja, die Grenze, der Rain, abzuleiten. Er wird in den deutsch geschriebenen Gerichtsprotokollen ständig in dieser Form ohne er-

24) Weinzierl Winzer.

508

klärenden Beisa gebraucht und ist daher als terminus technicus fur die Zeit bis Ende des 18. Jahrh. anzusehen, doch durfte er in Unterkrain schon aus einer Zeit weit vor dem BRB. stammen. Man könnte glauben, daß er bloß das nachbarliche Verhältnis kenn- zeichnen sollte. Dem ist aber nicht so. Als Mejaschen sind nämlich alle jene Weingartenbesiker bezeichnet worden, die dem Bergherrn nicht mit ihrer Person, sondern lediglich mit ihrem Weingartenbesife untertänig waren. Dies waren Angehörige anderer Stände, wie adelige Gutsbesitzer, Geistliche, Stadtbiirger, Freibauern (Freisassen), die meist gar nicht auf dem Weinberge ansässig waren, jedoch Wein- gärten besaßen, die unter die Hoheit des Bergstabes fielen. Es ist klar, daß es insbesondere in den als besonders gut geltenden Weingebirgen auch anderen Leuten und nicht nur den dort ansässigen Bergholden gefiel, dortselbst einen Weingarten zu besiken. Diese Art der bloß sachlich und nicht persönlich untertänigen Besitzer wurde in dem deutschen Texte der Bergrechtsartikel mit „Berggenossen“ bezeichnet, doch sind die Begriffe Berghold und Berggenosse keines- wegs scharf auseinandergehalten worden?®).

Die zweite Art der Weingärtner waren Bergholde, in slov. Sprache in Krain als sogorniki (etwa Mitweingäriner), in Steier- mark als gormani?) (etwa Bergleute schlechtweg) bezeichnet. Diese waren sachlich und persönlich Untertane des Bergstabes, daher bis zu den Reformen Josefs Il. glebae adscripti. Wenn ein solcher Weingärtner von seinem Bergherrn zu einem andern Berg- herrn entlief, durfte ihn erster noch während zweier Jahre für sich reklamieren. Das Verhältnis zwischen der Zahl der Mejaschen und Bergholde war selbstredend je nach Gegend und Zeit verschieden. Aus einem Zehentregister aus der Mitte des 18. Jahrh. haben wir für das Gebiet einer Herrschaft feststellen können, daß etwa ein Zehntel der Weingärtner zu den Mejaschen gehörte.

Die dritte Gruppe der Weingärtner bildeten die Inwohner (slov. vsobenjki, auch osabeniki, eigentlich: Stubenbewohner?’). Dies waren Leute, die aus irgendeinem Grunde ihren Besitz im Tale verlassen haben, um sich im Gaden (Weinkellerhaus) im Weingebirge wohnlich einzurichten. Ein großes Kontingent der Inwohner haben aber auch die Uskoken abgegeben. Dies waren Flüchtlinge aus Bos- nien, Herzegovina, aber auch aus Kroatien, die seit dem Beginne des 16. Jahrh. aus ihrer Heimat von den Türken verdrängt und sohin ins-

25) Vgl. Dolenc, Pravni izrazi, a. a. O. S. 81.

se) Vgl. K. Strekelj, Slovensko cesarsko odločilo iz l. 1675 (Eine slovenische kaiserliche Entscheidung aus d. J. 1675), ČZN. I, 1904, S. 28 f.

37) Vgl. über diese Bezeichnung M. Dolenc, Odkod-vsobénjki? Wo- her stammt die Bezeichnung v.?), CZN. XXIV, 1928, S. 165—175, Dodatna pojasnila k vpraSanju o poreklu vsobenjkov (Weitere Beiträge zur Frage der Herkunft der vsobenjki), CZN. XXV, 1929, S. 90—94. Uber eine ab- weichende Etymologie des Wortes vsobeniki vgl. noch Fr. Ramovš, Osobénik, inquilinus, advena, in Casopis za slovenski jezik, knjiZevnost in zgodovino (Zeitschrift für die slovenische Sprache, Literatur und Geschichte), Vil. Ljubljana 1928, S. 171, 172.

809

besondere an den Siidabhangen des Gebirges an der Grenze Krains kompakt angesiedelt wurden?®). Man wollte sie als eine ständige Militarhilfe gegen die türkischen Invasionen zur Hand haben. Im Verlaufe der Zeit mußten sie sich aus Not einen anderen Erwerb suchen und fanden ihn vielfach als Weingartenarbeiter, wobei sie eine dürftige Unterkunft in den Weingarten oder wenigstens in ihrer Nahe bezogen. Sie waren von sämtlichen Steuern und anderen Giebig- keit befreit. Im allgemeinen waren alle Inwohner Habenichise und vielfach dem Müßiggang ergeben; nicht selten waren unter ihnen auch eigentumsgefährliche Individuen. Bei den Bergherren waren daher diese Inwohner (ab und zu auch ,,Untersassen“ genannt) nicht beliebt. Wenn sie einheimische Leute waren, die einer anderen Bergbehörde entlaufen waren, entstanden dem neuen Herrn häufig sehr unange- nehme Prozesse.

Die Bergherren fanden im Art. 20 des Original-BGB. einen guten Anhaltspunkt, um die Besiedlung der Weingebirge mit Inwohnern oder Untersassen hintanzuhalten. Hier stand es, daß diejenigen, die mit „aigem Rucken im perkrecht gesessen“, den Weinberg zu ver- lassen und sich auf ihre Huben zu begeben haben:“). Nun ist der Ausdruck „mit aigem Rucken“ dahin zu verstehen, daß dies Leib- eigene waren, die mit eigenem Rauche (Ofen, Herd) dienten). Die Bestimmung des zitierten Artikels hatte daher den Sinn, wer im Tale oder sonstwo außerhalb des Weinberges das Rauchgeld als Steuer zahlte, soll auf seinem Besitztum bleiben und darf nicht als Inwohner auf den Weinberg übersiedeln. Welche Schwierigkeiten sich bei der Üübersekung der Stelle „mit aigem Rucken“ ins Slovenische ergaben, mag daraus eninommen werden, daß zwar die älteste Rezi-U. (1582) noch die wörtliche Wiedergabe der Wendung „mit eigenem Rücken“ bringt, alle nachfolgenden aber die Sache so umschrieben haben, als ob es sich schlankweg um Weinbergbewohner im allgemeinen handeln würde, was selbstredend keinen vernünftigen Sinn ergab. Zwei Über- setzungen (Layb-U. und Ainodi-U.) haben aber die Sache dahin ver- einfacht, daß sie an die besagte Stelle „os abenik i“ (gleich: In- wohner) seften. Allerdings wurde dadurch instinktiv der Unver- ständlichkeit des Anfangsabes des Artikels 20 zum Trobe das richtige geiroffen. Gemeint waren ja die Ofen bzw. Herde (mit dem Rauch- fange), die im Weinkellergebäude errichtet werden mußten, um darin eine Stube oder Wohnung zu schaffen. Noch heute wird auf den Sudabhangen des Uskokengebirges zum symbolischen Zeichen, daß

28) Vgl. J. Mal, Uskocke seobe i slovenske pokrajine (Die Siedlungen der Uskoken und die slovenischen Gebiete), Srpska Kraljevska Akademija, Srpski etnografski Zbornik XXX (Naselja i poreklo stanovnisiva 18). Ljub- ljana 1924

29) Mell, Weinbergrecht, S. 126.

20) Siehe J. Schatz, Glossar zu den Niederosterreichischen Weis- tumern, Osterreichische Weistumer XI, Wien 1913, S. 702, O. H. Sto- wasser, Niederösterreichische Weistumstexte, Wien 1925 (= Österreichische on Nr. 9), S. 19. Eine andere Ausdeutung des Ausdruckes ergäbe

einen Sinn.

510

die Hauskommunion (Zadruga) zu bestehen aufgehört hat und die dazugehörigen Familien fortan geirennt leben wollen, der gemein- same Herd zerstört. Allein wenn auf der einen Seite die Bergherren diese Inwohner aus dem Weingebirge hinauszuschaffen bestrebt waren, so glaubten die Weingärtner auf der anderen Seite, insbeson- dere diejenigen, die nicht ständig geradezu im Weingarten wohnten, ohne die Inwohner als ständige Taglöhner nicht auskommen zu können. Diese Gegensätze der Interessen haben sich insbesondere dort ausgebildet, wo nicht die verhaßten Uskoken den Hauptanteil der Inwohnerleute ausmachten. Während noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. im Ainödter Gebiet Urteile des Volksgerichtes erflossen, die die Ansiedlung der Inwohner verboten, weil sie Uskoken waren, ja selbst einer einheimischen Frau die Errichtung eines Herdes in dem Weinkellergebäude energisch untersagten, haben sich im Land- straßer Gebiete schon in dem Jahre 1705 auf einem BT. wüste Szenen abgespielt, weil der Bergherr es war der Zisterzienserabi aus Landstra die Entfernung sämtlicher Inwohner aus den Wein- gebirgen verlangte: das BT. wurde gewaltsam verhindert. Nun kam es im Gebiete des Unterlaufes des Flusses Gurk wiederholt zu Er- Orferungen bezüglich der Inwohnerfrage. Da handelte es sich offen- sichtlich um einheimische Inwohner und nicht um Uskokenflüchtlinge. Schließlich erzielten die Weingärtner im Jahre 1784 eine Kompromiß- lösung, nämlich, daß jeder Weingärtner je einen Inwohner im Wein- gebirge für sich behalten dürfe. So hat das Volksrecht die Bestim- mungen der Bergrechtsartikel außer Kraft gesebt°!). Auf diese Weise wurde eine Nivellierung der ursprünglich bedeutenden Unter- schiede zwischen den Weingarinern und Inwohnern in die Wege ge- leitet, um schließlich und endlich durch die bekannten Reformen Josefs II. zur Gänze durchzudringen.

Allein auch die Unterschiede zwischen den Mejaschen und den Bergholden, die vor dem 16. Jahrh. gewiß noch viel deutlicher waren, verloren im Laufe der Zeit an Bedeutung. Schon die Ausdrucksweise des Original-BRB., die Berggenossen und Bergholden nicht scharf auseinanderhält, weist auf den beginnenden Ausgleichungsprozeß hin. Nun ergab es sich in der Praxis, daß die Bergherren, die selbst auf dem BT. den Vorsitz zu führen gehabt hätten, im Laufe der Zeit bloß ihre Abgesandten dorthin schickten; ja, bei einigen Berg- behörden ergab sich dies von selbst, zum Beispiel bei der Herrschaft in Seisenberg, da die Grafen (seit Anfang des 18. Jahrh. Fürsten) Auersperg ständig außerhalb ihres Herrschaftsgebietes wohnten. So wie diese Bergherren, unterließen auch adelige Mejaschen den per-

31) Allerdings hat ein hervorragender Ökonom und Gelehrter, der selbst Bergherr war, Franz Anton Edl. von Breckerfeldt aus Alten- burg bei Rudolfswert, in einem Berichte an die k. k. Landwirtschaftsgesell- schaft für Krain in Laibach noch im Jahre 1781 eine Reformierung des BRB. verlangt und dabei das Verbot des Haltens von Inwohnern beizubehalten geraten, obschon dadurch den Bergherrn „der Rauchgulden“ entgehen würde. Der Bericht befindet sich im Nationalmuseum zu Laibach.

511

sönlichen Besuch des BT.; auch sie schickten ihre Bediensteten als Vertreter zum Volksgerichte. Freilich geschah dies nicht überall in gleichem Maße. In einigen Protokollen, z. B. von den Bergbehörden Landstraß und Klingenfels, werden die Ausdrücke Mejaschen und Bergholde schon seit dem 17. Jahrh. zum Teil promiscue gebraucht, zum Teil gleichgestellt und für die wirklich persönlich freien Weingärtner der Ausdruck „Freisassen“ ausgeführt. Aus anderen Bezirken, insbesondere aus Weißkrain (südlich des Uskokengebirges) zeigen uns aber die Protokolle aus dem Jahre 1728 eine sehr deut- liche Unterscheidung zwischen Mejaschen und Bergholden. Die ersten werden mit „ehrsame“ Mejaschen tituliert, während die Urkunden hinsichtlich der Bergholden immer nur von ,,arbeitsamben“ Berg- holden sprechen. Die Mejaschen durften der Bergbehörde Ratschläge erteilen; sie hatten das Recht, das Bergrecht als Steuer nicht in natura abzustatten, sondern in Geld zu reluieren. Auch im Klin- genfelser Gebiete nennt man noch im Jahre 1744 die Mejasche „ehr- same“. Noch am 4. September 1787 werden in einem Protokolle der Herrschaft Ainodt die Gruppen der Mejaschen und Bergholde im Sinne unserer Auffassung auseinandergehalten. Interessant ist es, daß Heinrich Georg Hoff eine deutsche U. der im Laibacher Museum vorfindlichen slov. 0. der Bergrechtsartikel anfertigte und die Ausdrücke „sogornik“ und „meja s“ mit „Weingärtner‘ und „Bergnachbar“ verdolmetschte, wobei ihm beide als gleichbedeutende Begriffe galten, allerdings dürfte er den deutschen Urtext nie zu Gesichte bekommen habens).

II. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen können wir uns nun der Frage der Dingpflicht zuwenden. Der deutsche Urtext (1543) sagt im Art. 14: „Ain jeder“ (ohne Beisak) habe auf das Bergtaiding zu kommen oder an Stelle seiner einen andern zu schicken, sonst trıfft ihn eine Geldbuße von 72 Pfennigen. Hierzu kommt noch ein motivierender Beisatz: man sei nicht schuldig, „jedem besonder für- zubieten“, damit er da sei und höre, ob welche Klagen gegen ihn vorkommen würden). Die Rezi-U. (1582) hat diese Bestimmungen wortwortlich gebracht). Die Beradt.-BO. (1595) blieb desgleichen in demselben Rahmen, nur sagt sie: Ein jeder Berghold habe zu er- scheinen®). Die Layb.-U. (1646) hat die Sache vereinfacht; es heißt da, ein jeder Berghold habe persönlich zu erscheinen; die Bestim- mung, daß ein Stellvertreter abgesendet werden darf, und die Moti- vierung, warum dies so bestimmt werde, fiel unter den Tisch. Jeden- falls ist in den beiden letztgenannten Texten die Dingpflicht für die

s) H. G. Hoff, Historisch-statistisch-topographisches Gemählde vom Herzogthume Krain, Laibach 1808, Il. B., S. 17-31, siehe Art. XIII., XIV. XV. etc., die infolge der Verwechslung der Begriffe nicht richtig verstanden werden können.

33) Mell, Weinbergrecht, S. 118. 3) Rezi-U. Art. 14, ed. Oblak, a. a. O. S. 183 f., ed. Koblar, aa O. S. 150.

35) Beradt. BO. Art. 14, unten Anhang I.

512

Mejaschen nicht mehr aufrechterhalten. Die Möglichkeit, daß ein Berghold einen Ersatzmann schicken dürfe, fand vielleicht deswegen keine Berücksichtigung, weil ohnehin alle Bergholde auf dem Wein- gebirge ansässig waren. Die Kapsch-U. (1683) sagt in ihrem Art. 11, ein jeder Berghold habe persönlich anwesend zu sein oder einen rechtschaffenen Mann zu schicken. Die Ehegattin könnte nach dieser Textierung den Berghold nicht vertreten; übersehen wurde aber da- bei, daß es auch weibliche Weingartenbesiser gab. Wohl brachte dieser Text auch die Motivierung der Bestimmung. Die Stud.-Bibl.- U. (Mitte des 17. Jahrh.) halt sich an den Text der Beradt.-BO. und sagt, ein jeder Berghold habe selbst zu erscheinen oder einen anderen zu schicken; die Begründung wird beibehalten). Die Mus.-U. (18. Jahrh., vor 1781) bringt die Wendung, ein jeder Mejasch oder Berghold müsse persönlich erscheinen oder einen rechtschaffenen Ersabmann schicken; die obgedachte Motivierung fehlt. Im Wagensb.-Torso (An- fang des 18. Jahrh.) wurde ein ganz neuer Gedanke zum Ausdruck gebracht; es heißt da, ein jeglicher (also sowohl Mejasche als auch Berghold) müsse persönlich erscheinen und dürfe sich' nicht durch einen Ersatzmann vertreten lassen. Die Motivierung lautet selbst- redend nunmehr ganz anders: Sollte der Bergherr aus dem Grunde, weil ein Weingärtner nicht erschienen ist, jemand besonders zum Bergtaidinge zu kommen auffordern, so verfällt dieser einer Geld- buße, doch könne ihn der Bergherr aus wichtigen Gründen immerhin von der Strafe ,,verschonen“. Das Wagensb. Exzerpt sagt im Art. 6 bloß, daß derjenige Mejasche, der zum BT. nicht kommt, gestraft werden wird®”). Die Ain.-U. betont bloß die Pflicht, persönlich zu er- scheinen. Die Übermurg.-U. (zirka 1809) geht vom Standpunkte aus, es müsse allen Familienvorständen anbefohlen werden, zum BT. zu erscheinen; die entfernt wohnenden müssen 10 Tage vorher aufge- fordert werden; wer nicht erscheint, wird bestraft.

Die obigen Feststellungen zeigen deutlich, wie das Gewohnheits- recht in den verschiedenen Gebieten im Laufe der Zeit die Lösung dieser Kardinalfrage umzuändern verstand. Die Grundlinien weisen aber sicher darauf hin, daß ursprünglich ein jeder, ob bloß persönlich oder sachlich und persönlich Untertane des Bergstabes, am Berg- taidinge teilzunehmen hatte, daß aber, vornehmlich wohl die nicht im Weingebirge wohnenden Mejaschen (Berggenossen), einen Stellver- treter schicken durften. Später, als die Grenzlinien zwischen den Bergholden und Mejaschen verwischt zu werden begannen, sind die Weingärtner der höheren Standesgruppen nur dann persönlich er- schienen, wenn sie aus besonderen Gründen etwas auf dem Berg- taiding vorzukehren hatten. Alles dies bestätigen nun auch die Pro- tokolle. Selbst ein Graf Barbo (Kroisenbach) oder ein Edler von Preckerfeldt hat als Mejasch am Bergtaidinge teilgenommen. Sehr häufig werden Gutsverwalter, Pfarrer, Kapläne oder Städier

se) Stud.-Bibl.-U. Art. 19, ed. Oblak, a. a. O. S. 301. 87) Wagensb.-Torso Art. 14, Exz. Art.6, ed. Dolenc, a.a. O. S. 103, 104.

515

(ein Doktor medicinae und dergl.] als anwesende Parteien und Wein- garienbesiker erwähnt. Allerdings muß angenommen werden, daß alle diese ein Interesse ad hoc zur persönlichen Teilnahme drängte, weil sie sonst bloß einen Stellvertreter geschickt haben würden. In der Tat treten sie vornehmlich als Kläger oder Beklagte auf, hie und da aber auch als Beschiitzer ihrer eigenen Untertanen, die eine Klage vorzubringen oder abzuwehren hatten. Man kann übrigens an- nehmen, daß solche vornehme Parteien von einer wider sie bevor- siehenden Klage noch vor dem BT. benachrichtigt werden mußten. Klar und unbestritten war aber die Dingpflicht der Bergholden, die das Bergrecht zu entrichten hatten; ihre Pflicht wurde nie gelockert. Dies war auch das Kriterium, an dem die Weingärtner bei dem oben erwähnten Beschlusse vom 16. März 1767 festgehalten haben, näm- lich, daß alle Weingariner, die um Bergrecht dienen, auch selbst am Bergtaidinge des 29. September des gleichen Jahres erscheinen und ihre Angelegenheiten austragen würden, sofern die Bergbehörde das BT. nicht mehr selbst verkündigen wollte. Ein halbes Jahrhundert später, allerdings in einer anderen Gegend, in Ainödt und in Weiß- krain, wurden die Namen sämtlicher Weingärtner zu Anfang des BT. verlesen, die fehlenden festgestellt, um sie der Bestrafung zuzu- führen.

87. Die übrigen Volksgerichte.

Hinsichtlich der Quatembergerichte ist es klar, daß die Bestimmungen des BRB. an und für sich für sie keine Geltung haben konnten. Um so bemerkenswerter erscheint die Tatsache, daß in den Protokollen über die Quatembergerichtsverhandlungen dennoch auch Zitate der Bergrechtsartikel vorkommen. Nun sind die lept- gedachten Protokolle in das gleiche Buch eingetragen worden wie die Bergtardingprotokolle. Auch muß fur den Großteil der in Frage kommenden Gebiete angenommen werden, daß wohl zwei Drittel, wenn nicht gar drei Viertel aller dauernd angesiedelten Bewohner Weingärten besaßen. Man kann daher ruhig annehmen, daß das Volksrecht, das sich auf Grundlage des BRB. entwickelte, als Volks- recht fur alle Bewohner des Gebietes, ob Weingärtner oder schlecht- weg Bauern oder Handwerker, gleichmäßig seine Geltung bean- spruchte, daß es daher als Volksrecht kat’exochen angesehen wurde. Nur so kann man es verstehen, daß Appellationen von den BT. an das Quatemberrecht, desgleichen aber auch umgekehrt Be- rufungen vom Quatemberrecht an das BT. als höhere Instanz ab und zu vorkamen. Hieß es ja im Schwabenspiegel, eine gute Gewohnheit sei ebenso gut wie ein geschriebenes Geseß.

Da nun die Quatemberrechte (gleich -gerichte), wie der Name besagt, in jeder Quatemberwoche, zum Beispiel in Landstraß an jedem der Quatembermittwoche, in der Kirche zusammenzutreten hatten, so war es ein leichtes, die Zeit und den Ort dieser Taidinge gewohn-

514

heitsmäßig aufrechizuerhalten. Sie wurden, wenn nicht in der Kirche, so doch bei der Kirche abgehalten.

Uber die Dingpflicht sind wir in Ansehung der Quatemberrechte wenig informiert. Die schriftlichen Quellen versagen, weil allbekannie Bestimmungen in die Gerichtsprotokolle nicht eingetragen wurden, sie versiegen aber auch bald, weil die Quatemberrechte im Laufe des 17. Jahrh. wahrscheinlich überall abgestellt worden sind. Die Analogie mit den Bergtaidingen weist allerdings dahin, daß auf den Quatember- gerichten alle Burgfriedenleute, seien es ländliche Besitzer, seien es städtische Bewohner, zu erscheinen hatten, zumindestens aber jene, die von der Herrschaft oder von der Gegenpartei zum persönlichen Erscheinen aufgefordert wurden. Waren doch die Quatemberrechte bloß für die Erledigung von anhängig gewordenen Klagen bestimmt, während die Bergtaidinge, wie noch später des näheren erörtert werden soll, vorzüglich auch autonome Verwalfungsgeschäffe aus- zuüben hatten.

Die Billichrechte, die für das Landstraßer und Pletriacher Herrschaftsgebiet urkundlich nachgewiesen sind, wurden in jedem Jahre bloß einmal abgehalten und dies stets am „Erchtage“ nach Pfingsten (Pfingstdienstag). Die Ähnlichkeit der Billichrechte mit den BT. ist allerdings insofern gegeben, als beide reine Kausalgerichte waren. Nichtsdestoweniger geben die Protokolle über die Billich- rechtstagungen keinen Aufschluß, wer an ihnen teilzunehmen ver- pflichtet war. Wir neigen zur Annahme, daß nur jene Bewohner der Dörfer und Siedlungen an den Berghängen des Uskokengebirges erscheinen mußten, die wegen eines bevorstehenden Prozesses be- sonders aufgefordert wurden, weil sie sich in einen Rechtsstreit wegen der Jagd auf Buliche verfangen hatten?®).

Ill. Die innere Organisation der Volksgerichte. A. Bestimmungen der Bergrechtsbüchel. § 8 Allgemeine Charakterisierung.

Die slovenischen Volksgerichte des 16., zum Teil auch noch des 17. Jahrh. weisen Grundzüge auf, die die von Karl dem Großen ein- geführten Gerichte kennzeichneten. Wir müssen annehmen, daß die Slovenen schon in der Zeit vor der Unterjochung Carantaniens ihre Zupanengerichte besaßen, auf denen die allgemeinen Fragen im Interesse der gesamten Z up a erörtert wurden, während die Streitig- keiten der einzelnen Familienkommunionen deren Ortsgerichte regel- ten). An diese Organisation mußten die Franken ihre Reformen

. Schon hier sei erwähnt, daß „nach dem Landgebrauch“ das Rechts- institut des „Besuchens“ galt, d. h. bevor die Klage anhängig gemacht wurde, mußte der Gläubiger den Schuldner wegen allfälliger gütlicher Be- reinigung des strittigen Anspruches aufsuchen. %) Vgl. L. Hauptmann, Das Schöffentum auf slowenischem Boden; geh au des Historischen Vereines für Steiermark, X, Graz 1912, S. 181 is ;

515

anknüpfen. Sie führten ihre Thinge ein, geboten die allgemeine Pflicht, hierzu zu erscheinen, ließen aber nur besonders ausgewählte Männer die Urteile in Streitsachen schöpfen). Aus dieser Form haben sich die Wotschengerichte für die allgemeinen Rechtsange- legenheiten in den Talsiedlungen, die Bergtaidinge in den Wein- gebirgen entwickelt, wo eine Kausalgerichtsbarkeit mit Rücksicht auf die besonderen Verwaltungsumstande geboten erschien. Diese Grundlinien des Werdeganges finden ihre Bestätigung vorzüglich in dem Umstande, daß der Prozeß auf den Bergtaidingen keineswegs dem kanonischen Summarprozesse nachgebildet erscheint. Es kann nicht der geringste Anhaltspunkt ins Treffen geführt werden, daß der Grundsatz gegolten habe: „Simpliciter et de plano ac sine strepitu ac figura iudicii.“ Im Gegenteil! Der Summarprozeß auf dem BT. hat die fränkische Form der Prozeßführung intakt gelassen, denn der mündlichen Klage folgt die Antwort des Beklagten, beiden die Beweisführung ohne jede schriftliche Aufzeichnung, worauf es sofort zur mündlichen Verkündigung kommt.

Allerdings drängt sich die Frage von selbst auf, warum sich gerade unter den Slovenen Unterkrains dieses Institut mit seinen fränkischen Wurzeln jahrhundertelang bis zur großen Kodifikations- ara am Ende des 18. Jahrh. erhalten konnte. Die Antwort hat zu lauten: Der slovenische Bauer und Weingärtner war ungemein kon- servativ veranlagt gewesen, da er von allem Anfang mit Rücksicht auf die große Abgeschlossenheit seines Siedlungsgebietes und auf die häufigen Tiirkengefahren auf sich selbst angewiesen war, zumal die adligen Herrschaftsbesiker seine Sprache selten oder auch gar nicht beherrschten. Auch bedeutete das BRB. als eine Kodifikation der Rechtsregeln, die sich im Zeitalter der großen Bauernunruhen geltend machten, eine Errungenschaft des niederen Volkes, eine Magna charta libertatum und genoß deswegen eine große Autorität. Die ältesten uns bekannten Bergtaidingsprotokolle da- tieren ja aus dem Jahre 1590 und entstammen einem Gebiete Land- straß —, wo noch viele Weingärtner persönliche Erinnerungen mit dem am 15. Februar 1573 in Agram (5 Stunden Gehwegs von Land- straß entfernt) hingerichteten „Bauernkönig“ Mattias Gubec ver- banden. Schließlich ist es nicht zu verkennen, daß auch unter den Siovenen, wie auch bei anderen Völkern, der Spruch gegolten hat, daß es unter dem Krummstabe gut zu leben sei. Allerdings haben die vielen Klöster die Bauern als Verteidiger gegen die Türken- invasionen benötigt und ihnen ihre Rechte vornehmlich in den ersten in Betracht kommenden Jahrzehnten (etwa bis 1650) gerne

40) Freilich konnte diese Neuordnung dabei wahrscheinlich in weitem Umfang bereits vorhandene, gemeinslavische Rechisinstitute benugen; zu ihnen ist jedenfalls die Heranziehung ausgewählter Vertreter der dingpflich- tigen Bevölkerung zur Urteilsfindung zu zählen. Vgl. über verwandte Er- scheinungen auf kroatischem und serbischem Boden WI. Namysłowski, Die Teilnahme der Bevölkerung an der Rechtssprechung in den miltelalter- lichen kroatischen und serbischen Ländern, Jahrbücher für Kultur und Ge- schichte der Slaven N. F. Ill, 1927, S. 345—364.

516

belassen, dadurch aber eine solche Lage geschaffen, daß auch die weltlichen Herrschaftsbesiker sich ähnlich verhalten mußten.

Wenn es heißt, die Grundzüge der BT. zu charakterisieren, muß im voraus noch deren zweifache Funktion hervorgehoben werden: Sie waren als Vollversammlungen aller Wein- gärtner das autonome Verwaltungsorgan für alle gemeinschaftlichen Angelegenheiten einer- und vorzüglicherseits, anderseits aber waren sie in der Form des den „Ring“ bildenden Kollegiums der auserwählten Repräsentanten der Vollversamm- lung das Organ zur Ausübung der Justiz für die Rechtsstreitigkeiten der einzelnen Weingärtner.

89 Die Bestimmungen des Original-BRB.

Die steirischen Landstände entwarfen das BRB. auf Grund ge- wisser Voraussetzungen, die sie als allgemein bekannt und unzweifel- haft gültig erachteten. Im Art. 1 wird vom Bergherrn gesprochen und bestimmt, er solle „solch recht (d. h. das BT.) mit seinen perk- holden“ besetzen. Im Art. 17 werden aber diese Richter als „Perk- genossen“ bezeichnet"). Welche Zahl der Richter notwendig war, gibt das BRB. nicht an. Auch die Zahl wird als bekannt vorausgesebt. Der Bergherr wurde nämlich angewiesen, im Falle, daß er die er- forderliche Anzahl aus dem in Frage kommenden Weingebirge nicht zur Verfügung hat, sie aus anderen Weinbergen zu nehmen. Da kann gefragt werden, ob unter den anderen Weinbergen bloß die eigenen oder auch solche unter fremden Bergstäben stehenden ge- meint waren. Die Praxis hat diese Frage im Sinne der zweiten Variante gelost*).

Neben den beiden eben erwähnten Instituten Bergherr und Bergrichter werden im BRB. im Art. 21 und 29 der ,,Bergmeisier“*), im Art. 27 der „Hubmeisfer“ “), im Art. 48 der Bergsuppan oder Bergmeister genannt). Außerdem finden wir im Art. 51 die Aus- drücke „Paumann“ und ,,geschworn pauleut und perkgenossen“**), die nach dem Sinne nichts anderes bedeuten können als Weingariner*’).

41) Mell, Weinbergrecht, S. 109, 122.

] So lautete z. B. das „Gemein Uril“ vom 23. April 1730 auf einem BT. des Klingenfelser Bergstabs, die Strafandrohung für Vichschäden habe zu gelten, „sowohl in den Klingenfelsischen als in des woll Ehrwürdig Herrn Sigmundten Khinskyschen Perkrechts jurisdiction, massen von beyden das Assessorium gewest“.

43) Mell, Weinbergrecht, S. 129, 134.

**) In der Wiedergabe des BRB.-Textes bei Mell, a. a. O. S. 133, dürfte im Art. 27 durch einen Druckfehler aus „Hubmeister“ ,perkmeister“ geworden sein. Im Verzeichnisse der Worte und en ou Seite 151 steht richtig „Hubmeister“ mit dem richtigen Fundort „Art. 27

45) Mell, Weinbergrechi, S. 143.

ae) Mell, Weinbergrecht, S. 145.

47) Das ergibt sich u. a. aus der von Mell, Weinbergrecht, S. 128, zu Art. 20 angeführten Urkunde von 1360.

21 NF 5 817

Nach Art. 4 hatten die angeführten Faktoren das BT. als ein „ordent- lich Gericht wie von alter herkommen“ zu halten, also als das Gericht der ersten Instanz, „wo all Sachen so das perkrecht beruhrt vur- genommen und gehandit werden““).

Als zweite Instanz hatte das Amt zu handeln „der Kellermeister“, (Art. 60, bzw. „des Landsfürsten Kellermeister“ (Art. 28), als dritte der „Landshauptmann, landsverweser und vizedomb“, allein nur in- soweit „solches ir kuniglich majestat bewilligt“ (Art. 280600. Doch die hier angeführte Organisation hat das BRB. nur in betreff der gericht- lichen Funktionen begründet und auch dies nicht erschöpfend. Die Praxis hat neben dem Bergherrn noch andere Gerichtsfunktionäre ins Leben gerufen: den Schriftführer, die Delegaten, die unpartei- ischen Richter, den Gerichtsältesten, die Referenten für Urteile, weiter in Ansehung der Beschlüsse der Vollversammlung die Re- ferenten des ,,Gemeinurtels“, in Ansehung der Exekutionsdurch- führung die Petschafter, auch „Weinzedl“. Uber die Bedeutung dieser Funktionäre soll erst später gesprochen werden.

§ 10. Bestimmungen der slovenischen Übersetzungen.

Pfarrer Andreas Rezl (Rezl-U.) hat die Ausdrücke Bergherr und Bergholden sprachlich richtig übersetzt („gorski gospod“ bzw. „so gor niki“). Bloß die Wendung „die erste Instanz‘ wurde übersetzt, als ob es hieße „die rechte Instanz“ (Art. 4). Im Art. 17, wo steht, daß die Entscheidungen (,,erkantnus“) die Perkgenossen zu schöpfen haben, gebraucht Rezil denselben Ausdruck wie im Art. 1 für die „Perkholden“. Im Art. 13 wird in der Wendung „on urlaub aines Perksuppan“ dieser Funktionär einfach mit dem Aus- druck für Bergmeister bezeichnet. Der Ausdruck „Hubmeister“ wurde als unübersetzbar einfach mit demselben deutschen Worte wieder- gegeben (Art. 27). Im Art. 48 sind die beiden Ausdrücke „perk- suppan oder perkmeister“ sprachlich sinngemäß richtig wieder- gegeben. Im Art. 51 wird „paumann‘ mit einem dem deutschen Be- griffe des Hauswirts adäquaten Ausdrucke („gospodar“), die „ge- schwornen pauleute“ mit einem dem Begriffe „beeidete Weingärtner“ adäquaten Worte (,sapersesheni vinogradarye‘) wieder- gegeben®!).

In der Beradt. BO. (1595), die in demselben Formularienbuche von derselben Hand wie die Layb.-U. niedergeschrieben wurde, ist ım Art. 1 wie auch im Originale nur von „perckholden“ die Rede®?). In

48) Mell, Weinbergrect, S. 112. 49) Mell, Weinbergrecht, S. 112. so) Mell, Weinbergrecht, S. 133 f.

51) Rezi-U. Art. 4, 17, 1, 13, 27, 48, 51, ed. Oblak, a. a. O. S. 182, 184, 181, 183, 186, 189, 190, ed. Koblar, a. a. O. S. 148, 151, 147 f., 150, 153, 156.

523) Unten Anhang I.

518

der Layb.-U. steht es aber ,Sagornike ale Meias che“ gleich Bergholden oder Mejaschen, wobei aber aus fremden Weingebirgen bloß Mejaschen zu nehmen erlaubt war, was gleichfalls einen Beweis für die Unterscheidung zwischen Bergholden und Mejaschen be- deutet. Im Art. 25 der Beradt. BO. steht nicht mehr ‚„Hubmeister“, sondern Kellermeister®®). In der Layb.-U. wurden die Ausdrücke Baumann und geschworene Bauleute nicht übersekt, sondern um- gangen. Die Stelle, wo die Urschrift vom Hubmeister spricht, ließ Laybasser uniberseft. Bezüglich der übrigen slov., übrigens weniger bedeutungsvollen Übersekungen wollen wir der Kürze halber ein gemeinschaftliches Bild ihrer Bestimmungen entwerfen, sofern sie für den inneren Aufbau der Volksgerichte in Betracht kommen und von der Layb.-U. stark differieren.

Die beiden Ausdrücke Berghold und Berggenosse wurden pro- miscue bald mit „sogorniki“, bald mit „mejas“ überseßt, was mit unseren obigen Feststellungen im Einklange steht, daß die Standesgruppen mit der Zeit ausgeglichen worden sind. Das Berg- recht als Gericht wird mit „gorska pravda“ übersetzt, was soviel als Recht oder Gerechtigkeit heißt‘). Die Kapsch-U. besagt, daß das Bergrecht vom Bergherrn mit seinen eigenen Mejaschen zu beseben sei, auf das Bergtaiding müssen alle Bergholden kommen. Die Mus.-U. drückt sich umgekehrt aus, daß auf das BT. alle Mejaschen kommen müssen, während das Gericht von den Bergholden gebildet wird. Der Wagensb.-Torso erwähnt bloß die Bergholden, das Wagensb.-Exzerpt überhaupt nur die Mejaschen, doch bringt es keine Bestimmungen über die Besekung des Gerichtes. Die Stud.-Bibl.-U. kennt als Richter nur Bergholde, der Ausdruck Mejasch wird nur dort angewendet, wo er als Übersekung für „Anrainer“ zu dienen hat. Als Bezeichnung einer besonderen Standesgruppe der Weingartner kommt er nicht vor. In der Weißenst.-U. begegnen wir zum ersten Male der Bestimmung, daß die Zahl der Richter zwölf zu beitragen habe, die Bergholde oder Mejaschen sein können. Doch ist hier auch die Rede einmal von einem Erkenntnis der Mejaschen, das andere Mal vom Erkenninis der Mejaschen oder Bergholde Die Ain.-U. gebraucht bloß die Bezeichnung Mejaschen, spricht aber wohl, wie schon oben erwähnt, von „osabeniki“ gleich Inwohner, die aller- dings in indirekter Weise von der Teilnahme an der Richterbank ausgeschlossen waren. Die jüngste Übersekung aus dem Übermur- gebiete kennt ,hegyszek“, was in der magyarischen Sprache Berg + Stuhl, also Bergstuhl (Bergtaiding) zu bedeuten hat; weiters erwähnt sie den „hegy-biro“ gleich Bergrichter, der in einer Wendung auch Ritar, recte Richtar gleich Richter genannt wird, verlangt auch 12 „esküt“, d. h. Richterbeisigfer, spricht aber

53) Unten Anhang I.

84) Dasselbe Wort (pravda) kennen wir aus dem Kampfrufe des „Win- dischen Bauernbundes“ zu Anfang des 16. Jahrh.: „Aus irer gemain, theten sy schreien „Stara pravda“. „Ain newes lied von den kraynerischen bauren“, veröffentlicht von J. Bleiweis, LMS. 1877, S. 200 f.

519

durchwegs von Mejaschen, Bergholde werden in dieser Übersetzung überhaupt nicht erwähnt.

Das Institut des Bergmeisters ist in allen Übersesungen bekannt und wird mit „gornik“ oder in der Ain.-U. mit „gorschek“ über- sebt, was aber gleichbedeutend ist. Nur die Übermurg.-U. bedient sich der wortwörtlichen Übersekung des Ausdruckes, indem es den Bergmeister mit „hegy mester“ bezeichnet. Die Bezeichnung Bergsuppan des Originals des BRB. wird nur in der Rezl-U. in einem Fall richtig mit „gorski Župan“ übersekt%), überall sonst aber wird der Begriff auch sprachlich mit „gornik“ (Bergmeister) iden- tifiziert.

Das Amt des Hubmeisters (eines landesherrlichen Rentenver- walters’) war in Krain nicht bekannt: infolgedessen ist in den slov. U.) statt seiner der „Grundherr“ (Kapsch-U.) oder der Berg- meister (Stud.-B.-U.)#) genannt. Die Beradt BO. ersetzt sinngemäß den Ausdruck ,,Hubmeister“ durch „Kellermeisfer“se).

Alle Übersekungen bezeichnen konform dem Urtexte das BT. als die rechte oder die erste Instanz, auch „ordentliches Gericht“. Eine Sanktion für die Nichtbeachtung dieses Gerichtes steht aber nur in der Übermurg.-U. Diese sagt nämlich im Art. 14: „Wer mit Umgang- nahme des Bergrichters und der Beisitzer sofort seinen Bergherrn oder Gebieter angeht, das Bergtaiding aber verwerfen würde, wird zur Geldbuße von 2 Gulden verurteilt.“ Hierbei ist noch hinzu- zufügen, daß nach dieser Übersekung nicht der Bergherr, sondern der hegymester (gleich Bergmeister) allein die Bergtaidinge zu verkünden hatte.

B. DieBergtaidingeinder Praxis. 8 11. Der Bergherr.

Aus den Protokollen betreffend die bergrechtlichen Prozesse lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Verhältnissen er- kennen, die nach den gesetzlichen Bestimmungen eintreten müßten,

55) Rezl-U. Art. 48, a. a. O.

86) Vg. F. v. Krones, Landesfürst, Behörden und Stände des Herzog- thums Steier 1285—1411, Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungs- geschichte der Steiermark IV, 1, Graz 1900, S. 189, Mell, Grundriß, Heft 4, 1929, S. 174. Zur Tätigkeit des Hubmeisters in Bergrechtssachen vgl. auch die Berufung des Bergtaidings im Grazer Hubamte, Ende des 15. Jahrh., Steirische Taidinge (Nachträge), herausgegeben von A. Mell, und E. Frhrn. v. Müller, Österreichische Weisfümer X, Wien 1913, S. 201—203, Nr. 34.

57) Mit Ausnahme der wörtlichen Rezl.-U., die in Art. 27 (ed. Oblak, a. a. O. S. 186, ed. Koblar, a. a. O. S. 153) vom „huebmasfr“ spricht.

58) Stud.-B.-U. Art. 27 (ed. Oblak, a. a. O. S. 304).

se) Art.25, unten Anhang J. Entsprechend hat schon das BRB. in Art. 44, Mell, Weinbergrecht, S. 140 f., den „huebmaister zu Grezz“ des um die Mitte des 15. Jahrh. niedergeschriebenen Steirischen Bergrechts (Mell, a. a. O. S. 141, ad 44, B. R. A. Ill, Art. 2) durch des „landsfursten keller- maister“ erseft. | |

520

und jenen, die sich bei der praktischen Durchführung dieser Bestim- mungen herausgebildet haben. Dies gilt auch für die Stellung des Bergherrn, sofern er bei den Bergrechtsprozessen mitzuwirken hatte.

Die Bergtaidingsprotokolle der Landstraßer Abtei, die vom Juli 1590 an erhalten blieben, führen in dieser Zeit und noch fast ein halbes Jahrhundert lang zu Beginn der Aufschreibungen stets Tag, Monat, Jahr und Ort der Tagung an. In den ersten Jahrzehnten stets, später sporadisch wurde auch ausdrücklich angegeben, daß der Abt (scil. vom Landstraßer Zisterzienserkloster) das Taiding anbefohlen und gehalten hat. Er hat selbsfredend die Tagung eröffnet und ge- schlossen. Er war der Gerichisherr und Inhaber des Bergstabes, dem die Giebigkeiten und Strafen (sei es in Geld, sei es in Wein oder Most Bannwein) zufielen. Doch war seine Rolle in diesem Ge- biete grundverschieden von jener, die er im Weinberggebiete von Niederösterreich) hatte: Die Ausübung der Gerichtsbarkeit fiel keineswegs ihm, sondern den Gärichtsbeisikern unter dem Vorsibe des Gerichtsältesten zu, die alle dem Namen und Vornamen nach im Kopfe des Protokolles angeführt waren. Der Gerichtsherr besorgte bloß vornehmlich im eigenen fiskalischen Interesse die Aufschreibung aller Beschlüsse der Richter, ja hier und da hat er sie selbst nieder- geschrieben, meist aber bloß diktiert. Seine Aufgabe bestand darin, daß er die in den Bergtaidingsprotokollen beurkundeten Beschlüsse und Urteile nach der Tagung den Parteien ausfertigte und mit Siegel und Unterschrift versah.

Mit der Zeit hat sich aber das Interesse der Bergherren für die bloß formelle Beteiligung an dem BT. sichtlich abgekühlt: Hierzu hat neben dem allgemein bemerkbaren persönlichen Abrücken der Herr- schaftsinhaber vom gemeinen Volke sicher auch der Umstand viel beigetragen, daz das Verhalten der Bergbehörde häufig eben auf den BT. zum Gegenstande einer scharfen Kritik gemacht wurde. Denn das Volksgericht urteilte auf den Bergtaidingen auch bezüglich der Begehren, Klagen und Beschwerden der eigenen als auch frem- der Bergbehörden gegen die Weingärtner, aber auch allerdings seltener umgekehrt über die Beschwerden und Klagen der Wein- gariner wider die Bergbehörde oder ihre Funktionäre, insbesondere den Bergmeister. Es kam ab und zu vor, daß der Bergherr einen Prozeß verlor, ja auch offener Widerstand wurde seitens der Wein- gariner seinen Anordnungen enigegengesebt®!). Kein Wunder, daß die Bergherren keine Lust hatten, persönlich an den BT. teilzu-

% Dort hat der Bergherr das iudicium rurale ef ius vinearum geleitet, doch wurden keine Urteile gesprochen, sondern er hielt seinen Weingärinern eine Standrede und machte sie auf ihre Fehler aufmerksam. Die kleinen Rechissachen haben bloß vier Geschworene, die auf dem Bergtaiding ge- wählt worden sind, zu erledigen gehabt. Allerdings war in Niederösterreich kein BRB. in Kraft. |

1) Die einzelnen Fälle von dieser Art werden in den oben S. 305 Anm. 13 angeführten Abhandlungen angeführt. Auf eine detailliertere Wiedergabe der fraglichen Prozesse kann wegen der notwendigen Raumersparnis hier nicht eingegangen werden.

521

nehmen, und es vorzogen, sich durch eine andere Person ihres Ver- trauens vertreten zu lassen. Doch war dies nicht überall gleich. Ja nicht einmal ein und derselbe Bergherr hat stets den gleichen Vor- gang beliebt. So haben sich der Zisterzienser-Abt von Landstraß oder der Jesuiten-Superior von Pletriach durch den Prior oder Vor- stand des Kelleramtes oder einen Konfrater ohne Ehrenfunktion ver- treten lassen. Der Klingenfelser Bergherr war der Abt von Sittich (Zisterzienser), er residierte aber nie in Klingenfels und besuchte auch niemals die Bergtaidinge. In Verwaltungsangelegenheiten ließ er sich ständig durch zwei Patres oder Fratres als Administratoren vertreten; einer von den beiden präsidierte bei den Bergtaidingen. In Rudolfswert, wo die Kommende des Deutschen Ritterordens keine Geistlichen beherbergte, führten auch erbetene Adelige, z. B. Johann Siegmund Edler von Breckerfeldt aus Altenburg, den Vorsitz. In Seisenberg, dem Herrschaftssige der Grafen bzw. später Fürsten Auersperg, nahmen die Verwalter als Vertreter der Bergbehörde an den Bergtaidingen teil. Seit Anfang des 18. Jahrh. bemerken wir immer häufiger, daß an Stelle des Bergherrn als Vorsigender der Bergtaidings ein iudex delegatus angeführt wird, bald der Inhaber eines fremden Bergstabes, bald ein Geistlicher. Noch später übernahm die Leitung ein Beamter, wie der Hofrichter oder Ver- walter, schließlich sogar bloß ein Bergmeister.

Nach Auflösung der Sitticher Abtei mit der kaiserlichen Verord- nung vom 25. Oktober 1784 kamen die Klöster Sittich wie auch Klingenfels unter die Verwaltung des Religionsfonds. Dennoch hat noch bis zum 21. Februar 1786 Pater Josef Köschner die Berg- taidinge als „administrator et iudex“ eröffnet und geleitet. Erst nach seinem Abgange übernahm den Vorsitz der jeweilige Verwalter des Religionsfonds auf der Herrschaft Klingenfels. In den Weißenstein- schen Bergtaidingsprotokollen wird bis in die Anfangsjahre des 19. Jahrh. bald der Verwalter der Herrschaft, bald ein Gemeindevor- steher u pan) als Vorsigender angeführt. Wenn das BT. für meh- rere zusammengelegte Weinberggebiete abgehalten wurde, prä- sidierten auch zwei Gemeindevorsteher zugleich. Die jüngsten Pro- tokolle, die bis zum Jahre 1843 reichen, entstammen der Herrschaft Ainodt. Hier führte stets der jeweilige Verwalter oder Kontrollor den Vorsitz, allerdings war das Bergtaiding zu dieser Zeit schon zu jener „Bergraittung“ umgestaltet worden, auf der die Weingärtner fast durchwegs nur mehr die Befehle ihrer Herrschaft entgegen- zunehmen hatten.

8 12. Richter.

Die gerichtliche Funktion war in den Händen der Bergrichter geborgen, die ihren Obmann in der Person eines besonders ausge- zeichneten und geachteten „Altesten“ (starešina) hatten. Die Protokolle bezeichnen ihn als ,,Perchrichter“ oder „Perchtaidings- richter“, hier und da auch als ,,Unparteiischer Richter“ oder „iudex“

522

schlechthin. Die Richter das gesamte Kollegium wird einige Male als „Beysitzertoffel“ bezeichnet werden „Beisiker“, „Asses- sores“ oder auch kurzweg „Mejaschen“, aber auch „Perchholden“ genannt. In der Regel werden ihre Namen angegeben, nur wenn es dieselben waren wie bei den vorhergehenden Bergtaidingen, gestat- teien sich die Schriftführer die Abkürzung „Die gewöhnlichen Me- jaschen und Perchholden“.

Der Obmann präsidierte in einigen Gegenden mit dem Richter- stab in der Hand. Wenn auch er nie in die Gelegenheit gekommen sein kann, den Gerichtsstab nach Art der Bannrichter uber einen Schuldigen zu „brechen“, was dessen Verurteilung zum Tode be- deutete, so scheint es doch, daß die ständige Urteilsphrase „er wurde von der Klage entbrochen“, sowie die ständige Benennung der frei- sprechenden Urkunde als „Enfbrechsbrief“ ihre Herkunft einer sym- bolischen Anlehnung an die bezeichnete Verwendung des Gerichts- stabes des Bannrichters zu verdanken haben®). Ein und dieselbe Person durfte öfter, ja Jahre hindurch als Richter-Obmann sowohl bei den Bergtaidingen, als auch bei den Quatemberrechten fun- gieren. Besonders beliebt waren als Obmänner Stadtrichter und Gemeindevorsteher (Zupani). Seine Würde bekleidete der Ob- mann als „Gerichtsältester“ (starešina) lebenslänglich oder wenigstens bis zum Zeitpunkte, in dem er seines Alters wegen selbst um seine Enthebung ersuchte. Die Verleihung war in einigen Gebieten sicher einem Wahlakte der Beisiser zu verdanken; doch war die Wahl wohl noch von der Genehmigung der Vollversammlung, evenil. auch des Bergherrn bzw. seines enisandten Vertreters abhängig. Im Seisenberger Gebiete kam es Anfang des 18. Jahrh. dazu, daß die Verwalter der Herrschaft als Bergherren und zugleich als Obmänner der „Beisizeriafel“ fungierten; noch später in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. arrogierte sich der Verwalter auch selbständige Ge- richtsfunktionen und trat sozusagen als geseßlich bestimmter Prä- sident des Gerichtes auf. Einmal es war am 16. September 1783 in Altstrascha bei Ainödt wird als iudex delegatus neben einundzwanzig Beisitzern ein „Herr Josef Ambroschiß‘“ angeführt, der wahrscheinlich ein Abgesandter des Laibacher Inspektorates war, denn der damalige Verwalter, der sonst schon oft den Vorsitz führte, begnügte sich mit der bescheideneren Funktion eines Beisikers.

Die Beisitzer bildeten den „Ring“, der das Zentrum der versammelien Weingariner bedeutete. Der Ausdruck ist dem Ori- ginalbergbüchel entnommen (Art. 31)¢) und wurde in die slov. U. in der deutschen Form übernommen, hat aber im Volksmunde sicherlich auch „srenja“ (von sredina = Mitte) geheißen. Die Zahl der Richter-Beisiser war nicht so genau bestimmt, daß die Besegung in

es) Vgl. dazu auch Grimm, Deutsches Wörterbuch Ill, Leipzig 1862, S. 502 s. v. „Entbrechen“ ad c), E. v. Moeller, Die Rechissitte des Stab- a Zeitschr. d. Savigny-Stifig. f. Rechisgesch. XXI, Germ. Abt., 1900,

es) Mell, Weinbergrecht, S. 135.

525

einem ein wenig geringeren oder größeren Umfange ein Hindernis der Funktion in Prozeßsachen bedeutet hätte. Übrigens war dies für die verschiedenen Gebiete verschieden eingerichtet. In den meisten war die Grundzahl zwölf, aber auch die Zahl vierundzwanzig war vertreten. Ihrer Standeszugehorigkeit nach waren die Beisitzer insbesondere in der Zeit, als die Unterschiede zwischen Mejaschen und Bergholden noch starker hervorstachen, in der Mehrzahl Me- jaschen, ja in einigen Gebieten vielleicht ausschließlich Mejaschen. Später trifft man Protokolle, in denen Bergholden als einzelne Bei- Sitzer, aber auch für die gesamte „Beisikertafel‘ angeführt werden. Man liest sehr oft in den Protokollen, daß als Richter anwesend waren „die gewöhnlichen 12 (bzw. 24) Mejaschen und Perccholden“, aber auch „Mejaschen oder Perckholden“. Nicht selten wird ein Pfarrer, der Hofrichter oder ein benachbarter Gutsbesitzer als Bei- siķer angeführt, was von einer hohen Auffassung der Ehre, im „Ringe“ zu siken und zu richten, zeugt.

Auf welche Weise wurde man Beisiker? Nach den Bestim- mungen des BRB. sollte der Bergherr das Gericht besetzen. Dies scheint aber kaum je praktiziert worden zu sein. Denn in den Pro- tokollen liest man häufig, sie seien gewählt worden, hier und da wird es aber auch bloß konstatiert, der und der sei in den „Rat“ eingetreten. Nirgends haben wir aber eine Angabe gefunden, durch wen, wo und wie die Wahl getroffen wurde; sicher war dies nach dem Gewohnheitsrechte so allgemein bekannt, daß es einer Erwähnung gar nie bedurfte. Nun waren die Namen der Beisitzer Jahr für Jahr die gleichen. Also müssen wir uns vorstellen, daß die Zugehörigkeit zum Ringe so lange bestand, bis der eine oder andere infolge Krankheit oder Alters oder Todes ausfiel, worauf die not- wendig gewordene Wahl durchgeführt wurde. Sie vorzunehmen waren nach unserer Anschauung die übriggebliebenen Beisifer be- rechtigt. Dies folgern wir erstens aus dem Umstande, daß für die Beisiker ein Wahlakt durch die Vollversammlung oder eine Bestäti- gung seitens der Bergbehörde in keinem einzigen Protokolle be- urkundet ist, was bei den vielen Tausenden der Protokolle jedenfalls eine auffallende Erscheinung ist; zweitens aus dem Umstande, daß diese Art der Berufung der Richter in einigen istrianischen Statuten)

So heißt es im Statut für Kastav (Castua) bei Fiume in Kap. 67 (in Ubersetzung des kroatischen Textes): Am Tage des 11. Januar 1611 in der Stadt Kasiav im Hause des Richters Johann Gosčić, wann die ehrsamen Richter und Räte der Stadt Kastav versammelt waren (folgen elf Vor- und Zunamen) wurde von uns ein Kapitel des Gesees verstanden, in dem es heißt, daß wann einer von den zwölf Räten aus dieser Welt scheidet, die übrigen sich einen rechtschaffenen Mann an dessen Stelle auszuwählen haben, der ihnen als tauglich erscheint, keineswegs darf es aber gehen nach der Erbfolge, noch nach Bitten. Statut kastavski, uredio Fr. Raéki, Monumenta historico-juridica Slavorum Meridionalium edidit Academia scientiarum et artium Slavorum Meridionalium, vol. IV (Statuta lingua Croa- fica conscripta), Zagrabiae 1890, S. 198. Vgl. dazu C. Mikuž, Notranji ustroj avionomnih mesinih občin vzhodne Istre po kastavskem, veprinaäkem

524

ausdrücklich erwähnt wird und ein Grund für eine andere Vorgangs- weise bei der Gleichheit der Stammeszugehorigkeit nicht erfindlich ist. Dadurch ist es auch am leichtesten erklärlich, wieso ein Fremder so leicht ad hoc, d. h. auf einem einzigen Bergtaiding Eingang in den Ring finden konnte; es bedurfte eben nur der Zustimmung der übrigen Beisigfer, selbstredend in erster Linie des Obmannes.

Nun wurde aber einige Male auch ein Ausschluß eines Beisitzers aus dem Ringe beschlossen. Vor allem, wenn der Beisiser seine Pflicht, zum Bergtaiding zu kommen, nachlässig erfüllte. Im Jahre 1688 haben in Pletriach die Richter im Ringe selbst den Grundsak aufgestellt, daß nur „Gottesgewalt“ oder „wichtige Geschäfte“ ein Ausbleiben entschuldigen können, und wenn keine Entschuldigung zugebilligt werde, den Ausgebliebenen die Strafe von 6 ,,Vieriel“*) Wein zu treffen hat. Für den Fall des ad hoc-Ausbleibens „sine legitima causa“ wurde die Anzahl aus den anwesenden ange- sehenen -Weingarinern ergänzt. Aber auch aus anderen Gründen konnte ein Ausschluß erfolgen, so z. B. wegen Verübung einer straf- baren Tat oder wegen zänkischen Wesens. Selbstredend bedeutete dies eine ungemein schwer in die Wagschale fallende Ehrenstrafe. Dennoch ist sie einige Male vorgekommen. Nebenbei bemerkt, haben die Richter nicht nur den Anspruch eines solchen Ausschlusses eines Beisikers aus dem Ringe als ihre Gerechisame aufgefaßt, sie haben, wenn auch bloß vereinzelt, so doch sogar das Rechi in An- spruch genommen, einen Weingärtner durch ihr: Urieil aus dem Ver-

in moSteniskem statutu (Die innere Verfassung der autonomen Stadigemein- den des östlichen Istriens nach den Statuten von Kastav, Veprinac und MoSéenice), Pravni Vestnik (Der Rechtsbote), VII, Trst (Triest) 1927, S. 146.

e) Das „Viertel“ als bergrechtliches Weinmaß ist im allgemeinen dem „Tischkandl“ gleichzusetzen. Solcher „Tischkandin“ gingen zwölf bis sechs- undzwanzig, meist aber sechzehn, in einen „Emper“ oder „Eimer“. Der In- halt des Eimers wechselte wiederum nach den Gegenden. Nach den Ein- tragungen betreffend den Zehent- und Bannwein aus der Mitte des 18. Jahrh. wurde für die Herrschaft Seisenberg ein Emper mit 24 Kandl, für die Herr- schaft Klingenfels bald mit 12, bald mit 13 Viertl berechnet. Vgl. dazu F. Frhr. v. Mensi, Geschichte der direkten Steuern in Steiermark bis zum Regierungsantritt Maria Theresias, Forschungen zur Verfassungs- und Ver- waltungsgeschichte der Steiermark, VII, Graz und Wien 1910, S. 429—435: Der Grazer Eimer (105,01 | 1,858 Wiener Eimer) enthielt bis 1556 64 Tisch- viertel oder Tischkandl, die lokalen Flüssigkeitsmaße in Steiermark kennen Eimer von einem Inhalt, der zwischen 12 Tischvierteln und 1% Grazer Eimern schwankt. Vgl. auch A.Luschin, Vorschläge und Erfordernisse zu einer Geschichte der Preise in Österreich, Wien 1874. AN dem Gottscheer Urbar von 1574 led. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 28) faßten die als Weinmaß in der Herrschaft Gottschee gebräuchlichen Most Ense? oder „-Emer“ teils 12 „altter Weinmaß Tischkhanndlen oder Viertl“ und ein Seidel, teils 16% „Vieril Kanndlen“. Im Zehentregister der Herrschaft Wagensberg ` aus den Jahren 1747—1749 wurde ein Emper mit 4 Quart zu 4 Vierteln gerechnet. Nach „Der Fünf niderösterreichischen Lannde ... Ver- gleichung“ von 1532 (vgl. oben Anm. ) kommt der Inhalt zweier in den krainischen Weinberggebieten gebräuchlicher „Emper“ dem eines Wiener „Emers“ gleich (demnach etwa 28,25 1). Dann ware der Inhalt des „Kanndls“ oder Viertels auf etwa 2 I zu bestimmen.

525

bande der Weinbergbesiker auszuscheiden und ihn seines gesamten unbeweglichen Besiktums für verlustig zu erklären, am häufigsten bei Diebstahl und Unzuchtsfällen, wozu auch die Zeugung eines un- ehelichen Kindes gezählt wurde.

Weder der Obmann noch die Beisiker wurden für ihre Richtertätigkeit in bar entlohnt. Im BRB. wird einer Entlohnung ihrer Mühewalfung keine Erwähnung getan. In der Praxis fanden die Beisitzer allerdings Mittel und Wege, sich eine entsprechende Entschädigung dadurch zu verschaffen, daß sie Strafen in einer be- stimmten Anzahl von Eimern oder ,,Vierteln“ Weins diktierten, den sie dann gemeinschaftlich vertranken. Daß sie berechtigt waren, den Wein zu verkaufen und den Erlös zu teilen, erscheint weniger glaub- haft, weil davon in den Protokollen nirgends eine Erwähnung zu finden war. Wohl aber bezeugen die Protokolle und slov. U. des BRB., daß es auf den BT. nicht ohne Zechereien einherging. Einmal steht bei einem Beisiger der Beisab „Weingastgeber“. Die Kapsch-U. befiehlt aber in der Einleitung ausdrücklich, daß die Teilnehmer an dem Bergtaiding nüchtern bleiben müssen und daß kein „Leitkauf“ aufgetragen werden dürfe, während nach einigen Protokollen aus anderen Gebieten die Strafe in Wein eben als „Leitkauf“ fur die Beisitzer diktiert wurde.

§ 13. Der Bergmeister.

Das Rückgrat des wirtschafilichen und rechtlichen Lebens in den Weingebirgen waren die Bergmeister. Dieses Institut überlebte selbst die Lebensdauer der BRB. Es war von allem Anfang des Weinberglebens in allen Vorgängern des BRB. vorgesehen, fand in allen slov. U. ausnahmslos Eingang, spielte in jedem Bergtaidings- proiokolle eine gewichtige Rolle, es wurde auch noch in der Wein- leseordnung vom 28. jänner 1832 Zl. 27049 beibehalten, die für den Neustadtler (Rudolfswerter) Kreis herausgegeben wurde und bis zum Jahre 1860 in Geltung verblieb.

Trok der hervorragenden Bedeutung, die dem Institute der Berg- meisterschaft zukam, war der Wirkungskreis der Bergmeister nicht eindeutig bestimmt, ihre Funktionen waren je nach dem Gebieie ver- schieden, ja selbst unter demselben Bergstabe konnten sie un- gleich sein. |

Im allgemeinen war der Bergmeister das Organ, welches die Verwaltung der Weinberge in einem abgeschlossenen Gebiete führte. In der ältesten Periode unserer Protokolle war er in einem gewissen Sinne geradezu der Stellvertreter und Vertreter des Bergherrn. In einigen Gebieten trug er noch im 18. Jahrh. ein sichtbares Zeichen seiner Wurde, einen Bergmeisterstab, in der Hand. Wenn dies nur einmal in den Gerichtsprotokollen erwähnt wurde, so mag das darauf zurückgeführt werden können, daß es zu bekannt war, als daß man es in das Protokoll besonders eingetragen hätte. Er war derjenige,

526

der Klagen im Namen des Bergherrn vorbrachte. Überall kam er als Erster zum Worte; erst nach ihm durften Privatparteien als Kläger auftreten. In einigen Gebieten fungierte er gewissermaßen selbst- verständlich als Beisitzer, sehr häufig auch als Obmann der Beisitzer- tafel. Dies beweist, daß er zugleich Vertrauensmann des Bergherrn und der Bevölkerung war. Hundert Jahre später änderte sich das Bild. In der Rudolfswerter Umgebung war er bloß Exekutionsorgan des Bergherrn, desgleichen in Seisenberg und Ainodi; er urteilte nie, sondern klagte bloß im Namen der Bergbehörde an. Als er einmal in Ainodt als Richter dem Ringe beigezogen wurde, hat dies eine besondere Anmerkung im Bergtaidingsprotokolle zur Folge gehabt. Im übrigen sank seine Rolle im Laufe der Zeit vielfach zu der eines Weinbergpolizisten herab, der bei etwas sirengerer Auffassung seiner Pflichten entsprechend angefeindet wurde.

Seine Pflichten in ökonomischer Hinsicht umfaßten die Aufsicht darüber, daß die Wege ausgebessert und neue nicht angelegt wurden; daß die Zäune in sicherem Zustande erhalten blieben; daß mit der Weinlese nicht früher begonnen wurde, als es die Bergbehörde an- ordnete; daß das Vieh im Weingebirge nicht Schaden verursachte. Besonderes Augenmerk hatte er in letzterer Beziehung auf die Ziegen und Schweine zu richten. In moralischer Beziehung hatte er dafür zu sorgen, daß die Weingärtner an den heiligen Messen und Pro- zessionen teilnahmen; daß sie den nach uralfer Gewohnheit am Tage eines bestimmten Heiligen (z. B. in Landstraß des hl. Florian oder auch Sigismund) begangenen Festzug durch das Weingebirge mit- machten; weiter, daß im Weingebirge keine unerlaubten Verhältnisse zwischen Leuten beiderlei Geschlechtes geduldet wurden; daß etwa vorgekommene Fälle der Unzucht mit Tieren der Strafe zugeführt wurden; daß das Fluchen im Weinberge nicht einreiße und dergl. mehr. In rechtlicher Beziehung war er der Vermittler zwischen dem Berg- herrn und dessen Untertanen. Bei ihm wurden Anzeigen wegen un- sittlichen Verhaltens, Diebstahls, Viehschäden, Raufereien angebracht; bei ihm wurde das auf fremdem Boden im Schadenzufügen angetrof- fene Vieh zur Aufbewahrung eingestellt, damit es als Pfand für die Entschadigungsanspriche diene. Der Bergmeister war Schäkmann bei Schadensfällen, Vollstrecker der Beschlüsse des Bergtaidings, Aufseher in Ansehung der Wein- und Getreideausfuhr, des Wetter- schieBens**) usw. Er hatte das ungemein wichtige Recht, im Namen der Bergbehörde in dem Weingarten vor dem Eingang ein Kreuz aus Brettern oder aus Strohbündeln aufzustellen oder den Wein- gartenkeller („Gaden“) unter Petschaft zu seen. Dies bedeutete das strikie Verbot, den Weingarten oder die Felder zu beitreten. Die

66) Das Wetterschießen wurde im 18. Jahrh. in den Weingartengebieten vielfach geübt; allerdings beruhte es auf abergläubischen Motiven, da durch das Schießen die Hexen aus den Wolken vertrieben werden sollten. (Vgl. Dolenc: „Über das Schießen in Slovenien“, erschienen in slov. Sprache in der Monatsschrift Gruda (Die Scholle), Jg. 1924, S. 113 ff.)

527

Ubertretung dieses Verbotes zog eine Strafe nach sich, die bei Wiederholungen so weit gesteigert werden konnte, daß es zum Heim- fall des Weingartens an den Bergherrn kam. (Nur nach einer Hand- schrift der Ainödt-U. traf die Strafe den Schuldigen erst beim zehnten Ubertretungsfalle.)

Fur seine Dienstverrichtung bekam der Bergmeister eine Ent- lohnung in der Form einer Quote von den eingebrachten Straf- betragen; so war es im Orig. BRB. im Art. 48 bestimmt, dabei wurde sein Anteil an den Strafgeldern, ohne Riicksicht auf deren Hohe, mit jeweils zwölf Pfennig festgesetzter. In einigen slov. U. ist aber dieser Artikel zur Ganze ausgelassen worden. Auch sind in den Bergtaidingsprotokollen keine Vermerke enthalten, ob etwas bzw. wieviel von den Sirafgeldern auf den Bergmeister entfallen ist. Allerdings wird ab und zu, wenn eine Strafe in Bannwein diktiert wurde, ein gewisses Quantum direkt dem Bergmeister zugesprochen. In den Protokollen vom Jahre 1801, in denen eine autonome Abände- rung des Inhaltes der Bergartikel ersichtlich gemacht worden ist, wird angegeben, daß er für die Schätzung und den dabei zu machen- den Weg je ein „Viertel“ Wein zu bekommen habe. Aus anderen, noch jüngeren Protokollen erfahren wir, daß er jährlich ein gewisses Quantum, zehn Eimer, in Wein als Entlohnung von der Gesamtheit der Bergleute beanspruchen durfte, dabei aber von der Pflicht, die abliefernden Weingärtner zu bewirten, losgezählt wurde. In vielen Gebieten war der Bergmeister von vornherein frei von der Verpflich- tung, das Bergrecht und den Zehent zu leisten, wobei er allerdings die Abgeordneten des Bergherrn gastlich zu empfangen, den Ab- geordneien des Zehentherrn aber bloß „Speis und notdurft“ zu reichen hatte.

Die Bergmeister waren aber in Ansehung ihrer Diensiverrich- tungen nicht bloß dem Bergherrn, sondern auch den Weingarinern verantwortlich. Die Bergtaidingsprotokolle berichten ziemlich oft von Klagen gegen die Bergmeister; bald sollen sie ihren Dienst zu lax versehen, bald die Grenzen ihrer Machtbefugnisse überschritten haben. Auch Klagen sind verzeichnet, daß sich ein Bergmeister zu sehr der Trunksucht ergeben hätte. Das ,,Gemein-Urtl“ (von dieser Einrichtung wird noch weiter unten die Rede sein) hat ihm Besserung aufgeiragen, weil er sonst seines Amtes entsest werden würde. Nicht gar selten kündigte der Bergmeister auf dem Bergtaiding seinen Dienst auf, weil er von den Weingärtnern zu viel Unangeneh- mes hören mußte

Die Ehre, als Bergmeister zu fungieren, war in einigen Gebieten erblich. Die Protokolle führen durch Jahrzehnte die gleichen Familien- namen an und erwähnen, daß der neue Bergmeister des alten Sohn ist. Wo aber solche Verhältnisse nicht bestanden, wurde der Berg- meister gewählt, und zwar in der Vollversammlung, allerdings war die Zustimmung der Bergbehörde zur getroffenen Wahl notwendig

€) Mell, Weinbergrecht, S. 143.

528

Erst im 19. Jahrh. konnten die Bergmeister, z. B. von der Bergbehörde in Ainödt, einfach bestellt werden, und die Bestellten mußten auch gegen ihren Willen den Posten übernehmen, weil sie sich sonst einer Strafe ausgesetzt haben würden®®).

§ 14. Die Suppane (župani).

Der Dienst der Suppane stand in einer engen Beziehung mit jenem der Bergmeister. In den Protokollen werden zweierlei Suppane er- wähnt, nämlich der ,Bergsuppan“ und der „Suppan“ schlechthin. Die erstgedachten waren Ortssuppane auf dem Weingebirge, die dortselbst die Funktionen eines Ortsvorstehers mit jenen des Berg- meisters verbanden; die zweiten hatten nur Ortsvorsteherdienste zu versehen. In einem Beeidigungsprotokolle aus der Umgebung von Rudolfswert (vom 24. Okt. 1730) werden beide zugleich, aber jeder unter seiner eigenen Bezeichnung, als Zeugen des Beeidigungsaktes angeführt.

In zwei Gebieten Pletriach und Weichselburg gab es auch Suppleuth; ihre Existenz ist wenigstens beurkundet worden. Sie hatten dafür Sorge zu tragen, daß die herrschaftlichen Unter- tanen rechizeitig zur Robot erschienen. Diese ganze Einrichtung beweist, daß die Suppane in der Vergangenheit als Ortsvorsteher niedere wirtschaftliche Bedienstete der Herrschaft waren®). Die Herrschaften haben sie vornehmlich aus einer bestimmten Familie entnommen, solange diese hierzu geeignete Personen darbot. Als Entlohnung wurde ihnen der Fruchigenuß bestimmter Acker, die „županice“ Suppansäcker genannt wurden, überlassen”). Wo mehrere Ortschaften mit mehreren Suppanen auf ein und demselben Weingebirge lagen, wurde derjenige unter ihnen, der zugleich Berg- meister war, Bergsuppan genannt.

815. Die „Referenten“

Zweierlei Funktionäre, die bei den Bergtaidingen eine Rolle spielten, hat die Praxis ins Leben gerufen; von ihnen ist weder im Originale noch in den slov. U. des BRB. die Rede, ihre Existenz ist jedoch durch Bergtaidingsprotokolle sichergestellt. Sie waren das Produkt der praktischen Bedürfnisse.

es) Ausführliche Bestimmungen über die Einkünfte und Lasten der „Perkembfleuth“, deren Tätigkeit in der Herrschaft Gottschee derjenigen der Bergmeister in den vorigen Weingebirgen entsprach, enthält das Gott- scheer Urbar von 1574 led olsegger, a. a. O. IV, S. 23 f.).

Val. über die Entwicklung des Suppansamtes jetzt auch F. Gor- šič, Župani in knezi v jugoslovanski pravni zgodovini (Les „joupani“ et les princes dans Phistoire du droit yougoslave), CZN. XXV, 1929, S. 16—49 (S. 48 f. deutsches Résumé). -

re) Vgl. über derartige Amtsgüter L. Hauptmann, a. a. O,, passim. Beispiele für derartige als Supnicza, Suppwissl, Supp- Ge- rechtigkeit, Suppgründte bezcichnete Amtsgüter im Gottscheer Urbar von 1574 ‘led. Wolsegger, a. a. O. Ill, S. 146—177).

529

A. Die erste Ari waren die „Referenten für Gemein-Urteile“. Wie schon oben (8 8) erwähnt, wurde auf jedem BT. ausnahmslos zu Anfang der Tagung über solche Angelegenheiten verhandelt, die das allgemeine Wohl und Wehe der Gesamiheit aller Weingariner be- trafen. Nach der Eröffnung des BT. und der Verlesung (im 19. Jahrh.: „Ausdeutung“ des Inhalts) des BRB. kam es sofort zu der Erörte- rung jener Punkte, die ins „Gemeinuril“ aufgenommen werden sollten. Die betreffenden Beschlüsse waren nicht Akte der Judikatur, sondern Akte der autonomen Verwaltung, durch welche zum Ausdruck ge- bracht wurde, was die Vollversammlung der Weingärtner eines in sich abgeschlossenen Gebietes als für die Gesamtheit nützlich oder zweckdienlich betrachtet und daher im Interesse aller Weingärtner als allgemeinverbindlich erklärt wissen will. Dieser autonome Ver- waltungsakt, der nach einer gemeinsamen Beratung in der Vollver- sammlung gesekti wurde, hieß das „Gemein-Urt!“ In der Ein- leitung zu einem solchen Gemeinurteile gaben die Weingärtner ihre ergebenste Versicherung ab, daß sie nach den eben zuvor vor- gelesenen Vorschriften des BRB. leben wollen. Hier und da wurde in diese einleitende „Resolution“ eine Wendung eingeflochten, die darauf hindeuten sollte, daß auch der Bergherr durch den Inhalt des BRB. gebunden erscheint, z. B.: „Die Pergarticl wurden punctatim vorgehalten, sollen allseits observiert werden“. Im Laufe der Zeit, insbesondere seit dem Beginne des 18. Jahrh., wird die Einleitung fast ständig dahinlautend beschlossen, daß sich die Weingärtner für die Abhaltung des Bergtaidings bedanken, ab und zu mit dem Bei- sake, „daß die kk. Freiheiten“ oder „die kais. kon. Artikel“ genaue- stens eingehalten werden sollen. Allerdings haben sich die Wein- gärtner im Klingenfelser Gebiet in der Zeit vom 12.—18. März 1801 an drei aufeinanderfolgenden BT. die Bergartikel autonom abgeändert (siehe Anhang II)74) und sich gegenseitig verpflichtet, sie unter Straf- sanktion halten zu wollen. Dies ist um so bezeichnender, als die Protokollierung dieser Eigenmächtigkeiten der Vertreter des Reli- gionsfonds besorgte.

Wie bereits oben (86) erwähnt, gab es auch Gemeinurteile, die der Bergbehorde gegenüber Ungehorsam, ja trogfigen Sinn bekunde- ten. Einige Male wurden Gemeinurieile geschöpft, daß die Berg- behörde in Hinkunft nur die alten Maße und nicht die größeren ge- brauchen dürfe, wann das Bergrecht eingehoben wird. Einmal (11. Okt. 1594) wurde der Beisa& der Weingariner protokolliert, sie würden, wenn der Herr oder seine Abgesandien mit einem neuen Maße kommen, das ihren gerechtenForderungen nicht entspricht, dieses in kleine Stücke zerschellen. Auch darüber wurde einmal ein Gemein- Urteil geschöpft, daß die Dingstätte auf einen anderen Ort über- tragen werden solle, wodurch die Weingärtner selbst in Mißachtung der alten Gewohnheit eine augenscheinliche Neuerung schufen. Spe- zielle Anordnungen des Bergherrn wurden bei dieser Gelegenheit

71) Unten S. 367 f.

550

meist zur Kenninis genommen, hier und da wohl auch einer Kritik unterzogen. Aber auch okonomisch-praktische Beschlüsse wurden im „Gemein-Urtl“ gefaßt. Es wurde die Herrichtung der Wege, Er- haltung der Zäune, das Zuschüffen der Pfuken angeordnet, die nachbarliche Hilfe bei Viehschäden bewilligt, der Anfang der Wein- lese bestimmt, der aleatorische Verkauf der Weintraubenernte „am grünen Ast“ verboten, die Verrichtung von Arbeiten einschließlich des Fisolenklaubens am Freitag oder an Sonn- und Feiertagen oder während der Prozessionen, die im Frühjahr auf dem Weingebirge veranstaltet wurden, unter Strafsanktion gestellt. Nicht selten wur- den Strafbestimmungen pro futuro aufgestellt, z. B. das Erschießen des Tieres, das Schaden verursachte, oder die Durchprügelung der Nachlesediebe und dergl. Hier wurde die Errichtung einer Kapelle oder eines Wahrzeichens beschlossen und die Aufteilung der dadurch entstehenden Kosten bestimmt. Gemein-Urteile sehen die Beiträge fest, die die einzelnen Weingärtner in Geld zu entrichten hatten, damit das Wetterschießen zur Verscheuchung der Hexen aus den Wolken sowie das Wetterläuten besorgt werden konnten. Auf der Vollversammlung wurden, wenigstens in der Zeit bis zum 18. Jahr- hundert, letztwillige Anordnungen der einzelnen Weingärtner getroffen, zur Kenntnis genommen und im Protokolle beurkundet. Hier wurden ab und zu die Besikveränderungen angezeigt und fur einen drohenden Schaden antezessorische Entschädigungsansprüche gestellt.

Den gesamten Komplex dieser Fragen: mußte jemand evident führen. Da die diesfälligen Entscheidungen nicht im Ringe der Bei- siser, sondern in der Vollversammlung der oft nach Hunderten zählenden Weingärtner zu schöpfen waren, kann es nur als natürlich erscheinen, daß eben für die Angelegenheiten besondere „Urteils- referenten“ aufgestellt waren. Meist waren es zwei besonders erfahrene und angesehene Weingartenbesiker, Mejaschen oder Berg- holden, die zunächst den anwesenden Bergherrn oder dessen Ab- gesandten im Namen der gesamten Weingärinergemeinde ehrfurchts- voll begrüßten; ob ein Zeremoniell festgese§t war, kann den Proto- kollen nicht entnommen, wohl aber vermutet werden. Sodann legten sie die ihrer Ansicht nach entsprechenden Vorschläge dem Plenum zur Schlußfassung vor. Sofern kein Widerspruch erhoben wurde, galt der Vorschlag als „Gemein-Urtl“ und wurde von dem Abge- sandten des Bergherrn protokolliert. Man darf annehmen, daß später, etwa im 18. Jahrh., nur jene Gemeinurteile in das Protokoll auf- genommen wurden, die auch die Bergbehorde zu genehmigen befunden hat.

Diese beiden Urteilsreferenten waren zumeist nicht Beisiger: aus den BT.-Protokollen kann allerdings das Gegenteil auch nicht erwiesen werden. Die Namen der Beisiser wurden nämlich stets, jene der Urteilsreferenten aber nur selten angeführt. In einigen Ge- bieten, so in Seisenberg und Ainödt, werden Urteilsreferenten nicht einmal erwähnt. Doch kann u. E. daraus nicht gefolgert werden, daß es ın diesen Gebieten solche nicht gegeben habe. Viel näher liegt

551

die Annahme, daß sie allgemein so bekannt waren, daß sich schon aus diesem Grunde die Anführung ihrer Namen erübrigte. Wir dürfen sogar annehmen, das Institut habe sich dahin entwickelt, daß aus diesen Urteilsreferenten Ausschußmänner geworden sind. Ende des 18. Jahrh., als die BT.-Gebiete vielfach zusammengelegt und die Dingstätten in die Schlösser verlegt wurden, was die Teilnahme an den Bergtaidingen stark beeinträchtigt hat, tauchen auf einmal eben im Gebiete Ainodt je zwei Ausschußmänner für je ein Gebiet auf, die gewisse Funktionen übernehmen mußten, im 19. Jahrh. sogar die Person des Bergmeisters ohne Mitwirkung der Veliver- sammlung oder des Richterkollegiums vorzuschlagen hatten. Die gleiche Erscheinung finden wir auch im Klingenfelser Gebiet zu An- fang des 19. Jahrh. Es liegt auf der Hand, daß die ehemaligen Urteils- referenten nunmehr als Ausschußmänner die gemeinschaftlichen Interessen der stark gelichteten Weingärtnerversammlung zu ver- treten hatten, andererseits aber auch für die Durchführung der An- ordnungen, die die Bergbehorde auf der ,,Bergraittung“ zu ver- kündigen beliebte, sorgen mußten.

B. Eine andere Gafhmg von Referenten bildeten die Bericht- erstatter bei der Schöpfung der konkreten Entscheidungen in dem einzelnen „im Ring“ vor der Beisikertafel anhängig gemachten Rechtsstreite. Nachdem Klage und Antwort der Prozeßparteien an- gehört, die Zeugen vernommen worden waren, mußte jemand unter den Beisitzern sozusagen als erster Votant das Wort bekommen, um seinen Rechtsstandpunkt bekanntzugeben und eine dementsprechende Entscheidung Urteil oder vorläufigen Verfagungsbeschluß in Antrag zu bringen. Die Parallele zwischen diesen Referenten und den Urteilsfindern des altgermanischen Dings, dem späteren Rachim- burgen, liegt auf der Hand. Wer nun als Urteilsfinder bei den Wein- bergsprozessen des 16.—18. Jahrh. berufen war, kann aus den Ge- richtsprotokollen nicht entnommen werden. Ihre Berufung entsprach wohl althergebrachter Sitte. Auch wurden diese Urteilsfinder in den Protokollen nur in einigen Gebieten mit Vor- und Zunamen angeführt. Vielfach waren es Beisitzer, doch nicht immer. Es gibt eine Reihe von Fällen, in denen nicht eine unter den Richtern angeführte, sondern eine ganz fremde Person die Urteilsfindung in Vorschlag brachte. Man darf wohl annehmen, daß es vielleicht ein besonders angesehener Weingartner war, der seines Alters wegen schon aus dem Ringe aus- geschieden war. Auch ist es ab und zu geschehen, daß die Richter selbst jemand aus dem Auditorium aufgefordert haben, er möge als ein mit den Verhältnissen besonders gut vertrauter Mann seine Meinung abgeben. In ein und demselben Protokolle finden: wir der Reihe nach für verschiedene Prozesse verschiedene Urteilsfinder. Aber auch solche Fälle wurden protokolliert allerdings sehr selten —, daß jemand aus dem Auditorium der Vollversammlung mit seinem Rate in vorlauter Weise hervorgetreten ist, dafür aber aller- dings an Ort und Stelle gestraft wurde.

Eine Einflußnahme der Vertreter der Bergbehorde auf die Be-

552

stimmung der Urteilsfinder kann nicht ausgeschlossen werden, zumal in der späteren Zeit und in den Gebieten, wo die Abgesandten der Bergbehörde auch die richterlichen Agenden als Obmänner der Bei- sikertafel an sich gebracht haben.

Bei der Schlußfassung ist fast immer Einhelligkeit erzielt worden. Selten wird der Vermerk gefunden, die Entscheidung sei nur mit Majorität der stimmberechtigten Beisizer geschöpft worden. Aller- dings wird hier und da die Stimmeneinhelligkeit des Beschlusses ver- merkt, um der Wichtigkeit der Sache Nachdruck zu verleihen.

8 16. Die Protokollführer.

Die Notwendigkeit, alles Wichtige aufzuzeichnen, was auf dem BT. vorgefallen ist, machte sich vorzüglich auf Seite des Bergherrn bemerkbar; flossen doch die zahllosen dort verhängten Geldbußen in seine Kasse. Weiter hat der Bergherr auf Verlangen der Parteien Ausfertigungen der Urteile und Beschlüsse der Bergrichter heraus- geben müssen, wofür ihm wiederum Gebühren zu zahlen waren. Schließlich beirafen die Enischeidungen der Bergrichter vielfach Rechtsgeschäfte, die nach Vorschrift des BRB. nur unter Genehmi- gung des Bergherrn wirksam werden konnten, z. B. die Besi§ver- änderung, Verpfändungen, les§twillige Anordnungen usw. Die Ge- nehmigung wurde aber auch von der Entrichtung gewisser Gebihren (laudemium, mortuarium, Gewahrtaxe) abhangig gemacht.

Die Protokolle sind in deutscher Sprache gefuhrt worden, nur hier und da wurden slovenische Ausdrücke, die schwer übersekbar waren (z. B. Schimpfworte) oder aber eine technische Bedeutung hatten (so „Mejaschen“] in den Inhalt des Protokolles eingeflochten. Vereinzelt wurden auch Eidesformeln in slovenischer Sprache nieder- geschrieben, da die Parteien nur dieser Sprache mächtig waren. Zweifellos haben sich aber die Verhandlungen auf dem BT. in slove- nischer Sprache abgewickelt. Daher war die Beiziehung eines Schrift- führers notwendig, der beide Sprachen, die slovenische und die deutsche, gut beherrschte. Die hierzu geeigneten Personen hat die Bergbehörde selbst ausgesucht und zum BT. geschickt. Doch erhellt aus einigen Protokollen, daß sie nach dem Diktate des Bergherrn geschrieben waren, der auf dem BT. den Vorsitz geführt hat. In diesem Falle war die Beiziehung des Protokollisten zwar nicht un- bedingt erforderlich, immerhin aber auch nicht ausgeschlossen. Die Protokolle sind häufig nicht an Ort und Stelle, sondern erst später am Sige der Herrschaft oder sogar an einem anderen Orte nieder- geschrieben worden (z. B. in Laibach). Die Protokolle wurden für die BT. unter allen Umständen angefertigt, wenn es auch keine Rechtsstreitigkeiten gab, die bei dieser Gelegenheit zu schlichien waren. Gab es doch unter allen Umständen ein Gemeinurteil zu schöpfen, und war es noch so knappen Inhaltes, so mußte es jeden- falls stets in ein Protokoll aufgenommen werden.

Nach der Übung der damaligen Zeiten vor zwei, drei Jahrhunder-

22 NF 5 l 355

ten, wurden die Protokolle von niemandem unterschrieben. Nur ganz vereinzelt, z. B. zum ewigen Gedächtnisse, daß einmal zufällig keine Klagen vorgekommen, unterfertigte das Protokoll mit einem ent- sprechenden Vermerke der Abt als Bergherr selbst. Erst in der Zeit unmittelbar nach Josef Il. werden die BT.-Protokolle häufiger, seit etwa 1820 aber regelmäßig vom Bergherrn und vom Schriftführer, allenfalls auch vom Bergmeister und den Ausschußmännern gefertigt.

Die Protokolle aus der Zeit, in der die Bergherren nicht mehr selbst den Vorsitz führen wollten, geben beredte Kunde davon, daß auch hochgebildete Protokollisten an den Bergtaidingen teilgenom- men haben, die mit dem römischen und kanonischen Rechte vertraut waren. Es finden sich eine Menge fachmännischer Zitate aus den erwähnten fremden Rechten vor.

Die Protokolle wurden mächtigen gebundenen Folianten einver- leibt. Doch nicht alle! Hier und da fehlen für eine Zeitperiode alle Protokolle. Es wäre unangebracht, daraus folgern zu wollen, daß in der besagten Zeit kein BT. stattgefunden habe. Es kann sein, daß das Protokoll auf besonderen Bogen niedergeschrieben und dann in den Folianten lose eingelegt wurde, später aber verloren ging. Solche bloß eingelegte Protokolle sind keine Seltenheit. Es kann aber auch sein, daß kein Protokollist zum BT. erschienen war, - so daß die Weingärtner das BT. ganz unter sich abhielten. Schließ- lich war es auch gewiß möglich, daß ein Protokollist aus Nachlässig- keit die Niederschrift des Protokolles unterließ’?).

8 17. Die Hilfsorgane des Bergherrn.

Jede Bergbehörde mußte sich gewisser niederer Organe be- dienen, wenn sie solche Anordnungen vollziehen lassen wollte, die der Bergmeister nicht durchführen konnte, bzw. die man ihm nicht anvertrauen oder überantworten wollte, etwa wegen der weiten Ent- fernung vom Sie des Bergherrn. Im Ainodter Gebiete war z. B. vom Siķe der Herrschaft bis zum Wohnorte des Bergmeisters in Weißkrain fast eine Tagereise nötig.

Solche Organe werden in den verschiedenen Protokollen unter verschiedenen Namen angeführt. So hört man von „Quartherrn“ oder „Dezimatoren“. Sie waren Bedienstete, die das Bergrecht, Zehentrecht, den Bannwein und auch andere Giebigkeiten einzu- bringen hatten. In vielen Gegenden durften sie nur unter Begleitung des Bergmeisters ihren Dienst versehen. Im Klingenfelser Gebiete treffen wir „Petschafter“ an. Vermutlich waren es Pfändungsorgane, die die Keller oder andere Gebäude zu ,,verpetschieren“ (versiegeln) hatten, allerdings unter Beobachtung von bestimmten formellen Vor-

73) An dieser Stelle sei es gestattet, auf die vielen Parallelen zu den Ehedingen der Zittauer Ratsdörfer hinzuweisen. Siehe F. M. Mitter, Die Grundlagen der Gerichtsverfassung und das end der Zittauer Rats- en en A des 16. bis zum Ende des 18. Jahrh. (Leipzig 1928); vergl. insb. S. 12 u. ff.

554

schriften, die hier nicht des nähern erörtert werden sollen. Im Seisen- berger und Ainodter Gebiete bediente sich die Bergbehörde der. „Weinzedl“; sie waren Zustellorgane und mußten auch das vom Bergmeister gepfändete Vieh in den Herrschaftsstall einbringen.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß in anderen Weinberggebieten, von denen uns keine BT.-Protokolle erhalten blieben, noch andere niedere Hilfsorgane verwendet wurden. Welchen Namen immer sie in den verschiedenen Zeiten und Gegenden führten, ihre Aufgabe war wohl stets mit dem Zustellungs- und Vollstreckungsdienste ver- quickt.

C. Unterschiede bei den übrigen Volksgerichten. § 18 Billich- und Quatemberrechte.

Da die Billichrechte ebenso wie die BT. reine Kausalgerichte waren, bestanden nur unbedeutende Unterschiede in deren innerer Organisation.

Gesefliche Bestimmungen bezüglich des Billichrechtes sind uns nicht bekannt, sie dürften auch höchstwahrscheinlich nie besonders aufgestellt worden sein. Wir können nur annehmen, daß sie in Nach- ahmung des Institutes der BT. entstanden sind und sich fortan ge- wohnheitsrechtlich erhalten haben. Im ganzen sind überhaupt nur rund neunzig Protokolle über abgehaltene Billichrechte bekannt, wo- mit aber selbstredend nicht gesagt sein soll, daß außer den pro- tokollierten Billichrechten keine anderen abgehalten worden wären. Wir müssen im Gegenteil bei den horrenden Mengen des Billiches, wovon geradezu märchenhafte Dinge erzählt wurden“), annehmen, daß auch anderswo außer in Landstraß und Pletriach Streitigkeiten in Ansehung des Billichfanges durch Volksrichter geschlichtet werden mußten. Jedenfalls ersehen wir aus den erhaltenen Protokollen, daß der innere Aufbau des Billichrechtes jenem der beiden Bergtaidinge im großen und ganzen ähnlich war und nur geringfügige Besonder- heiten aufwies. Es gab vielleicht auch da Vollversammlungen, doch ist es nicht beurkundet, daß sie sich mit den allgemeinen Fragen des Billichfangs befaßt hätten. Wir wissen auch nicht, ob die Grund- herrschaften besondere Jagdreviere aufgestellt haben. Vermutlich haben die Teilnehmer des Billichrechtes, nämlich alle in der Nahe der Wälder mit Billichbeständen angesiedelten Bauern, an den Re- vieren, wie sie sich von selbst gewohnheitsrechtlich gebildet haben, festgehalten. Die Jagdberechtigten mußten der Herrschaft eine be- stimmte Anzahl der gefangenen Billiche abliefern, vielleicht auch nur deren Felle, im Seisenberger Gebiete den zehnten Teil.

Die Anzahl der Richter betrug zehn bis zwölf, den Vorsif führte ein gewählter Obmann.

Die Prozesse drehten sich vielfach um „Billichgruben“, um Ent-

73) Siehe J. W. Valvasor, Die Ehre des Herkogthums Crain. Lai- bach 1689. I. B., S. 437—442. |

555

wendungen und dergl. Sie wickelten sich aber genau so ab wie jene auf den BT. Auch die Vollstreckung der Urteile, die auf dem Billichrechte beschlossen worden waren, wurde nach Art derjenigen der BT.-Urteile durchgeführt..

Bezüglich der inneren Organisation der Quatemberge- richte ist vorauszuschicken, daß für Krain eine besondere Bestim- mung der Landgerichtsordnung vom 18. Februar 1535, also aus einer Zeit knapp vor Sanktionierung des BRB. ın Geltung stand, die die Zuständigkeit für die niedere Gerichtsbarkeit betraf. Sie lautete folgendermaßen: „So sollen ... unsere (sc. die landesherrlichen) Pfleger, Ambt-Leuth oder ihre nachgesekten Land-Richter, wann sich unter den gemainen Bauersleuthen, auch andern der Landleuth Unterthanen, Unzuchten und Unbescheydenheyten zutragen, als offt beschicht, daß einer den andern an seiner Ehre antast oder einer Unthat, als Dieberey beschuldigt, dazwischen sich Maulstreiche und Harrauffen begehen, und daß man mit Wöhren zu drucken Streichen kommt, aber doch niemands kein Leibschaden zugefügt, oder so einer beschädigt, Blutrust und Lahm geschlagen wirdet, wo er auch seiner Wohr nur schlechtlich entplost, zu verstehen, daß dadurch kein Pein- liche oder Halsstraff verdient wird, Solch und dergleichen schlechter Sachen fur Land-Gerichts-Händel achten: Erklahren wir ihnen, daß nun furan unsere Land-Rifchlier sich solcher schlechten Sachen zu richten nicht unterstehen, sondern die einen jeden Grundherrn selbst in krafft ihrer Freyheiten handlen und richten lassen sollen“ ].“ Diese

Differenzierung hat allerdings die geringfügigeren Delikte noch nicht den Volksgerichten zugewiesen, jedenfalls aber die Existenz von niederen Gerichten für sie vorausgesebt, deren Weiterbestand der Gesetzgeber nicht beseitigen wollte. Da aber, wie urkundlich be- wiesen’), schon vorher Quatembergerichte in Krain auch für solche causae minores ihre Urteile schopften, waren die Patrimonial- herrschaften gerne bereit, sie in ihrer Tätigkeit zu belassen, zumal die diktierten Geldbußen in ihren Säckel flossen”). Allerdings wurde

74) Landgerichts-Ordnung Dek Löblichen Hörkogthumbs Crain Und der Angeraichten Herrschafften Windischen March, Möffling, Ysterreich und Karsst (vom 18. Februar 1535). Einleitung, im Druck von Johann Georg Mayr, Laibach 1707, S. 3f.

75) Darüber vgl. die oben S. 303 Anm. 16 angeführte Abhandlung von Anton Kaspret; den Ausdruck Quatemberrecht hat Kaspret noch nicht ge- kannt. Zweifellos waren die Wotschengerichte, die er in Südsteiermark, Unterkrain und im Küstenlande verfolgen konnte, genau so organisiert wie die Quatemberrechte, ja die letzteren können nur eine Fortbildung der ersteren gewesen sein; zunächst waren alle Burgfriedensleute verhalten, sie zu besuchen, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. kamen aber bloß die Suppane als Vertreter der dem Gerichte unterworfenen Herrschaftsunter- gebenen. Jedenfalls sind auch die von Valvasor, op. cit., B. III., S. 95, 96 aufs Korn genommenen Gerichte mit den „hölzernen Protokollen“ eine Art von Wotschengerichten gewesen. Darüber s. unten Anm. 1%),

76) Mit Recht bezeichnet J. Polec, Razpored sodnih instanc v slo- venskih deželah od 16. do 18. stoletja (Aperçu des tribunaux dans les pro- vinces slovènes du 16° ou 18° siècle) ZZR. VI, 1927/1928, S. 116—142 (S. 140—142 franz. Résumé), das Problem, wie sich die Patrimonialgerichte or-

556

diese niedere Gerichtsbarkeit auch in Zivilsachen geübt und wohl nach Erscheinen des BRB. dem Verfahren auf den BT. noch mehr angepaßt, als es ohnehin schon vorher der Fall gewesen war.

Die Patrimonialbehörde war bei den Quatembergerichten durch ihren Pfleger vertreten, der die Prozesse leitete und nach gepflo- gener Umfrage deren Ergebnisse protokollierte.

Nur eines war sicher anders als bei den Bergtaidingen: Gemein- urteile konnten nicht geschöpft werden, da allgemeine Fragen nicht zu behandeln, sondern lediglich konkrete Streitsachen zu entscheiden waren.

Im allgemeinen war das Geltungsgebiet der Quatemberrechte nicht ausgedehnt, vielleicht nur auf den Burgfrieden eingeschränkt, weshalb eine Zahl von zwölf oder dreizehn Richtern genügte. Die Referenten (Urteilsfinder) gaben ihre Ratschläge, wie bei den BT.; ja in den schriftlichen Protokollen über Quatemberrechte findet man Zitate zur Begründung von Entscheidungen, die aus dem BRB. ent- nommen wurden. Der Fall, dak die Protokolle bloß zu konstatieren hatten, es habe keine Klagen gegeben, war hier viel häufiger als bei den BT.

8 19. Unparteiisches Recht.

In Anlehnung an die BT. und Quatemberrechte entwickelte sich noch eine weitere Form der Volksgerichtsbarkeit, die jedenfalls auf dem Boden des gemeinen deutschen Gewohnheitsrechts entstanden ist. Diese Form hatte keine Berührungspunkte mit den Bergrechts- bestimmungen, die Protokolle über die BT.- und Quatemberrechts- prozesse registrierten aber ihre Tätigkeit genau so, als ob es sich um die eben angeführten Sachen gehandelt haben würde. Dies waren die „Unparteiisch Rechte“ oder „extraordinary rechte“, die in Wirklichkeit als ad hoc einberufene Schiedsgerichte zur Entschei- dung bestimmter Streitsachen bezeichnet werden müssen. In Steier- mark und in Niederösterreich waren sie nah Nicolaus de Beckmann’) geboten: 1. wenn der Patrimonialherr mit seinem eigenen Untertanen wegen einer unbeweglichen Sache in Streit ge- raten war und daher nicht als iudex in propria causa auftreten konnte; 2. wenn ein Untertan einer fremden Obrigkeit mit einem Untertanen des Gerichtsherrn in causis personalibus eine Streit- sache auszutragen hatte, wobei die Gefahr hintangehalten werden

ganisierten als noch ungelöst. Uns will es scheinen, daß eine gewisse Zeit hindurch Volks- und Herrschaftisgerihte nebeneinander existierten, wofür wir für die Brixener Herrschaft in Veldes Beweise bis ins 17. Jahrh. verfolgen konnten; dort aber, wie in Unterkrain, wo Bergtaidinge existier- ten, dürften die Grundobrigkeiten überhaupt sehr lange nur eine vermit- telnde und vorbereitende Rolle in Streitsachen gespielt haben. Erst im Laufe des 17. Jahrh. begann der Abbröckelungsprozeß, der bis zur Anstel- lung besonderer Hofrichter bei den größeren Herrschaftsbesifern führte.

7) S. Nic. de Beckmann, Idea juris statutarii et consueiudinarii Stiriaci et Austriaei, Graecii, 1688, S. 544, 545.

857

mußte, daß der Gerichtsherr zugunsten seines Untertanen hätte enischeiden wollen. Die Entscheidungen des unparteiischen Rechts waren anfechtbar, und der Rechtszug ging an den Landeshauptmann bzw. in Bergrechtsstreitigkeiten an den Kellermeister.

Die Rechtsverhältnisse, wie wir sie aus den ziemlich zahlreichen, in den Gerichtsprotokollen beurkundeten Fällen bezüglich der Tätig- keit des unparteiischen Rechts kennenlernten, stimmen mit den eben angeführten Bestimmungen fur Steiermark und Niederösterreich nicht ganz überein. In Unterkrain waren viele Prozesse des Berg- oder Patrimonialherrn als Klägers gegen seine Untertanen anhängig, einige Prozesse sind aber auch mit umgekehrten Rollen durchgeführt worden, und dennoch wurden sie von dem autonomen Volks- gerichte durchgeführt. Die Beschwerden gegen die Entschei- dungen der Unparteiischen Gerichte gingen ab und zu wirklich an den Kellermeister, einige Male aber bezeichnend genug an das Bergtaiding des betreffenden Gebietes!

Im allgemeinen kamen vor das unparteiische Recht besonders wichtige und bedeutsame oder aber besonders dringliche Prozesse. Nicht einmal causae criminales waren von ihrer Zuständig- keit ausgeschlossen. So trat ein Unparteiisches Recht am 7. März 1635, das am 29. August 1636 fortgesest wurde, in Landstraß zu- sammen, um in Sachen eines großen Viehdiebstahles ein Urteil zu fallen, allerdings kam es zu einer Verurteilung nicht, weil der Kläger seine Entschädigungsansprüche zu spät gestellt hatte. Am 1. Juli 1639 war sogar der Krainer Bannrichter Hanns Frankh in Land- straß Obmann des Unparteiischen Rechtes und judizierte in Sachen der ‘Beschuldigung wegen eines Diebstahles von fünf Schweinen, wobei es zu einem Freispruche gekommen ist. Die Bestellung des Unparteiischen Richters und seiner Beisiger war Sache des Patri- monialherrn. Doch sind auch Falle beurkundet, wo die Parteien den Unparteiischen Richter selbst erwählten, worauf erst dessen Be- stellung durch den Patrimonialherrn erfolgte. So steht es in einem Protokoll vom 29. August 1636 (Landstraß): „Durch mich Casparn Kherin als von Ihro Gnaden Herrn Ruppertus Abten zu Landstraß und beiden Thaillen Erkhisten Unparteiischen Richter.“

Dem Unparteiischen Richter wurde durchgehends eine Anzahl richterlicher Beisitzer beigegeben, deren Zahl zwischen drei und vier- undzwanzig variiert; im allgemeinen wurde aber doch eine niedrigere Anzahl als bei den BT. verwendet. Im Landstraßer Gebiete war es gewohnheitsrechtlich fesigesebt, daß die Beisiķer des Unparteiischen Rechtes nicht Untergebene desselben Patrimonialherrn sein durften. Am 21. Dezember 1598 hat der Beklagte gegen die Zusammensebung des Unparteiischen Rechtes Protest eingelegt, weil vier Untergebene des Abtes von Landstraß „im Ringe“ saßen. Das Unparteiische Ge- richt hat „den von der Landsobrigkeit aufgebrachten Brauch“, daß „fremde unparteiische Leut bei diesem recht sein sollen“, bestätigt und „das recht derzeit aus solchen Ursachen willen aufgehebf“. In späteren Zeiten hat man jedoch diesen Gebrauch vergessen, denn

808

wir finden Protokolle über unparteiische Rechte, in denen noch im 18. Jahrh. unter dem Vorsiķe des Bergmeisters zwölf Berg- holden den „Ring“ bildeten.

Obmann des unparteiischen Gerichtes war stets eine prominente Persönlichkeit. Das Protokoll führte derselbe Abgeordnete der Patrimonial- bzw. Bergbehörde, der auch die Bergtaidingsprotokolle niederschrieb. Auch die äußere Form war die gleiche, und die Ver- handlungen der Unparteiischen Gerichte wurden ebenfalls in die- selben Folianten eingetragen, in denen sich die Bergtaidings- und Quatemberrechisprotokolle vorfanden. Mit einem Worte, alles war so eingerichtet wie bei den Bergrechts- und Quatemberrechts- prozessen nur die innere Organisation des Unparteiischen Rechtes war eine andere. Diese Art der Ausübung der Gerichtsbarkeit war bei den meisten Bergherren beliebt und wurde von ihnen auch be- günstigt; denn auf diese Weise konnte sie am leichtesten aus der Hand der autonomen Volksgerichte in die Hand des Bergherrn oder wenigstens seines Vertrauten hinübergespielt werden, wodurch sie auch in die erwünschte Abhängigkeit von ihnen gelangte.

IV. Zuständigkeit der Volksgerichte. 820. Die gesetzlichen Bestimmungen.

Eine systematische Einteilung derjenigen Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Bergtaidinge fallen, würde man im Bergbüchel vergebens suchen. Nur das eine mag aus der Anfuhrung der Arten der Rechtssachen entnommen werden, auf welche von ihnen der Gesetzgeber ein größeres Gewicht gelegt hat.

a) Als die wichtigsten in die Zuständigkeit der BT. fallenden Gegenstände erscheinen die in dem BRB. gleich zu Anfang angeführ- ten Erbrechtsklagen (Art. 2)7*). Doch finden sich noch später in An- sehung des Erbrechts die eingehendsten Bestimmungen vor, so im Art. 22 und 23 bezüglich des Heimfalles und der Kaduzität des Wein- gartens als Berglehen; weiter in Art. 12 bezüglich der Desertion des väterlichen Hauses und Besiktums, die Kaduzität zur Folge haben kann; über die Legate in Ansehung der Weinberge [Art. 21), über die Zuerkennung der Erbschaft (Art. 44), über die Erbschaftsannahme (Art. 49), über die Verschweigung des Klagrechts bezüglich der Erb- schaft (Art.45), schließlich bezüglich der Haftung der Erbschaft für die Hereinbringung der Abgaben und Steuern (Art. 19)7*). Dieser Zu- ständigkeitskomplex betrifft aber lediglich die Streitigkeiten um Grund und Boden, der im Besife der Mejaschen oder Bergholden steht. Die Zuständigkeit ist eine absolute; eine Einschränkung eiwa nach dem Werte des Grundes war nicht vorgesehen.

Im Bergbüchel sind die Fragen der Zuständigkeit für die Klagen um das Erbrecht in Ansehung des den Mejaschen außer den Wein-

78) Mell, Weinbergrecht, S. 110; vgl. auch Art. 2, a. a. O. S. 115 f. 7) Mell, Weinbergrecht, S. 130, 116, 129, 140 f., 143 f., 142, 124 f.

559

gärten gehörigen Besiktums nicht geregelt worden. Wir müssen daher annehmen, daß die Weingärten, die unter den Bergstab der Bergbehörde gehörten, in die Zuständigkeit der BT. fielen, während die übrigen Realitäten (außer den Weingärten) nach dem gemeinen Erbrechte zu behandeln waren, so daß Herren und Landleute vor dem Landrechte des Schrannengerichtes (forum nobilium), Stadt- burger vor dem Stadtgerichte, die persönlich freien Mejaschen (Frei- sassen) aber vor dem Landeshauptmann um das Erbe zu klagen hatten.

b) An zweiter Stelle befassen sich die Bestimmungen des BRB. mit den Fragen der allgemeinen Ordnung während der BT., als auch überhaupt im ganzen Weinberggebiete. Dies waren meistens Dinge, die in die autonome Machtsphäre der Vollversammlung gehörten. Dazu gehörten z. B. die Pflicht, an den BT. persönlich zu erscheinen (Art. 14), während der Versammlung die Waffen abzulegen, im nüch- ternen Zustande zu bleiben und auf den Gang der Verhandlungen aufzupassen (Art. 3), weiter die Pflicht, sich wieder auf der Hube niederzulassen, wenn sie ohne Genehmigung des Bergherrn ver- lassen wurde (Art. 209°). Zu den Weisungen über die Erhaltung der Rechtsordnung im allgemeinen zählen die Vorschrift, daß alle Verletzungen der ,,Bergfreiheiten“ beim BT. anzuzeigen sind, ins- besondere aber die Gewalttätigkeiten der heimischen und fremden Leute (Art. 7); dann die Vorschrift betreffend die Erhaltung der Wege, Zäune und dergl. (Art. 8, 9, 10)&). Daß alle diese Vorschriften sowohl die Berggenossen (Mejaschen) als auch die Bergholden be- treffen, erhellt deutlich aus dem Umstande, daß die Originalberg- artikel keinen Unterschied zwischen den beiden machten. Eine jede Verlekung dieser Vorschriften kann Gegenstand eines BT.-Urteiles werden. Freilich sind einige Vorschriften im Laufe der Zeit obsolet geworden, so insbesondere die über die Pflicht der Teilnahme an den BT.

c) Ein breites Feld nehmen jene Weisungen der Bergartikel ein, die die Pflichten der Weingärtner gegenüber dem Bergherrn in An- sehung seiner Einkunfte betreffen. Die erste Gruppe dieser Vor- schriften sorgt fur die Erhaltung der Weinbergbestande sowie für die entsprechende Ertragsfahigkeit der Weingarten. Weinberggrund darf ohne Genehmigung des Bergherrn weder verkauft noch zu Pfand gegeben werden (Art. 23, 41); die Art der Bodenkultur darf nicht eigenmächtig verändert werden (Art. 20); die Weingärten müssen technisch richtig behandelt werden, die erste Haue, das Beschneiden der Reben und dergl. kamen da in Frage (Art. 24,26). Mit der Wein- lese darf nicht zu früh, daher nur auf Anordnung des Bergherrn be- gonnen werden (Art. 51). Der Most darf mit keinen Zutaten verseßf werden; der Bergherr hat den ersten reinen Beerenmost als Berg- recht zu bekommen, nicht etwa den aus den Trebern ausgepreßten

s) Mell, Weinbergrecht, S. 118, 111, 126 f. 81) Mell, Weinbergrecht, S. 113 f.

540

(Art. 15). Ohne Erlaubnis des Bergherrn oder Bergmeisters darf kein Wein oder Getreide aus dem Weinberg ausgeführt werden (Art. 13). Ist ein Jahr die Weinernte schlecht oder überhaupt nicht geraten, hat der Weingariner die benötigte Quantität des Mostes anderswo zu kaufen, um sie dem Bergherrn als Bergrecht zu reichen (Art. 15)®?).

Die Hohe des Bergrechts (Giebigkeit in Most) wird in dem BRB. nicht angeführt; nur bei den Kulturveranderungen, die vom Bergherrn genehmigt worden sind, wird angeordnet, daß man ein „zimlich perk- recht darauf schlahen“ soll, allein „nach erkanninuss der perk- gnossen“ (Art. 2008s), auch ist bestimmt worden, daß das Berg- recht, falls es in einem Jahre nicht „gezahlt“ wurde, das andere Jahr im doppelten Ausmaße und weiterhin stets verdoppelt zu reichen ist (Art. 16)**). Übrigens wurde das Bergrecht nicht nur vom Weingarten- ertrag, sondern auch von Holz, Getreide, vom Honig aus dem Bienen- hause, von den gefangenen Billichen und dergl. gegeben, es hieß in einigen Bezirken schlechthin Zehentrecht. Aus dieser Bezeichnung kann man auf das zu reichende Quantum schließen. In der Beradt. BO. (1595) werden in einem besonderen Artikel am Schlusse des Textes einige Gebühren für den Verkauf oder Kauf der Weingärten sowie für die Umschreibung in bestimmten Beträgen angegeben®). Daß auch „Empfach“- und „Toten-Gebühren“ (laudemium, mortuarium) bezahlt werden mußten, ist selbstverständlich. Im Ainödter Bezirk wurden seit Ende des 18. Jahrh. die diesfälligen Vorschriften auf dem BT. wiederholt eingeschärft.

Unter die Dienste, die der Weingärtner zu leisten hatte, gehörte die Pflicht, den Wein oder das Getreide aus dem Weingarten so weit zu führen, als man an einem Tage bis zum Sonnenuntergange ge- langen kann (Art. 18)8). Eine sonstige Vorschrift zur Leistung von Frondiensten ist in den Bergartikeln nicht vorgesehen. Die Erzwin- gung der Erfüllung einer dem Bergherrn schuldigen Leistung war dadurch ermöglicht, daß vorerst der säumige Weingärtner zum Berg- herrn oder Bergmeister zitiert wurde; sohin aber auch der Eingang in den Weingarten oder in den Keller durch Anbringung des Kreuz- zeichens verboten wurde (Art. 19)°). (Erst durch die Praxis kam auch das „Verpetschieren“ des Kellers auf.)

d) Der größere Teil der Vorschriften der Bergartikel ist im Sinne der heutigen Terminologie strafrechtlichen Inhaltes®®). Nirgends wird angegeben, was als Grenze zwischen den causae maiores und minores gelten sollte. Allerdings sind schwerere Delikte ausgeschieden, da die Strafen nur bis zu 10 Mark geseft

82) Mell, Weinbergrecht, S. 130, 139, 126 f., 131, 132, 150, 119, 117, 119. 83) Mell, Weinbergrecht, S. 127.

8) Mell, Weinbergrecht, S. 120 f.

85) Unten Anhang I.

se) Mell, Weinbergrecht, S. 123.

87) Mell, Weinbergrecht, S. 124 f.

se) Art. 33—43, Mell, Weinbergrecht, S. 136—140.

541

wurden. Fast durchgehends wurde zugleich mit der Strafsanktion auch die Entschädigungspflicht statuiert. Nur an zwei Stellen ist die Rede von Leibesstrafen. Im Art. 36 heißt es, daß auf den Einbruch „in die prek oder keller“ eines Weingariners, wobei der Täter auch „mit fravel auf in schlecht“ eine Strafe „an leib und guet‘ gesebt wird. Darunter war u. E. keine „blutige Strafe‘ (an Hals und Hand) zu verstehen; es konnte auch eine Prügel- oder eine spiegelnde Strafe bedeuten. Die zweite Strafe war die alternativ mit der Geld- strafe von 4 Schillingen statuierte Strafe des Ohrabschneidens (Art. 40). Auch hier wird bloß ein entehrendes Abschneiden des Ohrläppchens gemeint gewesen sein. So kommen wir zum Schlusse, daß in den Bergartikeln ungeachtet der beiden Leibesstrafen bloß causae minores gemeint waren. Nur bezüglich der Diebstahle, die im BRB. vorkommen, ohne daß auf die Wertbetrage, die die Straftat nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. zu einer causa maior stempelten, Rücksicht genommen wäre, scheint es dem Er- messen der Bergtaidingsrichter anheimgestelli worden zu sein, ob die Sache an das Landrecht zu überweisen war oder in eigener Zu- ständigkeit zu verbleiben hatte®*).

Die einzelnen strafbaren Handlungen wollen wir nicht anführen, wohl aber müssen wir betonen, daß die moderne Regel nullum crimen, nulla poena sine lege im BRB. nicht nur nicht zur Vor- schrift gemacht wurde, sondern daß es im Gegenteile aus dem Art. 29%) wenn seine Entstehungsgeschichte berücksichtigt wird’) erhellt, daß die Volksrichter auch befugt waren, außer der „um ain jeglichen artikel begriffen“ Strafe, auch selbst solche Strafen urteilsmäßig zu statuieren. So finden wir denn auch in den slov. U. dem Original ganz unbekannteistrafbare Handlungen mit ebensolchen Strafandrohungen (z. B. Diebstahl von Mist oder Kot in der Ain.-U.; Gotteslästerung in der Weißenst.-U.; Ehebruch, Kartenspiel, Lotter- wesen in der Weißenst.-U.; üble Nachrede über den Bergherrn im Wagensb.-Exz.). Man sieht sofort, daß sich darunter einige straf- bare Handlungen befinden, die auch in der CCC. vorkommen und dort als causae maiores qualifiziert waren (Art. 106, 129)®). Man muß jedoch auch das eine berücksichtigen, daß in den Berg- artikeln die strafbaren Handlungen gar nicht nach der Schuldart charakterisiert waren, weswegen man zur Annahme berechtigt wäre,

se) Art. 157—160, vgl. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., Constitutio Criminalis Carolina, herausgegeben von J. Kohler und W. Scheel (= Die Carolina und ihre Vorgängerinnen I), Halle a. S. 1900, S. 85—87. Vgl. betreffend den Grundsak: „Wo kein Kläger, da kein Richter“ für die CCC. insb. Radbruch, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., S. 119 nachf.

%) Mell, Weinbergrecht, S. 134.

1) Vgl. bei Mell, a. a. O. die textkritische Anmerkung B), die zeigt, daß in der Originalausfertigung durch einen Schreibfehler aus „gesaczi” „gesagt“ geworden ist.

93) Kohler-Scheel, a. a. O. S. 57 f., 66 f.

542

daß nur leichtere Fälle, etwa solche ohne ausgesprochenen bösen Vorsak, in die Zuständigkeit der BT. fielen.

e) Von dem großen Komplexe der zivilrechtlichen Bestimmungen hat das BRB. auffallend wenige aufgenommen.

In die Zuständigkeit der BT. fielen die Rechisstreite um Ent- schädigung des Nachbarn wegen Tierschadens (Art. 31), wegen des ihm durch zu nahe stehende Bäume verursachten Schadens (Art. 46), um Grenzberichtigungen (Art. 47), Prozesse wegen des Einstands- rechtes (ius retractus, im Original wird der Ausdruck „Anfaillung“ gebraucht, Art. 50), und wegen Auflösung des Kaufvertrages, wenn die Kaufsumme in der bedungenen Frist nicht bezahlt wurde (Art. 41)®). Die Rechtsgeschäfte Kauf, Tausch, Bürgschaft, Verpfändung wurden zwar erwähnt, begrifflich aber nicht festgelegt (Art. 21, 41, 49)*). Allgemeine Bestimmungen aus dem Obligationen- rechte fehlen zur Gänze, die Ersikung von Grund und Boden wird aber geregelt (Art. 45)%). |

f) Schließlich gehörten in die Zuständigkeit der BT. die Stritte wegen der Gebühren oder der Bezahlung des Bergmeisters und der Tagwerker. Betreffend den Bergmeister haben das Original des BRB.**), die Beradt. BO.”), die Rezl-**), Kapsch-, Museal-U. fast übereinstimmende Vorschriften, nämlich daß ihm „von jedem Fall oder pueB“, die der Bergherr zu bekommen hat, zwölf Pfennige für seine Mühe zu bleiben haben. Die Stud.-Bibl.-U. schärft nur ein, daß der Bergmeister keine Strafe oder Buße der Bergbehörde gegenüber verheimlichen darf’). Die Weißenst.-U. hat den Bergmeisteranteil an der Geldstrafe auf einen Groschen eingeengt, die Layb.- und Ainödt.-U. sowie das Wagensb.-Exz. haben aber die entsprechende Stelle überhaupt gestrichen! Die Übermurg.-U. stellt sich auf einen anderen Standpunkt; sie warf für viele besonders angeführte Geschäfte des Bergmeisters (hegymester) als auch Richters (esk üt) besondere Honorare aus. Besondere Tagwerklöhne werden im Original’), in der Rezl-1%) und Kapsch-U. angeführt, sonst aber in keiner anderen.

Bei allen Übersekungen finden wir die Strafbetrage in verschie- dener Valuta angegeben. Das Verhältnis zwischen den Pfennigen, Marken, Kronen, Schillingen, „Denaren“ und kleinen Denaren (de - narié) wird bloß in der Kapsch- und Ain.-U. geregelt. In der

ee) Mell, Weinbergrecht, S. 135, 142, 143, 144, 139.

de) Mell, Weinbergrecht, S. 129, 139, 143.

%) Mell, Weinbergrechi, S. 142.

96) Art. 48, Mell, Weinbergrecht, S. 143.

7) Art. 46, unten Anhang I. Š 18 Rezl-U. Art. 48, ed. O bla k, a. a. O. S. 189, ed. Koblar, a. a. O. vo) Stud.-B.-U. Art. 47, ed. Oblak, a. a. O. S. 305.

100) Art. 52, Mell, Weinbergrecht, S. 145 f. ë jen Rezl-U. Art. 52, ed. Oblak, a. a. O. S. 190, ed. Koblar, a. a. O.

545

Beradt. BO. heißt es nur, daß eine Mark-Pfennig gleichbedeutend mit einem Golddukaten sei‘); die übrigen Ausdrücke für die Geld- sorten sind in ihr nicht erläutert worden.

§ 21. Zuständigkeitsfrageninder Praxis.

Aus den BT.-Protokollen, aber auch aus den Quatemberrechts- protokollen gewinnen wir vor allem einen Rückblick in das Verhält- nis zwischen dem Bergherrn und seinen Weingärtnern. Bezüglich der Quatemberrechtsprozesse müssen uns die vorhandenen Proto- kolle als die einzig zur Verfügung stehenden Wegweiser betreffs der Frage der Zuständigkeit dienen, da wir außer der oben im 8 18 zitierten Vorschrift der Gerichtsordnung keine gesebliche Bestim- mung kennen.

Bezeichnenderweise haben die Weingärtner selbst darauf ge- achtet, daß sich keine fremde Bergbehörde in die Angelegenheiten des eigenen Bergherrn einmischen durfte. So wurde auf dem BT. vom 10. März 1711 im Klingenfelser Gebiete beschlossen, die eigene Bergbehörde zu bitten, sie möge keinem fremden Bergherrn gestatten, sich ohne Vermittlung der BT.-Versammlung herauszunehmen, die Weinkeller zu ,,verpetschieren“ und ihr nicht untergebene Untertanen vor sich zu laden. Anderseits wurde noch am 20. März 1802 ın dem- selben Gebiete beschlossen, ein jeder Weingariner, der sein Recht bei der eigenen Bergbehörde mit Umgehung des BT. suchen würde, verfalle der Strafe von einem „Viertel“ Wein. Demselben Gedanken sind wir in der Ubermurg.-U. begegnet (Art. 14), was schon oben im 8 10 am Schlusse erwähnt wurde. Die Tatsache, daß dieselbe Vor- schrift in zwei weit auseinanderliegenden Gebieten bis ins 19. Jahrh. lebendig erhalten blieb, kann wohl nur als Beweis dafür gelten, wie zähe das niedere Volk an seiner autonomen Gerichtsbarkeit festhielt. Es ist kaum anzunehmen, daß die Losungsworte der französischen Revolution die Bauernschaft in den slov. Gebieten schon zu dieser Zeit zu solchen Beschlüssen aufgestachelt hätten. Übrigens haben wir auch aus den vorherigen Jahrhunderten Beweise für den auto- nomen Charakter der Volksgerichte genug. Mußte doch der Berg- herr einige Male persönlich oder durch seinen Vertreter als Partei vor das BT. treten, und dies nicht nur in der Rolle eines Klägers, sondern auch eines Beklagten, um dortselbst das Urteil der seinem Bergstabe unterworfenen Weingärtner anzuhören! Da handelte es sich nicht etwa bloß um Beschwerden allgemeinen Charakters, son- dern um ganz konkrete Rechtsfragen, gleich wie die BT. auch in Streitsachen fremder Adeliger und Nichtadeliger, Geistlicher, Pfarrer, Städter usw., mögen sie nun Kläger oder Beklagte gewesen sein, ihre Urteile schöpften. Hier galt es nicht, daß nur Angehörige eines höheren Standes den Angehörigen des gleichen oder tieferen Stan- des Recht sprechen durften, nicht aber umgekehrt: Das Band der

102) Art.3, unten Anhang I.

544

Bergstabshoheit hat die Unterschiede der Standeszugehörigkeit ver- wischt. Die Kausalgerichtsbarkeit bezüglich der Bergrealitäten ge- hörte vor das Volksgericht, mag der Besitzer der Realität wer immer, ja selbst der Bergherr selbst gewesen sein, nur daß die Urteile eines bestimmten BT. wie einmal ausdrücklich iudiziert worden ist, bloß im Gebiete des eigenen Bergstabes Geltung haben durften.

In der ersten Zeit nach der „stara pravda“, d. i. nach dem Bauernaufstande vom Jahre 1573, der ein für die Bauern so kläg- liches Ende gefunden hat, waren sogar die Bergherren selbst be- müht, die Autonomie der Volksgerichte zu schützen. Protokolle aus dem Ende des 16. und vom Anfange des 17. Jahrh. bekunden, daß die Abte von Landstraß und die Superioren von Pletriach die Volks- richter selbst befragten, was in einem bestimmten Falle rechtens sei, z. B. wenn ein Weingärtner schon einige Jahre hindurch keine Berg- steuer entrichtet oder seinen Weingarten nicht ordentlich bearbeitet hatte. Dies entsprach übrigens dem Inhalte des BRB., weil dieses in beiden Fallen die Besisentziehung von dem „erkanntnus der perk- genossen“ abhängig gemacht hat (Art. 17, 26010). Der Bergherr be- kam zuweilen auf solche Fragen Antworten, die ihm nicht gepaßt haben mögen. Ja, sozusagen ein Aufsichisrecht hat sich das BT. in Ansehung des Verhaltens des Bergherrn angemaßt. Ein Bergsuppan verklagte am 5. Oktober 1604 (Landstraßer Gebiet) vier Weingärtner, daß sie die bergbehördlichen Petschaften abgerissen haben, und stellte das Verlangen, diese deswegen zu bestrafen. Die Richter haben aber die Bestrafung abgelehnt, denn der Bergherr hätte den Weinkeller verpetschieren lassen, ohne zuvor Klage vor dem BT. er- hoben zu haben. Daß es Gemeinurteile gab, die das Verhältnis der Bergbehörde kritisierten, ja sogar mit Drohungen kamen, wurde schon oben in 8 6, Il, angeführt. Den dortigen Fällen möge noch einer hinzugefügt werden: Die Klage verlangte von dem BT. es handelte sich um die letzterwähnte Versammlung —, es solle der Wein- gärtner, der den Bergmeister anläßlich der Abholung der Bergsteuer durchprügelte, aus dem Verbande der Weingartenbesiker ausge- stoßen werden. Der Täter bekam keine Strafe, sondern er wurde begnadigt; bloß den Auftrag gab man ihm, sich mit dem Bergmeister zu versöhnen. Fälle, in denen der Bergherr keinen Erfolg erzielen konnte, könnten noch mehrere angeführt werden. Zwei besonders charakteristische sollen hier kurz Erwähnung finden: Der Landstraßer Abt verklagt als Bergherr sämtliche Beisitzer eines BT., weil ein Weingärtner gegen ihr Urteil die Beschwerde an den Kellermeister in Laibach erhoben hat und tatsächlich mit ihr durchgedrungen ist. Der Abt verlangte nun von den Richtern, sie sollen ihm die entstan- denen Kosten wiedererstatten. Sie lehnten dies ab. Nun hat der Abt einen Befehl von der Landeshauptmannschaft erwirkt, daß die BT.-Richter den Beisitzern des Kellermeistergerichtes die Reisekosten zu erseķen haben, weil sie vom Lande in die Stadt kommen mußten.

103) Mell, Weinbergrecht, S. 122, 132 f.

545

(Nach Art. 6 BRB. mußten es „landleute und burger, so perkrecht haben oder dienen“ sein:, in der nächsten Umgebung von Laibach gab es aber keine Weingarten.) Auch diesem Befehle gaben die BT.-Richter kein Gehör, vielmehr ließen sie protokollieren, man solle jene zum Kosfenersabe verhalfen, die falsche Behauptungen in der Beschwerdeinsianz durchgesetzt haben, „als ob etwas auf dem Wein- berge geschehen wäre, was in der Tat nie der Fall war“. Dies steht geschrieben in dem BT.-Protokolle vom 30. März 1606 bzw. vom 10. September 1606, des unter Landsiraß fallenden Weinbergs Jablansen. In einem anderen Falle wurde der Bergherr, der durch seinen Hofrichter vertreten war, am 11. April 1658 in Arch bei Land- straß von seinen Untertanen verurteilt, er habe einen Weingarten, den er an sich gezogen hatte, dem Sohne des verstorbenen Besitzers auszufolgen.

Zu den Gegenständen, die unter die Zuständigkeit der BT. fielen, gehörten auch Beschwerden wegen Nichfbezahlung der Steuern. In diesem Belange haben aber die Bergrichter in den weitaus meisten Fallen dem Bergherrn zu seinen Rechten verholfen; nur selten fanden sie sein Verlangen nicht gerechifertigt und schützten die Be- klagten. Mehrmals sind Urteile gegen fremde Gutsbesitzer oder Zehentherren ergangen. Es wurde z. B. ein Urteil geschöpft, daß die Zehentherren nicht berechtigt seien, ihren Zehent einzuheben, bevor der Bergherr sein Bergrecht eingebracht hat. Ein anderes Mal er- klärten die Bergrichter, der Zehentherr dürfe seinen Anteil nicht von dem ganzen Quantum einschließlich des Bergrechiweins, desgleichen nicht vom Geläger (aus Weintrebern gebrannfer Schnaps) bestimmen und an sich nehmen‘). In gleicher Weise behaupteten sie die Kompetenz für sich in Ansehung der Beschwerden gegen die Berg- meister, Hofrichter und Zehentleute. Selbstredend urteilten sie auch über Vergehen der Beisizer aus „dem Ringe“.

Die Skizze möge genügen, um darzutun, welch weitgehende Autonomie die Volksrichter auf dem BT. für sich beanspruchten. Wie schon oben bemerkt, ist kaum anzunehmen, daß neben dem BT. auch noch besondere Grundobrigkeitsgerichte hätten existieren können, sofern sie nicht bloß vorbereitende oder ausführende Agenden ver- sahen. Wir glauben diese Erscheinung aus dem Umstande erklären zu können, daß bis zur Mitte des 17. Jahrh. vielleicht die meisten Bei-

104) Mell, Weinbergrecht, S. 112.

105) In der Zehentordnung für Krain, Istrien und den Karst vom 27. März 1575 ist nirgends die Rede von einem Zehent in Wein; reguliert wurde nur der Zehent in Getreide. In der steiermarkischen Zehentordnung vom 10. Marz 1605 wird aber auch vom Weinzehent gesprochen, nicht aber von einem Gelagerzehent. Nur in der Zehentordnung für Niederösterreich vom 25. März 1546 hieß es, daß der Zehent nicht von der ganzen Menge, sondern von jener, die nach Wegnahme des Bergrechtes verbleibt, berechnet werden darf. S. Ph. O. v. Offenfhal, Der Zehend, nach canonischem und öster- reichischem Rechte, Linz, 1823, S. 64. Hierzu soll nochmals bemerkt werden, daß in einigen Gebieten im 18. Jahrh. auch das Bergrecht schlechthin Zehent heißt. (So in Seisenberg und Ainodt.)

546

sitzer Mejaschen waren, also Leute, die persönlich gar nicht dem Bergherrn untertan waren. Jedenfalls empfanden es aber die Berg- herrn mit der Zeit als einen Hohn auf ihre Herrlichkeit, daß sie die Bauerngerichte neben sich dulden mußten, vermieden es, auf den- selben den Vorsi zu führen und blieben ihnen schließlich ganz fern!®). Nun wollten aber auch die Gutsbesitzer als Mejaschen nicht mehr persönlich mitiun; sie blieben auch aus. Die Bergholden nahmen allerdings ihre Richtersike ein, allein diesen gegenüber hatten die Vertreter des Bergherrn ein leichteres Spiel. Wenn es auch hinfort fast bis zur Wende des 19. Jahrh. in allen Weinberggebieten dennoch bei der Bergtaidingsgerichibarkeit verblieb, so geschah dies haupt- sächlich darum, weil die Zusammensetzung der Beisiķertafel die Gewähr bot, daß es zu sachlichen Gegensagen zwischen den Wein- garinern und der Bergbehörde nicht mehr kommen konnte. Tatsächlich gehören fortan Stellungnahmen wider die Bergbehörde zu den größten Seltenheiten. In einigen Gebieten, wie im Seisenberger und Ainodier Gebiete, verbanden übrigens die Bergherren die Stellung eines Vorsitzenden mit jener des Obmannes im Richterkollegium, wo- durch Konflikte überhaupt unmöglich gemacht wurden. So kam es also, daß die Quatembergerichte im Laufe des 17. Jahrh. hier früher, dort später, der Gerichtsbarkeit der Grundobrigkeiten, bei der anfangs auch noch Laien mitzuwirken hatten, wenn auch mit anderen Befugnissen, weichen mußten, wogegen die BT. konsequent ihre Zuständigkeit für alle Rechissachen behaupteten, die sich auf das Leben in den Weingebirgen bezogen, mag es sich um Fragen aus dem Personen-, Sachen-, Erb-, Obligationen- oder Strafrecht gehandelt haben”), Das größte Kontingent lieferten die Straf- und Erbschafts-

106) Johann Weikh. Valvasor, der Verfasser der „Ehre des Herzog- tums Krain“ (1689), ein glühender Verehrer seines Heimatlandes, führt im IX. Buche seines großen Werkes sieben verschiedene Gerichtsinstanzen für Krain an, übergeht aber mit Stillschweigen die Bergtaidinge und das Keller- gericht, ja nicht einmal die Geltung der Bergartikel registrierte er. Nun war aber Valvasor, wie wir urkundlich nachgewiesen haben, selbst Bergherr und als solcher über die Bergtaidingsjustiz auf seiner Herrschaft Wagens- berg und zweifellos auch bei anderen Grundherrschaften informiert. Es fallt auf, daß Valvasor wohl die „hölzernen Urteile“ der Volksgerichte Istriens und in der Windischen Mark, die schon Mitte des 16. Jahrh. abge- schafft worden sein sollen, einer beißenden Kritik unterwirft (a. a. O. Bd. II, S. 95), von der Existenz der noch funktionierenden Volksgerichte in Unter- krain aber keine Notiz nimmt. Wie wir im Glasnik Muzejskega Društva za Slovenijo (Bulletin de l'Association du Musée de Slovénie) IX, Ljubljana 1928, S. 98—106 in einer Abhandlung über Valvasors Stellungnahme zu den slovenischen Volksgerichten (Valvasor in slovenska ljudska sodišča) aus- geführt haben, kann dies merkwürdige Verhalłen nur damit aufgeklärt werden, daß er es als eine Schmach für die Landstände empfunden hat, daß sie diese Volksjustiz noch nicht abgeschafft haben, weshalb er sie der aus- wärtigen Leserschaft gegenüber lieber unerwähnt lassen wollte.

107) Das angewendete Volksrecht weist vielfach ganz eigenartige Auf- fassungen auf. Auf Grund der aus drei Jahrhunderten stammenden Ge- richtsprotokolle lassen sie sich gut verfolgen. In dieser Abhandlung können wir allerdings nicht einmal eine Skizze davon geben, weil dies den Rahmen der Abhandlung zu sehr erweitern würde.

847

klagen. Bei Straffällen ging die Zuständigkeit manchmal so weit, daß die BT.-Richter darüber entscheiden zu sollen glaubten, ob eine Sache als causa maior vor den Bannrichter kommen müsse. Sogar in den Arrest steckten sie einen Beschuldigten für zwei Wochen, mit der Begründung, er solle in dieser Zeit seine Unschuld erweisen, widrigens werde er als „Malefizperson“ dem Landgerichte überstellt werden. (Beschluß vom 14. September 1601, Landstraßer Gebiet.) So zeigt sich auch hier die ausgesprochene Tendenz, die Autonomie der BT. zu behaupten. |

Auch den Stadtgerichten gegenüber wollten die BT. keine Kon- zessionen bezüglich der Zuständigkeit zulassen. Hatte der Beklagte einen Weingarten, konnte nur das BT. in Weingartensachen ein Urteil fällen. Desgleichen konnte der Hofrichter der Herrschaft die Zu- ständigkeit der BT. lange nicht zum Wanken bringen, obschon er Klageaufnahmen besorgte, den Weingartenbesik evident führte usw. Erst im Laufe des 18. Jahrh. haben einzelne besonders angesehene und beliebte Hofrichter (wie z.B. Franz von Garzarolli in Landstraß) zunächst als Stellvertreter des Bergherrn, dann als Vorsitzende der Beisigertafel einen entscheidenden Einfluß auf die Gerichtsbarkeit in Bergrechtssachen gewonnen. Schließlich wußten die Hofrichter die BT. dem selbständigen Wirkungskreis des Grundobrigkeitsgerichtes einzugliedern, um zu guter Letzt die Mitwirkung der Volksrichter gänzlich auszuschalten.

V. Das Verfahren bei den Volksgerichien. 8 22. Prozeßeinleitung.

Wie die Angelegenheiten ins Rollen gebracht wurden, die zu einem Gemein-Urteil führen sollten, wurde bereits besprochen (oben 8 15). Hier kommen nur mehr die Privatklagen von Person zu Person in Betracht.

Das Original des BRB. enthält keine allgemeine Bestimmung dar- über, ob der Bergherr eine sireitige Rechtssache allein ohne Mit- wirkung des BT. („erkanninus der perkgenossen“) entscheiden darf. Wohl hat das BRB. gleich im Art. 2 angeordnet, der Bergherr habe „denen, so umb erb zu clagen haben albeg in jar recht ergeen lassen, im schriftlich oder mundlich furpot thuen und in des zu ainer jeden zeit nicht verziehen, sonder furderlich recht ergeen lassen, dann dise recht nicht verzug leiden mugen“ sl. Diese, fast an die Spike des BRB. gestellte Vorschrift stand in engster Beziehung mit einer andern in den Art. 44, also fast ans Ende gerückten Bestimmung, der Berg- herr solle „ainem jeden erben auf sein gerechtigkait, so ime aner- storben ist, leihen, was er ime von recht daran zu verleihen hat“. Die weitere daran anschließende Bestimmung besagt: wenn der Erbe im Beisein von zwei Berggenossen um die Verleihung des Erbes angesucht, aber durch drei Stunden vergeblich darauf gewartet hat,

108) Mell, Weinbergrecht, S. 110.

548

kann er sich beim Kellermeister beschweren, und dieser hat die Ver- leihung binnen vierzehn Tagen schriftlich zu befehlen. Wenn aber der Bergherr glaubt, er sei dennoch nicht verpflichtet, diese zu voll- ziehen, so soll er binnen dieser vierzehn Tage „die perkgenossen nidersezen und erkennen lassen. ihöt er das nicht, so soll alsdann des Landsfursten kellermaister ime (sc. dem Erben) solch erb auf sein gerechtigkait verleihen und ime darzue zu recht schermen‘“:). Der Sinn der zweitgedachten Vorschrifi kann nur der gewesen sein, ein Streit, der zwischen dem Untertanen und dem Bergherrn ent- standen, soll durch einen Urteilsspruch des BT. aus der Welt geschafft werden; der Bergherr aber, der diesen Urteilsspruch nicht selbst anzuregen beliebt, sei dem Urteilsspruche des Kellermeisters unter- worfen. Dieser Gedanke kam in der Beradt. BO. noch klarer zum Ausdruck. Dort heißt es im Art. 2: „Item soll ein Jeder Perkherr, denen so umb Erb zu clagen haben, die zwischen den Angestellten Perkthaiding angefallen währen, allerwegen im Jahr rechi ergehen lassen, im schrüft oder mündlich Fürpitte thuen vund in daz zu einer ledenzeit nit verziehen, sondern fürderlich recht ergehen lassen“ 10. Daraus geht hervor, daß der Bergherr im 16. Jahrh. nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet war, selbst die Bergtaidingsrichier auch außerhalb der alihergebrachten Versammlungstage zur Ver- handlung und Urteilschöpfung einzuberufen.

In ähnlicher Weise wird im Art. 13 des BRB. angeordnet: Wenn der Bergherr der Person, die ohne Erlaubnis Wein oder Getreide aus dem Weingebirge ausgeführt hat, nicht habhaft werden konnte, solle er sich die Geldbuße, der der Frachter verfallen, sowie den Wert des Frachiguies aus dem Grund und Boden verschaffen, „doch das dasselb verpot in vierzehn Tagen darnach gerechtfertigt werde“ 110. Wie die Rechtfertigung geschehen solle, ist hier nicht genauer angeführt; desgleichen auch nicht in der Beradt. BO.) und in der Rezl-U.13). Doch hat die Kapsch-U. ausdrücklich bestimmt, dies müsse durch einen Prozeß binnen vierzehn Tagen erkanni werden. Selbstredend hat der Bergherr seine BT.-Richier zu einer außer- ordentlichen Versammlung einberufen müssen. Doch muß bemerkt werden, daß eben diese Vorschrift in einigen anderen Übersekungen überhaupt nicht mehr übersetzt oder sogar ins Gegenteil verkehrt wurde, z. B. im Wagensb.-Torso, wo es heißt, alles müsse dem Berg- herrn binnen vierzehn Tagen bezahli werden!!].

Auch noch in einem dritten Falle konnie es zu einer außerordent- lichen Verhandlung der BI.-Richter kommen. Nach dem Art. 19 des BRB. kann der Bergherr den Weingarten wegen Nichtbezahlung der

100) Mell, Weinbergredi, S. 140 f.

110) Unten "Anhang I.

111) Mell, Weinbergrecht, S. 117.

113) Art. 13, unten Anhang I. 8 a Nezl- U. Art. 13, ed. Oblak, a. a. O. S. 18, ed. Koblar, a. a. O. 118) Wagensberg-Torso Ari. 13, ed. Dolenc, a. a. O. S. 103.

23 NF 5 849

„fall und wandel“ verkreuzigen lassen, womit der Eintritt in den Weingarten bei einer Geldstrafe verboten wurde. Bei jeder Über- tretung dieses Verbots verfällt die Geldstrafe, so daß der Ubertreter deren Summe zu bezahlen verpflichtet ist“). Wenn aber diese Haufung der Strafbetrage nicht mehr genehm ist („wann das den perkherrn verdreust‘), dann mag er den Übeltäter vor einen Richter und die Berggenossen stellen, die ihn vor sich zu rufen und die Straf- beiträge zusammenzuzählen haben, worauf sich der Bergherr seines Erbgutes für so lange bemächtigen darf, bis er Bezahlung bekomme?"*). Diese Einberufung der Richter, die durch ihren Spruch dem Berg- herrn zu seinen Rechten verhelfen sollen, ist noch in der Beradt. BO. beibehalten worden:), fand auch eine richtige Aufnahme in der Rezl- 118), Kapsch-, Weigenst.- und Ain.-U. Die Mus.-U. lautet dahin, es können der Bergrichier selbst oder der Richter die Sache durch einen Spruch erledigen. In der Layb.-U. wurde aber eine Fassung gewählt, nach der mit der Erledigung der Sache bis zum nächsten BT. zuzuwarten ist.

Wurde nun im Art.4 BRB. angeordnet, daß „ain jeglicher“ (scil. Berghold oder Berggenosse Mejasch) sein ordentliches Gericht in erster Instanz vor dem BT. haben solle, so muß damit nicht nur das ordentliche BT. als Gericht, sondern auch das außerordentlich ein- berufene Kollegium der BT.-Richter gemeint gewesen sein. Die Ein- berufung war stets vom Bergherrn anzuordnen.

Allerdings wurde für zwei Fälle ausnahmsweise vorgesehen, daß eine Strafe vom Bergherrn selbst ohne Mitwirkung der Bergrichter verhängt werden dürfte. Nach Art. 21 straft mit einer Mark Pfennige der Bergherr, wenn ein Vermächtnis, Kauf, eine Pfandbestellung nicht „mit des perkherrn oder seines perkmaisters hand“ geschehen). Die zweite Ausnahme betrifft den dreimal nacheinander an den Tag gelegten Ungehorsam eines vor den Bergherrn oder Bergmeister vor- geladenen Weingariners. In diesem Falle war dem Bergherrn eine Strafe von drei Mark verfallen (Art. 25110. Diese Vorschrift wurde in einigen slov. U. ausdrücklich dahin ergänzt, daß die Strafe zur Zeit des Ungehorsams, also sofort, ohne Bergrichterspruch verfällt. In der Layb- und Ain.-U. wurde sie noch weiter dahin verschärft, daß die Strafe schon nach dem ersten, und nicht erst nach dem dritten Ungehorsamsfalle zu verhängen sei.

Allein von diesen le5tgedachten Bestimmungen abgesehen, waren doch einige Angelegenheiten in Erb- und Strafsachen gegeben, die

115) Ganz vereinzelt heißt es in Art. 16 der Ain.-U., daß die Geldstrafe erst verfallen ist, wenn das Verbot schon zehnmal übertreten wurde.

118) Mell, Weinbergrechi, S. 124 f. 117) Art. 17, unten Anhang I. 8 ee Rezl-U. Art. 19, ed. Oblak, a. a. O. S. 184 f., ed. Koblar., a. a. O.

119) Vgl. oben 8 6, II. 130) Mell, Weinbergrecht, S. 129. 131) Mell. Weinbergrecht, S. 132.

550

von der allgemeinen Vorschrift, daß alle Streitigkeiten sofort vor das ordentliche BT. zu kommen haben, ausgenommen waren. Der Bergherr war aber nicht befugt, sie selbst endgültig zu erledigen; ihm kam bloß die Befugnis zu, die Sache für die lurisdiktion der BT.-Richter dadurch vorzubereiten, daß er die seinem Bergstabe untergebene Person verhörte, ja sogar ihr Weisungen erteilte, allein sie hatte die Möglichkeit, sich an das Gericht des BT. zu wenden.

Die Bestimmungen des BRB. sprechen nicht davon, daß Streit- sachen oder Klagen noch vor dem BT. bei der Bergbehörde anzu- bringen oder anzumelden gewesen wären, und daß diese befugt ge- wesen wäre, sie abzulehnen oder niederzuschlagen. Aus dem Art. 5 ist eher das Gegenteil zu erschließen, daß jedes eigenmächtige Zurückhalten der Streitsachen eine Beschwerde an den Kellermeister zur Folge haben kann“). Auch steht es in dem Art.7, der fast in alle slov. U. sinngetreu aufgenommen wurde, daß auf den BT. alle Verletzungen der Bergfreiheiten anzuzeigen sinds). Nichtsdesto- weniger kann nicht angenommen werden, daß es einer betroffenen Partei verwehrt gewesen wäre, in dringlichen Angelegenheiten die Hilfe des Bergherrn oder seines Bergmeisters in Anspruch zu nehmen. In diesem Sinne möchten wir für die Rechtsgebiete, in denen das BRB. Geltung hatte, die Angaben Ferdinand vonRechbachs richtigstellen, daß eine jede Grundobrigkeit als erste Instanz in Zivil- sachen ihre Untergebenen entweder selbst oder durch einen unpar- teiischen Richter verhören und sentenzieren durfte***). Damit steht nicht im Widerspruche die Bestimmung des Art. 27, unterstüßt viel- mehr unsere Auffassung, daß der Bergherr oder der Hubmeister (siehe oben § 10) auf ein Begehren (sic!) „ain furpot“ erlassen kann, freilich gegen Bezahlung einer Taxe von 12 Pfennigen:%). Die Stud.- B.-U. spricht hier von dem Begehren eines Briefes oder eines Siegels (Petschaft)**), dessen Übersendung als Vorladung gewertet werden mochte*37). Doch waren diese Vergleichsversuche durch Inanspruch-

132) Mell, Weinbergrecht, S. 112.

138) Mell, Weinbergrecht, S. 113.

1%) Siehe Ferdinand von Rechbach, Observationes ad Stylum curiae Graecensis ei subordinatorum tribunalium Styriae, Carinthiae, Car- nioliae, Goritiae, Tergesti, Fluminis et Anplety [Grätz 1680), S. 115. Vol. auch Nicolaus de Beckmann, a. a. O. S. 544, 545. In gleichem Sinne, wie oben, vertritt seine Anschauung in der Sache auch Polec, a. a. O. S. 34. Selbstredend ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß von Rechbach für die übrigen Gebiete, außer den Weingegenden, recht hatte. Vgl. übrigens auch von Rechbach, a. a. O. S. 55-57, über das Bergrecht in Steiermark.

135) Mell, Weinbergrecht, S. 133.

136) Stud.-B.-U. Art. 26, ed. Oblak, a. a. O. S. 303.

_ 187) Vgl. uber die Verbreitung des Ladungssiegels in den slavischen Siedlungsgebieten M. von Sufflay, Az idézo pecsét a szláv források vilá világánál (Das Ladungssiegel im Lichte der slavischen Quellen), Századok (Jahrhunderte) XL, Budapest 1906, S. 293—312, im Auszug (Sigillum citacionis) auch Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts- forschung XXVIII, Innsbruck 1907, S. 515—518. Eine Vorladung wegen

851

nahme der Bergbehörde keineswegs obligatorisch gemeint. Eine solche Annahme würde mit der Bestimmung des BRB. in Widerspruch kommen, daß jedermann verpflichtet sei, persönlich oder durch seinen Stellvertreter an dem BT. teilzunehmen, damit er höre, ob der Berg- herr oder jemand anderer gegen ihn etwas zu klagen oder zu melden hat, mit der Begründung „dann man nit schuldig jedem besonder furzupieten“ (Art. 140. Auch wurde hinsichtlich der Erbansprüche ausdrücklich bestimmt, daß sie im BT. anzumelden seien (Art. 1108). U. E. war daher das Recht, Klage zu führen, ohne vorher die Berg- behörde als Vermittlerin anzurufen, von alters her so bekannt, daß es gar nicht im BRB. besonders statuiert zu werden brauchte. Was aber für die BT. recht war, mußte für die Quatember- und Billich- rechte gewohnheitsrechtlich für billig gelten. Wie aber die Parteien, wenn sie das persönliche Erscheinen der Gegenpartei unbedingt ge- sichert haben wollten, vorgehen mußten, das regelten in den einzelnen Weinberggebieten die bestehenden Gewohnheiten.

§ 23. Hauptgrundsake des Prozeßverfahrens.

Uber die Art des Prozeßverfahrens auf dem BT. erfahren wir aus dem BRB. fast gar nichts. Allerdings müssen wir annehmen, daß das fiskalische Interesse des Bergherrn die Prozeßführung stark beeinflußt hat. Es heißt im BRB., daß jede Partei, die in Erbsachen Klage zu führen hat, eine Taxe zu erlegen habe (Art. 110. Diese Vorschrift wurde in einigen Übersekungen ausdrücklich auf Klag- ansprüche jedweder Art ausgedehnt. Ahnliche fiskalische Bestim- mungen bestanden für das „Fürbof“, für die Übersendung eines ` Gerichtsbriefes mit einer Urteilsausfertigung, für die Abfertigung eines „Dingnusses“ (Beschwerde an die höhere Instanz (Art. 27)**). Die slov. U. variieren untereinander in erheblichem Maße. Auch die Bestimmung des Art. 27 BRB., daß die Taxen gemäßigt werden sollen, wenn es sich bloß um eine geringfügige Sache handelt, kam in einigen Ubersebungen gar nicht zum Ausdruck.

Uber den Gang der Prozesse schreibt das BRB. nichts vor. Wohl wird das Verbot aufgestellt, bewaffnet zu erscheinen, und das Gebot, sich anständig zu benehmen und jeden Anlaß zu Prügeleien und dergl. zu vermeiden (Art. 3)**). Eine besondere Vorschrift über die Vertretung beim Prozesse ist allerdings darin zu erblicken, es dürfe sich keine Streitpartei einen „prokurator oder Redner“ selbst auf- nehmen, sondern sie könne ihn, wenn ein solcher erwünscht isi, beim

einer gerichtlichen Amtshandlung wurde in einigen Weinberggebieten auch „Compaß“ genannt. Vgl. dazu Grimm, Deutsches Worterbuch Il, Leipzig 1860, Sp. 632.

1360) Mell, Weinbergrecht, S. 118.

139) Mell, Weinbergrecht, S. 115 f.

130) A. a. O.

181) Mell, Weinbergrechi, S. 131.

133) Mell, Weinbergrecht, S. 115 f.

552

Ring, d. h. von der Beisigertafel begehren, und diese stellt ihn ihr bei (Ari. 30)***). Diese Vorschrift dürfte jedoch nur für die Bergtaidings- prozesse angewendet worden sein, da beim Quatember- und Un- parteiischen Rechte die Zulassung des Beistandsherrn aus Landstraß namens Dittrich Rab um 1639 urkundlich erwiesen ist.

Weitere Vorschriften, wer als Partei aufireten kann, in welcher Reihenfolge sie während der Verhandlung zu sprechen haben, wie die Beweise aufzunehmen sind, wie die Beratung, wie die Urteils- schöpfung zustande kommt alles dies wird im BRB. nicht an- gegeben. Augenscheinlich war es jedermann nach mündlicher Über- lieferung bekannt. Nur in Ansehung der Hereinbringung der Taxen und der Geldbußen für den Bergherrn oder Bergmeister wird der Weg der indirekten Exekution durch Verkreuzigung des Weingartens fesigese5t (Art. 19; siehe oben 8 13).

824. Höhere Instanzen.

Daß das BRB. eine zweite und dritte Instanz über den BT. vor- gesehen hat, wurde bereits oben erwähnt (8 9). Allein Verfahrens- vorschriften für diese Instanzen finden sich in den Bergartikeln nicht vor. Die zweite Instanz, der Kellermeister, erhielt allerdings Wei- sungen organisatorischen Inhalts, er habe in einem Richterkollegium zu iudizieren, das mit „landleuten und burgern, so perkrecht haben oder dienen“, zu besetzen sei (Art. 60. Die Kausalgerichtsbarkeit ist dadurch strenge betont, doch nicht angegeben worden, wer, wann und wie die Besetzung anzuordnen hat. Wir müssen annehmen, daß dies alles gewohnheitsrechilich allgemein bekannt war.

Etwas mehr erfahren wir über die Fälle, in denen die zweite Instanz angerufen werden darf. Der erste Fall ist die Verzögerung bei der Erledigung eines rechtlichen Anliegens, an der der Bergherr schuld trägt. Der Beteiligte konnte Abhilfe suchen nach der Ur- schrift des BRB. beim Kellermeister (Art. 5)**5), nach einigen Uber- setzungen beim Landeshauptmann. (Auf den Grund dieser Divergenz kommen wir später noch zurück.) Ein zweiter Fall des Beschwerde- rechtes war gegeben, wenn die eine oder die andere Streitpartei mit dem Urteile oder Bescheide der Richter auf dem BT. nicht zufrieden war: Sie mußte sich vor dem Bergherrn oder seinem Bergmeister beschweren und das Urteil (haubturtl) von dem ersten und lebten Richter „gleich wol dingen für den landsfürsten kellermeister“ (Art. 28)***). Es soll hier sofort festgestellt werden, daß das Richter- kollegium nach den Vorschriften des BRB. nicht berechtigt erscheint, eine solche Beschwerde a limine abzuweisen.

Von dieser zweiten Instanz sprechen außer dem Original und

138) Mell, Weinbergrechi, S. 135. 1881) Mell, Weinbergrecht, S. 112. 188) Mell, Weinbergrechi, S. 112. 198) Mell, Weinbergrechi, S. 133 f.

der Beradt. BO. noch die Rezl-, Layb.-, Stud.-Bibl.- und Ain.-U.:7); die übrigen schweigen überhaupt von der Möglichkeit der Beschwerde an den Kellermeister gänzlich.

Von der dritten Instanz, die über eine Beschwerde über das Urteil des Kellermeisters zu entscheiden hatte, wird außer im Original BRB. (Art. 28)2**) und der Beradt. BO. (Art. 26010 gleichfalls nur mehr in den Rezl-, Layb.-, Stud.-Bibl.-1*) und Ain.-U. gesprochen. Die Rechtsprechung in dritter Instanz kommt dem Landeshauptmann selbst ohne weiteres, dem Landesverweser und Vizedom aber bloß dann zu, wenn ihnen dies von der königl. Majestät übertragen wurde. Einen besonderen Standpunkt nimmt die Mus.-U. ein. Sie läßt die Beschwerde gegen die Urteile der BT. zu, doch geht der Rechtszug nicht an den Kellermeister, sondern sofort an den Landeshauptmann.

Betreffend die Zusammensetzung der dritten Instanz weist nur die Beradt. BO. einen besonderen Beisak auf, nämlich, wer sich gegen das Urteil des Kellermeisters beschwert, „der mag alsdann daz für den Herrn landshaupfmann landsverwessern wund Vizedomb dingen, die als dan solche appellation vnd in bey sein des er herrn verordneten oder anderer herrn landleuth zu erledigen haben“ 1).

8 25. Die Entwicklungin der Praxis.

Die unvollkommene Darstellung der Verfahrensgrundsäße vor dem BT., insbesondere aber auch noch die Auslassung der ohnehin dürftigen Vorschriften des Original-BRB. in den slov. U., beweisen zur Genüge, daß die Art und Weise des Prozeßbeiriebes geradezu zu einer Domäne des Gewohnheitsrechtes geworden ist, wobei aller- dings einzelne Bestimmungen in den verschiedenen Weinberggebieten durchaus nicht gleichen Inhaltes zu sein brauchten. Ein wenig mehr Klarheit bringen die Gerichtsprotokolle, allerdings nur für die erste Instanz. Für die zweitinstanzliche ludikatur sind uns bisher noch keine urkundlichen Quellen bekannt. In den nachstehenden Er- orterungen wollen wir die notwendigsfen ergänzenden Bestimmungen kurz und ohne Einzelheiten anführen. |

a) Die Fälle, in denen der Bergherr die Bergrichter zu einer außerordentlichen Tagung einberufen hat, wurden sehr selien und ohne Anführung des Einberufungsgrundes angegeben. Es scheint,

187) Beradt. BO. Art. 26, unten Anhang I. Rezl-U. Art. 28, ed. Oblak, a. a. O. S. 186, ed. pone a. a. O. S. 153, Stud.-B.-U. Art. 27, ed. Oblak, a. a. O S. 304

138) A. a. O.

139) A. a. O.

140) A. a. O.

141) Art. 26, unten Anhang I. „Landileuth“ waren Mitglieder der Land- stände, die Verordneten Mitglieder der Verordnetenstelle. S. Rech-

bach, a. a. O. S. 59 f., 79 f., 114. „Die Verordnetenstelle war auch berufen. in Sachen der Steuern, Tak- und Maufhgebühren sowie Kontributionen in erster Instanz zu entscheiden.“

854

daß diese Art des Vorgehens im praktischen Leben weder bei der Bergbehorde, noch bei den Volksrichtern beliebt war. Die Beisitzer sind wohl nicht gerne dem Rufe in das Herrschaftsschloß gefolgt, weil sie im Weingarten saßen, am liebsten vor dem versammelten Volke iudizierten, zumal hier die Garantien für eine unbeeinflußte Rechisprechung gegeben waren, während sie dort aber zum min- desten zweifelhaft war. Auch über Vorladung und andere vorbe- reitende Schritte für die Bergrechtsklagen ist in den Protokollen kaum eine Erwähnung zu finden. Erst für die erste Hälfte des 18. Jahrh. haben wir urkundlichen Beweis dafür, daß die Verwalter in Ainodt Klagen, die auf das BT. kommen sollten, in ein Verzeichnis aufgenommen haben, was wohl beweist, daß die Parteien ob fakultativ, ob obligatorisch wissen wir nicht ihre Streitfälle im voraus dem Bergherrn vorgebracht haben. Beschwerden gegen Ver- fügungen des Bergherrn betreffs der Strafen und Gebühren gab es keine; wohl aber sind einige gegen den Ausspruch, daß der Wein- garien verfallen sei, verzeichnet worden.

b) Aus den Protokollen ersehen wir, daß vor der Klageeinleitung in Zivilrechtssachen eine Aufforderung zur gütigen Beilegung des Streites notwendig war; dies war das Rechtsinstitut „des Besuchens“, das von Person zu Person erfolgen mußte. Dafür wenigstens, daß diese außergerichtliche Mahnung vor der Prozeßeinleitung durch berggerichtsbehördliche Organe ausgeführt werden konnte, haben wir keine urkundlichen Belege gefunden. Nun hat eine solche Be- suchung, die die Gerichtsordnungen für Steiermark aus den Jahren 1573 und 1618 ausdrücklich vorgeschrieben haben“), in Unterkrain schon im Jahre 15% existiert. In einem Protokolle vom 16. September 1590 aus Strascha bei St. Margareten heißt es wörtlich, da „wider den landsbrauch geklagt vund der Kläger nit zu vor ersucht, ist der Beklagte derzeit der Klag und von der Antwort müßig erkanndt worden, ferner soll sy es it suchen, wie es recht ist“. Ein anderes Mal wurde angenommen, die ohne Besuchen angebrachte Klage werde nur als eine Ankündigung oder Meldung einer erst in Zukunft richtig anzubringenden Klagserhebung angesehen. Sogar im 18. Jahrh. ist dieses Institut gewiß noch gehandhabt worden. Anderseits sind uns aber unzählige Fälle aus den Gerichtsprotokollen bekannt, in denen auch ohne vorheriges Besuchen Klagen erst am BT. selbst angebracht worden sind, so insbesondere wegen strafbarer Hand- lungen und der dadurch bedingten Entschädigungsansprüche.

c) Eine Anwendung der fiskalischen Bestimmungen über die Klagetaxen ist in den Gerichtsprotokollen nirgends verzeichnet

143) Vgl. Ainer Ersamen Landschafft des Löblichen Fürstenthumbs Steyr new verfaßte Reformation des Landts und Hofrechts daselbst im MDLXXIII Jar auffgericht. Augsburg 1575. Art. 20, f. 10. Des Löblichen Fürsten- thumbs Steyer Gerichtsordnung Wie vor der Landtshauptmanschafft und dem Schrannengericht Procedieret werden solle. Reformiert im Jahre 1618, Grätz 1620, Art. 23, f. 17 v., 18 r. Vgl. darüber Schenk, Übersicht der österreichischen Gesebgebung über Civilprozeßrecht bis zum Schlusse des XVI. Jahrhunderts, Wien 1864, S. 85.

555

worden. Vermutlich haben die Bergherren die Anhängigmachung der Prozesse nicht erschweren wollen, weil dies ja nur eine Min- derung ihrer Einkünfte aus den Geldstrafen zur Folge gehabt hätte, während der Abgang der Klagetaxen wirklich nicht schwer ins Ge- wicht fiel. Auch bei Appellationsanmeldungen wurden keine Taxen angemerkt; vielleicht sind sie in der Kanzlei des Gutsherrn unmittel- bar eingehoben worden.

d) Die Entscheidungen sind zum weitaus größten Teile einhellig geschopft worden; doch finden sich auch ab und zu Vermerke, dab eine Entscheidung nur mit Stimmenmehrheit erfolgte. Als Kläger traten nicht nur Weingärtner, sondern auch der Bergherr, der Hof- richter, der Bergmeister, die Beisitzer selbst, die ganze „Nachbar- schaft“, die „gesamte Beisifertafel“ auf, desgleichen konnten aber alle diese auch Beklagte sein. Auch für den Bergherrn galt keine diesfällige Ausnahme, allerdings nur bis etwa Mitte des 17. Jahrh. Inhabilität der Richter war nicht bekannt.

Als Beweismittel wurden hauptsächlich Zeugenvernehmung und Lokalaugenschein in Anwendung gebracht. Es herrschte sozusagen absolute Mündlichkeit des Verfahrens. Von irgendwelchen Schrift- sagen der Parteien war keine Rede. Die Urteile wurden nach der Beweisdurchführung beschlossen und ,,stehenderweise“ verkündet, es ware denn, daß erst eine Beweisdurchführung außerhalb des Ge- richtes durch den Bergmeister oder die Schäbleute angeordnet wer- den mußte. Die Exekutionen geschahen durch Verkreuzigung oder Verpetschierung des Weingartens bzw. Weingartenkellers unter An- drohung weiterer Strafe für den Fall, daß der Anspruch nicht be- friedigt würde. |

e) Das Verfahren in Beschwerdesachen ging seine eigenen Wege, die ird BRB. nicht vorgesehen waren. Zunächst bestand wohl in allen Gebieten die Rechtsübung, daß es dem Ermessen desiudex a quo anheimgestelli war, den Beschwerdeweg an den iudex ad quem zuzulassen oder aber zu versagen. Allerdings sind auch einige Fälle der Beschwerde gegen die Versagung des Beschwerde- weges verzeichnet. Weiter ging aber der Beschwerdezug nichi nur an den Kellermeister, sondern ziemlich häufig an ein Unparteiisch- Gericht, ja sogar von dem BT. an das Quatemberrecht, wie auch um- gekehrt. Das Amt des Kellermeisters dürfte zu Anfang des 18. Jahrh. aufgelassen worden sein). Im 18. Jahrh. finden wir, daß die Be- schwerden direkt an den Landeshauptmann erhoben werden, was den obangeführten Vorschriften der Mus.-U. entspricht. Allem An- scheine nach war der Kellermeister nicht genügend beschäftigt, sein Gericht aber zu kostspielig, weshalb man seine Entscheidungsbefug- nis sofort auf den vorher als dritte und letzte Instanz vorgesehenen

13) Ferd. von Rechbach, op. cit, S. 56, 57, berichtet, daß die Be- schwerden an das Kellergericht von Bergherren unmittelbar angebracht wurden, daß er sich, anderseits, wenn er etwas verschuldete, vor dem ge- nannten Gerichte verantworten mußte —; dies galt also noch 1688. Siehe auch Nicolaus de Beckmann, op. cit, S. 254, unter „Keller-Gericht”.

556

Landeshauptmann übertragen hat. Übrigens haben wir in den viele Tausende von Fällen verzeichnenden Protokollen eine förmliche Be- schwerde an die dritte Instanz nirgends erwähnt gefunden.

Anhang l.

Beradihschlagte Pergrechis Ordnung In Crain vund der Windischen Marckh, Ysterreich vnd Kharst efc.*)

159.

1. Wan man die Perkhrechtthaiding halfen soll.

Anfenglichen sollen alle Pergkhthaiding im Lanndt Crain, vund der windischen Markh Ysterreich vund Kharst Erstens zwischen St. Gregorio vund St. Georgitag jahrlich bessessen vund gehalfen, die annder aber Zum Herbst, wie es in Jedem Perkhg gebräuchig, an dem ort, wo es von olters herkomben ist, vnd ohne sondrer Ursache oder ehehafte noth an khein ander Ort nit gewendet werden, darzu soll ein jeder Perckchherr solich recht besetzen, mit seinen Perkch- holden, so Er aber deren nit souill hat, mag Er auß anderer Pergn Perkhholden nemben, vund die Perkh Thaiding besezen darzu soll ein Jeder Perckch holde zeitlich, vund aufs langest umb 9. Uhr vor Mitag persöhnlich Erscheinen, oder so daß genuegsambe Vrsachen zu khomben verhindert, einen anderen Eirbaren man an seiner Statt schicken vund wan sy alßdann zu den Rechten sizen sollen die Par- theyen fleißig hören vnd mit Einander, sich auch still vund vnuer- weißlich halten.

2. Wie man umb Erb Klagen vnd recht ergehen lassen soll.

Item es soll ein Jeder Perkhherr, denen so umb Erb zu Clagen haben (die zwischen den angestellten Perkgthaiding angefallen währen) alllerwegen im Jahr recht ergehen lassen, im schrüft oder Mündlich Fürpitte thuen vnd in daz zu einer Jedenzeit nit verziehen, sondern fürderlich recht Ergehen lassen, da diese recht nit Verzug leiden mig.

3. Wie sich die Pergholden am Pergkhthaiding halten sollen vnd von Poen dern so sich unge- büerlich halten.

Item an den angestelten Rechtstag, so lang man die Perkch-

thaiding nit ausgesessen und alles abgehandelt hat, so sollen die Perkhholden sich ganzlichen enthalten und kheinen Likauf wein oder

1) Wörtliche Abschrift aus dem Manuskripte: „Mein Hannßen Laybasser Formular Buech Von sybendten Septembris des 1641 jahrs“ Seite 93—99 aus dem Archive des Laibacher Domkapitels.

857

most aufiragen lassen, Sonndern daz big daz gar verricht anstöllen, und welcher da khombt Zu dem Pergkhtaiding, solle jer jeglicher sein wahr, von ihme thun, wo aber einer, ein währ hat, so solle er dis nicht müßbrauchen, auch sich mit worten gebürlich halten noch deshalb ainicherley Unzuecht treiben, vund nich Ursach geben, zu Auffrur, wo aber einer darwider thath vnd sich mit worden vund in annder weg vngebürlich hielt, der soll gestrafft werden: vmb 72 D., zukht aber einer ain wahr, soll die straff sein ein?) pfening: Darfür ain Ducaten in Goldt zu verstehen, vund so einer ain schlegt, solle die Siraff sein Zwo Markh pfening, daz ist Zwoo Ducaten in Goldt, und nichts weniger, dem beleidigten sein schaden vnd Forderung vorbehalten sein.

4. Wo man Erster Instanz handlen soll.

Item es soll ein Jeglicher in der ersten Instanz vor seinem orden- lichen Gericht, wie von alter her khumben, alle sachen so das Pergkh- recht betrifft, fürgenomben, vnd gehanndelt werden.

5. Wann ainem der Perkherr Recht verzeücht.

Wo aber der Pergkherr einem das recht verzüg, oder der Jemand auf sein ersuchen khein gebürliches recht wolt her gehen lassen, daß wissentlichen wurde, als dann da derselb für des Landesfürsten Khellermaister bringen, vnd anzaigen, der soll sich des erkhundigen was sich befindt, vnd weißlich gemacht wirt als dann mag der Kheller- maister die billigkheit darinnen hanndlen ohne des solle der Kheller- maister die Pariheyen nit für sich fordern.

6. Wie der Khellermaister Recht Besetzen vnd handeln soll. Es soll auch der Khellermaister, so ein Sach für Ihme khombi, daß er mit Erkhandinus des Rechtes handeln soll, solich recht mit

Landtleuten vnd bürgern so bergrecht haben, oder dienen, besefen vnd nach Lauth des Pergsbuechs darinnen handin.

7. Was man erstlich an den Pergkhthaidung Anzaigen soll.

An den Perkgthaiding soll man anzaigen alle Gerechtigkeit vnd freyheit des Perkhrechts, Eingrüff, einlauff, Frauel vnnd gewalt- geschehen, die Frauel vnd Pueß melden, vnd welcher Frauel oder gewalt verschweigt vnd nit meldet der ist dem Pergherrn 72 Pfenig verfallen.

2) Ausgelassen: Mark.

808

8 Vonden weegen zun Weingarten.

Alle unrecht weg zu den Weingärten, vnd von den Weingärten die von alter nit gewöhnlich herkhomben seindt, die sollen nach St. Matthiaßtag alle verpoten sein, welcher sich aber solichen ver- botnen weeg nach der gemeleten Zeit gebraucht, soll dem Perkh- herrn 72. Pf. verfallen sein.

9 Von weeg Machen.

Item so noth an den weegen zu den Weingarten Zu machen, vund zu bessern sein will, soll den Perkhgenossen darzue verkhündt vnd bey der Pues 4. Pf. denselben weeg machen vnd bessern, wellicher aber nit khombt, vnd jemandt ohn redliche Vrsach schicket, dauon soll die Pueß von jeglichen genomben versaumbien Tag wie obstehet genomben werden.

10. Von Zeiner.

Item man soll auch gemain Zaun vnd frieden bey den weingärten an fürhaubten, vnd allenthalben, wo es noth ist, zu stund nach St. Mathiastag machen, verzäunen vnd befrieden, welcher da schuldig war zu ihun und das verbräch, der soll dem Perkherrn zu Pueß ver- fallen sein 72 Pf. vnd den anderen so schaden dardurch besehehen ist den schaden ablegen.

11. Wie man vmb Erb Klagen soll.

Item Es soll ein ieder Erb, der vmb Erblich Gerechtigkheit zu sprechen hat, das melden die Perkhthaiding vnd verlegen mit einem Pfening that er das nit so ist man Ime khein recht daruber zu sprechen, oder zu bessiezen schuld, außgenomben, Er were dan außguetten gegründten Vrsachen, aus dem landt geweßen.

12. Wellicher ohn Vorwissen auf dem Land zeuchf.

Item wellicher aber ohne Vorwissen seiner Grundtherren oder obrigkheit, auch ander redlich Vrsach aug den landt zeucht vnd seines Vaters sein Guetel nicht hilft pauen, der soll aldan desselben Erbtheil verzigen sein, doch mag Ime gnadt gethan werden.

13. Von denen so most ohne Erlaubnis aus dem Perg führen.

Item wellicher wein, most, oder Traidt vill oder wenig übers ver- bot, auß denn perkhrecht, ohne Vrlaub eins Perg Suppan fürt, so ist als dan der furman 72 Pf. zu Pueß verfallen, vnd der anndere den wein most, oder traidt dem Perkhherrn verfallen, wo aber der Perk- herr, den wein most, oder thraidt auf seinen gründten nicht betreten mag alẹ dan mag Er sein völligkheith aug den weingarten oder

559

Grundfen haben vnd bekhenen doh das Verbot in 14 tagen darnach gerechifertigt werde.

14. Von denen so zu Pergthaing nicht khommen.

Item es soll ein ieder Perkhold, auf den Tag wellichen man daß Perkhrecht oder Pergkhthaidung berueft vnd besi§t Persohnlichen sein, allein so denn genuegsambe Vrsach zu khomen verhindern, einen anderen Erbaren man an seiner statt darzue senden, da sehen vnd hören ob der Perkhherrn oder Jemandt ander zu Ihme waß zu Clagen, oder zu melden hat, denen man nicht schuldig ein Jeden besonnder für zu puetten, wer aber darzue nicht khombt oder wie ge- meldt nicht sendet, der ist völlig dem Perkhherrn 72 Pf. schuldig.

15. Wie man Pergkrecht geben soll.

liem wer von einem weingarten Most dient der soll sein Herrn den vorlaß geben, vund soll ihn nicht aug den Trostern gewehren, vnd soll den most nicht in ein stiinkendes Assach güeßen, noch dan mit einerley zuesaz felschen, vnd soll den Most von Stunden aindt- worten, also sueßen, so Er also schierisi mag. Er soll auch seinen Herrn gewehren auß dem weingarten, davon er ihme dient, wiert es Ime aber in dem weingarten nicht, so mueß er anderst wo khauffen an Enden, da also gueter wein wahst als in seinem weingarten, vnd weill in disem landt an etlichen orihen gebreuchig, das der Perkholdt seinem Perkhherrn des Perkhrechts anhaimbs, so weit er in einen Tag bey Sonnen schein fahren mag zu führen schuldig ist an den mehreren orihen aber ist es gebreuchig, demnach werde es noch- mallen also, wie es von alter herkhomen vnd an iedem orth ge- breuchig gewest, gelassen, vund soll darüber niemand gedrungen, oder beschwört zu werden.

16. Wie ein Pergholdt des Pergrecht halben sein weingarten mag verwirkhen.

Wo aber ein Pergholdt sein Perkherrn in dreyen Jahren nach- einander das Perkhrecht wie obgemelt ist nicht dient, so mag der Perkhherr, mit erkhanndinuß der Perkhgenossen sich des weingariens holz oder Akcher, am vierten Jahren woll vunterstehen, daselbst auch einzichen vnd legen.

17. Wie man Pfendten soll.

Item es ist, vnd soll ein Jeder Pergherr oder Perkhmaister vmb sein verpoth frevel vnd wandl, Pfenndten auf den Pergen®), vmb sein

8) Hier hat der Abschreiber einige Worte aus dem Original versehent- lich ausgelassen. Im BRB. aus dem Jahre 1543 steht es „nach dem perk- taiding, mag er aber phandnuß auf den pergen“ etc. Mell, Weinberg- recht, Art. 19, S. 124.

560

vorgemelt forderung vnd Pueß nicht gehaben, so soll er sein Creuz fiir die stigl oder eingang des weingartten, schlagen vund Im ver- bitten bey 72 Pf. wo Er aber jemandt seinetwegen in den wein- garten vnd darauß gehet, ist er alb oft schuldig vnd fällig 72 Pf: ist dan das verbrechen so groß, so mag dem Pueßfählichen darzue ein Kheller oder weingartien verpetschiert worden, bricht er das ab so ist er fällig 2 Margkh so das mehr mallen gesicht, vund wan daß den Perkh Pergkherrn verdrüßt, so soll er Ime einen richter vund seine Pergenossen darüber niderseten vnd in darauf fürfordern, vnd solche Pueß dan raiten vnd sumiren lassen, vnd sich dan des Erbs vnierwinden, vnnzt so lang Er darüber bezahlt werde, vnd solch recht suechen, mag der herr oder sein Pergmaister an seiner statt thuen.

18. Die so im Perg seßhaft sein betreffend:

Item alle die so mit aignem Rukhen in Pergrechten wohnen, vnd gessessen sein, sollen darau ziehen sich aufhiieben vnd giietter setzen, vnd ohn sonderliche Vrsachen, alters vnd schwachheit halber, auch ohne zugeben des Pergherren darinen nicht gelassen werden, ausgenomen es were den das Pergrecht zu zins güettern®) widerum- ben ein weingartten gemacht wurde, alß dan mag der Pergh: darauff ein zimbliches Perkhrecht anschlagen,

19. Wie Vermächt, Stift, khauff beschehen sollen.

Item alle Vermächt, Stift, Kaiiff oder saz die auf Pergrechten beschehen, die sollen mit des Perkherrn oder: seines verwalters handt eruolgen, auf geben, verliehen vund darüber bestannden wer- den, vnd von dem Pergherrn ein Vrkhundt nemen, sonnsten hat es khein Craft wellicher aber das Verpräch, soll dem Perkherrn, vmb ein Markh Pfenning, oder wie gehört einen Ducaten in golt gepüeßt werden, vund solch veranderung khein Crafft haben vnd von wegen mehrer richtigkheit, so auch ein ieder Pergkh genoß wellicher khein Vrkhundt, aber seinen weingartten hat, da selb nochmallen, von dem Pergherrn Inner eines Jahrs, nach Publizierung dises Pergbüchleins, ersuchen vnd begehrn, die sollen Ihnen, die zugeben kheinesweegs nicht waigern, es wer den das dieselbe Pergrechisgiietier von andren ansprüchig wären wenglich an seinen rechten vnuorgreiflich.

20. Von Todtsfällen.

ltem wan ein Pergholdt, mit Todt abgehet, vund heine ehelichen leibs Erben oder andre Erben, läßt, so ist daselbs dem Pergherrn mit recht ledig worden, doh was redlicher schulden darauff sein die sollen auß allen seinen guett bezalt werden, souer es erraichen mag.

4) Die Worte aus dem BRB. fehlen hier: „worden, wo aber aus dem- selben oder anderen“. Mell, Weinbergrecht, Art. 20, S. 127.

561

21. Vonendziechung der Gründe.

Item wellicher Perggenoß sein herrn, sein Perkhrecht oder grundt endizeucht, vnd einem anderen der im selbst aignet, zue sagt vnd gibt, vnd so das außfündig wiert so ist daselb Er seinem Perg- herrn ledig vnd verfallen.

22. Von Abschneidung vnd Hauen der weingartien.

Item wellicher einen weingartten ein Jahr vngeschnitten läßt, das ist dem Pergherrn ein ander Jahr, mit recht heimbgefallen, vund wellicher aber ein Jahr in einem weingartten, die Erste haue vor Pfingsten nii thatt, der ist dem Pergherrn verfallen ein March-Pfen- nig, das andere zwo Marckh Pfenig vnd das dritte Jahr der wein- gartien gar verfallen,

23. Von Furfordern.

Item wan der Pergherr oder Pergmaister einen fürfordert vund zum dritten mall nit khombt ein fall drey Margkh Pfening.

24. Von denen so die weingartten nit wesenlich halten.

Item wellicher Perkholdt sein weingartten, mit griieben vnd allen andern nottürftigen, weingartten gebey, nicht wesenlich wie darzue gehört halt, soll der Pergherr solch sein versambnuß, den Perk- holden anzaigen, vnd sye darüber erkhennen lassen, vmb ob solch sein versambnus zu nachtl des grundts Im Pergrechi gelegen khombt so mag Ime der Perkherr gebietten den weingarten nottiirfilich zu pauen oder in ainem halben Jahr zu uerkhauffen, bey seinem faal, vier markh Pfening wo aber der Perkholdt dem auß trobigkheii oder aignen Muetwillen nicht nachkhäm, als dan mag der Pergherr darumen erkhennen, vnd schazen lassen, dan in gleichen werth zuuerkhauffen.

25. Wak man vmb fürpoti vnd behebnuß geben soll.

Item wer von Pergherrn, oder den Khellermaister ein fiirpott begehrt, der soll darfür geben drey Khreizer vmb ain gerichtsbrieff, da nit haubt vril zuen begriffen 3 K vnd vmb*) ain behebnuß 30 Kr: doch wo die khlein soll auch gleichmeßiger sach dauon genomen werden.

26. Von dingnus vnd Appellationen.

Item so sich ainer beschwort eines vrtels vor dem Pergherrn oder seinem Pergmaistern, der mag von dem Ersten oder lezten

5) Im Original (1593) „ain Dingnuß sechzig phenig“ Mell, Weinberg- recht, Art. 27, S. 133), was hier offensichtlich ohne Absicht ausgelassen wurde, weil schon der nächste Artikel von „Dingnis“ spricht. Auch wurde der Fehler im letzten Satze des letzten Artikels guigemacht.

562

rechisprecher, das haubt vril dingen für des landis fürsten Kheller- maister, wellicher sich aber des Khellermaisters vril beschwori, der mag alß dan daz, für den herrn landts haubtman landisverweßern, vnd Vizdomb dingen die als dan solche appellation vnd in bey sein des der herrn verordneten, oder anderer herrn landtleuth zuerledigen haben.

27. Vom Faal vnd wandl.

ltem die wandel vnd faall in Pergthaiding, die einem Pergherrn oder Pergmaister verfallen sein, bey der Pueß hernach geschriben, . vmb im jeglichen Articel begrüeffen, auch die Perggenossen, selbst gesagt vund zu recht gesprochen haben darumb daz sy ihr erb vund guett auch den leib desto sicherer haben mögen.

28. Redener.

Item es kheinem khlager noh Andtwortter, der in Pergrechts- rechten zu Clagen, oder zu andtwortten hat gestatt werden, daz er sich einen redner Iren laß sundern so Er eines mangelt mag er im ring aines begehren der solle Ime alls dan verschafft werden.

29. Vieschaden.

Item wellicher mit Vieh einen schaden thuet in einem Weingarten oder Pergkhrecht, der ist den schaden schuldig wider zukhern vund dem Pergherrn von Jedem haubt 32 pfening es sey im Sommer oder Winder.

30. Die sich nit wollen Pfendten lassen.

litem ob sich einer nit wolt pfendten lassen, vund Ime daß frauen- lich wehren, oder wehrt der ist fallig das: Markh Pfenig 1.—

31. Obstpaum.

Item wellicher einem ein Pelzer oder obsipaum nimbt abhakhi oder dert, der ist fallig 3 markh Pfennig vund den Pelzer wider zu erstatten,

32. Hey: Holtz.

Item wellicher einem sein Hey: Holz, Im Pergrecht abschlecht von iedem Stamb 72 Pf. vund Ime so uill zui wider zu uerstatten oder zu kherren nach erkhenndinuß der Perggenossen,

33. Stekhen.

Item wan einer ein stekhen stillt, auch ein markh Pfening vnd dem so die stekhen geweßen zwiffach zuerstatten vnd zubezallen,

865

34. Kheller Prechen.

Item wellicher einem einbricht in die Preß oder in Kheller vnd mit frauel auf Ihn schlecht, der soll am leib vnd guett gestrafft werden

35. überlauffen.

Item schlecht oder überlaüfft einer den andern, vnd zeucht Im schaden zu, Im Pergrecht, auch bey 5 March Pfenig vnd sein schaden wider zu kheren.

3. Wild gaill.

Item wellicher dem andern sein erdtrich auffhöbt, vund zu wildt- gaill in seinem weingarten wegttregt oder fiiredt der ist fallig 72 df: vnd dem sein erdirich widerzubezallen.

37. Pidt markht.

Item wellicher Pidtmarkht außhaut, oder den gemainen weeg zu nachet haut, der verwürkht die Pues 5 Markh Pfenig, vnd was an dem weeg gebräch denselben schuldig wider zumachen.

381 Obst und weinbeer.

Item wer einem seine weinpres, oder allerley Obst wie es genent ist, stilt, der ist fällig zu ersten mall fünff markh Pfenig, zum andern ain ohr, zum dritten nach erkhandnuß der Pergkhgenossen, zu straffen, vund dem andern sein schaden abzulegen.

391 Frist vmb verkhauffte gründf.

Item wan einer ein weingartten verkaufft, vnd nimbt vmb die schuldt Pürgen, Er helt in die früßt nicht vnd gehet. hin, vnd vnier- windet sich, ohn sein, vund des Pergmaisters willen, des weingart- jens mit frauel, so soll der Perkhmaister, dem der weingartien ver- khaufft hat, wider einandtwortten vnd ob er Icht darzue gearbeit hat das soll Er verlohren haben, vnd darnach dem Pergmaister fallig 5 March Pfenig, vmb das er sich des gerichts unter wunden hat.

40. Absegnen.

Hem wer mit absegnen, weingartten gehager, oder bei holz ver- machi, der ist vollig 10 M: Pf: vund anndern sein schaden wider Zukhern,

41. Wer Weinstegkh abhackt.

ltem wer mit frauel einen wein stagkh abschlecht, oder abhagkht, der ist völlig 3 Mr: Pf vund dem andern sein weinstakh wider Zukhern.

564

42. Angesiorbene Erb Zu uerleichen.

Item ein Pergherr soll einem Jedem Erben auf sein gerechtigkheit so Ime anersiorben ist, Leyhen, was er ime von recht darann Zu- uerleichen hat, vund wan er Erb 3. stundt in beiwessen zweyer Perg- genossen an Ihne fordert, daz wissentlich ist, vund will Ihme darüber niht leyhen, so mag dann der Erb des landt fürsten Kheller maister darumb besuechen, der soll dem Perkherrn schreiben, vund beullchen, daz er den Perkhschaden, auf sein Gerechtigheit, in 14 tagen ver- gleiche wo aber der Pergherr daselb nicht schuldig zu sein vermaini, so soll er doch in den 14 tagen die Pergkhgenossen nieder seken vund erklhennen lassen. Thäte Er das nicht so soll als dann des lanndisfiirsten Khellermaister, Ime solch Erb auf sein gerechtigkheit verleichen vund Ime darzue zu recht schirmen, vund vergreiffen dem Pergherrn an sein Grundt Zins vnd Pergrecht,

43. Poseß.

Item welcher weingartien vund grundt in Pergrecht gelegen, Jar vnd iag vnuersprochen bey einem der Inner landts wönhaft ist, in nuz vnd gewehr gessessen ist, mag Er daz bezeugen als recht ist, vnd soll füran vnuerfochten bleiben außgenomen, vnuogtbare Khinder die nit Vormünder haben, oder Gerhaben, den soll es big zu 16 Jahrren zuersuchen beuorstehen.

4. Holz zu nahendt bey den weingariien.

Item so ainem, ein holz bey einem weingartien zu nahendt stehet, dardurch den weingartien schaden beschach, soll daselb durch die Perggenossen besichtigt werden, befindt es sich als dan, daz es Im zu nachendt siehel, oder zu nachtheill khumbi, so soll daselb ab- gestellt werden.

45. Rain zuraumen.

Item Gehager vnd Rain zu raumen bey vund zwischen den wein- garten sollen baid anrainer mit einander aufreuten vnd ob sy sich nit vergleichen so soll es nach erkhandinus der Perggenossen be- schechen,

46. Des Perg supan oder Pergmeister gebür.

Item in allen Puessen, fahlen vnd wandelen, wie vor angezaigt ist, soll einem ieden Pergsuppan oder Pergmaisier, von Jeden fall oder Pueß so dem Pergherrn verfallen 12 Pf. vumb sein Mühe daz Er die dem Pergherrn einbringt, geben werden oder bleiben.

47. Lechen zuempfangen.

Item welcher ein weingartien oder ander gründt, in Pergrecht gelegen durch Erbschaft, Khauff, auß wexl, geschafft oder vermacht

24 NF 5 565

zu stende vnd in ein Monath von des Pergherrn, handen oder ainem andern, dem Ers beuilcht nit enpfieng, der ist dem herrn Pfahig 4: Markh Pfening.

48. Die Khauf anzubieten.

Item so ein weingartten, oder ander Erb in Pergrechien faill ge- sezt wierdet, so soll der Pergherr, für all ander mit den Khauff, an- genath werden, doch daz der Pergherr solchen weingartten, in dem werth wie der vorkhäuffer, denselben einen ander geben meht, annemb, vund in dar wider nit beschwär, wo aber der Pergherr den nicht khauffen wolt, alb der nechst freundt, damit angenoth wo der selb auch nit khauffet, so soll der anrainer damit angenoth werden, vnd wo derselb auch nit khauffet alß dan mag Er solchen wein- gartien oder Erb verkhauffen wem Er will,

49. VomLesen.

Item es wierdt auch mit dem Zeitlichen leken großer miesbrauch gehalten, dardurch den Pauman Pergherrn vnd Zehendiherm, schlechter most wierdet, daz all die weill man mag, die Weinper ohne nachil stehen lassen, daz Kheiner ohne erlaubnuß des Perg- herrn oder Pergmaisters nit leße, vnd ob es die noliurfft erfordert, daz man geschworene Pauleil vnd Perggenossen zu besichtigen vnd zu erlauben daz lesen sezt, dardurch bessrer wein gemacht, vnd man desto Ehr verkhauffen mag.

50. Markschillig.

Vund nach dem in diser ordnung der Marchschilling etlich mall angezogen wierdet, vnd aber in disem landts Crain vnd der selben anrainundien herrschafften daselb nit gebreiichig so soll alb offt fur ein Marchschilling ein Ducaten in golt verstanden werden.

Sondere gebreüch. Wen ainer ain weingartien verkhaufft, sol er dem Pergherrn

geben . F ‚R o Q PN le ee 2 der in khaufft . J Oe Se Ue abe ee is he hs Be Swe ote Te ES der sich laßt ein schreiben x. . oe oe ce oe Ae auch der sich last ausschreiben vnd einschreiben XK 3 72 Pf machen. . . n k 18 40 Pf machen i” lx. Gib. ates cre Me er ee ee 10

ain markh ist ein ducaten in n golt

Wan ein Perkholdt sein Perkrecht nit zalł mueß Ers daz andere Jahr topelt bezallen vnd für vnd für also zuraitten.

Vmb ein dingnuß 60 Pfenig ist K 15 K.

566

Anhang Il.

Actum Weinberg den 18ten May 18011). Bergdeutung. (Einleitung.) Gemeindurtheil.

Der Bergmeister, Ausschuß und gesamte Bergholden haben sich zur Erhaltung guier Ordnung in dem Weingebirge folgende all- gemeine Anordnungen einverstanden, welche sonach von jedem Bergholden als ein unverbrüchliches, sich selbst gegebenes Gesch unter den nachgesezten Strafen beobachtet werden müsse.

tens: Die alt gewöhnlichen Weingebirge Weege sollen jahrlichens, und zwar, um die heil. Georgens, oder St. Markus Zeit, für dieses Jahr aber in der Kreuzwoche im Herbst repariert, und hergestellt werden; hiezu ist jeder Berghold einen Arbeiter beizugeben schuldig, oder im Unterlassungsfalle 1 Quart Wein abzureichen.

2do: Jeder Berghold, der sich unterfängt einen anderen Berg- holden einen Rebenstock aus seinem Weingarten zu entwenden, ver- fallt nebst Schadenersaß für den Beschädigten 1 Quart Wein.

Itio: Eben so, wenn ein Berghold dem andern Weintrauben, Obst oder sonstige Nuzfrüchte bis auf den Werth von 5 fl oder darunter entwendet, verfällt nebst Schadenersatz für den Beschadigten die Strafe von einem Landeimer Wein.

4°: Wenn jemand einen Reinstein heimlich, oder gewaltthatig herauswirft, oder übersezt, verfällt nebst Ersaz aller Unkösten ein Landeimer Wein. |

5: Für jeden persöhnlich, oder realen Unfug, oder Gewalt ver- fallt der Beleidiger mit Vorbehalt aller Rechte für den Beleidigten den gesamten Bergholden die Strafe von ein Quart Wein.

6%: Da in dem Weingebirge keine Waide zugestanden werden kann, sich aber vorzüglich die Inwohner das Waiden zum Nachteil anderer erlauben, so wird für jeden Beschädigungsfall dem Berg- meister für seinen Weeg, und die Abschäzung 1 Quart Wein, dem Beschädigten aber die wohl ausgemessene volle Entschädigung zu- erkannt; die Gaise aber sind so wie die Schweine in den Weingärten vor Jedermann schußfrey.

7mo: Sind jene Bergholden, die an einem Fahrwege oder Ge- meinde Weingarten besitzen, diesen längst bis Gregorn gehörig ein- zuzäumen schuldig, im Widrigen sie auf keine Entschädigung einen Anspruch zu machen haben. i

8vo: Nachdem die Geistlichkeit ihre Bergandachten und Messen gehörig und wie von jeher gewöhnlich verrichten, so sind auch aber

_ 1) Entnommen aus dem „Bergthaidungsprotocol bei der Herrschaft Klingenfels No 12“. Diese Herrschaft liegt in Unterkrain. In diesem Fo- lianten beginnen die Protokolle am 3. März 1777, schließen am 27. Mai 1806 ab. Ganz ähnliche „Gemein Urteile“ wie das obige wurden am 12. Mai 1801 in Slanzberg und am 13. Mai 1801 in Skurschowitz gefaßt.

867

Bergholden im Gegentheile die ihr gebührenden Wutschen?) Most unweigerlich abzureichen verpflichtet.

Hierüber übergeben die Bergholden dem Bergmeister und Aus- schußmänner die volle Executions Machi, und berechtigen sie mit diesen zum Besten des Bergs zu disponieren.

... (Folgen noch 6 Klagsprotokolle, die erledigt worden sind.)

2) „Wutschen“, slov. „buča“, ursprünglich „der Kürbis“, cucurbita pepo; dann Flaschenkürbis, ein daraus verfertigtes Gefäß; schließlich ein bauchiger Krug (Anm. des Verf.).

568

DER KAISERTITEL PETERS DES GROSSEN UND DER WIENER HOF

Von Emmerich Lukinich.

Bekanntlich legte sich der russische Car, Peter der Große, im Jahre 1722 zu Moskau unter großen Feierlichkeiten den Kaisertitel bei. Mit dieser Tatsache endete ein langer diplomatischer Kampf, der damals die öffentliche Meinung Europas hauptsächlich aus dem Grunde recht lebhaft beschäftigte, weil die Annahme des Kaiser- titels nicht auf Grund eines Übereinkommens mit den europäischen Mächten, sondern durch einen einseitigen Willensakt des Caren er- folgt war. Im Nachstehenden möchte ich eine Einzelheit des diplo- matischen Kampfes, der um den Kaisertitel geführt wurde, auf Grund archivalischer Forschungen, ausführlicher beleuchten.

Car Peter machte schon im Jahre 1687 Schritte, um sich vom deutschen Kaiser Leopold I. den Kaisertitel zu erwirken. Die in Wien erschienene feierliche Gesandtschaft erzielte aber keinen Erfolg, weil Leopold I. mit der Begründung, daß die Verleihung des Kaiser- titels nicht ihm, sondern den Kurfürsten des Reiches zusiehe, die Entscheidung von sich abwalzte’). Jahre hindurch hatte es den Anschein, als hätte sich der Car mit dieser Stellungnahme des Wiener Hofes abgefunden; zumindest findet sich keine Spur in der Richtung, daß er, sei es bei Leopold l., sei es bei dessen unmittelbarem Nach- folger Josef l., weitere Schritte unternommen hatte. Um so größere Überraschung rief daher am Wiener Kaiserhof die im Sommer 1710 erfolgte Unterbreitung des neuen russischen Gesandten Baron Johann Urbich hervor, worin er mit Berufung auf seine Insiruktion für seinen Herrn den Titel „Majestät“ und die Bezeichnung „Kaiser“ forderte, für sich selbst aber außer dem Exzellenztitel- feierlichen Empfang und Zollfreiheit verlangte, „Widrigenfalls er“ wie Josef I. dem am Carenhof weilenden kaiserlichen Gesandien Graf Wilczek schriftlich mitteilte „erklären sollte, daß vorgedachte Seine Liebden von uns keine Schreiben mehr annehmen und ferner alles commercium mit uns aufheben würden“). .

1) Grundmäßige Untersuchung von dem Kayserlichen Titul und Würde, N auch von der Czarischen Titulatur etc. gehandelt. Cöln, 1723, p. 90—91. i

3) Concept im Staatsarchiv Wien. Russica 1710, 28. Juni.

869

Das kaiserliche Ministerium, dem die Lenkung der Politik des Reiches oblag, wurde durch diese Forderung des Caren in eine un- bequeme Lage versebit. In Wien kannte man sehr wohl die un- berechenbare, launenhafte Natur des Caren und mochte von ihm voraussehen, daß er eine allfällige Zurückweisung seiner Ansprüche nicht gleichmütig hinnehmen werde. Auch wußte man, daß zwischen dem Caren und dem gewählten Fürsten von Ungarn und Sieben- bürgen, Franz Rákóczi ll., seit 15. September 1707 ein bündnisartiger Vertrag bestand, und war sich darüber im reinen, daß der Car diesen Fürsten in seinem Kampfe gegen den Kaiser bereitwillig zu untersiüßen geneigt sei, wenn dies die politischen Ziele Rußlands er- fordern. Zwischen dem Caren und Rákóczi bestanden damals iat- sächlich rege diplomatische Verbindungen. Auf Grund der nach Wien gelangten Meldungen glaubte man zu wissen, Räköczis Diplo- maten seien bemüht, den Caren in den zwischen dem Kaiser und Räköczi im Gange befindlichen Krieg unmittelbar einzuschalten. Für den Wiener Hof gestaltete sich jetzt die Lage allerdings sehr heikel, weshalb die polilische Klugheit erfordert hätte, daß die Eitelkeit oder Empfindlichkeit des Caren durch die ihm zu erteilende Antwort nicht verlet werde. In Wien aber wollte man damit nicht rechnen, und so erteilte man dem am Carenhof weilenden kaiserlichen Ge- sandien die Weisung, er möge die Minister des Caren wissen lassen, daß der in der Tilelfrage eingenommene frühere Standpunkt des Wiener Hofes derzeit unverändert sei und es auch in Zukunft bleiben werde].

Die Minister des Caren zeigten sich zur Annahme der vom Grafen Wilczek vorgebrachten Argumente nicht geneigt. Sie be- riefen sich darauf, daß doch der Kaiser jedem König Europas den Majestätstitel zuerkenne, weshalb es völlig unverständlich sei, aus welchen Gründen gerade die Person des Caren hievon ausge- schlossen bleiben solle, der doch auch von der Pforte „Majestät“ tituliert werde. Man fand sich demnach zu der Erklärung veranlaßt, daß, falls sich der Wiener Siandpunkt in dieser Frage nicht ändern sollte, künftighin keinerlei von dort hersiammende Zuschrift ent- gegengenommen würdet). Die Lage des kaiserlichen Gesandien wurde auch noch durch die wie es scheint aus der Umgebung des Caren iendenziöserweise verbreitete Nachricht erschwert, daß der unterwegs befindliche preußische Gesandte Marschall die Zu- stimmung seines Königs zur Annahme des Titels „Kaiser von Ruß- land“ mit sich bringe®). Diese Nachricht erwies sich zwar als un- richlig, und später beeilte sich der preußische Gesandie sogar, dem Grafen Wilczek zu versichern, daß „sein König dem Zaren den Titul eines Kaisers von Rußland gewißlich nicht geben werde“), zum

s) Ebenda.

4) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 16. Juli 1710. Wiener Staats- archiv. Russica.

5) Originalbericht des Grafen Wilczek v. J. August 1710. Ebenda.

e) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 18. Oktober 1710. Ebenda.

870

besagten Zeitpunkt jedoch erschien besagies Gerücht wohl geeignet, den Standpunkt des Wiener Hofes vor der öffentlichen Meinung Rußlands als unfreundlich hinzustellen, wobei noch in die Wagschale fiel, daß auch England in seinen Korrespondenzen mit dem Caren den fraglichen Titel damals schon regelmäßig gebrauchte”).

Graf Wilczek hatte bei seinen mit den Ministern des Caren ge- pflogenen Verhandlungen wiederholt Gelegenheit sich zu überzeugen, daß er, falls er an die Wiener Instruktionen sich zu halten gezwungen wäre, die Interessen und den Siandpunkt seiner Regierung mit Er- folg zu vertreten außerstande sei. Nach seinen, aus der Umgebung des Caren erhaltenen, am 27. August 1710 schriftlich gemeldeten Mitteilungen sei anzunehmen, daß „Seine zarische Majestät gewiß von der Praetension nicht ablassen, sondern den Titel Majestät von Ew. K. M. zu bekommen forthin verlangen, und daß ohne dessen allhier nichts zu negotiiren oder zu erhalten“. Dieser Meldung ist die Befürchtung hinzugefügt, es sei nicht unmöglich, daß sich der Car Frankreich nähern werde; „ob also nicht zutraglicher bei der Sachen Beschaffenheit zu erachten, deßwegen zu traktiren und wegen dieser erteilenden Titeln einige Avantage zu suchen““).

Die Gegensätze der Standpunkte konnien wegen der Schroffheit beider Parteien auch durch die späteren Verhandlungen nicht über- brückt werden. So blieb auch die Konferenz vom 22. September 1710, die zwischen Wilczek und den beiden Kanzlern des Caren vor- nehmlich zwecks Bereinigung der Titelfrage stattfand, völlig erfolg- los’). Wilczek war gleich den Vertreiern der Gegenpartei durch die Instruktionen gebunden, und so kam es, daß die Titelfrage später mit stillschweigender Übereinkunft aus der Verhandlungsmaterie ausgeschaltet wurde. Von den zwei Kanzlern des Caren wurde auf einer späteren Konferenz nur noch erwähnt, daß der Wiener Hof im Jahre 1704 keine Einwendungen gegen die Note des Fürsien Galicyn gemacht habe, worin dieser den Caren „Kaiser“ nannte*®). Das diplomatische Verhältnis der beiden Regierungen aber erkalteie zusehends. Wilczek konnte zu seinem nicht geringen Befremden alsbald wahrnehmen, daß die Emissäre des Fürsten Räköczi in dem Carenreich, wohl mit stillschweigendem Einverständnis, jedenfalls aber mit Nachsicht des Carenhofes, eine lebhafte Tätigkeit zu ent- wickeln begannen. Demgegenüber hüllten sich die Minister des Caren in Schweigen, und obgleich sie dem kaiserlichen Gesandten ihre Verbindung mit Rákóczi ableugneten, war Wilczek überzeugt), daß der Car und seine Minister Wien gegenüber eine doppelzüngige Politik trieben, deren Ziele einstweilen wohl unbekannt seien, den Bestrebungen der kaiserlichen Politik aber kaum entgegenkamen.

7) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. August 1710. Ebenda.

$) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 27. August 1710. Ebenda.

*) Protokoll. Ebenda.

19) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. November 1710. Ebenda. 11) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 15. Oktober 1710. Ebenda.

571

Inmitten dieser unsicheren und unfreundlichen Aimosphare wurde dem Grafen Wilczek mitgeleili, daß „Ihro Carische Maiestät soviel als resolvirt haben sollen, in das Carlsbad zu gehen‘, seine Absicht indes vorläufig geheim zu halien wünschten. Dem Wiener Gesandten gelang es zunächst, bloß so viel in Erfahrung zu bringen, daß der Car „mit kleinerm Gefolge incognito gehen“ werde, wes- halb ihn die Gesandien der auswärtigen Höfe nicht begleiten wurden’?), Die Nachricht wurde später auch von den Gesandien Preußens und Dänemarks bestätigt, nicht minder wußte davon und sprach darüber auch „die Fürstin von Gallicin, welche bei dem Car in seinem Pallast wohnel und mit ihm gar confident ist“). In Wien dienie der einschlägige Bericht des Gesandien vorläufig zur Kennt- nis. Mit Rücksicht darauf, daß der Car die Karlsbader Heilquellen vor Jahren schon gebraucht hatte und auch Wilczek zu berichten wußte, daß seines Wissens der Gesundheitszustand des Caren eine Bäderkur tatsächlich geboten erscheinen lasse, wurden hinter der Karlsbader Reise keine verborgenen Zwecke und Pläne gesucht. Man sah auch keine Notwendigkeil, in der Tilelfrage sich nachgiebig zu zeigen, und so wurde an der im kaiserlichen Erlaß vom 4. De- zember 1710 enihaltenen Erklärung, wonach der Kaiser dem Caren „den Titul Maiestät keineswegs geben können“ !“), auch nichis ge- ändert. Am Wiener Hof scheint man angenommen zu haben, die Karlsbader Reise sei zur Winterszeit ohnehin nicht aktuell, und sah demnach auch keine Ursache, sich mit deren etwaigen politischen Folgen zu beschäftigen.

Während der Wintermonate erfolgte in der Titelfrage keinerlei Wendung. Der Car war durch die Vorbereitungen des bevor- stehenden Turkenkrieges und durch die Abwehr der Tatarenangriffe in Anspruch genommen, wodurch natürlicherweise alle persönlichen Angelegenheiten des Herrschers in den Hintergrund gedrängt wur- den. Größere Befürchtungen aber erweckte in Wien der Umstand, daß sich Furst Räköczi seit 21. Feber 1711 in Polen aufhielt, und zwar „nichi allein unier Protection der Moscoviter, sondern jeder- zeit mit genugsamber Escorte von ihnen versehen"). Das hatte auf alle Fälle so viel zu bedeuten, daß Rákóczi vom Caren derzeit nicht fallen gelassen wurde, obgleich die Macht des Fürsten in Un- garn während der Wintermonate bereiis auf einige Komitate zu- sammengeschrumpfi war. Möglicherweise war dem Fürsten Rákóczi und dem nach Polen gedrängten Ungartum vom Caren noch eine Rolle bei der Durchführung seiner vorläufig verborgen gehaltenen politischen Pläne zugedacht; ebenso möglich aber ist auch die An- nahme, daß er Räköczi und die ungarische Emigration einfach bloß als Rückhalt betrachtete und ihre Inanspruchnahme von den Ge-

12) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 1. Dezember 1710. Ebenda.

13) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 11. Dezember 1710. Ebenda.

14) Concept. Ebenda.

48) Originalbericht des Grafen Joh. Ernest Herberstein v. 18. März 1711. Ebenda. Polonica.

572

m T

m a W . T F A Tv B r T =

staltungen der Zukunft abhängig machen wollte. Indes, mag der Standpunkt des Caren betreffs der ungarischen Frage im End- ergebnis welcher Art immer gewesen sein, die Haltung Moskaus gegenüber dem Wiener Hof erfuhr keine Anderung. Car Peter konnte der kaiserlichen Regierung ihre in der Auffassung gezeigte Schroffheit nicht vergessen, und als er nun die Mitteilung erhielt, daß Josef I. am 17. April 1711 unerwartet gestorben war, da interessierte ihn zunächst weniger die von dem Thronwechsel etwa zu gewär- tigende Änderung des polilischen Kurses, als vielmehr die Frage, was wohl der Standpunkt des neuen Regimes in der Titelangelegen- heit sein werde. Darüber nun sollte der Car nicht lange im unklaren bleiben.

Die amtliche Note über das Ableben Josefs I. wurde ihm erst in der Audienz vom 22. Mai 1711 durch den Grafen Wilczek über- reicht, wobei dieser des allerhöchsten Beileids versichert und ihm gleichzeitig auch die Hoffnung und Überzeugung ausgedrückt wurde, daß der Car in dem neuen Herrscher, König Karl Ill. von Spanien, einen verständigen Freund finden werde**). Das alles war freilich nur leere Formsache, hinter der sich wenig Aufrichtigkeit barg. Worauf es dem Caren ankam, war die Art, wie ihm Josefs Ableben mitgeteilt wurde; mit anderen Worten: zunächst und eigentlich inieressierte er sich dafür, ob der Wiener Hof auch bei der Mitteilung des Trauer- falles an dem früheren Siandpunkt hinsichilich der Titelfrage fest- halten oder angesichts der geänderten Lage seinem Wunsche ent- gegenkommen werde. Der Wiener Hof aber blieb zumindest in dieser Frage konsequent. Die Note führte nämlich folgende An- schrift: Serenissimo et potentissimo Domino Tzaro ef magno duci Petro Alexievicio‘:1”) etc.

Der Car zeigte sich über den Siarrsinn des Wiener Hofes un- gemein entrusiet. Er nahm denn auch keinen Anstand zu erklären, es sei noch verständlich, daß sich der Kaiser geweigert habe, ihn „Majestät“ zu beliteln, unbegreiflich aber müsse es erscheinen, daß ihm dieser Titel auch zu einer Zeit vorenthalten werde, da es gar keinen Kaiser gebe und „nur eine Regentin“ die Herrschergeschäfte leite; hätte er gewußt, was die Note enthalte, so ware nicht einmal der Gesandie empfangen, geschweige denn das Schrifistück selbst enigegengenommen worden. Infolgedessen finde er sich veranlaßt, entweder jede Berührung mit dem Wiener Hof abzubrechen, oder aber werde auch er in seinen amilichen Schriftstücken nur die An- sprache „Serenitas“ gebrauchen’®).

Der Car entschied sich vorläufig für die letztere Art von Re- torsion. In seinem amilichen Antwortschreiben vom 23. Mai, das außer den üblichen Beileidskundgebungen keine meritorischen Er- klärungen enthält und von ähnlichen Schriffsfücken nur insofern ab-

16) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 22. Mai 1711. Ebenda. Polonica. 17) Original im Wiener Staatsarchiv. Nussica. 1711—12. 18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 12. Juni 1711. Ebenda. Polonica.

875

weicht, als er darin auch der unfreundlichen Haltung der Wiener Minister gedachte, wurde die Königinregentin Eleonore tatsächlich „Serenissima“ tituliert*®). |

Das Antwortschreiben wurde durch den russischen Gesandien Baron Urbich im Sinne seiner am 30. Mai ausgestellien Instruktion?®) beim Wiener Hof überreicht, wo die ungewohnte Anschrift der Note selbsiversiändlich starken Anstoß erregte. „Die Kaiserin erscheint darin vom Zaren anstatt Maiestas nur als Serenitas tituliert, die am Schlusse des Briefes stehenden Worte „Serenitatis Vestrae‘ aber seien nicht vom Zaren selbst, sondern vom Kanzler oder gar bloß von einem Konzipisten geschrieben, keines von beiden aber könne geduldet werden“, lesen wir in dem Minisierialkonferenzprotokoll. Die Minister erachteten die Lage als dermaßen schwierig, daß sie sich am 29. Juni im Palast des Fürsten Trautsohn zu einer Beratung versammelten, an der Graf Starhemberg, Graf Windisch-Graeb, Baron Seilern, Graf Wratislaw, Graf Herberstein und der Geheim- schreiber Buol teilnahmen. In der Konferenz gab Starhemberg zu, daß sich die Minister in einer überaus heiklen Lage befänden, denn, würden sie das Schreiben dem Caren zurückstellen, so könne er sich dadurch dermaßen verlebt fühlen, daß mit der Gefahr eines Krieges zu rechnen wäre; werde aber das Schreiben behalten, so bedeute dies eine Verunglimpfung der Kaiserin, der der Titel Maiestas recht- mäßig gebiihre. Darüber sei er im klaren, daß die erfolgte Be- leidigung nicht geduldet werden könne, vorläufig aber wisse er nicht, ob das Schreiben zurückgeschickt werden solle. Graf Windisch- Graek trat für die Retournierung ein, doch sei Urbich über deren Gründe aufzuklären. Baron Seilern erachtete die Rückstellung des Schreibens gleichfalls als wohlbegründet; wenn der Car in seiner jetzigen prekären Lage, vor Ausbruch des türkischen Krieges, so zu handeln sich erkühne, was sei von ihm erst dann zu gewartigen, falls sich seine Sache später zum Bessern wende? Eben darum ware die Zuschrift unverzüglich zurückzusfellen, was aber mit einer kurzen Motivierung geschehen solle. In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Graf Wratislaw. Er hielt es für zweifellos, daß diesen Vorgang alle Welt gutheigen, eine solch einmütige öffentliche Meinung aber den Caren vom Kriegführen abschrecken werde. Auf alle Fälle sollte übrigens der Hof des Caren aufgeklärt werden, daß der Kaiserin der Titel Maiestas rechtmäßig gebiihre**).

Im Sinne der Ministerkonferenz erhielt der Gesandte des Caren, Baron Urbich, am 7. Juli tatsächlich eine Einladung zum Grafen Wra- tislaw, bei dem damals bloß Baron Seilern und der Geheimschreiber Buol zugegen waren. Seilern erklärte vor allem, daß die Note des Caren für die Kaiserin, der der Majestatsiitel nicht abgestritten werden könne, unbedingt verletzend sei. Die Kaiserin sei überzeugt,

19) Abschrift im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12. Gedruckt bei St. Katona: Hist. crit. regni Hungariae. XXXVII. p. 686— 87.

20) Abschrift im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711-12.

21) Minist.-Konferenzprotokoll. Wiener Staatsarchiv. 1711.

574

daß die beleidigende Anschrift und Betitelung nicht auf Anordnung des Caren erfolgt, sondern einer Versäumnis der dortigen Hofkanzlei zuzuschreiben sei. Eben deshalb habe sie sich entschlossen, die Zuschrift dem Oberkanzler. des Caren zurückzustellen, der gewiß dafür sorgen werde, daß die Ausstellung der Note in entsprechender Form erfolge. Nach dieser Erklärung überreichte Seilern die Note dem russischen Gesandten, der sie jedoch nicht übernahm, und zwar mit der Begründung, die beanstandete Anschrift der Note sei auf ausdrücklichen Wunsch des Caren als Erwiderung auf jene Zuschrift der Kaiserin erfolgt, worin sie den Caren nur „Serenilas“ und nicht „Maiestas“ betitelte, troßkdem ihm der leftere Titel rechtmäßig ge- bühre. Vergebens sekte Seilern dem Gesandten auseinander, daß der Wiener Hof den moskowitischen Caren bisher noch niemals den Majestätstitel gegeben habe, obwohl zeitweilig ein solches Verlangen von mehreren Caren tatsachlich gestellt worden sei. Demgegenüber sei nicht abzuleugnen, daß der fragliche Titel der Kaiserin recht- mäßig gebühre, was bisher auch niemals irgend jemand in Zweifel gezogen habe. Urbich nahm die ihm wiederholt überreichte Note nicht entgegen. Graf Wratislaw schickte sie infolgedessen tags dar- auf in die Wohnung des russischen Gesandien. Dieser jedoch war zur Übernahme auch jetzt nicht geneigt, weshalb der mii der Uber- gabe betraute Beamte die Note auf den Tisch des Gesandten legte und sich dann entfernte?®).

Die kaiserlichen Minister waren sich wohl bewußt, daß diese der Eitelkeit des Caren zugefügie neuerliche Verletzung gegebenenfalls ernste Folgen haben könne, hatte ja selbst Baron Urbich die Drohung fallen lassen, der Car werde sich schon mit dem Säbel Genugtuung verschaffen dJ. Offenbar aber hielt man es in Wien trok alledem für unwahrscheinlich, daß er gerade bei Ausbruch des Türkenkrieges die diplomatischen Beziehungen mit der kaiserlichen Regierung ab- brechen werde. Und so wagte das Ministerium die Folgen der Zurückweisung auf sich zu nehmen.

Wie die späteren Geschehnisse zeigten, war die Annahme des kaiserlichen Ministeriums nicht grundlos. Des Caren Aufmerksamkeit zeigte sich im Sommer durch den türkischen Feldzug, über dessen Einzelheiten man in Wien hinlänglich unterrichiet war?), dermaßen in Anspruch genommen, daß dabei seine persönliche Empfindlichkeit völlig in den Hintergrund gedrängt erschien. Nach dem Friedens- schluß mit der Pforte hinwieder galt ihm die Karlsbader Badekur, deren Notwendigkeit er längst empfunden, offenbar für wichtiger und dringender, als eine damals aussichislose Fortsekung des um den Majestätstitel geführten diplomatischen Kampfes. Aber gerade sein vom 22. Sepiember bis 17. Oktober währender Aufenthalt in

23) Ebenda und Originalbericht des Grafen Wratislaw v. 11. Juli 1711. Fämilienkorrespondenz A. 16.

33) Fürst Trautsohn zum Sinzendorf v. 11. Juli 1711. Wien. Staatsarchiv. Corresp. Fürst Trautsohn 1709—13.

24) Wienerisches Diarium, 1711. Nr. 839, 840, 841, 846.

875

Karlsbad) bot ihm neuerlichen Anlaß zum Aufwerfen der Titelfrage. Die böhmische Statthalterei wandte nämlich, offenbar auf höhere Weisung, im schriftlichen Verkehr mit dem Caren anstatt des Ma- jestätstitels die Bezeichnung Serenitas an, was dann wieder die Repressalie zur Folge hatte, daß der Car seine Leibgarde nicht nur bei sich behielt, sondern sie durch Werbung sogar noch verstärkte. Zur Vermeidung weiterer Unannehmlichkeiten sah sich die Statt- halterei hierauf zur Nachgiebigkeit gezwungen und gab dem Caren „die Maiestät-Benennung“. Nun war, wie es im Theatrum Europaeum heißt, „Alles besser, seine Garde von ihm nach Sachsen geschickt und an deren Stelle die nötige Mannschaft gebrauchet worden?®).“

Damit verschwand die Titelfrage auf lange Zeit von der Tages- ordnung. Erst zehn Jahre später fand sie endlich ihre Lösung, und zwar, wie schon früher erwähnt, auch dann nicht durch ein Über- einkommen mit dem Wiener Kaiserhaus, sondern durch einen Will- kürakt des Caren.

ss) Wienerisches Diarium, 1711. Nr. 860. 26) Bd. XIX, p. 556.

576

MISCELLEN

ZEHN JAHRE AUSSENPOLITIK DER SOVETS

Von Leopold Silberstein.

M. Tanin: 10 let vneSnej politiki SSSR (1917—1927). Gosudar- stvennoe izdatel’stvo Moskva-Leningrad 1927. VIII, 260 S., 1 Karte. Desjat’ let sovetskoj diplomatii (akty i dokumenty). Izdanie Litizdata Narkomindela, Moskva 1927. 124 S.

Tanin hat sein Buch Anfang Oktober 1927, kurz vor dem Staatsjubilaum, abgeschlossen. Die Zeit war damals für die Sovetunion außenpolitisch sehr düster. England hatte im Sommer den diplomatischen Bruch voll- zogen, Frankreich zeigte durch unnachgiebiges Auftreten in der Rakovskij- Affäre betont seine Migachtung, die Beziehungen zu Deutschland halfen den 1926 mit dem Berliner Vertrag erreichten Höhepunkt schon wieder über- schritten, die Ermordung Vojkovs gefährdete die Beziehungen zu Polen, der innere Kampf mit der Linksopposition begann auch die gefühls- oder interessenmäßigen Freunde der Union im Auslande zu kritischer Besinnung zu veranlassen. Ein Rück- und Überblick mußte demgemäß von ernsten Untertonen durchklungen sein, andererseits durfie in einem Jubilaumswerk auch die Fanfare des Glaubens an den Endsieg nicht fehlen. Dieser sehr heiklen Aufgabe hat sich Tanin im ganzen mit Geschick enfledigt. Nur selten tritt ein handgreiflicher Widerspruch zutage: ewa wenn er eine »„isključiłeľnaja politi¢eskaja ofstalosi’? amerikanskogo raboéego klassa“ feststellt (S. 222) und einen wirtschaftlichen Aufschwung Amerikas noch auf 10—20 Jahre voraussagt (S. 225), gleich darauf aber pflichtschuldigst die Hoffnung ausdrückt, daß eine Gegnerschafi Amerikas gegen die Union schließlich doch dank wirtschaftlichen Krisen und Gegensätzen Amerikas und dank dem dort aufgehäufien „sozialen Zündstoff“ zusammenbrechen werde (S. 225).

Echt sovetistisch läßt Tanin in seiner Darstellung die führenden Per- sönlichkeiten hinter den unpersönlichen Ereignissen, Situationen und Ten- denzen stark zurücktreten. Für uns, die wir uns politische Persönlichkeit und Milieu nur in untrennbarer Wechselwirkung denken können, wird das Bild dadurch unvollständig und schief. In merkwürdiger Undankbarkeit werden gerade diejenigen Männer totgeschwiegen oder unzureichend be- handelt, denen die Union nicht zulekt ihre erstarkte außenpolitische Po- sition verdankt: die Deuischen Rathenau, Maliban und Brockdorff sowie die Chinesen Sun-Yat-Sen und Feng-Yü-Hsiang. Tanin erwähnt weder Malfans langwierige Vorbereitung der Ostorientierung noch Rathenaus verantwor- tungsbewußte Gewissenskämpfe in den Genueser Tagen, noch Brockdorffs unermüdliche Arbeit, ohne welche die Linie von Rapallo vermutlich schon längst infolge irgendeines Zwischenfalles oder infolge anderweitiger Bin- dungen Deutschlands verlassen worden wäre. Aber für Tanin scheint es schon fast das größte Lob zu sein, wenn er über einen nicht-bolschewi-

577

stischen politischen Partner schweigend -hinweggeht, ohne ihn zu tadeln. Ein Mac Donald z. B. wird so ungefähr wie ein hilfloser Schwächling hin- gestellt, der in der Affäre des sog. Zinov’jev-Briefes das ohnmachtige Werkzeug Gregorys gewesen sei (vgl. hierzu die ganz andere Auffassung Miljukovs, „Rußlands Zusammenbruch“, Bd. I, S. 238). Etwas mehr Respekt hat Tanin schon vor Lloyd George und Wilson, aber auch ihnen bleiben hamische Bemerkungen nicht erspart. Wagt es ein Linkspolitiker, scharf antiboischewistisch zu sein, wie Masaryk oder Tschiang-Kai-Schek, so wird er geradezu beschimpfi. Leidlich kommen von den gemäßigten Politikern

noch Stresemann und Kemal-Pascha weg.. Am besten aber schneiden die ausge sprodhenen Rechten ab, namentlich die englischen Konservativen, vor denen als den energischsten und gefährlichsten Gegnern der Union Tanin allen Respekt hat.

Die Darstellung der Ereignisse ist abgesehen von einigen diplo- matischen Zwischenfällen, die verschwiegen, und Kulissenvorgangen, die zweckdienlich vereinfacht werden als recht vollständig zu bezeichnen. Mit den Proportionen kann man sich allerdings nicht einverstanden er- klären. Gewiß ist es richtig, ib Tanin auch raumlich das Hauptgewicht auf den englischen Gegenspieler legt. Warum aber die Episode des Cur- zon-Ultimatums schärfer herausgearbeitet wird als die weitaus instruktivere Vor- und Nachgeschichte des anglo-russischen Vertrages vom 8. August 1924, vermag ich nicht einzusehen. Ebenso wird die militärische, maritime und geopolitische Bedeutung der Konferenz von Lausanne unzureichend gewürdigt. Die chinesische Frage erhält im Verhaltnis zur afghanischen und persischen zu wenig Raum. Die Vorgänge von Genua und Rapallo werden wohl nicht nur dem Deutschen als zu kärglich behandelt erscheinen. Uberbetont ist dagegen die Rolle des Proletariats der fremden Mächte, und auch die Frage der „Propaganda“ hätte wohl eine knappere Behand- lung ohne Schaden vertragen. .

Es braucht nicht erst erwähnt zu werden, daß Tanins Werturteile außer- halb der Union vielfach auf Widerspruch stoßen müssen. Man nimmt sie jedenfalls mit Interesse zur Kenntnis. Die Sovetdiplomatie sei aus dem Konflikt mit Curzon lin welchem sie bekanntlich in allen Punkten nachgab) mit Ehren hervorgegangen, da Curzon einen Bruch und eine neue Inter- vention habe provozieren wollen, dies ihm aber infolge des russischen Nachgebens nicht gelungen sei (S. 123). Der Locarno-Pakt sei nichts an- deres als eine Verschwörung gegen die Union, eine „Velitajsaja po svoemu ufonéennomu licemeriju i chanZestvu komedija“ (S. 153). Schon mehr Hand und Fuß hat Tanins Aufdeckung egoistischer Motive und teilweiser Sabotage bei der Hilfsaktion für die Hungergebiete (S. 100 fl.).

Von großem Interesse sind die Perspektiven, die Tanin Ende 1927 für die Zukunft geben zu müssen glaubte, obgleich die seitherige Geschichte einstweilen vielfach andere Wege gegangen ist. Tanin glaubte 1927 nicht an eine lange Lebensdauer einer evtl. künftigen englischen Arbeiterregie- rung; diese werde vielmehr von der Bourgeoisie abermals über das rus- sische Problem hinweg zu Fall gebracht werden. Demgegenüber sei Hoff- nung nur auf das englische Proletariat zu seben, das anders als 1914 den Ausbruch eines Krieges, der sich diesmal gegen Rußland richten würde, vereiteln werde (S. 179 f.J. Deutschland sieht er in schneller Erstarkung begriffen (S. 183). Seine Außenpolitik werde höchstwahrscheinlich zwischen London und Moskau hin- und herschaukeln (S. 184), ohne trob seiner Mitgliedschaft beim Völkerbunde mit Rußland zu brechen, da es konkrete Verpflichtungen gegen die Union vermutlich nicht eingegangen sei (S. 186). Allerdings diese Ansicht Tanins ist besonders aktuell werde eine Revision des Dawesplans Deutschlands politische Linie stärker derjenigen der Westmächte annähern (S. 187). Die französische Gefahr sieht Tanin durch den franko-englischen Gegensab paralysiert; ihre Aktualität fürchtet er nur für den Fall polnisch-russischer Verwicklungen (S. 189 f.). Diesen Fall halt er allerdings fast für sicher, da die Person Pilsudskis, der die „fixe Idee“ der Grenzen von 1772 habe, den Krieg bedeute (S. 1% f.). Auch die Opposition der Nationaldemokraten werde Piłsudski von diesem

878

Kriegswillen nicht abbringen. Doppelt fällt eine so kategorische und bisher zum Glück trügerische Prognose neben der Zurückhaltung auf, mit der von den ubngen Randstaaten gesprochen wird. Auch beirefis Chinas will Tanin nicht mehr prophezcien, als daß die dortige Entscheidung die Eni- wicklung der Welt auf Jahrzehnte bestimmen werde (S. 213). Seine wider- spruchsvolle amerikanische Prognose haben wir schon erwähnt. Er ist sich nicht so recht klar darüber, ob er Amerika als Freund oder als Feind der Sovetunion anzusehen habe (in Wirklichkeit hat Amerika der Sovetunion gegenüber nie eine Politik pro oder contra, sondern eine rein amerika- nische, sich mit den Interessen und Prinzipien seiner eigenen Nation deckende Politik getrieben). Für die Zukunft glaubt Tanin infolge der eng- lisch-amerikanischen Annäherung an Amerikas ausgesprochene Feindselig- keit (S. 220), zumal Amerika mittels der „Dawesisierung“ Europas die Welt- herrschaft anstrebe und die Sovetunion als das ernsihafteste Hindernis auf diesem Wege vorfinde (S. 221).

Das in jedem Falle reichhaltige, dem kritischen Leser zur In- formation sehr zu empfehlende, sich von einer früheren Arbeit Tanins stili- stisch vorteilhaft unterscheidende Werk endet mit einer im wesentlichen vollständigen und korrekten Zeittafel.

Die gleichzeitige Jubilaumspublikation des Narkomindel „Desjaf let sovetskoj diplomatii“ ist von viel geringerem Umfange und muß sich außer- dem noch weitgehenderer Kürze befleißigen, weil ein wesentlicher Teil des Raumes von Originaldokumenten oder Auszügen aus solchen in Anspruch genommen wird. Der Titel ist irreführend: von der. eigentlichen Diplomatie, d. h. den auswärtigen Bevollmächtigten und ihrer Arbeit mit den fremden Regierungen, bekommt man sehr wenig zu sehen; der richtige Titel müßte dem Taninschen gleichlautend sein. Der einzige Fall, wo man statt poli- tischer Fakta einen Einblick in das Wesen politischer Arbeit bekommt, ist das einleitende Kapitel „Desjat’ let žizni NKID“. Dieser Einblick ist freilich recht kärglich. Vieles, so die Schilderung der Umwandlung des NKID RSFSR in den NKID SSSR, hat rein formale Bedeutung und kann eigentlich niemanden interessieren. Wertvoller ist die Schilderung der Gefahren und Schwierigkeiten, unter welchen die erste außenpolitische Arbeit geleistet werden mußte. Lehrreich sind auch die wiederholt notwendig gewordenen Umorganisationen und Etatreduktionen, endlich die sichtbare Sorge um den pew die erst gegen Ende des ersten Dezenniums nachzulassen

eginnt.

Die historische Darstellung ist nicht rein chronologisch, sondern sachlich gegliedert in die Abteilungen „Der Kampf um den Frieden“, „Die Entwick- lung der internationalen Beziehungen“ und „Die U.d.S.S.R. und der Völker- bund“. Diese Einteilung zwingt frob des knappen Raumes zu Wieder- holungen; so wird vom Abrüstungsproblem zweimal ausführlich gesprochen. Im Jahre der Genfer Wirtschaftskonferenz unterstreicht die Publikation ganz besonders den auch seitens der russischen Delegierten in Genf vertretenen Standpunkt, daß nur die materielle Abrüstung den Frieden garantieren könne, in der sog. moralischen Abristung durch Nicht-Angriffs- und Schiedsverträge, die z. B. auf der Moskauer Konferenz von 1922 seitens der Randstaaten in den Vordergrund gestellt wurde, sieht das Buch nur einen Versuch der Ablenkung vom Wesentlichen (S. 33 f., 116 f.). Die Frage, wer am Scheitern der Moskauer Konferenz die Schuld trägt, ist damit frei- lich nicht gelöst.

Bei allem Verständnis für die notwendige Kürze muß doch die Dar- stellung der kriegerischen und politischen Vorgänge des Jahres 1920 als ganz lückenhaft bezeichnet werden. Dies gilt namentlich auch von der Dokumentensammlung, welche die nur zum Fenster hinausgesprochenen Friedensvorschlage an Polen enthält, von den entscheidenden diploma- tischen Vorgängen aber, die namentlich mit der Tätigkeit Kamenevs zu- sammenhängen, ebensowenig einen Begriff gibt wie die fortlaufende Dar- stellung. Von der langsamen Arbeit und Evolution, die zum Rapallo-Ver- trag führte, ist im Buche nichts zu merken, die politischen Wendungen plaben herein wie ein deus ex machina: man lese nur die Seiten 60, 64 und

579

66 nach. („Odnako prebyvanie sovetskoj delegacii v Genue ne okazalos’ besplodnym: ona zavjazala peregovory s delegacijami drugich siran, v per- vuju očereď’ s germanskoj, —“ S. 66.) In ebenso primitiver Weise plaken S. 68 die englischen Vorgänge des Jahres 1924 zusammenhanglos aufein- ander, wobei wohl absichilich verschwiegen wird, daß auch Mac Donald eine Einmischung der Sovets in Englands innere Verhältnisse zu dulden nicht gewillt war. Eine ähnliche Kunst des Verschweigens finden wir auf S. 71, wo vom Dementi .der Beschuldigung, daß die russische Regierung den englischen Bergarbeiterstreik unterstüßt habe, gesprochen wird, ohne die Haltung des russischen Zentral-Gewerkschafisverbandes zu erwähnen. _ Auffällig ist eine Abweichung von Tanin auf S. 72: während Tanin die Lösung des Vojkov-Konfliktes pessimistisch beurteilte, meint der Nar- komindel, es sei gelungen, ihn glücklich zu liquidieren. Reichhaltiger als Tanin ist trok der Kürze das Buch im Kapitel „Die U.d.S.S.R. und der Völkerbund“. Die Sovetunion vertrete die ursprüngliche Wilsonsche Völker- bundsidee (Selbstbestimmungsrecht der Völker, demokratischer Frieden, Abrustung usw.): der Völkerbund in seiner jetzigen Gestalt sei aber ein „Bund der Kapitalisten gegen die Völker“, eine „diplomatische Börse, aut der die starken Mächte hinter dem Rücken und auf Kosten der kleinen und schwachen Völker ihre Rechnungen begleichen“ (S. 115). Deswegen habe es die Union trok einladender Stimmen wie der Mottas und Mac Donalds bisher immer abgelehnt, „nach Canossa zu gehen“ und dem Bunde freiwillig beizutreten (S. 114). Besonders empört ist die Publikation über die hervorragende Rolle, welche Finnland im Volkerbunde zugewiesen wird (S. 119 u. 6.). Die Aufzählung der einzelnen Fälle, in denen mannig- fache praktische Notwendigkeiten trojdem eine engere oder losere Be- rührung zwischen Union und Völkerbund erzwungen haben, ist recht voll- ständig und instruktiv. Ein einigermaßen richtiges Bild der russischen Außenpolitik der Jahre seit 1917 dürfte sich erst beim Vergleich der besprochenen beiden Werke mit Miljukovs Buch „Rußlands Zusammenbruch“ ergeben.

BEITRAGE ZU PREUSSENS STELLUNG GEGENÜBER DEM WARSCHAUER NOVEMBERAUFSTAND V. J. 1830")

Von Manfred Laubert.

Preußens Stellung gegenüber den polnischen Aufständen von 1850 wie 1863 war durchaus gegeben: es mußte die seinen eigenen Bestand be- drohenden Bewegungen an Rußlands Seite möglichst schnell zu ersticken bemüht sein. Diese Unterstükung wurde russischerseits von dem Verbün- deten auch ohne weiteres erwartet, wie eine Note des Berliner Ge- sandten Grafen Alopeus v.19. Dez. 1830 an den Minister des Auswärtigen, GrafenBernstor ff, klar zum Ausdruck bringt:

„Les Gouvernements de Prusse & d'Autriche auront sans doute, des les premières nouvclles des événements qui ont eu lieu à Varsovie pris les mesures nécessaires à leffet d’assurer la tranguillité de leurs propres Etats et d’empécher surtout gue le feu de la révolte ne se pro- page dans les provinces ci-devant polonais de ces deux Monarchies. Dans ce but et pour neutraliser en même temps les efforts du parti révolutionnaire en Pologne, il serait de la plus haute importance d’inter- dire autant que possible toufe espéce de contact entre le Royaume et le reste de Europe et surtout d’intercepter toute communication que les rebelles polonais pourraient avoir avec les agitaleurs francais, soit par correspondance, soit par l'intermédiaire de voyageurs.

C’est done dans l’intérét de la Prusse & de l'Autriche elles-mêmes, comme dans celui de l'ordre et du repos en général: que S. M. Em- pereur a pris la résolution de réclamer de Ses augustes amis et alliés la prompte adoption des mesures les plus énergiques à leffet d'isoler autant que possible le Royaume de Pologne des autres Etats Euro- péens. Ces mesures, si elles étaient sans la moindre délai conceriées enire les deux Gouvernements et soutenues avec une égale vigeur, semblent ne pas devoir manguer leur but. En présentant au Ministre du Roi et cette proposition de l'Empereur et l'exposé des réflexions gui l’ont motivée, le soussigné... se félicite de pouvoir être convaincu d’avance de laccueil favorable qu'elles trouveront après de S. M Prussien dont la sollicitude éclairée a déjà reconnu le danger du voi- sinage d'une rébellion et préparé les mesures de précaution que ce danger a rendues nécessaires. Il ne lui reste d’autre täche à remplir gue de solliciter du Gouvernement du Roi le développement prompt et entier de ces sages mesures, en Le priant de vouloir bien mettre le soussigné 4 même d'informer le Cabinet de l'Empereur des résolutions auc celui du Roi pourrait adopter par suite de la présente communi- cation.“

Der Minister des Inneren und der Polizei, Fr h. v. Brenn, erklärte sich mit der Auffassung von Alopeus einverstanden und verwies darauf, daß bereits in der Richtung seiner Wünsche verfahren war. Auch bestand

1) Nach Rep. 77 9. Bd. I u. 10. Bd. I/II und A. A. Rep. IV Polizei-

sachen 157. Bd. I/II im Och Staatsarchiv zu Berlin und Öberpräsidialakten IX. B. a. 8 u. 13a im Staatsarchiv zu Posen.

25 NF 5 381

in Berlin das Bestreben, die zu erlassenden Verfügungen möglichst dem in Wien befolgten Verfahren anzugleichen (an Bernstorff, 22. Dez.). Die Reisenden wurden hinlänglich beaufsichtigt, jede Reise nach Polen ohne Paßvisitation durch die russische Gesandischaft in Berlin oder Wien unter- sagt. Bei Einzelfällen, wie Graf Plater und Prof. Szyrma, wurden besondere Anfragen gestellt. Durch Immediatbericht v. 8. Dez. hatte der Minister die Besorgnis ausgedrückt, daß Einwohner der Provinz Posen, vornehmlich aus der Kategorie der jüngeren exaltierten Köpfe, sich den Empörern anschließen würden. Darum erschien es ihm ratlich, in den Regierungs- amisblatiern vor jedem derartigen Schritt unter Androhung der geseblichen Strafen zu warnen und zugleich die preußischen Untertanen, die sich in Polen befanden, mit derselben Verwarnung zu ungesäumier Rückkehr auf- zufordern. Weiter riet er zu einem Verbot der Ausfuhr von Waffen, Pferden, Pulver, Blei und anderen Kriegsbedürfnissen aller Art bei Strafe der Kon- fiskation. Der König stimmte durch Kabinettsorder v. 10. Dez. den Vor- schlägen bei und genehmigte, daß Brenn sich wegen der Durchführung mit den Ministern der Finanzen und des Krieges ins Einvernehmen sebte. Der Finanzminister Maassen erließ am 23. Dez. an die Provinzialsteuerdirek- tionen der Grenzprovinzen den Befehl, sofort die Zollämter über das Export- verbot zu instruieren, während der Generalpostmeister seine Behörden in gleicher Art zum Beistand aufrufen wollte. Bereitwillig leistete endlich der Kriegsminister v. Hake die erbetene Unterstützung und forderte die drei be- teiligten Generalkommandos auf, den Grenzbeamten Beistand zu leisten = Degen selbständig entdeckte Kontraventionen einzuschreiten (Verf. . Jan. 18

Um aber die wirtschaftlichen Beziehungen nicht zum Schaden der Posener Einsassen völlig zu unterbinden, hatte der dortige Oberpräsident Flotiwell verfügt, daß im gewerblichen Grenzverkehr die Gespanne von ge- hörig legitimierten Reisenden gegen Kaution und Paßvermerk über die Zahl der Pferde die Grenze überschreiten dürften, was die Minister guihießen (Verf. 30. Jan. auf Ber. 16. Jan.). Ferner war er durch die täglich mehrmals gemachte Wahrnehmung von einem versuchten Schmuggel mit Waffen, Pferden und Munition veranlaßt worden, von sich aus im Einverständnis mit dem kommändierenden General v. Roeder auf zweckdienliche Weise, wenn auch ohne öffentliches Verbot, diesen Unfug abzustellen (an d. Staatsmini- sterium 2. Jan.). Zu diesem Behuf war allen Kaufleuten innerhalb einer 2—3 Meilen breiten Grenzzone ihr gesämier Vorrat an solchen Waren, auch an Sensen, gegen Empfangsbescheinigung abgenommen und ihnen bei Strafe der Beschlagnahme eine Wiedererganzung ihrer Bestände untersagt worden Der Oberpräsident bat deshalb, es bei dieser Anordnung zu belassen und für seinen Bezirk die in Anlehnung an die Kabinettsorder v. 10. Dez. durch Maassen und Brenn am 23. an die Regierungen der Grenzprovinzen er- gangene, sich auf das Zollgeseb v. 26. Mai 1818 berufende Bekanntmachung aufzuheben. Die Entscheidung wurde schließlich dem Monarchen anheim- gestellt, der sie im Sinne Floffwells fallte. Um späteren zu hohen Entschä- digungsansprüchen vorzubeugen, wurde hierbei der Ankauf der Sachen durch den Staat empfohlen ( rder v.3. April an den Minister für Gewerbe- e v. Schuckmann, Maassen und Brenn auf Immedber.

. März

Es war natürlich, daß Preußen durch die ergriffenen Maßregeln eine Fülle von Ärger und Anfeindung seitens der Westmächte erwuchs, obwohl sein Verfahren keineswegs rigoros war. Beispielsweise wurde einem Grafen Łubieński nach langen Verhandlungen die Ausfuhr von Tuchen nach Russisch-Polen freigegeben. Aber dicke Aktenbande häuften sich an mit Korrespondenzen über die versuchte Einschwärzung von Gewehren aus Birmingham, über die Zufuhr von Pulver über Hamburg-Stettin oder auf anderen Wegen unter der Bezeichnung Pottasche oder Reis und dergl. mehr. Andererseits beklagte sich ungeachtet aller angewandten Vorsicht die russische Regierung. Ihr Geschäftsträger v. Malti5 beschwerte sich über die Ausfuhr von Weißblech, obwohl solches in Preußen zur Kriegskonter-

882

bande gehörte, und über die anderer Waren nach Österreich und von dort nach Polen. Alopeus nahm Anstoß an der Durchlassung angeblicher Arzte, wenngleich französische Mediziner zurückgewiesen wurden. In seiner am 1. April wegen der Uberlaufer überreichten Note heißt es: „Je viens d’être chargé par mon Empereur d’appeler l’attention du Ministére de Sa Maj. le Roi sur l'urgence des mesures que Sa Maj. Impériale désirait voir prendre à son Auguste Allié à l'égard des rebelles polonais qui viendraient se réfu- gier en Prusse, mesures qui seraient non seulement dans intérêt de la Russie, mais dans celui de tous les Gouvernements légitimes de l'Europe.“ Als besonders notwendig wurde es hingesiellt, sich der Rädelsführer zu bemachtigen, die nach Preußen entweichen wollten. Wenn die Regierung energische Maßnahmen traf, um diese Individuen im Augenblick der Grenz- tiberschreitung bis zur Entscheidung des Caren unter strenge Aufsicht zu bringen, so leistete sie damit der kaiserlichen Sache einen wertvollen Dienst. Nikolaus erwartete vertrauensvoll diesbezügliche Anordnungen seines Schwiegervaiers, und die russische Regierung erklärte sich bereit, alle ent- stehenden Kosten zu übernehmen.

Später forderte Alopeus, daß auch die im Gouvernement Wilna am Auf- stand beteiligten Flüchtlinge nicht nach Rußland zurückgelassen, sondern gleich ihren polnischen Leidensgefährten mit öffentlichen Arbeiten beschäf- tigt werden sollten. Brenn versicherte sofort, daß schon ein analoges Ver- fahren hinsichtlich der Litauer angeordnet sei. Trotzdem überschritten in zwei Fällen russische Soldaten auf der Verfolgung polnischer Gegner die preußische Orenze, ungeachtet man hier ohnehin streng darauf sah, daß die Ankömmlinge keine 12 Stunden in den Grenzkreisen geduldet wurden (Ber. d. Obersileutnants und Flügeladjutanten v. Lindheim an d. Ministerium d. Auswärtigen, 7. Mai).

Als unangenehm wurde es höheren Orts empfunden, daß die ergangenen Verfügungen trob aller Vorsicht doch häufig sehr bald in den Warschauer Zeitungen erschienen. Flottwell erwiderte jedoch lakonisch, daß in solchen Fällen auf Wahrung des Amtsgeheimnisses nicht zu rechnen wäre und Nach- forschungen nach dem Angeber aussichtslos seien. Er brauchte nicht bei den Landratsamtern gesucht zu werden, denn auch in den Bureaus und Kanzleien der Regierungskollegien befänden sich unzuverlässige Elemenie (Ber. 8. April), eine natürliche Folge der allgemein üblichen Verwendung von Polen.

Erst am 12. Oktober erbaten die drei Minister die durch Kabinettsorder v. 24. erfolgende Wiederaufhebung des Ausfuhrverbots für Waffen usw., aber noch durch Note v. 13. April 1832 erbat die russische Regierung dessen Wiedereinführung, ein Verlangen, dem nun Schuckmann in seinem Votum. v. 4. Juni kräftig enigegentrat. Er führte darin aus: „Zur Zeit der Revolution war das in unserem Handelsinteresse nicht begründete und nur durch die Politik ‚gerechifertigte Verbot ein Freundschafisdienst. Jebt hand- habt Rußland seine Zollgesebe wie früher; es handhabt sie zum Nachteile unseres Gewerbefleiges, nicht bloß in früherer Art, sondern es läßt täglich neue hinzutreten, und überdies fordert es von uns, daß wir in Dingen seines Interesses durch Ausfuhrverbote die Kontrolle seiner Einfuhrverbote über- nehmen und seine Mitwächter werden sollen. Ich habe diese Bemerkungen nicht unterdrücken können, weil die öffentliche Meinung sich ohnfehlbar dar- über aussprechen wird, und weil die Noten immer nur Anträge enthalten, sich gegen Rußland gefällig zu erweisen, ohne daß ich darin eine Spur von Gegengefälligkeit entdecken kann, ja sogar das Nationalgefühl verlebende Ungerechtigkeiten, wie z. B. die des Monopols für seine Dampfschiffahrts- gesellschaft mit stiller Duldung und Ergebung hingenommen werden sollen, damit wir nur ja die Großen in Rußland als Mitaktionairs nicht auf Preußen zürnen. Unter den nun einmal obwaltenden Umständen erkenne ich zwar an, daß der Antrag Rußlands, der selbst in der Fassung der Note des russischen Geschaftstragers v. 12. April d. J. nicht frei von Anmagung ist, nicht ganz wird von der Hand gewiesen werden können. Ich bin daher bereit, an einem Bericht an des Königs Majestät Teil zu nehmen, muß aber

585

bitten, dasjenige, was ich hier geäußert habe, in den Bericht aufzunehmen, damit S. M. endlich erfahre, daß Preußens Aufopferungen nur mit neuen Beeinträchtigungen von seiten Rußlands erwidert werden.“

Erntete somit Preußen von seiten Rußlands nicht den geringsten Dank, so ist es noch weit natürlicher, daß ihm seine Willfährigkeit schwere Ver- dächtigungen der Polen und Polenfreunde eintrug, denen eine gewisse Be- rechtigung nicht abgesprochen werden kann, wenn man den ideologischen Standpunkt vollkommener Neutralität als den gebotenen anerkennen will. Vor allem war die Förderung der militärischen Operationen bedenklich, die bei Paskiewitsch’ Weichselübergang wohl am deutlichsten zutage frat. Hierüber reichte das polnische Ministerium des Auswärtigen in Warschau eine 17 Seiten füllende Klageschrift ein, deren wichtigste Punkte folgende Angelegenheiten betrafen: 1. Beschränkung der individuellen Freiheit bei dem Grenzverkehr von Anfang Dezember 1830 ab. „Les communications des habitants du Royaume de Pologne avec les sujets Prussiens furent entra- vées de mille façons à la frontière, de la part des autorités prussiennes.” Besonders wurden aus der Fremde zurückkehrende Polen widerrechtlich festgehalten wie der maitre de requ&tes Grzymała und die Gräfin Szembek. 5. Erlaß von 2 Ordonnanzen, in denen den polnischen Einwohnern Schub zugesichert wurde, die mit ihrer Habe ihre Heimat verlassen und sich -in Preußen ansiedeln wollten, und durch die die Einfuhr von Waren nach Preußen erlaubt wurde, deren Ausfuhr durch polnische Gesebe verboten war, besonders Schlachtvieh, selbst auf Richtwegen (chemins de traverse). 10. Versorgung der russischen Armee schon im April 1831 durch die preu- zischen Behörden mit Lebensmitteln und anderer Provision, Anlage von Magazinen und Ankäufe für russische Rechnung, was eine Verletzung der Neutralität bedeutet. 12. Entsendung von Spionen durch Preußen zur Be- obachtung der polnischen Bewegungen und Benukung der Cholera als Vor- wand zu der die Polen schädigenden Maßnahme der Grenzschliegung. 13. Sperrung der Grenze seit Errichtung des Sanitätskordons sogar für Ein- wohner, deren Güter vom Grenzzug durchschnitten werden, was eine Ver- letzung der Wiener Verträge bekundet. Auch diese Chikane wurde durch Spezialfälle belegt, mit dem bitteren Zusak, daß die preußischen Behörden ungeachtet des Sanitätskordons für die Russen weiterhin tätig waren.

Man nahm solche Anschuldigungen in Berlin keineswegs ganz leicht. Deshalb richtete am 20. Sept. Geheimrat Eichhorn im Ministerium des Auswärtigen an Flottwell das Verlangen, ihm bei einer Rechtfertigung be- hilflich zu sein. Er schrieb dazu: Von wie vielen Seiten unsere Regierung sich während der Dauer des polnischen Aufstandes wegen der den In- surgenten entgegengesebien Widerstandsmittel und der hingegen der rus- sischen Armee angeblich gewährten direkten und indirekten Unfersfützung oder Erleichterung den heftigsten und leidenschaftlichsten Angriffen aus- gesebt gesehen hat, ist gewiß Ihrer Aufmerksamkeit nicht enigangen. Be- sonders haben die englischen und französischen Blätter sich gleichsam zu überbieten gesucht, was, z. T. wenigstens, wohl seinen Grund in dem Treiben und Wirken der in Paris und London anwesenden Abgeordneten der aufständischen ,,Machthaber“?) in Warschau gehabt haben mag. Unsere Regierung konnte im Bewußtsein ihrer lediglich aus einer freuen Aufrecht- haltung der von ihr abgeschlossenen Staats- und völkerrechtlichen Verträge als notwendige Folgen sich ergebenden Motive, womit alle ihre Anordnungen und Zulassungen übereinstimmen, es um so mehr verschmähen, sich auf eine ausführliche Bekämpfung jener Ausfälle einzulassen, als diese aus der leidenschaftlichsten Befangenheit über die Weltverhalinisse ihren Ursprung nahmen und fortdauernd dadurch genährt wurden. Wenn sie gleichwohl einmal auf Veranlassung einer in den polnischen Zeitungen enthaltenen Be- schwerde und ein anderes Mal infolge eines in dem französischen Journal „Le Messager des Chambres“ befindlichen Aufsages sich zu berichtigenden

2) Dieser Ausdruck ist zur typischen Bezeichnung des amtlichen Stils geworden.

584

Artikeln vermittelst der Staatszeitung verstanden hat, so geschah solches nur ganz allgemein und lediglich zu dem Zweck, um durch Schweigen bei Gelegenheit der Verbreitung ganz falscher Tatsachen in viel gelesenen öffentlichen Blättern dem Glauben an deren Richtigkeit nicht auch bei Un- befangenen Vorschub zu leisten. Hierbei würde es an und für sich nun allerdings sein Bewenden haben können, wenn es nicht vor einiger Zeit noch den inzwischen von der Bühne abgetretenen polnischen Machthabern gelungen wäre, einen sehr ausführlichen, in ebenso anmaßendem wie leiden- schaftlichem Ton abgefaßten Aufsatz in die Hände des Ministeriums des Auswärtigen gelangen zu lassen, worin jene früheren Beschwerden erneut und durch mehrere faktische Momente zu begründen versucht wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben jene Machthaber ihrer Zeit auch Gelegenheit gefunden, diesen Aufsab durch ihre Organe zur Kenntnis der Ministerien einiger anderer europäischer Mächte zu bringen und es kann sich daher früher oder später wohl fügen, daß im Lauf weiterer diplomatischer Ver- handlungen oder auch bei anderer Veranlassung von der einen oder an- deren Seite auf diesen Aufsatz Bezug genommen wird. Tritt ein solcher Fall wirklich ein, so ist es für das Ministerium von besonderer Wichtigkeit, sich in bezug auf jedes einzelne polnischerseits zur Sprache gebrachte Moment im Besitz ebenso gründlicher und vollständiger als zuverlässiger Materialien über den wahren Zusammenhang der diesfälligen Tatsachen zu wissen, um danach seine Erklärung zur Widerlegung solcher falschen An- schuldigungen und zur Verwischung nachteiliger Eindrücke abzufassen. Da Flottwell von seinem amtlichen Standpunkt aus unfehlbar die umfassendsten Mittel zu einer solchen genauen Feststellung der Tatbestände besaß, wurde ihm wie den Oberpräsidenten von Preußen und Schlesien ein Auszug des Aufsaßes zugestellt, um baldigst das Ergebnis seiner dies fälligen Recherchen einzusenden.

Nach eigenhändigem Konzept genügte er dem Auftrag am 3. Okt. Er zweifelte nicht, daß es seinen Amtsgenossen ebenso leicht werden würde, die leidenschaftlichen Beschwerden zu widerlegen. Er erbot sich, auf Ver- langen des Ministeriums noch spezielle Beweise für seine Darlegungen zu erbringen, die ihm zu dem angeführten Zweck indessen nicht erforderlich erschienen. Zunächst prazisierte er den Siandpunkt, von dem allein die vorgebrachten Klagen richtig gewürdigt werden konnten: Das Königreich Polen war durch seinen Aufstand und so lange es sich in den Händen der insurrektionellen Machihaber befand, keineswegs in die Reihe der euro- päischen Mächte getreten, die Gegenseitigkeit anerkennen und durch Ge- sebe des Volkerrechts und Staatsverirage miteinander verbunden sind. Durch die Revolution hatte Polen seine Pflichten zu seinem rechtmäßigen Herrn sowie die Grundverfassung tief verletzt, die die anderen europäischen Staaten garantiert hatten. Der Ausbruch der Revolution geschah auf eine Weise und wurde durch Handlungen bezeichnet, die notwendig eine große Aufmerksamkeit Preußens auf seine chemals polnischen Landesteile in An- spruch nehmen mußten. Schon nadr Ausbruch der französischen Revolution kamen in der hiesigen Provinz namentlich unter dem Adel viele unverkenn- bare Anzeichen einer feindseligen Aufregung und Stimmung gegen die Regierung vor. Die Trennung der Polen von den Deutschen in allen Be- ziehungen wurde bemerkbar. Vornehme Polen hielten sich längere Zeit an fremden Orten auf, ohne sich über einen unverdächtigen Zweck dieses Aufenthalts ausweisen zu können. Andere reisten nach Paris, ganz un- bezweifelt wegen der politischen Verhältnisse ihres Vaterlandes. Geheime nächtliche Zusammenkünfte fanden statt. An den Stragenecken fand man Anschläge, die an Polens Wiederherstellung mahnten. Durch die War- schauer Ereignisse wurde die Ruhe und Ordnung der hiesigen Provinz in noch höherem Maße bedroht. Diesseitige Untertanen wurden ganz un- umwunden zur Teilnahme an den Unruhen im Königreich hinübergerufen und selbst die Bewohner Schiesiens wurden teilweise zu einer solchen Be- teiligung aufgefordert. Werber für die Sache Polens, die sich keineswegs auf die jebigen Grenzen des Königreichs beschränken sollte, zeigten sich

585

hier in allen Ständen unter allerlei Gestälten. Teilnahme an der Sache Polens und am Umsturz der bestehenden Regierungen wurde, soweil es irgend möglich war, ohne dem Richier zu verfallen, von Kanzeln und Lehr- stühlen gelehrt. An die besser gesinnten Einwohner ergingen fortwährend die dringendsten, unstatthaftesten Zumutungen, sich der polnischen Sache anzuschließen und sie auf alle Weise zu unterstiiken. Vornehme Polinnen stifteten Vereine für ihr Vaterland, zogen durch das Land, um Geldbeitrage zu sammeln. Sehr bedeutende Geldsummen, Vorräte an Waffen, Munition, Tuch, eine große Zahl von Pferden wurden aus der Provinz nach Polen geführt. Gutsbesitzer mit ihrem vollständig ausgerüsteten Gesinde, Hand- werker mit ihren Gesellen und Lehrlingen, Lehrer mit ihren Schülern, die vom Staat mit Wohltaten überhäuff waren, Geistliche und Beamte zogen nach Polen. Kinder wurden wider Willen und Wissen ihrer Eliern, die da- durch dem tiefsten Gram verfielen, fortgeführt. Mehrere Pläne, um einen offenen Aufstand im Posenschen hervorzurufen, wurden ausgesponnen und würden unfehlbar zur Reife gediehen sein, wäre nicht die Sfimme ge- mäßigter Polen, die an der Spike der Warschauer Regierung standen, über- wiegend gewesen und hätte man es ferner nicht bedenklich gefunden, bei den vorhandenen Mitteln damals schon den offenen Kampf gegen Preußen und Rußland gleichzeitig aufzunehmen, wäre die preußische Regierung minder weise und vorsichtig verfahren und hätten die Gutsbesiser an den unterdrückten Bauern, denen der Staat das Eigentum verlieh, einen besseren und sicheren Freund gefunden.

Unzweideutige Beweise liegen in hinreichender Menge vor. Im allge- meinen kann die Antwort auf die Frage, was Preußen bei einer derartigen Sachlage zu tun hatte, nicht schwierig sein. Es kam zunächst auf die Siche- rung des eigenen Landes gegen die von allen Seiten heimlich und öffentlich versuchten Angriffe auf die gesetzliche Ordnung und Ruhe darin an. Die Grundsätze, die Preußen in dieser Beziehung annahm und verfolgte, konnte es durch die Sophismen der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates nicht bestimmen lassen und der treuen Aufrechterhaltung der mit Rußland bestehenden Verträge nichts vergeben. Über diese sowie über die Rucksichten hinaus, die zur Erhaltung der Landeshoheits- und Re- gierungsrechte im eigenen Land notwendig waren, ist Preußen nie gegangen, hat sich nie unmittelbar in die Angelegenheiten Polens zu Rußland gemischt, hat jedes feindselige Bezeigen nach außen und jede äufreizende Maßregel im Inneren soweit wie tunlich vermieden, hat sich immer bestrebt, den erlaubten Verkehr mit dem Nachbarland, soweit irgend die Verhältnisse es gestatteten, aufrecht und ungestört zu erhalten.

Zu den Einzelpunkten führte Flottwell aus:

ad 1: Es ist wahr, aber durch die Verhältnisse des eigenen Landes und Rußland gegenüber sehr gerechtfertigt, daß die diesseitigen Behörden mit dem Ausbruch der Revolution in Warschau zur genausten Aufmerksamkeit auf die paßpolizeilichen Vorschriften und auf alle Reisenden aus und nach Polen und im Inneren des Landes aufgefordert wurden. Den vielen Polen, die aus Frankreich, Italien, der Schweiz und den Niederlanden, ausgebildet in den dortigen Schulen der Revolution, heimwärts eilten, um hier die mit- gebrachten Grundsätze in das Leben zu überführen, wurde der Durchgang durch Preußen nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unverdächtigkeit und mit dem Visum des russischen Gesandten, nach dem 3. Dez. 1830 ausgestellt, gestattet. Reisenden aus dem Königreich wurde der Eintritt nur erlaubt, wenn sie in ihr Vaterland oder an ihren vorigen Aufenthalt zurückkehren oder gewerbliche Zwecke verfolgen wollten. Bei der Unzuverlässigkeit vieler Grenzbehörden wurde es nötig, derartige Reisende hierher oder nach Breslau zu dirigieren, um ihre Verhältnisse näher zu ergründen. Personen höherer Stände, die angeblich aus Polen flohen, um den Unbilden der Re- volution zu entgehen, wurde zur Vermeidung von Unruhen nicht erlaubt, in einer Grenzprovinz ihren Aufenthalt zu nehmen. Es war nicht abzuleugnen, daß durch diese von der aufgeregten Zeit gebotenen Maßregeln manchen Reisenden Weiterungen erwachsen sind und sich die Erreichung des Reise-

586

ziels verzögert hat. Alle Polen, die gekommen waren, um ein Asyl zu suchen, um gewerbliche Zwecke oder Familienangelegenheiten zu besorgen, konnien aber das Zeugnis nicht versagen, daß ihnen bei Beglaubigung ihrer Unverdächtigkeit mit Milde und Schonung begegnet und keine ferneren Hindernisse in den Weg gelegt worden sind. Statt vieler brauchie nur er- innert zu werden an Graf Ossoliński, Major Machnicki, Guisbesifer v. Dunin, die Damen Poniatowska und Brzostowska. Die Grafin Szembek hatte ohne Schwierigkeit die Aufenthaltserlaubnis bei ihrem Schwiegervater im Schild- berger Kreis erlangt. Bei Graf Albert Grzymala, bei Handlungskommis, Bankagenien, Richtern und anderen konnte nicht geleugnet werden, daß sie von der revolutionären Regierung entsendet wurden, um die Ziele des Auf- siandes zu fördern oder um Effekten der polnischen Bank, die als ein unter dem Schuß und der Bürgschaft der kaiserlich russischen Regierung stehendes Eigentum zu betrachien waren, zu versilbern oder um Verbindungen im Aus- land zugunsien der Revolution anzuknüpfen. Grzymała wurde die Anwesen- heit in Berlin, wohin er mit Graf Mostowski reiste, gestattel. Er ist von da nach München und Paris gefahren.

ad 5: Es wird durchaus in Abrede gestellt, daß seitens der preußischen Regierung Bekanntmachungen ergangen sind, wonach polnischen Untertanen, die mit ihrer Habe auf diesseitiges Gebiet kommen wollten, Schutz und Auf- nahme zugesichert worden ist, oder zur Einfuhr von Waren ermuntert wurde, deren Export die polnischen Gesetze und Verordnungen untersagten. Dagegen ist denjenigen polnischen Einsassen, die die Sicherheit ihrer Person gefährdet sahen, die wider Willen zum Waffendienst gegen ihren recht- mäßigen Herrn gezwungen werden sollten und preußischen Schub nach- suchten, lediglich aus Rücksicht der Menschlichkeit dieser gewährt worden. Derartige Flüchilinge gemeinen Standes sind mii den notwendigen Geld- mitteln zu ihrer Subsistenz versehen worden, bis ihnen beim Festungs- und Chausseebau Gelegenheit gegeben werden konnte, ihren Unierhalt selbst zu verdienen. Der bei weitem größte Teil ist jeki bereits in seine Heimat zurückgekehrt.

ad 10: Im April sind im Großherzogtum keine Magazine zur Verpflegung der russischen Armee angelegt worden. Was in dieser Beziehung von der preußischen Regierung getan und zugelassen ist, scheint durchaus im Ein- klang mit den Verhältnissen zu stehen, worin Preußen zu Rußland und einem im Aufstand begriffenen Teil der Untertanen desselben sich befindel?®).

ad 12: Es ist wahr, daß unsere Regierung bei der großen Unsicherheit der in Polen öffentlich bekannt gemachten Nachrichten über die politisch- militärische Lage sich sicherer Leute bedient hat, um die notwendigen zu- verlässigen Nachrichten zu erlangen. Wird irgendeine Regierung in ähn- licher Lage dies nicht tun? Hat etwa Polen sich in letzter Zeit dieses Mittels in bezug auf Rußland und Preußen nicht bedient? Es ist gar nicht schwierig, nachzuweisen, wie viele Briefe und Nachrichten durch besondere Boten über die kleinste Bewegung unserer Truppen, über das unbedeutendste Ereignis nach Polen gegangen sind. Daß der im April-Mai bei dem Ausbruch der Cholera gezogene Grenzkordon den erlaubten und unerlaubten Verkehr noch mehr hemmte und Polen sehr unbequem war, ist einleuchtend, aber nach staats- und völkerrechtlichen Grundsätzen nicht abzuleiten, daß des- halb von der Ergreifung dieser Maßregel abgestanden werden sollie, wenn die Möglichkeit vorhanden war, dadurch die verderbliche Seuche von der Grenze fernzuhalten, um so weniger als trob allem, was darüber gesprochen wurde, polnischerseits gar nichts geschah, um die Epidemie zu bannen und ihre Verbreitung zu verhindern, sondern alles dagegen. Die Unter- stellung, Preußen habe in der Überzeugung, die Cholera lasse sich nicht abwehren, lediglich aus politischen Gründen den Grenzkordon gezogen, ist so entblößt von jedem nur scheinbaren Grunde, daß man sie als ganz absurd durchaus von der Hand weisen muß.

3) Dieser nur durch die Staatsraison gerechtfertigte Punkt wird offen- bar als etwas bedenklich empfunden und auffallend kurz abgetan.

887

ad 13: Ehe der Grenzkordon zur Ausführung kam, wurden den Grenz- bewohnern dessen Anordnungen und Bestimmungen bekannt gemacht und ihnen 48 Stunden Frist gewährt, um ihre dies- und jenseitigen Geschäfte zu regulieren. Ungeachtet aller Warnungen wurde von jenseitigen Einsassen die Grenzsperre nicht gehalten, worüber vielfache Beweise vorliegen. Es wurde unumgänglich nötig, durch ein Strafgesetz dieserhalb etwas Näheres zu bestimmen, was am 15. Juni erfolgte. Dieses Geseb wurde durch das preußische Konsulat in Polen zur öffentlichen Kenntnis gebracht. Die Grenz- fruppen wurden mit genauer Anweisung versehen, wann und wie sie von ihrer Waffe bei unbefugter Grenzüberschreitung Gebrauch machen sollten. Nach den Akten liegen keine Beweise vor, daß ein unrechtmäßiger Waffen- gebrauch eingetreten ist und dadurch jenseitige Untertanen verletzt sind, wenngleich dies behauptet wird. Den Einzelfällen, wo dies geschehen sein soll, nachzuspüren, dürfte jet erfolglos sein. Es leuchtet wohl ein, daß die von den polnischen Behörden deshalb aufgenommenen procés verbaux nicht als gültige Beweise angesehen werden können. Dagegen zählen unsere Akten mehrere Vorkommnisse auf, wo polnische Einsassen Opfer einer Nichtbeachtung der ihnen bekannten geseblichen Bestimmungen wurden, so im Kreis Adelnau und Schildberg, wo Schreckschüsse nicht gefruchtet hatten. Aus derartigen Einzelfällen feindliches Betragen und Nationalhaß sowie Ver- letzung des Wiener Traktats herleiten zu wollen, ist bei unbefangener Be- trachtung nicht wohl möglich. Bei der ungünstigen Beschaffenheit der Landes- grenze gegen Polen war es unausbleiblich, daß dies- und jenseitige Unter- tanen durch den Militarkordon in ihrer Eigentumsbenußung gestört wurden. Ausnahmen von dem durchgreifenden System der Grenzsperre konnten in- dessen nicht zugelassen werden, und die Rücksicht auf einzelne mußte not- wendig der auf das Ganze weichen. Nie ist den jenseifigen Einwohnern verboten worden, sich der Grenze auf 100 Schritt zu nähern, wohl aber die Einrichtung getroffen, wo es die Ortlichkeit irgend gestattete, den polnischen Besitzern die Benubung ihrer diesseits gelegenen Wiesen und Hutungen zu ermöglichen. Namentlich ist den Bewohnern von Bolestawice auf diese Weise geholfen worden. Allen übrigen Bewohnern wurde die Ausnukung ihrer Besitzungen unter Quarantaineerleichterung frei gestellt.

Daß gleich nach Revolutionsausbruch auf preußisches Gebiet ge- flüchtete russische Truppen wie die einer befreundeten Macht behandelt worden sind, ist in dem Verhältnis Preußens zu Rußland sehr wohl be- gründet. Quarantaine haben sie wie andere über die Grenze kommende Personen jeder Zeit durchgemacht. Die sonst hinsichtlich dieser russischen Truppen in der Beschwerde aufgeführten Tatsachen sind jedenfalls nicht in der Provinz Posen vorgekommen. Dasselbe gilt von der Anlegung rus- sischer Militarmagazine auf preußischem Boden und den nach Thorn ge- brachten preußischen Soldaten, die in der Schlacht bei Osirolenka mit- gefochten haben sollen. Unter den zum angeblichen Studium der Cholera nach Warschau reisenden französischen Ärzten befanden sich nachgewie- senermaßen mehrere französische Offiziere, die am Aufstand teilnehmen wollten, so daß eine Prüfung ihrer persönlichen Verhältnisse vollauf gerecht- fertigt war. Wahr war es endlich, daß während der Revolution das Brief- geheimnis nicht geachtet wurde, aber die für Ruhe und Ordnung des Landes verantwortlichen Behörden wurden durch die herrschenden Zustände ge- zwungen, vom Briefwechsel verdächliger Personen Kenninis zu nehmen. Indessen darf versichert werden, daß dabei mit aller Schonung und Vor- sicht verfahren worden ist. Die polnischen Behörden konnten bei einiger Gewissenhaftigkeit die Behauptung nicht wagen, daß sie ein anderes Ver- fahren beobachtet hatten. Sonst konnten ihnen bei Vernehmung der damals in Warschau tätigen Postbeamten unfehlbar Beweise des Gegenteils vor- gelegt werden.

Alles in allem ist aus den geschilderten Vorgängen deutlich zu er- kennen, daß Preußen aus staatlicher Notwendigkeit zwar weit mehr als das anfangs in seiner Haltung sehr reservierte Österreich der Revolution gegen- über eine unbedingt ablehnende Stellung einnahm, andererseits aber die

588

Gebote der Humanitöt nie außer acht ließ und daß die von seiten des Polentums auch bei dieser Gelegenheit betriebene, in weiten Kreisen des deutschen Volkes begeistert aufgenommene Greuelpropaganda gegen den vermeintlichen Henker Rußlands®) jeder Grundlage entbehrt. Der Staat hat vielmehr das Licht der geschichtlichen Kritik auch in der Frage seiner Stel- lung zur Warschauer Novemberrevolution in keiner Weise zu scheuen. _

Auffallend ist aber weiter der Unterschied zur Haltung Bismarcks i. J. 1863, der damals unbekümmert um den Widerspruch des von Polenbegeiste- rung sprühenden deutschen Liberalismus und des Landiags seine Politik folgerichtig und mit offenen Karten durchführte, und vermöge der Alvens- lebenschen Konvention nicht bloß die Westmächte ausschaltete, sondern die polnische Frage als außenpolitisches Instrument zur Bindung Rußlands an der Seite Preußens auszunutzen verstand. Hiergegen sticht die ängstliche und auf Halbheiten gegründete Taktik der Staatsmanner Friedrich Wil- helms Ill. allerdings wenig vorteilhaft ab.

*) Am bekanntesten ist unter derartigen literarischen Ergüssen vielleicht

Platens: „Diesen Kuß den Moskowitern .. .“.

589

DER FUNDAMENTALE ANTEIL DES UKRAINISCHEN AN DER SLAVISTIK

Von Stefan Smal Stockyj.

(Vortrag, gehalten am 24. Mai an der Berliner Universität auf Einladung des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts.)

Die Slavistik wurde bekanntlich mit dem Studium des Kirchenslavischen begründet. Das Kirchenslavische wird noch immer, und mit vollem Recht, als Ausgangs- und Brennpunkt der slavischen Philologie angesehen, ob- wohl sich in der neueren Zeit ihr Interesse immer mehr ihrer eigentlichen Aufgabe, der vergleichenden Forschung der slavischen Sprachen und der Erforschung des Urslavischen, zuwendet. Jedenfalls bildet das Kirchen- slavische auch für diesen Zweck einen sehr fesien Stützpunkt. Und so ist es begreiflich, daß der erste Kongreß slavischer Philologen, der für den Herbst d.]. nach Prag einberufen wurde, dem Andenken Dobrovskys ge- weiht isi, der mit seinen „Institutiones linguae slavicae dialecti veteris“ 1822, also vor hundert Jahren, den Grund für die moderne slavische Philo- logie gelegt hat.

Die in ganz ausgezeichneter Weise vom Prof. Weingart durchgeführte Analyse dieses Werkes ergibt aber die Tatsache, daß die Slavistik vollauf Grund hätte, zugleich des dreihundertjährigen Jubiläums des Erscheinens der ersten vollständigen Grammatik der kirchenslavischen Sprache von Meletij Smotryckyj i. J. 1618 wenigstens pietatvoll zu erwähnen, da es fesisteht, daß Dobrovsky nicht allein an diese Grammatik anknüpft, son- dern auch das von Smotryckyj geschaffene System vielfach befolgt und überhaupt Smotryckyj als seinen Lehrer im Kirchenslavischen ansieht, dessen Grammatik so recht eigentlich den Grund zu seinen institutiones gelegt hatte. Wir wollen dadurch keineswegs den sonstigen großen Unterschied beider Grammatiken verkennen, nur betonen möchten wir im vorhinein, daß die Grammatik Smotryckyjs, die der von Dobrovsky um zwei Jahrhunderte vorangegangen war, in der damaligen Zeit ganz gewiß eine große Leistung, eine epochale Erscheinung gewesen ist. Es ist daher Pflicht der Slavistik, zumindest Pflicht der ukrainischen Slavistik, des Mannes, seines Werkes und jener Zeit zu gedenken, in der die Ukrainer und ihr Geist schopferisch, vorbildlich und für mindestens zwei Jahrhunderte führend aufleuchtete und befruchtend wirkte, bis dann zu Beginn des 19. Jahrh. die Führung an die großen Geister der Cechen überging.

Die große geistige Bewegung im Westen Europas hatte nämlich im 16. Jahrh. das Erwachen der ukrainischen Nation zu neuem geistigen Leben zur Folge, das sich in der Übersekungstätigkeit der Bibel, in reger Orga- nisation des Schulwesens, in literarischer und wissenschaftlicher Tätigkeit manifestierte. Im Banne des westeuropäischen geistigen Lebens stehend, weist diese Tätigkeit dennoch große Selbständigkeit auf. Sie ist keines- wegs einfache Nachahmung und Übertragung fremder Muster auf eigenen Boden. Es galt vielmehr die Errungenschaften des Westens der eigenen nationalen Kultur, eigenen geistigen Bedürfnissen entsprechend, anzupassen und dies alles harmonisch auszubauen. In dieser eigenartigen Anpassung

590

na Harmonisierung äußert sich die Größe des Geistes der ukrainischen ation.

So war die jesuitische Schule das naheliegendste Muster für die Ein- richtung der ukrainischen Schulen. Es wurde aber von Ukrainern nur der äußere Rahmen dieser Schule übernommen und mit eigenartigem Inhalt ausgefüllt. Gegenüber dem vollständigen Übergewicht der lateinischen Sprache in der Jesuitenschule wurde in der ukrainischen auf die Pflege der griechischen Sprache und canz besonders des Kirchenslavischen das Haupt- gewicht gelegt. Demgemäß mußte man für die entsprechenden Lehrbücher Vorsorge treffen. So entstand die erste griechische Grammatik in einer slavischen (ukrainischen) Sprache, nämlich Adelphotes im Jahre 1591 in Lem- berg, so zunächst die kleine kirchenslavische Grammatik von Lavrentius Zizanij 1596 und dann 1618 die große Grammatik des Kirchenslavischen von Meletij Smotryckyj, so die große vollständige kirchenslavische Bibel von Ostroh 1580/81, so zunächst das kleine kirchenslavisch-ukrainische Wörter- buch von bereits genanntem Zizanij, dem dann 1627 das größere Worter- buch von Pamva Berynda folgte, so schließlich in Kiev, gewissermaßen als Krönung der damaligen kulturellen Bestrebungen der Ukrainer, zwar in An- lehnung an westeuropäische Hochschulen, aber nichtsdestoweniger eine eigenartige erste slavische, speziell ukrainische Hochschule, die vom Metropoliten Peter Mohyla 1632 gegründete Akademie, eine Lehr- anstalt, die fast zweihundert Jahre die einzige Lichtspenderin für alle Slaven orientalischen Glaubens war, von ihnen fleißig aufgesucht wurde und ins- besondere nach Moskau die höhere Bildung vermittelt hatte.

Indem wir aber von der großen Bedeutung und zivilisatorischen Wirk- samkeit der Kiever Akademie jetzt absehen, wollen wir unsere Aufmerk- samkeit der Grammatik des Kirchenslavischen von Smotryckyj zuwenden. Ihre Bedeutung ist zunächst daraus ersichtlich, daß sie viele Auflagen er- lebte, so gleich, wie dies Weingart mit großer Gründlichkeit auseinander- sebi, im nächsten Jahre (1619) in Jevje bei Wilna, ferner im Auszug 1621 in Wilna, eine neue Auflage 1638 in Kremeneb, 1648 in Moskau, in welcher Auflage ihre Sprache bereits russifiziert erscheint; noch mehr wurde sie russifiziert in der Ausgabe von Polikarpov, Moskau 1721; desgleichen ist die von Theodor Maximov bearbeitete, in Petersburg 1723 erschienene Aus- gabe stark russifiziert. Noch im Jahre 1794 erschien sie in Kiev in Bearbei- tung Apollos’. Aus Smotryckyj schopfte Lomonosov, der Verfasser der ersten russischen Grammatik (Petersburg 1755), der Smotryckyj dort „das Tor der Gelehrsamkeit“ (vrata učenosti) nennt, dann noch die Petersburger Akademie der Wissenschaften 1802, ja sogar noch Rozanov (Moskau 1810), Vinogradov (Petersburg 1813) und Peninskij (Petersburg 1825).

Die Grammatik Smotryckyjs hatte aber auch großen Einfluß bei den Sudslaven. Denn abgesehen davon, daß viele Serben in der Kiever Aka- demie studierten, wurde sie nachweislich in vielen Exemplaren nach Serbien gebracht und danach 1755 in Rimnik abgedruckt. Sie liegt auch der 1794 und 1811 erschienenen Grammatik von Abraham Mrazovič zugrunde. Sie drang auch zu den Dalmatiner Kroaten durch Vermittlung des ukrainischen Bischofs Terleckyj aus Cholm durch, wo Levakovi& und Karaman bei der Ausgabe von glagolitischen Kirchenbüchern (1648, 1741) nach ihr die kirchen- slavischen Texte ausbesserten und Sovič sie gar ins Lateinische übersebte, welche Üübersekung im Manuskript beim Unterricht des Kirchenslavischen in den geistlichen Seminaren dort verwendet wurde.

Ja sogar in nichtslavischen Ländern übte diese Grammatik ihren Einfluß aus. So findet sich in der Bibliothek von Upsala ein Exemplar dieser Gram- matik mit lateinischer Marginalübersekung von Sparvenfeld, dem bekannten schwedischen Polyglotten (1655—1727) und Verfasser des großen kirchen- slavisch-lateinischen Wörterbuchs (Moskau 1686). In Oxford erschien 1696 Grammatica russica von Henr. Wilh. Ludolf, die nur die Formenlehre, und zwar nach Smotryckyj, enthält. Auch die 1706 erschienene Grammatik von Kopievic (einem Freund Peters des Großen) enthielt eigentlich nichts an- deres, als die Formenlehre der Grammatik Smotryckyjs.

591

Überdies gibt es auch noch handschriftliche kirchenslavische Gramma- tiken, wie z. B. die von Arsenij Kocak aus der 2. Hälfte des 18. Jahrh., die unverwüstliche Spuren der Smotryckyjschen Grammatik aufweisen, worüber Pankevyé in wissenschaftlichen Mitteilungen des Vereins Prosvita, Užhorod, 1927, berichtet.

So war diese Grammatik volle zwei Jahrhunderte bis Dobrovsky die einzige Quelle der Kenntnisse des Kirchenslavischen, ohne daß sie durch eine bessere ersetzt werden konnte. Dem Unterrichte des Kirchenslavischen, den ich als Zögling des Stauropigianischen Institutes in Leinberg anfangs der 70er Jahre vorigen Jahrhunderts genoß, lag auch noch die Grammatik von Mrazovié, also eigentlich Smotryckyj, zugrunde.

‚Es ist klar, daß das Kirchenslavisch, das Smotryckyj lehrte, das ihm geläufige Kirchenslavisch war, wie es in den in der Ukraine verwendeten Kirchenbüchern, sonstiger kirchlichen Literatur und insbesondere in der Ostroger Bibel vorlag. Es geht ferner aus der Grammatik auch vollkommen klar hervor, daß die in der Ukraine übliche Aussprache des Kirchenslavischen in ihr ihren Ausdruck fand, was auch anders nicht denkbar ist. Wer aber mit Rücksicht darauf, daß im 19. Jahrh. in den Kirchen der Ukraine die russische Aussprache des Kirchenslavischen galt, noch Beweise hierfür ver- langte, dem werden diese Tatsache die aus damaliger Zeit erhaltenen latei- nischen Transkriptionen des Kirchenslavischen bezeugen. Die russische Aussprache wurde in der Ukraine erst mit dem Ukas des Caren Peter d. Or. v. J. 1721 verordnet, wurde aber nicht überall und nicht gleich befolgt. Die ukrainische Aussprache des Ksl. betrifft nicht nur die Lesung der Zeichen für Nasalvokale als ja, ju, nicht allein den Lautwert der Zeichen für Halb- vokale, sondern insbesondere den Lautwert von e, i, v. &, desgleichen von g als h. Dazu kommen noch die dem Ukrainischen eigentumlichen verschie- denen Erweichungen der Konsonanten, seine Assimilations- und Auslaut- gesetze u. dergl. Leider ist diese Tatsache bei den Slavisten bis in unsere Tage unbeachtet geblieben. Dobrovsky, verleitet durch die in seinen Hän- den befindliche Moskauer Ausgabe der Smotryckyjschen Grammatik v. J. 1648 und durch die Art, wie er auf seiner russischen Reisc gewiß das Kirchenslavische im Munde der Russen gehört hatte, leistete dem Vorschub, daß man auch jetzt noch das Ksl., auch das Altkirchenslavische, offers in russischer Art liest und von einer einheitlichen russischen Redaktion des Ksi. spricht. Es ist höchste Zeit, daß dieser Irrtum entsprechend unseren besseren Kenntnissen des Altksl., endlich ausgemerzt werde und daß die Slavisten sich dessen bewußt werden, daß mit Rücksicht auf die Aus- sprache, aber auch sonst, uns in der sogenannten russischen Redaktion des Ksi. mindestens drei oder gar vier Redaktionen vorliegen: die ukrainische (Kiever), die russische (Moskauer), die Pskover und wohl auch die weiß- russische Redaktion. In der Zeit, wo wir in der Slavistik endlich von Buch- staben, mit denen lange genug Wissenschaft getrieben wurde, zu Lauten vorgedrungen sind, wäre es überhaupt angezeigt, auch noch manche andere damit zusammenhängende Ansichten in der Slavistik einer Überprüfung und Korrektur zu unterziehen.

Hat die Slavistik bis jetzt das Kirchenslavische als eine tote Sprache behandelt und auf Grund alter handschriftlicher Denkmäler studiert, so wird ihr durch die bei Smotryckyj festgestellte Forderung, daß es „in gewöhn- lichen Schulgesprachen von Schülern (also mündlich) angewendet werde“, und durch die Tatsache der Russifizierung seiner Grammatik in Moskau der Weg gewiesen, auch noch nach dieser Richtung hin die Studien zu ergänzen. Es dürfte gewiß nicht allein sehr interessant, sondern auch von großem Nuben für die Wissenschaft sein, das Kirchenslavische, wie es jetzt noch im Munde der Geistlichkeit, der Kirchensänger und des Volkes wirklich lebt, auf dem ganzen großen Gebiete eingehend zu studieren. Eine richtige phonetische Darstellung des noch „lebenden“ Kirchenslavisch aus verschie- denen, weit entlegenen Gegenden, wo es in Verwendung sieht, würde uns nicht allein für die großen lauflichen, morphologischen und sonstigen Ver- schiedenheiten Augen und Ohren besser öffnen, nicht allein der Phonetik

592

einzelner slavischen Sprachen von Nutzen sein, indem sie an der Aussprache des Ksl. gewissermaßen kontrolliert werden könnte, sondern auch in an- derer Richtung neue Horizonte eröffnen. Ich verspreche ‚mir davon eine neue, auf Tatsachen aufgebaute Erkenntnis, die in jeder Richtung und Be- ziehung Licht verbreiten würde über das wirkliche Leben einer im Grunde einheitlichen und doch stark differenzierten Sprache. Auf Grund dieser Erkenntnisse könnten wir uns auch die Verhältnisse in der urslavischen Zeit besser und klarer vorstellen. Die Durchführung der Anregung, die, wie erwähnt, aus der in unzweifelhafter Weise festgestellten Tatsache fließt, daß der Grammatik des Kirchenslavischen von Smotryckyj die ukrainische Aussprache desselben zugrunde liegt, einer Arbeit, die freilich wohl orga- nisiert werden müßte, da sie von einem einzelnen nicht geleistet werden kann, wäre abgesehen vom großen wissenschaftlichen Wert zugleich auch eine Ehrung des Andenkens Smotryckyjs als des ersten wirk- lichen Slavisten, der uns auch jekt noch für unsere Forschung neue Wege weist.

Als wirklicher Slavist erscheint er uns auch dadurch, daß er als erster das Kirchenslavische öfters mit dem Ukrainischen vergleicht, ihre Unterschiede aufdedd. Hiermit kann er uns auch als erster Grammatiker des Ukrainischen gelten, ohne eine eigene Grammatik des Ukrainischen ver- faßt zu haben. Das Ukrainische galt ihm nämlich als die bei den Ukrainern allgemein bekannte, gebräuchliche Sprache, die keiner besonderen gram- matikalischen Behandlung bedarf. Das Ksi. dagegen, die Sprache der ukrainischen Kirche, war bereits den Ukrainern weniger verständlich. Daher war es notwendig, zum genauen Verständnis dieser Sprache eine Gram- matik zu verfassen, wie sie für Latein und Griechisch vorhanden waren. Wir sehen darin eine neuerliche Bestätigung der erfahrungsgemäßen Tat- sache, daß normalerweise die Grammatik einer Sprache entsteht, wenn das richtige Verständnis derselben Schwierigkeiten bietet. Aus dem Bestreben, zum vollen Verständnis der alten Phasen einer Sprache vorzudringen, ent- wickelte sich ja überhaupt die Wissenschaft, die wir Grammatik nennen, zunächst bei den Indern, um die altehrwürdige Sanskritsprache zu begreifen, ebenso auch bei den Griechen usw. Erst in der neuesten Zeit wurde der Begriff der Grammatik verallgemeinert und auf die Erforschung aller Phasen jeder einzelnen Sprache, sowie der Sprache überhaupt erweitert. So ent- stand die neue Sprachwissenschaft, eine Wissenschaft, die aber mit ihren Wurzeln weit zurück bis um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts reicht. So entstand speziell die Slavistik, die mit ihren Wurzeln denn d auf Smotryckyj zurückgeht und erst nach zwei Jahrhunderten, von Dobrovský angefangen, weiteren namhaften Fortschritt macht, so daß sie nunmehr als ein eigener bedeutender Zweig der Indogermanistik und der allgemeinen Sprachwissenschaft gilt.

Es erübrigt noch eine Bemerkung über den Namen der Sprache, des Volkes und des Landes zu machen, die wir hier stets, um jedem Migver- ständnis vorzubeugen, als ukrainisch, Ukrainer, Ukraine bezeichnen. Wir müssen es um so mehr tun, da Smotryckyj diese Sprache ruskij jazyk, also, so meint man, „russische“ Sprache nennt. Aber nichts wäre falscher, als sein „russisch“ mit russisch zu überseken. Es muß „ukrainisch“ heißen.

Mit dem Namen ukrainisch belegen wir gegenwärtig die Sprache des Volkes, das in geschlossener Masse den großen Raum von den Karpathen bis zum Don und Kaukasus ausfüllt und überdies bald in größeren, bald in kleineren Kolonien in Sibirien, Jugoslavien, Kanada, Vereinigten Staaten von Amerika, in Brasilien, Argentinien usw. lebi. Das geschlossene ukrai- nische ethnographische Gebiet grenzt mit einem solchen ethnographischen Gebiet der Slovaken, Polen, Weißrussen, Russen, tatarischen und kau- kasischen Völkerschaften, Rumänen und Magyaren. Das ukrainische ethno- anne Gebiet nennen wir Ukraine, obwohl seine einzelnen Teile zur

echoslovakei (Karpaihorußland), zu Polen (Galizien, ein Teil von Wol- hynien und Polesien), zu Rußland (insbesondere Kubanland) und zu Ru- mänien (ein Teil von Bukowina und Beßarabien) gehören. Den Kern des

895

Territoriums bildet die Ukraine, die als eine eigene Republik dem Verband der Soveirepubliken angehört. Das Volk, das dieses ganze Gebiet be- wohnt, nennen wir Ukrainer.

Ich leugne nicht, daß diese einheitliche Nomenklatur selbst bei den Ukrainern erst neueren Datums ist. Doch ist sie, ganz besonders für die Wissenschaft, unumgänglich notwendig, um, wie gesagt, allen Mißverständ- nissen zu begegnen.

Früher, ja sogar noch jekt, wenn auch nur in den entlegensten Rand- winkeln, nannten sich die Ukrainer Russyny, Russnaky, also etwa Ruthenen, und ihre Sprache ruskyj, d.h. ruthenisch, ihr Land Rus (Ruthenien). Es wurde ja das Wort Rutheni damals in lateinischen Urkunden u. dgl. zur Bezeichnung dieses Volkes verwendet. Eine Zeitlang benannte man sie mit einem Kunstnamen ukrainsko-ruskyj, sagen wir vergleichsweise ukrai- nisch-ruthenisch. Bei Sevcenko findet sich für die Ukraine der poetische Ausdruck kozackyj kraj, d.h. Kosackenland, und Ukrainer heißt dort einfach Kosack. Andere nannten die Ukrainer Kleinrussen, Ruthenen, Petite Russe, Ruthene, entsprechend dem russ. Malorossy, čech. Malorusové, poln. Rusini, und ihre Sprache kleinrussisch, südrussisch, ruthenisch, petite russe, ruthene, russ. malorusskij, juZnorusskij, €ech. malorusky, poln. ruski... Es muß aber festgestellt werden, daß jetzt in allen Sprachen die den Ausdrücken Ukraine, ukrainisch entsprechende Nomenklatur immer mehr Verbreitung findet.

Der Name Kleinrußland (Malaja Ruś) ist bei den Ukrainern bis zu einem gewissen Grade historisch, aber von Anbeginn war er nur ein Kunstproduki, nie volkstümlich gewesen. Das ukrainische Volk hatte sich nie Kleinrussen genannt, noch hieß bei ihm seine Sprache kleinrussisch.

Die Gelehrsamkeit Kiever Gelehrter zeigt sich in dem von ihnen er- fundenen, dem Griechischen nachgebildeten Namen Rossia, rossijskij, einem Namen, der später mit der ukrainischen Gelehrsamkeif nach Moskau ging und dort mit der Zeit zur Bezeichnung Rußlands ward. Dieser gräzisierte Ausdruck hätte den alten Namen Rus im hochtrabenden Stil vertreten sollen, wurde aber dann, wie erwähnt, zum alleinigen Namen für den Staat Rußland.

Je mehr man in ältere Zeiten vordringt, desto allgemeiner waren auf dem ukrainischen Gebiet die Namen Ruś, Russyn, Russyé, ruskyj in Ge- proue Andere Namen für Staat, Volk und Sprache kamen überhaupt nicht vor.

So gelangen wir in Verfolg historischer Zeugnisse bis zum 10. und 9. Jahrhundert, in welcher Zeit zum ersten Male der Name Ru$ als Name des um Kiev herum von einem skandinavischen (schwedischen) Volke, das sich eben Russen nannte, organisierten neuen Staatsgebildes auftaucht, und das Eigenschaftswort ruskyj zur Bezeichnung der Zugehörigkeit zu diesem Staate diente. Wir gelangen also schließlich bis zum Zeit- punkt, da das Wort Ruś (ein Kollektivum) einen skandinavischen (schwe- dischen) Volksstamm bezeichnete und das hierzu gehörige Eigenschaftswort eine ethnologische Bedeutung hatte, d.h. die Sprache, die Sitten u. dgl. dieses Volksstammes als die ihm eigenen charakterisierte (so beim Con- stantinus Porphyrogenetos).

Uber diese Periode hinaus kennt die sog. Nestorschronik nur noch sla- vische Stämme, die auf diesem Gebiet lebten und mit der Gründung des Kiever Staates Ruś in diesem Staate aufgegangen sind. Es waren dies zunächst Polanen, ferner Derevlanen, Wolhynier (Duliben), Severjanen, Uhlièen, Tiverzen. Sie bildeten vor allem den Staat Ruś, der infolge des Ubergewichtes des slavischen Elements und demgemäß auch der Slavi- sierung der skandinavischen Begründer dieses Staates, wenn nicht schon früher, so doch gewiß schon im 11. Jahrhundert ganz slavisch, und zwar mit Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten der Sprache der in ihm aufgegangenen slavischen Stämme ukrainisch wurde. Mit der weiteren Verbreitung der staatlichen Macht dieses Kiever Staates auch auf die slavischen Stämme der Drehovicer, Kriviter, Radimiòer und Vjatiéer, d.h. auf weiß- und groß- russische sowie auch auf die finnischen Stämme ging auch der Staatsname

594

Ruś und das Eigenschaftswort ruskyj zur Bezeichnung ihrer Staatsangehörig- keit auf sie über. Es ist sehr charakteristisch, daß bei den Russen auch jetzt noch das ursprünglich zur Bezeichnung der Staatszugehorigkeit die- nende Eigenschaftswort ruskyj als Hauptwort in der Bedeutung „russischer Staatsbürger“ und zugleich auch in der Bedeutung „Russe“ verwendet wird. Das Fehlen des entsprechenden Hauptworts deutet darauf hin, daß sic sich ehemals wohl nur als staatszugehorig, keineswegs aber als „Russen fühlten, was nur den ukrainischen, um den eigentlichen Kiever Staat ver- einigten Stämmen zukam. Darüber Näheres bei Hruševskyj.

Auch die kirchliche Organisation nach der Christianisierung dieses Staates mit dem Metropoliten in Kiev an der Spike stübte diese staatliche Nomenklatur insbesondere in der Zeit, als der ursprüngliche einheitliche Staat in Teilfürsientümer zerfiel, die nur die Oberhoheit des Oroßfürsten von Kiev anerkannten.

So vergingen Jahrhunderte, Zeit genug, daß diese Ausdrücke sich überall im ganzen ehemaligen Reich einbürgerten. Da ist aber Mitte des 13. Jahrh. der Kiever Staat Ruś infolge des Ansturmes der Tataren zer- fallen. Die bereits ziemlich lockeren Bande zwischen den einzelnen Teil- fürstentümern haben sich ganz gelöst. Selbst die einheitliche kirchliche Organisation wurde bald nachher zerrissen. Man war sich zwar dessen bewußt, daß alle Teile orthodoxen Glaubens waren, aber darüber hinaus nichts mehr. Die weiteren Schicksale der einzelnen Teile gestalteten sich so, daß das russische (d.h. großrussische) Gebiet lange Zeit in tatarischer Abhängigkeit verblicb, inzwischen aber sich um Moskau konsolidierte, das weißrussische und ukrainische Gebiet aber anfangs des 14. Jahrh. an Litauen kam, um dann mit Litauen eine Union mit Polen einzugehen. Um diese Zeit kam auch der Rest des ukrainischen Gebietes (Galizien) an Polen. Der Name Ruś, ruskyj blieb aber weiter bestehen. Es versteht sich von selbst, daß unter geänderten Verhalinissen sich seine Bedeutung ändern mußte. Vom staatlich-politischen Begriff wurde er zum ethnologischen oder gar kirchlich-religiösen Begriff. Man nannte überall seine Sprache, seine Sitte, seine Kirche, seinen Glauben „russisch“, wo doch evident ist, daß dieses „russisch“ hier soviel wie ukrainisch, dort soviel wie weißrussisch und überdies auch noch anderswo soviel wie tatsächlich russisch, nämlich großrussisch bedeutete. Dieser Zustand dauerte, solange das geistige und kulturelle Leben einzelner Teile in der Kirche aufging und solange das Kirchenslavische, das jeder in seiner Art aussprach, zugleich auch als Schriftsprache galt. Es änderte sich nichts daran auch dann, als die Er- fordernisse der neuen Verhältnisse, des neuen staatlichen Lebens es mit sich brachten, daß die Kirchensprache als Schriftsprache, neuen Bedürf- nissen entsprechend, immer mehr volkstümliche Sprachelemente in sich auf- nahm, um schließlich, wie im ukrainischen Teil, ganz der volkstümlichen nen Sprache Plak zu machen. Der alte Name blieb noch immer

estehen.

Erst als nach dem großen Aufstand des ukrainischen Volkes gegen Polen unter Bohdan Chmelnyckyj sich ein bedeutender Teil des ukrainischen Gebietes von Polen freimachte und eine Personalunion mit dem mosko- witischen Caren 1654 einging, ergab sich als Ausfluß näherer Beziehungen desselben zu Moskau die Notwendigkeit, zur Bezeichnung des ganzen Landes und Volkes den seit jeher bei der Bevölkerung wohl bekannten, aber nur zur Bezeichnung der Grenzgebiete dienenden Namen Ukraine und seine Ableitungen zu verwenden, weil die frühere einheitliche Nomenklatur Rus, ruskyj wegen der Verschiedenheit der ihr bei den Ukrainern und Russen inne wohnenden Bedeutung und des tatsächlich bewußten ethnischen Unterschiedes zwischen Ukrainern und Russen bei den Ukrainern nicht mehr erhalten werden konnte. Es stieß hier nämlich der verschiedene Be- deutungsinhalt derselben Wörter bei beiden Nationen scharf aneinander, und so gaben die Ukrainer, ihrer ethnischen Verschiedenheit von den Russen voll bewußt, den alten, ursprünglich ihnen zukommenden Namen um so leichter auf, als ihnen bereits ein neuer zur Verfügung stand.

595

Als nachher bei den weiteren Teilungen Polens auch noch der Rest des ukrainischen Gebietes an nunmehr Rossija (Rußland) heigendes Moskovien fiel, da bürgerte sich der Name Ukraine mit seinen Ableitungen auch in diesem Teil an Stelle des alten Ru$, ruskyj, Russyn ein.

Nur in Galizien, das bei der Teilung Polens an Österreich fiel, und bei den damals in Ungarn wohnenden Volksgenossen erhielt er sich bis in die neuere Zeit, wo er schließlich infolge des wachsenden Stammes- und Ein- heitsbewußtseins mit den Ukrainern ebenfalls aufgegeben wurde.

So heißt also ruskyj nunmehr nur soviel wie Russe, russisch, und die anderen Sprachen, die ursprünglich ebenso hießen, heißen nun ukrainisch und weißrussisch. Seitdem aber der Name Russe, russisch nur bei den Großrussen als ihnen allein zukommend verblieb, gab es nicht allein in der Politik, sondern selbst in der Wissenschaft Tendenzen, das Weißrussische und das „Kleinrussische“, an welcher Benennung des Ukrainischen in russi- schen Kreisen krampfhaft fesigehalten wurde, als Dialekte eben dicses Russischen zu erklaren. Der ausgezeichnete Sprachforscher Baudouin de Courtenay macht sich über solche Tendenzen (z. B. beim Budilovid) in seinem am 20. Mai 1922 an der Prager Cechischen Universität gehaltenen Vortrag sehr lustig. Es ist aber sehr traurig und für die Wissenschaft ver- hängnisvoll, wenn die Politik in die Wissenschaft hineinpfuscht. Um so mehr verfochten die Ukrainer ihr Recht auf eigene Namengebung und ihren An- spruch, von allen mit ihrem eigenen Namen benannt zu werden.

Ich erachtete es für meine Pflicht, die Entwicklung der nationalen Be- nennung der Ukrainer eingehender zu beleuchten, weil gerade anläßlich der vom Prof. Weingart vorgenommenen Analyse der Grammatik Smotryckyis die durch Benennung seiner Sprache als „russisch“ veranlaßte Konfusion erst recht ans Tageslicht gekommen ist. Ist diese Entwicklung an und für sich sehr kompliziert und selbst für die Ukrainer nicht leicht zu verfolgen, so trifft dies für alle, die weniger in die Sache eingeweiht oder gar von vorgefaßten Doktrinen von der Einheit und Einheitlichkeit alles dessen, was „russisch“ hieß, beeinflußt sind, in noch höherem Grade zu. „Kleinrussisch“ ist ja doch russisch, dachte und sagte man. Und dies war auch mit der Grund, daß das Ukrainische in das letzte Jahrhundert, in die Periode des eigentlichen Aufschwungs der Slavistik als eine unbekannte, als nicht existierende slavische Sprache eintrat. Dobrovský, der in seiner Einteilung der slavischen Sprachen das Kroatische vom Serbischen, das Slovakische vom Cechischen (bohemica) scheidet und zwei sorbische (wendische) Spra- chen unterscheidet, kennt nur eine russische (russica) Sprache, und hat für die weitere Forschung der Slavistik den Ausschlag gegeben. Welch tragisches Schicksal. Die Sprache, in der die erste slavistische Arbeit bereits vor dreihundert Jahren erschienen ist, die damals als eigene Sprache existierte, existiert nun für die Slavistik nicht mehr. Trob Kopitar, Safafik und hauptsachlich Miklosich, der in seiner monumentalen Vergleichenden Grammatik der slavischen Sprachen das Ukrainische ausdriicklich als eine eigene slavische Sprache von der russischen abgesondert behandelt, huldigt man sonst bis in die neueste Zeit in der Slavistik der Ansicht, daß es cin Dialekt des Russischen ist. Man will wohl darunter das Urrussische, das Gemeinrussische verstehen, das aus dem Urslavischen wie sonst jede andere slavische Sprache sich differenziert hatte und dann hauptsächlich in drei Disickie: Großrussisch, Kleinrussisch und Weißrussisch sich spalicte. Aber nichi immer nimmt man es so genau. Dann erscheint das Ukrainische ganz einfach als Dialekt des Russischen, d. h. als Dialekt der Sprache, die eben ganz allgemein in der ganzen Welt jetzt als russisch gilt. Unter ne Umständen ist es nicht verwunderlich, daß man insbesondere in Rußland es Miklosich geradezu als ein. Verbrechen angerechnet hat, das einheitliche Russentum gespalten zu haben, was auch hier und da in der Presse sogar als österreichische Intrigue ausgegeben wurde. Wie weit das gehen kann, beweist ein Beispiel aus der allerlekten Zeit. In der Ukraine hat man jebt Puškin ins Ukrainische übersekt. Darüber berichtet nun das bedeutendste €echische Tagblatt Národní Listy in Prag vom 25. April 1929, Nr. 114, mit der

896

höhnischen Bemerkung, daß es „endlich ... der größte und echteste russische Dichter so weit gebracht hat, daß um von den Ukrainern gelesen werden zu können, er erst ins „Ukrainische“ übersekt werden mußte, in jene künstliche, auf kaltem Wege mit Hilfe der Berliner Gelehrten (und auch mit Berliner Subventionen) her- gestellte Sprache, die der biedere kleinrussische Bauer nicht im geringsten versteht (aber gewiß ausgezeichnet PuSkin verstehen wird, frei- lich, wenn er gebildet ist)“

Die Slavistik war also nicht imstande, solche Irrfümer und plumpe Tendenzschrullen selbst bei den Slaven auszumerzen. War sie ja doch selbst in ihren größten Vertretern nicht recht im klaren, was sie mit der ukrainischen F die steis immer mehr an ihre Tore anklopfte, an- fangen soll. Denn trotz aller Leugnung und direkter staatlicher Verbote in Rußland war sie da. Eine Zeitlang schwankte man. Miklosichs Autorität war doch nicht leicht wegzudisputieren. Andererseits stellte Schleicher seine Stammbaumtheorie auf, die bei den Anhängern der von Miklosich verworfenen Gruppentheorie großen Gefallen fand. Immerhin behandelten Maxymovyé, Sreznevskij, Potebnia, Ogonovskyj und Zyteckyj das Ukra- inische als Sprache. Aber ann, erscheint bei Sobolevekii (1888) die Einheitlichkeit der „russisı (groß-, klein- und weißrussischen) Nation und Sprache als ein anthropo ogisch und linguistisch fest- stehendes Axiom. Später (1907) wagt er zwar nicht mehr, die Anthro- pologie für seine These anzurufen, aber an der sprachlichen Einheit hält er fest. Jagić ließ das Ukrainische nur in Österreich, wo es öffentliche Rechte hatte, als Sprache gelten, in Rußland dagegen war dieselbe Sprache ihm trotz der namhaften Literatur nur ein Dialekt, weil es eben dort keine öffentlichen Rechte hatte, vielmehr selbst die schöne Literatur direkt verboten wurde. Übrigens auch Jagić behauptete (1898) folgendes: „Dab alle russischen Dialekte gegenüber den übrigen slavischen Dialekten . , ein Ganzes bilden... das bildet unter Sprachforschern keine Streitfrage“ =~ dies in einer Arbeit, die „Einige Streitfragen“ betitelt ist. Kulbakin (1913) läßt selbst Kaschubisch und Slovakisch eigenen urslavischen Mundarten enisprießen; das Ukrainische kennt er aber nur als eine der drei Haupt- mundarten des „Russischen“. Dasselbe selbstverständlich auch Vondräk.

Ein solches Axiom hat sich also die Slavistik zu eigen gemacht. Dem- gemäß wurde das Ukrainische in der Slavistik nur noch als Dialekt berück- sichtigt und abgetan. Und da ich in meiner Grammatik der ukrainischen Sprache (1913) dagegen anzukämpfen wagte und forderte, daß die Gruppen- theorie überprüft und die Ansichten über die Stellung des Ukrainischen innerhalb der slavischen Sprachen korrigiert werden mögen, wurde ich zum Ketzer gestempeli. Das Dogma wurde für unfehlbar erklärt. Es wurden mir sogar von Sachmatov, der, offenbar durch meine Grammatik veranlaßt, nunmehr als der größte Streiter für die russische Einheit erschien (1914, 1915, 1916), in feiner Weise unlautere Motive zugemutet. Nun ist aber seit- her diese Einheit, nämlich die politische, um die es sich sagen wir es aufrichtig offenbar handelte, tatsächlich in Brüche gegangen, die ukra- inische Sprache ist Staatssprache geworden, es erstand die Ukrainische Akademie der Wissenschaften. Da dürfte es wohl für die Slavistik viel leichter sein, auch die Frage der genetischen verwandischaftlichen Be- zichungen des Ukrainischen zu allen slavischen Sprachen, speziell zum Russischen, einer Überprüfung zu unterziehen und die irrtümlichen Ansichten zu korrigieren, um so mehr, als ich seither noch einige Beiträge zur Klärung dieser Frage beigesteuert habe. Ich freue mich auch feststellen zu können, daß in slavistischen Arbeiten der lebten Zeit eine gewisse Ernüchterung merklich ist. Wichtig ist aber der Umstand, daß die slavistischen Arbeiter in der Ukraine, die zumeist als mittelbare und unmittelbare Schüler Sach- matovs im Banne seiner Lehre standen, nunmehr sich kritisch ihr gegen- überstellen und sich bereits von vielen Irrtiimern lossagten. Wir wollen hoffen, daß durch intensivere Arbeit der Ukrainer selbst die Frage der Stellung des Ukrainischen innerhalb der slavischen Sprachen bald zur

26 NF 5 597

vollen Klarheit gebracht werden wird. Wir wollen hoffen, daß die schöpfe- rische Kraft der ukrainischen Nation, zu neuem Leben geweckt, den ukra- inischen Geist, wie im 16. und 17. Jahrhundert, in seiner eigentlichsten Wesenstiefe wieder einmal enthüllen wird. Es wird dies um so leichter geschehen, da gewisse, früher bestandenen Hemmungen für alle entfallen sind. Es wird dies auch für die Slavistik von ganz besonderem Nutzen sein. Denn die ukrainische Sprache ist doch die Sprache des zweitgrößten slavischen Volkes, die von rund vierzig Millionen, und zwar in der Mitte des slavischen Sprachgebietes und in der mutmaßlichen Urheimat der Slaven gesprochen wird. Sie ist deshalb für die geschichtliche und ver- gleichende Erforschung der slavischen Sprachen ganz besonders wichtig. Sie blickt auf jahrhundertelange, ganz eigenartige Entwicklung als Schrift- sprache zurück. Ihr gründliches Studium wird für die Slavistik gewiß segenbringend sein. ,

Nach dem Gesagten brauche ich kaum zu betonen, daß es sich bei meinem Kampf um die Anerkennung des Ukrainischen als selbständige slavische Sprache keineswegs um eine gewöhnliche Prestigeangelegenheit, noch ewa um die Rangerhebung cines Dialckis zur Sprache handelt. Die Sache geht viel tiefer. Es handelt sich um die richtige oder vielmehr rich- tigere theoretische Erkenntnis der Sprachentwicklung, der Sprachgeschichte, des eigentlichen Wesens der Sprache überhaupt, um die Sprachphilosophie. Es handelt sich darum, daß die Slavistik sich die neuesien Erkenninisse und Errungenschaften der Sprachwissenschaft zunutze macht und sie bei sich zur Geltung bringt. Es handelt sich hier speziell um die richtigere Vor- stellung vom Leben des Urslavischen und dessen Entwicklung in einzelne slavische Sprachen. Hierin liegt also abgesehen von der ersten slavisti- schen Arbeit Smotryckyjs dic fundamentale Bedeutung des Ukrainischen für die Slavistik, weil der theoretische Streit sich eben um das Ukrainische dreht, und weil er geeignet ist, sie auf neue Bahnen zu leiten.

Mit dieser geläuterten Erkenninis möge die Slavistik nun, unter besse- ren Auspizien für ihre Forschung ins zweite Jahrhundert ihrer Entwicklung tretend, die schönsten Erfolge erzielen.

598

II LITERATUR BERICHTE

NEUERE UKRAINISCHE WISSENSCHAFTLICHE LITERATUR ZUM DEKABRISTENAUFSTANDE

Von Dr. J. Lo ss k y (Berlin).

Das hundertjährige Jubiläum des sog. Dekabristenaufstandes hat, wie bekannt, eine reiche Literatur auf dem ganzen Gebiet der Sovjetunion hervorgerufen, die mit jedem Jahre umfangreicher wird. Wir möchten hier eine kurze Übersicht der wichtigsten Literatur, die anläßlich des Dezemberaufstandes in der ukräinischen Sprache er- schienen ist, geben. Obwohl quantitativ die Ukraine hier mit der R. S. F. R. nicht wetteifern kann, ihrer wissenschaftlichen Bedeutung nach räumen dieser Literatur sogar die strengen russischen Kritiker einen ehrenvollen Platz ein. (Vgl. z. B. den Aufsaß v. M. V. Néckina „Die ukrainische Jubilaumsliteratur über die Dekabristen“, in „Istorik- Marxist“ 1927, 1.)

Wir kommen in erster Linie auf die drei größeren Sammelschrif- ten zu sprechen, die von der A. d. W. in Kiev, vom Ukrainischen Zentralarchiv in Charkov und von dem Lehrstuhl zur Erforschung der ukrainischen Geschichte daselbst herausgegeben worden sind.

Die erste von ihnen (Die Dekabristen in der Ukraine, hrsg. v. der Ukr. A. d. W., Red. v. S. Efremov und V. Mijakovs’kyj. Kiev 1926. 206 S.) beginnt mit dem Aufsatz des bekannten Literaturhistorikers S. Efremov „Von der Legende zur historischen Wahrheit“. Verf. hebt hier die bedeutende Rolle, die in der gesamten revolutionären Be- wegung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. dem Süden, d. h. der Ukraine zufällt, hervor. Die öffentliche Meinung interessierte sich bis jetzt mehr für die effektvolle Szene, die am 14. Dezember 1825 auf dem Senatsplak in Petersburg sich abspielte, und vergaß dabei den zweiten Akt der Revolution den Aufstand des Cernihover in Va- silkov im Kiever Gouvernement stationierten Regimentes (Ende De- zember 1825), unter Führung eines der hervorragendsten Dekabristen- Führers S. Murav’ev-Apostol. In der Ukraine hatten ihren Sif zwei geheime Gesellschaften die „Südliche“, an deren Spike der Verfasser

599

der „Russischen Pravda“ Pestel stand, und die „der vereinigten Slaven“, welcher meistenteils die nicht titulierten, aus ärmeren, ja sogar aus bürgerlichen Kreisen stammenden Offiziere angehörten. Dieser Um- stand bedingte den demokratischen und radikalen Charakter der „Slaven“ im Gegensatz zu den aristokratischen Nördlichen und Süd- lichen Gesellschaften. Nach Meinung des V’s. entstanden diese ge- heimen Gesellschaften aus den früheren Freimaurerlogen, von denen die bedeutendste in der Ukraine die „der vereinigten Slaven“ war, zu deren Mitgliedern die zukünftigen Führer der Dekabristen, wie die Fürsten Volkonskij und Trubeckoj, der Pole Graf Olizar und die ukrainischen Autonomisten wie V. LukaSevyé zählten. Der lektere, als ukrainischer Patriot bekannt, sollte der Verfasser des „Ukraini- schen Katechismus“ sein, er war auch der Führer der sogenannten „Kleinrussischen Gesellschaft‘, die die Emanzipation der Ukraine an- strebte. Verf. findet einen gewissen, wenn auch nur ideologischen Zusammenhang der Loge „der vereinigten Slaven“ mit der gleich- namigen geheimen Gesellschaft, deren Mitgliedern, wie gesagt, eine bedeutende Rolle in dem Dezemberaufstand in der Ukraine zufiel. Das Programm dieser Gesellschaft soll, wie eines ihrer Mitglieder, Gorbaéevskij, in seinen Memoiren angibt, einen panslavistischen Charakter gehabt haben. Die Zukunft der slavischen Völker dachten sich die Mitglieder der Gesellschaft als eine Föderation slavischer Republiken. Die weitere Entwicklung dieser Ideen finden wir 20 Jahre später bei der Cyrillo-Methodischen Gesellschaft, die einen aus- gesprochen national-ukrainischen Charakter hatte und der die her- vorragendsten ukrainischen Schriftsteller Sevéenko, Kuliš und Kostomarov angehörten. Alles das berechtigt uns dazu, die ukrai- nischen Dekabristen als Vertreter der ukrainischen nationalen Be- wegung zu betrachten.

In derselben Sammlung finden wir die ukrainische Übersetzung einer, für die Geschichte des Aufstandes des Cernihover Regimentes sehr wertvollen Quelle, und zwar die Übersekung des Tagebuches eines Augenzeugen des Gutsbesitzers l. Rulikowski. Im Zusam- menhang damit steht eine biographische Skizze über Rulikowski v.L. Dobrovol’Skyj.

Es wäre noch der Aufsatz v. Olga Bahalij über die Rolle, die in dem Dezemberaufstand in der Ukraine der Soldatenmasse zufiel, zu erwähnen. In erster Linie kommt sie auf die revolutionäre Pro- paganda, die unter den Soldaten von den aufständischen Offizieren, hauptsächlich den Mitgliedern der Gesellschaft der vereinigten Slaven, betrieben wurde, zu sprechen. Weiter behandelt sie die Stimmun- gen, den Widerhall, den der Aufstand später unter den Soldaten gefunden hat.

Den weiteren Inhalt des Bandes bilden kleinere Aufsätze: von Basylevyé über den Schaden, welchen der Aufstand der Bevölkerung brachte, v. L. Dobrovol’Skyj über die Deportation der Soldaten, die am Aufstande teilgenommen haben, nach dem Kaukasus, eine ver-

400

gleichende literarische Studie v. Fylypovy&; „Ryleev und DerZavin", und noch einige kleinere Artikel.

Es wären noch zu erwähnen aus demselben Bande Publikationen von Dokumenten: so 3 Briefe an den Obersten L. O. Dubelt von der Schwester seiner Frau, publiziert von V. Gancova-Bernikova, Briefe der Generäle Séerbatov und Tal über den Aufstand des Cernihover Regimenis; von gewissem Interesse sind die Aussagen zweier Sol- daten, die während des Aufstandes des Cernihover Regiments von Murav&v-Apostol mit dem Fahnrich Mozalevskij nach Kiev gesandt waren, um dort den von Muravév verfaßten Katechismus zu ver- breiten; Aussagen eines Unteroffiziers des aufständischen Regi- mentes, schließlich ein bis jetzt nicht veröffentlichter Brief des Mit- gliedes der Gesellschaft der Vereinigten Slaven, I. I. Suchinov an den Caren und ebenso zum ersten Male erscheinende Aussagen des Obersten V. Tiezenhausen über seinen Eintritt in die geheime Ge- sellschaft.

Die zweite der genannten Sammelschriften, die vom Lehrstuhl zur Erforschung der Geschichte der ukrainischen Kultur in Charkov unter dem Titel „Aufstand der Dekabristen in der Ukraine“ heraus- gegeben wurde, beginnt mit einem Aufsag von M. JavorSkyj „Die Grundlagen des Dekabrismus in der Ukraine“. Als Marxist versucht Verf. den Dezemberaufstand auf Grund der Klassen- und Wirt- schaftsverhalinisse zu erklären; auf diese Weise ukrainisiert er, wenn man sich so ausdrücken darf, das Schema, das bereits von M. Pokrovskij in der „offiziellen“ russischen Geschichtsschreibung eingeführt ist. Dabei gerät er in die üblichen Widersprüche, die jedem begegnen, der einen komplizierten historischen Vorgang in den orthodox-marxistischen Rahmen hineinzuzwängen bestrebt ist.

Den wertvollsten Teil dieser Veröffentlichung bildet der von L. Dobrovol’Skyj verfaßte Aufsaßz „Der Aufstand des Cernihover Regiments“. Hier ist zum ersten Male eine ausführliche, zum größten Teile auf neues Material gestüßte Geschichte der kühnen Tat des S. Murav&v-Apostol und seiner nächsten Freunde dargestellt. Eine wertvolle Ergänzung zu dem Aufsak v. Dobrovol’Skyj bietet der dritte und letzte Aufsatz dieser Sammelschrift von O. Bahalij-Tatari- nova unter dem Titel „Die Teilnehmer des Aufstandes des Cernihover Regiments vor dem Militärgericht in Mohilev“, in dem das weitere Schicksal eines Teiles der Offiziere und Soldaten, die an dem Auf- stande teilnahmen, geschildert wird.

Die dritte der von uns erwähnten Sammelschriften ist vom Ukrainischen Zentralarchiv in Charkov herausgegeben worden. Die Redaktion und Einleitung gehört dem Akademiker Bahalij. Den zweiten, größeren Teil dieser Sammlung bilden die von V. Mijakov- Sky}, V. Basylevyé und L. Dobrovol’Skyj publizierten Dokumente aus dem Kiever Zentralarchiv über den Aufstand des Cernihover Regi- ments, mit einer Einleitung von V. MijakovSkyj. Der erste Teil des Buches beginnt, wie gesagt, mit einem Einleitungsartikel vom Aka- demiker Bahalij: „Über die Genese der Dekabristenbewegung“. Verf.

401

gibt darin eine Analyse der damaligen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die seiner Meinung nach den Grund für die allgemeine Unzufriedenheit mit dem herrschenden Regime bildeten und schließ- lich mit einem Versuch, dieses Regime zu stürzen, endeten. Dabei sieht Verf. in den ukrainischen nationalen Bestrebungen einen der Gründe, die den Aufstand verursachten, obwohl er den lefteren keine so wichtige Rolle zumutet, wie es der Akademiker S. Efremov in dem von uns zuerst besprochenen Artikel getan hat. Ebenso wie andere Forscher, hebt auch Verf. die Gesellschaft der „Vereinigten Slaven“ hervor, in der er einen wirklichen Demokratismus und Revo- lutionismus, im Gegensaf zu anderen geheimen Gesellschaften, sieht.

Aus der Sammelschrift des Zentralarchivs wären weiter folgende Artikel zu erwähnen: Die Studie v. Rjabinin Skljarevskyj über die geheimen Gesellschaften im Süden der Ukraine in der Zeit des De- zemberaufstandes. Es liegen hier die Materialien des historischen Archivs in Odessa zugrunde. Odessa mit seinem regen Verkehrs- leben war damals ein geeigneter Boden für verschiedene geheime Ge- sellschaften, in welchen alle mit dem damaligen russischen „status quo“ unzufriedenen Elemente ihre Zuflucht fanden. Verf. schildert hier die Freimaurer, die Angehörigen der griechischen Hetärie, die sog. Filareten [Mitglieder der polnischen Gesellschaft der Filareten, von denen ein Teil nach der Auflösung der Gesellschaft durch die russische Regierung nach Odessa verbannt war, und die „Frei- denker“). Besonders was das südliche Freimaurertum anbelangt, steht hier viel Wertvolles und Neues; ebenso werden hier manche interessante Tatsachen über die Filareten, denen ja auch Mickie- wicz angehörte, erwähnt. Demselben Verf. gehört hier ein Aufsab über den Aufstand des Cernihover Regiments und die Publikation eines Gedichtes vom Dekabristen Bobri$tev-Pu3kin, das von ihm 1827 in Sibirien geschrieben wurde.

E. Trefiljev und V. Straten geben einen Auszug aus dem Ma- terial über den Dekabristenaufstand aus dem Archivfonds des Ge- neralgouverneurs von Novorossijsk; aber unter diesem Material ist, wie es der Redakteur der Sammlung in seiner Einleitung selbst zu- gibt, wenig von Bedeutung. Unter den kleineren Aufsätzen der Sammlung des Zentralarchivs finden wir einen Aufsak von V. Basy- levyé, in welchem Verf. Einzelheiten aus dem Leben einiger De- kabristen nach ihrer Amnestierung unter dem Caren Alexander Il. behandelt; weiter ein Aufsatz von Bahalij über den Widerhall, den der Dezemberaufstand in Charkov fand. Wir finden schließlich in dieser Sammlung zwei Briefe des Fürsten Volkonskij und seiner Frau an die Mutter Volkonskijs, publiziert von A. Kozacenko, und einen Brief des Kurators des Charkover Schulkreises an den Caren.

In einer Reihe mit den genannten Sammelbänden muß man auch das 5. Heft der Zeitschrift „Ukraina“ v. J. 1925 erwähnen, welches fast ausschließlich dem Dezemberaufstand gewidmet ist. In seiner kurzen Einleitung zu diesem Hefte hebt der Redakteur der Zeitschrift, Akademiker M. HruSevSkyj, die wichtigste Aufgabe hervor, die, seiner

402

Meinung nach, vor der weiteren Erforschung der Quellen: des ukrai- nischen Dekabrismus steht. Diese Aufgabe soll darin bestehen, die richtige Lösung für die Frage zu finden, inwiefern der Dezember- aufstand mit der nationalen ukrainischen Bewegung im Zusammen- hange steht. „Ukrainische Dekabristen oder bloß Dekabristen in der Ukraine“ so wird diese Frage von HruSevSkyj formuliert. In dem gleich auf die Einleitung folgenden Aufsak von I. Rybakov „Das Jahr 1825 in der Ukraine“ wird diese Frage negativ gelöst, indem Verf. dem nationalen Moment, obwohl das national-politische Selbst- bewußtsein bei dem ukrainischen Adel stark entwickelt war, eine etwaige Rolle in den Dezembervorgängen abspricht. „Die Führer der Dekabristen in der Ukraine blieben immer Vertreter der all- russischen revolutionären Jugend der Zeit.“ Rybakov leitet weiter die Genesis des Dezemberaufstandes von dem Standpunkte des historischen Materialismus ab, indem er zu beweisen versucht, daß die wichtigste Ursache des Aufstandes der wirtschaftliche Antagonis- mus zwischen dem Landadel und dem staatlichen bürokratischen System, das auf das wirtschaftliche Gedeihen des ersten hemmend wirkte, war.

In weiterem Aufsage von O. Hermajze „Die Dekabristen- bewegung und das Ukrainertum“ befaßt sich Verf. mit dem von HruSevSkyj gestellten Problem über das Verhältnis zwischen dem Aufstande und der nationalen Bewegung. Dabei hebt er, wie auch viele andere, besonders die schon erwähnte „Gesellschaft der ver- einigten Slaven“, in deren Mitgliedern er die Vertreter der ukrai- nischen revolutionären Intelligenz sieht, hervor.

Dem Aufsake v. Hermajze folgen einige Dokumente anläßlich der Verhaftung Alekseev’s, des Adelsmarschalls von Katerynoslav, dem die Mitgliedschaft in der bereits erwähnten „Kleinrussischen Gesell- schaft“ vorgeworfen wurde, veröffentlicht von T. Slabéenko. V. Mija- kovSkyj gehören drei kleinere Aufsätze: über Fournier und die Fa- milie RaevSkyjs, über den Widerhall, den die Hinrichtung Ryleevs in der Öffentlichkeit in Charkov und Kiev gefunden hat, und schließlich ein vom Verf. gefundenes Verzeichnis der Personen, die im Zusam- menhange mit dem Dezemberaufstand im Kiever Gouvernement ver- haftet wurden größtenteils Angehörige der polnischen geheimen Gesellschaft. Daselbst finden wir eine Skizze von L. Dobrovol’Skyj über das Echo, das der Dezemberaufstand in den ukrainischen Volks- liedern fand, und schließlich Eindrücke über Tuléyn, das ehemalige Stabsquartier der Südlichen Gesellschaft, von A. Popov.

Mit den erwähnten drei Sammelschriften und der Sondernummer der „Ukraina“ wäre das Wichtigste, was in ukrainischer Sprache über den Dezemberaufstand erschienen ist, erschöpft. Wir erwähnen hier noch die Broschüre von Basylevy& „Die Dekabristen im Kiever Gou- vernement“ (Kiev 1926). Anläßlich des Jubiläums des Dekabristen- aufstandes erschienen in den Zeitschriften viele Aufsätze, die aber meistenteils populären Charakters sind. Einige kürzere, dem De- kabrismus gewidmete Artikel finden wir in der Sammelschrift zu

405

Ehren Bahalijs, darunter eine bibliographische Notiz von Dobrovol'- $kyj uber die neuere Literatur über den Dekabrismus im Süden. Wir schließen unsere Übersicht mit der Erwähnung einer wertvollen literarischen Skizze von Fylypovyé „Ševčenko und Dekabristen“, Kiev 1926, über die Nachklänge des Dezemberaufstands in den Werken des Dichters.

404

DIE LITERATURGESCHICHTE IN DER UKRAINE

Von Dr. M. Hnaty3ak (Berlin).

Als charakteristisches Merkmal der ukrainischen Literatur- geschichte ist das große Übergewicht der die älteren Perioden der Literatur behandelnden Arbeiten hervorzuheben. Das Schrifttum des 10.—17. Jahrh. wurde ausführlicher wissenschaftlicher Bearbeitung unterworfen. Die grundlegenden Studien hervorragender ukraini- scher), russischer?) und anderer Gelehrten?) trugen viel zur ziemlich genauen Kenntnis und zeitgemäßen wissenschaftlichen Beherrschung der älteren ukrainischen Literatur bei. Es entstand dabei, besonders in den Arbeiten gewisser russischer Forscher, manche tendenziose Entstellung, manches hartnäckige Vorurteil aber im ganzen kann die ukrainische wissenschaftliche Literatur auf diesem Gebiete viel Beachtenswertes und Gutes verzeichnen.

Im Gegensab zum älteren Schrifttum war die neuere ukrainische Literatur des 18. und besonders des 19.—20. Jahrh. in wissenschaft- lichen Kreisen stiefmütterlich behandelt. Die wenigen Arbeiten, welche dieses Thema synthetisch zu erfassen versuchen, sind meistenteils recht fehlerhaft und unzureichend. Abgesehen von den ersten, sporadischen Versuchen, die Übersicht der neueren ukrainischen Li- teratur in einzelnen Zeitschriftenartikeln zu geben, ist als erstes

wissenschaftliches Werk auf diesem Gebiete die Arbeit N.Petrovs °

„Abriß der Geschichte der ukrainischen Literatur des 19. Jahrh.“) zu betrachten. Die solide, das ziemlich vollständige Material der ukrai- nischen schönen Literatur vom Ende des 18. Jahrh. bis zu den 80er Jahren beherrschende Arbeit litt aber unter der unrichtigen Ein- stellung des Verfassers gegenüber den Tatsachen. Petrov wollte die sämtliche neue ukrainische Literatur in ein der Entwicklung der neuen russischen Dichtung analoges Schema hineinzwängen und machte durch solches Anpassen der Tatsachen an seine aprioristischen An-

1) z. B. M. Kostomarov, I. SreznevSkyj, O. OhonovSkyj, M. Drahomanov, M. Sumcov, M. HruSevSkyj, O. Kolessa, V. Pere, I. Franko, B.Lepkyj u. v. a.

2) z. B. E. Aniékov, Th. Buslajev, A. Galachov, E. Golubinskij, V. Ikonni- kov, N. Kelfujala, A. Pypin, A. Sobolevskij, A. Sachmatov, N. Tichonravov u. V. a.

3) z. B. A. Brückner, V. Jagić u.v.a. Die ausführliche Literatur im : pias a M. Vozfak: Istorija ukrajinskoji literatury. Lemberg 1920.

4) N. Petrov: Oéerki istoriji ukrajinskoj litératury 19. stol. Kiev 1884.

405

sichten seine Arbeit wissenschaftlich unzulanglich. Diesen Fehler Petrovs berichtigte durch Hinweise auf andere, nichtrussische Fak- toren, welche den Entwicklungsgang der ukrainischen Literatur be- einflußt haben, N. DaSkevyé in seiner Rezension über das Werk Petrovs, die sich zu einer selbständigen, die Arbeit Petrovs in jeder Hinsicht iibertreffenden Studie über die neue ukrainische Literatur ausgestaltete®). Eine umfangreiche Zusammenstellung des Materials gab daraufhin O. OhonovSkyj in seiner „Geschichte der ruthe- nischen Literatur“). Dieser großen und bibliographisch sehr wert- vollen Arbeit fehlt aber die historische Einstellung, sie kann als Literaturgeschichte nicht in Anspruch genommen werden. Sie bleibt vielmehr, allen Bemühungen des Verfassers zum Troß, nur ein fast unerschöpflicher Behälter der in unrichtiger Perspektive ge- zeigten literarischen Tatsachen.

Mit diesen drei großen Arbeiten ist das Wertvollste, was in ukrainischer Wissenschaft des 19. Jahrh. an zusammenfassenden Dar- stellungen der neueren ukrainischen Literatur geleistet wurde, er- schöpft. Alle übrigen, verhältnismäßig zahlreichen Übersichten und Darstellungen”) können in dieser kurzen Übersicht nicht berücksichtigt werden.

Im 20. Jahrh. gaben die erwähnenswertesten Arbeiten l. Franko und S. Jefremov. Der erstere veröffentlichte im Jahre 1910 in Lemberg seinen „Abriß der Geschichte der ukrainisch-ruihenischen Literatur bis zum Jahre 1890“), welcher eine gute, aber nicht immer von allzu subjektiven und kategorischen Werturteilen des Verfassers und von polemischem Geiste freie Übersicht bietet. Die popularste ukrainische Literaturgeschichte ist das Werk von S. Jefremov „Geschichte der ukrainischen Literatur‘), welches aber mittels einseitiger, soziolo- gisch-publizistischer Methode bearbeitet ist und deshalb die Ent- wicklung der rein literarischen Eigenschaften, die schließlich bei der Behandlung der schönen Literatur doch das Wichtigste sein sollien, außer acht läßt. In den lebten Jahren erschien endlich auch eine beträchtliche Anzahl guter Übersichten zum Volks- und Schulgebrauch, geschickt zusammengestellier Chrestomatien und kurzer Konspekte

6) N. DaSkevyé: Otzyv o sočiněniji g. Petrova: Oéerki istoriji ukr. lit. 2 57 =, m »Otéet o 29. prisužděniji nagrad gr. Uvarova“, Petersburg 1888.

5i ns O. OhonovSkyj: Istorija literatury ruskoji. 6 Bände, Lemberg 1887 is

7) wie z. B. in Pypin-Spasovils „Istorija slavjanskich lit&ratur“, 2. Aufl., Petersburg 1879, I. Band, S. 357—447; in „Istorija vs&mirnoj lit&ratury“, 1881, III. Band; in Herbels „Poezija slavjan“, 1871, S. 157—186, und viele andere Arbeiten, besonders aus den 90er Jahren.

8) I. Franko: Narys istoriji ukrajinśko-ruśkoji literatury do 1890 roku. Lemberg 1910.

) S. Jefremov: Istorija ukrajinśkoho pySmenstva, 3. Aufl. Kiev 1917, 4. Aufl. in 2 Bänden Leipzig 1924.

406

der Literaturgeschichte**), die selbstverstandlich nur wenig zur Be- reicherung der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete bei- getragen haben. Wenn wir also die rein wissenschaftliche Seite der bisherigen zusammenfassenden Darstellungen der neueren ukraini- nischen Literatur betrachten, müssen wir ihre Unzulänglichkeit kon- statieren. Im Vergleich mit der älteren Literatur ist die neue Periode viel zu wenig wissenschaftlich bearbeitet.

Diese anomalen und von der heutigen Einstellung des mensch- lichen Geistes auf alles Aktuelle, Moderne so grell abstechenden Zustände werden, leider, auch von der augenblicklichen Lage auf diesem Gebiete bestätigt. Die zwei besten neuen Werke aus dem Bereiche der Geschichte der ukrainischen Literatur behandeln wieder nur den Zeitabschnitt vom 10. bis zum 17. Jahrh. und es gibt, leider, wenig Aussichten auf die Fortsekung dieser groß angelegten Arbeiten bis ins 19. und 20. Jahrh. Der obengenannte Mangel im Stofflichen wird hier aber wenigstens durch die modernen Meihoden der For- schung und Darstellung wetigemacht so daß diese Werke durchaus interessant und aktuell sind. Ich spreche von den Arbeiten von M. Vozfiak und M. HruSevSkyj. |

Die bis jetzt dreibändige „Geschichte der ukrainischen Litera von M. Vozňak“) gibt eine sehr instruktive, vollständige und in den ersten zwei Bänden auch übersichtliche Darstellung der älteren ukrainischen Literatur. Den äußerst praktischen, kurzgefaßten Vorbemerkungen über die Ukraine, ihr Volk, dessen Geschichte und Sprache folgt im I. Bande die ausführliche Übersicht des Schrifitums bis zum Ende des 15. Jahrh.; das ungeheuere Material ist in folgende, sich organisch aus den Tatsachen. ergebende Gruppen eingeteilt: 1. Die Grundlagen der alien Periode der ukrainischen Literatur (hauptsächlich das Christentum, die alibulgarische Literatur usw.). 2. Die Übersekungsliteratur. 3. Die originelle religiöse Literatur. 4. Die geschichtlichen Chroniken (welche auch als eine Sammlung des sehr wertvollen alten poetischen und belletristischen Materials in Betracht kommen). 5. Die Poesie (hauptsächlich die Analyse des Heldenliedes über den Feldzug lhors). Der 6. Abschnitt schildert den Verfall des literarischen Lebens in der Ukraine im 14.— 15. Jahrh.

Der II. Band behandelt in einer, in zusammenfassender Arbeit seltenen Ausführlichkeit die literarische Wiedergeburt der Ukraine im 16. Jahrh. Die großen Abschnitte sind der nationalen Wieder- belebung in der unter Polenherrschaft verbleibenden Ukraine und in ihren kulturellen Zentren (Ostroh, Lemberg, Kiev), dem Eindringen der neuen westeuropäischen geistigen Strömungen in die Literatur, der literarischen Polemik zwischen den orthodoxen Ukrainern und

10) z. B. neue Auflagen der sehr populären Literaturgeschichte und Chrestomatie von Barvinskyj, weiter Arbeiten von DoroSkevyé, eine eigen- artige Chrestomatie mit Anger der wissenschaftlichen Literatur über jeden Autor von Plevako, Konspekte von Radzykevyé, Sulyma usw.

11) M. Vozitak: Istorija ukrajinskoji literatury. 3 Bände, Lemberg 1920, 1921, 1924.

407

den Anhängern der Union mit dem Katholizismus, und der Kiever Scholastik gewidmet.

Im umfangreichsten Ill. Bande endlich finden wir eine vollstän- dige, aber ziemlich chaotische und durch ihre Ignorierung der chrono- logischen Reihenfolge verwirrende Darstellung des Schrifttums des 17. und 18. Jahrh. Das Material wird hier nicht dem historischen Entwicklungsprinzip gemäß, sondern nach den literarischen Arten behandelt. Diese manchmal sehr empfehlenswerte, aber gerade im vorliegenden Falle, angesichts der Buntheit und Ungleichmäßigkeit des in Frage kommenden literarischen Materials dieser zweier Jahr- hunderte, unpraktische Art der Darstellung führt zum Verlust des Bewußtseins der historischen Zusammenhänge, so daß dieser Band in wissenschaftlichem Sinne der schwächste ist. Die einzelnen Ab- schnitte behandeln: das ukrainische Material und die ukrainischen Schriftsteller im Dienste der Literaturen der Nachbarvölker, weiter die Belletristik (hauptsächlich die Ritterromane), das Schuldrama, die Anfänge der Komödie, die humoristische, parodistische, satirische und realistische Dichtung (die Weihnachts- und Ostergedichte, Ne- kraSevyé, Lobysevyé usw.], die religiöse und weltliche Lyrik, das nationale historische Schrifttum und endlich das historische Volks- lied und die Kosakendumen. Die Fülle des gesammelten und aus- führlich behandelten Materials trägt dazu bei, daß auch dieser Band der Arbeit Vozfaks, troß der methodischen Unzulänglichkeit, eine wesentliche Bereicherung der diesbezüglichen wissenschaftlichen Literatur bedeutet.

Jedem Bande sind praktische synchronistische Tabellen, sehr ausführliche Verzeichnisse der Literatur des Gegenstandes und gute Namen- und Sachregister beigefügt. Das ganze Werk verrät pein- liche, philologische Genauigkeit und das Streben zur Vollständigkeit, so daß diese sonst lobenswerten Eigenschaften manchmal sogar die Ubersichtlichkeit der Darstellung beeinträchtigen und das große Ma- terial in etwas schiefen Perspektiven darlegen.

Obzwar das Werk Voziiaks mit Hilfe der neuen wissenschaft-

lichen Methoden bearbeitet wird, liegt ihm doch das traditionelle alte Schema der Literatur, ihrer Einteilung in bestimmte Perioden und ihrer Bearbeitung zugrunde. Einen Umsturz auch in diesen Be- ziehungen bedeutet aber die bis jet fiinfbandige „Geschichte der ukrainischen Literatur“ von M. Hru3ev$kyji). Der Verfasser, welcher zugleich der bedeutendste ukrainische Historiker der Gegen- wart ist, legt alle fertigen Schemen ab und versucht, auf Grund der neuesten westeuropäischen theoretischen Errungenschaften auf dem Gebiete der Literaturwissenschaft, das Material in gänzlich neuer Weise einzuordnen und zu beleuchten. Das entscheidende Novum, welches HruSevSkyj nicht nur für die ukrainische Wissenschaft, sondern einigermaßen auch für die Literaturforschung überhaupt

12) M. HruSevSkyj: Istorija ukrajinSkoji literatury. Bände I- lll, Lemberg 1923; Bände IV, V/ 1 und V/2, Kiev 1925, 1926, 1927

408

bringt, ist die parallele Bearbeitung des folkloristischen und literarischen Materials, welches der Verfasser als ein organisches Ganzes auffaßt und in seinen Wechselwirkungen einheitlich behandelt. So geschieht es, daß diese „Literatur“-Geschichte (eigentlich Dich- tungsgeschichte) mit bedeutend früheren Zeiten als die bisherigen Geschichten des Schrifttums anfängt.

Im I. Bande gibt der Autor, unterstützt von den neuesten theo- retischen Resultaten der Anthropologie, der Ethnographie und der Philologie, das Bild der primitiven Anfänge der Kunst und der all- mählichen Absonderung der Dichtkunst von dieser synkretischen Urkunst. Weiter finden wir in diesem Bande eine sehr feinsinnige und sireng wissenschaftliche, mittels der Analyse des vorhandenen folkloristischen Materials erreichte Rekonstruktion der ältesten Schichten der ukrainischen Volkspoesie. Diese zerfällt bei ihm in die älteste Poesie der gemeinsam-slavischen Epoche und der ersten Zeiten nach der Abtrennung vom slavischen Stamme und in die schon viel differenziertere und lebendigere Poesie der Epoche der Steppenkultur und der Anfänge der Kiever Staatlichkeit. Die größten Überreste dieser beiden ersten Perioden der ukrainischen Dichtung erhielten sich hauptsächlich in den alten Gebeten, magischen Formeln, Trauerliedern und in der sehr verbreiteten und beachtenswerten rituellen Poesie. Der wissenschaftlichen Darstellung dieser dichte- rischen Formen und Inhalte ist der größte Teil dieses ersten Bandes gewidmet. Ein besonderer Abschnitt behandelt die ältesten Schichten in der Prosadichtung.

Erst im Il. und Ill. Bande finden wir das, was wir bis jet fur die Anfänge der ukrainischen Literatur zu halten gewohnt waren, und zwar die Geschichte des Schrifttums der Kiever und der Galizisch- Wolhynischen Fürstenepoche (10.— 14. Jahrh.). Aber auch hier weicht die Darstellungsweise sehr stark von der bis jest üblichen Art ab. Nach der gründlichen Behandlung der Rolle des Christentums im Entstehungs- und Entwicklungsprozesse des ukrainischen Schrifttums berührt der Verfasser flüchtig die kirchliche Ubersekungsliteratur und geht zur gründlichen Würdigung des originellen Schrifttums des 11. und 12. Jahrh. über. Manche veraltete Ansicht wird korrigiert, manche literarische Erscheinung in neuem Lichte gezeigt. Weiter sehen wir, als Übergang zur Darstellung der Literatur des 12. bis 13. Jahrh., die gründliche Würdigung des berühmten Heldenliedes über den Feldzug Ihors. Die Hauptmasse des dichterischen Materials dieser Zeit sieht der Verfasser in den altukrainischen Chroniken, in welchen sehr viele Überreste des Heldenepos, der Heldensagen und Ritterromane zersireut sind. Hier finden wir die erste diesbezüg- liche genaue Analyse aller wichtigeren altukrainischen Chroniken. Es folgt der Überblick des ganzen übrigen, schon von früher wohl- bekannten literarischen Materials des 12., 13. und 14. Jahrh.

Der umfangreichste IV. Band ist der Helden- und Volksdichtung der Fürstenepoche und der weiteren Übergangsperiode bis zum 17. Jahrh. gewidmet. Der Verfasser sondert hier aus der Volks-

409

dichtung die heroischen Elemente der Fürstenepoche und die christ- lichen Schichten der religiösen Sage ab. So finden wir hier die ebenfalls erste vom ukrainischen literarischen Standpunkte vor- genommene wissenschaftliche Analyse des in Rußland erhaltenen altukrainischen Heldenepos (byliny). Besonders lehrreich ist auch die Absonderung der christlichen dichterischen Elemente in der ukrainischen Volkspoesie.

Im V. Bande endlich sehen wir die Übersicht des Schrifttums vom Ende des 14. Jahrh. bis zum Jahre 1610. Die neue, lebendige Auffassung der ukrainischen Literatur wirkt sich hier in der Negie- rung der bis jest üblichen Ansicht, daß die Epoche vom 14. bis zum 16. Jahrh. für die ukrainische Literatur die Zeit des unbedingten Ver- falls bedeutete, aus. Der Autor liefert schlagende Beweise und überzeugendes literarisches Material dafür, daß auch in dieser Zeit die ukrainische Literatur existierte und sich entwickelte, die ideolo- gischen Vorbedingungen zur ersten ukrainischen literarischen Wieder- geburt in der 2. Hälfte des 16. Jahrh. in sich aufnehmend. Dieser „ersten Wiedergeburt“, d. h. vornehmlich der ungemein interessanten ukrainischen polemischen Literatur des 16.— 17. Jahrh., ist der zweite Teil des V. Bandes gewidmet.

HruSevSkyj trachtet das Material immer sub specie seiner aus- gesprochen literarischen, dichterischen Eigenart zu beurteilen. Doch nimmt oft die starke soziologisch-historische Einstellung des Autors überhand, und er läßt sich zu den bei der literarhistorischen Betrach- tung überflüssigen, viel zu genauen historischen Exkursen und Aus- führungen verleiten (so immer bei der Schilderung des Milieus, weiter bei der Analyse der Chroniken usw.). Trob&dem bleibt dieses Werk ein sehr bedeutender Versuch streng wissenschaftlicher Behandlung der ukrainischen Dichtung unter Berücksichtigung der neuesten Er- gebnisse der modernen Literaturwissenschaft und sämtlicher Hilfs- disziplinen. Die Hauptverdienste des Autors sind: daß er als Erster die Dichtung als ein großes Ganzes, ungeachtet der äußerlichen, for- malen Merkmale der schriftlichen bzw. mündlichen Tradition, betrach- tet und daß er die erste genauere Darstellung der ukrainischen Volkspoesie in historischer Perspektive lieferte. Diese zwei Eigenschaften seiner Arbeit werden sicher der jungen Generation der Literaturforscher viele neue Anregungen geben und somit wird dieses Werk einen großen Schritt auf dem Wege zur Freimachung der literargeschichilichen Studien aus den Fesseln des als Selbst- zweck betriebenen, öden, pedantischen Philologisierens bedeuten. Schon deswegen verdient die Arbeit HruSevSkyjs die Beachtung auch seitens der nichtukrainischen Wissenschaft. Obzwar der alten Lite- ratur gewidmet, ist das Buch, methodologisch und auch stofflich, viel aktueller und moderner als die vorhandenen Übersichten der neueren ukrainischen Literatur. Hoffen wir also, daß der Verfasser sein vortreffliches Werk zu Ende führen und somit auch das Gebiet der neueren und neuesten Dichtung beleben wird.

410

BÜCHERBESPRECHUNGEN

Franz Grivec, Die heiligen Slavenapostel Cyrillus und Meihodius. Olmüb 1928. In Kommission bei dem Matthias Grünewald-Verlag, Mainz. 173 S.

Die Literatur über die Slavenapostel, die bis zum Jahre 1903 etwa 1580 Nummern aufwies, enthielt bisher keine den wissenschaftlichen Anfor- derungen entsprechende Heiligenbiographie. Gr., der durch verschiedene Abhandlungen über die Theologie der Slavenapostel bekannt ist, hat die in slovenischer Sprache verfaßte Biographie nunmehr auch den deutschen Lesern zugänglich gemacht. Dem Buche, dem ein Quellen- und Literatur- verzeichnis sowie 40 Bilder beigegeben sind, ist die weiteste Verbreitung zu wünschen. Von wissenschaftlichem Geiste getragen, erfullt es seine Aufgabe, ein Volksbuch zu sein, im besten Sinne des Wortes. Daß auch hier viele Probleme ungelöst bleiben, liegt an dem Quellenmaterial, das bekanntlich nur zu einem kleinen Teil glaubwürdig ist. Auch G. ist deshalb gezwungen, die Legenden heranzuziehen. Den größten historischen Wert schreibt er den alislavischen Legenden zu. Der italienischen Legende sicht er, wie auch Brückner und Naegle, skeptisch gegenüber. Polemik ist grundsäßlich vermieden, die feindliche Haltung der deutschen Bischöfe zu den Aposteln wird objektiv geschildert. Einige Fragen würde man gern ausführlicher behandelt wünschen, z. B. das Motiv der Reise des Method nach Konstantinopel. Gr. kann allerdings hierzu sagen, daß wir etwas Zuverlässiges hierüber nicht wissen, daß man über Motive nur Vermutungen aussprechen kann. Für ein Volksbuch mußte natürlich die Behandlung rein wissenschaftlicher Streitfragen ausscheiden. Aber ich bemerke ausdrücklich, daß das Buch auch für den Wissenschaftler von Interesse ist.

Breslau. F. Haase.

Georg Jacob: Arabische Berichte von Gesandien an germanische Fürstenhöfe aus dem 9. u. 10. Jahrhundert. Walter de Gruyter u. Co., Berlin und Leipzig, 1927.

Als erstes Heft der von V. v. Geramb und L. Mackensen heraus- gegebenen „Quellen zur deutschen Volkskunde“ liegen die ins Deutsche übertragenen und mit vortrefflichen Fußnoten versehenen ‚Arabischen Berichte“ vor. Eine „Einleitung“ (S. 1—7) beleuchtet die Uber- heferung der ya mit Angabe ihrer bisherigen Bearbeitungen. Die Würdigung, welche die hier angeführten Reiseberichte finden, eröffnen, naturgemäß, dem Nicht-Arabisten vielfach ganz neue Gesichtspunkte. Wenn das Heft auch der deutschen Volkskunde dienen will, so wird es aber

erade dem Historiker Osteuropas sicherlich wertvollste Dienste leisten: Ohmen, Polen, Bulgaren, Russen, Chazaren u. a. m. sind doch diesen Rei- senden des 9. u. 10. Jahrh. bekannt geworden. Was z. B. ein Ibn Jagüb uns bedeutet, hat ja die von Holzmann im 25. Bd. der „Zeitschrift des Vereins f. Gesch. Schlesiens“ wieder eröffnete Untersuchung der poln. u. bohm. Ge- schichte im 10. Jahrh. allenthalben von neuem gezeigt. Es ist äußerst dan-

411

kenswert, daß J. uns in so mustergiiltiger Weise diese wissenswerten Be- richte im vorliegenden Heft so leicht zugänglich gemacht hat. Breslau. Erdmann Hanisch.

Dr. Stepanv. Smal-Stoékyj: „Rozvylok pohljadiv pro semju slovjanskych mov i jich vzajimne sporidnennja“. (Die Entwick- lung der Ansichten über die Verwandischaftsverhalinisse in der slavischen Sprachenfamilie) Prag 1927.

Das vorliegende Buch ist eine umgearbeitete Ausgabe der gleich- namigen Arbeit, die schon im J. 1925 in den Mitteilungen der Ukrainischen Wissenschaftlihen Sevéenko-Gesellschaft in Lemberg (Bd. 141—143, Album Societatis Scientiarum Sevéenkianae Ucrainensium Leopoliensis ad solem- nia sua decennalia quinta 1873—1923) erschienen ist. Der Verfasser, welcher schon im J. 1913 eine vortreffliche wissenschaftliche Grammatik der ukraini- schen Sprache deutsch erscheinen ließ, behandelt hier eine viel umstrittene Frage uber die Verwandtschaftsverhaltnisse zwischen den einzelnen slavi- schen Sprachen und gibt eine klare kritische Ubersicht der Entwicklung dies- bezuglicher Ansichten der bedeutendsten Slavisten seit Dobrovsky bis auf den heutigen Tag.

Es gibt in der Slavistik noch sehr viele Streitfragen, deren Losung durch verschiedene mehr oder weniger phantastische Theorien sehr er- schwert wird. Bei der Klassifikation der slavischen Sprachen spielt. noch heute die sogenannte Stammbaumtheorie eine wichtige Rolle. Sehr lange hat in der Wissenschaft die Ansicht geherrscht, daß zwischen dem heutigen Zustand und der Periode der urslavischen Einheit noch eine Mittelstufe an- zunehmen ist, wo die ganze slavische Sprachfamilie nur teilweise differen- ziert erschien und nur drei einheitliche Ursprachen, d. i. eine west-, süd- und ostslavische oder „russische“ Ursprache, umfaßte.

Von einer westslavischen und südslavischen Ursprache spricht man in der heutigen Wissenschaft nicht mehr. Heute herrschen schon andere An- sichten über die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den einzelnen Spra- chen, was vor allem dem guten Einflusse der J. Schmidtschen Wellentheorie zu verdanken ist. Nur noch die früher vorausgesebte Existenz der sog. „ur- russischen Sprache“, aus der sich später die drei heutigen ostslavischen Sprachen (russische, weißruthenische und ukrainische) entwickelt haben sollen, wird sehr hartnäckig verteidigt, vor allem von den Slavisten, die der russischen Schule angehören. Die meisten Forscher unterliegen außerdem der Suggestion der Terminologie (Ru$, russisch), deren wahre Bedeutung nur von wenigen gut verstanden wird.

Die vorliegende Arbeit samt der obenerwähnten Grammatik bedeutet für die Slavistik einen großen Schrift nach vorwärts und wird auch ihre aufmerksamen Leser finden.

Dem Buche ist eine kurze Bemerkung über Weingarts falsche, d. i. der wirklichen damaligen ukrainischen Aussprache nicht entsprechende Tran- skription der kirchenslavischen Texte der ukrainischen Redaktion und eine andere über die Arbeit van Wijks: „Remarques sur le groupement des langues slaves“ beigefügt.

Berlin. K. Cechovyé.

Giovanni Maver: Leopardi presso i croati e i serbi. Roma, Istituto per l' Europa Orientale, 1929, 69 S., 8°. (Piccola biblioteca slava. 4.)

Maver hat seine Untersuchungen über die Ubersebungen Leopardischer Werke ins Kroatische und Serbische zu einer interessanten Studie er- weitert über grundsäßliche Fragen nach der kulturellen und sprachgeschicht- lichen Bedeutung, die Übersekungen aus einer alten und reifen Literatur in eine jüngere und noch weniger ausdrucksfähige Sprache haben können. Er stellt fest, daß von allen slavischen Literaturen die serbisch-kroatische

412

am reichsten ist an Ubersetzungen aus dem Italienischen, was bei dem starken kulturellen Einfluß, den Italien auf das benachbarte Küstenland aus- geübt, auch nicht wundernehmen kann. Es kommt aber noch dazu, daß es gerade Ubersetzer als eine lohnende Aufgabe reizen kann, sich an Uber- setzungen zu wagen, für die der eigene Sprachschatz noch nicht reich genug ist, wo es ihnen also überlassen ist, sich wortbildnerisch zu betatigen. M. führt hier einen typischen Fall an. Trotzdem also die Bedingungen fur Übersetzungen aus dem Italienischen ins Kroatische günstig waren, ist es doch nur in den seltensten Fällen dazu gekommen, daß ganze Bände eines italienischen Dichters übersebt worden sind, vielmehr reten Ubersetzungen italienischer Dichtungen meistens sporadisch auf als Beiträge in Zeitschriften usw. Diese Art der Aufnahme hat neben manchem Nachteiligen auch wieder ihre Vorzüge. Ist erst einmal ein fremder Dichter in einer gesamten Aus- gabe in eine andere Sprache übersetzt worden, dann wird sich nur in den seltensten Fällen ein anderer Überseber für ihn finden, und die einmal ein- gebürgerte Ubersefung mit ihren eventuellen Mängeln behält dann ge- wissermaßen das Monopol. M. erwähnt hier einen typischen Fall in einer anderen slavischen Literatur, nämlich die Übersekung Leopardis durch Vrhlicky. Die Cechen besitzen durch ihn eine vollkommene, aber teils an- fechibare, teils veraltete Übersekung, während im Serbo-Kroatischen manche Dichtungen Leopardis unübersebt geblieben sind, einige von ihnen aber dafür in Übersekungen vorhanden sind, die dem neueren Sprach- zustand besser entsprechen.

M. verfolgt das Auftreten von Ubersetzungen nach Leopardi in chrono- logischer Reihenfolge, die erste fällt in das stürmische Jahr 1849 und stammte von Orsat Počić, später genannt Medo Pučić. Er hatte in der „Danica lirska“ die Übersekung von „Amore e Morte“ veröffentlicht und damit zum erstenmal das sonst für Übersekungen aus dem Italienischen ins Kroatische beliebte Gebiet arkadisch-anakreontischer Poesie verlassen, und vermutlich wird der schwierige Gedankengang der Leopardischen Dich- tung den Kroaten Dalmatiens und Kroatiens sehr verwunderlich erschienen sein. Pučić war ausgezeichneter Kenner des Italienischen. M. unterzieht die einzelnen später folgenden Übersekungen von Pu£i& eingehender Kritik und kommt zu dem Schluß, daß er im großen und ganzen den Originalen gerecht geworden ist und Leopardi nicht in veränderter Gestalt wieder- gegeben hat. Im Verlauf der weiteren Untersuchungen kann M. feststellen, daß nicht jeder Übersetzer die nötige Kenntnis des Italienischen besessen hat, um diesem so ungewöhnlich schwer verständlichen Dichter gerecht zu werden, ja, es kommen grobe sprachliche Schniger vor, und der Charakter des großen Atheisten und Pessimisten wird durch manche Übersebung grundsäßlich verkehrt wiedergegeben, so bei Buzolié, der als Geistlicher Leopardi gewissermaßen „für die Jugend“ bearbeitet hat. Interessante Schlaglichter fallen auch auf die dialektischen Neigungen mancher Über- seker, die es fertig brachten, den nichts weniger als volkstümlichen, eher antidemokratischen Dichter im Geschmack des Folklore ihren Landsleuten mundgerechter zu machen. Auch an Versuchen, seine tiefgründige Dichtung ins Kanzonettenhafte umzukneten, hat es nicht gefehlt. Im allgemeinen verdienen die dalmatinischen Ubersefer das meiste Lob, die ihrer ganzen kulturellen Einstellung nach auch am chesten imstande waren, eine so schwierige Aufgabe zu leisten. Eine Ausnahmestellung nehmen die Über- setzungen von Tresié-Pavicié ein, er ist unter allen bisherigen kroatischen und serbischen Übersetzern Leopardis derjenige, der ihm kongenial genannt werden kann. Er hat sich auch vom einheimischen Zehnsilber frei gemacht und es versucht, den Meiren der Originale zu folgen. Auch der Dalmatiner Sibe Miličić hat Ausgezeichnetes geleistet, der 1914 „La sera del di festa“ meisterhaft übersetzte. M. sieht in dieser Leistung nicht nur. das Verdienst des Übersetzers, sondern rechnet es auch dem allgemeinen sprachlichen Fortschritt an, der durch Generationen von Ubersefern erreicht worden ist. Ein Besserwerden ist fortab durchschnittlich zu verzeichnen. Gerade in dieser entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung liegt ein großes

27 NF 5 413

Verdienst Mavers, er versteht es, durch diese Untersuchungen über einen einzelnen italienischen Dichter und seine Aufnahme in der Literatur eines anderen Volkstums interessante Schlaglichter auf die gesamte geistige Ein- stellung von Generationen zu werfen.

_ Es sei nur beilaufig erwähnt, daß ein Irrtum im Text unberichtigt ge- blieben ist. Die auf S. 16 zitierte Stelle „Troppo mite decreto quel che sentenzia ogni animale a morte...“ ist nicht, wie angegeben, aus „Amore e morte“, sondern aus „Il tramonto della luna“.

Breslau. Emmy Haertel.

Hans Koch: Die russische Orthodoxie im Petrinischen Zeitalter. (Osteuropa-Institut in Breslau. Quellen und Studien. Abteilung: Religionswissenschaft. Neue Folge: Erster Band). Priebatsch’ Buchhandlung Breslau und Oppeln 1929, 191 S.

Peter d. Gr. hätte sein Reformwerk wohl nicht so rasch durchführen können, wenn nicht führende Geister in Rußland den abendländischen Kul- tureinflüssen Tür und Tor geöffnet hätten. Selbst die russische Theologie, die bis dahin ganz abhängig von der griechischen Mutterkirche gewesen war, geht jetzt in die abendländische Schule. Mit Recht kann deshalb Koch seine Untersuchung einen Beitrag zur Geschichte westlicher Einflüsse auf das osfslavische Denken nennen. |

Er gibt zunächst einen geschichtlichen Überblick über die Stellung der russischen Orthodoxie zum westlichen Christentum; der Katholizismus wurde grundsäßlich abgelehnt, der Protestantismus bedingt bekämpft. In der Mariologie und der Abendmahlslehre zeigte sich aber, besonders bei den Kiever Theologen, frühzeitig katholischer Einfluß. In den großen Zeit- genossen und Mitarbeitern Peters an seiner Kirchenreform wird die rus- sische Theologie entscheidend in abendländische Systeme gefaßt. Stephan Javorskij ist der Vertreter der katholischen, Theophan Prokopovič der Ver- treter der protestantisierenden Richtung. Koch zeigt dies an der Stellung- nahme der beiden Theologen zum Schrift- und Traditionsprinzip, in der Lehre des Kirchenbegriffes, der Erlösung und Rechtfertigung. Literarisch sind dabei beide Theologen mehr oder minder stark von ihren abend- ländischen Vorlagen abhängig. Das reiche Quellen- und Literaturverzeich- nis zeigt die außerordentliche Belesenheit und Kenntnis des Verfassers. Die nachstehenden Ausführungen sollen einige Ergänzungen zu den interessanten Problemen, die Koch behandelt hat, geben. In der Ein- leitung gibt Koch eine Charakteristik Javorskijs und des Prokopovič. Für das Verständnis dieser Männer und ihrer Theologie ist es durchaus notwendig, ihren Erziehungs- und Bildungsgang zu kennen, da den deutschen Lesern diese beiden Theologen wohl ziemlich unbekannt sein werden. Bei der Schilderung der Stellung Rußlands zur kath. Kirche wäre die rein chronologische Anordnung der systematischen unbedingt vorzuziehen. Denn die Stellung war tatsächlich im Laufe der Geschichte verschieden. Auch kommt bei Koch nicht zum Ausdruck, daß Nordrußland zum Katholizismus eine andere Stellung eingenommen hat als Südrußland oder Weißrußland. Viel wichtiger als die äußerliche Stellungnahme Rußlands zu den westlichen Kirchen wäre ein Überblick über die Entwicklung der russischen Theologie gewesen. Die Bedeutung eines Maxim Grek für die russische Dogmatik muß für das Verständnis der russischen Theologie hervorgehoben werden. Koch behandelt eigentlich nur drei Probleme der damaligen russischen Theologie: Schrift und Tradition, Kirchenbegriff, Erlösung und Rechiferti- gung. Die S. 50—73 behandelte Mariologie und Abendmahlslehre ist nur unter dem Gesichtspunkt des Kryptokatholizismus betrachtet. Diese streng systematische Anordnung halte ich nicht für richtig. Denn es ist doch klar, daß der katholisierende Javorskij ganz andere Stoffe behandelt als der protestantisierende Prokopovič. Bei der Darstellungsweise Kochs erhalten wir deshalb keinen vollständigen Überblick über die gesamte Theologie dieser Männer, sondern nur über einen Ausschnitt. Es sieht so aus, als

414

wenn die vom protestantischen Gesichtspunkte aus angeordnete Systema- tisierung auch bei Javorskij die leitende Idee wäre. Der Leser, der einen Gesamtüberblick über die russische Orthodoxie im Pefrinischen Zeitalter sucht, wird auch die Frage stellen: Hat die damalige Theologie sich nicht mit den alten Streitfragen des filioque, des päpstlichen Primates befaßt? Wenn der Verfasser so ausführlich die Lehre von der Epiklese in der grie- chischen Kirche und bei den Ostslaven behandelt, so kann man die weitere Frage stellen: Weshalb sind nicht auch die zu fast dogmatischer Bedeutung erhobenen Lehrmeinungen über die Verwendung des Ungesäuerten bei den hl. Gaben, das Fastengebot behandelt? Koch hat sich ferner damit be- gnügt, die obenerwähnten Hauptpunkte aus den Werken des Javorskij und Prokopovié darzulegen. Aber bilden diese beiden Gelehrten die russische Orthodoxie jener Zeit? Die gesamte theologische Literatur der Petrinischen Zeit hätte untersucht werden müssen, um ein vollständiges Bild der rus- sischen Orthodoxie zu geben. Überhaupt bin ich der Meinung, daß die dogmengeschichtliche Behandlung und Bearbeitung der dogmatisch-systema- tischen vorzuziehen wäre. Allerdings wäre dann die Arbeit bedeutend umfangreicher geworden. Denn Koch hätte dann noch die gesamte neuere russische Theologie untersuchen und feststellen müssen, ob und inwieweil ein Einfluß der Theologie des Petrinischen Zeitalters sich nachweisen läßt.

Auch bezüglich der Vorlagen, welche Javorskij und Prokopovič be- - nugten, finden wir bei Koch keine abschließenden Untersuchungen. Die von ihm selbst angeführte Tatsache (S. 175, Anmerkung 1), daß die literarischen Vorlagen Javorskijs genauer behandelt sind als die von Prokopovič, hatte ihn veranlassen sollen, sein Urteil vorsichtiger zu fassen. Nur eine ein- gehende Quellenuntersuchung kann den Nachweis liefern, ob und inwieweit wir es mit Plagiaten zu tun haben. BE

Ich möchte noch ausdrücklich betonen, daß Koch durchaus objektiv urteilt, wenn er auch aus seiner Sympathie für Prokopovič kein Hehl macht. Diese besondere Hervorhebung der Objektivität halte ich für nötig, weil einige Stellen leicht gegen diese ausgewertet werden können. So schreibt er S. 157: „Es ist für den protestantischen Historiker erhebend und er- schütternd zugleich, wie das Theophansche System und seine Schule die Säulen des amtlichen Verdiensibegriffes in der Orthodoxie der eigenen Kirche ablehnt und stürzt.“ Von orthodoxer Seite wird dagegen einge- wendet werden, daß schon die russischen zeitgenössischen Theologen den Prokopovič als Häretiker abgelehnt haben. Ob und. inwieweit durch Pro- kopovié tatsächlich „ein Sieg des protestantischen Glaubens in der sla- vischen Welt“ (S. 186) zu verzeichnen ist, könnte nur die oben gewünschte dogmengeschichtliche Bearbeitung zeigen.

Breslau. F. Haase.

Denkmäler altrussischer Malerei. Russische Ikonen vom 12.— 18. Jahrhundert. Ausstellung des Volksbildungskommissariats der RSFSR und der deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas in Berlin, Koln, Hamburg, Frankfurt a. M., München. 3. Auflage 1929 Osteuropa-Verlag, Berlin und Königsberg. 38 S.

_ „Die Heiligenbilder standen jahrhundertelang im Mittelpunkt der rus- sischen Frömmigkeit. Gerade in Westeuropa ist aber das Vorurteil herr- schend, daß in der russischen Ikonenmalerei die byzantinische Versteine- rung und Einförmigkeit so weit gegangen sei, daß die Kunst darunter ge- litten hätte. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß die in den obengenannten Städten veranstaltete Ausstellung weiten Kreisen Gelegenheit gegeben hat, die Schönheiten der russischen Ikonen kennen zu lernen. Der bedeutendste Forscher auf dem Gebiete der russischen Ikonenmalerei, Igor Grabar, weist in der Einleitung darauf hin, daß die zerstörende Macht der Zeit und die Menschen selbst die ursprünglichen Denkmäler oft bis zur völligen Un- erkennbarkeit entstellt haben. Mit größter Sorgfalt hat Grabar einen

415

großen Teil der Ikonen in enge n Gestalt, die ihnen ihre Schöpfer ge- geben haben, wiederhergestellt as Verzeichnis der ausgestellten Ikonen und eine Auswahl von 16 Bildern werden auch denjenigen, welche die Aus- stellung nicht besichtigen konnten, sehr erwünscht sein.

Breslau. F. Haase.

Karl Nötzel, Wladimir Solowjow: Von der Verwirk- lichung des Evangeliums. Eine Botschaft aus seinem Gesami- werk ausgewählt, übersetzt und erläutert. Hans Harder-Ver- lag, Wernigerode am Harz. 125 S.

F. Goetz: Der Philosoph W. Solowioff und das Judentum. Riga 1927. 87 S.

Nößel ist bekannt durch seinen Eifer, das geistige und religiöse Ruß- land dem Abendlande verständlich zu machen. Ich halte es für besonders verdienstlich, daß er weiteren Kreisen die russischen Quellen durch Über- sebungen zugänglich macht.. Denn nur diese können einen unmittelbaren Einblick in die schwer verständliche Geistesrichtung der russischen Religions- philosophie geben. In der vorliegenden Auswahl hat er eine Reihe von Texten zusammengestellt, welche die Bedeutung Solov’evs für die modernen Kulturprobleme zeigen. Ich nenne nur: Die Bedeutung des Rechtes, der Sinn der Strafe, die Heilung des Verbrechers, die Todesstrafe, die soziale Frage, Nationalismus und Christentum, Vaterland und Universalismus, Judentum und Christentum. S. zeigt hier, daß er, wie sein großer Lands- mann und Zeitgenosse Tolstoj, über nationale und religiöse Vorurteile erhaben ist und daß er vor einem halben Jahrhundert Probleme behandelt hat, die haute im Mittelpunkte stehen.

Eine dieser Sonderfragen hat Goch näher dargestellt. Es ist aber nicht richtig, daß S. als Apologet des Judentums in Deutschland völlig unbekannt sei. Bereits i. J. 1911 hat Ernst Keuchel die Schrift Solov’evs „Judentum und Christentum” übersetzt. Goetz, ein langjähriger Freund Solov’ evs, hat im Jahre 1901 in den „Fragen der Psychologie und Philo- sophie”, einer von Fürst S. Trubetzkoi herausgegebenen Zeitschrift, einen Artikel über die Beziehungen Solov’evs zur jüdischen Frage veröffentlicht, der mit einigen wesentlichen Ergänzungen nunmehr den deutschen Lesern zugänglich gemacht wird. S. hielt die Verteidigung des Judentums gegen unwahre Angriffe für eine religiöse und patriotische Pflicht, er widerlegt die nationalen, ökonomischen und politischen Beschuldigungen ‘und behandelt das Verhältnis des Judentums zum Christentum, die Beziehungen der Evangelien zum Talmud. Wenn auch in erster Linie die Lage des Juden- tums in Rußland in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahr- hunderts den Anlaß zu dem Artikel Goebens gegeben hat, so verdient er doch auch heute noch wegen der grundsäßlichen Stellungnahme Solov’evs zum Judentum Beachtung.

Breslau. F. Haase.

Nicolas von Arseniew, Die russische Literatur der Neuzeit und Gegenwart in ihren geistigen Zusammenhängen. Dios- kuren-Verlag, Mainz 1929. 410 S.

Das Buch des Königsberger Privatdozenten und früheren Professors an der Universitat Saratov ist in der von Otto Forst-Battaglia heraus- gegebenen Buchreihe „Die Literaturen der Gegenwart“ erschienen. Diese Buchreihe trägt den Obertitel „Welt und Geist“. Damit ist die Tendenz klar herausgestellt; die Literatur soll nicht nach ihrem formalen Charakter geschildert werden, sondern der weltanschauliche Gehalt bildet Ziel und Inhalt. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, hat Arseniew seine Auf- gabe vorzüglich gelöst. Es ist selbstverstandlich, daß bei einer solchen

416

Darstellung die subjektive F hervortritt. Für den Anfänger empfichli es sich daher, vorher die Geschichte der russischen Literatur von A. Luther zu lesen, die auch A. als ganz unenfbehrliches „Standardwerk“ bezeichnet. Die Eigenart der Literaturgeschichten von Luther und Arseniew kann man am besten durch zwei Vorgänger klarmachen: Die Geschichte der russischen Literatur von A. von Reinholdt, Leipzig 1886, und von Brückner. R. legt ebenso wie Luther den Hauptwert auf möglichst voll- ständige Darstellung der Gesamtepochen, der Schilderung des Lebens und der Werke der Schriftsteller und Dichter, Brückner und Arseniew suchen den geistigen Gehalt klarer herauszustellen. Arseniew hat hierbei den Vorzug, daß er als griechisch-orthodoxer Christ die religiose Grund- tendenz viel tiefer und besser versteht. Die Vorliebe des Verfassers für die religiöse Einstellung führt ihn allerdings dazu, daß er ausführlich Gegen- stände behandelt, die mehr theologischen als literarischen Charakter tragen. (Chomjakovs Lehre von der Kirche.) In dem Abschnitt über Dostoevskij zeigt es sich aber am klarsten, daß dieser tiefrcligiose Dichter nur durch religiöse Einfühlung richtig verstanden werden kann. Nicht ganz zutreffend ist dagegen die Beurteilung D.s in seiner Stellung zu den west- europäischen Völkern. Seine eigenartige Auffassung des Wahrheitsbegriffes zeigt ja am besten, daß er mit dem westeuropaischen Geist keine Gemein- schaft haben will, seine haßerfüllten Ausfälle gegen Deutschland und das deutsche Volk können schwerlich mit brüderlichem Verständigungswillen in Einklang gebracht werden.

Es kann hier nicht auf die einzelnen Kapitel eingegangen werden. Ich möchte nur noch bemerken, daß gerade für die religiöse Welt- anschauung Dichter wie Maikov und Nadson von größerer Bedeutung sind, als es A. annimmt. Bei der Behandlung der bol3evistischen Literatur muß hervorgehoben werden, daß A. trob seiner entschiedenen Ablehnung des BolSevismus eine gerechte Würdigung der Schriftsteller gibt. Die Dar- stellung der neuesten russischen Literatur und die weltanschauliche Be- urteilung ist zu begrüßen. .

Im Anhang gibt A. eine Auswahl der in Betracht kommenden Literatur. Auch hier will der Verfasser in erster Linie diejenige Literatur geben, die für das weltanschauliche Verständnis beachtenswert ist. Dies muß hervor- gehoben werden, weil Literarhistoriker die Angabe von nicht streng wissen- schaftlichen Aufsätzen beanstanden könnten.

Ich freue mich, daß die weltanschauliche Charakteristik der russischen Schriftsteller und Dichter, die ich in meinem Buche „Die religiöse Psyche des russischen Volkes“ nur kurz schildern konnte (S. 226-238), von A eingehend behandelt worden ist. Für das Verständnis des russischen Volkes ist deshalb sein Buch gerade in der jetzigen Zeit sehr willkommen.

Breslau. F. Haase.

Maxim Gorki: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, deutsch. Malik-Verlag, Berlin, o. J.

Seiner Tolstoj-Ausgabe hat der Berliner Malik-Verlag nun auch die Werke Gorki’s zu annehmbaren Bandpreisen folgen lassen. Die Überseber sind als solche wohlbekannt: Fred M. Balte, Erich Boehme, Klara Brauner, Adolf Heß, August Scholz, Siegfried von Vegesack. Auch neueste Schriften Gorkij’s finden wir in dieser Ausgabe, die in gleich guier Ausstattung wie die Tolstoj-Ausgabe heraus- gebracht wurde. Uber den literarischen Wert Gorkij’schen Schaffens kann man ja verschiedener Auffassung sein. Immerhin wird auch für den, der, wie der Schreiber dieser Zeilen, Gorkij eine nur relative literarische Geltung zuerkennen kann, seine unzweifelhaft, schon durch den schwierigen Lebens- gang, interessante und bedeutsame Persönlichkeit größter Beachtung sicher sein. So wird die Beschreibung seines Werdeganges, welche Ilja Grus- dew in dem beigegebenen Bande „Das Leben Maxim Gorkis“ ent-

417

wirft, allgemeinem Interesse begegnen, wie gleicherweise der Band „Maxim Gorki: Erinnerungen an Zeitgenossen“. Breslau. Erdmann Hanisch.

Ilja Ehrenburg: Die Verschwörung der Gleichen. Das Leben des Gracchus Babeuf. Berlin, Malik-Verlag 1929, 8°. 290 Seiten. Aus dem Russischen von Hans Ruoff.

Nun dringt die „Vie romancée“, dieses charakteristische Produkt der bürgerlichen Weltordnung, bis in die Bezirke der proletarischen Dichtung. Dort, wo nur die Masse Mensch gefeiert, besungen, verherrlicht wird, hat einer das Leben eines anderen zum Roman gestaltet, der so weit Ge- schichte bleibt, daß die beigegebenen Faksimilia, die Anmerkungen und Kommentare gar nicht störend wirken. Dieser eine heißt freilich Ilja Eren- burg (oder wenn man will Ehrenburg), abkommandiert nach Paris, Mont- marire, in die feindliche kapitalistische Feste, als Pacemaker des literari- schen Bolschewismus; der andere Babeuf (Francois), später genannt Grac- chus, der Tribun. Ahnherr aller künftigen Sozialisten und Sozialismen.

Uber das Buch, welches so entstand, haben wir mancherlei zu sagen. Erstens, um mit dem Ten zu beginnen: es ist hinreißend ge- schrieben (im Original) weitens, es ist unzulänglich übersetzt. Drittens, die Aufmachung scheint es aus der Literatur ausscheiden und zum Agi- tationsmittel stempeln zu wollen. Viertens: das Zweitens und Drittens müssen wir aufrichtig beklagen, denn selbst dann noch verdiente Erenburgs „Zagovor rovnych“ auch von der reaktionären Masse gelesen und nach Ge- bühr bewundert zu werden.

Nicht als ob wir einem ewig-gültigen Meisterwerk gegenüberstünden. Da ist nichts von der überlegenen Ruhe und der souveränen Durchdringung des Stoffes, wie in Anatole Frances unsterblichem „Les Dieux ont soif“. Doch beschwingter Rhythmus, leidenschaftlicher Haß, beißende Ironie, ge- schickte Zeichnung und ein Hauch der historischen Größe, der jedem kon- genialen Werk über die Zeit der Französischen Revolution anhaftet. Vor- trefflich, ob auch überspitzt. die Kontrastwirkung zwischen dem grandiosen Beginnen und dem kläglichen Ausgang einer Volkserhebung, von der wir heute, nach Taine, und zumal nach Cochin, Gaxotte, genau wissen, wie wenig erhebend, wie wenig Volkeswerk ihre Ursprünge gewesen sind. Vortrefflich die Gegenüberstellung von Narren und Schwarmern wie Babeuf und satten Schuften wie die Directeurs.

Die Figuren der Tragikomödie Babeuf Erenburg behält ständig den geziemenden halbironischen Ton bei, erst die Bearbeitung will Pathos in die Sache hineinbringen sind im allgemeinen richtig porträtiert. Babeuf zuforderst, der blutarme, erst delirierende, dann rasende Prophet, ein Pariser Knipperdolling und Arnold von Brescia, Savonarola (er hat eine stattliche Ahnenreihe). Babeuf, fanatisch, monoman, mit den Zügen von Anatole Frances Evariste Gamelin, und mild, zartlich, wie Camille Des- moulins. Dann Fouché, Barras, Kanaillen, wenn es je Kandillen gab. Ein wenig ungerecht kam die lebenslustige Madame Tallien davon, die besser war als ihr Ruf. Energischer Protest muß gegen die Karikatur Carnots erhoben werden, dessen edle Gestalt der parteimäßigen Besudelung ent- rückt sein sollte.

Die Technik der Erzählung ist virtuos. Ein mächtiger Auftakt: nach dem Ende der Terreur. Hernach Rückblick auf Babeufs klägliches Dasein. Im ununterbrochenen Fluß hierauf die Verschwörung des Volkstribunen mit Buonarroti, Darthé. Der Verrat Grisels. Die Gefangennahme, der Prozeß und das Ende auf dem Schafott. (1797.)

Ein Wort dem Register, das „der deutschen Ausgabe vom Verlag bei- gegeben wurde“ und die gleichmütige Skepsis Erenburgs mit einem Anhang bolschewistischer Pathetik versieht. Es verherrlicht den verleumdefen (7) Carriere. Er hat ja nur Gegenrevolutionäre ins Wasser werfen oder sonst für das Verbrechen ihrer zu hohen Geburt bestrafen lasseni Marie Char-

418

lotte Corday: ,,ermordete Marat und wurde guillotiniert“. Das feige Scheu- sall Während hingegen Marat „einer der glühendsten und konsequentesten revolutionären Politiker... sich mit unbarmherziger Schärfe gegen die Halbheiten und Kompromisse der führenden Revolutionsmänner wandte“. Necker: „deckte... die zügellose Verschwendung des Hofes... rück- sichtslos auf“ (und hatte eigentlich eine gute Zensur zu erwarten), jedoch „er... versuchte die Monarchie zu reiten, und er mußte, allgemein ver- achtet, seinen Abschied nehmen“. Ich habe von der Ehrlichkeit und An- ständigkeit der Leitung des Malik-Verlags eine hohe Meinung. Trob der mich von ihm trennenden Verschiedenheit der Gesinnung, weiß ich seine bedeutenden Verdienste um die Literatur zu schäßen, deren russischen Meisterwerken er in Kreisen Eingang verschafft, welche sonst der Kol- portage gehören. Es ist auch nichts einzuwenden, wenn kommunistische Geschichtspropaganda betrieben wird. (Während bürgerliche Geschichts- propaganda allerdings im bolschewistischen Rußland todeswürdig erscheint). Nur sei alsdann, um reinliche Scheidung durchzuführen, das betreffende Buch mit dem Vermerk gestempelt: Werbeschrift der K.P.D. oder irgend- wie in den Anmerkungen den zahlreichen Lesern, die den Zusammenhängen fremd und preisgegeben sind, mitgeteilt: dies ist unsere, der bewußten Kommunisten, subjektive Ansicht. Die übersekung könnte freilich auch dann noch, bei aller Abneigung gegen die Mittelklasse, wenigstens Mittel- klasse sein.

Womit, ich wiederhole es, nichts wider das Werk Erenburgs gesagt sei, das ich mein größtes Kompliment für Autor und Verlag sogar in diesem Deutsch und mit diesem Kommentar auch außerhalb der Partei- kreise für lesenswert und wertvoll erkläre.

Wien. Otto Forst-Battaglia.

Dr. Hans Koch: Die Ukraine. ‚Zeitwende“, München 1929. Heft 1 u. 2. |

. Daß die Ukraine so lange aus der Karte Europas verschwunden war, ist nicht ganz Schuld des ukrainischen Volkes. „Russischer und polnischer Staatsidee entsprach es, eine „ukrainische“ Frage verschwinden zu lassen; daher wußte bald auch die der Politik gefügige Wissenschaft durch Jahr- hunderte hindurch nur von „Kleinrussen“ oder „Ruthenen“, gelegentlich auch von „Kleinpolen“ zu berichten.“

_ Schon diese Worte verraten im Verf. einen guten Kenner der Verhält- nisse im Osten Europas, die durch die tendenziöse Beleuchtung und irre- führende Terminologie auch für die Gebildeten schwer verständlich bleiben mußten. Diese Arbeit will über das ukrainische Land und Volk in kurzen Worten ganz objektiv informieren. Neben den statistischen Daten über die Größe der ukrainischen Nation und ihres Siedlungsgebietes finden wir hier eine klare Übersicht der Schicksale dieses zweitgrößten slavischen Volkes und seiner Bestrebungen um einen eigenen Staat, die auch manch- mal zur wirklichen Souveränität geführt haben. In der Schilderung der einzelnen Staatsversuche der Ukrainer hat es der Verfasser verstanden, in aller Kürze das Wichtigste und für die deutschen Leser Interessanteste zu geben.

Berlin. K. Cechovyé.

Ivan Ohijenko: Ukrajinska kultura, korotka istorjia kulturnoho Zytija ukrajinskoho naroda. (Ukrainische Kuliur. Geschichtlicher Uberblick über das kulturelle Leben des ukrainischen Volkes.) Katerynoslav-Leipzig 1923.

Verf. bemüht sich, in diesem Buche eine ziemlich schwere Aufgabe zu

lösen, und zwar das Problem der ukrainischen Kultur in seiner ganzen Tiefe und Breite in Form populärer Vorträge, welche seinerzeit an der ukraini-

419

schen Volksuniversitat in Kiev abgehalten wurden, einem Durchschnitileser vor Augen zu führen. Die Motive, welche den Verfasser zu diesem Schritt veranlaßt haben, lagen in seinem Wunsche, dem Bewußtsein weiterer Kreise des ukrainischen Volkes im Momente der Wiederaufrichtung des ukrainischen Staates den Wert und die Originalität seiner kulturellen Leistungen einzu- prägen. „Welche Seite des Lebens wir auch untersuchen, überall sehen wir, wie originell und eigenartig das ukrainische Volk sich seine Kulturwelt schuf. Auf allen Gebieten seiner geistigen Produktion kommt die Originalität seiner reichen Kultur und seine hervorragende intellektuelle Begabung klar zum Ausdruck.“

Das ganze Material zerfällt bei Ohijenko in vier große Gruppen, jede derselben wieder in eine stattliche Anzahl von selbständigen Kapiteln. Die erste Gruppe umfaßt, abgesehen von kurzen Bemerkungen allgemeinen Charakters, alle Erscheinungen der ukrainischen Kultur bis zum Ende des XVII. Jahrh. In der zweiten Gruppe hat der Verfasser den „Einfluß der ukrainischen Kultur auf die moskovitische“ in einer im Verhältnis zum Um- fang des ganzen Buches sehr erschöpfenden Weise untersucht. Dieses Thema, welches bereits im Zeichen der neuen Zeit behandelt wird, weist eigentlich keine große Literatur auf, nachdem es früher, also im XIX. Jahrh., schwer möglich war, die Grundlagen der überaus mächtigen russischen Literatur auf ukrainische Quellen zurückzuführen. Die dritte Gruppe bildet die ukrainische Kultur des XIX. Jahrh., also die Epoche ihres Tiefstandes sowie die Zeıt der langsam einsekenden schwachen Wiedergeburt. Der lebte Teil endlich, „der Leidensweg des ukrainischen Volkes“, führt jene folgenschweren Schläge auf, welche dem ukrainischen Volke im Laufe der Geschichte seitens Moskaus nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf kulturellem Gebiete verse§t wurden, und welche in dem bekannten Ukas des Caren Alexander li. vom Jahre 1876 endeten, auf Grund dessen die ukrainische Sprache in Wort und Schrift im ganzen russischen Imperium verboten wurde. Es wurde strengstens untersagt, ukrainische Bücher aus dem Auslande nach Rußland einzuführen, originale Werke oder Uber- sebungen in ukrainischer Sprache zu drucken, Theateraufführungen zu ver- anstalten, musikalische Werke mit ukrainischem Texte zu singen. Es ist nun ganz begreiflich, daß der Verfasser unter dem unmittelbaren Einfluß der unserem Bewußtsein bereits langsam entrückenden Ereignisse dem N. und IV. Abschnitt des Buches besondere Aufmerksamkeit widmete, so daß diese Teile auch rein räumlich die Hauptrolle in der ganzen Darstellung spielen. Als Materialiensammlung verdient das Buch unbedingt Beachtung, um so mehr, als es außerdem auch eine große Anzahl guter und inter- essanter Illustrationen aufzuweisen hat.

Berlin. J. Mirtschuk.

M. HruSev$kyj: Kulturno-nacionalnyj ruch na Ukrajini v XVI i XVII stol. (Kulturell-nationale Bewegung in der Ukraine im XVI. und XVII. Jahrh.) 2. Aufl., Wien 1919.

Verf., der bekannteste zeitgenössische Geschichtsschreiber der Ukraine, gibt in diesem Buche einen zusammenfassenden Uberblick über alle wich- tigsten Erscheinungen in dem geistigen und kulturell-nationalen Leben dieses Landes aus der Zeitperiode um die Wende des XVI. Jahrh. Dieses Buch, in Wirklichkeit nur ein Auszug in ziemlich populärer Form aus dem grund- legenden, dokumentalen Werke, der achtbandigen Geschichte der Ukraine desselben Autors, sowie aus seinen früheren Spezialarbeiten, wurde schon zum großen Teile im Jahre 1909 in dem Journal „Literaturno naukovyj Vistnyk“ veröffentlicht; nur die letzten vier Kapitel kamen erst später hinzu.

Die hier behandelte Epoche, und zwar das Ende des XVI. und der An- fang des XVII. Jahrh., bilden einen ungemein interessanten Abschnitt in der geistigen Geschichte ‘der Ukraine, denn gerade in diese Zeit fallen die Be- strebungen der ukrainischen Gesellschaft, angesichts der Expansionspolitik der katholisch-polnischen Hierarchie, den Verfall der eigenen orthodoxen

420

Kirche aufzuhalten, im Zeichen der Konkurrenz mit den Jesuitenschulen, das bis nun vernachlässigte nationale Schulwesen nach neuen Mustern zu reor- ganisieren, das durch die Flucht der Magnaten ins polnische Lager ge- schwächte eigene Volkstum zu stärken, mit einem Worte, eine Wiedergeburt auf allen Gebieten des ukrainischen öffentlichen Lebens herbeizuführen. Nachdem das ukrainische Territorium damals beinahe in Gänze dem polni- schen Staate angehörte und infolgedessen selbstverständlich den dort herr- schenden Einflüssen ausgesebt war, wird das vorliegende Buch in erster Linie die Reaktionserscheinungen der ukrainischen Gesellschaft auf die Ein- wirkungen der staatlichen katholischen Kirche und der westlichen, lateinisch- deutsch-polnischen Kultur behandeln. Die durch außenpolitische Motive her- vorgerufene Differenzierung der ukrainischen Intelligenz in konservative, der Orthodoxie, als dem „Glauben der Väter“, treu ergebenen Elemente, und in fortschrittliche Kreise, welche durch die Aneignung der west- europäischen Kultur und des neuzeitlichen Schul- und Bildungswesens der Not der Zeit entgegenarbeiten wollten, die Ideen der natio- nalen Bildung, die Gründung und die Tätigkeit der Akademie in Ostroh, die Bemühungen der Brüderschaften auf dem Gebiete der nationalen und kulturellen Wiedergeburt, der Streit um die Kalenderreform, die Ur- sachen und Folgen der unionistischen Bestrebungen, das Kosakentum als ein neuer Faktor im politischen und religiös-nationalen Kampfe, die Ver- legung des kulturellen Schwerpunktes aus Lemberg nach Kiev, die Organi- sierung der Kiever Akademie durch Petro Mohyla, das sind die Haupt- themen, deren Bearbeitung die einzelnen Kapitel des Buches gewidmet sind. Daß der Verfasser dieser Bearbeitung HruSevSkyj ist und daß hier an die Behandlung dieser Themen mit dem ganzen Apparat der wissenschaftlichen Analyse geschichtlicher Tatsachen herangetreten wurde, verleiht dieser Arbeit nur noch einen besonderen Wert, welcher durch zahlreiches Illustra- tionsmaterial zur Er.twicklung der Buchdrucker- und Graveurkunst dieser Zeit unter Verknüpfung alter byzantinisch-ukrainischer Traditionen mit neueren deutschen und italienischen Einflüssen erhöht wird. Geradeso wie im Texte liegt auch der Schwerpunkt der künstlerischen Produktion in den lezten Dezennien des XVI. und ersten Jahrzehnten des XVII. Jahrh., also in den Kupferstichen aus den Lemberger, Halyter und Ostroher Publikationen, welche durch einige Muster der Kiever Graveurkunst aus dem XVII. und XVIII. jahrh. ergänzt werden. Wenn wir außerdem die dort befindlichen Reproduktionen der alten Malerei und Architektur erwähnen, bekommen wir ein vollständiges Bild der Mannigfaltigkeit und des Reichtums der materiellen Kultur, was in Verbindung mit dem oben besprochenen Texte dieses Buch einem jeden Historiker und Erforscher des slavischen Ostens wertvoll erscheinen lassen muß. Berlin. J. Mirtschuk.

Prof. D. Doroschenko: Schewischenko, der große ukrainische Nationaldichter. Verlag E. Wyrowyj, Berlin SW 47. (1929.) S. 48. kl. 8°.

Diese kleine, geschmackvoll ausgestattete Neuerscheinung auf dem Ge- biete der deutschen Ucrainica, ursprünglich ein Vortrag am Ukrainischen Wissenschaftlichen Institute in Berlin, ist der Persönlichkeit und dem dich- terischen Schaffen des unbestritten bedeutendsten ukrainischen Dichters des 19. Jahrhunderts gewidmet. Der Verfasser schildert recht plastisch das be- wegte Leben Sevéenkos und gibt eine gute, aber mehr die historischen Zu- sammenhänge, als die rein literarische Beschaffenheit der Werke beachtende Übersicht seiner Dichtung. Im Büchlein finden wir, an entsprechenden Stellen, auch kurze, aber sehr instruktive Schilderungen der literarischen und der historischen Entwicklung der Ukraine, so daß es zu den erst- klassigsten und inhaltsreichsten Erscheinungen auf dem Gebiete der auf streng wissenschaftlicher Basis beruhenden, das kulturelle Leben der Ukraine betreffenden Schriften informativen Charakters gezählt werden

421

kann. Den Abschluß des Büchleins bildet eine Würdigung der ungeheueren kulturellen und nationalen Bedeutung des Dichters, und die Probe einer selbständigen, von den üblichen, populären Ansichten abweichenden Cha- rakterisierung der sozialen, moralischen und religiösen Seite der Welt- anschauung Sevéenkos.

Berlin. M. HnatySak.

Prof. Dr. O. Eichelmann: Reforma miscevoho samourjado- vannja, na pidsiavi dem.-respubl. derZavnosiy (Die Selbstver- waltungsreform im Lichte des demokratisch-republikanischen Staatsgedankens.) DnistrianSkyj-Jubilaumsalmanach, S. 159— 237, Prag 1923.

_ In der gegenwärtigen Epoche der Krise des Parlamentarismus ist nun die Abhandlung des namhaften Spezialisten, der sich mit den einschlägigen Fragen mehr als 50 jahre lang sowohl theoretisch als auch in seiner Amts- praxis befaßte und dieselben auf weiten Studienreisen gesammelt hat, be- sonders bemerkenswert und enthält wertvolle und kühne Anregungen, die nicht bloß für Selbstverwaltungen, sondern auch für die Volksvertretungen allgemein verwendet werden könnten.

Was nun die autonomen Verwaltungsorgane anbelangt, so bekennt sich der Verfasser zu der sogenannten Gesellschaftstheorie, die im Gegensake zu der staatlichen die Selbstverwaltung der Staatsgesekgebung nicht unter- ordnet, sondern sie nebeneinanderreiht. Dieses Prinzip entwickelt er jedoch konsequent viel weiter im Sinne einer wirklichen Demokratisierung. Die Ortsbevölkerung soll nämlich schon in der Wahl des Selbstverwaltungs- sysiemes quasi souverän sein, weiter soll das Referendum nicht nur in allen

wichtigeren Angelegenheiten angerufen werden, sondern auch selbst ein- zugreifen berechtigt sein. Uber dem geschäftsführenden Gemeinderate soll es noch einen weiteren geben, der die wichtigen Entscheidungen zu treffen hätte und aus welchem der geschäftsführende periodisch zweckmäßig er- neuert werden soll.

Von noch weiterem Interesse sind aber die Ansichten des Verfassers über die Wahlmethoden überhaupt, die er in einer kritischen Untersuchung der gelienden Anschauungen zum Schlusse seiner Darlegungen bringt. Einem allgemeinen Wahlrechte widersetzt er sich grundsatzlich nicht, verweist aber auf die festgestellte Tatsache, daß sich durch die Frauenstimmen die früheren Wahlresultate bloß verdoppelt haben, empfiehlt weiter einen reiferen Alferszensus, etwa von 25 Jahren, und spricht sich gegen den Wahl- zwang aus. In den indirekten, auch mehrstufigen Wahlen sieht er keine Gefährdung der Reinheit von Ergebnissen und hält die heutige Öffentlichkeit für reif genug, auch das System von Pluralstimmen (je nach Alter, Familien- stand, Bildungsgrad und sonstigen Rücksichten) ernst in Erwägung zu ziehen. Das proportionale Wahlsystem bedürfe auch einiger Reformen. Vor allem soll der Wahlkoeffizient in bezug auf alle berechtigten Stimmen berechnet und bereits vor den Wahlen öffentlich bekannt gegeben werden. Weiter sollen zur möglichen Vermeidung von Restzahlen die heutigen Wahlbezirke ganz aufgehoben, also die Resultate von allen Wahlstatten zusammen- gezählt werden. Wenn durch etwaige Wahlabsentierungen die vorgesehenen Mandate auch nicht voll, jedenfalls aber mindestens zur Mehrzahl beset wären, so sollen doch nur diejenigen Kandidaten als gewählt angesehen werden, die mindestens eine dem Koeffizienten gleiche Stimmenanzahl auf sich vereinigt haben, und eventuell nur die Kadenz entsprechend verkürzt werden. Zur Wiederherstellung des persönlichen Verhältnisses von Wäh- lern und Gewählten sollen die gebundenen Listen ganz aufgelassen werden, und diejenigen Abgeordneten, welche den Koeffizienten mehrfach erreicht haben, dementsprechend auch mehrere Stimmen zuerkannt bekommen, da ja ohnehin nur solche wirkliche Vertrauensmänner in den Parlamenten den Ton angeben, während ihre Kollegen, die ihre Wahl bloß der Aufnahme in

422

dieselbe Liste verdanken, sich von den Beratungen meistenteils absentieren. Für den Fall der Verhinderung von Abgeordneten sollen gleichzeitig deren Vertreter gewählt werden, ihre Wahlresultate jedoch und ihre Stimmenzahl in den Vertretungskorpern ganz unabhängig von den ersteren berechnet werden. Der mögliche Einwand einer Kompliziertheit der vorgeschlagenen Reformen bildet kein Argument gegen deren Durchführung, ebenso wie auch die weiteste Autonomie der Selbstverwaltung nur deren Belebung und sichere Prosperität, keinesfalls aber eine Anarchie im Staate bedeutet. Berlin. A. Hladij.

S€akacichin: Narysy 2 gistoryi belaruskaga mastaziva (Studien aus der Geschichte der weifruthenischen Kunst.) Bd. 1. Minsk. Verlag: Inst. Belarus. Kul’tury. 1928. 280 S.

Das vorliegende Werk bildet den ersten Band einer ‚groß angelegten Geschichte der weißrussischen Kunst, die voraussichtlich fünf Bände um- fassen wird.

Der 1. Band dieser Publikation umfaßt die Altertiimlichkeiten der Grab- hügel Weißrußlands, die kirchliche Baukunst des 11.—12. Jahrhunderts, die militärische Baukunst Westweißrußlands im 13.—16. Jahrh. sowie die weiß- russische Gotik im 15.—16. Jahrh.

Die vorliegende Arbeit ist aus den Universitätsvorlesungen des Verf. entstanden und bildet den ersten Versuch der systematischen Darstellung der Geschichte der weißrussischen Kunst, daher macht Verf. selbst keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der Darstellung, da es noch an mancherlei Vorarbeiten fehlt.

Wesentlih sind an der Arbeit zweifellos die neuen Gesichtspunkte, unter denen das bisher von russischen und ponia en Forschern, die das Land als russisches resp. als polnisches Gebiet betrachteten, gesammelte Material gesichtet wird.

Niemand hat es bisher versucht, das typisch Weißrussische in der Kunst des Landes herauszuschälen. Die russischen Forscher versuchten, ihre Analyse der älteren Kultur formen Weißrußlands zum Beweis der apriorischen These von der Einheit dieser Kultur mit der älteren Kultur des Kiever und Moskauer Rußlands zu verwenden, indem sie den Einfluß der byzantinischen Kunst überschäßten. Verf. ist der Ansicht, daß die byzanti- nischen Einflüsse nicht einmal in der Kirchenkunst Weißrußlands vorherr- schend waren. Andererseits ließen die russischen Forscher die Einflüsse der westeuropaischen Kunsiformen in der Kunst Weißrußlands unbeachtet. Indessen spielten diese Einflüsse eine bedeutende Rolle. Es ist bemerkens- wert, daß selbst das kapitale Werk des berühmten russischen Kunsthisto- rikers Grabar’ „Die Geschichte der russischen Kunst“, das selbst die jüdische Holzbaukunst in Rußland mit behandelt, von Weißrußland über- haupt keine Notiz nimmil Anscheinend fand Grabar’ in Wei rußland nichts für die Geschichte der Kunst in Rußland Beachtenswertes!

Die polnischen Kunsthistoriker widmeten der Kunst Weißrußlands mehr Beachtung, behandelten aber Weißrußland als Teil Polens und hoben daher die Unterschiede zwischen der Kunst des eigentlichen Polens und der Kunst des Großfürstentums Litauen nicht klar genug hervor. Die ersten Entdecker der weißrussischen Kunst waren deutsche Gelehrte während des Welt- krieges, als Westweißrußland von deutschen Truppen beseki war: der Jenaer Professor Paul Weber und der Berliner Studienrat Dr. Albert Ippel waren die Kolumbusse der weißrussischen Kunst. Sie wurden bei diesen Entdeckungen allerdings von ortsansässigen Forschern [Brüder Lugkevié, Lastovski u. a. m.) sekundiert. Prof. Weber veröffentlichte 1917 eine Mono- graphie „Wilna, eine vergessene Kunststatte“, Dr. Albert Ippel organisierte in Wilna und Minsk Ausstellungen und veröffentlichte in dem 1919 er- schienenen Sammelwerk „Weißruthenien“ einen beachienswerten Beitrag „Zur weißrussischen Kunst“.

425

So wurde das Problem der weißrussischen Kunst von deutschen Ge- lehrten aufgerollt. Dr. Ippel fand Schemas des griechischen Theaters und. Tempels in gewissen Wirtschaftsgebäuden Weißrußlands, verwies auf das Schema der hellinistisch-römischen Villa in den Bauernhöfen des Gouver- nements Mohilev (bei Rogaéev) u.a.m.

Verf. knüpft an diese Vorarbeiten deutscher Forscher an und zeigt an Hand von Abbildungen die Evolution der Kirchenbaukunst in Weißrußland. Mit der Bildung des Großfürstentums Litauen verblassen allmählich die ur- sprünglichen byzantinischen Einflüsse, es entstehen neue politische und kulturelle Zentren.

Der militärische Kampf gegen die 5 Kreuzritter wirkt sich in der Baukunst des Landes aus. Der Burgbau der Ordensriffer wird zur Grundlage der späteren stilistischen Entwicklung der Baukunst in Weißruß- land, und zwar nicht nur lediglich der militärischen, sondern auch der zivilen und sogar kirchlichen Baukunst. Verf. weist nach, daß trob Uber- nahme dieses Stils die weißrussische Baukunst doch eine große Eigenart offenbarte, und zwar in Gestalt der eigentümlichen „weißrussischen Gotik“.

Hervorragende Muster dieser militärischen Burgbaukunst sind die Burgen in Nowogrudek (13. Jahrh.), Lida, Kreve, Troki (14. Jahrh.), Grodno (15. Jahrh.), Wilna (15.—16. Jahrh.) und als vollkommenster Abschluß die Burg in Mir.

Der Anfang des 16. Jahrh. bringt den Übergang von der Burg zum offenen Edelsig des Adels, von der Gotik zur romanischen Renaissance. Dieser Übergang erfolgt jedoch ohne Uberbruch, er entwickeli sich organisch aus der weißrussischen Gotik. Die zweite Hälfte des 16. Jahrh. steht im Zeichen der ruhigen und erhabenen Schloßbaukunst, der weiß- russischen Renaissance strengen und ruhigen Stils, die den Abschluß der staatlichen Baukunst Weißrußlands bedeutet, auf dem Höhepunkt der Feier- lichkeit und der Pracht kurz vor dem folgenden Niedergang nach dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit.

Verf. untersucht die Altertümlichkeiten der Grabhügel Weißrußlands und kommt zu dem Ergebnis, daß viel stärker als die Einflüsse Skan- dinaviens und von Byzanz auf die alte Kultur Weißrußlands die Kultur- einflüsse des syrisch-persischen Orients gewirkt haben, mit dem das Land bereits seit dem 6. Jahrh. durch Vermittlung der Chasaren und Bulgaren in regen Handelsbeziehungen stand. Aus dem Orient kam nach Weißrußland der mächtige Strom der dekorativen Formen mit der Vorherrschaft arabisch- syrischer Typen, deren Reichtum in den Ausgrabungen in Weißrußland so überraschend wirkt. Aus dem Westen drangen auf zwei Wegen (uber das Baltikum und über Ungarn) römische Kultureinflüsse ins Land. Der Mangel an chronologischen Daten macht die genaue Geschichte der Form der Grab- hügel unmöglich, daher beschränkt sich Verf. auf die Systematisierung des vorhandenen Materials. Die meisten Funde führt Verf. auf orientalische Kultureinflüsse zurück. Sie wurden aber fast alle im Lande umgearbeitet und ergaben selbständige Typen. Verf. weist Zusammenhänge zwischen der Ornamentik der Ausgrabungen und der modernen völkischen Or- namentik Weißrußlands nach, was für die traditionelle Beständigkeit der vom Volk übernommenen Motive der Ornamentik spricht. f

Die byzantinischen Einflüsse machen sich im verstärkten Maße erst im 16. Jahrh. geltend. Verf. weist darauf hin, daß bei der Übernahme der byzantinischen Formen der Kirchenbaukunst Smolensk, Polock und Vitebsk eine große Rolle bei der Übermittlung dieser Formen an den Norden ge- spielt haben.

Während die Baukunst von Novgorod im 10.—13. Jahrh. die übernom- menen byzantinisch-kiever Formen unverändert beibehalf, hat die Baukunst von Smolensk, Polock und Vitebsk die erst im 12. Jahrh. übernommenen byzantinisch-kiever Formen selbständig weiterentwickelt, indem sie für die Motive der Ornamentik und Elemente der Konstruktion das reiche Kapital an östlichen und westlichen Kultureinflüssen und örtlichen Traditionen ver- wertete, das in Weißrußland bereits vorhanden war. Hier, in den weiß-

424

russischen Kulturzentren, wurden bereits im 13. Jahrh. jene bewunderns- werten Vereinfachungen der byzantinischen Kompliziertheit vorgenommen, die als charakteristisch für die Baukunst von Novgorod angesehen werden, in Wirklichkeit aber von Novgorod aus Weißrußland übernommen wurden, das die kulturelle Metropole Novgorods und Pskovs gewesen ist. Dies verleiht der weißrussischen Baukunst außerordentliche Bedeutung für die Gesamtgeschichte der osteuropäischen slavischen Kunst. l

Wenn bis zum 16. Jahrh. man von weißrussischer Gotik nur im terri- torialen Sinne reden konnte, so erhält dieser Ausdruck, wie Verf. nach- weist, im 16. Jahrh. bereits eine formal-stilistische Bedeutung.

Nicht das Schema des deutsch-gotischen Tempels, sondern das von der weißrussischen Gotik gewandelte Schema der preußisch- gotischen Ritterburg lag dieser Baukunst zugrunde.

Diese Verbindung von Burg und Tempel ist auch in anderen Ländern bekannt, aber nur in Weißrußland entwickelte sich diese Verbindung in eine ständige stilistische architektonische Aquivalenz der ständigen Re- ligionskriege im Lande

erf. gibt eine vorzügliche Analyse der bemerkenswerten Original- schöpfungen der weißrussischen Gotik im Lande (Bernardinerkirche in Wilna, die Kirchen in Sinkovidi, Malo-Mozéikovo und Suprasi’), sowie eine Gesamtcharakteristik der architektonischen Eigenart der weißrussischen Gotik. Die vorzügliche Arbeit verrät umfassendes Wissen und Liebe zu dem Gegenstand der Betrachtung. Selbst die kühnsten Hypothesen des Verf. wirken überzeugend durch die immanente Logik der Entwicklung der architektonischen Formen.

Wilna. Vladimir Samojlo.

l. S’ven’cicki: Rozkwit kul’turna-nazionalnago Zitija schidnü Belorusi. Lemberg 1929.

S’ven’cicki interessiert sich bereits seit längerer Zeit für das Leben und Schaffen des weißrussischen Volkes. Bereits 1908 erschien sein erstes Werk über die Weißrussen. Im vorliegenden Werk stellt Verf. sich die Auf- gabe, eine Übersicht dessen zu geben, was auf literarischem Gebiet Weib- rußland in den lebten 20 Jahren geleistet hat. Besonders beschäftigt sich Verf. mit dem literarischen Schaffen der letzten 10 Jahre in der weißrussischen Sovetrepublik. Verf. ist der Ansicht, daß die lebten 10 Jahre „die Periode des Aufblühens des sozialen und nationalen Selbstbewußtseins bei allen unterjochten Völkern“ gewesen sind. Verf. ist ein glühender Verehrer des Leninismus, insbesondere in bezug auf dessen Nationalitätenpolitik. In dem Vorwort sucht er den Nachweis zu führen, daß nur die 3. Internationale das Selbstbestimmungsrecht der Völker gewährleistet. Nach diesem Vorwort, das sich von den üblichen Leitartikeln kommunistischer Blätter wenig unter- pire gelangt er zu einer Erorterung der neuesten . weißrussischen

iteratur.

Die neue Ara habe die alte Sklavenpsychologie aus der Welt geschafft. So beschäftigt sich denn die neue weißrussische Literatur mit den Außen- seitern, die in den neuen sozialen Bedingungen keinen geeigneten Plak finden konnten. Diese Außenseiter werden von dem Leben als unnölige, z. T. schädliche Elemente beiseite geschoben, vernichtet. Verf. gibt eine Reihe positiver Gestalten aus der neuesten weißrussischen Literatur, die die ideale Synthese der Persönlichkeit und des Kollektivs im neuen Weiß- rußland darstellen sollen. Verf. gibt eine Charakteristik der weißrussischen Dichter der Gegenwart und glaubt versichern zu können, daß es in der Seele des weißrussischen Dichters, des Schilderers des Lebens im neuen Weißrußland, keinen so abgrundtiefen Haß zu den „polnischen Herren“ gibt, wie in der Seele dieser Herren gegen die weißrussischen Bauern, die es wagten, sich Land und Freiheit zu nehmen. Selbst in der Schilderung der dramatischen Höhepunkte des sozialen Befreiungskampfes der weiß- russischen Bauern erstickt der Triumph über den Sieg seines Volkes in der

425

Seele des weißrussischen Dichters nicht das Gefühl der Humanitat gegen- über den Besiegten.

Verf. charakterisiert wie folgt die künstlerischen Methoden und den Stil weißrussischer Dichter der Gegenwart: „Die Weißrussen gehen mit den Worten sparsam um, sie lieben die Schablonen nicht, sie verabscheuen den Phrasenschwall, markischreierische Unterstreichungen der Wichtigkeit des Dargestellten sind ihnen verhaßt, langatmige Schilderungen der Schönheit der Natur liegen ihnen nicht. Der weißrussische Dichter begnügt sich mit einer knappen Darstellung der ne In einigen Strichen offenbart sich das Ereignis von selbst . dieser Art der künstlerischen Einfachheit und Knappheit der Dare folgen die weißrussischen Dichter dem Bei- spiel der besten Meister der Weltliteratur.“ Verf. verzeichnet mit Genug- tuung, daß es bei den weißrussischen Dichtern keinerlei byzantinische Be- geisterung für die Sovetordnung gibt. Nicht einmal bei den „getreuen Dichtern“ der literarischen Gruppe „Molodnjak“ sei Speichelleckerei und Unterwiirfigkeit zu finden.

Die weißrussischen Dichter der Gegenwart haben die große revolutio- näre Umgestaltung des Lebens in Sovetweißrußland geschildert, die Um- gestaltung, die den Weißrussen Schule, Wissenschaft, Politik und Staats- verwaltung in ihrer Muttersprache brachte. Die einfache Bauernsprache wurde zur Staatssprache erhoben dies ist die größte und tiefste Revo- lution in der Geschichte Weißrußlands. Fraglos sei, daß das weißrussische Volk aus diesem Erlebnis hinaus wie ein Mann die Eroberungen der Revo- lution verteidigen würde. Verf. glaubt dies auch für die anderen nationalen Sovetrepubliken behaupten zu können. Das Buch ist auf Grund persön- licher Eindrücke in der nn Sovetrepublik geschrieben worden. Man kann das nationalbolschewistische Credo des Verf. ablehnen, fraglos hingegen ist die Liebe des Verf. zum weißrussischen Volk, seinem Schaffen und seiner Seele. Diese Liebe geht einen anderen Erkenntnisweg als der diskontierende Verstand des Wissenschaftlers. Immerhin bietet dies Buch wertvolles Material für das Verständnis Weißrußlands, auch dem, der sich dem nationalbolschewistischen Glaubensbekenninis des Verf. nicht anzu- schließen vermag.

Wilna. Vladimir Samojlo.

Die polnische Literatur der Gegenwart: Ferdinand Goetel: Menschheit. Zwei Erzählungen. 185 Seiten. Julius Kaden- Bandrowski: Novellen. 209 Seiten. Beide Bande im Horen-Verlag. Berlin-Grunewald 1928.

Daß es ein glücklicher Gedanken war, die in Deutschland . so gut wie unbekannte polnische Schöne Literatur der Gegenwart durch guie Über- setzungen zu verbreiten, bedarf keines langen Beweises. Ich habe in zahl- losen Artikeln dafür mich eingesebt und bin stolz darauf, daß der hoffentlich auch vom Erfolg begleitete Versuch des Horen-Verlags ‘auf meine Initiative zurückgeht. Die Auswahl der Autoren ist in Polen sehr leicht. Es mußte mit kleineren Erzählungen begonnen werden, und da wäre, neben Kaden- Bandrowski und Goetel eigentlich nur noch an die Frauen Rygier-Nalkowska und Kossak-Szczucka zu denken. Doch in der Literatur gilt die Galanterie für nichts, und so sei den beiden ausgezeichneten polnischen Novellisten der Vortritt eingeräumt. Goefels Erzählungen schöpfen ihren Stoff aus dem Kriegserlebnis, genauer, aus der Erinnerung an die vom Autor im russischen Zentralasien verbrachte Gefangenschaft. In ihrer Mischung von unterdrückter Emotion und zur Schau getragener Brutalität der Hand- lung, der Sprache, geben sie ein getreues Bild der schriftstellerischen: Per- sonlichkeit Goetels, eines Realisten, in dem zu tiefst die Sehnsucht nach dem Außerordentlichen, also nach dem alten romantischen Land schlummert.

Die Auswahl aus den Erzählungen, die Kaden-Bandrowski im Zyklus der „Stadt meiner Mutter“ vereint hatte, scheint mir nicht so glücklich. Ich

426

vermisse den herrlichen „Kuckuck“, meiner Ansicht nach die schönste No- velle, die Kaden-Bandrowski je geschrieben hal, und die entzückende „Schule“. Dafür hätte ich „Götter“ nicht ungerne vermiti. Sonst erscheint auch in diesem Band das Gebotene zu rühmen. Die beiden Erzählungen „Politik“ und „Der lezte Namenstag“ werden dem großen polnischen Schriftsteller sicher die Bewunderung der künstlerisch Reizsamen und die herzliche Liebe der großen Masse gewinnen, die ich ihm als Lesergemeinde wünsche und vorhersage. Die Übertragung der beiden Bücher durch Alexander von Gutiry ist nach jeder Hinsicht vortrefflich. Wien. Otto Forsi-Battaglia.

GiovanniMaver: Alle fonti del romanticismo polacco. Roma, Istituto per l’Europa Orientale, 1929. 21 S., 8°. (Piccola biblio- teca slava. 5.)

_Es ist eine wenig beachiete Episode aus der polnischen Literatur, die M. in dieser Broschüre behandelt, um im Gegensatz zu polnischen Ur- teilen nachzuweisen, daß in ihr einer der wichtigsten Ausgangspunkte der polnischen Romantik zu suchen ist, nämlich die Gesänge der Kon- foderierten von Bar. In diesen patriotischen Gedichten findet sich neben Minderwertigem vieles künstlerisch Wertvolle, Gedichte, die nach Mickiewicz’ Urteil lyrischen Eingebungen gleichkommen. M. findet, daß die von der »Diblioteka Narodowa“ herausgegebene „Poezja Barska“, in der Kazimierz Kolbuzewski reiches bisher unveroffentlichtes Material veröffentlicht hat, allerhand enthält, was den bereits bekannt gewordenen Dichtungen an Wert bedeutend nachsteht. Es ist zu bedauern, daß M. seinen Untersuchungen ‘nicht eine bibliographische Übersicht über die einschlägige Literatur bei- gegeben hat. Sehr interessant sind seine Bemerkungen über die übliche Methode, große geisiige Bewegungen im Gebiet der ‚Literatur, die auf viele Nationen übergegriffen haben, nur durch Bestatigungen des ihnen Gemeinsamen zu erforschen, er findet, daß es dabei nur auf die Beobachtung der Nachahmungen und Entlehnungen herauskommt, während gerade das nicht Gleichartige innerhalb solcher Literaturstromungen dazu führt, das jeder Nation Charakteristische zu erfassen. So handeli es sich auch hier für ihn zumeist darum, das der polnischen Romantik Ureigene zu erfassen. Er kommt zu der Überzeugung, daß das der patriotische Gehalt in höchster Potenz ist, er hat in der Blüte der Romantik bei den Polen den Höhepunkt erreicht. Von diesem Gesichis- punkt aus betrachtet, gewinnen die Gesänge von Bar eine ganz hervor- ragende Bedeutung als erste Stimmen, die von einem solchen glühenden Patriotismus getragen waren. M. prägt das Wort „ethische Romantik“, sie ist aufs engste mit den Schicksalen Polens verknüpft. Die Konfoderation von Bar wurde vier Jahre vor der ersten Teilung Polens geschlossen. M. verfolgt die Jahrzehnte umfassende Zeitspanne bis zum Auftauchen der polnischen Legionen, innerhalb deren die polnische Literatur, fro der schweren Schicksalsschläge die das Land. betroffen, keine patriotischen Dichtungen aufzuweisen hat; auch die Legionen selbst, deren abenteuer- liches Leben so viel Romantik in sich trug, haben nichts Nennenswertes an dieser Art Dichtung hinterlassen. In der Zwischenzeit nährte sich Polen von europäischen Literatureinfliissen. Und doch hai, nach der Meinung Mavers, Mickiewicz recht gehabt, als er behauptete, die Poesie von Bar habe unsichtbar über der Epoche des Stanislaw August geschwebt und sei dann in. die Scharen der Legionen übergegangen. Einen direkten Beweis freilich kann M. dafür nicht erbringen, und so wird es dem Skeptiker un- benommen sein zu behaupten, daß hier nicht ein Übergang von einer Epoche zur anderen vorliegt und daß die Gesänge von Bar zeitlich zu weit von der polnischen Romantik abliegen, um als ihre Quelle gelten zu können.

Breslau. | Emmy Haertel.

427

Adam Galifiski: Młoda Polska. Poezja i Dramat, Antologja i Literatura. Łódź 1928, Ksieg. Karola Neumillera.

Das Buch will, nach dem Vorwort, als Handbuch fiir Mittelschulen und fur Interessierte zu eigener Information betrachtet werden. Die kurze Vor- rede äußert sich weiterhin über das gesteckte Ziel: das Buch soll dem Zweck dienen, als Anthologie ein Bild der poln. Literatur nach 1890 zu geben, wobei, um den Einfluß des Westens anschaulich zu machen, auch dieser mit wichtigen Proben (in poln. Übersekufg) aus Verlaine, Rimbaud, Mallarmé, Moreaux, Rodenbach, Verhaeren, Maeterlinck vertreten ist. Dann aber will das Werk auch als literarisches Handbuch für die „Mioda Polska“ dienen und gibt die dementsprechende literarische Zusammenfassung, unter Betonung der wichtigen Merkmale und Eigenarten dieser Stromung und ihrer Entwicklung, sowie die Beziehungen und das Verhältnis zu anderen Richtungen. So ist im 6. Abschnitt „Młoda Polska i Romantyzm“, im 7. dann speziell „Mioda Polska i Slowacki“ usw. behandelt. Wichtigste Literatur- angaben und ein guter Index fehlen nicht.

Wenn der Verf. auch nicht unmittelbar wissenschaftlichen Zwecken dienen will und mehr das pädagogische Interesse verfolgt, so wird doch seine geschickte und alles Wissenswerte instruktiv zusammenstellende Ar- beit als eine willkommene Zusammenfassung begrüßt werden, besonders außerhalb Polens, wo doch die vorhandene Literatur nicht ohne weiteres so leicht zur Hand ist.

Breslau. Erdmann Hanisch.

Janina Koztowska-Studnicka: Katalog rękopisów pol- skich (poezyj), wywiezionych niegdy$ do Cesarskiej Bibljoteki Publicznej w Petersburgu, znajdujących sie obecnie w Biljotece Uniwersyteckiej w Warszawie. [Katalog der polnischen Hand- schriften (Dichtung), die einst in die Kaiserliche Offentliche Bi- bliothek nach Petersburg ausgeführt wurden und jekt sich in der Universitäts-Bibliothek in Warschau befinden]. Kraköw, Polska Akademja Umiejętności, S. IV + 132.

Frau Dr. Koztowska hat ihren Katalog noch vor dem Weltkriege be- arbeitet und den Druck begonnen, aber durch die Kriegsereignisse ist die Handschrift verloren gegangen. Jekt hat die Krakauer Akademie der Wissenschaften die Vollendung des Katalogs durchgeführt, da er an Ak- tualitat für die polnische Literaturwissenschaft gewonnen hatte, als die Handschriften selbst auf Grund des Rigaischen Friedensvertrages nach War- schau zurückgegeben wurden. :

Die Verfasserin hat nur die Abteilung „Polonica XIV. Poesie“ bearbeitet, welche aus 194 Handschriften besteht. Diese Abteilung umfaßt jedoch nicht das ganze Material der Sammlung; man kann noch viel Stoff in anderen Teilen finden, vor allem in der Abteilung „Diversae linguae“. Die im Ka- talog beschriebenen Manuskripte stammen aus allen Sammlungen, die von Warschau und anderswo nach Rußland konfisziert wurden. Chronologisch gehören die meisten dem XVII. und XVIII. Jahrhundert an, unter ihnen hat Professor Brickner seine besten Funde auf dem Gebiete der altpolnischen Literatur gemacht. (Potocki, Twardowski u. a.) Viel Material wird sich auch fur den politischen Historiker in verschiedenen Dithyramben, Gelegenheits- dichtungen, Satiren usw. finden. Die pseudoklassische Literatur ist gut ver- treten durch den Kreis der Warschauer Gelehrten Gesellschaft (Towarzystwo Przyjaciół Nauk). Obzwar keine Revelationen hier zu erwarten sind, be- kommen wir doch viele neue Quellen zur polnischen Literaturgeschichte in der Periode des Verbluhens, des Unterganges und der Regeneration im XVIII. Jhdt., die noch sehr wenig beleuchtet und bearbeitet sind.

Lemberg. K. Tyszkowski.

428

Jakob Jaizwank: Wendische (Sorbische) Bibliographie (= Ver- offentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich- Wilhelms- Universitat Berlin, herausgeg. v. Max Vasmer, Nr. 2). 1929, in Kommission bei Markert u. Petters, Leipzig.

Max Vasmer hat dem ersten Heft seiner ,,Veroffentlichungen”, wel- ches die, wohl allenthalben (trob Brückners Einwendungen in Slavia Occidentalis VII 73) als bedeutsam mit bestem Recht anerkannte Arbeit Pircheggers über die slav. Ortsnamen im Mürzgebiei 1927 brachte, im vorliegenden zweiten Heft von Jakob Jatzwank, der nach seiner Stellung als Landesbibliothekar in Dresden wie durch die liebevolle Hin- gabe an die literarische Produktion seines Volkes am berufensten für eine solche mühevolle Aufgabe war, eine wendische (sorbische) Bibliographie folgen lassen.

Eine eingehende Gliederung des Stoffes in elf Teile und die beige- gebenen 4 Register ermöglichen eine gute Übersicht und rasche Orien- tierung. Das Schicksal aller solcher Bibliographien ist ja immer eine nur relative Vollständigkeit: Verf. hebt selbst in den einleitenden Worten die diesbezüglichen Mängel seines Werkes hervor. Da ihm bibliographische Studien im Auslande beruflich nicht möglich waren, war es seiner Arbeit sicherlich sehr förderlich, der Unterstükung eines Fachkundigen, wie es Päta ist, sich erfreuen zu können. Vielleicht hatte J. seine grundsäßliche Ablehnung, ein Verzeichnis der wendischen Handschriften zu geben, in dem besonderen Falle des Wendischen revidieren können. Vielleicht wäre ihm dann, bei einer solchen Zusammenstellung, auch das Mißgeschick nicht untergelaufen, daß die Trautmannsche Ausgabe des Wolfenbuttler Psalters v. J. 1928 bei ihm nicht verzeichnet ist: weder unter dem Stichwort „Psalmen“ noch im Autorenregister habe ich wenigstens diese Ausgabe finden konnen. Allerdings ist die Ausgabe des Warichius auch nicht unter dem Namen des Herausgebers K. H. Meyer, sondern nur unter „Warichius“ im Verfasser- register zu suchen.

Breslau. Erdmann Hanisch.

28 NF 5 Ä 429

ZEITSCHRIFTENSCHAU

BULGARIEN

A.B.Michajlov:K voprosu o vremeni proischoZdenija U<itel’nogo Evangelija Konstantina Bolgarskogo. Slavia 7, 2 (1928). S. 284 297.

Verf. prüft an der Hand eingehender chronologischer Untersuchungen und unter Anführung einer die Jahre 880—907 umfassenden Tabelle, welche die zeitlichen Abstände des Datums der 1 zwischen Ostern und dem Fest der Kreuzeserhöhung usw. aufweist, und bei deren Zusammenstellung ihm der Mathematiker Bjusgens behilflich gewesen ist, nach, daß die bis- herigen Annahmen über die Datierung des Evangeliums als nicht zutreffend anzusehen sein dürften, nachdem eine bestimmte Datierung der Schrift selbst bei allen in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten sich als un- möglich herausstellt. Außerdem halt er dafür, daß die drei Abschriften des Ucitel’skoe Evangelie von einem Original herrühren, welches entweder im J. 946 oder i. J. 1136 erschienen war, nicht früher und nicht später.

Emmy Haertel.

Renato Poggioli: N poeta bulgaro Péjo K. javorov. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 317—337.

_ Javorov ist einer der Ersten gewesen, welcher den französischen Sym- bolismus und somit den Geist der jüngsten Dichtergeneration des Wesiens aufnahm und ihn in die noch junge bulgarische Literatur einführte. Seine Größe besteht darin, daß er sich von bloßer Nachahmung fernhielt und die empfangenen Eindrücke in seiner eigenen tiefempfundenen Dichtung zu Fleisch und Blut werden ließ. Diese Einfühlung in die Moderne stellt den Gipfel seines Schaffens dar, seine frühesten Dichtungen, die „Stichot- vorenija“ v. J. 1901, welche in der Gesamtausgabe seiner Werke unter dem Titel „Antologija“ stehen, sind ungleich an Wert und in sich selbst mit- unter unausgeglichen. Neben mittelmagigen Dichtungen sozialpolitischen Inhalts stehen temperamentvolle patriotische Lieder, von echter Lyrik durch- drungene Naturstimmungen die Esenni motivi und äußerst originelle, dem bulgarischen Folklore verwandte Schöpfungen, die bereits den künf- tigen Meister ahnen lassen. Gerade eine Dichtung der lebigenannten Kate- gorie „Kaliopa“, womit Javorov sich zum ersten Male vor die Öffentlichkeit wagte (veröffentl. in „Misül“, 10., 1900), erregte Penčo Slavejkovs Aufmerk- samkeit. Javorov hat trob dieses Erfolges späterhin diese Dichtungsart aufgegeben und sich Stoffen zugewandi, die in ihrer Verarbeitung erkennen lassen, wie der Dichter bereits auf dem Wege zu seiner eigensten Welt war. Hier ist die Dichtung „Armenci“ besonders charakteristisch. Die von ihm besungenen und beklagten Armenier sind nicht nur Flüchtlinge, für die sein patriotisches Herz Mitleid hat, sondern sie repräsentieren für ihn die aus dem Eden verjagte Menschheit. Diese Idee, das Gefühl des Verbannt-

450

seins aus anderen Welten, wird später typisch für Javorovs Lyrik, und ebenso die Vorstellung, daß die menschliche Seele ein Echo, eine Art Zuruf außerweltlicher Seelen sei. In einer seiner frühesten Dichtungen erbitiet er für sich von Goff einen Stern und eine Stimme, und sei es auch die eines Nachtvogels. Auch das wird spaterhin typisch für seine Lyrik: für ihn wird die Welt, in räumlicher Ausdehnung vorgestellt, zum bestirnten Himmel, zeitlich gefaßt, zur Nachtstunde. |

Im zweiten Bande seiner Dichfungen, in den „Bezsünici“ und „Podir sénkité na oblacité“, zeigt Javorov bereits den reifen Künstler und Men- schen, aus ihnen spricht ein Geist, welcher das Alltagsleben und die All- tagsmenschen nicht begreifen kann, dem aber in den Träumen eines Halb- schlafes, mit fast mediumaler Deutlichkeit, ätherische Welten vor die Seele treten, in denen er einmal glaubt gelebt zu haben und nach denen seine Seele sich sehnt. P. vergleicht die Psyche Javorovs mit einem zu Fleisch und Blut gewordenen Engel, der dazu verurteilt ist, das menschliche Leben, als gleichfalls sündiger Mensch, zu durchleben, in dem aber die Erinnerung an seine überirdische Heimat fortlebt, und es wird für ihn zur Qual, daß er sich ihrer nicht mehr klar erinnern kann. Aus dieser ewigen Ungewiß- heit entsteht ihm zugleich ein Todessehnen und Todesfürchten. Immer aber fühlt sich der Dichter gleich einer Stimme „clamans in deserto“.

In dieser Verlassenheit tröstet ihn nur die Erinnerung an die Mutter- liebe. Aber auch hier versagt der Trost, denn aus diesem Liebessehnen erwacht die geschlechtliche Liebe, die ihn enttäuscht. P. glaubt dieses Schwanken zwischen Wunsch und Enttäuschung, welches in dem Dichter schließlich das Bewußtsein des Altwerdens erweckte, autobiographisch wiedergegeben in der Dichtung „Toma“, er mißt deshalb diesem Werk eine ganz besondere Bedeutung bei. In dieser Episode aus dem Leben des altgewordenen Aposiels Thomas findet P. fast die gesamte Summe dessen wieder, was Javorov in seinem bisherigen Schaffen zum Ausdruck gebracht: das nächtliche Dunkel, in das diese Szene getaucht ist, der Zuruf der Apostel aus diesem Dunkel heraus, die Thomas an den Sternen ent- ziindete Fackeln bringen wollen, dessen Klage, daß das Alter ihn blind gemacht habe, dann das Verlöschen der Fackeln usw. Das Motiv der Blindheit, das hier zum ersten Male anklingt, Kehrt dann häufig wieder in Javorovs Dichtungen, in dieser Vorstellung wird die Qual der Vereinsamung noch bitterer. Aus der Verzweiflung, die nur noch nach einem Nirvana zu streben scheint, bildet sich jedoch die Vorstellung einer Flamme, die als Symbol des Lebens und als das Streben nach einem Opfertode zu deuten ist. In „Dvě duši“ kommi die Identität von Leben und Feuer am deutlichsten zum Ausdruck. Die Flammen ihrerseits identifizieren sich für javorov weiterhin mit dem Begriff der Holle, des Dämonischen. Dem Leben selbst aber bleibt Javorov fremd. In einer seiner schönsten Dichtungen „Maska“ bringt er das zum Ausdruck, in „Smürt’ta“, das nicht zu seinen schönsten Dichtungen zu zählen ist, aber zu denen, die für seine Gedankengänge besonders typisch sind, ersteht dann die Vorstellung des allbeherrschenden und allvernichtenden Todes, der „Allmutter“, wie Javorov sagt. Ihm, dem jeder sonstige Glauben fehlt, wird der Tod schließlich zu Glauben und Hoffnung, aber wieder schleicht sich der Zweifel ein, und der Dichter kehrt zur sichtbaren Natur zurück und klammert sich liebend an ihre bescheiden- sten Schöpfungen, die Veilchen „Temenugi“. Javorov endete durch Selbst- mord, nachdem ein mißlungener Selbstmordversuch zur Erblindung geführt.

P. widmet noch der formalen Schönheit der Dichtungen einige Worte. Die Sprache folgt den wechselnden Seelenzustanden mit wunderbarer Feinheit. Züge, die an Maeterlynck erinnern: Ritornelle und Wieder- holungen, scheinen der adäquate Ausdruck für diesen „Dichter des Viel- leicht und des Wer weiß?“ zu sein. Es liegt in seiner Sprache eine äthe- rische Leichtigkeit, sie schafft visionäre Vorsiellungen, wie sie der Opium- raucher haben mag. Diese Dichtung ist aber prophetisch zugleich. P. denkt hierbei an die zwei Leitmotive der javorovschen Dichtung: Blindheit und Tod. Emmy Haertel.

451

RUSSLAND

N. K. Piksanov: Griboedov als Meister. Novyj Mir, März 1929, S. 141—156.

Dieser Artikel („Griboedov-Master“) entstand anläßlich des 100. Todes- tages des Autors von „Verstand schafft Leiden“. Piksanov, Verfasser einer Spezialarbeit „Die Schaffensgeschichte von Verstand schafft Leiden“ (Tvor- €eskaja istorija Gorja ot uma“, M. 1929), untersucht hier auf Grund unver- Offentlichter Manuskripte die formelle Entstehungsgeschichte der Griboedov- schen Komödie. Er weist nach, daß dieser damals so ungewöhnlichen Natürlichkeit und Leichtigkeit der dichterischen Sprache, die Zeitgenossen wie Puškin, A. BestuZev, N. Greé u.a. entzückte, eine langwierige und harte Arbeit des Dichters zugrunde lag. Die berühmten Verse, die heute noch als Sprichworte gebraucht werden, kosteten dem Verfasser Anstrengung und Mühe. Die ersten lyrischen und dramatischen Werke Griboedovs sind un- beholfen und sprachlich klanglos und künstlich. Bereits die erste Redaktion der Komödie sticht von ihnen vorteilhaft ab. Die zahlreichen Varianten der einzelnen Verse zeugen von einer bewußten Arbeit, die der Einfachheit, Volkstumlichkeit und rhythmischem Klang der Sprache galt. Auch ganze Szenen wurden einer vollkommenen Umarbeitung unterworfen, die jedoch an der Gesamtheit des dichterischen Planes, der von vornherein feststand, nichts änderte. Die Komödie zeigt Griboedov als einen reifen Meister, den geborenen Dramaturgen, der alle künstlerischen Mittel beherrschte und sich über die Wichtigkeit der dramatischen Elemente Knappheit und Lebendig- keit der bildvollen Sprache, schneller Entwicklung der Handlung voll- kommen im Klaren war. Eugenie Salkind.

I. Tr 0 ckij: Der erste professionelle Verräter (Pervyj provokator- i professional). „Novyj Mir“, Februar 1929, S. 182-192.

Mit dem Namen von Ivan Servud (John Sherwood), des Verräters der Dekabristen, beginnt die lange Liste der politischen Verräter in Ruß- land. Im Ausgange des 18. Jahrh. und im Anfang des 19. wird in Rußland der Mangel an ausgebildeten technischen Kräften besonders spürbar. Unter den zahlreichen Ausländern, die der Einladung Pauls I. Folge leistefen, be- fand sich auch der Vater Servuds, ein Mechaniker aus Kent. Die Jugend- jahre Servuds sind noch immer in ein tiefes Dunkel gehüllt, das auch seine stark aufgebauschte Autobiographie nicht zu lüften vermag. Man begegnet dem 22jährigen Servud zunächst in den Militärkolonien im Süden Rußlands, wo er bereits als geheimer Polizeiagent zu wirken scheint. Hier gelingt es ihm auch, der Südlichen Gesellschafi der Dekabristen auf die Spur zu kommen und das Vertrauen eines Mitglieds (Vadkovskij) zu gewinnen. Danach kommt die Glanzepisode seiner Karriere: der persönliche Bericht ane onder ls I.: dieser Verrat hat ihm später Adel, Geld und Stellung ein- gebra

Nach der Unterdrückung des Dekabristenaufstandes wurde die berüch- tigte Ill. Abteilung ins Leben gerufen. Dabei wurde in erster Linie an Servud gedacht, der bereits eine Probe seiner Begabung und Initiative ge- liefert hat. Anfang 1827 wird Servud, mit geheimen Instruktionen ausge- rüstet, nach dem Süden Rußlands als Revisor geschicki. Hier spielt er einen Revisor vom Chlestakov’schen Schlage, übertreibt seine Vollmacht und wird schließlich abberufen. Jedoch im Jahre 1828 erscheint er wieder in Kiev, gründet hier auf eigene Gefahr eine selbständige Polizeiorganisation und bereitet eine neue Provokation vor: er versucht aus den Resten der Freimaurerkreise eine neue geheime Gesellschaft zu bilden. Der Plan wird rechtzeitig entdeckt; der Gendarmenchef Graf Benkendorff vermerkie un- geduldig auf dem ihm zugesandfen Bericht: „Eine reine Pest ist dieser Servud!“ Er muß nun seinen Dienst quittieren, und es geht allmählich bergab mit ihm: nach vielen zweifelhaften Spekulationen, Betrugsversuchen und

452

neuen Provokationen landet er in der Schlisselburger Festung, nachdem er eine verleumderische Anklage der Ill. Abteilung an seinen alten Gönner, den Großfürsten Michail Pavlovič gerichtet hat. Im Jahre 1851 verließ 5. die Festung und starb 1867 als gebrochener hilfloser Mann; er erhielt jedoch bis an sein Lebensende eine Unterstujung vom Hofe. Diese Abenteurer- karriere trägt die typischen Züge der Epoche: das Rußland Nikolaus’ |. war ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten für einen Mann, der gleich Servud die Tradition des westlichen Abenteurertums in Rußland fortsekte und keine Mittel scheute, um seine dunklen Ziele zu erreichen. Eugenie Salkind.

G. Steklov: N. G, CernySevskij. Krasnaja Nov’. August 1928. S. 154—170.

Der bekannte bolševistishe Forscher der russ. revolutionären Be- wegung widmet hier einen. Artikel über C. zum Andenken an seinen 100- jährigen Geburtstag (12./24. Juli 1828). C. wurde durch den Einfluß der revo- lutionären Stimmung im Europa von 1848, durch die Lektüre der französi- schen Utopisten und deutscher materialistischer Philosophie zum Revo- lutionar geformt. Seine Bedeutung für das revolutionäre Rußland war enorm. Er war hier der erste Prediger der materialistischen Philosophie Feuerbachs und Bekampfer der idealistischen Doktrin. Unabhängig von Marx, den er vor seiner Verhaftung nie gelesen hatte, kam C. zum histo- rischen Materialismus. Auch er sieht nur Ökonomische Ursachen im histo- rischen Prozeß und im Klassenkampf das Grundprinzip der Geschichte.

Als Nationalökonom treibt er ähnlich wie Marx scharfe Kritik der bürgerlichen Wissenschaft. Obwohl der Autor C. zu den Utopisten zählt, da er in seinen nationalokonomischen Anschauungen die russische Ge- meinde als zukünftiges revolutionares Grundprinzip sieht, so nennt er ihn doch den ersten revolutionären Kommunisten. C. hoffte, daß Rußland durch die Gemeinde eine verkürzte kapitalistische Periode durchzumachen hätte, daß die zukünftige Revolution eine Bauernrevolution sein werde, die durch die Revolution des westlichen Proletariats unterstüßt werden würde.

Seit 1858 stand C. an der Spitze der russ. radikalen Intelligenz und führte auf den Seiten des Sovremenniks Kampf für eine radikale Durch- führung der Bauernreform und gegen den gemäßigten Liberalismus. Nach der Auffassung C.’s glaubt Verf. behaupten zu können, daß nach dem Um- schwunge in Rußland eine radikale revolutionäre Partei die Macht ergreifen würde und mit energischen Maßnahmen, rotem Terror, politischer Entrech- tung der besitzenden Klassen, Enteignung von Land und Kapitalien die Prinzipien der Revolution ins Leben einführen müßte. Andererseits mub der Autor zugeben, daß C. für den Moment sich mit einer demokratischen Konstitution zufrieden gegeben hafte.

Die Gruppe um C. gab Proklamationen heraus, von denen einige von C. selbst verfaßt wurden. Nun aber wurde C. auf Grund einer anonymen Denunziation und des Verrats eines gewissen Kostomarov verraten; ohne jegliche Beweise für eine Schuld verurteilt, kam er in die Verbannung. Aus Sibirien kehrte er als müder und erschopfter Greis zurück, aber seine revolutionäre Gesinnung war nicht zermürbt, und sein wissenschaftliches Interesse war lebendig. 2

_ Nach seinem Tode waren in ganz Rußland Sympathiekundgebungen für sein Andenken. Sein Name wurde zum Symbol fur alle Kämpfer für ein neues Rußland. Nadežda Jaffe.

Autobiographische Bekundungen M. F. Gracevskij’s. Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 149— 162.

Zur Biographie Gralevskiji’s und zur Geschichte der revolutionären Bewegung der siebziger Jahre bringt S. Valk die „Avtobiogra- ficeskie pokazanija M. F. Gralevskogo“. Es sind das Auf-

455

zeichnungen, die Gracevskij (geb. 1849, gest. 1887) 1882 auf Verlangen der Gendarmerie niederschreiben mußte und die zu seinen ee ngen, ara osack.

Schreiben A. P. S€apov’s an Alexander Il. im Jahre 1861. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 150—156.

Aus Anlag der Bauernbefreiung kam es im Jahre 1861 zu Unruhen im Dorfe Bezdna, Gouvernement Kazań, die zu Erschießungen von Bauern dieses Dorfes führten. An der Bahre dieser Opfer wurde eine demon- strative Totenmesse abgehalten, über die der Krasnyj Archiv Bd. 17, S. 181—185, einen Beitrag brachte. Beteiligt hatte sich an der Totenmesse auch der junge Geschichtsprofessor an der Kazaner Universität Afanasıj Stapov und wurde hierfür seines Amts entsetzt und nach Petersburg ver- bannt. Hier in Petersburg ist von ihm das „Pi$mo A. P. S€apova Aleksandru II v 1861 godu“ geschrieben worden, das A. Si- dorov nach dem Original im Moskauer Archiv Revoljucii i VneSnej Poli- tiki mit kurzem Begleitwort hier publiziert. 1

Séapov, der nach friedlicher Evolution sucht und dem die politischen Zustände Englands lockend vorschweben, entwirft dem Caren einen Plan, wie von der Hebung des Bildungswesens und seiner Befreiung von allen Fesseln ständischer Ungleichheit der Weg zur Selbstverwaltung der Pro- vinzen und von da zum zentralen Selbstverwaltungsorgan des Reichs, eben- falls unter Aufhebung ständischer Ungleichheit, führen soll. Für die Frei- heit des Worts und der Presse, die selbstverständlich kommen muß, sieht er ebenfalls eine allmähliche Entwicklung vor. Eine besondere Note bilden seine Vorschläge zur wirtschaftlichen Verselbstandigung der einzelnen Ge- biete Rußlands, er verweist dabei als abschreckend auf die Zentralisierung des Bankwesens in Frankreich.

Diese Vorschläge schließt Scapov mit der Bitte um Wiederzulassung zu stiller Gelehrtenarbeit, die ihm bekanntlich nicht mehr zuteil wurde.

Harald Cosack.

Seton-Watson: „Pobedonoscev and Alexander II.“ - Slavonic Review. Juni 1928.

Verf. behandelt hier die Beziehungen Robedonoscev’s zu Alexander Ill. in dessen Kronprinzenzeit.

Als Hauptquelle dienen die Briefe P.’s an die beiden Schwestern Tjutlev, Töchter des berühmten Dichters. Mit der jüngeren, Anna, hatte P. in den 60er Jahren bei Hofe Bekanntschaft geschlossen, wo sie Erzieherin einer der Prinzessinnen war. P. war damals Erzieher des früh verstorbe- nen Kronprinzen Nikolai Aleksandrovič. Als Anna 1865 den berühmten Slavophilen Ivan Aksakov heiratete, den oft Meinungsverschiedenheiten von P. trennten, trat die jüngere Schwester, Katharina, als P. s Vertraute an ihre Stelle; von den 550 jetz veröffentlichten Briefen sind 40 an Anna, die anderen an Katharina gerichtet. Katharina fand mit P. ein gemeinsames Terrain in slavophilen und religiösen Anschauungen. f er

P. war, wie man es aus den Briefen an die Schwestern Tjutlev ersicht, zuerst dem Großfürsten Nikolai Aleksandrovič treu ergeben und über den jüngeren Bruder vollkommen. Auch nach dem am 12. April 1865 er- folgten Tode Nikolai Aleksandrovi&'s blieb der durch das Unglück gebeugte P. dem Andenken seines früheren Lieblingsschülers treu, und erst 1867 näherte er sich dem neuen Kronprinzen. Er entdeckt in ihm ein russisches Herz und ist von dem idealen Familienleben im kronprinzlichen Hause be- geistert. Er berät und leitet das etwas unbeholfene Kronprinzenpaar, und seine Stellung ist die eines erwachsenen Freundes halbwüchsigen Kindern gegenüber. Der Kronprinz unternimmt nichts, ohne seinen Lehrer um Rat zu fragen. |

454

Was war es, was den Kronprinzen zu P. zog? Erstens seine kirchliche Gesinnung. Alexander hatte starke religiöse Interessen von seiner hessi- schen Mutter geerbt, deren Haus sich scheinbar damit auszeichnete. Die Briefe des Kronprinzen an P. enthalten oft Danksagungen für geschenkte Ikonen. Zweitens vao anne Sympathien dem Kronprinzen und P. gemeinsam, oft nicht nklang mit der herrschenden Politik. Der

uthene Dobrianskij würde = me 1875 durch P.’s Vermittlung am Kron- prinzenhofe empfangen, obwohl die herrschenden Kreise gegen eine anti- österreichische Politik waren. Der bekannie Slavenforscher Lamanskij hielt vor dem Türkenkriege, dem Kronprinzenpaare von P. empfohlen, bei ihnen Vorträge über die slavische Frage. Drittens war es das innere Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn, das P. auszunutzen verstand. Der Kronprinz hatte sich dem Vater durch das Verhältnis des Caren zur Fürstin Dolgorukij, die nach dem Tode der Carin morganatische Gemahlin Al. Il. wurde, be- sonders enifremdet. P. ist aber immer ein Feind Al. Il. gewesen, ein Feind seiner losen Sitten, seiner unentschlossenen Politik, sogar seiner Reformen, wie er es selbst in einem Briefe vom Jahre 1864 an Anna Tjutlev zugibt. Auch während des Türkenkrieges hat P. nur Worte der Verachtung für die zaghafte Politik des Kaisers. Dieses gemeinsame Frondieren der Regie- rungspolitik ist es, was den Kronprinzen und P. mit unsehbaren Fäden ver- knüpft. Beide sind sie, wie man aus der Korrespondenz ersieht, durch die Entlassung extremer Nationalisten aus dem Wilnaer Distrikt empört, beide sind sie mit der russischen Politik im Türkenkriege unzufrieden.

Und wir sehen, wie allmählich P. gegen den schwachen Monarchen im Kronprinzen eine starke Säule der Reaktion erzieht, und wir wundern uns nicht, daß während der Regierung seines politischen Schülers die Gestalt P.s als die des größten Machthabers auftaucht. Nadežda Jaffe.

Zur Geschichte der „Zemlja i Volja“ der 70er Jahre. (Das Pro- gramm der Niederlassung der Zemlevol’cen im Gouv. Tambov). Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 166—177.

In diesem Aufsatz unter dem russischen Titel „K istorii Zemli i Voli 70-ch godov (Programma tambovskogo poselenija zemlevol’cev)“ behandelt B. P. Koźmin den Übergang der sozial- revolutionären Intelligenz vom „choZdenie v narod“ des Jahres 1874 und der „fliegenden“ Propaganda zur dauernden Niederlassung innerhalb der Bauern und zur politischen, auf lange Sicht abgestellien Erziehung der letzteren und bringt im Anhang das Programm der Zelle, die sich für diesen Zweck Anfang 1878 im Gouv. Tambov bildete. Koźmin stellt fest, daß der Sozialismus und die soziale Revolution wohl das endliche Ziel blieben, daß aber dieses ganz weit in den Hintergrund gerückt wurde und die Tätigkeit im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten an die Stelle trat. Wie Krav- činskij das in Nr. 1 der „Zemlja i Volja“ formulierte, sollte „sich der So- zialismus des deutschen Gewandes eniledigen und den Bauernkittel an- legen“. Koźmin verweist auf die Gegensäßlichkeit zwischen der revolu- tionären Intelligenz jener Zeit in Stadt und Land, auf die Gegensäßlichkeit zwischen den hier behandelten Bestrebungen und dem Terror, der alsbald in Blüte kam, und konstatiert, dab die „Dereven3£iki“ (die im Dorf Wir- kenden) die in den 80er Jahren einsebende Form der langsamen politi- schen Aufklärung antizipierten. An sich war den ,,DerevenSéiki“ kein Er- folg beschieden, weil die Verfolgung durch die Regierung zu wirksam war; so wurde die Tambover Niederlassung bereits 1879 vernichtet.

Harald Cosack.

A. Bem: Gogol i Puškin v tvoréestve Dostoevskago. Slavia 7, 1 ses S. 63—86.

Gogols „Nos“ und Dostoevskijs „Dvojnik“. Die vorliegende Arbeit soll die Studien über Dostoevskijs Beeinflussung durch Gogol an dem Punkt

455

weiterführen, wo die Vorgänger Bems aufgehört hatten. Die Ahnlichkeit zwischen beiden Werken hat schon beim Erscheinen des „Dvojnik“ Ver- wunderung erregt, eine Kritik v. J. 1847 spricht von Nachahmung, wobei Gogols Originalität Dostoevskij gegenüber besonders hervorgehoben wird. „Wir verstehen einfach nicht, wie diese Erzählung erscheinen konnte,“ sagt der Kritiker. B. teilt diese Anschauung, die ja in der kritischen Literatur mehrfach geäußert worden ist, und ergänzt in einer Reihe von Textgegen- überstellungen aus beiden Erzählungen „Poemen“, wie sie auch überein- stimmend heißen (?), das früher gesammelte Material. Aus diesen Bei- spielen geht deutlich hervor, daß der junge Dostoevskij sich nicht im minde- sten gescheut hat, dem Leser die Ähnlichkeit mit Gogols „Nos“ klarwerden zu lassen. Sollte der junge Schriftsteller aus bloßer Unbeholfenheit das getan haben? B. meint, daß „Dvojnik“ im gesamten Schaffen Dostoevskijs ein wichtiges gedankliches Bindeglied darstellt. Dostoevskij selbst hat im „Dnevnik pisatelja“ gesagt, die Erzählung sei zwar mißlungen, aber die ihr zugrunde liegende Idee sei klar ausgedrückt, ja er sagt, daß er eine ernstere Idee kaum je behandelt habe. Tatsächlich findet B., daß in den späteren Werken Dostoevskijs immer wieder der gedankliche Wert dieser frühen Arbeit zu erkennen ist. So erinnert man sich ihrer z. B. in der bekannten Szene von dem Alpdruck Ivan Karamozovs. Die Ähnlichkeit der Ideen ist auch von anderer Seite erkannt worden. Es bleibt nur die Frage: warum hat Dostoevskij den Ideengehalt seiner Erzählung gerade mit Gogols ,,Nos“ zu- sammengebracht und dazu in so herausfordernder Weise? Und auf diese Frage soll die vorliegende Studie Antwort geben. B. weist darauf hin, daß von den beiden Teilen, in die Gogols Erzählung zerfällt, nämlich die Szene beim Friseur und Kovalevs Erwachen ohne Nase usw., Dostoevskij nur der lebtere interessiert zu haben scheint, er fängt seine Erzählung mit dem Erwachen des Helden an, beide, Kovalev und Goljadkin blicken zuerst in den Spiegel. Es folgt dann eine Zusammenstellung bei B. all der zahl- reichen Redewendungen im „Dvojnik“, die das Wort „Nase“ metaphorisch angewandt zeigen, was im allgemeinen russischen Sprachgebrauch nicht üblich ist. Mag also die Nasengeschichte an sich für Dostoevskij viel Ver- lockendes gehabt haben, so hat er doch die Unmöglichkeit gefühlt, seine eigene Erzählung im Geiste Gogols durchzuführen, bei ihm wurde das phan- tastische Verschwinden der Nase zur Tragödie seines Helden. Wenn er aber auch davon absah, sein Sujet so zu behandeln wie Gogol das seine, so hat er doch dem Gegenstand nach eine Menge Gogols Erzählung ähnlicher Momente beibehalten. So z. B. die Figur des Arztes, die bei Gogol eine rein komische Episode bildet, bei Dostoevskij aber zum tragischen Moment wird. Auch die Figuren der Diener, die in „Nos“ und „Dvojnik“ vorkommen, zeigen den grundsätzlichen Unterschied zwischen komischer und tragischer Bestimmung. B. führt noch andere ähnliche und doch grundverschiedene Szenen beider Werke an.

Grundverschieden in beiden ist der Begriff der Schuld gefaßt, bei Gol- jadkin handelt es sich um eine Tragödie des Gewissens, eine Tragödie des unklaren Schuldbewußtseins eines kleinen, aber in seinem Schicksal tra- gischen Menschen, während bei Gogol in „Nos“ der Begriff der Schuld nicht verinnerlicht ist. Doch stimmen hier beide Erzählungen wieder in einer Außerlichkeit überein. In der einen wie in der anderen führt die Frage nach der Schuld zu einem Briefwechsel, also wieder ein und derselbe Kunst- kniff bei verschiedener innerlicher Bedeutung. Wollte sich Dostoevskij von der Nasengeschichte frei machen, die nicht in sein Konzept paßte, so fand er bei Gogol den Weg dazu angedeutet: Kovalev sagt in der Szene im Redaktionsbüro, er wolle seiner Nase wegen inserieren, d. h. gewisser- maßen um seiner selbst willen. Hier zeigt sich also bereits de: Grund- gedanke des Doppelgangertums! Bem behandelt nun eingehend den schon bei Gogol zu verfolgenden Prozeß des „samozvanstva“, welcher bei Dostoev- skij bis zu den äußersten Grenzen weitergebildet ist. In der ersten Fassung des „Dvojnik“ war dieser Begriff sogar noch schärfer ausgeprägt, wie aus dem Brief an Bachrameev zu sehen ist, der später fallen gelassen wurde. Dostoevskij ist später in den „Besy“ und den „Bratja Karamazovy“ noch

456

einmal zu diesem Thema zurückgekehrt. Bedeutungsvoll in psychologischer Hinsicht wird bei Dostoevskij auch der bei Gogol nur flüchtig angedeutete Gedanke des Sich-über-seinen-Stand-erheben-Wollens, der in „Prestuplenie i nakazanie“ zum Grundmotiv werden sollte. Auch hierüber enthielt der Brief an Bachrameev aufschlußreiche Stellen. Wo aber dieses Feuer der Unzufriedenheit im Innersten brennt, ohne sich nach außen zu dokumentieren, da drängt es zu einer innerlichen Usurpation, zum Träumen davon, und hier liegen wieder die Keime zum Leben im „podpol’e“, dessen Held sich schließ- lich als Zentrum des Weligeschehens fühlt. Nach der Ansicht Bems hat Dostoevskij bei der Übernahme einer solchen Menge von Einzelmomenten aus „Nos“, die er seinem innersten Wesen nahestehend empfand, dann aber in einer ihm nicht eigenen stilistischen Form gestaltete, den Wunsch gehabt, Gogols „Nos“ seinen „Dvojnik“ gegeniberzustellen. Das Vorhandensein der Beeinflussung ist nicht anzuzweifeln, aber es war ein Finfluß nicht an- ziehender, sondern abstoßender Art, und so ist man berechtigt, den „Dvojnik“ als eine originelle Beantwortung von Gogols „Nos“ zu betrachten. Emmy Haertel.

Vjačeslav Polonskij: „Tolstoj i marksistskaja kritika.“ Peéat’ i Revoljucja, 1928, Sentjabr (S. 7—49).

Verf. bringt in seinem Artikel eine Kritik des marxistischen Kritikers Olminskij, der die Werke Tolstoj’s als reaktionär und daher schädlich und gefährlich charakterisiert hat. P. sieht den Fehler Olminskij’s darin, daß er Tolstoj den Denker von Tolstoj dem Dichter nicht differenziert. Ganz anders Lenin, der viele Artikel vor der Revolution Tolstoj widmete. Fur ihn war Tolstoj der Ideologe des Bauerntums, der die Ideen dieser Gesellschaftsschicht in vollkommener Weise ausdriickte. Lenin schätzt die glänzende Kritik, mit der Tolstoj gegen die bürgerliche Gesellschaft hervor- tritt, sehr hoch ein, beschuldigt ihn aber eines vollkommenen Unverständ- nisses für die inneren Ursachen dieser Mißstände, die für einen Bauern natürlich wären, für einen europäisch gebildeten Schriftsteller aber un- begreiflich seien. Er hält den künstlerischen Protest T.’s, seine geniale Kritik für den Proletarier für sehr wertvoll. Seine Predigt aber des Nichtwiderstehens dem Übel ist ein Gift, ähnlich wie die Religion. Für Lenin ist Tolstoj ein Mann der Zeitperiode 1864—1904, als alles Alle zer- trümmert wurde, die neuen Ideale aber noch sehr dunkel und unvollkommen waren. Auch Plechanov befaßte sich mit T. Ein glühender Verehrer des künstlerischen Genies T.’s, halt P. ihn für einen sehr schwachen philosophi- schen Denker, für einen vollkommenen Metaphysiker. Das, was für den Proletarier bei T. wertvoll ıst, ist sein Haß gegen die Unterdrücker, seine Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Philosophie aber, als eine religiöse, ist für das Proletariat unannehmbar. Aber auch in T.s philo- sophischen Werken schätzt Plechanov den hohen künstlerischen Wert seiner zerschmetternden Kritik.

Ein anderer marxistischer Kritiker, L. Axelrod, sieht in Tolstojs Seele die faustische Tragödie: „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust.“ Die eine Seele war heidnisch und liebte das Leben, die andere war christ- lich und rief zum Asketentum. Je mehr der Christ in T.’s Seele Sieger wurde, desto schwächer wurde sein künstlerisches Genie. Und zulegt brachte ihn das Christentum zu der alten religiösen Rechtfertigung der sozialen Ungleichheit.

Polonskij bedauert, daß nur das philosophische Denken T.’s durch die marxistische Kritik berührt wurde, daß sein gewaltiges künstlerisches Werk von der marxistischen Methode noch nicht untersucht wurde. Nadežda Jaffe.

M. Aldanov: „über Tolstoj.“ Sovremennyja Zapiski, Okt. 1928, S. 264—273.

Verf. hebt die sehr glückliche literarische Laufbahn Tolstoj’s hervor. Mit einem Meisterwerk fing er an mit einem Meisterwerk endele er.

457

Vielleicht nicht so seine Romane, wie seine eigentümliche philosophische Lehre brachten ihm europäische Berühmtheit. Aber doch ging die Mensch- heit an seiner Moralphilosophie vollkommen gleichgültig vorüber. Als Ant- wort auf seine Lehre kamen der blutige Krieg, die Revolution, die Ceka:

„Die Männer der Tat‘ hatten immer nur Verachtung für seine Gedanken. Clémenceau hält ihn für einen Irrsinnigen, Witte nennt seine Gedanken „Kindereien“. Die größte Verachtung flößt er Lenin ein, der von seiner Lehre schreibt: „Es ist die Predigt einer der verruchtesten Sachen, die es in der Welt gibt, nämlich der Religion; ein Versuch, die jetzigen Pfaffen mit Moralpredigern zu ersetzen, d. h. ein ufopistisches und darum besonders ekelhaftes Pfaffentum in die Welt zu sehen.“ Tolstoj war der Dichter einer bestimmten Klasse. Er kannte und liebte nur die Aristokratie und das Bauerntum. Er haßte die Bourgeoisie und die Intellektuellen. Daher ist er vielleicht so besonders groß im historischen Roman, da er hier nur mit den Kreisen in Berührung kommen muß, die er kennt und liebt. In den letzten Tagen vor seinem Tode schrieb Tolstoj in seinem Tagebuch: „Es fällt mir schwer, in diesem Irrenhause zu leben.“ Er dachte wohl an die Jasnaja Poljana, vielleicht auch allgemeiner. NadeZda Jaffe.

V. Friée: Lenin über das Klassengesicht Tolstoj’s. Proletarskaja Revoljucja, N. 4. April 1928. S. 3—12.

Fr. nennt T. den Mann des alten Rußland Lenin des neuen. Lenin hatte das größte Interesse für das Genie T.’s. Er sah in ihm die Kraft und die Schwäche des russischen Bauerntums: einerseits den scharfen Protest, andererseits die volle Hoffnungslosigkeit. L. sieht etwas östliches, indisches in der Kampfunlust T. s, in seinem „Nichtwiderstehen dem übel“. Aber nach 1905 erwachten revolutionäre Stimmungen auch in der Bauernschaft, und T. hatte recht, a. er zu Goldenveiser sagte: „Die werden jetzt alles zertrümmern, auch un

Wie war Lenins Stellung zu Tolstoj nad. der Oktober-Revolution, als die russische Revolution tatsächlich alles zertriimmert hatte? Gorkij über- raschte einst Lenin, als er gerade „Krieg und Frieden“ las. L. sagte zu Gorkij: „Was ist das für ‚ein Künstler! Wer in Europa kann mit ihm ver- glichen werden? Keiner.“ Für den Denker Tolstoj, der gegen die Grün- dung der Roten Armee, gegen den Kampf mit der Bourgeoisie protestiert hätte, hatte aber Lenin auch damals wahrscheinlich kein Verständnis.

Nadežda Jaffe.

Frankreich und Tolstoj. Novyj Mir, Januar 1929, S. 248—255.

Boris Pesis behandelt in seinem Artikel „Francija i Tolstoj“ das Ver- haltnis Frankreichs zu dem Künstler und Moralisten Tolstoj. Der Name des russischen Dichters begann in den achiziger Jahren des vorigen Jahrh. in Frankreich bekannt zu werden. Bereits 1875 erschien seine Erzählung „Zwei Husaren“ in französischer Ubersebung; vier Jahre darauf folgte Kieg und Frieden“ und erregte fast unmittelbar nach seinem Erscheinen Aufsehen in den literarischen Kreisen. Turgenev übernahm die Sorge für die Ver- breitung des Werkes, das er ausnehmend hoch schabte: er schickte Re- zensionsexemplare an die prominentesten Kritiker und Schriftsteller, u. a. auch an Flaubert. Das große Publikum zeigte zunächst wenig Verständnis für Tolstojs Werk. Erst 1888, als „Krieg und Frieden“ in einer neuen Aus-

gabe, gleichzeitig mit einer umfassenden Untersuchung des Kritikers M. de Vogue erschien, wurde das Interesse des Publikums ploblich wach. Der Erfolg war überraschend, Uberseber und Verleger rissen sich um die Manuskripte Tolstojs; in diesen Jahren erschienen „Krieg und Frieden“,

„Anna Karenina“, „Die Kindheit“, „Polikuska“, „Der Tod des Ivan Wie" u. a. m. Dieser beispiellose und auf den ersten Blick unbegriindete Er-

458

folg reizte einen Teil der Kritik zum Widerspruch: man beschuldigte das Publikum des Hanges zum Exotischen, ja man warf ihm sogar Mangel an Patriotismus vor. Einige Kritiker fanden jedoch die Ursache der Be- geisterung für T. in der Reaktion, die nach der Herrschaft des Naturalismus eintreten mußte. Der Kritiker André le Breton verglich Tolstoj mit Hugo und fand bei den beiden Dichtern, trob des Unterschiedes der Schule und Epoche, die gleiche Tendenz der „sozialen Barmherzigkeit“. Was die for- melle Bewertung von „Krieg und Frieden“ anbetraf, so waren sich alle Kritiker darüber einig, daß die klassische Abgeschlossenheit und Klarheit, die die französische Dichtung auszeichnen, Tolstoj vollkommen fehlten. In „Anna Karenina“ dagegen begrüßte man den „fast westeuropäischen Roman“. Der Moralphilosoph und Soziologe Tolstoj fand eine begeisterte Aufnahme in den intellektuellen Kreisen der jungen Generation. Man ver- glich die Wirkung seiner Schriften mit dem Eindruck, den seinerzeit »Contrat social“ auf das vorrevolutionare Frankreich machte. Der heutigen französischen Jugend ist Tolstoj und seine Ideale fremd: das moderne Epikuräertum hat nichts in der Predigt der Askese zu suchen. Die pet pte ba brachte vornehmlich Erinnerungen der älteren Tolstoj-

erehrer, wie Rolland und Jean-Richard Bloch. Die beste Charakteristik Tolstojs gehört Anatole France („Hommage & Tolstoj“, 1910): „T. ist die Seele und Stimme des großen Volkes, eine Quelle, aus der jahrhundertelang Menschenkinder und Hirten der Menschheit schöpfen werden.“

Eugenie Salkind.

Die marxistische Presse 1896—1906. Krasnyi Archiv Bd. 9, S. 226—268, Bd. 18, S. 163— 194.

Unter dem Titel ,Marksistskaja periodiéeskaja pečať 1896-1906 g. g.“ bringt V. Poljanskij die Geschichte, der Zeit- schriften „Samarskij Vestnik“, „Novoe Slovo“, „Natalo”, „Zizfi“, „Nauönoe Obozrenie“, „Mir Bo2ij“ und der „Pravda“ in Moskau. Der Schwerpunkt der übersicht‘ ruht in dei Personalien der Redakteure und Mitarbeiter und im fast für alle Zeitschriften aussichtslosen Kampf mit den Organen der staatlichen Zensur. Das Jahr 1906 ist als Grenze gesebt, weil sich mit diesem Jahr die Zensurverhältnisse änderten. Harald Cosack.

Popov, A.: Die englische Politik in Indien und die russisch-indi- schen Beziehungen 1897 —1905. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 53—63.

In der Hauptsache an der Hand von Berichten der Londoner Botschaft und des Generalkonsulats in Bombay gibt A. Popov in „Anglijskaja politika v Ind ii irussko-indijskie otno3enija v 1897 do, 1905 gg.“ ein Aperçu der Gegensablichkeiten zwischen Rußland und England, wie sie bekannt sind. Zu bemerken ist, wie hellhörig die russi- schen Vertreter im Auslande in bezug auf jede antienglische Regung in Indien und wie empfänglich die russische Regierung und der Car für die Berichterstattung dieser Vertreter waren. Hervorzuheben ist auch, daß Popov die Versuche der Russen, auf dem indischen Markt Fuß zu fassen, berücksichtigt. Naphtha ist das Hauptmittel dazu, wird aber durch die Standard Oil Company verdrängt; Zucker und Textilien werden von den Engländern erfolgreich abgewehrt, kaum daß sie sich auf den indischen Markt vorwagen. Harald Cosack.

Die carische Diplomatie über die Aufgaben Rußlands im Orient im

Jahre 1900. Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 3—29.

Mit einem Vorwort M. Pokrovskij’s gibt A. Popov aus der Ab- teilung ,,Sekretnyj archiv ministra“ im Archiv der Revolution und auswar- tiger Politik folgende Aktenstücke heraus, die in der hier eingehaltenen Ordnung in einer Mappe mit der Aufschrift „1900 Personnel et irès secret,

459

Nr. 29“ liegen: 1. Die Kopie des Berichts des Außenministers Murav’ev an den Caren, der alle Aufgaben russischer Politik von Ceuta und dem Bos- porus über Persien und Afghanistan bis Korea behandelt, vor jeder gewalt- samen Handlung warnt und am 25. Januar 1900 das Plazet des Caren er- hält. (S.4—18); 2., J. und 4. die Stellungnahme des Verwesers des Marine- ministeriums P. Tyrtov (S. 18—21), des Kriegsministers Kuropatkin (S. 21—22) und des Finanzministers Witte (S.22—25) in der Form von Schreiben an den Außenminister; 5. der Bericht des letzteren an den Caren mit dem Resümee der Stellungnähme der obengenannten Minister. Den Ausschlag für Rußlands Passivität während des Burenkrieges dürfte Witte gegeben haben, der die Anspannung der Finanzen des Reichs ablehnt. Einig sind sich alle drei ministeriellen Gutachten darin, daß die Fesisekung am Bos- porus wichtig sei. Während Witte die Realisierung dieses Zieles nur durch einen europäischen Krieg für möglich halt, sieht Kuropatkin den Weg in der Erneuerung alter Abmachungen mit Deutschland. Im Interesse der zentral- asiatischen Probleme plädiert Kuropatkin für ein Abkommen mit England an Tyrtov wünschte primo loco die Besitzergreifung eines Hafens in üdkorea.

Pokrovskij wendet sich gegen die übliche Auffassung, als hätten die Probleme der Politik Rußlands im Nahen und Fernen Osten unvermittelt nebeneinander bestanden, und verweist auf die hier publizierten Dekumente als Beweis des Gegenteils. Harald Cosack.

Briefe Wiites an Sipjagin aus den jahren 1900 und 1901. Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 30—48.

Aus den Archivalien des ehemaligen Innenministers Sipjagin entnimmt B. Romanov die, ‚von ihm hier publizierten 15 „His ma S. Ju. Vitte k D. S. Sipjaginu“, deren Datierung er bis auf den Brief Nr. 1 feststellt. Als Witte seine Memoiren schrieb, hat er diese Briefe von der Witwe Sip- jagins erbeten und erhalten, was nicht ohne Interesse ist, da ihre Benutzung sich an Wittes Memoiren nicht nachweisen läßt. B.Romanov folgert aus dem Zurückgreifen Wittes auf diese Briefe, daß Witte sie wohl schon im Hinblick auf ihren Wert als zukünftige Quelle geschrieben hat.

Der ersie Brief enthält eine Auseinandersekung über die Stellung des Caren, die Briefe Nr. 2—13 von Anfang Juli~Ende Oktober 1900 drehen sich in der Hauptsache um den Boxeraufstand und den Gegensatz zwischen Witte und Kuropatkin in Sachen der russischen Politik im Fernen Osten. Brief Nr. 14 v. 7. Juli 1901 behandelt allerlei, die finnlandische Frage und die Mißernte und die Wühlarbeit Bezobrazovs. Brief Nr. 15 v. 12. Juli 1901 zeigt die Intrigen Bezobrazovs und Genossen schon in voller Blüte und den Caren in torichtster Empfanglichkeit für sie. Schon in früheren Briefen läßf Witte die Unsicherheit seiner Position durchblicken, im letzten ist er am deutlichsten. Harald Cosack.

Die Korrespondenz zwischen Witte und Kuropatkin 1904—1905. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 64—82. |

Im Archiv der Oktoberrevolution, Abt. Sturz des alten Regimes, befinden sich sowohl das Archiv Wiftes als das Kuropatkins. Die hier u. d. T; „Perepiska S.Ju.Vitte i A.N.Kuropatkina v 1904—1905 gg.“ veröffentlichten und von G. Stopalov mit einem Begleittext versehenen Briefe Wiltes sind im Original, die Kuropatkins in Kopie erhalten. Sie beginnen mit dem 28. März/10. April 1904 und laufen bis zum Ende Juni/An- fang Juli 1905. Wittes Datierungen sind von außerordentlicher Nachlässig- keit und Unvollständigkeit, die Kuropatkin sorglich emendiert.

Witte, Lamdsdorff, Kuropatkin waren alle drei gegen den japanischen Krieg gewesen, daher eine gewisse Solidarität zwischen Witte und Kuro- patkin, die sich in den Briefen kundgibt. Beide stehen auf dem Stand- punkt, daß die Westgrenze und die innere Ordnung die Hauptaufgaben

440

seien. Beide glauben zu Anfang des Krieges an Rußlands Sieg, sind sich aber über die Kriegsziele nicht einig und gehen seit Januar 1905 in ihren Ansichten über Krieg und Frieden auseinander, weshalb Kuropatkin die Korrespondenz von Januar bis Anfang Juni 1905 n. Si. unterbricht und in dieser Zeit nur eine abweisende kurze Nachricht vom 27. März/9. April Witte zukommen läßt. Auch nach Zusima ist Kuropatkin für die Fortführung des Krieges (Brief Nr. 10), auf den Witte sofort mit einem umfangreichen Brief, der die Vorgänge seit Kurino’s Vorschlägen von Ende Juli 1905 rekapituliert, die Lage innen- und außenpolitisch schildert und für den sofortigen Frieden und einen 20—25jahrigen nachfolgenden Friedenszustand ein- tritt: Bereits um die Wende vom Mai zum Juni 1904 faßt Witte die Situation so zusammen: „Überall ist das Umgekehrte von dem geschehen, was man wollte. Sie wollten nicht angreifen und sogar zurückgehen, um später vorzugehen, was nach meiner ausgesprochenen Änsicht viel besser gewesen wäre, als was geschehen, und es ereignete sich das Gegenteil Sie begannen anzugreifen. Herr Plehwe dagegen war überall bereit, alles niederzuschlagen und alles anzugreifen, und zieht sich jetzt auf der ganzen Linie feige zurück.“ Ausgerechnet Plehwe, meldet ‚hierbei Witte, hat sich für die Erweiterung der Rechte der Juden ein- gesekt. Bereits nach Plehwes Ermordung ist Witte „für eine radikale Anderung des Regimes“. Als das Manifest vom 12./25. Dezember 1904 zustande kommt, gratuliert Kuropatkin Witte aufs warmste, der aber bei Beantwortung dieses Schreibens mit der wohltuenden Wirkung dieses von Nikolaus II. persönlich verstümmelten Manifests nicht mehr rechnet.

Diese Skizze erschöpft keineswegs den Inhalt der Briefe. Das Mig- trauen Wittes gegen Deutschland findet seinen Ausdruck; ebenso die Tat- sache, daß er erst nach Plehwes Tod von den engen Beziehungen zwischen Plehwe und den Bezobrazov, Abaza und den übrigen Kriegstreibern authentische Beweise erhält, und was dergl. mehr ist. arald Cosack.

Aus den Bekundungen N. J. Rysakov’s. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 178—194.

S. Valk fügt zu den in „Byloe“, 1918 Nr. 10/11, bekanntgewordenen Bekundungen Rysakov’s, des Narovol’cen, der um des vergeblichen Ver- suches willen, sein Leben zu retten, alles preisgab, was er wubte, bisher unbekannte Bekundungen hierzu, die sich nicht mehr auf die Tat selbst, sondern auf die Organisation und Tätigkeit der „Narodnaja Volja“ im all- gemeinen bezogen. Uber diese Aussagen vom 18., 19., 20. März 1880, ad zusammengefaßt unter dem russischen Titel „Iz pokazanij N. J. sakova“, ist nur ein Hinweis auf die Bekundung vom 19. d. M. im Bericht Plehwes vom gleichen Datum bekannt geworden, der die Tatigkeit unter dem Militar hervorhebt (Byloe ibidem S. 41). Die Mitangeklagten haben seinerzeit nur ganz beschränkt von der Preisgabe ihrer und ganzundgar-

nicht von der Preisgabe der Partei Kenntnis ‘gehabt, doch das genügte, wie Vera Figner in ihren Erinnerungen erzählt, daß sich Sofia Perovskaja, als sie auf dem Schafott ihre Genossen umarmte, von Rysakov abkehrie. S. Valk betont die Wichtigkeit der von ihm veroffentlichten Bekundungen für die Geschichte der „Narodnaja Volja“. Harald Cosack.

Das Tagebuch G. O. Rauchs. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 83— 109.

Georg Ottonovié Rauch, seit dem 27. Oktober 1905 Generalguartier- meister und seit dem 22. Dezember d. J. Chef des Stabes der Garde und der Truppen des Petersburger Militärbezirks, 1908—1912 Kommandeur der 10. Kavalleriedivision, wahrend des Weltkrieges Chef des 3. Gardekorps und nach dem Kriege in Kiev bei Skoropadskij als Anhanger der deutschen Orientierung, hat ein Tagebuch geführt und Erinnerungen .geschrieben. Das Tagebuch reicht vom 28. Nov./15. Dez. 1905 bis zum 24. Jan./6. Febr. 1906, während die Erinnerungen, die Sommer 1908 verfaßt wurden, in der

441

Hauptsache der Zeit vom 9./22. Jan. bis 26. Okt/8. Nov. 1905 gelten. Beide Aufzeichnungen befinden sich ım Leningrader Historischen Zentralarchiv. B. Krugljakov gibt hier den „Dnevnik G. O. Raucha“ vollständig heraus, während A. A. Silov die Anmerkungen dazu schreibt, in denen Auszüge aus den „Vospominanija Raucha“ inseriert sind.

Das Tagebuch und die Erinnerungen sind voll der interessantesten Nachrichten über Personen und Vorgänge auf der Seite der Regierung in der Revolution von 1905. Einiges sei herausgegriffen. Witte ist der gehaßteste Mann, von der Carin über Rauch bis zu dem Schwarzen Hun- dert, dessen Führer Dubrovin nicht müde wurde, Witte als Freimaurer und Spielball des Judentums zu denunzieren. Auch Aehrenthal beteiligt sich an der Herabsetzung Wiltes. Mit Befriedigung stellt Rauch fest, daß Witte tatsächlich nach dem 17. Oktober, wie Dedjulin und Trepov auch, zeit- weilig den Kopf verloren hat. Trepov erscheint als schwankende Persön- lichkeit mit liberalen Anwandlungen, Durnovo als der festeste Mann, der Retter der Situation. Den Nikolaj Nikolaevié nennt Rauch „nicht klug“ und ist daher manchmal von seinen „nüchternen und richtigen Ansichien“ überrascht, so z.B. im Falle Wittes, den er erst die Duma zustande bringen lassen will, um ihn dann zu stürzen, weil Witte als Opposition zu gefährlich wäre. Nicht uninteressant ist das Urteil über Birilev, den kontrasignieren- den Minister beim Björkoe- Vertrag, Rauch nennt ihn eine Null (nidtoZestvo), Schwäber und Lügner, der die Carin für sich gewonnen, weil er mit den Carenkindern spielt und unter Tisch und Stühlen herumkriecht. Leise an- gedeutet ist die Agitation, Michail Aleksandrovič an Stelle des Caren auf den Thron zu setzen. Von der eigenhändigen Übergabe von 100000 Rbl. durch den Caren an Nikolaj Nikolaeviè zur Finanzierung der Zeitungen „Golos Pravdy“ des Musselius und „Zofka“ des Jarmonkin hören wir Authentisches. Desgleichen über die Erledigung des Kutler’schen Projekts der Landabgabe an die Bauern durch Nikolaj Nikolaevič. Einen breiten Raum nimmt die Bekämpfung des Aufstandes in den baltischen Provinzen ein. Als kulturhistorisches Detail möchte ich noch erwähnen, daß Rauch bei seiner Ernennung zur Suite des Caren diesem die Hand küßt.

Harald Cosack.

Die Aufzeichnungen F. A. Golovin’s. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 110— 149.

Im Jahre 1912 hat Golovin, Zemstvovertreter, Kadett und Präsident der 2. Duma, die hier von M. Pokrovskij nach dem Original im Mos- kauer Archiv der Oktoberrevolution veröffentlichten „Zapiski F. A. Golovina“ niedergeschrieben. Diese Aufzeichnungen gehen auf Notizen zurück, die der Verfasser sich unter dem frischen Eindruck der von ihm behandelten Vorgänge gemacht hat. Der eine Teil der Aufzeichnungen hat Golovins Begegnungen mit dem lebten Caren, der andere die Er- fahrungen mit Sfolypin während der zweiten Duma zum Gegenstande. Den Caren stellt er als einen nicht begabten, aber eigenwilligen und hinter- hältigen Menschen dar, den man von der Verantwortung für die Gescheh- nisse unter seiner Regierung zu Unrecht freisprechen will. Stolypin beur- teilt er als einen Mann, der mehr Gouverneur einer russischen Provinz als Staatsmann ist, und vindiziert die Initiative am Agrargesek nicht Stolypin, sondern Krivošein. Pokrovskij macht hierbei aufmerksam, daß Golovins Urteil über Stolypin in seinen Aussagen vor der Außerordeni- lichen Untersuchungskommission von 1917 im 5. Bande des „Padenie car- skogo režima“ viel günstiger lautet als 1912. Aus beiden Teilen erfahren wir Neues über den Fall des Armeniers Zurabov, eines ehem. Offiziers und Mitglieds der Sozialdemokratischen Partei und der 2. Duma, der eine Rede zum Heeresetat 14 Tage etwa vor dem Staatsstreich des Caren und Stolypins vom 3./16. Juni 1907 hielt, die die Regierung im ganzen zum Aus- gangspunkt für die sofortige Auflösung der Duma machen wollte, nicht aber Stolypin. Bis hierher hat nach Golovin Stolypin aus Selbsterhaltungs- trieb auch die Duma erhalten wollen. Harald Cosack.

442

Die chinesische Revolution von 1911. Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 49— 104.

_ Nach einem Aperçu über die Aufstandsbewegungen in der Geschichte Chinas und einer Besprechung des Inhalts der unter dem Sammeltitel „Kitajskaja revoljucija 1911 goda“ zum Abdruck gelangenden Akten durch A. Ivin folgen 43 Dokumente aus der Zeit vom 16./29. Sept. 1911 bis zum 28. April/ii. Mai 1912, die aus dem Moskauer Archiv der Re- volution und der auswärtigen Politik stammen und von A. Popov für den Druck vorbereitet sind. Die Akten verraten eine relativ oberflächliche Kenntnis der Vorgänge in China, wie Ivin hervorhebt, jedoch illustrieren sie gut die Absichten der russischen Regierung, sich aus Anlaß der Wirren an Chinas Nordgebieten zu bereichern. Zu diesem Zwecke ist die carische Diplomatie bereit, mit dem revolutionären Süden in freundschaftlihe Be- ziehungen zu treten (Nr. 23) und dort, wo sie zögert, wie in der Frage der Annexion des Uriyanghai-Gebiets, ist es der Car persönlich, der das Vor- dringen wünscht (Nr. 37). Frankreich unfersfützt alle Aspirationen Rußlands, nicht nur in der Mandschurei und Mongolei, sondern auch in Chinesisch- Turkestan (Nr. 29), während Sazonov alles vermeiden will, was Rußlands Kräfte im Fernen Osten binden könnte (Nr. 40). Harald Cosack.

Produgol’. Zur Frage des Finanzkapitals in Rußland. Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 119— 148.

_ Im Vorwort zu seinem Beitrag ,Produgol. K voprosu o finansovom kapitale v Rossii“ stellt A. J. Gajster fest, daß die Meinungen über die Zusammensekung des Finanzkapitals in Rußland weit auseinandergehen. Als die beiden Pole im Streit der Meinungen zitiert er Kricmans Vorwort zu Ronin, Inostrannyj kapital v Rossii, 1926, und Finn-Enotaevskij, Finansovyj i proizvoditel'nyj kapital. Kricman an- erkennt „kein System des russischen Finanzkapitals“ und sieht nur „eine Erweiterung des Exploitationsbereichs des ausländischen Kapitals“, während Finn-Enotaevskij gegen die Auffassung polemisiert, daß „am Vorabend des Weltkrieges das französisch-englische und z. T. auch das deutsche Finanzkapital die russische Industrie beherrscht und dadurch denationali- siert hat“. Zur Klärung dieser Frage bringt Gajster Aktenmaterial aus dem Prozeß des größten Steinkohlensyndikais Rußlands „Produgol’“, der Gesellschaft zum Vertrieb des mineralischen Heizmaterials des Donez- bassins, gegen zwei ausgeschiedene Mitglieder, das JuZno-Russkoe Dne- provskoe Metallurgiteskoe Ob3testvo und das Ob3testvo Gosudarevo- Bajrakskich kopej. Aus dem Material geht die monopolistische Stellung dieses Syndikats und die Ausnubung dieser Monopolstellung ebenso klar, wie seine Abhängigkeit vom französischen Kapital hervor. Nicht weniger als zwanzig Franzosen, alle in Frankreich, unter ihnen Doumer, sollten ın den Prozeß hineingezogen werden, doch wurde dieser Riesenskandal ver- hindert. Verhindert durch die Einmischung des französischen Botschafters Paléologue und des russischen Auswärtigen Amts. Abgespielt hat sich diese Aktion Paléologues zu Kriegsbeginn, definitiv niedergeschlagen „mangels von Beweisen“ wurde die Angelegenheit März 1915.

Harald Cosack.

Zur Geschichte der Konferenz von Jassy. Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 105—118.

Im Anschluß an eine längere Darlegung des Verlaufs der Konferenz von Jassy, die im November 1918 von den Vertretern der Allierten in Ru- mänien und allen antibolschewistischen Parteien Rußlands veranstaltet wurde und ihre Fortsetzung in Odessa fand, veröffentlicht Al. Gukovskij unter dem Titel „K istorii Jasskogo soveSéanija“ das Protokoll Nr. 21 der russischen Delegation, datiert Odessa 17./30. Nov. und 18. Nov./i. Dez. 1918 und unterzeichnet von Meller-Zakomel’skij und Gri$in-Almazov.

445

Das Protokoll enthält den Bericht des Generals GriSin-Almazov über die Lage im Osten des Europäischen Rußlands und in Sibirien, wo die ver- schiedenen Regierungen einander befehdeten und die Cecho-Slowaken agierten. Der kritische Apparat am Schluß stellt eine Reihe von Fehlern GriSin-Almazovs zurecht. N

An Literatur zieht Gukovskij heran Margulies, God intervencii, Bd. 1 Berlin 1923, dessen einschlägiges Material über Jassy erstmalig in der „Letopi$ Russkoj Revoljucii, ersch. bei GrZebin, veröffentlicht wurde; Gurko, Iz Petrograda čerez Moskvu, Pariž i London v Odessu 1917—1918 gg. in Archiv Russkoj Revoljucii Bd. 15, Berlin 1924; Astrov, Jasskoe soveSéanie in Golos Minuv3ago na čužoj storoné, Nr. 4, Paris 1926; und von sovetrus- sischer Seite den Aufsatz von Rjabinin „assy i sojuznaja okkupacija na Ukraine“ im Sammelwerk „Cernaja kniga“, Sbornik state) i materialov ob intervencii Antanty na Ukraine v 1918—1919 gg. pod red. A. O. Slichtera, Gos. Izd. Ukrainy 1925, S. 31—50. Harald Cosack.

Zur Geschichte der französischen Intervention im Süden Rußlands vom Dez. 1918 bis zum April 1919. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 3—38.

D. Kin veröffentlicht hier „K istorii francuzskoj inter- vencii nach juge Rossii Dekabr’ 1918—aprel’ 1919 g.“ Mitteilungen an Admiral Kolčak, die ihm in der Zeit vom _10./13. Februar bis zum 10./23. März 1919 aus der Freiwilligen Armee zugingen. Sie stellen nur einen Auszug aus dem im Archiv der Oktoberrevolution ruhenden Material dar. Der Berichterstatter stand dem Südrussischen Nationalen Zentrum (JuZno-Russkij Nacional’nyj Centr), V. V. Sul’gin und Grisin— Al- mazov nahe und ist absolut Feind dem Rat der Staailichen Einigung (Sovet Gosudarstvennogo Ob-edinenija). Wie gut unterrichtet er war, bezeugt, worauf Kin hinweist, ein Vergleich mit dem Buch des Ob-edinevie-Mannes M. S. Margulies, God intervencii, Berlin, Moskau, Grzebin, 1923. Den Angel- punkt der Berichte bildet die Frage des Verhaltens der Franzosen zur Denikin’schen Freiwilligenarmee und zum Direktorium Petljuras. Mit dem Erscheinen Franchet-d’Esperey’s in Odessa am 20. März triumphiert die antidenikinsche Linie des französischen Obersten Freydenberg, die Fran- zosen übernehmen, voller Verachtung für die Russen, die gesamte Gewalt in Odessa, doch geschieht das in einem Moment, wo die Franzosen ihr Militär nicht mehr in der Hand haben und selbst machtlos sind. Die rus- sische Hilflosigkeit tritt in den vielen Details der Berichte deutlich zutage. Der Schlüssel für das Verhalten der Franzosen fehlt. Harald Cosack.

Die Engländer im Norden 1918-1919. Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 39—52.

Aus 2 Stücken, die sich im Archiv der Oktoberrevolution, und 13 Stücken, die sich im Archangelsker Gouvernementsarchiv befinden, be- steht der Beitrag ,Angliéane na severe (1918-1919 gg.” von I. Minc. Im kurzen Vorwort macht der Herausgeber darauf aufmerksam, daß nirgends die Intervention so international aufgezogen war, wie in Archangelsk. Engländer, Franzosen, USA-Truppen, Italiener, Serben, Kana- dier, Australier und sogar die „neutralen“ Dänen waren dabei. Am 1. August 1918 kamen sie, Herbst 1919 verschwanden sie, während die konterrevolutionäre Regierung, die ihr Dasein der Intervention verdankte, diese nur deshalb bis Februar 1920 überlebte, weil die Rote Armee im Süden Rußlands eingesebt wurde. Die Abhängigkeit der Archangelsker Regierungen von der Entente wird durch die Akten nachdrücklich illustriert, wirksam unterstüßt durch die Voranstellung der phrasenhafien „Proklama- tion an das russische Volk“ bei Ankunft der Interventionstruppen. Die

444

Ausschau nach wirtschaftlicher Exploitation des befreiten Rußlands wird beleuchtet, u. a. das Konzessionsbegehren des Polarforschers Shackleton behandelt. Harald Cosack.

Aus dem Merkbuch des Archivars. Krasnyj Archiv, Bd. 18, S. 195 bis 227; Bd. 19, S. 195—221.

Der erste der Beiträge „lz zapisnoj knižki archivista“ be- handel „A. J. Zeljabov in Aleksandrovsk“ und stammi von S. Valk. Zeljabov (geb. 1851, hingerichiet 3. April 1881), das aktivste Mitglied des Exekutivkomitees der „Narodnaja Volja“, ist Organisator dreier Attentate auf Alexander li. gewesen, des nicht zur Ausführung gelangten Attentats auf den Eisenbahnzug des Caren vom 18. November 1879 in Aleksandrovsk, der Explosion im Winterpalais vom 5. Februar 1880 und der Ermordung des Caren am 1. März 1881. Hier werden, worauf der Titel hinweist, einige Daten zum ersten Attentat beigesteuert (S..195—197).

. Sergievskij ibt in „Die erste Sendung von Schrif- ten seitens der Gruppe „OsvoboZdenie Truda (Pe- freiung der Arbeit) aus dem Auslande Materialien zum mi- lungenen Versuch von 1884, an dem der preußische Staatsangehörige Otto Stolz beteiligt war (S. 197—201).

E. Tarle bringt aus der „Korrespondenz V.K.Plehwe’s mil A. A. Kireev“, einem slavophilen General, die in Bruchteilen im Archiv Plehwe’s sich erhalten hat, einen Brief vom 31. August/13. September 1905, etwa 14 Tage, nachdem es Bezobrazov und Plehwe gelungen war, Witte aus seiner beherrschenden Stellung zu verdrängen. Der Brief enthält nichts Uberraschendes. Plehwe weiß, daß die Forderung einer konstitutio- nellen Verfassung besteht, weil „die schnell eingetretene Evolution der sozialen Verhältnisse die Arbeit des Staates im Ordnen der neuen Ver- hältnisse überflügel hat“, doch glaubt er, daß der „historische Carismus“, und nur dieser, der Nation Wege weisen kann, die die Konstitution über- flüssig machen, und daß hierfür eine straffe Staatsautorität nötig ist. Das Interessanteste ist, was der Brief verschweigt. Tarle macht darauf aufmerksam, daß Plehwe sein Mittel zur Stärkung der Sitaatsautorität, den beabsichtigten Krieg mit Japan, nicht nennt. (S. 201 —203.)

K. Ja. Zdravomyslov veröffentlicht „Aus Konzepten K. P. Pobedonoscevs drei Stücke, die unter losen Papieren der Kanzlei des Oberprokureurs des Synods gefunden worden sind. Das erste Stück ist ein erster Entwurf jener Rede, die der letzte Car 1895 beim Empfang der Vertreter des Adels, der Zemstvoverwaltungen, der Städte und der Kosakenheere aus Anlaß des Thronwechsels gehalten und in der er alle Wünsche nach einer Verfassung schroff abgewiesen hat. Der wesentlichste Unterschied zwischen diesem Entwurf, der nur mit Repräsentanten des Adels rechnete, und der tatsächlich gehaltenen Rede liegt im Fehlen jener übelberüchtigten Worte von „den sinnlosen Träumereien“, von denen einige behaupten, sie seien nie gesprochen worden; statt ihrer hätte Nikolaus Il. von „nicht zu verwirklichenden Träumereien“ geredet. Der offizielle Text befindet sich, nebenbei bemerkt, im Pravitel’stvennyj Vestnik Nr. 14 vom 18./30. Januar 1895, eine gute Beschreibung des Vorgangs in den Erinne- rungen des Zemstvovertreters A. A. Savel’ev unter dem Titel ,Zwei Thron- besteigungen russischer Caren“ in „Golos MinuvSago“ 1917, "Nr. 4, S. 9 bis 104. Die beiden anderen Stücke haben Bezug auf die im Werden begriffenen Manifeste vom 18. Februar/3. März und 17./30. April 1905, Pravitel’stvennyj Vestnik Nr. 39 und Nr. 86 vom J. 1895, von denen das erste alle treuen Russen zum Schutze des Thrones aufrief und den Vor- laufer des Reskripts über die Einsekung der Bulyginschen Spezial- kommission zur Ausarbeitung eines Dumagesekes bildete, während das zweite die Rechte der nichtorthodoxen Bekenntnisse erweiterte. Dem

29 NF 5 445

ersten Manifest spendet Pobedonoscev mit geringen Ausstellungen Lob und tröstet den Caren mit dem kirchenfrommen russischen Volk, beim zweiten bekämpft er, um das Wesentlichste herauszugreifen, die Gleich- stellung aller Bekenntnisse und erficht hier seinen letzten großen Sieg. Die Frage der Stellung der russischen Kirche wird auf Befehl des Caren bereits am 13./26. März 1905 dem Ministerkomitee entzogen und dem Synod überwiesen. (S. 205—207.) ze „Ein Memorandum, das der Aufmerksamkeit würdig ist“, betitelt M. Paozerskij seinen Beitrag, der sich auf die brennendste Frage von Ende 1916/Anfang 1917 bezieht, auf die Aufnahme des Kampfes gegen den Progressiven Block in Duma und Staatsrat und die hinter ihnen stehenden großen Organisationen in Stadt und Land durch die Auflösung der Duma. Da die Duma durch die Alliierten gestützt wurde, so sollte aus der Duma resp. der Wählerschaft die Forderung der Auflösung kommen, um eine Zwangslage der Regierung zu konstruieren. Eine solche Rolle war dem Memorandum der „orthodox- russischen Einwohner Kievs“ zu- gedacht, das Sceglovitov, der Vorsitzende des Staatsrats, dem Caren zu- leitete, das der Car mit der Resolution, die den Titel dieses Beitrages bildet, versah und der lebte Vorsitzende des Ministerkomitees Golicyn seinen Maßnahmen zugrunde legte, die dann von der bürgerlichen Februarrevo- lution überholt wurden. Von der Existenz dieses Memorandums hatte man seit Anfang Januar 1917 gewußt, kannte aber weder den Inhalt, noch den Autor, noch seine Folgen. Das wird jet durch die hier veröffentlichten Dokumente bekannt, die neben dem Memorandum aus einem Schreiben Séeglovitovs an den Caren und aus einem Bruchstück des Golicyn’schen Berichts an den Caren vom 20. Januar 1917 bestehen. (S. 207—214.)

In die Zeit Ende Juni/Anfang Juli 1917, als an und hinter der Front die Reaktion anwuchs, führt V. Meller unter dem Titel „Das Allrus- sische Zentralexekutivkomitee (VCIK) im Juli 1917“. Er publiziert die wenigen im Archiv der Oktoberrevolution erhaltenen Befehle des aus Menschevisten und Sozialrevolutionären bestehenden VCIK über ans von Truppen nach Petersburg zur Unterdrückung der BolSeviki

14—219

Fünf Dokumente aus dem Polizeidepartement, eines aus den Akten

„über die Gewerkschaften“, die übrigen vier aus den Akten „Über die Vorbereitung von Maßnahmen zur Verhinderung der Wiederholung der revolutionären Bewegung von 1905“, gibt M. Korbutals „Zusammen- fassung der Erfahrungen von 1905 durch das Polizei- departement?™ heraus, um die Arbeit der Polizei im Jahre 1915 zu illustrieren, soweit das) Proletariat in Frage kommt. Im zweiten Dokument vermerkt die Polizei, daß in Parallele mit der steigenden Unzufriedenheit der Massen auch die liberalen bürgerlichen Kreise größere Aktivität an den Tag legen, so auf dem Stadtetag in Kiev von 1913. Korbut macht hierzu im Begleittext die Bemerkung, daß die bürgerliche Aktivität nach anderen Dokumenten des Polizeidepartements gleichfalls Gegenstand größter Auf- merksamkeit war, so z. B. die geheime Konferenz der Kadetten in Moskau vom 5.—6. Oktober 1913. (S. 219—227.)

Die Miszellen „iz zapisnoj knizki archivis fa“ im 19. Bande eröffnet E. Korol’Zuk mit drei Briefen „Aus der Korre- spondenz S. M. Krav£inskij-Stepnjak’s“ aus dem J. 1878, von denen zwei kurz vor, einer kurz nach dem Attentat auf den Chef der 3. Abteilung N. Mezencov vom 4. Aug. geschrieben sind. Die Adressaten sind der Reihe nach Vera Zasulič, A. Ep3tejn, die Gattin von D. Klemenc, der zu den Cajkovskij-Leuten gehörte und sich später einen Namen als Ethnograph gemacht hat, und Vera Zasuli¢ und das Ehepaar Klemenc ge- meinsam. Diese Briefe sind bereits im Aufsatz von V. ja. Boguéarskij „V 1878 godu (Im Jahre 1878)“, Golos MinuvSego 1917, Nr. 9—10, S. 119—120, behandelt worden, doch waren sie bisher im Wortlaut nicht gedruckt. Die

446

zw . re aa SS? za

Herausgeberin hat die Briefe mit biographischen Noten der in ihnen ge- nannten Personen versehen (S. 195—202).

Den nie zur Verbreitung gelangten „Bericht über die Aus- hebung der Druckerei in der Sappeur- Gasse“ in Peters- burg, Januar 1880, bringt N. Ser gievskij. Die vier Insassen der Druckerei ließen es bei der Aushebung auf ein heftiges Feuergefecht mit Polizei und Militär ankommen, um soviel als möglich Aufsehen zu machen, damit die anderen geheimen Druckereien gewarnt würden. Der Berichi über den Hergang, gedruckt in der Petersburger Druckerei des Cernyj Peredel kam nicht zur Versendung, weil auch diese Druckerei ausgehoben und hierbei der Bericht konfisziert wurde. Dieser ist jetzt in den Akten des Justizministeriums entdeckt worden (S. 202—203).

S. Valk veröffentlicht zwei „Erste-Mai-Reden in Odessa im Jahre 1895“ aus dem Archiv der Polizeidepartements. Das Haupt- interesse an ihnen besteht nicht darin, daß solche Reden bislang nur wenig bekannt sind, auch nicht darin, daß diese Reden noch nicht den realpoli- tischen Ton des nördlichen Rußlands finden, sondern in der Tatsache, daß sie Spuren der Verbindung zwischen der sozialdemokratischen Arbeiter- bewegung und der revolutionären Propaganda der 70er Jahre unter den Arbeitern erkennen lassen (S. 203—207).

Gezeichnet M. B-v., folgt „Die Antwort der (Ktever) Ra- boéaja Gazeta’ 1898) an G. V. Plechanov“. Es handelt sich um den Vorwurf Plechanov’s, die Genossen vergäßen häufig den Gedanken Marx’s, daß jeder Klassenkampf ein politischer Kampf sei. Weil die Zeitung diese Ansicht Plechanov’s und im Hintergrunde Axelrod’s für ungerecht- fertigt halt, lehnt sie den Abdruck der diesbezüglichen Zuschrift Plecha- nov’s ab. Das ablehnende Schreiben wurde von der Polizei Des San und wird hier nach einer Kopie aus dem „Istoriko-Revoljucionnyj Archiv“ Kiev reproduziert. (S.207—209).

Anonym werden ,Zwei Dokumente zur Geschichte der Zubatoviade“ herausgegeben. Das erste "handelt von Marja Vil- buSevié und von Zubatov’s Plänen in bezug auf die Arbeiter; das zweite ist eine Beurteilung des Buchs von S. N. Prokopovič, Rabolee dviZenie na zapade (Die aa m Westen) durch Zubatov, der dieses Werk für seine Zwecke brauch findet. (S.210—211).

„Vor 20 Jahren“, anonym wie das voraufgegangene Stück, behan- delt in zwei Dokumenten den Fluchtversuch der politischen Gefangenen aus dem Gefangnis in Irkutsk im Oktober 1906 und seine grausame Nieder- schlagung. Das erste Dokument ist der offizielle Bericht des Chefs der Irkutsker Gendarmerie, das zweite eine Beschreibung aus der Zeitung „Sdratovskij Dnevnik“. (S.212—215.)

Den Schluß bildet der Beitrag P. Sadikovs über „P. A. Stoly- pinunddie Todesstrafe im jahre 1908.“ General Hasenkampff hatte von Nikolaj Nikolaevié den Befehl, alle Todesurteile der Militär- gerichte zu überprüfen, und folgte, wie er selbst feststellt, dem Prinzip, erbarmungslos Todesurteile bei politischen und gewöhnlichen Mordtaten zu bestätigen, sonst aber die Strafen zu mildern. Das erschien Stolypin falsch, und er klagt gegen Hasenkampff's Nachsicht beim Großfürsten Nikolaj Nikolaevié im Schreiben vom 27. Januar/9. Februar 1908. Dieses Schreiben, Hasenkampffs Replik vom 4.117. Februar und ein zweites Schreiben Stolypins vom 10./23. Februar, das auf Hasenkampffs Replik Bezug nimmt und mit Marginalien Hasenkampffs versehen ist, werden hier veröffentlicht (S. 216—221). Harald Cosack.

A. Sestakov: An der historischen Front. Novyj Mir, Februar 1929, S. 236—242.

In diesem Artikel (Na istoriteskom fronte) wird über die erste All- unionistische Konferenz der Historiker-Marxisten berichtet, die im Dezember 1928 in Moskau stattfand. In seiner Eröffnungsrede betonte der Vorsikende,

447

Professor M. N. Pokrovskij, die prinzipiellen Unterschiede zwischen der marxistischen und der „bourgeoisen“ historischen Schule; lebtere hatte gerade während des lebten Kongresses in Oslo ihre nationalistischen, ja 2. T. chauvinistischen Tendenzen zur Schau getragen. Auch die marxistische Historikerschule steht mit der Politik des Tages im engsten Zusammenhang; me ‚Augaben decken sich aber mit den politischen Aufgaben des Pro- etariats.

Die Arbeit der Konferenz stand im Zeichen des Mottos: „politischer Kampf an der historischen Front“. In diesem Sinne lautete auch das Mani- fest der Konferenz: „die marxistische Geschichtswissenschaft nimmt einen wichtigen Platz im Kampf des Proletariats für den Sozialismus ein“. Man dürfe bereits von einer Sovetschule der marxistischen Historiker sprechen, die auch andere Wissenschaftszweige (Philologie, Archäologie) zu beein- flussen versteht. Diese Schule hat nicht nur lokal-russische Bedeutung; sie stellt gleichsam die erste „Zelle“ der revolutionären Geschichtswissenschaft dar, der sich auch ausländische Historiker-Marxisten anschließen werden. Deshalb wurde auch der Beschluß gefaßt, in 2—3 Jahren einen inter- nationalen Kongreß der marxistischen Historiker zusammenzuberufen.

Uber die praktische Bedeutung der Konferenz laßt sich nach ihrer „Re- solution“ ein Urteil bilden. Die Gesellschaft der marxistischen Historiker wird danach zu einer allunionistischen Organisation mit einer Zentralver- waltung umgebildet. Es wurde ferner beschlossen, lokale Sektionen der Gesellschaft zu gründen, eine populäre historische Zeitschrift herauszu- ‘geben, die Arbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Institute zu koordi- nieren usw.

Die wissenschaftliche Arbeit der Konferenz fand ihren Ausdruck in den zahlreichen Vorträgen, die dort abgehalten wurden. Den „clou“ des Pro- gramms bildete der Vortrag von Prof. Pokrovskij „Der Leninismus und die russische Geschichte” eine Analyse der Leninschen Auffassung der Geschichtsmethodologie. Zu erwähnen sind auch die Arbeiten von A. Pan- kratova „Die Grundprobleme der Erforschung der Geschichte des Proletariats in UdSSR“, N. Vanaga „Uber den Charakter des Finanzkapitalismus in Rußland“, Janlevskii „Die Agrarfrage im Dongebiet in Beziehung zur Kolonisationsgeschichte“ u.a.m. Auch die Vorträge, die die Geschichte Westeuropas behandelten, trugen einen „wissenschaftlich-politischen“ Cha- rakter, was auch mit dem Prinzip der Bevorzugung der aktuellen Tages- fragen bei der Wahl historischer Themen im Einklang steht. Zum Vortrag von N. M. Lukin „Probleme der Erforschung der imperialistischen Epoche“, machte Professor Pokrovskij einige interessante Bemerkungen: .. Im Westen wollte man die Kriegsschuld auf Deutschland abwälzen; wir stehen auf einem enigegengesefien Standpunkt, nicht um Deutschlands Interessen zu währen, sondern, um den Imperialismus zu entlarven. Der englische Im- perialismus ist gegenwärtig der gefahrlichste; wir wollen ihn entlarven und hoffen es durch unsere letzte Veröffentlichung der Kriegsdokumente zu er- reichen.“ In den zahlreichen Plenar- und Sektionssisungen fanden nach den Vorträgen lebhafte Diskussionen statt. Mit großer Leidenschaft wurden auch die Probleme der idealistischen Geschichtsauffassung umstritten, die verdächtigen opportunistischen Tendenzen verfolgt und gebrandmarkt. „Wir sind kämpfende Marxisten,“ lauten die Schlugworte der Resolution, „unsere erste Pflicht ısi der Kampf mit den Ideologien, die dem Marxismus fremd, den Klasseninteressen des Proletariats feindlich sind. Dieser Kampf ge-

innt besonders heute an Bedeutung, im Augenblick, wo die Vertreter dieser deologie ihre Köpfe erheben und zum Angriff rüsten!“ Eugenie Salkind.

L Il’inskij: Bemerkungen über die Hochschule (Zametki o wys3ej škole). Novyj Mir Nr. J, S. 225—232.

Früher staunte man darüber, daß die Jugend über Politik ihr Studium vergaß. Heute politisiert die Hochschuljugend nicht, sie studiert weil

448

Politik und Wissenschaft Hand in Hand gehen. Doch ist es um die Jugend nicht gut bestellt; Gesellschaft und Presse bekümmern sich wenig darum; nur sensationelle Oerichisfälle rufen von Zeit zu Zeit ihr Interesse dafür hervor.

Die große Masse der Studierenden setzt sich heute aus der Arbeiter- jugend zusammen; darunter sind mindestens 60% Parteimitglieder und Kom- somolen. Ihre Klassenabstammung läßt sich an vielen wichtigen und neben- sächlichen Merkmalen erkennen: so z. B. an dem allgemeinen „Du“ und an der „schicken“ Manier, die brennende Zigarette an der schwieligen Hand- fläche zu löschen. Diese Jugend kommt in die Hochschulen mit dem ernsten Wunsch, sich für den zukünftigen Beruf vorzubereiten. Daß ihr das Studium sehr schwer fallt, liegt z. T. an der ungenügenden Vorbildung: eine ganze Welt von Bildern und Vorstellungen, mit welchen die früheren Stu- denten vertraut waren, bleibt ihnen verschlossen. Dasselbe gilt auch von historischen Kenntnissen: für die russische Jugend von heute beginnt die Weltgeschichte mit der Oktoberrevolution. So bildet es keine Ausnahme, wenn eine Studentin auf die Frage, wann und wo Plato gelebt hatte, die prompte Antwort gibt: in Frankreich, im 18. Jahrh. Auch die Hochschule gibt keine Möglichkeit, diese Lücken der Bildung auszufüllen: der Student ist mit der Arbeit ungeheuer überlastet; abgesehen von Vorlesungen und Seminaren, hat er noch 3—4 Stunden täglich der sozialen Arbeit, Sitzungen usw. zu widmen. Es nimmt daher nicht wunder (wenn man diese Über- ansirengung und die drückende materielle Not in Betracht zieht), daß die lebenslustigen, gesunden Provinzjungen nach einigen Semestern in Moskau zu anämischen Neurasthenikern werden und zu der ihnen bevorstehenden Berufsarbeit off von vornherein untauglich sind.

Auch die Professoren befinden sich in kaum besserer Lage: die Pflicht der sozialen Arbeit lastet auch auf ihnen; außerdem sind sie gezwungen (dies gilt hauptsächlich für die technischen und naturwissenschaftlichen Be- rufe), an zahlreichen Sitzungen wirtschaftlichen Charakters teilzunehmen; aus materiellen und sozialen Gründen dürfen sie auf diese Mitarbeit nicht verzichten; durch diesen Zeitmangel wird natürlich ihre wissenschaftliche Arbeit gefährdet, da ihnen ja kaum Zeit bleibt, um sich zu den Vorlesungen vorzubereiten. Eine besondere Stellung nimmt im akademischen Leben die „rote Professur“ ein. Ihre Vertreter sind in ihrer Mehrzahl noch junge Leute, und die Eroberung des wissenschaftlichen Namens fällt ihnen nicht leicht. Vom Marxisten-Akademiker wird wissenschaftliche Arbeit verlangt, Entdeckungen auf den Gebieten, die von der marxistischen Wissenschaft noch nicht berührt wurden. Hier kann noch vieles geleistet werden, und wenn die Arbeit langsam vor sich geht, so ist die Ursache in den schon erwähnten Gründen zu suchen: Armut, die den Gelehrten zwingt, populäre Broschüren zu schreiben, Mangel an Büchern und Verlegern, endlich auch überlastung durch administrative und konsultative Arbeit hemmen die Ent- wicklung der marxistischen Wissenschaft. Eugenie Salkind.

CECHOSLOVAKEI

A. Petrov: M. Bel. Jak jej ocenuji souasnici a potomsivo. Slavia 7, 1 (1928). S. 120—127.

Der Slovake Matej Bél, geb. 1684, war evangelischer Pfarrer und später Gymnasialdirektor in Bratislava. Sein Hauptwerk sind die „Notitiae Hunga- riae novac hislorico-geographicae“. Er wurde im 18. Jh. „magnum decus Hungariae“ genannt, und im 19. Jh. hat M. J. Hurban seinem großen Wissen und seinem klassischen Stil Bewunderung gezollt. Bél hat 1722 gemeinsam mit D. Krman eine slovakische Bibel in Halle herausgegeben und ein Vor- wort dazu geschrieben. Viéek in „Dejiny literatury slovenskej“ hat seine Vielseitigkeit anerkannt. Aber sowohl Hurban wie Vlček verurteilen Béls diplomatisch-schlaue schmeichlerische Wesensart. Sein Zeitgenosse Pater

449

Horanyi dagegen lobt ihn als Menschen von klarem Sinn und verfeinerten Sitten, der aber beständig in seiner Meinung war (staly vo svojom). Woher wollen Hurban und Vléek Kunde haben von den dunklen Seiten in Béls Charakter? P. untersucht die Wechselfälle im Leben Béls daraufhin, wo der Erfolg seiner diplomatischen Weltklugheit zu sehen wäre. Er hat sein Leben lang Unannehmlichkeiten gehabt und ist nie Bischof oder Senior ge- worden, sondern als einfacher Pfarrer gestorben. Es scheint so, als hätten diese beiden Kritiker Bel etwas als Charakterfehler angerechnet, was nur Zeitmode war, nämlich Mäzene mit Lob zu überschüften. Hurban wirft Bel auch Kosmopolitismus vor, was unverträglich ist mit seinem eigenen Urteil, daß Bél nämlich der Gesinnung nach slovakisch gewesen sei. Als Beweis für seinen Kosmopolitismus wird auch angeführt, daß Bél nach Belieben bald lateinisch, bald altväterisch deutsch oder magyarisch geschrieben habe. Er wirft ihm also die Vielsprachigkeit des Ungarn vor. Nach Petrovs Mei- nung war Bél eingefleischter Patriot, und zwar nicht Magyare, sondern Ungar, er ließ unter sein Bildnis die Worte schreiben „Oo cara patria, quae me genuisti, dulcis Pannonia“. Bel hat diejenigen getadelt, welche von den Sitten der Vater ließen. Während des 18. und 19. Jhs. hat man Bel als Ge- lehrten den gebührenden Zoll entrichtet, ohne an seiner slovakischen Ge- sinnung zu zweifeln, erst das 20. Jh. hat sich ihm gegenüber anders ein- gestellt. Skultety wirft Bél vor, er sei magyarisiert gewesen und habe der slovakischen Sache sehr geschadet. Dabei ist der Begriff der Magyarisie- rung ja erst ein Produkt der neuesten Zeill Nach der Meinung Skultetys soll Bél schuld haben, daß sich die Meinung verbreiten konnte, die ältesten Einwohner Ungarns seien Magyaren gewesen, und die Slovaken seien mil anderen Slaven aus dem oberen Ungarn übergesiedelt. P. führt nun zum Beweise des Gegenteils Stellen aus den geographischen Schriften Bels an, so über die Komitate Bratislava, Neutra, Trenčin usw., die keineswegs ma- gyarisierende Tendenzen zeigen. Außerdem hat sich Bel über gewisse Schwächen der Magyaren, ihre körperliche Untüchtigkeit und Trägheit mehr- fach ausgesprochen und sagt, daß sich bei magyarisierten Slovaken noch die sympathischen Züge erhalten: Friedfertigkeit, Freundlichkeit und Fröh- lichkeit. P. hofft aus dem Gesagten genügend Beweise dafür erbracht zu haben, daß Bel die Sympathien des Slovakentums vollauf verdiene, dessen Geschichte er geschrieben. Emmy Haertel.

Wolfango Giusti: L’opera di Giorgio Wolker e gli elementi della sua personalità. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 360—377.

Die Dichtung Wolkers ist auf das engste mit den Traditionen der Cechischen Dichtung verbunden und doch zugleich von einer über die <echischen Grenzen hinausgehenden Weltweite; will man sie analysieren, so muß man die gesamte Cechische Dichtung von Erben und Celachovsky an bis in die Zeit nach dem Weltkriege durchmustern. Es wäre aber ein großer Irrtum, etwa in Celachovsky einen „Vorläufer“ Wolkers sehen zu wollen, es gehört jeder von beiden in seine eigene Zeitepoche. Wolker, als moderner Mensch, wird von sozialen Problemen gequält, die Celachovsky nie gekannt, trokdem klingt bei beiden in den dem Folklore nahestehenden Dichtungen Verwandtes an. Bei beiden läßt sich hie und da russischer Ein- fluß erkennen, während aber bei Celachovsky das traditionelle Rußland mit seinen melancholischen Liedern und der alten Sagenwelt auflebt, sieht Wolker unter dem Einfluß des neuen revolutionären Rußland. Zwischen den Volksliedern Erbens und Wolkers besteht unleugbar ein gemeinschaft- licher Zug, Erben stand Wolker entschieden näher als die moderne west- europäische Dichtung. Interessant sind Vergleiche zwischen Volksdichtungen beider über verwandte Themen, so zieht hier Giusti Erbens „Dcefina kletba“ heran und stellt ihr Wolkers „Balada o nenarozeném dit&ti” gegenüber.

Wolker hat bei der Kürze seiner Lebenszeit den vollen Abschluß seiner Entwicklung nicht erreichen können, er hat aber, was ihm an Zeit fehlte, an

450

Intensität und Tiefe der aufgenommenen Eindrücke ersetzt. Die erlittenen Leiden Wolker starb als Vierundzwanzigjähriger an Lungenschwindsucht werden zu einem integrierenden Bestandteil seiner Dichtung. Wolker ist vielleicht der am meisten Leopardi ähnliche unter den Cechischen Dichtern. Das Leitmotiv seiner Dichtung besteht in der Klage um die Ungleichheit des Willens zu weitem Fluge und der körperlichen Schwäche, die ihn hindert; am deutlichsten spricht sich dieser Gedanke aus in dem Gedicht „Večer“. Wolker wird als derjenige angesehen, welcher die Cechische soziale Lyrik zur höchsten Vollendung gebracht hat. Um den Charakter dieser Art Lyrik zu verdeutlichen, gibt G. einen Rückblick auf die sozialen Verhältnisse Böh- mens unter der habsburgischen Herrschaft, welche selbst in den schwär- zesten Zeiten des Meiternichschen Absolutismus nie zu Zuständen geführt hat, wie sie z.B.im caristischen Rußland für die Polen oder andere Minder- heiten bestanden. Während für Bezru& die soziale Dichtung zugleich einen ausgesprochen nationalistischen Charakter annehmen mußte, veranlaßt durch die Vormachtstellung der reichen deutschen Intellektuellen gegenüber der armen Cechischen Bevölkerung, trägt bei Wolker die soziale Dichtung aus- schließlich den Charakter des Klassenkampfes; die nationale Frage bedarf keiner Förderung mehr. Wolker trägt diese soziale Dichtung hinein in das Getriebe der Großstadt und ihrer Industrie, kleidet sie aber, dem modernen Milieu zum Trob, in die Form der Ballade, wie z. B. in „U Röntgenu“. Wolker hat in seinem zeitlich so beschränkten Lebenswerk eine Syn- these der Cechischen Dichtung erreicht; ein Bewunderer der slavischen Volksdichtung, hat er es verstanden, mit Hilfe ihres alten Materials Keime einer modernen Dichtung zu schaffen. Man braucht nicht zu bedauern, daß die &echische Dichtung bald nach dem Tode Wolkers im „Poefismus“ ganz andere Wege ging wie er; sie folgte dabei nur zeitgemäßen Instinkten, und man wird annehmen können, daß spaterhin aus der von Wolker hinter- lassenen Saat neue Keime aufsprießen werden. Emmy Haertel.

Otto F. Babler: Jakub Demi (zum fünfzigsten Geburtstag). Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 351—359.

Das hier gebotene Lebensbild zeigt, welche Kämpfe Demi innerhalb der katholischen Welt der Cechoslovakei, zu deren Hauptvertretern er ge- hort, zu bestehen hatte: zuerst Kampfe an der Seite Josef Florians gegen die Lauheit des katholischen Modernismus, dann die Anfeindungen der Hierarchie und schlieBlich die Meinungsverschiedenheiten gegenuber Florian selbst, der ein Widersacher jeder individuellen poetischen Leistung war, den einzigen Zweck der Literatur in ihrer religiösen Mission sah und sogar von Ubersebungstatigkeit nichts wissen wollte. Deml ging infolge all dessen seinen cigenen Weg weiter. Das Vortrefflichste, was unter seinen bisherigen Werken zu nennen ist, sind die in dem Bändchen „Moji pfatelé“ enthaltenen Gespräche mit den Blumen, für die Demi mit einer seraphischen Liebe erfüllt ist. Paul Eisner, der Übersetzer und Entdecker dieses Flori- legium, schrieb darüber am 2. März 1928 in der Prager Presse: „Ist das Buch schon in allen &echischen Schulen obligatorisch? Es verdiente in allen europäischen Schulen eingeführt zu werden.“ Diesem Buch waren zwei Gedichtssammlungen und Prosastücke voraufgegangen: „Notantur lumina“ und „Hrad smerti“ (1907 und 1912). Später folgte „Danec smerti“. Hier verarbeitet der Dichter die Eindrücke, die der Tod von Mutter und Schwester in ihm hervorgebracht. Demi hat in dieser Welt sich nicht nur nach dieser einen Schwester gesehnt oder nach einem Bruder, sein Sehnen ließ ihn nach einem Geschwisterkreis im weitesten Sinne suchen, nach einer magischen Kette der Vereinigung. Er glaubte eine solche in den &echischen Sokolverbänden zu finden, wurde aber bitter enttäuscht, als er in ihnen einen anliklerikalen Geist vertreten fand.

m J. 1924 erschien von ihm ein neues Meisterwerk „Cesno“ (éeslo Flugloch der Bienen), auf dessen Titelblatt František Bílek die Worte schrieb: „Seelisch das erleben, was die Bienen körperlich erleben, heißt die

451

Erde zum Himmel machen.“ Jaroslav Durych schrieb aus Anlaß dieses Buches: „Man hört selten unsere Sprache unter den Cechischen Dichtern von einer solchen originellen Frische... Hier erinnert in der Tat nichts an eine fremde Sprache“, (gemeint ist die deutsch-éechische Abstammung und Zweisprachigkeit Demis). B. schließt mit der Bemerkung, Demi könnte die cechische Sprache nicht so meisterlich beherrschen, wenn er sie nicht liebte. Die vielen Leiden seines Lebens haben seine Fähigkeit zur Liebe genahrt. Emmy Haertel.

POLEN

Matuszyfiski Marian: Próba analizy bitwy pod Plowcami (Versuch einer Analyse der Schlacht bei Plowce). Przeglad historyczno-wojskowy. Heft I. 61—84. Warschau 1929.

Auf Grund der Quellen und mit Berücksichtigung der Grundsätze der mittelalterlichen Taktik rekonstruiert Verf. den Verlauf der Schlacht, welche der polnische König Ladislaus Lokietek den Truppen des Deutschen Ordens am 27. September 1331 bei dem Dorfe Plowce geliefert hat. Die bisherige wissenschaftliche Literatur, sowohl die deutsche wie auch die polnische, unterschied in dem Verlaufe dieser Schlacht zwei voneinander getrennte Phasen. Zuerst fand das Gefecht zwischen den Polen und der Abteilung des Ordensmarschalls Dietrich von Altenburg, welcher dabei eine völlige Niederlage erlitten hatte, statt. Kurz darauf kehrte der Hauptteil der Ordenstruppen, welche in der Richtung von Brześć vorgeriickt waren, auf das Schlachtfeld zurück, und es entbrannte aufs neue ein Kampf, dessen Ausgang, infolge der einander widersprechenden Quellenzeugnisse, in der Literatur verschieden aufgefaßt wird. Verf. nimmt noch eine dritte Phase der Schlacht an: er läßt nämlich die von Brześć zurückkommenden Truppen zuerst den in den polnischen Händen sich befindenden deutschen Wagen- park wiedererobern und erst später den Kampf mit der königlichen Armee aufnehmen. Diese Annahme scheint jedoch willkürlich zu sein, da sie von keiner der vorhandenen Quellen beglaubigt wird. Im Gegensatz zu der deutschen wissenschaftlichen Literatur und auch zum polnischen Forscher Kaniowski, welcher sich zuletzt eingehend mit dieser Frage beschäftigt hat, behauptet Verf., der Ausgang des lebten Treffens sei taktisch unentschieden gewesen, bedeute aber in strategischer Hinsicht einen Erfolg der pol- nischen Truppen; die Ordensritier seien nämlich gezwungen worden, so schnell als möglich den Rückzug nach Thorn anzutreten. i

S. Zajączkowski.

Kazimierz Tyszkowski: Kopitar a Ossolineum. Z powodu 100-letniego jubileuszu otwarcia zakładu (1827—1927). Slavia 7, 1 (1928). S. 128—139.

Innerhalb der slavistischen Studienwelt in Wien um die Wende des 18. Jhs. hat Kopitar durch seine Beweglichkeit und Vielseitigkeit als ein Bindeglied gedient. Hier näherte er sich dem polnischen Mazen, dessen bevorzugter Stellung in der Gesellschaft, Liebhaberei als Sammler, betracht- lichem Vermögen es zu danken war, daß er eine führende Rolle spielte. Im J. 1810 erhielt Kopitar durch die Vermittlung des Grafen Ossoliński die Sekretärstellung in der Hofbibliothek, in der er 34 Jahre hindurch verblieb, von denen er 16 unter der Führung Ossolifiskis verbringen konnte, was ihm ermöglichte, seine bibliothekdrischen Fähigkeiten auf eine allen Zeitgenossen imponierende Hohe zu bringen. Ossoliński seinerseits erhielt durch die Ver- mifflung Kopitars den Kontakt mit der slavistischen Gelehrtenwelt aufrecht. Kopitar hat auch viel zur Bereicherung der Bibliothek Ossolifiskis bei- getragen. Er besaß auch für dessen wissenschaftliche Beschäftigungen viel Interesse, warf ihm aber Mangel an philologischer Kritik und geringe Kennt-

452

nis auf sprachwissenschaftlichem Gebiet vor, in diesem Sinne hat er sich: brieflich gegen Dobrovský geäußert. Die Freundschaft zu Ossoliński über- trug Kopitar auch auf dessen großartige Büchersammlung, die er genau kannte. Er wurde deshalb nach dem Tode Ossolifiskis von dem neuen Präfekten der Kaiserl. Bibliothek, Dietrichstein, aufgefordert, an der Kom- mission teilzunehmen, welche das Testament Ossolifiskis erfüllen sollte, und wo es darauf ankam, diejeni we Bücher zurückzuerlangen, die sich Osso- liński auf Lebenszeit aus der Kaiserl. Bibliothek entliehen hatte. Die Arbeiten an der Inventarisierung der Bibliothek, die nach Lemberg übergeführt werden sollte, zogen sich über ein Jahr hin. Kopitar wurde späterhin von dem Leiter der Ossolineumbibliothek, Siotwinski, häufig in Fällen irgendwelcher Komplikationen mit Behörden und Zensur ins Vertrauen gezogen. Siotwifski hatte es gern gesehen, wenn Kopitar der Zensor der Veröffentlichungen des Ossolineums geworden wäre, diesen Plan lehnte dieser aber bei seiner großen Vorsicht entschieden ab. Ohne diese Vorsicht wäre es ihm sicher nicht möglich gewesen, sich so lange auf seinem leicht gefährdeten Posten zu halten. Im übrigen hat Kopitar guten Rat und Mitteilungen in reichem Mage an Siotwifski gelangen lassen. Kopitar hatte gern den Florianer Psalter im Ossolineum herausgegeben, doch wurde ihm dieser Plan durch Borkowski vereitelt. Diese ganze Angelegenheit wird aus dem im Anhang enthaltenen Brief Kopitars an Slotwinski klar. Nach der Verhaftung Slot- wińskis i. J. 1834 hörten die lebhaften Beziehungen zu der Stiftung Osso- liúskis von seiten Kopitars auf, hochstwahrscheinlich hat der Prozeß Siot- wińskis wegen Staatsverbrechen den eifrigen Sohn Österreichs abgeschreckt. Diesem kurzen Überblick über die Beziehungen Kopitars zum Ossolineum sind sechs Briefe, welche zwischen Kopitar und dem Grafen Lubomirski über die Ernennung Siotwitiskis und diejenigen, welche zwischen diesem letzteren und Kopitar gewechselt worden sind, beigegeben. Emmy Haertel.

Das Ende der Studentenverbindung „Polonia“ in Breslau. Schle- sische Geschichtsblätter, Jahrgang 1929, Nr. 2, S. 30—37.

Manfred Laubert schildert aus der Zeit der Verfolgung und Unterdrückung der akademischen Freiheit hier eine Episode aus der Ge- schichte der Universität Breslau. Der Universitatsrichter Neumann war im Sommer 1830 der Fortdauer der ehemaligen Verbindungen Arminia, Bo- russia, Silesia und Polonia und der Feier des herkömmlichen Zobten- kommerses auf die Spur gekommen. Er wendete sich sogleich zur weiteren Veranlassung an den Rektor Steffens und den Universitätsrichter Behrends. Die angestellte Untersuchung verlief aber im Sande. Der Ausbruch des Warschauer Aufstandes brachte dann im November eine scharfe Kontrolle der aus Posen stammenden Studenten, bei denen insbesondere festgestellt werden sollte, ob sie zu den polnischen Insurgenten übergetreien wären. Am 14. Mai war bei dem Minister Altenstein eine offensichtlich gut infor- mierte Denunziation des Breslauer student. Verbindungswesens eingelaufen, und auch gerade über die „Polonia“, welche nicht nur polnische, sondern auch deutschstämmige Mitglieder der Provinz Posen zu ihren Mitgliedern zählte. Die von der Universitätsbehörde daraufhin eingeleitete Untersuchung ergab kein belasiendes Material gegen die „Polonia“. Ein mit den polni- schen Verschwörern in guter Beziehung stehender älterer polnischer Stu- dent, Adam Kasimir v. Koczkowski, der bald wegen schwerer strafrechi- licher Delikte ins Zuchthaus kam, von dort jedoch entwich, hatte am 17. Januar 1830 die „Polonia“ gegründet, ohne aber deren Mitglieder der poln. Propaganda zuführen zu können, vielmehr hielten die Polonen alles Politische geflissentlich fern. Das ist eben erklärlich, da ja auch Deutsche aus der Provinz Posen der „Polonia“ angehörten. So verlor Koczkowski das Interesse an der „Polonia“. Seine Aussagen bei seiner Inhaftierung belasteten das Breslauer Verbindungsleben stark. Und wenn auch die an- gestellte Untersuchung die Mitglieder der „Polonia“ so entlastete, daß die

455

Angelegenheit mit ihrem Freispruch endete, so veranlaßte Altenstein doch, daß den freigesprochenen Studenten die Unfähigkeit zur Bekleidung öffent- licher Amter wegen Verstoßes gegen den Bundesbeschluß v. 18. Okt. 1819 vermerkt wurde. Lauberts Studie ist eine Ergänzung zu seinen und A. Kerns Ausführungen in der „Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. Schlesiens“, Bd. 45, S. 139 ff. und 71 ff. E. Hanisch.

Piłsudski Joseph: Zarys historji militarnej powstania stycz- niowego (Kurzgefaßte Militärgeschichte des Jänner-Aufstandes). Przeglad historyczno-wojskowy. Heft I. 1—60. Warschau 1929.

Die vorliegende Arbeit enthält eine genaue Analyse der Umstände, unfer welchen der Aufstand in Kongreß-Polen gegen die russische Regie- rung im Jänner 1863 ausgebrochen ist, und der Ursachen, infolge deren sein Verlauf von Anfang an für die Polen ungünstig gewesen ist. Der Aufstand wurde nämlich in militärischer Hinsicht ungenügend vorbereitet, die Frage des Oberkommandos wurde sogar im vorhinein nicht geregelt, im Momente des Ausbruches, den die russische Regierung provoziert hatte, herrschte unter den Aufständischen eine völlige Verwirrung usw. Infolgedessen miß- langen meistenteils die ersten Angriffe der Aufstöndischen gegen die rus- sischen Truppen, später führte jede Abteilung der Aufständischen den Kampf ganz selbständig, was den Polen unmöglich machte, eine revolutionäre Armee unter einheitlichem Oberbefehl zu schaffen und die Initiative in den Kriegsoperationen zu ergreifen. Der Aufstand nahm also den Charakter eines hoffnungslosen Kampfes an, dessen Zweck war, nicht den Sieg über den Feind zu erfechten, sondern solange als möglich auszuharren. Endlich ernannte im Herbst 1863 die revolutionäre Regierung Romuald Traugutt, einen gewesenen Stabsoffizier der russischen Armee, zum Diktator. Der- selbe, in Warschau, also im Mittelpunkte des Kriegsgebietes verweilend, bemühte sich, die einzelnen Abteilungen der Aufständischen in militärischer Hinsicht zu reorganisieren und seiner einheitlichen Leitung zu unterwerfen. Alle diese Maßnahmen wurden aber zu spät vorgenommen und der Auf- stand erlag, nach der Dauer von über einem Jahr, der russischen Ubermacht.

S. Zajaczkowski.

Wolfango Giusti: Le lettere dalla prigione di Rafael Kra- jewski. L’Europa Orientale. 8, 9—10 (1928), S. 307—312.

Krajewski war einer der Haupträdelsführer im polnischen Aufstand v. J. 1863, die Briefe, die er an die Seinigen aus dem Gefängnis geschrie- ben, sind, chronologisch geordnet, in dem von Agaton Giller 1875 heraus- gegebenen Werk „Polska w walce“ abgedruckt. G. gibt Auszüge aus diesen Briefen und leitet sie durch eine biographische Skizze Krajewskis ein. Er charakterisiert die Stellung Krajewskis innerhalb der übrigen An- hänger der Insurrektion und schließt mit der Schilderung seiner Hinrichtung.

Emmy Haertel.

Enrico Damiani: l narratori della Polonia d’oggi. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 403—437.

Damiani gibt in Übersekung Proben aus den Werken der hauptsach- lichsten Vertreter der polnischen Prosa der Gegenwart und läßt diesen eine kurze Charakteristik des betreffenden Schriftstellers voraufgehen. Er ver- sucht es, auf diese Weise dem italienischen Leser Berent, Orkan, Kaden- Bandrowski, Makuszyński, Goetel, Kossowski, Wiktor und Grabifski nahe zu bringen. Als Vertreter der älteren Generation unter den noch lebenden Schriftstellern bespricht er noch kurz Sieroszewski, Weißenhof, Pzrerwa- Tetmajer und Strug. Zum Schluß sucht er die Tendenzen dieser modernen

454

polnischen Prosa kurz zu charakterisieren. Sie weist Talente auf, aber keine Genies. Als ein neuer Zug tritt in ihr das humoristische Element her- vor, wie z. B. bei Makuszyfiski. Die früheren Generationen haben während der Zeit der politischen Knechtschaft vorzugsweise ihren Schöpfungen die Intonation des Schmerzes gegeben. Eine Literaturgattung, welche in der älteren polnischen Literatur zu höchster Blüte gelangt war, fehlt: der historische Roman. Auch das ist erklärlich. Während früher im polnischen historischen Roman das patriotische Feuer wachgehalten werden sollte, fällt dieses Motiv jetzt fort, auch mögen die großen Ereignisse der letzten Zeit die Erinnerung an die alte etwas haben zurücktreten lassen. Geblieben ist auch in dieser neuen polnischen Literatur ihre Tendenz zum Guten und Schönen, zu Vaterlandsliebe, Familiensinn usw. Romane, denen aus- gesprochen oder unausgesprochen ein moralischer Inhalt dieser Art fehlt, sind in der polnischen Literatur unbekannt. Und darin besteht, nach der Meinung Damianis, eine der stärksten Kräfte dieser Literatur, ohne Rück- sicht auf den künstlerischen Wert der einzelnen Schöpfungen. Emmy Haertel.

Wolfango Giusti: Relazioni tra la poesia popolare polacca e quella Cecoslvacca. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 378—385.

Die Vergleiche, die G. zwischen der polnischeu und &echoslovakischen Volksdichtung anstellt, gründen sich auf Untersuchungen an Liedern aus der Rogerschen Sammlung „Pieśni ludu polskiego w Górnym Slasku“ und aus Erbens „Prostonärodni české písně a fikadla“. Es sind meistens Liebes- lieder der bekannten bilderreichen Gestalt von G. zitiert worden, zwischen denen bei Polen und Cechen eine auffallende Ähnlichkeit der Texte fest- zustellen ist. Häufig bringt die Cechische Version nur eine Anderung durch die Beziehung auf eine bestimmte Persönlichkeit, einen in den Text ge- stellten Eigennamen, der in dem entsprechenden polnischen Text fehlt. » Es kommt auch vor, daß zwei getrennte &echische Texte im Polnischen zu einem einzigen Lied verschmolzen sind. Dann wieder zeigt ein Lied in beiden Sprachen unverändert denselben Inhalt. G. schließt mit der Be- merkung, daß, wenn man in der Kunstliteratur der Slaven nicht von einer „slavischen“ Literatur sprechen darf, ebensowenig wie von einer slavischen Philosophie oder Kunst, trojdem aber zugegeben werden muß, daß die Ähnlichkeit des slavischen Folklore größer ist als in den übrigen Zweigen der indoeuropäischen Völker. Emmy Haertel.

Waclaw Lednicki: „Poland and the Slavophile Idea“. Sla- vonic Review. Juni 1928. S. 128—140.

Der bekannte poln. Slavist, früher Prof. d. slav. Lit. in Brüssel, jetzt Prof. d. russ.Lit. in Krakau, befaßt sich hier mit der wenig erörterten Frage des poln. Slavophilentums. Auf einem der lezten panslavistischen Kongresse der Vorkriegszeit sprach der Pole Stasiak den Gedanken aus, die panslav. Idee sei schon im 11. Jahrh. vom polnischen König Boleslaw Chrobry ver- wirklicht worden, der unter seinem Zepter Polen, Russen und Cechen ver- einte und sie, wie es auch fremde Quellen zugeben, zu ihrer Zufriedenheit regierte. Die Rede rief, besonders von russischer Seite, Empörung hervor. L. will die Geburt des polnischen Slavophilentums erst im 19. Jahrh. sehen, obwohl schon das 18. Jahrh. ein solches Zeugnis bringt, wie das Manifest der Sandomirer Konföderation von 1733. Hier schlägt Polen den Russen als Stammbrüdern Freundschaft und Bündnis vor.

Im 19. Jahrh. wurde das Slavophilentum in Polen von den deutschen Denkern der Romantik beeinflußt. Staszic schrieb 1815 ein Werk, in dem er die Erlösung des Menschentums durch die Slaven erhoffte. Den Vorrang vor allen slav. Nationen gab er aber dem mächtigen Rußland. Der Krieg

455

v..1812 sei ein slav. Krieg gewesen. Hier hatten die Slaven Europa gezeigt, was sie vermochien. Die feindlichen Beziehungen Rußlands zu Polen wären nur Folgen der deutschen Hetze. Diese Ideen wurden von Staszic vor Aksakov, Chomjakov und Samarin gepredigt, was die völlige Selbständig- keit des poln. Slavophilentums bezeugt.

Ein anderer Autor, Jaroszevicz, behandelte in einem 1826 erschienenen Werke besonders die kirchliche Frage. Er war ein Verehrer der griechisch- kath. Religion, die eine weitere nfwicklung der Gesebgebung und der Historiographie in der Volkssprache ermöglichte. Polen ist daher durch den romisch-kath. Glauben zur untreuen Tochter des Slaventums geworden. Eine echte slav. Nation sind für J. nur die Russen. Spätere Slavophilen erscheinen in den 40er Jahren. Ein gewisser Grabowski, Verräter an der polnischen Sache, der von den Russen Gelder 5 offenbarte sich in zwei 1841 und 1846 erschienenen Werken als großer Deutschenhasser, der in Rußland den einzigen Erlöser von den Teutonen sehen wollte. Auch er war Apologet des griechisch-kath. Glaubens, zu dem er später tiberirat. Der Fürst Svjatopolk-Mirskij, der 1843 zur griechisch-katholischen Kirche übertrat, nannte sie „die einzige natürliche Religion aller Slaven“. Waclaw Jablonowski ging von einem etwas anderen Gedankengang aus. Er hält die Slaven für ein mehr asiatisches als europäisches Volk und hält daher einen Anschluß an Rußland für die Westslaven erforderlich. Seine Ge- ls den Ideen der jetzt so modernen Eurasierbewegung sehr verwan

Der bedeutendste unter den poln. Slavophilen ist zweifellos der Philo- soph Hoene-Wronski. Seine Ideen sind folgende: Frankreichs Rolle in der Geschichte ist das Vervollkommnen des Staates, Deutschlands der Kirche, Rußlands aber in der Erfüllung der Union von Kirche und Staat. So ist er ein Vorgänger Vladimir Solovjev’s in der Idee des Cäsaropapismus.

L. will im poln. Slavophilentum edlere Seiten erblicken als im russischen. Die Russen wollten die Herrscher in der zukünftigen slavischen Union sein, die Polen aber wollien sogar ihre eigene politische Unabhängigkeit opfern. Aber der gesunde Instinkt des polnischen Volkes, das im Kampf für diese Unabhängigkeit sein kostbarstes Gut sah, lehnte die Gedanken der Slavo- philen ab, und sie hatten keinen Erfolg in der polnischen Gesellschaft.

Nadežda Jaffe.

OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBÜCHER

FÜR

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

* i

N. F. BAND V, HEFT IV 1929

PRIEBATSCH’® BUCHHANDLUNG

BRESLAU, RING 58, UND OPPELN

Beiträge und Mitteilungen sind zu richten entweder an das Osteuropa-Institut in Breslau oder an die Anschrift des Schriftleiters: Prof. Dr. Erdmann Hanisch, Breslau 15, Körnerstraße 5/7.

I ABHANDLUNGEN

DIE AGRARVERHALTNISSE IN WEISSRUSSLAND VOR DER UMWALZUNG IM JAHRE 1917

Von Dr. S. Kaleko.

Vorwort.

Das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Gebiet ist eines der Gebiete Rußlands, das von der Wissenschaft und Literatur am wenig- sten behandelt worden ist. Weißrußland konnte, infolge seiner Armut und Rückständigkeit, niemals einen wichtigen Faktor im Leben Ruß- lands darstellen. Weder auf landwirtschaftlichem oder industriellem Gebiete, noch politisch oder kulturell zeichnete sich das dürftige Weißrußland aus und bot somit keinen besonderen Reiz zur Erfor- schung. Die Erforschung dieses Gebietes wurde auch dadurch er- schwert, daß das Carenregime jegliche Forschungsarbeit privater Art, die irgendeinen Zusammenhang mit der weißrussischen Nationalitäten- frage haben könnte, untersagt hatte.

Das einschlägige Material, auch die amtliche Statistik sind un- zureichend, da sie von verwalfungspolifischen Momenten beeinflußt und nicht frei von Tendenzfärbung sind. Nur hie und da sind knappe Darstellungen für einzelne Gouvernements und für verschiedene Er- scheinungen im wirtschaftlichen Leben Weißrußlands zu finden. Eine umfassende Behandlung dieses Gebietes, seiner Verhältnisse usw. ist weder in der russischen noch in einer anderen Sprache vorhanden. Erst in den Nachrevolutionsjahren hat eine intensive Forschungsarbeit über Weißrußland eingesetzt. Die Erfolge dieser Arbeit machen sich jest schon allmählich bemerkbar, jedoch ist diese noch lange nicht abgeschlossen. Und gerade Weißrußland erweist sich als ein be-. sonders interessantes Forschungsgebiet, da es in vieler Hinsicht eine Ausnahmestellung innerhalb des Russischen Reiches einnimmt und infolgedessen eine besondere Beachtung seiner Verhältnisse ver- dient. Diese Ausnahmestellung Weißrußlands gegenüber dem ge- samten Rußland wird wohl aus nachstehender Abhandlung ersichtlich werden. |

457

Infolge der genannten Ursachen war es recht schwierig, aus den verschiedensten zerstreuten Quellen das geeignete notwendige Ma- ferial aufzutreiben und zu sichten.

Und nun einige Bemerkungen über die Einteilung der vor- liegenden Arbeit:

Die Arbeit umfaßt die Behandlung der Agrarverhalinisse in Weißrußland im Zeitabschnitt von der Aufhebung der Leibeigenschaft bis zur Oktober-Revolution (1861— 1917), wobei zwei in diese Zeit- spanne fallende Wirtschaftsperioden einzeln behandelt werden. Die erste Periode (1861— 1905) umfaßt den Zeitraum der vorherrschenden Naturalwirtschaft, einen Zeitabschnitt, in welchem die, Beziehungen der Agrarproduktion zum Markt sehr locker waren, und die Betriebs- formen der Landwirtschaft auf allerprimitivster Stufe standen.

Mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bricht die alte Wirt- schaftsform in Weißrußland zusammen, der sich ausbreitende rus- sische Kapitalismus dringt in zunehmendem Maße auch in das weiß- russische Dorf ein. Das Dorf proletarisiert sich, es tritt das Wande- rungsproblem in aller Schärfe zutage, es beginnt die zweite Periode in der weißrussischen Landwirtschaft, die bis zur Revolution von 1917 anhält.

Kapitel 1.

Das Gebiet Weißrußland. Kurze ethnogr.-demographische Übersicht.

A. Territorium.

Vor dem Welikriege pflegte man dasjenige Gebiet Rußlands als „Weißrußland“ zu bezeichnen, das im Nordwesten des Riesenreiches gelegen ist: nämlich das Gebiet zwischen dem Njemen und der west- lichen Dwina und zwischen Dnjepr, Pripet und Beresina. Es gab jedoch keine absolut festen Grenzen, da Weißrußland schon seit langer Zeit kein selbständiges Staatswesen darstellte, sondern an- deren Staatskörpern angegliedert war: erst dem Großfürstentum Litauen’), später dem Königreich Polen?) und zuletzt der russischen Monarchie“).

Der häufige Wechsel der Staatsgewalt in Weißrußland und seine Zersplitterung durch die gleichzeitige Abhängigkeit von verschiede- nen Staatssouveränen sowie auch die Bestrebungen der jeweiligen Regierungen, die Bevölkerung Weißrußlands mit dem staatlichen

1) Durch den Großfürsten Gedimin (1315—1340) und seine Nachfolger en una Witold: die ganz Weißrußland dem Oroßfürstentum Litauen ein- verleibt hatten.

2) Durch die Lubliner Union zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Königreich Polen im Jahre 1569

3) Durch die Aufteilung Polens (1772—96).

458

Mehrheitsvolke zu vermischen, hatten zur Folge, daß sich die Grenzen Weißrußlands nach und nach völlig verwischten.

Man pflegte diejenigen Gouvernements als Weißrußland zu be- zeichnen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung weißrussisch sprach. Diese Annahme stand jedoch mit der der administrativen Einteilung nicht im Einklang. Nach den Ergebnissen der Volkszählung in Ruß- land von 1897 sind als Bezirke mit vorherrschender weißrussischer Sprache fesigestellt worden: sieben Kreise des Gouvernements Wi- tebsk (80% weißrussisch Sprechende), sämtliche Kreise der Gouver- nements Minsk (76,4%), Mohilew (82,6%), Wilna (56%) und Grodno (66,7%), ferner ein Kreis des Gouv. Smolensk (Krasnin, 90%).

Die obengenannten Gebietsteile umfaßten insgesamt eine Fläche von 203 734 Quadrat-Werst (231 850 qkm) und eine Bevölkerung von 7080041 Seelen, wovon 5310461 (75%) weißrussisch sprachen’). Nichtsdestoweniger wurden nur die vier Gouvernements Minsk, Wi- tebsk, Mohilew und Smolensk in den offiziellen Angaben als weiß- russisches Gebiet bezeichnet’). Die benachbarten Sprachgebiete sind die der Polen im Westen, der Litauer im Nordwesten, der Letten im Norden, der Großrussen im Osten und der Ukrainer im Süden.

In der vorliegenden Arbeit sollen im Einklang mit der offiziellen Statistik nur die vier Gouvernements Minsk, Witebsk, Mohilew und Smolensk als Weißrußland behandelt werden.

Das weißrussische Gebiet bildet eine Ebene, die etwa 150—200 m über dem Meeresspiegel liegt. Der höchste Punkt befindet sich nörd- lich von Minsk die sogenannte „Lyssa-Gora“ —, sie erreicht eine Höhe von 343 m über dem Meeresspiegel.

Das Klima in diesem Gebiet ist feucht und ungesund, insbeson- dere in den Gouvernements Minsk und Witebsk, wo sich weite Sumpf- flachen erstrecken. Die Niederschlagsmenge beträgt etwa 500 bis 600 mm. Das ,,Polesje“ (Kreis Pinsk und Mozyr im Gouv. Minsk) sowie der nördliche Teil des Gouvernements Witebsk, der sich in der Nähe der Ostsee befindet, zeichnen sich durch besondere Feuchtig- keit aus (in den Sommermonaten etwa 200—300 mm, in den Winter- monaten etwa 75—100 mm). Die Zahl der Regen- und Schneetage beläuft sich auf etwa 150—160 (Schneetage 110—120) jährlich. Die Eisdecke hält etwa 120—130 Tage an.

Weißrußland zeichnet sich durch einen Reichtum an Flüssen aus. Der Dnjepr mit all seinen Nebenflussen, wie Pripet, Beresina, Dejsna u. a. m., der Njemen, die westliche Dwina sind die Haupiflüsse,

) Weißrussisch Sprechende befanden sich auch im Gouv. Pskow und Tschernigow.

8) Die übrigen Gouvernements waren als litauische anerkannt. Später wurde das Gouv. Smolensk in, das zentrale Industriegebiet einbezogen. In der heutigen Sowjetunion bilden sechs Kreise des ehemaligen Gouv. Minsk, fünf Kreise des Gouv. Witebsk, das ganze Gouv. Mohilew (z. Zt. Gomel) und ein Kreis des Gouv. Smolensk die weißrussische sozialistische Sowijet- Republik. Dieses Gebiet umfaßt eine Flache von 125,7 Tausend qkm mit einer Bevölkerung von 4979,7 Tausend Köpfen (laut der Volkszählung von 1926) und ist in 12 Bezirke und 118 Rayons eingeteilt.

30 NF 5 459

die das Land bewässern. Außerdem gibt es hier noch eine Anzahl von anderen kleinen Flüssen und Seen (allein im Gouv. Witebsk mehr als 20 solcher Wasserstraßen).

Die meisten Flüsse sind schiffbar und für den Wasserverkehr gui geeignet.

Was die Bodenarten anbetrifft, so waren im Jahre 1877: Acker- land 27,8%, Wiesen- und Weideland 14,4%, Wald 37,6%, Brach- land 16,9% der gesamten Bodenfläche. Der Prozentsatz des Acker- landes war hier also viel geringer als der im gesamten europäischen Rußland (das Nordgebiet nicht mitgerechnet). Auffallend ist hier auch der hohe Prozentsatz des anbauunfähigen Bodens. Das Ver- hältnis hat sich jedoch in den letzten Jahren geändert, erstens durch die Trockenlegung der Sümpfe (Expedition Zelinsky), die ungefähr 2000000 Quadrai-Deßjatinen Sumpfflache in Trockenland ver- wandelt hat, sowie dadurch, daß große Waldstrecken ausgerodet und anbaufahiger Boden gewonnen wurde (z. Z. bestehen etwa 25% Waldland). | |

Das Ackerland besteht zum größten Teil aus Sandboden, die anderen Bestandteile sind lehmiger Sandboden und Lehmboden. Im großen ganzen ist der Boden von niedriger Qualität, so daß nur be- stimmte Arten von Pflanzenkulturen durchgeführt werden können. Die meist verbreiteten Kulturen sind: Roggen, Gerste, Hafer, Erbsen, Flachs und dergl. mehr, in manchen Gebieten wird auch Tabak an- gebaut. Das Pripet-Polesje-Gebiet weist einen größeren Reichtum an Kuliurpflanzen auf; wir finden hier 25 verschiedene Pflanzenarten.

Der Wälderreichtum des weißrussischen Gebietes besteht zum größten Teil aus Nadelwald (Kiefern, Fichten, Tannen), jedoch findet man auch weite Sirecken von herrlichen Laubwäldern (Eichen, Birken, Espen u. a. m.]. Im allgemeinen trägt die Flora Weißrußlands alle Züge eines Ubergangstyps, und zwar gleicht sie im westlichen Ge- bietsteile der des Baltikums, im Osten erinnert sie an die Flora der Moskauer Zone.

B. Die Bevölkerung.

Die Bevölkerung Weißrußlands ist seit der Aufhebung der Leib- eigenschaft bis zum Ausbruch des Weltkrieges fast auf das Dreifache gewachsen. Im Jahre 1861 beitrug die Bevolkerungsziffer 3 839 000 Köpfe, 1897 bereits 5 367 000 und 1914 9618000. Dieser hohe Zu- wachs ist nur auf die natürliche Zunahme, die hier 1,82% ausmachte, zurückzuführen. Von einer Einwanderung nach Weißrußland kann kaum die Rede sein; im Gegenteil, wir stellen sogar eine starke Ab- wanderung, sowohl nach den siidrussischen und sibirischen Gouver- nements als auch nach dem Westen und nach den überseeischen Ländern fest.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem Lande. Von den 5 367 000 Seelen im Jahre 1897 waren nur 595 120 d. s. 11,1% in den Städten ansässig. Zwar stieg kurz vor Aus-

460

bruch des Krieges die absolute Zahl der Stadibevölkerung auf 1,1 Million Köpfe, jedoch bildet sie relativ auch zu dieser Zeit nur 11,4% der Gesamtbevolkerung Weißrußlands. Die Städte vergrößer- ten sich hier hauptsächlich infolge des natürlichen Zuwachses, eine Zuwanderung vom Dorfproletariat, wie es in Westeuropa der Fall war, konnte in Weißrußland kaum stattfinden, da Industrie und Handel in den Stadten schwach entwickelt waren. Die Wanderung vom Dorfe in die Stadt ging hauptsächlich während der Wintermonate vor sich, zu welcher Zeit die Bauern in der Stadt verschiedene Aus- hilfsarbeiten übernahmen, sich dort jedoch nicht fest niederließen, sondern zum Frühjahr in ihre Dörfer zurückkehrten. Diese Tatsache ist aus den Ziffern der Geschlechterverteilung in Stadt und Dorf nach der im Winter 1897 durchgeführten Zählung klar ersichtlich. Während im Dorfe auf je 100 Männer 103,4 Frauen kamen, waren es in der Stadt 94,2 Frauen, d. h. in der Stadt war die Zahl der Männer eine größere als die der Frauen, und im Dorfe war das Verhalinis umgekehrt.

Es muß jedoch gesagt werden, daß der Überschuß der Frauen im weißrussischen Dorfe nicht bei allen bäuerlichen Schichten vorkam. Meist herrschte er ın den landarmen oder landlosen Wirtschaften, hingegen überstieg die Zahl der Männer in den großbäuerlichen Wirt- schaften erheblich die der Frauen. So z. B. kamen hier in den Wirt- schaften bis zu 2 Deßjatinen Saatfläche auf je 100 Männer etwa 102 Frauen; dagegen in den Wirtschaften mit 20—30 Deßjatinen Saat- flache nur 88 Frauen.

Die überwiegende Mehrheit der Dorfbevölkerung waren Weiß- russen. Jedoch ist es schwer, die genaue Zahl und den Prozentsatz des weißrussischen Elements, insbesondere ın den Städten, festzu- stellen. Bekanntlich strebte die caristische Verwaltung danach, das weißrussische und ukrainische Element mit dem großrussischen zu verschmelzen, um das Bestehen verschiedener Nationalitäten inner- halb des russischen Volkes zu vertuschen. Aus diesem Grunde wurden auch bei den Volkszählungen viele Weißrussen als „Russen“ eingetragen.

Laut den Angaben vom Jahre 1897 war die Verteilung der Be- völkerung nach Nationalitäten in Weißrußland wie folgt: Eiwa 65% der Gesamtbevölkerung bildeten Weißrussen, 18% Großrussen (besonders im Gouv. Smolensk), etwa 10% Juden, 4,5% Leiten und etwa 2% Polen. In den Städten stellten die Juden den größten Prozentsatz der Bevölkerung dar. In den westlichen Kreisen Weiß- rußlands finden wir unter der Dorfbevölkerung auch einen bedeuten- den Prozentsa& von Polen.

Was die berufliche Verteilung der Bevölkerung Weißrußlands angeht, so waren etwa 80% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig (davon Weißrussen 90,8%), 8,5% waren in der Industrie beschäf- tigt (Hausindustrie und Handwerker), etwa 2% im Handel, 1,5% in freien Berufen usw.

461

Und nun einige Worte über das weißrussische Volk*). Die Weiß- russen bilden einen der drei wichtigsten Stämme, aus denen sich das russische Volk zusammense§gt. Bis heute werden sie von der Wissen- schaft als der am ursprünglichsten erhaltene Stamm der östlichen Slaven angesehen. Tatsächlich haben sich bei den Weißrussen uralte Sitten und Gebräuche bis auf den heutigen Tag erhalten, viel mehr als bei den anderen slavischen Stämmen. Dagegen fehlte den Weib- russen die kolonisatorische Fähigkeit der Großrussen, sowie der Freiheitsgeist der Kleinrussen, der sich bei diesen infolge der fort- währenden Kämpfe mit Wanderstämmen (Polovcy) herausgebildet hat. Der weißrussische Bauer war und blieb konservativ, unemp- fanglich und etwas apathisch.

Die Begründung hierfür ist wohl in folgenden Tatsachen zu suchen. Erstens in der natürlichen Beschaffenheit des weißrussischen Bodens. Weißrußland ist, wie gesagt, arm an Naturschönheiten, die die Bevölkerung innerlich hätten anregen können. Wegen der großen Sümpfe und Walder lagen die Dörfer verstreut und waren verhält- nismäßig dünn besiedelt. Da keine Verkehrsmittel vorhanden waren, war ein Dorf vom anderen fast abgeschnitten, es konnte sich daher kein reges Gemeinschaftsleben entwickeln. Zweitens spielte die politische Abhängigkeit Weißrußlands von anderen Staaten eine be- deutende Rolle. Weißrußland hat nur während ganz kurzer Zeit- räume ein selbständiges politisches Leben geführt, es konnte daher bei den Weißrussen von einem patriotischen Gefühl und von poli- tischer Aktivität kaum die Rede sein. Das Gefühl für Freiheit und nationale Selbständigkeit wurde bei ihnen schon im ersten Keim von den Völkern, die sie beherrschten, erstickt. Besonders stark bemühte sich die polnische Regierung, dieses Gebiet zu annektieren. Durch eine schlaue Politik gelang es den Polen, den weißrussischen Adel, dessen persönlicher Eitelkeit die Würde eines polnischen Pan schmeichelte, auf die Seite der polnischen Regierung zu ziehen. Da- durch hat der polnische Einfluß im Lande immer mehr zugenommen. Die polnischen Sitten und Gebräuche fanden in den Kreisen des weißrussischen Adels große Verbreitung. Dies hatte zur Folge, daß erstens der weißrussische Adel sich immer mehr vom Volke trennte, und daß zweitens jede Weiterentwicklung der weißrus- sischen Kultur und Sprache erschwert wurde”). Auch die groß- russische Herrschaft hat die politische Freiheit der Weißrussen völlig unterdrückt. Sie trieb eine Politik, die zu einer raschen Russi- fizierung der Bevölkerung führen mußie. 1804 wurde das „Litauische Statut“, das jahrhundertelang als glänzendes Zeugnis weißrussischer Staatskunst das Gerichtswesen und die Verwaltung im Lande ge-

e) Nach Dovnar-Zapolski rührt die Bezeichnung „Weißrussen“ daher, daß die Weißrussen zur Zeit der Tafarenherrschaft im 13. Jahrhundert nicht tributpflichtig also „weiß“ waren.

7) Laut Geseb von 1697 wurde die weißrussische Sprache als Amts- sprache durch die polnische ersetzt. (Dovnar-Zapolski „Die Grundlagen des Staatswesens in Weißrußland“. Grodno 1919.)

462

regelt hatte, aufgehoben. 1839 wurde der Gebrauch der weißrussi- schen Sprache in Schule und Kirche verboten. 1865 erfolgte das Verbot jeglichen Druckes und der Verbreitung von weißrussischen Schriften. Kurz, die russische Regierung verfolgte den Grundsak, jeden Funken eigenvölkischen Lebens zu löschen. Drittens war die fruhe Einführung der Leibeigenschaft in Weißrußland von großer Bedeutung. Der weißrussische Bauer ist viel früher als seine Brü- derstämme der Leibeigenschaft verfallen, und zwar finden wir diese hier in ihren ersten Anfängen bereits unter Kasimir im 15. Jahr- hundert’). Kasimir veröffentlichte ein „Privilej“, wonach den Bauern der freie Übergang von den herrschaftlichen Besiktümern zur Selbst- ansiedlung und umgekehrt verboten wurde, er unterwarf auch die Bauern der Jurisdiktion des Gutsherrn. Das Joch, das sein „Dan“ ihm auferlegte, drückie den Bauern derart, daß er zwangsläufig in den engen Grenzen seines primitiven Wirtschaftslebens einge- schlossen blieb, was nicht ohne Wirkung auf seine geistige Eigen- art bleiben konnte.

Kapitel 2. Verteilung des Bodenbesiķes in Weißrußland.

Allgemeine Übersicht.

Bevor auf die Frage der Verteilung des Bodenbesiges in Weiß- rußland, wie auch auf das Problem des während der von uns behan- delten Periode vor sich gegangenen Bodenbesigfwechsels, näher ein- gegangen wird, soll zunächst einmal die Landwirtschaft in Weiß- rußland, ihr Stand unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigen- schaft und ihre weitere Entwicklung sowohl in agrartechnischer als auch in sozialwirtschaftlicher Beziehung untersucht werden.

Die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 hatte für die weißrussische, insbesondere aber für die bäuerliche Landwirtschaft, durchaus negative Folgen. Den Bauern wurden große Bodenteile, die ihnen früher gehörten, besonders Wiesenland, das sie für ihre ärmliche Viehhaltung unbedingt brauchten, entzogen. Außerdem wurde ihnen, wie aus den Berichten der Lokalkomitees ersichtlich, Boden von ganz schlechier Qualität zugeteilt. Es wurde eine Schicht von „Bettelländlern“ geschaffen, eine Klasse von fast landlosen Bauern hergestellt). Die Zahl dieser „Beffelländler“ beirug etwa 7% aller Leibeigenen. Gänzlich ohne Landanteil blieben auch die

) Endgültig eingeführt wurde die Leibeigenschaft in Weißrußland durch die Lubliner Union (1569).

1) Das konnte geschehen auf Grund des § 123 des Manifestes vom 19. 2. 1861, wonach dem Gutsbesiker das Recht zustand, nach „freiwilliger Übereinkunft“ (die jedoch meist aufgezwungen wurde) mit dem Bauern, diesem % des Maximalanteils unentgeltlich zu überlassen, dafür aber den verbliebenen Rest des Anteillandes für sich zu behalten. Der Minimal- oder Bettelanteil machte oft nicht mehr als eine Deßj. aus.

465

sogenannten ,,Dworowyje“ (Hofdienerschaft), deren man in Weiß- rußland etwa 100 000 zählte.

Auf diese Weise hat sich die Klasse der Gutsbesitzer bei der Ab- schaffung der Leibeigenschaft zum großen Teil auf Kosten der Bauern bereichert. Hinzu kommt die große Summe „Lösegeld“, womit die Bauern ihre „Freiheit“ erkaufen mußten (die Auslösungssumme in Weißrußland war etwa um 40% höher als der Gesamtwert des An- teillandes) und dies bei Verhältnissen, wo die 3—4 Deßj. pro Re- visionsseele nicht einmal ausreichten, um den Bauern den kärg- lichsten Lebensunterhalt zu ermöglichen.

Sehr richtig kennzeichnet W. Simkhowitsch die Auslösungs- zahlungen in seinem Werke „Die Feldgemeinschaft in Rußland“ (Jena 1898) wie folgt: „Diese Zahlungen enthielten nicht nur eine Ent- schadigung für den gutsherrlichen Boden, sondern auch eine Ent- schädigung für die Befreiung der Person der Bauern.“

Die Bauernschaft litt auch unter einem großen Mangel an In- ventar und Arbeitsvieh, das ihnen entweder überhaupt nicht oder im besten Falle in sehr geringem Maße zugeteilt worden war. Durch die hohen Steuerlasten wurde ihnen jede Möglichkeit zur Neu- anschaffung von Inventar und Arbeitsvieh entzogen, vielmehr ver- ringerte sich der Inventarbestand des Dorfes alljährlich, wie wir später sehen werden. Der Bauer war mit allen Kräften bemüht, seinen gesamten Landanteil zu bebauen, es fehlten ihm jedoch die elemen- tarsten Produktions- und Düngemittel, was zu einer extensiven Be- wirtschaftung des Bodens führte und die Ertragsfahigkeit der bauer- lichen Landwirtschaft stark beeinträchtigte.

Nach den Berechnungen von Prof. S. N. Marres (,,Getreide- produktion und Konsumtion in den Bauernwirtschaften“, Petersburg 1897) hatten mehr als 90% der bäuerlichen Bevölkerung Weißrußlands jährlich von ihrem Anteillande unter 19 Pud Getreide pro Kopf („Esser“), was damals als Minimum angesehen wurde, d. h. daß mehr als 90% der Bauernschaft von dem Ertrag ihres Bodenanteils nicht ihr eigenes Existenzminimum beziehen, geschweige denn noch Viehfutter aufbringen konnten. (Für das europäische Rußland machte der Prozentsag dieser Wirtschaften nur 70,7% aus.)

Die Aufhebung der Leibeigenschaft wirkte jedoch in der ersten Zeit nicht nur auf die Entwicklung der bäuerlichen, sondern auch auf die der gutsherrlichen Wirtschaften hemmend ein. Zunächst war die Verringerung der billigen Arbeitskräfte daran schuld. Andererseits war die gutsherrliche Wirtschaft durchaus noch nicht für eine kapi- talistische Betriebsform vorbereitet. Es fehlten ihr noch alle Voraus- setzungen dafür in erster Reihe: der Markt und die entwickelte Geldwirtschaft. Zwar fand ein Verkauf von Wald, Vieh, manchmal auch von Getreide statt, dies geschah jedoch nach wie vor selten und in ganz unerheblichen Mengen. Die Kauftätigkeit des Adels be- schränkte sich auf wenige Schmuck- und Luxusgegenstände oder Metallwaren, die in der eigenen Wirtschaft nicht hergestellt werden

464

konnten. Es blieb wie zuvor das System der Arbeitspacht als einzige Betriebsform auf den gutsherrlichen Wirtschaften bestehen. Dieses Wirtschaftssystem wirkte sehr hemmend auf die Einführung von Neuerungen und Verbesserungen in der Wirtschaft. Außerdem be- stand ein Mangel an geschulten landwirtschaftlichen Hilfskräften, wie Agronomen, Technikern und dergl. Selbst in den Fällen, in denen die Gutshöfe mit gemieteten Arbeitskräften bewirtschaftet wurden, war die Naturalwirischaft vorherrschend. Geld wurde nur für Steuer- zahlungen gebraucht, der Arbeitslohn wurde in Naturalien beglichen, wobei die Marktpreise außer acht gelassen wurden. Der Gutshof war von unnötigem Personal überfüllt?).

Die Folge dieser Zustände war, daß große Mengen von Acker- land entweder überhaupt nicht bestellt oder bestenfalls noch in Waldland verwandelt wurden. Und tatsächlich ist hier alljährlich eine Verringerung der Ackerbaufläche von den sechziger bis zu den neun- ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu konstatieren. So z. B. be- trug die Anbaufläche in Weißrußland im Jahre 1860 etwa 7 839 000 Deßj. (35,8% der Gesamtfläche), während sie im Jahre 1888 nicht mehr als 5328000 Defjatinen (26,8% der Gesamtfläche), also 62% der Fläche von 1860 ausmachte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts secht eine Steigerung der Anbaufläche ein.

Diese Verringerung der Anbauflache fällt hauptsächlich auf das gutsherrliche Land. Sehr bezeichnend für die Größe der Anbauflache in den verschiedenen Wirtschaften in den achtziger Jahren ist nach- stehende Tabelle:

Der Prozentsatz der Anbaufläche vom gesamten Landbesitz bildete in den Wirtschaften bis zu:

Gouvernement

Minsk ....

Witebsk ... 12,8 Mohilew . . . 12,8 Smolensk 8,5

Es gab auch keinen Saatplan und keine systematische Verteilung des Wiesenlandes usw. Auf dem bäuerlichen Anteillande war das Verhältnis bedeutend besser. Hier bildete die Saatfläche im Gouv. Minsk 62,9%, Witebsk 61,9%, Mohilew 65,3%, Smolensk 61,1% der Gesamiflache.

Der Boden wurde entweder gar nicht, oder nur in ganz geringem Maße verbessert. Nach den Angaben von Rajewsky wurde das Land nur einmal im Verlauf von 9—12 Jahren gedüngt (100—150 kleine

2) Charakteristisch für die Lage der gutsherrlichen Wirtschaft zur da- maligen Zeit ist der Bericht von Sulgin („Das alte und neue Rußland“, staraja inovaja Roccija, N. 6. 1869), aus dem zu erschen ist, daß der weiß- russische Adel etwa 34 Millionen Rubel dem Staat an Steuern schuldete („Nedoimki“), woraus man auf den Stand der gutsherrlichen Landwirtschaft schließen kann.

465

weißrussische Wagen Stallmist auf je 1 Deßjatine). Der Bodenertrag pro Deßjat. war sehr gering. Auf dem Boden der Adligen war er etwa um das 6—/7fache geringer als in den westeuropäischen Ländern und auf dem bäuerlichen Anteillande noch um 20% geringer als auf dem guisherrlichen. (So z. B. machte in Weißrußland der Bodenertrag pro Deßjat. auf dem bäuerlichen Lande etwa 30 Pud?), auf dem guts- herrlichen Boden etwa 35—40 Pud aus, während er in derselben Zeit in Dänemark etwa 200 Pud betrug.)

Diese Tatsachen mußten auch auf die Auswahl der Saatkulturen einen Einfluß ausüben. Es wurden hauptsächlich nur diejenigen Kul- turen angebaut, die für die Bedarfdeckung der Wirtschaft. notwendig waren, nämlich Brotgetreide, besonders Roggen. Von den Sommer- kulturen wurden am meisten Kartoffeln angebaut, welche der Bevol- kerung als Brotersas dienten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gestaltete sich die Lage günstiger. Es fand eine Ausdehnung der Saatflache statt (von 1887—1905 stieg die Saatflache um etwa 24%), hier und da trat eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik ein, der Bodenertrag stieg um etwa 15—20%, gleichzeitig ist auch eine Anpassung der Wirtschaft an den Markt zu konstatieren. Besonders kam dies durch den verstärkten Anbau von technischen Kulturen zum Ausdruck.

Im großen und ganzen jedoch se&te der Aufschwung der weiß- russischen Landwirtschaft erst nach der Stolypinschen Agrarreform (1906) ein; aber darüber wird noch zu sprechen sein.

A. Die Bodenverteilung in Weißrußland nach den Hauptgruppen. (Privater Bodenbesif.)

Wenn wir den Bodenbesi& Weißrußlands gemäß den drei in Ruß- land üblich gewesenen Hauptgruppen behandeln, nämlich: I. Gruppe: privater Bodenbesif, II. Gruppe: bäuerliches Anteilland, und III. Gruppe: Staats- und Apanagenboden, so bemerken wir hier eine starke Abweichung der Zahlenverhältnisse von denen im euro- päischen Rußland. Nach der offiziellen amtlichen Statistik für das Jahr 1877 war der Bodenbesif folgendermaßen verteilt:

Gruppe]! Gruppe II Gruppe lll Weißrußland. . 56,9% 36,1% 70% europ. Rußland . 24,9% 31,0% 44,1%

Wir sehen also, daß, während im europäischen Rußland der größte Prozentsatz des Bodenbesikes auf Gruppe Ill (Staats- und Apanagenland) kam, er hier auf Gruppe I (privater Bodenbesif) ent-

3) Der Ernteertrag pro Deßjat. auf dem bäuerlichen Anteillande machte 1889 in Minsk 29,9 Pud, Witebsk 28,2 Pud, Mohilew 26,7 Pud und in Smolensk 32,0 Pud aus. (Materialien zur Erforschung der Notlage der Landwirtschaft, Petersburg 1889.)

466

fiel. Dagegen ist hier der Prozentsatz der Gruppe III ganz unbe- deutend; nur der Besikanteil der Gruppe II (bäuerliches Anteilland) entspricht hier ungefähr den Verhältnissen des übrigen Rußlands®). Die Ursachen hierfür waren erstens historisch-politischer und zwei- tens agrogeologisch-wirtschaftlicher Art. Die Polen, die dieses Ge- biet im Laufe der Jahrhunderte beherrscht hatten, wandten alle Mittel an, um es zu polonisieren. Außer den bereits obenerwähnten rein administrativen Maßnahmen wurde von ihnen auch eine wirksame Bodeneroberungspolitik betrieben. Große Landflachen, die früher den weißrussischen Fürstenhäusern gehört hatten, wurden dem pol- nischen Adel zuerteilt, so daß im Laufe der Zeit sich eine derartige Lage ergab, daß die Polen, die höchstens 2% der Bevölkerung ausmachten, den größten Prozentsak des Bodens in Händen hatten. So z. B. machte im Gouv. Minsk laut den Berichten der „Kommission zur Hebung der Landwirtschaft“ die Zahl der polnischen Güter noch im Jahre 1903 50% aller Besitzungen (8689 insgesamt, davon polnische 4551) und die Zahl der Güter mit mehr als 1000 Deßjatinen sogar mehr als 60% (640 insgesamt, davon polnische 384) aus. Außerdem ver- teilte die polnische Regierung an den weißrussischen Adel große Staatsgüter als Belohnung für den Übertritt zur Staatskirche®).

Außer diesen wichtigen historischen Ursachen spielte auch die Tatsache eine bedeutende Rolle, daß das weißrussische Gebiet etwa 60% Wald-, Wiesen- und Weideland enthält, das zur Zeit der Auf- hebung der Leibeigenschaft nur in ganz unbedeutendem Maße in die Hände der Bauern gelangte, jedoch im großen ganzen bei seinem früheren Besiser dem Adel verblieb.

Dies hatte zur Folge, daß in Weißrußland der private Bodenbesif einen so hohen Prozentsatz der gesamten Bodenfläche bilden mußte. Dieses Verhältnis blieb auch im Jahre 1905 relativ fast unverändert. Nach den amtlichen Zahlen für dieses Jahr verteilte sich der Boden- besi wie folgt:

Staats- und Apanagenländereien

Privatboden- besip

Bäuerliches Anteilland

Gouvernement

Smolensk . . ..

4) Es ist jedoch hierbei zu bemerken, daß der Prozenfsab der Gruppe Ill fur das europ. Rußland deswegen so hoch ist, weil darin auch das Nord- gebiet, das bekanntlich fast ausschließlich (91,6%) aus Staatsboden besteht, mit inbegriffen ist. Ziehen wir das Nordgebiet ab, erhalten wir folgende Verteilung des Landbesikes für das europ. Rußland: Gruppe I: etwa 35%, Gruppe II: etwa 45% und für Gruppe III: nur 20%. Aber selbst bei diesen Zahlen waren die Verhältnisse in Weißrußland anders.

5) Auf die Besikergreifung des Bodens seitens des polnischen Adels in den neu eroberten Gebieten weist auch M. Sering in bezug auf die Verhältnisse in Litauen hin („Bericht über die eroberten Gebiete des Nord- westens“ auf Grund seiner zweimonatigen Reise, Berlin 1916). Ä

467

Wie verteilte sich nun der private Bodenbesitz auf die einzelnen Schichten der Bevölkerung? Aus den vorher angeführten Tatsachen ist nicht schwer zu erraten, daß der überwiegende Prozentsatz des privaten Bodenbesiges sich in den Händen des Adels konzentriert hatte. Im Jahre 1877 befanden sich in seinem Besitze 81,8% des ge- samten privaten Bodenbesikes. Auf die anderen Schichten entfiel ein ganz geringer Prozentsab, nämlich: Kaufleute 7,1%, Bauern 6,6% und auf die städtischen Einwohner (,,mjeScanje“) 3,7%. Im Vergleich zu den Verhältnissen im europäischen Rußland können wir hier eine Abweichung der Zahlenverhältnisse feststellen. Dort kamen auf den Adel nur 68,3%, auf die Bauernschaft 13,1% und auf die übrigen Schichten der Bevölkerung 18,6%, d. h. daß der Anteil der anderen Schichten im europäischen Rußland fast um 50% höher war als in Weißrußland. Der geringe Anteil der Bauernschaft an privatem Bodenbesif in Weißrußland ist nur durch die geringe Zahl der „freien Bauernhöfe“ zu erklären (im Jahre 1877 waren es nur 14 586), während die überwiegende Mehrheit der Bauernschaft in Weißrußland leib- eigen war und Anteilland erhielt.

Der geringe Anteil der Kaufleute am privaten Bodenbesiß ist durch die zur damaligen Zeit noch schwach entwickelte weißrussische Indu- strie zu erklären. Dagegen befanden sich im Besitze der städtischen Einwohner größere Bodenflächen, die zu Garten- und Gemüsebau benuft wurden. Im Laufe der Zeit jedoch fand infolge verschiedener Ursachen (wie wir später noch sehen werden) eine starke Boden- mobilisation statt. Im Jahre 1905 verteilte sich der private Boden- besitz unter den verschiedenen Schichten wie folgt:

Städt. Ein- wohner

Minsk .......... 5,8% Witebkkk s i 3,5°% Mohilew ......... 75,4% 0,8% Smolensk ........ 47, 8% 0,8%

15,0% | 15,4%

Wir stellen also einen starken Rückgang des adligen Boden- besikes (von 81,8% i. J. 1877 auf durchschnittlich etwa 68% i. J. 1905) und ein Anwachsen des Bodenbesitzes der anderen Bevölkerungs- schichten fest. Auch die durchschnittliche Größe des adligen Besitzes hat sich im Laufe der Zeit verringert, so z. B. schrumpfte diese im Gouv. Minsk von 1003 Def). i. J. 1877 auf 580 Deß;j. i. J. 1905, im Gouv. Witebsk von 703 Deßj. auf 409 Deßi., im Gouv. Mohilew auf 419 Dej. usw. zusammen. Dagegen ist die durchschnittliche Größe der Bauern- wirtschaften von etwa 25 Defj. i. J. 1877 auf 36 Dekj. i. J. 1905 ge- stiegen. Im allgemeinen war die Verteilung der Wirtschaften i. J. 1905 nach der Größe folgendermaßen: Wirtschaften mit einer Fläche bis zu 100 Deßj. machten 83,1% aller Wirtschaften aus (hiervon waren 94,2% Bauernwirtschaften), Wirtschaften mit einer Fläche von 100 bis

468

1000 DeBj. bildeten 13,8% (davon Bauernwirtschaften 6,5%), und Wirt- schaften mit einer Fläche von mehr als 1000 Deßj. waren 3,1% aller Wirtschaften. Nach ihrem Bodenanteil dagegen gehörten den Wirt- schaften bis zu 100 Deßj. nur etwa 10% des gesamten privaten Boden- besitzes, den Wirtschaften von 100—1000 Deßj. gehörten etwa 30% und den Wirtschaften mit über 1000 Deßj. etwa 60%, d. h. also, daß 3,1% der Großwirtschaften etwa 60% des gesamten Privatboden- besitzes innehatten, und 83,1% der Kleinwirtschaften nur 10% des - Privatbodenbesifes besaßen. Ferner verteilten sich die Wirtschaften bis zu 100 Dej. pro Wirtschaft (insgesamt rund 58000) mit einer Gesamtfläche von 1388 Tausend Deßjatinen nach der Größe wie folgt:

Die Wirtschaften bis zu 10 Deßj. waren 38% und machten 9%

EL Ltd von 10 » os 20 L * 22 % oD L 13 % L »? 7 20 7 * 30 72 L 12 % 77 7 13 % 2] L os 30 7 aD 40 7 IL 8 % aD oD 12 % 59 75 L 40 os » 50 ?? IL | 3 % LL » 1 1 %

LL LL L 50 72 LL 100 LL LL 14% LL LL 41% des gesamten Privatbodenbesißes der 1. Kategorie aus.

Dies ist in allgemeinen Zügen die Verteilung des Bodens der Gruppe I in Weißrußland bis zum Jahre 1905. Die etwaigen Ande- rungen, die durch die Stolypinsche Agrarreform eingetreten sind, werden wir weiter unten behandeln.

B. Dasbäuerliche Anteilland in Weißrußland.

Unter den Begriff „Bäuerliches Anteilland“ fällt bekanntlich der gesamte Boden, den die Bauern sämtlicher Kategorien (Gutsbauern, Staatsbauern, Kronsbauern-Apanagen und dergl. mehr) nach der Aufhebung der Leibeigenschaft bekommen hatten. Das bäuerliche Anteilland bildete in Weißrußland mit Ausnahme des Gouv. Minsk einen höheren Prozentsatz der gesamten Bodenfläche, als es im europäischen Rußland der Fall war (36,1% in Weißrußland, und 31,0% durchschnittlich im europäischen Rußland). Hingegen war hier der Prozenisa des bäuerlichen Anteillandes im Vergleich mit einzelnen Gebieten bedeutend niedriger, so z. B. bildete er im Zentral-Acker- bau-Gebiet 48,5%, im Dongebiet 57,5% usw.

Wie verteilte sich nun das Anteilland unter den verschiedenen Kategorien der Bauernschaft?

Gemäß ihrer Zahl hatten die Guisbauern den größten Prozentsatz des Anteillandes inne (von der Gesamtsumme des Anteillandes 6516 881 Deßj. i. J. 1877 waren 4900354 Deßj. im Besitze der Gutsbauern, also etwa 75%, dagegen war der Bodenanteil pro Wirtschaft oder pro Kopf („Esser“) bei den Staatsbauern größer als bei den Gutsbauern. So war die Verteilung des Anteillandes nach Größe (in Deßj.) im Jahre 1877 wie folgt:

469

Gouvernement

Mohilew ..... Smolensk. . .. . 12.6 44 Weißrußland 13,0 4,5 17,1 4,8 16,4 4,8

Dieser Tatbestand hat sich auch in späteren Jahren kaum ge- ändert. Zwar hat sich der Bodenbesi§ der Gutsbauern ven 1877 bis 1905 um 0,5 Mill. Deßj. vergrößert (bei den Staatsbauern nur um etwa 100 Tausend Deßj.), die Größe des Anteillandes pro Wirtschaft ist jedoch nicht gewachsen, da die Zahl der Wirtschaften bei den guts- herrlichen Bauern in viel höherem Maße gestiegen ist als bei den Staatsbauern. So wuchs die Zahl der gutsherrlichen Bauernhöfe von 380,9 Tausend im Jahre 1877 auf 624,2 Tausend im Jahre 1905, also um 63,8%, während die der Staatsbauern sich nur von 95,4 Tausend im Jahre 1877 auf 142,5 Tausend im Jahre 1905, also um 49,3% ver- größert hat.

Die Bodenverhältnisse im Jahre 1905 waren wie folgt:

Gutsbauern Staatsbauern % der Gouv. | Gesamtzahl 9

Wirtschaft

Minsk. . .

Witebsk . . 89,8 12,4 Mohilew . . 16,1 10,5 Smolensk . 28,0 11.5 Weißrußland 77,4 8.8 186 | 22,6 11,2

Also 18,6% der Höfe der Staatsbauern umfaßten 22,6% des An- teillandes und 81,4% der Höfe der Gutsbauern nur 77,4% des Anteil- landes. Pro Bauernhof kamen bei den Gutsbauern nur 8,8 Deßi., bei den Staatsbauern 11,2 De§j.

Im allgemeinen sah die Verteilung der Bauernhöfe in Weißruß- land nach dem Besitze an Anteilland folgendermaßen aus: Es bildeten die Bauernhöfe bis zu 5 Deßj. 7,9% (Gouv. Minsk 12,3%) der Gesamt- zahl der Bauernhöfe, von 5-10 Dekj. 63,8% (Gouv. Witebsk 47,5%) und mehr als 10 Deßj. 28,3% (Gouv. Witebsk 50%). Für das euro- päische Rußland bekommen wir für die Bauernhöfe mit einer Boden- fläche bis zu 5 Deßj. 23,8%, von 5—10 Deßj. 42,3% und mehr als 10 Deßj. 33,9%. Innerhalb der Gruppe bis zu 5 Deßj. machten die Bauernhöfe mit einer Bodenflache von 2—3 Deßj. den größten Pro- zentsak aus. Es fehlte noch etwa über 1/; der vorhandenen Boden- fläche, damit auf jeden Hof 5 Def§j. fallen.

470

C. Staats-, Kirchen- und Kronsbodenbesiß.

Wie bereits erwähnt, war der Anteil der Gruppe Ill am gesamten Bodenbesik in Weißrußland sehr gering.

Im Jahre 1877 betrug der Prozentsatz der Gruppe Ill etwa 7% (genau: Minsk 13,4%, Witebsk 7,9%, Mohilew 4,0%, Smolensk 2,9%). Im Laufe der Zeit ist der Prozentsaß relativ gesunken, absolut da- gegen ist er etwa um 2000 Dekj. gestiegen.

Wie gesagt, umfaßte diese Gruppe den Bodenbesitz des Staates, der Krone, der Kirchen wie auch den Boden der offentlichen In- stitutionen (Staatsverwaltung und dergl.). Der überwiegende Anteil fiel auf den Staatsboden.

Es verteilte sich der Boden der Gruppe Ill folgendermaßen (in % %):

Boden Es j Gouv. der öffentlichen

Städte

Institutionen

Smolensk .

Weißrußland! 844 | 79 | o6 | 70 |

Wir sehen also, daß in allen Gouvernements Weißrußlands der Staatsboden den größten Prozentsaß bildet. Eine Abweichung ist im Gouv. Smolensk zu konstatieren, wo der Prozentsab des Kirchen- besikes verhältnismäßig hoch ist. Dies ist auf folgendes zurück- zuführen: Die Kirchen hatten ursprünglich die Funktion von Dar- lehenskassen erfüllte). Die in Not geratene Bauernschaft mußte sich, um ihre Wirtschaft erhalten zu können, an die Kirche wenden, um das notwendige Geld durch Verpfändung ihres Bodens als Darlehen zu erhalten. Da aber die meisten Bauern infolge der hohen Zinsen nicht imstande waren, den verpfändeten Boden auszulösen, so verfiel er der Kirche. Auf diese Weise haben sich im Laufe der Jahrhun- derte große Bodenflächen im Besitze der Kirche konzentriert, so daß die Moskauer Regierung unter Iwan dem Schrecklichen, wie auch unter Peter dem Großen spezielle Ukasy zur Einschränkung des Kirchenbodenbesikes erließ. Diese Erscheinung finden wir meist bei der griechisch-orthodoxen Kirche, die im Gouv. Smolensk und Mohi- lew vorherrschend war.

Der Bodenbesib der Staatsverwaltungen war im Gouv. Smolensk und Mohilew ziemlich ausgedehnt. Das hatte seinen Hauptgrund wohl darin, daß Smolensk und Mohilew von den litauischen Groß- fürsten „das Magdeburgische Recht“ empfangen hatten, welches ihnen die Möglichkeit gab, durch die damit verbundene Selbstver-

e) P. Archangelski „Geschichte der Bodenverfassung Rußlands“, Kazan 1920.

471

waltung größere Bodenflächen zu gesellschaftlichen und Wohlfahrts- zwecken zu erwerben (dem Gouv. Witebsk stand dieses Recht eben- falls zu, es war ihm jedoch durch Sigismund August Mitte des 17. Jahrhunderts entzogen worden).

Diese Sachlage hat sich bis zum Jahre 1905 nur wenig geändert, und zwar finden wir, daß der Staatsbodenbesik auf 79% (statt 84,4% im Jahre 1877) gesunken ist. Dagegen ist der Bodenbesik der Kirchen- und Stadiverwaltungen gestiegen (Kirchenbesitz auf 9,4% und Stadiverwaltungsbesif, auf 7,2%), auch der Besitz der öffentlichen Anstalten ist auf 1,1% gestiegen.

Der staatliche Bodenbesif in Weißrußland bestand hauptsächlich aus Waldflachen, so wies z. B. das sehr waldreiche Gouv. Minsk mehr als 721 Tausend Deßj. an staatlichem Woldbesitz auf. Län- dereien der Udjely-Apanagen gab es früher in Weißrußland nicht. Erst später hat sich die Krone im Gouv. Witebsk etwa 28 Tausend Deßj. Boden angeeignet. Meist waren es konfiszierte Güter des pol- nischen Adels, der an den Aufständen von 1830/31 und 1863/64 teil- genommen hatte. Die konfiszierten Güter waren entweder an den Staat oder an russische Majorate verfallen. Der Besitz der offent- lichen Institutionen und Anstalten ist auf 12 Tausend Deßj. gestiegen.

Kapitel 3. Die Formen der Bodennutzung in Weißrußland.

Weißrußland wies zwei Hauptarten der Bodennukung auf: die kollektive und die individuelle Bodennukung. Zur ersten Art gehörte die feldgemeinschaftliche Bodennugung des Anteillandes in den Kreisen Weißrußlands, in denen eine periodische allgemeine Um- teilung des Landes stattgefunden hatte’), ferner bäuerliche und nicht- bäuerliche Genossenschaften und Gesellschaften und die bäuerlichen Servitutenrechte. Zur zweiten Art gehörte die Bodennugung des Großgrundbesibes, die bäuerlichen Einzelwirtschaften (Chutor, Otrub und sonstiger bäuerlicher Privatbodenbesi5) wie auch das Pachtland.

Diese beiden Arten der Bodennukung waren sowohl bei den privaten Grundbesigern aller Stände als auch bei den Anteilland- besigern zu verzeichnen. So z. B. konnte man häufig finden, daß private Grundstücke von Bauern, Kaufleuten und Bürgern gemein- schaftlich in Form von Gesellschaften und Genossenschaften benubt wurden, es kam auch vor, daß das Anteilland privatwirtschaftlich in Form von Pachtwirtschaft und anderem benuft wurde.

Betrachten wir nun die verschiedenen Formen der Bodennubung in Weißrußland.

1) Ich möchte dabei betonen, daß bei der Feldgemeinschaft selbst dort, wo eine Umteilung stattfand, eher von einem „gemeinschaft- lichen Bodenbesi§“ als von einer „gemeinschaftlichen Bodennutzung“ die Rede sein kann, da die zuerteilten Bodenstücke ganz individuell genubt wurden. Der Ausdruck „Bodennutzung“ trifft also hier nicht ganz zu, ich gebrauche ihn jedoch, weil er in der russ.-wissenschaftlichen Literatur von jeher eingebürgert ist.

472

A. Die Formen der kollektiven Bodennußung in Weißrußland.

Wie bereits erwähnt, ist unter kollektiver Bodennutzung jeglicher Bodenbesik, sowohl bäuerlicher als auch nichtbauerlicher, solcher physischer oder juristischer Personen, der gemeinschaftlich resp. ge- sellschaftlich benuft wurde, zu verstehen.

1. Die bäuerliche Feldgemeinschaft in Weißrußland.

Es liegt völlig fern, im Rahmen dieser Arbeit eine grund- legende Betrachtung über Wesen, Form, historische Entstehung und Auswirkung der Feldgemeinschaft auf das russische Bauerntum zu geben. Wir wollen uns nur auf die tatsächlichen Verhältnisse sowie auf ihre Entstehung und historische Entwicklung in dem hier behan- delten Gebiet beschränken.

Bei der Betrachtung der statistischen Zahlen von 1905 über die Dimensionen der bäuerlichen Feldgemeinschaft in Weißrußland fallt besonders der große Unterschied zwischen dem östlichen und west- lichen Teile Weißrußlands auf. Während in dem östlichen Teile (Gouv. Smolensk, östliche Kreise des Gouv. Mohilew und Witebsk) die Feld- gemeinschaft stark verbreitet war, wird sie seltener, je mehr wir uns den westlichen Teilen nähern (Gouv. Minsk und die westlichen Teile des Gouv. Witebsk).

Die Feldgemeinschaft im Jahre 1905 umfaßte:

o der Gesamtzahl | °/o der Gesamtzahl % des

Gouvernement | ‘der Gemeinden | der Bauernhöfe | Anteillandes

Diese Erscheinung ist keineswegs ein Zufall, sondern wurzelt in der historischen, politischen und ökonomischen Entwicklung der einzelnen Gouvernements resp. der einzelnen Kreise Weißrußlands. Ich möchte mich daher bei der Behandlung der Entwicklung der ein- zelnen Gouvernements etwas länger aufhalten.

Wie bereits erwähnt, ist das Gouv. Minsk erst am Ende des 18. Jahrhunderts zu Moskau übergegangen. Im Laufe der Jahrhun- derte befand sich dieses Gebiet unter der Herrschaft Polens, wo die Formen der Leibeigenschaft von denen in Großrußland sehr ab- wichen. Die Bauern waren hier nicht nur Leibeigene, sondern wurden als Knechte (,,Chlopie“) des Gutsherrn behandelt. Sie hatten überhaupt keinen Besitz; sie arbeiteten auf dem _ gutsherrlichen Hofe und erhielten hierfür ihren kärglichen Lebensunterhalt, selbst die armseligen Wohnhütten gehörten den Gutsherren. Sie hatten also gar kein Eigentum (mit Ausnahme von vielleicht einer Kuh oder

475

einem anderen Haustier), und es fehlte ihnen daher völlig sowohl die psychologische als auch die wirtschaftliche Grundlage für eine Entstehung der Feldgemeinschaft. Andererseits finden wir, daß die Bauernbefreiung in diesem Gebiet anders vor sich ging als in den großrussischen Gouvernements. Schon bei der Gründung des Herzogtums Warschau durch Napoleon I., als die Aufhebung der Leibeigenschaft verkündet wurde, galt dies, zwar nicht offiziell, auch für das Gouv. Minsk. Napoleons Absicht war bekanntlich, sich durch die Verkündung der Freiheit eine ihm freundlich gesinnte Be- völkerung zu sichern, damit ihm dieselbe im Falle eines Krieges mit Rußland keine Hindernisse in den Weg stellte. Der polnische Adel, der in diesem Gebiete die Mehrheit der Gutsbesiker ausmachte, mußte nolens volens seine Bauern befreien und sie noch dazu mit Boden versehen, um sie dadurch für die Sache Polens zu gewinnen. Das „Sichbeliebtmachen“ der Gutsbesiker bei den Bauern nahm noch prägnantere Formen während der polnischen Aufstände in den Jahren 1830/31 und 1863/64 an. Diese ich möchte sagen „Versöhnungs- politik“ war besonders in den litauischen und weißrussischen Gou- vernements verbreitet, wo die Bauernbevölkerung keine rein pol- nische war und die Gutsbesiker auf eine Gegnerschaft rechnen konnten, was sich auch zum Teil wirklich bestätigt hat. Die Feld- gemeinschaft ım Gouv. Minsk konnte auch nicht zu der Zeit ent- stehen, als die Leibeigenschaft in Rußland aufgehoben und die Feld- gemeinschaft zwangsweise eingeführt wurde, wie es in den Gouv. Witebsk und Mohilew der Fall war (was wir weiterhin sehen werden), da den Gutsbesigfern in diesen Gouvernements der Gedanke einer Feldgemeinschaft fernlag und sie dieselbe nicht anstrebten. Außer- dem bestand auch seitens der Bauernschaft nicht der Wunsch, die Feldgemeinschaft einzuführen, da sie sich schon in Sonderbesikungen angesiedelt hatten und von jeher der westeuropäischen Agrarverfas- sung näher standen als der großrussischen. Sehr treffend charak- terisiert den Zustand in den litauisch-polnischen Gouvernements, der auch für Weißrußland zutrifft, M. Sering lin seiner Einleitung zum Werke „Westrußland in seiner Bedeutung für die Entwicklung Mittel- europas“, Leipzig 1917) wie folgt:

„Von der Ostsee bis zu den Karpathen bildet schon vom Mittel- alter her das Privateigentum an Ackerland die Grundlage der gesell- schaftlichen Verfassung und gab ihr den individualistischen Zug, der Westeuropa von Großrußland scheidet... Im ganzen Gebiet ist die russische Herrschaft nicht älter als 100—140 Jahre. Sie hat trob aller Verfolgungen und Unterdrückungen das Westeuropäische nicht aus- zuloschen vermocht. Der Wegfall würde keine zivilisatorische Lücke hinterlassen und nur von wenigen bedauert werden.“

Alle gemachten Versuche, sowohl durch Zwang als auch frei- willig die Feldgemeinschaft einzuführen, mußten ohne Erfolg bleiben. So z. B. sehen wir, daß, während im Jahre 1877 noch 3,6% des Anteil- landes der Feldgemeinschaft angehörten, selbst diese geringe Zahl im Jahre 1905 auch schon ganz verschwunden ist. Die Dinge lagen

474

in diesem Gouvernement genau so wie in den übrigen Gouvernements des ehemaligen Litauen (Wilna, Grodno, Kowno). Etwas anders ver- lief die Entwicklung der Feldgemeinschaft im Gouv. Witebsk.

Hier bestand ein großer Unterschied zwischen den östlichen und westlichen Kreisen. In einer amtlichen Forschungsarbeit vom Jahre 1907 wurden folgende Unterschiede bezüglich der Verbreitung der - Feldgemeinschaft festgestellt: in den östlichen Kreisen war der Prozentsak der Feldgemeinschaft etwa 90%, dagegen in den west- lichen Kreisen kaum 10% des gesamten Anteillandes (Kreis WeliZ 99.5%, Witebsk 87,6%, Drissa 6,3% und Luzin 4,7%). Die Verschieden- heit der Formen der bäuerlichen Bodennugung in diesen Gouverne- ments ist ebenfalls aus historischen Ursachen zu erklären. Das Gouv. Witebsk besteht aus zwei vom ethnographischen und geschicht- lichen Standpunkte aus scharf abgegrenzten Teilen. Während die vier Ostkreise ursprünglich rein russisch waren (die Stadt Witebsk wurde im 10. Jahrhundert von der russischen Großfürstin Olga er- baut) und eine Zeitlang dem Smolensker Fürstentum angehörten, ge- hörten die vier Westkreise (bekannt unter dem Namen Infland) dem deutschen livonischen Orden). Einen großen Prozentsab der Bevöl- kerung bildeten hier die Deutschen und die Leiten. Der östliche Teil des Gouvernements ging an Litauen über zu Beginn des 14. Jahr- hunderts (1320) durch die Heirat des litauischen Großfürsten Olgerd: mit der Tochter von Jaroslav Wassiljewitsch. Die Kultur und Sprache der Weißrussen blieb troß der vielen Jahrhunderte litauischer und polnischer Herrschaft vorherrschend. Der westliche Teil des Gouv. Witebsk aber blieb bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter der Herrschaft des deutschen Ordens. Erst infolge des Olivaer Friedensvertrages von 1660 fiel dieses Gebiet Polen zu. Die deutsche Kultur und Wesensart, die sich im Laufe der Jahrhunderte fest ein- gewurzelt hatte, blieb auch unter polnischer und später russischer Herrschaft bestehen, so daß hier von einer Feldgemeinschaft gar keine Rede sein konnte. Der vorhandene geringe Prozentsab der Feldgemeinschaften ist in einem viel späteren Zeifabschnitt ent- standen, und zwar nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1861). Die russischen Gutsbesiker in diesem Gebiete haben die Feldgemein- schaft nach russischem Muster durch Zwang eingeführt, um eine Sicherheit dafür zu haben, daß die Bauern ihre Leistungen ihnen gegenüber pünktlich erfüllen werden. Ein Beweis hierfür ist die Tat- sache, daß die Feldgemeinschaft in diesem Gebiete fast nur aus Gutsbauern bestand; eine Erscheinung, welche in Großrußland gerade umgekehrt war. Das zeigt, daß der Gedanke einer Feldgemeinschaft den Bauern selbst fernlag, daß sie sich nur den Gutsherren, die die Feldgemeinschaft zwangsweise einführten, fügen mußten. Eine zwangsweise Einführung der Feldgemeinschaft finden wir auch im Gouv. Mohilew. Hiervon zeugt ein Bericht des Statistischen Amtes im Gouv. Mohilew vom Jahre 1884, der lautet:

„Die Gutsbesitzer sahen in der Feldgemeinschaft eine zwar nicht

SINFS 475

genügende, aber einzig mögliche Garantie für die pünktliche Er- füllung der Verpflichtungen seitens der Bauern.“

Also, die Feldgemeinschaft ist nach Aufhebung der Leibeigen- schaft unter dem Drucke der Gutsbesitzer entstanden.

Aus dem Bericht ist auch ersichtlich, daß die aus Zwang ent- standene Feldgemeinschaft im Gouv. Mohilew und Witebsk eigentlich nur auf dem Papiere stand, in Wirklichkeit jedoch betrachteten die Bauern das Anteilland als ihren Besitz und bewirtschafteten es nach ihrem persönlichen Gutdünken, verpachteten, verkauften und ver- erbten es ohne die Zustimmung des „Mir“. Im erwähnten Bericht heißt es: 7

„in der gesamten Bodenordnung und Verfassung (hier) sind keinesfalls die Zeichen einer gemeinschaftlichen Bodennukung und die Obrigkeit des Mir zu merken, obwohl juristisch das Recht über das Anteilland nur der Gemeinde zusteht.“

Allgemeine Umteilungen fanden in diesen Gouvernements ent- weder überhaupt nicht oder in sehr langen Zeiträumen statt (von 18 bis 20 Jahren), woraus man auch auf eine sehr schwache Autorität der Feldgemeinschaft schließen kann. Die laue Beziehung der Bauern zur Feldgemeinschaft hatte auch zur Folge, daß von dem im Jahre 1906 proklamierten Recht des freien Austrittes aus der Gemeinde großer Gebrauch gemacht wurde, was wir noch sehen werden.

Ganz anders waren die Verhältnisse im Gouv. Smolensk. Wie wir aus obenstehender Tabelle ersehen, war hier die Bodennukung der Bauern fast nur feldgemeinschaftlich. Die Feldgemeinschaft zeichnete sich in diesem Gouvernement durch besondere Festigkeit und Dauerhaftigkeit aus. Hier lebten die großrussischen Traditionen noch in einstiger Frische. Schon die Tatsache, daß hier die Groß- russen einen bedeutenden Prozentsatz der Dorfbevölkerung bildeten, bedingte eine starke Verbreitung der Feldgemeinschaft. Hier ging die Entwicklung der Bodenverfassung eine entgegengesetzte Rich- tung als in West-Weißrußland. Während sie sich dort der Boden- verfassung des Westens näherte, paßte sie sich hier der der Groß- russen an. Aber selbst bei den Großrussen hat die Feldgemeinschaft nur aus historischen Gründen so umfangreiche Dimensionen an- genommen. Laut den allerlekten Forschungsergebnissen bestand die Bauernbevölkerung im Gouv. Smolensk aus den Erben der ehe- maligen „Viertelrechtisbesiker“ (Cetwertnyje). Diese Kategorie der - Bauernschaft war adligen Ursprungs. Ihre Ahnen waren Dienstadlige am Moskauer Zarenhofe gewesen. Ihnen wurden Ländereien an den meistbedrohten Grenzgebieten des Moskauer Staates als „Dienstgüter“ verliehen, und ihre Pflicht war es, die Ankunft feind- licher Truppen zu erkunden und das Land nach Möglichkeit vor deren Eindringen zu beschützen. Das Gouv. Smolensk befand sich gerade an der Grenze des ihm feindlich gesinnten Landes, nämlich Litauens, das sich in einem fortwährenden Kampfe mit Moskau befand. Auf diese Weise entstand in Smolensk die große Zahl dieser „Dienst- güter“. Durch die Ausdehnung der Grenzen des Moskauer Staates

476

verloren die „Viertelrechisbesiker“ ihre Bedeutung, was auch zur Änderung ihrer sozialen Stellung führen mußte. Bei der Registrierung des russischen Adels (1719) wurde ein Teil der besser situierien Viertelrechisbesiger in den Adelsstand erhoben; die übrigen nannte man von dieser Zeit ab „Odnodworcy“, d. i. „Einhöfer“. Zehn Jahre später wurden sie zu einfachen Staatsbauern degradiert. Katharina Il. trachtete danach, ihnen, gleich allen anderen Staatsbauern, die Feld- gemeinschaft aufzuzwingen, um dadurch die Sicherheit zu gewinnen, daß sie ihre Pflicht dem Staate gegenüber erfüllen werden. Auf der Seite der Regierung stand auch das Dorfproletariat?), das durch die Verwandlung der Viertelrechisbesiger in Staatsbauern für sich inso- fern einen Vorteil erhoffte, als es glaubte, daß ihm dadurch Land zufallen würde. Auf diese Weise gelang es der Regierung, einer großen Anzahl von Einhöfern die Feldgemeinschaft aufzuzwingen. Zählen wir noch die Staats- und Gutsbauern hinzu, denen es mit der Einführung der Feldgemeinschaft ebenso ging, dann versiehen wir, woher es kommt, daß die Feldgemeinschaft in diesem Gouvernement so starke Dimensionen annahm.

Wie wir aus dem bisher Gesagten ersehen, hatte jedes der vier weißrussischen Gouvernements eine andere historische Entwicklung durchgemacht, woraus sich die Verschiedenheit der in ihnen herr- schenden Verhältnisse erklärt.

- Gemeinsam aber war ihnen allen die gemeinschaftliche Benußung der Wälder, Weiden und in manchen Fällen auch der Wiesen, was selbst für das Gouv. Minsk zutrifft. Diese Tatsache erklärt sich daraus, daß für die Viehzucht eine Verteilung des Weidelandes in kleinere Bodenmengen ungünstig ist. Überdies hielten es die Bauern, die das Weideland häufig vom Guisherrn gepachtet hatten, für viel lohnender, gemeinschaftlich eine größere Weidefläche zu pachten und zu benugen. Das brachte ihnen um so mehr ein, als sie, außer dem viel geringeren Pachtzins, auch noch den Vorteil hatten, daß nur ein Hirt für die gesamte Herde genügte.

2. Landwirtschaftliche Genossenschaften und Gesellschaften.

Zur zweiten Form der kollektiven Bodennukung in Weißrußland gehört die der landwirtschaftlichen Genossenschaften und Gesell- schaften. In Wirklichkeit gab es derlei landwirtschaftliche Genossen- schaften und Gesellschaften nicht nur bei den Bauern, sondern auch bei anderen Schichten, besonders unter den Kaufleuten. Ich werde mich jedoch nur mit den bäuerlichen Genossenschaften und Gesell- schaften beschäftigen, da diese den ö Prozentsatz (93,5%) ausmachten.

2) Die Bezeichnung ,,Stadt- oder Dorfproletariat“ bekam in Rußland ihre richtige Bedeutung (im westeuropäischen Sinne) erst nach der Auf- hebung des „Familienbesikes“ durch das Gesch der dritten Duma (Siehe: Hoeksch „Die innere Entwicklung ‚Rußlands seit 1905“ im Sammelwerk „Ruß- lands Kultur und Volkswirtschaft‘ von M. Sering, Berlin 1913).

477

Der Unterschied zwischen der bäuerlichen Feldgemeinschaft und den bäuerlichen Genossenschaften und Gesellschaften besteht erstens darin, daß lektere im Gegensak zur Feldgemeinschaft, die gewisser- maßen eine aufgezwungene Einrichtung war, ein freiwilliger Zusam- menschluß der Bauern zur gemeinschaftlichen Nutzung ihres privaten Bodens war. Ferner basierte der Bodenbesik des einzelnen Bauern in den freien ländlichen Genossenschaften und Gesellschaften auf privatrechtlicher Grundlage, d. h. jedes Mitglied der Genossen- schaften und Gesellschaften konnte zu jeder Zeit (oder nach ver- einbarter Frist) aus der Gesellschaft freiwillig ausscheiden und seinen Bodenanteil zuerteilt erhalten, was bei der Feldgemeinschaft nicht der Fall war. Der Boden gehörte, bekanntlich, nicht den einzelnen Mitgliedern, sondern dem „Mir“, der Gemeinde. Das einzelne Mit- glied hatte nur das Recht auf einen Anteil, solange es innerhalb der Gemeinde blieb; beim freiwilligen Austritt hatte es keinerlei Anspruch auf. seinen Anteil oder auf irgendeine Entschädigung. Ein großer Unterschied zwischen bäuerlicher Feldgemeinschaft und bäuerlicher Genossenschaft und Gesellschaft bestand auch darin, daß, während bei ersterer der Bauer den Ertrag des ihm zugewiesenen Boden- anteils durch persönliche Arbeit als persönlichen Besik hatte, bei der Genossenschaft und Gesellschaft der Boden gemeinschaftlich bestellt und der Ertrag gleichmäßig oder proportionell verteilt wurde’).

Ich habe in einem andern Zusammenhang bereits darauf hin- gewiesen, daß der private kollektive Bodenbesik in Weißrußland im Jahre 1905 13,6% des gesamten privaten Bodenbesikes ausmachte. In den einzelnen Gouvernements war der Prozentsak verschieden. Den höchsten Prozentsak hatte das Gouv. Smolensk mit 23,7%, dar- auf folgt Mohilew mit 19,3%, Witebsk mit 9,0% und an letzter Stelle Minsk mit 8,0%. In Deßj. gerechnet machte der kollektive Boden- besik eine Fläche von 1680,2 Tausend Deßj. (rund) aus. Von dieser Fläche gehörten den Bauern 1572,1 Tausend Deßj. (rund) oder 93,5%, der Rest war in den Händen der Kaufleute, die den Boden für in- dustrielle Zwecke benuften. Dieser bäuerliche kollektive Privat- bodenbesik bildete etwa / des gesamten bäuerlichen Privatboden- besiges in Weißrußland.

Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß die bäuerlichen Privat- besiker, wie schon erwähnt, meist besser situiert waren als die An- teillandbesifer und in ihrem Besitze meist eine Fläche bis zu 30 De}. pro Hof war, und sie es für rentabler ‚hielten, ihre Besiktümer zu- sammenzuschließen und sie in Form einer Genossenschaft oder Ge- sellschaft zu bewirtschaften. Und in der Tat handelte es sich in den meisten Fällen um gemeinsame Wiesen und Weiden, wie auch Mol- kereien, Flachs- und Hanfverarbeitungsgenossenschaften und dergl. mehr, während es nur wenige Ackerbaugenossenschaften im eigent-

s) Eine gemeinschaftliche Teilung des Bodenertrages fand auch manch- mal in der Feldgemeinschaft statt, nämlich bei dem nicht teilbaren Wiesen- and, das gemeinschaftlich bearbeitet und dessen Ertrag ebenfalls geteilt wurde.

478

lichen Sinne des Wortes gab. Daraus erklärt sich auch die stärkere Verbreitung des Genossenschafts- und Gesellschaftswesens in den östlichen Teilen Weißrußlands als in den westlichen. Im Gouv. Mohi- lew war der Flachs- und Hanfanbau sehr stark verbreitet (Gouv. Mohilew nimmt hierin den ersten Plak im gesamten europäischen Rußland ein), im Gouv. Smolensk waren Weide- und Waldgenossen- schaften vorherrschend. In den Gouv. Minsk und Witebsk hingegen konnte sich das Genossenschaftswesen nur sehr schwach entwickeln, da die Verschiedenheit der Bodenqualitaten sowohl des Ackerlandes als auch der Wiesen für die Entstehung von Genossenschaften ein nicht zu unterschagendes Hindernis darstellte. Als ein wichtiger Faktor ist last not least noch zu erwähnen die niedrige Kultur- stufe des Bauern in den beiden obengenannten Gouvernements und seine asoziale Veranlagung, entstanden aus seiner jahrhundertealten Lebensart in seiner einsamen Hütte zwischen weiten Wäldern und Sümpfen. Die geringe kollektive Bodennukung in diesen Gouver- nements erstreckte sich hauptsächlich auf Waldgenossenschaften.

Den größten Prozentsatz der kollektiven Privatbodennukung in Weißrußland hatten die Genossenschaften aufzuweisen. Von dem 1572,1 Tausend Deßj. umfassenden bäuerlichen kollektiven Privat- bodenbesi& gehörten nur 462,0 Tausend Deßj. den bäuerlichen Gesell- schaften an, der Rest verteilte sich auf die Genossenschaften.

Die bäuerliche kollektive Bodennugung in den einzelnen Gouver- nements Weißrußlands verteilte sich im Jahre 1905 folgendermaßen:

Bäuerliche Gesellschaften

Zahl der Gesellschaften

Bäuerliche Genossenschaften

Gouv.

Minsk... Witebsk . . Mohilew. . Smolensk .

Weißrußland 1110143

Die Größe der Gesellschaften betrug durchschnittlich über 175 De§j., während die genossenschaftlichen Betriebe durchschnittlich 120 Deßj. besaßen. Wir haben es hier also mit einem bäuerlichen Grogbetrieb zu tun. Die Größe der Betriebe war, wie aus der obigen Tabelle ersichtlich, in den vier Gouvernements verschieden. Am größten war sie im Gouv. Minsk (Gesellschaften über 1000 Deßj., Ge- nossenschaften etwa 250 Deßj. durchschnittlich), da wir es hier meist mit Waldgenossenschaften zu tun haben.

3. Dasbäuerliche Servitutenrecht.

Zur dritten Haupfform der bäuerlichen kollektiven Bodennukung gehört das Servitutenrecht, obgleich dies nicht immer rein kollektive Formen annahm.

Was verstehen wir unter Servitutenrecht?

479

Streng juristisch betrachtet, versteht man darunter das Recht, ein fremdes immobiliares Gut bis zu einer bestimmten Grenze für persönlichen Bedarf benußen zu dürfen. Im russischen Recht findet man keine klare und bestimmte Definition dieser Rechtsform. Es sind von Zeit zu Zeit nur Verordnungen und Ukasy von der russi- schen Regierung erlassen worden. Während der Leibeigenschafts- epoche konnte das Servitutenrecht keinesfalls die Bedeutung von „Nußnießung an fremden Gütern“ haben, da bekanntlich sowohl der Boden als auch die Bauern selbst Eigentum des Gutsherrn waren, und dieser das Recht der Nußnießung zu jeder Zeit zurückziehen konnte. Erst nach Aufhebung der Leibeigenschaft kam das Servituten- recht zu seiner richtigen Anwendung.

Wie ist nun in Weißrußland das Servitutenrecht entstanden?

In den Gouv. Minsk, Witebsk, Mohilew (teilweise auch Smolensk), die früher dem Groffurstentum Litauen angeschlossen waren, wurde, wie erwähnt, die Leibeigenschaft durch die Lubliner Union (1569) zwangsweise eingeführt. Durch diese politische Union trat auch eine völlige Veränderung in der wirtschaftlichen Lage der verhältnismäßig freien weißrussischen Bauern ein. Den Bauern wurden nach den Geseken des polnischen Staates der Bodenbesif, ihre persönliche Freiheit und die bis dahin bestehende Gemeindegerichtsbarkeit ge- nommen. Diese Entrechtung führte zu großen Aufständen. Die pol- nische Regierung versuchte, diese Aufstände auf administrativ-poli- zeilichem Wege zu unterdrücken. Die Maßnahmen der Regierung hatten eine starke Emigration, die sich nach den benachbarten groß- russischen Gouvernements richtete, zur Folge. Durch diese Massen- flucht der Bauern entstand für die Gutsherren die Gefahr, ohne Ar- beitskrafte zu bleiben. Die Gutsbesigfer waren daher gezwungen, den Bauern gewisse Konzessionen zu machen, und zwar bestanden diese Konzessionen darin, daß den Bauern das Recht gewährt wurde, „bis auf weitere Verordnung des Gutsherrn“ ihren Boden frei zu bewirtschaften. Es wurden ihnen von den Gutsherren sogenannte „inventare“ (Gutscheine) ausgehändigt. In diesen Inventaren wurde die Größe des Bauernbesiktums und die Hohe der dem Gutsherrn zu entrichtenden Leistungen festgeseßt. Diese Gutscheine sollten den Bauern angeblich eine Garantie dafür bieten, daß nach Auszah- lung der gesamten Summe der Boden völlig in ihren Besitz über- gehen wurde’).

Diese Garantie nahm aber eine andere Wendung mit dem Uber- gang dieses Gebiets an Moskau. Die Gefahr der Bauernaus- wanderung war bereits behoben, nun hatte man die Bauern voll- kommen in den Handen, und man zwang sie wieder unter das Joch der Leibeigenschaft sie wurden enteignet, und ihre Inventare ver- loren vollkommen ihre Gültigkeit. Man überließ ihnen nur ganz un- bedeutende Rechte, wie z. B. das Recht, das Vieh auf den guisherr- lichen Ländereien weiden zu lassen, wie auch das Sammeln von Wald- fruchten und dergl., was man als Servitutenrechte bezeichnete.

4) L. S. Liékov „Die Servitutenrechte“, Petersburg 1900.

480

Im Jahre 1847 veröffentlichte die russische Regierung einen Ukas, worin den Inventaren ihre Gültigkeit wieder verliehen wurde, was sich aber wieder nur auf die Servitutenrechte beschränkte. Das Manifest vom 19. Februar erwähnte das Servitutenrecht mit keinem Worte. Es entstanden infolgedessen verschiedene Mißverständnisse und Streitigkeiten zwischen Bauern und Gutsherren, so daß die Re- gierung gezwungen war, einen Ukas (4. April 1865) zu erlassen, in dem das Servitutenrecht geregelt wurde. Laut diesem Ukas be- schränkte sich das Servitutenrecht auf die „Toloka“, d. h. das ge- meinsame Recht sowohl der Bauern als auch der Gutsherren, die Herden auf dem Brachland und den abgemähten Feldern weiden zu lassen. In Wirklichkeit machten nur die Bauern, für die dieses Recht eine große wirtschaftliche Bedeutung hatte, von ihm Gebrauch.

Im Laufe der Zeit mußte sich das Servitutenrecht immer mehr einengen. Dies war erstens die Folge des Übergangs von der Drei- felderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft auf den herrschaftlichen Gütern, wodurch eine Verringerung des Brachlandes erfolgte. Zwei- tens wurde überhaupt eine intensivere Wirtschaft mit Friihsaat und Späternte betrieben, wodurch ebenfalls die Möglichkeit einer Brach- landnukung begrenzt wurde. Außerdem wurden viele Walder im Laufe der Zeit abgeholzt und in Ackerland verwandelt.

In dieser neu entstandenen Situation kam es sehr häufig zu Streitigkeiten zwischen den Gutsherren und den Bauern, und bei jeder Gelegenheit wurde deswegen von den Gutsherren allerseits die Aufhebung des Servitutenrechtes gefordert.

Leider fehlt es an Materialien über die Formen und die zahlen- mäßige Verbreitung des Servitutenrechts in den weißrussischen Gou- vernements. Eines aber steht fest, dak es in den Gouv. Minsk, Witebsk und Mohilew Servitutenrechte gegeben hat, während man dafür im Gouv. Smolensk keine Beweise finden kann. Aber selbst für das Gouv. Mohilew sind die betreffenden Materialien nur sehr mangelhaft. Im Jahre 1889 hat die russische Reichsbank, unter deren Aufsicht die „Auslösungsakten“ der Bauern zur Zeit der Auf- hebung der Leibeigenschaft standen, einen Bericht über das Ser- vitutenrecht im Gouv. Minsk und in den östlichen Kreisen des Gouv. Witebsk herausgegeben. Sicherlich haben sich die Ziffern im Laufe der Jahre geändert. Im großen und ganzen jedoch sind sie noch maßgebend.

Laut diesem Bericht der Reichsbank waren in den 9 Kreisen des Gouv. Minsk 3041 Auslösungsakten eingetragen, wovon 2894 im Be- sige der Reichsbank waren. Diese 2894 Auslösungsakte erstrecken sich auf 83 168 Bauernhöfe, von denen 49 248 das Servitutenrecht in Anspruch nahmen. In den vier östlichen Kreisen des Gouv. Witebsk waren 252 Auslösungsakten vorhanden, wovon 428 im Besitze der Reichsbank waren, sie repräsentierten 18 211 Bauernhöfe, und 8401 von ihnen hatten Servitutenrechte.

Wie wir sehen, haben fast 50% der Gutsbauern das Servituien-

481

recht in Anspruch genommen. Fast das selbe Verhältnis finden wir auch im Gouv. Mohilew.

Wie gesagt, äußerte sich das Servitutenrecht in verschiedenen Formen. Die meistverbreitete Form war das Recht der Bauern, das Brachland und die abgemähten Felder als Weide zu benuken, wäh- rend sich das gleiche Recht bezüglich des Waldbodens nur selten vorfindet. Eine beträchtliche Zahl der Bauern hatte gleichzeitig mehrere Servitute. Die Nuknießung erstreckte sich in den meisten Fällen auf ganze Gemeinden, es waren jedoch auch Dörfer zu finden, in denen sie einen individuellen Charakter trug; sie wird daher in die Rubrik der bäuerlichen kollektiven Bodennugung eingereiht.

B. Die Formen der individuellen Bodennubung in Weißrußland.

Eine Bodennukung auf individueller Grundlage in Weißrußland kam vor allem auf dem gutsherrlichen Großgrundbesik, auf dem bäuerlichen Privatbesik und auf dem Großgrundbesitz der Industrie in Anwendung. Ferner wurde auch das bäuerliche Pachtland in den meisten Fällen individuell bewirtschaftet. Auch auf dem bäuerlichen Anteillande war die Bodennukung individuell, besonders in den Dorf- gemeinden, wo keine allgemeine Umteilung des Terrains stattge- funden hatte. :

Was nun den Großgrundbesik anbetrifft, so wurde er entweder nach den alten überlieferten Prinzipien der Leibeigenschaftsepoche (Teilpacht oder Arbeitslohn in natura) oder kapitalistisch betrieben (gemietete Arbeitskräfte, die Produktion war nicht für die Bedarfs- deckung, sondern für den Markt bestimmt usw.), insbesondere dann, wenn der Betrieb nicht allein auf Ackerbau eingestellt war. Etwas anders war die Nugungsart auf dem bäuerlichen privaten Boden- besitz.

Der bäuerliche private Bodenbesik (859 794 Deßj.) verteilte sich auf 21485 Bauernwirtschaften, so daß auf jede Wirtschaft durch- schnittlich 40 Deßj. kamen. Diese Wirtschaften waren entweder in kleine Gruppen von 10—20 Höfen geteilt oder lagen zerstreut als Einzelhöfe (,„Jednosialiby“). Letztere Form findet man sehr häufig in den westlichen Kreisen Weißrußlands, in den östlichen Kreisen dagegen war der bäuerliche persönliche Bodenbesi5 oft mit dem Anteilland vermengt. Aber sowohl bei den Einzelhöfen als auch bei den Bauern, die in kleinen Hofgruppen lebten, war der Besitz in Ge- mengelage verstreut. Abgerundete Sonderbesike, wie ihn der Chutor und Otrub darstellen, waren nur selten zu finden. Erst zu Ende des 19. Jahrhunderts wurde hierher aus den benachbarten litauischen (Gouv. Kowno) und lettischen (westlicher Teil des Gouv. Witebsk) Kreisen die Bestrebung „auf einen Chutor und Otrub über- zugehen“ übertragen (besonders im Gouv. Minsk und Witebsk), jedoch trug diese Bewegung einen begrenzten Charakter und kann keines- falls als Massenerscheinung angesehen werden. Aber selbst in den

482

wenigen Fällen, wo eine „Verkoppelung“ der Wirtschaft (wie der fachtechnische Ausdruck lautet) stattgefunden hatte, beschränkte sie sich ausschließlich auf das Ackerland, dagegen unterlag das Wiesen- und Weideland wie zuvor der gemeinschaftlichen Benutzung. Überall war der Streubesitz und Flurzwang vorherrschend, insbesondere in den Gemeinden, wo der bäuerliche Privatbesitz mit dem Anteillande vermengt war.

In der Betriebsart der bäuerlichen privaten Wirtschaften handelie es sich meist um bäuerliche Großbetriebe, die sich immer mehr dem kapitalistischen Betriebe näherten. Es waren zwar der Besitzer wie auch seine Familienmiiglieder im Betriebe tätig, aber es wurden auch gemietete Arbeitskräfte beschäftigt.

Außer dem individuellen bäuerlichen Besiger nugten auch die Besiker des Anteillandes in den Kreisen, wo keine allgemeine Um- teilung stattfand, z. B. im Gouv. Minsk, in den westlichen Kreisen des Gouv. Witebsk usw. ihre Bodenfläche auf individueller Grundlage. Zwar war auch hier eine gemeinschaftliche Benutzung des Wald- und Wiesenlandes zu konstatieren, die Wirtschaften blieben überall der Dorfgemeinde angegliedert und waren von ihr gewissermaßen ab- hängig, das Ackerland wurde jedoch ganz individuell genubt.

Eine besondere Art der individuellen Bodennutzung bildete die Pachi- wirtschaft, die ich einer besonderen Behandlung unterziehen möchte.

Die Pachtwirtschaft.

In Weißrußland bestanden zweierlei Hauptarten von Pachtwirt- schaft: Die erste war die großbäuerliche Pacht (die sogenannte „Unternehmungspacht‘), die als ein Mittel zur Geldeinnahme durch Vergrößerung des Ackerlandes angesehen wurde. Diese Art der Pacht trug also einen Unternehmungscharakter in mehr oder weniger kapitalistischem Sinne. Das gepachtete Land wurde in den meisten Fällen von gemieteten Arbeitskräften bebaut und der Bodenertrag für den Markt bestimmt. Die zweite Art der Pachtwirtschaft war die sogenannte „Ernährungspacht“, die von den ärmeren Bauernschichten als ein Mittel, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, betrachtet wurde. Meist handelte es sich um ganz kleine Bodenstreifen, die von den Bauern selbst bestellt wurden, und deren Ertrag für den persön- lichen Bedarf des Bauern bestimmt war. Selbsiverständlich gab es unter diesen beiden Hauptarten der Pachtwirtschaft noch verschiedene Zwischenstufen. Der Unterschied zwischen den beiden angeführten Pachtarten lag nicht nur in den bereits erwähnten Merkmalen, es spielte hierbei auch die Hohe des Pachizinses eine bedeutende Rolle. Der kapitalistische Pächter, der in der Regel größere Bodenflächen und auf eine längere Frist pachtete, zahlie einen viel niedrigeren Pachizins als der arme Pachter, der aus Mangel an Kapital nicht in der Lage war, größere Bodenflächen zu pachien und langfristige Pachtverträge abzuschließen. Der Kleinpächter mußte daher seine Arbeitskraft niedriger einschäßen, um den hohen Pachizins zahlen zu können, was zur Folge hatte, daß er durch die Pacht sogar seine

485

Familie nicht ernähren konnte und die Ernährungspacht zur sogenann- ten „Hungerpacht“ herabsank.

Noch ein Unterschied zwischen den beiden Pachtarten liegt darin, daß, während der Zins bei der kapitalistischen Pacht ein in bar ge- zahiter Geldzins war, er für die Ernährungspacht in vielen Fällen, besonders in den Kreisen, wo ein Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften herrschte, durch Arbeitsleistung gezahlt wurde. Dieser „Arbeitspachfzins“ war gewöhnlich bedeutend höher als der Geld- pachizins.

Der Arbeitspachizins wurde den Bauern vom Gutsherrn-Ver- pächter aufgezwungen, der dadurch eine viel höhere Rente erzielte als durch Geldzahlung. Im statistischen Jahrbuch von 1899 finden wir darüber folgenden Sak: ,,Geldpachter gibt es sehr wenig, nicht nur deshalb, weil die Bauern kein flüssiges Geld besiken, sondern auch, weil die Gutsbesiker durch die Verpachtung ihres Bodens sich ein geniigendes Kontingent von Arbeitskräften sichern wollen.“

Der Arbeitspachtzins hatte für die Bauern noch einen großen Nachteil insofern, als sie vom Gutsbesiker völlig abhängig wurden.

Der Kleinpächter bebaute sein gepachtetes Land extensiv, da ihm erstens zu einer intensiven Bearbeitung die Mittel fehlten, und zwei- tens, da die Kurzfristigkeit der Pacht eine wesentliche Rolle spielte. Der Kleinpächter, der nicht die Sicherheit dafür hatte, später den durch ihn verbesserten Boden benußen zu können, suchte daher mög- lichst viel aus dem Pachtland bis zum Fristablauf herauszuschlagen.

Infolgedessen verringerte sich der Bodenertrag, und die wirt- schaftliche Lage des Kleinpächters verschlimmerte sich. Die kapita- listische oder die Unternehmungspacht war, wie bereits erwähnt, zum größten Teil unter den wohlhabenden Bauern und Kaufleuten ver- breitet. Diese Art der Pacht konnte nur in denjenigen Gebieten größere Dimensionen annehmen, in denen die Kleinpacht infolge der besseren Lage der Bauernschaft nur schwach vertreten war.

Verfolgen wir nun die Pachtverhältnisse im einzelnen in Weib- rußland.

Zuerst sei vorausgeschickt, daß die bäuerliche Pachtwirtschaft in Weißrußland erst zu Ende des 19. Jahrh. sich zu entwickeln und all- mählich größere Dimensionen anzunehmen begann. So berichtet Prof. Janson, daß zu Anfang der achtziger Jahre im Gouv. Minsk die bäuerliche Pachtwirtschaft eine seltene Erscheinung war. Das gleiche ist über die Gouvernements Smolensk und Mohilew zu lesen. Eine bäuerliche Pachthaltung ist erst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts festzustellen. Prof. Jastremsky gibt uns für das Gouv. Minsk folgende Ziffern für das Jahr 1894 an: Insgesamt wurden gepachtet etwa 274000 Deßj., davon 108000 Deßj. durch Bauern.

Die durchschnittliche Größe einer Pachtwirtschaft war 15,8 Deßi. Der Pachtzins machte 2,75 Rubel pro Deßjatine aus. Laut den amt- lichen Angaben von 1902 wurden im Gouv. Minsk 125 000 Dekj. von den Bauern gepachtet. Der Pachtzins wurde in den meisten Fällen in

484

Geld beglichen (94%). Dagegen war die Unternehmungspacht im vorigen Jahrhundert hier sehr stark verbreitet (1887 waren 6243 adlige Gutshöfe mit einer Bodenfläche bis 1 Million Deßjatinen verpachtet). Im 20. Jahrhundert verringerte sich die Unternehmungspacht, was auf eine gewisse Besserung in der wirtschaftlichen Lage des Adels in Weißrußland schließen laßt.

Im jahre 1904 wurden hier 6828 Pachtverträge über eine Boden- fläche von insgesamt 106 247 Deßj. in den ,,Wolosten“ (Bezirksver- waltungen) abgeschlossen. Es wurden außerdem noch 4363 Pacht- verträge über eine Bodenfläche von insgesamt 157 826 De§j. notariell eingetragen. Wir haben es also mit 11 292 Pachtverträgen über eine Gesamtfläche von 264 072 De§j. zu tun, die 13,6% des gesamten Anteil- landes beträgt (laut den Ergebnissen der Zählung vom Jahre 1905). Die Pächter gehörten fast ausschließlich dem Bauernstand an. 68,6% der Pachter pachteten das Land vom Adel, 16,1% von den Stadtver- waltungen und 7,6% vom Staate. Der Rest verteilte sich auf sonstige Verpächter. Der Fläche des gepachteten Bodens nach bildete der des Adels 92% des gesamten Pachtlandes. Die gepachteten Arealien betrugen zum größten Teil nicht mehr als 10 Deßj., stellten also Ernahrungspachten dar. Der Pachizins war hier bedeutend höher als in den großrussischen Gouvernements. So z. B. betrug der Geldpachtzins im Gouv. Moskau im Jahre 1900 2,6—3,0 Rubel pro Deßjatine, im Gouv. Wladimir 2,6—2,7 Rubel pro Deßjatine, während er hier 3,6—3,9 Rubel pro Deßjatine ausmachte. Am höchsten war der Pachtzins für Pachtungen bis zu 5 Deßj. Bemerkenswert ist auch die Erscheinung, daß, obwohl die Gutsbesiker in diesem Gouverne- ment fast die alleinigen Verpachter waren, der Pachtzins meist in Geld gezahlt wurde (94%). Der Arbeitspachtzins machte nicht mehr als 3% und der Teilpachtzins (Anteil an der Ernte) nicht mehr als 2,8% aus. Das ist, glaube ich, dadurch zu erklären, daß die Guts- besitzer hier keinen Mangel an Arbeitskräften hatten, dagegen einen großen Mangel an Bargeld. Der verhältnismäßig hohe Pacht- zins in diesem Gouvernement trok der schlechten Bodenqualität ist dadurch zu erklären, daß die Gutsherren als einzelne Verpächter auf- traten und außerhalb jeder Konkurrenz standen.

Die Pachifrist war abhängig von der Art der Pachtung die Unternehmungspacht war eine langfristige bis zu 9 Jahren (etwa 30%). Die übrigen Verpachtungen waren kurzfristig von 1—3 Jahren, und von dieser Zahl betrug die einjährige Frist 34%.

Im Gouv. Witebsk wurde im Jahre 1907 von 28319 Bauern (16,5% aller Bauernhöfe) eine Gesamifläche von 150426 Deßj. (12,2% des Anteillandes) gepachtet. Von dieser Bodenfläche waren 68 642 De). (5,5%) Anteilland und 81 784 (6,7%) Privatboden. Die Bauern waren hier jedoch nicht die alleinigen Pächter. Es wurden auch von anderen Schichten, besonders vom Bürgerstand, 0,4% des Anteillandes ge- pachtet. Die Zahl des gesamten Pachtlandes belief sich also auf 12,6% des gesamten Anteillandes. Auch in diesem Gouvernement haben wir es überwiegend mit Kleinpächtern zu tun. Die durchschnitt-

485

liche Größe eines Pachtareals betrug 3,5 Deßj. Der Pachtzins war hier noch höher als im Gouv. Minsk, er machte 3,3—4,6 Rubel pro Deßjatine aus. Aus diesem hohen Pachizins ist zu schließen, daß die Nachfrage nach Pachtland eine sehr starke war.

Noch schlimmer lagen die Verhältnisse im Gouv. Mohilew. Leider fehlen genaue Angaben über die Zahl und Menge des gepachieten Landes; aber schon der hohe Pachizins (im Jahre 1900 erreichte er die Hohe von 9,9 Rubel pro Deßj.) läßt vermuten, daß auch in diesem Gouvernement die Nachfrage nach Pachiland außerordentlich stark gewesen war. Allerdings ist hierbei auch zu berücksichtigen, daß große Bodenflächen hier nicht nur für den Anbau von Getreide, sondern auch für den Anbau von Hanf und Flachs, die nicht für den eigenen Verbrauch, sondern für den Markt bestimmt waren, gepachiet wurden. Die Bauern bauten diese Kulturen an, obwohl in der Regel der Reinertrag aus ihnen niedriger war als aus Getreide, weil sie bestrebt waren, ihre überschüssigen Arbeitskräfte voll auszunußen. Bekanntlich erfordern ja diese Kulturen einen viel größeren Aufwand von Arbeit als Getreide.

Die höchsten Ziffern der Verpachtungen sowohl absolut als auch relativ hatte das Gouv. Smolensk aufzuweisen. Hier wurde im Jahre 1901 eine Bodenfläche von 530 Tausend De§j. (rund) gepachtet, was 28% des Anteillandes (oder 19% des gesamten anbaufähigen Bodens) ausmachte. Der höchste Prozentsatz der Pachtungen kam auf die östlichen Kreise. So z. B. wurden im Kreis Wjazma 34%, im Kreis Syéev 28% des Anteillandes gepachtet, die Pachtungen von Weideland, die hier 37% des gesamien Pachtlandes bildeten, sind hierin nicht inbegriffen. Der Pachizins stellte sich hier wie folgt: 51% des gesamien Pachilandes wurden gegen Geldleistungen ge- pachtet, gegen Arbeitsleistung 16,6% gegen Teilpacht 3% —, gegen gemischten Pachizins 29,4%, wobei der Zins fur das von Privat- besifern gepachtete Land meist in natura beglichen wurde.

Das Anteilland wurde langfristig gepachtet (etwa zu 75%), bei Nichtanteilland dagegen war die Pacht ausschließlich kurzfristig und zu & nur einjährig.

Die Höhe des Pachizinses pro Dekjatine war hier fast die gleiche wie in den großrussischen Gouv. Moskau, Kaluga u. a.: von 2,5—2,9 Rubel pro Deßjatine.

Im Vergleich mit den Verhältnissen im europäischen Rußland muß für Weißrußland (außer Gouv. Smolensk) eine geringe Entwick- lung der Pachtwirtschaft festgestellt werden (im europäischen Rug- land bildete das Pachtland etwa 20% des Anteillandes, und 37% der Bauernwirtschaften waren Pächter).

Kapitel 4. Die Stolypinsche Agrarreform (1906—11) in Weißrußland.

Bekanntlich gehörte Weißrußland zu denjenigen Gebieten Ruß- lands, in denen die Reformarbeiten sehr große Dimensionen an-

486

genommen haften. Bevor wir jedoch auf die einzelnen Maßnahmen der Reformarbeit und auf ihre Auswirkungen näher eingehen, soll zunächst nur der Stand der bäuerlichen Landwirtschaft in Weißruß- land kurz vor der Stolypinschen Agrarreform skizziert werden.

A. Die bauerliche Landwirtschaftin Weißrußland vor der Stolypinschen Agrarreform.

Die weißrussische Bauernschaft hatte, wie erwähnt, unter einem großen Bodenmangel zu leiden. Bereits zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft bildeten die Wirtschaften, die bis zu 2 Deßj. pro männliches Familienmitglied Anteilland erhalien hatten (was bei den damaligen Verhältnissen als äußerst geringer Anteil angesehen wurde), 8% der Gesamtzahl. Zählen wir noch die Wirtschaften der „Dettelländler“ hinzu, die, wie erwähnt, völlig landlos aus der Leib- eigenschaft kamen, so finden wir, daß fast 15—20% der Wirtschaften bereits damals entweder landlos oder landarm waren. Zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts stieg ihre Zahl infolge der Bevölkerungs- vermehrung und Zerstückelung der Wirtschaften (die Zahl der Bauern- wirtschaften in -Weißrußland hat sich von 1877—1905 fast um 60% vergrößert) auf das Fünffache und in manchen Kreisen sogar höher. So z. B. berechnete für Weißrußland Prof. Marres die Verteilung des bäuerlichen Bodenbesiges im Jahre 1896 pro Revisionsseele wie folgt: bis zu 1 Deßj. pro Revisionsseele hatten 14,5%, von 1—1,5 De§j. 56,2%, von 1,5—2 Deßj. 19,1% und mehr als 2 Deßj. pro Revisions- seele 10,2% der Gesamtzahl der Bevölkerung, d. h. daß etwa 90% der Bauernschaft in Weißrußland weniger als 2 Deßj. pro Revisions- seele besaßen, welcher Besitz, wie gesagt, unter den damaligen Ver- hältnissen als gering angesehen wurde. Laut der Zählung von 1905 war die Zahl der landarmen Wirtschaften noch höher gestiegen. Die Wirtschaften mit einem Bodenbesif bis zu 5 Deßj. umfaßten etwa eine halbe Million Köpfe. Außerdem waren etwa 250 000 Dorffamilien (oder 1,3 Millionen Seelen) überhaupt landlos, d. h. daß etwa % der Dorfbevolkerung in Weißrußland entweder überhaupt landlos oder im besten Falle landarm war. Und dies, nachdem die Bauernschaft Weißrußlands mehr als 2,6 Millionen Deßjatinen Boden im Laufe der Zeit erworben hatte’). Die Bereicherung an Bodenbesitz konnte also bei der Bauernschaft mit dem enormen Bevölkerungszuwachs keines- falls Schritt halten.

Diese Schar der landlosen und landarmen Bauern in Weißrußland bildete einen ungeheuren Überschuß an Arbeitskräften im Dorfe. Nach den Berechnungen von S. A. Korolenko (im Auftrage des da-

1) Im Jahre 1877 waren im Besitze der Bauern aller Kategorien (Besiger von privatem Boden und von Anteilland) 6851 Taus. Deßj., während sie 1905 9526 Taus. Dekj. besaßen. Es ergibt sich somit ein Zuwachs von 2675 Taus. De§j. oder 9%. Aber trob dieses großen Zuwachses war im Besitze der Bauern- schaft i. J. 1905 nicht einmal die Hälfte der gesamten Bodenfläche, wie es ın anderen Gouvernemenis der Fall war.

487

maligen Ministers für Landwirtschaft) betrug dieser in den achiziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in: Minsk = 33,9%, Witebsk = 46,1%, Mohilew = 41,5%, Smolensk = 38,9% der gesamien Dorfbevolkerung.

Sehr charakteristisch für den Zustand im weißrussischen Dorfe zu Beginn dieses Jahrhunderts sind die Angaben des Gesefprojektes der Regierungsbevollmächtigten vom 21. Dezember 19053). Die Zahl der landarmen Bauern („Seelen“) in den vier weißrussischen Gouver- nements wird dort mit 2967 Tausend angegeben. Diesen Bauern fehlten 7940 Tausend Deßj. Boden zur Größe einer normalen bäuer- lichen Wirtschaft vom Jahre 1861.

Der überschüssige Landfonds bei der Bauernbank bestand hier aus 3377 Tausend Deßj. anbaufähigen Bodens (davon gehörten dem Staate nur 27 Tausend Deßj.). Außerdem war noch ein Waldboden- fonds von 6639 Tausend Deßj. vorhanden, also, selbst wenn man den Staatsboden und 25% des Waldbodenfonds urbar gemacht und den Bauern übergeben hätte (wodurch man eine Bodenfläche von 1687 Tausend Deßj. hätte gewinnen können), so hätte dies noch lange nicht ausgereicht, um den Bodenmangel der Bauernschaft zu befriedigen. Es wurde daher die logische Konsequenz gezogen, daß außer dem gesamten Staatsboden noch ein Teil des privaten Ackerlandes (50%) enteignet werden müsse, um ihn unter den Bauern zu verteilen. Aber selbst dann, wenn die Bauernschaft nur 4111 Tausend Deßj. Boden bekäme, würde sie dennoch die Norm vom Jahre 1861 nicht erreichen.

Laut den dort angeführten Zahlen kamen pro männliches Familienmitglied (Boden in Deßjatinen):

Norm bei evtl. Urbarmachung von 28°/, des

Mohilew . .

Diese Zahlen sind zwar nicht kritiklos hinzunehmen, da sie nicht ohne Tendenz zusammengestellt sind, aber immerhin werfen sie ein Licht auf die damalige Lage im weißrussischen Dorfe.

Ziehen wir noch in Betracht, daß in Weißrußland der Prozentsatz des anbaufähigen Bodens geringer als in dem übrigen europäischen Rußland war, und berücksichtigen wir die Tatsache, daß der Boden in Weißrußland für den Anbau von stoffreichen Kuliuren nicht be- sonders geeignet war, so ist es verständlich, daß die Lage der Mehr- zahl der Bauernschaft eine schlechte sein mußte. Noch ein wichtiges Moment zur Verschlechterung der Lage der Bauernschaft war auch die fortwährende Verminderung des Arbeitsviehes. So z. B. bildeten die pferdelosen Wirtschaften folgende Prozentsätze der Gesamtzahl der Wirtschaften:

2) „Die Agrarreform im Ministerrat“ (Geheimakten), Moskau 1924.

488

Gouvernement

Also, außer im Gouv. Minsk ist mit jedem Jahre ein Steigen der Zahl der pferdelosen Wirtschaften zu konstatieren. Die größte Gruppe (fast bis 50%) bildeten die Wirtschaften mit einem Pferd, und nur einen geringen Prozentsatz der Wirtschaften bildete die Gruppe mit mehr als vier Pferden (im Jahre 1900 = 6,7%, 1893 8%). Im Vergleich zum europäischen Rußland fiel der Prozeß der Ver- armung des Dorfes an Arbeitsvieh (Pferde) in Weißrußland ganz anders aus. So z. B. bildeten die pferdelosen Wirtschaften im euro- päischen Rußland im Jahre 1900 = 24,7%, während sie in Weißruß- land etwa 16% ausmachten, dagegen ist in Weißrußland der Prozent- sab der Wirtschaften mit 2—3 Pferden bedeutend niedriger als im europäischen Rußland, was auf eine größere Zahl der wohlhabenden bäuerlichen Wirtschaften in Rußland schließen lagts).

Die Mehrzahl der Bauern mußte auf ihrem Boden Broigetreide, besonders Roggen anbauen, und es fehlte ihr die Möglichkeit, Viehfutter anbauen zu können, was andererseits zur Folge hatte, daß die Produktivität der Landwirtschaft durch den Mangel an Arbeits- vieh und Düngemitieln zurückging®).

Als Illustration der Lage des weißrussischen Dorfes möchte ich noch zwei offizielle Dokumente hier zitieren. Von großem Interesse ist vor allem der Bericht über die westlichen Kreise des Gouv. Smo- lensk, der in den siebziger Jahren durch die „Kommission zur Er- forschung der Landwirtschaft“ herausgegeben wurde. Dort heißt es u. a., daß fast überall das Anteilland nicht genügend Mittel fur die Erhaltung der Bauernwirtschaften gebe. Die Lage der Bauernschaft sei bei weitem nicht gut, die Bodenerträge seien schlecht, und die Bauern müßten bereits im Januar Brot kaufen. Diejenigen Bauern- wirtschaften, die ihr eigenes Brot für das ganze Jahr haben, bildeten hier eine Seltenheit und seien in der ganzen Gegend bekannt. Sehr ergreifend ist eine Petition der Bauernschaft des Gouv. Witebsk an die Regierung vom Jahre 1904/05, in der es heißt:

.. . „Wenn unser Leben unter den jetzigen Bedingungen fort- dauern soll, so sind wir innerhalb von 15—20 Jahren sämtlich

Hungers gestorben. Womit wir uns ernähren? das weiß nur

. ) Auf die Viehzucht im allgemeinen komme ich noch später ausführ- licher zu sprechen.

a) Prof. P. Wichlajev sagte darüber folgendes: „Alle Bauerngru = näherten sich der Gruppe der pferdelosen Wirtschaften, da die Viehh nur unter der Reduzierung der menschlichen Bedürfnisse vor sich chen kann.“ („Verteilung der landwirtschaftlichen Betriebe nach dem Arbeits- vieh“, Petersburg 1900.)

489

Gott! Besonders in der Fastenzeit. Um gar nicht erst von den

Reicheren zu sprechen, eines mittleren Stadtbiirgers Hund sogar

würde das verschmähen, womit wir uns erhalten müssen. Im

Frühjahr wird ein Stück harten schwarzen Brotes unter die

Kinder als Leckerbissen verteilt...“

Fast dieselbe Lage war auch in den anderen Gouvernements Weiß- rußlands zu verzeichnen. Im Gouv. Mohilew z. B. betrugen die Ein- nahmen eines Bauern fast nur die Hälfte der Summe, die er als Steuern zu zahlen hatte. Ä

So war die Lage der weißrussischen Landwirtschaft zu Beginn des Jahrhunderts kurz vor der Agrarreform.

Und nun zu den Ergebnissen der Reformarbeit in Weißrußland.

B. Die Reformarbeiten in Weißrußland.

Wie gesagt, gehörte Weißrußland zu den Gebieten Rußlands, in denen die Agrarreformarbeiten große Dimensionen angenommen hatten. Die Reformarbeiten erstreckten sich hier auf folgende drei Haupigebiete: Erstens auf die Landeinrichtungsarbeiten (Auflösung der Feldgemeinschaft und Verkoppelung der Grundstücke in Sonder- besitzel, zweitens auf den Erwerb von Bodenflächen seitens der Bauern und drittens auf die Ubersiedlung nach Sibirien. Ich möchte auf diese Maßnahmen einzeln eingehen. ;

1. Die Landeinrichtungsarbeiten.

In Weißrußland herrschte in den Reihen der Bauernschaft noch vor der Entstehung des Gesees von 1906 eine Bewegung für die freiwillige Auflösung des Gemeindebesiges und für die Verkoppelung der Sonderbesike. Schon im Jahre 1877 war in den nordwestlichen Gouvernemenis (darunter auch Weißrußland) eine Auflösung des Gemeindebesiges, der eine Gesamtfläche von 200 Tausend Deßi. aus- machte, vor sich gegangen. Der Durchführung der Landeinrichtungs- arbeiten stellten sich in Weißrußland verhältnismäßig weniger Hinder- nisse entgegen als in anderen Gebieten, und dies aus folgenden Gründen:

In Weißrußland war der Gemeindebesib, wie wir bisher gesehen haben, bedeutend schwächer vertreten als in Grofrugland. Wir haben auch feststellen können, daß sogar der bestehende Gemeindebesitz seinen Ursprung nicht in der Psyche und Tradition der weißrussischen Bauernschaft hatte, sondern eine Erscheinung der lebten Zeit ge- wesen ist; wir haben auch geschen, daß in den Gemeinden entweder gar keine oder eine Umteilung in sehr weiten Zeitspannen statt- gefunden hatte, so daß die Gemeinde hier nur eine „pro forma An- gelegenheit“ war, und nur für die Behörden galt, z. B. bei Steuer- entrichtungen und dergl.

Das Gesek von 1906 bedeutete also für die Bauern Weißrußlands lediglich eine Legalisierung der bislang bestehenden Nukungsform des Anteillandes. Es ist deshalb sehr verständlich, daß die Ausiritte

490

Baa IS: 77 SE K

aus der Gemeinde einen starken Umfang annahmen. Sehr charak- teristisch für die Verhältnisse in Weißrußland ist die Aussage des Generalrevisors der Agrarorganisation, A. Koefoed. Er schreibt:

„Schon zur Zeit der Einsetzung der Landeinrichtungskommissionen hatte es sich gezeigt, daß die radikale Auseinandersetzung mit voll- ständiger Absonderung vom Gemeindebesif und dem Aufbau der individuellen Gehöfte dem Geiste des westrussischen Bauern voll- kommen entspricht.“ („Die russische Agrargesekgebung und ihre Durchführung in der Praxis“ im Sammelwerk „Rußlands Kultur und Volkswirtschaft“, Leipzig 1913.)

Laut den Angaben von Prof. P. N. PerSin (in seinem Werke „Die einzelwirtschaftliche Bodennutzung in Rußland und die Entwick- lung der Chutora und Otruba im Laufe des Jahrzehntes 1907 1916“, Moskau 1922) sind in den weißrussischen Gouvernements im Laufe dieser Jahre folgende Bodenmengen verkoppeli worden: Insgesamt wurden 1520,9 Tausend Deßj. in Form von „Chutora“ und ,,Otruba“ verkoppelt. Davon entfielen auf das Anteilland 1302,5 Tausend Defj. (oder 18,5% des Gesamtanteillandes im Jahre 1905), 216,0 Tausend Deßjatinen auf den bei der Bauernbank neu erworbenen Boden und 3000 Deßj. auf den Staatsboden.

Die Zahl der verkoppelien neuen Wirtschaften ist nur bei den auf dem Anteillande entstandenen angegeben, und zwar machten sie aus:

Smolensk . Weißrußland | 1017897

Den ersten Plak, sowohl relativ als auch absolut, nahm also das Gouv. Witebsk ein, wo die lettischen und die deutschen Wirtschafts- formen der benachbarten Gebiete als Vorbild dienten. Außerdem war im Gouv. Witebsk ein größerer Prozentsatz besser situierter Bauern vorhanden (im Jahre 1905 kamen auf über 50% der Bauern- wirtschaften mehr als je 10 Deßj. Boden auf eine Wirtschaft), für die es leichter war, eine Chutorwirtschaft zu gründen als für die landarmen Bauern. An zweiter Stelle steht das Gouv. Smolensk und zuletzt das Gouv. Mohilew. Der geringe Prozentsatz der Landeinrich- tungsarbeiten für das Gouv. Minsk erklärt sich aus den ungünstigen agrogeologischen Bedingungen: der Streubesitz war im Gebiete der großen Sümpfe und weiten Wälder unvermeidlich:

Nach Durchführung der Reform war der frühere Streubesitz all- mahlich beseitigt, und fast überall, wo es nur irgendwie möglich war,

32 NF 5 491

wurden Sonderbesigfe in Form von Chutors und Otrubs gegründet. Das ganze Gelände änderte seine Physiognomie. Anstelle der früheren Dörfer begegnen wir nach der Agrarreform überall ver- streuten Einzelhöfen oder kleinen Gruppen von Gehöften, die gleich- mäßig über die Felder verteilt sind.

Auch der Prozeß der Auslösung des Anteillandes seitens der Bauern war hier verhältnismäßig intensiv. Laut den Angaben von N. Karpow („Die Agrarpolitik Stolypins“, Moskau 1925) hatten in Weißrußland seit dem 9. November 1906 bis zum 1. Januar 1917 etwa 169,7 Tausend Wirtschaften die Auslösung des Anteillandes gefordert (Gouv. Minsk nicht miteingerechnet). Davon haben bis 1917 145,9 Tau- send Wirtschaften eine Bodenfläche von 1149,53 Tausend Deßj. aus- gelöst. Interessant dabei ist, daß von diesen Wirtschaften 122,3 Tau- send die Auslösung des Anteillandes freiwillig durch die Dorf- gemeinde vollzogen haben. Das beweist, daß die Agrarreform in den breiten Schichten der weißrussischen Dorfbevölkerung Sympathie gefunden hatte. Der Prozentsatz der ausgelösten Wirtschaften er- reichte damals etwa 18—20% der Gesamizahl der bäuerlichen Wirt- schaften (Witebsk 33,8%, Smolensk 19,0%, Mohilew 14,6%, Minsk 8,4%).

Die Durchführung der Landeinrichtungsarbeiten in Weißrußland stieß jedoch auf große Schwierigkeiten. In erster Reihe standen ihr die Servitutenrechte im Wege. Durch die Aussonderung einer Wirt- schaft aus der Gemengelage wurden oft die Ländereien getroffen, die bis dahin dem ganzen Dorfe als Servitut dienten. Die Entschadi- gung der servitutenberechtigten Dorfgemeinde oder Einzelpersonen konnte daher bei der Abschaffung der Servituten durch die Land- einrichtungsarbeit nur auf dem Schakungswege vor sich gehen, meist durch Tausch von Ländereien untereinander. Dies wurde aber in Weißrußland besonders durch die Tatsache erschwert, daß hier die Bodenqualitaten in verschiedenen Orten große Unterschiede auf- wiesen, und man mußte daher fast ausnahmslos Kompensationen und Vergütungen verschiedenster Art vornehmen, um die Streitigkeiten aus der Welt zu schaffen. Später hatte man bei den Ausgleichungen den Weg der Verauktionierung eingeschlagen, d. h. die Bauern, die eine bessere Bodenqualitat erwerben wollten, mußten im Wege der Auktion eine größere Menge von ihrem qualitativ schlechteren Boden dafür hergeben oder statt dessen Barleistungen bieten. Diese Methode der Ausgleichung führte jedoch in vielen Fällen zu sehr unwirtschaftlichen Tauschgeschäften, welche die Bauern schwer schädigten. Eine weitere große Schwierigkeit für die Durchführung der Reform in Weißrußland erwuchs daraus, daß hier ein bedeutender Prozentsab der Bauern ihren Privatbesitz im Gemenge mit dem Anteil- land hatten und bekanntlich der Privaibesik erst nach dem Gesek vom 29. Mai 1911 in die Auseinandersekungsarbeiten mit hinein- gezogen werden durfte. Es ergaben sich natürlich Reibungen zwischen den Privatibesikern und Gemeinden, wodurch die Reform- arbeit sehr erschwert wurde.

Diese Schwierigkeiten, die in der praktischen Arbeit entstanden

492

und vom Gesek nicht vorausgesehen werden konnten, waren voll- kommen von der Arbeitsfähigkeit der Lokalkommissionen abhängig. Durch eine gewisse Vorsicht und Geschicklichkeit konnten alle diese Streitigkeiten auf friedlichem Wege erledigt werden.

2. Derbäuerliche Bodenerwerb.

In einem der vorhergehenden Abschnitte ist bereits auf die Mo- bilisation des Bodenbesig§es in Weißrußland bis zum Jahre 1905 hin- gewiesen worden. Die Mobilisation ging aber viel stärker in den Jahren nach der Agrarreform vor sich, da sie durch die Tätigkeit der Bauernbank begünstigt wurde.

Die im Jahre 1883 gegründete Bauernbank hatte zwar bereits zur Zeit ihrer Entstehung offiziell die Aufgabe zugewiesen erhalten, den Bauern die Möglichkeit zum Bodenankauf zu geben. In der Praxis jedoch verfolgte sie Ziele nach einer ganz anderen Richtung hin. In dem Sammelbericht der Bauernbank über ihre Tätigkeit in den Jahren 1883— 1904 finden wir unter anderem auch die folgende Motivierung ihrer Gründung: erstens, daß diese Maßnahme dazu geeignet sei, den ‚phantastischen Träumereien“ von einer zweiten, ergänzenden Landaufteilung, die bis heute in den Köpfen der Bauern spukt, ein Ende zu bereiten, und zweitens, um den Mittel- und Groß- grundbesikern zu einer „vorteilhaften Liquidation ihres Besitzes zu verhelfen“. Außerdem erstrebte die Regierung mit Hilfe der Bank, große Güter des polnischen Adels in den Wesigebieten anzukaufen, um dieselben später unter die örtlichen russischen Regierungs- beamten zu verteilen und auf diese Weise einen rein russischen Großgrundbesiß in den polnischen Gouvernements zu schaffen und damit „die Ordnung im Lande zu sichern“).

Dies also waren die Tendenzen der Tätigkeit der Bauernbank, und in diesem Geiste, im Interesse des Adels und somit bisweilen im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Bauernschaft wurde sie bis zum Jahre 1905 geleitet. Bis dahin hatte nur eine beschränkte Anzahl von wohlhabenden Bauern die Möglichkeit, den Kredit der Bauern- bank in Anspruch zu nehmen. Im Laufe von 22 Jahren (1883— 1904) wurden von den weißrussischen Bauern mit Hilfe der Bauernbank folgende Käufe getätigt: 1427,9 Tausend Deßj. insgesamt, davon: Minsk 44,3 Deßj., Witebsk 144,2 Deßj., Mohilew 418,2 DeBj., Smolensk 420,2 Deßj.), von denen nur 20% auf die ärmere Schicht der Bauern- schaft fielen.

Im November 1905, als die Befugnisse der Bauernbank er- weitert wurden, begann sie tatsächlich eine lebhafte Tätigkeit. Sie kaufte große Bodenmengen bei den verarmten Gutsbesikern an, um sie später an die Bauern zu verkaufen. Zwar erwuchs durch diese großen Bodenankaufe der Bauernbank den Gutsbesikern wiederum ein Vorteil, insofern, als die Bodenpreise dadurch eine Er-

5) Diese Bestrebung der Regierung ist in der Tat in den polnischen Gouvernements zum Teil erreicht worden.

495

höhung erfuhren, was wir später noch sehen werden; aber nichis- destoweniger hat sich die Bauernbank der Bauernschaft gegenüber große Verdienste erworben. Dank der Erleichterung der Kredit- gewährung und infolge ähnlicher Maßnahmen zugunsten der Bauern- schaft, gelang es den Bauern, größere Bodenflächen zu erwerben.

Im Vergleich mit anderen Gouvernements war die Tätigkeit der Bauernbank in Weißrußland nicht besonders rege. Dies kann man folgendermaßen erklären: Erstens war hier der Prozentsatz des zum Verkauf stehenden Bodens aus den in einem vorherigen Kapitel er- wähnten Ursachen bedeutend niedriger als in den übrigen Gouver- nements, und zweitens zogen es hier die polnischen Gutsbesiker- Bodenverkäufer vor, ihren Boden direkt an die Bauern oder Bodenspekulanten ohne Vermittlung der Bauernbank zu verkaufen. Der Verkauf an die Bauernbank war für sie (abgesehen von dem nationalen sowie wirtschaftlichen Standpunkt) nicht lohnend genug. Zunächst, weil durch die damit verbundenen Formalitäten der Ge- schäftsabschluß sich lange verzögerte, und ferner, da sie bei pri- vatem Verkauf an Spekulanten höhere Preise und Barzahlung er- zielen konnten. Sehr charakteristisch für die Einstellung der Boden- verkäufer ist folgende Stelle aus dem Vortrag des Vorsikenden des „Gouvernement-Komitees für Landwirtschaft“ in Mohilew, N. A. Latz:

„Die Mehrzahl der Gutsbesiker vermeidet es, ihre Güter un- mittelbar an die Bauern oder selbst durch die Vermittlung der Bauernbank zu verkaufen. Sie bevorzugt vielmehr den Verkauf durch Bodenspekulanten und Bodenhandler, die sozusagen den „ganzen Saft aus dem Boden aussaugen“, bis endlich der Boden an die Bauern selbst gelangt... Die Bauernbank ist eine Regierungs- institution und vielleicht allzu stark Regierungsinsfifufion.“ (Materialien der ,,Ortskomitees für Landwirtschaft“, Petersburg 1903, Band 22.)

Auf diese Weise konnte die Bauernbank kaum 50% der durch die Bauern gemachten Bodeneinkäufe vermitteln. Insgesamt wurden in den Jahren 1906—1915 durch die Bauernbank in Weißrußland fol- gende Bodenflächen an die Bauern verkauft: Minsk 261,5 Tausend Deßj., Witebsk 124,4 Tausend Deßj., Mohilew 321,2 Tausend Deßj., Smolensk 408,9 Tausend Deßj. 1116,9 Tausend Deßj. Es sind also während des Jahrzehnts 1906—1915 ganze ¼ derjenigen Bodenfläche, die in den vorhergehenden 22 Jahren (1883— 1904) durch die Bauern- bank gegangen ist, durch sie vermittelt worden, was auf die wach- sende Aktivität der Bauernbank schließen läßt.

Wie verteilten sich nun diese Bodenankäufe in Weißrußland unter den verschiedenen Schichten der Bauernbevölkerung ?

Nach den Berichten der Bauernbank beteiligten sich auch jebt in der Regel die besser situierten Schichten des weißrussischen Dorfes am Bodenkauf. Dies können wir erstens an Hand der Angaben über die Größe der gekauften Grundstücke ersehen. Ankäufe von Grund-

494

stücken bis zu 10 Deßj. bildeten nur 23%, während solche von 10—40 Deßj. etwa 40% der Gesamtzahl der Kaufoperationen ausmachten. Ferner waren die Käufer durchweg mit Arbeitsvieh und eigenen Ar- beitskräften verhältnismäßig gut versorgt. So z. B. hatten 29,3% der Käufer 1 Arbeitstier, 38,3% 2 Arbeitstiere und 26,5% sogar mehr als 2 Pferde. Der Prozentsatz der pferdelosen Bodenkaufer bildete nur 5,9% der Gesamtzahl der Käufer. Dasselbe Verhältnis stellen wir auch bezüglich der Zahl der eigenen Arbeitskräfte fest. Durch- schnitilich kamen auf je eine Wirtschaft des Käufers 3,4 eigene menschliche Arbeitskräfte, d. h. daß sich hauptsächlich diejenigen Wirtschaften am Ankauf beteiligten, die sowohl mit menschlichen als auch mit tierischen Arbeitskräften reichlich versehen waren. Der landarme oder landlose Bauer hatte nach wie vor nicht stets die Möglichkeit, Boden zu kaufen. Nur in den ersten Jahren nach der Agrarreform (1906—07) ist eine Beteiligung auch seitens der armen Schichten des Dorfes zu bemerken, später jedoch verringert sich diese Beteiligung von Jahr zu Jahr. So sehen wir z. B., daß, wäh- rend in den Jahren 1905—07 die landlosen und die landarmen Wirt- schaften (bis zu 3 Deßj. pro Wirtschaft) 62,5%, die mittleren Wirt- schaften (bis zu 9 Deßj. pro Wirtschaft) 29,3% und die reichen Wirt- schaften (mehr als 9 Deßj. pro Wirtschaft) 82% der Gesamtzahl der Käufer bildeten, im Jahre 1909 die landlosen und landarmen Wirt- schaften nur noch 20,9% ausmachten, dagegen stieg der Prozentsatz der mittleren Wirtschaften auf 52,7% und der der reichen Wirt- schaften auf 26,4% (die durchschnittliche Größe des Bodenbesikes aller Käufer betrug in diesem Jahre 8,3 Deßj. pro Wirtschaft). Im Jahre 1913 stieg der Prozentsatz der bodenreichen Wirtschaften noch höher, nämlich auf etwa 37% der Gesamtzahl der Käufer.

Was nun die Bodenpreise anbetrifft, so waren diese in Weib- rußland erheblich höher als im übrigen Rußland. Besonders schnell- ten sie nach der Agrarreform in die Höhe, nachdem die Bauernbank intensiv zum Bodenankauf geschritien war. Zur Hlusfration seien fol- gende Zahlen angeführt:

Wenn wir den Bodenpreis pro DeBj. in den Jahren 1854— 1858 als 100 annehmen, dann ergibt sich folgende Steigerung®):

Witebsk Smolensk

Mohilew

Also, während zu Beginn der Banktätigkeit (1883) die Boden- preise seit der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht einmal um das Doppelte gestiegen waren, haben sie 1909 fast das Siebenfache er-

e) In absoluten Zahlen ausgedrückt, war der Bodenpreis pro Deßj. in Weißrußland zu Beginn der achtziger Jahre: Minsk 38 Rub., Mohilew 28 Rub., Smolensk 39 Rub. usw.

495

reicht (durchschnittlich für Weißrußland). Besonders stark gestiegen sind die Preise bei Ankäufen bis zu 10 Deßj. (die Ankäufe seitens der armen Schichten des Dorfes). Sicherlich spielten bei der Stei- gerung der Bodenpreise noch andere Momente mit wie die allge- meine Preissteigerung, jedoch ist diese Erscheinung hauptsächlich auf die starke Kauftätigkeit der Bauernbank zurückzuführen:

Es wurde bereits betont, dak die Bodenverkäufer meist den Reihen der Gutsbesigfer entstammiten. Es traten jedoch auch die Bauern als Verkäufer auf den Markt und besonders diejenigen Bauern, die zwar einer Dorfgemeinde angehörten, aber in der Tat nicht mehr im Dorfe lebten. Durch die Stolypinsche Agrarreform war ihnen die Möglichkeit gegeben, aus der Dorfgemeinde auszu- scheiden und dennoch ihren Bodenanteil zugeteilt zu bekommen. Sie verkauften nun diesen Boden. Dasselbe war auch bei den auswan- dernden Bauern der Fall. Es haben in den Jahren 1907 1917 über eine Million Bauern eine Bodenflache von 3% Millionen Deßj. ver- kauft, wobei auf jeden Verkauf durchschnittlich 3% Deßj. kamen. Mit anderen Worten: Es verkauften ihren Boden nur die ganz armen Schichten der Bauernschaft, die ihn infolge der obenerwähnten Ur- sachen nicht bestellen konnten oder wollten.

3. Die Ubersiedlung nach Sibirien.

Die Ubersiedlung aus den weißrussischen Gouvernements nach Sibirien setzte bereits in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhun- derts ein. Im Jahre 1897 wanderten aus den weißrussischen Gouver- nements 9750 Personen (beiderlei Geschlechts) (Minsk 916, Witebsk 3490, Mohilew 3602, Smolensk 1742) nach Sibirien aus. Die Aus- wanderungsbewegung stieg in den folgenden Jahren in stärkerem Maße. Leider gibt es außer den Unterlagen über Reisepässe der Auswanderer keine anderen ziffernmäßigen Angaben, die uns Auf- schluß über den Umfang der Auswanderung geben könnten. Jeden- falls steht fest, daß die Zahl der nach Sibirien ausgewanderten weiß- russischen Bauern nach der Stolypinschen Agrarreform erheblich ge- stiegen ist. So z. B. betrug die Zahl der Ubersiedler aus dem Gouv. Mohilew im Jahre 1908 7,6% aller Ubersiedler nach Sibirien. Ins- gesamt wanderten aus Weißrußland im erwähnten Jahre 105,6 Tausend Seelen (etwa / der Gesamtzahl) nach Sibirien aus. Laut amtlichen Angaben wanderten aus den vier weißrussischen Gouvernements von 1896—1915 nach Sibirien 642 Tausend Seelen aus, oder 13,9% der Gesamtzahl der Übersiedler (4650 Tausend).

Vergleichen wir nun die Ergebnisse der Auswanderung aus Weißrußland mit denen anderer Gebiete Rußlands, so stellen wir eine stärkere Emigration aus Weißrußland fest. So zählen wir im zentral- russischen Industriegebiet (6 Gouvernements) nur 66 Tausend, im Schwarzerdgebiet (ebenfalls 6 Gouvernements) 266 Tausend Emi- granten. Nur die Ukraine übertraf die weißrussische Auswanderung nach Sibirien um 200 Tausend Köpfe.

496

C. Das weißrussische Dorf nach der Agrarreform.

Wenn man das gesamte Ergebnis der Agrarreform in Weißruß- land zusammenfaßt, so muß man einsehen, daß diese Reform eine sehr große Bedeutung ftir die Entwicklung der weißrussischen Land- wirtschaft im allgemeinen und der der bauerlichen im besonderen ge- habt hat. Diese Bedeutung war jedoch mehr prinzipieller als okono- mischer Art. Die Agrarreform schlug sozusagen die Briicke zu einer neuen Basis für die gesamte Volkswirtschaft in Weißrußland, die Bauernfrage im großen und ganzen zu lösen jedoch vermochte sie nicht.

Die armere. Schicht der Bauernschaft hat durch die Agrarreform kaum eine Besserung ihrer Verhältnisse erfahren”), wenn wir die Verkoppelung der Streubesike in Chutor und Otrub nicht berück- sichtigen. Das Recht zur Ausscheidung aus der Dorfgemeinde wurde fast nur von demjenigen Teil der Bauernschaft ausgeübt, der scinen Besitz im Dorfe hatte, aber selbst dort nicht mehr wohnte, oder auch von denjenigen Dorfbewohnern, die im Begriff waren, auszu- wandern. Diese Schichten der Bauernschaft schieden aus der Dorf- gemeinde aus, nicht um die Möglichkeit zur intensiven Bewirtschaf- tung ihres Bodens zu erlangen, sondern um ihre ihnen zugeteilten Anteile zu verkaufen. Diese Erscheinung tritt klar bei der Feststel- lung zutage, daß in der Gesamtzahl der am Bodenverkauf beteiligten Bauern 53% derjenigen enthalten sind, die aus der Dorfgemeinde ausgetreten waren. Das selbe finden wir auch bei den ausgewan- derten Bauern. Fast 58% von diesen bildeten die aus der Dorf- gemeinde Ausgeschiedenen, d. h. also, daß ihr Austritt aus der Ge- meinde nur zum Zwecke des Verkaufs des ihnen zugeteilten Bodens geschah. Zieht man außerdem in Betracht, daß die Feldgemeinschaft in Weißrußland (auger Gouv. Smolensk) schon seit jeher nur eine offizielle, aber keinesfalls praktische Bedeutung gehabt hatte, so muß man einsehen, daß die Zerstörung der Dorfgemeinde für die weißrussischen Bauern keine wesentlichen Erfolge haben konnte, und für diejenigen Bauern, die noch auf ihrer Scholle blieben, schon ganz und gar nicht. Dabei ist noch zu bemerken, daß die Zahl der Bauern, die den Austritt aus der Dorfgemeinde beantragt hatten, im fort- währenden Sinken begriffen war. So haben z. B. in den Jahren 1911 bis 1915 die Bauern viel weniger Anträge zum Austritt aus der Ge- meinde gestellt als in dem einen Jahre 1908.

Betrachten wir die Wirkung der Agrarreform auf das Gedeihen der bäuerlichen Wirtschaften und den damit verbundenen Wohlstand des Dorfes. Im allgemeinen ist ein gewisser Aufschwung in der weißrussischen Landwirtschaft nach der Agrarreform festzustellen. Das Wirtschafissystem der bäuerlichen Landwirtschaft änderte sich und erfuhr eine wesentliche Verbesserung. Die bäuerliche Wirtschaft

7) Prof. Auhagen charakterisiert dies durch den unter den russischen Bauern sehr verbreiteten Volksausspruch: „Die Reform ist gut für die Großen, aber schlimm für uns, die wir nur einige Deßjatinen besitzen.“ („Rußlands Kultur und Volkswirtschaft“, Berlin 1919.)

497

hörte auf, reine Bedarfsdeckungswirtschaft zu sein und begann all- mählich, sich den Marktverhältnissen anzupassen. Eine steigende Intensivierung der Landwirtschaft ist selbst in den ärmsten Wirt- schaften festzustellen, eine Intensivierung, die besonders in besserer und planmäßigerer Viehhaltung, wie wir noch später sehen werden, zum Ausdruck kam. Aber auch in der reinen Landwirtschaft hat sich die Intensivierung bemerkbar gemacht. Es stieg die Größe der Saat- fläche von 1899—1913 um 4%, von 1913—1916 um weitere 12%.

Zwar nahm auch nach der Agrarreform der Roggenanbau, der fur den eigenen Konsum bestimmt war, fast die Hälfte der Saatflache (von 46—49,3%) ein, jedoch machte sich auch ein wachsender Anbau von Handelskulturen (Flachs u. a. m.) bemerkbar.

Der Kartoffelanbau wurde eifrig betrieben, nicht nur des Brot- ersabes wegen, wie es früher der Fall gewesen war, sondern auch zwecks Verkaufs auf dem Markt, wobei man die überflüssigen Ar- beitskrafte zu beschäftigen suchte’). Es stieg die Höhe des Ernie- ertrages. So z. B. bekommen wir, wenn wir die Bodenertrage pro Deßj. in den Jahren 1883—1900 als 100 annehmen, für die Jahre 1911 bis 1915 folgende Zahlen:

Kulturen Minsk Witebsk Mohilew | Smolensk Roggen 188 154 150 155 Hafer 155 115 117 115 Weieen 155 118 145 Gerste ........ 154 115 156 150

Es stieg auch die Heuernte im Jahre 1913 im Vergleich zu 1901 bis 1905 (Minsk um 0,1%, Mohilew 1,1%, Smolensk 3%), obwohl die Wiesenflache sich verkleinert hatte. Witebsk bildete eine Aus- nahme, da dort das Wiesenland im Jahre 1913 um 5,5% verkleinert wurde, und deswegen ist die Heuernte (allerdings nur um 2,6%) ge- sunken. Vergleichen wir jedoch den Zuwachs der Bevölkerung mit dem Wachsen der bäuerlichen Wirtschaft, so sehen wir überall, daß die Bevölkerung viel rascher wuchs, als es der Fortschritt der Wirt- schaft erlaubte. Mit jedem Jahre wuchs die Zahl der Wirtschaften, es vergrößerte sich auch die Zahl der Arbeitskräfte, es stieg der Grad der Bedürfnisse des Dorfes usw. Laut den Angaben vom Jahre 1916 bestanden in Weißrußland 1017,9 Tausend bäuerliche Wirtschaften mit einer Saatflache von 3972,2 Tausend Deßj. (90,8% der gesamten Saatflache), d. h. also, daß mehr als 90% des anbaufähigen Bodens durch die Bauernschaft bestellt wurde (das bäuerliche Pachtland in-

8) Laut einer späteren Untersuchung von F. Dzerzinski stieg der Kar- foffelanbau in Weißrußland in den Jahren 1906-1910 gegen den der Jahre 1893—1905 um 32,7%. („Aus der Volkswirtschaft der Union der S. S. S. R.“ Berlin 1924). Der Kartoffelüberschuß ging hauptsächlich in die Spiritus- produktion, etwa 21 Millionen Pud (oder 14%) im Jahre 1909/1910.

498

begriffen). Pro bäuerliche Wirtschaft jedoch kamen nicht mehr als 3—4 DeBj. (Minsk 3,5, Witebsk 4,8, Mohilew 3,8, Smolensk 3,8 Deß;j. pro bauerliche Wirtschaft durchschnittlich) Ackerland und etwa 1,5 DeBj. Wiesen- und Weideland, was bei 5—6 Essern pro Wirt- schaft als sehr kleiner Anteil angesehen werden muß. Ziehen wir noch in Betracht, daß etwa 18% der bäuerlichen Wirtschaften pferde- los waren und pro Wirtschaft nur 1,28 Stück Arbeitsvieh kam (nach der Zählung von 1916 waren in Weißrußland 1308,7 Tausend Arbeits- pferde und -ochsen), so sehen wir, daß die Lage des Dorfes durch- schnittlich keinesfalls besser wurde, sondern sich sogar verschlim- merte (1880 kamen etwa 2,1 Pferde pro Wirtschaft).

Trog§dem der Haushalt des Bauern dürftig war, seine Haupt- nahrung sich auf Schwarzbrot, Kartoffeln und Gemüse beschränkte, seine Kleidung einfach und billig war, fiel es ihm sehr schwer, sich die Mittel selbst zu einer so bescheidenen Existenz zu beschaffen. Es nimmt daher auch nicht wunder, wenn man sowohl vor als auch nach der Agrarreform in der weißrussischen Bauernschaft die Be- strebung findet, neue Erwerbszweige zu suchen, um ihre Existenz zu verbessern.

Kapitel 5. Bäuerliche Nebenerwerbszweige in Weißrußland.

Das Bild vom Leben und Wirken der weißrussischen Bauern wäre unvollständig, wenn man die Nebenerwerbszweige, die eine un- geheuer große Rolle in ihrem Leben spielten, unberücksichtigt lassen würde.

Die Nebenerwerbszweige der Bauern lagen auf dem Gebiete der häuslichen oder Gelegenheits-Arbeiten, die außerhalb des Dorfes verrichtet wurden. Zu den häuslichen Nebenerwerbsarten gehörte die Tier-, Vieh- und Geflügelzucht®), die Hausindusirie und dergl. mehı. Unter Gelegenheitsarbeiten sind zu verstehen: Landwirtschaftliche Tagelöhnerarbeit und Wandergelegenheitsarbeiten.

1. Tier-, Vieh- und Geflügelzucht.

Weißrußland gehörte zu den vieharmen Gebieten Rußlands. In- folge des geringen Prozentsaßes Ackerland war der weißrussische Bauer gezwungen, sein ganzes Ackerland mit Brotgetreide zu bestellen. Viehfutter wurde daher wenig angebaut. Der weiß-

_ 4) Ich setze die Viehzucht unter die Rubrik „Nebenerwerbszweige“, da dieser landwirtschaftliche Erwerbszweig in Weißrußland fast bis in die leb- ten Vorkriegsjahre als Haupierwerbszweig kaum angesehen werden kann. Die bäuerliche Viehhaltung war hier überwiegend eine Arbeitsviehhaltung, oder diente der Deckung des Bedarfs an Milch und Fleisch. Auf dem Markte wurde nur eine ganz geringe Menge abgeseßt.

499

russische Bauer stand, wie erwähnt, außerdem auf einer sehr niedri- gen kulturellen Entwicklungsstufe, und es fehlte ihm die Bildung und Erfahrung des westeuropäischen Bauern, um die Viehzucht rentabler zu gestalten. Das Hauptfutter bestand aus dem als schlecht bekannten Gras des weißrussischen Landes. In den Sommermonaten weidete das Vieh auf den. sumpfigen Weideflächen oder in den Wäldern, im Winter wurde es mit trockenem Stroh und Heu gefüttert.

Infolge der schlechten Qualität des Futters gedieh das Vieh, insbesondere die Kühe, die hier ,,Goremyéka“ = Armselige genannt wurden, sehr schlecht. Nur auf den Gutshöfen konnte man bessere, ausländische Vieharten antreffen.

Betrachten wir nun die Entwicklung der weißrussischen Viehzucht ın Zahlen. Die Zahl des Hornviehes ist bei der Dorfbevölkerung vom Jahre 1883—1913 absolut um etwa 80% gestiegen (Minsk 115,1%, Witebsk 45,9%, Mohilew 78,2%, Smolensk 84,3%). Dieselbe Erschei- nung sehen wir auch bei der Pferdehaltung. Wir finden einen Pferde- zuwachs in den bäuerlichen Wirtschaften zur selben Zeit um etwa 30% (Minsk 55,6%, Witebsk 207%, Mohilew 21,9%, Smolensk 26,1%). Auch in der Schweinezucht können wir einen Zuwachs von etwa 30% durchschnittlich konstatieren (besonders stark war der Zuwachs im Gouv. Smolensk). Etwas anders ist es mit der Schafzucht?). Hier können wir sogar eine absolute Verminderung feststellen. So z. B. zählte man im Gouv. Minsk im Jahre 1900 785 Tausend Stück, wäh- rend im Jahre 1913 nur noch 634 Tausend Stück gezählt wurden. Im Gouv. Witebsk verringerte sich die Zahl der Schafe vom Jahre 1900 bis 1913 von 618 Tausend auf 476 Tausend, Smolensk von 890 Tausend auf 629 Tausend Stück usw.

Diese Verminderung ist vielleicht auf die Einführung von inten- siven Wirtschaftsformen im Ackerbau zurückzuführen, die fur die Schafhaltung ungünstig sind.

Dieses Steigen der Viehhaltung in Weißrußland war nur absolut, relativ jedoch (d. h. zum Bevölkerungszuwachs) sehen wir ein fort- währendes Sinken des Viehbestandes im Dorfe. Zur Illustration sei die nachstehende Tabelle angeführt.

Wir sehen also daraus, daß mit jedem Jahre der Viehbestand pro Kopf der Dorfbevölkerung geringer wurde.

Im Vergleich mit den Verhältnissen im gesamten europäischen Rußland konstatieren wir, daß dieses Gebiet sehr arm an Vieh war. Nur die Schweinezucht war mehr verbreitet als in Gesamtrußland. So z. B. kamen im europäischen Rußland 1915 auf je. 100 Köpfe der Dorf- bevölkerung 22 Pferde, 34 Stück Hornvieh, 53 Schafe und 10 Schweine.

Außer der Viehzucht wurde in Weißrußland auch Geflügel- und Bienenzucht getrieben. Auch der Fischfang bildete eine Einnahme- quelle, besonders in den wasserreichen Gegenden.

2) In der Zahl der Schafe sind auch Ziegen inbegriffen, die in Weiß- rußland eine ganz erhebliche Zahl ausmachten. Der Ziegenmilch wegen war diese „Kuh des armen Mannes“ in Weißrußland sehr verbreitet.

500

Es kamen auf je 100 Köpfe der ioe

Gouv. Viehart 1900 |1910 | 1918 1915

Minsk bd 2 15 42 37

40

Witebsk 2 5 18 35

, 75 = 44

Mohilew 20 20 50 29

38 65

Smolensk | Pferde........... g | 20 | 294 | o4 | 2Jꝗ Hornvieh.... ..... 46 40 35 55 29

Schafe und Schweine ....t 8 61 45 49 45

2. Die Hausindustrie.

Der zweite häusliche Nebenerwerbszweig erstreckte sich auf die Hausindustrie oder die sogenannten „Kustargewerbe“. Die Haus- industrie ermöglichte den Bauern die Ausnubung der für die Land- wirtschaft ungeeigneten Wintermonate. Gerade in Weißrußland, wo die Industrie sehr schwach entwickelt war, konnten die Hausindustrie- fabrikate guten Absaß finden.

Der Hauptzweig der Hausindustrie in Weißrußland war die Holz- verarbeitungsindusirie. Der weißrussische Bauer schnitte aus Holz verschiedene haus- und landwirtschaftliche Geräte, wie auch Spiel- zeug und dergl. Aus der Baumrinde verfertigte er Schachteln, Büch- sen und dergl. Dinge mehr, aus den Weidenruten flocht er Körbe, Stühle usw. Auch die Frauen beteiligten sich sehr eifrig an dieser Arbeit. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit Spinnen, Weben und Stricken aus Flachs und Wolle. Sehr verbreitet war auch die Lehm- und Erdindustrie, z. B. Ziegeleien und Töpfereien.

Die im Hause verfertigten Gegenstände brachte der Bauer auf den Markt der benachbarten Städte, der allwöchentlich an einem be- stimmten Tage stattfand. Außer dem Wochenmarkt (Kermasch = „Kirmes“] fanden in den größeren Städten auch Jahrmärkte (,,Jar- mark“) statt, die ihre speziellen Bezeichnungen nach den Warenarten führten, z. B. Holzmarkt, Topf- und Ziegelmarkt u. a. m.

Die Zahl der damals in der Hausindustrie beschäftigten Personen ist leider sehr schwer festzustellen. Alle diesbezüglichen Zahlen ın der russischen Statistik sind nur schätzungsweise angeführt.

In Weißrußland ist die Lage noch weniger erforscht worden als in anderen Gebieten. Aus den wenigen Materialien, die uns zur Ver- fügung stehen, ist zu ersehen, daß im Gouv. Minsk im Jahre 1890 etwa 20000 Kustare fast nur männlichen Geschlechts registriert

501

worden sind. Diese sind in 25 Arbeitsgruppen verteilt, was auf eine schwache Gliederung der Arbeitsgruppen und auf einen primitiven Stand der Arbeitsteilung in der weißrussischen Hausindusirie hin- weist. Derselbe Kustar, der die Felge herstellt, verfertigt auch die Speichen, wie auch das Rad und zuletzt den ganzen Wagen. Aus den obenerwahnien Materialien ist zu ersehen, daß, je kleiner das bäuerliche Anteilland in einem Kreise, desto größer der Prozentsak der in der Hausindustrie Beschäftigten war.

Der Verdienst einer Person in der Hausindusirie war sehr gering In manchen Fällen beitrug er nicht mehr als 15—20 Rubel jährlich. So z. B. bekam der Bauer für einen Holzlöffel nicht mehr als 2 Kopeken + (etwa 5 Pfennige), während die Arbeit dafür mindestens eine Stunde in Anspruch nahm. Höher war der Arbeitslohn der Möbeltischler und Stellmacher, deren Verdienst oft bis zu 20 Rubel monatlich beitrug.

Im Gouv. Witebsk waren zur selben Zeit 2232 bäuerliche Wirt- schaften in der Hausindusirie beschäftigt. Hier waren dieselben Zweige wie im Gouv. Minsk verbreitet (68% entfielen auf die holz- verarbeitende Hausindustrie und 20% auf Topfercien). Außerdem war hier auch die Herstellung von Kähnen verbreitet. Hier ist auch eine große Zahl von „hauslosen“ Kustaren festzustellen, d. s. solche Heimarbeiter, die durch die Dörfer wanderten und ihren Beruf unter- wegs ausübten (hauptsächlich Schneiderarbeiten). Der Verdienst eines Kustaren machte hier etwas mehr als im Gouv. Minsk aus, nämlich durchschnittlich 28 Rubel jährlich.

Dieselben Ergebnisse gelten auch für die Gouv. Mohilew und Smolensk, wo jedoch die absolute Zahl der Kustaren bedeutend höher war.

In den letzten Jahren ist eine gründliche Erforschung der Haus- industrie durch Prof. Rybnikow erfolgt („Die Hausindustrie Ruß- lands“, Moskau 1924), dessen Angaben das Gouv. Minsk im Jahre 1900 und die übrigen Gouvernements im Jahre 1910—1912 betreffen.

Es waren nach Rybnikow in der Hausindustrie beschäftigt:

der | Minsk | Witebsk | Mohilew | Smolensk | Zusammen Holz- verarbeitung 2117 2101. 9655 24862 Textil- verarbeitung 582 26 1235 5595 Fell-u. Haut- verarbeitung 145 1282 655 4168 Mineral- verarbeitung 916 1475 1192 5585 Metall- verarbeitung 1422 655 2855 Sonstige Zweige 6 115 Insgesamt . 5758 6256 19770 18872 45156

502

Diese Angaben sind zwar nicht ausreichend, so z. B. fehlen hier solche Zweige wie die Herstellung von Acker- und Pfluggeräten oder Fischnefen, die bekanntlich in den weißrussischen Gouverne- ments sehr stark verbreitet war (die Herstellung von Acker- und Pfluggeräten war besonders stark in den Gouv. Minsk und Mohilew verbreitet, Fischnebe stellte man im Gouv. Witebsk her), jedoch kann man sich eine mehr oder weniger klare Vorstellung über den Bestand und die Entwicklung der weißrussischen Hausindustrie machen.

Die Regierung kümmerte sich lange Zeit überhaupt nicht um die Hausindustrie. Erst nach der Agrarreform von 1906 trat auch hierin eine Änderung ein. Die Regierung gewährte den in der Hausindustrie Beschäftigten eine Unfersfützung von 1% Millionen Rubel, auf fünf Jahre (1909—1913) verteilt. Es wurden Lehrwerkstätten eröffnet, außerdem wurden von der Regierung verschiedene Handbücher und Musteralben zur Verbesserung der Arbeitsgeräte der Heimarbeiter herausgegeben. Im Jahre 1913 wurde mit Hilfe der Regierung eine Heimarbeitsausstellung veranstaltet. Die Hilfe der Regierung jedoch war im Verhältnis zu der notwendigen Unterstükung sehr gering, was sie selbst zugab. So z.B. lesen wir in der offiziellen Denk- schrift der Regierung von 1914:

„Die Ausgaben für die amtliche Unterstüßung der Heimarbeiter, damit sie ihren Plak im Wirtschaftsleben des Landes neben der Fabrik behaupten können, sind groß und erst kaum berührt.“

In erster Reihe benötigte die Hausindustrie Kredite, die ihr die Regierung nicht gewährt hatte, zweitens war die Aufgabe der Re- gierung, den Absa der Erzeugnisse zu organisieren, was auch nicht getan wurde. In den lebten Vorkriegsjahren kam die Hausindusirie in immer stärkeren Verfall, in der Hauptsache durch die stark an- wachsende Industrie Rußlands, wie auch durch die Entwicklung des Handels mit dem Auslande, wodurch viel billigere Waren besserer Qualität die Fabrikate der Hausindustrie verdrängten, so daß viele der „Kustari“ gezwungen waren, ein neues Gebiet für die Ver- wendung ihrer Arbeitskraft zu suchen.

3. Landwirtschaftliche Tagelöhner.

Wie wir in einem der vorhergehenden Abschnitte gesehen haben, war der Großgrundbesik in Weißrußland sehr stark verbreitet. Diese Großbetriebe, die genötigt waren, Arbeitskräfte zu beschäftigen, fanden im weißrussischen Dorfe ein großes Reservoir von solchen. In erster Reihe kamen die landlosen und landarmen Bauern dafür in Frage, die entweder nur mit ihrer eigenen Arbeitskraft oder, was auch vorkam, mit „Pferd und Wagen“ gemietet wurden. Die Ein- stellung dieser Arbeitskräfte trug einen Saisoncharakter und be- schränkte sich zumeist auf eine jährliche, monatliche, wöchentliche und sogar tägliche Frist. In jährliche Dienste gingen die vollkommen landlosen Bauern oder die jungen Knechte und Mägde, die außer Entgelt Freikost und Wohnungen erhielten. Die landarmen Bauern,

505

die eine eigene kleine Wirtschaft hatten, konnten nur wöchentlich, im besten Falle monatlich, ihre Arbeitskraft vermieten. Diese bekamen ihren Lohn bar ausgezahlt und blieben nur tagsüber in der Arbeits- stelle.

Die landwirtschaftlichen Tagelohnerarbeiten waren für die Bauern schon deswegen beguem, weil sie in der Nahe ihrer Heimat- dörfer arbeiten und jederzeit nach Hause zurückkehren konnten. Mit dem Bevölkerungszuwachs stieg auch die Zahl der Tagelöhner und das Angebot der Arbeitskräfte.

Infolge des großen Angebots von landwirtschaftlichen Arbeits- kräften ist der Arbeitslohn außerordentlich gesunken. Aus den An- gaben, die wir in den „Materialien der Kommission zur Erforschung der Notlage der Landwirtschaft‘ vom Jahre 1889 finden, ist zu ersehen, daß in Weißrußland in diesem Jahre der Arbeitslohn eines Land- arbeiters etwa 47 Rubel jährlich betrug (Minsk 45 Rubel, Witebsk 50 Rubel, Mohilew 47 Rubel, Smolensk 46 Rubel). Im Jahre 1903 stand der jährliche Arbeitslohn eines Landarbeiters noch niedriger (viel- leicht infolge der Mißernte dieses Jahres), erst in den le&ten Vor- Kriegsjahren ist eine Steigerung des Arbeitslohnes festzustellen („Der Finanzbote“, Nr. 23, 1903).

Dabei ist zu bemerken, daß die oben gebrachten Zahlen fur den Durchschnitt des jährlichen Arbeitslohnes hauptsächlich aus den An- gaben der Gutsherren selbst stammen, in Wirklichkeit jedoch stand der Arbeitslohn noch niedriger. Diese Annahme bestätigt auch P. Maslow („Die Agrarfrage in Rußland‘), der die Angaben der Bauern nennt, wonach der jährliche Arbeitslohn um 5—6 Rubel niedriger war als nach Angaben der Gutsherren. Aber nehmen wir an, diese Zahlen seien richtig, so reichte diese Summe dennoch keinesfalls als Existenzminimum einer Person in der damaligen Zeit. Als notwendige Summe zur Erhaltung der physischen Existenz einer Person und Aufrechterhaltung der kleinsten Wirtschaft wurden von F. Schtscherbina („Die Bauernbudgets') 53,79 Rubel jährlich für einen landlosen Bauern genannt, wovon 33,78 Rubel zur Deckung seiner persönlichen und 20,01 Rubel für die Bedürfnisse der Wirt- schaft gerechnet wurden.

Ziehen wir noch in Betracht, daß die Lebenshaltung in Weißruß- land etwas teurer war als im übrigen europäischen Rußland infolge der Abhängigkeit Weißrußlands vom Brotimport®), so werden wir verstehen können, wie weit die Entlohnung der weißrussischen Land- tagelöhner vom realen „standard of life“ abwich.

4. Wandergelegenheitsarbeiten.

Der Überschuß an Arbeitskräften zwang die Bauernschaft, aus ihren Heimatdörfern auszuwandern und sich nach den entlegenen

) Die Brotpreise stiegen in Weißrußland von 0,53 Rubel pro Pud im Jahre 1895 auf 1,30 Rubel im Jahre 1907 und 1,27 Rubel im Jahre 1908. In den lekten Vorkriegsjahren ist der Brotpreis wieder um etwa 20% zurück- gegangen.

504

Ländern und Gouvernements auf die Arbeitssuche zu begeben. Diese Art der Arbeitssuche in der Fremde, die in Rußland unter dem Namen „Otchozyje promysly“ (d. h. auswärtige Arbeiten) bekannt war, um- faßte Tausende und Abertausende von weißrussischen Bauern. Sie verließen ihre Heimatdörfer und begaben sich scharenweise in weit entfernte Gouvernements, zogen manchmal auch über die Grenze nach fremden Ländern hin, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Die wandernden Arbeiter schlossen sich oft in „Artels‘‘ zusammen und führten jede Arbeit, die sie unterwegs bekamen, aus, sowohl land- wirtschaftliche, als auch Bau- und Erdarbeiten. Wenigen von ihnen gelang es auch, ständige Arbeit zu finden (die sogenannten „Batraki“), die Mehrzahl jedoch war auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen.

Die Auswanderung aus den weißrussischen Gouvernements rich- tete sich entweder nach dem Osten, in das Schwarzerdgebiet, oder nach dem Westen auf die polnischen Gouvernements. Die Zahl der aus den weißrussischen Gouvernements auswandernden Arbeiter nahm große Dimensionen an. Schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts belief sich ihre Zahl in manchen Gouvernements auf etwa 40% der männlichen Dorfbevölkerung, und in den lebten Vorkriegsjahren hat sie sich nicht verringert‘). Die Zahl der Aus- wanderer vergrößerte sich später dadurch, daß früher nur Männer auf Wanderarbeit gegangen waren und nunmehr auch Frauen sich daran beteiligten. Ebenso begannen auch die Jugendlichen diesen Weg der Arbeitssuche zu gehen. Diese neu hinzugekommene Wander- arbeiterschaft fand in den letzten Vorkriegsjahren eine bedeutend bessere Verwendung ihrer Arbeitskraft als die erwachsenen Männer, da im Laufe der Zeit sowohl die landwirtschaftlichen als auch die industriellen Betriebe in größerem Maße Maschinen benußfen und man sich daher mit der billigeren Arbeitskraft der Frauen und der Jugendlichen begnügen konnte.

Ihren weiten Weg legten die Wanderarbeiter meist zu Fuß zurück. Im Laufe von Monaten durchschritten sie Hunderte und manchmal auch Tausende von Wersten. Obgleich sie jede dar- gebotene Arbeit ausführten, um nicht zu verhungern, lebten sie unter den miserabelsten Bedingungen, immer unterwegs, sich mit der not- dürftigsten Nahrung begnügend. Bei der ungeheuer großen Kon- kurrenz ist es selbstverständlich, daß der Arbeitslohn ein nur sehr geringer war. Manchmal überstieg er nicht 15—20 Kopeken pro Tag. Ziehen wir noch die durch die Wanderung verlorengegangenen Ar- beitstage in Betracht, so sinkt der Lohn auf ein lächerliches Minimum herab. Eine Übersicht über die Menge der verlorenen Arbeitstage

) Laut L. Kirilow („Wanderarbeiten“, Petersburg 1899) nahm Weißruß- land betreffs der Zahl jährlich auswandernder Arbeiter die dritte Stelle im gesamten europäischen Rußland ein. Nach seinen Angaben sollten die weiß- russischen Wanderarbeiter überwiegend nicht direkt in der Landwirtschaft beschäftigt sein. Ferner bezeichnete Kirilow diese Wanderung als „innere EBENE Migration“, welche Bezeichnung meiner Meinung nach nicht mehr zutrifft.

505

gibt uns eine Untersuchung aus dem Jahre 1895, die im Gouv. Cher- son gemacht wurde. Es wird darin fesigestellt, daß von 56500 ein- gewanderten Arbeitern etwa 83,6% den Weg von ihren Heimafs- dörfern hierher zu Fuß zurückgelegt hatten, 13,2% teilweise zu Fuß und bei 3,2% war er unbekannt. Durch den weiten Weg hatten diese Auswanderer insgesamt eine Zahl von 12% Millionen Arbeitstagen verloren, die mindestens eine Summe von 4 Millionen Rubel Arbeits- lohn ausmachten. |

Unterwegs erkrankten viele von ihnen, so daß sich die von der Einwanderung betroffenen Gouvernements gezwungen sahen, Ba- racken und Küchen zu errichten, wobei ihnen die Regierung nur sehr geringe Hilfe leistete.

Ich führe zur Illustration einige Ziffern an: Im Jahre 1898 wan- derten aus dem Gouv. Smolensk 104 724 Bauern aus, wovon 77 265 Manner und 26 459 Frauen waren, im Jahre 1899 wanderten abermals 117000 Bauern aus. Aus dem Gouv. Witebsk gingen im Jahre 1898 19000 Männer und 17000 Frauen auf Wanderarbeit. Aus dem Gouv. Minsk gingen im selben Jahre 6000 Männer auf die Wan- derung aus. Besonders für das Gouv. Mohilew sind genaue Zahlen für die Wanderarbeit vorhanden. Dort führten die Gouverneure eine genaue Statistik auf Grund der ausgegebenen Pässe. So sehen wir, daß im Jahre 1897 im Gouv. Mohilew 25,5 Tausend Bauern als Flößer beschäftigt waren und 15,5 Tausend auf Wanderarbeit in andere Gouvernements gingen. Im Jahre 1899 stieg hier die Zahl der Flößer auf 40 Tausend und die der Wanderarbeiter auf 23 Tausend. Laut den Angaben für das Jahr 1910 ist hier die Zahl der Wanderarbeiter ungeheuer gestiegen. In diesem Jahre waren etwa 145 Tausend Bauern in nichtlandwirtschaftlichen Berufen tätig. Außerdem gingen auf Wanderarbeiten 46 086 Bauern. Auch im Gouv. Witebsk ver- ließen im selben Jahre 42 882 Bauern ihre Heimatsdörfer.

Sehr charakteristisch für die Verhältnisse im Gouv. Witebsk ist auch die Untersuchung aus dem Jahre 1907, bei der festgestellt wurde, daß von den 170 Tausend Bauernwirtschaften etwa 70 Tausend Wirt- schaften oder 115 Tausend Personen in nicht bäuerlichen Berufen tätig waren. Von diesen 115 Tausend Personen waren 41 Tausend Männer und 18 Tausend Frauen „Schwarzarbeiter“ außerhalb des Dorfes, 10 Tausend Floßarbeiter und dergl.

Zwar sind die vorhandenen Materialien nicht systematisch geord- net, jedoch ist aus ihnen zu ersehen, daß die Auswanderung aus dem weißrussischen Dorfe eine gewaltige war. Mit jedem Jahr wurden die Arbeitsmöglichkeiten in Weißrußland geringer im Verhältnis zum Zuwachs der neuen menschlichen Arbeitskräfte, und der weiß- russische Bauer mußte das Dorf verlassen.

Die Auswanderung war oft mit dem Ruin der gesamien Wirt- schaft. verbunden. Viele Bauern verkauften ihr Hausvich, um da- durch die Reisespesen decken zu können. Der Verdienst durch Wanderarbeit reichte nicht einmal dazu aus, die eigenen Lebens- unterhaltskosten notdurftig zu decken, geschweige denn so viel zu

506

erübrigen, um die im Dorfe zurückgebliebene Familie mit versorgen zu können. Das Resultat war, daß jedes einzelne Mitglied einer solchen Familie gezwungen war, selbst auf die Arbeitssuche zu gehen, so daß Unmengen von Familien dadurch zerrissen wurden.

Zusammenfassung.

Aus dem bisher Gesagten ist folgendes zu entnehmen:

Infolge einer Reihe von Ursachen historischer, agrogeologischer und ökonomischer Natur hat sich die wirtschaftliche Lage der weiß- russischen Bauernschaft in der Vorrevolutionszeit anders gestaltet als in den übrigen Gebieten Rußlands. Alle Epochen in der Entwick- lung der russischen Agrarverfassung haben hier infolgedessen einen anderen Verlauf genommen und ganz andere Resultate gezeitigt.

Wir haben gesehen, daß eine große Masse der weißrussischen Bauernschaft unter den polnischen adligen Gutsbesigern lebte und arbeitete. Zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde den Bauern wenig Boden zugeteilt, und selbst dieser war nur sehr schlechter Qualität. Der überwiegende Prozentsatz des Bodens be- fand sich in den Händen des Adels; Staats- und Kronsboden gab es in Weißrußland sehr wenig. Die bodenarmen Bauern führten meist Sonderwirtschaften und hatten nur Wiesen und Weiden, in manchen Fällen auch Wälder gemeinsam. Die ihrem Wesen fremde und nur von oben aufgezwungene Feldgemeinschaft konnte hier nicht Wurzel fassen; sie existierte nur auf dem Papier. Nur im Gouv. Smolensk hat sich die Feldgemeinschaft infolge historischer Ursachen ent- wickeln und erhalten können. Im Gouv. Mohilew, wo wir es mit einer großen Zahl von Großbauern zu tun haben, entwickelte sich die Bauerngenossenschaft.

Die überwiegende Mehrheit der Dorfbevölkerung bildeten die landarmen und landlosen Bauern, die bei der schlechten Boden- qualität und bei den geringen Ernten das Existenzminimum nicht er- langen konnten. Sie suchten Boden von den Gutsherren zu pachten, wofür sie einen sehr hohen Pachizins zahlen mußten, so daß die Ernährungspacht zur Hungerpacht degradiert wurde.

Der Bevölkerungszuwachs ging mit raschen Schritten vor sich, und dadurch entstand ein ungeheurer Überschuß an Arbeitskräften. Das Dorf war nicht mehr in der Lage, seine Bewohner zu ernähren. Die Industrie in den Städten war sehr schwach entwickelt, und der Bauer konnte hier auch keine Unterkunft finden. Andererseits ver- läßt der weißrussische Bauer, der an seiner Scholle mit Liebe hängt, sein Dorf sehr ungern und sucht jeden irgendwie möglichen Neben- erwerb, um in seinem Heimatdorfe oder in dessen Nähe bleiben zu können. Er beschäftigte sich daher in der primitiven Hausindustrie, er schnikte Geräte und Geschirr aus Holz, er flocht, wob und spann. Er ging in die benachbarten Adelsgüter, um seine Arbeitskraft für einen lächerlich geringen Lohn zu vermieten. Seine Not wuchs von Tag zu Tag. Die Maßnahmen der Regierung konnten auch nicht mehr viel helfen.

38 NF 5 507

Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts und mit der Stolypinschen Agrarreform setzt eine Besserung der Lage im weißrussischen Dorfe ein. Durch die umfangreichen, segensreichen Landeinrichtungs- arbeiten, durch die Errichtung von neuen Einzelwirtschaften in der Form von Chutors und Ofrubs, wie auch durch die Beseitigung der Gemengelage konnte eine Intensivierung der bäuerlichen Be- triebe eintreten, was die Erhöhung des landwirtschaftlichen Ertrags und eo ipso die bessere Gestaltung des bäuerlichen „standard of life“ zur Folge hatte. Von entscheidender Bedeutung war auch die erweiterte Tätigkeit der Bauernbank, mit deren Hilfe sämtliche Schichten des weißrussischen Dorfes (wenn auch in verschiedenem Umfange) Boden erwarben.

Die Wirkung der Stolypinschen Agrarreform hatte aber auch ihre Schattenseife: sie verstärkte die schon von früher bestehende Kluft zwischen den verschiedenen Schichten des Dorfes. Während die besser situierten Wirtschaften in dieser Periode einen Auf- schwung erfuhren, blieben die armen bäuerlichen Wirtschaften, die im weißrussischen Dorfe die überwiegende Mehrzahl bildeten, nach wie vor in sehr gedrückter Lage.

Durch den starken Bevölkerungszuwachs im weißrussischen Dorfe und durch die rasche Parzellierung der bäuerlichen Wirt- schaften infolge der Vererbung und der Einheiraten nahm die Über- bevölkerung im weißrussischen Dorfe ungeheure Dimensionen an das Dorf konnte seine Bewohner nicht ernähren, und die Bauern verließen massenweise ihre Dörfer, zogen in die Stadt, wohin sie die durch das ferne Pfeifen einer Fabrik hie und da entstandene schwache Hoffnung auf eine Arbeitsmöglichkeit zog; sie wanderten auch nach dem Osten in das Schwarzerdgebiet, nach dem fernen Sibirien, wie auch zum Westen hin, in das Weichselgebiet, nach Polen und Preußen und teilweise auch in die Neue Welt jenseits des Atlan- tischen Ozeans.

So lagen die Verhältnisse bis zum Ausbruch des Weltkrieges und der Revolution von 1917, als Weißrußland zusammen mit dem gesamten Rußland in eine neue politische und ökonomische Ara eintrat.

508

Quellenverzeichnis.

P. G. Arende iY, Očerki po istorii zemelnogo stroja Rossii (Skizzen zur chichte der Agrarverfassung Rußlands), Kazan 1920.

B. Batjuäkov. Belorussija i Litva (Weißrußland und Litauen), Petersburg 1890.

J. Belajev. Krestjane na Rusi Die Bauern in Rußland), Moskau 1860.

B. Brußkus. Agrarrevolution und Agrarentwicklung in Rußland, Bln. 1925.

K. v. Dieķe. Die Stolypinsche Agrarreform, Bln. 1920.

W. Jager. Weißruthenien, Bin. 1919.

W. Iljin. Razvitije Kapitalizma v Rossii (Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland), Petersb. 1908.

J. v. a a Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesißes in

Rußland, Petersb. 1876.

L. Kirrilov. OtchoZije promysly (Wanderarbeit), Petersb. 1899.

Knudsen-Wieth. Bauernfrage und Agrarreform in Rußland, Lpz. 1913.

K. P. Koéarovsky. Russkaja Ob$£ina (Die russische Gemeinde), Moskau 1906.

A. Krivošein. Übersicht über die Arbeit der Hauptverwaltung für Land- einrichtung und Ackerbau, Weimar 1916.

I. I. Lappo. Zapadnaja Rossija (Das westliche Rußland), Prag 1924.

L. Ličkov. Servitulny vopros v zapadnom kraje (Die Servitutenfrage in dem Westgebiete) im Monatsheft ,,Russkaja Myslj (Der russische Ge- danke), N 7, 8, 9 des Jahres 1899

A.A.Mamnilov. Die Agrarfrage und ihre ökonomische Lösung (übers. v. Braude), Lpz. 1907.

L. N. Marres. Proizvodstvo i potreblenie chleba v krestjanskieh cho- zjajstwach (Getreideproduktion und -Konsumtion in den Bauernwirt- schaften), Petersb. 1897.

P. . Die Agrarfrage in Rußland (übers. von Nachimsohn), Stuttgart

P. N. Miljukov. Oé€erki po istorii russkoj Kultury (Studien zur russ. Kultur- geschichte), Petersb. 1896.

P. N. Miljukov. Russkaja agrarnaja Politika proSlago stoletija (Die russische Agrarpolitik des vorigen Jahrhunderts), Petersb. 1890.

N. J. Nikirowsky. Odéerki o narodnoj žizni Belorussov. (Skizzen über das Volksleben der Weißrussen), Witebsk 1895.

P.Olberg. Bauernrevolution und Bolschewismus (im Archiv für Soz.- Wiss. und Soz.-Politik, B. 48, 1920/1).

P. j. Petrunkevié. Die Agrarkrisis und die politische Lage in Rußland (übers. v. Braude), Lpz. 1907.

P.PeSechonov. Malozemelie derevni (Der Bodenmangel des Dorfes), Petersb. 1905.

W.D.Preyer. Die russische Agrarreform, Jena 1913.

A.A.Rittich. Zavisimostj Krestjian ot obščiny i mira (Die Abhängigkeit der Bauern von der Gemeinde und Mir), Petersb. 1907.

E.Romanov. Byt belorussov v Mogilevskoj gubernii (Die Lebensart der Weißrussen im Gouv. Mohilev), Wilna 1910.

M. Sering. Rußlands Kultur und Volkswirtschaft, Bin. 1913.

M.Sering. Westrußland in seiner Bedeutung für die Entwicklung Mittel- europas, Bin. 1917.

M. Sering. Die Verteilung des Grundbesiges und die Auswanderung vom Lande, Bin. 1910.

M.Sering. Bericht über die eroberten Gebiete des Nordwestens (auf Grund einer 2monatigen Studienreise), Bin. 1916.

W. v. Simkhovié. Die Feldgemeinschaft in Rußland, Jena 1898.

W. a an Sud’by norodov Rossii (Das Schicksal der Völker Rußlands), n. 192

509

P. A. Stolypin. Pojezdka v Sibirj i PovoloZje (Eine Reise nach Sibirien und das Wolgagebiet), Pefersb. 1911.

P. A. Stolypin. Sbornik relej v gosudarstennom Sovete i gosudarst. Dume (Reden im Staatsrat und in der Reichsduma), Petersb. 1912.

A.Cuprov. Die Feldgemeinschaft (übers. v. Nachimsohn), Stuttgart 1902.

P. Vichlajev. O€erki iz russkoj sel’sko-chozjajstwennoj dejstvitelnosti 5 aus der russischen land wirtschaftlichen Wirklichkeit), Petersb.

Sammelwerke.

Agrarny vopros v. sovete Ministrov (Die Agrarfrage im Ministerrate, Ge- sammelte Geheimakten vom Jahre 1906), herausgegeben v. Zenir.- Archiv Moskau 1924.

Trudy imperatorskago obSéestwa po zemledeliu (Arbeiten der Kaiserlichen Gesellschaft für Landwirtschaft), Petersb. 1876/80.

Otéety mesinych Komitetov (Berichte der Lokalkommissionen über die Not- lage der Landwirtschaft), Moskau 1880/4 und Petersb. 1903.

Materjaly o poloZenii Krestjanstwa (Materialien zur Lage der Bauern- schaft), Petersb. 1880,

Obzory dejatelnosti Krestjanskago pozemelnago banka (Ubersichten über die Tätigkeit der landwirtsch. Bauernbank), Petersb. 1906, 1910.

Osvobozdenie Krestjan (Die Bauernbefreiung), Petersb. 1911.

EZegodniki departamenta zemledelija (Jahrbücher des Departements für Landwirtschaft), Petersb. 1915, 1916.

Vestnik finansov (Der Finanzbote), Zeitschrift für Finanzen und Industrie, herausgegeben vom Finanzministerium, Petersb. 1903, 1912.

Oéerki imperatorskago geografiteskago obScestwa (Skizzen der Kaiser- F Gesellschaft des Nordwest-Gebietes), Vilna

Mladaja Belarus (Das junge Weißrußland), Wilna 1912/13.

Statistika zemlevladenie (Statistik des Bodenbesitzesl, herausgegeben v. Ministerium des Inneren, Petersb. 1906/7 und 1910/11.

Materjaly cenir. statisti¢esk. upravlenia (Statistische Materialien des Zenir.- Statist. Amtes), 1889/90.

Statistika Rossyskoj Imperii (Statistik des russ. Kaiserreiches), Ministerium des Inneren, 1890.

Statistileski Spravoénik (Statistischer Leitfaden), herausgegeben v. Oga- novsky und Cajanov. Moskau 1917.

510

an mw

*

BOLESLAW PRUS

Von O. Forst-Battaglia.

Während die großen Namen der russischen Literatur dem deut- schen Leser längst vertraut sind und die wesentlichen Werke der erzählenden Prosa eines Gogol, Turgenev, Dostoevskij, Tolstoj, Cechov und Gorkij zum geistigen Besiktum der Welt gehören, hat von den polnischen Dichtern des lekten Jahrhunderts einzig Sienkie- wicz Verbreitung hinaus über den engsten Kreis berufsmäßiger Kritiker und literarischer Feinschmecker gefunden. Die Romane der Orzeszkowa, Kraszewskis, einst viel gelesen, sind vergessen; die Erzählungen der Zapolska und Weyssenhoffs haben kaum durch ein paar Jahre das deutsche Publikum beschäftigt. Selbst Reymonts

Meisterwerk, die „Bauern“, zeugt in den Ziffern seiner Auflagehohe

keineswegs für einen Erfolg bei der Masse. Zeromski aber und Berent sind in so übler Form vorgestellt worden, daß man es weder beklagen noch sich darüber wundern kann, wenn ihre ins Deutsche übertragenen Bücher keine größere Beachtung genossen. Es sind nun freilich nicht bloß äußere Umstände, die der polnischen Literatur den Weg nach Deutschland versperrten. Hinter der Unzulänglichkeit des Dolmetschers erblicken wir zwei Tatsachen, die entscheidend waren: den politischen Gegensak zwischen Deutschen und Polen (der auch noch nicht den Ausschlag gab) und als Leftes, daß die polnische Literatur einen streng nationalen Inhalt hat, der, im Gegensak zum universellen des russischen Schrifttums, auch dem an sich ewig- gültigen Kunstwerk die Reichweite mindert. Wer vermöchte ohne Unterlaß von den polnischen Leiden und Freuden zu lesen, wenn er nicht... selbst Pole war. Das polnische Milieu war zu wenig exotisch, um durch seine Fremdartigkeit Anteilnahme zu wecken; zu sehr vom deutschen, westeuropäischen verschieden, um als Spiegel- bild der vertrauten Wirklichkeit hingenommen zu werden. So emp- fanden denn beide Schichten der Kritiker und Leser, die nach einem literarischen „Pays de cocagne“ verlangenden Romantiker und die unerbittlichen Realisten, wenig Neigung, zu erfahren, wie sich pol- nische Dichter die polnische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorstellten, deuteten und schilderten.

Daß nun ein ganzes Volk den Blick wie hypnotisiert auf sich selbst gerichtet hatte, während andere glücklichere Nationen ihre

511

Augen frei über die Erde schweifen ließen, dafür bietet die Ge- schichte rasch Erklärung. Durch das Diktat der rohen Gewalt seiner politischen Existenz beraubt, unfähig, seine schöpferische Energie im eigenen Staat zu betätigen, kehrte sich der Pole jenem Reich zu, über dem keine Knute wütete; in dem er schalten und gestalten konnte: dem Lande der Phantasie. Die sich enge im vom Unter- drücker beherrschten Raum stoßenden Gedanken wirkten frei: dort, wo die Sonne des Geistes nie unterging. Das nationale Leben wählte sich, in den bösesten Jahren der Knechtschaft, die Literatur zum Schauplatz; und es regierte uber sie als ein eifersuchtiger Gott, der kaum einen Nebenbuhler neben sich duldete.

Trokdem vermochte sich diese so leidenschaftlich ihrem Volkstum verhaftete Kunst nicht völlig dem Einfluß der Zeit zu entziehen. Neben dem Genius loci haben auch in Polen die allgemein europäi- schen Strömungen ihren Einfluß geübt, so daß die nationale Dominante von den wechselnden Motiven des Zeitgeschmacks. begleitet wurde. Der Romantik danken die Polen die herrliche Blüte ihrer Lyrik (Mickiewicz, Słowacki, Krasiński, Norwid), ihres Epos (Mickiewicz, Malczewski) und das einzige Drama ihrer Literatur, das für Europa von Geltung ist, Krasinskis „Ungöftliche Komödie“. Der Realismus, jene Form der siegreichen Bürgerlichkeit, die das siegreiche Bürger- tum seit der Jahrhundertmitte der Kunst aufzwang; der Realismus, welcher in Frankreich die unsterblichen Romane von Stendhal, Balzac, Flaubert, in Deutschland die Gustav Freytags, Storms, Fontanes und Gottfried Kellers, in Rußland seine vollkommensten Schöpfungen her- vorgebracht hatte, zeitigte auch in Polen repräsentative Werke der erzählenden Prosa. Die Ungunst der damals herrschenden Verhalt- nisse hat diese Bücher auf ihre Heimat beschränkt. Indes, da ihnen die universelle Gültigkeit innewohnt, der sonst die polnischen Dich- tungen entbehren, da ihre Form des Inhalts würdig und dieser Inhalt lebendig und lebensvoll ist wie am ersten Tag, der in Polen noch dıe Nacht der Unfreiheit bedeutet hatte, ziemt es, daß verspätet, doch nicht zu spät, die Leistungen des polnischen Realismus der Welt ver- kündet werden. Müssen, können und werden sich die Romane, in denen diese Leistungen gipfeln, ein Publikum erobern, dem damit das lekte noch ungekannte Gebiet erschlossen wird, an dem die Sucher nach verborgenen Schätzen bisher vorübereilten.

Eine Gestalt, ein Name, in dem sich der heimliche Glanz, der nun erstrahlen soll, verkörpert: Bolestaw Prus. Er hieß, als er am 20. August 1847 das Licht einer sehr verfinsterten Welt erblickte, Alexander Głowacki und entstammte einer ehrenhaften Familie des Kleinadels, in der die Gaben des Herzens reicher vor- handen waren als die goldeswerten Schäke. Des Knaben Jugend war von Sorgen umdüsiert. Nur mit Mühe fand er den Weg durch die Mittelschule zu Lublin. Er kämpfte mit der Not, mit dem Wissens-

512

kram, der sich auf sein Hirn legte. Und schon mit dem Feind, der überall im Lande gegenwärtig drohte: wider den russischen Zwing- herrn. Die Jahre der Pubertät verrannen unter dem lähmenden Ein- druck des hoffnungslosen Ringens einer entrechteten und unbot- mäßigen Nation mit ihrem mächtigen Peiniger. Männer und Frauen trugen Trauer als Kleid des jammervollen Alltags und um die Opfer, die endlos und scheinbar zwecklos für die nationale Sache fielen. Sechzehn Jahre zählte Głowacki, als die Verzweiflung zu den unzu- länglichen Waffen griff. Am polnischen Aufstand von 1863 hat er, der Schulbank eniflohen, aktiv teilgenommen. Ein älterer, geliebter Bruder verlor über das Unglück der Insurrektion das einzige, was er besaß, den Verstand. Alexander Glowacki zog aus dem tragischen Abenteuer die Lehre, seinen Verstand zu hegen und zu pflegen, damit nicht wieder, in ihm und in seiner Nation, das Herz lenke und das Herz in schmerzlichem Beben erzittern müsse.

Der Insurgent schleppt sich zurück in die bürgerliche Fron, be- quemt sich noch einmal zur Schule. Siedelt, nachdem er das Gym- nasium beendet hat, in die Kapitale über. An der „Szkoła główna“, wie man die Warschauer Universität etwas despektierlich von Amts wegen nannte, an der „Hauptschule“, hörte er die Vorlesungen be- ruhmter Professoren, die zugleich ausgezeichnete Gelehrte und warmfühlende Patrioten waren, freute er sich des Umgangs mit gleichgestimmten Kameraden, die alle danach strebten, auf und aus den Trümmern der im Aufstand niedergetretenen Romantik ein Neues zu erbauen. An jener Hochschule bildeten sich Männer wie Sien- kiewicz und Świętochowski. Głowacki sollte mit diesen beiden der geistige Führer der Generation werden, die ihr traumerisches, emp- findsames Polentum in sich erstickte, ersticken wollte, um erst eine gesunde, wirtschaftlich gekräftigte Gesellschaft und dann damit die Grundlage des von keiner Brutalität der Bajonette gefährdeten nationalen Seins zu schaffen. Vom Westen her kam das Evangelium nach Comte, Buckle, Taine: der Positivismus. Mit Feuereifer, mit dem Ubereifer der Proseliten verkündeten die polnischen Apostel der neuen, und nur im romantisch-urkatholischen Polen unerhorten, ungehorten Lehre, daß die Ara des flatternden Helmbusches dahin sei; daß man die Schwärmerei des Herzens der Erkenntnis des Ver- standes unterordnen und vor allem eines müsse: arbeiten, arbeiten und nicht verzweifeln. Ein Volk von märchenhaft reichen und ent- nationalisierten Magnaten, bettelarmen und überstolzen Adeligen, die in Schönheit zu sterben, doch nicht in Häßlichkeit pflichtergeben zu leben verstehen, von dumpfen, trägen Kleinbürgern und gequalten Bauern-Tieren soll sich, die wertvollen andersnationalen Elemente, Deutsche und Juden, amalgamierend, in eine moderne Gemeinschaft Gleichberechteter, gleich Fühlender verwandeln, unter denen nur das Talent und die Leistung Unterschiede begründen. Wo gewaltige Flächen nulos brachliegen oder dem schalsten Vergnügen mit ihren spärlich geernteten Früchten dienen, wo die harte Fron dem emsigen

515

Landmann kaum das animalische Dahinbrüten sichert, sollen sich Fabriken erheben, die neue Bedürfnisse schaffen, befriedigen; die Wohlstand wecken und nahren.

Das klang sehr westlich, utilitaristisch, revolutionär. War gewiß sehr westlich, utilitaristisch, revolutionär gemeint. Eine Reihe von Zeitschriften predigte eindringlich die Trägheit des Herzens und die Regsamkeit der Vernunft. Glowacki, alsbald zum Schriftsteller Bolesław Prus geworden, betrat 1871 die literarische Arena. Er hatte die Hochschule nicht vollkommen beendet. Sein Los war dem so vieler armer Intellektueller ähnlich, die sich vor der offiziellen Krö- nung durch das Diplom nach Broterwerb umsehen mußten. Glowacki verdiente sich das Notwendige als Beamter und einen mageren Zu- schuß durch Artikel, die auf dem Markt der Warschauer literarischen Eitelkeiten bald sehr begehrt waren. Swietochowski weilte in den höheren Regionen der allzu reinen Vernunft, Sienkiewiczs Genie hatte sich noch nicht entfaltet; vor einer Legion anderer längst ver- schollener Publizisten hatte Prus den liebenswürdigen Humor voraus und die Leichtigkeit, mit der er die schwersten Probleme vor einem Publikum erörterte, dem die feine geistige Kost um so trefflicher mundete, je weniger es sie gewohnt und je verdaulicher sie war. Fur die positivistischen Ideale nur keine Entriistung über diese sehr richtige contradictio in adjecto stritt Prus je nach den Um- standen und den Umstehenden, mit gestraubter, mit verbindlich und sanft aufdriickender, mit seltsam karikierender Feder.

Seit 1874 in der größten Warschauer Zeitung, dem „Kurjer War- szawski“, dem er, mit kurzen Unterbrechungen bis ins Alter freu blieb, ob ihn auch das behutsame Blatt gelegentlich und ungelegentlich verleugnete, wo sich nur ein Anlaß bot. In den Prus’schen Feuilletons las der Bürger „de omnibus rebus et guibusdam aliis“, doch stets vom Fortschritt und seiner Heilsamkeit, stets Dinge, die der gesunde Hausverstand begreifen konnte oder zu begreifen glaubte. Und wenn der rastlose Sittenrichter, den der „Kurjerek“ so wacker brauchte und mißbrauchfe, die Zugeknöpften zur Unterhaltspflicht aufforderte, da vergaß er nie seine Pflicht zu unterhalten, um da- durch zu nützen. Als Chronist des Warschauer Lebens sammelte Prus einen Schatz von Erfahrung, den er schließlich nicht mehr an den ver- gänglichen Zeitungsartikel verschwenden mochte. Während seiner Journalistentätigkeit hatte er nie aufgehört aus den Spalten unter dem Strich zu verdammen, was ihm an der Weltordnung gegen den Strich ging. Nun predigte er durch Novellen, Geschichten, die von irgendwelchen „faits divers“ den Anlaß nahmen, im Schema den französischen Naturalisten nacheiferten, dabei der polnischen Schranken bewußt waren und im Grunde mit ihrer herzlichen Naivität eher an die Madame de Segur als an Zola oder Goncourt erinnerten. Auch Erzählungen aus der Kinderwelt schrieb Prus gerne, der selbst ein großes, gütiges Kind blieb, das mit dem heiligen Feuer spielte. Die traurigen Schicksale der kleinen Anielka, die zwischen einem

514

leichtsinnigen Vater und einer lebensuntüchtigen Mutter dahinwelkt, des Proletariers Lachowicz Aufstieg zum Künstlerruhm und Reichtum (,,Anielka“ 1880 und „Dusze w niewoli“, „Seelen in der Gefangen- schaft“ 1877) seien als die am besten gelungenen Versuche des Er- zählers erwähnt, der lange sich mühte, ehe er die angeborenen Gaben recht zu verwenden lernte.

Prus zählte bereits 38 Jahre, und er war, nach einem gescheiterten Extempore als Zeitungsherausgeber, wieder zum „Kurjer Warszawski“ zurückgekehrt, als er den ersten seiner großen Romane veröffent- lichte, die „Placówka“ (Schildwache). Der Erfolg stellte sich sofort ein, und er ist dem Buche bis heute beschieden. Nicht nur um der beträchtlichen künstlerischen Vorzüge willen, die hier eine unver- hehlte nationalpadagogische Tendenz adeln, sondern auch gerade wegen der politischen Farbung des Sioffes.

Indes erst das nachste Werk des nun vollig gereiften Autors sprengt den polnischen Rahmen. In zwei umfangreichen Erzäh- lungen, der „Lalka“ (Die Puppe, 18%) und „Emancypantki“ (Die Emanzipierten, 1894) setzt sich Prus mit sozialen Zeitproblemen aus- einander, die, mochten sie auch durch ihre fein beobachtete Szenerie an Warschau geknüpft sein, darum nicht minder universell waren: mit der Verkommerzialisierung der untergehenden agrarisch-adeligen Gesellschaft und mit der Frauenfrage, die sich gebieterisch der neuen Generation aufdrängt. Wohl hatte der Dichter schon in seinen Feuillétonen und Novellen der Umschichtung, die sich vor seinen Augen vollzog und nach seinem Wunsch auch vollziehen sollie, seine Aufmerksamkeit gewidmet, auch in einem Roman, der wie eine Vor- studie zu den späteren, bedeutenderen Büchern anmutet, in der „Powracająca Fala“ (Die zurückkehrende Welle) die Rolle des in- dustriellen Kapitals im veränderten Polen erörtert. Doch in den Er- zählungen aus den fruchtbaren Neunzigerjahren sprach er. sein de- finitives Urteil über die Vielfalt des Geschehens umher, fand er die endgültige Form für seine unvergänglichen Zeitgemälde. Er über- traf sie und schuf sich die Bürgschaft noch höheren Ruhmes durch den Roman aus dem alten Agypten „Faraon“ (Pharao, 1897), welcher ganz unerwartet den glänzenden Publizisten, der ganz dem Augen- blick zu gehören schien, als einfühlsamen Deuter einer verklungenen Epoche, als hinreißenden Schilderer von durch Ort und Zeit ent- fernten Menschen zeigte. Die literarische Stellung des allverehrten Mannes war damit in Polen jedem Zweifel entrückt. Man betrachtete ihn als ebenbürtigen Genossen des weit mehr populären Sienkiewicz Auch die inzwischen heranwachsenden Nachfolger der seit den Sieb- zigerjahren herrschenden Positivisten, ein Zeromski und Reymont, schätzten in Prus den Künstler und den Menschen, empfingen von ihm wichtige und dankbar anerkannte Anregungen.

Prus schrieb weiter seine Artikel, er freute sich über die leisen Anzeichen der Besserung im Politischen und des starken Fortschritts in der sozialen Entwicklung. Stets respektvoll vernommen, ertönte

515

seine Stimme, um zu warnen und um zu mahnen, wenn er Gefahren seinem geliebten Volke nahen sah. Was er aus seiner Jugend als positive und negative Erfahrung mitgebracht hatte, ist ihm unantast- bare Wahrheit: nur ernste, organisierte, friedliche Arbeit tut not. Vor allem aber, seid einig, einig, einig. Das Jahr 1905, die furcht- bare Katastrophe, von der das russische Reich erschüttert ward, ent- fesselt in Kongreßpolen einen förmlichen Guerillakrieg von Banden, die sämtlich nationalen oder klassenpolitischen Schlagworten ge- horchen, indes nicht immer von den vorgegebenen Motiven geleitet sind. Prus, der sich entsekensvoll der Insurrektion von 1863 und ihres Zusammenbruchs erinnert, mißbilligt den regellosen oder ihm regellos scheinenden Aufruhr, der mühsam erzielte Werte zerstört; er brandmarkt die moralische Verwilderung, die sich unter dem Deck- mantel des Patriotismus oft bemerkbar macht; empfindet wohl dazu die instinktmäßige Abneigung des Szlachcicen, des, sei es auch ver- bürgerlichten und demokratisierten Adeligen, gegen die Proles. Daß der Moment gekommen war, wo die Waffen sprechen durften und mußten, hat er nicht erkannt, und eine Kluft dehnte sich, zum ersten- mal, zwischen ihm und der Jugend. Sein Roman „Dzieci“ (Die Kinder), den er 1910, nach dreizehn Jahren des Schweigens, veröffent- lichte, bot dafür den schmerzlichsten Beweis. Indes selbst das teil- weise künstlerische Mißlingen dieses Versuches einer dichterischen Abrechnung mit der revolutionären Bewegung tat den Gefühlen keinen Abbruch, mit denen die gesamte Nation an ihrem gütigen, besorgten Lehrer hing. Als Bolestaw Prus, zwei Jahre später, am 19. Mai 1912 starb, zu Warschau, in den Sielen, wenige Tage, nachdem er seinen lebten Artikel für die Wochenschrift „Tygodnik llusfrowany“ verfaßt hatte, die sich mit dem „Kurjer Warszawski“ im Ertrag seiner publi- zistischen Tätigkeit teilte; als das müde Herz stillstand, das nur für hohe und edle Ziele geschlagen hatte, da trauerte ganz Polen um den Dahingeschiedenen.

Die schönsten menschlichen waren mit den Eigenschaften eines ausgezeichneten Schriftstellers in ihm vereint: Güte, Klugheit, Heiter- keit spiegelten sich im literarischen Werk als wahre Humanität der Gesinnung, als scharfe Beobachtung und Logik, als bezwingender Humor wider. Die scheue Zurückhaltung, das keusche Empfinden des Mannes wachten über die Grenzen, die vom Autor nie über- schritten wurden, so sehr auch bei manchen heiklen Stoffen und an- gesichts der realistischen Tendenzen die Versuchung dazu lockte. Uber diese Grundtatsachen hinaus ist Prus eine Mengnis der wider- sprechendsten Züge gewesen, ja es scheint, daß selbst die eben ge- schilderten Umrisse seines Antliges zum Teil nur Maske gewesen sind. Wenigstens sehen wir, nach den posthumen Aufzeichnungen des Dichters, seine Bescheidenheit in neuem Licht, als Folge eines ungern, doch würdig ertragenen Zwanges. „Es zieht mich zu hohen Stellungen, ja sogar zum Glanz. Das ward aus meiner ununier-

516

brochenen Traumerei“. Dem armen Literaten, dem Angehörigen einer tyrannisch regierten, unterdrückten Nation wäre wirkliche Macht, wäre jeglicher Glanz nur um den Preis des Verrats an seinem Volke beschieden gewesen. Und diesen Preis zu zahlen, hat Prus abgelehnt. So blieb ihm nur: Prophetentum, Diktatur, staats- männisches Walten auf dem geduldigen Papier. Der zum Vollbringen befahigte Tatenmensch wandelte sich zum Prediger, zum Dichter, zum Publizisten: zum Meister der Feder und des Wortes, da er nicht der des Weltgeschehens werden konnte.

An diesen Kontrast von hohem Wollen und begrenztem Können reihen sich weitere Gegensätze. Wie in Prus’ Helden Wokulski (aus der „Puppe“) verschmolzen in ihm zwei Menschen, der Romantiker von vor 1860 und der Positivist der Siebzigerjahre. Der eine horchie sorgfaltig auf seine, auf die allgemeine Vernunft, der andere lauschte ängstlich seinen Träumen.

Es ist bei Prus das Kindliche dem Kindischen nahe, vom Er- habenen zum Belachbaren (ich will nicht sagen zum Lächerlichen) nur ein Schritt; wirkt die Gelehrsamkeit oft als papierener Kram, die Originalität als Schrulle, die Bedachtsamkeit als Pedanterie. Und unvermittelt sind Bücher, Ideen da nebeneinander, die der Weihe- stunde gereiften, inspirierten Schaffens den Ursprung danken, bei anderen die in ihrer naiven Unbeholfenheit den Spott des gesunden Hausverstandes entfesseln. Wir werden das noch genauer bestätigt finden, wenn wir uns in die Weltanschauung, in die Probleme des Dichters versenken. Doch bereits im Technischen enthüllt sich uns das Ungleichmäßige der Leistung. Sie war am vollkommensten, wo der Reporter und wo der Lyriker zu Wort gelangten. Der Staats- mann hatte sich auf den Posten eines Journalisten zurückziehen müssen und aus seinem aufgezwungenen Beruf die Vertrautheit mit tausend „fait divers“ gewonnen. Der Poet verstummte nie, auch dann nicht, wo die nüchternsten Dinge vorgetragen wurden. Drama- tische Kraft und die Geschicklichkeit des Erzählers hat Prus sich erst mühsam erworben. In seinen vor dem „Pharao“ erschienenen Wer- ken ist die Komposition stets anfechtbar, wenn auch der Fortschritt in den neunziger Jahren offenbar wurde. Tagebücher, kapitelweise Einschübe überflüssiger Episoden, belehrende Gespräche unter- brechen die Handlung. Die Langwierigkeit der Fabel stört, ermiidet, und es ist frozdem zumeist die Geschichte auch mit dem Schluß noch nicht zu Ende. Nach der lebten Seite der „Puppe“ und der „Eman- zipierten“ haben wir das Gefühl, die eigentliche Erzählung, der inter- essantere Teil des Romans, müsse nun erst beginnen.

Die Ursache dafür ist nicht weit zu suchen. Sie lag in der Ar- beitsweise des Autors, der unter äußerem Muß für Zeitungen in Fortsetzungen schrieb, lange zur feilenden Sorgfalt keine Frist hatte. Wir erblicken die engste Verwandtschaft zum französischen Roman- Feuilleton, die sich noch vielfach, z. B. in der geschraubten Aus- drucksweise der „feinen“ Leute, in dem Auftreten von gelegen herabschwebenden dii ex machina äußert. Dann in den Beschreibun-

517

gen, die mit den primitivsten Mitteln arbeiten, und obendrein den Stempel des Unerlebten eingeprägt haben. Als Landschaftsschilderer ist Prus ganz unzulänglich, banal, konventionell. Nur scheinbar malerisch, offenbar unplastisch und stets papieren. Besser steht es mit der Charakteristik der Personen, am besten um die Wiedergabe von bewegien Szenen. Da kommt der Reporter zum siegreichen Durchbruch, und es ergibt sich ein an den Film anklingendes lücken- loses, rasches Nacheinander von Momentaufnahmen, die den Ein- druck des wirklichen Lebens erzeugen. Szenen wie die Versteige- rung, der Auszug der Studenten, der Prozeß um die Puppe in der „Puppe“, der Tod Frau Latters, das Konzert in den „Emanzipierten“, die Erschießung des jungen Terroristen in den „Kindern“ prägen sich unauslöschlich dem Gedächtnis ein.

Die hier geruhmten Beispiele stammen aus den großen Romanen von Prus, in denen entschieden die Vorzüge weitaus die Schatten- seiten überwiegen. In diesen späteren Werken ist ferner die Komposition besser geraten. Zwar bleiben noch die Tagebücher Rzeckis, die philosophischen Diskurse Professor Debickis als schwer abzuwälzende Steine des Anstoßes in der „Puppe“ und in den „Emanzipierten“, indes dafür bereiten uns die glanzvolle Exposition, die nie erlahmende Spannung ein fast physisches Wohlbehagen oder das Lustgefühl, das eine gut aufgehende Gleichung bei mathematisch Empfindsamen auslöst. Mit kräftigen Strichen wird die Situation eingangs skizziert (der Anfang der ,,Emanzipierten“ erinnert in seiner prachtvollen Sachlichkeit an den berühmten Beginn der „Anna Ka- renina“). Es folgt das Bild des Helden, meist inmitten seiner, ihn uns erklarenden Umgebung, hernach, ebenso gezeichnet, das des Gegenspielers. Und nun sekt die Aktion ein, der nur die beklagens- werten Einschübe Hindernisse bereiten und die gespreizten Dialoge gelegentlich das Interesse mindern. Den „Faraon“ habe ich bei dieser Kritik geflissentlich außer Betracht gelassen, denn er überragt die anderen Bücher von Prus so hoch wie das Genie das Talent, wie die Erfüllung die Verheißung.

Auch was ich jekt über die Charaktere bei Prus sagen will, gilt, ob auch Paradigmen aus dem „Faraon“ herangezogen werden, im allgemeinen nur für diesem vorangehende Werke. Die Gestalten der „Puppe“ und der „Emanzipierfen“, in noch höherem Grade die der frühe- ren Erzählungen, sind von einer Unkompliziertheit, die ihresgleichen sucht und die man im Roman-Feuilleton wiederfindet. Schon zur Schilderung des Außeren verwendet der Autor die einfachsten Mittel: summarische Angabe der Körperdimensionen, Beschreibung der (in ehrbarer Gesellschaft aufzählbaren) Körperteile, besondere Kenn- zeichen, zu denen, um mehr als die im Paß enthaltene polizeiliche Akribie zu erzielen, der Hinweis auf die Ticks der verschiedenen Helden tritt. Der beklagt das arme Vaterland, das ihm bei Tag’ und Nacht viel Müh’ und Plag’ macht, weshalb er zu den Maximi der Nation geht (mit denen er sehr intim ist), um bei ihnen Trost zu suchen. Jener klappert mit den Fingern auf seinem Rock. Ein hauch-

518

zaries Mädchen flüstert in regelmäßigen Abständen und bei regel- mäßig wiederkehrenden Enttäuschungen, daß sie sterben wolle und so dumm sei.

Figuren spazieren mit sogenannten redenden Namen als Aus- hängeschilder herum. Ein Raufbold heißt Herr von Säbeln (Palasz- kiewicz), eine Emanzipierte Pantoflewicz, ein Bierbrauer Korkowicz (übersekung ist bei diesen beiden kaum nötig). Die Personen sind eben zumeist Schauspieler aus der Commedia dell’ arte, und nicht aus einer Balzacschen Comédie humaine; allein es sind vollendete Kreationen aus dieser etwas konventionellen Welt, in der eine jede Gestalt ihre Etikette hat. So wie die schöne Izabela in der „Puppe“ für ihre Bekannten stets die Inschrift fertig hatte, der sich dann das Urteil anpaßte, so geht es ihrem Schöpfer. Wir können etwa drei Dukend Charaktere unterscheiden, die in den Erzählungen wieder- kehren, Männer und Frauen, Kinder und... Tiere. Da ist der Idealist, der im Kampfe für den Fortschritt und die Idee gegen die Reaktion und die Materie untergeht, halb Volksfeind, halb Josef H., also des Volkes Freund und einer, der seine Pflicht als Mensch und Monarch, beziehungsweise Großindustrieller, Großkaufmann getan zu haben glaubt, wenn er, da er die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehaßt hat, in der Verbannung aus dem Reiche der individuellen Glückseligkeit stirbt: Wokulski, später Ramses XIII. im „Faraon“. Eine zweite Spielart des Reformators, die gesündere Nerven hat und der Regel nach hohe Geburt mit ebensolcher Intelligenz und daher ditto Einnahmen vereinigt: Solski in den „Emanzipierten“, Ochocki in der „Puppe“, schon früher Grodzki im „Verfluchten Glück“ und Sielski in den „Seelen in der Gefangenschaft“. Ein dritter Typus, mehr Theorie, professoral, Erfinder, Genie, bedürfnislos, Vorläufer, dem zu Lebzeiten niemand und hernach alle nachlaufen, so etwa Gregor Mendel und Schneider von Ulm, Diogenes und Professor Mirakel: der Geist, der stets bejaht und seinen Namen mit sehr primitiver Symbolik spazieren führt in der „Puppe“, der greise Menes im „Faraon“ und auch Professor Debicki in den „Emanzipier- ten“. Der steht freilich mit einem Fuß bei den Raisonneuren, die in jedem der repräsentativen Romane von Bolesław Prus die Handlung mit ihren Kommentaren zu einem sehr bürgerlichen Gesetzbuch des Weltgeschehens begleiten, sich von den geistigen Genies durch geist- reichen Zynismus unterscheiden, doch im übrigen ganz wackere Zeit- genossen sind: Dr. Szuman in der „Puppe“, Zdzisław Brzeski in den „Emanzipierten“, Dr. Debowski in den „Kindern“, ein wenig auch der weise Herhor im „Faraon“.

Es gibt ferner: tüchtige Söhne des Volkes, die sich aus der Nacht zum wärmenden Licht emporarbeiten: Lachowicz, der Maler in den „Seelen in der Gefangenschaft“, Kotowski in den ,,Emanzipierten“, Wiadek Linowski in den „Kindern“, sicherlich die Studenten aus der „Puppe“ und als sublimierte Form dieses Typus der Priester Pentuer; Emporkömmlinge zweiter, moralisch minderer Kategorie: die Fabri- kanten Adler (Die zurückkehrende Flut), Korkowicz (Die Emanzipier-

519

ten), Suzin (Die Puppe), und zurücktransportiert ins Altertum der Phönizier Dagon, von dem wieder der Weg zu den köstlichen Juden- typen der beiden Szlangbaum (in der „Puppe‘), zum Pfeferman in den „Kindern“ führt. Von da aber weiter zu den Originalen: den Betrügern und irrenden Industrieritiern, den Jumart und Maruszewicz in der „Puppe“, den bösen Wirten, Advokaten und Kaufleuten, den alten, erbärmlichen, erbarmungswürdigen Trunkenbolden der „Seelen in der Gefangenschaft“ und der „Sünden der Kindheit“.

Eine Galerie von leichtsinnigen Liebhabern und falschen Helden- tenoren folgt: verführerische Jugend noch unbefangen genießend, wie die Starski (Die Puppe) und Morski (Die Emanzipierten) zusamt dem antiken Incroyable Tutmosis; nach durchstürmiem Frühling im noch immer recht windigen Sommer ihres schrankenlosen Vergnügens (Jan in „Anielka“) oder im Winter ihres Mißvergnügens (Lecki in der „Puppe“ ]. Diese Portraits werden zum Portrait-charge: des alten Steigers (Krukowski, Dalski in den „Emanzipierten“ bzw. in der „Puppe‘“) und jenes Ober-Steigers Krzeszowski (Die Puppe); der den Mädchenherzen gefährlichen Bohémiens Rossi (Die Puppe), Sataniello (Die Emanzipierten) und Lykon (Faraon). Mit besonderer Liebe ver- weilt dagegen Prus bei den tugendhaften Gegenstücken dieser schwarzen Schafe und Hammel: den braven Männern aus dem Volk (der Bauer Karbowy in ,,Anielka“, die Wysocki in der „Puppe“, Slimak in der „Schildwache“, der unglückliche Hörige im „Faraon“), bei der kernigen alten Szlachta: Rzecki, Wokulski pere in der „Puppe“, der Major Mielnicki in den „Emanzipierten“, der Förster Linowski in den „Kindern“, dieser aller Widerspiel in Agypten, Nitager.

Hier ist der Autor mit seinem ganzen Herzen und mit seinem ganzen künstlerischen Vermögen. Und noch bei den zarten Mädchen- gestalten, Kindern, die kein Engel ist so rein deiner Huld, o Leser, nachdrücklich empfohlen sind. Eine liebliche, liebenswürdige Galerie von Seraphim und Cherubim, bedeutet, physisch so appetit- lich, wie den Mephistopheles die himmlischen Heerscharen, in den Erzählungen von Prus die auf ihrem Gewissen als sanftem Ruhe- kissen ruhenden Polinnen in der Erscheinungen Flucht. Anielka, mit den sprechenden Kinderaugen und dem sprechenden Namen, Helena Wilska im „Verfluchten Glück“, Frau Stawska in der „Puppe“, Madzia in den „Emanzipierfen“, Sara im „Faraon“, Jadwiga in den „Kindern“ sind, wie Nestroys Judith, Töchter (oder Frauen) aus einem sehr guten polnischen (oder israelitischen) Haus und kennen sich vor Unschuld gar nicht mehr aus. Die unnaturliche und übernatürliche Güte dieser unwahrscheinlich holdseligen Gestalten wird uns indes von Prus so glaubhaft gemacht, es umgibt sie so viel zarte Poesie, dag, was sonst als künstlerisches Manko in einem programmagig realistischen Werk zu rügen wäre, hier zum Ruhmestitel wird. Zauberhaft durch- schweben die anmutigen Wesen eine düstere, graue seelische Land- schaft, da sie doch in einen lachenden Hain Botticellis oder der britischen Präraffaeliten gehörten. Auf sie konzentriert sich unsere Sympathie, und wir haben nichts mehr für die Koketten übrig, denen

520

sonst, im Buch und in der Wirklichkeit, der Erfolg vor den zuchtigen Jungfrauen in den gut verwerteten Schoß fällt. Die Isabella Lecka, heiter-traurige Titelfigur der „Puppe“, die Helena Norska aus den „Emanzipierten“, nebst ihren blasseren Repliken, Eveline und Eufemja, zusamt ihren antiken Gegenstücken, Kama und Hebron, könnten uns, würde nur ihre Tragik erfaßt und teilnehmend geschil- dert, auch menschlich nahekommen. Boleslaw Prus, der Muster- schüler und Musterlehrer, steht diesen weltschulordnungwidrigen Zög- lingen einer literarischen Besserungsanstali mit verstandnisloser Ab- neigung gegenüber. Wir werden gleich sehen, warum. Höchstens wenn eine die Kokette mimt, aber eigentlich gar nicht so ist, wird ihr Absolution erteilt und vom Leser erwirkt, wie für Frau Wasowska aus der „Puppe“, die in „Anielka“ jüdin ist und Weiß genannt wird, schon vordem in den „Seelen in Gefangenschaft“ als Leontine ums Morgenrot aus schweren wollüstigen Träumen fuhr. Oder dann, wenn die böse Lust durch ein klägliches Ende gebüßt ward, wie bei Frau Mincel, requiescat in pace. Endlich, Konzession an die Zeit, der Dirne, Komodiantin, Idiotin Gin der „Puppe“, den ,,Emanzipierten“, der „Schildwache“), die Opfer sozialer Ungerechtigkeit sind. Auf der schwarzen Liste stehen weiter die heimlich mannstollen Emanzipier- ten, wie die Howard, die Walentyna, die Meliton, drei photographisch getreue Bildnisse des einen Typus der Gouvernante ä la recherche du spasme perdu; die böse Sieben Herod-baba heißt man der- gleichen süße Weiblichkeit in Polen unübertrefflich verkörpert in den beiden Damen Krukowska (Die Emanzipierten) und Krzeszowska (Die Puppe). Dafür als Ideale, nach den schon gepriesenen Engels- mädchen: die „Mafka- Polka“, eine sarmatische Abart von sparta- nischer Mutter und mére de famille, tadelfrei als Frau Linowska in den „Kindern“, etwas verblendet als die Mutter der Stawska in der „Puppe“, maniakisch mütterlich und sonst beinahe von moral insanity behaftet, Frau Latter in den „Emanzipierfen“, in ägyptischer Verklei- dung die Konigin Nikotris. Dann begegnen uns, wiederum Kabinett- stücke feiner Portratkunst, die prächtigen alten Damen, die Frau Präsidentin Zastawska, die Tante der Solski und die Großmutter Mincel (Die Puppe). Schließlich die Bäuerinnen, zäh, einfältig, wacker, in ihrer Beschränktheit wenigstens des Hauses Meister und zu Hausmeisterinnen in den Chateaux d’Espagne bestimmt, die Prus in der polnischen Zukunft erbauen möchte: die Slimak als Grund- typus, die Karbowa (Anielka) als Variation.

Reizend, aus innigster Seelenverwandtschaft heraus begriffen, die Kinder. Derbe Bauernburschen, wie die Söhne der Slimak, ver- zogene Herrchen, die einmal zu Norskis und Starskis werden, die Józio (Anielka), Stiefkinder des Schicksals, wie Jasia (Waisenlos) und der wunderholde Naturknabe Psujak im Faraon. Am Ende der Skala aber, die vom geistesmachtigen Entdecker zum primitiven Instinkt- wesen hinabgleitet, unter den Kindern und Bauern, die Tiere, der Menschen geringere, gequältere Brüder und Opfer, Karusek und Cäsar, die unter einem üblen Stern geborenen Hunde.

521

Wenn wir die vorireffliche Leistung des Porträtisten bestaunen, der so viel von einander verschiedene Typen, zwar nicht geschaffen, doch scharf gezeichnet hat, so müssen wir am Schluß die Einschrän- kung wiederholen, die stets von konventionellen, stilisierten Figuren gilt: es bleibt beim äußerlichen Umriß, beim naturgetreuen Kolorit, beim Versuch, innerseelisches Geschehen durch geschilderte Gebärden, Äußerungen, allenfalls noch auf dem undankbaren Weg des Tagebuches und des Selbsigesprachs zu erfassen. „Eher ver- mag der Mensch zu erblicken, was sich in einem Felsen birgt, als daß er fremde Herzen erforschte“, heißt es im „Faraon“, und Boleslaw Prus hat aus diesem resignierten „Ignorabimus“ die Folgerungen gezogen. Was sich tief auf dem Grund des Halbbewußten, Unter- bewußten, Unbewußten birgt, blieb ihm völlig verschleiert. Sein kindliches, ahnungsloses Gemüt sah nicht in diese Abgründe. Und jest kommt das Geniale dieser geraden, bescheidenen Künstlernatur. Bei näherer Betrachtung entdecken wir in des Dichters Werken dort, wo er gar nicht meinte, diese scheinbar unergründlichen Geheimnisse der Psyche zu enträtseln, daß sein Unterbewußtsein um das alles wußte. Da öffnet sich unter der schüßenden Hülle der Kon- vention, die er freiwillig nie verlebte, ein Pandamonium von Leiden- schaften, Trieben, Tücken, vor denen er zurückgeschaudert hätte; treten hinter der bürgerlichen und romantischen Tragik seiner er- quickend anständigen Bücher Probleme hervor, von denen man nicht spricht, zu seiner Zeit nicht sprechen durfte.

Prus hat den Hauch des Eros kaum verspürt. Seine Liebes- episoden ich denke nur an die, welche sich in den Werken finden haben entweder etwas von der wohlerzogenen Unsinnlichkeit der Marlitt, der englischen Gesellschaftsromane und, wo es lustig zu- ging, der „Fliegenden Blätter“ an sich, oder es geht um zurück- haltend gestreifte, grob-physische und sehr normgemäße Bedürf- nisse. Wo sich ein wenig perverse Parfüme in den Lavendel- oder Stallduft mengen, merkt man sofort, daß ihr Geruch und Gebrauch dem Autor ungewohnt ist und nur der Mode zu Gefallen geschah. Diese anerotische und regelgemäße Veranlagung ist die Ursache, daß Prus so wenig Mitgefühl mit seinen „bösen“ Gestalten hatte und so wenig in die Urgründe hineinleuchtete, warum denn eine Isabella Lecka gutsituierte Großkaufleute auf dem Wege zur zweiten Million straucheln ließ; warum ein Starski sich mit der häßlichen reichen Erbin und nicht mit dem finanziell minderwertigen Engel verehelichte.

So müssen wir denn selbst erst konstatieren, daß in den „Eman- zipierten“ die Höllenqualen des unbefriedigten Weibes das Haupt- motiv bilden. Daß die „Puppe“ nicht etwa oder bloß den Konflikt der gutsherrlichen und kaufherrlichen Sphären, die üblen Folgen einer leeren Salonerziehung oder was sonst für eine moralische Lektion darstellt, sondern mit erschütternder Tragik, die wie steis das sexuelle Trauerspiel die Grotesk-Komödie streift, das Ringen eines alternden Mannes, der seine Geschlechtskräfte vergeudet oder unter- jocht hatte, um den seligen Rausch, die Torschlußpanik eines, der am

022

Gastmahl des Lebens nicht die rechten Speisen genießen durfte und nun fürchtet, von dannen zu müssen, ehe er sich ergößen durfte. Des Pharaonen Ramses Glück und Ende dagegen, diese Erzählung ist ihrem Problem nach, iroß entgegengesefien Anscheines ganz unsexuell, zeigt uns unter dem Deckmantel der vom Autor beabsich- tigten Historie vom Widerstreit des geistlichen und des weltlichen Schwertes, mit kaum faßbarer furchtbarer Lebenswahrheit ein wirk- liches Kapitel aus der Weligeschichte in ganz anderen Zeiten und Breiten.

Diese verdeckten, unbewußten Motive machen in weit höherem Grad den Wert seiner Leistung aus als die ins Auge springenden didaktischen. Bolestaw Prus war kaum dessen gewahr, was er an künstlerischer Größe in sich trug. Er wollte nur der Denker und Lehrer sein. Die beabsichtigten Motive seiner Erzählung streben ausnahmslos danach ridendo dicere verum, lächelnd heilsame Wahrheit zu predigen und verderbliche Lüge zu zuchtigen; der Ge- rechtigkeit und Güte die Bahn zu ebnen, der rohen Gewalt und der Arglist ein abschreckendes Spiegelbild vorzuhalten. Prus hat sich ein philosophisches System zurechtgelegt, und er schrieb zu diesem Evangelium exemplifizierende Bücher der Chronik. Da kämpfen Un- glaube und Skepsis, Eigensucht und Gemeinempfinden, Geld und Liebe, Kapital und Arbeit, Urteil und Vorurteil, Herz und Hirn mit- einander. Dem unverbesserlichen Optimisten und Romantiker Glo- wacki haben wir den stets errungenen Sieg zuzuschreiben, den die geistigen Kräfte sub specie aeternitatis erringen; der nüchterne Realist und Beobachter Prus laßt dafür hienieden das lebenstüch- tigere Bose, die Materie triumphieren, so daß man unter diesem Ge- sichtspunkt unseren Autor einen Pessimisten schelten konnte. Kon- sequenzen dieser Zweiheit: daß die Echtheit, die objektive Wahrheit des Berichteten von keiner falschen Illusion zerstört, daß anderseits dem idealen Glauben sein Recht gewahrt ist. Denn es tragen die erliegenden Streiter für das Gute, Große, Zukünftige das Bewußt- sein hinüber: Non omnis moriar: es kann die Spur von meinen Erden- tagen nicht völlig untergehen.

Wie der Künstler, so strebte auch der Denker Prus nach har- monischer Vereinigung von unerbittlicher Tatsache und befreiender Dichtung, von Geist und Materie, sittlicher Forderung und praktischer Möglichkeit. Er strebt, damit zu tiefst als Optimist erwiesen, nach dem Kompromiß zwischen den in uns, um uns einander widerstreben- den Urkräften. Ein wenig, wie es im polnischen Sprichwort heißt, so, daß der Wolf satt und die Ziege unversehrt sein möge. Das Grundproblem unseres Seins: der Logik, Eihik, Psychologie und Metaphysik, reduziert sich darauf, dem Willen, dem Gefühl und der Vernunft ihre Befriedigung zu schaffen, die im Erreichen der Voll- kommenheit, des Glücks, des Nutzens besteht. Einen, den besten er- reichbaren Grad von Vollkommenheit, Glück, Nuglichkeit zu erringen, obliegt jeder, erstrebt jede Kreatur; soll die Gemeinschaft ihren Mit- gliedern, müssen die Mitglieder ihre Gemeinschaft sichern. Das Leben

34 NF 5 525

wird, für den frommen Mathematiker Prus, zu einer Gleichung mit drei Unbekannten, wo für x, y und z jeder beliebige positive Wert eingesetzt werden kann. Spinnen wir den mathematischen Vergleich fort: x, der Willen, y, das Gefühl, z, die Vernunft, sind Produkte aus O und x, aus dem nichtigen irdischen und aus dem unendlichen ewigen Faktor. Und man erinnert sich, daß bei diesem Produkt das Resultat völlig unbestimmt ist.

Prus zieht also noch eine weitere Größe in den Bereich seines Problems: die positive Religion, beileibe nicht die Religion des Po- sitivismus. Sie offenbart uns, welche der zahllosen Lösungen die einzige fur uns anwendbare ist, wobei der tolerante Rechenmeister noch immer insgesamt die verschiedensten Möglichkeiten zuläßt; im Hause unseres Vaters sind viele Wohnungen. Sehe jeder, wohin es ihn treibe, wenn es nur in eine Zelle des Gottlichen Weltigebäudes hintreibt. „Die Religion ist eine große und wohltätige Macht. Sie zeigt den Menschen überirdische Richtungen, die verfolgend, man dennoch irdisches Glück und den Frieden finden kann.“ Nur so er- trägt man den Schauder, der uns sonst vor dem Nichts ergreifen würde, das, bei groblichstem Materialismus, überall hinter dem ver- gänglichen Augenblick uns entgegendroht. „Wo ist die Seele?“ läßt Prus einen Verfrefer des philosophischen Nihilismus im deutlichen Anklang an einen Ausspruch Virchows fragen. „Die Gelehrten ent- deckten im Hirn nur Fett, Blut, Phosphor, Millionen Zellen, Faserchen, aber keine Seele.“ Und die Antwort des Autors an seine Kreatur: „Welch ein ungeheuerlicher Gedanke, eine Weile zu existieren, um hernach ein Nichts zu werden!“ „Alles ist eitel und Staub, ärger noch, Täuschung... Eines nur ist groß und wahr, der Tod“, heißt es im „Faraon“, und die zweite Entgegnung lautet: „Sehet, wie kläglich sind der Menschen Hoffnungen vor der Weltordnung, vor den Urteils- sprüchen, die mit Flammenschrift der Ewige aufgezeichnet hat.“

Die Überwindung eines törichten, schädlichen, primitiven Ma- terialismus durch die Gewißheit einer höheren Sende ist die Vor- aussekung dafür, daß die sonst unentwirrbaren Konflikte der Inter- essen geschlichtet werden, ohne daß einer Partei eine Unbill wider- führe. Der Sozialismus von Bolestaw Prus, sein warmes Fühlen mit den Enterbten, wurzelt nicht etwa in der marxistischen, positivistischen Theorie des Klassenkampfes, sondern in Überzeugungen, die an Albert de Mun, Péguy, Marc Sangnier in Frankreich, an Vogelsang, Ketteler in Deutschland gemahnen. Nach den Grundsäbken eines christlichen Solidarismus will er das Zusammenwirken der Bevöl- kerungsschichten und der einzelnen, nach denen der christlichen Moral das Tun und Handeln geregelt wissen.

Manche stark betonte Auferlichkeiten täuschen indes über die seiner Epoche so fremden Hauptideen des polnischen Positivisten hinweg. Prus nahm von den damals im Westen herrschenden Lehr- meistern die Argumente für eine revolutionäre Umwälzung in der Organisation der ihn umgebenden Gesellschaft. Daß er die in ihrer sozialen Entwicklung schier beim Mittelalter stehengebliebene pol-

524

nische Nation anders, wirtschaftlich differenzierter, und den Methoden des modernen Lebens gewachsen machen wollte, nahm man als an sich revolutionäres Bestreben; die Betonung der Rolle des mobilen und industriellen Kapitals für eine Bejahung des Materialismus, den Protest gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems für ein Bekenntnis zum orthodoxen Sozialismus, die Anleihen bei Comte, Buckle, Spencer, Taine für Vasallenschaft gegenüber der positi- vistischen Antikirche und vollends manche Äußerungen wider die Geistlichkeit für eine Absage an den Katholizismus.

In Wirklichkeit wiederholt Bolestaw Prus im 19. Jahrhundert nur, was sich im 18. schon einmal vollzogen hatte, die Polonisierung einer gänzlich anders gearteten, anderen Vorbedingungen entstromenden Weltansicht. Sowie die Krasicki und Naruszewicz unter Stanislaw August Poniatowski scheinbar die Lehren von Voltaire und Rousseau verkündet hatten und trotzdem den jahriausendalten Zusammenhang der Begriffe Polentum und Katholizismus nicht zerrissen, so gab Prus dem Positivismus der Atheisten, Skeptiker und Kirchenfeinde des 19. Jahrhunderts eine polnische, katholische Form.

Das sagt schon, wie wir über die Bedeutung des Denkers ur- teilen. Der Autor des „Faraon“ gehört nicht in die erste Reihe der selbständigen Schöpfer und Bahnbrecher. Doch gleich hernach, bei den hervorragenden Gestaltern, die aus schon vorhandenem Material ein Neues und Beträchtliches formten, müssen wir ihm den Plak ein- räumen. Wenn wir jetzt einige der Quellen aufsuchen, die seine Ideen befruchtet, gespeist haben, so heißt das .nicht, als wollten wir mit der Originalität auch den Wert der Prus’schen Leistung leugnen. Unser Dichter hat zeit seines bienenfleißigen Lebens rastlos an seiner Kenntnis und Erkenntnis gearbeitet. Seine literarische Kultur war ungewöhnlich groß und vielseitig. Kaum einer der genialen Weg- weiser oder der dominierenden Zeitgenossen, dem er nicht irgendwie verpflichtet wäre. Cervantes und Moliere, Voltaire und Rousseau, Victor Hugo, Balzac und Flaubert, Zola und Alphonse Daudet, Sue und Olmet, Comte und Taine; Zschokke, Gustav Freytag, Spielhagen und Ebers; Spencer und Buckle, Thackeray und Dickens, Bulwer und Edgar Poe; Gogol, Dostoevskij und Tolstoj können wir als Vorbilder, Anreger bald hier, bald dort feststellen.

Der grundsätzliche Optimismus, der Glauben an die Güte im Menschen rührt von Rousseau her, gelegentliche Ausfälle gegen den Priestertrug hat Voltaire auf dem Kerbholz. Taine lieferte die Milieu- theorie, einen der Grundpfeiler von Prus’ Weltanschauung (,,Starski, Isabella, Eveline sind nicht vom Mond gefallen, sondern in einer bestimmten Sphäre, Epoche, unter bestimmten Ansichten erzogen

worden“). Der Kult des Nüßlichen als Triebfeder unseres Verstandes

stammt von Buckle, Spencer und älteren englischen Ulilitaristen. (Zu den Angelsachsen, mit ihrer diesseitsbewußten Religiösität zieht es Bolesław Prus immer wieder; nicht infolge einer gar nicht vor- handenen Seelenverwandischaft, sondern à rebours seiner Wesen- heit, weil er gerne so sein möchte wie jene). Die übrigen von mir

525

erwähnten Schriftsteller, Große, minder Große und ganz Kleine, haben Szenerien, Szenen, Charaktere, technisches Rüstzeug bei- gesteuert. Man kommt bei Prus häufig zu unerwarteten Ergebnissen. Wer würde z. B. im Ehepaar Korkowicz in den „Emanzipierten“ eine Umkehrung des Bourgeois gentilhomme und seiner handfest-klugen Gattin vermuten? Und doch ist der Zusammenhang so gewiß wie der zwischen Wokulski in der „Puppe“ und George Dandin. Die „Miserables“ Victor Hugos erscheinen auf Schritt und Tritt, auf die Anklänge an „Notre Dame“ wird noch später, beim „Faraon“ hin- zudeuten sein. Dort begegnen wir auch den Reminiszenzen an Bul- wers „Lebte Tage von Pompei“, an Flauberts „Salammbö“, während diese vier, Balzac, Zola, Dickens und... Sue im gesamten Werk des polnischen Dichters gegenwärtig sind. Von Balzac die dämonische Rolle des Geldes, an dem alles hängt, von dem alles abhängt. Von Balzac die ins Weibliche und Polnische transponierte „Mama Goriot“, Frau Latter ın den „Emanzipierten“, die Reihe der polnischen Ra- stignac und auch M. Arnold, ein Warschauer Colonel Chaberi, von Balzac der Professor Geist, auch ein „Rechercheur de l’Absolu‘“. Von ihm und von... Ohne der arme, reiche Wokulski, der so gerne eine Hütte besiken möchte, um sein spätes bürgerliches Glück mit der begehrten aristokratischen Puppe zu genießen. Dickens: die gut- mütige Realistik der Prus’schen Zeitromane, die Wunderlichkeiten braver Fossilien, die in schlechte neue aus der guten alten Zeit hineinragen. Zola: die naturalia, wo sie turpia sind.

Die ,,Schildwache“ hat mit der „Terre“, „Seelen in Gefangen- schaft“ haben mit „L’CEuvre“ das Thema und mehr als das gemein- sam. In der „Puppe“ und in den ,,Emanzipierten“ vernehmen wir das Echo von einem Dufend Zolascher Romane, so hauptsächlich von „Une Page d’Amour“, „Au Bonheur des Dames“. Alphonse Daudets „Jack“ ist noch in der polnischen Verkleidung als Vorbild der erbar- menswerten kleinen Kreaturen erkennbar, durch deren Schicksal uns Prus so oft rührt. Die philosophischen Dialoge in den „Emanzipier- ten“ verleugnen nicht, daß ihnen die des Pfarrers Bournisien und des Apothekers Homais in „Madame Bovary“ vorangegangen waren. Eugene Sue aber war das verkörperte Roman-Feuilleton und darum überall Helfer in der Not, wo Prus einmal die eigene und die fremde Erfindung ausging. (Es im einzelnen und dukendfach nachzuweisen, sollte Aufgabe einer gelehrten und kann nicht die unserer flüchtigen Untersuchung sein.)

Von den Deutschen Gustav Freytag und Spielhagen enflehnfe der Pole zweifelsohne den Rahmen zu seiner Kaufmannserzählung „Die Puppe“. Das Personal im Warenhaus Wokulskis ist eine Kopie nach einem Original, das „Soll und Haben“ heißt. Und dazu stehen die meisten Figuren „In Reih’ und Glied“. Georg Ebers war, neben Flaubert und Bulwer, der Anlaß, freilich nicht das Vorbild, für den „Faraon“. Den guten alten Zschokke habe ich nur hergesekt, um an einem sonst nicht beachteten Exempel zu zeigen, wie weite Umschau Prus bei seiner Stoffwahl hielt. In der Erzählung „Seelen in Ge-

526

fangenschaft“ spielt die schelmische Leontine auf einem Ballfest die Rolle, welche beim „Abenteuer einer Neujahrsnacht“ dem geist- reichen, spöttischen Prinzen zukam.

Der russische Einfluß war stark. Merkwürdigerweise nicht so sehr in der Ideenwelt als auf die Motive und auf die Komposition. Wir haben schon erwähnt, wie z. B. der Anfang der ,,Emanzipierten“ an „Anna Karenina“ erinnert. Deren Spuren verrät in der „Puppe“ die Szene, in der Wokulski den Tod auf den Schienen sucht, während wiederum die Gestalt des ihm Lebensmut predigenden Weichen- stellers die eines richtigen „Bo2ij Celovék“ Dostoevskijs und Tolstojs ist. Der Lakai im „Tod des Ivan Il'i&“ !) Rzeckis Tagebuch mutet fast wie eine Fortsetzung des von Gogol verfaßten, jenes merkwürdi- gen Titularrates an, der sich so lange mit der hohen Politik beschaf- tigt, bis er von einer Deputation der spanischen Granden ins Irren- haus gebeten wird. Die „Hrüder Karamazov“ haben die ersten Seiten von „Sünden der Kindheit“ angeregt.

Die Analogien ließen sich verhundertfachen. Freilich gebietet dem leidenschaftlichen Einfluß-Forscher der Umstand Vorsicht, daß manchmal der Zufall seltsames Spiel treibt und Gemeinsamkeiten hervorruft, die durch keinerlei Abhängigkeit zu erklären sind. Ver- gleicht man so die Worte, mit denen Prus den Tod Rzeckis berichtet, mit der wundervollen Erzählung vom Tod Bergottes bei Marcel Proust, so. staunt man über das Spiel des Zufalls, der obendrein noch die Namen des Polen und des Franzosen einander zum Verwechseln ähneln ließ.

Auf festem Boden stehen wir dagegen, wo wir Prus in seiner Abhängigkeit von älteren polnischen Autoren untersuchen. Dreien ist er zunächst verpflichtet: Ignacy Krasicki, dem polnischen Voltaire, Józef Korzeniowski und J. I. Kraszewski, die vor den Positivisten die besten polnischen Erzähler waren. Krasicki, der Fürstbischof von Ermland und Günstling Friedrichs des Großen, der Zögling der fran- zösischen Enzyklopädie und polnische Patriot, hat den Typus des Romans in siaatsbürgerlicher Absicht für seine Heimat geschaffen. Der „Herr Untertruchseß‘“ und „Herr Do$wiadczynski‘ waren zugleich vorzügliche Sittengemalde und politische Predigt mit stark national- okonomischem Einschlag. Von Krasicki geht eine gerade Linie zur „Puppe“ und zu den „Emanzipierten“. Die Übereinstimmung kommt bei einzelnen Szenen besonders zum Bewußtsein, so, wenn der Gast auf dem Gut der Präsidentin Zaslawska die Spuren der sorgsamen Wirtschaft bewundert. Korzeniowski hat im „Spekulant“ und in anderen Romanen ebenfalls Prus’sche Themen und Situationen vor- weggenommen. Am augenfälligsten erscheint uns hingegen die Identität der Stoffe, wenn wir Kraszewskis „Zwei Welten“ und „Mori- turi“ der „Puppe“ gegenüberstellen. Zu den Sternen zweiter Größe am polnischen Literaturhimmel bei Prus Analogien herauszubekom- men, ist nicht schwer, doch hier kaum geboten. Wenn wir noch auf die ideologische Abhängigkeit von Mickiewicz hinweisen (z. B. von dessen herrlicher „Ode an die Jugend“ und ihren Preis des Gemein-

527

schaftssinnes, ihre Verdammung der Ichsucht), haben wir über Prus Beziehungen zu seinen Vorfahren genug gemeldet. Es erübrigt uns nur, zu berichten, wie nachhaltig sein Einfluß auf die Späteren war. Sienkiewicz dem der Zeitgenosse oft zu billiger Parallele gegen- übergestellt wurde und von dem er wohl den Anstoß zur „Schild- wache“ in der Novelle „Bartel, der Sieger“ empfing hatte die „Familie Polaniecki“ kaum geschrieben, ohne daß ihr die „Puppe“ vorhergegangen war. Reymont nahm zu seinen „Bauern“ von der „Schildwache“ den Ausgang. Zeromskis gesamtes Schaffen ist wie eine Fortsezung des Werks von Bolesław Prus. Aus Madzia (zu der Zeromskis erste Gattin Modell gestanden hatte) wird die Joasia der „Heimaflosen Menschen“, Wokulski lebt in einem halben Dußend Zeromskischer Gestalten. Den „Kindern“ reiht sich der „Kampf mit dem Satan“ des jüngeren Dichters an. Der „Faraon“ schuf die Tra- dition des polnischen, die heimatlichen Grenzen überschreitenden Romans, den heute Berent glanzvoll repräsentiert.

An den Früchten kann man erkennen, daß die Saat von Bolestaw Prus eine gute und heilsame war. An der Lebendigkeit seines Werkes, das, trotz veränderter äußerer Verhältnisse, nichts von der ursprüng- lichen Frische eingebüßt hat, dessen inneren Wert. Es gewährte ihm Achtung und Liebe einiger kommender Generationen, wäre nicht ein Buch, das ihm Unsterblichkeit verbürgt. Von dem, vom „Faraon“, sei nunmehr einiges gesagt.

Der Dichter hat sich zu seiner Aufgabe durch gründliche Studien vorbereitet. Um den Plan einer ägyptischen Erzählung zu verwirk- lichen, trat Prus, trob seiner fast krankhaften Abneigung gegen Orts- veränderung, eine lange währende Reise nach Mittel- und West- europa an, wo er die Museen von Berlin, Dresden und Paris besuchte. Zu Ende 1895 war er mit den Vorbereitungen fertig. Das Buch ist im folgenden Jahre niedergeschrieben und alsbald veröffentlicht worden.

Prus verfolgte die doppelte Absicht, ein historisches Fresken- gemälde zu zeichnen, eine dahingeschwundene Kultur vor unseren Augen wieder erstehen zu lassen und durch das den Leidenschaften entrückte, zeitlich wie örtlich ferne Beispiel wie stets für seine Ideen zu werben. Er wählte den Pharao Ramses XIII. zum Helden, der nur wenige Monate regiert hatte, in der Weltgeschichte kaum eine Spur hinterließ und nur durch die Kunst des Dichters zur großen Gestalt erhoben wurde. Mit diesem Herrscher verknüpfte Prus eine Episode ewiger Kämpfe: der zwischen Sacerdotium und Imperium, der zwischen den Klassen, der des einzelnen gegen die Gesellschaft. Wir sollen beides, uns an der Erzählung ergogen und aus ihr den auch unserer Epoche unverlierbaren Nugen ziehen. Unter diesem doppelten Ge- sichtspunkt wollen wir an die Lektüre des Buches herantreten. Die Handlung ist folgende: Im 33. Jahre der Regierung seines schwachen, kranken Vaters Ramses XII. soll der junge, feurige Thronerbe der

028

Pharaonen seine Eignung ztr Befehlsgewalt erproben. Herhor, der Hohepriester und Kriegsminister, ein altägyptischer Richelieu, herrscht unumschränkt über den Pharao und damit über das Land. Zwischen dem Günstling und dem künftigen Regenten besteht offene Feind- schaft. Herhor ist die inkarnierte Staatsraison, ein leidenschaftsloser Hüter der Interessen des Reichs. Der Prinz gehorcht den Launen seines übersprudelnden Temperaments, den Regungen seines warmen Herzens. Er möchte das Los der gedrückten Bauern bessern, ohne viel zu fragen, wie das Land den Umsturz vertrüge. Er lechzt ander- seits nach Kriegsruhm, ohne sich Rechenschaft abzulegen, mit wieviel Elend und mit welcher Katastrophe sein Triumph erkauft werden müßte. Höher als das Staatsinteresse ist ihm das der Menschen, höher als das der Untertanen seine augenblickliche Lust. So ver- nachlässigt er die militärischen Pflichten, um eine Liebesidylle mit der schönen Jüdin Sara zu genießen, der er während des Manovers be- gegnet ist. Darob Enfrüsfung des priesterlichen Ministers, des Pha- raos und Entiäuschung der Wünsche des Thronfolgers, der sich wieder um seine Träume von der Macht betrogen sieht. Herhor ver- sucht indessen, dem dereinstigen Herrscher Gelegenheit zu anderen Lorbeeren zu verschaffen. Der Prinz wird nach Oberägypten zur Inspektion der dortigen Provinzialverwaltung entsandt. Diese Reise soll den verschiedensten Zwecken dienen: erproben, ob sich nicht doch der künftige Pharao, wie sein Vater, der von Herhor geführten Geistlichkeit unterordnen möchte; das Terrain für eine Haupt- und Staatsaktion frei machen, die den etwaigen kriegerischen Absichten der aufgehenden Sonne einen Riegel vorschöben; endlich die Liebes- bande des ägyptischen Fürsten mit der Volksfremden zerreißen.

Die Absicht glückte beinahe, hätten nicht die Phönizier, in deren Händen der ägyptische Handel lag und denen vor nichts so sehr graute als vor der von den Priestern betriebenen friedlichen Ver- ständigung mit dem mächtigen Nachbarreich Assyrien (dessen Opfer alsdann die phönizischen Städte würden); hätten nicht Dagon, der Hofbankier, und Hiram, das Oberhaupt der fremden Kaufleute, durch den Verrat eines ehrsüchtigen Priesters von den Verhandlungen mit Assyrien Nachricht erhalten. Sie stachelten nun den Thronfolger, der nahe daran war, sich der Geistlichkeit zu ergeben, zum Widerstand gegen die seine Glorie gefährdenden Projekte. Indem sie an alle Triebe des Königssohnes appellieren. An seine Ruhmbegierde, die vom lähmenden, entehrenden Frieden gehemmt würde; an seine Liebe zu Ägypten und zum Volk, denen die geplante Anlegung eines Kanals zwischen Mittelländischem und Rotem Meere den Weg nach Indien und damit unendlichen Reichtum bringen sollte; an seine ungezügelte Sinnlichkeit, der in der Hierodulen Kama ein verlockendes Objekt dargeboten wurde, das mit seinem perversen Reiz schnell die ein- fältige Sara ausstach.

Herhor findet seine Hoffnung vereitelt und weiß den in die Hauptstadt heimgekehrten Prinzen, um die Verträge mit dem assy- rischen Gesandten Sargon unter Dach und Fach zu bringen, nochmals

529

zu entfernen. Diesmal an die Westgrenze, wo die aus Sparsamkeits- rucksichten verabschiedeten lybischen Söldner plündern und sengen. Der Thronfolger erficht einen glänzenden Sieg. Doch er bezahlt ihn teuer: mit dem Tod seines von Sara geborenen Knäbleins, das Kama aus Eifersucht und als unbewußtes Werkzeug der Priester, ermorden ließ. Und ihm bleibt zum Schmerz keine Zeit. Den Sieger über die gedemütigten Lybier ruft die Kunde vom nahen Tode seines Vaters zurück. Als Pharao betritt er Memphis.

Es beginnt der kurze entscheidende Kampf um die wahre Macht zwischen Ramses XIII. und der um Herhor gescharten Priesterschaft. Alle Schagke sind in deren Besitz, doch die Staatskassen leer: ein erstes und ernstes Hindernis gegen alle weitreichenden Plane des Pharao. Zum Kriegführen gehört Geld und ein starkes Heer. Die bisherigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt weigern sich, dem Herr- scher diese Instrumente des gebietenden Waltens in die Hand zu geben. Ramses unternimmt auf den Rat des Phöniziers Hiram einen Handstreich wider das Zentrum der priesterlichen Macht, das Laby- rinth. Dort liegen, seit vielen Jahrhunderten angesammelt, die un- ermeßbaren Reichtiimer der Geistlichkeit. Derselbe Verräter, dessen Mitteilung den Vertrag mit Assyrien enthüllt halte, bietet sich an, den Weg zu den verborgenen Schätzen zu finden und zu zeigen. Es gelingt ihm, einzudringen. Doch von den wachsamen Hütern des Labyrinths überrascht, entzieht er sich durch freiwilligen Tod der grausamen Strafe. Nun will Ramses offenen Krieg gegen seine Widersacher. Er haßt sie als die Mörder seines Kindes, seines Ruhmes, seiner Macht und seiner Illusionen. Mit den treuen Truppen gebietet er seinem Günstling Tutmosis das Heiligtum anzugreifen, in dem Herhor seinen Sitz aufgeschlagen hat. Die Umsicht und die höhere Einsicht der Erfahrenen siegen. Menes, ein greiser Denker, hat in einer entlegenen Klause das Herannahen einer Sonnenfinster- nis berechnet. Dem Pharao bot er Belehrung. Der schiebt den un- nützen gelehrten Kram mit einer verächtlichen Handbewegung bei- seite. Nicht also Herhor. Mit kluger List hekte er die dem Mon- archen ergebenen, für die Obhut über ihr Elend dankbaren Massen gerade zum rechten Augenblick gegen den Tempel. Schon sind die Stürmenden nahe. Da tritt der erwartete Moment ein. Die Sonne, vom Hohenpriester laut zum Schuß wider die Ruchlosen angerufen, die Sonne, Agyptens Gottheit, verfinstert sich. Entsefen lähmt die Frevler. Doch der Mittler zwischen dem Volk und dem Gotte übt Erbarmen, erbittet von der Sonne, daß sie wieder scheine! Ramses hat seinen Rückhalt bei der Menge verloren. Die Krone, ja das Leben sollen dem Feind der Priester nicht lange verbleiben. Ein griechischer Sänger, den Kama, die Phönizierin, dem Pharao vor- gezogen hatte, aus Eifersucht und in der Hypnose Herhors williges, blindes Werkzeug, lauert Ramses auf und tötet ihn durch den Stoß eines vergifteten Dolches, als der Monarch sich aus den Armen einer neuen Geliebten nach Memphis an die Spike der Armee begeben

550

will, um selbst den Troß der Geistlichkeit zu brechen. Herhor be- steigt danach den ägyptischen Thron.

Wird die Fabel des „Faraon“ nüchtern erzählt, so konnte man meinen, einem der zahlreidien antiquarischen Romane begegnet zu sein, wie sie die Achtziger und Neunzigerjahre des verflossenen Säkulums in peinlicher Fülle hervorbrachten. Eine polnische ,,Agyp- tische Konigstochter“ verlohnte nicht die Mühe verspateter Bekannt- schaft. Bolestaw Prus’ Werk ist jedoch weit mehr als eine ägyptisch kostumierte Liebesintrige oder ein in die Erzählform gebrachtes Handbuch der Agyptologie. Wir lesen die ewig gültige Geschichte des tragischen Reformators auf dem Thron, des Revolutionärs malgré lui, den fieberhafte Unstetigkeit und glühende Sinne gleich Dämonen zum frühen Ende, zum Verderben treiben. Dieses Sich- Einfühlen und Sich-Eirsfühlen mit dem seine Bahn durchrasenden furstlichen Umsturzler, der wie ein Komet aufgeht, von den einen als Licht begrüßt, von den anderen als drohendes Verhängnis ge- fürchtet, und wieder in der Nacht versinkt, als sei nichts geschehen, während die alte Ordnung unerschüttert fortdauert: dieses Ver- schmelzen von zwei Persönlichkeiten, der imaginationsgesattigten des Dichters und der imaginären des Helden, in eine ist unheimlich, großartig, ein sichtbares Zeichen der künstlerischen Gnade.

Die Fülle dieser Gnaden aber erhebt den „Faraon“ zum die Zeiten überhöhenden Denkmal. Nicht, daß Prus die historischen Quellen sehr gewissenhaft studiert und ein farbiges Bild des Pha- raonenreiches uns geschenkt hat, in dem der Fachmann diesen oder jenen Zug verwerfen mag, nicht die nunmehr vollkommen beherrschte Technik der meisterlich komponierten Erzählung stempeln dieses Buch zum dauernden Kunstwerk. Geschichtliche Treue ist eher ein Vorzug des Gelehrten, geschickte Technik ruhmen wir am ange- nehmen Talent. Eine Lebensdeutung wie diese konnte nur ein genialer Dichter geben (der auch das Zeug zum großen Historiker besessen hätte). In der „Verlorenen Handschrift“ schildert Gustav Freytag, wie es den Fürsten mit kaltem Graus anpackt, als ihm der Professor die Taciteische Charakteristik der Cäsaren vorträgt und der deutsche Duodeztyrann im römischen Kaiser seinen Spiegel- menschen und den Gefangenen des Wahnsinns erkennt. Im Prus- schen „Faraon“ würde mancher moderne Herrscher und Diktator sein Bildnis finden, und es ist besonders eine Analogie, die sich uns auf- drängt, die mit Josef Il. Ich habe die Geschichte des „Schäßers der Menschen“ aus den Quellen studieren können, Tausende gedruckte und ungedruckte Dokumente von, über, gegen, für den Sohn Maria Theresens durch meine Hände gehen lassen. Prus wußte von ihm kaum mehr, als was ein gebildeter Pole aus dem ehemals russischen Anteil zu wissen pflegte: soviel wie nichts. Und dennoch erschaudere ich, wie im „Faraon“ die geheimsten Seelenregungen des Romisch- Deutschen Kaisers aufgedeckt und die wesentlichen Phasen seines hoffnungslosen Kampfes geschildert sind. Das gehört in jenes Ka- pitel vom Unbewußten, von der zwischen den Zeilen zu suchenden

551

Bedeutsamkeit des Mannes, der nur Prediger, Publizist sein wollte, als tiichtiger Erzähler galt, zumeist auch nur beides war, einmal aber seine Löwenklauen zeigte. Die Tragödie Ramses XIII. ist ja auch die des heimlichen Führers Boleslaw Prus, seines getraumten Ringens gegen die Tradition, der er doch wieder verhaftet ist.

überhaupt sollen wir nie das Doppelte Antlig der ägyptischen Erzählung für ein einfaches (oder gar einfältiges) nehmen. Wie in Sienkiewiczs „Quo vadis“ hinter den Römern, Lygiern, Christen und Heiden das polnische Volk und seine Peiniger sich bergen, so ist, ohne daß dadurch die Harmonie des Buches gestört würde einen historischen Roman dürfen wir nicht mit Historie schlechtweg ver- wechseln —, die Anspielung auf dem Dichter zeitgenössische polnische Dinge sehr häufig. Bei manchen Personen gilt, was eine Figur aus den „Seelen in Gefangenschaft‘ einmal von sich sagt: „den Instinkten nach bin ich eher eine moderne Amerikanerin als eine alte Agyp- ferin“. Noch häufiger trifft man bewußte und liebenswürdige Anachronismen in den humoristischen Szenen. Wenn Ramses als Thronfolger mit Dagon, dem Phönizier, um ein Darlehen verhandelt, so glauben wir einem großangelegten Pumpversuch irgendeines ver- schwenderischen polnischen Magnaten bei seinem Hausjuden bei- zuwohnen. Dagon und Hiram mengen in ihr Gespräch jüdische Anek- doten, die uralt und ewig neu sind. Asarbadon, der Gastwirt und der Zehntmann einer ägyptischen ,,Ochrona“ (oder Defensywa) sind, der phönizisch-ägyptischen Kostüme entledigt, bekannte Warschauer Typen. Wenn von den Beziehungen Ägyptens zu Assyrien die Rede geht, so haben wir uns die zwischen Polen und Deutschen vor- zustellen.

Strittig bleibt, ob wir den Konflikt von geistlicher und weltlicher Gewalt, wie es der polnische Kritiker Graf Tarnowski will, auf Poien unmittelbar übertragen sollen. Für Polen, für alle Epochen und Nationen aktuell ist das Grundproblem des ,,Faraon“, das ich in dem durchs biographische Beispiel erhärteten Sak erblicke: Nur wer frei vonpersönlichen Rücksichten, Leidenschaf- ten der Allgemeinheit dient, ist zu deren Führer berufen. An der Vermengung seiner eigensten Begierden mit den großen, überindividuellen Zielen, die er sich steckte, geht Ramses zugrunde. Herhor, die Verkörperung der unpersönlichen Staats- raison, triumphiert. Wir können noch ein weiteres herauslesen: die Warnung vor der überhasteten Umwälzung, der unorganischen Re- form, dem törichten Bruch mit ehrwürdigen Traditionen. Wieder er- scheint Josefs Il, Schatten vor unserem geistigen Auge. Und er weicht nicht von uns, wenn wir das Charakterbild des unseligen Agypterfursten betrachten.

Ramses XIII. leidet unter dem Mißverhältnis zwischen hoher Ge- burt und geringer Madit. Sein Vater, gütig, verehrt, weil er dem Herkommen und dessen Hütern im geistlichen Kleid sich fügt, wehrt ihm den wirklichen Einfluß auf die Staatsgeschafte. Die angesam- melte Energie des jungen Prinzen, der sich wie ein edler Renner

852

wider die aufgezwungene Rast baumt, entlädt sich in sexuellen Ex- zessen, über deren wahren Beweggrund physische und verdrängte geistige Kräfte dem Thronfolger kein klares Bewußtsein wird: er glaubt zu lieben, der Liebe zu bedürfen oder sich seiner befriedigten Triebe zu freuen. Zug um Zug, die Geschichte des von Maria Theresia gehemmten Josef. Brennender Ehrgeiz, genährt von den Erzählungen der nach ihrem künftigen eigenen Glanz lüsternen Höf- linge, sucht sein Betätigungsfeld in Krieg, Landerwerb und eine Stütze in den unteren Schichten, die im Grunde verachtet, durch Für- sorge fürs materielle Wohl geködert werden, beim Militär, das der friedlichen Ara grollt; brennender Ehrgeiz hakt die einzige Klasse, die in einer absoluten Monarchie den Willen des Regenten hemmen und mit ihrem Besig den Neid des in seinen Mitteln beschränkten Monarchen herausfordern kann: Josef II., der Schirmherr des Land- manns und dessen Zuchtrute, sobald der Untertanenverstand sich zur Kritik erdreistet oder Gut und Blut schont; der Freund Lacys und Widersacher des friedliebenden Kaunik. Ramses duldet keine Wider- rede: „Mein Zorn ist wie ein des Wassers übervoller Krug... Wehe dem, über den er sich ergießt.“ Doch er selbst hat wenig Rückgrat gegenüber den eigenen Hemmungen, wechselt rasch und sprunghaft die Entschlüsse. „Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag stieg empor und sank seine Seele wie die Nilwasser im Verlauf eines Jahres.“ In den Worten seines priesterlichen Feindes: „Ein Feuer- kopf, Schürzenjäger, Abenteurer, doch ein starker Charakter“ liegt nur scheinbar ein Gegensab zu der Wandelbarkeit, die aus jedem von Ramses-Josefs Schritten hervorleuchtet. Die Charakterstarke war ihnen nicht wesenhaft, sittliches Muß, sondern nur Eigensinn, Eigen- wille, Eigennuz. Ramses weiß alles, und er weiß es dazu besser. Er nippt von jeder Kenntnis und hat zu keinem gründlichen Studium Ausdauer. Zuletzt überwirft er sich mit allen die paar Favoriten und Favoritinnen abgerechnet -; auch das gehätschelte und in seinen Traditionen, in seinem Glauben und Aberglauben beleidigte Volk verläßt den Monarchen. Krank und gehetzt, darob nicht weniger gewiß, das Gute gewollt und gewirkt zu haben, stirbt Ramses. Ein kluger, herzenskalter Nachfolger sondert die Spreu vom Weizen. Das Unfruchtbare verdorrt, und die Blüte verheißende Saat wird von einem anderen gehegt, entfaltet, geerntet.

Herhor kann man ganz gut mit Leopold II. zusammenstellen. Das Priestertum ist fiir diesen agyptischen Staatsmann nur die zeitiibliche Verbeugung vor dem Herkommen, das die berufsmäßige Leitung der hohen Politik dem geistlichen Stande vorbehielt. List, Selbstzucht, Überlegung kennzeichnen den Gegenspieler Ramses XIII. und vor allem, was dem Beherrscher ziemt, die Beherrschung. Denn es ware falsch, in diesem Gefäß der kritischen Umsicht eine seelenlose Regiermaschine zu wähnen, etwa einen anderen Franz Josef oder Franz ll. Ein Vulkan ist Herhor, unter dessen Lavaschicht die ver- heerendste Glut nistet; einer von den großen Ehrgeizigen, die zum

555

Unterschied von ihren kleineren Genossen sich Zäume anlegen, um andere um so fester die Zügel spüren zu lassen.

Die übrigen Gestalten des „Faraon“ treten hinter den zwei Pro- tagonisten zurück. Nicht, daß sie an sich unbedeutend wären. Sie nähern sich nur den uns bekannten Bildnissen der Prus’schen Galerie. So prächtig ihre Farben sind, es mangelt ihnen der Zauber des Ein- maligen, und es sind Porträts, nicht grandiose geschichtliche, zeitlose Wirklichkeit. Ramses XII.: ein Ludwig XIII. neben Herhor, seinem Richelieu; ein Wilhelm l. neben Bismarck. Die Priester: Menes, ägyptische Inkarnation des Prus’schen Forscher-Propheten. Mefres, ein guimütig-beschränkter Fanatiker. Pentuer, der durch Fleiß, Ver- stand und Anstandigkeit arrivierte Proletariersohn. Samentu, ein mächtgieriger Verräter. Nach polnisch-jiidischen Vorbildern glän- zend gezeichnet die Phönizier: Hiram, jeder Zoll ein politisierender Bankpräsident. Dagon, einige Stufen tiefer, ein glücklicher In- flationsgewinner, der bereits in mehreren Verwaltungsräten sift. Konventionell und blaß die Feldherren Nitager, Patrokles, der Günstling Tutmosis. Gute Chargen der assyrische Gesandte Sargon, der Lybierhäuptling Musawara. Völlig blutlos hingegen: der Som- nambule Lykon, ein Überbleibsel aus dem Roman-Feuilleton und der Hintertreppenromantik; Beroes, der Chaldäer, halb ägyptisches Traumbüchel, halb Deserteur aus Bulwers „Leßten Tagen von Pom- pei“. Lieblich, anmutig und echter Prus das Knäblein Psujak. Von den Frauengestalten ist nicht viel zu melden. Sara, die opferwillige, selbstlose Geliebte, Kama und Hebron, die ägyptischen Pupperln, und die Königin Mutter Nikotris sind nicht besser und nicht schlechter als Hunderte ihrer literarischen Vorgängerinnen.

In einem Buch, das über dem prinzipiell erotischen Roman turm- hoch steht, weil es zugleich wirkliches Leben und dessen ewige Stilisierung, Typisierung bedeutet, hat die Liebesintrige die ganz sekundären, amurösen Zwischenfälle im „Faraon“ sind nur flüchtige Episoden; wie in der Wirklichkeit, die von den Romanciers und Romantikern immerdar gefälscht wird kaum Platz. Deshalb ver- dämmern die weiblichen Figuren in einem wenig belichteten Halb- dunkel; nur der Mann, die Mannestat, der homo politicus strahlen in völliger Helle.

Im Grunde stehen alle auger Ramses XIII. und Herhor im Schatten dieser beiden. Dafur herrscht zwischen den einzelnen Seiten des Buchs mehr demokratische Gleichheit. Es gibt im „Faraon“ keine Längen und keine toten Punkte. Vom prächtigen Auftakt bis zum gewaltigen Finale. Überall Spannung, Fluß, Bewegung. Nie erlahmt unsere Teilnahme. Mit logischer Notwendigkeit entquillt ein Ereignis dem anderen. Zuruckschauend auf die lokalen und historischen Vor- aussetzungen, auf Menschen und Zustände, begreifen wir, daß es nicht nur so kommen konnte, sondern audi so kommen mußte. Welche Szene sollen wir vor den anderen preisen? Der bedrängte Bauer vor Herhor und hernach im Angesicht des Höchsten Richters; der Thronfolger und die Schergen des Bankiers Dagon; die Schlacht

554

gegen die Lybier; Ramses XII. Tod und Begräbnis; Samentu im Labyrinth, und doch der alles überragende Gipfel, der Sturm gegen das Heiligtum.

Unsere Bewunderung gebührt noch vielem, ja beinahe jeder Einzelheit. Die Beschreibungen der Landschaften haben nichts von der Herkömmlichkeit, die ihnen in den älteren Werken des Dichters anhaftet. Der gesamte Aufbau ist von der Schönheit eines elegant bewiesenen mathematischen Theorems, einer zweckstrebig kon- struierten Fabrik. Eine raffinierte Exposition halt unsere Erregung bis zulekt wach. Wie spät wird Samentu als der Motor enthüllt, durch den die Aktion ins Rollen kommt. Erst wenn am Schlusse Herhor den Thron besteigt, ahnen wir, daß die Königin Nikotris mit ihm eine etwas verzerrte Hamlet-Tragödie inszeniert hat, deren Opfer Ramses XIII. und, wer weiß, Ramses XII. wurden. Die Pathetik der schicksalswendenden Geschehnisse greift uns ans Herz, und wo sich, zwischen die Akte der Tragödie, ein lustiges Intermezzo ein- schiebt, lachen wir vergnügt, wie nur je, wenn Prus seinem ernst- haften Humor die Zügel schießen läßt. Suchen wir nach irgendeinem Einwand, so fände ich nur den mit einiger Mühe zu widerlegen- den —, daß die Ökonomie des Buches nicht dem Titel entspricht: Ramses erscheint durch zwei Bände als Thronerbe, und seine Erleb- nisse als Pharao bilden bloß den kleineren Teil der Erzählung.

Der Rest ist Weisheit, Schönheit, Maß, bewährt an einem der seltenen Werke des Romans, das sich den unvergänglichen Lei- stungen anderer Genres ebenbürtig heißen darf. Nicht die, wie stets bei Prus, in beliebiger Zahl nachzuweisenden Vorbilder auf die Bulwer, Ebers braucht man nur hinzublicken, um den Abgrund zu ermessen, der sie von dem Polen trennt; der Vergleich mit ,,Sa- lammbö“ fällt nicht unbedingt zum Nachteil des „Faraon“ aus nicht die Verstöße gegen die Authentizität, die anzukreiden ich Ägyp- tologen überlasse, vermögen irgendwie den menschlichen, künst- lerischen Wert einer Leistung zu vermindern, die uns beglückt, er- hebt, bereichert; die einem grandiosen Stoff die adäquate Gestal- tung lieh; die, den engen Rahmen des Polnischen, Allzupolnischen sprengend, universell und dennoch in der besten Überlieferung der

Heimat wurzelnd, mit gebieterischer Hoheit Aufnahme ins Pantheon der Weltliteratur verlangt.

BÜCHERBESPRECHUNGEN

Fr. Bulié, Li. Karaman: Der Palast Kaiser Diokletians in Split. (Palača Cara Dioklecijana u Splitu.) MCMXXVII, Zagreb, Matica Hrvatska.

Mit drei Gruppen von Sehenswürdigkeiten ist der Name des großen kroatischen Archaologen Don Frane Bulié unlosbar verbunden: mit dem kolossalen Gemäuer- und Gebäudekomplex, der die Altstadt Spa- lato (Split) in sich faßt und durchsetzt; mit den weiten, von freigelegten Denkmälern antiken und frühchristlichen Lebens und Sterbens übersäten Ruinenfeldern Salonas (Solin) und einer erheblichen Zahl anderer Aus- grabungsstätten, die über das dalmatinische Küstenland und die dazu- gehörigen Inseln verstreut außer ähnlichen Funden auch prähistorische Reste und kosibare Zeugnisse zur Geschichte der altkroatischen Fürsten und Könige geliefert haben; mit dem archäologischen Museum in Split, das seine Schätze aus Stein und Metall nun in würdiger Weise umschließt, hütet und offenbart, und zu alledem mit der Zeitschrift: Bulletino di archeologia e storia dalmata, 1878—1920 (seither Vjesnik za arheologiju i historiju dalmatinsku), worin ihr Herausgeber Monsignore Bulić die meisten seiner Forschungsberichte und Resultate niedergelegt hat. So ungeheuer diese Arbeitsleistung des lebensvollen, geistsprühenden Gelehrten, der heute sein 82. Jahr überschritten hat, sein mag, so läßt sie sich doch fest- stellen und überblicken. Unzählbar aber, unmeßbar und unabschagbar sind die Wirkungen, die von Don Franes knaben- und volkserzieherischer Wirksamkeit er war lange Jahre Professor und Gymnasialdirektor und von den Unterweisungen ausgingen und ausgehen, die Tag um Tag, jahr- aus jahrein auch jeder fremde Besucher der Sehenswürdigkeiten Splits und Solins von ihm empfing und empfängt. Die prachivolle Rechtlichkeit dieses Mannes, sein helläugiger Enthusiasmus, sein urgesunder Humor, sein unermüdliches, mit einer köstlichen Dosis gewollt durchsichtiger Schlauheit gewürztes Kampfertum, die Herrscherbegabung dieses „christlichen Freundes“ des Christenverfolgers Diokletian, die Frische und Beweglichkeit seines Denkens ... jeder flüchtige Gast fühlt sich dadurch berührt, Jünger und Schüler bleiben davon durchdrungen. Fast kein Ort in Dalmatien, wo nicht ein Priester, ein Richter, ein Arzt, ein Künstler, ein Lehrer ..., dessen Wissen, Kulturtätigkeit und Interessenkreis uns in Erstaunen setzt, dankbar der Förderungen gedenken würde, die er aus Don Franes Persönlichkeit, Unterricht, Gesinnung und Forschungsweise erhielt.

Eine Synthese seiner Arbeitsergebnisse an der ersten der eingangs genannten Denkmalergruppen hat Monsignore Bulić im Verein mit seinem jungen Kollegen, dem Kunsthistoriker und Konservator Dr. Lj. Karaman 1927 unter dem Titel: Palača Cara Dioklecijana u Splitu in den Ausgaben der Matica Hrvatska veröffentlicht. Das relativ umfangreiche (284 S.) mit hundert und einem Vollbilde geschmückte Werk legt in seiner Widmung der

806

Stadt, die in und um Diokletians Palast entstanden ist, den Schuß ihrer Bau-, Skulptur- und Ruinenschage ans Herz. Auf die stimmungsvolle Ein- leitung folgt ein Abschnitt über Lage und Ortsbezeichnung, Bauzeit und Material des Kaiserpalastes. Der Name Spa- lato kommt zuerst auf Peutingers Tafel vor, die nach Agrippas choro- graphischer Karte des Römerreiches (12 v. Chr.) hergestellt wurde. Bei Schriftstellern des 4. und 5. Jahrhunderts findet sich neben Spalato auch Aspalatho. Inschriften fehlen. Bulić neigt zur Meinung, die Benennung Spalato käme von Aspalathos; so nach einem am Balkan häufigen Gesträuch, werde ursprünglich das Fischerdorf geheißen haben, wo Kaiser Diokletian, der im Jahre 245 unfern davon, auf dem Hügel Libovac bei Salona, zur Welt gekommen war, die Palastvilla erbaute, in die er sich nach seiner frei- willigen Abdankung (1. V. 305) wieder „Diokles“ geworden ruhebedürftig zurückzog, und wo er eigenhändig Gemüsekultur betrieb.

Keine Büste, keine Statue hat sich von diesem großen Kaiser erhalten, nur Münzen zeigen uns sein Profil. Den Bau, den er zu seinem Ruhesibe bestimmte, dürfte Diokletian erst gegen das Ende seiner langen Regierungs- zeit ausgeführt haben. Im Palaste selbst wurden wohl viele Steinmeb- zeichen und griechische Buchstaben entdeckt, auch eines griechischen Ar- beiters Name (Zotikös) und als Geheimbekenntnis eines andern das christ- liche Fischsymbol, darunter OA, das der Innenseite eines Mauersteines an- vertraut war, doch ist man über die Herkunft der Baumeister des Palastes auf Kombinationen angewiesen. Das Baumaterial kam größtenteils aus den staatlichen Steinbrüchen der benachbarten Insel Brač (Brazza, Brattia), wo- selbst auch die Säulen, die man ägyptischen Bauten entnahm, zugerichtet wurden. Auch Tuffstein und Ziegel aus der nächsten Umgebung fanden Verwendung.

Kapitel Il, Diokletians Palast in der Literatur, bringt auf 20 S. eine chronologisch geordnete Übersicht und kritische Wertung der diesen Gegenstand betreffenden oder behandelnden Angaben, Schriften und Werke. Der V. Abschnitt enthält die Beschreibung des Palastes, seiner Umfassungsmauern, Türme und Tore, der südwärts im Innern gelegenen Partien und Gebäude (Peristyl, Mausoleum und Palasttempel), der kaiser- lichen Wohnräume (Vestibül, Tablinum und Kryptoportikus) und der Dio- kletianischen Wasserleitung. Manche Zweifel und Streitfragen, zu denen besonders die sakralen Gebäude, das prächtige Mausoleum (die jebige Domkirche) und der Tempel (das Baptisterium Splits) Anlaß gaben, kommen dabei zur Sprache.

Dr. Li. Karamans Abhandlung: Der Diokletianische Palast in der Kunstgeschichte (V.Kap.63S.) beantwortet zunächst die Frage: Was ist seiner Grundform und seinen Dispositionen nach Diokletians Palast eigentlich?” Castrum, Villa oder Stadt? dahin, daß er gleichzeitig all dies sei: Festung durch seine Wehrmauern, Türme und Tore, Villa in seiner Südfront und Städtchen in der Anordnung seiner Gassen und Innenbauten. Besonders erörtert werden der Grundplan, das Wehrsystem, die Straßenhallen, die Südfassade. Die Architektur des Palastes wird unter dem Gesichtspunkt behandelt, ob in ihr eine Dekadenz cer Kunst in Erscheinung trete. „Neben großer konstruktiver Soliditat, reicher und üppiger Dekoration und einer Architektonik, die neuen Zielen zuschreitet, finden wir in ihr auch sichtliche Zeichen eines Niedergangs handwerklicher Geschicklichkeit“, sagt Karaman und bespricht nach ver- gleichender Betrachtung und Prüfung der technischen Prozeduren und der architektonischen Dekoration im allgemeinen und besondern dıe Be- deutung des Palastes in der Entwicklung der Kunst. Das wichtige Stilmotiv des Archikolonnats, der unmittelbar, ohne Zwischenstück, von den Säulen aufsteigenden Bogenreihe, wird entwicklungsgeschichtlich behandelt, das Typische wie das Eigentümliche anderer Dekorations- und Bauformen des Palastes, stets unter Heranziehung reichen Vergleichsmaterials unter- sucht und zu den Meinungsverschiedenheiten über den Plab, den der Palast zwischen der Bauwelt des Westens und der des Orients einnimmt, schließ-

557

lich Stellung genommen. Statt ihn mit den „Orientalisten“ direkt von einem Vorbilde (Diokletians Palast in Nikomedia oder jener bei Antiochia) abzuleiten, hätte man sich, sagt Karaman, für jetzt damit zu begnügen, ein „iypisch antikes Gebäude“ in ihm zu sehen, „das zu Beginn der Spatantike von Meistern aus den hellenistischen Gegenden des Reiches errichtet worden ist“.

Fr. Bulić entrollt hierauf in Kap. VI, Deokletians Palast im Wandelder Jahrhunderte, die Schicksalsgeschichte des gewaltigen Baues, den mehr als anderthalbtausend Jahre nicht zu vernichten ver- mochten. Nach Diokletians Tode (313) wurde der Palast als Krongut zu verschiedenen Zwecken verwendet, im Nordtrakt webten Weiber Tuch für den Armeebedarf, im 5. Jahrh. diente der südliche Teil einigen verbannten oder geflüchteten Herrschern als Asyl. Unter der Gotenherrschaft und selbst in den ihr folgenden Kriegen scheint der Palast nicht besonders gelitten zu haben, schlimmer muß es ihm jedoch im 7. Jahrh. zur Zeit der Avarenstürme ergangen sein. Immerhin vermochte der Bau den Nach- kommen der Salonitaner, Romanen, die um 615, nach der Zerstörung ihrer Stadt, auf die Nachbarinseln geflüchtet waren, später Wohnstatten und Schutz vor den Kroaten zu gewähren, die inzwischen Salona (Solin) und die ganze Umgebung besiedelt hatten. Um die Wende des 8. Jahrhs. verwan- delte sich der Palast in die Stadt Spalato und wurde so vor völliger Ver- nichtung bewahrt. Im 9. und 10. Jahrhundert macht sich die Infiltration des kroatischen Elements in das romanische Spalato schon bemerkbar, im 12. ist die Hälfte der Stadtamter von Kroaten besetzt, im 13. bilden sie darin bereits die Mehrheit. Im 12. Jahrhundert dürfte die Stadt den Perimeter des Palastes überschritten haben. Wurde auch vieles an ihm durch An- und Umbauten allmählich verändert oder zerstört, so blieben doch seine edelsten Teile, die sakralen Gebäude, eben dadurch noch relativ gut er- halten, daß man sie für christliche Kultzwecke in Anspruch nahm.

Die „Reinigung“ des Mausoleums von Zeugnissen des Heidentums und seine Verwandlung in eine Domkirche wird dem ersten Erzbischof Spalatos, Johann von Ravenna, zugeschrieben; damals dürfte auch der Sarkophag Diokletians entfernt worden sein. Derselbe Erzbischof soll auch die Re- liguien des hl. Domnius und des hl. Anastasius aus Salona in den neu- geweihten Dom übertragen haben. Sie werden noch heute daselbst ver- ehrt, obschon festgestellt wurde, daß es sich hierbei um eine „pia fraus“ handelt. Das historisch bezeugte Heiligenpaar, das unter Diokletian den Märtyrertod erlitten hatte und in Salona beigesetzt war, ruht in einer Kapelle des Lateran zu Rom, und die Angaben über seine Namensbrüder im Dome zu Split beruhen auf einer Erfindung des 10. Jahrhunderts.

Das 13. Jahrhundert hat dem Dome drei Denkmäler von bedeutendem Kunstwert eingefügt: die große, mit Skulpturen des Andria Buvina ge- schmückten Türen, die Chorstühle und die prächtige Kanzel, alles Werke romanischen Stils, die wie das berühmte Portal des Domes zu Trogir (Trau) von Künstlern der Spalatiner Schule herrühren.

Die späteren baulichen Veränderungen, die das Mausoleum erlitten hat, müssen wir hier übergehen. Erwähnt sei noch der über dessen Prostase errichtete fünfstöckige Glockenturm (13.—17. Jahrhundert), der zu Ende des 19. Jahrhunderts erneuert werden mußte.

Der Tempel des Palastes, der als Taufkapelle verwendet wurde, birgt u er merkwürdiges Basrelief, das wahrscheinlich einen kroatischen König

arstellt.

Von den Kirchlein, die sich in die Palastmauern einnisteten, ist das St. Martin geweihte aus dem 9. Jahrhundert seiner Ornamentik wegen bemerkenswert. a

An die Geschichte der Umfassungsmauern, der sechzehn Wehrturme, der Tore, der Souterraine, der Siidfront und das Problem ihrer Anbauten (leķteres als ein Bericht Karamans) schließt Fr. Bulić noch ein juristisch, praktisch und charakterologisch interessantes Kapitel über die Frage, wem das Eigentumsrecht an diesem Palaste zustehe. Die Stellungnahme hiezu

558

hängt natürlich aufs engste mit den Konservierungspflichten des Staates und der Stadt zusammen. Durch Schub und Erhaltung dieses Denkmals, sagt Bulić am Schlusse seiner Monographie, die in Bälde auch deutsch erscheinen soll, wird eine übernationale, allgemeine Kultur- und Kunst- pflicht erfüllt

Zagreb. C. Lucerna.

Masarykův Slovník Nauöny. Lidová encyklopedie všeobecných vědomostí. Díl 1—4. Prag: Československý Kompas 1925— 1929.

Die Fechische Wissenschaft besaß schon vor dem Kriege ein vorzüg- liches Nachschlagewerk im Ottův Slovník Naučný, der allerdings in Anbetracht der Ereignisse der letzten Jahre vielfach veraltet ist. Um diesem Mangel abzuhelfen, entschloß sich der Verlag Otto, drei Ergänzungs- bände herauszugeben, die auch schon zu erscheinen begonnen haben. Außerdem aber sollte eine Volksenzyklopädie, ein Handbuch des Wissens in gedrängter Form und für die breiteren Schichten berechnet, geschaffen werden: der Masaryküv Slovník Nauény, der vom Verlag Ceskoslovensky Kompas unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben wird und

6 Bände umfassen sollte. Auf diese Weise ist ein sehr brauchbares Werk 3 gekommen. Die Ausstattung läßt wohl noch manches zu wünschen übrig; so sind die Reproduktionen und die dem Text beigefügten Tafeln auch in dem kürzlich erschienenen vierten Band nicht besser geworden. Der Zweck des Unternehmens machte es erforderlich, von der englisch- französischen Form der Enzyklopädie abzurücken und sich der deutschen zu nähern, möglichst viel Schlagworte zu bringen und in wenigen Sätzen das Wichtigste treffend zu sagen. Von besonderem interesse sind natürlich die Artikel, die sich mit dem Cechischen Geistes- und Kulturleben selbst befassen. Gleich im ersten Band findet sich ein großer Aufsatz „Cesko- slovensko“, zu dem man greifen wird, wenn man sich über politische und wirtschaftliche Fragen der Cechoslovakischen Republik unterrichten will. Manchmal würde man freilich wünschen, die Angaben wären etwas voll- ständiger. Im Artikel „Bezruč“ wird z. B. mit keiner Silbe erwähnt, daß die bisher wichtigste Ausgabe der Schlesischen Lieder 1920 erschien und daß Martineks Buch über Bezruč schon 1924 eine zweite, bedeutend ver- mehrte Auflage erlebte, wodurch die erste völlig überflüssig wird. Aus der Bfezina-Literatur wird gar nichts angeführt, und bei anderen €echischen Schriftstellern liegt die Sache ebenso. Das ist um so mehr bedauerlich, als man gerade in diesen Fällen den Masarykův Slovník Nauény zu Rate ziehen muß, da das Cechische Geistesleben nicht nur in den Nachschlage- werken der großen europäischen Völker, sondern auch in den sonstigen slavischen Enzyklopädien recht stiefmütterlich behandelt wird. So kennt, um bei den angeführten Fällen zu bleiben, die südslavische Enzyklopädie beide Dichter gar nicht, die große russische 'Sovet-Enzyklopädie nur Bezrué, über den sie einige vage Bemerkungen bringt, die gar nicht das Richtige treffen, das polnische Konversationslexikon kennt zwar beide, fertigt sie aber ganz kurz ab. Anderseits müssen wir aber auch feststellen, daß der Masarykův Slovník Nauény über Mickiewicz weit weniger Literatur bringt als der deutsche Meyer oder Brockhaus, auch Krasiński würde ein paar Worte mehr verdienen. Dagegen nimmt wieder das Schlagwort „Machar“ einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Die Zahl der Artikel ist, wie schon hervorgehoben wurde, recht groß, und zweifellos wurde wirklich fast alles irgendwie Bedeutsame erfaßt. Mitunter stößt man auf eine Lücke. So finde ich, nebenbei bemerkt, den deutschen Gelehrten Litt nicht, auch

* Die von C. Lucerna besorgte, geschmackvoll und gut ausgestattete, leider aus Raummangel um einen Teil des wissenschaftlichen Apparates ge- kürzte deutsche Ausgabe ist vor kurzem erschienen: Buli&-Karaman, Kaiser Diokletians Palast in Split. Zagreb 1929, 179 S. und 101 Bildbeilagen, Matica Hrvatska.

35 NF 5 559

der Verlag Gebethner & Wolff hätte erwähnt werden müssen. Ganz nüßlich wäre es auch gewesen, beı russischen Namen die Bezeichnung der Aus- sprache anzugeben, wie es bei französischen und englischen Wörtern ge- schehen ist, da jene ja auch für den Cechischen Leser keineswegs selbst- verständlich ist. Für den Slavisten sind im neu erschienenen vierten Band hauptsächlich folgende Artikel von Interesse: Kollár, Komenský, Králové- dvorský rukopis, Krásnohorská, Legie, Lužice, Mahen, Macha, Machar, Mánes, Masaryk, Mršłík u. a. Leipzig. H. Jilek.

Szweykowski, Zygmunt: „Lalka“ Bolesława Prusa. War- szawa: Gebethner i Wolff (1927). 362 S. 8°.

In der nicht gerade sehr umfangreichen Literatur über Boleslaw Prus nimmt Szweykowski’s Buch eine besondere Stellung ein. L. Wiodek, selbst ein Publizist, war in seinem trefflichen Werke!) mehr darauf ausgegangen, die Bedeutung und die Genese P.—s in seiner reichen publizistischen Tätig- keit herauszuarbeiten, während er die literarische Beurteilung der belle- tristischen Werke den Literarhistorikern überlassen wollie. Eine solche Würdigung des belletristischen Schaffens P.-s hatte K. Wojciechowski in seiner populären Skizze?) versucht, während F. Araszkiewicz es sich in seiner flott geschriebenen Studie®) zur Aufgabe machte, die „praktische Philosophie P.—s und ihre Verbindung mit seinem künstlerischen Schaffen“ darzustellen. Szweykowski hingegen hat eines der Werke ausgewählt und in seinen genetischen und psychologischen Zusammenhang gestell, um in seiner minutiösen Analyse das Schaffen des Schriftstellers überhaupt zu charakterisieren, und man muß sagen: seine Wahl war gut. Die Lalka, die sich ja bemüht, den Entwicklungs- und Umschichtungsproze§ in der poln. Gesellschaft von den 40er bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrh. in photographischer Treue wiederzugeben, so wie er sich dem Autor bof, eignet sich, wie auch anderwärts bemerkt worden ist, ganz besonders gut dazu, P. in seinen Lebensanschauungen zu charakterisieren.

Öhne die sonst üblichen einleitenden Worte einer Vorrede über die Entstehung und die Absicht seiner Schrift geht der Verfasser in seinem 1. Kapitel sogleich auf die Jugend P.-s ein, um damit den Grund für die folgende Analyse der Lalka vorzubereiten. Dieses Kapitel strebt dabei nicht nach einer Darstellung bisher etwa unbekannter biographischer Einzel- heiten, sondern sucht an Hand der wohlbekannten Daten zu zeigen, in welchem Verhältnis bei Prus das Gefühlsmäßige zum VerstandesmaBigen stand, und wie dieses Verhältnis von seinem literarisch publizistischen Werdegang beeinflußt wurde. Verf. weist dabei auf, wie die wissenschaft- lichen Ideale in Prus das unbedingte Verlangen wach riefen, eine Wieder- geburt der rückständigen Gesellschaft Polens auf wissenschaftlicher Grund- lage in publizistischer Tätigkeit zu schaffen, während er zunächst seiner künstlerischen Begabung keine Bedeutung beimag. Dieses Verhältnis zu seinen eigenen Publikationen spricht sich rein äußerlich schon darin aus, daß er seine Schriften uber die gesellschaftliche Umformung, wie er sie sich dachte, mit seinem wirklichen Namen Aleksander Glowacki zeichnete, seine belletristischen Schriften dagegen immer mit dem Pseudonym Bolesław Prus. Als Głowacki aber scheiterte er, da er für den Dok- frinarismus keiner Partei etwas übrig hatte, an der Ablehnung, die er von den verschiedenen Parteien erfuhr, während er in seiner belletristischen Tätigkeit als B. Prus ganz besonders als Humorist große Anerkennung

1) Ludwik Włodek: Bolesław Prus. Zarys spoteczno-literacki. War- szawa: Gebethner i Wolff 1918. XVI, 351 S. 8°.

2) Konstanty Wojciechowski: Bolestaw Prus. Wyd. II. Lwöw: Gubry- nowicz 1925. 178 S. 80. [Wyd. I. = 1913.1

s) Feliks Araszkiewicz: Bolestaw Prus i jego idealy zyciowe. Lublin: Glowinski 1925. XVI, 202 S. 8°.

540

fand. Dieser Mißerfolg da im Leben, wo er seine eigentliche Mission ge- sehen hatte, führte ihn bald zu einer anderen Wertung der Kunst. Er stellt sie nunmehr neben die Wissenschaft und beginnt sich die Gesetze der Asthetik und Poetik durch ausgedehnte wissenschaftliche Studien klar zu machen. Das Resultat seiner Siudien, ein zwischen Idealismus und Natura- lismus stehender Realismus, wird ihm für sein eigenes Schaffen bewußt zur Richtschnur. Gleichzeitig aber analysiert er die Gründe seines Mißerfolges, die er im stumpfsinnigen Konservativismus der Gesellschaft findet. Die Frage, welche Lebensbedingungen ein hervorragendes Individuum inmitten dieser Allgemeinheit habe, ob sie leben und Frucht bringen könne, und ob es überhaupt für sie Wirkungsgebiete im Leben geben konne, wo die Ge- en sich mit ihrer Kollektivkraft auf dem falschen Wege befinde, diese

rage drängt sich ihm nach seinen eigenen Erfahrungen von selbst auf und wird ihm zum Gegenstand dauernder Betrachtung und in Verbindung mit der Darstellung eben jener Gesellschaft zum Problem seines großen Romans. Alle diese Ausführungen über die Psychik des Schriftstellers stützt Szweykowski auf dem _ weitschichtigen Material, das Głowacki in seinen zahlreichen Artikeln und Chroniken im Kurjer Warszawski, Kurjer Codzienny, in den Nowiny und anderen Zeitungen und Zeitschriften . hinterlassen hat, und das schon Wiodek ausgenukt hatte. Das zweite

Kapitel bringt zunächst die Grundlagen Prus’ positivistischer Weltanschauung, in welcher naturwissenschaftliche Betrachtungsweise den Kampf ums Dasein und das Verlangen des Einzelnen nach Glück nach dem Vorgang Spencers zu den treibenden Kräften des Lebens macht. Auf dieser Grundlage wird weiter die Historiosophie des Schriftstellers hinsichtlich der Stände in Polen entwickelt, auf die Buckle und Draper von großem Einfluß gewesen sind: Adel und Magnaten, die einstigen Begründer der Größe Polens, sind mit ihrem System schuld an seinem Verfall. Sie verstehen es, jeden Fortschritt der Gesellschaft zu hemmen, um ihre privilegierte Stellung aufrechtzuerhal- ten, und haben ihre Ansprüche auf Geltung verstanden religiös zu unterbauen. Die dabei benachteiligten Volksklassen aber tuen nicht nur nichts, um dieses Hemmnis des Fortschritts zu überwinden, sondern sie suchen größtenteils auf jede mögliche Weise einzeln in die Kreise des Adels hineinzukommen oder sie verharren wie die Massen des Landvolkes in Unbewußiheit auf dem Niveau längst vergangener Jahrhunderte. So steht Polen inmitten der auf- strebenden neuzeitlichen Kultur Europas auf dem Standpunkt des Mittel- alters. Auch die Rechtsreformen in der 2. Hälfte des 19. Jahrh. haben nur eine theoretische Anderung der gesellschaftlichen Struktur Polens gebracht; die Psychik der Allgemeinheit blieb davon unberührt trok aller Reformations- versuche. Schuld daran ist in erster Linie der Charakter des polnischen Volkes. Die Psyche des Polen ist durch und durch „idealistisch“, und da die Aristokratie angeblich die Sache des Idealismus verficht, treiben die psychischen Tendenzen unwillkürlich auch den in die Arme des aristokra- tischen Systems, der an und für sich dieses System bekämpfen möchte. Ein „Idealist“ ist für Pius ein Mensch, der nur in der Welt der Phantasie lebt, ohne einen Begriff von der Wirklichkeit, ein Träumer mit starkem Drange nach Größe, mit dem Wahlspruch Mickiewicz’s, die Kräfte nach dem Ziele zu bemessen und nicht wie nötig, die Ziele nach der Kraft. Diese polnischen Idealisten und unter ihnen die hervorragende Persönlichkeit inmitten der dem Verfall zueilenden polnischen Gesellschaft darzustellen, war das Thema, das Prus sich für die Lalka gesetzt hatte, und zwar nicht nur in einer, sondern in drei Generationen, angefangen von den Romantikern. Nach dieser Analyse der Grundlagen und des Themas der „Lalka“ wendet sich Szweykowski der Betrachtung der einzelnen in der „Lalka“ behandelten Gesellschaftskreise in ihren einzelnen Vertretern zu.

Zuerst werden da die Vertreter der kosmopolitisch-internationalen Aristokratie behandelt: Tomasz Lecki, Izabela Lecka, die Gräfin Karolowa, der Baron Krzeszowski, der Parasit Maruszewicz, der Fürst und Starski. Es folgt der Kleinadel, und zwar der alte Wokulski, Wirski, die Misiewiczowa. Die dritte Gruppe, die nicht in ihren einzelnen Vertretern von Szweykowski

541

vorgeführt, sondern als Ganzes betrachtet wird, bildet das Bürgertum, und als vierte Gruppe folgt das Volk.

Das dritte Kapitel bringt eine Darstellung der Idealisten. Zunächst wird da die Einstellung des Schriftstellers zum Idealismus analysiert und aufgewiesen, wie die Krisis im Leben Prus’ und seine Wendung zur Kunst auch einen Wandel in seiner Stellungnahme zum Idealismus nach sich zog. Ist ihm in der früheren Epoche seiner publizistischen Tätigkeit der Aufbau des Lebens und der Gesellschaft durch beharrliche Verfolgung der kleinen Ziele alles, die große Idee aber ohne den wohlvorbereiteten Grund im kleinen nur Pose, so beginnt mit der neuen Epoche in seinem Schaffen auch der Idealismus mehr und mehr seine Sympathie zu gewinnen. Es wird ihm klar, daß jeder wirkliche Fortschritt immer noch von den Träumern mit ihren großen Ideen ausgegangen ist, die gern alles auf eine Karte sebten, und nicht von den Philistern und Spießern, denen er früher mehr zugetan war. Und diese Umstellung brachte naturgemäß auch eine andere Ein- schätzung der polnischen Romantik mit sich. Damit aber kam es in Prus nicht zu einer Ablehnung der positivistischen Aufbauziele, sondern eben zu jenem Kompromiß beider Anschauungsweisen, dem die „Lalka“ gewidmet ist: in Zeiten, wo die Allgemeinheit organisatorische Arbeit an ihren Grund- lagen zu tun hat, um sich den Weg zu großen Entwicklungen frei zu machen, ist der Idealismus mit großen Ideen und mit seiner Träumerei verfrüht und somit schädlich; und das traf nach Prus’ Ansicht gerade für seine Zeit zu. Im weiteren behandelt Szweykowski dann die Vertreter des Idealismus der Romantiker-Generation Rzecki, die Präsidentin, den Onkel Wokulski’s und Kab, sodann Wokulski, den Vertreter der romantisch-positivistischen Idea- listen, und die positivistischen Vertreter des Idealismus: Ochocki, Klein und die Studenten, sowie schließlich die Juden.

Waren also die vorhergehenden Kapitel der Charakteristik der ein- zelnen Personen der „Lalka“ gewidmet, so beschäftigt sich das lebte Kapitel mehr mit dem Ganzen des Romanes. Szweykowski behandelt in ihm zunächst den Pessimismus des Schriftstellers in der Lalka, der sich darin ausspricht, daß alle die edien Gestalten des Romans von dem Schau- platz in Polen weichen müssen und die Philister, Gauner und Wucherer das Feld behaupten, wenngleich das Ganze mit einem Fragezeichen schließt).

Darauf geht er auf den Humor in unserem Romane ein, der sich nur da zeigt, wo es Prus nicht so bitterer Ernst ist wie bei Wokulski oder Izabela, sondern eben bei Personen, zu denen er die für einen echten Humor nötige Distance hat wie etwa Ochocki oder die Studenten. Weiter wird dann die Komposition der „Lalka“ einer näheren Betrachtung unterzogen, die ja bei der Weite des zur Darstellung gelangenden Zeitraumes und der Mannig- faltigkeit der gesellschaftlichen Faktoren doch recht erhebliche Schwierig- keiten bot. Dabei wird aufgewiesen, wie wichtig die Rolle der Liebe ist, die Prus die Vereinigung der heterogenen Geselischaftskreise in einem Werk gestattet, wie weiter die Geschichte des Ladens Mincel ausspinnt, um die Einheit des Romanes zu erhalten, wie die gleichen wissenschaftlichen Interessen der Einung zweier Idealistentypen, Wokulski’s und Ochocki's, dienen, und wie schließlich die „pamiętniki starego subjekta“ ihm die Mög- lichkeit geben, auch den Idealisten der Romantik noch in die Handlung ein- zubeziehen. Einige Seiten sind weiter der Behandlung des photographisch geireuen Lokalkolorits der Stadt Warschau gewidmet. Darauf geht Szwey- kowski dazu über, die fremden Einflüsse auf Prus’ Lalka aufzuweisen, wie

Dickens, Spielhagen, Victor Hugo, Cervantes, Jokai, Zola. Es ergibt sich,

+) Hierzu sei bemerkt, daß Szweykowski mit Włodek u. a. nicht auf dem meist vertretenen Standpunkt stehen, Prus habe seinen Helden durch Selbst- mord enden lassen (vgl. S. 255 u. 278 ff.). Nach seiner Ansicht, die er auch mit Ausspriichen des Schriftstellers zu belegen weiß, ist Wokulski nur vom Schauplak in Polen verschwunden und für eine große Rolle vorbehalten, die er in einer Fortsekung der „Lalka“, in der „Sława“, bei Geist in Paris zu spielen bestimmt ist.

542

daß bei allen fremden Einflüssen und troķ aller Vorgänger im polnischen Roman (Kraszewski, Korzeniowski, Orzeszkowa etc.) doch diese unbewußt reproduzierende Synthese P.—s als durchaus original zu werten ist. Die Lalka wird für eins der wertvollsten Werke der poln. Literatur erklärt, das vielen Nachfolgern P.—s den Weg gebahnt hat, unter ihnen auch keinem Geringeren als Zeromski.

Wie aus obiger Inhaltsangabe hervorgeht, macht die Analyse des Ideen- gehalts der „Lalka“ den größten Teil des Buches aus. Szweykewski führt sie durch, indem er von den in P.—s publizistischer Entwicklung begründe- ten Tendenzen ausgeht und. gewissermaßen in Längsschnitten durch den Roman die dargestellten Gesellschaftsschichten mit ihren Ideologien sowie die nach P.-s Anschauung für den Polen bezeichnende idealistische Geistesrichtung in ihren einzelnen Vertretern untersucht. Dabei zieht sich wie ein roter Faden der Leitgedanke durch die Ausführungen: P. erkennt sich nach dem Scheitern seiner Gesellschaftsreformpläne als Idealisten des Positivismus und stellt eben hier den poln. Idealismus mit seinem Wollen und Können und seinem Scheitern an der Gesellschaft in Polen dar. Diese richtig erkannte Tendenz, die für P. eigentlich eine Fortsetzung seiner Reformpläne mit anderen Mitteln bedeutet, gibt Szweykowski das Recht, die Analyse der „Lalka“ auf ihren Ideengehalt in der angegebenen Weise durchzuführen. Die einzelnen Charakteristiken, die oft überflüssig breit ausgeführt sind, sind ihm dabei meist recht gut gelungen. Sie bilden jedoch nicht den eigentlichen Schwerpunkt des Werkes. Im Mittelpunkt des Buches steht vielmehr der Gedanke, die ideellen Tendenzen P.—s herauszuarbeiten, die Frage: was will P. mit seinen Gestalten sagen? Und wenn der Verf. dabei die Problemstellung der Lalka so eng mit P.—s innerstem Erleben beim Scheitern seiner Reformpläne mit der „Nowiny“ verknüpft und gerade den inneren Umschwung in P. hinsichtlich seiner Stellungnahme zum Idea- lismus so scharf herausarbeifet, wird man ihm in den wesentlichen Punkten beistimmen müssen. Es ist dabei methodisch sehr richtig, daß die Auf- fassungen des Schriftstellers nicht aus der Lalka herausinterpretiert, sondern zunächst an anderen Außerungen P.—s nachgewiesen und in seiner schriftstellerischen Entwicklung psychologisch begründet werden, so daß sie dann im einzelnen in der Lalka nachgewiesen werden können.

Was jedoch die ästhetische Würdigung des Romans anlangt, halt Szweykowski doch wohl zu sehr mit seiner Kritik zurück. Gewiß ist heute eine Kritik an der Lalka nicht mehr in dem Maße aktuell wie 1890, als Chmielowski im „Ateneum“ sich mit ihr auseinandersetzte. Trotzdem aber vermißt man eine kritische Einstellung bei Szweykowski, wo er über die Komposition der Lalka spricht, die doch infolge der „pamietniki starego subjekta“ geradezu zu zerfallen droht. Es ware dabei näher darauf ein- zugehen gewesen, wie weit tatsächlich der Erscheinungsmodus der Lalka in den Fortsekungen des „Kurjer Codzienny“ an solchen Kompositions- mängeln die Schuld geiragen hat. Auch an anderen Schwächen des Romans geht Szweykowski schweigend vorüber. So manche Situation will der Leser dem Schriftsteller nicht recht glauben. Die gewagten Kunststückchen, die die Studenten der Baronin zum Possen bei ihrer Ausweisung ausführen, gehören doch wohl z. B. hierher. Auch fehlt es weiter den Charakteren der Lalka nicht an Inkonsequenzen und inneren Unwahrscheinlichkeiten, wie sie Chmielowski aufgewiesen hatte. Da Szweykowski eine ästhetische Würdigung der Lalka nicht vermieden hat, ware es nüblich gewesen, auf derlei Mängel mit einiger Kritik einzugehen. Wie weit Prus ferner in der Verwendung schriftstellerischer Kunstmittel bewußt vorgegangen ist, wird sich nicht immer mit großer Bestimmtheit sagen lassen, und bei aller An- erkennung der großen Wichtigkeit, die P.-s theoretische Beschäftigungen mit Poetik für seine Entwicklung gehabt haben, will es mir doch scheinen, als entsprange manches mehr dem schriftstellerischen Instinkt P.—s als. theoretischen Erwägungen. Gerade hier einmal tiefer zu analysieren, wie weit der Verstand und wie weit das Gefühl zu Worte kommt, wäre bei Prus von großem Interesse, der ja einen so starken Gegensatz beider in sich aus- zugleichen suchte. Ich habe dabei das Gefühl, als ob solche rein ver-

545

standesmäßig angewandten Mittel, wie diese Aufzeichnungen des braven Rzecki, mit ihrer ganzen Gewaltsamkeit zu den schwächsten Seiten des Romans gehörten. Andererseits möchte ich nicht gern dorf, wo Ver- knüpfungen so leicht und natürlich sind, wie bei der Zusummenführung Wokulski's und Ochocki’s auf dem Boden der allen Posifivisten doch so naheliegenden Wissenschaft, die bewußte Anwendung eines schriftstelle- rischen Mittels sehen. Soweit die sachliche Seite des Buches.

Was das Formelle anlangt, so vermisse ich eine klare Stellungnahme zur Literatur des Gegenstandes. Diese spricht sich schon im Fehlen einer Vorrede über Zweck und Ziel des Buches aus. Es ist aber weiterhin im Verlauf der Darstellung oft nicht hinreichend hervorgehoben, welche Ge- danken hier erstmalig entwickelt und welche nur wiederholt werden. Daß z. B. P.-s Enttäuschung mit der Redaktion der „Nowiny“ so wesentlich für die Problemstellung und Konzeption der Lalka war, ist zwar einleuch- fend dargestellt, jedoch ohne genügenden Hinweis darauf, wie weit diese Auffassung neu ist und da Wiodek die Krisis der „Nowiny“ nicht so wertet, wäre hier wohl eine ah gl darüber am Platze gewesen. Wenn also die Schrift auch nicht klar darlegt, wie sie selbst in der Prus- Literatur eingeordnet zu werden wünscht, so ist doch andererseits die Dar- stellung klar und flüssig. Gerade die treffliche Analyse des Ideengehalts der Lalka im Hinblick auf die Psychik und die Lebensauffassung des Schriftstellers wird ihr neben dem Buche von Włodek einen ehrenvollen Platz in der Prus-Literatur sichern.

Breslau. Erwin Koschmieder.

AdamLewak: Katalog rekopisöw Bibljoteki Narodowej. l. Zbiory Bibljoteki Rapperswilskiej. T.1(1— 1314). Bibljoteka Varodowa. Warszawa 1929. sir. XX—507. (Handschriftenkatalog der Rap- perswilschen Sammlungen in der Nationalbibliothek Warschau. Erster Teil. Nr. 1—1314. Bearbeitet von Dr. Adam Lewak.)

Während der großen Emigration nach dem Novemberaufstande wurde zu Rapperswil in der Schweiz ein polnisches Nationalmuseum gegründet, um ein Asyl für nationale Heiligtümer und Denkmäler zu schaffen. Hier wurden im Laufe vieler Jahrzehnte Archive verschiedener Persönlichkeiten und Institutionen der Emigration nach beiden Aufständen, Korrespondenz, Dokumente cic. deponiert, und auf diese Weise entstand eine ansehnliche Sammlung, welche hauptwichtige Quellen für die poln. Geschichte des 19. Jahrh. besaß. Im Jahre 1927 ist die Sammlung nach Warschau übergeführt und in der Militär-Zentral-Bibliothek deponiert worden. Dann werden die Bücher und Archivalien der großen National-Bibliothek einverleibt. Der neu herausgegebene Handschriftenkatalog gibt uns schon jetzt die Möglich- keit, die reichhaltigen Schätze der Rapperswiler Kollektion auszunüßen, und wir hoffen, daß dies als natürliche Folge eine große Belebung der neuesten Geschichtsforschung nach sich ziehen wird.

Den Grundstock der Sammlungen bilden die Handschriften, die Kor- respondenz und allerlei historische Materialien des gelehrten Emigranten Leonard Chodzko, der eine große Kollektion historischer Dokumente ge- sammelt hatte. Die Akten beginnen mit dem Jahre 1657 und enden mit dem Aufstande v. J. 1863. Natürlich ist das 19. Jahrh., d. h. die Zeit der Freiheits- kämpfe und der Emigration, am besten vertreten, da Chod2ko an diesen Ereignissen selbst teilgenommen hat. Die Sammlung des Chod2ko und neben ihr die Korrespondenz und die Papiere von Lelewel, Ostrowski, Mierostawski, Oksza-Orzechowski und anderer Persönlichkeiten, das Archiv der polnischen Legation in Paris, verschiedener Komitees in den Jahren 1830 und 1863, der polnischen demokratischen Gesellschaft, verschiedener Organisationen in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz bilden den bedeutendsten und wichtigsten Teil der Rapperswilschen Handschriften. Ganze Geschlechter opferten dem Museum bereitwilligst ihre Andenken. Alles, was in der Heimat vor den Augen der Polizei sich hüten mußte,

544

wurde in Rapperswil abgegeben, um der nationalen Pietät und Wissen- schaft zu dienen. Deshalb besitzen wir hier historische Quellen, die meistens im Auslande entstanden und deshalb der Zensur der Teilungs- mächte ausgewichen sind. Die besondere Wichtigkeit des Zeitalters der Emigration besteht in der großen Umwälzung der politischen und sozialen Ideen unter dem Einflusse der radikalen Kreise Englands, Deutschlands und Frankreichs, was dem alten polnischen Wesen neuzeitliche, demokra- tische Formen verliehen hat. Davon können wir auch die Bedeutung der Sammlung herleiten. Das ganze Material ist zwar sehr lückenhaft, was von dem Charakter seiner Provenienz abhängt, da es keine organisierten Archive waren und die geheimen Gesellschaften ihre Papiere oft vernichten mußten.

Der Verfasser des Kataloges, der seit mehreren Jahren daran gearbeitet hatte, mußte das Material dem Provenienzprinzip nach neu ordnen und dann sorgfaltig beschreiben. Die Methode, die er dabei benubte, kann man eine persönliche nennen, es wurde nämlich die Aufsuchung der Personennamen in den Vordergrund der Beschreibungszwecke gestellt. Die Vornamen fehlen, da sie überhaupt kaum feststellbar waren. Auch was die Daten anbelangt, müssen wir größere Vorsicht gebrauchen, weil nur die Faszikeln datiert sind und die einzelnen Aktenstücke und Briefe keine Zeitangaben besitzen. Manche Handschriften, welche z. B. politische Angelegenheiten berühren, dürften genauer beschrieben werden. Im all- gemeinen ist das Material chronologisch geordnet, obzwar es nicht streng durchgeführt sein konnte, da es mit dem Provenienzprinzip kollidierte. Der I. Band, den wir jetzt erhalten haben, umfaßt die Zeit bis 1863: es werden sich dort aber auch spätere Akten finden, die einer größeren Kollektion angehören, z. B. die Papiere des Mierostawski, welcher während der ganzen Emigration tätig war und auch zum Diktator des letzten Aufstandes erwählt wurde. ae

Wir haben den Katalog ausführlich beschrieben, weil wir den Wert der Rapperswiler Sammlung hoch zu schagen wissen, und zwar nicht allein für die polnische Geschichte, sondern auch für die der anderen slavischen Völker und auch der westeuropaischen Demokratie, welche in steter Ver- bindung mit der polnischen Emigration der Jahre 1830-1863 stand und sich egenseitig beeinflußten. Deshalb ist die genannte Sammlung eine wichtige uelle für die Geschichte der revolutionären Bewegung dieser Zeit.

rg. Kazimierz Tyszkowski.

ZEITSCHRIFTENSCHAU

JUGOSLAVIEN

lovanN. Tomić: Kad je i s kojim smerom osnovana slovenska štamparija Dimiłrija Teodosija u Mlecima? Istorijska istraži- vanja. Glas SKA CXXXIII, Beograd 1929, S. 27— 73.

_ Geraume Zeit, bevor die österreichischen Serben von ihrer Regierung die Bewilligung erwirkten (1769), wurde in Venedig mit Zustimmung der Re- gierung von dem venet. Staatsbürger griech. Abkunft Demetrio Teodosio eine slavische („griech.-orihodoxe“) Druckerei gegründet, deren Verleger- tätigkeit auch für die weltliche Literatur der Serben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. von größerer Bedeutung wurde (vgl. J. Skerlić, Srpska književnost u XVIII veku, B. 1923, S. 90/91). Als Gründungsjahr wurde in den Literaturgeschichten bisher 1758 angeführt2). Verf. ist nun aber im Laufe seiner Nachforschungen im Venet. Archiv nach langem, vergeblichem Suchen fast zufällig in den Akten der Inquisifori di Stato auf zwei Schriftstücke (Kopien) gestoßen, die die bisherige Datierung hinfällig machen. Aus dem ersten (Senatsbeschluß v. 5. April 1755)2) geht hervor, daß Teodosio noch in der ersten Hälfte d. J. 1755 um die Genehmigung angesucht hatte, in Venedig eine Druckerei zu errichten, in der er für die Bedürfnisse des Volkes in Bosnien, Serbien, Bulgarien, Ungarn und der Wallachei Bücher mit „illyri- schen“ Lettern drucken wollte. In seinem Beschluß erklärt sich der Senat aus handelspolitischen Rücksichten (Hebung des Buchdruckergewerbes und Förderung der Bücherausfuhr) grundsätzlich einverstanden. Das zweite Schriftstück?) enthält die endgültige Entscheidung der Paduanischen Re- formatoren als der hierfür zuständigen Behörde (1. Okt. 1755), die erst im Januar 1756 vom Senat bestätigt wurde.

Teodosio’s Unternehmen wurde bisher als reines Privatunternehmen an- gesehen (Skerlić, a.a. O.). Verf. findet nun, daß die venet. Regierung bei dieser Gründung besondere staats- und kirchenpolitische Zwecke verfolgte und daß die starke Hervorhebung des wirtschaftlichen Gesichtspunktes ın dem Beschluß des Senates nur dazu diente, den wahren Sachverhalt und die eigentlichen politischen Absichten zu verschleiern. Verf. schildert ein- gehend die Entwicklung der russischen Propaganda im dalmat. Küsten- gebiet, die von Montenegro aus namentlich mittels russischer kirchlicher Literatur betrieben wurde. Gerade nach der Rückkehr des montenegr. Me-

1) Diese Jahreszahl verdanken wir P. Solarié (Pominakr ...., Venedig 1810). Es liegt aber auch hier eine durch St. Novaković verschuldete Un- genauigkeit vor: Solariè sagt nämlich ausdrücklich von Teodosio: „vozna- meri okolo 1758 goda sam za sebe Peéatnju sooruZiti...“ Novakovic unterdrückte dieses „okolo“, und die dadurch entstandene Ungenauigkeit ging aus seiner „Gesch. der serb. Lit.“ in die späteren Literaturgeschichten über.

2) abgedr. S. 35. 3) abgedr. S. 36.

546

tropoliten Vasilije Petrović aus Rußland (Sept. 1754) machte sich diese Propaganda noch stärker denn vorher bemerkbar. Jahrelang hatten auber- dem kirchliche Kreise auf die Republik ihren Druck ausgeübt, um sich im Kampfe gegen die Schismatiker energischere Unterstüßung zu sichern. Am 4. Sept. 1754 hatte Kardinal Valenti dem Gesandten Venedigs ein Schreiben 5 Papstes Benedikt XIV. überreicht, worin dieser u. a. die Säuberung der

Klöster und Kirchen von moskovitischen Biichern verlangt und die Gründung einer slavischen Druckerei in Padua (unter kirchl. Leitung) anregt. So bot sich nun der venet. Regierung Gelegenheit, mit der Gründung von Teodosio’s Druckerei sowohl den Wünschen des Päpstlichen Stuhles in weit- gehendem Maße enigegenzukommen und zugleich durch Ausmerzung aller für die Republik nachteiligen Stellen in den orthodoxen Büchern die eigenen innerpolitischen Interessen zu wahren und der Rußland-Propaganda Einhalt zu fun. Der Wirkungskreis des neuen Unternehmens war also an erster Stelle auf die venet. Provinzen mit orthodoxer Bevölkerung berechnet; daß dieselben im Senatsbeschluß nicht namentlich angeführt werden, ist wiederum aus dem Streben der Regierung erklärlich, die wahren politischen Absichten geheim zu halten.

Das Unternehmen hat zwar die an dasselbe besonders von kirchl. Seite gestellten Erwartungen nicht erfüllt; aber es hat während der ganzen Zeit seines Bestehens nach außen hin den Anschein eines rein privaten, auf kaufmännischer Grundlage errichteten Unternehmens bewahrt.

Igrad. A. Schmaus.

Pavie Popovié: Milovan Vidaković Godišnjica Nikole Cupica XXXVII (1928), 327—436; ebdt XXXVIII (1929), 70— 230%).

Der Belgrader Literarhistoriker Pavle Popović gibt uns hier die erste ausführliche Monographie über den „Vater des serbischen Romans“. Die Vorarbeiten waren gering. Für die Biographie V. standen außer der nur die Kindheitsgeschichte umfassenden Selbstbiographie (Glasnik 1871) die übrigens auch als kulturgeschichtlihes Dokument Beachtung verdient die Aufzeichnungen J. Ignjatović (Djela I, Novi Sad 1874, 270) zur Verfügung. Von kritischen Würdigungen verdient außer Vuks bekannter Kritik (1817) noch immer die Charakteristik von J. St. Popović (Južna Péela, knjiž. dod. 1852, 106/7) ob ihrer Objektivität hervorgehoben zu werden?). Wertvoll ist die Abhandlung J. Scherzers (Nastavni Vjesnik 1902), der im Volksbuch vom Kaiser Oktavian das Original zu V. Roman „Kasija carica“ ausfindig gemacht hat. Scherzer wies in diesem Zusammenhang auf Beeinflussung durch die di. Romantik hin. Von Interesse waren auch seine Feststellungen über wesentliche Abweichungen in V. Bearbeitung: Verlegung der Schluß- szene nach Montenegro (wie schon früher im „Velimir“ und „Liubomir“] und Hineintragen des starken didaktischen Elements, das dem Volksbuche fremd ist, aber für V’ Werke eines der Hauptkennzeichen bildet. Scherzer befand sich aber im Irrtum, wenn er meinte, auf dem gleichen Wege auch zu den Vorbildern der übrigen Romane gelangen zu können. Schon D. Kostié hat dies (Delo VII (1902), 154/5) für aussichtslos erklärt, fur V? „Ljubomir“ aber auf Wieland („Agathon“) hingewiesen.

Was es also an Vorarbeiten gab, war völlig ungenügend. Nicht einmal eine Biographie V. war vorhanden. Das Material dazu mußte erst mühsam zusammengelesen werden. Verf. ist es jedoch gelungen, uns auf Grund oft scheinbar nichtssagender Angaben, des sparlichen Archivmaterials, der Vor- reden zu V. Werken eine ausführliche, wenn auch nicht ganz lückenlose

1) Der bisher erschienene Teil umfaßt Vidaković’ Leben und Schaffen bis zum J. 1823. Der dritte Teil erscheint 1930 wiederum in GNC.

2) Von anderen Beiträgen ist der P. Markovié-Adamovs (Srpska Zora 1880) ohne Wert; die Abhandlung von M. Pejinovié (Nada, Sarajevo, 1898) enthält zwar viele gute Einzelbeobachtungen, ist aber als Ganzes weder

systematisch noch kritisch genug.

547

für einzelne Studienjahre fehlt das Material fast gänzlich —, so doch ungemein reichhaltige Biographie zu schenken, die über V.’ Lebensschick- sale, Charakter, Bildungsmöglichkeiten und Bildungsgang, persönliche Be- ziehungen und gesellschaftliche Verhältnisse helles Licht verbreitet.

Noch wichtiger ist die Arbeit des Verf. als erste zusammenhängende Darstellung von V. literarischem Entwicklungsgang, den Einflüssen und Vor- bildern, die für sein Schaffen maßgebend werden konnten, dem Gehalt an persönlichen und Zeitideen und der geschichtlichen Herkunft der letzteren. War es doch bisher unmöglich, sich ein auch nur annähernd richtiges Urteil uber V.’ Originalität zu bilden, da die fremden Einflüsse zu wenig unter- sucht und nicht vom Eigengut geschieden waren.

Was V. zum Schriftstellerberuf drängte, war der Zug der Zeit, dıe noch ganz von Dositejs Grundiendenz beseelt war, mit allen Mitteln, vor allem aber mit Hilfe des Buches an der Aufklärung und kulturellen Hebung des Volkes zu arbeiten. Zeitlebens ist auch V. von der Tendenz, zu lehren und zu predigen, beherrscht. Eine Generation mit dieser erzieherischen Ein- stellung zu den gesamten Kulturproblemen hatte vor allem die heran- wachsende Jugend im Auge. Ihr war auch V. Erstlingswerk, die in Zehn- silbern abgefaßte „Geschichte vom schönen Joseph“ (1805) zugedacht. Ein bezeichnender Auftakt sowohl der Wahl des Stoffes als auch der Form nach. Das gleiche Thema war schon 1804 von V. Rakié bearbeitet worden; in sorgsamer Analyse stellt jedoch Verf. fest, daß V. im Verhältnis zu Rakić völlig originell ist. Gewisse Züge seiner literarischen Manier (Vorliebe für Monolog und Dialog) sind schon hier vorgezeichnet.

Besonders wichtig ist die Feststellung des Verf., daß die beiden ersten Romane V. (Usamljeni juno$a 1810; Velimir i Bosiljka 1811) nicht nur im Schema des Aufbaus, sondern auch sonst (Schaupla§ der Handlung, Rolle der Verkleidungen) ganz nach dem Typus des spatgriech., sog. „sophisti- schen“ Romans gearbeitet sind. Als unmittelbares Vorbild kommen wohl irgendwelche Ausläufer des deutschen Rifterromans in Betracht, der vom Verf. reichlich zu Vergleichszwecken herangezogen wird.

Im Gegonsa dazu steht V. Hauptwerk, der dreibändige Roman „Lju- bomir u Jelisijumu“ (1814, 1817, 1823). Derselbe deckt sich zwar inhaltlich auf weite Strecken hin mit dem Abenteuer- und sog. Prüfungsroman und enthält sogar eine Robinsonadet). Es ist ein biographischer Abenteuer- roman, der aber im Grunde als Erziehungsroman gedacht ist, in welchem V. seine Welt- und Gesellschaftsanschauung, vor allem seine pädagogischen Ansichten darlegt. Verf. betont die weitgehende Ähnlichkeit einzelner Teile mit Marmontels ,,Bélisaire“. Ein Vergleich mit Wieland und Rousseau führt zu negativem Ergebnis. Wiederum scheinen die eigentlichen Vorbilder V.’ abseits von der breiten Straße der Weltliteratur zu liegen. Anderseits ent- hält das Hauptwerk V. so viel persönliches und nationalgeschichtliches Ma- terial, daß dieser Roman origineller zu sein scheint, als man bisher anzu- nehmen geneigt war.

Alle die genannten Romane sind historische Romane, die in verschie- denen Epochen des serb. Mittelalters spielen. Das ist das Hauptverdienst V? und der originellste Zug seines Schaffens. Dem historischen Element geht Verf. bis in die kleinsten Einzelheiten nach und kommt überall zu dem Schlusse, daß an erster Stelle J. Rajić’ Geschichtswerk (1794/5) die Quelle bildet. Von ihm übernimmt V. nicht nur das stoffliche Wissen, sondern auch Gesamturteile über Ereignisse und Personen der nationalen Vergangenheit. V? Helden sehen die geschichtlichen Vorgänge mit Rajić’ Augen, denken und urteilen darüber wie Rajić selber. Für den geographischen Teil von V. Romanen kommt vor allem Solarié „Geographie“ (1804) in Betracht. Da- neben haben aber auch die anderen Vertreter der damaligen serb. Literatur, vornean natürlich der seine Zeit weit überragende Dositej, ein gut Teil zu V? Wissen und Weltanschauung beigesteuert. Verf. gelangt hier überall zu

1) Vgl. Verf., Vidaković, Schnabel, Schiller (Strani Pregled, Jg. I, Nr. 2, 144).

548

neuen, wertvollen Erkenntnissen, die uns zum erstenmal die Entstehung und Zusammensetzung von V. Mosaikwerk verständlich machen.

Mit gleicher Sorgfali wie das historische wird auch das persönliche Moment in V. Romanen herausgelöst. V. hat nämlich sehr viel an Eigen- erlebnissen als lit. Stoff verwertet. Interessant ist mit dem Verf. zu ver- folgen, wie sich gerade V. Kindheitserlebnisse mit größter Zähigkeit in seinem Gedachinis behaupten und immer wieder ins lit. Schaffen herein- spielen. Sehr bezeichnend ist es, daß die Landschaften in V. Romanen durchweg das Gepräge der Sumadija-Landschaft, des Kosmaj, also seiner engsten Heimat tragen, obwohl sie der Autor nach seinem 8. Lebensjahr nicht mehr gesehen hat.

Im Stil weist Verf. den Einfluß Dositejs nicht nur in der Wortwahl, sondern sogar in der Sabmelodie na

Was die weltanschauliche Grundlage von V. Werk angeht, überragt V. seine Zeit nicht. Wie diese ist auch er selber naiv und unkritisch. Obwohl er spez. den hist. Roman pflegt, mangelt ihm jeder Sinn für historische Perspektive. Sein Bild des „heroischen“ serb. Mittelalters spiegelt in Wirk- lichkeit ein unheroisches, platt-bürgerliches Gesellschaftsideal wider, welches das Heroische durch das Abenteuerliche ersetzt. Abenteuerliches und Sen- timentales, Wirklichkeits- und Lebensferne in Denken und Fühlen, ergänzen sich gegenseitig. Dem Zuge der Zeit, die sozusagen noch immer im Schatten von Dositejs großer Gestalt steht, entspricht auch das starke moralisatorische und pädagogische Moment in V. Werk. Nur wirkt es hier oft platt, weil V. die großen Fähigkeiten mangeln, durch die es Dositej gelang, sein Aufklärungsideal zu so allgemein-menschlicher Höhe zu er- heben. Daß all das Abentcuerliche und Phantastische, das in V.’ Romanen wuchert, nicht etwa einem irrationalen Bedürfnis entgegenkommt, sondern der Unterhaltung dient, wird am besten daraus ersichtlich, daß V. nach- träglich alle wunderbaren oder gespensterhaften Erscheinungen auf ganz natürliche Weise erklärt und durch seine Romane sozusagen die Nicht- exisfenz des Ubernatiirlidien zu demonstrieren sucht. Sein unbestreitbares Verdienst bleibt aber, daß er das Interesse der Zeit auch im Roman auf die nationale Vergangenheit gelenkt hat.

Belgrad. A. Schmaus.

Dr. Mita Kostić: Dositejev prevod Kiriakodromiona Prilozi VIII, 1928, S. 245.

Obwohl niemals jemand das Buch zu Gesicht bekommen hat, galt es für die meisten Literarhistoriker auf Grund der Angaben Kopitars (Jagić, Briefwechsel... S. 143; Kl. Schr. 119) als ausgemacht, daß 1796 in Venedig wirklich Dositejs Ubersebung von des Theotokis »voraxododwor unfer dem Titel „K. ili tolkovanie voskresnych evangelij“ erschienen ist (vgl. Skerlić, Srpska knjiž. u XVIII veku, B. 19237, 266). Nur von D. Ruvarac wurde noch 1911 das Bestehen dieser Ubersebung in Abrede gestellt.

Verf. hat im Patriarchats-Archiv in Karlovci einen gedruckten Prospekt gefunden?), worin aus Triest unterm 15. Aug. 1802 „der ganzen serb. Nation zur Kenntnis“ gebracht wird, daß ein dortiger Serbe die nötigen Geldmittel zur Verfügung gestellt und die Predigten des Theotokis nach der Moskauer Ausgabe (1796) in den eigenen serb. „Dialekt“ übersetzen ließ: daß man nunmehr nur noch die Einwilligung des Metropoliten betr. Zulassung des Buches in den ihm unterstellten Kirchen zu bekommen wünsche.

Die von Stratimirovié oder vom Synod in dieser Angelegenheit gefalite Entscheidung war leider nicht aufzufinden.

Im Zusammenhang mit Kopitars Angaben folgt aus dem Prospekt: Dositej hat in Triest, wo er seit Sommer 1802 bis Juni 1806 weilte, auf Kosten eines dortigen Serben das xvoraxododuor ins Serbische übersetzt: er

1) abgedr. S. 246. 549

selber oder sein Geldgeber hat sich mit einem Gesuch im obigen Sinne an

Stratimirovi& gewandt. Von diesem ist die Erlaubnis aber verweigert worden,

und so ist es zur Drucklegung des Werkes überhaupt nicht gekommen. Belgrad. A. Schmaus.

Umberto Urbani: Ante Tresic-Pavilic. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 386—402.

Wenn nicht der Weltkrieg ausgebrochen ware, würde Tresié-Pavicic wahrscheinlich in Italien der am meisten bekannt gewordene jugoslavische Dichter geworden sein. Die vom Verlag Treves am Vorabend des Krieges als bevorstehend angezeigten Veroffentlichungen der vier Dramen unter dem Gesamititel „Finis Reipublicae“ würden die allgemeine Aufmerksam- keit auf sich gezogen haben, denn gerade das erneute Italien wäre im- stande, den jugoslavischen Dichter vollauf zu würdigen, welcher mit den Manen eines Cäsar, Brutus u. a. Zwiesprache gepflogen. Es ist von der Kritik hervorgehoben worden, daß in dieser Tetralogie nicht nur die mensch- lichen Leidenschaften der alten Zeiten zu vollster dramatischer Entfaltung gebracht worden sind, sondern daß auch die soziale und geschichtliche Entwicklung Altroms in ihnen auflebt. In dem von U. gegebenen Lebens- bild von Tresié, ebenso wie in der Datierung seiner Werke, stören leider mehrfach Unstimmigkeiten der Daten. Tresi¢ ist, ungeachtet seiner vielen Reisen durch die Alte und Neue Welt, nicht zum Kosmopoliten und zum Nachbeter modernen Geistes geworden. In der Dichtung von den ely- säischen Feldern spricht Tresié offen seine Gedanken über die Brutalität der modernen Zeit aus, und in seinen, Katakomben von Paris genannten, Bildern spricht tiefes Entseķen uber das neue Babel, dessen Schönheiten nur erkauft sind durch Schweiß und Tränen der Massc. Das sind die stärk- sten Eindrücke, die Tresié aus Frankreich mit fortgenommen halt.

Ganz anders waren die Eindrücke, die er in einer italienischen Reise gewonnen. Während die junge Generation der Kroaten und Slovenen sich in Disputen darüber verliert, ob man sich in der Richtung auf Paris oder Berlin hin zu entwickeln habe, und während die sozialen Tendenzen viele auf Moskau und sein Evangelium hinhorchen lassen, spricht gegenwärtig niemand von der italienischen Kultur, welcher die Muse eines Mazuranié, Preradović und anderer so viel zu danken hat. Tresic dagegen hat be- griffen, daß zwischen slavischer und lateinischer Welt eine volle Harmonie möglich wäre. Für ihn (und wahrscheinlich auch für Urbani) ist die slavische Seele schlechthin noch immer bloß als ein Hort des Friedens anzusehen, seinem Urteil nach hätten die Slaven das ganze germanische Mittelalter entbehren können, nicht aber die Zivilisation der griechisch-römischen Welt. U. er- wähnt die Versuche der großen kroatischen Dichter, klassische Metren in ihre Dichtung einzuführen. Tresié ging über das früher Versuchie hinaus, indem er klassische Metren sogar in Strophen mit Endreim einführte und auf diese Weise eine ausgezeichnete Vereinigung der Vorzüge klassischer und moderner Dichtung erzielte.

Die gegen Tresić erhobenen Vorwürfe, daß er Carducci imitiert, sind von Ante Peiravi in seinen „Nuovi studi e ritratti“ (1910) zurückgewiesen worden, er hat vielmehr gewisse Einflüsse von Leopardi und Foscoli da und dort zu finden geglaubt. Übrigens hat Tresié selbst sich darüber geäußert, inwieweit er durch Klopstock, Platen, Goethe und Carducci inspiriert worden ist. Bei der Anwendung antiker Versmaße im Kroatischen hat Tresié ein besonders feines Gefühl bewiesen. Er hat einige Gesänge aus der „Divina commedia“ im Elfsilber übersetzt, nicht in dem dafür unge- eigneten Zehnsilber. Wenn die römischen Dramen des Tresié erst in Italien bekannt geworden sein werden, dann wird man seine bis ins kleinste gehende Kenntnis der lateinischen Dichter und des altrömischen Lebens bewundern. Tresié hat auch begriffen, daß die Republik, welche Porzia retten wollte, nicht mehr den Geist der alten römischen Demokratie in sich trug und sich selbst zum Tode verurteilt hatte. Wenn man bedenkt, daß die römischen

550

Dramen des Tresié den Zweck hatten, seine Nation gegen die Habsburgische Tyrannei aufzustacheln, könnte man meinen, daß er der Führer der kroati- schen Jugend hätte werden müssen. Tresié war aber nicht zu Kompro- missen mit den Sezessionisten und Dekadenten bereit, die um des lart pour lart willen nichts wissen wollten von religiösen und moralischen Idealen der Kunst, er hat als ein klassisch-moderner Dichter einen erbit- terten Kampf gegen den Modernismus geführt. Die jugoslavische Lyrik der Gegenwart huldigt ein wenig dem Expressionismus, ein wenig dem Supra- realismus und der dynamischen Dichtung des Krleža und seiner Nachahmer. Daneben sind es die Vertreter des „Barbarengenies“, welche die Freund- schaft Lunatarskijs genießen, Marinetti verehren, sich aus Belgrad aus- weisen lassen und verkünden, daß die europäische Zivilisation den Balkan zugrunde gerichtet habe und daß, um zu einer neuen Zivilisafion zu ge- langen, Europa balkanisiert werden müsse. Die kroatische Lyrik wird trob- dem wohl zur Lyrik des vereinsamten Tresié-Pavicié, der noch heute an die Musen glaubt, zurückkehren. Emmy Haertel.

Josef Mati: Br. Vodnik als Literarhistoriker. Ein Beitrag zur Methodik und Geschichte der neueren südslavischen Literatur- wissenschaft. Slavia 7, 1 (1928), S. 87—110 u. 7, 2, S. 321—358.

Vodnik ist nach Inhalt und Umfang seiner wissenschaftlichen Tätigkeit

wesentlich Literarhistoriker. Hier war seine Tätigkeit eine außerordentlich mannigfaltige: Monographien und Gesamidarstellungen rein wissenschaft- icher Natur, aber auch ein popularisierendes Wirken, in Form kritischer Einleitungen zu Meisterwerken der kroatischen Literatur zum Schulgebrauch usw. Branko Vodnik hat die Sammlung ,,Odabrana djela“ redigiert und die „Hrvatska Citanka za više razrede srednih škola“ zusammengestellt. Im Mittelpunkt seiner Interessen steht die dalmatinisch-ragusäische Literatur und der Preporod, die kroatische Romantik.

In „Prvi hrvatski pjesnici“, wo vornehmlich die Renaissance-Epoche im dalmatinischen Geistesleben dargestellt wird, sind es vor allem Marulié und Lucić, die als ihre Hauptreprasentanten dargestellt werden. Unter den ragusäischen Dichtern war es Vučićević, dem er eine besondere Studie widmete. Ferner hat Palmotić, als Vertreter des Barocks und der Gegen- reformation, Vodniks besondere Beachtung gefunden, wobei in der Unter- suchung, wie weit Gundulić auf Palmotić eingewirkt, auch die Osmanfrage neu untersucht wird. Vodnik kommt zu dem Schluß, daß Gundulić sein Epos acht Jahre vor seinem Tode bis zu dem Grade der Vollendung gebracht, wie es jekt vorliegt, und später nicht mehr daran gearbeitet hat. Warum das Werk unvollendet geblieben, läßt auch Vodnik unbeantwortet. Ein- gehend hat sich Vodnik für die so unvermittelt einsetzende Blüte der slavo- nischen Literatur interessiert und in „Slavonische Literatur im XVIII. Jahr- hundert“ als erster die Hauptstromungen dieser Epoche herausgearbeitet. Er gab ferner aus einer handschriftlichen Sammlung der Agramer Universitäts- bibliothek die Gedichte der Gräfin Patačić mit kritischen Bemerkungen her- aus, untersuchte die Zusammenhänge zwischen Brezovacki und Kačić und brachte aus verschiedenen Archiven das Material zur Biographie des be- deutendsten kajkavischen Dichters, Brezovacki, zusammen. Das Haupt- interesse seiner gesamten Tätigkeit hat Vodnik jedoch dem Illyrismus zu- gewandi. Er vertrat hier die Anschauung, daß zu ihrem Verständnis unbedingt die gründliche Untersuchung der voraufgehenden Epoche erforder- lich ist, die Idee einer einheitlichen serbokroatischen Schriftsprache sei nicht erst im 19. Jh. vom Himmel gefallen. Innerhalb dieser vorbereitenden Epoche hat Vodnik Legati¢ und Staréevié die ihnen gebührende Stellung eingeräumt. Die Studie über Mihanovié ist zu einem Zeitbild erweitert. Eine allseitige Darstellung des Preporod enthält Vodniks größte Studie „Stanko Vraz“ (Zagreb 1909). Der lllyrismus galt Vodnik als die ethischeste und moralisch stärkste Idee des gesamten Preporod, daher seine Bevorzugung dieser Epoche, obgleich sie gerade von anderer Seite schon vielfach untersucht

551

worden war, aber allerdings niemals vorher mit einer derartigen systema- tisch geistesgeschichtlichen Einstellung wie bei Vodnik. Vraz war nach Vodniks Meinung der stärkste kroatische Idealist des 19. Jhs. In seinem Werk über ihn hat Vodnik zahlreiches unveröffentlichtes, handschriftliches Material herangezogen aus den Bibliotheken von Laibach und Agram und aus mündlichen Mitteilungen z.B. von Maretić. Innerhalb dieser Vrazstudie befindet sich eine geradezu monographische Untersuchung der ersten kroa- tischen Literaturzeitschrift „Kolo“. Die monographische Einleitung zu den „Runje i Pahuljice“ des Kurelac dient der weiteren Aufhellung einzelner Stromungen der Epoche.

In der Epoche des Absolutismus ist es die Studie über Starčević, die wieder auf breitester Basis des Zeitbildes die einzelne Persönlichkeit in die Literaturgeschichte hineinstellt. Auch hier fast monographische Unter- suchungen über die Zeitschrift „Zora dalmatinska“. Nächst der Vrazstudie ist es die Arbeit über Preradovié, welche Mail fur die beste Leistung Vodniks halt. Vodnik stellt ihn als den Interpreten der tiefsten Empfin- dungen des kroatischen und slavischen Seelenlebens dar. Die Monographie über Palmovié rolli wieder das Zeitbild der siebziger Jahre in seiner Breite auf, hier werden die Jugendzeitschriften „Smitje“ und „Zvijezda“ in ihrer Bedeutung dargestellt und die Anfänge des kroatischen Realismus unier- sucht. In der Studie über Markovié ist es vornehmlich die Kulturarbeit der Ara Stroßmayer-Racki, welche in der Zeit des ausgehenden Absolutismus das Hauptinteresse Vodniks gefunden, daneben sind zusammenfassende Bemerkungen über die Idylle in der neueren kroatischen Literatur bemer- kenswert. Leider ist Vodnik, der 1926 unerwartet starb, nicht mehr dazu gekommen, die systematische Erforschung der achiziger und neunziger Jahre, der Epoche des kroatischen Realismus, abschließend zu bearbeiten. Unter den Realisten hat Vodnik besonders Kozarac interessiert.

Der serbokroatischen Volksliteratur hat Vodnik zwar keine größere Studie gewidmet, aber aus seinen Einleitungen zu den „Izabrane narodne pjesme i junačke“ ist zu ersehen, daß er sich auch mit dieser Materie ein- gehend beschäftigt hat. Besonders haben ihn die Beziehungen zwischen Volks- und Kunstdichtung interessiert. Auch der geographischen Seite der kroatischen Literatur, den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Landesteilen mit kroatischer Bevölkerung hat er Beachtung geschenkt.

Ein besonderer Abschnitt ist den Ansichten Vodniks über die allgemein herrschenden Methoden _literaturwissenschafflicher Forschung gewidmet. Vodnik, der vor allem den Geist der Epoche durchforscht sehen will, hat die meisten vorhandenen serbokroatischen Literaturgeschichten verworfen, weil sie die alte philologisch-bibliographische Methode beibehalten haben. Vodnik vermißt nicht nur die Zeitpsychologie in derartigen Werken, er ver- langt auch ein kongeniales Erfassen der künstlerischen Elemente seitens des Forschers und das Vorhandensein von künstlerischen Instinkten in ihm. Auch die Form der literaturgeschichilichen Darstellung bemängelt er in der jugoslavischen Literaturwissenschaft, sie dürfe nicht sklavisch kopieren, was ın anderen Literaturen üblich sei, sondern individuell eingefühlt sein je nach der Natur des Volkstums. Er hat hier Murkos Geschichte der älteren süd- slavischen Literaturen sehr begrüßt, weil sie diese Literaturen als Teil der europäischen Kulturentwicklung begriffen hat. Matl untersucht darauf Vod- niks eigene Meihoden, zunächst die Art, wie er die literarische Persönlich- keit herausgearbeitet hat. Er nennt bei Darstellung ganzer literarischer Epochen nicht der Reihe nach ihre Schriftsteller, sondern hebt einzelne heraus als Vertreter der Epoche oder einer gewissen Strömung in ihr, andere läßt er dagegen zurücktreten. Zum Teil decken sich seine Anschau- ungen mit denen Erich Schmidts, der nur Persönlichkeiten das Recht zu- erkannte, in der Literaturgeschichte voranzustehen, Vodnik kommt es vor allem aber auf die Repräsentation der Zeitstromungen an. Solche Typen greift er heraus. Er scheidet nicht nur in der moderneren Literatur die Geister nach diesen Gesichtspunkten, sondern auch die der ragusaischen Periode. Außerdem sichtet er scharf die wirklich künstlerischen Qualitäten

552

der einzelnen Dichter. In der Biographie will er das Unwichtige zurück- treten Kari gegenüber dem Wesentlichen, nur so kämen die individuellen Züge heraus. uch soziale Gebundenheiten, das Haften im Beruf muß beachtet werden. Der Schwerpunkt für ihn liegt aber in der Einstellung der Persönlichkeit in die ideologische Entwicklung. So untersucht er bei Marulić’ Weltanschauung den Konnex mit der miffelalterlich-scholastischen Philosophie. Auch religiöse Wesensveranlagungen müssen grundsäßlich herausgearbeitet werden. Vodniks Studie über Preradović halt Mail für die tiefgehendste Analyse von Weltanschauung und Philosophie unter allen seinen Lebensbildern der Dichter, weil gerade Preradović als starkster jugoslavischer Ideendichter des 19. Jhs. zumeist nach der ideologischen Seite hin untersucht werden mußte.

Die Stellung Vodniks dem literarischen Werk gegenüber begründet sich auf die These Flauberts „L'homme n’est rien, Poeuvre est tout“. Bei ihm stehen die Forderungen nach nationalem Gehalt und die künstlerische Ge- staltung im Vordergrund. M. weist diese Tatsache nach an der Hand der einzelnen von Vodnik verfaßten Dichtermonographien. Vodnik zeigt sich hier als Anhänger der Masarykrichtung, als Modernist, welcher vor allem die Widerspiegelung des modern-fortschrittlichen Lebens in dem dichterischen Werk fordert, aber andererseits soll der Dichter innerlich frei bleiben, und nur seine eigene Seele solle sein Werk diktieren. Trotzdem gipfelt seine Forderung doch im Bekenntnis zum literarischen Realismus. Es wird noch einmal daran erinnert, daß Vodnik als Literarhistoriker nicht Feststellungen philologischer Natur für das Wichtigste hält, sondern den allgemeinen geistigen Grundlagen des Werkes zumeist nachspürt. Auch hierfür folgen wieder Beweise bei Sichtung der einzelnen Studien Vodniks. Die Forderung nach Erfassung der geistigen Strömungen hält er auch den historischen Stoffen gegenüber aufrecht, sie werden von ihm auf Grundlage eingehender geschichtlicher Studien bewertet. Die Übernahme bereits bekannter Stoffe verwirft er nicht, wesentlich bleibe die dichterische Konzeption und ihre künstlerische Gestaltung. Trob dieser hohen Bewertung der künstlerischen Gestalt bleibt sie bei Vodnik doch zurück hinter dem Eindringen in den Zeitgeist eines jeden Werkes. Das aufschlußreichste Werk in dieser Hin- sicht scheint Mail die Preradoviéstudie zu sein.

Das literarische Milieu ist überall beobachtet bei Vodnik, auch da, wo seine Arbeiten den Charakter von Monographien über eine einzelne Per- sönlichkeit tragen; so hat er die Troubadourpoesie ebenso geistesgeschicht- lich durchdrungen wie den Humanismus. Beim Studium der europäischen Renaissancebewegung merkt man den Einfluß von Taine und Brandes. In der Vrazstudie findet die Ideologie Kollärs eingehende Berücksichtigung, die geistige Sphäre der fünfziger und sechziger Jahre spiegelt sich am deut- lichsten in den Studien über Preradovié und Palmovié. Im allgemeinen muß aber bemerkt werden, was auch schon von Murko bemerkt worden ist, daß Vodnik seiner einseitig germanophoben Einstellung genan manche Periode, z. B. die Aufklärungszeit in der slavonischen Dichtung, lückenhaft und ungenügend bearbeitet hat, weil er à tout prix das deutsche Element totschwieg. Als Masarykaner wendet er der allslavischen Idee in der neueren kroatischen Literatur besonderes Interesse zu, der Wert der ein- schlagigen Studien wächst dadurch über den Bereich der kroatischen Literaturgeschichte hinaus. M. bemängelt gelegentlich der Ideen Vodniks über die Aufgabe des uns; welche bei der Preradoviéstudie im Vordergrunde stehen, daß unter den genannten russischen und polnischen Dichtern nicht Dostoevskijs „Idiot“ usw. und Kireevskij genannt sind. Auf- fallend ist es, auf welcher breiten Basis Vodnik das Literaturgeschichtliche einer bestimmten Epoche beobachtet und darstellt. Er zieht hier als Ma- terial die verschiedensten Literaturzweige mit hinein, wie Grammatiken, Gebetbücher, Zeitungspolemiken usw.

Vodnik selbst als geistig literarische Persönlichkeit muß als Glied der kroatischen Generation zwischen 1895 und 1905 angesehen werden. Vom Standpunkt des Fortschrittlers interessiert ihn das Erstehen des freien

855

Menschen in der Renaissance in hohem Maße, von hieraus betrachtet, bleibt seine Bewertung des dunklen Mittelalters als Ara der finstersten Reaktion sehr einseitig und geistesgeschichilich nicht haltbar. Nationalpolitisch steht Vodnik auf dem Standpunkt der serbokroatischen Volkseinheit und der jugoslavischen Idee. Er tritt ein für eine enge Verbindung von Wissenschaft und Leben, seine Studien sind fast durchweg so gehalten, daß sie allen Kreisen zugänglich sein werden. Aus seiner national-aktivistischen Ein- stellung heraus wird sein Haß gegen alles Österreichische verständlich. Er hat aber aus diesem Grunde bei Beurteilung des Josefinismus historisch “nicht Einwandfreies geliefert und wird ungerecht

Vodniks Stellung in der südslavischen Literaturwissenschaft zeichnet M. auf Grundlage eines Vergleichs mit Marković und Srepel. Sein Hauptwerk ist die Povijest hrvatske knjizevnosti, sie ist die beste Darstellung der älteren kroatischen Literatur. Vodnik zeigt sich hier in erster Linie als Er- forscher der kroatischen Romantik, der er als Zugehöriger zu einer reali- stisch-kritischen Epoche mit dem scharfen Blick des Beobachiers gegenüber- stehen konnte. Dabei wird aber nochmals auf den Mangel gerade dieser Studie hingewiesen, der ihr anhaftet durch das Ausfallen der erforderlichen Einbeziehung des deutschen Einflusses! Einseitig erscheint auch die Be- merkung über den vorwiegenden Einfluß des Byronismus in der Poesie Ler- montovs und Puškins auf die gesamte geistige Kultur Rußlands. Auch teilt M. nicht Vodniks Meinung, daß sich bei den Serben die Romantik besonders lange frisch erhalten konnte durch das phantastische orientalische Milieu. Sehr interessant ist es, wie durch Vodnik die Geschichte der serbo- kroatischen Schriftsprache mit hineinbezogen worden ist in die Literatur- geschichte. Es ist dagegen zu bedäuern, daß er nicht auch der bildenden Kunst der Einzelepochen Aufmerksamkeit zugewendet hat, im Sinne Walzels. Er hat sonst große Vielseitigkeit bewiesen, 2. B. durch Einbeziehung der Generationentheorie, auch Keime einer ethnisch-genealogischen Richtung finden sich bei ihm und Sinn für Erkenntnis der Stammesindividualitaten. Schließlich ist auch die wissenschaftliche Soziologie bei Vodnik berück- sichtigt worden. Im Vergleich zu den übrigen Fuhrern der jugoslavischen Literaturgeschichie läßt sich z. B. in bezug auf Murko sagen, daß letzterer systematischer vorgegangen ist bei Betrachtung allgemein kulturgeschicht- licher Faktoren, daß bei Vodnik aber die geistes- und ideengeschicht- liche Seite der Entwicklung schärfer erfaßt ist. Popović und dessen philo- logischer Genauigkeit gegenüber muß Vodniks verfeinertes äsihetisches Empfinden hervorgehoben werden. Er hat für die Kroaten etwa dasselbe getan wie Skerli für die Serben. Hier verfolgt M. die Parallelen zwischen der serbischen und kroatischen Literaturwissenschaft im einzelnen. Im all- gemeinen muß zugegeben werden, daß in bezug auf die wissenschaftliche Erforschung der nationalen Literatur Cechen, Polen, Russen und sogar Bul- garen den Kroaten weit voraus sind. Vodnik hat innerhalb dieses Gebietes etwa dieselbe Rolle gespielt wie Vicek in der &echischen und Chmielowski in der polnischen Literaturwissenschaft. Emmy Haertel.

Primo Fumagalli: La costituzione del Vidov-Dan. L’Europa Orientale. 8, 9—10 (1928), S. 283—306.

Fumagalli erinnert an die Entstehungsgeschichte der Vidov-Dan-Verfas- sung in Jugoslavien und rolli den gesamien Verlauf der um sie geführten politischen Kämpfe auf. Es handelt sich für ihn darum, dem Problem auf den Grund zu gehen, welche Bedeutung fur den serb.-kroat.-sloven. Staat seine Verfassung hat. Ihr Name allein sollte, nach Pasié, die Bejahung der neuen Staatsidee sein. Er wollte die Bestätigung der Verfassung zum Jahrestage der Schlacht am Kosovo pole zum 28. Juni (neuen Stils), d.h. am St. Veitstage, erreichen; der neue Staat sollte das Gegenteil des durch die Uneinigkeit der slavischen Fürsten vor 500 Jahren zugrunde gegangenen darstellen: die Verbrüderung der Stämme durch das jugoslavische Staats- ideal. F. stellt die Frage: entsprach die neue Verfassung diesem Ideal, und

554

*

yt

x Le ad

khajatan BRR EB ER. Ru Ru?

25

war sie geeignet die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen, konnte sie Völker, die in einem Augenblick des Enthusiasmus sich vereinigt hatten, dauernd durch juridische Normen zusammenhalten?

Serben, Kroaten und Slovenen hatten bisher niemals eine politische Einheit dargestellt, auch ihre politischen Ziele waren nicht die gleichen. Erst im Welikriege tauchte die Idee eines serbisch-kroatisch-slovenischen Staates in den führenden Kreisen auf. So entstand das jugoslavische Komitet in Paris i. J. 1915; 1917 erfolgte die Kundgebung im Wiener Par- lament und zwei Monate später der Abschluß des Vertrages von Korfu.

Während die dynastische Frage bei dieser Staatenbildung keine beson- deren Schwierigkeiten bereitet hatte, sind die Fragen des Föderalismus, Zentralismus und Dezentralismus noch bis in unsere Tage Gegenstand er- bitterter Kämpfe geblieben. Der Vertrag von Korfu hatte der Autonomie der Einzelgebiete weiten Spielraum gelassen, was auch in einem Staaten- gebilde von siebenfacher Jurisdiktion, wie das jugoslavische, unumgänglich notwendig gewesen ist. Man hätte aber die Frage der Zentralisierung von der des Panserbismus streng auseinanderhalten müssen, denn dadurch wären wahrscheinlich peinliche Diskussionen und noch jekt andauernde Ani- mositäien vermieden worden.

F. geht auf die Entstehungsgeschichte der polit. Parteien Serbiens vor dem Weltkrieg zurück und gibt einen Rückblick auf Wechsel und Tätigkeit der jugoslavischen Kabinette bis zu dem Augenblick, wo nach den Wahlen vom 28. November 1920, bei denen Kommunisten und Radiépartei einen un- erwarteten Erfolg davontrugen, die Anhänger der staatlichen Einheit und der Dynastie sich unter der Agide von Pasić zu einer radikal-demokra- tischen Allianz zusammenschlossen, die F. eine Einigung sämtlicher ser- bischen Elemente gegen sämtliche andere Komponenten des serbo-kroat.- sloven. Staates nennt, und die am Vorabend der Diskussionen uber die Verfassung zu einem Kampf der Rassen und Religionen führte. Um zu zeigen, daß die Bildung eines Statuts auf grundsäßliche Schwierigkeiten sioßen müßte, bringt F. die im früheren serbischen 'Staate gemachten Er- fahrungen auf diesem Gebiet in Erinnerung. Bald nach der feierlichen Er- öffnung der konstituierenden Versammlung vom 14. Januar 1921 stießen denn auch die Meinungen hart aufeinander. F. zählt die von den ver- schiedenen Parteien überreichten Entwürfe zur Formulierung des Statuts auf, welche die Verfassungskommission prüfen sollte. Nach seiner Meinung war die der Kommission gestellte Frist von nur 14 Tagen zur Prüfung der Entwürfe zu kurz, um die, dem von der Regierung aufgestellten Entwurf nahestehenden Parteientwürfe, in ein einziges Programm zusammen- zuschmelzen, welches wahrscheinlich dann die Majoritat auf seiner Seite gehabt haben würde. Bei den später folgenden Beratungen hat die Unnach- giebigkeit von Pasié in der Frage der Zentralisierung die zwischen Serben einerseits und Kroaten und Slovenen andererseits bestehende Kluft noch vertieft. Das endgültige Wahlergebnis, welches 223 Stimmen für Annahme des Statuts und 35 dagegen aufwies, müsse insoweit richtiggestellt werden, als zu den 35 Opponierenden eigentlich die 161 Wähler hinzuzurechnen wären, welche sich der Wahl enthielten, die Opposition würde dann also auf 196 Stimmen steigen, und somit ist es durchaus begreiflich, daß die Nachricht von der Billigung des Statuts weder in Agram noch inLaibach mit Jubel aufgenommen wurde. Die Kroaten sahen durch den neuen Sieg von Pasié die letzte Spur ihrer alten Unabhängigkeit unterdrückt. In Maze- donien erfolgte offener Aufstand. Das große Nationalfest auf dem Kosovo pole mußte unterbleiben. Emmy Haertel.

RUSSLAND

Der Anfang der Regierung Alexanders Ill. Sovremennyja Zapiski, kn. XXXIII, 1927. |

A. Kizevetter bespricht das von dem sovetrussischen Staatsverlag ve. Gffentlichte Tagebuch des Reichssekretärs E. A. Perec. P. war Reichs-

36 NF 5 555

sekretär, d. h. Chef der Kanzlei des Reichsrates in den Jahren 1878—1885 und stand dem Vorsikenden des Reichsrates, dem liberalen Großlürsten Konstantin Nikolaevié besonders nahe. So kennt er viele Einzelheiten jener Jahre. Das Tagebuch beginnt im lebten Halbjahr der Regierung Al. II. Es ist das der Moment, in dem Loris Melikovs Vorschlag einer „allgemeinen Kommission“, die neben den von der Regierung ernannten Beamten auch aus Veriretern der Selbstverwaltung bestehen sollte, an die Reihe kam. Auch der Finanzminister Abaza machte Vorschläge demokratischer Steuer- reformen im Staatsrat. Loris Melikov, Abaza, der Kriegsminister Miljutin und der Großfürst Konstantin Nikolaevi© bilden die liberalen Elemente in der Regierung. Die reaktionäre Partei stüßt sich aber auf den Oberproku- _ rator des heiligen Synods, Konstantin Petrovič Pobedonoscev. Die Libe- ralen suchen in der Carenfamilie die Freundschaft der morganatischen Ge- mahlin Al. II., der Fürstin Jurevskaja. Die Reaktion hat aber einen sicheren Freund im Thronfolger, dem zukünftigen Al. Ill. In den letzten Monaten der Regierung Al. Il. gewannen aber die Liberalen die Oberhand. Der Entwurf Loris Melikovs wurde von einer Kommission gebilligt, deren Vorsitzender der damalige Vorsitzende des Ministerkomitees Graf Valuev war und unter deren Mitgliedern sich auch der Thronfolger befand. Darauf wurde der Entwurf von Al. Il. gutgeheigen, der am Morgen des verhängnisvollen 1. März einen Ukas unterschrieb, demzufolge am 4. März in einer Beratung der Minister dieser Entwurf endgültig angenommen und eine Veröffent- lichung an das Land erfolgen sollte über die Einberufung der „Allgemeinen Kommission“. Nach der Ermordung Al. Il. kam aber eine tragische Wen- dung in der russischen inneren Politik.

Die historische Sikung vom 8. März ist im Tagebuch von Perec be- sonders dramatisch geschildert. Auf dieser Sitzung sollte die Frage ent- schieden werden, ob der von Al. Il. guigeheißene Entwurf verwirklicht und damit also der liberalen Opposition ein Zugeständnis gemacht werden, oder ob man den Weg der Repression beschreiten und alle liberalen Maßnahmen zurückbremsen sollte, um vor allem die Revolution gewaltsam zu unter- drücken. Graf Valuev, D. A. Miljutin und der eigentliche Urheber der Re- form, Loris Melikov, verteidigten das Projekt, aber das Hauptmoment fiel auf die Rede Pobedonoscevs.

Bleich und erregt warnte Pobedonoscev vor dem Projekt. Man will Rußland eine Verfassung aufdrängen, wenn nicht auf einmal, so wenigstens den ersten Schritt zu ihr machen. Rußland ist durch die Autokratie grob geworden, würde durch eine Verfassung Opfer der Revolution werden und zugrunde gehen. Al. Ill. sprach sich nicht offen aus, und die Frage blieb auf dieser Sitzung unentschieden.

Eine kurze Zeit schwankte noch der junge Car, aber sehr bald siegte der Einfluß von Pobedonoscev. Am 29. April erschien ein von Pobedo- noscev verfaßtes und vom Caren unterschriebenes Manifest, in welchem Al. III. seinen Glauben „an die Kraft und die Wahrheit der selbstherrlichen Gewalt, die Wir zum Wohle des Volkes zu befestigen und beschützen be- rufen sind“, Ausdruck verleiht. Die liberalen Minister Loris Melikov und Abaza, die vom Erscheinen des Manifests ganz überrascht wurden, nahmen sofort darauf ihren Abschied. Kurze Zeit darauf gingen auch andere libe- rale Regierungsmitglieder, z. B. Kriegsminister Miljutin, später auch Groß- fürst Konstantin Nikolaevié.

Der Nachfolger Melikovs, Ignatiev, wollte sich nicht ganz gehorsam im Fahrwasser Pobedonoscevs halten und mußte in einem Jahre gehen. Dann wurde der Graf Dimitrij Tolstoj berufen, was einen vollständigen Sieg der Reaktion bedeutete.

Auch Perec konnte sich nicht mehr halten. Als bei der Frage einer Repression gegen die Raskolniki der Großfürst Michail Nikolaevic, der damalige Vorsikende des Reichsrates, ein schwächlicher Charakter, erklärte, der Staatsrat würde entscheiden, wie man es von Allerhöchsfer Seite be- fehlen würde, erlaubte sich Perec, den Großfürsten an die Urteilsfreiheit des Staatsrates zu erinnern. Die Folge dieser Bemerkung war sein Ab-

556

schied. Er war schon lange dem Caren unsympathisch, da er ihn an die Zeit des völligen Waltens des Geistes seines verhaßten Onkels Konstantin Nikolaevié im Staatsrate erinnerte. Rußland blieb von nun an unabwendbar auf dem irrigen und falschen Wege, der es zur furchibaren Katastrophe von 1918 führte. Nadežda Jaffe.

Ein Brief Dostoevskijs an Alekseev vom 7. Juni 1876. Golos Mi- nuvSago. Nr. 5/XVIII 1927.

Der bisher unbekannte Brief Dostoevskijs ist an Alekseev, einen Geiger aus dem Orchester des Marientheaters, gerichtet. Dieser, ein großer Ver- ehrer des Dichters, war ein aufmerksamer Leser des „Dnevnik Pisafelja“ und hatte dort im Mai 1876 einen Artikel über den Selbstmord eines den sozialistischen Kreisen nahestehenden jungen Mädchens Pisareva ge- lesen. Um den Problemen dieses Todes näher zu treten, hatte Alekseev an D. einen Brief geschrieben und als Antwort diesen Brief vom 7. Juni 1876 erhalten, der höchst wichtig ist für die Genesis der Legende vom Groß- inquisiior in den Brüdern Karamasov.

Hier spricht D., 3 Jahre vor dem Erscheinen des beruhm- tenRomans, fast alle Gedanken der Legende aus. Er sieht in den Ver- suchen des Teufels in der Wüste aus der Hig. Schrift die Geschichte der ganzen Menschheit. Die Forderung des Verwandelns der Steine in Brot ist eine ewige Forderung. Diese Frage will auch jet der Sozialismus in dieser Weise lösen; er glaubt, daß mit der Beseitigung von Hunger und Armut alle menschlichen Leiden verschwinden würden. Darauf kann aber auch nur die schöne Antwort Christi gelien: „Nicht das Brot allein sattigt den Menschen“. Christus wußte, daß der Mensch kein Tier sei und ohne ein Schönheitsideal nicht leben könne. Denn Er, Der der Menschheit die Schön- heit brachte, wußte, daß der Mensch ohne Schönheitsideal den Verstand verlieren, Selbstmord verüben oder sich in heidnische Phantastereien ein- lassen würde.

Und wenn man dem Menschen beides Schönheit und Brot geben würde? Dann würde man ihm die Persönlichkeit, die Arbeit, die Opfer- freudigkeit für den Nächsten abnehmen. Daher hielt es Christus für besser, nur eine Erlösung die Erlösung des Geistes zu verkünden.

So sieht D. den Grund des Selbstmordes der Pisareva in ihrem An- schluß an revolutionäre Kreise, die nur für das Brot in der zukünftigen Weltordnung sorgen und den materiellen Gütern eine unangemessen wich- tige Rolle beilegen. D. gibt aber selbst zu, daß mit der Ideenwelt des Teufels es nicht leicht sei fertig zu werdén.

In diesem Briefe sind also die Probleme der Legende noch vollstän- diger behandelt. Es wird als Lösung des Problems die Möglichkeit gestellt: dem Menschen Brot und Schönheit zu geben... und auch diese Lösung wird abgelehnt. Dem Brot wird nicht, wie in der Legende die Freiheit, sondern die Schönheit entgegengesebt, die Schönheit, die eine so wichtige Rolle im „Idioten“ spielt und Christus wird als Symbol der Schönheit gepriesen.

Der Brief wird im „Gol. Min.“ von F. Pobedinskij kommentiert.

Nadežda Jaffe.

v. Friè e: Tolstoj i CernySevskij. Krasnaja Nov’. September 1928.

Fr. versucht die Beziehungen der beiden Manner, deren 100jahrigen Geburtstag Rußland in diesem Jahre feierte, aufzuklaren. Als der erste Roman Tolstoj’s: „Kindheit und Jugend“ im „Sovremennik“ erschien, schrieb Č. einen Aufsatz, in dem er das Talent I. s rühmte und auf.zwei grund- legende Eigenschaften von T.s Begabung aufmerksam machte: auf seine Kenntnis der Dialektik der Seele und auf sein hohes moralisches Gefühl,

557

zwei Eigenschaften, die auch für den späteren Tolstoj charakteristisch sind. Aber persönlich waren sich die beiden Männer unsympathisch. Es konnte auch nicht anders sein: Einer war Ideologe einer untergehenden Klasse, der andere einer kommenden. Als T. in den 5 C. aus Jasnaja Poljana seine pädagogische Zeitschrift sandte, erregte sie bei diesem nur Miß- fallen.. Und wie konnte Č. an einer Zeitschrift Gefallen finden, in der es stand, die Religion müsse als Grundlage zur Volkserziehung gehen und Rousseau, Pestalozzi und andere Pädagogen der Neuzeit nur Narren ge- scholten wurden. ber nicht wer r Mißfallen erregte bei Tolstoj der berühmte Roman Cs: „Cto djelaf’ r schrieb ein Stück gegen die „neuen Menschen”, die C. verherrlichte, das Stück mißlang künstlerisch und wurde nie veröffentlicht. Interessant ist aber, daß der Roman doch in T.’s Seele Spuren hinterließ. Im „Lebenden Leichnam“ fragt die Zigeunerin MaSa den Protasov: „Kennst du den Roman: ,,Cto djelat“? Langweilig ist er, aber etwas ist da schr, sehr gui der Rachmanov, der Selbstmord vorspiegelt.“ Alles hatte T. ver- gessen den Namen des Helden C.’s er heißt nicht Rachmanov, sondern Rachmetov; nicht er, sondern Lopuchov hatte Selbstmord simuliert, um seine Frau aus den Qualen einer unglücklichen Ehe zu befreien; aber T. hatte die Lösung, die C. der unglücklichen Ehe des Romans gab, nicht ver- gessen, und sie beeinflußte den „Lebenden Leichnam“. Verf. hält als Denker C. für den Bedeutenderen, als Schriftsteller hat T. in der Weltliteratur, die C. kaum kennt, die Palme errungen. Aber der marxistische Forscher will auch eine künstlerische Bedeutung Č. zumessen, da die Ideen seiner Werke eine so hervorragende Anzahl von Jüngern fanden. Nadežda Jaffe.

M.Al’tmann: L.Tolstoj i Gerodot. Slavia 7, 2 (1928). S.311—320.

_A. untersucht, inwieweit die Lektiire Herodots auf Tolstojs Bauern- erzahlungen eingewirkt hat. Er hat eine auffallende Übereinstimmung zwischen der Erzählung Tolstojs „Mnogo li anh zemli nužno?“ und der Erzählung Herodots von der Landschenkung der Skythen an den Bewacher der vier vom Himmel gefallenen goldenen Gegenstände (,„Istorija“, Kn. 4, Kap. 7) gefunden. In beiden Erzählungen wird so viel Land demjenigen versprochen, der dem Tode verfallen ist, wie er in einem Tage umgehen bzw. umreiten kann. Bei beiden geht der Landumgehung ein Schlaf voraus. Im übrigen verläuft der Inhalt der Tolstojschen Erzählung so verschieden von dem Herodotschen Bericht, dab kaum an eine Beeinflussung gedacht werden könnte, wenn nicht verschiedene Beweise dafür in Tolstojs Brief- wechsel zu sehen wären. A. zitiert Briefe von Tolstoj selbst, von Turgenev, von Tolstojs Gattin, in denen von seinen leidenschaftlich betriebenen Stuc der griechischen Sprache und Literatur gesprochen wird. Tolstoj hat diese Studien, der Gräfin Tolstoj zum Troß, während einer Kumyßkur mitten im Baschkirenlande fortgesetzt und dabei die Baschkiren mit den Galakto- phogen im Skythenlande Herodots verglichen. Zu jener Zeit faßte er den

nischluß, keine langen Romane, wie „Krieg und Frieden“, mehr zu schreiben. Die alte Literatur mag ihn dazu angeregt haben. A. weist nach, daß die Herodotsche Erzählung nicht vereinzelt dasteht, sondern ihre Entsprechung in der Volksüberlieferung Rußlands hat. So z. B. im Sosnicker Kreise des Gouvernements Cernigov, wo die Volkssage einem Sumpf, auf dem das Vieh nicht weiden will, andichtet, daß dort das Grab eines beim Land- umgehen zu Tode Gekommenen sei. Hier finden sich sogar einzelne Züge der Tolstojschen Erzählung wieder, welche bei Herodot fehlen. Es scheint sich also um ein uraltes Motiv zu handeln. A. streift noch kurz die rationali- stische Einstellung zu der Tolstojschen ‚Erzählung bei Knut Hamsun und bei Cechov in der Erzählung „KryZovnik“, zu welcher Tagebuchnotizen den direkten Beweis liefern, daß es sich hier um eine bewußte Entgegnung auf Tolstojs „Märchen“ ursprünglich hieß diese Erzählung bei Tolstoj „Skazka o zemle“ handelt. Emmy Haertel.

558

A AAN

ur

2 TE

ww ax LES EK

Renato Poggioli: L’arte di Costantino Balmont. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 476—507.

_ Ein Überblick über die Verbreitung, welche der französische Sym- bolismus in Rußland gefunden, leitet die Studie über Balmont ein. P. er- wähnt hierbei, daß die italienische Literatur, gesättigt durch eine nie er- loschene klassische Tradition, dem Eindringen dieser französischen Poesie am meisten Widerstand geleistet hat, während gerade junge und abseits der klassischen Tradition entwickelie Literaturen wie die slavischen von ihr am leichtesten durchdrungen wurden. Dieses Pfropfreis aus dem Westen gab aber auf diesem Boden ähnlich wie das früher auch auf anderen Kunstgebieten geschehen unerwartete und originelle Erfolge. Die Dichtung Aleksandr Bloks fußt auf dieser Transplantation. Balmont hat, ungeachtet seiner glänzenden Begabungen, den Schritt in diese Poesie nicht so leicht zurückgelegt; er hat von den Symbolisten und Dekadenten die Neigung zu einer Musikalität der Sprache um ihrer selbst willen an- genommen, die oft übertrieben und ohne eigentlichen inneren Grund an- gewandt ist. Hierin hat er auch viel von den englischen Lyrikern gelernt. Im übrigen hat er bei der Bildung seines Weltbildes fast von allen Modernen etwas angenommen, von Wilde, Nietzsche, Verhaeren, D’Annunzio u. a. Das hat aber auch seiner Originalität Abbruch getan und, nach der Meinung Poggiolis, dazu beigetragen, daß seine Dichtungen nur selten in das Gebiet großer Kunst zu rechnen sind. Balmont war aber nicht ohne eine eigene Weltanschauung, seine Anschauungen Welt und Dingen gegen- über werden von Lo Gatto in seinen „Studi di letterature slave“ (Roma 1925, Vol. 1, S. 154—157) sehr treffend als „nietzschianesimo lirico“ bezeichnet. Es steckt in der Tat sehr viel Nießschescher Geist in ihm, aber vielleicht erinnert er noch mehr an Vorläufer Nietzsches; P. erwähnt in diesem Zu- sammenhang den Amerikaner Walt Whitman.

Balmonts Sonnenkult, seine Ekstasen den großen Naturerscheinungen gegenüber: Wind und Feuer, die er als lebenschaffende Mächte erkennt, beweisen es, daß er neben den Dekadenten noch andere Lehrmeister ge- habt, denn derem Sinne hätte es mehr enisprochen, wenn er den Mond besungen hätte. Dem Dichter, der sich selbst in Sonnenhöhe und -nähe wähnt, mußte der Gedanke des Jenseits-von-Gut-und-Böse-Stehen nahe liegen, er geht aus diesem Gedankenkreis über zum Bewußtsein eines Thronens über aller Welt: der Dichter ist Konig. P. geht Balmonts Ge- dankengängen bis in alle Einzelheiten nach, seinem Schonheitskult, dem aus der Schönheit des Augenblicks entspringenden Bewußtsein vom Wert des Augenblicks, von der Relativitat der Begriffe: falsch und wahr usw. Aus diesen Proben wird ersichtlich, daß Balmonts Ideenweli keineswegs originell zu nennen ist. Es ist das aber nur eine Seite seines inneren Menschen. Die bisherigen Ideengänge mußten notwendig gewisse Grenzen finden, sie sind außerhalb der Jugendzeit nicht gut vorstellbar. Immer wieder hat Balmont auch das Lob der Jugend in seine Dichtungen einge- flochten. P. fragt nun, wie hat er vom Tode gedacht? Hier ist eine der schönsten Dichtungen Baimonts aufschlußgebend: „Lebed’”“. Der elegische Sterbegesang des Schwans rührt an eine andere Welt als die bisher von Balmont besungene: ein Insichgehen, Bereuen, Bitten um Vergebung und schließlich der Gedanke, daß der Tod als Friedenbringer kommen wird. P. halt den Schluß des Gesanges künstlerisch nicht für sehr wertvoll, aber für um so aufschlußreicher in bezug auf Balmonts Gedankenreihen, die ins Metaphysische übergreifen. Den Gipfelpunkt dieser Art Dichtungen glaubt P. in „Na verSiné“ zu sehen. Das Gedicht schließt mit dem Bekenntnis der tiefsten Resignation.

Balmont, der nach Poggiolis Meinung hinsichtlich seiner Weltanschauung nun den Höhepunkt erreicht, steigt in späteren Dichtungen wieder herab. Einen ähnlichen Abstieg, aus Gründen innerer gesesmäßiger Notwendigkeit, sieht P. auch in D’Annunzio, mit dem er vorher Balmont verschiedentlich verglichen hat. D’Annunzio hat aber schließlich im Aufgehen in der Natur

559

wieder neuen Aufschwung genommen, während Balmont sich nicht mehr zu dem früheren Feuer aufschwingen konnte. Die technische Seite seiner Dichtung, der P. eine längere Besprechung widmet, zeigt eine ungewöhn- liche Anzahl in Form und Ton verschiedener Ausdrucksmittel, die größtenteils dem Zweck dienen, eine Musik in Worten zu erreichen. Diesem Streben nach musikalischer Wirkung zuliebe wendet Balmont vielfach rein virtuose Mittel an. P. zitiert hier das für diese Art dichterischer Technik von Cukovskij (gelegentlich einer Besprechung der „Prekrasnaja dama“ Bloks) geprägte Wort ,BalmontovScina“. Schließlich betrachtet P. noch Balmonts Tätigkeit als Üüberseber, die bei seinem ungewöhnlich ausgebrei- teten Sprachwissen auch eine ungewöhnlich reiche gewesen ist. Er gibt die Zusammenstellung des englischen Textes von Edgar Poe „The bells“ mit Balmonts Übersekung ins Russische und einer italienischen Ubersebung.

P., der Balmonts größtes Verdienst darin sieht, daß er die jüngere russische Dichtergeneration aufgerüttelt hat zu einer Abwehr gegen den allzu praktisch-moralisch-sozial gewesenen Grundzug der russischen Lite- ratur des 19. Jahrh. und ihr ein Fenster nach dem Westen aufgebrochen, nimmt gerade dieser ausgesprochen europäisierten Natur Balmonts wegen noch einmal den Vergleich mit ihm und D’Annunzio auf. Man hat von letz- terem gesagt, daß er ein kleiner Tyrann der Renaissancezeit sei, der in der Zeit der Bourgeoisie und der Dampfmaschinen lebt, und Erenburg hat von Balmont gesagt, er sei ein glänzender Anachronismus. Beides trifft nach Poggiolis Meinung zu, beide Dichter sind sich in ihrem Europäismus wie in ihrer anachronistischen Art ähnlich, und beiden gemeinsam ist ein ausgesprochen femininer Zug: das allzu bereite Aufnehmen anderer und stärkerer Ideen. P. fügt hinzu, dieses Urteil dürfte vielleicht manchem Russen zu hart erscheinen, es entsprache auch mehr romanischer als sla- vischer Denkungsart. P. schließt sich deshalb dem absprechenden Urteil Eichenwalds über Balmont an und lehnt das übertrieben enthusiastische Erenburgs über ihn ab. Übrigens hat ja auch Erenburg zugegeben, daß man Balmont nicht so lieben könne wie Blok. Der Geist der Nachkriegs- zeit kann Dichter wie Balmont und D’Annunzio nicht mehr als zeitgemä empfinden, für ihn gehören sie beide dem 19. Jahrh. an, was aber ni hindern wird, das wirklich Schöne bei Balmont weiter zu schätzen.

Emmy Haertel.

Umberto Barbaro: Lidia Seifullina. Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 508—514.

Die russische Kritik uber Lidia Seifullina ist des Lobes voll, merk- wurdigerweise aber sehen die einen in ihr die unerbittliciste Anklagerin der sovetistischen Irrtümer und Grausamkeiten, die anderen dagegen die- jenige Schriftstellerin, welche den Kommunismus in den höchsten Tönen feiert. In beiden verschiedenen Lagern wird ihre Kunst als „Realismus“ bezeichnet. Realistische Literatur ist in Italien nicht beliebt, und doch haben die großen Werke der russischen Realisten das italienische Publikum für sich erobert. Die Einschäkung der literarischen Kritik will hier nichts sagen, man muß den Schriftsteller aus seinen Werken und seinem Leben kennen lernen. Das soll hier auch bei der Bekanntschaft mit der Seifullina ver- sucht werden. B. gibt in Kürze ein Bild ihres Lebens und Wirkens, er teilt mit, daß ihre erste literarische Arbeit dadurch zustande kam, daß sie von einer sibirischen Zeilung aufgefordert worden war, für sie einen Aufsab zur „Woche des Kindes“ zu schreiben. An Stelle eines Aufsabes schrieb sie eine Erzählung, durch die sie sofort die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog. Ihre Themen und Probleme eninimmt sie dem Gebiet ihrer eigenen Erfahrung (sie war der Reihe nach Lehrerin, Bibliothekarin, hörte Vorlesungen über Pädagogik und ist als Sekretarin des sibirischen Staats- verlags im Kommissariat für Öffentliche Bildung tätig). Sie beschreibt das Leben im russischen Dorf und seinen jähen Wechsel infolge Krieg, Revo- lution und Bürgerkrieg, über die Lage der Frau und über die Verwahr-

860

losung der Kinderwelt. Es ist also ein ständigem Wechsel unterworfenes Milieu, dessen Schilderung z. T. schon wieder überholt ist. Ihren eigenen Gesichtspunkt aus diesen Schilderungen zu erkennen, ist deshalb kaum möglich, weil sie alles mit scheinbar größter Objektivität schildert. Viel- leicht hat keiner, weder in Rußland noch außerhalb, die Revolution von einem gleich hohen Standpunkt aus betrachtei. B. halt diese Kunst nicht für realistisch, dazu enthält sie zuviel lyrisch-suggestive Elemente, nach seiner Meinung besitzt sie alle Vorzüge der lebten Moderne ohne deren Fehler. Er stellt sie in manchem über Zola und Daudet. Die Seifullina zeigt immer ein nachsichtiges Urteil für die von ihr geschaffenen Typen, auch da, wo man erwarten könnte, daß sie verurteilen muß. Ohne alle Prüderie schildert sie selbst die heikelsten Dinge, und ebenso liegen ihr Sentimentalität und Wunderglauben fern. B. meint, sie sei nur mit Verga zu vergleichen, und zwar auch hinsichtlich eines Vorwurfs, den man ihr in bezug auf ihren Stil machen kann. Ebenso wie Verga nach dem Auf- kommen von D’Annunzios Wortschwall trocken und dürftig erschien, so kann man ähnliches auch von ihr sagen. Sie drängt ihren Geschöpfen nicht die eigene Sprache auf, sondern lernt von der ihrigen, so einfach und volkstumlich sie auch sei. Emmy Haertel.

Die jüdische Bevölkerung unter der kommunistischen Regierung. Sovremennyja Zapiski. Oktober 1928. S. 509—531.

B. D. Bruzkus, der bekannte russisch-jüdische Journalist, bespricht die jetzige Lage der Juden in Rußland. Die jüdische Frage hatte und hat im politischen Leben Rußlands eine besondere Bedeutung. Entgegen- gesetzte politische Parteien schildern aus entgegengesefien Grundsäßen heraus das Leben der russischen Juden in ganz falschen Farben. Die jüdische Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Kleinhandlern und Hand- werkern. Diese Bevölkerungsteile wurden von der Regierung besonders verfolgt. Im russischen Standestaate sind Kaufleute und Handwerker Bürger zweiter oder dritter Klasse. Sie können ihren Stand nicht ver- ändern, da ihre bürgerliche Herkunft sie daran hindert. Durch ihren so- zialen Stand sind aber ?/, aller Juden entrechtel, und so ist die Gleichberech- tigung nur auf dem Papiere vorhanden.

In d. J. 1925—26, z. Z. des Neps, merkt man einen gewissen Aufschwung der jüdischen Bourgeoisie. Die Juden, die an Arbeit ın ungünstigen recht- lichen Verhältnissen gewöhnt waren, verstanden sich auch jetzt zu behaupten. Die weißrussischen und ukrainischen Kleinstädte, in denen die Hauptbevöl- kerung der Juden wohnt, belebten sich. Die Steuerlast wurde leichter. Kleine Markthandler und Handwerker bekamen Wahlrecht. Die Ernte war gut und die Valuta stabilisiert. So gelang es den Juden Weißrußlands und cor Ukraine, Erfolge auf dem Gebiete des Mehl- und Tabakhandels zu er- zielen.

_ Aber 1927—28 kamen wieder neue Verfolgungen; feste, von der Re- gierung bestimmte Preise toteten den Handel. Wieder kam politische Entrechtung für die Handwerker und für alle, die jemals in den lekten 5 Jahren Handel getrieben hatten.

Auf die Frage, ob die Juden irgendeinen Gewinn aus der Revolution gezogen haben, antwortet B. verneinend. Die jungen jüdischen Kommissare im Anfange der Revolution waren vielleicht die einzigen. jetzt sind Sovet- beamte meist ehemalige jüdische Kaufleute und Intellektuelle aus den höheren Schichten der jüdischen Gesellschaft. Für diese bedeutet ihre Lage als Sovetbeamte einen sozialen Niedergang.

Der Kolonisationspolitik der Sovetregierung sieht B. pessimistisch gegenüber. Das ganze Projekt der Kolonisation der Juden ist nur ein Versuch, die Sympathie der jüdischen Bourgeoisie in Amerika und Wesi- europa und daher Kredite zu gewinnen. Die systematische Kolonisation nach der Krim ging mit Hilfe des Joint Distribution Commitee vor sich. Das Leben der Kolonisten ist sehr schwierig und das ganze Projekt kostspielig

561

und kompliziert. letzt ist ein Plan vorhanden, die Amur- Gegend, die B. fur sehr ungünstig hält, mit Juden zu kolonisieren. Die Lage der Juden in Sovetrugland ist so verzweifelt, daß sie auch darauf eingehen.

Und trojdem versuchen reaktionäre Journalisten, wie Sulgin einerseits und radikale jüdische Gruppen andererseits, die Lage der Juden in Rußland in günstigstem Lichte darzustellen. B. glaubt aber, in dem von ihm ge- sammelten Tatsachenmaterial einen enigegengesebten Beweis zu bringen.

Nadežda Jaffe.

Evgenij Aniékov: N. P. Kondakov (1844—1925). Slavia 7, 1 (1928). S. 44—62.

1. Verf. will das Eindringen in Kondakovs Lebenswerk erleichtern, in- dem die seine einzelnen Untersuchungen miteinander verbindende Ge- dankenkette gezeigt werden soll. Kondakov, Schüler Buslaevs, hat seine Studien zur Zeit romantischer Anschauungen begonnen, welche Buslaev bei Betrachtung der altrussischen Kunst, Volkskunst und Literatur zur Geltung bringen wollte. Auch damals aber kannte man schon die Abhängigkeit der altrussischen Zivilisation von Byzanz, es war nur begreiflich, daß sich das Interesse der Forscher nach dieser Richtung hin zu betätigen anfing, z.B V.G. Vasil’evskij, dessen Werke jet von der Akad. Nauk herausgegeben werden. Die romantische Schule, mit ihrer auf nationalem Selbsigefühl auf- gebauten „vergleichenden“ Methode, suchte die Originalität und Selbständig- keit der Denkmäler aus dem „grauen Altertum“ nachzuweisen. K’s. Haupt- werk „Russkie klady“ (1896) wandte sich gegen diese Auffassung und gegen diesen beschränkten Patriotismus. K. und seine Gesinnungsgenossen ver- traten das Prinzip der Entlehnung von Volk zu Volk. In den „Russkie klady“ legt Kondakov eingehend den Gang, den Entlehnungen grundsäßlich nehmen müssen, und wie sie ihn in Altrußland genommen haben, dar, d. h ihren Ausgang von Byzanz vermittelst der engen Berührungen im Chersones und der Ausstrahlungen über Georgien, die Donauufer usw. Während Veselovskij schon in den siebziger Jahren sein Augenmerk auf den infolge dieser Kulturvermittlung anzunehmenden Komplex der „griechisch-slavischen Welt“ richtete, beharrte K. längere Zeit bei Studien ausschließlich byzan- tinischer Denkmäler. Er hat während seines 20jährigen Aufenthaltes in Odessa ausschließlich als Byzantinist gearbeitet und galt als bester Kenner des byzantinischen Altertums. Erst Ende der achtziger Jahre, in Peters- burg, wandte er sich dem russischen Altertum zu. Ohne zum slavophilen Lager zu gehören, haben er, Vasil’evskij und Veselovskij die Beantwortung der Fragen nach der Stellung der Slaven in der Weltgeschichte, welche einst Chomjakov gequält, auf rein wissenschaftlicher Basis, aber erfüllt von patriotischen Gefühlen, angestrebt.

2. Verf. nennt dann zunächst chronologisch Kondakovs Arbeiten auf byzantinistischem Gebiet. Hier hat K., ähnlich wie Vasil’evskij und Vese- lovskij, einzelne wenig erforschte Denkmäler behandelt, keine allgemeinen Probleme. Er galt deshalb lange als einseitiger Spezialist, und so über- raschte später die Weite seines wissenschaftlichen Horizonts. In seinem „Pute3estivie po Sirii i Palestině“ nahm K. Stellung zu der mittlerweile ein- geiretenen Spezialisierung der byzantinischen Kunstforschung, welche durch die in Syrien, Georgien, in der Krim, in Ägypten und Sizilien gemachien Funde byzant. Provenienz aus dem 6.—9. Jahrhundert entstanden war und rein lokalen Charakter angenommen hatte. Er stellte die Frage, ob sich die Kunstwissenschaft allein formalen Interessen innerhalb lokalgeschichtlich abgegrenzter Gebiete zuwenden und den Überblick über das Gesamtgebiet des christlichen Altertums und die hier zu behandelnden Probleme aufgeben wolle. Er sieht darin eine Gefahr für die Archäologie, die so zu einer dienen- den Rolle verurteilt wird, indem sie nur innerhalb bestimmter Regionen in der Kunst eine Art Illustration historischer Anekdoten sieht. Die Gedanken, welche Kondakov leiteten, hatten indessen auf literarhist. Gebiet Anwen- dung gefunden; Veselovkij, Vsevsolod Miller und Ždanov hatten an Stelle

062

der früheren vergleichenden Methode die durch Tatsachen gestützte der Entlehnungen in Angriff genommen, durch die der Kultureinfluß des kulturell höher Stehenden auf den Primitiveren erwiesen wurde. Diese Prinzipien leiteten auch K. bei der Untersuchung der Beziehungen innerhalb der ein- zelnen Territorien des altchristlichen Altertums. In seiner „ikonografija Bo- gomateri“ hat er eine Gliederung des Stoffes in Perioden, gemäß dem jeweils vortierrschenden Kultureinfluß, vorgenommen. Er sieht die Gefahr der Einzeluntersuchungen in der Vernachlässigung des Zusammenhanges mit der kulturhistorischen Gesamtheit, der ihn bereits in seiner Doktor- dissertation interessiert hat. Während der ersten 20 Jahre seiner Forscher- tätigkeit hat die Kunstwissenschaft, welche ihren Ausgangspunkt von der Renaissance herleitet, in erster Linie die formale Seite der Kunst ins Auge gefaßt und sie zu einer Arena des Schönen gestempelt. K. verfolgt in der Einleitung zu seiner „Pute3estvie v Siriju i Palestinu“ diese formale Rich- tung in ihrer Entwicklung und stellte fest, daß sie noch immer lebendig ist, wobei er sich scharf gegen den Formalismus in Riegls „Stilfragen. Grund- legungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ gewandt hat. Ani¢kov weist hier auf die in der russ. literar. und künstler. Kritik stets bewiesene, allem Formalismus abgeneigte Gesinnung hin, die z.B. besonders stark in Cerny- Sevskijs „Estetileskija otnoSenija iskusstva k dästvitel ’nosti“, ihrerseits auf Feuerbach aufgebaut, gegen Vischers Formalismus zum Ausdruck kommt und auf Dobroljubow und Stasov eingewirkt hat. Kondakov bestreitet übrigens nicht die Wichtigkeit der Form, sondern nur das einseitige Interesse der Kunstwisenschaft für sie: er will das Untersuchungsfeld weiter ausdehnen, das gesamte archäologische Material auf dem Gebiet der Kleinkünste und des Handwerks, der Kleidung, Waffen usw. miteinbezogen sehen als Abbild des Lebens einer bestimmten Epoche. Nach und nach werden diese Zweige das Lieblingsgebiet seines wissenschaftlichen Forschens. Hier auf diesem Gebiet läßt sich der Schlüssel finden zur Geschichte der wirtschaftlichen ungen: der Märkte und des Kunsthandwerks in Privat- und Groß- etrieben

3. Kondakov konnte auf seinem Arbeitsfeld die Geschichte der Ent- lehnungen von Volk zu Volk ungleich erfolgreicher verfolgen, als es die Literarhistoriker imstande gewesen waren. Für ihn ergab sich schließlich der Übergang der Kulturgüter auf dem Wege des Handelsverkehrs der Völker untereinander als das bedeutendste Ferment der Kunstentwicklung, ja ihm schien ein Fortschritt unmöglich da, wo Entlehnungen unmöglich waren. So erklärt sich der Zusammenhang der Einzelgebiete in der byzan- tinischen Kunst von Palästina, Syrien usw. So ließ sich die Wanderung der Kunstformen von Kleinasien über die Krim nach Norwegen verfolgen. K. hat einen Überblick über die Entwicklung der byzantinischen: Kunst in seinem „Vizantijskie Emali“ gegeben. Er erklärt hier auch das Auftreten des Tierstils zur Ikonoborzenzeit als besondere Kunstform, nachdem dieser Stil früher nur asiatischen Kunsterzeugnissen der sog. barbarischen Völker eigen gewesen war. Unter den „barbarischen Volkssiammen des Nordens“ ist die sog. „griechisch-slavische Welt“ zu verstehen, welche tatsächlich zuerst griechisch und noch nicht byzantinisch gewesen ist und spafcrhin slavisch wurde. Kondakov hat den Prozeß dieser Slavisierung ehemals griechischen Kulturgebiets nicht allseitig durchgeführt, aber jedenfalls war er der erste, der auf wissenschaftlicher Grundlage diesen Tatsachen Beachtung schenkte. In „O nauénych zadaéach istorii drevne russkago iskusstva“ und in „Russkija drevnosti” untersucht er die Zusammenhänge der hellenistischen Kunst in der Krim mit der skythisch-sarmatischen Kultur, die ihrerseits wieder zu den Funden aus der Völkerwanderung Beziehungen hat, und ihr folgen in zeit- lich geringem Abstand die slavischen Altertümer. Es ist wichtig, daß in diesem Zusammenhang die slav. Völker nicht als Zerstörer vorhandener alter Kulturen auftreten, sondern sich auf kulturgesäitigtem Boden nieder- ließen. Diese Zusammenhänge der Slaven mit einer jahrhundertealten Kultur festgestellt zu haben, ist eines der Hauptverdienste Kondakovs. Anickov sekt sich hier mit der so lange verfochtenen Theorie der Beeinflussung der

565

Siaven en die Germanen auseinander. Zwar war schon 1886 von Hempel (Der Schab des Attila. Budapest 1886) auf die asiatische Herkunft dieser Kunst hingewiesen worden, aber noch jetzt wird der germanische Ei überschätzt und der des asiatischen verringert. K. hat, im Gegensab zu der aus der Germanentheorie hervorgehenden Überschäßung Skandinaviens als Kunsigebiet, die skandinavischen Länder als „öde Sackgassen Europas“ bezeichnet, in die die Kultur des Südens in vergröberter Form gekommen sei. Er bestreitet ihren Einfluß auf das werdende Rußland, vielmehr haben sie nach seiner Meinung die Errungenschaften der südlichen Kulturen selbst erst durch die Mittlerschaft der Slaven kennengelernt. Gerade die süd- slavische Rus’, die ganz unter östlichem Kultureinfluß stand, hat spaterhin unter den Südrußland bevölkernden Volksstämmen die Hauptrolle gespielt und nicht die Germanen. In den folgenden Abschnitten sollen Kondakovs Untersuchungen im einzelnen betrachtet werden.

Schlußartikel: Slavia 7, 2 (1928). S. 298—310.

4. Zu Anfang erinnert An. noch einmal an diejenigen Denkmäler der alfrussischen Kunst, für welche Kondakov ein besonderes Interesse gehabt hat: die Steinskulpturen der Kirchen in Vladimir und Jur’ev Polskij und einige in Cernigov und Kiev gemachten Funde der Juwelierkunst. Er zählt hierbei die verschiedenen Deutungsversuche auf, welche die Reliefs aus der Suzdal’ Vladimirschen Epoche mit ihren der westlichen romanischen Kunst so ähnlichen Formen verursacht haben. Der Weg der Vergleichungen zwischen der abendländischen und der nordostrussischen Kunst führte bis nach Regensburg, Baden, bis zum Schloß Tyrol und nach Südfrankreich; so groß die Ähnlichkeit der Formen hie und da war, konnte Kondakov d nirgends ein Denkmal finden, das als Vorlage für die Reliefs in Vladimir anzusprechen gewesen wäre. Durch die allgemeine Übereinstimmung der Formen war man aber zu dem Schluß berechtigt, daß es undenkbar sei, fernerhin die Vorherrschaft der byzantinischen Kunst während des 10. bis 11. Jhs. im gesamten Europa zu bestreiten. Die lombardische Kunst hatte die von Byzanz übernommenen Kunstformen durch Vermittlung der Cluny- zenser nach Frankreich und Deutschland ausgestrahit. War aber zu dieser Zeit eine Weitergabe der neuen Kunstrichtung nach dem fernen Osten an- zunehmen? Kondakov verneint das. Der westliche romanische Stil bewahrte gewisse römische Züge, wodurch er sich von dem byzantinischen Stil bei aller sonstigen Ähnlichkeit unterscheidet. Die Reliefs von Vladimir tragen alle Züge der nprdisch-barbarischen Kunst, und durch sie kann die ver- worrene Frage des romanischen Stils im übrigen Europa geklärt werden. Es handelt sich hier um die Abgrenzung zweier Unterabteilungen der byzan- tinischen Kunstausstrahlungen, einer westeuropäischen und der altrussischen, zwischen denen gerade die Baukunst von Vladimir ein Bindeglied darstellt. Beide schöpften aus derselben Quelle.

Die Reliefs der Kirchen in Vladimir gehören zum sog. Tierstil. Dieser Stil stellt einen der am meisten charakteristischen Züge des byzantinischen Stils innerhalb sämtlicher Unterabteilungen der beeinflußten Sphären dar. Ein äußerst wichtiges literarisches Denkmal aus dem 5. Jh. gibt hier Auf- schluß über die Beliebtheit dieser phantastischen Tierformen beim Kirchen- schmuck. Nil prepodbnyj hat auf eine Anfrage eines gewissen Eparchen Olympiadoros, ob nicht als Umrahmung einer Ikone Tier- und Jagdszenen angebracht wären, derartige Darstellungen abgelehnt. Hier handelt es sich nun aber um die fast auf allen Kunsterzeugnissen, nicht nur dieser Epoche, sondern weiterhin durch Jahrhunderte hindurch, anzutreffenden 5 die aus dem barbarischen Stil eingedrungen waren und ihren Weg bis nach Skandinavien und Süddeutschland gefunden hatten. Hierher sind auch die verschiedenen Wappentiere und die Paradieses- und Sirinvögel zu zählen, ihrerseits weisen diese aber alle wieder zurück auf die Erzählungen von Alexander v. Mazedonien, auf den Physiologus usw. Diesen Stil nahm auch die lombardische Schule auf, er ist mit der kulturellen Tätigkeit der Cluny- zenser eng verbunden. Bernhard von Clairvaux hat gegen ihn geeiferl.

564

Die symbolische Bedeutung, welche diese Tiergestalten in theologischer Hinsicht gewonnen, spricht sich gerade in den Reliefs von Vladimir in lebens- volister Weise aus, sie sind um die Gestalt des Tvorec Emanuil gruppiert, und auf einem zahmen Greifen wird Alexander v. Mazedonien in die Höhe getragen, ein besonders charakteristischer Zug und aufschlußgebend dar- über, daß hier das seclische Bedürfnis Altrußlands zum Ausdruck gebracht worden ist. Dazu kommt, daß einige Steinbilder viel älter sein müssen als die Kirche und bei ihrem Bau mit verwendet worden sind. Da drängte sich der um zwei Jahrhunderte ältere Fund von Cernigov zum Vergleich auf. Die dort gefundenen Geweihe sind reich mit solchen Tierfiguren bedeckt, und ähnliches ist durch die Funde von Kiev, im Kuban u. a. O. bestätigt worden. Diese Ubereinstimmungen führen aber wieder auf den Tierstil zur skythischen Zeit zurück, also in eine Zeit, wo Südrußland noch nicht slavi- siert war. Kam dorthin der Tierstil aus Byzanz? Nein, er deutet auf Wege aus dem Osten, d. h. nach dem gänzlich hellenisierten Vorderasien, Grusien, Syrien, Palästina und Agypten. Und hier zeigt sich wieder Kondakovs Schema der Kultur- und Kunstvermittlung auf dem Handelsweg, für den weder Veselovskij noch Zdanov Interesse gehabt haben. Kondakov hat in diesen Beobachtungskreis auch die zoomorphen Formen der Initialen aus dem 10.—11. Jh. einbezogen und, nach Einbeziehung auch der sibirischen Altertümer, den Keim der übereinstimmenden Formen im sassanidischen Ornament gefunden und im frühen syrisch-arabischen des 7.—8. Jhs. Kon- dakov hat sich mit den Studien am Tierstil während mehrerer Jahre in Prag beschäftigt, er zog in diesen Beobachtungskreis alles ein, was über Stoffe, Kleidung usw. im byzantinischen Hofleben sich zum Vergleich bot, um die Frage zu lösen, auf welche Weise der Tierstil nach Byzanz gelangt sein kann, und kam zu dem Schluß, daß der hellenisierte und mittlerweile bar- barish gewordene Osten schon in der den Ikonoborzen voraufgehenden Epoche, am meisten aber um das 7. Jh., in jeder Hinsicht die Interessen von Byzanz auf sich gezogen haben muß. Eine besondere Aufgabe fiel hierbei den reich und prächtig ausgeriisteten Nomadenvölkern am Nordrand des Schwarzen Meeres zu und den Alanen, durch die der vorderasiatische Osten in direktef Verbindung mit Byzanz gekommen sein wird. Von hier aus gingen dan diese Kunstformen nach dem westlichen‘ und damals auch bar- barischen 'Westeuropa weiter.

5. Anitkov zählt hier noch einmal alle die Tatsachen auf, welche dafür sprechen, daß die „Rus“ in kultureller Hinsicht sehr hoch gestanden haben muß: die kostbaren Funde von Kiev, die auf eine prächtige Gestaltung des Lebens am großfürstlichen Hof schließen lassen, der Buchschmuck des Izbornik Svjatoslavs usw. Kondakov hat aus allen hier in Betracht zu ziehenden Einzelheiten den Schluß gezogen, daß die Slavisierung der Warager schon lange vor Olga und Svjatoslav eingesetzt haben wird, da die Kultur der slavischen oder slavisierten Rus’ eher auf die skandinavische einwirken konnte als umgekehrt. Er behauptet, daß die Funde aus dem ältesten Rußland keinerlei primitiven Charakter haben.

Emmy Haertel.

A. D. Grigor’ev: K izuéeniju russkich starožiľčeskich govorov Sibiri. 1. Slavia 7, 2 (1928). S. 256—268.

Als ausführliche Einleitung in die dialektologische Studie ist hier ein Überblick gegeben über die Besiedlungsart Sibiriens und die Folgen, welche sich daraus in ethnographischer Hinsicht ergeben haben. Die einschlägige Literatur ist leider nur andeutun ngsweise genannt. Für statistische Angaben vor 1911 ist „Aziatskaja Rossija“ und die „Ekonomileskaja geografija“ von P. M. Golovalev benützt worden. Für den später folgenden Teil der Arbeit ist es wichtig, auf den durchaus gemischten Charakter der staroZily und novosely hinzuweisen, die ihrerseits Träger der verschiedensten russischen Dialekte gewesen sind. Or. vertritt hierbei die Ansicht, daß für den Prozeß sprachlicher Assimilation nur Beobachtungen von Wert sein können, die an

565

Kolonisatoren angestellt worden sind, welche seit mindestens 50 Jahren in Sibirien heimisch sind, was sich mit dem sonstigen und leicht irreführenden Begriff des staroZil’e nicht deckt, da man mit ihm bereits nach einer Zeit- spanne unter 50 Jahren Aufenthalts in Sibirien operiert. Die Einwanderer sind dabei so bunt durcheinandergewürfelt wie möglich, hinsichtlich der territorialen Abstammung vom Mutterlande, meistens befinden sich selbst innerhalb der einzelnen Ansiedlungen ehemalige Angehörige von 10—15 ver- schiedenen Gouvernements des europäischen Rußlands. Die Auswanderer eines jeden bestimmten russischen Gebiets haben dabei ganz bestimmte kolonisatorische Qualitäten bewiesen, je nach ihren in der Heimat erworbe- nen Fähigkeiten. Von einer Sprachgemeinschaft von vornherein kann also bei dieser Art der Besiediung keine Rede sein. Besondere Aufmerksamkeit wendet Gr. der kosakischen Erobererschicht zu, die auf Jermak folgte und zum größten Teil aus den „guljaščie ljudi“ bestand. Von ihnen sind die zahlenmäßig bei weitem allen anderen Kolonien voransiehenden Siedlungen ausgegangen, welche meistens lange sich entwickeln konnten, ohne daß die russische Regierung von ihnen Notiz nahm. So ist nachgewiesen worden, daß innerhalb von vier Kreisen des Gouvernements Enissej von 776 Sied- lungen nur 102 auf Veranlassung der Regierung ins Leben gerufen worden sind. Der stark asiatische Einschlag des Sibirers und seine durch die Ab- trennung vom Mutterlande hervorgerufene Veränderung in Charakter- und Gemütsanlagen werden auf Grund der neuesten einschlägigen Literatur be- sprochen. Bei aller Verschiedenheit nach der Abstammung vom Mutter- lande handelt es sich bei den sibirischen Einwanderern doch hauptsächlich um Großrussen, was sich selbstverständlich auch in ihrer Sprache beobachten laßt. Emmy Haertel.

WEISSRUSSLAND

Slaneuski: Uber die historischen Namen der Weifrussen. Studenskaja Dumka 1929. Heft 1, S. 8—11.

Vor einiger Zeit erregte der bekannte weißrussische Historiker W.La- stowski in weißrussischen Kreisen großes Aufschen und Mißvergnügen, als er stati der Bezeichnungen „Belarus“ (Weißrußland), „bélaruski“ (weiß- russisch) die Ausdrücke „Kryvija“ und ,kryuski“ benukte. Manche wollten darin bei der bekannten prolitauischen Einstellung von Lastowski sogar einen „Verrat Weißrußlands an Litauen“ erblicken. Gegenwärtig ist der Streit aus den Gefilden der Politik in die ruhigeren Gefilde der Wissen- schaft getreten. Verf. gibt eine wissenschaftlich-objektive Erklärung aller drei historischen Bezeichnungen der Weißrussen. „Kryvièi“ ist die ur- sprüngliche nationale Bezeichnung der Weißrussen: so bezeichneten sie sich selbst, so wurden sie von den Fremden bezeichnet. Als „Litauer“ wurden die Weißrussen später mit den Nationallitauern gemeinsam wegen ihrer ge- meinsamen Staatsangehörigkeit bezeichnet. Als „Russen“ schließlich galten die Weißrussen wegen ihrer Konfession, da unter dem „russischen“ Glauben die griechisch-katholische Konfession verstanden wurde. Die eigentliche Bezeichnung ,,Bélarusy“ ist erst späterer Herkunft und wurde den „Kry- vici von Moskau erst im 16. Jahrhundert beigelegt.

Die Bezeichnung „Kryviéi“ in bezug auf das Land und Volk (Stamm?) ist bereits in dem ersten Geschichtsdenkmal des osteuropäischen Slaven- tums, der „Russkaja naéalnaia léfopis“, benukt worden. Die Bezeichnung „Kryvici“ war auch den deutschen und italienischen Historikern im 14. Jahr- hundert bekannt. 28

Den Geschichtsquellen zufolge umfaßte das Gebiet der „Kryviéi“ die Oberläufe des Njemans, der Wesidüna, des Dnjepr und der Wolga. Als die Städte der ,,Kryvici werden Smolensk, Pologk, Isborsk, Minsk und Nowagrudek bezeichnet. Der Ausdruck „Ruś“ die Bezeichnung des normannischen Erobererstammes, der die „Kryvidi“ sich unterwarf, wurde

866

von den Eroberern auf das eroberte Gebiet überiragen. Diese Bezeich- nung biirgerte sich namentlich mit dem Übergang zum Christentum ein: indem die bis dahin heidnische Volksmasse der „Krvvièi“ den christlichen („russischen“) Glauben annahm, wurde sie gleichfalls „russisch“. Vom 13. Jahrhundert an wurden die weißrussischen Territorien unter der Herrschaft der litauischen Dynastie vereinigt. Daher die dritte historische Bezeichnung der Weißrussen „Litauer“. Der Weißrusse war damals seiner Nationali- tät nach „kryvil“, seinem Glauben nach „Russe“ und seiner Staatsange- hörigkeit nach „Litauer“. So wurde der Ausdruck „Rus“ von den litauischen Großfürsten, sowie den zeitgenössischen Schriftstellern (Skoryna) ver- standen. Der Ausdruck „russischer Glaube“ wurde als Antithese zu dem römisch-katholischen Glauben benutzt. Der Ausdruck ,,Bélaja Rus“ galt zu- nächst für das von dem Tatarenjoch befreite Moskauer Rußland (Perwolf im „Archiv für slavische Philologie“, Prof. Anucin „Kurs belorussovedenija“ Minsk. 1920). Die Bezeichnung ,,Bélaja Ruś“ wurde Weißrußland erst im 16. Jahrhundert von Moskau nach der neuen kirchlich-administrativen Ein- teilung beigelegi, als Moskau die neue offiziöse Ideologie des „dritten Roms“ nach der Heirat Ivans Ill. mit einer byzantinischen Prinzessin sich zulegte. Dann wurde „Wseja Rus Pravoslavnaja“ in drei Teilgebiete ein- geteilt: Ruś Velikaja (Moskowien), Ruś Malaja (die Ukraine) und Ruś Bélaja (die weißrussischen Territorien des Großfürstentums Litauen).

Zum ersten Male wird die Sprache der ,,kryvici" als weißrussische Sprache in dem Vorwort von Stepan Zizanija zur polnischen Ausgabe seiner bekannten polemischen „Predigt des hl. Cyrillus“ (Wilna 1596) bezeichnet. Die Verbindung von Zizanija und seiner Gruppe der Behüter des griechisch- katholischen Glaubens im Großfürstentum Litauen mit dem Moskauer Patriarchen bestätigt den kirchlich-administrativen Ursprung der neuen Be- zeichnung. Nach dem Frieden von Andrusovo, besonders aber nach der Teilung Polens setzt sich der Ausdruck ,,Bélaja Ruś“ durch als staatlich- geographischer Terminus zur Bezeichnung eines Teilgebiets Rußlands. Da- mit war freilich die merkwürdige Evolution der Bezeichnung eines Volkes, das seinen Namen verloren hatte, keineswegs beendet.

Nach der Teilung Polens versuchte die polnische szlachta dem weiß- russischen Bevölkerungsmassiv ein polnisches Anflig zu geben. Dafür sorgte eine „weißrussische Literatur“ in polnischer Sprache resp. eine weiß- russische Literatur in lateinischer Schrift. Die russische Regierung und die russische Öffentlichkeit kannten das Gebiet nicht. So wurde nach den polnischen Aufstanden von der eingeschüchterten Regierung das „staats- gefährliche“ Wort ,,Bélaja Ruś“ abgeschafft und durch die Bezeichnung Séwero-zapadnyj kraj ersebi. Es begann zugleich die Erforschung des Gebiets durch verschiedene Anstalten und Vereine. Die weißrussische Sprache wurde in diesen Forschungen mitunter einfach als „Ortssprache“ bezeichnet, es taucht auch der Ausdruck „belarussko-kryviöski“ auf, d.h. die alte Bezeichnung wird in Verbindung mit der neuen gebraucht.

In der „Geschichte Weißrußlands“ von Turéinovié, sowie in den Pu- blikationen des Generalstabs aus den 50er Jahren werden beide Ausdrücke benubt. Ganz besonders interessant ist der Umstand, daß nach den offi- ziellen Angaben des statistischen Komitees bei der Volkszählung von 1860 26106 Personen in Weißrußland ihre Nationalität mit „Kryviöi“ angaben; das Volk besann sich froß seiner Unwissenheit noch auf seinen alten Namen. Der zweite Aufstand (1863) räumte auch mit der Objektivität der wissenschaftlichen Untersuchungen auf. Von nun ab wurde die gesamte weißrussische Renaissance zu einer „polnischen Intrige“ gestempelt. In dieser Frage ging die großrussische Öffentlichkeit Hand in Hand mit der Regierung. Der Ausdruck „Kryviči“ wurde verboten, die Bezeichnung el galt als verpönt. Für die offizielle Ideologie gab es nur „Russen“.

....Erst die neueste weißrussische Renaissance hat den alten Namen „Kry- viči“ wieder zu neuem Leben erweckt. (,„Kryviäi“ stammt von „krou-kryvi“).

567

Von den bekannteren weißrussischen Schriftstellern benujen Cecot, Marcin- kevic, Kaganck, Kupala, K. Builo, Bjadulja, Lastowski u. a. diesen Ausdruck. Es sei indessen bemerkt, daß die alte Bezeichnung der Weißrussen „kryviči“ sich, wie die Bezeichnung mancher anderer Volker und Länder, wie Gallien, Gallier, Teutonen nicht durchgesekt hat. Seine große Re- naissance, seinen Eintritt in den Kreis der Kulturvolker hat das Volk unter dem Namen „Weißrussen“ vollbracht. Damit muß gerechnet werden, und es liegt kein Grund vor, gewissen Sentiments zuliebe diese Frage gehässig zuzuspißen. Vladimir Samojlo.

Al. Sliubski: Das Verhalinis der russischen Regierung zu der weißrussischen Sprache im 19. Jahrhundert. Zapiski addselu gumanitfarnych nauk 1928, Band 2, S. 303—337.

Polnische und später auch weißrussische Historiker schufen eine bisher unerschütterte Tradition, zu behaupten, daß in Rußland ein formelles Verbot des weißrussischen Schrifttums bestanden hatte. Verf. untersucht an Hand umfassenden Materials die Richtigkeit dieser Behauptung und gibt zugleich eine Gesamicharakteristik der russischen Politik in Weigrugland im Laufe des 19. Jahrhunderts. Den Ursprung dieser falschen Behauptung findet Verf. in dem 1874 erschienenen Artikel des bekannten polnischen Historikers A. Kirkor „O literaturze pobratymczych narodów słowiańskich“. Aus diesem Artikel wurde diese Behauptung auch in die „Wielk. Encykl. Powszechna ilustr. Band VIII“ übernommen. Aus der polnischen Literatur wird diese Behauptung von der weißrussischen Literatur unkritisch übernommen. Seit einem halben Jahrhundert hat sich diese Behauptung aufrechterhalten und wurde von den ernstesten weißrussischen Literaturhistorikern ohne jeg- liche Nachprüfung wiederholt. Verf. weist an Hand von Urkunden nach, daß dieses vermeintliche formelle Verbot eine Legende ist. Das ersie Vorgehen gegen das weißrussische Schrifttum fand, wie Verf. nachweist, 1859 statt aus Anlaß der Veröffentlichung einer weißrussischen Ubersebung von dem Poem „Pan Tadeusz” des Mickiewicz (die Ubersehung besorgte Dunin-Marcinkevic). Verf. weist nach, daß gleichzeitig die erste Repression des ukrainischen Schrifttums, und zwar am 30. Mai 1859 stattfand, als cs verboten wurde, ukrainische Bücher in polnisch-lateinischer Schrift zu drucken resp. solche Bücher aus dem Auslande einzuführen. Im Zusammen- hang mit der Beschlagnahme der weißrussischen Übertragung von „Pan Tadeusz“ wurde das Wilnaer Zensurkomitee von dem Unterrichtsministerium angewiesen, auch fernerhin „das polnische Alphabet“ für weißrussische Publikationen nicht zuzulassen. Bis 1859 fanden überhaupt keine Mab- nahmen gegen die weißrussischen Bücher statt. Wie ersichtlich, richteten sich die 1859 ergriffenen Maßnahmen keineswegs gegen das weißrussische Schrifttum als solches, sondern lediglich gegen die Benubung der lateinisch- polnischen Schrift, also gegen den polnischen Einfluß im Lande. Die Legende von dem Verbot des weißrussischen Schrifttums führt Verf. darauf zurück, daß die Weißrussen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch keine umfangreiche .eigene Literatur besaßen, sich vielmehr unter polnischem Einfluß befanden und in polnischer Schrift schrieben. Mithin konnte auch das Verbot der weißrussischen Literatur in polnisch-lateinischer Schrift de facto auf ein generelles Verbot des weißrussischen Schrifttums hinaus- laufen, obwohl es ursprünglich keineswegs darauf gerichtet war, sondern eine Kampfmaßnahme gegen das Polentum und dessen Kultureinfluß dar- stellte. | Vladimir Samojlo.

Pjatuchovié: Das Leben und die literarische Tätigkeit des Anton Ljavicki. Zapiski addselu gumanifarnych nauk 1928, Bd. 2, H. 1.

Für die Biographie Ljavickis benuft Verf. in der Hauptsache die An- gaben der Tochter des verstorbenen Dichters, Frau Wanda Lesik, der Gattin des bekannten weißrussischen Pädagogen und Politikers, und der Frau

568

Bodunova. Die Memoiren von Frau Wanda Lesik, die Verf. vollsiändig wiedergibt, geben ein klares Bild von dem Werdegang des Dichters. Der Vater des Dichters war russischer Offizier, er reichte sein Abschiedsgesuch ein, um nicht gezwungen zu sein, gegen die Aufständischen 1863 zu kämpfen. Er war später als Gutsverwalter auf dem Gut Dubosna im Gouvernement Mohilew tätig. Hier wurde 1869 Anton Ljavicki geboren. Diese Angabe ist unseres Wissens vollständig neu: bisher nahm man allgemein an (selbst Garekki in seiner sonst zuverlässigen „Geschichte der weißrussischen Lite- ratur“), daß Anton Ljavicki 1870 auf dem Gut Karpilovka bei Radoskovili (Gouvernement Wilna) geboren wurde. Wie aus der Darstellung der Tochter des Dichters hervorgeht, ließ Anton Ljavicki sich in Karpilovka erst im Alter von 28 Jahren nieder, also nach seiner Verheiratung, wobei das Gut Kar- pilovka die Gattin des Dichters mit in die Ehe einbrachte. Ljavicki studierte an der Moskauer Universitat, wurde wegen seiner Teilnahme an den Stu- dentenunruhen verhaftet und in der Peter-Paul-Festung eingeschlossen. Nach seiner Befreiung aus der Festungshaft widmete er sich der Phar- makologie und diente später als Apothekergehilfe in der Apotheke von RadoSkoviti. Später war er in der Genossenschaftsbewegung tätig, und nach seiner Verheiratung mit der Gutsherrin von Karpilovka widmete er sich der Landwirtschaft. 1903 verlegte er seinen Wohnsitz nach Wilna, wo er in russischen Zeitungen mitarbeitete. 1904 kehrte er wieder auf sein Gut zurück, setzte aber seine Mitarbeit an russischen Zeitungen fort. Er war ständiger Mitarbeiter der rechtsstehenden russischen Zeitung ,,Bélorusski Véstnik“ und der polnischen Zeitung „Zorza Wileńska“.

Erst die Revolution von 1905 ließ Ljavicki engere Fühlung mit der weiß- russischen Bewegung nehmen. Die Periode 1905—1914 ist die Zeit der maximalen literarischen Fruchtbarkeit von Ljavicki. Ljavicki arbeitet in dieser Periode an verschiedenen weißrussischen periodischen Zeitschriften mit, redigiert die landwirtschaftliche Monatsschrift „Sacha“, veröffentlicht eine Reihe von Novellensammlungen („Dsed Savala“ 1910, „Biaroska“ 1912, „Vasilki“ 1914). 1914 verlegt Ljavicki seinen Wohnsitz nach Minsk und gibt dort die Jugendzeitschrift „Lu£inki“ heraus. In den schweren Kriegsjahren 1914—1917 gehen alle diese Gründungen unter.

Ljavicki widmet sich der Fürsorge für die Kriegsopfer und wird zum Mittelpunkt der national-weißrussisch gesinnten Kreise. In der Revolution widmet sich Ljavicki vollständig der politischen Tätigkeit. Diese ange- strengte Tätigkeit untergrabt die Kräfte des Dichters. Die Schwindsucht macht rasche Fortschritte. Er schreibt noch die Novelle „Zoloto“ („Gold“), arbeitet an seinen Studentenerinnerungen.

1920 verläßt er Minsk (gemeinsam mit den abziehenden polnischen Truppen?). In Wilna fern von seiner Familie erliegt er schließlich der Schwindsucht in den ersten Marztagen des Jahres 1922. Diese Memoiren der Tochter des Dichters werden durch die Erinnerungen der Frau Bodunova ergänzt, einer aktiven Funktionärin der Partei der Sozial-Revolutionäre. Sie schildert Ljavicki als Enthusiasten der nationalen Freiheitsbewegung der Weißrussen (daher seine Feindschaft zu dem russifizierenden Carismus), in sozialer Hinsicht hingegen sei er ziemlich konservativ gewesen. Daher sein Skeptizismus in bezug auf die revolutionäre Bewegung. In praktischen Fragen wurde er von dem Enthusiasmus der jüngeren und temperament- volleren Genossen mifgerissen, in theoretischen Fragen führte er mit ihnen die hikigsten Diskussionen.

Prof. Pjatuchovié bezeichnet den Dichter Ljavicki als „doppelgesichtigen Janus“. Verf. teilt die Novellen von Ljavicki in zwei Gruppen ein: a) Hu- moresken und b) Novellen ernsten Inhalts mit tiefen sozialen Schilderungen und psychologischem Inhalt. Zu der ersten Gruppe gehören jene Novellen, in denen die Naivitat und eine gewisse Albernheit des Bauern aufs Korn genommen wird. Der einfache Mann vom Lande wird das Opfer verschie- dener städtischer Betrüger. In dieser Ironie spiegelt sich die traditionelle Verspottung des einfachen Mannes und seiner Sprache durch den Adel wieder. Diese Tradition war bereits durch Dunin-Marcinkevié in dem weiß-

569

russischen „parodistischen Klassizismus“ sowie bei BarSéevski vertreten. Diesen Novellen kommt keine größere künstlerische Bedeutung zu. Sie sind lediglich für die Ideologie des Dichters charakteristisch: der Bauer ist lächerlich, aber der Stadter ist moralisch abstoßend.... Viel wertvoller sind die Novellen, denen nicht Anekdoten, sondern Szenen aus dem Volksleben zugrunde liegen. (So „Zyvy njabosèik“, „Va3naja figa“, „Sud“ u. a. m.) Wichtiger sind seine dem wirklichen Leben entnommenen Erzählungen ernsten Inhalts. Verf. teilt sie in realistische und symbolisch-allegorische ein. In den ersten herrschen soziale und psychologische Motive vor. Als beste Novelle dieser Gruppe sieht Verf. „Garofnaja“ an. Ebenso erschiit- fernd wirkt trok der außerordentlichen Einfachheit und Knappheit der Dar- stellung die Erzählung „Zarabljajuc”. Beide Erzählungen sind von tiefem Lyrismus des Mitgefühls mit den unglücklichen Opfern der Armut, der Un- wissenheit und der Hilflosigkeit erfüllt (im Dorf in „Garofnaja“ und in der Stadt in ,,Zarabljajuc“). Verf. schätzt auch die psychologischen Erzählungen Ljavickis sehr, in denen die psychologische Analyse immer auf dem kon- kreten Boden des weißrussischen Lebens steht. Daher ist in diesen Er- zählungen das psychologische Motiv immer mit dem sozialen vereinigt. Allen diesen Erzählungen ist die Schilderung des Lebens des weißrussischen Dorfes gemeinsam, der Unwissenheit, der Armut, der physischen Degene- ration; weniger oft ist in seinen Erzählungen das freudlose Leben und der traurige Tod des städtischen Arbeiters und Handwerkers geschildert. In psychologischer Hinsicht gibt Ljavicki die Poesie der Erinnerungen, den Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit, die Erlebnisse der einsamen Jugend, die Qualen des Gewissens, das Alpdriicken der von der Stadt vergifteten bäuerlichen Seele.

Nicht minder mannigfaltig sind die symbolisch-allegorischen Erzählungen des Dichters. Auch in seinen symbolisch-allegorischen Erzählungen herr- schen soziale Motive vor. Besonders charakteristisch dafür ist die Er- zählung „Pauk“, die anscheinend von der Broschüre von Liebknecht „Spinnen und Fliegen“ beeinflußt worden ist. In der Erzählung „Vjasel’le“ benutzt Ljavicki die Gestalt eines Geiers, um den Stolz der „Herren“ und deren Verachtung des gemeinen Volkes zu schildern. In anderen symbo- lischen Erzählungen benutzt Ljavicki als Symbole Pflanzen u. a. m., um künstlerische Parallele zu dem Leben der Menschen zu ziehen. Aus dem Leben der Pflanzen nimmt er die Symbole, um das Leben der kleinen Völker unter dem „Schuß“ der großen Völker zu schildern, in seiner sym- bolischen Erzählung „Gaduneb“ gibt Ljavicki eine vollständige „Philosophie der Geschichte des weißrussischen Volkes“. f

In einer Reihe anderer Erzählungen geht Ljavicki auf Probleme der Moral ein, indem er die verschiedenen Abirrungen des Menschen von seiner wahren Bestimmung satirisch beleuchtet.

Ljavicki ist ein außerordentlich fruchtbarer Dichter, seine Novellen zeichnen sich durch die Mannigfaltigkeit ihres Inhalts aus. Wie Verf. mit Recht behauptet, ist Ljavicki bisher viel zu wenig gewürdigt worden. Wenn aber der Verf. als einzige Würdigung Ljavickis „2 Seiten in der »Geschichte der weißrussischen Literatur« von Garebki“ zu nennen weiß, so muß auf die bereits 1927 erschienene ausgezeichnete Abhandlung von Anton Navina hingewiesen werden, über die ich bereits referiert habe (Jahrbücher fur Kultur und Geschichte der Slaven, N. F. Band V, Heft 1, S. 141 ff.) und die Prof. Pjatuchovié bei der Behandlung dieses Themas doch eigentlich kennen sollte. ER

Die Abhandlung von Prof. Pjatuchovi& bedeutet einen wichtigen Bei- trag zu der gerechteren Beurteilung des ersten großen weißrussischen Er- zählers, der einem Theodor Storm und einem Cechov ebenbürtig ist.

Vladimir Samojlo.

J.Bibila: Materialien zur Biographie von Tzetka (Aloisia Paškevič- Keirysava). Zapiski adds. gumanit. nauk 1928. Bd. 1, S. 291 bis 302.

570

Unter dem Pseudonym „Tzetka” schrieb die talentvolle Dichterin und namhafte Revolutionärin Aloisia PaSkevi¢. Verf. gibt eine Kompilation aller bisher bekannten Materialien zur Biographie der Dichterin und er- gänzt sie durch eigene Beiträge.

Aloisia PaSkevié (geb. am J. Juli 1876) stammte aus einer armen länd- lichen Familie. Ob diese Familie adliger oder bäuerlicher Herkunft war, steht dahin. Jedenfalls ihrem Lebensniveau nach war sie eher bäuerlich als adlig. Mit 3 Jahren kam Aloisia PaSkevic zu ihrem Großvater, der Vor- werksbesiber war. Das Vorwerk lag mitten im Walde. Die Erinnerungen an dieses Vorwerk spielen eine große Rolle in dem späteren literarischen Schaffen der Dichterin. Vom Großvater wurde Aloisia PaSkevié im Geiste der polnischen Kultur erzogen. Mit der weißrussischen Welt hatte sie ledig- lich durch ihre Kinderwärterin Agasja Fühlung, die ihr weißrussische Märchen erzählte. Aloisia Paškevič wurde zunächst Volksschullehrerin und kam so dem Volke näher. Später ging sie nach Petersburg, um sich weiter fortzubilden, geriet hier unter den Einfluß der revolutionären Bewegung, schloß sich der von den Brüdern Lubkevi¢, Kosfrovitki, Burbis u. a. gegründeten weißrussischen revolutionären sozialistischen Gramada an. Gleichzeitig mit ihrer Bekehrung zum Sozialismus erfolgt ihre Bekehrung zum weißrussischen nationalen Gedanken, der soziale und nationale Be- freiungskampf der Weißrussen findet in ihr die flammende Revolutions- rednerin, die begeisterte Sängerin. Eine besonders aktive Rolle spielte Aloisia PaSkevié in der weißrussischen Frauenbewegung. Der revolutionäre Pathos der Dichterin findet seinen künstlerischen Ausdruck in der Gedicht- sammlung „Chrest na swabodu“. Aloisia PaSkevié lenkt die Aufmerksam- keit der Polizei auf sich und verläßt 1906 Rußland, um deren Verfolgungen zu entgehen. Regen Anteil nimmt sie an der ersten weißrussischen Zeitung „Naša Dolja“, deren Inhalt fast ausschließlich von ihr und den Brüdern Lubkevié besorgt wurde. 1906-07 lebt Aloisia PaSkevié (die unter dem Pseudonym „Tzetka” bekannt wurde) in Lemberg später in Krakau. Hier nimmt sie mit den Ukrainern und Litauern Fühlung. Sie lernt auch ihren zukünftigen Mann, den litauischen sozialdemokratischen Führer Kairys kennen. Von Krakau aus sekt sie ihre Mitarbeit an der weißrussischen Zeitschrift „Naša Niva“ fort. In Krakau erscheinen ihre Gedichtbände „Chrest na swobodu“ und „Skrypka belaruskaja“. Sie studiert an der historisch-philologischen Fakultät der Universität Krakau und erwirbt die Mittel fur ihre Existenz als Masseuse und Bühnenkünstlerin. Die Sehnsucht nach der Heimat findet in ihrer Lyrik ihren Ausdruck. 1910 kehrt sie nach Wilna zurück, heiratet Kairys. Ihre Wohnung wird zum Mittelpunkt des Verkehrs und der Annaherungsbestrebungen zwischen Litauern und Weiß- russen. Aloisia Kairys widmet sich der nationalen Kulturarbeit nament- lich auf dem Gebiet des weißrussischen Theaters. Inzwischen wirkt sich die Überarbeitung in den Jahren des Krakauer Exils auf dem Gesund- heitszustand der Dichferin aus. Die Schwindsucht untergräbt ihre Kräfte, und dieses langsame Dahinsiechen findet in ihrer Lyrik einen ergreifenden Ausdruck, die jetzt von rührender seelischer Abgeklartheit erfüllt ist. Diese persönlichen Stimmungen töten indessen nicht den Glauben an eine bessere Zukunft des Volkes. Mutig kämpft sie gegen die Gefühle der Resignation, die von ihr Besik ergreifen, und versucht das „verglimmende Feuer zu einer leuchtenden Flamme zu entfachen“.

Nach der Besetzung Westweißrußlands durch die deutschen Truppen im Weltkriege nimmt sie regen Anteil an der Organisation des weißrussischen Schulneges. Das weißrussische Schulnebs etwa 400 Volksschulen, die unter der deutschen Okkupation entstanden und unter der polnischen Herr- schaft beseitigt wurden war zu einem großen Teil das Werk der Dichterin.

Sie starb am 5. Februar 1916 als Opfer einer Typhusepidemie. Diese Biographie der Dichterin und Politikerin Aloisia Kairys geb. PaSkevié wird durch Erinnerungen von Personen ergänzt, die sie gut gekannt haben: V. D. Alexandrova (die Tochter des bekannten russisch-ukrainischen Roman-

37 NF 5 571

dichters Mordovizev), Chlebizevid, Lubkevic. Sie alle bezeichnen die Dich- terin als besonders aufrichtige Frau, voll von seelischer Jugend, Offenheit, Wahrhaftigkeit, Fröhlichkeit, seelischer Stärke und Edelsinn. „Ein unbe- siegbarer rebellischer Geist in einem schwachen Körper“, „eine aus Stahl geschmiedete Seele“, „ein treuer, liebevoller Kamerad“ das sind die Ausdrücke, mit denen ihre Weggenossen sie charakterisieren.

Verf. hat den Werdegang und die Tätigkeit der ersten weißrussischen Revolutionärin mit Liebe und Sorgfalt geschildert. Vladimir Samojlo.

KLEINRUSSLAND

Dr. S. NariZnyj: Johann Vyhovskyj im Dienste Moskoviens. Mitteilungen d. Sevéenko-Ges. d. W. in Lemberg, Bd. 149, 1928, S. 117—139.

Vorliegende Abh. Narižnyj’s isł nur ein Teil seiner umfangreichen, bis- her leider noch nicht publizierten Monographie über den berühmten Kosaken- hetman. Obwohl Vyhovśkyj eine außergewöhnlich wechselvolle politische Karriere durchmachte nämlich vom kleinen Gerichtsbeamten, als solcher wurde er von Bohdan Chmelnyckyj aus tatarischer Gefangenschaft für eine alte Stute losgekauft brachte er es bald zum Kanzler, später zum Het- man des ukrainischen Kosaken-Staates (1657—1659) und wurde schließlich von den Polen, wiewohl er ein Senator und Vojevode des polnischen Staates war, auf tragische Weise hingerichtet —, fand er bis nun keine gebührende Würdigung in der Historiographie. Man warf ihm nämlich Unbestandigkeit in seinen politischen Anschauungen, Verrat, Egoismus, Ambition, Protek- tionismus usw. vor. Ferner beschuldigte man ihn, als hatte er in seiner Würde als Kanzler Bohdan Chmelnyckyj’s eigenmächtige Verhandlungen mit Moskau geführt und dadurch sowohl den Staat als auch seinen Patron ver- raten. Dr. NariZnyj versucht nun, diesen gegen Vyhovskyj gerichteten Vor- wurf als „Diener Moskaus“ dokumentarisch zu revidieren. Die in den Bänden 3, 8, 10, 11 und 14 von der Petersburger Archäographischen Kommis- sion herausgegebenen „Aktv. ofnosias&ijasja k istoriji južnoj i zapadnoj Nossiji“ veröffentlichte diplomatische Korrespondenz zwischen der russischen und ukrainischen Regierung lieferte ihm ein umfangreiches Material, welches nach dessen Bearbeitung ihn zu der Ansicht führte, daß hier von einem Ver- rate seitens VyhovSkyj’s keine Rede sein kann. Die private, diplomatische Tätigkeit VyhovSkyj’s war nur eine Ergänzung der offiziellen Politik des Hetmans. Vyhovskyj erhielt zwar einige Male Geschenke von der Moskauer Regierung, welche ein Charakteristikum dieser Zeit waren und auch unter andere Würdenträgern des ukrainischen Kosaken-Staates verteilt wurden, ohne jedoch den Charakter einer Belohnung für erwiesene Dienste zu haben. Demzufolge sind die Beweise und die Argumente des Dr. NariZnyj sehr beachtenswert und auch geeignet, diesen Kosakenhetman von den Vor- würfen zu entheben bzw. zu befreien. D. Doroschenko.

Michele Jeremjeev: La questione ucraina all’ epoca del

risorgimento italiano. L’Europa Orientale. 8, 9—10 (1928),

S. 313—325.

(Die Red. der Zeitschrift gibt in einer Anmerk. bekannt, daß sie mög- licherweise auch Aufsake von gegnerischer Seite und Aufklärungen historischer Art aufnehmen wird, welche zu den vom Verf. hier veröffent- lichten Dokumenten und deren wissenschaftlichen und politischen Thesen Stellung nehmen wollen.)

Verf. hält die ukrainische Frage für eine der wichtigsten der Gegen- wart und zugleich für eine der eigenartigsten, weil es für den europäischen Politiker schwer ist, den Verdunklungen zum Troß, die andauernd über ihr

572

= r U ar

-a

gehalten werden, zur Wahrheit vorzudringen. Während die Bolscheviken behaupten, daß die ukrainische Frage nach dem Willen des ukrainischen Volkes gelöst sei, leugnen viele unter den sogenannten „weißen“ Politikern Rußlands nicht nur die Existenz einer solchen Frage, sondern auch die des ukrainischen Volkes überhaupt. Der Zweck dieses Aufsabes besteht darin, den Stand der ukrainischen Frage im westlichen Europa zur Zeit des ita- lienischen Risorgimento zu charakterisieren. J. zitiert einige ukrainophobe Stimmen aus der Zeit nach dem Weltkriege, welche die ukrainische Selbständigkeitsidee als osterreichisch-deutsche Fabel darstellen, wie das Fürst A. Volkonskij getan in „La veritä storica e la propaganda ucraino- fila“ (Roma 1920), oder als eine intern-russische Angelegenheit, wie das V. Mjakotin in „La question ukrainienne“ in Le Monde Slave (Nov. 1925) tut. Solchen und ähnlichen Meinungen gegenüber beruft sich J. auf Dokumente, aus denen das lebhafteste politische Interesse französischer Gelehrter und Politiker an dieser Frage in den sechziger Jahren zu ersehen ist. Ihr Ver- fasser ist der Senator Casimir Delamarre, Mitglied der Commission cen- trale de la Société géographique de Paris gewesen, dessen Lebensdaten (geb. 1797, t 1870), nebst kurzen Bemerkungen über seinen Lebenslauf hier genannt sind. Die in Übersekung, ungekürzt, wiedergegebenen Schrift- stücke sind folgende: 1. ein Gesuch von Delamarre an die gesehgebende Behörde Frankreichs betreffend Namensabänderung des Lehrstuhls der sla- vischen Sprache und Literatur, 2. Vortrag Carnots vor der gesekgebenden Behörde v. 18. Juni 1868 und 3. Eingabe Delamarres beir. den Geschichts- unterricht in den französischen Schulen.

Das zuerst genannte Schriftstück betitelt sich „Ein Plural für einen Singular, und der Panslavismus wird von der Wurzel ab ausgerottet sein. Brief an die gesetzgebenden Minister und Kommissare der Regierung und an die Herren Abgeordneten der gesetzgebenden Behörde.“ Delamarre macht in diesem, vom 26. Mai 1868 datierten Schreiben auf die Tatsache aufmerksam, daß der russische Panslavismus durch einen Irrtum in dem vom Unterrichtsminister M. Cousin i. J. 1840 dem damaligen Kabinett über- reichten Gesetzentwurf, der spaterhin rechtskräftig wurde, d. h. also von Frankreich ausgegangen ist. Die ordentliche Bilanz des Kultusminisicriums für 1869 enthält einen Kredit in Höhe von 5000 Fr. für einen Lehrstuhl der slavischen Sprache und Literatur. Der Titel dieses Lehrstuhls beruht auf einem offenbaren Irrtum. Es gibt nicht nur eine einzige slavische Sprache und Literatur, sondern deren mehrere. D. stellt dann die Sprachabzwei- gungen innerhalb der arischen Völkerfamilie dar. Er zählt die Großrussen oder Moskoviter, obgleich sie russisch sprechen, nicht dazu. Sie seien tatarischer Abstammung, ihre Literatur sei von der der anderen slavischen Volker ganz verschieden, sie ist dem Geiste nach turanisch, während die anderen indoeuropäisch sind. D. zählt dann die einzelnen voneinander ver- schiedenen slavischen Sprachzweige auf und trägt an, daß diesem Tat- bestand entsprechend der Lehrstuhl künftighin heißen solle „für slavische Sprachen und Literaturen“. Die gesebliche Anerkennung einer einzigen slavischen Sprache und Literatur ist von großer politischer Tragweite, sie bedeutet die Legitimierung des russischen Panslavismus mit seiner fiktiven slavischen Einheitsidee durch die französische Gesekgebung. Rußland hat von dieser Tatsache Notiz genommen; im Juni 1840 kam ein Ukas heraus, wo zum ersten Male das Petersburger Kabinett erklärte, es sei durch die Geschichte und durch die öffentliche Meinung Europas erwiesen, daß die Großrussen mit den Kleinrussen und den Weißrussen durch die Bande einer gemeinsamen slavischen Abstammung verbunden seien. (In einer Anmerk. sekt D. nochmals auseinander, daß die Großrussen oder Moskoviter turko- finnischer Abstammung seien, die Weißrussen und Kleinrussen, ebenso wie die Polen, seien dahingegen echte Slaven.) Von dieser Zeit ab hat die Petersburger Regierung immer wieder ihre Mission als Beschützerin aller Slaven betont. Der panslavische Kongreß in Moskau, die Feste in Prag usw. seien Beweise für diese Propaganda. Es sei höchste Zeit, daß Frank- reich sich nun von seinem Irrtum frei mache.

575

Auf Delamarres Antrag hin wurde von mehreren Mitgliedern der Mehrheit, welche J. namentlich anführt, eine Abänderung des betreffenden Gesekartikels nebst einer gewissenhaft gearbeiteten ethnographischen Karte eingereicht; außerdem aber fertigten auch drei Mitglieder der Linken Jules Simon, Carnot und Pelletan) ihrerseits einen Abänderungsentwurf an, der dem Inhalt nach gleich und nur in der Formulierung von dem anderen verschieden war. Diese beiden Gesekesabanderungen wurden am 17. Juli 1868 beraten, wobei Carnot das Wort ergriff. J. bringt das ganze Protokoll in italienischer Ubersetzung. Carnot weist zunächst auf die politische Be- deutung der hier zu erörternden linguistischen Fragen hin. Nachdem die Benennung des betreffenden Lehrstuhls als irrig erkannt worden ist, müsse sie zur Vermeidung einer Verbreitung falscher Ideen abgeändert werden. Wenn die gesebgebende Behörde darauf bestehen würde, die Abänderung zu unterlassen, so würde sie stillschweigend eine Lüge für gut heißen und eine Sprachenverwirrung sanktionieren, was um so mehr vermieden werden müsse, als Rußland den Ehrgeiz habe, mit seiner großen panslavistischen Etikette sämtliche Länder, die es von der Türkei, Österreich und Preußen trennen, zu belegen. Wenn die abgeänderte Fassung durchdringt, wird sich die Mehrzahl der slavischen Nationalitäten moralisch gestärkt fühlen in ihrem Widerstand gegen das moskovitische Annexionssystem. Man hätte allen Grund, stolz zu sein, wenn man sieht, welcher Wert der Abänderung einiger Buchstaben beigemessen wird, bloß weil diese Abänderung von den Vertretern Frankreichs vorgenommen wird... Die Frage nach der arischen oder iuranischen Abstammung der Moskoviter wolle er nicht be- rühren. Unter denen, welche ihnen die Bezeichnung „slavisch“ absprechen, fehlt es nicht an autoritativen Stimmen, so hat z. B. Katharina Il. in einem Memorial über die Schulbücher in ihrem Reiche sich folgendermaßen aus- gesprochen: „Ungeachtet dessen, daß die Russen sich durch ihre Abstam- mung von den Slaven unterscheiden, besteht zwischen ihnen keine Ab- neigung (repulsione). Man mache jebt in Rußland an die Spracheinheit glauben, um die Rasseneinheit als Grundsatz aufzustellen und durch die Rasseneinheit zur Assimilierung der Territorien zu gelangen. Es handele sich dabei in Rußland nicht um Erlangung eines moralischen Übergewichts über die griechisch-slavische Welt, sondern bloß um materielle Eroberungen. Die russische Propaganda dränge überall ein, überall müsse sie mit den gleichen Waffen bekämpft werden. Wenn Rußland eines Tages zur Ver- wirklichung seiner Plane gelangte, würde es ein solches Übergewicht gegenüber Europa gewinnen, daß letzteres dadurch zerdrückt werden würde. In Gestalt Rußlands würde die Zivilisation Asiens über die europäische Zivilisation friumphieren. „Dieser Gefahr, welche ganz Europa bedroht, muß Europa die Koalition seiner drei großen Mächte: Slaven, Germanen und Lateiner enigegenstellen.‘“ Carnot kommt auch auf Serbien zu sprechen, welches Rußland mit Gewalt in seinen Kreis zu ziehen sucht. Darauf wird erklärt, daß die Abänderungen zu berücksichtigen sind.

Delamarre hat, nach Erlangung dieses Erfolges, eine andere Petition ausgearbeitet unter dem Titel: „Ein europäisches Volk von fünfzehn Mil- lionen, welches von der Geschichte vergessen worden ist.“ Der Zweck dieser Schrift war, den auf falschen Voraussetungen aufgebauten Unter- richt der Geschichte der östlichen Slaven in den französischen Schulen ab- zuschaffen. D. entwickelt hier seine bereits in dem ersten Schreiben an- gedeuteten Rassentheorien ausführlicher. Für ihn sind die Großrussen turanischer, nicht slavischer Abstammung. Er fordert, daß in das offizielle Programm der französischen Schulen ein detaillierter Geschichtsunterricht der einzelnen slavischen Völker eingeführt werde. Besonders sei auf die getrennte Behandlung der polnischen und ruthenischen von der moskoviti- schen Geschichte zu achten. Das bisher übliche Schulprogramm habe von Rußland erst gelegentlich der Kämpfe Peters des Großen mit Karl XII. ge- sprochen, das genüge nicht, die Geschichte Moskoviens zu charakterisieren. Die Unfähigkeit der Lehrer, die Einzelschicksale dieser slavischen Völker im Unterricht darzustellen, hat dazu geführt, daß das in den Lehrplan v. ].

574

1863 aufgenommene Thema „Car Nikolaj und der Panslavismus“ wieder aus dem Lehrplan gestrichen werden mußte, denn einige Lehrer hatten ihre Aufgabe darin gesehen, den Panslavismus zu lehren, während sie ihn doch hätten bekämpfen sollen. Die Lehrer hätten dazu aufgefordert werden müssen, die Lugenhaftigkeit des Panslavismus zu beweisen. Bei der Neu- ordnung des slavischen Geschichtsunterrichts seien dann in erster Linie die Kleinrussen ins Auge zu fassen, denn sie sind der Keil im moskovitischen Panslavismus.

Delamarre starb nicht lange nach Einreichung dieser Eingabe, und der Deutsch-Französische Krieg von 1870 hinderte seine Freunde daran, die Frage in der Kammer durchzubringen. Die nach dem Krieg eingetretene Umgestaltung hat dann bewirkt, daß Delamarres Petition wichtigeren Fragen weichen mußte. Erst durch den Weltkrieg sind die von ihm angeregten Fragen wieder aktuell geworden. Emmy Haertel.

CECHOSLOVAKEI

Václav FlajShans: Husova Orthografie (, Orthographie“ des Johannes Hus’). Cesky časopis historický, XXXIV (1928), S. 357—369.

Den bekannten čechischen Historiker Josef Pekař, der den Ge- burtsort des Johannes Hus’ in dem Husinec bei Klecany unweit von Prag und nicht, wie alle übrigen Historiker, in dem südböhmischen Husinec sucht, interessiert natürlich auch die Frage, ob man nicht in den čechischen Schrif- ten Hussens philologische Belege pro oder contra seine Hypothese auf- decken kann. Als also V. FlajShans in seinem Aufsabe „K Husově orthografii (Zur Hussens Orthographie) bemerkte, daß sich auch in Hussens lateinischem Traktate über die Cechische Orthographie einige Spuren des siidbohmischen (in der Gegend von Prachatice) Dialektes und daher der südböhmischen Herkunft des Hus befänden, überprüfte Pekař (Ces. čas. Hist. XXXIV, 1928, S. 199 f.) die Ausführungen von FlajShans und kam zu dem Resultate, daß die Behauptung .Flajshans’ nicht stichhaltig ist. Und überdies begann er auch zu zweifeln, ob der Traktat selbst überhaupt von Huß herrühre und das böhmische Alphabet nicht erst von ihm zusammen- gestellt worden sei. Pekafs Zweifel untersucht FlajShans nun gründlich in seinem oben angeführten Aufsatze, dem ersten Versuch nachzuweisen, daß die „Orthographie“ tatsächlich ein Werk Hussens ist, um zu schließen, daß der Philologe an der Authentizität von Hussens Orthographie und Alphabet keinen Augenblick zweifeln wird. Ein anderer Cechischer Philologe, F. Travnicek, findet (Naše věda IX, 1928, S. 165) die Beweisführung von FlajShans überzeugend, nicht aber J. Pekař selbst, der in Cesky časopis historicky XXXV, 1929, S. 200 ff., die Streitfrage noch einmal berührt und betont, daß seine Zweifel noch stärker geworden seien. Und von dem Standpunkte eines Historikers hat er meines Erachtens recht.

Väclav Hruby.

Karel Stloukal: Počátky nunciatury v Praze (Die Anfänge der Nunziatur in Prag). Cesky časopis historický, Jahrg. XXXIV (1928), S. 1—24, 237—279.

l. In zweiter Hälfte des 16. Jahrhunderts wird die Religionsfrage noch einmal zur böhmischen Lebensfrage. Rom, der Katholizismus, geht von der Defensive zur Offensive über, der Protestantismus ergreift die Defensive. Die neue Gegenreformationsbewegung wurde durch vier wichtige Aktionen gründlich vorbereitet: 1556 werden nach Böhmen die Jesuiten eingeführt, 1561 wird das Erzbistum von Prag erneuert, 1583 wird die kaiserliche Resi-

575

denz von Wien nach Prag übertragen, und damit gelangt auch der Sitz der kaiserlichen Nunziatur nach Prag, wo dieselbe bald zum Mittelpunkt der ganzen Bewegung wird. Das Studium der diplomatischen Korrespondenz dieser Nunziatur wird zur Grundlage der Erforschung der Frage, wie so bald die Gegenreformation in Böhmen so schöne Erfolge erzielt hat. Die Erforschung der Nunziaturkorrespondenz der päpstlichen Nunzien in Prag hat sich das neu gegründete Cechoslovakische Institut in Rom zur Aufgabe gemacht, das die Berichte der Prager und Wiener Nunzien vom J. 1592 bis zum J. 1628 plant. Jedoch den Ausgangspunkt der Cechischen Forschung bildet natürlicherweise das Jahr 1583. Der diplomatische Nachlaß des ersten Nunzius von Prag, Giovanni Francesco Bonhomini, aus den Jahren 1581—84 wird zwar von dem Preußischen historischen Institut in Rom zur Herausgabe vorbereitet, jedoch für das Verständnis der ganzen folgenden Tätigkeit der Prager Nunzien ist unbedingt notwendig, die Anfänge der Nunziatur in Prag zu kennen. Daher hat sich der Autor entschlossen, aus den Bonhominischen Akten die Bohemica schon im voraus zu bearbeiten.

I. G. F. Bonhomini, ein älterer Freund des Karl Borromeo, bisher der päpstliche Nunzius in der Schweiz, wurde im J. 1581 in seinem 45. Lebens- jahre zum Nunzius am kaiserlichen Hofe ernannt. Für seine neue Aufgabe war er völlig ausgebildet und besonders für des böhmische Milieu vom Standpunkte Roms wie geschaffen. Bald nach seiner Ankunft in Wien ließ er sich über die Religionssachen im Königreich Böhmen durch den Rektor des Prager Jesuitenkollegs, A. Vojt, informieren, dessen wichtige Informa- tionen zugleich zu Richtlinien für die böhm. Gegenreformatoren wurden, zunächst für den Bonhomini selbst. Man beabsichtigte, sich in erster Linie an den Kaiser anzulehnen, der für die Interessen Roms zu gewinnen sei, dann an den hohen katholischen Adel. Mit Hilfe des Erzbischofs sollte die katholische Geistlichkeit besonders auf den königlichen Gütern reformiert und die keberische Geistlichkeit abgeschafft werden. Die Jesuiten sollten als geistliche Ratgeber des hohen Adels und Erzieher einer neuen adeligen Generation benübt werden. Im Juni 1582, auf seiner Reise zum Augsburger Reichstage, begegnete B. in Prag dem Erzbischof Medek, mit dessen gegen- reformatorischer Tätigkeit auf den königlichen Gütern in Böhmen er sehr zufrieden war. Jedoch diese Tätigkeit war stark gehemmt dadurch, daß das Prager Jesuitenseminarium nicht imstande war, den Bedarf an katholischen Priestern zu decken, und daß die Beseitigung der utraquistischen Priester in den Städten auf starken Widerstand gestoßen haf, weil die Städte in dem Zentrum der utraquistischen Kirche, dem unteren Konsistorium, die nötige Unterstükung fanden. Deswegen plante B., mit Beistand des Papstes selbst, in Prag ein Kollegium für die Heranbildung armer, aber begabter und tüchtiger jünglinge aus dem Volke zu Priestern, und außerdem trachiete er danach, das untere Konsistorium möglich schwach zu machen. handelte sich in erster Linie um die Vereinigung der Hussiten mit Rom. Der Hussitismus an sich bedrohte den Katholizismus in Böhmen auf keinen Fall, jedoch er war die durch die Staatsgeseke erlaubte Kirche in Böhmen, und alle übrigen nichtkatholischen, geseblich nicht erlaubten Kirchen in Böhmen, welche eben der römischen Kirche recht gefährlich waren, schubfen dieses sein Privileg vor, indem sie ihre Mitglieder für Hussiten ausgaben. Es galt also, die Hussiten in die römische Kirche zurückzuführen, um den anderen nichtkatholischen Kirchen den Schuß des nur für die Hussiten gültigen Ge- sekes zu entziehen. Die verzweifelte Lage der geistlichen hussitischen An- führer, welche fürchteten, daß ihre Kirche von den Lutheranern und bohmi- schen Brüdern verschlungen würde, zwang sie schon früher oftmals zur Geneigtheit, mit der römischen Kirche zu verhandeln. Auch während des Aufenthaltes B.—s in Prag im Juni 1582 erschienen vor ihm der Administrator samt zwei anderen Priestern des unteren Konsistoriums mit einer Bittschrift des ganzen Konsistoriums. Sie baten ihn, er möge dem Erzbischof er- lauben, ihre Schüler zu Priestern zu weihen, wofür sie versprachen, ihre Glaubensgenossen zur katholischen Religion zu führen. B. antwortete ihnen korrekt: die gewünschte Weihe sei nicht denkbar ohne ihre bedingungslose Unterordnung der römischen Kirche bis auf die von Pius IV. gewährte Kelch-

576

kommunion. Damit ist die Unterredung erfolglos abgebrochen worden. Auf seiner weiteren Reise nach Augsburg machte B. auch in Pilsen halt, wo er mit den Stadtvertretern die Errichtung eines Jesuitenkollegiums daselbst be- sprach. In Augsburg selbst sprach er mit dem obersten böhmischen Kanzler Vratislaus von Pernstein, dem er in seinen gegenreformatorischen Plänen auf seinen mährischen Gütern die Unterstüßung versprochen hat und sofort den Olmuber Bischof Pavlovský und den Rektor des Olmüber Jesuiten- kollegiums ersuchte, den Pernsteinschen Plänen Jesuiten zur Verfügung zu stellen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1582 und im J. 1583 hatte B. wenig Gelegenheit, in die böhmischen Verhältnisse einzugreifen. Erst im Oktober 1583 reiste er von Wien nach Mähren und Schlesien ab, und am 26. November 1583 ist er in Prag angelangt. Aber erst mit dem Jahre 1584 widmet sich B. völlig seiner gegenreformatorischen Tätigkeit in Böhmen, der Einfluß der Nunzien auf die böhmischen Verhältnisse wächst, ihre Arbeit wird kontinuierlich, es entsteht darin eine Tradition.

ill. Bonhomini, in dessen Instruktion für seine Nunziatur am kaiser- lichen Hofe die böhmischen Religionssachen nicht besonders erwähnt wurden, weil man natürlich in Rom nicht wußte, daß Prag einst zur kaiser- lichen Residenz wird, mußte sich selbst für seine Pläne einer Rekatholisie- rung Böhmens ein Programm zusammenstellen. Sein Programm heißt einer- seits die katholische Reformation, andererseits die Gegenreformation. Auf die Reformation beziehen sich folgende vier Punkte: 1. die Sorge um die jesuifischen Schulen in Prag, Pilsen, in Mähren und Schlesien, 2. die Er- richtung von drei katholischen Pfarreien in Prag, 3. allgemeine Visitation der Pfarrer und der Mönche, 4. die Visifation der Geistlichkeit auf den Rosenbergischen Gütern. Die Gegenreformation betreffen weitere acht Punkte: 5. die Gegenreformation auf den Pernsteinischen Gütern, 6. die Re- form der hussitischen Universitat, 7. die Visitation der keerischen Buch- druckereien und die Preßkontrolle, 8. die Abwehrung der von den bohmi- schen Ständen verlangten Religionsfreiheiten, 9. die Erzwingung eines neuen Mandats gegen die Keker und dessen konsequente Durchführung. Die Re- formation und Gegenreformation zugleich betreffen die lebten drei Punkte: 10. die Vereinigung der Hussiten mit Rom, 11. die Sorge um die Einführung des gregorianischen Kalenders in böhmischen Ländern, 12. die Besekung der Landesämter mit Katholiken. B.—s Aufenthalt in Böhmen war zu kurz, daß dieses alles hätte durchgeführt werden können, jedoch sein Programm ist zur Grundlage der ganzen folgenden Arbeit geworden. Besonders was den Gedanken anbelangt, für die Rekatholisierung Böhmens den böhmischen Adel zu gewinnen, begründet B. eine Tradition. Der Katholizismus hat später gerade durch die Mitarbeit der Nunzien mit dem böhmischen hohen Adel sehr viele Erfolge erzielt.

Die erste Aufgabe B.—s in Böhmen betraf den Reformkalender. Nicht ohne seine große Mühe ist in Böhmen seit 17. Jänner 1584 und in Mähren seit 4. Oktober 1584 der neue Kalender eingeführt worden. Im Jänner 1584 versuchte B. die Prager Universität zu reformieren, das heißt aus den utra- quistischen in die katholischen Hände zu überführen. Jedoch die finanzielle Unterstützung seitens des Papstes, die dazu nötig gewesen wäre, ist aus- geblieben, und die Reform mußte ad calendas graecas aufgeschoben werden. Im März 1584 ersuchte B. den Kaiser um die Errichtung von zwei katholischen Pfarren in Prag, aber auch diese Aktion scheiterte an den finanziellen Schwierigkeiten. Anfang Juni 1584 überreichte B. dem Kaiser sein erstes Memorandum über die Religionssachen in Böhmen, in dem er dringend forderte, der Kaiser möge anordnen, daß die Picarden, Kalvinisten und Lutheraner aus dem Lande sofort veriagt, ihre Bethauser geschlossen und die Ungehorsamen streng bestraft werden, und zum Schlusse schlug er dem Kaiser vor: 1. in Prag zwei Pfarren zu errichten, 2. die Zahl der Jesuitenalumnen zu vermehren, J. allgemeine Visitation der ganzen Geist- lichkeit in Böhmen durchzuführen. Dieses Memorandum, das B. nicht ohne Mitarbeit des obersten Burggrafen von Prag, Wilhelm von Rosenberg, ver- faßte, ist der erste Plan, die Keberei in Böhmen systematisch auszurotten.

677

Durch sein Memorandum versuchte B. eine für den Katholizismus günstige Entscheidung in der Kommission herbeizuführen, die bald danach die Frage der Besetzung des utraquistischen Konsistoriums besprechen sollte. Und das ist ihm gelungen. Die Kommission hat unter Leitung Wilhelms v. Rosen- berg, der inzwischen zum gufen Freunde B.—s geworden ist, beschlossen, das Konsistorium den nichikatholischen Ständen nicht herauszugeben, bevor dieselben nicht nur den Böhmischen Brüdern, sondern auch der Böhmischen Konfession entsagen wurden was auch der Kaiser selbst dann bestätigt hat. Demgegenüber wurde das neue kaiserliche Mandat gegen die Picarden vom 27. Juli 1584, wie vorher, ganz allgemein gehalten und nicht direkt gegen die Böhmischen Brüder und Lutheraner gerichtet, wie B. wünschte. Und was B. am meisten argerte man führte dasselbe sehr saumselig durch, wie vorher. Im Sommer 1584 verhandelie man auf Anlaß Wilhelms von Rosenberg und Georg Popel von Lobkowitz noch einmal über die Ver- einigung der Hussiten mit Rom, jedoch auch diesmal erfolglos. Dafür ist es B. gelungen, bei der auf seinen Anlaß von dem Kaiser angeordneten Emendation der böhmischen Kalender durch den Erzbischof, als den höch- sten Zensor, die Namen des Johannes Hus und des Hieronymus von Prag aus den Kalendern auszuschalten. Die weitere Tätigkeit B.—s in Böhmen ist durch seine Ernennung zum Nunzius für Köln am Rhein abgebrochen. B. ging nach Köln sehr ungern, er versuchte alles mögliche, um die Kurie zu bewegen, ihn in Prag zu belassen. Vergeblich. Bei dem Abschiedsmahl in dem Rosenbergischen Hause auf dem Hradschin in Prag debattierten: B., Wilhelm v. Rosenberg, Georg v. Lobkowib, Georg Bořita v. Martinig, Ulrich Felix v. Lobkowib, der Erzbischof v. Prag Medek und der Rektor des Prager Jesuitenkollegs, Voit, volle zwei Stunden über die Lage der katholischen Religion in Böhmen, und B. selbst faßte die Debatte in ein Memorandum zusammen. Aus demselben erkennen wir, daß man beraten hat: 1. in Prag drei Pfarren nicht nur zu errichten, sondern auch finanziell zu sichern, 2. das Jesuitenkollegium für die Armen finanziell zu sichern, 3. die Reform der Prager Universität (die alte hussitische Universität ab- zuschaffen und eine neue in dem Jesuitenkolleg einzurichten, die, was die ideelle Seite angeht, dem Prager Erzbischof unterstelli werden sollte), 4. das Mandat gegen die Picarden strengstens durchzuführen, 5. katholische Bücher für das Volk zu verschaffen, 6. Visitation der Geistlichkeit und die Inquisition der Keber. Auch dieses Memorandum, das in manchen Punkten an das erste Memorandum B.—s erinnert, jedoch um viel präziser und konkreter ist, wird zum Grundstein des kurialen Programms fur die Re- katholisierung Böhmens. Am 17. Dezember 1584 hat B. Prag verlassen und sein Nachfolger in Prag, der Nunzius Malaspina, hat alle Plane B.—s für pia desideria erklärt, die recht schwer zu realisieren seien, ja er hat Bonhomini desavouiert. Väclav Hruby.

Vladimír Klecanda: Přijímání do rytířského slavu v zemích českých a rakouských na počátku novověku (Die Aufnahme in den Ritterstand in böhmischen und österreichischen Ländern am Anfange der Neuzeit). Casopis archivní školy VI (1928), S. 1— 125.

Nach langjähriger heuristischer Vorarbeit in den böhmischen und öster- reichischen Archiven gelangte Autor zur Bearbeitung der Geschichte des böhmischen Inkolats vor der Verneuerten Landesordnung v. J. 1627. Die Hauptarbeit selbst wird als Einleitungsband zum Kataloge der Landes- reverse erscheinen, der unter den Publikationen des böhmischen Landes- archivs in Prag geplant wird. Jedoch vorher ist manche kleinere Frage zu beantworten, und einer solchen ist auch die vorliegende Abhandlung gewidmet. Fast bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gingen die Bürger- familien, die entweder selbst sich ein Wappen als ein Symbol der Adelig- keit erwählt oder dasselbe von dem König erhalten haben, fast unmerklich, automatisch ohne jede rechtsförmliche Aufnahme in den Ritterstand über.

578

Erst seitdem die Städte mit dem Adel in politischen Streit geraten sind, erhebt sich allmählich zwischen den Riftern und den aus den Bürgern neu aufgekommenen Adeligen, den sogenannten erbovnfken (— den Wappen führenden) ein Wall, der im Laufe des 16. Jahrhunderts immer stärker wird, bis am Ende desselben Jahrhunderts das Emporsteigen der erbovniken unter die Ritter sehr erschwert wird. In den 30er Jahren des 16. Jahrh. erscheinen die ersten Belege der rechtsformlichen Aufnahme der erbovniken in den Ritterstand, und zwar in Form einer Relation aus dem Landtage, daß der Adelige von dem Ritterstande in den Stand aufgenommen ist, und eines persönlichen Landtafelrevers des Adeligen samt der Bezeugung desselben über seinen Adel und sein Wohlverhalten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts mußte schon der Adelige nicht nur seinen und seiner Eltern Adel und Wohl- verhalten, sondern auch den Adel und Wohlverhalten seiner Großväter und Urgroßväter bezeugen, was 1609 sogar zum Geseke geworden ist. In den Ritterstand wurden aufgenommen niedere Landesbeamte, kaiserlihe Be- amte und Diener, dann Schützlinge der mächtigen Mitglieder des Herren- standes, öffentlich tätige Leute (besonders die Advokaten), aber auch tüch- tige Handelsleute und hervorragende Mitglieder der Zünfte. Durch die Aufnahme in den Ritterstand wird der Adelige landtafelfähig, er nimmt teil an den ritterlichen Anfällen, er kann zum Vormunde der ritterlichen Güter und Waisen bestellt werden, er darf nicht vor das Stadigericht gerufen werden usw. Auf dem Landtage kann der neuaufgenommene Ritter sitzen. auch wenn er kein Landesgut hat, was der Autor gegen frühere Meinungen mit Recht betont. jedoch zum Landesgerichtsrate und zu einem obersten Landesbeamten, soweit diese Amter dem Ritterstand vorbehalten werden, kann der neue Ritter nicht gleich werden. Der Autor bringt auch gegen frühere Meinung den Nachweis, daß das Inkolat in Böhmen nicht nur den Herren und Rittern, sondern auch den Bürgern erteilt werden konnte. Wichtig ist zu erwähnen, daß von den 300 Familien, die im 16. Jahrhundert und bis zu 1627 in den böhmischen Ritterstand aufgenommen worden sind, die volle Hälfte deutscher Herkunft war. Ähnlich, wie in Böhmen, hat sich auch ın Mähren das Aufnehmen in den Ritterstand entwickelt. In den folgenden Absätzen seiner Abhandlung schildert dann det Autor, wie man in öster- reichischen Ländern in den Ritterstand aufgenommen wurde. In Osterreich unter der Enns haben die Herren und die Ritter schon 1579 eine eingehende Ordnung für die Aufnahme in den Ritterstand beschlossen, die 1616 durch eine zweite Redaktion erseķt wurde. Beide Redaktionen sind dann auch von den Ständen der übrigen österreichischen Länder zum Vorbilde ge- nommen worden. Zum Schlusse seiner Abhandlung weist der Autor in Übereinstimmung mit M. Hass (Die landständ. Verfassung u. Verwaltung in der Kurmark Brandenburg) und G. Croon (Die landständ. Verfassung von Schweidnif-Jauer) die These G. Belows ab, daß bloß durch den Besif einer Burg oder einer Burgbesibung ihr Besiker landtagsfahig geworden ware, und nimmt für jenes große, kompakte Territorium von Brandenburg, Schlesien, Lausik, Böhmen, Mähren, Österreich ob u. unter der Enns, Steier- mark, Kärnten und Krain an, daß dort die Standeszugehörigkeit und die Landtagsfähigkeit bloß auf den Besiz der Landesgüter gegründet wurde. Unter Beilagen werden abgedruckt: der älteste erhaltene Landtafel- revers zu dem Ritterstande v. J. 1528, der erste ähnliche Revers nach der Landtafelerneuerung, die älteste Landtagsrelation über die Aufnahme in den Ritterstand v. J. 1541, ähnliche Relation v. J. 1595, die Ordnung des Ritter- und Vladykenstandes v. J. 1609, dann besonders ein Verzeichnis der ın Böhmen vor 1627 in den Ritterstand aufgenommenen Adeligen und ein Verzeichnis der in Bohmischem Rifterstande fur landsassige aufgenom- menen Auslander. Vaclav Hruby.

Frant. Hruby: Z vídeňských papírů Jindřicha Matyáše hr. z Thurnu (Aus den Wiener Papieren des Heinrich Mathias Grafen v. Thurn). Český časopis historický. Jahrg. XXXIV (1928), S. 473—573.

579

Aus einem umfangreichen (504 Fol.) Faszikel (nr. 30) der Abteilung „Große Correspondenz“ im Wiener Haus-, Hof- u. Staatsarchiv in Wien, das eine Reihe von Originalen der Briefe, die an den obgenannten Grafen adressiert sind, und von Konzepten der Briefe und Memoranda, die von ihm eigen- händig geschrieben sind, enthält, gibt der Autor 41 Stucke vom Dezember 1620 bis Anfang 1632 in sorgfaltigem Abdruck mit nötigen Anmerkungen heraus. Die Dokumente sind nicht unbekannt geblieben, jedoch das Stu- dium der undatierten unter ihnen war sehr schwierig. Man findet in dem Faszikel 26 eigenhandige Briefe des bohm. Königs Friedrich, 14 Briefe seiner Gemahlin Elisabeth, 14 des dänischen Königs Christian. IV. 4 der dänischen Prinzen, 1 des englischen Prinzen Karl, Briefe des schwedischen Königs Gustav Adolph, 1 Brief des Betlen Gabors, 6 Georg Friedrichs Markgrafen v. Baden, 5 Ernst Casimirs Grafen v. Nassau, 2 der Grafen von Solms, also lauter Persönlichkeiten, die in der ersten Hälfte des 30jährigen Krieges wichtige Rollen spielten. Außerdem gibt es unter den Papieren Briefe von böhmischen und österreichischen Emigranten, dann auch Thurnsche Familienkorrespondenz und schließlich eigenhändige Kon- zepte des Grafen v. Thurn selbst. In einer hübschen Einleitung (S. 473—520) fügt der Autor die von ihm neu aufgeklärten Nachrichten mit voller Sach- kenntnis in die bisherige Schilderung der Ereignisse ein. Daß dabei das bisherige historische Porträt des Grafen Mathias Heinrich v. Thurn selbst (nicht minder aber auch jenes seines Sohnes Franz Bernhard) an Klarheit sehr viel gewonnen hat, ist selbstverständlich; man darf ihn schon künftig- hin nicht mehr mit Gindely für einen politischen Abenteurer halten. Aber nicht nur zur Thurnschen Familiengeschichte, sondern auch zur Geschichte des 30jährigen Krieges, besonders des böhmischen Aufstandes bringt der Autor aus den „Wiener Papieren‘ eine Menge von wichtigen Details.

Väclav Hruby.

Comenius und die Londoner „Royal Society“. Cesky časopis historicky, XXXIV (1928) S. 382.

R. Fitzgibbon Young druckt hier den Brief des Comenius an den Henry Oldenburg vom 17. Mai 1668 ab, der die vier Exemplare der Schrift „Via Lucis“ begleitete, welche Comenius der kgl. Gesellschaft der Wissen- schaften in London gewidmet hat. Vaclav Hruby.

Rußland und der Streit um das böhmische Staatsrecht vom J. 1871. Cesky časopis historický XXXIV (1928), S. 383 ff.

J. Papoušek druckt einen Brief (vom 1./13. März 1871) des rus- sischen Kanzlers Gor&akov an den russischen Gesandten in Wien Novikov ab, worin er beauftragt wird, den Cechen jede Hoffnung auf die russische Unterstiibung zu nehmen, und die Antwort Novikov’s vom 13./25. März 1871, die vergebens versucht, die Schroffheit der Beauftragung zu mindern.

Väclav Hruby.

František Roubik: Registratura Národního Výboru z r. 1848 (Die Registratur des National-Ausschusses vom J. 1848). Ca- sopis archivní školy VI (1928), S. 126—153.

Am 11. März 1848 wurde im Prager St. Wenzelsbad von beiden Nationen ein Bürgerausschuß erwählt, der eine Petition an den Kaiser vorbereiten und außerdem auch die Fragen der öffentlichen Sicherheit behandeln sollte. Von den Papieren dieses St. Wenzelausschusses ist sehr viel erhalten worden unter den Gerichtsakten des Grafen Albert Deym, des Vorsitzenden des Ausschusses (jetzt im Archiv des Ministeriums des Innern in Prag). Um die Tätigkeit des St. Wenzelausschusses, der natürlich dem Landes-

580

prasidium nicht unterstellt war, zu kontrollieren und zu paralysieren, er- nannte der Landespräsident, der Graf Stadion, am 2. April 1848 eine außer- ordentliche Kommission, die unter seinem Vorsike die Vorbereitungen zum Landtage und andere wichtige Öffentliche und politische Angelegenheiten beraten sollte. Die Errichtung der Kommission kam natürlich dem St. Wen- zelausschusse nicht erwünscht, und Graf Stadion wurde zur Kapitulation genötigt. Am 13. April wurden auf seine Veranlassung die Mitglieder des St. Wenzelausschusses zur gemeinsamen Sitzung mit den Mitgliedern seiner außerordentlichen Kommission einberufen, und so entstand der neue Na- tionalausschuß. Der Autor beschreibt die Art und Weise, wie sich der Ausschuß konstituierte und wie er seine Tätigkeit organisierte. Am 26. juni 1848 wurde der Nationalausschuß von dem neuen Landesprasidenten, dem Grafen Leo Thun, aufgelöst und seine Mitglieder aufgefordert, alle Akten desselben, soweit sie diese bei sich hätten, dem Landespräsidium heraus- zugeben. Auf diese Weise hat sich in der Präsidial-Gubernial-Registratur auch die Registratur des Nationalausschusses v. J. 1848 erhalten. Diese Registratur, die samt der Gubernial-Registratur im Archiv des Ministeriums des Innern in Prag aufbewahrt wird, wurde von dem Autor geordnet, inventarisiert und in vorliegendem Aufsake beschrieben und mitiels eines eingehenden Registers der Forschung zugänglich gema Väclav Hruby.

Vaclav Chaloupecky: Martinské deklarace a její politické osudy (Die Deklaration von Turéansky Sv. Martin und ihr politi- sches Schicksal). Cesky časopis historicky, Jahrg. XXXIV (1928), S. 322—342.

Nach kritischer Übersicht der nicht umfangreichen Literatur zur Ge- schichte des Umsturzes v. J. 1918 in der Slovakei versucht Ch. ein Bild der Ereignisse zu entwerfen und besonders das Material zu sammeln und zu- sammenzustellen. Der Umsturz hat die Slovakei politisch durchaus unvor- bereitet getroffen. Im Staate mit über 18 Millionen Einwohnern hatten die 3 Millionen Slovaken unter 453 Abgeordneten bloß drei Vertreter. Von politischen Programmen und Parteien dieser Zeit kann ja unter diesen Um- ständen keine Rede sein. Die ungarische Regierung hielt es für nötig, nur 446 slovakische Intelligente in Evidenz zu halten, und von diesen waren vom slovakischen Standpunkte aus nur 101 politisch verläßlich. Es gab dort daher nur eine Partei, die Nationalpartei mit zwei Flügeln: dem Martinschen (dessen Zentrum Turéansky Sv. Martin war), der einem hoffnungslosen Ge- danken hingegeben war, daß einmal Rußland die österreichischen Slaven befreien wird, und dem der Hlasisten, d. h. slovakischer Realisten, die durch die Bildung der breiteren Schichten und durch regere Berührungen mit der &echischen Kultur das slovakische Volk politisch zu wecken trach- teten. Seit 1910 trat hinzu die slovakische Fraktion der ungarischen Sozial- demokratie und seit 1912 die klerikale Volkspartei (strana ludovä). Bis auf die Sozialdemokraten gab es aber keine Parteiorganisation. Von den 23 Zeitschriften, die vor dem Kriege in der Slovakei erschienen, gab fünf die ungarische Regierung selbst heraus, 12 waren kirchlich und konfessionell. Nach dem Kriegsausbruche hat sich die Nationalpartei absichtlich für die politische Passivität erklärt, und so herrschten die Magyaren in der Slovakei ganz nach ihrem Belieben, ohne jede Kritik, ohne jede Beschwerde von seiten der Slovaken bis zum J. 1918. Erst im Frühling 1918 die Wilsonschen 14 Punkte, die Äußerungen des jungen Kaisers, die vertraulichen Nachrichten aus Boh- men und dem Auslande, die Deklaration der böhmischen Abgeordneten vom 30. Mai 1918, worin schon die Slovakei mit aufgenommen war, mahnten die Slovaken zur politischen Wachsamkeit. Und als der Graf Tisza die Slo- vaken zu einem Huldigungsakte der St. Stephan-Krone zu bewegen ver- suchte, womit er die bohmische Mai-Deklaration zu beantworten wünschte, blieben die Slovaken aus. „Das war die erste gewonnene Schlacht“,

581

schreibt Srobär. Ungeachtet der Slovaken im Auslande sprachen während fast des ganzen Krieges die Cechen auch für die Slovaken. Erst am 1. Mai 1918 ist in Liptovsky sv. Mikulä$ bei dem sozialdemokratischen Maifeste auf Anlaß Dr. V. Srobär’s eine von ihm verfaßte Resolution angenommen, in der die Slovaken zum erstenmal für sich das Selbstbestimmungsrecht re- klamieren, als „ungarischer Ast des €echoslovakischen Stammes“. An der Jubiläumsfeier des Prager Nationaltheaters im Mai 1918 nahmen schon auch die Slovaken teil, was ebenfalls ein Verdienst Srobär's war. Am 24. Mai 1918 ist in Turč. Sv. Martin von den slov. Führern aus der Nationalpartei auf Entscheidungswort A. Hlinka’s beraten worden, auch fur die Slovaken das Selbstbestimmungsrecht zu verlangen. Die Beratung ist immerhin noch geheim gehalten worden, jedoch seitdem ist schon der Widerhall der aus- landischen politischen Aktionen, besonders jener Wilson’s, in den slovaki- schen Blattern immer lebhafter und nachdrücklicher, bis die Note Wilson’s v. 18. Oktober 1918 die größte Unentschlossenheit überwunden hat. Am 24. Oktober ist von M. Dula im Namen des Präsidiums des Nationalrates eine Beratung nach Turé. Sv. Martin einberufen worden, die „die Statuierung und Ergänzung des bisherigen Slov. Nationalrates und die Erwählung eines Ausschusses“ im Programm hatte. Es könnte scheinen, als ob die Ereignisse v. 29.—31. Oktober 1918 in Turč. Sv. Martin ein Widerhall oder sogar Fort- sekung des 28. Oktobers in Prag waren, das wäre jedoch falsch. Die Slo- vaken haben sich spontan für die &echoslovakische Einheit erklärt; was in Prag geschehen ist, davon wußten sie damals gar nichts. In der Beratung selbst ist dann mit stürmischem Beifall die Resolution des S. Zoch’s an- genommen, die feierlich erklärt, daß „das slovakische Volk ein Teil der sprachlich und kulturhistorisch einheitlichen &echoslovakischen Nation sei“, für welche sie „ein unumschränktes Selbstbestimmungsrecht auf dem Grund der vollständigen Unabhängigkeit“ verlange. Man besprach dann auch den éechischen Entwurf der künftigen Cechoslovakischen Verwaltung, der den Slovaken zu liberal schien (in dem Entwurf ist zum erstenmal die Autono- mie erwahnt!), denn die Mehrheit von ihnen hielt irgendeine Autonomie für die Slovakei für ausgeschlossen, sollte man den Einfluß der Magyaren und Magyaronen recht paralysieren, wenn auch schon damals sich einige Slo- vaken (Juriga) vor der Cechisierung fiirchteten. Jedoch die Versammlung selbst und ihre Deklaration hielt damals niemand fur einen konstitufiven Akt. Auch Hodža, der am 30. Oktober aus Budapest kam, war mit der De- klaration einverstanden, nur schlug er vor, in derselben den Saß über eine besondere Vertretung der Slovakei auf der Friedenskonferenz zu streichen („weil wir schon unsere eigene von dem Auslande anerkannte Regierung haben“), was auch ohne jede Einwendung geschehen ist. Die Mehrheit der Deklaranten verließ schon am 30. Oktober Turé. Sv. Martin, und die Minder- heit hat dann 15:9 Stimmen ein Aufleben der Autonomie der Slovakei nach höchstens 10 Jahren beschlossen. Dieser Beschluß aber ist nicht ein- mal veröffentlicht worden. Die Deklaration v. 30. Oktober, in der die Slo- vaken vor der ganzen Welt erklärten, sie seien Cechoslovaken, wäre bloße Resolution geblieben, ware es nicht am 28. Oktober in Prag zum Umsturze gekommen. Erst dadurch ist die Deklaration von Turé. Sv. Martin zum Revolutionsakte, jedoch ohne staatsrechtliche Bedeutung, geworden, was auch die Slovaken selbst noch lange Zeit nach dem Umsturze bedingungslos anerkannten. Erst die Dissidenten aus der Volkspartei und der National- partei gaben dem Dr. Béla Tuka (einst Professor an der jur. magyar. Fakultat in Bratislava, der dann als Nationalkonvertit in der Volkspartei Hlinka’s eine sehr starke Position eingenommen hat) den Anlaß, in die De- klaration etwas hineinlegen zu versuchen, was sie niemals enthielt, und zwar um die Grundlagen der Eechoslovakischen Volks- und Stfaatseinheit zu untergraben. Zu dem Zwecke behauptete man von der Deklaration, dab sie verfälscht, unverbindlich, nur für 10 Jahre gültig sei, und daß sie eine geheime Klausel habe. Diese Phantasien unterstiikte man durch staats- rechtliche Erwägungen über die Souveränität des Cechischen und slovaki- schen Volkes, welche sich nur probeweise in einem Staate vereinigt haben.

582

Auf diese Weise versuchte Tuka und zwar mit Erfolg! aus der slova- - kischen Frage eine staatsrechtliche Frage zu machen, und seine Gedanken haben dann auch die slovakischen Politiker aus den autonomistischen und oppositionellen Parteien für ihren angenommen. Chaloupecky schildert weiter eingehend, wie von Tuka und seinen Verbündeten aus staatsrechtlich bedeutungslosen Debatten einiger Martinscher Deklaranten über die Frage, wie lange in der Slovakei Diktatur walten sollte, um gegen die Magyaren und Magyaronen standhalten zu können, eine Doktrine von nur vorübergehen- dem staatsrechtlichen Verhältnisse der Slovakei zu dem &echoslovakischen Staate und von der Möglichkeit, diese dann aus demselben nach 10 Jahren auszubinden, konstruiert worden ist. Zum Schlusse glaubt Ch., daß die Ge- schichte der Martinschen Deklaration noch nicht zu Ende sei. Väclav Hruby.

POLEN

Peter Wlast. Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. Schlesiens, 60. Bd., 1926, S. 127—132 u. 61. Bd., 1927, S. 247 278.

Friedrich Reiche behandelt „Die Herkunft des Peter Wlast“ im 60. Bd. der Ztschr.: Er geht aus von Mosbach (Ztschr. VI, 1, 1864 u. „Piotr syn WIodimirza“, Ostrowo 1865), der in „Wlast“ den „Sohn des Wlodimir“, also ein Patronymikon, erblickt, die dänische Herkunft Peters aber leugnet. In einer Abhandlung über „Die Herkunft der Bres- lauer Bischöfe Thomas l. und Thomas ll.“ (l. c. Bd. 51, 1917) hatte v. Heydebrand und der Lasa darauf hingewiesen, daß Graf Petrus Danus de Skrzyn, genannt Wlast, Sohn des Swentoslaus, aus däni- schem Dienst in polnischen übergetrefen sei und zu dem Geschlecht Labedz gehört habe, dem die Grafen Dunin und Skrzyn entstammten. Eine dänische Abkunft lehnte aber auch Heydebrand ab. Reiche bezieht sich nun auf die „Chronica Petri comitis ex Dacia“ (Bresil. Univ.-Bibl.), welche um 1520 ge- schrieben, auf eine alte, eiwa Mitte des 13. Jahrh. entstandene Bio- graphie Peters zurückgeht. Diese nennt ihn auch „Petrum Dacum comitem“, wozu Boguphal II 36 stimmt. Unter Dacien ist, nach Reiche, nicht bloß die römische Provinz, sondern auch das angrenzende Kleinrußland zu ver- stehen. So wäre Peter Wlasis Herkunft aus Kleinrußland nach R. sicher. Damit stimmt das patronymische ,,Wlostides“, von Wolodimir abgeleitet und auf ein skandinavisches Woldemar hinweisend. Das führt nun zu der varägischen Abkunft seines Geschlechtes. „Natürlich ist das Ergebnis der Untersuchung Hypothese, aber sicherlich hat sie viel Wahrscheinlichkeit für sich: Peter stammt aus einem kleinrussischen, ursprünglich skandinavischen Geschlecht der Gefolgsleute Ruriks und Askolds. Durch die Beziehungen der Piasten zu den Ruriks mag sein Geschlecht nach Schlesien gekommen sein, Beziehungen, die in seiner Verheiratung mit einer russischen Fürsten- tochter hervortraten“ (S. 132). Als Nachkomme eines Gefolgsmannes war Peter Wlast, dessen Abkunft von westslavischen Stammeshauptlingen nach R. also eine verfehlte Annahme ist, in Abhängigkeit vom Herzog, so könne seine Stellung in Schlesien nur die eines herzoglichen Beam en gewesen sein. Die Bezeichnung „comes Silesie“ (in einer auf d. J. 1209 zurück- gehenden Urkunde v. J. 1399 fur das Bresl. Sandstift) ist nur ein Ehrentitel. Das „praedecessor“ dieser Urkunde kann nur mit Beziehung auf die Stiftung des Klosters, nicht aber hinsichtlich der schlesischen Herzöge gelten: es ist ein Zusatz des Abschreibers v. J. 1399.

Fedor v. Heydebrand und der Las a unterzieht (l. c. Bd. 61) den obigen Aufsab R. s einer genaueren Untersuchung. Seine Abhandlung: „Peter Wlast und die nor d germanischen Beziehungen der Slaven“ stellt verschiedene Ungenauigkeiten Reiches richtig, billigt aber, im ganzen genommen, dann doch einige von dessen Aufstellungen.

585

Vor allem wendet er sich aber gegen die Annahme, daß Peter Wlast nur ein herzoglicher Beamter gewesen sei, vielmehr besagt die Urkunde von 1195 (Schles. Reg. 59), daß er „ex parte avi et palris sui iure hereditario“ seine Zuwendungen an das Breslauer Sandstift gemacht habe. So ist das Geschlecht Peter Wlasts mindestens in der dritten Generation bereits in Schlesien eur „Nur unter diesem Vorbehalte könnte also die von Bogufal berichtete Herkunft »ex Dacia« die von der Überlieferung behaup- tete Herkunft aus Dänemark und die von Reiche angenommene Herkunft aus Kleinrußland Geliung beanspruchen“ (S. 251). Es bleibt noch zu unter- suchen, ob unter „Dacia“ mit R. Kleinrußland für das 12. Jahrh. auch ver- standen werden kann. Verf. weist darauf hin, „daß die kleinruss. Reiche nordöstlich der Karpathen schon bei Gallus stets unter dem Namen »regna Ruthenorum« erscheinen, in den russischen Quellen auch als »Tscherwonien«“.

Aus Bogufal selbst geht nun aber die Deutung hervor. Er spricht bei der Schilderung der Erhebung des Maslaw in Mazowien (1038) davon, daß dieser „Dacos, Gaetas seu Pruthenos, Nuthenos“ zu Hilfe gerufen habe. Es werden also Daci und Rutheni auseinander gehalien. Auch Ungarn kann nicht darunter verstanden werden, denn Bogufal, wie Kadlubek, nennt dann die ,,Hungarici“ oder ,,Pannonii“. Dagegen findet sich z. B. in den Groß- polnischen Annalen z. J. 1250 der Ausdruck „in Dacia“ in Beziehung auf Dänemark. Der Vergleich der parallelen Schilderung aus den Exzerpten des Długosz z. J. 1123 (M. P. H. IV, S. 11) mit Bogufals Darstellung beweist die Gleichsetzung von „Dacia“ und „Dania“ auch für die poln. Quellen. So verliert die Ansicht R.’s von der kleinruss. Herkunft Peters ihre Stiike. Immerhin steckt aber in dem ,,Wlostides“ des Kadlubek ein Hinweis auf Rußland. „Allerdings bezeichnen solche »Patronymika« nicht immer den Vater, oft weitere Vorfahren, auch solche von Mutterseite, manchmal sogar den Schwiegervater“ (S. 253). Verf. sieht darum die Möglichkeit, diesen Beinamen Peters „von dem von ihm verratenen Fürsten Wolodar von Halicz“ abzuleiten, „dessen ganzes Erbe nebst seiner Tochter Maria nach der Chronika Petri dem Peter Wlast als Lohn des von ihm verübten Ver- rats zufiel“. Dieser Name Wlodimir ist auch sonst in seinem Geschlecht nachweisbar, wofür Verf. Belege gibt. In poln. und bohm. Urkunden des 12. Jahrh. kommt er aber sonst überhaupt nicht vor, dagegen bei den Ruriks geradezu als Kenn-Name des Geschlechts, kann also nicht für einen Gefolgs- mann dieses Geschlechtes dienen. Die alten Berichte bezeugen auch Peters hohe Stellung (Kadlubek, Cronica Polonorum), bedeutsam ist auch, „daß auf den Skulpturen des alten Vinzenzstifts im Kunstgewerbemuseum zu Breslau über dem Relief der Kreuzabnahme vier Figuren abgebildet sind, unter denen die Namen: Ladis II. (Wladislaw II.) Pet. DV. (Petrus Dux), Boles Ill. [Boleslaw III.], Stanis (Stanislaw, in Bischofstracht, also der Bischof von Krakau) stehen“. Dieser „Petrus Dux“ ist zweifellos der Gründer Peter, womit die von R. als unmöglich erklärte Deutung eines „praedecessor“ der schlesischen Herzöge in anderem Licht erscheint, überdies wird der Grund und Boden Breslaus geradezu als „hereditas“ des Peter Wlast urkundlich bezeichnet, also kann es nicht „Dienstland“ des jeweiligen Kastellans oder eine Art „herzogliches Burglehn“ sein. „Da nun Peter Wlast im Jahre 1153 starb, muß sein Vater efwa bis 1125, sein Großvater bis etwa 1100 gelebt haben. Im Jahre 1093 aber wird in der um 1100 verfaßten Chronik des Gallus ein »comes Magnus Wratislawiensis« erwähnt, der nach alledem jener Großvater des Peter Wlast sein muß“ (S. 256). Diesem Magnus nun wird bei Gallus dann, in Anknüpfung an die Sieciech-Episode, ausdrücklich die Herzogswürde zuerkannt. Nach dieser Stelle des Gallus „gab es im Verbande des Polenreiches tatsächlich Gebiete von so weiigehender Selb- ständigkeit, daß die bloße Einsekung von herzoglichen Beamten durch den Verweser der Zentralgewalt als derartige »Tyrannei« und »Beleidigung« empfunden wurde, daß Auswanderung und Aufstand die Folge war“ (S. 287). Zu diesen Gebieten gehörte also der ducatus des Magnus von Breslau, der mithin als Rechtsvorgänger der schles. Herzöge gelten konnte, wie gleicher- weise sein Sohn und Enkel.

584

Auffällig ist hier noch der Name „Magnus“ im 11. u. 12. Jahrh., da er typisch nordisch ist. Eine Tabelle S. 259 gibt die Wanderung dieses Namens. Non sind die nord. Beziehungen des Sohnes unseres Magnus wie auch des Deter Wlast erwiesen. Doch ist die Episode von der Ermordung des Dänen- königs unrichtig: es handelt sich wohl um die Ermordung des Teilkönigs Knut Lawart von Hedeby durch seinen Vetter Heinrich Halti und Magnus den Starken 1131. Knut Lawarts Gemahlin war ingibjörg, Tochter Haralds von Novgorod, des Sohnes des Vladimir und Bruders des Rostislav von Halicz, dessen Sohn Wolodar Peter Wlast verriet. In dieser Verwandi- schaftsgruppe weist Verf. das häufige Auftreten des Namens „Magnus“ nach. „Von den verschiedenen für eine Verbindung des schlesischen Magnus mit dieser Personengruppe sich ergebenden Möglichkeiten erscheint die am wahrscheinlichsien, daß er ein Sohn des Magnus Haraldson mit einer Toch- ter des schlesischen Häuptlingsgeschlechtes von Breslau (eines „jarls im Wendenlande“) war und daß er selbst eine Gemahlin aus dem Geschlecht des Wladimir von Novgorod hatte“ (S. 260). Die Linie, der Magnus Harald- son entstammte, führte um 1000 einen goldenen Lowen im roten Schilde. Der schlesische Magnus wird nun nach der poln. Überlieferung dem Ge- schlechte Prawda-Zaremba zugerechnet, dessen Wappen ebenfalls ein Löwe (aus einer Zinnenmauer) war. Das Grabmal des Peter Wlast zeigt nun nach der Chronika Petri (M. P. H.I, S. 784) vier gebundene Löwen, die vier Großeltern-Wappen des Peter Wlast. Verf. geht auf diese Wappenzusam- menhänge noch genauer ein, mit Hinweis auch auf die Löwenbilder des Zobtens. Nebenher erwähnt er, dag der Name „Dag“, wobei er auf Misiko I. hinweist, als auch der Name Hrorek in diesem nordischen Harald- Geschlecht belegt ist. So ist also Peter Wlast im Mannesstamm nordischer Abkunft, im Weibesstamm wahrscheinlich Nachkomme und Rechtsnachfolger des zu Breslau sitzenden Hauptlingsgeschlechtes des Gaues Slenzane, ferner durch seine Großmutter, Mutter und Gemahlin mit den russischen Vladimiriden und Svantoslaviden und durch diese mit den Dänen verwandt

Verf. betont nun, daß damit der altpoln. Herrenstand in einem ganz anderen Lichte dasteht, als ihn die landläufige deutsche Auffassung dar- stellt, also nicht als Ministerialadel, eine Auffassung, die Reiche noch unter- strichen hat. Er stugt sich dabei auf die 3000 Gepanzerten Misikos l., einer trustis regia der Merowingerzeit vergleichbar, lehnt aber den Einfluß frankisch-deutschen Staatsrechtes ab und will das Vorbild Rußlands er- kennen. Die Untersuchung der Gründung des poln. Staates zeigt nun, daß in den nordischen Quellen bis ins 12. Jahrh. immer nur von Königen von Gardarike, Rußland, und ihren Jarlen, sowie vom „Wendenkönig“ und „Jarl- tümern im Wendenland” die Rede ist. Das steht in Einklang damit, daß Misiko niemals in den Quellen „rex“ genannt wird, wohl aber in der be- kannten Kommendationsurkunde „iudex“, was dem Jarl entspricht, der, ohne König zu sein, königliche Hoheitsrechte und gerade das richterliche Amt ausübt. Der Begriff „dux“ Herzog bedeutet zunächst nur im Frankenreich den Inhaber landesherrlicher Hoheitsrechte, in den nordischen Reichen den Befehlshaber des kgl. Heeres, wie auch in den ältesten poln. Urkunden so vom „dux militiae“ gesprochen wird. Nun ist bekannt, daß Großpolen zum Reiche der Wuliner Lutizen gehörte. Für Kujawien, die Wiege der Piasten, gilt dasselbe. In der Regensburger Völkertafel erscheinen die Wuliner Lutizen als „Wilci“, deren Ausdehnung nach Süden und Osten die Dadose- sani, Slenzani, Welunzani (Wicluner) und Lunsici (Leczycer) bezeichnen, „so daß zwischen der Ostgrenze der Wilzen von 800 und von 992 gerade das Reich des Misika übrigbleibt“ (S. 268). Nordische Quellen erwähnen auch für die Zeit vor 980 die Loslösung einzelner Teile des Wendenreiches vom Wendenkönige. Damit könnte Misikas Reich gemeint sein.

Dazu kommt, daß Polanen zuerst als Bezeichnung eines slav. Volks- stammes aus Kiev galt, als dessen Herrscher Rurik seinen Stiefsohn Askold eingesetzt hatte. Oleg, Ruriks Sohn, vertrieb um 880 die Polanenherrscher und gliederte ihr Reich dem seinen an: zur Zeit der Abfassung der Regens- burger Volkertafel gab es also kein Polanenland, als dessen Begründer

585

nach drei Generationen die Piasten in Kujawien auftreten. Als Ahnherr wird Piast, Chodcziskos Sohn, genannt. „Chodczisko“ ist der ,,Gewanderte“, der „Emigrant“. „Piast“ bedeutet der „Erzieher“, der „Ziehvater“, „eine Stellung, welche auch in den nordischen Quellen eine so bedeutende Rolle spielt“, wie ähnlich am fränkischen Hofe. Nach poln. Überlieferung hat sich Piast, Sohn des Chodczisko, an die Stelle Leszeks Ill. gesebt, der vielleicht mit Samo identisch ist; dann war Kruschwib ein Teil des „Wendenreiches“. Der Wendenkönig hat vielleicht den Sohn eines Emigranten aus dem Russen- reiche, also einen Nachkommen Askolds, als Ziehvater (Vormur.d) eines unmündigen Kleinkönigs von Kujawien eingesebt, der sich dann, vielleicht im Einverständnis mit dem Wendenkonig, als „Jarli“ (iudex)? selbst an die Stelle sete; in dieser Stellung haben sich dann sein Sohn Ziemowit -- Landwalter und dessen Enkel Ziemomys! Landsorger befunden. Hinter diesen slav. Namen, deutlich an Amtsbezeichriungen erinnernd, verbergen sich ebenso nordische Namen wie hinter Misika der typisch norwegische Name Dag, Kenname der Kleinkönige von Ringerike bis ins 8. Jahrh.: dieser Misika ist mindestens schon in der 4. Generation in Kujawien beheimatet. Man kann also schwerlich die erwähnten 3000 Gepanzerten als das Eroberer- heer bei der Begründung der Piastenherrschaft in Kujawien betrachten, fur eine Gefolgschaft wäre die Zahl viel zu groß. Es ist darin vielmchr eine ähnliche Einrichtung zu sehen, wie sie Knut der Mächtige in dem Thing- mannsvolk schuf, ein ständiges besoldetes Aufgebot, welches, ohne das allgemeine Landaufgebot in Anspruch zu nehmen, einen Teil der Kriegs- dienstpflichtigen zur Verfügung hielt, wobei die Einberufung sich in dem aus der römischen Militärkolonisation und dem fränkischen Militär- und Siedlungssystem bekannten Dezimalsystem bewegte. Eine Nachprüfung mit den bei Gallus für die Heeresmacht des Boleslaus Chrobry erwähnten Burg-Aufgeboten kommt zu dem entsprechenden Ansab jener 3000 Ge- panzerten. Aus ihnen würde sich als das ständige Aufgebot der decimi die Zahl von 300 Gepanzerten (wozu noch die Schildträger treten) als dauernde Besatzung der vier Landesburgen ergeben. Daneben wäre noch eine ständige Gefolgschaft des Herrschers anzusetzen. Als diese Gefolg- schaft will Verf. die Licikawici verstehen (seine Begründung ist allerdings nicht stichhaltig). Im Folgenden gibt er auf Grund dieser seiner Unter- suchung die Gliederung der Bevölkerung. Erdmann Hanisch.

Polnische Städtegeschichte.

Łucja Charewiczowa: Stan badań nad dziejami miast pol- skich (Der Stand der Forschungen zur polnischen Stadte- geschichte). Przegląd Historyczny Bd. 27 (1928), S. 139— 152.

Dieselbe: Przeglad nowszych monografij miast polskich. (Über- sicht über neuere Monographien polnischer Städte.) Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928), S. 391 403.

Dieselbe: Dziesieciolecie badań nad dziejami miasta Lwowa. (Ein Jahrzehnt der Forschungen zur Lemberger Stadtgeschichte). ibid. Bd. 43 (1929), 2, 115— 136.

Frau Charewiczowa berichtet in zwei Sammelreferaten mit großer Strenge und Gewissenhaftigkeit, mit nicht minder großer Sachkenntnis von den seit 10 Jahren über Lemberg, seit etwa drei Jahren über die polnischen Städte insgesamt erschienenen Schriften. Das Urteil fällt sehr reserviert aus. Immerhin ist für Lemberg eine eifrige, wenn auch oft dilettantische Tätigkeit der Lokalhistoriker zu konstatieren. Die Verfasserin räumt das der polnischen Städteforschung überhaupt ein, beklagt aber das Fehlen

586

fachkundiger Werke und größerer Synthesen. Zu diesem Resultat führt, nach den zwei kleineren Aufsätzen im Kwart. Hist, die eingehende Studie im Przegląd Hist. In dieser Arbeit greift Verf. aufs 17. Jahrh. zurück. Wir werden von ihr im Flug von Zimorowicz und den großpolnischen Chroniken, die Karwowski und Warschauer ediert haben, rasch ins 19. Jahrh. geführt. Was vor 1880 liegt, ist an sich ausnahmslos veraltet und nur mehr als Materialiensammlung zu benutzen, so die Arbeiten von Weinert über War- schau, Łukaszewicz (Posen), Baliński (Wilna). Seither hat sich die Zahl und der wissenschaftliche Wert der Städtegeschichten vermehrt. Be- deutende Forscher wie Papée, Kuirzeba, Bujak, Frau Daszyriska-Golitiska haben Bücher über einzelne Städte veröffentlicht. Speziell über galizische und Posener Lokalgeschichte sind wertvolle Publikationen vorhanden. Krakau nimmi eine Sondersiellung ein. Von Szujski bis zu Kutrzeba und PtaSnik haben sich hervorragende Historiker mit der alten Residenz be- schaftigt. Ihr ist auch eine eigene periodische Veröffentlichung, der „Rocz- nik Krakowski“, gewidmet, dem eine „Bibljoteka“ mit Monographien zur Krokauer Geschichte zur Seite tritt. Uber die Rechtsgeschichte der Städte im allgemeinen haben von Czacki bis zu Dargun, Piekosifiski und Bobrzyfiski ausgezeichnete Gelehrte geschrieben. Die deutsche Wissenschaft hat mit Warschauer und Kaindl hier ihren Plab. Von polnischer Seite stehen neuer- dings die Namen von Arnold, Grodecki, Tymieniecki, Maleczynski (und wir dürfen hinzufügen: von Frau Charewiczowa) im Vordergrund. Zur Kultur- geschichte sind Plasnik, Łoziński, Baruch, I. Baranowski, Smoleński zu nennen, die beiden ersteren für Krakau und Lemberg, die drei letzteren für War- schau. Uber den Anteil am staatlichen Leben, den die städtischen Gemein- wesen nahmen, gibt es nur Monographien kleineren Umfangs. An allge- meinen synihetischen Darstellungen des Siädiewesens im alten Polen liegt Be die vortreffliche, doch populär gehaltene von PtaSnik „Miasta w olsce“ vor.

Die Arbeit Pta$niks gehört zu den erwünschten Einzeluntersuchungen, die in der gegenwärtigen, offenbar noch zur Synihese nicht reifen Periode polnischer Städiegeschichte die Forschung fördern. Wir verfolgen an einem bezeichnenden Beispiel den Kampf des Palriziats und des städtischen Mittelstandes um die Vorherrschaft. Seit dem 16. Jahrh. war „gemeine Bürgerschaft“, wie wir etwa „pospölstwo“ sinngemäß übersetzen dürfen, in Krakau durch die Vierzigmänner am Stadiregiment beteiligt. Zwischen denen und dem Rat erhoben sich die aus der deutschen und westlichen Städtegeschichte bekannten Konflikte, die stets von Steuerfragen ihren Aus- gang nahmen, sich als Streit um Schöffenbarkeit oder irgendwelche Ehren- fragen manifestierten und in eine Machtprobe zwischen den beiden Klassen endeten, die beide um die Protektion eines Höheren, in Krakau: des pol- nischen Königs, sich bemühten. Zygmunt Wasa schwankte, wessen Partei er nehmen sollte. In einem Monsterprozeg, der das 3. Jahrzehnt des 17. Sä- kulums hindurch andauerte, hatte er sich zuerst, durch die königlichen Kom- missäre, dem „Pospölstwo“ zugeneigt, dann aber eher für die Ratsherren entschieden. Um die Mitte des Jahrh.: ein neuer Prozeß. Diesmal sind die Patrizier die Verlierenden. Das gegen sie erflossene Urteil belehrt uns nebenbei, daß unter den 10 reichsten Männern Krakaus damals nur ein Pole, dagegen 9 Italiener und Deutsche waren. Im J. 1747 trachtet eine neue Städteordnung die Verhältnisse zu regulieren und einen gerechten Aus- gleich der Stände zu schaffen. Wir erfahren dann einiges über den Nieder- gang Krakaus unter den Sachsenkönigen, über das Budget jener Zeit und endlich über die Lösung des uralten Konfliktes, der im 16. Jahrh. begonnen hatte und nun mit einer Neugliederung der stadt. Kollegien 1774 beendet wurde. Den Abschluß von PtaSniks Aufsatz bildet die Schilderung der Maßnahmen, mit denen die Commissio Boni Ordinis 1778 die Verfassung Krakaus den Strömungen der Poniatowski-Ara anzupassen trachtete. Dann folgte die für ganz Polen geltende Umwälzung des Stadtewesens durch den Vierjährigen Reichstag. Doch das liegt schon außerhalb des Bereichs dieser Studie. Otto Forst-Battaglia.

38 NF 5 587

Lokation. Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. Bd. 63 (1929), S. 1—32.

Richard Koebner untersucht hier die mit so reichem Inhalt er- füllten Worte der mittelalferlichen Siedlungsterminologie: locare, locator, locatio. „locatio“ und ,,locare“ bedeuteten zunächst „Ort und Stelle geben, hinsetzen“, dann, juristisch, „verpachten, vermieten“. Der jurist. Nebensinn kommt für die Lokations-Terminologie nicht in Frage, sondern nur die all- gemeine Bedeutung als „Setzung“. Auch der Nebensinn der „Ansetzung“ der Kolonisten kann hier beiseite bleiben. In dieser Bedeutung wird „collocare“ gerade auch in den ältesten Ansiedlungsprivilegien gebraucht. Der spezifische Sinn von „Lokation“ und „Lokator“ ist dort aber zu suchen, wo von „locare“ mit Bezug auf den Ort der Fremden-Niederlassung ge- sprochen wird, z. B. in einer Schenkungsurkunde des Wladystaw Odonicz für Leubus („civitatem locent in iam dicto deserto“) u. sonst. Es sind „fundare“ und „locare“ aber nicht identisch. „Die in der polnischen Volkssprache so oder so genannte villa oder civitas, das ist der ad locan- dum hergegebene Ort“, die Verbindung mit einer Rechtsbeziehung ist dabei noch typisch: der Ort wird mit deutschem usw. Recht »lociert«.“ Der Begriff der Lokation bezieht sich ebenso unmittelbar auf die Rechtsausstattung der Ansiedler und ihre Niederlassung. Das Privileg der Herzöge Heinrich III. und Władysław v. 16. 12. 1261 (Tzschoppe-Stenzel: Urkundenbuch S. 364; Bresl. Urk.-Buch, herausgg. von Korn, Nr. 23) für Breslau zeigt am Worte „locatio“ diesen Sinn als begrifflich entscheidendes Moment: es werden, ohne irgendwelche lokalen Veränderungen, der Stadt neue Freiheiten ver- liehen, wie später dann der Lokationsbegriff auf die Verleihung deutschen Rechtes an poln. Dörfer sich überträgt. Pommersche Urkunden verwenden in diesem Sinne „possidere“ und der Sachsenspiegel und das „Rechtsbuch von der Gerichtsverfassung” (nach E. Rosenstock: Das alte Weichbildrecht) verwenden für diese Vorgänge den Ausdruck „besetzen“, eine Bedeutung, die „locare“ nach seinem ursprünglichen Sinn „hinsetzen“ nicht ohne äußere Einwirkung gewinnen konnte. Es zeigt sich nun, daß dieser Sinn sich nicht in der lat. Kanzleisprache entwickelt hat, sondern von der Sprache des deutschen Volksrechtes auf „locare“ übertragen wurde. Das „besehen mit Rechte“ (des „Rechtsbuches v. d. Gerichtsverf.“) erhielt in „locare“ (iure Teutonico) sein lat. Aquivalent und entsprach gerade den Verhältnissen des Kolonisationsvorganges. Es hat daher auch die lat. Formel ihren vom deutschen Ausdruck „besetzen“ herrührenden Ursprung im Osten und gerade in Magdeburg (was nun eingehend begründet und belegt wird) in allen drei Formen urkundlicher Bezeichnung genommen, nämlich 1. als Zitat aus der deutschen Rechtssprache (in der niederdeutschen Form „besittinge“, „bisettinge“) mitten im lat. Text, 2. in der wortgetreuen Übersekung von „besetzen“ durch „possidere“, 3. durch „locare“. Die weitere Untersuchung zeigt, wie dieser im Kreise Wichmanns v. Magdeburg sich bildende formel- hafte Sprachgebrauch durch die Lokatoren in der Urkundensprache der Kolonisation heimisch geworden ist. Dabei wird das Unternehmertum der Lokatoren noch eingehender gewürdigt. Erdmann Hanisch.

Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Breslauer Bistums- landes. Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. Bd. 63, 1929, S. 350-376.

H. F. Schmid- Graz widmet hier dem bekannten vortrefflichen Buche des Prager Gelehrten J. Pfitzner eine eingehende Besprechung, die neben der Hervorhebung der unzweifelhaften Bedeutung des Pfibnerschen Werkes wertvolle Ergänzungen und gelegentliche Berichtigungen dazu bringt. H. F. Schmid’s Besprechung ist auch dadurch sehr beachtlich, daß sie reiches bibliographisches Material enthält. Erdmann Hanisch.

588

Polnische Kunst der Gegenwart.

Tadeusz Boy-Zelefiski: André Gide et le Peintre Polonais Witold Wojtkiewicz. Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.

Józef Kisielewski: W pracowni rzeźbiarza (In der Werkstatt eines Bildhauers). Tecza 1929, Nr. 29.

Z. St. Klingsland: Edward Wittig. Pologne Littéraire 1928, Nr. 23/24.

Derselbe: La Peinture de Roman Kramsztyk. ibid. Nr. 27.

Derselbe: L’Art graphique de Skoczylas. ibid. 1929, Nr. 28.

Derselbe: Les Enluminures d’Artur Szyk. ibid. Nr. 29.

Derselbe: La Peinture de Leopold Gottlieb. ibid. Nr. 30.

Derselbe: Et toute la jeune Peinture polonaise? ibid. Nr. 34.

Derselbe: Czermafiski w Paryżu (Czermafiski in Paris). Wiado- mości Literackie 1929, Nr. 2.

Edward Kozikowski: Hanna Natkowska-Bickowa. Tęcza 1928, Nr. 39.

Derselbe: Zbigniew Pronaszko. ibid. 1929, Nr. 9.

Edward Lepkowski: Leon Wyczółkowski. ibid. Nr. 15.

Henryk Majkowski: O plaketach i medalach Jana Wysockiego (Uber die Plaketten und Medaillen von Jan Wysocki). ibid. Nr. 5.

Jan Mrozifiski: Władysław Marcinkowski. ibid. 1928, Nr. 45.

Derselbe: Leon Dölzycki. ibid. 1929, Nr. 11.

Derselbe: Marcin Rözek. ibid. Nr. 19.

Derselbe: Henryk Jackowski. ibid. Nr. 23.

Jan Parandowski: Z pracowni Kazimierza Sichulskiego (Aus der Werkstatt von Kazimierz Sichulski). ibid. Nr. 24.

Irena Piotrowska-Glebocka: Drzeworytnictwo w Polsce (Der Holz- schnitt in Polen). ibid. Nr. 2.

Mieczysław Sterling: Remarques sur la caricature polonaise moderne. Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.

Artur Marja Swinarski: Kilka uwag o grafice Janusza Marji Brzeskiego (Einige Bemerkungen zu Janusz Marja Brzeskis Graphik). Tęcza 1929, Nr. 5.

Derselbe: O drzeworytach Władysława Lama (Über die Holzschnitte von Wiadystaw Lam). ibid. Nr. 12.

Stefan Szuman: O rzezbach Szukalskiego (Ober die Plastiken Szukalskis). ibid. Nr. 31.

Mieczysław Wallis: Der neueste polnische Holzschnitt. Die Schule des Skoczylas. Pologne Littéraire 1928, Nr. 28.

Derselbe: Die Graphik von Wactaw Wasowicz. ibid. 1929, Nr. 32.

Edward Woroniecki: Jan Peske. Tecza 1929, Nr. 12.

Die polnischen Zeitschriften allgemeinen und literarischen Charakters widmen gerne der zeitgenössischen Kunst breiten Raum. Sie verteilen im allgemeinen die Rolle so, i die „Tecza“ der bodenständigen, die „Pologne Littéraire“ der international orientierten Richtung den Hauptplak einräumt. Indes findet man auch in der „Pologne Littéraire“ manche Artikel über ihrem Wesen nach sireng nationale Künstler. Begreiflicherweise lenkt diese Zeitschrift ihre Aufmerksamkeit stark auf die in Paris wirkenden

589

Polen. Boys Aufsatz erinnert daran, wie der damals noch unbekannte Wojtkiewicz mit einem Schlag berühmt wurde, als Gide gelegentlich eines Aufenthaltes in Berlin dessen Werke sah und dem nie persönlich gesehenen Maler sofort spontan seinen Beistand anbot. Wojtkiewicz wurde des Er- folges nicht lange froh. 28 Jahre zählte er, als ihn Gide aus dem Dunkel rief; mit 30 Jahren trug man den früh Vollendeien, 1909, zu Grabe. Er hinterließ Werke, in denen sich liebenswürdige Schalkhaftigkeit mit der Melancholie eines Pierrot lunaire vereint. Auch in der Karikatur hat er seinen Plab.

Leopold Gottlieb war einer von Wojtkiewiczs Freunden. Er steht heute auf der Hohe eines berechtigten internationalen Ruhms. Seine Porträts, | ein phantastischer Realismus, der nicht frei ist von Neigung zur Ironie, wett- eifern mit belebten Gruppenkompositionen von erstaunlicher Bewegtheit. Kramsztyk, auch ein „Pariser“ und ein sehr beliebter Maler der polnisch (-jüdischen) Gesellschaft, ist ein richtiger Hofmaler der Geldfürsten und ihrer Prinzessinnen. In diesen Bildnissen ist nur müde Degeneration, und selbst bei jugendlichen Modellen vermag man statt an den Frühling eher an Witkiewiczs „Abschied vom Fruhling“ zu denken. Von den „ganz jungen“ polnischen Pariser Malern, die Klingsland präsentiert, wird man einstweilen nur konstatieren, daß sie, trob mancher revolutionärer Gebarde, brav dem Impressionismus oder dem Realismus freu geblieben sind, und daß einige, vor allem Strzalecki, Jarema, Czapski, Boraczok, sehr viel Talent besitzen.

Eine besondere Erwähnung gebührt Artur Szyk, einem jüdischen Künst- ler, der auf das glücklichste mit seiner religiösen und nationalen Tradition die polnische und dazu die beste westliche Schule verbindet. Er hat ein in unserer Zeit seltenes Genre mit höchster Vollendung gepflegt: die »illuminierte Handschrift“. Die letzte Probe seiner erlesenen Kunst, der in Paris enthusiastische Anerkennung wurde, ist eine Bilderhandschrift des Statuts von Kalisz (das Bolestaw von Polen 1264 den Juden als Privileg erteilt hat und die Grundlage der späteren Rechtsstellung der Juden war). Szyk ist bei seiner Arbeit vom edlen, heute verschwundenen Patriotismus des gente Judaeus, natione Polonus beseelf. (Er hat sich auch als Frei- schärler im Krieg gegen Rußland 1920 hervorgetan.) Die Vollbringung_ ist der Absicht ebenbürtig. Klingsland stellt das fest, und jeder entzückte Be- schauer wird ihm beipflichten. Der historisch Empfindende zumal, der vor einer so restlosen Wiederbelebung eines „toten“ Genres wie die Enlumi- nure sich schier einem Wunder gegenüberfühlt. Szyks Handschrift wird in einer beschränkten Anzahl im Druck erscheinen. Ich lenke die Aufmerk- samkeit der deutschen Fachwelt und der Kunstverstandigen auf diese Publikation.

Kaum geringere Triumphe als die „ernste“ Malkunst hat in Paris die polnische Karikatur gefeiert. Zdzistaw Czermafiski, einer ihrer Meister, hat vor allem durch seine geistreichen Travestien berühmter Gemälde des Louvre und zeitgenössischer Pariser Koryphaen sich ausgezeichnet. Er hat, wie jeder große Karikaturist, ein sicheres Gefühl für die Schwächen der aufs Korn Genommenen; er weiß, wo das Erhabene durch eine kleine Re- tusche zum Lächerlichen wird. Seine „à la manière“ erinnern in mehr als einer und jedenfalls in der entscheidenden Beziehung an die unsterblichen literarischen Parodien von Muller-Reboux. Was soll man vorziehen? Die Wahl wird uns schwer zwischen dem entmajestatisierten Francois I. Clouets, dem zum lustigen Lebe-König umgekrempelten Charles I. van Dycks, und den Foujitas, van Dongens, Kıßlings. Fürwahr, diese Foujitas und van - gens sind noch echter als echt. Und welch ein unvergleichlicher politischer Karikaturist ist dieser Czermanski. Dieses eine Bild, mit dem genialen Einfall: Piłsudski mit seinen vertrautesten Beratern. Der Marschall sitzt inmitten eines Vielecks einander zugekehrter Spiegel, die alle das eine Bild des mit hochgezogenen Brauen und herabsinkendem Schnurrbart einen Bericht lesenden Diktators reflektieren. Sterling tut Czermanski unrecht, wenn er ihn inmitten einiger sehr ungleicher Rivalen als einen der Re- prasentanten der polnischen Karikatur hinstellt.

590

Diese Karikatur blüht. Weniger durch die Quantität als durch die Qualität ihrer Mitarbeiter. Es ist eine Geschmacksverirrung, den polnischen Schönpflug Kamil Mackiewicz mit seinen verhaischten Militärbildern, die reichlich grobkörnigen Zaruba und andere Choristen aus dem „Barbier von Warschau“ (so heißt der polnische, mitunter wirklich sehr simple Simplicis- simus) mit Czermafiski und mit dem zweiten genialen Karikaturisten, Sichul- ski, in eine Reihe zu rücken. Diese beiden sind die Meister und die origi- nellen Schöpfer. Jotes, Głowacki, einander sehr ähnlich, leiten sich von Gulbransson her. Grus, als Tier-Karikaturist, hat auch von dem großen Norweger gelernt. Den Schüler der französischen Scherzbilder im Stile des „Rire“, $widwifiski, hat Sterling nicht erwähnt.

Parandowskis feine Studie über Sichulski beschäftigt sich gar nicht mit dem Karikaturisten. Sie zeigt vor allem die herrliche religiöse Malerei dieses vielseitigen Künstlers und dessen großes Historiengemalde „Bolestaw Chrobry vor der Goldenen Pforte zu Kiev“, das auf der Landes- aussiellung zu Posen die allgemeine Bewunderung erregte. Der heute Fünfzigjährige ist bereits zu der unbestrittenen Glorie gelangt, die ihn aus der Sphäre der Kritik in die des Historischen emporhebt.

Dort hat Leon Wyczółkowski längst Bürgerrecht. Schüler von Gerson, Matejko, Brandt, hat der Künstler bald dem Geschichisgemälde im Stile seiner Lehrer abgeschworen. In der Ukraina reifte er, nur im Technischen Erinnerung an seine Schülerzeit bewahrend, zu sich selbst. Seine Land- schaften und seine Poriräts sind von gleicher Vollendung. Überall der Sinn für eine höhere, verklärte Wirklichkeit. Impressionen, die der emp- fängliche Blick des Malers zur objektiven Wahrheit wandelte. Ohne den eigentlichen Vertretern des polnischen Impressionismus anzugehören, hat Wyczölkowski doch denen die Wege gebahnt. Er ist bis ins hohe Alter schaffensfroh und schaffenskräftig geblieben. Erst nach dem 60. Jahre seines Lebens wandie er sich dem Hauptgebief seiner Alterstatigkeit zu, der Graphik.

Meister des polnischen Holzschnitis ist Władysław Skoczylas. Seine Kunst ist aus der Landschaft und aus dem ererbten Blut erwachsen. Von den Bergbewohnern der Tatra entlehnte er nicht nur den in endlosen Varia- tionen gestalteten Stoff für seine schönsten Schöpfungen, sondern auch die auf keine fremde Tradition zurückgehende Form, die unmittelbar in polni- scher und so müssen wir zu Klingsland hinzufügen in allgemein volks- tümlicher Überlieferung wurzelt. Skoczylas ist im Herzschnitt das Aqui- valent zu Teimajer, Orkan, Witkiewicz, zu Reymont in der Literatur: ein Gefährte der urhaften Naturmenschen, deren primitive Leidenschaftlichkeit und Romantik sich in diesen ebenso primitiv ... scheinenden und wahrhaft romantischen Kunstwerken wiederfindet. Freilich, vor dem Religiösen ver- sagt die schon angefaulte Naivität. Die Rauberszenen, die Charakterkopfe, die Dorf- und Haldenlandschaften, die Schnitterinnen gelingen Skoczylas aufs vollkommensie: seine Heiligen haben nicht den ursprünglichen Zauber, der den ganz kindlichen Figuren des Wowro (jenes unverfälschten, des Lesens und Schreibens unkundigen Volksbildhauers, den Zegadtowicz ent- deckte und bekannt machte) anhaftet.

Skoczylas hat auch als Lehrer bedeutende Verdienste. Unter seinen Schülern sind Bogna Krasnodebska, Tadeusz Kulisiewicz auf dem Wege zu Großem. Kulisiewicz übertrifft den Lehrer zum Beispiel in der Erfas- sung des Religiösen. Sein „Dorfschnitzer“, ein wahrer Wowro, und die Krasnodebska besibt den skurrilen Humor, dessen Skoczylas völlig er- mangelt, einen Humor, der freilich bei religiösen Themen peinlich wirkt, wenn er auch da unfreiwillig auftreten mag.

Wie anders die raffinierte, mit allen erdenklichen Reminiszenzen, an allen ersinnlichen Traditionen genährte Holzschnittkunst von Władysław Lam. Wie dieser Pole den Don Quijote illustriert: eine prächtige, aber rein zere- brale Ausnüßung aller Möglichkeiten, die von der Naivitat der Skoczylas- Manier himmelweit (oder auch diabolisch) entfernt ist. Ein betrachtliches Talent, etwa ein Lam, der sich an Skoczylasschen Stoffen gerne versucht,

591

nur noch nicht seiner selbst gewiß und die Wege suchend, Janusz Marja Brzeski, sündigt häufig durch Verquickung des Inkommensurablen: ein Kuh- stall wird im Stil eines modernen Wohnpalastes dekoriert.

jedenfalls, der polnische Holzschnitt ist auch in der Gegenwart auf der Höhe seiner Traditionen, deren Erinnerung in dem von der retrospektiven Ausstellung des Muzeum Wielkopolskie veranlaßten Artikel von Piotrowska- Glebocka aufgefrischt wird.

Eine Studie über Henryk Jackowski gilt dem ausgezeichneten Künstler, der neben Mehoffer den Ruhm der polnischen Glasmalerei nach dem Westen trug seine Vitragen in der Ste. Chapelle stehen hinter denen der Frei- burger Kathedrale nicht zurück und auch in der Heimat Wunderschönes vollendet hat (Bromberg, Florianskapelle). Ist Jackowski von den fran- zösischen Impressionisten und Puvis de Chavannes beeinflußt und gleicht er darin dem ihm verwandten Peske, dem Frankreich zur dauernden Heimat geworden ist; liegt die Begabung dieser beiden vorzüglich auf dem Gebiet der Landschaft und der religiösen Malerei, so gehen Dotzycki und Pronaszko von den vorimpressionistischen Meistern wie Cézanne und von den fran- zösischen Kubisten um Vlaminck aus. Im Porträt und in der Dekoration ist ihre Stärke. Pronaszko gehört zu den besten Theatermalern der Gegen- vu Seine Illustrationen zum „Faust“ sind viel umstritten und beachtet worden.

Von den der Bildhauerei gewidmeten Aufsätzen ist der über Edward Wittig am wichtigsten. Mit Zamoyski hat er in Paris der polnischen Skulptur hohes Ansehen erworben, und diese zwei übertreffen an wahrhaft schöpferi- scher Begabung fast alle in Polen wirkenden Rivalen. Werke wie Wittigs „Eva“, „Kampf“ und der „Sterbende Krieger“ sind von bezwingender bru- taler Kraft, voller Leben und Bewegung. Einen anderen Aspekt der pol- nischen Seele finden wir in den durchgeistigten, weicheren Skulpturen von Dunikowski (in dessen Werkstätte uns Kisielewski geleitet), an dem die religiöse Kunst einen wahren Bahnbrecher moderner Auffassung, die sich doch der Tradition bewußt bleibt, gewann. Seine Arbeiten in polnischen Kirchen erwecken Bewunderung um so eher, je weniger uns die süßliche, konventionelle, in photographischer Treue ihr Genügen und ihren Endzweck erblickende Plastik von Marcinkowski befriedigt, dessen 50jähriges Jubiläum und 70. Geburtstag noch nicht den überschäumenden Enthusiasmus eines sonst so geschmacksicheren Kritikers wie Mroziński rechifertigen, der ein wenig dem bescheidenen Talent zugute bringt, was dem sicher vortrefflichen Charakter Marcinkowskis eignet. Marcin Rözek, der beim Wettbewerb um das Denkmal auf dem Posener Freiheitsplak Marcinkowski den Rang räumen mußte, hat viel mehr originelle Einfälle. Seine Süße des Barocks ist nicht mit der Süßlichkeit Marcinkowskis zu verwechseln. Und wenn Rözek ein- fach realistisch kommt, wie mit seinem „Säer“, dann ist er der großen Kunst ganz nahe. (Ich bezweifle freilich, daß er je ihren Bezirk betreten wird.) Sehr hoch schätze ich dagegen die Fähigkeiten der Nalkowska-Bickowa, die aus der Schule Wittigs und Dunikowskis hervorgegangen, über die Jahr- hunderte hinweg auf sonst seltene Lehrmeister zurückgreift: die alten Agypter und ihre hieratische Starre. Szukalski endlich ist die Verkörperung urslavischer Kunst, darum dem Volkstümlichen geneigt. Technisch von kühner Selbständigkeit und Vollendung im anatomischen Detail, dabei von leidenschaftlicher und leidvoller nach Ausdruck ringender, ins Metaphysische strebender Dynamik. Die miteinander nicht recht verschmolzenen Elemente seiner Plastik vermögen nicht jenen Eindruck des Abgeschlossenen, in sich Geschlossenen hervorzurufen, den wir, von vorübereilenden Modeströmungen frei, als Schönheit empfinden. Fesselnd und ergreifend sind diese Bildwerke trozdem. Man versteht, im Angesicht etwa des Mickiewicz-Denkmals in Wilna, sowohl den Streit als den Enthusiasmus, den sie auslösten.

Die Studie Majkowskis schildert den Werdegang Professor Jan Wy- sockis, heute des bedeutendsten polnischen Medailleurs, eines durch seinen zehnjährigen Aufenthalt in München (1910/1919) auch in Deutschland wohl- bekannten Künstlers. Otto Forst-Battaglia.

592

NOTIZEN

Der 1. internationale Slavistenkongref in Prag.

Der im Sommer des Jahres angekündigte erste Slavistenkongreß in Prag wurde am Sonntag, den 6. Oktober 1929, im Smetanasaal des Prager Ge- meindehauses durch Ansprachen der Prager Slavisten, der Behörden und der auswärtigen Delegierten feierlich eröffnet und am Donnerstag, den 10. Ok- tober, abends geschlossen. Da der Kongreß zweckmäßig vorbereitet war und über die Einhaltung des Planes sorgfältig gewacht wurde, so konnte das wissenschaftliche und das Festprogramm fast vollständig bewältigt werden. Gelegenheit zu persönlicher Bekanntschaft und zum zwanglosen Meinungsaustausch boten vor allem die mit außerordentlicher Gastfreund- schaft gebotenen geselligen Veranstaltungen, der Begrüßungsabend, der Empfang des „Slavischen Instituts“, die Mittagessen, zu denen der Herr Minister für Volksbildung und die Stadt Prag einluden, der Empfang beim Herrn Minister der auswärtigen Angelegenheiten, zuletzt das Festmahl des Kongresses, für einen kleineren Kreis das Abendessen der „Slavischen Rund- schau“, das Mittagessen der philosophischen Fakultät der deutschen Univer- sitat und die Empfänge, die einzelne Delegationen und Gesandtschaften veranstaltet haben sollen. Auch die Ausflüge nach Brünn, Preßburg (und Olmüb), die der Berichterstatter nicht mehr mitmachen konnte, dürften in erster Linie diesem Zwecke gedient haben. Die wissenschaftliche Arbeit, die am Montag, d. 7. Okt., morgens in dem neuen Gebäude der philosophi- schen Fakultät der &echischen Universität eröffnet wurde, gliederte sich in drei Sektionen, eine linguistische, eine literarhistorische und eine pädago- gische, diese nach Bedarf weiter in Untersektionen. Für die Gesamthaltung des Kongresses war das Übergewicht methodologischer und organisatori- scher Fragen bezeichnend. Schon die dem Kongreß vorgelegten, vor Be- ginn der Tagung den Mitgliedern in gedruckter Form überreichten Thesen hießen dies erkennen, die Diskussion verstärkte den Eindruck. Auf die Einzelheiten des wissenschaftlichen Programms einzugehen, wird auch in dieser Zeitschrift Gelegenheit sein, wenn der Kongreßbericht im Druck vor- liegt. Grundsäßlich kann nicht bezweifelt werden, daß organisatorisch- wissenschaftliche Fragen (z. B. die Frage einer umfassenden Bibliographie oder eines slavischen Sprachatlasses) nur durch eine Übereinkunft vieler zu lösen sind und daß ein Kongreß durchaus der geeignete Ort zu ihrer Beratung ist. Auch die methodologischen Erörterungen werden Anregung und manchem eine Klärung vermittelt haben, doch handelte es sich überwiegend um Fragen, deren Bestehen den Eingeweihteren bekannt war, und deren Lösung oder nachhaltige Förderung (gesebt, daß sie überhaupt "möglich sei) von einem Kongreß kaum erwartet werden durfte. Um ein Beispiel zu wählen: Das Recht der „synchronistischen“ Sprachbetrachtung wird grund- sätzlich wohl nicht zu bezweifeln sein, für sie haben sich Stimmen schon vor Jahrzehnten erhoben, als der Siegeslauf der genetischen Sprachbetrach- tung endgültig zum Stehen gelangt war, ich verweise wieder nur auf ein Beispiel (wahrscheinlich für viele), und zwar auf ein mir naheliegendes, auf

895

meine eigenen im Jahre 1904/05 niedergeschriebenen Bemerkungen im Vor- wort zu meinem Buch über althochdeutsche Wortsiellung (s.8). Wenn diese Betrachtungsweise auch heute noch um ihr Dasein zu kämpfen hat (selbst auf dem Gebiete der Syntax, das ihrem Zugriff am offensten zu stehen scheint), so liegt dies nicht an ihrem Mangel an Recht, sondern an ihrer Ergebnisarmut, die abzustellen uns einzelnen kaum, einem Kongreß aber gewiß nicht gelingen wird. Man darf gespannt sein, welche Lage unserer Wissenschaft der nächste Slavistenkongreß vorfinden wird, der nach fünf- jähriger Pause stattfinden soll.

Der Prager Kongreß war sehr gut besucht, auch von den Slavisten der nichtslavischen Länder; von den deutschen Universitäten waren Breslau durch vier, Graz durch zwei, Wien, Berlin, Hamburg, Münster und Kiel durch je einen Dozenten vertreten. Besonders sichibar war, wie billig, die Teil- nahme der Prager deutschen Slavisten. P. Diels.

594